Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung: Soll und Haben [1 ed.] 9783428455362, 9783428055364

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Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung: Soll und Haben [1 ed.]
 9783428455362, 9783428055364

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KARL.HEINZ MATTHIES

Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung: Soll und Haben

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 86

Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung: Soll und Haben

Von

Dr. Karl-Heinz Matthies

DUNCKER &

HUMBLOT I

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Matthies, Karl-Beinz: Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung: Soll und Haben / von Karl-Heinz Matthies. Berlin : Duncker und HumblQt, 1984. (Schriften zum Bürgerlichen Recht ; Bd. 86) ISBN 3-428-05536-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten &: Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed In Germany

© 1984 Duncker

ISBN 3-428-05536-5

Vorwort Noch ein Beitrag zur Arzthaftung! Allein, die auf diesem Gebiet seit einigen J'ahren tätigen Schiedsinstanzen - ärztliche Gutachter und/ oder ISchlichtungsstellen, wie sie sich nennen - eröffnen nicht nur für den neutralen Beobachter, sondern auch für die Betroffenen neue Perspektiven. Arzthaftung vor nichtstaatlichen Instanzen, Anlaß genug für die Stiftung Volk,swagenwel'ik, ein Forschungsvorhaben zu diesem Themenbereich zu finanzieren. Der Verfasser dankt der Stiftung an dieser Stelle für d:ie groß'zügLge pekuniäre Ausstattung des Projekts. Mein Dank gilt ebenfalls Herrn Prof. Dr. Erwin Deutsch, der die Untersuchung stets verständnisvoll betreute und in seiner schier unerschöpflichen Schaffenskraft ein stetes Vorbild für mich war. Das Vorhaben basiert auf der Analyse von F,allmaterial, das von mehreren Seiten zur Verfügung ,gestellt wurde. Für die damit verbundene Mühe und die erfreuliche Bereitschaft zu Informationsgesprächen danke ich sämtlichen Gutachter- und Schlichtungsstellen, >den Landgerichten Göttingen und Hannover, vor allem aber der Allianz AG und der Winterilllur-VeMicherung. Last, not least: Herzlichen Dank an Frau Geisler, die das Manuskript sauber und ideenreich betreute. Die Untersuchung wurde im Januar 1983ahgeschlossen. Spätere Veröffentlichungen wurden bis Juli 1983 in den Fußnoten 'berücksichtigt. Göttingen, im Juli 1983 Karl-Heinz Matthies

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11

Erster Teil Die berufliche Haftung des Arztes -

ein tlberblick

A. Das geltende Recht der Arzthaftung ................................

15

1. Vertragliche und deliktisC'he Haftung ..........................

15

II. Die Pflichten stellung des Arztes ................................

20

111. Der Kausalzusammenhang .....................................

23

IV. Die Verletzung der Aufklärungspflicht ..........................

25

V. Der Beweis durch Sachverständige ..............................

27

B. Die Ansätze zur Lösung des Beweisproblems .......................

29

1. Aufklärungspfiichtverletzung als Auffangtatbestand ............

29

11. Fehlende Dokumentation -

Prozessuale Beweiserleichterungen 30

III. Modifikation des Beweisrechts ..................................

31

IV. Alternativen de lege ferenda ................................... 1. Gefährdungshaftung ........................................

33 33

2. Versicherungslösungen ...................................... a) Sozialversicherung ....................................... b) Patientenversicherung ....................................

34 35 36

V. Gutachter- und Schlichtungsstellen .............................

37

Zweiter Teil Beweis von Verschulden und Kausalität in der Praxis A. AufgabensteIlung und Untersuchungsmethode ......................

38

B. Verschuldensbeweis ................................................

39

1. Objektiver Pflichtverstoß ......................................

40

1. Beweis durch Gutachten .....................................

40

2. Spezialfall: regelmäßig schicksalhafter Verlauf ..............

41

3. Folge ....................................................... 41 4. Insbesondere: Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit und beweisrechtliche Typisierung ...................................... 42

8

Inhal tsverzeichnis 11. Innere Sorgfalt ................................................

48

111. Ausnahme: Erstreckung des § 282 BGB auf die äußere Sorgfalt..

49

IV. Folgerungen .. , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

54

C. Beweis der Kausalität ..............................................

55

I. Beweisführung mittels medizinischer Gutachten ................

55

11. Beweisrechtliche Lösung der herrschenden Meinung ............ 1. Der Anscheinsbeweis ........................................ 2. Die Umkehr der Beweislast .................................. a) Voraussetzungen und Auswirkungen...................... b) Begründungen ........................................... 3. § 287 ZPO .................................................. 4. Neuere Tendenzen..........................................

56 57 58 58 61 64 65

111. Kritik der herrschenden Meinung ..................... . ........

66

IV. Alternativen im Schrifttum .................................... 1. Wahrscheinlichkeitsmaßstab ................................. 2. Vollständige Beweislastumkehr .............................. 3. Risikoteilung ...............................................

74 74 79 8C

V. Tendenzen bei der außel"gerichtlichen Schadensregulierung ...... 1. Gutachter- und Schlichtungsstellen .......................... 2. Versicherungen..............................................

81 82 83

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen. .... ..... ........ .. 84 1. Realtypen .................................................. 84 2. Legaltypen .................................................. 87 a) Naturgesetzliche Kausalität .............................. 88 b) Reserveursachen ......................................... 88 c) Rechtmäßiges Alternativverhalten ........................ 90 d) Rechtswidrigkeitszusammenhang ......................... 90 3. Rechtliche Einordnung der Realtypen ........................ 93 4. Theoriebildung .............................................. 94 a) Eigene These ............................................ 95 b) Gegenargumente ......................................... 101 c) Randbereiche ............................................ 105 Dritter Teil

Gutachter- und Schlichtungsstellen: eine sinnvolle Alternative? A. Einrichtung und Bedeutung der Gutachter- und Schlichtungsstellen .. 112

B. Verfahren ......................................................... 114 I. Kurzbeschreibung des Verfahrensganges ........................ 114 11. Synopse des Verfahrensablaufs ................................ 116

Inhaltsverzeichnis

9

C. Bewertung der Gutachter- und Schlichtungsstellen in der Literatur I. Positive Kritik ................................................ 1. Sinnvolle Alternative ....................................... 2. Funktionierendes Verfahren ................................. 3. Befriedung des Arzt-Patienten-Verhältnisses ................ 4. Fehlerprophylaxe ...........................................

124 124 124 125 125 126

H. Negative Kritik ................................................ 1. Institution als solche ........................................ 2. Verfahren .................................................. 3. Resultate des Verfahrens ................................

126 126 127 128

D. Eigene Untersuchung ......................................... I. Aufgabenstellung und Methode ............................ 1. Untersuchungsobjekt ........................................ 2. Fragestellung ............................................... 3. Vorgehensweise ............................................. a) Praktikerbefragung ...................................... b) Aktenauswertung ........................................ c) Fremde Statistiken .......................................

128 128 129 130 130 131 132 134

11. Bewertungskriterien ........................................... 134 111. Untersuchungsergebnisse ....................................... 1. Objektivität der Gutachter- und Schlichtungsstellen .......... a) Gesamtergebnis der Stellen .............................. (1) Statistik ............................................. (2) Vergleichsdaten ...................................... (a) Arzthaftung vor Zivilgerichten .................... (b) Patientenschutzverbände .......................... (3) Folgerungen .......................................... b) Qualität der Gutachten und Bescheide .................... (1) Vorgehensweise ...................................... (2) Fehlerquellen ........................................ (3) Ergebnisse ........................................... (4) Vergleichswerte ...................................... (5) Folgerungen .......................................... c) überprüfung der Gutachten .............................. d) Die Unabhängigkeit der Stellen ....................... '" e) Besondere Sachkunde der Gutachter- und Schlichtungsstellen ................................................... (1) Die Juristen .......................................... (2) Die Gutachter ........................................ (3) Zusammenarbeit von Ärzten und Juristen ............ f) Zusammenfassung zur Objektivität der Stellen .......... "

135 135 135 139 140 140 142 143 144 145 145 146 147 147 148 150 151 151 153 155 156

2. Befriedung des Arzt-Patienten-Verhältnisses durch die Gutachter- und Schlichtungs stellen .............................. 156 a) Prozeßquote nach Verfahren vor Gutachter- und Schlichtungsstellen .............................................. 156

10

Inhaltsverzeichnis b) Strafrechtliche Ermittlungen neben den Gutachter- und Schlichtungsstellen ....................................... c) Regulierung durch die Arzthaftpflichtversicherer .......... (1) Regulierungsquote .................................... (2) Ursachen aus dem Bereich der Gutachter- und Schlichtungsstellen .......................................... (3) Andere Ursachen ........... ,' .............. '" ........ d) Anteilnahme der Öffentlichkeit .......................... e) Zusammenfassung zu den Wirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis ........................................... 3. Außerprozessuale "Waffengleichheit" im Arzthaftungsrecht .. a) Verlagerung der subjektiven Beweislast und Reduzierung der Behauptungslast .................................... b) Stärkung der Position des Patienten gegenüber der Haftpflichtversicherung des Arztes ............................ c) Lösung von Beweisproblemen ............................ d) Zusammenfassung zu außerprozessualen "Waffengleichheit" 4. Unbedenklichkeit des Verfahrens der Gutachter- und Schlichtungsstellen ................................................. a) Umfassende Kompetenz .................................. (1) Sachliche Zuständigkeit .............................. (a) Behandlungsfehler und Randgruppen ............. (b) Verletzung der Aufklärungspflicht ................ (c) Mangelhafte Dokumentation ...................... (2) Persönliche Zuständigkeit ............................ b) Verfahrenshindernisse ................................... c) Flexibilität des Verfahrens ............................... d) Verfahrensdauer ......................................... e) Kosten des Verfahrens ................................... f) Freiwilligkeit und Unverbindlichkeit ...................... g) Zusammenfassung zum Verfahren der Gutachter- und Schlichtungsstellen .......................................

160 163 163 166 167 168 169 169 170 173 176 177 177 178 178 178 180 185 187 188 191 192 195 196 198

IV. Regionale Vielfalt .............................................. 199 1. Die unterschiedlichen Ergebnisse der Stellen ................ 199

a) Unterschiedliche Kompetenz als Ursache .................. 200 b) Sonstige Gründe ......................................... 203 2. Verfahrensvereinheitlichung 205

Abschließender Befund

209

Literaturverzeichnis ................................................... 212

Einleitung Das Recht der beruflichen Haftung des Arztes zählt seit einer Reihe von Jahren zu den in der Literatur und Rechtsprechung häufig und kontrovers diskutierten Rechtsgebieten1 • Um diese Diskussion zu versachlichen, hat im Jahre 1978 erstmals Weyers den Versuch unternommen, sein dem 52. DJT vorgelegtes Gutachten durch Zahlenmaterial zu untermauern2 • Wie notwendig es ist, die Probleme der Arzthaftung auf rechtstatsächlich einigermaßen abgesicherter Basis zu erörtern, zeigt nicht zruletzt das einleuchtende Beispiel der ärztlichen Aufklärungspflicht ohne daß diese Gegenstand der hier vorgelegten Studie wäre: Zunehmend trifft man auf kritische Bemerkungen zum geltenden Recht der ärztlichen Haftung, deren Angriffspunkt sich mit den Stichworten "defensive Medizin" und "offensive Aufklärung" umschreiben läßt3 • Ob aber, wie behauptet wird, die Verletzung der Aufklärungspflicht tatsächlich zunehmend zum Auffangtatbestand für nicht beweisbare Behandlungsfehler geworden ist, muß angesichts der Unterschiede zwischen den dazu anzutreffenden Zahlenangaben zweifelhaft erscheinen. Steffen spricht in seinem anläßlich des 52. DJT gehaltenen Referat' davon, daß in 2/3 aller Fälle von Patienten die Rüge mangelnder Aufklärung erhoben wird, Knappen meint nach Auswertung von 600 Fällen, die Aufklärungsrüge werde beinahe immer geltend gemacht6 , nach Reichenbach hingegen, dessen Untersuchung auf fast 1800 Fällen 1 Vgl. dazu die umfangreichen Nachw. in den Beiträgen von Laufs zur Entwicklung des Arztrechts in NJW 1976, 1121; 1977, 1081; 1978, 1177; 1979, 1230;

1980, 1315; 1981, 1289; 1982, 1319; 1983, 1345. l! Verhandlungen, Bd. I, S. A 37 ff.; statistische Angaben legen gleichfalls vor FranzkilFranzki, NJW 1975, 2225 (2226); Hahn, Die Haftung des Arztes für nichtärztliches Hilfspersonal, S. 4 f.; Herbrand, in: Hymnen/Ritter (Hrsg.), Behandlungsfehler - Haftung des operativ tätigen Arztes, S. 107 ff.; Pribilla, Dt. Ärzteblatt 1974, 3078; Reichenbach, VersR 1981, 807; ders., Medizinische Welt 1982, 1262; Spann, ZVers Wiss 1978, 185; Bappert, Arzt und Patient, S. 109 ff.; Giesen, JZ 1982, 345 (346 f.). 3 Siehe etwa Hampel, in: Der Arzt im Labyrinth der Gesetze, S. 85 (87 ff.); WachsmuthlSchreiber, NJW 1981, 1985; dies., Medizin und Recht 1981, 77; Laufs, Arztrecht2, S. 101. 4 Verhandlungen Bd. II, S. I 14. 5 Laryngologie, Rhinologie 1975, 787.

Einleitung

12

basiert, spielt die Aufklärungspflichtverletzung nur in 11 (l/o der Fälle eine Rolle, freilich mit zunehmender Häufigkeit8 • Schon dieses einfache Beispiel macht deutlich, welcher Wert rechtstatsächlichen Untersuchungen zukommt - sie sind in der Lage, die juristische Diskussion auf eine gesicherte Tatsachengrundlage zu stellen7 , was um so wertvoller erscheinen muß, je schwieriger und umstrittener die zu behandelnde Problematik ist. Will man nämlich - um im Beispiel fortzufahren - die offensivere Aufklärungspraxis durch eine zunehmende Zahl von Aufklärungsrügen erklären, so muß diese Aussage angesichts des referierten Zahlenmaterials ehne eine Analyse der Ursachen für die unterschiedlichen Angaben als spekulativ erachtet werden. Doch auch in zahlreiche andere Fragenkreise der Diskussion um das Recht der Haftung des Arztes kann ein Blick auf das tatsächliche Umfeld Licht bringen. Nicht ohne Grund wurde also während des 52. DJT die Forderung nach Rechtstatsachenforschung im Arztrecht laut, wenngleich ein entsprechender Beschluß am Ende nicht gefaßt wurde 8 • Gleichwohl wird nunmehr ein solcher Beitrag vorgelegt, der seine Entstehung in erster Linie der Tätigkeit der ab 1975 überall in der Bundesrepuhlik eingerichteten ärztlichen Gutachter- oder Schlichtungsstellen verdankt. Die Gutacllter- und Schlichtungsstellen haben sicll allgemein zum Ziel gesetzt, das Arzt-Patienten-Verhältnis dadurcll zu entkrampfen, daß sie dem Patienten 'eine Alternative zur gerichtlichen Geltendmachung seiner vermeintlichen Schadensersatzanspruche ana:ubieten suchen'. Wenngleich die Tätigkeit der Gutacllter- und Schlichtungsstellen überwiegend positiv bewertet wird lo , sind doch ,auch kritische Stimmen laut gewordenl l , die in dem Vorwurf gipfeln, die Stellen seien allein im Interesse der Ärzteschaft eingerichtet und tätig l2 . 6

Med. Welt 1982, 1262. Siehe auch VersR 1981, 807.

Hartwig, Rechtstatsachenforschung im übergang, S. 58 f.; Dreier, Recht Moral - Ideologie, S. 21 ff.; Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung, S. 48 ff.; s. a. Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3 (15). 8 Verhandlungen, Bd. 11, S. I 206; auch Weyers, Verhandlungen, Bd. I, S. 7

A 120.

11 Henschel, Aufgabe und Tätigkeit der Schlichtungs- und Gutachterstellen für Arzthaftpftichtstreitigkeiten, S. 50 ff.; Bodenburg, VersR 1980, 996; H. Franzki, Aktuelle Rechtsprechung zur Haftung des Arztes, S. 41 ff. 10 Berner/Trostdorf/Vogel, Dt. Ärzteblatt 1981, 183; Vogel, in: Heim (Hrsg.), Haftpflichtfragen im ärztlichen Alltag, S. 151 (154); Kleinewefers, HNO 1979, 364; 1980, 106, 274; Pfeifer, Interview in "Der Spiegel" vom 3.8. 1981, S. 44; Steifen, Verhandlungen des 52. DJT, Bd. 11, S. I 28; Weissauer, Verhandlungen des 52. DJT, Bd. 11, S. I 50; Behne, Verhandlungen des 52. DJT, Bd. 11, S. I 168 ff.; Bodenburg, VersR 1980, 996 (1000); Laufs, NJW 1977, 1081 (1082). 11 Zeitschrift "Test" der Stiftung Warentest, Heft 8 aus 1979, S. 658; Ärztepfusch und Folgen, Schriftenreihe Deutscher Verbraucherschutzverband,

Einleitung

13

Aus alledem ergibt sich denn auch die zweifache Ausrichtung der hier vorgelegten Untersuchung, die, in Fragefornn formuliert, lautet: Werden die ärztlichen Gutachter- und Schlichtungsstellen ihrem Anspruch gerecht, dienen sie also im Interesse aller Beteiligten ,als Alternative zur staatlichen Gerichtsbarkeit der Entkrampfung des Arzt-PatientenVel'lhältniISses? Inwiefern läßt sich ihl'le Tätigkeit für die Dogmatik des Arzthaftungsrechts verwerten? Was die zuletzt gestellte Frage angeht, so soll das Vorgehen dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels entsprechen, der Blick soll zwischen dogmatischen Erwägungen und ihren tatsächlichen Grundlagen hin- und herwandern. Einerseits kann die Bffektivität der Gutachter- und Schlichtungsstellen nur dann mit hinreichender Sicherheit beurteilt werden, wenn offen gelegt ist, in welcher Hinsicht das Recht Problemkreise enthält, bezüglich derer von außergerichtLichen Schiedsinstanzen eine förderliche Wirkung erwartet weroen ,kann. Dazu bedarf es der Beleuchtung der zivürechtlichen Haftung des Arztes nach geltendem Recht ebenso wie der Betrachtung des Fallmaterials, mit dessen Bearbeitung die Praxis regelmäßig bef.aßt ist; Fallmaterial, das bei Gerichten, Gutachter- und Schlichtungsstellen sowie Versicherungsgesellschaften in reichhaltigem Umfang vorhanden ist. Andererseits kann gerade die Analyse der Praxis dazu beitragen, die wissenschaftliche Diskussion von nur scheinbar erheblichen auf die wirklich relevanten Problemkreise zu lenken; darüber hinaus kann man die Erwartung hegen, in der (außerforensischen) Pr,axis bisher von der Theorie nicht begangene, erfolgversprechende Lösungsansätze vOl'lZufinden. Erst auf der nach diesem Schema gebildeten Basis kann die praktische Tauglichkeit der Gutachter- und SchlichtungssteUen unter da~u eigens herauszubildenden Kriterien effektvoll beurteilt werden. Dies ist der Weg, ,auf dem theoretisches Soll und tatsächliches Haben miteinander in Bezi,ehung gesetzt weroen sollen. Damit wird neben einen Beitrag zur juristischen Dogmatik und Theoriebildung ein mehr awf die Infonnation der :beteiligten Kreise und somit auf die Jurisprudenz in ihrer praktischen Ausrichtung abgestellter Teil gestellt 13 , wobei zwischen beiden ein funktionelles Abhäng1gkeitsverhältnis besteht. Die Arbeit wird sich teilweise rechtstatsächlicher Methoden bedienen, wenngleich von einer Ein-Mann-Studie, um die es sich hier handelt, bisweilen nur geringer Erkenntniswert erwartet wird 14 • Daran ist Heft 7 aus 1980, S. 17 ff.; Künnell, VersR 1980,502; Rühl, Frankfurter Rundschau v. 26.6.81. 12 So die polemische Stellungnahme in Ärztepfusch und Folgen, a.a.O. 13 Allgemein zu diesen Funktionen der Jurisprudenz Dreier, Recht Moral - Ideologie, S. 53 f.

14

Einleitung

sicherlich lZutl'effend, daß umfangreiche st'atistische Erhebungen von einem einzelnen Nurjuristen nicht 'zu bewältigen sind. Dem soll an dieser SteHe aber ein Wort Arthur Nußbaums, des Vaters der RechtstatsacheIliforschung, entgegengehalten werden: "Rechtstatsachenforschung kann 'sehr wohl von einem Mann betrieben werden, wenn die statistischen Leidenschaften gezügelt werden. Bis heute haben sich auf diesem Felde vereinte Kräfte durchaus noch nicht als dem Unternehmen des einzelnen überlegen erwiesen I5 ."

15 Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung, S. 89 = AcP 154 (1955), 453 (484). 14 Siehe etwa Rehbinder, Festschrift TraUer, S. 13 (15 f.); Hartwig, Rechtstatsachenfarschung im übergang, S. 66.

Erster Teil

Die berufliche Haftung des Arztes ein tJberblick Quelle der hier vorgelegten Untersuchung war in erster Linie Aktenmaterial - Gerichtsakten, Versicherungsakten und Akten von Schlichtungsoder Gutachterstellen. In Anbetracht der vielschichtigen Probleme des Arzthaftungsrechts mußte die Auswertung dieser Akten auf einige wenige Marginalprobleme beschränkt werden, zum einen mangels größerer Arbeitskapazität, zum anderen mangels Aussagekraft eines Großteils der Akten. Quantitativ verwertbares Fallmaterial läßt sich eben angesichts der Möglichkeiten eines personell beschränkten Projekts nur zu immer wieder auftauchenden Fragestellungen sammeln. Als solche wurden der Beweis von Kausalität und Verschulden ausgewählt. Zur Diskussion dieser Probleme bedarf es zunächst ihrer Einordnung in das System der ärztlichen Haftung, die daher zu Beginn im überblick dargestellt werden soll. Freilich ist diese Darstellung von Anbeginn an der Fragestellung der Untersuchung orientiert und kann deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vor der eigenen Suche nach Auswegen wird so dann noch auf alternative Lösungsvorschläge einzugehen sein.

A. Das geltende Recht der Arzthaftung I. Vertragliche und deliktische Haftung Der Arzt haftet für schuldhafte Behandlungsfehler, die ihm bei der Ausübung seines Beruf.s unterlaufenl , regel:mäßig aus Vertrag und Delikt2 , !Zuweilen auch nach den VOl'schriften über die Geschäftsführung oihne Auftrag3 • Vertragliche und deliktische Haftung steihen dabei 1 Dazu den geschichtlichen überblick bei H. W. Schreiber/Rodegra, in: Jung/ H. W. Schreiber (Hrsg.), Arzt und Patient zwischen Therapie und Recht, S. 27 (45 ff.). 2 Der beamtete Arzt haftet auch im Bereich der Privatliquidation stets nach § 839 BGB mit der Möglichkeit, sich auf § 839 I 2 zu berufen, BGH NJW 1983, 1374. 3 In diesem Fall kann die Haftung des Arztes nach h. M. auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt sein, § 680 BGB, vgl. Münch. Komm./Seiler, § 680, RN 4 m. w. N. Für die Feuerwehr ebenso BGHZ 63, 167; anders Wollschläger, GoA, S. 283 f., der für eine restriktive Interpretation des § 680 BGB eintritt und die Norm auf den professionellen Nothelfer nicht anwenden will. Der Normzweck des § 680 BGB - wer freiwillig und uneigennützig zur Abwendung einer Gefahr tätig wird, soll durch Erhöhung der Haftungsschwelle

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1. Teil: A. Das geltende Recht der Arzthaftung

grundsätzlich unabhängig nebeneinanderi. Gleichwohl sind überlagerungen häufig, ja es wird sogar 'behauptet, ein eigenes System der Berufshaftung verberge sich hinter dem überkommenen Dualismuss. Auf der Recht'sfolgenseite ,gleichen vertraglicher und deliktischer Anspruch einander jedenfalls nicht: Schmerzensgeld wird allein vom deliktischen Anspruch gewährt, §§ 253, 847 BGB. Dieser Unterschied ist indes IZU vernachlässi.gen, .geht doch im ArlZthaftungsrecht neben dem vertraglichen notwendigerweise ein deliktischer Anspruch einher6 • Sowohl der eigentliche ärztliche Behandlungsfehler, ,als auch die Verletzung der Aufklärungspflicht des Arztes führen 'zur vertraglichen Haftung, deren Rechtsgrund dann in aller Regel eine positive Vertragsverletzung ist7. Sofern der Arzt seine vertraglich .geschuldet'e Behandlungspflicht nicht nur schlecht, sondern gar nicht erfüllt, können sich auch Ansprüche aus Verzug oder aU'S Unmöglichkeit ergebens. Gerade in letzter Zeit ist die vertragliche Haftung des Arztes in mehreren Entbelohnt werden - trage gegenüber den Ärzten nicht, weil sie eben diese Gefahrenabwehr zu ihrer Einnahmequelle gemacht hätten. Es sei nicht einzusehen, daß ein Operateur unvorsichtiger mit dem Skalpell hantieren dürfe, nur weil sein Patient bewußtlos eingeliefert worden sei. Der Einwand Seilers, dem berechtigten Anliegen Wollschlägers werde die Praxis schon durch erhöhte Sorgfaltsmaßstäbe für berufliche Tätigkeit gerecht, vermag nicht zu überzeugen. Dieser Gedanke kann eine Haftungsbegrenzung im Falle der Einlieferung eines Bewußtlosen auch nicht erklären. Dagegen dürfte Wollschläger zuzustimmen sein: wegen seiner beruflichen Stellung, die stets auf Gefahrenabwehr gerichtet ist und sich grundsätzlich am menschlichen Körper realisiert, kann für den Arzt im allgemeinen nur ein einheitlicher Haftungsmaßstab gelten, gleichgültig, ob Anspruchsgrundlage Delikt, Vertrag oder GoA ist, der sich aus §§ 823 I, 276 I 1 BGB ergibt. 4 Staudinger/Schä!er 10 / U , vor § 823, RN 31 m.w.N.; Münch. Komm.!Mertens, vor §§ 823 - 853, RN 21. 5 Mertens, VersR 1974, 509 (511); ähnlich Deutsch, NJW 1978, 1657 (1658); ders., VersR 1982, 713; ders., Mannheimer Vorträge zur Versicherungswissenschaft 1982, Heft 24, S. 7 f.; in die gleiche Richtung geht auch schon eine Andeutung bei Rümelin, Haftung im klinischen Betrieb, S. 26, FN 1; die Eigenständigkeit von Vertrag und Delikt betont dagegen Strö!er, VersR 1981, 796 (797 f.).

6 Diesen Gedanken betont zu Recht Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, passim: Die berufliche Tätigkeit des Arztes wirke sich stets auf die Rechtsgüter Leben, Körper oder Gesundheit aus. Das dürfte auch auf Nervenärzte zutreffen, selbst wenn sie den Patienten durch Gesprächstherapie behandeln, denn auch psychische Einwirkungen können bei hinreichender Vehemenz eine Gesundheitsverletzung darstellen, vgl. Münch. Komm/Mertens, § 823, RN 56. 7 Münch. Komm/Emmerich, vor § 275, RN 213. Der Arzt haftet auch für sein nicht ärztliches Hilfspersonal nach § 278; dazu Hahn, Die Haftung des Arztes für nichtärztliches Hilfspersonal; BGH JR 1980, 242 mit Anm. Schlund, ebenda; Laufs, Arztrecht2 , RN 163. S Um einen solchen Fall handelte es sich z. B. bei BGH VersR 1981,730 (731), wo streitig war, ob der zur Sterilisation verpflichtete Arzt den Eingriff überhaupt vorgenommen hatte, ob er also seine Hauptpflicht erfüllt hatte.

I. Vertragliche und deliktische Haftung

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scheidungen des BGR zu erheblicher Bedeutung gelangt. So wurde eine vertragliche Beratungspflicht des Arztes geschaffen, für deren Erfüllung anders als bei der Aufklärungspflicht über das Mißerfolgsrisiko eines ärztlichen Eingriffs nunmehr der Patient beweisbelastet sein so1I 9 ; dagegen wurde die Beweislast des Arztes für die Fl'1age betont, ob der Arzt den geschuldeten Eingriff überhaupt vorgenommen hat10 ; beim Versagen eines Narkosegerätes wurde abweichend von der sonstig,en Praxis § 282 BGB angewendet 11 • Wie die Entscheidung des BGH zum "wrongful life" lehrt, kann die Vertr,agshaftung auch einen verglichen mit der Deliktshaftung weiteren persönlichen Schutzbereich haben12 • Hingewiesen sei noch ·auf die Frage nach der Passivlegitimation im Rahmen der Vertragshaftung, wenn der Patient im Krankenhaus behandelt wird. Regelmäßig ist das Krankenhaus Vertragspartner. Daneben existieren als besondere Vertragstypen aber noch der gespaltene Arzt-Krankenhaus-Vertrag sowie der totale Kran~enhaus­ vertr,ag mit Arztzusatzvertrag13 , die sich dadurch auszeichnen, daß auch der Arzt vertraglich verpflichtet wird. Hier wirft insbesondere die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche für Hilfspersonal zwischen Arzt und Krankenhaus Probloeme auf!'. Daneben resultiert ,aus dem ärztlichen Behandlungsfehler zugleich ein deliktischer Schadensersatzanspruch. Nach ständiger Rechtsprechung15 steHt der ärztliche Heileingriff eine Körperverletzung gern. 9 BGH VersR 1981, 278 und 730; dazu Ströjer. VersR 1981, 796 sowie Fischer, JR 1981, 501. In beiden Fällen ging es freilich um fehlgeschlagene Sterilisationen, so daß fraglich bleiben muß, ob die vom BGH hier getroffenen Aussagen verallgemeinert werden können. 10 BGH VersR 1981, 730 (731 f.). Diese Beweislastverteilung ergibt sich aus § 362 BGB (vgl. dazu Palandt/Heinrichs 42 , § 363 Anm. 1 m. w. N.). Darüber hinaus will der BGH aber auch § 282 BGB anwenden, offenbar als Beweislastnorm für den sich an die Nichterfüllung anknüpfenden Schadensersatzanspruch nach § 325 BGB. 11 BGH NJW 1978, 584 = JZ 1978, 275 m. Anm. Deutsch, ebenda. Grundsätzlich soll § 282 BGB im Arzthaftungsrecht keine Anwendung finden, da wegen der Eigentümlichkeit ärztlichen HandeIns nicht ohne weiteres vom Mißerfolg auf ein Fehlverhalten geschlossen werden könne, BGH VersR 1967, 663 (664); Münch. Komm.lMertens, § 823, RN 412 m. w. N.; teilweise abweichend Laujs, Arztrecht2 , RN 200; Stoll, AcP 176 (1976), 145 (155 f.); vgl. auch die umfassende Darstellung bei D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 36 ff. 12 BGH NJW 1983, 1371: der Vater des Kindes wird in den Schutzbereich des Vertrags zwischen Arzt und Mutter einbezogen. 13 Siehe dazu Münch. Komm.lSöllner, § 611, RN 73 ff.; Musielak, JuS 1977, 87 f.; Laujs, Arztrecht 2 , RN 18 f.; Diederichsen, Die Vergütung ärztlicher Leistungen im Krankenhaus, S. 71 ff. 14 Dazu Laujs, Arztrecht2 , RN 177 f. m. w. N. 15 RGZ 68, 431 (433 f.); BGHZ 29, 176; weitere Nachw. bei Staudin.J}erISchäjer IO / 11 , § 823, RN 11; aus der Literatur Larenz, SchR II12, § 71 I; Soergel! Zeuner 10 , § 823, RN 146, 16; StaudingerlSchäjer, § 823, RN 12; Deutsch, NJW

1965, 1985 (1989). 2 Matthles

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1. Teil: A. Das geltende Recht der Arzthaftung

§ 823 I BGB dar, deren Rechtswidrigkeit durch ·eine wirksame Einwilligung des Patienten Iliach Aufklärung beseitigt wel1den kann. Die gegen dieses Dogma wiederholt vorgetragenen Angriffe aus der Literatur, die teilweise schon der begrifflichen Einordnung des Heileingriffs als Körpervedetzung entgegentreten16 , teils den eigeIliffiächtigen Heileingriff als Verletzung des Persänlichkeitsrechts des Patienten einordnen wollen17 oder aber die Arzthaftung .als Verhaltensunrecht zu konzipieren suchen18 , haben nicht zu einer Umkehr der Rechtsprechung geführt. Der Ausgangspunkt der Rechtspl"echung muß somit wohl als geltendes Recht akzeptiert werden, das freilich behutsamer Fortentwicklung nicht verschlossen sein sollte. Die deliktische Gehilfenhaftung nach § 831 BGB, welche die Möglichkeit des Entla-stung.sbeweises eröffnet, wird gerade im Bereich der Arzthaftung durch weitre~chende Anwendung des § 31 BGB ergänzt, so daß dem Kr.ankenhaus der Entlastungsbeweis für leitende Ärzte abgeschniUen wiI'd19 • Durch Statuierung von Organisationspflichten für ,das KranJkenhaus, ,deren Außera,chtlassung als Verkehrspflichtverletzung gem. § 823 I BGB sanktioniert wird 20 , wird ähnliches im Hinblick auf das übrige Personal erreicht.

Neben den Unterschieden, was Schmel1zensgeld, Beweislast und GehiHenhaftung angeht, wobei letztere, wie gesehen, zunehmend nivelliert werden21 , weichen vertragliche und deliktische Arzthaftung kaum voneinander ab. Verschulden ist jeweHs Voraussetzung der Haftung, die anzulegenden SorgfaItsmaßstäbe sind identisch22 , eine Angleichung der vertraglichen Verjährungsvorschriften an § 852 BGB wird man in Erwägung ziehen müssen23 • Auch alle anderen wesentlichen Wertungs16 BTÜgmann, NJW 1977, 1473 (1474 f.); Laufs, NJW 1974, 2025; Esser/Weyers, SchR 115 2, § 55 I; Putzo, Arzthaftung, S. 27 f. 17 Laufs, NJW 1974, 2025; Wiethölter, Die Aufklärungspflicht des Arztes, S. 71 (101 ff.); Weyers/Mirtsching, JuS 1980, 317 (320). 18 Münch. Komm.!Mertens, § 823, RN 375 f.; Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, §§ 5, 7 schlägt sogar eine Einordnung bei § 823 11 BGB vor. 19 BGH NJW 1972, 334; 1980, 1902. 20 Dazu Münch. Komm.!Mertens, § 823 RN 404 f.; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 60; Nachw. zur Rechtspr. bei Palandt/Thomas42 , § 823 Anm. 14 Kranken-

haus. 21 Den gleichen Effekt erzielte § 17 I, IV des nunmehr für verfassungswidrig erklärten StHG. Dort war für in Krankenhäusern unter öffentl.-rechtl. Trägerschaft tätige Ärzte wie für das gesamte privatrechtliche Handeln des Staates eine befreiende Schuldübernahme durch den Dienstherren angeordnet, die unabhängig von der Anspruchsgrundlage Wirkung entfaltete. Dazu Schlosshauer-Selbach, NJW 1982, 1305; Schäfer/Bonk, StHG, § 17, RN 29 ff. 22 Staudinger/Schäfer10!1l, § 823, RN 307; Mertens, VersR 1974, 509 (511 f.). 23 Dafür Peters, VersR 1979, 103 (106 ff.); v. Bar, Verkehrspflichten, S. 315 ff.; Matthies, VersR 1981, 1099 (1100 f.); einschränkend Münch. Komm.! Mertens, § 852, RN 7; die h. M. hält dagegen an der 30jährigen Verjährungs-

I. Vertragliche und deliktische Haftung

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kriterien entsprechen einander: die Beachtung ärztlicher Berufspflichten, die Notwendigkeit eines funktionierenden Vertr,auensverhältnisses zwischen Arzt und P.atient, das lebenswichtige Angewiesensein des Patienten auf den Arzt, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gepaart mit der Aufklärungspflicht des Arztes, die Zweckbestimmung der ärztlichen TäHgkeit, 'schließlich die spezifische überlegenheit des Arztes dem Patienten als Laien gegenÜlber, die bis in den Prozeß fortwirkt 24 • Angesichts dieser Gemeinsamkeiten scheint die strUikturelle Unterscheidung zwischen deliktischem und vertraglichem Anspruch in der Tat hinter einer einheitlichen Berufshaftung zurückzutreten25 • In diesem Zusammenihang solUe auch § 8 MuBO nicht unerwähnt bleiben. Die Norm erlegt den Ärzten eine berufsrechtliche Pflicht auf, sich gegen Haftpflicht zu versichern und nimmt damit ganz erheblichen Einfluß auf die Haftungswil'klichkeit26 , und zwar wiederum unabhängig von der Anspruchsgrundlage. Die Haftpflichtversicherung wirkt sich für den Patienten positiv wie negativ aus, indem sie ihm einen neuen, professionellen Verhandlungspartner verschafft, der seinem Vorgehen eine ganz andere InteressengrundIage als der Arzt zugrunde legt, indem sie frist für Ansprüche aus pVV fest, Nachweise bei Matthies, VersR 1981, 1099, FN 19; Deutsch/Geiger, Medizinischer Behandlungsvertrag, S. 1110 f., halten eine 5-Jahres-Frist für angemessen. 24 Münch. Komm./Mertens, § 823, RN 358, 362 ff.; ähnliche berufliche Spezifica lassen sich z. B. auch für Psychotherapeuten entwickeln, dazu Kroitzsch, VersR 1978, 396 (398 ff.). 25 So Stall, AcP 176 (1976), 145 (166); ebenso Mertens, VersR 1974, 509 (511); Deutsch, NJW 1978, 1657 (1661); kritisch dazu Strö!er, VersR 1981, 796 (797 ff.), der für ein allgemeines "Heim ins Vertragsrecht" eintritt und meint, der Schlüssel zur Lösung der Probleme des Arztrechts, insbesondere der Aufklärungspflichtverletzung, liege allein in der vertraglichen PflichtensteIlung verborgen. Strö!er macht es sich indes leicht, wenn er die vertragliche Haftung des Arztes für sich allein betrachtet, geht doch die deliktische Haftung stets neben der vertraglichen einher. Die Beweislast des Patienten für die Verletzung der Aufklärungspflicht, um die es Strö!er letztendlich geht, läßt sich für das Deliktsrecht jedoch nicht mit der Einordnung der Aufklärung als vertragliche Nebenleistungspflicht begründen. Wo es an einem Behandlungsvertrag ausnahmsweise fehlt, hilft die These Strö!ers gleichfalls nicht weiter. Angesichts der Tatsache, daß pVV und c. i. c. ohnehin nur Ausgliederungen aus der Deliktshaftung darstellen (vgl. dazu v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts, unter 11. 2.; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 247 m. w. N.) erscheint es ohnehin fragwürdig, bei zwingender Parallelität von vertraglicher und deliktischer Haftung das Argumentationsschema ausschließlich auf den ersteren Gesichtspunkt zu stützen. Richtiger dürfte vielmehr sein, daß die das Arztrecht formenden typischen Strukturelemente quasi von außen in das vom BGB vorgegebene Normenschema eindringen und diese dann in einem dialektischen Prozeß fortbilden (vgl. dazu Larenz, Methodenlehre 4 , S. 135 ff.). Apriori sind diese Strukturelemente jedoch zunächst einmal identisch und überleben den geschilderten dialektischen Prozeß auch in relativ reiner Form. Mehr dürfte mit der "einheitlichen Berufshaftung" im Sinne von Stall, Mertens und Deutsch auch nicht gemeint sein. 26 Dazu v. Bar, AcP 181 (1981), 289; Deutsch, Mannheimer Vorträge zur Versicherungswissenschaft 1982, Heft 24, S. 12 f. 2·

1. Teil: A. Das geltende Recht der Arzthaftung

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das finanzielle und auch vielleicht ideelle Kräfteverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner zu Lastendes Gläubigers verschiebt, aber auch indem sie den Sachverhalt eigenständig prüft und auf diese Weise in relativ k1ar liegenden Fällen dem Patienten einen Teil seines Beweisrisikos abnimmt27 • Die Versicherung führt schließlich dazu, daß sich der HaftungsfaH für den Arzt vom finanziellen zum psychologischen Problem vevkehrt28 • Dem Charakter der Arzthaftung als mindestens partiell eigenständiger Berufshaftung wird auch das weitere Vorgehen dieser Darstellung entsprechen. Es sollen zunächst unabhängig von der Anspruchsgrundlage einige Marginalprobleme der Arzthaftung dargestellt werden, die sowohl bei vertraglicher als auch bei deliktischer Haftung eine bedeutende Rolle spielen. Innerhalb dieses Rahmens wird zu zeigen sein, auf welche Weise die gemeinsamen Fragestellungen von den jeweiligen Haftungsschemata verarbeitet werden, bevor dann im Rahmen der Auswertung des rechtstatsächlichen Materials die angebotenen Lösungsvorschläge diskutiert werden.

II. Die Pßichtenstellung des Arztes Voraussetzung der ärztlichen Haftung ist stets fahrlässiges Verhalten. Die berufliche Vel'haltenspflicht wird damit zum Angelpunkt der Haftung29 , denn mit Hilfe des elastischen Fahrläss~gkeitsbegriffs wird die Haftungsschwelle bestimmt30 • Im Bereich der Arzthaftung ist diese Schwelle re1ativ niedl"lig, weil die Standards von der Rechtsprechung recht hoch angesetzt werden51 • Vielleicht ist dies auch als Reaktion auf die für das Arzthaftungsrecht typischen Beweisschwierigkeiten des Patienten zu verstehen. Die strengen Sorgfaltsanforderungen sind indes keineswegs seltbstverständlich, wie ausländische Beispiele zeigen52 • Aus den USA stammt die Befürchtung, daß die Ärzteschaft auf allzu hohe Standards mit einer defensiven Medizin reagieren könnte 53 • AnVgl. dazu unten unter 3. Teil D. 111. 3. b., S. 173 ff. Klingmüller, VersR 1980, 694. 29 Bodenburg, VersR 1980, 996 (999) geht sogar soweit, den Behandlungsfehler als reines Verhaltensunrecht anzusehen und ihn bei § 823 11 BGB ein27

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zuordnen. 30 Dazu Deutsch, NJW 1978, 1657 (1658); allgemeiner ders., Haftungsrecht I, S. 273 ff.; auch Locher, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 245 (275). 51 Mertens, VersR 1974, 509 (516); zu den Einzelheiten Münch. Komm/Mertens, § 823, RN 379 ff. sowie Laufs, Arztrecht 2 , RN 154. 32 So beschränkt das italienische Recht die Haftung z. B. bei technisch schwierigen Maßnahmen auf grobe Fahrlässigkeit, vgl. DeutSCh/Geiger, Medizinischer Behandlungsvertrag, S. 1086; in der Schweiz und in Norwegen gibt es ähnliche Tendenzen. 53 Vgl. Wachsmuth/Schreiber, Medizin und Recht 1981, 77; Mertens, VersR 1974, 509 (516); gegen eine harte Berufshaftung für Ärzte auch Locher, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 245 (275 f.).

11. Die Pfiichtenstellung des Arztes

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dererseits dienen scharfe Sorgfaltsanforderungen dazu, den Ruf einer Profession aufrechtzuemalten; eine gewisse Präventionswirkung kann ihnen gleichfalls nicht abgesprochen werden; schließlich werden sie in ihren finanziellen Auswirkungen durch die Haftpflichtversicherung erträglich gemachtS4 • Strenge Standards sind daher angesichts der Bedeutung der Rechtsgüter, die dem Arzt anvertraut sind, durchaus angezeigt. Die ärztlichen Berufspflichten, deren Mißachtung zur Haftung führen kann3s , sind ungemein vielfältig und je von den Umständen des Einzelfalls bestimmt. Dasjenige Fehlverhalten, das der Begriff "Kunstfehler" - sofern man ihn überha,upt noch verwenden will38 - beschreibt, stellt nur -einen Ausschnitt aus dieser Palette dar3 7 • Ganz allgemein gesagt, ist die ärztliche PflichtensteIlung stets geprägt von dem Vertrauensverhältnis, das die 'gesamte Arzt-Patienten-Beziehung beherrschen und das 'Spannungsverhältnis ~wischen Selbstbestimmungsrecht des Patienten und medizinischer Notwendigkeit lösen soIIte38 • Indes kann dem Arzt wegen der Unwägbarkeiten physiologischer Abläufe grundsätzlich keine Pflicht zur Herbeiführung eines Erfolges auf.erlegt werden39 • Vielmehr wird ihm - wenn es keine feste Kunstregel gibt - sogar ein Ermessen dahingehend eingeräumt, welche Behandlungsmethode er wählt. Freilich werden diesem "Prinzip der Methodenfreiheit" durch das "Prinzip des sichersten Weges" Schranken gezogen: der Arzt hat 34

Mertens, VersR 1974, 509 (516 ff.).

Mit dem Pfiichtverstoß steht fest, daß die gebotene Sorgfalt verletzt ist. Aufgrund des objektiv-typisierten Sorgfaltsbegriffs des Zivilrechts sind damit die Haftungsvoraussetzungen in der Regel gegeben, Laufs, Arztrecht 2 , RN 170; Deutsch, Haftungsrecht I, S. 282 ff.; daß aufgrund von Besonderheiten des Einzelfalles das Verschulden - etwa wegen Unzumutbarkeit einmal zu verneinen ist, dürfte im Arzthaftungsrecht eine seltene Ausnahme sein. 36 Wegen seines unklaren Inhalts wird der Kunstfehlerbegriff heute von der Rechtsprechung nicht mehr gebraucht, in der Literatur teilweise als .. Störfaktor" empfunden, vgl. Krauß, in: Arzt und Patient zwischen Therapie und Recht, S. 141 f. 37 Nach BGHZ 8, 138 ist ein Kunstfehler ein Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft. Daneben gibt es jedoch noch andere Verstöße, die gleichfalls Pflichtverletzungen darstellen, auch wenn keine allgemein anerkannte Regel existiert. Zudem besteht das Verschulden nicht allein aus dem Regelverstoß. Dazu Laufs, Arztrecht2 , RN 154 ff.; Schwalm, Festschr. Bockelmann, S. 539 ff.; Theissing, ZVersWiss 1978, 195 ff.; Staudinger/Schäfer IOIJ1 , § 823, RN 311; Kröning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 7, 16 ff.; Brandenburg, Archiv für Kriminologie, 167 (1981), 129. 38 Dazu Münch. Komm./Mertens, § 823 RN 365; Deutsch, VersR 1981, 293 (296); Laufs, Arztrecht2 , RN 38, 59, 137. 39 Dazu Stall, AcP 176 (1976), 145 (155 ff.); Münch. Komm./Söllner, § 611 RN 44; Deutsch/Geiger, Medizinischer Behandlungsvertrag, S. 1062 f.; BGH NJW 1978, 584; Ausnahmen wird man bei kosmetischen Operationen machen können; Streit herrscht dagegen bei Eingriffen zwecks Sterilisation, dazu Ströfer, VersR 1981, 796 (804 ff.) m. w. N. 35

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1. Teil: A. Das geltende Recht der Arzthaftung

diejen1ge Methode zu wählen, die am ehesten erfolgversprechend ist 40 • In diese Richtung geht denn auch der Versuch, das Arztverschulden dogmatisch in die Erscheinungsformen grober Pflichtverstoß, Ermessensfehlgebl1auch und Maschinenversagen einzukleiden41 , nachdem schon zuvor das reichhaltige, jedoch kasuistische Material 42 nach Verschuldenstypen systematisiert worden war43. Die Funktion der Beruf,spflichten des Arztes als Angelpunkt der Haftung bleibt jedoch weitgehend theoretischer Natur, wenn der Beweis des Pflichtverstoßes scheitert44 • Für das ärztliche Verschulden ist nach der Rosenberg'schen Normentheorie45 in der Regel der Patient beweisbelastet. Wegen fehlender Kenntnis von der Materie, wegen der insbesondere bei Operationen ungemein komplizierten Abläufe und wegen der aufgrund technischer Schwierigkeiten nur eingeschränkt möglichen DokumentaNon kann der Patient, der zuweilen während der Behandlung sogar ohne Bewußtsein ist, den erforderlichen Nachweis häufig nicht erbringen46 , Dem Patienten ist jedoch von der Rechtsprechung, was das Verschulden des Arztes angeht, bislang kaum durch Beweiserleichterungen aus seiner Beweisnot geholfen worden47 , Mehrfach fand jedoch der Anscheinsbeweis Anwendung 48 ; daneben werden Beweiserleichterungen prozessualer Art gewährt4 9 , die bis zur Umkehr der Beweislast führen können. Schließlich hat der BGH in bislang zwei Fällen § 282 BGB an40 Vgl. Laufs, Arztrecht2 , RN 155; Mertens, VersR 1974, 509 (512); Kröning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 14 ff. 41 Deutsch, in: Pluralität in der Medizin, S. 141 ff.; ders., JZ 1978, 277 f. 42 Überblick bei Laufs, Arztrecht2 , RN 155 ff.; StaudingerISchäfer 10 !11, § 823 RN 309 ff.; Münch. Komm./Mertens, § 823 RN 383 ff. 43 WeyerslMirtsching, JuS 1980, 317 (319); Narr, Ärztliches Berufsrecht, RN 886 ff.; H. Franzki, Aktuelle Rechtsprechung zur Haftung des Arztes, S. 11 ff.; Deutsch, NJW 1976, 2289; ders., VersR 1977, 101. 44 Zu dieser Interdependenz von materiellem und Verfahrensrecht Schuster, Diss. jur. Freiburg 1975, S.55; Gottwald, Schadenszurechnung, S. 84; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Anhang zu § 282 RN 20. 4S Rosenberg, Die BeweislastS , S. 98 ff. 48 Vgl. Gaupp, Beweisfragen im Rahmen ärztlicher Haftungsprozesse, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 10 f.; dies gilt um so mehr, als den Arzt vor allem wegen des strafrechtlichen Prinzips der Straflosigkeit der Selbstbegünstigung, grds. keine Pflicht zur Offenbarung seiner Fehlleistung trifft, vgl. Gubernatis, JZ 1982, 363; dieser Umstand verdeutlicht, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Ausübung des ärztlichen Berufes durchaus nicht immer für den Patienten aus rechtlicher Sicht vorteilhaft sein muß. 47 Gegen solche Beweiserleichterungen, die eine Verschärfung der ärztlichen Haftung im beweisrechtlichen Gewand darstellen würden, sprechen sich WachsmuthlSchreiber, NJW 1981, 1985 ff. aus. 48 Nachweise bei Kröning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 110 f. 49 Dazu Srurner, NJW 1979, 1225 ff.; H. Franzki, DRiZ 1977, 36 ff.; ders., Aktuelle Rechtsprechung zur Haftung des Arztes, S. 59 f. mit Nachw. zur Rechtsprechung.

!lI. Der Kausalzusammenhang

23

gewendet50 ; allerdings enthebt die dort angeordnete Beweislastumkehr den Patienten nicht von dem Nachweis, daß eine objektive Pflichtwidrigkeit vorliegt. Daß dem Patienten ein Schaden entstanden ist, vermag für sich allein das Eingreifen des § 282 BGB nicht auszulösen. Grundsätzlich hält der BGH freilich an seinem Standpunkt fest, § 282 BGB sei im Arzthaftungsrecht unanwendbar, weil man dem Arzt nicht das Mißerfolgsrisiko auferlegen könneS1 • Eine neuere Entscheidung des BGH belastet den Krankenhausträger mit dem Beweis dafür, daß einem feststehendem Pflichtverstoß einer Krankenschwester nicht ein Organisationsverschulden zugrunde liegt52 • Die soeben angerissenen Beweisprobleme harren großenteils noch klarer dogmatischer Durchdringung und sollen daher nach genauerer Analyse noch Gegenstand rechtstatsächlicher Betrachtung sein53 •

Irr. Der Kausalzusammenhang Ähnlich steht um den Beweis des Kausalzusammenhangs im Recht der Arzthaftung. Auch insofern gilt als Grundsatz, daß der geschädigte Patient beim vertraglichen Anspruch die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden, beim deliktischen Anspruch aus § 823 I BGB die Kausalität zwischen pflichtwidrTigem Verhalten und Rechtsgutsverletzung sowie den Ursachenzusammenhang zwischen Rechtsgutverletzung und Schaden zu beweisen hat. Die Ursache der Beweisschwierigkeiten für den Patienten ist im Grunde die gleiche wie beim Beweis des Verschuldens. Hinzu kommt freilich, daß es der Arzt nicht mit einem gesunden Gegenüber zu tun hat, sondern mit einem kranken Menschen, der die Anlage zum Schaden bereits in sich tragen kann54 • Zur Einführung in die Problematik soll an dieser Stelle ein überblick über die Rechtsprechung genügen55 , denn die in der Literatur ange50 BGH NJW 1978, 584; BGH VersR 1981, 730 (732); beide Entscheidungen stellen darauf ab, ob das Geschehen, das zum Schadenseintritt führte, objektiv beherrschbar war. Für das Versagen von Maschinen und die Frage, ob ein Eingriff überhaupt vorgenommen wurde, wird dies so dann bejaht. Parallelen dazu im Deliktsrecht werden aufgezeigt von Deutsch, JZ 1978, 277. 51 BGH VersR 1967, 664; kritisch zu dieser Rechtsprechung Palandt/Heinrichs 42 , § 282 Anm. 2 e; Stall, AcP 176 (1976) 145 (155 f.); Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 65 ff.; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, 36 ff.; Giesen, JZ 1982, 448 (455). 52 BGH VersR 1982, 161 = NJW 1982, 699. 53 Unten 2. Teil B., S. 39 fr. 54 Zu den Ursachen der Beweisprobleme vgl. nur Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 11 ff.; auch Rümelin, S. 21 f.; eine Fallsammlung dazu findet sich bei Bappert, Arzt und Patient als Rechtssuchende, S. 89 ff. 55 Dazu etwa Weyers/Mirtsching, JuS 1980, 319 (322); H. Franzki, Aktuelle Rechtsprechung zur Haftung des Arztes, S. 55 ff.; Laufs, Arztrecht 2 , RN 187 ff.; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 50 ff.; Giesen, JZ 1982, 448 (453 f.).

1. Teil: A. Das geltende Recht der Arzthaftung

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botenen Alternativen und Systematisierungsversuche sind so zahlreich, daß sie eingehender Diskussion bedürfen56 • Grundsätzlich muß die Beweiswül'digung zur vollen Überzeugung des Gerichts führen, § 286 ZPO. Nach § 287 ZPO genügt jedoch erhebliche Wahrscheinlichkeit, wenn nach § 286 ZPO bereits nachgewiesen ist, daß der Geschädigte durch die Pflichtverletzung "betroffen" ist57 • Im Bereich des § 823 I BGB wurde dieses Merkmal in der Regel als gegeben angesehen, wenn die haftungsbegründende Kausalität feststand58 • Daneben ist bei typischen Abläufen der Anscheinsbeweis möglich, wobei von der Pflichtwidrigkeit auf den Erfolg geschlossen werden kann59 • Zur Entkräftung des Anscheinsbeweises genügt der Gegenbeweis6o • Schließlich stehen dem Patienten - wie der BGH sich neuerdings ausdrückt - in folgenden Fallgruppen Beweiserleichterungen, die bis zur Beweislastumkehr reichen können6!, zur Seite: -

Der Arzt hat einen groben Behandlungsfehler begangen, der generell geeignet ist, den eingetretenen Schaden herbeizuführen62 • Diese Beweiserleichterung gilt nicht mehr für weiter entfernte Sekundarschäden63 • Außerdem muß sich gerade das Risiko verwirklicht haben, das die verletzte Pflicht hintanhalten sollte64•

-

Der Arzt hat dem Patienten den Beweis schuldhaft erschwert oder vereitelt, indem er Beweismittel vernichtet65 oder ärztliche Feststellungen und Aufzeichnungen pflichtwidrig unterlassen hat 66 •

Die genannten Beweiserleichterungen kommen dem Patienten großenteils unabhängig von der Anspruchsgrundlage zugute. Eine Systematisierung wird zeigen müssen, ob das Arzthaftungsrecht eigene beSiehe unten 2. Teil C., S. 55 ff. BGH NJW 1968, 2291; NJW 1981, 628 (630). 58 BGH NJW 1968, 2291 m. Anm. Hanau; die Rechtsprechung des BGH ist jedoch insofern durchaus nicht einheitlich; dazu Arens, ZZP 88 (1975), 1 ff. Zur positiven Vertragsverletzung existiert eine Entscheidung des BGH in NJW 1969, 1708, die in die gleiche Richtung wie BGH NJW 1968, 2291 deutet. 59 Z. B. OLG Bremen, VersR 1979, 1060; LG Ravensburg NJW 1978, 1692. Beim Anscheinsbeweis des Verschuldens wird umgekehrt vom Erfolg auf die Pflichtwidrigkeit geschlossen. 80 BGH NJW 1976, 897; 1978, 2032; BGH LM Nr. 15, 25 zu § 286 (C) ZPO; der volle Beweis des Gegenteils muß nicht geführt werden. 61 BGH NJW 1978, 2338; NJW 1981, 2513. 82 BGH NJW 1968, 2291; NJW 1981, 2513; BGH VersR 1970, 544; BGHZ 75, 212. 83 BGH NJW 1970, 1230; 1978, 1683; VersR 1981, 462. 84 BGH NJW 1981, 2513. 85 BGH NJW 1976, 2245. 86 BGH NJW 1978, 1681 (1682); NJW 1978, 2337; NJW 1983, 333 m. Anm. 56

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Matthies.

IV. Die Verletzung der Aufklärungspflicht

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weisrechtliche Wege geht oder ob es in das herkömmliche Schema eingeordnet werden kann. IV. Die Verletzung der Aufklärungspfticht Auch hinsichtlich der Aufklärungspflicht des Arztes87 sind mehrere Problemkreise zu unterscheiden, die allerdings gewisse Interdependenzen aufweisen. Vor allem geht es um die Funktion der Aufklärungspflicht und die Sanktion bei ihrer Verletzung, um Reichweite, Form und Inhalt der Aufklärungspflicht sowie um Beweis und Beweislast. Die zuletzt genannte Fragestellung konnte beispielsweise nur aufgrund der Funktion, die der Aufklärungspflicht nach der Rechtsprechung zukommt, so erhebliche Bedeutung erlangen. Naturgemäß beeinflussen auch Form und Inhalt der Aufklärungspflicht das Beweisrecht. Aus der Fragestellung auszusondern ist zunächst die sog. therapeutische oder Sicherungsaufklärung, die Bestandteil der ärztlichen Behandlungspflicht ist und den Patienten darüber informieren soll, auf welche Weise er seine Lebensführung der Krankheit oder dem Gesundungsprozeß anzupassen hatß8; so ist etwa der Hinweis auf die Maßregeln einer Diät hier einzuordnen, gleichfalls die Warnung vor den Gefahren, die eine Autofahrt unter Medikamenteneinfluß in sich birgt89 • Dem hat der BGH neuerdings die sog. Beratungspflicht über die Versagerquote bei einer Sterilisation zur Seite gestellt70 • Die eigentlichen Schwierigkeiten wirft die sog. Selbstbestimmungsaufklärung auf, also die Aufklärung über die mit der ärztlichen Maßnahme verbundenen Risiken und Erfolgsaussichten. Nach ständiger Rechtsprechung stellt der ärztliche Heileingriff, auch wenn er lege artis durchgeführt wird, eine rechtswidrige Körperverletzung dar, die zu ihrer Rechtfertigung einer Einwilligung nach erfolgter Aufklärung bedarf71• Die Beweislast dafür trägt der Arzt, und zwar unabhängig davon, ob vertragliche oder deHktische Ansprüche geltend gemacht werden7.!. Das gilt auch für den 67 Vgl. dazu die umfängliche Darstellung von Kern/Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, passim. 88 Dazu Laufs, Arztrecht2 , RN 64; Putzo, Die Arzthaftung, S. 36; Staudingerl Schäfer1 0/11 , § 823 RN 316, 319; daneben gibt es auch noch die sog. Befundaufklärung, also die Auskunft über das Resultat der Diagnose, die aber in der Rechtsprechung bislang noch kaum eine Rolle gespielt hat, vgl. H. Franzki, Aktuelle Rechtsprechung, S. 19. 89 LG Konstanz, NJW 1972, 2223; auch BGH NJW 1972, 335. 70 BGH VersR 1981, 278; VersR 1981, 730. Dazu Ströfer, VersR 1981, 796 und Fischer, JR 1981, 50l. 71 RGZ 68, 431 (433); BGHZ 29, 46; weitere Nachw. bei Staudinger/Schäfer 10/11 , § 823 RN 11. 72 Zwar ist die Aufklärungspflicht nur vertragliche Nebenpflicht, so daß an sich der Patient die Beweislast trüge. Dennoch wird die deliktische Recht-

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1. Teil: A. Das geltende Recht der Arzthaftung

Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens durch den Arzt 73 • Diese Beweislastverteilung erklärt die zunehmend kritisierte74 Entwicklung der Aufklärungspflichtverletzung vom Primärhaftungsgrund für eigenmächtige Heilbehandlung zum Subsidiärhaftungsgrund75 für nicht beweisbare Behandlungsfehler. Dieser Konsequenz kann man entgehen, wenn man die Verletzung der Aufklärungspflicht nicht als Element der Rechtswidrigkeit begreift, sondern mit einer Literaturmeinung die Verletzung des Persänlichkeitsrechts des Patienten annimmt7 6 • Die Beweislast läge dann nämlich beim Patienten. Zum gleichen Ergebnis kommt man, indem man das Arzthaftungsrecht als Verhaltensunrecht konzipiert und die Verletzung der Aufklärungspflicht sodann den übrigen Behandlungsfehlern als Pflichtverstoß gleichstellt77 • Die Rechtsprechung geht einen anderen Weg, um die Funktion der Aufklärungspflicht als Subsidiärhaftungsgrund aufzuweichen. Wenn schriftliche Unterlagen über ein Aufklärungsgespräch vorliegen, soll dem Arzt im allgemeinen geglaubt werden, daß die Aufklärung in der im Einzelfall gebotenen Form stattgefunden hat7 8 • Der BGH vermindert auf diesem Wege die Beweisanforderungen, was i. E. dazu führt, daß die Rüge der verletzten Aufklärungspflicht seltener mit Erfolg geltend gemacht werden kann. Eine wirkungsvolle Ergänzung dazu stellt der fertigungsfunktion in das Vertragsrecht übertragen, wohl wegen der Bedeutung, die dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten beigemessen wird, vgl. BGH VersR 1981, 278 (279); H. Franzki, Aktuelle Rechtsprechung zur Haftung des Arztes, S. 62 f.; kritisch dazu Ströfer, VersR 1981, 796 ff. Wegen der Parallelität der deliktischen und vertraglichen Anspruche gibt es allerdings auch keinen Anlaß zu Differenzierungen. 73 Zuletzt BGH VersR 1981, 677 (678); NJW 1980, 1333 m. w. N.; NJW 1982, 700 mit Modifikationen hinsichtlich der Darlegungslast zulasten des Patienten. 74 Siehe nur Laufs, NJW 1976, 1121 (1122 f.); ders., NJW 1977, 1081 (1082); ders., NJW 1981, 1289 (1292 f.); Schreiber, Nds. Ärzteblatt 1978, 120; Ströfer, VersR 1981, 796 (801); BochniklGärtner/Richtberg, VersR 1981, 793 (796 f.). 75 So die Terminologie bei Deutsch, NJW 1978, 1657 (1660); vgl. beispielsweise OLG Celle, VersR 1982, 500. 76 Laufs, NJW 1974, 2025; Wiethölter, in: Die Aufklärungspflicht des Arztes, S.71 (101 ff.); WeyerslMirtsching, JuS 1980, 317 (320); dagegen betont Deutsch, NJW 1965, 1985 zu Recht, daß das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dessen körperlicher Integrität vorgelagert ist und nicht isoliert gesehen werden kann; vgl. auch Münch. Komm.!Mertens § 823 RN 373 ff.; Kroitzsch, VersR 1978, 396 (400 f.) hält bei Verletzung der Aufklärungspflicht durch Psychotherapeuten technisch immer nur eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts für möglich, übersieht dabei allerdings, daß auch die Einwirkung auf die menschliche Psyche eine Gesundheitsverletzung darstellen kann. 77 So Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 7; dazu Schünemann, NJW 1980, 2753. 78 BGH zu OLG München VersR 1979, 848; BGH VersR 1981, 730 (731); weitergehend Münch. Komm.!Mertens, § 823 RN 460; zurückhaltend Giesen, JZ 1982, 448 (457); neuerdings greift Niebling, MDR 1982, 193 mit guten Gründen unter dem Aspekt des AGBG den Beweiswert von Aufklärungsformularen an; vgl. jetzt auch OLG Celle, NJW 1982, 500.

V. Der Beweis durch Sachverständige

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in der Literatur aufgeworfene Vorschlag dar, das "Nachschieben" der Aufklärungsruge im Prozeß durch Anwendung der §§ 283, 296, 523, 528 ZPO zu unterbinden 79 • Durch die herabgesetzten Beweisanforderungen werden gleichfalls die erheblichen inhaltlichen Anforderungen der Rechtsprechung an die Aufklärung 80 in ihren Auswirkungen gemildert. Diese Funktion des Beweisr·echts hat gerade wegen der - vor allem von der Ärzteschaft - geäußerten Kritik an Umfang und Inhalt der von der Rechtsprechung statuierten Aufklärungspflicht erhebliche Bedeutung erlangt. Die Kritik setzt nicht nur an dem Einsatz der Aufklärungspflichtverletzung als Subsidiärhaftungsgrund an; es geht vielmehr auch um die - wie behauptet wird - übermäßige Betonung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten innerhalb der Arzt-PatientenBeziehung: Die Aufklärung sei ihrer Natur nach eine vertrauensbildende Maßnahme, werde indessen von Juristen zur Streitbegründung pervertiert; die von der Rechtsprechung eingeläutete Übermaßaufklärung gefährde das Patientenwohl; die Aufklärung gehe an der Mehrzahl der Patienten vorbei, ohne von ihnen inhaltlich voll registriert zu werden; schließlich werde die Ärzteschaft arbeitsmäßig durch die Verpflichtung zur umfänglichen Aufklärung überlastet8t •

v.

Der Beweis durch Sachverständige

Die Zahl der geltend gemachten Ansprüche wegen behaupteter ärztlicher Behandlungsfehler nimmt beständig zu 82 • Dies mag auf eine durch den modernen Wohlfahrtsstaat hervorgerufene allgemeine Anspruchshaltung in der Bevölkerung83 , daneben auch auf die aufsehen79 Tempel, NJW 1980, 609 (617); Münch. Komm./Mertens, § 823 RN 425; vgl. auch Matthies, VersR 1981, 1109 (1110) sowie BGH VersR 1978, 4l. 80 Auf die Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden, da es in erster Linie um Funktion und Beweis der Aufklärungspflichtverletzung geht. Diese Begrenzung des Untersuchungsthemas ergibt sich vor allem aus der eingeschränkten Priifungskompetenz der GutachtersteIlen für Verletzungen der Aufklärungspflicht. Verwiesen sei auf die umgänglichen Darstellungen bei Münch. Komm./Mertens, § 823 RN 422 ff.; StaudingerlSchäfertO/ll, § 823 RN 398 ff.; Laufs, Arztrecht2 , RN 64 ff.; Giesen, JZ 1982, 391 ff.; zu dem Sonderproblem der psychisch Kranken vgl. Kroitzsch, VersR 1978, 396; Schünemann, VersR 1981, 306. 8l BochniklGärtnerlRichtberg, VersR 1981, 793 ff.; WachsmuthlSchreiber, Medizin und Recht 1981, 77; Gerchow, in: Landesärztekammer Hessen (Hrsg.), Der Arzt im Labyrinth der Gesetze, S. 74 ff.; Putzo, Die Arzthaftung, S. 37 ff.; Buchborn, unveröffentlichter Vortrag vor der Fortbildungstagung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 14. -17.10. 1981 in Fischbachau; die Gegenposition vertritt vehement Giesen, JZ 1982, 391 (401 ff.). 82 An dieser Stelle mag vorerst ein Hinweis auf Reichenbach, VersR 1981, 807 und Herbrand, in: HymmenlRitter (Hrsg.), Behandlungsfehler, S. 107 ff., genügen. 83 So Mertens, VersR 1974, 509 (510). Von einer noch entgegengesetzten Einstellung in der Bevölkerung zeugt das von Rümelin, Haftung im klinischen Betrieb, S.3 FN 3 im Jahre 1913 niedergeschriebene Beispiel.

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1. Teil: A. Das geltende Recht der Arzthaftung

erregenden Fortschritte der Medizin in den vergangenen Jahrzehnten zurückzuführen sein. Naturgemäß wächst damit auch die Zahl der durch Beweisschwierigkeiten frustrierten Anspruchsteller. Daß das Arzthaftungsrecht Arzt und Patient vor besondere Beiweisprobleme stellt, kann nicht bestritten werden84 • Die Ursachen dafür wurden bereits kurz skizziert. Ein deutlicher Indikator sind auch die relativ zahlreichen Strafanzeigen85 , die häufig allein deswegen erhoben werden, um mit Hilfe der Staatsanwaltschaft die Beweislage für den Patienten zu verbessern. In dieser Hinsicht steht allerdings, wie zu hoffen [st, eine Entwicklung fort von der Strafanzeige bevor, nachdem sich in der Rechtsprechung das Recht des Patienten auf Einsichtnahme in die Krankenunterlagen durchgesetzt hat 86• Eine ähnliche Verbesserung der Situation des beweisbelasteten Patienten kann vielleicht von den Gutachter- und Schlichtungsstellen geleistet werden. Neben den dem Patienten bislang verschlossenen Krankenunterlagen bereitet nämlich der Beweis durch den Sachverständigen in der Praxis die größten Schwierigkeiten. Freilich steht die Arzthaftung insofern nicht allein. Vielmehr ist die Kritik am Sachverständigen allen Berufshaftungen in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße eigen87 • Die Gründe, die Zweifel an der Objektivität der Gutachter aufkommen lassen, sind jeweils gleicher Art: Parteien und Gerichte sind mangels eigener Sachkompetenz immer wieder auf Sachverständige angewiesen, die der gleichen Berufsgruppe wie der Beklagte angehören. Dadurch entfaltet die Sachverständigenaussage eine quasinormative Wirkung, wenngleich dem Gutachter an sich nur technische Kompetenz zukommt88 • In dieser Situation zieht die Standessolidarität, 84

Dazu eingehend unten Teil 2. Aus der Literatur sei noch verwiesen auf

Laufs, NJW 1980, 1315 (1317); ders., NJW 1979, 1230 (1231 f.); Weimar, JR 1977, 7 (8); Krauß, in: H. W. Schreiber/Jung (Hrsg.), Arzt und Patient zwischen Therapie und Recht, S. 141 (162); insbesondere aber BVerfG NJW 1979,

1925.

Dazu Laufs, Arztrecht2, RN 175; Deutsch, NJW 1982, 680. OLG Bremen NJW 1980, 644; OLG Köln NJW 1982, 704; LG Limburg NJW 1979, 607; LG Göttingen NJW 1979, 601 mit Anm. Ahrens ebenda; LG Köln VersR 1981, 1086; KG NJW 1981, 2521; vgl. auch BGH NJW 1978, 2337 und Daniels, NJW 1976, 345 ff.; kritisch Laufs, NJW 1982, 1319 (1323); ob die jüngst durch den BGH NJW 1983, 328; 330 vorgenommene Begrenzung des Einsichtsrechts auf die objektiven Daten dazu beiträgt, wird sich erst zeigen müssen. Freilich wird die dadurch frisch aufgeworfene Rechtsfrage nach dem Umfang des objektiven Teils der einzelnen Dokumentation Quelle neuen Konfliktpotentials sein. 87 Mertens, VersR 1974, 509 (513). 88 Weyers/Mirtsching, JuS 1980, 317 (318 f.); Pieper/Breunung/Stahlmann, Der Sachverständige im Zivilprozeß, S. 301; BGH NJW 1975, 1463 empfiehlt daher eine kritische Würdigung insbesondere medizinischer Gutachten in Arzthaftungssachen; ähnlich BGH VersR 1980, 533; 1981, 752; 1981, 43; OLG Bremen NJW 1980, 644. 85

86

I. Aufklärungspflichtverletzung als Auffangtatbestand

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von der sich viele Gutachter auch heute noch nicht frei machen können, besonders negative Wirkungen nach sich. Daher trifft man in Literatur und Rechtsprechung häufig auf Sachverständigenschelte89 , und zwar auch von Ärzteseite 90 , so daß von der partiellen Berechtigung dieser Kritik durchaus ausgegangen werden kann. Wenn man - wie noch zu erörtern sein wird 91 - einer im Schrifttum ärztlicherseits geäußerten Ansicht92 zustimmen könnte, daß die meisten Fälle, die derzeit von der Tatsachenlage her unklar erscheinen, durch ein objektives Gutachten klargestellt werden könnten, dann wäre das Sachverständigenproblem sogar als "die" beweis rechtliche Schlüsselfrage einzuordnen. Die Bedeutung der Gutachter- und SchHchtungsstellen wäre daran zu messen.

B. Die Ansätze zur Lösung des Beweisproblems Das Beweisproblem ist nach alledem als Ursache der meisten Schwierigkeiten im Arzthaftungsrecht anzusehen. Es entscheidet über die Erfolgsaussichten im Prozeß und damit letztlich über die Wirksamkeit des materiellen Rechts. Es nimmt Einfluß auf die dogmatische Einordnung bestimmter Phänomene und bestimmt, ob und in welchem Umfang die ärztlichen Pflichten, was Behandlung und Aufklärung angeht, haftungsrechtlich Bedeutung erlangen. Verschiedene Wege sind zu einer Umgehung beschritten worden.

I. Aufklärungspßiclltverletzung als Auffangtatbestand Der mit dem Beweis für den Behandlungsfehler belastete Patient nutzt häufig die umgekehrte Beweislast für die Verletzung der Aufklärungspflicht, um seine Beweisprobleme beiseite zu räumen93 • Damit kann er möglicherweise erreichen, daß Schadensersatz für einen Behandlungsfehler gezahlt wird, der dem Arzt zwar unterlaufen ist, jedoch nicht bewiesen werden konnte. Man mag das begrüßen, weil der 8D Rümelin, Haftung im klinischen Betrieb, S.14 FN 1; Giesen, Arzthaftungsrecht, S. 126 f.; ders., JZ 1982, 448 (451, 455); Schimanski, Beurteilung medizinischer Gutachten, S. 1 ff.; Schreiber, Nds. Ärzteblatt 1978, 117 (119); BGH NJW 1975, 1463; VersR 1982, 168. Für unberechtigt halten diese Kritik Putzo, Die Arzthaftung, S. 60; Wachsmuth, DRiZ 1982,412 und nach den Angaben von Weyers, Gutachten 52. DJT, S. A 40 auch die Haftpflichtversicherer. 90 Gerchow, in: Landesärztekammer Hessen (Hrsg.), Der Arzt im Labyrinth der Gesetze, S.74 (79); Rühl, FAZ vom 26.6.81. Freilich sind Äußerungen von Ärzten, die in die andere Richtung deuten, wesentlich häufiger. 111 Siehe unten 2. Teil B. I. 1. (S. 40 ff.), C. I. (S. 55 f.). 92 Rühl, FAZ vom 26.6.81; vgl. auch Eschner, DRiZ 1983, 9. 93 Dazu schon oben unter A IV, S. 25 ff.

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1. Teil: B. Die Ansätze zur Lösung des Beweisproblems

Patient am Ende nur sein Recht erhält. Dagegen sind die Sekundärfolgen dieses Klagegrundtausches in der Praxis fatal. Die Ärzteschaft muß nämlich bestrebt sein, diesen Klagegrund zu entkräften, und Gegenmaßnahmen - etwa in Form der bekannten Formularpraxis - ergreifen. Die Umgehung der Beweisschwierigkeiten mit Hilfe der Rüge unterbliebener Aufklärung führt so zu einer Präventionswirkung auf einem sachfremden Gebiet: nicht dem Behandlungsfehler wlird durch die ärztlichen Reaktionen entgegengewirkt, sondern der Aufklärungspflichtverletzung, obgleich es darauf in der Mehrzahl der Streitfälle in Wahrheit nicht ankam. Neben der fehlgehenden Prävention steht als weiterer Entwicklungsschritt die bereits beschriebene Über- oder besser wohl Fehlbetonung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, das das nicht minder wichtige Ziel der Vertrauensbildung auf diesem Wege beiseite zu schieben scheint. Das Abstellen auf einen oftmals sachfremden Entscheidungsgrund führt also zu einer Fehlentwicklung im Arzthaftungsrecht.

11. Fehlende Dokumentation Prozessuale Beweiserleichterungen Gleichlautende Vorwürfe könnte man geneigt sein, gegen die neue re Rechtsprechung zur ärztlichen Dokumentation zu erheben94 • Danach muß der Arzt den Nachweis für die angezweifelte Vertrauenswürdigkeit seiner Dokumentation erbringen95 • Bei fehlender, nachträglich erstellter oder geänderter Dokumentation können sich sogar Beweiserleichterungen für den Patienten bis hin zur Beweislastumkehrergeben96 • Nun dient die ärztliche Dokumentationspflicht zwar zum einen dazu, durch Aufzeichnung der Krankengeschichte eine ordnungsgemäße Weiterbehandlung zu ermöglichen. Zum anderen hat diese Pflicht aber auch einen prozessualen Zweck, sie ist Beweissicherungspflicht97 • Die Verletzung von Beweissicherungspflichten wird allgemein mit Beweiserleichterungen sanktioniert. Grundsätzlich kann daher die Rechtsprechung zur Dokumentationspflicht nicht als sachfremde Umgehung der Beweisprobleme des Patienten angesehen werden. Das gilt auch für die von der Rechtsprechung geschaffene allgemeine BeweiserhaltungsS4 SO wohl Laufs, NJW 1982, 1319 (1323); aus Ärztesicht kritisch Kuhlendahl, ArztR 1980, 233 ff.; Wachsmuth, NJW 1982, 686; differenzierend Bochnik/Gärtner-Huth, Dt. Ärzteblatt 1982, Heft 10, S.97. 95 BGH NJW 1978, 1681. 96 BGH NJW 1978, 2337; NJW 1983, 332; vgl. auch OLG Braunschweig VersR 1980, 853; zustimmend Giesen, JZ 1982, 448 (454); für eine Berücksichtigung nur bei der Beweiswürdigung Schuster, Diss. Freiburg 1975, S. 5 ff. 97 Dazu Stürner, NJW 1979, 1225 (1228); Baumgärtel, Gedächtnisschr. BrunSt S.93 (98 ff.); D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß t ·S. 93 ff. (99).

III. Modifikation des Beweisrechts

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pflicht, die die Vernichtung von Beweismitteln mit Beweiserleichterungen für die beweisbelastete Partei ahndet98 • Am Ausmaß der Beweiserleichterungen durch die Rechtsprechung zur Verletzung der Dokumentationspflicht werden wohl auch die neuen Urteile des BGH, die das Einsichtsrecht des Patienten auf den "objektiven" Teil der Dokumentation begrenzen99 , nichts ändern. Der Ablauf von Krankheit, Diagnose und Therapie ist regelmäßig schon mit Hilfe jener "objektiven" Daten nachvollziehbar. Nun ist die Dokumentationspflicht aber kein Allheilmittel zur generellen Überwindung der BeweisschwierigkeÜen im Arzthaftungsrecht. Sie kann dem Patienten vielmehr nur dann helfen, wenn sie wirklich verletzt wurde, wobei davor zu warnen ist, sie allzu weit auszudehnen100 • Ansonsten bestünde die Gefahr, daß bei jedem Behandlungsfehler, der unaufklärbar ist, die Verletzung der Dokumentationspflicht herhalten müßte101 • Auf diesem Wege würde man in das Arzthaftungsrecht rasch eine Pflicht zur Herbeiführung eines Erfolges aufnehmen, was gerade vermieden werden soll. Der Normzweck der Dokumentationspflicht würde wie der der Aufklärungspflicht überdehnt werden. Daher sind auch Tendenzen in der älteren Rechtsprechung 102 , die eine Beweisvereitelung schon in dem Behandlungsfehler selber sahen, der ja die Unaufklärbarkeit des Kausalzusammenhangs erst herbeigeführt habe, zu recht kritisiert worden103 •

III. Modifikationen des Beweisrerhts Der einfachste Ausweg aus den Beweisschwierigkeiten scheint zunächst in weiteren Beweiserleichterungen für den Patienten zu bestehen. Zwar wird von der Verfassung ein solches Vorgehen nicht ge98 Etwa BGH, VersR 1963, 58; zum Arzthaftungsrecht RGZ 128, 125; BGH LM Nr.2 zu § 282 ZPO; SWrner, NJW 1979, 1225 (1228); BaumgärteI, Handbuch, Anhang zu § 282 RN 99, § 823 RN 50 ff.; Gottwald, Jura 1980, 303 (304) (Berücksichtigung im Rahmen der freien Beweiswürdigung); Rosenbergl Schwab 13 , § 118 III 6 a; kritisch Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 58 m. w. N. 99 BGH NJW 1983, 328; 330. 100 Kuhlendahl, ArztR 1980, 233 ff.; dem ist zuzustimmen, denn es ist sicher nicht die erste Pflicht des Arztes, zu dokumentieren, sondern zu heilen. 101 Der BGH wirkt dem entgegen, indem er bei Verletzung der Dokumentationspflicht die Darlegungs- und Beweislast des Patienten nur reduziert, NJW 1983, 332. 102 BGH VersR 1958, 849. 103 Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 58 f.; 84 ff.; Kleinewefers/Wilts, VersR 1967, 617 (620 f.); Matthies, NJW 1983, 335; freilich findet sich in BGH VersR 1962, 690; NJW 1967, 1508; NJW 1968, 1185; NJW 1983, 333 diese Argumentation wieder, um die Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler zu rechtfertigen, ebenso Nüßgens, Festschr. Hauß, S. 287 (298 f.); wie hier Hohloch, NJW 1982, 2577 (2581 ff.).

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1. Teil: B. Die Ansätze zur Lösung des Beweisproblems

boten104 ; dennoch finden sich in der Literatur Stimmen, die für eine ausgedehnte Anwendung des Anscheinsbeweises eintreten105 oder aber eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes immer dann fordern, wenn sein Fflichtverstoß feststeht 106• Dem ist immer wieder entgegenzuhalten, daß der Arzt nicht das Risiko des Fehlschlags seiner Maßnahme tragen kann, weil der Patient vorgeschädigt ist und weil die physiologischen Abläufe im Körper des Menschen auch heute noch oftmals unkalkulierbar sind. Das gilt im Grundsatz auch dann, wenn ein fehlerhaftes Verhalten des Arztes erwiesen ist107 • Daher überwiegen in der Literatur denn auch Stellungnahmen, die das geltende Beweisrecht im Grund unangetastet lassen wollen, daneben aber die Systematisierung der - zugegebenermaßen - etwas diffusen Rechtsprechung anstreben108• Freilich bewirken die dazu herangezogenen Kriterien in der Praxis zuweilen dennoch eine Beweiserleichterung, wohl weil es recht schwierig ist, die Rechtsprechung auf je einen einheitlichen Grundsatz zuruckzuführen109 • Deshalb müssen sich auch diese Ansätze teilweise den warnenden Hinweis gefallen lassen, daß sie dem Arzt eine partielle Erfolgseinstandspflicht auferlegen und ein Sonderbeweisrecht für Ärzte schaffen könnten, das dogmatisch nicht zu begründen wäre. Die Rechtsprechung hat demgegenüber einen anderen Weg ein geschlagenllo . Den Parteien wird mit Hilfe prozessualer Maßnahmen der 104 BVerfG NJW 1979, 1925 (allerdings erging diese Entscheidung mit 4: 4 Stimmen); zustimmend Stürner, NJW 1979, 2334 ff.; kritisch und mit dem dissenting vote Giesen, JZ 1982, 448 (449). 105 Giesen, Arzthaftungsrecht, S. 129 f., insbesondere bei Behandlung mit Hilfe neuer Methoden und auch allgemein, weil der Arzt den Vorgang aufgrund seines Wissensvorsprungs weit besser als der Patient aufklären könne. 106 Kleinewefers/Wilts, VersR 1967,617 (625); Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 132 ff.; s. a. Griess, JZ 1975, 581; tendenziell auch Giesen, Arzthaftungsrecht, S. 131 f.; allgemein Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 84 ff. (Haftung für mögliche Kausalität); Deutsch, Festschr. v. Caemmerer, S.329 (335), hält Beweiserleichterungen nur bei gleichzeitigem Abrücken vom Alles-oder-Nichts-Prinzip im Schadensersatzrecht für vertretbar. In der DDR gilt eine Beweislastumkehr für das Verschulden, allerdings auf der Basis eines abweichenden Systems des "Gesundheitsrechts" , vgl. Mück, NJW 1983, 1364. 107 So nachdrücklich Wachsmuth/Schreiber, NJW 1981, 1985; Ströfer, VersR 1981, 797 (799); Rümelin, Haftung im klinischen Betrieb, S.22. 108 Vgl. etwa Walter, JZ 1978, 721, 806; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast, S. 89 ff., 99 ff., 133 ff., 145 ff.; Maassen, Beweismaßprobleme im Schadensersatzprozeß, S. 80 ff.; Diederichsen, VersR 1966, 220; Baumgärtel, Gedächtnisschr. Bruns, S. 93 ff.; Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, passim; ders., ZVersWiss 1981, 155 (172 ff.). 109 Dies gilt etwa für die Ansätze von Musielak, Maassen und Bodenburg, die für eine Herabsetzung des Beweismaßes auf überwiegende Wahrscheinlichkeit eintreten, weil sie davon ausgehen, daß dies in der Rechtsprechung verdeckt bereits jetzt der Fall sei. 110 Man kann natürlich auch die hohen Sorgfaltsmaßstäbe als Ausweg aus dem Beweisdilemma ansehen, wie Klingmüller, VersR 1980, 694 (695) an-

IV. Alternativen de lege ferenda

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Beweis erleichtert. Man hat dafür das Schlagwort "Waffengleichheit" im Arzthaftungsprozeß geprägt111 • Dahinter verbirgt sich ein ganzes Maßregelpaket, das der Richter im Prozeß zu beachten gehalten ist112 • Als wichtigste Einzelheiten sind zu nennen: an die Schlüssigkeit von Klagen und an die Bestimmtheit der klägerischen Vorträge sollen verminderte Anforderungen gestellt werden113 ; die Beweisanforderungen werden - etwa bei einer vorhandenen Dokumentation, der in der Regel geglaubt werden soll - vermindert114 ; die Beweisführungslast wird z. T. verschoben115 , die Verhandlungsmaxime wird in Richtung auf den Untersuchungsgrundsatz aufgeweicht116• Zweifellos ist der Richter mit Hilfe dieses Instrumentariums in der Lage, auf die spezifischen BeweisproMeme im Arzthaftungsprozeß flexibel zu reagieren. Von Nachteil ist allerdings, daß die Erfolgsaussichten des Prozesses noch unkalkulierbarer werden117 und damit das Kostenrisiko wächst - ein Umstand, der der praktischen Rechtsverfolgung nicht eben dienlich ist.

IV. Alternativen de lege ferenda Neben der Fortentwicklung des geltenden Rechts bietet sich naturgemäß eine grundsätzliche Reform des Arzthaftungsrechts an, die freilich dem Gesetzgeber obläge. Man kann drei alternative Vorschläge unterscheiden. 1. Gefährdungshaftung

Insbesondere von Ärzteseite ist der Ruf nach Einführung einer Gefährdungshaftung laut geworden, wahrscheinlich um auf diesem Wege deutet. Allerdings dürfte es sich dabei eher um eine nicht beabsichtigte Nebenfolge der Festsetzung hoher Standards handeln; zudem könnte auf diese Weise auch nur der Verschuldensbeweis erleichtert werden. 111 Franzki/Franzki, NJW 1975, 2225; siehe auch BVerfG NJW 1979, 1925; damit soll die Beweislage von Patient und Arzt verbessert werden! 112 Zusammenstellung bei H. Franzki, DRiZ 1977, 36; Laufs, NJW 1982, 1319 (1322 f.); Giesen, JZ 1982, 448 (450); den Einwand von Daniels, NJW 1976, 345 (348), dabei handele es sich um einen Ausweg, der verglichen mit anderen Prozessen atypisch sei, entkräftet Stürner, NJW 1979, 1225, der die Maßnahmen der Rechtsprechung zum großen Teil auf allgemeine Prinzipien zurückführt. 113 BGH NJW 1978, 1681; VersR 1981, 278; 1981, 752; 1982, 168; OLG München MDR 1979, 1030; Franzki/Franzki, NJW 1975, 2225; kritisch Daniels, NJW 1976, 345 (348). 114 BGH NJW 1978, 1681; BGH VersR 1981, 730 (732); NJW 1983, 332. 115 BGH VersR 1981, 730 = JR 1981, 449 m. Anm. Fischer m. w. N. 116 BGH VersR 1979, 939; NJW 1975, 1463; VersR 1982, 371; Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, S. 50 ff. m. w. N. zur Rechtsprechung; Franzki/ Franzki, NJW 1975, 2225; H. Franzki, DRiZ 1977, 36. 117 Darauf wird zu Recht von Daniels, NJW 1976, 345 (348) hingewiesen; zurückhaltender Giesen, JZ 1982, 448 (450). 3 Matthles

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1. Teil: B. Die Ansätze zur Lösung des Beweisproblems

den leidigen Schuldvorwurf auszuräumen. Eine Gefährdungshaftung für Ärzte ist aber in der Literatur auf einheitlichen Widerspruch gestoßen und dürfte inzwischen zu den Akten gelegt sein. Mit ihrer Einführung gingen nämlich Steigerungen der Haftpflichtversicherungsprämien einher, weil eine Anspruchslawine ausgelöst würde, was zu einer neuerlichen Kostensteigerung im Gesundheitswesen führen würde 118 ; die Probleme beim Kausalitätsbeweis würden nicht gelöst119 ; das ArztPatienten-Verhältnis würde zusätzlich belastet, weil es häufiger zu gerichtlichen Auseinandersetzungen käme und weil der Patient, der oft nicht zwischen den verschiedenen Gründen der Haftung unterscheiden könnte, dem Arzt stets einen Schuldvorwurf machen würde120 ; der ärztliche Behandlungsfehler liegt gänzlich außerhalb der typischerweise mit der Gefährdungshaftung belegten Risiken121 ; gerade die freien Berufe benötigen zur Sicherung ihrer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit einen Haftungsfreiraum, den nur die Verschuldenshaftung gewährleistet1 22 • 2. Versicherungslösungen

Ausländischen Modellen sind zwei Vorschläge nachempfunden, die eine Neuregelung des Arzthaftungsrechts entweder auf sozialversicherungsrechtlicher Basis123 oder als sog. Patientenversicherung 124 anstreben. Dem liegt eine zweifache Motivation zugrunde. Mit Hilfe der Versicherungslösung sollen die Beweisprobleme beseitigt werden. Daneben tragen die Versicherungslösungen aber auch einem bislang unerwähnten Spezifikum der Arzthaftung Rechnung, nämlich der sozi al rechtlichen überlagerung. Weyers 125 hat aufgezeigt, daß im geltenden Recht der Haftung des Arztes die Primärzwecke des Haftungsrechts-Ausgleich und Prävention126 - nur in abgeschwächtem Maße Wirkung entfalten. 118 Laufs, Arztrecht2 , RN 174; Mertens, VersR 1974, 509 (519); Dtnslage, VersR 1981, 310 (311); kritisch auch Schreiber, Nds. Ärzteblatt 1978, 117 (120). 119 Deutsch, Festschr. v. Caemmerer, S. 329 f.; ders., NJW 1978, 1657 (1659). 120 Dinslage, VersR 1981, 310 (311). 121 Mertens, VersR 1974, 509 (519); zu den mit der Gefährdungshaftung belegten Risiken und zur Typik der Gefährdungshaftung Deutsch, JuS 1981, 317. 122 v. Caemmerer, RabelsZ 1978, 1 (24 ff.). 123 Dieses Modell wird in Neuseeland praktiziert. Dazu Deutsch, VersR 1980, 201; Eike v. Hippel, ZRP 1976, 252. Ähnliches gilt auch für unverschuldete Behandlungsfehler in der DDR, dazu Mück, NJW 1983, 1364. 124 Hier steht das schwedische Beispiel Pate, vgl. dazu Giesen, Arzthaftungsrecht, S. 46 f.; Henschel, Schlichtungs- und GutachtersteIlen, S. 154 ff. 1,25 Weyers, Gutachten A zum 52. DJT, S. A 81 ff.; ebenso Weyers/Mirtsching, JuS 1980, 317 (318). 126 Dazu Deutsch, Haftungsrecht I, S. 68 ff.; allerdings ist die Prävention regelmäßig nur Sekundärzweck: neben der Schadensabnahme, Deutsch, a.a.O., S. 73 f.

IV. Alternativen de lege ferenda

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Der materielle Ausgleich wird zunächst vorwiegend von öffentlichen Vorsorgeträgern übernommen. Deren Regreßforderungen sowie den immateriellen Schaden und denjenigen Schaden des Patienten, der in langfristigem Verdienst ausfall besteht, regulieren so dann Haftpflichtversicherungen oder öffentliche Krankenhausträger. Durch aufgrund des Schadensfalls ,erhöhter Versicherungsprämien, die der Arzt an die Patienten und Vorsorgeträger weitergibt, steigen sodann die Kosten des Gesundheitswesens, die damit also letztendlich die Gemeinschaft der Versicherten aufzubringen hat, so daß im Ergebnis der Schaden schon heute sozialisiert ist. Da der Arzt den Schaden nicht zu tragen hat, findet auch keine Prävention auf finanziellem Wege statt. Nach Weyers wird angesichts dieses Geldkarussels die Schadensverteilung nach dem Verschuldensprinzip fraglich l27 • a) Sozialversicherung

Vor diesem Hintergrund und in Nachfolge des neuseeländischen Beispiels einer allgemeinen Volksversicherung gegen Unfälle ist der Ruf nach Sozialversicherung gegen Behandlungsfehler zu sehenl28 • An dieser Stelle kann nun die Ersetzung des geltenden Haftungssystems durch Volksversicherung nicht eingehend generell diskutiert werden. Es sollen nur einige Gesichtspunkte herausgegriffen werden, die verdeutlichen, daß auch die Sozialversicherung kein Allheilmittel ist. Zunächst ist festzuhalten, daß sich das neuseeländische Modell in der Praxis nicht eben bewährt hatt 29 • Dies wird man teilweise auf Fehler in der gesetzlichen Regelung zurückführen können, die vermeidbar sind. Gleichwohl bleiben daneben grundsätzliche Mängel bestehen, wie etwa der Zwang, den Leistungsfall abgrenzen zu müssen - wahrscheinlich 127 Die Darstellung von Weyers a.a.O. erscheint freilich etwas überzeichnet. Das von Weyers beschriebene Geldkarussel hat seine Ursache nicht nur in der sozial rechtlichen überlagerung des Arzthaftungsrechts. Vielmehr ist die gleiche Entwicklung wohl immer zu beobachten, wenn die Angehörigen eines Berufszweiges durchgehend eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen haben. Der Schaden führt dann nur zu erhöhten Prämien, die als Kosten auf die Kunden umgelegt werden. Dies ist, wie gesagt, kein Spezifikum des Arztrechts, sondern bei vielen freien Berufen der Fall. Allein für die Arzthaftung eine versicherungsrechtliche Lösung vorzuschlagen, muß daher als zu kurz gegriffen angesehen werden. Außerdem haben häufige Schadensfälle in einer Praxis bei ärztlichem Verschulden durchaus auch finanzielle Auswirkungen - die Patienten werden nämlich ausbleiben. Auch sollte der psychologische Präventionseffekt nach einem schuldhaften Behandlungsfehler nicht unterschätzt werden, wiegt doch in der Ärzteschaft ein solcher Vorwurf angesichts des spezifischen Berufsethos auch heute noch schwer nicht zuletzt darauf wird auch die Zurückhaltung ärztlicher Gutachter im Arzthaftungsprozeß zurückgeführt. 128 Vgl. nur Mertens/Reeb, JuS 1971, 409 (410); Eike v. Hippel, ZRP 1976,

252 (253) m. w. N. 129

3"

Deutsch, VersR 1980, 201.

36

1. Teil:

B. Die Ansätze zur Lösung des Beweisproblems

wie in Neuseeland an die Sorgfaltsverletzung angelehnt1 30 • Probleme beim Kausalitätsbeweis bleiben ebenfalls bestehen. Was die Basisversorgung im Krankheitsfall angeht, so besteht derzeit auch gar keine Notwendigkeit, ein Versicherungssystem einzuführen, da diese bereits jetzt durch eine funktionierende Sozialversicherung aufgefangen wird. Anders steht es dagegen mit Schmerzensgeldanspruchen, die durch Sozialversicherung abzudecken allerdings ein Novum wäre 131 • Ein solcher Schritt wäre aber nur allgemein für Unfallschäden vollziehbar, denn der Behandlungsunfall weist insofern keine Besonderheiten auf insbesondere dann nicht, wenn den Arzt kein Verschulden trifft oder der Schaden nicht kausal auf ärztliches Verschulden rückführbar ist. Der medizinische Zufall ist kein besonderer Zufall, er ist nur eine Abart des allgemeinen Grundsatzes "casus sentit dominum".

b) Patientenversicherung Bedeutsamere Vorteile erhofft man sich dagegen von dem Modell der Patientenversicherung. Dabei soll es sich der Konzeption nach um einen Versicherungsvertrag handeln, den der Arzt zugunsten des Patienten abschließt und der das Behandlungsrisiko abdeckt132 • Zu den Leistungen der Versicherung soll auch Schmerzensgeld gehören, aus Gründen der Versicherbarkeit freilich der Höhe nach begrenzt und nur bei schweren Beeinträchtigungen. Von diesem Modell erwartet man sich eine Abnahme der Zahl der Prozesse - durch die Versicherung würde der Rechtsweg nicht ausgeschlossen -, weniger Strafanzeigen und eine Entlastung der Aufklärungspflichtverletzung als Subsidiärhaftungsgrund133 • Die Kritiker tragen die gleichen Argumente wie gegen die Sozialversicherung vor: die Patientenversicherung könne die Beweisprobleme nicht lösen; soziale Sicherung bestehe schon jetzt; nur das Verschuldensprinzip könne die Haftung der freien Berufe angemessen regulieren134• Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß die Patientenversicherung das Arzthaftungsrecht einer Synchronisierung mit seiner sozialrechtlichen Überlagerung näher brächte, vor allem der Tatsache, daß die Patienten schon jetzt ihre Schäden selber finanzieren. Durch Anknüpfung der Versicherungsleistung nicht mehr an das Verschulden, sondern an das Behandlungsrisiko könnte man weniger differenzierte Leistungskriterien schaffen, die die Beweisprobleme mindern würVersR 1980, 201. Kritisch insofern v. Cammerer, RabelsZ 1978, 1 (10 f.); vgl. auch Deutsch, NJW 1978, 1657 (1659). 132 Dinslage, VersR 1981, 310 (311 f.). 133 Dinslage, VersR 1981, 310 (311 f.). 134 Mertens, VersR 1974, 509 (519); Laufs, NJW 1981, 1289 (1290). 130

131

Deutsch,

V. Gutachter- und Schlichtungsstellen

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den135 • Andererseits wirft die Patientenversicherung nicht unerhebliche versicherungstechnische Probleme auf; sie bringt die Notwendigkeit mit sich, das versicherte Risiko erheblich zu begrenzen136 und wegen der Regresse der Sozialversicherungsträger wären Gerichtsverfahren wohl gleichfalls nicht aus der Welt geschafft137 • Möglicherweise ist die Patientenversicherung ein Modell, das für die Zukunft nicht aus den Augen verloren werden sollte. Bei einer Versicherungslösung könnte vielleicht auch eine Beweislastumkehr erwogen werden, denn an ärztliches Verschulden wird ja nicht mehr angeknüpft. Die schwedischen Erfahrungen lassen allerdings keine ganz grundsätzliche Besserung der Situation durch die Patientenversicherung erwarten138 •

v. Gutachter- und Schlichtungsstellen Im folgenden soll nun untersucht werden, ob die Gutachter- und Schlichtungsstellen eine sinnvolle Alternative oder wenigstens eine effektvolle Ergänzung zur staatlichen Gerichtsbarkeit mit ihren dargestellten Regelungsmechanismen für die Haftung des Arztes bieten. Diese Eignung wird unter verschiedenen Gesichtspunkten zu prüfen sein. Es stellt sich die Frage der Tauglichkeit der Stellen, desgleichen soll die Suche nach neuen Perspektiven für die Dogmatik der Arzthaftung einbezogen werden. Ein Beispiel ist die bei den Schlichtungs- und Gutachterstellen zu beobachtende Tendenz, mit Hilfe überwiegender Wahrscheinlichkeiten zu entscheiden139 • Mit Hilfe des relativ reichhaltigen Fallmaterials soll zunächst versucht werden, die Rechtsprechung zum Beweisrecht zu systematisieren und neue Ansätze zu entwickeln. In einem solchen System könnte den Gutachter- und Schlichtungsstellen dann ein fester Standort zugewiesen werden, der nicht zuletzt Ausdruck der Besonderheiten ärztlicher Berufshaftung wäre. Zunächst gilt es also die dogmatische Vorgabe, das theoretische Soll für die Schlichtungsinstanzen zu erarbeiten - allerdings bei gleichzeitiger Berücksichtigung der praktischen Umsetzungsmöglichkeiten. Sodann wird untersucht werden, ob die Stellen die ihnen danach gesetzten Aufgaben erfüllen, indem praktisches Soll und tatsächliches Haben miteinander verglichen werden. 135 Weyers/Mirtsching, JuS 1980, 317 (323); zur Bilanz der schwedischen Patientenversicherung Giesen, Arzthaftungsrecht, S.47. 138 Während eines Gesprächs bei der Allianz AG am 18.12.1981 wurde dem Verfasser mitgeteilt, daß allein die z. T. nach Operationen unvermeidbar auftretenden Wundinfektionen mit einem Aufwand von ca. 4,5 Milliarden DM bei einem durchschnittlichen Schaden von DM 50 000,- (inkl. Schmerzensgeld) zu Buche schlagen würden. Eine Finanzierung durch das Prämienaufkommen der Ärzte wäre ausgeschlossen. Die Leistungskriterien müßten also erheblich eingeengt werden, so daß der Patient nicht wesentlich besser gestellt würde als bislang. 137 Klingmüller, VersR 1980, 694; darstellend, ohne Bewertung der Patientenversicherung Deutsch, NJW 1978, 1657 (1659 f.). 138 Hellner, unveröffentlichter Vortrag gehalten während der Tagung über Medical Responsibility in Western Europe vom 26. - 29. 11. 1981 in Göttingen. 139 Vgl. etwa die im Berliner Ärzteblatt 1979, 540 abgedruckten Beispielsfälle. Eine entsprechende Andeutung findet sich bei Bodenburg, VersR 1980, 996.

Zweiter Teil

Beweis von Verschulden und Kausalität in der Praxis

A. AufgabensteIlung und Untersuchungsmethode Der Beweis ärztlichen Verschuldens sowie der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen ärztlichem Fehlverhalten und Verletzung bzw. Schaden des Patienten haben sich im Vorgehenden als Schaltstelle für das Funktionieren der Arzthaftung auf der Basis des Verschuldensprinzips erwiesen. Wie steht es nun um die Bewältigung der Beweisprobleme in der Praxis? Ist deren überkommenes, aber auch ständigen Reformen unterworfenes Instrumentarium geeignet, den aufgezeigten Schwierigkeiten zu begegnen? Können die ärztlichen Gutachter- und Schlichtungsstellen insofern Hilfestellung leisten? Oder aber kommen aus ihrer Richtung neue Ansätze, die man auch für die Dogmatik der Arzthaftung verwerten könnte? Die Auswertung von bei Gerichten sowie Gutachter- und Schlichtungsstellen durchgesehenen Akten sollte ergeben, ob das herkömmliche Beweisrecht, also insbesondere der Sachverständigenbeweis, das Vorliegen ärztlicher Fahrlässigkeit in der überwiegenden Zahl der Fälle zu klären vermag. Ließe sich diese Frage bejahen, so wäre ein Abrücken vom gegenwärtigen Beweisrecht, aber auch vom Verschuldensprinzip im Bereich der Arzthaftung nicht zu rechtfertigen. Notwendigerweise muß dabei auf die Nuancierungen, die der Verschuldensbeweis in Rechtsprechung und Literatur erfahren hat, eingegangen werden, insbesondere auf Beweiserleichterungen gemäß § 282 BGB und den Anscheinsbeweis. Die Untersuchung muß also dogmatisch vorgegebenen Bahnen folgen; sofern die Resultate der Praxis dazu Gelegenheit geben, soll auch auf die von der Theorie angebotenen Lösungen eingegangen werden. Die Analyse der Praxis soll im Sinne eines hermeneutischen Zirkels 1 für die Theorie verwertet werden. Die Untersuchung des Kausalzusammenhangs wird in ähnlicher Form vor sich gehen, wobei allerdings zur Begründung eines neuen dogmatischen Ansatzes etwas weitergehende Erörterungen erforderlich sein werden. Freilich erzwingt die nicht darauf eingeengte Themenstellung der gesamten Studie insofern räumliche Beschränkung. Die gen aue Herkunft der ausgewerteten Akten und ihre Repräsentanz spielt für die in diesem Zusammenhang zu treffenden Aussagen keine so bedeutende Rolle. Daher mag an dieser Stelle ein Hinweis auf die genaue Beschreibung der Vorgehensweise und der Fehlerquellen in dem Teil der 1

Zum Begriff LaTenz, Methodenlehre 4, S. 183 ff.

2. Teil: B. VerscllUldensbeweis

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Arbeit genügen, der der Untersuchung der Tauglichkeit der Gutachter- und Schlichtungsstellen gewidmet ist2•

B. Verschuldensbeweis Das geltende Beweisrecht ist, was die ärztliche Fahrlässigkeit angeht, in der Basis fest strukturiert, in Randbereichen, wie neuere Entwicklungen zeigen, jedoch unscharf. Grundsätzlich ist der Patient beweisbelastet, bisweilen genießt er jedoch Beweiserleichterungen durch den Anscheinsbeweis 3 • In besonderen Situationen, nämlich bei Maschinenversagen4 , bei beherrschbaren Organisationspflichten5 und beim Einsatz weniger qualifizierter Operateure6 hat die Rechtsprechung jüngst darüber hinausgehende Beweiserleichterungen gewährt. Dies deutet auf zunehmende Flexibilität im Beweisrecht, abhängig von der Pflichtenstellung je im Einzelfall hin7 , und zwar weitgehend unabhängig von der Anspruchsgrundlage 8 •

In der Literatur besteht weithin Einigk;eit darüber, daß die von der Rechtsprechung praktizierte Beweislastverteilung grundsätzlich angemessen ist9 • Als Gründe werden die unmittelbaren Auswirkungen der Beweislastverteilung auf das materielle Recht angeführt10 , so daß eine weitergehende Zuweisung der Beweislast an den Arzt eine Annäherung an die Gefährdungshaftung bedeuten würde11 • Das aber sei mit der ärztlichen Pflichtenstellung, die das Erfolgsversprechen gerade nicht beinhalten könne, nicht zu vereinbaren12 • Außerdem sei zu bedenken, daß die Belastung des Patienten mit dem Beweisrisiko nicht zuletzt auch auf die Herkunft der zu bekämpfenden Krankheit aus seiner Unten 3. Teil, S. 112 ff. Vgl. schon oben unter 1. Teil A. 11., S. 20 ff. 4 BGH NJW 1978, 584. 5 BGH NJW 1982, 699. 6 BGH NJW 1980, 1333. 7 Vgl. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 282 RN 60 ff., § 823 RN 27; Deutsch, in: Pluralität in der Medizin (1979), S. 141 ff. 8 Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 282 RN 98 ff.; Laufs, Arztrecht2 , RN 200. 9 Für weitergehende Beweiserleichterungen hinsichtlich der Fahrlässigkeit etwa Giesen, JZ 1982, 345 (353 f.); Diederichsen, Karlsruher Forum 1966, 21 (25) interpretiert die Rechtsprechung demgegenüber im Sinne eines - materiellrechtlich begründeten - ganz allgemein herabgesetzten Beweismaßes; für Beweislastumkehr bei Psychotherapeuten Kroitzsch, VersR 1978, 396 (400). 10 v. Bar, Verkehrspflichten, S. 279; Gottwald, Jura 1980, 303 (307); Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 282 RN 20; Smmer, NJW 1979, .2334 (2337). 11 Laufs, Arztrecht 2 , RN 193. 12 Vgl. nur v. Bar, Verkehrspflichten, S. 303 ff.; Gottwald, Jura 1980, 303 (307 ff.). 2

3

40

2. Teil: B. Verschuldensbeweis

Sphäre zurückzuführen sei1 3, zumal die Beweisschwierigkeiten für den Arzt regelmäßig nicht geringer seien als die des Patienten, wenn es darum gehe, die physiologischen Abläufe im Körper des Patienten in Einzelheiten nachzuvollziehen14.

I. Objektiver Pflichtverstoß Die zivilrechtliche Fahrlässigkeit setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Sie erfordert zunächst einen Verstoß gegen die objektiv gebotene, äußere Sorgfalt1 5, daneben einen Verstoß gegen die innere Sorgfalt, die der verobjektivierten zivilrechtlichen Fahrlässigkeit eine, wenn auch schwache, subjektive Färbung verleiht. Den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bildet daher der objektive Pflichtverstoß. 1. Beweis durch Gutachten

Ob ein Pflichtverstoß des Arztes vorliegt, kann regelmäßig nur durch ein medizinisches Gutachten geklärt werden. Hier liegt denn auch der Schwerpunkt der Tätigkeit der ärztlichen Gutachter- und Schlichtungsstellen. Sollte sich herausstellen, daß der Beweis des ärztlichen Pflichtverstoßes im Regelfall mittels Gutachten zu führen ist, so würde die Möglichkeit, ein solches Gutachten bei den Gutachter- und Schlichtungsstellen zu erhalten, bislang stets beklagte Beweisschwierigkeiten zumindest theoretisch18 zu lösen im Stande sein. Unter diesem Gesichtspunkt wurden 189 Akten durchgesehen, davon 138 von Gutachter- oder Schlichtungsstellen bearbeitete Fälle und 51 Fälle, in denen eine gerichtliche Entscheidung erging. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist recht eindeutig: Mit Hilfe des geltenden Beweisrechts unter Einschluß des Anscheinsbeweises brachten die medizinischen Gutachten insgesamt in 176 Fällen eine Klärung der Frage, ob ein Sorgfaltsverstoß vorlag. Lediglich in 13 Fällen blieb Raum für echte Beweislastentscheidungen, unter ihnen 8 von einer Gutachteroder Schlichtungsstelle behandelte Fälle. Dieses Ergebnis kann als repräsentativ gelten, weil es für Gerichte und GutachtersteIlen einheitlich ist und weil es dafür nicht auf die Behandlung durch spezielle Gerichte oder GutachtersteIlen ankommt, sondern allein auf die medizinischen Gutachten, die zufällig ausgewählt wurden. Unter den 13 un13 BGH NJW 1980, 1333. 14 BGH, a.a.O.; Hainmüller, Anscheinsbeweis, S. 158 ff. 15 Dazu Deutsch, Haftungsrecht I, S. 276 ff.; LaTenz, SchRI13, S. 266 ff.; abweichende Untergliederung bei Esser, SchRI4, S. 245 ff. 16 Zur Tauglichkeit der Gutachter- und Schlichtungsstellen in der Praxis unten 3. Teil, S. 112 ff.

I. Objektiver Pflichtverstoß

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gelösten Fällen befanden sich immerhin 6, in denen nicht die medizinische Bewertung des ärztlichen Vorgehens, sondern das tatsächliche Vorgehen selber streitig war. In solchen Fällen kann der Sachverständigenbeweis ohnehin selten weiterhelfen. Man wird daher in Übereinstimmung mit ärztlichen Gutachtern17 festhalten können, daß die Frage nach dem objektiven Sorgfaltsverstoß durch ein medizinisches Gutachten regelmäßig geklärt werden kann.

z. Spezialfall: regelmäßig schicksalhafter Verlauf Freilich waren unter den als geklärt angesehenen Fällen 26 nicht ganz eindeutige, in der Nähe des Anscheinsbeweises liegende Sachverhalte18• Im Grunde handelt es sich um einen für den Arzt streitenden Prima-facie-Beweis. In diesen Fällen war ein Schaden eingetreten, der typischerweise aus einem schicksalhaften Verlauf resultiert, allerdings ausnahmsweise auch auf ärztliches Verschulden zurückzuführen sein kann. Ergab sich kein weiterer Anhaltspunkt für eine ärztliche Fehlleistung, so wurde nicht von einem Sorgfaltsverstoß ausgegangen. Diese Kategorie von Fällen spielt im allgemeinen für das Beweisrecht keine besondere Rolle, weil der Patient im Zivilprozeß die Beweislast trägt und der Anscheinsbeweis daher nur zu seinen Gunsten, nicht aber zu seinen Lasten in Betracht zu ziehen ist. Anders ist es bei den von Amts wegen ermittelnden Gutachter- und Schlichtungsstellen19 • Da die Stellen die Beweisführungslast nicht einer bestimmten Partei zuschieben, muß das Mittel des Anscheinsbeweises gleichermaßen für Arzt und Patient herange:rogen werden und bedarf deshalb an dieser Stelle besonderer Hervorhebung. Man kann daher für die Zwecke dieser Untersuchung auch diejenigen Fälle als unter Anwendung des geltenden Beweisrechts geklärt ansehen, die typischerweise auf einen schicksalhaften Verlauf hindeuten. Auf die besondere Bewandnis, die diese Fallgruppe für die ärztliche Aufklärungspflicht, die sie nicht selten auslöst, hat, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. 3. Folge

Sofern sich objektive Gutachter finden, kann also auch im Arzthaftungsrecht der Beweis des objektiven Pflichtverstoßes, der Verletzung der äußeren Sorgfalt, durchaus geführt werden. Den ärztlichen Gutachter- und Schlichtungsstellen ist daher die Chance gegeben, durch 17 BochniklGärtnerlRichtberg, VersR 1981, 793 (794): der ärztliche Sorgfaltsverstoß sei bei ordnungsgemäßer Dokumentation regelmäßig beweisbar, weil es leidlich zuverlässige Bewertungskriterien gebe. 18 21 bei Gutachter- oder Schlichtungstellen, 5 bei Gerichten. 19 Dazu eingehend unten 3. Teil D. IH. 3. a., S. 170 ff.

42

2. Teil: B. Verschuldensbeweis

eine möglichst optimale Gutachtenpraxis auch außerprozessual den Beweis der Sorgfaltswidrigkeit zu ermöglichen. Die geringe Zahl der nach wie vor mit Beweisproblemen belasteten Fälle rechtfertigt wohl keine rechtlichen Schritte hin zu tiefschürfenden Beweiserleichterungen für den Patienten. Auch in Haftungsfällen aus anderen Berufsfeldern existieren Beweisprobleme, so daß es für eine Hervorhebung der Arzthaftung in dieser Hinsicht keinen sachlichen Grund gibt. Allein für die Rechtsprechung zur ärztlichen Dokumentationspflicht und den damit verknüpften beweisrechtlichen Konsequenzen lassen sich Ansatzpunkte ausmachen: die Fälle, in denen Streit über das tatsächliche Vorgehen der Ärzte besteht. 4. Insbesondere: Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit und beweisrechtliche Typisierung

Beim Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit wird von der eingetretenen Verletzung auf einen ärztlichen Behandlungsfehler geschlossen, wenn Verletzungen dieser Art typischerweise ein ärztlicher Behandlungsfehler zugrunde liegt.2O. Das wiederum hat - und hier liegt der bedeutendste Unterscheid zum Vollbeweis - nur eine Umkehrung der Beweisführungslast zur Folge 21 : dem Arzt obliegt nunmehr der Gegenbeweis dafür, daß nicht eine der typischen ärztlichen Fehlleistungen vorliegen muß, sondern zumindest die konkrete Möglichkeit eines schicksalhaften Verlaufs besteht22 • Den vollen Beweis des Gegenteils muß der Arzt nicht führen. Für die Zwecke der hier vorgelegten Untersuchung soll der Anscheinsbeweis diskussionslos als Bestandteil des geltenden Beweisrechts hingenommen werden, obschon über seine Rechtsnatur und Einordnung lebhafte Auseinandersetzungen in der Literatur zu registrieren sind23 • Er wird von der Rechtsprechung überwiegend als Bestandteil der Beweiswürdigung angesehen24 , während sich in der Literatur die Stimmen mehren, die im An20 Eine gewisse Nähe zum Anscheinsbeweis weist die Beweiserleichterung auf, die der BGH in NJW 1980, 1333 gewähren will, wenn es bei einer Operation zu einem Zwischenfall kommt, die von unerfahrenen oder von Operateuren mit hoher Zwischenfallsfrequenz vorgenommen wird. Der Ansatzpunkt der Beweiserleichterung ist dann nicht wie beim Anscheinsbeweis die Art des Zwischenfalls, sondern das in der Person des Arztes liegende Risiko. 21 Musielak, Grundlagen der Beweislast, S.388; Gottwald, Jura 1980, 303 (312). 22 Aus der Rechtsprechung zuletzt OLG Hamm, VersR 1978, 322; auch Laufs, Arztrecht2 , RN 199; Bappert, Arzt und Patient als Rechtssuchende, S. 127 ff.; H. Franzki, Aktuelle Rechtsprechung, S. 57 f.; Gaupp, Diss. Tübingen 1969, S. 51 f.; Uhlenbruck, NJW 1965, 1057 (1059) m. w. N. zur Rechtsprechung. 23 Zum Meinungsstand Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 171 ff.; ders., VersR 1980, 109I. 24 BGH NJW 1951, 360; VersR 1953, 69; aus der Literatur Gottwald, Jura 1980, 303 (312); Kollhosser, AcP 165 (1965), 46 (78 f.), jedoch zugleich kritisch.

1. Objektiver Pflichtverstoß

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scheinsbeweis nur eine allgemeine Herabsetzung des Beweismaßes auf überwiegende Wahrscheinlichkeit meinen ausmachen zu können25 • Den engen Zusammenhang zwischen materiellem und Beweisrecht aufgreifend, halten einige Autoren schließlich dafür, im Anscheinsbeweis verkörpere sich eine materiellrechtliche Zurechnungsregel, über deren Gehalt unter ihnen freilich keine Einigkeit besteht 26 • Selbst wenn man sich auf den Boden der herrschenden Ansicht stellt und von der grundsätzlichen Zulässigkeit des Anscheinsbeweises ausgeht, besteht durchaus Uneinigkeit über dessen praktische Verwendbarkeit im Arzthaftungsrecht. Während D. Franzki von der relativ häufigen Anwendung des Anscheinsbeweises ausgeht27 , interpretiert Giesen28 die Praxis im entgegengesetzten Sinne, weil er den Anscheinsbeweis für allzu leicht widerlegbar hält. Von anderer Seite wird schließlich vor einer zu offenherzigen Anwendung mit Hinweis darauf gewarnt, daß die Medizin nur über wenige stabile Erfahrungssätze verfügt, die den Anscheinsbeweis stützen könnten29 • Ein Blick auf die Praxis dürfte angesichts ihrer kontroversen Interpretation in der Literatur angebracht sein; möglicherweise lassen sich Hinweise auf bestimmte Fallgruppen finden 30 , in denen sich verwertbare Erfahrungs25 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3 (13 f.); Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 91 ff.; Kegel, Festgabe Kronstein, S. 321 (330 ff.); zugleich kritisch zum Anscheinsbeweis J. Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, S.35 sowie Maassen, Beweismaßprobleme im Schadensersatzprozeß, S. 59 ff. 26 Diederichsen, VersR 1966, 211 (217 ff.): mit Hilfe des Anscheinsbeweises finde in bestimmten rechtlichen Situationen (Nähe zum Schaden, enge Verbindung zur Schadensursache, Verletzung einer Verhaltenspflicht) eine Zurechnung des Risikos der Beweislosigkeit statt; v. Bar, Verkehrspflichten, S.279: der Anscheinsbeweis diene der partiellen Abkehr vom Verschuldensprinzip; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 185 ff.: hinter dem Anscheinsbeweis verberge sich die Haftung für abstrakt gefahrgeneigtes Verhalten. 27 Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 54 ff., zugleich mit dem Hinweis, wegen der Beweislastumkehr beim groben Fehler werde der Anscheinsbeweis der Kausalität zunehmend selten verwendet. Anscheinend hält D. Franzki Anscheinsbeweis und Beweislastumkehr also zumindest für in der Praxis durchaus austauschbare Rechtsfiguren. Uhlenbruck, NJW 1965, 1057 (1060) spricht sich mit Recht gegen den gleichzeitigen Beweis von Verschulden und Kausalität mittels des ersten Anscheins aus. 28 JZ 1982, 448 (452). 29 Gaupp, Diss. Tübingen 1969, S. 52 f.; Locher, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 268 ff.; aus medizinischer Sicht Rehn/Harrfeldt, Behandlungsfehler und Haftpflichtschäden in der Unfallchirurgie, S. 2. 30 Die von Deutsch, VersR 1977, 101 vorgenommene Typisierung ist auf materiellrechtliche Betrachtungen zugeschnitten und für das Beweisrecht daher kaum zu verwerten. Für einen vollständigen Ersatz des Anscheinsbeweises durch ein festes System von Erfahrungssätzen der zu optimistische und etwas utopische Ansatz von Kollhollser, AcP 165 (1965), 46 (78 f.). Reichenbach, Hefte zur Unfallheilkunde 102 (1970), 181, hält aus medizinischer Sicht die Bildung rechtlich verwertbarer Fallgruppen wegen der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls für ausgeschlossen. Diese Einschätzung ist

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2. Teil: B. Verschuldensbeweis

sätze der Medizin widerspiegeln. Dabei soll auch der von den Gutachter- und Schlichtungsstellen praktizierte Anscheinsbeweis für den Arzt mit einbezogen werden, denn auch solche Fälle sind für die von der Rechtsprechung zu stellenden Beweisanforderungen, vor allem aber für außergerichtliche Vergleiche und für die Aufklärungspflicht nicht ohne Erkenntniswert. Freilich kann von der Auswertung von nur 222 Akten in dieser Hinsicht nicht die Entwicklung eines umfassenden oder gar abschließenden Schemas erwartet werden. Möglich ist allenfalls das Aufzeigen von Tendenzen, die die Marschrichtung von weiteren Untersuchungen verdeutlichen können. In der Literatur trifft man zuweilen auf Fallsammlungen zum medizinischen Behandlungsfehler. Die Mehrzahl intendiert allerdings keine typisierende Betrachtung unter beweisrechtlichem Aspekt. Teilweise finden sich einfache Zusammenstellungen gerichtlicher Entscheidungen31 , andere Autoren systematisieren nach Realtypen, entweder aus versicherungstechnischer32 oder aus medizinischer, durch Fehlerprophylaxe motivierter Sicht33 • Daneben existieren aber auch bereits einige Übersichten, vorwiegend auf dem bei Gutachter- und Schlichtungsstellen gesammelten Material basierend, die auch in beweisrechtlicher Hinsicht verwertbar sind34• Einige Beispiele seien zur Verdeutlichung genannt: Schädigungen des nervus ischiadicus oder des nervus glutaeus superior im Zusammenhang mit Injektionen ins Gesäß stellen stets einen Behandlungsfehler dar, weil sie bei der richtigen Injektionstechnik jedenfalls zu vermeiden sind35 • In diesen Fällen ist also der Vollbeweis durch den Schluß aus dem eingetretenen Erfalg erbracht. Verletzungen des nervus recurrens bei Schilddrüsenoperationen sind eine typische, jedoch auch bei sorgfältigem Vorgehen zuweilen unvermeidbare Komplikation. Im Einzelfall kann es sich freilich auch um einen Behandlungsfehler handeln, jedoch ist der Anscheinsbeweis dem Patienten versagt. Allerdings bringt die Typik der Komplikation in jener Fallgruppe mit sich, daß dieses Operationsrisiko aufklärungsbedürftig ist38• Anders steht es um das freilich zu pessimistisch, wie die Rechtsprechung zur Aufklärungspflichtverletzung deutlich zeigt. 31 Bappert, Arzt und Patient als Rechtssuchende, S. 45; Münch. Komm.! Hanau, § 276 RN 161 ff. 32 Reichenbach, Hefte zur Unfallheilkunde 102 (1970), 181; Herbrand, in: Hymmen/Ritter (Hrsg.), Behandlungsfehler, S. 107. 33 Carstensen, in: Hymmen/Ritter (Hrsg.), Behandlungsfehler, S. 95; ders., Langenbecks Archiv für Chirurgie 1980, 47; Grosse-Brockhoff, Rh. Ärzteblatt 1978, Heft 2; Trosfdorf. Nds. Ärzteblatt 1979, 547; RehnlHarrfeldt, Behandlungsfehler und Haftpflichtschäden in der Unfallchirurgie, passim; Brandisl Pribilla, Arzt und Kunstfehlervorwurf, passim; Zorn, Nds. Ärzteblatt 1979, 549. 34 So die Zusammenstellung von BernerlTrostdorflVogel, Dt. Ärzteblatt 1981, 183 ff.; Trostdorf. in: Heim (Hrsg.), Haftpflichtfragen im ärztlichen Alltag, S. 159 ff.; Ansätze auch bei Narr, Ärztliches Berufsrecht, RN 886 ff. und Gaisbauer, VersR 1982, 736. 35 BernerlTrostdorflVogel. a.a.O. 36 BernerlTrostdorflVogel, a.a.O.; zur Aufklärungspflicht bei der Reccurensparese BGH NJW 1980, 1333.

1. Objektiver Pfiichtverstoß

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Auftreten des Sudeck-Syndroms bei der Operation der Dupruytenschen Kontraktur. Von einem Behandlungsfehler kann in diesen Fällen nie die Rede sein, denn zur Zeit bestehen nicht einmal sichere Erkenntnisse über die Ursachen dieser Komplikation. Ob das Sudeck-Syndrom aber der Aufklärungspflicht unterliegt, ist zweifelhaft. Es herrscht nämlich keine Einigkeit darüber, ob es sich um eine seltene und untypische Nebenfolge handelt37 oder ob das Sudeck-Syndrom nicht wegen seines häufigeren Auftretens zu den typischen Komplikationen zu rechnen ist38 • Bei der eigenen Aktendurchsicht ergaben sich ähnliche Auffälligkeiten. Dabei wurde den spezifisch medizinischen Fehlleistungen, deren beweis rechtliche Behandlung die größten Schwierigkeiten bereitet, besondere Aufmerksamkeit zugewendet; die eher allgemeinen Fehlleistungen39 blieben am Rande der Betrachtung. Eine umfassende Systematisierung aller Fälle war nicht möglich, denn vielfach war es allein die Einzigartigkeit der Situation, die dem Fall das Gepräge gaben. Es fielen einige Fallgruppen oder auch Einzelfälle, die Fallgruppen repräsentieren, auf, in denen nach Auffassung der Gutachter ohne weiteres vom Erfolg auf Fahrlässigkeit geschlossen werden konnte. Es handelt sich um Verletzungen durch ärztliche Maßnahmen, die bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt sicher zu vermeiden sind. Hierher gehören die bereits erwähnten Schädigungen des Ischiasnervs und des nervus glutaeus superior bei Injektionen ins Gesäß, die auch in dem durchgesehenen Aktenmaterial mehrfach angetroffen wurden. Gleiches gilt, wenn bei einer Marknagelung des Oberschenkels eine mehr als 20Djoige Drehabweichung in der Stellung des Knochens auftritt40 oder wenn es zu einer erheblichen Fehlstellung in Außenrotation nach einer Hüftgelenksoperation kommt. Wird bei einer Analoperation der Sphinkter ani (Schließmuskel) verletzt, so soll ebenfalls stets fahrlässiges Verhalten des Arztes zugrunde liegen. Nicht anders ist es beim Zurücklassen größerer Gegenstände im Operationsbereich oder wenn eine Gangrän in der Hand nach einer Operation erst mit Ablauf von 5 Tagen entdeckt wird. Die aufgezählten Fallgruppen können und sollen naturgemäß keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Eines aber machen sie deutlich: es gibt in der Medizin durchaus vollkommen beherrschbare Verläufe, bei denen der Beweis ärztlicher Fahrlässigkeit So OLG Schleswig VersR 1982, 378. Darauf deutet die Bemerkung von Berner/Trostdorj/Vogel, a.a.O. hin, wonach die Entwicklung des Sudeck-Syndroms von Patienten nach der Operation von Dupruyten-Kontrakturen oft beklagt wird. 39 Zur Terminologie Deutsch, VersR 1977, 101. 40 Vgl. dazu aber auch BGH NJW 1982, 2121. Dort wurde von der Vorinstanz ein solcher Fall möglicherweise anders beurteilt, während der BGH zu dieser Frage keine Stellung beziehen mußte. Die Angaben im referierten Sachverhalt sind jedoch für einen sicheren Vergleich der Fälle nicht ausreichend. 37

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2. Teil: B. Verschuldensbeweis

bis hin zum unmittelbaren Schluß aus dem Erfolg erleichtert sein kann, wenngleich diese Verläufe auch eindeutig in der Minderheit sein werden. Die darauf anzusprechende Gruppe von Fällen zeichnet sich dadurch aus, daß dem eingetretenen Schaden typischerweise eine ärztliche Sorgfaltspflichtverletzung zugrunde liegt, daneben jedoch auch ein schicksalhafter Verlauf denkbar ist. Es handelt sich um das Anwendungsgebiet des Anscheinsbeweises. Daß insoweit nur wenige Fallgruppen in den durchgesehenen Akten entdeckt wurden, sollte nicht zu dem Schluß verleiten, der Anscheinsbeweis greife im Arzthaftungsrecht nur selten Platz. Anspruch auf Repräsentativität kann die vorgelegte Studie in dieser Hinsicht nicht erheben. Daneben wirft auch die Zuordnung einiger Fallgruppen zu bestimmten Beweisformen Schwierigkeiten auf, so daß durchaus auch andere Klassifizierungen als die hier vorgenommenen denkbar sind. Was nun das durchgesehene Fallmaterial betrifft, liegt typischerweise ein Behandlungsfehler vor, wenn es bei einer Operation an der Gebärmutter zu einer Unterbindung eines Harnleiters kommt, so daß der Arzt die konkrete Möglichkeit eines schicksalhaften Verlaufes darzutun hat. Wahrscheinlich kann man auch den vom Arzt übersehenen Knochenbruch typischerweise auf ärztliche Fahrlässigkeit zurückführen; das gilt sowohl für den Fall, daß Röntgenaufnahmen nicht erstellt wurden als auch für die fehlerhafte Interpretation der Aufnahmen. Gewiß übt in diesen Fällen die Situation einen erheblichen Einfluß auf die Vorgehensweise des Arztes aus; dennoch kann man wohl nur im Ausnahmefall davon ausgehen, die Fraktur sei nicht zu diagnostizieren gewesen. Einige andere Fallgruppen zeichnen sich durch eine nur schwach ausgeprägte beweisrechtliche Verbindung zwischen Fahrlässigkeit und Erfolg aus. Die Verletzung der erforderlichen Sorgfalt bedarf dann eingehenden Beweises mittels Indizien, ärztlicher Unterlagen oder Zeugen. Der Verlauf deutet eher auf eine schicksalhafte Schädigung hin. Es handelt sich um das Pendant des Anscheinsbeweises zugunsten des Patienten. Häufig bedingt die Möglichkeit schicksalhaften Fehlgehens in diesen Fällen die Aufklärungsbedürftigkeit. Zwingend ist dies jedoch nicht: Vorkenntnisse des Patienten, der allgemeine Bekanntheitsgrad der Komplikationen oder das statistisch zu seltene Vorkommen können die Aufklärung entbehrlich machen. Das ist etwa beim Spritzenabszeß41 oder beim unbeabsichtigten Punktieren eines Blutgefäßes mit der Spritze der Fall. Dem Patienten obliegt dann trotz des eingetretenen Schadens der volle Beweis für das Vorliegen einer Sorgfaltspflicht41

Vgl. als Parallelfall aus der Rechtsprechung BGH VersR 1969, 135.

1. Objektiver Pflichtverstoß

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verletzung, den er etwa führen mag, indem er die Nichtbeachtung der aseptischen Kautelen belegt, eine falsche Stichrichtung nachweist oder die Fortführung der Injektion durch den Arzt trotz Äußerung eines stechenden Schmerzes42 unter Beweis stellt. Die gleiche Zuordnung trifft für eine ganze Reihe weiterer Fallgruppen zu - sie ist Quelle der ständigen Rechtsprechung, wonach der Arzt den Erfolgseintritt nicht versprechen kann. Erwähnt seien noch die nicht seltenen Wundinfektionen nach Operationen, die Recurrensparesen bei Schilddrüsenoperationen43 , plötzliche Blutungen im Operationsfeld, die Nervenläsion bei der Zahnextraktion, die Perforation des Darmes bei der Entfernung von Polypen, das Auftreten von Dellen und Beulen in der Haut nach kosmetischen Operationen, die Schwangerschaft trotz Einsetzens einer Intrauterinspirale, die Hepatitis nach einer Bluttransfusion. Eine noch größere Schadensneigung, die jedoch ebenfalls nicht zu Lasten des Arztes geht, besteht, wenn die Medizin auf ein Krankheitsbild mangels einer sicheren Behandlungsmethode mit einer Methodenvielfalt reagiert. Dem Patienten hilft dann allenfalls der Beweis einer fehlerhaften Anwendung der einzelnen Methode 44 • Hier sind die Operation des hallux valgus, die Beseitigung eines Hodenhochstandes oder auch die Therapie eines Sehnenabrisses am Finger einzuordnen. Übrig bleibt schließlich eine letzte Kategorie von Schäden nach ärztlicher Behandlung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß ärztliches Versagen bei der Art des eingetretenen Schadens mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Ein typisches Beispiel dafür bildet das bereits erwähnte Sudeck-Syndrom, über dessen Ursachen weitgehend Unklarheit besteht. Auch im Hinblick auf beweisrechtliche Folgerungen ist die Bildung von Behandlungsfehlertypen also durchaus sinnvoll. Soviel zeigt bereits die Analyse von gut 200 Fällen bei Gerichten und Gutachterstellen. Allein, die Aufarbeitung einer so geringen Zahl von Fällen kann nur Anregungen geben, auch in dieser Hinsicht juristisch/medizinische "Kunstfehlerforschung" zu betreiben. Perspektiven können aufgezeigt werden; mehr als die Sammlung von Beispielen zu erwarten, hieße unrealistisch zu sein.

42 Auch hier gibt es mit BGH NJW 1981, 628 einen Vergleichsfall; dazu die Anm. von Backhaus, VersR 1982, 210, und Gaisbauer, VersR 1982, 736. 43 Parallelfall: BGH NJW 1980, 1333. 44 Insofern bedarf die von Deutsch, VersR 1977, 101, entworfene Typik der Ergänzung: auch im Bereich des ärztlichen Ermessens gibt es Kunstfehler, wenn nämlich bei der Anwendung der gewählten Methode eine Fehlleistung unterläuft.

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2. Teil: B. Verschuldensbeweis

11. Innere Sorgfalt Mit dem objektiven Pflichtverstoß ist fahrlässiges Verhalten noch nicht bewiesen. Vielmehr muß auch die innere Sorgfalt außer acht gelassen worden sein 45 • Freilich ist ,die Terminologie uneinheitlich, bisweilen trifft man in diesem Zusammenhang auch auf den synonymen Gebrauch des Begriffs "Verschulden" für die innere Komponente der Fahrlässigkeit46 • Die Meinungsverschiedenheiten zum Beweis des Verschuldens in Rechtsprechung und Literatur haben ihren Ausgangspunkt bei § 282 BGB, wo die Beweislast für das Verschulden bei Unmöglichkeit dem Schuldner auferlegt wird. Voraussetzungen der Beweislastumkehr sind das Feststehen eines objektiven Pflichtverstoßes und bewiesene Kausalität zwischen Pflichtverstoß und Schaden47 • Die Rechtsprechung wendet § 282 BGB nunmehr auch auf die positive Vertragsverletzung an, schränkt diese Analogie aber durch die sog. ;Sphärentheorie ein48 • Für die Arzthaftung folgert die Rechtsprechung daraus, die entsprechende Anwendung des § 282 BGB sei dort ausgeschlossen, weil der Arzt den Erfolg seiner Bemühungen nicht garantieren könne und weil das Risiko in Form der zu behandelnden Erkrankung aus der Sphäre der Patienten stamme49 • In der Literatur stößt diese Auffassung vornehmlich auf Widerspruch50 : Da der Patient den objektiven Pflichtverstoß beweisen müsse, finde entgegen den Behauptungen der Rechtsprechung kein Schluß vom Erfolg auf das Verschulden statt; vielmehr indiziere die Deutsch, Haftungsrecht I, S. 278 f. D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 44. 47 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 42; Larenz, SchRI13, S. 342 ff., und Festschr. Hauß, S. 225 ff., betont mit Recht, daß der Schuldner 45

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auch mit dem Beweis des "konkreten" Kausalzusammenhangs belastet sei. Dies ist die notwendige Folge der Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens: steht nicht exakt fest, worin die eigentliche Pflichtverletzung im Bereich des Schuldners nun eigentlich bestanden hat, so muß auch der genaue Ursachenzusammenhang offen bleiben. Ebenso wohl Baugärtel, Handbuch der Beweislast, Anhang zu § 282 RN 51 f. Dagegen muß Giesen, JZ 1982, 448 (455), widersprochen werden: aus § 282 BGB kann keine völlige Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität entnommen werden, denn Beweislastumkehr für Verschulden und Kausalität käme einer Erfolgshaftung gleich. 48 Nachweise bei Palandt/Heinrichs 42 , § 282, Anm. 2. 49 Zuletzt BGH NJW 1978, 584; 1978, 1681; zustimmend Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Anh. § 282 RN 63, 98; ebenfalls gegen die Anwendung des § 282, jedoch aus gänzlich anderen Gründen Maassen, Beweismaßprobleme, S. 69 ff.; ausführlich dazu D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 36 ff. 50 Laufs, Arztrecht2 , RN 200; Larenz, SchRIl3, S. 342 ff; Gottwald, Jura 1980, 303 (307); Weimar, JR 1977, 7; Giesen, JZ 1982, 448 (455); Palandt/Heinrichs, § 282 Anm. 2 c; Musielak, JuS 1977, 87 (91); Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 65 ff.; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 36 ff.

III. Ausnahme: Erstreckung des § 282 BGB auf die äußere Sorgfalt

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Außerachtlassung der äußeren den Verstoß auch gegen die innere Sorgfalt; der Arzt dürfe, verglichen mit anderen Berufsgruppen, keine Sonderstellung genießen, denn die Kriterien der inneren Sorgfalt seien allein in seiner Sphäre beheimatet. Verschiedentlich findet sich der Hinweis auf die praktische Bedeutungslosigkeit jener Auseinandersetzung. Daß sich ein Arzt wegen Einhaltung nur der inneren Sorgfalt entlasten kann, kommt so gut wie nie vor 51 - eine Folge des objektivierten Fahrlässigkeitsbegriffs im Zivilrecht. Die eigene Untersuchung bestätigte diese Erkenntnis. In allen untersuchten Fällen stand mit der Verletzung der äußeren auch die Außerachtlassung der inneren Sorgfalt fest. Selbst wenn der Streit um die generelle Anwendung des § 282 BGB im Arzthaftungsrecht also weitgehend ein Scheingefecht ist, bleibt festzuhalten, daß die vom RGH dagegen angeführten Gründe jedenfalls nicht stichhaltig sind. Fordert man mit der h. M. als Voraussetzung der Beweislastumkehr das Feststehen einer objektiven Pflichtwidrigkeit, so erlegt man damit dem Arzt gerade nicht mehr auf als er in Wahrheit zu leisten vermag: Die Beweislastumkehr ist nämlich gerade nicht an den Erfolg geknüpft, den der Arzt nicht versprechen kann; vielmehr greift sie erst ein, wenn feststeht, daß der Arzt das nicht erbracht hat, was von seinem Berufsstand erwartet werden muß, nämlich die Einhaltung der gebotenen Sorgfaltsregeln.

111. Ausnahme: Erstreckung des § 282 BGB auf die äußere Sorgfalt Von der Frage nach der Beweislastumkehr für die innere Sorgfalt im Arzthaftungsrecht allgemein ist eine neue re Entwicklung in der Rechtsprechung zu unterscheiden, wonach die Beweislastumkehr in bestimmten Fallgruppen auch auf den objektiven Pflichtverstoß erstreckt sein kann52 • Danach kehrt sich die Beweislast für die ärztliche Fahrlässigkeit um, wenn das Versagen von medizinischen Maschinen fes'tsteht53 und wenn es im Klinikbereich bei der Herstellung von Medikamenten zu Fehlern gekommen ist54• Worin der konkrete Pflichtverstoß besteht, muß der Patient nicht dartun. Diese Beweiserleichterungen für den Patienten greifen allerdings nur ein, wenn die Kausalität 51 Stolz, VersR 1978, 797 (798), hat bei Auswertung von 15000 Akten in Arzthaftpflichtfragen fetsgestellt, daß die Frage nach dem objektiven Pflichtverstoß in 79 Ofo aller Fälle eine Rolle spielte, die innere Sorgfalt dagegen nur in unter 1°10 der Fälle zweifelhaft war. Vgl. auch D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 45, sowie Gottwald, Jura 1980, 303 (307). 52 Vgl. RGRKISteffen12 , § 823 RN 532. 53 Ausdrücklich BGH NJW 1978, 584; zuvor schon BGH VersR 1975, 952; RG HRR 1937, Nr. 1301; OLG Hamburg LZ 1920, Sp. 665. 54 BGH NJW 1978, 1683; BGH NJW 1982, 669 = VersR 1982, 161.

4 Matthies

2. Teil: B. Verschuldensbeweis

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zwischen Verletzung des Patienten und dem vermuteten Fehler sicher ist. Daneben wurde dem Arzt der Beweis dafür auferlegt, daß er den geschuldeten Eingriff tatsächlich vorgenommen hat55 . Zur Begründung wurde in manchen Entscheidungen auf § 282 BGB56, teilweise aber auch auf die Verwandtschaft zur deliktischen Produzentenhaftung ab gestellt57 • Diese Rechtsprechung hat in der Literatur weitgehend Zustimmung erfahren58 , die vom Versuch der Strukturierung begleitet wird. Der BGH selber führt zur Begründung an, in den geschilderten Fallgruppen handele es sich je um voll beherrschbare Nebenpflichten; die Fehlerquelle stamme aus einem vom Arzt bzw. Krankenhausträger kontrollierten Organisationsbereich, so daß der Patient billigerweise nicht in seiner Beweisnot belassen werden könne 59 • Sphärengedanke und Normzweckerwägungen werden auf diese Weise verbunden. Mehrfach wird in der Literatur der Versuch unternommen, Pflichtentyp und Beweiserleichterung miteinander zu verknüpfen 60 . Es handele sich um erfolgsbezogen konzipierte Pflichten, die den Schluß von dem verkehrsgefährdenden Zustand auf die Pflichtverletzung erlaubten61 . Je kleiner das Erfüllungsrisiko für den Schuldner sei, desto eher könne man ihn mit dem Beweis belasten; das wiederum sei bei voll beherrschbaren Gefahrenbereichen der Fall 62. Hier deutet sich bereits an, daß die jüngere Entwicklung der Rechtsprechung einen neuen Ansatzpunkt für eine Fortschreibung der oben angesprochenen Typisierung des Beweises der Fahrlässigkeit im Arzthaftungsrecht bietet. Die Zuordnung einzelner Fallgruppen zu dem neu zu schaffenden Pflichtentyp setzt allerdings dessen möglichst exakte Umschreibung voraus, die wiederum bei der rechtlichen Grundlage des Typus ansetzen muß. Gegen Erleichterungen beim Beweis der ärztlichen Fahrlässigkeit wird immer wieder eingewandt, der Schluß vom Erfolg auf den Pflicht55 BGH VersR 1981, 730. 56 BGH NJW 1978, 584; VersR 1981, 730.

BGH NJW 1982, 699. BaumgärteI, Handbuch der Beweislast, Anh. § 282 RN 98 ff.; Larenz, SchRI13, S. 342 ff.; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 280 f.; Münch. Komm./Emmerich, vor § 275 RN 308; Deutsch, NJW 1976, 2290 f.; ders., NJW 1978, 1657; ders., JZ 1978,277; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 39 ff.; RGRK/Steffen12 , § 823 RN 532; kritisch dagegen Maassen, Beweismaßprobleme, S. 80 f., aufgrund seiner von generellen Wahrscheinlichkeitsüberlegungen ausgehenden Beweiskonzeption. 59 BGH NJW 1978, 584; NJW 1982, 669; teilweise ebenso Münch. Komm.! Emmerich, vor § 275 RN 308; RGRK/Steffen12 , § 823 RN 533. 60 v. Bar, Verkehrspflichten, S. 280 f., 303 ff.; Deutsch, JZ 1978, 277, zugleich den Sphärengedanken ablehnend. 61 v. Bar, Verkehrspflichten, S. 280 ff.; vgl. auch Larenz, SchRI13, S. 342 ff. 62 RGRK-Steffen 12 , § 823 RN 532 f. 57

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111. Ausnahme: Erstreckung des § 282 BGB auf die äußere Sorgfalt

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verstoß sei im Arzthaftungsrecht wegen der schwer zu beherrschenden physiologischen Abläufe im menschlichen Körper nicht angezeigt. Daß dieses im Kern zutreffende Argument gegenüber der Beweiserleichterung für den Verstoß gegen die innere Sorgfalt nicht fruchtet, wurde bereits gezeigt. Gleichwohl stellen die Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus die Grenze für Beweiserleichterungen dar, will man das Arzthaftungsrecht nicht zur Erfolgshaftung hin fortentwickeln. Daher sind Beweiserleichterungen auch hinsichtlich der objektiven Pflichtwidrigkeit nur möglich, wenn sie jene Schwelle nicht überschreiten. Die geschilderte Fortentwicklung der Rechtsprechung läßt sich vor allem unter diesem Gesichtspunkt einordnen. Der Inhalt der Pflichten, die in Rede standen, war jeweils nicht auf Einwirkungen unmittelbar auf den menschlichen Körper ausgerichtet. Vielmehr ging es nur um die Kontrolle über organisatorische oder technische Abläufe, gegenüber denen die Unbeherrschbarkeit des menschlichen Organismus nicht ins Feld geführt werden kann. Man kann insofern durchaus von einem gewissen Abstraktionsgrad der betreffenden Pflichten sprechen63 , der sich darin ausdrückt, daß der Pflichteninhalt weit weniger als sonst im Arzthaftungsrecht von der unmittelbaren Einwirkung auf den menschlichen Körper gesteuert wird: verlangt wird nicht die Beherrschung physiologischer, sondern die Kontrolle organisatorischer und technischer Abläufe. In der Tat kommt es also auf Beherrschbarkeit an, allerdings nicht auf die Beherrschbarkeit von Nebenpflichten, wie der BGH formuliert 64 • Pflichten lassen sich nämlich ohnehin nur aufstellen, wenn sie beherrschbar sind, so daß das Wort von der Beherrschbarkeit der Nebenpflichten auf jede Sorgfaltspflicht auch im Bereich der Arzthaftung zutrifft. Vielmehr geht es um die Steuerbarkeit des Resultats korrekter Pflichterfüllung. Dieses Resultat ist nicht die Vermeidung des Verletzungserfolges, denn der Patient kann auch trotz funktionierenden Narkosegerätes während der Anaesthesie versterben. Statt dessen findet eine Vorverlagerung des Resultats statt: das Funktionieren der Maschine kann garantiert werden, während der Schnitt des Operateurs als konkreter Eingriff trotz größter Sorgfalt einen unregelmäßig verlaufenden Nerv treffen kann 65 • Sphären- und Normzweckgedanken ergänzen sich also in der Tat, wenn es um die Zuweisung der Beweislast geht. Die Risikosphären bestimmen die Grenze der Beweiserleichterungen. Die Reichweite der Pflichten dagegen scheidet die Risikosphären voneinander: der Arzt kann nicht den Erfolg der Behandlung garantieren, so daß das Mißerfolgsrisiko grundsätzlich beim Patienten liegt; dagegen ist die Garantie von funktionierender Technik und Orga63

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Allgemein dazu v. Bar, Verkehrspflichten, S. 283 ff., 302 f. BGH NJW 19781. 584. Ähnlich schon Weyers, Gutachten zum 52. DJT, S. A. 119.

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2. Teil: B. Verschuldensbeweis

nisation durchaus möglich, weshalb ein Fehlfunktionieren insoweit der Sphäre des Arztes zuzurechnen ist. In dieses Schema kann auch die Entscheidung des BGH, wonach der Arzt beweisen muß, daß er den in Aussicht genommenen Eingriff überhaupt vorgenommen hat, eingeordnet werden. Die Frage, ob ein Eingriff überhaupt erfolgte, ist nämlich ebenfalls unabhängig von der Beherrschbarkeit der Entwicklungen im menschlichen Körper. Die vom BGH gewählte Begründung, wonach die Beweislast für die Erfüllung auch im Rahmen von Schadensersatzansprüchen nach allgemeinen Prinzipien dem Schuldner obliegt, trägt freilich ebenfalls66 • Es wird also in Zukunft um die Kristallisation von Fallgruppen gehen, in denen die Pflichten von Arzt und Krankenhaus nicht vorwiegend von medizinischen Kriterien bestimmt werden. Der organisatorische und technische Bereich ist hier einzuordnen. Bei der Auswertung des gesammelten Materials fanden sich drei Fälle, in denen danach Beweiserleichterungen hinsichtlich des objektiven Pflichtverstoßes möglich gewesen wären. Es ging um die Verbrennungen eines Patienten, die dieser während einer Bestrahlung seines Rückens als Folge einer organisatorischen Fehlleistung erlitten hatte sowie um die Fehldiagnosen einer Rippenfraktur und einer Handgelenksluxation aufgrund schlechter und nicht verwertbarer Röntgenbilder. Allerdings war in den beiden zuletzt genannten Fällen die Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Verletzung des Patienten wie häufig bei der Nichtbehandlung zweifelhaft. Auf das Erfordernis feststehender Kausalität sollte freilich für Beweiserleichterungen dieser Art verzichtet werden, denn diese knüpfen wie gezeigt ja gerade nicht am Verletzungserfolg an. Ein letzter Blick sei auf die dogmatische Einordnung der Beweiserleichterungen für die ärztliche Fahrlässigkeit geworfen. Der BGH hat in seiner Entscheidung zum Maschinenversagen67 die Beweislastumkehr entsprechend § 282 BGB nur auf vertragliche Ansprüche bezogen, für deliktische Ansprüche dagegen auf eine mögliche Verschärfung von Sorgfaltspflichten verwiesen. Dies deutet auf eine Tendenz zur Harmonisierung von vertraglicher und deliktischer Haftung einerseits mit Hilfe beweisrechtlicher, andererseits mit Hilfe materiellrechtlicher Mittel hin. Die neue re Entscheidung zur Haftung für ein fehlerhaft im Krankenhaus zubereitetes Medikament68 bezieht demgegenüber ausdrücklich vertragliche und deliktische Ansprüche ein. In der Literatur 66 Jedenfalls, wenn man tatsächlich ein allgemeines Prinzip dieser Art anerkennt. Dafür BGH NJW 1969, 875; Münch. Komm./Heinrichs, § 363 RN 1; ablehnend Staudinger/Kaduk 10/ 11 § 363 RN 4, Erman/Westermann7 , § 362 RN 14. 67 BGH NJW 1978, 584. 68 BGH NJW 1982, 699 = VersR 1982, 161.

111. Ausnahme: Erstreckung des § 282 BGB auf die äußere Sorgfalt

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wird dagegen teilweise eine Beschränkung der Beweiserleichterungen auf vertragliche Ansprüche vertreten, weil § 282 BGB eine typisch vertragsrechtliche Regelung sei und auf der besonderen vertraglich übernommenen PflichtensteIlung des Schuldners basiere, die nicht auf deliktische Ansprüche übertragen werden könne 69 • Zum Teil wird wohl wegen des Anspruchs auf Schmerzensgeld nach parallelen Anhaltspunkten im Deliktsrecht gesucht, die zum selben Ergebnis wie § 282 BGB führen sollen70 • Demgegenüber stellen sowohl die Entscheidung des BGH zur Herstellung fehlerhafter Medikamente im Krankenhaus 71 als auch eine zunehmend vertretene Literaturmeinung72 auf eine einheitliche Handhabung und Begründung der Beweiserleichterungen ab; sieht man einmal nicht auf die formellen Ableitungen aus dem Vertrags- oder Deliktsrecht, sondern beachtet stärker das dahinter sich verbergende materielle Zurechnungsprinzip, so wird man feststellen, daß es jeweils die besondere ärztliche PflichtensteIlung ist, auf die die Beweiserleichterung gestützt wird. Diese PflichtensteIlung hat der Arzt jedoch sowohl im vertraglichen als auch im deliktischen Bereich inne. Vertragliche und deliktische Pflichten des Arztes unterscheiden sich strukturell nicht voneinander73 • Das ergibt sich zwar nicht schon aus dem bloßen Nebeneinander von vertraglichen und deliktischen Ansprüchen; entscheidend ist vielmehr die berufliche Stellung des Arztes als Professional. Steffen74 hebt mit Recht auf die Besonderheiten des sozialen Kontakts ab, die auch den Deliktsschuldner verstärkt zur Bewachung der zu schützenden Sphäre des Geschädigten verpflichten, und die darin bestehen, daß jener unter Inanspruchnahme von Vertrauen in die Erfüllung seiner Sorgfaltspflichten den beruflichen Verkehr eröffnet. In diesen Fällen erfährt die PflichtensteIlung des Schädigers nicht mehr durch die vertragliche Beziehung ihre besondere Prägung, sondern allgemein durch den sozialen Kontakt, der an die berufliche Stellung geknüpft ist. Da die Beweislastverteilung von der PflichtensteIlung abhängt, erstreckt sie sich ihrerseits auch auf deren rechtlichen 69 Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823 BGB RN 39; Musielak, JuS 1977,87 (91); Weyers/Mirtsching, JuS 1980,317 (319). 70 Deutsch JZ 1978, 277 verweist auf die Möglichkeit einer Anwendung des § 831 12; ihm folgend D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 45 f. 71 BGH NJW 1982, 699 = VersR 1982, 161. 72 v. Bar, Verkehrspflichten, S. 283 ff., 302 f.; Münch. Komm./Emmerich, § 275 RN 308; RGRK/Steffen12 , § 823 RN 532 f.; vgl. auch Deutsch, JZ 1978, 277; ders., NJW 1978, 1657 (1658); allgemeiner Larenz, Festschr. Hauß, S. 225 ff. 73 v. Bar, Verkehrspflichten, S. 302; auch Deutsch, JZ 1978. 277 hält eine Ausweitung der Rechtsprechung zu § 282 BGB ins Deliktsrecht unter dem Gesichtspunkt der Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens bei Verkehrspflichtverletzung für möglich. 74 In RGRK12, § 823 RN 532 f.

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2. Teil: B. Verschuldensbeweis

Ursprung. Man kann daher den vom BGH entschiedenen Fällen zur Beweiserleichterung hinsichtlich der ärztlichen Fahrlässigkeit einen ganz allgemein für die ärztliche Berufshaftung geltenden Rechtsgedanken entnehmen75. IV. Folgerungen Das geltende Beweisrecht ist, was den Beweis der ärztlichen Fahrlässigkeit angeht, durchaus praktikabel. Ein Abrücken vom Verschuldensprinzip durch weitgehende Beweiserleichterungen ist nicht angezeigt. Beweislastentscheidungen zu Lasten des Patienten sind selten und können mit Hilfe der Rechtsprechung zur ärztlichen Dokumentation und zur Erleichterung der Beweisführungslast an Zahl gering gehalten werden. Die ärztlichen Gutachter- und Schlichtungsstellen könnten insbesondere beim Beweis der Fahrlässigkeit durch Erstellung eines ärztlichen Gutachtens wertvolle Dienste leisten. Auch im Arzthaftungsrecht lassen sich Fallgruppen bilden, die bestimmte beweisrechtliche Folgerungen erlauben, entweder weil von einem eingetretenen Erfolg sicher auf ärztliche Fahrlässigkeit geschlossen werden kann, weil in anderen Fällen dies nur typischerweise möglich ist, weil typischerweise ein schicksalhafter Verlauf vorliegt oder weil schließlich ein derartiger Erfolg völlig unabhängig von der Einhaltung der gebotenen Sorgfalt ist. Eine partielle Beweislastumkehr hinsichtlich der Verletzung der äußeren Sorgfalt kann in einer weiteren Fallgruppe vorgenommen werden, die durch Unabhängigkeit von den physiologischen Unwägbarkeiten des menschlichen Körpers gekennzeichnet wird. Eine Aufbereitung des in Form von veröffentlichten Entscheidungen vorhandenen und des bei Gutachter- und Schlichtungsstellen gesammelten Materials unter dem Gesichtspunkt der beweisrechtIichen Typisierung ist zwecks Erleichterung der Arbeit der in der ziviIrechtlichen Arzthaftung Tätigen zu empfehlen. Der Beweis der Verletzung der inneren Sorgfalt ist überwiegend unproblematisch. Ob man sich daher für eine Beweislastumkehr analog § 282 BGB oder für einen Anscheinsbeweis der Verletzung der äußeren Sorgfalt für die der inneren78 entscheidet, ist für das praktische Ergebnis kaum von Bedeutung 77 •

75 78 77

Ebenso RGRK/Stejjen 12 , § 823 RN 532 f. So RGRK/Steffen 12 , § 823 RN 566; Deutsch, Haftungsrecht I, S. 279. Ebenso v. Bar, Verkehrspflichten, S. 283 ff.

I. Beweisführung mittels medizinischer Gutachten

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C. Beweis der Kausalität Der Beweis des Kausalzusammenhangs zwischen ärztlichem Pflichtverstoß und Verletzung bzw. Schaden des Patienten ist mitunter nicht leicht zu erbringen, was allein schon angesichts der Existenz einer breit aufgefächerten und in Leitlinien festgeschriebenen Rechtsprechung zu diesem Thema vermutet werden kann1, wenngleich der Kausalitätsbeweis auch ganz allgemein häufig Schwierigkeiten aufwirft 2 •

I. Beweisführung mittels medizinischer Gutachten Die Problematik des Kausalitätsbeweises im Arzthaftungsrecht ist diesem Rechtsgebiet größtenteils inhärent: Mertens formuliert plastisch, es liege nun einmal in der Natur des Menschen, zu sterben3 • Eindeutige Beweise sind erfahrungsgemäß oftmals nicht zu erbringen', weil die Fortentwicklung der Krankheit und des Zustandes des Patienten ohne den Behandlungsfehler ex post schwer einzuschätzen ist. Die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, die § 286 ZPO fordert, ist für den medizinischen Sachverständigen häufig ein utopischer Maßstab, weil in der Medizin ein solch hoher Wahrscheinlichkeitsgrad nur selten anzutreffen ist5 • Der Sachverständige scheint daher zuweilen überfordert, vielleicht bildet die unsichere Prognose ex post auch einen unverfänglichen Ansatzpunkt für unangebrachte Standessolidarität6 • Weil nun im Prozeß der Kläger beweisbelastet ist, trägt grundsätzlich der Patient das Risiko der Beweislosigkeit. Weyers hat ermittelt, daß nur in 65 0/0 aller von ihm untersuchten Fälle die Beweislage eindeutig war7 • Vor diesem Hintergrund muß denn auch die Bedeutung der Beweisregeln der Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht gesehen werden. Die begrenzte Aussagekraft der medizinischen Gutachten hinsichtlich der Kausalitätsfrage wurde auch von der eigenen Untersuchung bestätigt. In 118 Fällen von 222 insgesamt untersuchten war die Frage nach dem Ursachenzusammenhang entscheidungserheblich, wobei dieser Begriff zunächst einmal in einem umfassenden, Probleme der Zurechnung und Haftungsausfüllung - etwa hypothetische Kausalitäten - einschlieVgl. schon oben 1. Teil A. 111., S. 23 ff. Die generell bestehenden Beweisschwierigkeiten im Zusammenhang mit realer und hypothetischer Kausalität hebt Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 153 f., hervor. 3 VersR 1974, 509 (513). , KZeinwerjers, HNO 1980, 106 (117); BaumgärteI, Festschr. Bruns, S. 93 (96). 5 WachsmuthlSchreiber, NJW 1982, 2094 f. 8 Dies vermutet Mertens, VersR 1974, 509 (513). 7 Gutachten zum 52. DJT, S. A 45. 1

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

ßenden Sinne gebraucht werden soll. In nur 60 Fällen konnten die Gutachten eine eindeutige beweisrechtliche Antwort in die eine oder andere Richtung geben. In den übrigen 58 Fällen führte auch das Gutachten zu keiner endgültigen Klärungs. Diese Fälle verteilten sich im Verhältnis recht gleichmäßig auf Gerichte und Gutachter- oder Schlichtungsstellen. Anscheinend hängen die Beweisprobleme also stets mit dem gleichen Auslöser zusammen: der beschränkten Aussagekraft der medizinischen Gutachten. Nicht ohne Grund hat also die Rechtsprechung besondere Beweisregeln hinsichtlich der Kausalität im Arzthaftungsrecht entwickelt. Sobald der medizinische Sachverständige in der Kausalitätsfrage überfordert scheint, ist der Jurist aufgerufen, nach Auswegen aus diesem Dilemma zu suchen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß die Gutachterund Schlichtungsstellen - anders als in der Verschuldensfrage - hinsichtlich des Kausalitätsbeweises mittels medizinischer Gutachten für sich allein keinen probaten Ausweg darstellen.

11. Beweisrechtliche Lösung der herrschenden Meinung Die Rechtsprechung reagiert auf die Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs mit "Beweiserleichterungen, die bis zur Umkehr der Beweislast gehen können"9. Diese neuerdings verwendete Formulierung deutet auf ein bewegliches System von Beweiserleichterungen hin; die Darstellung soll sich aus Gründen der übersichtlichkeit gleichwohl an den nach wie vor auszumachenden Eckpfeilern dieses Systems orientieren: Anscheinsbeweis, Beweislastumkehr, § 287 ZPO. Außerhalb dieses Zusammenhangs stehen die Beweiserleichterungen bei mangelhafter ärztlicher Dokumentation. Es handelt sich dabei um ein unabhängig von den Besonderheiten der Arzthaftung bestehendes beweisrechtliches Mittel, mit dessen Hilfe hier wie in anderen Rechtsgebieten Unklarheiten hinsichtlich der Tatsachenlage, die von einer Partei zu vertreten sind, überbrückt werden können10, mag dieses Mittel im Bereich der Arzthaftung auch neuerdings besonders beliebt und hilfreich sein. 8 In 6 weiteren Fällen konnte die Kausalitätsfrage nicht gelöst werden. weil das tatsächliche Geschehen im Zusammenhang mit dem ärztlichen Verhalten nicht aufzuklären war. Diesen Problemen ist am ehesten mit Hilfe der Rechtsprechung zur Beweisvereitelung beizukommen. Als entscheidungserheblich wurde die Kausalitätsfrage nur angesehen, wenn ein Behandlungsfehler erwiesen war. 9 Vgl. oben 1. Teil A. 111. (S. 23 ff.), B. 111. (S. 31 ff.). 10 Vgl. dazu eingehender oben 1. Teil B. 11. (S. 730 f.).

11. Beweisrechtliche Lösung der herrschenden Meinung

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1. Der Anscheinsbeweis

Der Anscheinsbeweis ist kein Spezifikum des Arzthaftungsrechts. Doch gerade auf diesem Rechtsgebiet ist er in ein abgestuftes System von Beweiserleichterungen eingeflochten, das ihm einen besonderen Stellenwert verleiht. Die besondere Funktion des Anscheinsbeweises innerhalb dieses Systems besteht darin, daß er dem Patienten als letztes Hilfsmittel verbleibt, wenn eine Umkehr der Beweislast zu seinen Gunsten daran scheitert, daß der ärztliche Pflichtverstoß nicht als grob erscheintl l. Nicht zuletzt deshalb trifft man den Anscheinsbeweis der Kausalität auch seltener als den des Verschuldens an12 • Der Anscheinsbeweis der Kausalität wird zur Anwendung gebracht, wenn ein ärztlicher Pflichtverstoß vorliegt, auf den die eingetretene Komplikation typischerwiese zurückzuführen ist, wenn mit anderen Worten in Form von präzisen Verhaltensregeln für den Arzt eine hinreichend verdichtete Erfahrung vorhanden ist, die prima facie den Schluß vom Pflichtverstoß auf den Ursachenzusammenhang gestattet1 3 • Der Anscheinsbeweis kann sodann seitens des Arztes mit Hilfe eines einfachen Gegenbeweises erschüttert werdeni., indem der Arzt die konkrete Möglichkeit eines atypischen Verlaufs dartut. Auf diese Weise wird eine Verschiebung der Beweisführungslast bewirkt15 • Sind die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises gegeben, so gilt der Kausalitätsbeweis letztlich auf der Grundlage einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung als geführt18 • Der BGH liefert keine dogmatische Begründung für die Beweiserleichterungen mit Hilfe des Anscheinsbeweises und begnügt sich damit, den Anscheinsbeweis als Bestandteil der freien Beweiswürdigung zu deklarieren17 • Dem folgt der überwiegende Teil der Literatur: die beVgl. Hainmüller, Anscheinsbeweis, S. 158 ff. D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 55; al1gemein Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3 (13 ff.). 13 Hainmüller, Anscheinsbeweis, S. 184. 14 Allgemein RosenberglSchwab, Zivilprozeßrecht13 , § 114 11, speziell zum Arzthaftungsrecht und eingehender Greger, VersR 1980, 1091; WeyerslMirtsching, JuS 1980,317 (322); Giesen, JZ 1982,448 (453); Uhlenbruck, NJW 1965, 1057 (1059); D. Franzki, a.a.O. lS Gottwald, Jura 1980, 303 (312). 18 Münch. Komm.lGrunsky, vor § 249 RN 137 ff.; Wilburg, Elemente des Schadensrechts, S. 70 f.; Locher, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 245 (255 f.), freilich ohne zwischen Anscheinsbeweis und Beweislastumkehr zu differenzieren; Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3 (13 ff.), der für den Anscheinsbeweis eine Wahrscheinlichkeit von erheblich mehr als 50 Ofo fordert. 17 Nachweise bei Greger, VersR 1980, 1091. Zum Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit vgl. oben unter 2. Teil B. I. 4. (S. 42 ff.). 11

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

stehenden Erfahrungssätze werden sozusagen als immanente Schranken der freien Beweiswürdigung angesehen18 • Bisweilen wird der Versuch unternommen, den auf diese Weise geschaffenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der non-liquit-Situation vermeiden hilft1 9 , materiell-rechtlich zu begrünclen 20 , ohne daß damit am Anwel1!dungsbereich des Anscheinsbeweises etwas geändert würde. 2. Die Umkehr der Beweislast

Neben dem Anscheinsbeweis steht die inzwischen zur eigenständigen Beweislastsonderrege121 entwickelte Umkehr der Beweislast für den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang als Reaktion auf einen groben ärztlichen Behandlungsfehler. Der BGH sieht bereits seit einiger Zeit von einer besonderen Begründung ab und beruft sich auf seine ständige Rechtsprechung22 • a) Voraussetzungen und Auswirkungen

Von der allgemeinen Beweislastverteilung hinsichtlich der Kausalität, die das Risiko der Unaufklärbarkeit grundsätzlich dem Geschädigten zuweist23 , wird abgewichen, wenn der Arzt einen groben Behand18 Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht13 , § 114 11; vgl. weiterhin J. Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, S. 35; Wilburg, Elemente des Schadensrechts, S. 70 f.; Gottwald, Jura 1980, 303 (312); Münch. Komm.! Grunsky, vor § 249 RN 137 ff. 19 BaumgärteZ/Wittmann, Festschr. Karl Schäfer, S. 13 (14) sehen den Anscheinsbeweis auf grund dieser Funktion schon als verdeckte Beweislastentscheidung an. 20 Insbesondere Diederichsen, Karlsruher Forum 1966, 21 (25 f.); ders., VersR 1966, 211 (217 ff.): Anscheinsbeweis als materiellrechtliche Zurechnungsregel für das Beweisrisiko bei festehendem objektiven Pflichtverstoß, der eine größere Schadensnähe des Schädigers bewirkt; weniger deutlich Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff zivilrechtlicher Dogmatik, § 3 II 3, der ebenfalls materiellrechtliche Kriterien (eine durch die Pflichtwidrigkeit erhöhte Wahrscheinlichkeit, Beweisnot des Patienten, Billigkeit) als Grundlagen des Anscheinsbeweises anführt, im Ergebnis den Anscheinsbeweis jedoch durch eine ausgedehnte Anwendung des § 287 ZPO ersetzen will; vgl. auch Locher, Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 245 (259, 270 f.). Kritisch zu den materiellrechtlichen Begründungen Blomeyer, Gutachten zum 46. DJT, S. 28 ff., der Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen dem Beurteilungsspielraum des Richters zuweist und darin allein einen Zweckzusammenhang zwischen materiellem Recht und Prozeßrecht, das zur Durchsetzung des ersteren dient, erblickt. 21 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 61 ff.; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823 I RN 29, 32 f.; diese Regel gilt übrigens unabhängig von der Anspruchsgrundlage; zu § 839 BGB neuerdings BGH NJW 1982, 1328. 22 Siehe nur BGH NJW 1978, 2337. 23 Eingehend dazu Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823 RN 5 ff.

11. Beweisrechtliche Lösung der herrschenden Meinung

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lungsfehler begangen hat, der generell geeignet ist, den eingetretenen Schaden herbeizuführen24 . Beispiele aus der neueren Rechtsprechung sind die unterlassene Krankenhauseinweisung bei einem außergewöhnlich großen Hämatom des Patienten nach einem Spritzenschaden; das Unterlassen von Blutgasanalysen bei Sauerstoffgabe im Brutkasten, wenn im Anschluß daran eine retrolentale Fibroplasie (Netzhautablösung im Auge) entsteht oder die Nichtvornahme von Röntgenaufnahmen bei erkennbarer Fehlstellung des Handgelenks nach einem Sturz25 . Wenn der BGH zunächst neben der Intensität des BehaIl!dlungsfehlers auch dessen leichtfertige Herbeiführung als Auslöser der Beweislastumkehr ansah26 , findet sich diese Alternative heute in der Rechtsprechung wohl mangels praktischer Bedeutung nicht mehr. Daß der Behandlungsfehler zur Herbeiführung des Schadens geeignet sein muß, bedeutet nicht, daß Kausalität mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sein mußl!7. Vielmehr verhält es sich gerade anders herum: Die Beweiserleichterungen werden zunehmend in einem flexiblen Sinne gehandhabt und antworten bei geringer Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs auf eine schwere Pflichtverletzung, bei größerer Wahrscheinlichkeit dagegen auch auf einen weniger gravierenden Verstoß28. Indem von der starren Beweisregel beim groben Fehler, der freilich nach wie vor ein fester Orientierungspunkt bleibt, abgewichen wird, erlangt das tatrichterliche Ermessen im Einzelfall hinsichtlich des Zusammenspiels von Pflichtverstoß und Beweiserleichterung zunehmende Bedeutung29 . Was denn nun unter einem schweren Behandlungsfehler zu verstehen ist, kann letztlich nur in groben Zügen beantwortet werden. Die Auslegung des Begriffs durch die Rechtspre24 Eingehend zu den Voraussetzungen der Beweislastumkehr m. N. zur Rechtsprechung Baumgärtel/Wittmann, JA 1979 113 (115 f.); H. Franzki, DRiZ 1977, 36 (37 f.); Laufs, Arztrecht2, RN 195 ff.; WeyerslMirtsching, JuS 1980, 317 (322); Giesen, JZ 1982, 448 (453); Uhlenbruck, NJW 1965, 1057 (1061 f.); D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 63 ff.; Baumgärtei, Handbuch der Beweislast, § 823 I RN 29, 32 f. 25 OLG Celle VersR 1981, 684; KG VersR 1981, 681; LG Memmingen VersR 1981, 585; weitere Beispiele aus der Rechtsprechung bei Bappert, Arzt und Patient als Rechtssuchende, S. 89 ff., 135 f. 26 BGH NJW 1968, 2291; ebenso Uhlenbruck, NJW 1965, 1057 (1062); kritisch dazu schon Hanau, NJW 1968, 2291. 27 BGH NJW 1983, 333, m. Anm. Matthies; Baumgärtel/Wittmann, Festschr. Karl Schäfer, S. 13 (18); die Gegenmeinung von Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 133 ff., 145 ff., beruht auf einem Fehlverständnis einiger BGH-Entscheidungen. 28 Vgl. BGH NJW 1978, 2337; BaumgärteI, Handbuch der Beweislast, Anhang § 282 RN 59; Laufs, NJW 1981, 1289 (1292). 29 Darauf weist der BGH in NJW 1978, 2337, und NJW 1981, 2513, ausdrücklich hin; ebenso D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 61 ff.; Laufs, NJW 1981, 1289 (1292), führt dies nicht zuletzt auf die Probleme zurück, die mit Bestimmung des Begriffs "grob" verbunden sind.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

chung wird als extensiv eingeschätzt30 ; Laufs befürchtet daher eine unangemessene Haftungserweiterung zu Lasten des Arztes und tritt für eine einengende Interpretation ein31 . Allgemein umschreibt man den groben Fehler mit Wendungen wie "eindeutiger Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst"32 oder "Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft"33. Doch damit ist noch nicht viel gewonnen, denn die Bestimmung der Kunstregeln in der Medizin ist schwierig und umstritten; wann ein Verstoß eindeutig ist und welche Regeln allgemein anerkannt sind, ist unklar; und schließlich ist die Medizin ein so breites Feld, daß solch allgemeine Formeln in Wahrheit nur einen ganz groben Anhaltspunkt liefern können. Angesichts dessen ist der Versuch der Rechtsprechung, wenigstens eine negative Umschreibung des Begriffs vorzunehmen, zu begrüßen. Merkmale eines leichten Fehlers sind danach das seltene Auftreten der Komplikation, deren fehlende Offenkundigkeit wegen eines schleichenden Verlaufs, der geringe Gefahrengrad für die Gesundheit des Patienten, schließlich ein Mitverschulden des Geschädigten34 . Die bestehende Rechtsunsicherheit konnte freilich auch durch diesen Schritt noch nicht beseitigt werden. Folge der Beweiserleichterungen ist eine Verschiebung des Beweisrisikos zu Lasten des Arztes, der im Falle der Beweislastumkehr den Beweis des Gegenteils zu seiner Entlastung führen muß35 und die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat. Grundsätzlich ist die Reichweite der Beweislastumkehr auf unmittelbare Primärschäden beschränkt, wenn nicht die eingetretenen Sekundärschäden ebenfalls als typische Folge des groben Behandlungsfehlers erscheinen36 • Andererseits wird die Beweislastumkehr jedoch auch auf den Rechtswidrigkeitszusammenhang ausgedehnt 37 ; daneben muß der eingetretene Schaden im 30 Münch. Komm.lMertens, § 823 RN 415; KG VersR 1981, 681, nimmt mit Recht auch dann einen groben Fehler an, wenn wissenschaftlich nur feststeht, daß der ärztliche Pflichtverstoß das Risiko des Schadenseintritts erhöht, selbst wenn die konkreten Ursachen einer Komplikation der eingetretenen Art nicht bekannt sind. 31 Arztrecht2, RN 196: ein grober Verstoß müsse in objektiver und subjektiver Hinsicht vorliegen. 32 BGH NJW 1968, 2291 f. 33 Deutsch, NJW 1976, 2289 (2291). 34 BGH NJW 1981, 2513; mehr Beachtung als bislang verdient der Vorschlag von Mirtsching, Diss. jur. Frankfurt 1980, S. 130 f., der eine positive Konkretisierung des Begriffs unternimmt. 35 Im Fall OLG Hamm VersR 1982, 556 gelang der Beweis des Gegenteils ausnahmsweise einmal. 36 BGH NJW 1978, 1683 f.; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 67 f.; allein mit Hilfe des Normzwecks grenzen Baumgärtel/Wittmann, JA 1979, 113 (116 f.), ab. 37 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 68 f. m. w. N.

11. Beweisrechtliche Lösung der herrschenden Meinung

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Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der Beweislastsonderregel stehen, es muß sich also das Risiko verwirklicht haben, das die Qualifikation des Behandlungsfehlers als "grob" auslöste 38 • b) Begründungen

Die Begründung der Beweislastsonderregel bereitet der Rechtsprechung Schwierigkeiten; das bestehende Begründungsdefizit hat zahlreiche Stellungnahmen in der Literatur ausgelöst. Die Judikatur läßt sich auf zwei wesentliche Argumente reduzieren: Billigkeit oder gerechte Interessenabwägung und Verursachung der Beweisnot durch den groben ärztlichen Fehler39 • Im Mittelpunkt steht das Billigkeitsargument 40 • Angesichts des Beweisnotstandes des Patienten nach einer schwerwiegenden ärztlichen Fehlleistung wird dessen Belastung mit dem Beweisrisiko als unzumutbar empfunden41 ; man ist der Ansicht, in dieser Situation gebe es keinen Grund mehr für die haftungsrechtliche Privilegierung der ärztlichen Tätigkeit, die wegen deren grundsätzlicher Gefahrenneigung sonst erforderlich sei42 • Die weitere Argumentation, die in der Literatur vielfach aufgegriffen wird43 , bedient sich des "Nähegedankens" . Der Arzt habe mit seinem Pflichtverstoß erst das Risiko der Beweislosigkeit geschaffen. Der Grad des Behandlungsfehlers gebe den Ausschlag bei der Wertung, die die Beteiligung des Arztes am Beweisrisiko ermögliche 44 • Es komme einem venire contra factum proprium gleich, wenn der Arzt, nachdem der Behandlungsfehler dazu geführt habe, daß die wahre Ursache der eingetretenen Komplikation nicht ausgemacht werden könne, sich auf die Beweislast des Patienten berufen könne45 • Schließlich habe der Arzt auch einen Kenntnisvorsprung vor dem Patienten, der seine größere Nähe zum Beweis mit begründe". 38

39

BGH NJW 1981, 2513. RGZ 171, 171; BGH NJW 1967, 1508; BGH LM Nr. 21 zu § 823 (Aa); KG

VersR 1981, 681; vgl. die Zusammenstellung der Rechtsprechung dazu bei

BaumgärteZ/Wittmann, JA 1979, 113 (117); dies., Festschr. K. Schäfer, S. 13 (19 f.); Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 71 ff.; Kröning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 114 ff.; BaumgärteI, Handbuch der Beweislast, § 823 I RN 37. 40 BGH NJW 1981, 2513; KG VersR 1981, 681; Laufs, Arztrecht2 , RN 195; ders., NJW 1981, 1289 (1292); Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff zivilrechtlicher Dogmatik, § 3 III 1 a. 41 Uhlenbruck, NJW 1965, 1057 (1061); BaumgärteZ, Festschr. Bruns, S. 93 (96 f.); vgl. auch Mirtsching, Diss. jur. Frankfurt 1980, S. 122 ff., 128 f. 42 So HainmülZer, Anscheinsbeweis, S. 158 ff.; Mirtsching, a.a.O., S. 104. 43 Giesen, JZ 1982, 448 (453); Münch. Komm.!Emmerich, vor § 275 RN 299; BaumgärteZ, Festschr. Bruns, S. 93 (96 f.); siehe auch die folgenden Fußnoten. " Nüßgens, Festschr. Hauß, S. 287 (299 f.); Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 241 ff. 45 Mirtsching, Diss. jur. Frankfurt 1980, S. 122 f. 48 UhZenbruck, NJW 1965, 1057 (1061).

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

Im Schrifttum47 finden sich Bestrebungen, diese Rechtsprechung auf weitere, auch übergeordnete Wertungskriterien zurückzuführen. Einen zugleich beschreibenden Ansatzpunkt wählen diejenigen Autoren, die den Gedanken der Beherrschbarkeit des Risikos anführen, mit dem die elementaren Berufspflichten in unmittelbarem Zusammenhang stünden. Eine Beweislastumkehr sei erst zu rechtfertigen, wenn ein Verlauf durch Einhaltung elementarer Regeln generell beherrscht werden könne4 8 • Auf diese Weise wäre zugleich ein Abgrenzungskriterium für den groben Fehler gewonnen. Zuweilen trifft man auch auf das Risikoerhöhungsprinzip als Begründung der Beweislastumkehr, jedoch stets gepaart mit anderen, ergänzenden Zurechnungskriterien - Beherrschbarkeit dieses Risikos 49 , Verschuldensgrad 50 oder leichtere Beweismöglichkeiten des Arztes 51 • Auch das Postulat der "Waffengleichheit" im Arzthaftungsrecht wird als Grund der Beweislastumkehr angeführt, denn damit gehe die wünschenswerte Verlagerung der Darlegungslast automatisch einher52 • Vereinzelt findet man eine an den Sphärengedanken angelehnte Argumentation: Wenn ein schwerwiegender Regelverstoß und der für diesen Verstoß typische Schaden vorlägen, bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Schadensursache aus der Sphäre des Arztes stamme, dem dann auch das Beweisrisiko zuzuweisen sei. Zur Abgrenzung der Risikosphären dient wiederum der grobe Fehler53 • Andere schließlich erblicken die Rechtfertigung der Beweislastumkehr im VerschuMensprinzip. Das Unaufklärbarkeitsrisiko sei Bestandteil der vom materiellen Recht vorzunehmenden gerechten Schadenszuorldnung. Billigkeit und das Erfordernis der Chancengleichheit bei der Durchsetzung des materiellen Rechts ließen die Verlängerung des materiellrechtlichen Zurechnungsprinzips - des Verschuldungsprinzips also - in das Beweisrecht als angezeigt erscheinen. Mit dessen Hilfe sei die vom materiellen Recht intendierte Schadenszurech47 Dazu die umfänglichen Darstellungen bei KTöning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 114 ff.; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsrecht, S. 75 ff. 48 v. BaT, Verkehrspflichten, S. 281 ff., 294 ff.; Stall, AcP 176 (1976), 145 (155 ff.); Henschel, GutachtersteIlen, S. 21; Münch. Komm./Mertens, § 823 RN 415 (FN 719). 49 v. BaT, Verkehrspflichten, S. 281 ff., 294 ff. 50 Gottwald, Jura 1980, 303 (308). 51 Kegel, Festschr. Kronstein, S. 321 (339 f.). Zusätzliche Gesichtspunkte müssen von den genannten Autoren schon deshalb angeführt werden, weil der BGH die Beweislastumkehr gerade auch bei unwahrscheinlichen Komplikationen anordnet. 52 MiTtsching, Diss. jur. Frankfurt 1980, S. 106 f., 118 f., der dieses Argument freilich in ein Konglomerat von Gründen einordnet, die nach seiner Ansicht die Beweislastumkehr letztlich rechtfertigen. Vgl. auch BaumgäTtel/Wittmann, Festschr. Karl Schäfer, S. 13 (20 f.). 53 D. FTanzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 87 ff.; der Sphärengedanke klingt auch bei Uhlenbruck, NJW 1965, 1057 (1061) an.

11. Beweisrechtliche Lösung der herrschenden Meinung

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nung voll zu verwirklichen. Um den besonderen Schwierigkeiten ärztlicher Berufsausübung gerecht zu werden, müsse freilich erst die Schwelle des groben Verstoßes überschritten sein54 • Von diesen Ansätzen zu unterscheiden ist eine weitere Gruppe von Meinungen, denen der Ausgangspunkt gemeinsam ist: die eigenständige Verankerung der Beweiserleichterungen im materiellen Haftungsrecht. Das Prozeßrecht dient allein der Durchsetzung des materiellen Rechts im Prozeß. Eine Eigendynamik, die auf das materielle Recht zurückwirken 'würde, darf das Prozeßrecht nicht entwickeln55 • Die Beweiserleichtungen müssen daher im Lichte dieses Zusammenspiels gesehen werden, sie dienen als Mittel zur Verfeinerung des Haftungsrechts 56 • Dabei ist möglich, daß die Beweiserleichterungen nur Hilfe zur Durchsetzung des materiellen Rechts sind57 , es kann sich aber auch um Haftungsverlagerungen, also um eine Veränderung des materiellen Rechts durch beweisrechtliche Mittel handeln58 • Anscheinsbeweis und § 287 ZPO mag man noch für bloße Durchsetzungshilfen halten, die Beweislastumkehr verlagert dagegen das Durchsetzungsrisiko und weist die Unaufklärbarkeit einer Partei ZU 59 • Dies ist ein materiell rechtlicher Effekt, der wegen des Verbots der Eigendynamik des Prozeßrechts auch materiellrechtlich zu begründen ist60 • In der Sache sieht v. Bar nur das die Pflichtwidrigkeit begründende Prinzip in die Beweislast hinein verlängert. Schon materiellrechtlich werde zuweilen für nur wahrscheinliche Kausalität gehaftet, nämlich dann, wenn nach Mißachtung von Verkehrspflichten ein grundsätzlich beherrschbarer Verlauf das Schadensrisiko erhöht. Die Beweiserleichterungen werden dann als das dieses Zurechnungsprinzip durchsetzende Mittel angesehen6l • Andere halten die Beweislastumkehr beim groben ärztlichen Fehler für eine stark verobjektivierte Zurechnungsform, wie sie das Recht etwa bei abstrakten Gefährdungsdelikten vorsiebt62 , denn je ob54 Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 96 ff.; Baumgärtel/Wittmann, JA 1979, 113 (117); dies., Festschr. Karl Schäfer, S. 13 (19 ff.); BaumgärteI, Handbuch der Beweislast, § 823 I RN 37. 55 Sffi17ler, NJW 1979, 2334 (2337); Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 62 f., 64. 56 Diederichsen, Karlsruher Forum 1966, 21 (22); Laufs, Arztrecht2 , RN 191. 57 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 259 will dieses Phänomen methodisch durch eine teleologische Reduktion des § 286 ZPO absichern. 58 Münch. Komm.!Mertens, vor § 823 RN 7. 59 Münch. Komm/Mertens, § 823 RN 413; Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 96 ff. 60 Sffi17ler, NJW 1979, 2334 (2337); vgl. auch Diederichsen, VersR 1966, 211 (215). 111 v. Bar, Verkehrspflichten, S. 281 ff., 294 ff. 62 Gottwald, Jura 1980, 303 (308); Steffen, Referat vor dem 52. DJT, Verhandlungen Bd. 11, S. I 23; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 242, spricht

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

jektiver die Zurechnung ausgestaltet ist, desto eher genügt auch die geringere Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs63 • Einige Autoren schauen auf den Normzweck, wobei als "Norm" in diesem Zusammenhang die ärztliche Verhaltensregel anzusehen ist. Wo mit der Pflichtverletzung typischerweise eine beweislose Lage geschaffen werde, bezwecke die Norm stets gleichzeitig die Abwehr auch dieser Beweisnot. Ansonsten werde der Normzweck nämlich frustriert 64 • Der Gedanke der Berufshaftung schließlich wird von Stall ins Feld geführt65 • Die Rechtsprechung zum groben Fehler führe dazu, daß den Arzt eine Einstandspflicht für elementare Geschehensabläufe, die generell beherrschbar seien, treffe. Nicht der Verschuldensgrad, sondern die Beherrschbarkeit sei mithin ausschlaggebend. Die damit verbundene partielle Abkehr vom Verschuldensprinzip - die Haftung kann nach der Rechtsprechung u. U. auch eintreten, wenn nicht der Behandlungsfehler den Schaden verursacht hat - rechtfertige sich aus Gründen der Berufshaftung: ein übergang zur Erfolgseinstandspflicht könne bei engem sozialen Kontakt und der Inanspruchnahme besonderen Vertrauens vollzogen werden. 3. §287 ZPO

Wie der Anscheinsbeweis ist die Anwendung des § 287 ZPO zwar keine gerade für das Arzthaftungsrecht eigentümliche Erscheinung, doch flicht sich auch diese Beweiserleichterung in das für die Arzthaftung typische Beweissystem ein. Die Anwendung des § 287 ZPO muß für das Arzthaftungsrecht also nicht gesondert begründet werden. Die Norm ermächtigt den Richter zur Schätzung, ob und in welcher Höhe ein Schaden entstanden ist. Sobald davon der Kausalzusammenhang betroffen ist, kann jedoch kaum von einer Schätzung die Rede sein; vielmehr handelt es sich um verminderte Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der die überzeugung des Richters begründet werden kann. Eine Schätzung ist anders als bei der Schadenshöhe nicht möglich, denn entweder ist ein Kausalzusammenhang gegeben oder er ist es nicht 66 • Die Rechtsprechung grenzt den Anwendungsbereich des § 287 ZPO mit Hilfe des "Betroffenseins" ab, zeichnet sich in von einer Kausalitätsindikation, wenn die verletzte Pflicht gerade den Zweck hatte, den eingetretenen Schaden hintanzuhalten. Vgl. auch Deutsch, NJW 1976, 2289 (2292). 63 Deutsch, Haftungsrecht I, S. 184. 64 Stoll, FestschI'. Fritz v. Hippel, S. 517 (558 f.); Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 244 f.; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Anhang § 282 RN 54; Mirtsching, Diss. jur. Frankfurt 1980, S. 121 f., sieht die Beweislastumkehr dagegen nur als Reflexwirkung des Pflichtverstoßes an. 65 AcP 176 (1976), 145 (155 ff., 196). 66 LaTenz, SchRI13, S. 478 f.

11. Beweisrechtliche Lösung der herrschenden Meinung

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Einzelfragen jedoch durch eine gewisse Uneinheitlichkeit aus 67 . Während zunächst gar die gesamte Kausalität der Unterlassung der Beurteilung nach § 287 ZPO unterstellt wurde68 , will man jetzt nur noch die haftungs ausfüllende Kausalität nach dieser Norm beurteilen. Dabei wurde als haftungsbegründend nicht bereits die unterlassene ärztliche Maßnahme, sondern erst der Eintritt der Rechtsgutsverletzung beim Patienten angesehen 69 . In der Literatur finden sich zahlreiche Befürworter dieser Abgrenzung; man befürchtet bei weiterreichender Anwendung des § 287 ZPO eine allzu starke Beschneidung des Verschuldensprinzips70. Steht eine Rechtsgutsverletzung erst einmal fest, dehnt die Rechtsprechung die erleichterte Beweisführung nach § 287 ZPO auch auf Sekundärerfolge aus, selbst wenn diese in der neuerlichen Verletzung des gleichen oder in der erstmaligen Verletzung eines anderen Rechtsgutes bestehen71 • 4. N euere Tendenzen

Der BGH will seine beweisrechtlichen Reaktionen auf den schweren ärztlichen Pflichtverstoß seit einiger Zeit nicht mehr als starre Sanktion verstanden wissen, sondern spricht von Beweiserleichterungen, die bis hin zur Beweislastumkehr reichen kÖnnen 72 . Damit wird der Grad der Sanktion den Umständen des Einzelfalls angepaßt. Noch ist nicht ganz klar zu erkennen, welche Umstände dies im einzelnen sind - ob es etwa auf die Art des Pflichtverstoßes ankommt oder nur auf das Ergebnis, nämlich welche Sanktion zur Behebung der Beweisnot des Patienten erforderlich ist. Auch die Stellungnahmen in der Literatur sind insoweit uneinheitlich. Zum Teil will man auf die Intensität des Pflichtverstoßes abstellen 73 , andere betonen - je nachdem, wie sie die Beweiserleichterungen materiell begründen - den Grad der Gefahrer67 Nachweise bei RosenberglSchwab, Zivilprozeßrecht 13 , § 115 11; Arens, ZZP BB (1975), 1 ff. 68 BGHZ 7, 198: Es genüge, wenn eine Unterlassung der betreffenden Art im allgemeinen zur Herbeiführung des eingetretenen Erfolges geeignet sei. Anschließend folgt der Hinweis auf § 287 ZPO. 69 BGH NJW 1968, 2291. 70 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 114; zustimmend auch RosenberQISchwab, Zivilprozeßrecht, § 115 11; WeyersJMirtsching, JuS 1980, 317 (322); Münch.Komm.lGrunsky, vor § 249 RN 141; H. Franzki, Aktuelle Rechtsprechung2, S. 59 f. 7.1 Zuletzt BGH VersR 1982, 161 (163 a. E.); ebenso wohl D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 115; kritisch dazu RosenberglSchwab, Zivilprozeßrecht, § 115 II; Münch. Komm./Grunsky, vor § 249 RN 141. 72 Siehe nur BGH NJW 1978, 2337; NJW 1981, 2513. Zum Abrücken von der Einheitslösung Walter, JZ 1978, 806. 73 Gottwald, Jura 1980, 303 (30B). 5 Matthies

2. Teil: C. Beweis der Kausalität

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höhung 74 , die Beherrschbarkeit des gesetzten Risikos 75 oder das Ausmaß der durch den Pflichtverstoß geschaffenen Beweiserschwerung76 • Den zuletzt genannten Weg beschreitet auch der 111., für Arzthaftpflichtsachen allerdings grundsätzlich nicht zuständige Zivilsenat des BGH: Im Rahmen des § 839 BGB sei die Fortführung der Rechtsprechung zum groben Behandlungsfehler besonders deshalb angezeigt, weil die Beweiserschwerung für einen Häftling gegenüber dem Vertragsarzt einer Justizvollzugsanstalt noch größer als gewöhnlich im Arzt-Patienten-Verhältnis zu bemessen sei77 • Nebenbei bemerkt wird der Gedanke der Berufshaftung nicht nur beim Arzt in dieser Form betont. Auch auf berufliche Fehlleistungen eines Notars 78 oder eines Gastwirts 79 wird mit beweisrechtlichen Mitteln reagiert, die jeweils auf die Eigenarten der betroffenen Berufe abgestimmt sind. Davon abgesehen ist die Rechtsprechung zu den Beweiserleichterungen aus dem Arzthaftungsrecht auch auf andere Berufsgruppen ausgedehnt worden 80 •

IH. Kritik der herrschenden Meinung Herausragendes Kennzeichen der Rechtsprechung zum Beweis der Ursächlichkeit des ärztlichen Behandlungsfehlers ist die Beweiserleichterung als Reaktion auf die grobe ärztliche Fehlleistung. Diese Beweiserleichterung zeichnet das Arzthaftungsrecht vor den meisten anderen Rechtsgebieten aus und angesichts der notorischen Beweisschwierigkeiten kann es nicht verwundern, wenn man zunehmend auf Urteile trifft, in denen nicht die eigentliche Beweisfrage im Mittelpunkt steht, sondern statt dessen die für das Gericht vielleicht einfachere Suche nach einem groben Pflichtverstoß81. Die praktische und dogmatische Bedeutung der übrigen Beweiserleichterungen - Anscheinsbeweis, § 287 ZPO, Beweiserleichterungen bei unzureichender ärztlicher Dokumentation - tritt dahinter schon deswegen zurück, weil es sich dabei um im gesamten Haftungsrecht auftretende Erscheinungen handelt, deren Anwendung im Arzthaftungsrecht keiner hierauf besonders bezogenen Begründung bedarf. Die Kritik der Rechtsprechung zu den Beweiserleichungen kann und soll sich daher im wesentlichen auf deren Herzstück - den groben Behandlungs fehler - beschränken.

Das tragende Argument der Rechtsprechung für die bis hin zur Beweislastumkehr reichenden Beweiserleichterungen ist das Billigkeitsv. Bar, Verkehrspflichten, S. 282. Stoll, AcP 176 (1976), 145 (157). 76 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 246; auch Diederichsen, Karlsruher Forum 1966, 21 (25 f.). 77 BGH NJW 1982, 1328. 78 BGH NJW 1974, 782. 79 OLG Frankfurt VersR 1982, 151. 80 Dazu die Nachweise bei v. Bar, Verkehrspflichten, S. 292: Krankenpflegepersonal, Schwimmeister, Wurstverkäufer auf Kirmesplätzen. 81 Siehe etwa BGH NJW 1981, 2513; NJW 1978, 2337 (2338); OLG Celle VersR 1981, 684; KG VersR 1981,681; LG Memmingen VersR 1981, 585. 74

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IH. Kritik der herrschenden Meinung

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prinzip, neuerdings zunehmend auf die Umstände des Einzelfalls abgestimmt. Nun entscheidet nicht zuletzt die Beweislastverteilung über den Prozeßausgang. Daher verlangt die gebotene Rechtssicherheit, daß die Parteien auch unter dem Gesichtspunkt der Beweislast das Prozeßrisiko kalkulieren können. Eine solche KalkulatiDn wird erheblich erschwert, wenn das über die Beweislast entscheidende Prinzip nicht einmal annähernd erkennen läßt, welche sachlichen Gründe letztlich das Umschlagen der Beweislast stützen. Gerade in Billigkeitserwägungen fließen zahlreiche Gesichtspunkte ein, so daß das Billigkeitsargument allein schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht überzeugen kann S2 • Die geschilderten Tendenzen in der Rechtsprechung, die auf eine Konkretisierung deuten, sind bislang noch zu schwach ausgeprägt. Zudem sind Billigkeitsgründe - sofern sie nicht von anderen, tragfähigen Gesichtspunkten begleitet werden - für sich genommen zu schwach, um nicht nur problematische Einzelfälle, sondern sogar übergeordnete Rechtsfragen einer Entscheidung zuzuführen. Dies gilt um so mehr, als nach der Rechtsprechung der grobe Behandlungsfehler nicht einmal mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Ursache der eingetretenen Verletzung gewesen sein muß, denn die Billigkeit könnte ebenso gut eine Entscheidung nach dem Maß der Wahrscheinlichkeit begründen; sie ist für sich genommen zu wenig aussagekräftig und daher sophistisch verwendbar. Auch der Nähegedanke bewirkt keine Entlastung der Billigkeitsargumentation. Zwar trifft es zu, daß der Pflichtverstoß des Arztes erst die beweislose Situation geschaffen hat. Der Behandlungsfehler kann jedoch nur zur Folge haben, daß der Arzt der Haftung näher rückt, denn der Pflichtverstoß ist Tatbestandsmerkmal der Haftungsnorm. Dagegen bewirkt der Pflichtverstoß noch keine größere Nähe zum Beweisrisiko. Dann müßten die ärztlichen Sorgfaltspflichten, gegen die verstoßen wurde, nämlich auch zu Beweis2Jwecken festgeschrieben worden sein. Da ,dies nicht der Fall ist, kann der Pflichtverstoß mangels Rechtswidrigkeitszusammenhangs nicht für die Zurechnung des Beweisrisikos fruchtbar gemacht werden83 • Will mfIU den Nähegedanken gleichwohl nicht verwerfen, so wird man zu bedenken haben, daß nicht nur ein schwerwiegender Pflichtverstoß eine beweislose Situation hervorrufen kann; der Nähegedanke könnte daher bei jeder Art von Behandlungsfehler die Beweislastumkehr tragen. Diese Konsequenz wird freilich 82

So auch Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3

III 1 a, 1 b; Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 80 ff.

S3 Kleinwefers/Wilts, VersR 1967, 617 (620 f.); J. Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, S. 96 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 172 f.; Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 84 ff.;

Matthies, NJW 1983, 335. 5'

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

nicht gezogen, weil der pflichtwidrig handelnde Arzt ansonsten stets für den Mißerfolg einzustehen hätte, so daß die Beweislosigkeit zum Haftungsgrund erwüchse84 • Auch die Beschränkung des Nähearguments auf die Arzthaftung müßte, was bislang nicht geschehen ist, besonders begründet werden, denn sobald nach irgendeiner pflichtwidrigen Handlung eine hinsichtlich der Kausalität beweislose Situation vorgefunden wird, beruht jene auf eben diesem Pflichtverstoß. Eine solch allgemeine Beweislastumkehr wird jedoch von niemandem gefordert. Wer schließlich auf die besseren Aufklärungsmöglichkeiten des Arztes verweist, übersieht, daß diese nicht bei der materiellrechtlichen Frage nach der Beweislast zu berücksichtigen sind, sondern allein die prozessualen Aufklärungspflichten und die daran geknüpften Beweiserleichterungen betreffen85 • Ähnlich kritisch muß der Vorschlag von Stall 86 betrachtet werden, der in die ärztlichen Sorgfaltspflichten zugleich einen auch auf Beseitigung der Beweislosigkeit zielenden Normzweck interpretieren will, so daß das Argument des nicht vorhandenen Rechtswidrigkeitszusammen'hangs entkräftet wäre. Es erscheint schon fraglich, ob Sorgfaltspflichten überhaupt einen derartigen Zweck haben können, selbst wenn die Beweisnot im Zusammenhang mit der Pflichtverletzung typischerweise auftritt 87 • Vor allem aber muß im Zusammenhang mit Normzweckerwägungen auf den wahren Kern der Probleme, die die Frustration des Normzwecks bewirken, gesehen werden. Bei der Arzthaftung ist dies die Tatsache, daß auch bei normgemäßem Verhalten die Unversehrtheit bzw. Gesundung des Patienten nicht garantiert werden kann. Die daraus resultierenden Beweisschwierigkeiten sind nur Symptom des Problemkerns. Eine Normzweckargumentation müßte auf die wahre Ursache gerichtet sein, wenn sie durch bloße Symptomkorrektur nicht auch unerwünschte Auswirkungen im Randbereich haben soll. So müßte die Normzwecklehre im Sinne StaH's auf jeden ärztlichen Pflichtverstoß mit beweisrechtlichen Mitteln reagieren, weil nicht nur grobe Verstöße die Beweislage des Patienten verschlechtern88 • Dann würde die Arzthaftung aber in die Nähe der Erfolgshaftung gerückt, was mit der beruflichen Stellung des Arztes gerade nicht in Einklang zu bringen ist. 84 Kleinwefers/Wilts, VersR 1967, 617 (620 f.); Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 84 ff.; siehe auch Baumgärtel, Festschr. Bruns, S. 93 (97); Hanau, NJW 1968, 2291. 85 Stürner, NJW 1979, 1225 f.; ders., Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 149. 86 Festschr. v. Hippel, S. 517 (550 ff.). 87 Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823 I RN 38; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 80 f. 88 Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3 III 1 d.

III. Kritik der herrschenden Meinung

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Auch die Ansätze, die die Beweiserleichterungen mit der leichten Beherrschbarkeit eines Gefahrenpotentials erklären wollen, vermögen nicht zu überzeugen. Zum einen können Pflichten ohnehin nur statuiert werden, wenn sie zur Gefahrensteuerung geeignet sind. Die Beherrschbarkeit des Verlaufs als solche kann den groben Pflichtverstoß also schwerlich auszeichnen. Doch selbst wenn dem so wäre, müßte stärker als bislang auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit des Pflichtverstoßes gesehen werden. Größere Beherrschbarkeit des Verlaufs ist nämlich immer dann gegeben, wenn andere Ursachenquellen weniger ernsthaft in Betracht zu ziehen sind. Diesen Inhalt hat die derzeit praktizierte Beweislastumkehr jedoch gerade nicht. Der gleiche Einwand ist gegenüber Begründungsversuchen mit Hilfe des Risikoerhöhungsgedankens zu erheben: die Beweislastumkehr greift auch ein, wenn der Fehler nur mit geringer Wahrscheinlichkeit die Verletzung verursacht hat, wenn das Risiko also nicht in besonderem Maße gesteigert wurde. Es soll sich explizit nicht um eine Haftung für nur wahrscheinliche Kausalität handeln; sonst wäre auch das Merkmal der "Geeignetheit" durch "Wahrscheinlichkeit" der Verursachung zu ersetzen. Auch die Parallele zu den abstrakten Gefährdungsnormen wirkt insbesondere unter dem Blickwinkel der neueren Tendenzen in der Rechtsprechung, die auf eine mehr einzelfallbezogene Betrachtungsweise abzielen, nicht sehr überzeugend. So abstrakt können die Verhaltensregeln des Arztes nämlich nicht festgeschrieben sein, wenn es weitgehend im Ermessen des Tatrichters stehen soll, ob Beweiserleichterungen im Einzelfall wegen des Grades des Behandlungsfehlers angezeigt sind oder nicht. Wer die Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler mit Hilfe des Waffengleichheitspostulats rechtfertigen will, schießt über das Ziel hinaus: schon einfache prozessuale Maßnahmen können die an sich erstrebte Verschiebung der Beweisführungslast bewirken89 , während eine Beweislastumkehr einen darüber hinausgehenden, durch die prozessuale "Waffengleichheit" nicht mehr gedeckten materiellrechtlichen Effekt hätte. Eine von der Regel abweichende Beweislastverteilung wird zuweilen mit Hilfe der Gefahrenkreistheorie begründet90 • Diese Lehre liefert freilich für die Beweislastumkehr beim groben ärztlichen Behandlungsfehler grundsätzlich keine taugliche Erklärung, denn aus wessen Risikosphäre die letztlich eingetretene Verletzung stammt, ist ja gerade Vgl. dazu oben 1. Teil B. 11., III. (5. 30 ff.). Vor allem J. Prölss, Beweiserleichterungen, 5. 65 ff.; dazu Baumgärtei, Handbuch der Beweislast, Anhang § 282 RN 28 f. 89

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

offen91 • Nun vertritt D. Franzki die Ansicht, Verschuldungsgrad und Wahrscheinlichkeit der Verursachung durch den Pflichtverstoß würden bereits eine Zuweisung des Beweisrisikos zum Gefahrenbereich des Arztes rechtfertigen, so daß die Gefahrenkreislehre doch zur Begründung der Beweislastumkehr dienen könne1l2 • Dabei wird jedoch verkannt, daß auch die Kombination von Wahrscheinlichkeit und Verschuldensgrad zur Einteilung der Risikosphären nicht geeignet ist. Beide Gesichtspunkte sind für sich genommen zur Abgrenzung der Gefahrenbereiche bei der Arzthaftung untauglich: eine erhöhte Wahrscheinlichkeit ist nicht Voraussetzung der Beweislastumkehr, die Gefahrenbereiche haben nichts mit der Intensität des Pflichtverstoßes zu tun93 • Die Kombination beider Aspekte erzwingt keine andere Bewertung, denn nach wie vor ist offen, ob Ursache der Verletzung nicht auch mit einiger Wahrscheinlichkeit ein anderes Ereignis als der ärztliche Pfllichtverstoß sein kann. Die Gründe für die Beweislosigkeit liegen nach wie vor in den Sphären beider, also von Arzt und - krankheitsbedingt - Patient94 • Diejenigen Autoren, die in der Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler nur eine Verlängerung des materiellrechtlichen Verschuldensprinzip in die Beweislast sehen, die zur Durchsetzung des materiellen Rechts und aus Billigkeitsgründen el"forderlich sein soll, übersehen, daß materielle Zurechnungs- und Beweisfragen nicht so einfach mittels des gleichen Prinzips über einen Kamm geschoren werden können. Die materiellrechtliche Zurechnung mittels des Verschuldensprinzips setzt nämlich voraus, daß sämtliche anderen Tatbestandsmerkmale gegeben sind. Deren Fehlen kann das Verschuldensprinzip nicht auch noch überbrücken. Wer dennoch dafür eintritt, geht ganz offen noch über eine Haftung für versari in re illicita hinaus. Damit geht eine Perversion des zivilrechtlichen Ausgleichsdenkens zum pönalen Sanktionsdenken einher95 • Ganz abgesehen davon ist auch die Haftung selber nicht vom Verschuldensgrad abhängig, sieht man einmal vom Schmerzensgeld ab, so daß von einer einfachen Fortführung des materiellrechtlichen Zurechnungsprinzips gar nicht die Rede sein kann". 91 Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 87 ff.; Nüßgens, Festschr. Hauß, S. 287 (300); Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3 111 1 C. 92 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 87 ff. 93 KleineweferslWilts, VersR 1967, 617 (624 f.). 94 Schuster, Diss. jur. Freiburg 1975, S. 17 ff.; vgl. auch BGH NJW 1980, 1333. 95 J. Prölss, Beweiserleichterungen, S. 96 ff.; Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133 f.; Lange, Schadensersatz, S. 108. 98 Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133 f.; Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3 111 1 a.

IH. Kritik der herrschenden Meinung

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Die Beweislastumkehr beinhaltet einen partiellen übergang zur Erfolgseinstandspflicht für den Arzt, mithin eine Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel. Kann die berufliche Stellung des Arztes, der enge soziale Kontakt zum Patienten, kann die besondere Inanspruchnahme von Vertrauen diesen Wandel erklären, wenn es um die Verletzung elementarer Berufspflichten geht97 ? Die Erfolgseinstandspflicht ist wohl noch am ehesten aus Gründen der Berufshaftung zu rechtfertigen. Wer existenziell darauf angewiesen ist, sich einem Professional anzuvertrauen, muß sicher gehen können, daß dieser seine elementaren Pflichten sicher beherrscht, was in einer Erfolgseinstandspflicht rechtlich zum Ausdruck gebracht werden kann. Es fragt sich jedoch, ob dies tatsä.chlich die angemessene rechtliche Reaktion auf die Besonderheiten ärztlicher Berufsausübung ist. Hanau führt an98 , die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion physiologischer Abläufe im menschlichen Körper seien nicht typisches Kennzeichen des ärztlichen Behandlungsfehlers, sondern könnten bei jeder Art von Körperverletzung auftreten, so daß eine Sonderstellung der Ärzte nicht angezeigt sei. Das mag zwar zutreffen, doch wird die die Beweislastumkehr rechtfertigende Eigenheit der ärztlichen Berufsausübung ja nicht in den Beweisproblemen als solchen gesehen, sondern in der spezifischen Vertrauensstellung, die der Arzt gegenüber dem Patienten innehat. Der Ansatzpunkt der Kritik muß demgegenüber verlagert werden: die Umschreibung der Besonderheiten ärztlicher Berufsausübung, an die die partielle Erfolgseinstandspflicht geknüpft wird, sowie die Angemessenheit dieser Erfolgseinstandspflicht als Reaktion darauf. Die Beweislastumkehr steht einer unwiderleglichen Vermutung nahe, weil der Arzt kaum eine faire Chance hat, den i:hm obliegenden Beweis zu führen". Die so geschaffene Erfolgseinstandspflicht mag zwar eine denkbare Reaktion auf die Besonderheiten ärztlicher Berufsausübung sein; warum aber gerade die Haftungsverschärfung über ein versari in re illicita hinaus und keine andere Antwort angemessen sein soll, ist bislang noch nicht positiv begründet worden. üblicherweise liegt eine andere Vorgehensweise näher, wenn man ein Rechtsproblem zu lösen versucht: zunächst sind seine Ursachen und Konturen herauszuarbeiten, erst danach kann unter mehreren möglichen Lösungen nach der am ehesten angemessenen gesucht werden. Ein großer Teil der freien Berufe zeichnet sich durch engen sozialen Kontakt zum Klientel und durch eine hervorgehobeIlJe Vertrauensstellung des Freiberuflers aus 100 • Warum dann aber ausschließlich beim Arzt die bekannten beweisrecht97 So Stoll, AcP 176 (1976), 145 (155 ff., 196). 98 Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133 f. 99 Vgl. Bender, Festschr. Baur, S. 247 (267); der Beweis des Gegenteils gelang dem Arzt im Fall des OLG Hamm, VersR 1982, 556. 100 Vgl. Mertens, VersR 1974, 509 ff.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

lichen Schlüsse daraus gezogen werden sollen, will nicht ganz einleuchten. Schon dies deutet darauf hin, daß mit der ärztlichen Vertrauensstellung der Kern des Problems noch nicht getroffen ist. Das Vertrauen, das der Arzt in Anspruch nimmt, kann sich immer nur auf das beziehen, was er entsprechend den Eigenarten seines Berufsstandes zu leisten vermag. Kenntnis und Anwendung sämtlicher - nicht nur der elementaren - Regeln seines Fachs, nicht aber Kontrolle aller im Zusammenhang mit der Erkrankung und Behandlung des Patienten auftauchenden Gefahren. Damit ist denn auch der entscheidende Aspekt angesprochen. Der Arzt kann immer nur mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit Heilung versprechen; die Beweisschwierigkeiten haben ihren Ursprung in dieser Unsicherheit. Die Wurzel des Problems liegt mit anderen Worten also darin, daß der Arzt gehalten ist, einer dem Patienten innewohneIl!den Tendenz zum Schlechteren entgegenzuwirken, womit sein Stand bisweilen überfordert ist. Symptom dieser beruflichen Sonderstellung sind in haftungsrechtlicher Sicht die Beweisprobl-eme, zu deren Lösung die Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler dienen soll. Dieses Mittel ist jedoch, weil es am Symptom und nicht an der Ursache ansetzt, zu deren Behebung ungeeignet; denn während die Ursachen der Beweisschwierigkeiten stets aus den Sphären beider, den Risikobereichen von Arzt und Patient stammen, bewirkt die Beweislastumkehr eine volle Risikoverschiebung zu Lasten einer dieser Sphären nach Fallgruppen101 • Die beweisrechtliche Lösung verlagert also bildlich gesprochen das Risiko ohne einen aus der beruflichen Situation des Arztes resultierenden Grund von der horizontalen Ebene, an der beide Parteien ihren Anteil haben, in die vertikale Ebene, die in rechtlicher Sicht zu einer partiellenErfolgseinstandspflicht führt. Festzuhalten bleibt daher, daß der Ansatz zur überwindung der Beweisschwierigkeiten zwar der beruflichen Situation des Arztes zu entnehmen ist. StoLZ jedoch verfehlt ausgehend von diesem Ansatz eine korrekte Charakterisierung des Problemkerns und verkennt deshalb auch die zutreffende haftungsrechtliche Reaktion darauf. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß eine ausreichende Begründung der Beweislastumkehr beim groben ärztlichen Behandlungsfehler bislang nicht erbracht werden konnte. Das gilt auch für die neueren Tendenzen in Rechtsprechung und Literatur, die von Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr sprechen und den Anscheinsbeweis in ein solches "flexibles System" einbeziehen wollen102 , Schuster, Diss. jur. Freiburg 1975, S. 133 ff. Insbesondere Walter, JZ 1978, 806; ders., Freie Beweiswürdigung, S. 243 ff.; vgl. auch Diederichsen, Karlsruher Forum 1966, 21 (25); Hauß, Karlsruher Forum 1966, 38; Reinhardt, Karlsruher Forum 1966, 41; Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, S. 12 f., 17 f.; Münch. Komm./Mertens, § 823 RN 8. 101

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IH. Kritik der herrschenden Meinung

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das dann den Grad der Beweiserleichterungen im Einzelfall von der Intensität des Pflichtverstoßes abhängig macht. Daß ein Zusammenhang dieser Art zwischen Pflichtverstoß und Beweiserleichterung im Arzthaftungsrecht nicht existiert, wurde bereits aufgezeigt. Das "flexible System" nimmt allein die hervorgerufene Beweisnot zum Anlaß von Beweiserleichterungen, ohne den Problemen auf den Grund zu gehen. Es handelt sich um ein ausschließlich am gewünschten Ergebnis orientiertes Argumentationsschema, das keineswegs überz.eugender wirkt als die überkommene Anknüpfung der Beweislastumkehr an den groben Fehler. Nicht nur das offengelegte Begründungsdefizit weckt Widersprüche gegenüber der herrschenden Auffassung; die Folgen der beweisrechtlichen Lösung erscheinen ebenfalls teilweise bedenklich. Mit Hilfe der Beweislastumkehr wird eine partielle Erfolgseinstandspflicht für den Arzt geschaffen, die - wie gezeigt - auf die wahren Probleme ärztlicher Berufsausübung nicht angemessen, weil vertikal statt horizontal reagiert. Innerlhalb des flexiblen Systems von Beweiserleichterungen gilt das insbesondere für die Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler, weil dann der Behandlungsfehler nicht einmal wahrscheinliche Ursache der Rechtsgutverletzung des Patienten gewesen sein muß. Daneben schafft die herrschlende Ansicht Rechtsunsicherheit in doppelter Hinsicht: es ist kaum vorherzusagen, welcher Fehler als grob einzustufen ist, so daß die Beweislage vor einem Prozeß nicht kalkulierbar ist 103 • Die neuerdings hervorgehobene Flexibilität verstärkt diese Tendenz gar noch, denn die zunehmende Betonung der Umstände des Einzelfalls fördert die Berechenbarkeit von Entscheidungen sicherlich nicht104 • Man geht so zwar den Schwierigkeiten bei der Abgrenzung des groben Fehlers aus dem Wege, die ihre Ursachen im fließenden übergang der Verschuldensgrade haben, reagiert aber auf die neu gewonnene Flexibilität stets mit dem gleichen starren Prinzip, nämlich der Beweislast105 • Schließlich wird man hinsichtlich der psychologischen Auswirkungen zu bedenken haben, daß die ständige Suche nach einem groben Behandlungsfehler - auch innerhalb des "flexiblen Systems" eine ständige Belastung des Arzt-Patienten-Vel'hältnisses darstellt106 • Die Bedenken gegenüber der beweisrechtlichen Lösung wiegen daher so schwer, daß die Suche nach anderen Lösungswegen angezeigt ist. 103 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 245 f.; Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133 f.; Gaupp, Beweisfragen, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 80 ff.; Schuster, Beweislastumkehr extra legern, Diss. jur. Freiburg 1975, S. 17 ff. 104 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 62 f. 105 Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 88 f. 106 Schuster, Diss. jur. Freiburg 1975, S. 133 ff.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

IV. Alternativen im Schrifttum

Vor einer Betrachtung der außerforensischen Praxis sei zunächst ein Blick auf die in der Literatur angebotenen Alternativen zu dem von der Rechtsprechung beschrittenen Weg geworfen107 • 1. Wahrscheinlichkeitsmaßstab

Eine ganze Reihe von Autoren will die rigide Beweislastlösung der Rechtsprechung durch einen geschmeidigeren Wahrscheinlichkeitsrnaßstab ersetzen, so daß der Patient immer dann Schadensersatz erhält, wenn Verletzung und Schaden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf dem ärztlichen Pflichtverstoß beruhen108 • Die durch Anwendung eines Wahrscheinlichkeitsrnaßstabes getroffene Entscheidung sei gegenüber dem unkontrollierten und im Grunde ebenfalls mit Wahrscheinlichkeiten arbeitenden richterlichen Ermessen aufgrund ihrer Objektivierung vorzuziehen 109 ; es sei gerechter, nach dem Wahrscheinlichen zu entscheiden als mit Hilfe der Beweislastumkehr möglicherweise nach dem Unwahrscheinlichen 110 • Vor allem aber werde das Wahrscheinlichkeitsbeweismaß bereits jetzt praktiziert, nur lege dies die Rechtsprechung bedauerlicherwe~se nicht offen, sondern v,erberge das ihren Entscheidungen in Wahrheit zugrunde liegende Prinzip hinter anderen, scheinbar eigenständigen Rechtsfiguren: dem (Individual-)Anscheins: beweis 111 , der Beweislastumkehr, § 287 ZPO und der richterlichen überzeugung im Sinne des § 286 ZP0112. Zuweilen wird auch der Versuch unternommen, dieses Wahrscheinlichkeitsbeweismaß mit der Intensität des Pflichtverstoßes zu koppeln, so daß nach einem schweren F,ehler des Arztes der Beweis der Kausalität schon dann als erbracht angesehen wird, wenn der Patient nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, die der 107 Vgl. dazu ausführlicher D. Frunzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 70 ff. und Stoll, AcP 176 (1976), 145 (148). 108 So Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3 IV; Ahrens, Diskussionsbeitrag vorm 52. DJT, Verhandlungen Bd. 2 s. I 144; Hanau, Kausalität der Pftichtwidrigkeit, S. 134 ff.; ders., NJW 1968, 2291 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 110 ff., 145 ff.; Maassen, Beweismaßprobleme, S. 97 ff., 112 f.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 78 ff.; Kegel, Festschr. Kronstein, S. 321 ff.; Bender, Festschr. Baur, S. 247 (259 ff.); vgl. auch Schuster, Diss. jur. Freiburg 1975, S. 133 ff. sowie Kröning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 118 ff.; zum Anscheinsbeweis Greger, VersR 1980, 1091 (1102 ff.). 109 Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 110 ff. 110 Kegel, Festschr. Kronstein, S. 321 (335); Maassen, Beweismaßprobleme, S. 97 ff. 111 Kegel, Festschr. Kronstein, S. 328 ff.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 110 ff.; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 175 ff. 112 Musieluk, Grundlagen der Beweislast, S. 110 ff., 145 ff.

IV. Alternativen im Schrifttum

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grobe Fehler regelmäßig wenigstens mit sich bringe, dartut 113 • Eine ganze Reihe von Autoren will das Wahrscheinlichkeitsbeweismaß auf eine ausgedehnte Anwendung des § 287 ZPO stützenl14 , der eine Entscheidung nach überwiegender Wahrscheinlichk!eit ermöglicht. Es wird vorgebracht, die Beschränkung jener Bestimmung auf den haftungsausfüllenden Kausalzusammenhang durch das von der Rechtsprechung gewählte und recht ungereimt angewendete Merkmal des "Betroffenseillls"115 sei nicht angezeigt; die Beweisprobleme beim haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalzusammenhang seien strukturell gleich; auch zeige die uneinheitliche Rechtsprechung, daß eine exakte Abgrenzung dieser beiden Bereiche so gut wie unmöglich sei; um diesen Problemen auszuweichen und um die gleichen Ergebnisse wie durch die Anwendung des § 287 ZPO zu erreichen, wende die Rechtsprechung Anscheinsbeweis und Beweislastumkehr an110. Außerdem sei in Wahrheit nicht erst die Rechtsgutsverletzung das haftungsbegründende Moment, sondern bereits die unmittelbare Gefährdung des Verletzten117 , so daß die Kausalität stets nach § 287 ZPO zu beurteilen sei. Weniger weitgehend vertritt Bodenburg 118 die These, das Arzthaftungsrecht Isei im Kern Verhaltensunrecht, da die Rechtsgutverletzung immer schon mit der Pflichtverletzung feststehe, verwirkliche sich doch die ärztliche Tätigkeit denknotwendigerweise am menschlichen Körper. Kausalitätsfragen könnten daher im Arzthaftungsrecht generell nur im Rahmen des § 287 ZPO auftreten 119 • Gegen die Lehre vom Wahrscheinlichkeitsbeweismaß wird vorgetragen, sie biete keinen AuLsweg, weil die Wahrscheinlichkeitsgrade im Einzelfall nur ausnahmsweise einigermaßen exakt bestimmbar seien120 • Diese Kritik ist sicherlich zutreffend, was die Kategorien der objekti113 Bender, Festschr. Baur, S. 247 (259 ff.); entgegengesetzt Kröning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 118 ff., der nur dann einen schweren Behandlungsfehler annehmen will, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit der vollen Tatbestandsverwirklichung durch den Behandlungsfehler gegeben ist. 114 Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbergiff, § 3 IV; Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 134 ff. und passim; Musielak, Beweismaßprobleme, S. 97 ff., 112 f.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 78 ff.; vgl. auch die Bemerkung bei Rümelin, Haftung im klinischen Betrieb, S. 21 ff. 115 Eingehend dazu Arens, ZZP 88 (1975), 1 ff. 116 Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 78 ff. 117 Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 78 ff.; Hanau, Kausalität der Pfiichtwidrigkeit, S. 133 ff. und passim. 118 Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3 IV. 119 Diese Argumentation hat Ähnlichkeit mit der Rechtsprechung des BGH VersR 1982, 756 zum Beweis reiner Vermögensschäden im Rahmen von Vertragsverletzungen, wo sich der BGH wie Bodenburg, § 3 IV 4 großenteils auf die Beweisprobleme hinsichtlich hypothetischer Verläufe beruft. 120 Arens, ZZP 88 (1975), 1 (31 f.) vgl. auch Scholl, NJW 1983, 319.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

ven Wahrscheinlichkeitstheorie angeht. Andererseits läßt sich aber durch einfache Hilfsmittel wie Prufroutinen bereits eine gewisse Objektivierung des richterlichen Ermessens und damit ein größeres Maß an Rationalität erreichen121 • Mangelnde Praktikabilität läßt sich dem Beweils nach Wahrscheinlichkeiten daher wohl kaum nachsagen. Mit Hilfe der von der Rechtsprechung geübten Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler läßt sich das Wahrscheinlichkeitsbeweismaß dagegen nicht begründen l22 : "Geeignetheit" zur Herbeiführung des Schadens bedeutet nicht Wahrscheinlichkeit 123 , "geeignet" meint vielmehr nur "kleiner oder gleich" wahrscheinlich; die Beweislastumkehr unterschetdet sich außerdem vom mit Wahrscheinlichkeiten arbeitenden Anscheinsbeweis durch die Anforderungen an den Gegenbeweis bzw. den Beweis des Gegenteils 124 • Doch die Anwendung des § 287 ZPO überzeugt ohnehin nicht1 25 : Wer den Bereich des § 287 ZPO mit Hilfe der unmittelbaren Gefährdung des betroffenen Rechtsguts umschreiben will, stößt auf Abgrenzungsschwierigkeiten1u. Informiert beispielsweise ein Arzt seinen Patienten nicht darüber, daß er das verordnete Medikament nicht jahrelang ohne Unterbrechung einnehmen darf, will er nicht seine Gesundheit gefährden, und kommt es nach 3 Jahren zu einer irreversiblen Verletzung des Patienten, so ist keineswegs mehr klar, wann die unmittelbare Gefährdung eingesetzt hat, schon mit der mangelhaften Informationen, irgendwann im Laufe der 3 Jahre oder gar erst mit dem Eintritt der irreversiblen Schädigung. § 287 ZPO intendiert Beweiserleichterungen auf der Rechtsfolgenseite bei feststehendem Haftungsgrund. Erst der bewiesene Übergriff in den fremden Rechtskreis soll die Wohltat des § 287 ZPO auslösen. Jedenfalls der Wortlaut des § 823 I BGB verlangt dazu die Verletzung eines Rechtsgutes, dessen unmittelbare Gefährdung reicht noch nicht aus. Im Zusammenhang mit negatorischen Ansprüchen ist zwar die Lehre von der gefährdungsbezogenen Rechtswidrigkeit entwickelt worden127 , Scha121 Bender, Festschr. Baur, S. 247 (248 ff.) m. w. N.; vgl. auch Kegel, FestschI". Kronstein, S. 321 ff. sowie Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3 ff., 45 f. 122 Gottwald, Jura 1980, 303 (309); Nüßgens, Festschr. Hauß, S. 287 (295 f.); Mirtsching, Diss. jur. Frankfurt 1980, 116 f.; BGH, VersR 1982, 1193; NJW 1983,333. 123 So aber Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 145 ff. 124 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 71 f.; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823 I RN 31. 125 Die Auffassung von J. Prölss, Beweiserleichterungen, S. 55 ff., der sämtliche Kausalitätsfragen aus § 287 ZPO ausklammern will, ist freilich vereinzelt geblieben und widerspricht schon dem Wortlaut der Norm, der auch das "ob" des Schadens mit in die Betrachtung nach § 287 ZPO einbezogen wissen will. Vgl. die eingehende Auseinandersetzung mit der von J. Prölss vertretenen Ansicht bei Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 24 ff.; Arens, ZZP 88 (1975), 1 ff.; Stoll, JZ 1972, 365 (367). 128 Arens, ZZP 88 (1975), 1 (17 ff.). 127 Dazu Deutsch, Haftungsrecht I, S. 196 f.

IV. Alternativen im Schrifttum

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densersatzansprüche setzen jedoch unabhängig davon eine real feststehende Rechtsgutsverletzung voraus, mag die Rechtswidrigkeit auch schon vorher einsetzen128 • Auch von daher ist die Abgrenzung mit Hilfe der unmittelbaren Gefährdung also als unzutreffeIl!der Ansatz einzuordnen, würde doch ansonsten die Haftung mittels eines prozessualen Instruments ohne eigene materiell rechtliche Begründung vorverlagert. UnzutreffeIlId ist ebenfalls der Satz, mit dem ärztlichen Pflichtverstoß stehe die Tatbestandsmäßigkeit bereits fest, weil sich die ärztliche Tätigkeit denknotwendigerweise am menschlichen Körper verwirkliche 129 • Zum einen lassen sich nämlich Gegenbeispiele finden: Man denke an den soeben um die Sicherungsaufklärung konstruierten Fall. Dort stellt die mangelnde Information durch den Arzt, also der Behandlungsfehler, bei weitem noch nicht den erfoJ.'1derlichen Eingriff in das Rechtsgut des Patienten dar. Das KG hatte einen Fall zu entscheiden, in dem es darum ging, daß ein Neugeborenes im Brutkasten eine erhöhte Sauerstoffzufuhrerhielt, wobei es im Anschluß daran zu einer Netzhautablösung mit ErbliIl!dung kam. Man hatte im Krankenhaus die erforderlichen Blutgasanalysen zur Kontrolle des Blutsauerstoffgehalts unterlassen, obwohl eine zu stark konzentrierte Sauerstoffgabe das Risiko einer Netzhautablösung erhöht 130 • Um es ganz deutlich zu machen, stelle man sich vor, die Blutentnahmen seien zwar erfolgt, die Blutgasanalysen dann aber vergessen worden. Der Behandlungsfehler - das Unterlassen der Analyse - ist nunmehr ohne jeden unmittelbaren Bezug zum menschlichen Körper als zu verletzendes Rechtsgut. Schon diese Beispiele belegen, daß die These Bodenburgs keineswegs allgemeingültig ist. Dieser Umstand zwingt Bodenburg denn auch dazu, für Fälle der Unterlassungskausalität die Anwendung des § 287 ZPO unabhängig von der Basis seiner These - gesondert mit Hilfe des stark hypothetischen Moments der Unterlassungskausalität zu begründen. Die von Bodenburg vorgenommene Vorverlagerung der Rechtsgutsverletzung läßt sich mithin nicht für den gesamten Bereich der Arzthaftung durchhalten und kann daher auch deren beweisrechtliche Sonderstellung nicht begründen. Selbst wenn man seine Vorverlagerung ,der Rechtsgutsverletzung als typische Erscheinung des Arzthaftungsrechts akzeptiert, ist dieser Umstand beweisrechtlich ohne Relevanz: Es geht ja beweisrechtlich gerade um die Konkurrenz mit anderen möglichen 128 Kröning, Diss. jur. Göttingen 1974, S. 35 f.; Stall, AcP 176 (1976), 145 (184 f.); Arens, ZZP 88 (1975) 1, 11 f. 129 So aber Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff. § 3 IV. 130 KG VersR 1981. 684. Das Gericht sah übrigens ausdrücklich erst die Erblindung als haftungsrelevante Rechtsgutsverletzung an und nicht bereits das Unterlassen der Blutentnahme. Ebenso Stall, AcP 176 (1976), 145 (187).

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

Ursachen, die im Bereich der Arzthaftung notwendigerweise ebenso körperbezogen sind wie die ärztliche Tätigkeit, ja in Form der zu behandelnden Erkrankung sogar noch eher als die vorverlagerte mögliche Verletzung vorhanden gewesen sein können. Bodenburg umschreibt vielmehr nur ein jeder Verletzung eigenes Phänomen, wenn alternative Verlaufsmöglichkeiten bestehen: Die eigentliche den Schwerpunkt des Falles bildende Verletzung kann bei positivem Tun auf diesem Eingriff oder auf der alternativen Ursache beruhen. Man denke sich beispielsweise ein Schiff, auf dem eine Infektionskrankheit ausgebrochen ist. Ein bereits Infizierter berührt mit den Fingern einen noch Gesunden, was streng verboten ist. Dieser erkrankt nun ebenfalls, ist aber auch mit einigen Gegenständen auf dem Schiff in Berührung gekommen, so daß nicht feststeht, ob der körperliche Kontakt mit dem Infizierten die Krankheit verursacht hat. Bodenburg müßte hier ebenso wie bei der Arzthaftung den Körperkontakt als denknotwendig auf den Körper des Gesunden bezogen qualifizieren und so zum Verhaltensunrecht mittels Vorverlagerung der Verletzung gelangen. Seine These ist also weder für die Arzthaftung allgemein gültig, noch auf jene beschränkbar, sondern führt recht willkürlich zu einer Haftungserweiterung mittels des § 287 ZPO. Damit ist bereits die entscheidende, allen Wahrscheinlichkeitslösungen innewohnende Schwäche angedeutet. Sie haben nämlich eine mitunter 'erhebliche Haftungserweiterung zur Folge 131 und schränken auf diese Weise das Verschuldensprinzip ein132 • Haftung für wahrscheinliche Kausalität ist mehr als nur eine Vereinfachung der Durchsetzung des geltenden materiellen Rechts, wie sie beispielsweise von § 287 ZPO nach der Interpretation der herrschenden Ansicht intendiert wird. Beweisrechtliche Veränderungen des materiellen Rechts bedürfen einer materiellrechtlichen Begründung, doch gerade daran gebricht es sämtlichen Wahrscheinlichkeitslösungen133 • Materiellrechtlich erforderliche Wertungen werden überspielt; es verbleibt allein das materiell rechtliche Argument, es sei gerechter, die Haftung ,für wahrscheinliche Verläufe eintreten zu lassen, als auch Haftung für unwahrscheinliche Ver131 Gaupp, Diss. jur. TÜbingen 1969, S. 14 ff.; Baumgärtel, Festschr. Bruns, S. 93 (97 f.); Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 193 f.; Maassen, Beweismaßprobleme, S. 97 ff. hält dem entgegen, auch "Schaden" sei ein Tatbestandsmerkmal und nach h. M. einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung zugänglich, wobei eine Veränderung des materiellen Haftungsrechts dadurch nicht befürchtet werde. Dabei verkennt Maassen jedoch, daß das Merkmal "Schaden" auf der Rechtsfolgenseite angesiedelt ist, während es bei der hier zu diskutierenden Veränderung des materiellen Haftungsrechts vor allem um die Begründung der Haftung geht. 132 Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823 I RN 31. 133 Baumgärtel/Wittmann, Festschr. Karl Schäfer, S. 13 (25 f.); Rosenberg/ Schwab, Zivilprozeßrecht13 , § 113 11; Arens, ZZP 88 (1975), 1 (12, 17 ff.).

IV. Alternativen im Schrifttum

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läufe bzw. das Scheitern der meisten Ansprüche an Beweisschwierigkeiten in Kauf zu nehmen. Das gleiche Argument dient jedoch ebenfalls zur Begründung der Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler; es ist multifunktional. Im übrigen wurde bereits aufgezeigt, daß beweisrechtliche Lösungen im Arzthaftungsrecht stets an der ihnen eigenen vertiken Risikoverteilung kranken, obwohl das Beweisrisiko horizontal auf die Sphären von Arzt und Patient verteilt ist. Wenngleich die mit Wahrscheinlichkeiten arbeitenden Lösungen der horizontalen Risikoverteilung noch eher Rechnung tragen, iIlldem sie sich der Wahrscheinlichkeit als des einzig möglichen rationalen Maßstabes zur Messung der Risikoverteilung bedienen, suchen sie die Lösung doch auf der falschen Ebene, indem sie das volle Risiko letztlich einer Partei zuschieben. 2. Vollständige Beweislastumkehr

Vereinzelt wird im Schrifttum eine völlige Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes gefordert, wenn diesem ein Behandlungsfehler unterlaufen ist l34 . Zur Begründung werden angeführt die Beweisnot des Patienten, die aufgrund des Pflichtverstoßes größere Nähe des Arztes zum Beweis 135 , der Wissensvorsprung des Arztes sowie dessen bessere Aufklärungsmöglichkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs, die dazu führten, daß nicht beide Parteien einer Beweisnot ausgesetzt seien, sondern allein der Patient 136 • Außerdem sei der schicksalhafte Verlauf trotz eines Behandlungsfehlers die Ausnahme, so daß schon nach der Rosenberg'schen Normentheorie die Beweislast beim Arzt liegen müsse 137 • Schließlich trägt man vor, der Kausalverlauf sei wegen des festgestellten Behandlungsfehlers dem Verantwortungsbereich des Arztes zuzuordnen 138 ; dieser dürfe keine Sonderstellung genießen, weil er wie jeder andere für seine beruflichen Standards einzustehen habe 139 • Diese Ansicht überzeugt weder im Ergebnis, noch in der Begründung. Sie grenzt an eine Erfolgseinstandspflicht des Arztes 140 und geht noch übel' die Haftung für versari in re illicita hinaus 141 • Beides ist mit den 134 Kleinewefers/Wilts, VersR 1967, 617 (625); Sluyters, zitiert nach Griess, JZ 1975, 581; Giesen, Arzthaftungsrecht, S. 129 ff.; ders., JZ 1982, 448 (452 f.); siehe auch Eschner, DRiZ 1983, 9 (12). 135 Kleinewefers/Wilts, VersR 1967, 617 (625); Giesen, Arzthaftungsrecht, S. 129 ff. 136 Sluyters, zitiert nach Griess, JZ 1975, 581; Giesen, JZ 1982, 448 (452 f.). 137 Giesen, JZ 1982, 448 (455). 138 Kleinewefers/Wilts, VersR 1967, 617 (625). 139 Giesen, JZ 1982, 448 (452 f.). 140 Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Anhang § 282 RN 90. 141 Münch. Komm./Grunsky; vor § 249 RN 134.

2. Teil: C. Beweis der Kausalität

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Besonderheiten der ärztlichen BerufsauSlÜbung, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht in Einklang zu bringen. Was die angeführten Begründungen angeht, so argumentiert, wer sich auf den Verantwortungsbereich des Arztes beruft, mit dem thema probandi - es geht doch bei der gesamten Diskussion gerade darum, herauszufinden aus wessen Bereich die Schadensursache stammt. Das Näheargument wurde bereits im Zusammenhang mit der Rechtsprechung zum groben Behandlungsfehler widerlegt1 42 • Der Informationsvorsprung des Arztes und dessen bessere Aufklärungsmöglichkeiten können keinesfalls eine völlige Beweislastverschiebung begründen: zum einen wird davon allein die Beweisführungslast berührt, während die materiellrechtliche Risikoverteilung unbeeinflußt bleibt, so daß die Rechtsprechung aufgrund dieses Umstandes allein prozessuale Beweiserleichterungen zugelassen hat l43 • Zwar können Informationsvorsprung und bessere Aufklärungsmöglichkeiten grundsätzlich mehr Licht in das beweisrechtliche Dunkel bringen, die für die Arzthaftung typische Konkurrenz mehrerer möglicher Ursachen aber auch nicht auflösen. Zutreffend ist auch die Betonung der Einstal1!dspflicht für berufliche Standards, doch an dieser Stelle wenig hilfreich, denn die Mißachtung von Standards wird haftungsrechtlich nur relevant, wenn sie zu einem Schaden geführt hat. Wer sich schließlich auf die Normentheorie beruft, verkennt deren Inhalt: es geht nicht um das statistische Regel-Ausnahme-Verhältnis, sondern um das rechtliche, wobei das Recht nun einmal von der Grundregel des "casum sentit dominus" ausgeht, die den statistischen Verhältnissen nicht entsprechen mußI44. 3. Risikoteilung

Eine der tatsächlichen, horizontalen Verteilung des Beweisrisikos entsprechende Lösung schlagen diejenigen Autoren vor, die den Arzt - angelehnt an das Vorbild der französischen Chancenrechtsprechung 145 - nach dem Grad der von ihm bewirkten Gefahrenerhöhung anteilig haften lassen wollen. Während Deutsch 146 diese Auffassung allein für die Arzthaftung und de lege lata ausschließlich für den Bereich der §§ 847, 254 BGB vertritt, will Bydlinski 147 stets für mögliche Vgl. oben 2. Teil C. III., S. 67 f. Vgl. dazu oben 1. Teil B. II., III., S. 30 ff. 144 v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, in: Gesammelte Schriften, Bd.l, S.411 (427). 145 Dazu Penneau, Responsabilite medicale, S. 114 ff. sowie Deutsch, VersR 1982, 713 (715 f.), je m. w. N.; eingehender dazu unten VI. 4. a., S. 95 ff. 146 Deutsch, Festschr. v. Caemmerer, S. 329 (335 ff.); ders., Festschr. Larenz, S. 885 ff. 147 Blidlinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 81 ff. 14!

143

v. Tendenzen bei der außergerichtlichen Schadensregulierung

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Kausalität haften lassen, wenn mehrere Ursachen den Schaden herbeigeführt haben können. Nur das materielle Recht könne eine Zurücknahme des Beweismaßes anordnen, wie sie derzeit von der Rechtsprechung in Form der zahlreichen Beweiserleichterungen gewährt werde, denn die Rechtsordnung knüpfe die Rechtsfolgen an feststehende Tatsachen. § 830 I 2 BGB sehe die Haftung für mögliche Kausalität vor, so daß es systemgerechter sei, das von der Rechtsprechung intendierte Ergebnis mit Hilfe einer Analogie zu § 830 I 2 BGB als durch die Beweiserleichterungen zu bewirken. Entsprechend § 254 BGB sei jedoch nur der auf die mögliche Kausalität des Schädigers entfallende Teil des Schadensersatzes zu leisten148• Die Kritik dieser Auffassung richtet sich neben einigen Bedenken wegen der Realisierungsmöglichkeiten in der Praxis - der Grad der Risikosteigerung könne nicht einmal annähernd geschätzt werden 149 , die Beweislastumkehr sei für den Richter leichter zu steuern150 - in erster Linie gegen die mangelnde dogmatische Verankerung des Risikoteilungsgedankens im materiellen Recht. Der Risikoverteilungsgedanke führe dazu, daß nicht, wie vom Haftungsrecht vorgesehen, Schäden ersetzt würden, sondern daß statt dessen nur eine Gefahrenerhöhung sanktioniert werdel5l • Haftung für mögliche Kausalität sei mit denPrinzipien des geltenden Rechts nicht vereinbar; § 830 12 BGB sei eine nicht erweiterungsfähige Ausnahmeregelung 152 • Schließlich sei die Chance, geheilt zu werden, nicht als zu schützendes Rechtsgut anerkannt153 • Die praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Risikoteilungsgedankens sind, wie ein Blick auf die Praxis zeigen wird, nicht unüberwindlich. Mit Recht monieren freilich die Kritiker des Risikoteilungsgedankens dessen bislang kaum ausreichende dogmatische Fundamentierung.

V. Tendenzen bei der außergerichtlichen Schadensregulierung Das Bild von der Reaktion unseres Rechts auf die Probleme des Kausalitätsbeweises im Arzthaftungsrecht wäre unvollständig, bezöge man die außerforensische Regulierungspraxis nicht in die Betrachtung ein. 148 Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 81 ff.; Ansätze zu einer Risikoteilung bei zweifelhafter Kausalität finden sich außerdem bei Wilburg, Elemente des Schadensrechts, S. 72 ff.; Kahrs, Kausalität, S. 65 und passim; teilweise auch Bender, Festschr. Baur, S. 247 (269 ff.). 149 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 73 ff. 150 Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 77 ff. 151 Hanau, Kausalität der Pfiichtwidrigkeit, S. 127 ff. 152 Gaupp, Diss. jur. Tübingen 1969, S. 77 ff.; D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 72 f. 158 D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 73 ff.

6 Matthles

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

Das gesammelte Aktenmaterial wurde daher nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt ausgewertet. Freilich darf man nicht erwarten, ein einheitliches Szenario vorzufinden - dazu sind die Motive und Gesichtspunkte, die letztlich zur Beilegung der einzelnen Streitfälle führen, zu unterschiedlich. Auch wird die Praxis nicht von der Intention getragen, Entscheidungen nach einheitlich geltenden Maßstäben herbeizuführen, wie dies die Rechtsprechung mit Unterstützung der Wissenschaft anzustreben gehalten ist. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, daß sich Tendenzen abzeichnen, die als Reaktion auf die Schwächen der Lösung des geltenden Rechts hin zu einer abweichenden Regelung eines Teils der Fälle deuten. 1. Gutachter- und Schlichtungsstellen

In der Literatur trifft man auf Stellungnahmen, die bei den Gutachter- und Schlichtungsstellen derartige Tendenzen meinen ausmachen zu können, Tendenzen weg von der starren Beweislast hin zur flexiblen Wahrscheinlichkeitsbetrachtung 154 • Die dahingehend befragten juristischen Mitglieder der Gutachterund Schlichtungsstellen konnten diesen Eindruck nur zum Teil bestätigen155 • Die durchgesehenen Akten stammten vorwiegend von der Schlichtungsstelle in Hannover bzw. der Gutachter- und Schlichtungsstelle in Frankfurt 1s6 • Im Mittelpunkt der Gutachten und Bescheide diester Stellen stand regelmäßig die Frage nach den ärztlichen Behandlungsfehlern. Sofern ein Behandlungsfehler bewiesen war, begnügten sich diese Stellen zumeist mit wahrscheinlicher Kausalität 157 • Anders wurde nur entschieden, wenn der Ursachenzusammenhang unwahrscheinlich war. Allerdings war auffällig, daß zum Teil auf die Kausalitätsfrage gar nicht eingegangen wurde, selbst wenn diese nach Lage 154 Bodenburg, ZVersWiss 1981, 155 (172 ff.); in der Mitteilung der Schlichtungsstelle der norddeutschen Arztekammern, Berliner Ärzteblatt 1979, 540

finden sich Referate von Fällen,. bei deren Bescheidung man sich teilweise mit nur wahrscheinlicher Kausalität begnügte. 155 Die Formulierungen waren unterschiedlich: bei der Stelle in Münster arbeitet ein Dezernat zuweilen mit Wahrscheinlichkeiten (Gespräch mit dem Vorsitzenden Reiermann am 8.9.1981); die Karlsruher Stelle gestattet sich einige Offenheit bei der Beweiswürdigung (Gespräch mit dem Vorsitzenden Kohnle am 13.11.1981); in Saarbrücken begnügt man sich häufiger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (Gespräch mit dem dortigen Juristen Buchheit am 27.10.1981). Die übrigen befragten Personen wählten Formulierungen, die der der Rechtsprechung zu § 286 ZPO entsprechen (mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit). 156 Zur Vorgehensweise und Methode unten 3. Teil D. 1., S. 128 ff. m In 34 von Gutachter- und Schlichtungsstellen entschiedenen Fällen bestanden mehr oder weniger ausgeprägte Zweifel an der Kausalität des Behandlungsfehlers für den Schaden. In 30 Fällen sprach sich die Stelle für einen Ersatzanspruch aus, nur in 4 Fällen dagegen.

V. Tendenzen bei der außergerichtlichen Schadens regulierung

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der Akten nicht eindeutig zu beantworten war. Gleiches gilt für die Bewertung des Behandlungsfehlers als "grob", die in einigen dieser Fälle nahegelegen hätte, von den Stellen jedoch nicht vorgenommen wurde158 • Es gibt also deutliche Anzeichen für eine von der Rechtsprechung abweichende Handhabung des Kausalitätsbeweises durch die genannten Stellen: überwiegende Wahrscheinlichkeit statt Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler. 2. Versicherungen

Die Gutachter- und Schlichtungsstellen äußern sich allein zum Grund der Haftung. Die Höhe des Schadensersatzes hängt vom Ausgang der Verhandlungen zwischen dem Geschädigten und dem Haftpflichtversicherer des Arztes bzw. dessen Dienstherrn ab 159 • Wie wird von dieser Seite auf die geschilderte Praxis der Gutachter- und Schlichtungsstellen reagiert? Wenn die Gutachter- und Schlichtungsstellen trotz zweifelhafter Kausalität einen Schadensersatzanspruch für gegeben erachtet hatten, erbrachten die Haftpflichtversicherungen in beinahe allen untersuchten Fällen Zahlungen 16o • Diese Tendenz fand sich im übrigen durch die Fälle bestätigt, die allein von Versicherungen ohne Einschaltung einer Gutachter- oder Schlichtungsstelle bearbeitet worden waren. Auch dann wurde teilweise Schadensersatz gezahlt, selbst wenn die Kausalität des ärztlichen Behandlungsfehlers für den Schaden zweifelhaft war. Allerdings: die unbewiesene Kausalität wurde durchaus in der Weise bei den Vergleichsverhandlungen zum Tragen gebracht, daß die Vergleichssumme teilweise erheblich unter dem vollen (vor allem immateriellen) Schaden laglet. Naturgemäß kann aus diesen Beobachtungen nicht auf ein Rechtsprinzip geschlossen werden, denn es existieren zahlreiche Faktoren, die Einfluß auf das Vorgehen bei Vergleichsverhandlungen haben: zu vollen Zahlungen kann es kommen, weil ein grober Behandlungsfehler den vollen Ausgleich nahelegt oder weil es sich nur um einen geringen Schaden handelt, der keinen besonderen Verhandlungsaufwand lohnt; den teil weisen Ersatz beeinflußen Gesichtspunkte wie das Prozeßrisiko 158 Es handelt sich um 6 Fälle, in denen sämtlich ein Ersatzanspruch für gegeben erachtet wurde. 159 Dazu unten 3. Teil D. III. 2. c. (5.163 ff.), 3. b. (5.173 ff.). 160 21 solcher Fälle befanden sich in dem ausgewerteten Material. In 17 Fällen erfolgten Zahlungen, 3 waren noch im Verhandlungsstadium, während in nur einem Fall Zahlungen ausblieben. 161 In 8 der 17 soeben erwähnten Fälle konnte dies den Unterlagen entnommen werden. Wie häufig dieser Faktor darüber hinaus bei den mündlichen Verhandlungen eine Rolle spielte, ist nicht bekannt. Gleiche Beobachtungen wurden in den allein von Versicherungen bearbeiteten Fällen gemacht.

2. Teil: C. Beweis der Kausalität

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für die Versicherung, eine in Teilen feststehende Kausalität oder ein die Position des Patienten stärkendes Verhalten des Schädigers bzw. nachbehandelnder Ärzte. Festzubehalten bleibt jedenfalls, daß außerprozessual abweichend vom geltenden Recht nicht selten auch dann - allerdings häufig nicht den vollen Schaden deckende - Ausgleichszahlungen erfolgen, wenn zwar ein ärztlicher BehaIl!dlungsfehler bewiesen ist, dessen Kausalität für den beim Patienten eingetretenen Schaden aber nur wahrscheinlich ist. In diesem Zusammenhang seien schließlich auch drei Urteile des LG Hannover erwähnt, die von der Untersuchung zu Tage gefördert wurden und gewisse Parallelen zu dieser Praxis aufweisen. In zwei Fällen nahm das Gericht allein aufgrund der durch den Behandlungsfehler bewirkten Risikoerhöhung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität vor, obwohl ein grober Behandlungsfehler nicht festgestellt werden konnte 162 ; in einem weiteren Fall fanden Zweifel hinsichtlich der Kausalität einer Unterlassung Ausdruck in der Höhe des zugesprochenen Schmerzensgeldes 163 •

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen Partieller Schadensersatz bei nur wahrscheinlicher Kausalität, bei feststehender Risikoerhöhung, ist in der Praxis also jedenfalls auf dem Vergleichswege ein realisierbares Konzept. Dieses Konzept hat gegenüber der ansonsten praktizierten beweisrechtlichen Lösung den besonderen Vorteil, daß es mit der tatsächlichen Herkunft des Beiwsrisikos aus den Sphären von Arz und Patient harmoniert: der horizontalen Risikoverteilung entspricht die horizontale Schadensteilung. Läßt sich dieser Ansatz auch für die juristische Theoriebildung verwerten? Auch diese Frage soll bei gleichzeitiger Beleuchtung der Praxis untersucht werden, ausgehend von einer Typisierung der problematischen Fallgruppen, also mittels eines induktiven Vorgehens. 1. Realtypen

Unter diesem Gesichtspunkt wurden die 58 Fälle analysiert, in denen sich Beweisprobleme hinsichtlich der Kausalität ergeben hatten. Dabei war naturgemäß nicht auszuschließen, daß das Spektrum der tatsächlichen Gründe für die Beweisschwierigkeiten nicht vollständig erschlossen werden konnte. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß die hauptsächlichen Problemkreise erfaßt wurden, zumal es sich dabei nur um einige wenige handelt. Die Analyse der Fälle verfolgte nicht das Ziel, die rechtlichen Kategorien herauszufiltern, in die diese Fälle einzuordnen wären. Vielmehr wurde darauf gesehen, welche tatsächlichen Umstände es sind, die die Beweisprobleme heraufbeschwören. Dabei sei vorausgeschickt, daß sich in einzelnen Fällen mehrere solcher typischen Ursachen fanden; daher wird auf eine zahlenmäßige Aufgliederung im folgenden auch verzichtet, von der ohnehin keine eigenen Erkenntnisse zu erwarten waren. Nur soviel sei gesagt: die einzelnen 162 163

19 0 129/79 und 19 0 129/80. 19 0 224/80.

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen

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Typen tauchten mit Ausnahme der zuletzt zu nennenden Gruppe ungefähr mit gleichmäßiger Häufigkeit auf. Die Beweisprobleme waren unterschiedlich intensiv ausgeprägt, so daß die übergänge zu bewiesener Kausalität angesicht des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung als fließend zu beschreiben sind. Zu Zwecken der Illustration wird jeder Gruppe ein Beispielsfall aus dem gesammelten Material nachgestellt, der den dargestellten Typ in besonders reiner Form verkörpert. Aus den insgesamt sechs Typen lassen sich drei Obergruppen bilden. Gruppe 1: Unvollkommenheit deT Medizin Der ärztliche Eingriff kann auch bei Einhaltung der Sorgfalt im Höchstmaß zu einem Schaden führen Typ 1:

KonkuTTieTen des nOTmalen BehandlungsTisikos Nach einem fehlerhaft ausgeführten ärztlichen Eingriff tritt ein Gesundheitsschaden ein, den dieser Eingriff aber auch bei fehlerfreier Ausführung nach sich ziehen kann. Ob gerade das Fehlverhalten Ursache des Schadens ist, bleibt offen.

Beispiel:

Eine Operation im Halsdreieck wird nicht entsprechend den Sorgfaltsgeboten ausgeführt. Es kommt zu einer Lähmung aufgrund der dabei eingetretenen Beschädigung des nervus accessorius. Gerade dieser Schaden ist aber auch bei kunstgerechtem Vorgehen nicht immer zu vermeiden.

Typ 2:

KonkuTTieTen des kunstgeTechten Eingriffs Dem Patienten ist ein Schaden entstanden, nachdem der Arzt mehrere Verrichtungen an ihm vorgenommen hat, von denen eine fehlerhaft war. Der Schaden kann auf diesem Fehler, aber auch auf einen sorgfältig ausgeführten Eingriff beruhen.

Beispiel:

Eine Patientin wird wegen eines Kropfes operiert. Dabei tritt unvermeidbar ein erhebliches Hämatom auf, das nicht korrekt behandelt wird. Die Patientin behält eine Stimmbandlähmung zurück. Man weiß nicht, ob diese Lähmung schon unmittelbar nach Entstehen des Hämatoms und damit unvermeidbar aufgetreten ist oder nicht.

Gruppe 2: Grundleiden als VOTgabe deT Behandlung Der eingetretene Schaden kann auch Folge von unvermeidbaren Fortwirkungen des Grundleidens des Patienten sein. Typ 3:

FehlendeT odeT veTspäteteT Eingriff Der Arzt ist nicht oder doch nicht rechtzeitig dem Leiden des Patienten entgegengetreten. Es ist jedoch nicht sicher, daß therapeutische Maßnahmen den Erfolg vermieden hätten.

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2. Teil: C. Beweisder Kausalität

Beispiel:

Die Patientin leidet unter Nierensteinen. Der behandelnde Allgemeinmediziner erkennt das nicht und nimmt auch keine überweisung zum Röntgen der Patient in vor. Als schließlich Maßnahmen ergriffen werden, ist die Niere bereits so schwer geschädigt, daß sie entfernt werden muß. Ob der Arzt durch rechtzeitiges kunstgerechtes Vorgehen diesen Erfolg hätte verhindern können, bleibt offen.

Typ 4:

Eingriff mit falscher Ausrichtung Der Arzt ist zwar tätig geworden, hat aber aufgrund eines Fehlers bei Diagnose oder Therapie unzutreffende Maßnahmen getroffen und das Grundleiden nicht eindämmen können, so daß dieses fortwirkt. Ob korrektes Vorgehen den Erfolg verhindert hätte, ist ungewiß.

Beispiel:

Bei einer Frau, die im 5. Monat schwanger ist, treten Wehen ein. Im Krankenhaus werden geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen und die Wehentätigkeit setzt aus. Nach einigen Tagen wiederholt sich der Vorgang, wird jedoch irrtümlich als Verstopfung diagnostiziert und ein Abführmittel wird verordnet. Es kommt zur Fehlgeburt. Angesichts der besonderen Konstitution der Schwangeren bleibt zweifelhaft, ob zutreffende Diagnose und Therapie auch beim zweiten Mal die Fehlgeburt hätten verhindern können.

Typ 5:

Teilkonkurrierender Fehler Es steht fest, daß der Arzt durch den Behandlungsfehler den Zustand des Patienten teilweise hervorgerufen hat, während im übrigen unklar ist, ob nicht auch das Grundleiden unvermeidbar ursächlich wirkt.

Beispiel:

Bei einer Frau wird die operative Korrektur eines Krampfaderleidens vorgenommen, wobei nicht die zutreffende Methode gewählt wird. Dadurch kommt es erweislich zu kosmetischen Entstellungen im Operationsgebiet. Auch eine Verbesserung des Krampfaderleidens wird nicht bewirkt. Fraglich bleibt jedoch, ob die Wahl der richtigen Methode in diesem Fall eine Besserung bedingt hätte.

Gruppe 3: Konkurrierende Schadensquelle

Typ 6:

Der eingetretene Schaden kann sowohl auf dem ärztlichen Behandlungsfehler als auch auf Erkrankungen des Patienten beruhen, die mit dem Grundleiden nichts zu tun haben.

Beispiel:

Nach einer Operation wird ein Tupfer im Bauchraum zurückgelassen, der nach Jahren durch eine weitere Operation entfernt werden muß. Ob die erheblichen Schmerzen, die der Patient zu erdulden hatte, ursächlich auf dem Tupfer oder auf einem ganz in der Nähe befindlichen Tumor beruhen, bleibt ungewiß.

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen

87

Man kann die Schwierigkeiten beim Kausalitätsbeweis im Arzthaftungsrecht also vereinfachend auf drei Gründe zurückführen: die ärztlichen Behandlungsmethoden sind wegen des komplizierten Objekts, auf das sie ausgerichtet sind - den kranken menschlichen Körper -, und wegen der ihnen teilweise innewohnenden Unzulänglichkeiten häufig nicht frei von unerwünschten Nebenwirkungen; ärztliche Maßnahmen können das zu behandelnde Grundleiden nicht immer sicher beherrschen164 ; die Reaktionen des menschlichen Körpers sind teilweise so wenig überschaubar, daß die wirkliche unter mehreren möglichen Ursachen der Beschwerden schwer auszumachen sein kann. Während der Behandlungsfehler aus dem Risikobereich des Arztes stammt, hängen die genannten Gründe aufs engste mit der Erkrankung des Patienten zusammen und sind dessen Risikobereich zugewiesen, weil ärztliche Verhaltenspflichten sie nicht kontraHieren können. Jene Gründe zeichnen zugleich das Recht der Arzthaftung vor anderen Berufshaftungen aus, denn niemand sonst ist ständig damit befaßt, mit zum Teil unzulänglichen Methoden auf einen kranken Körper einwirken zu müssen, um dieser Erkrankung entgegenzutreten. Die besondere berufliche Situation schafft eigenartige Rechtsprobleme, was den Kausalitätsbeweis angeht. Besondere, eben auf diese Probleme abgestimmte Reaktionen des Rechts sind daher angezeigt. Im Zusammenhang mit dem Verschuldensbeweis sind wir auf ähnliche tatsächliche Ursachen für die Beweisschwierigkeiten gestoßen. Der eingetretene Erfolg ließ den Schluß auf ärztliches Fehlverhalten meist ebenfalls nicht zu, weil mögliche Ursachen aus dem Risikobereich des Patienten konkurrieren ul5 • Der Unterschied besteht freilich darin, daß auf ärztliches Verschulden häufig noch aus anderen Quellen geschlossen werden kann: Befund, Diagnose und Therapie sind für den Gutachter nachvollziehbar. Geht es dagegen um die Kausalität, so stehen derartige Hilfsmittel nicht mehr zu Gebote und die tatsächliche Ausgangslage kommt voll zur Wirkung. 2. Legaltypen

Die Antwort des Rechts darauf bedient sich bislang der Beweislastumkehr. Freilich stellt sich die Beweisfrage erst, wenn die rechtliche Einordnung der Probleme vorgenommen ist, denn die Kategorisierung entscheidet, ob gewisse Umstände überhaupt als rechtserheblich anzusehen sind, sowie über deren Stellung im Gesamttatbestand, die die Beweisfrage präjudiziert. 164 Dieser Unterschied wird auch von BGH VersR 1981, 730, angedeutet, wenn für den unsicheren Ausgang einer Sterilisation und die unmittelbaren körperlichen Folgen eines Eingriffs eine unterschiedliche Beweislast hinsichtlich der ärztlichen Aufklärung statuiert wird. Bislang ist freilich noch offen, ob dies über den Spezialfall der Sterilisation hinaus gelten soll. 165 Siehe oben 2. Teil B. 1., S. 40 ff.

88

2. Teil: C. Beweis der Kausalität

Daher sei ein Blick auf jene Vorfragen geworfen, die in Abweichung von der etwas groben Formulierung ..Beweis der Kausalität" eine über diesen Begriff hinausgehende Feineinstellung erfordern; denn nicht allein die Kausalität ist zuweilen beweisrechtlich schwer zu erfassen, sondern auch Zurechnungs- und Schadensfragen sind von den problematischen Realtypen betroffen. Allein, schon die bloße Darstellung erweist sich als ausgesprochen schwierig, denn häufig greifen Kausalitäts-, Zurechnungs- und Schadensfragen ineinander über und sind kaum sinnvoll zu trennen; zwischen ihrer grundsätzlichen Berücksichtigung und den Beweisfragen wird nicht immer säuberlich unterschieden; insgesamt ist die Problematik vom groben Werkzeug der Beweislastumkehr beim schweren Behandlungsfehler überlagert. So muß sich die kurze Darstellung im wesentlichen auf die überwiegend vertretenen Ansichten beschränken, denn in Randbereichen ist bislang allzuviel ungeklärt166 und eigene, umfassende Systematisierungs- und Lösungsversuche sind an dieser Stelle nicht angebracht. Der überblick über die Legaltypen soll den Zugang zur Problemlösung erleichtern, indem der in den Realtypen deutlich gewordene Problemkern von anderer Warte beleuchtet wird. a) Naturgesetzliehe Kausalität Rechtlich können die bei den Realtypen aufgezeigten Beweisfragen als Bestandteil der naturgesetzlichen Kausalität, der Wiederholbarkeit des Ablaufs unter gleichen Bedingungen, erscheinen. Die Beweislast dafür ist dem Geschädigten zugewiesen, wobei ihm im Bereich der Haftungsausfüllung Beweiserleichterungen durch § 287 ZPO zugute kommen167 •

b) Reserveursachen Es kann sich aber bei den geltend gemachten Bedenken auch um Reserveursachen handeln, die bei feststehender Kausalität vorgetragen werden, so daß man sie als Fragen der Zurechnung und nicht der Kausalität zu charakterisieren hat 168 • Mit der Reserveursache wendet der Schädiger ein, der gleiche Schaden wäre später auch ohne die zum Schadensersatz verpflichtende Handlung eingetreten. Soweit Reserveursachen berücksichtigt werden, geschieht das allein auf der Rechtsfolgenseite der den Schadensersatz anordnenden Norm169 , und zwar in 166 Dies betonen v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, in: Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 411 ff.; Stoll, AcP 176 (1976), S. 145 (174 f.); Gotzler, Rechtmäßiges Alternativverhalten, passim, zu den vertretenen Ansätzen insbesondere S. 23 ff., der seine Arbeit allein der Systematisierung widmet. Die gleiche Unsicherheit herrscht im Strafrecht, vgl. jüngst Puppe, JuS 1982, 660 f. 167 Eingehend dazu oben 2. Teil C. 11. 3., S. 64 f. 168 Münch. Komm.lGrunsky, vor § 249 RN 79; Staudinger/Medicus 12 , § 249 RN 98. 169 Münch. Komm.lGrunsky, vor § 249 RN 80; Larenz, SchRIl3, S. 481 ff.; Esser/Schmidt, SchR Allg. Teil, Teilband 25 , S. 190 ff.; Staudinger/Medicus12 , § 249 RN 98 ff.; Lange, Schadensersatz, S. 121 ff.

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen

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Form einer wertenden Einschränkung der Differenzhypothese. Nicht jeder Vortrag einer Reserveursache findet Gehör; vieles ist umstritten, doch Leitlinien lassen sich aufzeigen: Ein zum Schadensersatz verpflichtendes Verhalten Dritter wird nicht als Reserveursache berücksichtigt; was den unmittelbaren Objektschaden angeht, sollen Reserveursachen ebenfalls außer Betracht bleiben; von dieser Regel werden allerdings Schadensanlagen beim Geschädigten ausgenommen170 • Gerade jene Schadens anlagen sind in unserem Zusammenhang von Interesse. Es geht dabei um sog. typische Anlagefälle, in denen das verletzte Rechtsgut von vornherein dadurch entwertet ist, daß eine latent vorhandene Erkrankung später auch von sich aus den Schaden herbeigeführt hätte 171 • Die Berücksichtigung solcher Schadens anlagen ist geboten, weil im Rahmen der Differenzhypothese die individuelle Lebenserwartung der Rechtsgiiter, ihr "Wert", ausschlaggebend ist172 • Im Grunde geht es also nicht um Reserveursachen, sondern um den realen, durch die Anlage geminderten Schaden, so daß der Oberbegriff "Reserveursachen" eigentlich nicht treffend ist. Dieses Einordnungsproblem erlangt praktische Relevanz im Rahmen der Beweisfragen: Während die überwiegende Ansicht dem Schädiger auch in den Anlagefällen die Beweislast aufbürdet, weil es sich um einen hypothetischen Verlauf handeln SOll178, stellen andere darauf ab, daß grundsätzlich der Geschädigte seinen Schaden zu beweisen hat, wobei die Anlagefälle als echte Schadensfrage qualifiziert werdenl74 • Einheitlich wird die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zur Anwendung gebracht. 170 Eingehend Münch. Komm.lGrunsky, vor § 249 RN 80 ff. Larenz, SchRI13, S. 481 ff.; v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, in: Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 411 ff. (426 ff.); Esser! Schmidt, SchR Allg. Teil, Teilband 25 , S. 190 ff.; Staudinger/Medicus 12 , § 249 RN 98 ff.; Lange, Schadensersatz, S. 118 ff.; Streit herrscht insbesondere über die Frage, ob Reserveursachen auch beim unmittelbaren Objektsschaden zu berücksichtigen sind. 17.1 Schulze, VersR 1981, 1058; im Gegensatz dazu werden die sog. untypischen Schadens anlagen grds. nicht zugunsten des Schädigers berücksichtigt, die durch eine besonders schwache Konstitution des Geschädigten, die nur infolge der zum Schadensersatz verpflichtenden Handlungen zum Tragen gebracht wird, gekennzeichnet sind. Siehe dazu nur Lange, Schadensersatz, S. 90 ff.; Mädrich, Allgemeines Lebensrisiko, S. 52 ff. 172 Münch. Komm.lGrunsky, vor § 249 RN 80; Larenz, SchRI13, S. 483; Esser/ Schmidt, SchR Allg. Teil, Teilband 25 , S. 193; Staudinger/Medicus I2 , § 249 RN 103; BGH VersR 1968, 684. 173 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 195 ff.; Stoll, AcP 176 (1976), 145 (159); Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 129 ff.; Nüßgens, Festschr. Hauß, S. 287 (289); Lange, Schadensersatz, S. 127 f.; BGH Z

78, 209. 174 Münch. Komm./Grunsky. vor § 249 RN 91; Esser!Schmidt, SchR Allg. Teil, Teilband 25 , S. 203; BaumgärteI, Handbuch der Beweislast, § 249 RN 13; vgl. auch Backhaus, VersR 1982, 210 ff.

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2. TeiI:C. Beweis der Kausalität c) Rechtmäßiges Alternativverhalten

Um den Begriff des rechtmäßigen Alternativverhaltens herrscht eine beinahe babylonische Sprachverwirrung175 • Um ihn operabel zu gestalten, ist eine Begriffsbestimmung unumgänglich. Die wesentlichsten heute vertretenen Ansichten sind folgende: teilweise wird der Begriff in dem sehr umfassenden Sinne verstanden, daß der Schaden bei normgerechten Verhalten auf irgendeine Weise ebenfalls eingetreten wäre 176 • Andere wollen diesen weiten Bereich des rechtmäßigen Alternativverhaltens durch Einfügen des Kriteriums einengen, der Schädiger habe den Schaden selber durch eigenes normgerechtes Verhalten herbeiführen können177 • Eine dritte Ansicht schließlich versteht den Begriff in einem engen, allein Rechtfertigungsgründe - etwa Aufklärung vor Einwilligung oder die Einholung behördlicher Genehmigungen - betreffenden Sinn178 • Wir wollen uns für die Zwecke dieser Untersuchung der zuletzt genannten Auffassung anschließen. Entscheidend dafür sprechen Grunde der Praktikabilität, denn mit Ausnahme des Einwandes, der gleiche Schaden habe auch unter dem Schutz eines Rechtfertigungsgrundes herbeigeführt werden können, weisen die verbleibenden Fragestellungen die gleiche Struktur auf, so daß eine begriffliche Trennung angezeigt ist. Versteht man das rechtmäßige Alternativverhalten wie hier in einem engen, auf Rechtfertigungsgründe blickenden Sinne, so bleibt dieser Begriff für die Kausalität des ärztlichen Behandlungsfehlers ohne Relevanz. Das gilt selbstverständlich nicht für die Verletzung der Aufklärungspflicht. d) Rechtswidrigkeitszusammenhang

Die Zweifel an der "Kausalität" des ärztlichen Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden können schließlich ein letztes Tatbestandsmerkmal, den Rechtswidrigkeitszusammenhang, dessen Inhalt zuweilen auch mit den Begriffen "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" oder "rechtmäßigesAlternativverhalten" umschrieben wird, betreffen. In den Rahmen des Rechtswidrigkeitszusammenhangs wird die Frage eingeordnet, ob korrektes ärztliches Vorgehen den Eintritt des Schadens ver175 Zu den Inhalten, die diesem Begriff beigegeben werden, eingehend Gotzler, Rechtmäßiges Alternativverhalten, S. 23 ff.; vgl. auch Stall, AcP 176 (1976), 145 (173 ff.). 176 Münch. Komm./Grunsky, vor § 249 RN 87; etwas weniger weitgehend EsserlSchmidt, SchR Allg. Teil, TeiIband 25 , S. 188 ff. 177 Larenz, SchRI13, S. 484; v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 411 (445 ff.); Staudinger/Medicus 12 , § 249 RN 107; Lange, Schadensersatz, 8. 75. 178 Deutsch, Festsehr. Larenz, S.885 (903 f.); ders., Haftungsrecht I, 8.173 ff.; wohl auch Stall, AcP 176 (1976), 145 (173 f.).

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen

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hindert hätte 17D, allgemeiner, ob die Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt den Erfolg vermieden hätte 180. Ist dies nicht der Fall, so fehlt es an der erforderlichen Risikoerhöhung durch die Sorgfaltspflichtverletzung, mithin an deren haftungsrechtlicher Relevanz 181 . Man trifft bisweilen auf die Bemerkung, Rechtswidrigkeitszusammenhang und Kausalität der Unterlassung seien gleich zu behandeln, weil beide Figuren parallele Strukturen aufwiesen182 . Um den Bereich des Rechtswidrigkeitszusammenhangs zu verdeutlichen, sei diese These näher beleuchtet. Dazu ist eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Rechtswidrigkeitszusammenhang und Kausalität erforderlich. Die Ermittlung beider setzt den Vergleich zweier Situationen voraus: die real bestehende Lage muß mit der hypothetischen verglichen werden, die ohne das normwidrige Verhalten bestehen würde l83 . Bei schlicht verbotenem Verhalten fällt das nicht schwer: Hätte A auf den getöteten B nicht geschossen, so wäre dieser noch am Leben. Anders ist es bei nur gebotenem Verhalten, wenn also nicht -der Erfolg schlechthin verboten ist, sondern auch durch sorgfältiges Verhalten herbeigeführt werden kann184 : Hier kommt oft auch dann der tatsächlich eingetretene Verlauf in Betracht, wenn man sich das normwidrige Verhalten hinweg denkt. Dabei ist es in der Tat gleichgültig, ob das Gebot durch Tun oder Unterlassen verletzt wurde, zumal beide Begehungsformen beim fahrlässigen Delikt ohnehin kaum voneinander abzugrenzen sind 185 . Prüft man die Kausalität bei jenen Gebotsverletzungen mit Hilfe der conditio-Formel, so wird man häufig auf ein "ja, aber" stoßen, weil ungewiß bleibt, ob die konkrete Gebotsverletzung oder ein anderer Umstand Ursache des Schadens ist. Verhalten im ontologischen Sinne und rechtliches Gebot befinden sich in einer Gemengelage, Kausalität und Rechtswidrigkeitszusammenhang sind miteinander vermischt. Eine zweistufige Prüfung, die diese Gemengelage im Blick hat, wird daher erforderlich. Zunächst ist nach der realen Ursache des eingetretenen Erfolges zu fragen: liegt diesem die Kausalskette zugrunde, die durch das gebotene Verhalten gesteuert werden sollte und die damit allein 179 Deutsch, Festschr. v. Caemmerer, S. 329 (334). 180 Stoll, AcP 176 (1976), 145 (174 f.). 181 Larenz, SchRI13, S. 484 f.; EsserlSchmidt, SchR Allg. Teil, Teilband 25 , S. 188 ff. 182 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 195 ff. 183 v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, in: Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 411 (416, 431 f.). 184 Dazu und zum folgenden Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 34 ff. 185 Staudinger/Medicus 12 , § 249 RN 30 f.; MertenslReeb, JuS 1971, 469 (470 f.).

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

schadensersatzrechtlich relevant ist oder ist der Erfolg Auswirkung anderer Umstände186 ? Daran knüpft sich als zweite Stufe die Frage nach der Kausalität der Ptlichtwidrigkeit: hätte das gebotene Verhalten die zu steuernde Kausalkette sicher lenken können, hätte es den Erfolgseintritt verhindert 187 ? Die erste Frage bezieht sich auf die Kausalität, die zweite auf den Rechtswidrigkeitszusammenhang. Die doppelte Prüfung verhilft beim Tun wie beim Unterlassen zum Ziel, so daß die häufig anzutreffende, versimplifizierende Feststellung, die Kausalitätsprüfungen von Tun und Unterlassen unterschieden sich nicht1 88 , im Kern zutrifft. Unterlassungskausalität und Rechtswidrigkeitszusammenhang entsprechen einander demgegenüber nicht; freilich spielt der Rechtswidrigkeitszusammenhang bei der "Unterlassenskausalität im weiteren Sinne" eine bedeutsame Rolle, weil dort häufiger als anderswo die eigentlichen Probleme liegen werden l89 • Daß fehlender Rechtswidrigkeitszusammenhang die Zurechnung ausschließt, kann als unbestritten gelten1l10 • Fehlt es nur teilweise am Rechtswidrigkeitszusammenhang, so wird der Schaden vom Schädiger nur insoweit ersetzt, als der Rechtswidrigkeitszusammenhang trägt181 . Was Beweislast und Beweiserleichterungen zum Rechtswidrigkeitszusammenhang192 und speziell zur Unterlassenskausalität1l3 angeht, 188 Ob die verletzte Norm dagegen gerade zur Verhinderung der eingetretenen Gefahr diente, ist der abstrakten Frage nach dem gegenständlichen Schutzbereich der Norm zuzuordnen; zur Abgrenzung Deutsch, Haftungsrecht I, S. 238 ff.; ein Beispiel dazu aus der Arzthaftung findet sich bei BGH NJW 1981, 2513. 187 Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 34 ff. 188 Larenz, SchR113 , S. 423 f.; v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, in: Gesammelte Schriften Bd. I, S. 411 (431 f.); Staudinger/Medicus 12 , § 249 RN 30 f.; vom Verhaltensunrecht her MertenslReeb, JuS 1971, 469 ff. 189 Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 34 ff. RGRK/Steffen 12 , § 823 RN 101, 105, 1110 Esser/Schmidt, SchR Allg. Teil5 , Teilband 2, S. 188 ff.; die Mehrzahl der Autoren will die Berücksichtigung angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung vom Zweck der je verletzten Norm abhängig machen und schließt dies allein in solchen Fällen aus, die oben unter "rechtmäßigem Alternativverhalten" eingeordnet sind: Münch. Komm./Grunsky, vor § 249 RN 87 ff.; Larenz, SchRI13, S. 484 f.; v. Caemmerer, überholende Kausalität, S. 445 ff.; Staudinger/Medicus 12 , § 249 RN 111; Lange, Schadensersatz, S. 134 f. 1111 Münch. Komm./Grunsky, vor § 249 RN 88. 192 Die Unsicherheiten dürften im wesentlichen auf den Unterschieden in der Terminologie beruhen. Beweiserleichterungen aus normzweckabhängigen Gründen bei gleichzeitiger Beweislast des Geschädigten nehmen an Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 195 ff.; Stall, AcP 176 (1976), 145 (174 f.); RGRK/ Steffen 12 , § 823 RN 501; vgl. auch Mertens/Reeb, JuS 1971, 469 (473); für Beweislast des Schädigers, im wesentlichen auf das rechtmäßige Alternativverhalten blickend Staudinger/Medicus12 , § 249 RN 113; Lange, Schadensersatz, S. 137; Esser/Schmidt, SchR Allg. Teil5 , Teilband 2, S. 202 f.

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen

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herrscht Unsicherheit im Schrifttum. Aus besonderen, vom Nor~weck her gebotenen Gründen werden Beweiserleichterungen für möglich gehalten, wobei als Paradebeispiel die Beweislastumkehr beim groben ärztlichen Behandlungsfehler dient1114 • 3. Rechtliche Einordnung der Realtypen

Die herausgearbeiteten Realtypen könnten bei oberflächlicher Betrachtung in drei der geschilderten rechtlichen Kategorien einzuordnen sein: naturgesetzliche Kausalität, Reserveursachen und Rechtswidrigkeitszusammenhang. Beim ärztlichen Behandlungsfehler handelt es sich stets um die Mißachtung von Geboten, denn dem Arzt ist die vom Patienten konsentierte Behandlung nicht generell untersagt; er ist nur gehalten, mit dem ihm anvertrauten Rechtsgut entsprechend den Geboten ärztlicher Sorgfalt umzugehen195 • Die reale Kausalität ist unter diesen Umständen betroffen, wenn es darum geht, ob die eingetretene Rechtsgutsverletzung auf derjenigen Ursache beruht, der mittels der ärztlichen Sorgfaltsregel entgegengewirkt werden sollte. Sofern der ärztliche Behandlungsfehler feststeht - und nur diese Situation ist schadensersatzrechtlich relevant - ist die so verstandene reale Kausalität in den Realtypen 1 bis 5 eindeutig feststellbar. Stets hat sich das Risiko ausgewirkt, das die verletzte Sorgfaltsregel hintanhalten sollte: In den Fällen der Realtypen 1 und 2 (Konkurrieren des normalen Behandlungsrisikos, Konkurrieren des kunstgerechten Eingriffs) sollte die verletzte Sorgfaltspflicht das nun durch die ärztliche Maßnahme gesetzte Risiko kontrollieren, in den übrigen Fällen zur Eindämmung der Grunderkrankung dienen. Nur Typ 6 (konkurrierende Schadensquelle) weist eine andere Konstellation auf, weil nicht einmal die reale Ursache feststellbar ist. In den Typen 1 bis 5 ist demgegenüber die zweite, in den hypothetischen Bereich ragende Frage problematisch, ob nämlich sorgfältiges Verhalten den Erfolg verhindert hätte. Die in den Realtypen 3 bis 5 (fehlender oder verspäteter Eingriff, Eingriff mit falscher Ausrichtung, teilkonkurrierender Fehler) auftauchenden Probleme werden sich regelmäßig auch nicht mit Hilfe der zu den typischen Anlagefällen entwickelten Grundsätze lösen lassen. 193 So tritt Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Anhang § 282 RN 48 und § 823 I RN 13 für volle Beweislast des Geschädigten ein, während Lange, Schadensersatz, S. 103 f. stets § 287 ZPO anwenden will.

194 Stoll, AcP 176 (1976), 145 (174 f.); ausdrücklich auf den Rechtswidrigkeitszusammenhang bezieht sich dabei Deutsch, Festschr. v. Caemmerer, S. 329 (334); ders., Festschr. Larenz, S. 885 (899 ff.); vgl. auch Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 37 f . .1115 Deshalb ordnet v. Bar, Verkehrspflichten, S. 282, den ärztlichen Behandlungsfehler wohl auch als Verkehrspflichtverletzung ein.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

Stets handelt es sich nämlich um Abläufe, die der Arzt unter Kontrolle halten sollte und deren Verwirklichung gerade Auslöser der Haftung ist. In den Anlagefällen beruft sich demgegenüber der Schädiger darauf, der von ihm herbeigeführte Schaden wäre später durch eine zufällige Entwicklung gleichfalls entstanden. Eben dieses Zufallselement spielt bei der Arzthaftung keine Rolle, denn der Arzt sollte der sich zum ,Schaden entwickelnden Anlage ja gerade entgegenwirken. Daher ist die Schadensanlage im Bereich der Arzthaftung auch nicht wie in den typischen Anlagefällen ein Schadensproblem, sondern ein die Haftung konstituierendes Element196• Wenn also von den Schwierigkeiten hinsichtlich des Kausalitätsbeweises bei der Arzthaftung die Rede ist, geht es in Wahrheit zumeist um den Rechtswidrigkeitszusammenhang 197 • Dabei handelt es sich um ein Zurechnungsproblem, das eher als die starre naturgesetzliche Kausalität einer Lösung mittels wertender Betrachtung zugänglich sein dürfte. Das wird man jedenfalls von den typischerweise durch ärztliche Behandlungsfehler aufgeworfenen "Kausalitätsfragen" behaupten können, wie sie in den herausgearbeiteten Realtypen Ausdruck gefunden haben. Freilich ist der regelmäßig die reale Kausalität betreffende Realtyp 6 (konkurrierende Schadensquelle) von diesem Grundsatz auszunehmen. Doch diese Ausnahme wirkt sogar als Bestätigung der Regel. Realtyp 6 ist nämlich nicht durch gerade für die ärztliche Berufsausübung typischen Umstände gekennzeichnet. Das Kausalitätsproblem resultiert in dieser Fallgruppe nicht aus dem eigentümlichen Verhältnis zwischen Erkrankung des Patienten und ärztlicher Heilmaßnahme; vielmehr geht es um eine Frage, die bei jeder Kiörperverletzung auftreten kann: beruht die erlittene Unbill auf der Verletzungshandlung oder einer anderen, davon gänzlich unabhängigen Entwicklung im menschlichen Körper? 4. Theoriebildung

Die herausgearbeiteten Ausgangspunkte seien nochmals zusammengefaßt: Steht ein ärztlicher Behandlungsfehler fest - und nur diese Fälle sind schadensersatzrechtlich von Interesse - tauchen die Beweisprobleme typischerweise nicht im Rahmen der Kausalität, sondern im Bereich des Rechtswidrigkeitszusammenhangs auf. Die rechtstatsächlichen Ursachen dafür sind in der beruflichen Situation des Arztes beheimatet, denn der Arzt ist gehalten, auf einen vorgeschädigten Körper mit Hilfe nicht stets sicherer Methoden einzuwirken und zwar mit dem Ziel, eben diese Vorschädigung möglichst zu beheben, zu lindern oder unter Kontrolle zu halten. Daraus ergibt sich die 196 Ähnlich Kleinwer!ers/Wilts, VersR 1967, 617 (619); D. Franzki, Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 77 f. 191 So auch Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 38; vgl. ebenfalls Pawlowski, Prima-Facie-Beweis, S. 18 ff., 41 ff.

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen

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ständige Konkurrenz mehrerer denkbarer Ursachen: Behandlungsfehler einerseits sowie Fortwirken der möglicherweise nicht einzudämmenden Grunderkrankung bzw. Auswirkungen der Methodenunsicherheit andererseits. Die konkurrierenden Ursachen stammen je aus der Sphäre des Arztes (Behandlungsfehler) oder aus der des Patienten (Grunderkrankung, mangelnde Sicherheit medizinischer Methoden). Die Risikoverteilung ist damit bildlich gesprochen horizontal, weil aus beiden Sphären fließend. Die beweisrechtliche Lösung der herrschenden Ansicht stellt eine vertikale Risikoverteilung dagegen, die die Gefahr der Unaufklärbarkeit einseitig einer Sphäre zuweist. Danach sind tatsächliche Problemstellung und rechtliche Lösung nicht deckungsgleich. Diese mangelnde Kongruenz kann von der beweis rechtlichen Lösung auch nicht argumentativ überbrückt werden, weil sich tragende Gründe für jene Lösung, insbesondere für die Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler, nicht finden lassen. In der außerforensischen Regulierungspraxis trifft man demgegenüber - aus welchen Gründen auch immer auf eine der tatsächlichen Risikoverteilung entsprechende horizontale Schadensverteilung. Diese Beobachtung soll als Anhaltspunkt dafür herausgegriffen werden, daß eine horizontale Teilung praktikabel sein könnte, und als Modell für die rechtsdogmatische Verarbeitung herangezogen werden kann. a) Eigene These

Rechtlich im Mittelpunkt steht die Frage, wie der erforderliche Rechtswidrigkeitszusammenhang mit Rücksicht auf die erarbeiteten Vorgaben beschaffen sein muß und ob er dann im Einzelfall gegeben ist. Der Rechtswidrigkeitszusammenhang hängt ab vom Zusammenspiel zwischen verletztem Rechtsgut und ärztlicher Verhaltensnorm. Beide sind interdependent, wie schon allgemeine Erwägungen verdeutlichen. Einerseits sind die Schutzgüter des § 823 I BGB auch unter Normzweckgesichtspunkten zu betrachten, so daß der Zweck der Verhaltensnorm zum Bewertungsfaktor für die Reichweite des Deliktsschutzes wird 19B • Andererseits muß auch die verletzte Pflicht mit Rücksicht auf die ausgelöste Verletzungsfolge aufgestellt worden sein199 ; nur solche Schäden werden ersetzt, die von der verletzten Pflicht hintangehalten werden sollten; nicht jede Pflicht schützt jedes Rechtsgut, so daß der Rechtsgutsschutz in gewisser Weise relativiert ist 20o • Auch das Rechtsgut "Gesundheit", das gerade in bezug auf ärztliche Behandlung kaum vom Rechtsgut "Körper" zu unterscheiden ist und davon auch nicht unterschieden werden muß, ist nicht in jeder Hinsicht geschützt, weil der Mensch abhängig von seiner Umwelt mit ihren zahlreichen für 19B RGRK/Steffen 12 , § 823 RN 6; vgl. auch Stall, Kausalzusammenhang und Normzweck, S. 13, 15 f. 199 Lange, Gutachten zum 43. DJT, Verhandlungen Bd. 1, S. 50 f.; Deutsch, Haftungsrecht I, S. 238 ff. 200 Man denke beispielsweise an die Schockschäden oder den nicht allseitigen Schutz des mittelbaren Besitzes. Dazu Lange, Schadensersatz, S. 82 ff.; weitergehend will Fikentscher, SchR6, § 49 III 3 d, die Normzwecklehre zur alleinigen, die Kausalität ersetzenden Zurechnungsgrundlage erheben.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

dieses Rechtsgut sozialadäquaten Gefahren ist201 • Aus vertragsrechtlicher Sicht wäre der Aspekt der Normrelevanz gar noch stärker zu betonen. Wie ist nun in diesen Rahmen die ärztliche Heilbehandlung einzuordnen? Der ärztliche Behandlungsfehler kann unmittelbar die Rechtsgüter Körper, Gesundheit und Leben verletzen. Freilich geschieht das regelmäßig im Verlauf der Heilbehandlung, wenn also in Folge einer Erkrankung die volle Integrität dieser Rechtsgüter ohnehin nicht vorhanden ist. Das gilt auch für das Rechtsgut Leben, obwohl im Zusammenhang damit von einer abgestuften Integrität nicht die Rede sein kann. Allerdings wird man eine Beeinträchtigung von Körper oder Gesundheit regelmäßig und gerade im Fall der Heilbehandlung als Vorstufe des Eingriffs in das Rechtsgut "Leben" konstatieren müssen202 , so daß die Prämisse von der Vorschädigung der Rechtsgüter auch in dieser Beziehung tragfähig bleibt. Nun wird der Arzt mit dem Ziel tätig, diese Vorschädigung zu beheben, doch kann er die Restitution der Rechtsgüter nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen bzw. begleitende, neue Risiken nicht mit Sicherheit ausschließen203 • Im Einzelfall hat das von vornherein beeinträchtigte Rechtsgut gemeinsam mit der ärztlichen Tätigkeit also auch nur eine mehr oder minder große Chance zur vollen Wiederherstellung. Dies ist der Hintergrund, vor dem die ärztlichen Sorgfaltsgebote erscheinen und der deren Relation zum geschädigten Rechtsgut ausfüllt. So gesehen entfaltet die berufliche Stellung des Arztes normative Wirkung, was die Verletzung der dem Arzt anvertrauten Rechtsgüter angeht, die sich in der Beurteilung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs niederschlägt: angesichts der Unsicherheiten, die die ärztliche Berufsausübung typischerweise mit sich bringt, wäre es illusorisch, den Rechtswidrigkeitszusammenhang erst dann als gegeben anzusehen, wenn die ärztlichen Maßnahmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Erfolg geführt hätten. Rechtswidrigkeitszusammenhang - normativ geprägt - liegt vielmehr schon dann vor, wenn der Arzt infolge des Behandlungsfehlers nicht in der ihm möglichen Weise positiv auf die vorgeschädigten Rechtsgüter des Patienten eingewirkt hat, denn exakt dies und auch nur dies kann von ihm erwartet werden. Andererseits führt die Vorschädigung zu einer gleichzeitigen Be201 RGRKISteffen I2 , § 823 RN 10. 202 RGRKISteffen12, § 823 RN 7.

203 Die Wahrscheinlichkeit wird zum Instrument des Arztes, so Carstensen, Der Chirurg 1980, 414; Henschel, S. 26; WachsmuthlSchreiber, NJW 1982, 2094 ff., nennen als Beispiel, daß bei Brustkrebs selbst im Frühstadium nur mit 70 0 Mger Wahrscheinlichkeit Heilung prognostiziert werden kann; kritisch dazu Scholl, NJW 1983, 319.

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grenzung des Rechtsgutsschutzes im Bezug auf die ärztliche Tätigkeit: der Schutz reicht nur soweit, wie ihn die ärztliche Berufsausübung sinnvollerweise gewährleisten kann. In vollem Ausmaß besteht er also nur dann, wenn die ärztliche Tätigkeit einmal nicht unter den für sie ansonsten typischen Unsicherheiten leidet, wenn die Sorgfaltsgebote also mit Sicherheit einen positiven Verlauf gewährleisten. Das hat im Ergebnis auch die Risikoerhöhungslehre2 04 erkannt, jedoch allein im Risikoerhöhungsgedanken verklausuliert und nicht auf die spezifische Interdependenz von ärztlicher Pflichtenstellung und verletztem Rechtsgut bezogen. Die hier vertretene Lösung weist Verwandtschaftsbeziehungen zur französischen Rechtsprechung205 auf, die für die durch den Behandlungsfehler bewirkte Vereitelung einer Gesundungschance Schadensersatz gewährt. Im Unterschied dazu wird jedoch nicht die Gesundungschance zum geschützten Rechtsgut erhoben. Statt dessen werden vorgeschädigtes Rechtsgut und ärztliche Behandlung als Konglomerat, als Einheit gesehen, weil - sieht man einmal von der Gesundung dank eigener körperlicher Ressourcen ab - nur die fehlerfreie ärztliche Behandlung zur Wiederherstellung führen kann. Von dieser Warte aus können auch diejenigen Fälle integriert werden, in denen der Arzt ein neues, von der Grunderkrankung unabhängiges Risiko setzt (Realtypen 1 und 2 - Konkurrieren des normalen Behandlungsrisikos, Konkurrieren des kunstgerechten Eingriffs). Normativ betrachtet nehmen diese Fälle nämlich keine Sonderstellung ein, denn jene zusätzlichen Risiken sind untrennbar mit Heilbehandlung und Gesundung verbunden und in das Konglomerat von Erkrankung und Rehabilitationsmaßnahmen involviert. So gesehen erscheint, was bislang als Beweisfrage verkleidet war, nun als materielle Problemstellung: die Unwägbarkeiten, die die ärztliche Tätigkeit typischerweise begleiten, werden normativ im Funktionszusammenhang von verletzter Norm und geschütztem Rechtsgut berücksichtigt2oo . Man kann dieses Ergebnis auch von einem anderen Standpunkt aus beleuchten. Von Arthur Kaufmann stammt folgende, die typischen Anlagefälle 207 und ihre Lösung, die im Zivilrecht in vermindertem bzw. 204 Deutsch, Festschr. Larenz, S. 885 ff.; ders., Festschr. v. Caemmerer, S. 329 (335); zum Strafrecht Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff.; vgl. auch Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 76 ff.; Wilburg, Verhandlungen des 43. DJT, Bd.2, S. CI (C 12, C 16); sowie oben IV. 3., S. 80 f. 205 Dazu mit Nachweisen Deutsch, VersR 1982, 713 (715 f.); Kleinewejers! Wilts, VersR 1967, 617 (622 f.); Stoll, Kausalzusammenhang und Normzweck im Deliktsrecht, S. 40 ff.; ders., AcP 176 (1976), 145 (157 f.); Penneau, La responsabilite medicale, S. 114 ff. 206 Diese Sichtweise ist nicht zuletzt Ausprägung der von Stoll zu und in Kausalzusammenhang und Normzweck im Deliktsrecht, S. 33 ff. herausgearbeiteten Prinzipien. 207 Zur Terminologie Schulze, VersR 1981, 1058.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

gänzlich entfallendem Schadensersatz besteht, umschreibende Formulierung: "Das entscheidende Kriterium ist also dies, daß das schadensstiftende Ereignis auf einen Gegenstand trifft, der den Keim zu dem Schaden schon in sich birgt (Schadensanlage) und infolgedessen in seinem Wert herabgemindert oder gar wertlos ist"208. Die Tragfähigkeit dieses Gedankens ist im Zivilrecht anerkannt, und zwar wegen der auf den Vermögenswert der Rechtsgüter blickenden zivilrechtlichen Betrachtungsweise auch für die Güter Leben, Körper und Gesundheit 209 . Festgehalten werden kann daher, daß ein zufälliges Zusammentreffen von Schadensanlage und schädigendem Ereignis regelmäßig zu vermindertem Schadensersatz führt. Auch in den Arzthaftungsfällen ist eine derartige Schadensanlage, der Keim zum Schlechten, in Form der zu behandelnden Erkrankung des Patienten real vorhanden210 . Warum tut man sich hier so schwer, in ähnlicher Form flexibel durch Minderung des Schadensersatzes zu reagieren? Weil der Arzt auf eben jene Schadensanlage zielgerichtet einzuwirken hat und deshalb bei einem Behandlungsfehler oft genug schon der Haftungsgrund in Zweifel zu ziehen ist, so daß man meint, eine beweisrechtliche Betrachtung anstellen zu müssen. Zwingend ist das nicht. Kann nämlich die ärztliche Maßnahme einmal mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Erfolg verhelfen, so ist damit zugleich die Schadens anlage beseitigt. In allen anderen Fällen wirkt sie demgegenüber fort, und zwar in Form der Unwägbarkeiten, die sie und die gegen sie gerichteten Maßnahmen mit sich bringen. Behandlungsfehler und Anlage erscheinen so als miteinander verschränkt, ein weiteres Zeichen dafür, daß Erkrankung und Behandlung als haftungsrelevante Einheit angesehen werden müssen. Welche Konsequenzen hat nun diese Sichtweise? Voller Schadensersatz ist zu gewähren, wenn die ärztlichen Maßnahmen die typischen Unsicherheiten einmal nicht in sich bergen, weil dann die Gewichte innerhalb der Einheit Erkrankung-Behandlung einseitig zu Lasten der fehlerhaften Behandlung ausschlagen. Dagegen entfällt ein Schadensersatzanspruch, wenn von ärztlichen Maßnahmen im Ergebnis keine Besserung zu erwarten war, denn dann liegt der Akzent eindeutig bei 208 Arthur Kaufmann, Festschr. Eberhard Schmidt, S, 200 (227); kritisch dazu aus strafrechtlicher Sicht Roxin, ZStW 74 (1962), 411 (425 ff.); Puppe, JuS

1982, 292 f.

209 Das gibt auch die Kritik Roxins, ZStW 74 (1962), 411 (430), zu; zum Zivilrecht Larenz, SchRl13, S. 483; Lange, Schadensersatz, S. 90 ff., sowie oben 2. b., S. 88 f. 210 Auch der BGH läßt die Vorschädigung in Arzthaftungsfällen nicht unberücksichtigt. In der in VersR 1981, 677 abgedruckten Entscheidung billigte er ausdrücklich das Vorgehen des Berufungsgerichts, das die Vorschädigung des Patienten in einem verminderten Schmerzensgeldbetrag zum Ausdruck gebracht hatte.

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der Grunderkrankung. Wird dagegen in einem solchen Fall ein zusätzliches, den ärztlichen Maßnahmen innewohnendes Risiko behandlungsfehlerhaft verwirklicht, so tritt dafür volle Haftung ein, weil sich insofern keine Schadensrelevanz der Grunderkrankung mehr ergeben kann. Die Mehrzahl der Fälle liegt demgegenüber in der Mitte der beiden dargestellten Extreme. Schadensersatz wird nach geltendem Recht nur soweit gewährt, wie der Rechtswidrigkeitszusammenhang trägt211 • An dieser Stelle wird dem durch den Behandlungsfehler im Rahmen des Konglomerats Erkrankung-Behandlung gesetzten zusätzlichen Risiko Rechnung getragen. Die horizontale Risikoverteilung spiegelt sich im Schaden wider. Der Normzweck wird so in die Haftungsausfüllung transponiert und hat eine Verringerung des zu ersetzenden Schadens zur Folge2 12 • Verallgemeinert handelt es sich bei der hier vorgestellten Sichtweise um eine berufsspezifische Normrelevanzbetrachtung, die freilich mit dem ähnlich gelagerten Versuch, dem Heileingriff die Einordnung als tatbestandsmäßige Körperverletzung zu nehmen213 , nicht viel gemein hat. Anders als die Beweislastumkehr beim groben Behandlungsfehler, für die ebenfalls der Normzweck - diesmal Behebung der Beweisnot - reklamiert wird21 4, wird nicht am Symptom, sondern an der materiellen Ursache des Problems angesetzt. So werden übermaßreaktionen - Haftung ohne Kausalität - und unerwünschte Nebenwirkungen - Konzentration der Diskussion auf die Intensität des Pflichtverstoßes - vermieden. Der Gedanke der Berufshaftung wird über seine herkömmlichen Bereiche, nämlich Bestimmung der Haftungsschwelle durch Konkretisierung der erforderlichen Sorgfalt unJd des Schutzbereichs der Norm215 , hinaus zur Geltung gebracht216 • Ausschlaggebend .für die berufsrechtliche Betrachtungsweise ist der auf die Heilbehandlung gerichtete Inhalt der ärztlichen Tätigkeit. Sie kann daher ebenso wie die beweisrechtliche Lösung bei vertraglichen wie delikt i211

Münch. Komm./Grunsky, vor § 249 RN 88.

Mit Larenz, SchRI3, S. 419 kann man sagen, daß das verletzte Interesse rechtlich in Teilen nicht schutzwürdig ist und Schadensersatz insoweit entfällt. Vgl. auch Lange, Schadensersatz, S. 78 f., 88 f. 213 So BTÜgmann, NJW 1977, 1473 (1474 f.); Laufs, NJW 1974, 2025; Esseri Weyers, SchR 11 25 , § 55 I; Putzo, Arzthaftung, S. 27 f. 214 Vgl. dazu oben 11. 2. b., S. 63 f. 215 Dazu Mertens, VersR 1974, 509 (511 f.); speziell zur Arzthaftung Deutsch, VersR 1982, 713 mit Hinweisen auf neuere Entwicklungen zum Schutzbereich. 216 Schon Michaelis, Festschr. der Leipziger Juristenfakultät für Heinrich Siber, Bd. 11, S. 31 ff., 39 ff., trat im Jahre 1943 für einen eigenständigen Inhalt der Berufshaftung ein, suchte jedoch darüberhinaus die Berufshaftung selbständig neben Vertrag und Delikt zu begründen. Gegen eine Ausdehnung des Gedankens der Berufshaftung Hanau, Pflichtwidrigkeit, S.133. 212

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

schen Ansprüchen praktiziert werden217 • Der Gedanke der Berufshaftung erlaubt die Berücksichtigung berufsspezifischer Besonderheiten, die sich, was den Arzt angeht, in der dargelegten Form ausprägen. Damit wird kein Sonderhaftungsrecht des Arztes geschaffen; vielmehr erfährt das geltende Recht nur eine Feineinstellung auf die zu lösenden tatsächlichen Probleme. Schon das geltende Recht enthält nicht wenige Beispiele dafür, daß die Besonderheiten der diversen Berufe unterschiedliche haftungsrechtliche Reaktionen 'erfordern können218 • Daß sich ähnliche Normzweckerwägungen in das Schadensrecht fortpflanzen können, ist ebenfalls keine neue Erkenntnis. Man denke an den Grundsatz der gefahrgeneigten Arbeit, der die Haftung des Arbeitnehmers dem Arbeitgeber gegenüber begrenzt; ein mittlerer Grad von Fahrlässigkeit führte danach bislang nur zu partieller Haftung des Arbeitnehmers, weil die Risiken beiden Partnern des Arbeitsvertrages teilweise zuzuweisen seien, wie sich aus einer Bewertung der beteiligten Interessen und damit aus einer normativen Betrachtungsweise ergebe 219 • Auch die Berücksichtigung einer anteiligen Mitgefährdung beim Aufeinandertreffen zweier Gefährdungshaftungen analog § 254 BGB kann man zu Vergleichszwecken heranziehen, weil sich auch dann der Normzweck nicht mehr in voller Stärke auswirkt, so daß nur geminderter Ersatz zu leisten ist 220 • Aus Normzweckerwägungen heraus begnügt man sich bei sozialrechtlichen Ersatzansprüchen mit wahrscheinlicher Kausalität: im Bereich der §§ 52 II 1 BSeuchG, 1 III BVG soll, um die Versorgung aller Betroffenen sicherzustellen, in Kauf ge217 Zur beweis rechtlichen Lösung ebenso Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Anhang § 282 RN 98; in diesem Sinne ebenfalls Deutsch/Geiger, Medizinischer Behandlungsvertrag, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, S. 1049 (1109); vgl. auch Michaelis, a.a.O., Fußn.

216.

218 Beispielsweise wurde die Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität beim groben Behandlungsfehler auch auf das Fehlverhalten von Schwimmmeistern oder Würstchenverkäufern ausgedehnt, BGH NJW 1962, 959 sowie OLG Köln VersR 1970, 229; der Notar muß auch für nicht adäquate Schäden einstehen, die die Verletzung seiner Amtspflichten einmal nach sich ziehen kann, BGH NJW 1982, 572; die Hersteller industrieller Produkte werden mit den besonderen Regeln der Produzentenhaftung konfrontiert, der Hersteller von Arzneimitteln gemäß § 84 AMG mit einer gesetzlichen Gefährdungshaftung. 219 Eingehend Gamillscheg/Hanau, Die Haftung des ArbeitnehmerS2, S. 46 ff.; Zöllner, Arbeitsrecht 2 , S. 169; BAG AP § 611 BGB-Haftung des Arbeitnehmers, Nr. 58, 61; Wilburg, Verhandlungen des 43. DJT, Bd. 2, S. C 13 ff. sieht die gefahrgeneigte Arbeit als Beispiel dafür an, daß die Gefahrenverteilung als Regulator der Schadensbemessung wirken kann. Neuerdings weist das BAG dem Arbeitgeber auch bei einem mittleren Grad von Fahrlässigkeit das volle Risiko zu, BAG NJW 1983, 1693. , 220 Münch. Komm./Grunsky, § 254 RN 3; zur Relevanz des Normzwecks bei der Gefährdungshaftung auch Deutsch/v. Bar, MDR 1979,536 (538 ff.); Deutsch, JuS 1981, 317 (321 ff.).

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nommen werden, daß Zahlungen zuweilen zu Unrecht erfolgen 221 • Diese Erweiterung des Kreises der Ersatzberechtigten kann als durch die Höhe des Ersatzbetrages - nur eine Entschädigung, kein Schmerzensgeld wird geleistet - kompensiert angesehen werden. Wohl gemerkt, die hier für die Arzthaftung vorgeschlagene Regelung deckt sich nicht inhaltlich mit den angeführten Vergleichsbeispielen; nur der Grundgedanke, die auf den Normzweck konzentrierte und in die Haftungsausfüllung verlängerte Betrachtung, findet sich hier wie dort. b) Gegenargumente

Eine ganze Reihe VOn Argumenten gegen die hier entwickelte These läßt sich anführen, di·e teilweise der Diskussion um die Risikoerhöhungslehre und die französische Chancenrechtsprechung entnommen werden können. Von dort stammt auch der Vorwurf, dem Arzt werde durch jene Konzeptionen jegliche Entlastungsmöglichkeit genommen, so daß jeder Behandlungsfehler die Haftung auslöse und im Ergebnis eine Erfolgshaftung eingeführt werde222 • Nun wird die Normrelevanzbetrachtung sicherlich nicht an jeden Behandlungsfehler auch eine Schadensersatzpflicht knüpfen, denn nur solche Pflichtverstöße bleiben schadensersatzrechtlich erheblich, von deren Vermeidung ein positiver Einfluß auf das vorgeschädigte Rechtsgut des Patienten zu erwarten ist. Von Erfolgshaftung kann demgegenüber nur dann die Rede sein, wenn der Arzt einmal die volle Gesundung bzw. das Ausbleiben von Nebenwirkungen bei korrektem Vorgehen versprechen kann. In allen übrigen Fällen haftet der Arzt demgegenüber nur für das, was er zu leisten vermag und nicht geleistet hat: Realisierung des ihm möglichen Anteils an der Gesun:dung des Patienten. Eben diese Erwägung wird von Kahrs in Zweifel gezogen223 : Kahrs will beim Vereiteln einer Rettungsmöglichkeit partieUen Schadensersatz gewähren, begrenzt diesen Ansatz jedoch auf kausal nicht gebundenes Geschehen. Darunter versteht er Situationen ,in denen, denkt man sich die unterlassene Handlung hinzu, objektiv mehrere Möglichkeiten des weiteren kausalen Ablaufs bestehen. Die Arzthaftungsfälle ordnet er als kausal gebundenes Geschehen ein, weil die Fortentwicklung der Dinge hier Von der Natur vorgegeben sei. Daß man nicht sicher sei, worauf der letztlich eingetretene Schaden beruhe, sei allein Folge der Unwissenheit des Beobachters; alternative 221 Dazu W. Bogs, Sozialgerichtsbarkeit 1981, 197 ff.; Deutsch/v. Bar, MDR 1979, 536 ff. 222 Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3 lIlie; Penneau, Responsabilite medicale, S. 114 ff.; Kahrs, Kausalität und überholende Kausalität im Zivilrecht, S. 30; vgl. auch Wachsmuth/Schreiber, NJW 1981, 1985. 223 Kahrs, Kausalität und überholende Kausalität im Zivilrecht, S. 23 ff.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

Chancen hätten nie bestanden. Daher sei eine beweisrechtliche Reaktion angezeigt, während, wollte man auch in dieser Situation partiellen Ersatz gewähren, letztlich die Unkenntnis des Betrachters Zurechnung begründen würde. Was die Arzthaftung angeht, so vermag diese Differenzierung nicht zu überzeugen. Die Unsicherheiten bei der Einschätzung der Reaktionen des menschlichen Körpers sind so unberechenbar und vor allem unerforscht, daß schon die Ausgangsthese, es handele sich dabei um determiniertes Geschehen, nicht hinreichend fundiert ist. Vielmehr legt der erhebliche Einfluß psycho-somatischer Elemente auf den Gesundungsprozeß noch eher nahe, daß jedermann bei korrektem ärztlichen Vorgehen eine echte Gesundungschance hat. Jedenfalls läßt sich bei der Arzthaftung vom jetzigen Erkenntnisstand aus eine eindeutige Trennung nach gebundenem und nicht gebundenem Geschehen nicht vornehmen, so daß grundsätzlich unterschiedliche rechtliche Reaktionen wohl nicht angezeigt sind. Ausgehend von der Kausalität als natürlicher Haftungsvoraussetzung224 wird gegen die Risikoerhöhungslehre geltend gemacht, sie führe ein neuartiges Zurechnungselement ein, denn die Gefahrerhöhung sei im deutschen Recht nicht als konstituierendes Haftungselement anerkannt 225 • Das BGB fordere statt dessen das volle Vorhandensein aller Merkmale des Tatbestandes und sehe dementsprechend auch keine Ergebnisteilung vor226 • Auch sei das Arzthaftungsrecht nicht hinreichend signifikant, um als EinbruchsteIle des neuartigen Zurechnungsprinzips zu dienen, denn d~e Gefahrenkreise der Beteiligten seien nicht mit der erforderlichen Sicherheit voneinander abzugrenzen227 • Daß letztere Feststellung unzutreffend ist, hat sich bereits erwiesen228 • Auch die übrigen Einwände schlagen gegenüber der hier vorgetragenen Sichtweise nicht durch. Sie unterscheidet sich nämlich von der Risikoerhöhungslehre dadurch, daß sie sich auf das besondere Zusammenspiel von verletztem Rechtsgut und Verhaltensnorm stützt und damit den Boden des geltenden Rechts nicht verläßt, diesen vielmehr nur genauer untersucht. Der volle Haftungsgrund ist, sobald diese These Anwendung findet, gegeben, während die beim Haftungsumfang erforderliche Flexibilität mittels des Rechtswidrigkeitszusammenhangs als Gradmesser erreicht wird. Der Einwand mangelnder gesetzlicher Verankerung, den man übrigens auch gegenüber der Beweislastumkehr beim groben Be224 Motive 11, S. 18; Lange, Schadensersatz, S. 52 f., der allerdings § 830 I 2 und die Beweislastumkehr als Ausnahme von diesem Grundsatz heraushebt. 225 Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff, § 3 111 1 c; Stoll, AcP 176 (1976), 145 (176 f.). 226 Stoll, AcP 176 (1976), 145 (176 f.); Kegel, Festschr. Kronstein, S. 321 (338). 227 Steifen, Verhandlungen des 52. DJT, Bd. 11, S. I 23. 228 VgI. oben VI. 1., S. 84 ff.

VI. Dogmatische Aufarbeitung dieser Tendenzen

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handlungsfehler erheben kann229 , greift also nicht durch. Das zeigt sich noch an anderen Stellen: Weil die Gesundungschance, was ärztliche Maßnahmen angeht, Bestandteil der Rechtsgüter Leben, Körper und Gesundheit des Patienten ist, kann nicht die Rede davon sein, die Chance als solche werde entgegen dem Gesetz zum geschützten Rechtsgut erhoben230 • Aus dem gleichen Grunde schlägt der Hinweis auf den in §§ 252, 84411 BGB ausgeprägten Standpunkt des Gesetzes, wonach bei ausnahmsweisem Ausreichen nur wahrscheinlicher Kausalität voller Schadensersatz zu gewähren ist231 , ebenfalls nicht durch. In den typischen Arzthaftungsfällen handelt es sich nicht eigentlich um zweifelhafte Kausalität, sondern um einen materiell anders gelagerten Rechtsgutschutz. Zu dessen Berücksichtigung in Form von vermindertem Schadensersatz gibt es im übrigen Vorbilder auch im geltenden Recht: In ähnlicher Form wird das Zusammenwirken mehrerer Geschehensketten in den Fällen des § 254 BGB und bei den typischen Schadensanlagen gelöst232 • In die gleiche Richtung weist der Einwand, das Alles-oder-NichtsPrinzip des Schadensersatzrechts stehe einer Übernahme der französischen Chancenrechtsprechung im Wege233 • In der Tat entsprach es der Intention des Gesetzgebers, bei bestehender Kausalität den Schädiger zum Ersatz des vollen Schadens zu verpflichten. In erster Linie richtete sich diese Grundsatzentscheidung jedoch gegen Bestrebungen, die Höhe des Ersatzbetrages vom Verschuldensgrad abhängig zu machen234 • Darum geht es vorliegend jedenfalls nicht. Doch auch sonst existieren im geltenden Recht Durchbrechungen des Alles-oder-Nichts-Prinzips, vor allem die Rechtsprechung zur gefahrgeneigten Arbeit, § 254 BGB und die Normzwecklehre230 • Eine Beeinträchtigung der Ausgleichsfunktion BydZinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 87 ff. So aber StolZ, AcP 176 (1976), 145 (158). 231 Darauf weisen StolZ, AcP 176 (1976), 145 (158) und Hanau, Pflichtwidrigkeit, S. 131, hin. 229

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232 Manche wollen diese Fälle de lege ferenda eigens in einer Reduktionsklausel des Schadensrechts berücksichtigt wissen: BydZinsky, Jur BI 1968, 330 ff.; MeyerlLorenz, Haftungsstruktur und Minderung der Schadensersatzpflicht durch richterliches Ermessen, S. 129; siehe auch WiZburg, Elemente des Schadensrechts, S. 72 ff. 233 Steffen, Verhandlungen des 52. DJT, Bd. 2, S. I 23. 284 Motive, Bd. 2, S. 17; Protokolle 2. Lesung, Bd. 2, S. 574 f.; Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, S. 388; StolZ, RabelsZ 1970, 481 (491 ff.); HohZoch, Allgemeines Schadens recht, in: Gutachten und Vorschläge zur überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 1, S. 375 (385 f., 457 f.); WadZe, VersR 1971,

485 (486 f.). 235 GottwaZd, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 180 ff.; Lange, Schadensersatz, S. 16 ff.; für behutsame weitere Auflockerungen de lege lata Löwe, VersR 1970, 289 (290 f.); siehe auch Bender, Festschr. Baur, S. 247 (269 ff.).

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

des Schadensersatzes236 ist davon ebensowenig wie von der hier vorgeschlagenen Lösung zu erwarten. Die genannten Ausnahmen durchbrechen das Prinzip in Wahrheit nicht, vielmehr handelt es sich ebenso wie hier um die Umschreibung der durch das Haftungsrecht festgesteckten Risikobereiche, mit denen die schClldensrechtliche Reaktion dann voll und ganz kongruiert. Das, was haftungsrechtlich auszugleichen ist, erhält der Geschädigte auf diese Weise letztendlich auch als Schadensersatz. Nun ist die Hinwendung zu einer neuen, auf Schadensteilung abzielenden Lösung nur sinnvoll, wenn der von ihr vorgezeichnete Weg auch praktikabel ist. Zugegebenermaßen birgt jede in dieser Weise flexible Lösung einen gewissen Grad von Unsicherheit in sich. Aus diesem Grunde stoßen Risikoerhöhungslehre und französische Chancenrechtsprechung denn auch bei manchen auf Ablehnung: die Größe der vereitelten Chance sei je im Einzelfall nicht bestimmbar237 • Entschließt man sich zu einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung, so begibt man sich notwendigerweise in das Gebiet der auf das Kollektiv ausgerichteten statistischen Sichtweise, von dem auf den Einzelfall geschlossen wird238 • Das wird vom Recht auch akzeptiert, wie uns § 287 ZPO lehrt. Eine exakt den Einzelfall aufrollende Betrachtung zu fordern, hieße menschliches Vermögen zu überschätzen. Unsicherheiten sind also unvermeidbar; folgt man dagegen im Bereich der Arzthaftung wie bislang dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, so sind die damit verbundenen Unsicherheiten und Ungerechtigkeit im Einzelfall zweifellos noch größer. Gerade in der Medizin sind Wahrscheinlichkeits angaben regelmäßig möglich, wenn auch zum Teil schwierig, ja die Wahrscheinlichkeit ist gar das für die Medizin typische Instrument239 • Daß diese Wahrscheinlichkeiten in die schadensrechtliche Praxis umsetzbar sind, zeigt uns die französi236 Das befürchtet Hanau, Pflichtwidrigkeit, S. 131 f.; allgemeiner auch Stall, RabelsZ 1970, 481 (491); Hohlach, a.a.O., S. 375 (454 ff.). 237 Hanau, Pflichtwidrigkeit, S. 131 f.; Penneau, Responsabilite medicale, S. 114 ff. 238 Eingehend dazu Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3 ff.; siehe auch Bender, Festschr. Baur, S. 247 ff. 239 Wachsmuth/Schreiber, NJW 1982,2094 ff.; Carstensen, Der Chirurg 1980, 414; kritisch Scholl, NJW 1983, 329: verifizierte statistische Angaben seien

auch in der Medizin selten; daher handele es sich bei den Angaben von Sachverständigen regelmäßig nicht um wissenschaftlich fundierte Werte, sondern lediglich um Erfahrungsgrößen. Dem kann sachlich kaum widersprochen werden. Freilich handelt es sich um ein dem Juristen bekanntes Phänomen, denn die ex-post-Betrachtung eines Einzelfalls schließt induktives Vorgehen aus und die Vorgaben für einen deduktiven Schluß sind häufig im Zweifel. Daraus ergibt sich der Zwang zur Wertung, die sich durchaus der durch statistische Methoden optimierten Schätzung bedienen kann. Auch das Alles-oderNichts-Prinzip ist nur eine Alternative innerhalb der Palette möglicher Wertungen, dem freilich die durch den Sachverständigen vorbereitete Schätzung vorzuziehen ist.

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sche Rechtsprechung und nicht zuletzt die oben angesprochene Handhabung, auf die man bei der hiesigen außerforensischen Schadensregulierung trifft. Der Vorwurf mangelnder Praktikabilität beruht daher bislang auf einem nicht verifizierten Vorurteil, während das Gegenteil durch Beispiele belegt werden kann. Nicht von der Hand zu weisen ist die Prognose, daß das hier vorgeschlagene Modell häufiger als bislang zu ärztlicher Schadensersatzpflicht führen wird, freilich dem Betrage nach stärker begrenzt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Absenkung der Haftungsschwelle in der Form, daß eine "Defensivmedizin" als Reaktion darauf zu befürchten wäre24o • Die Sorg.faltsstandards und der Beweis ihrer Einhaltung bleiben nämlich unberührt; sorgfältiges und vertretbares Verhalten führt daher nach wie vor nicht zur Haftung, so daß ängstlicher Zurückhaltung der Mediziner aus Furcht vor Haftung kein Anknüpfungspunkt geboten wird. Ein Abweichen vom Alles-oder-Nichts-Prinzip fordert den Vorwurf heraus, die erforderlich·e Rechtssicherheit werde in Gefahr gebracht, weil das Prozeßrisiko unkalkulierbar werde. Damit könne ein Sinken der Vergleichsbereitschaft einhergehen241 • Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Furcht freilich als unbegründet. Gerade was das im Arzthaftungsprozeß zumeist im Mittelpunkt stehende Schmerzensgeld angeht, ist dem richterlichen Ermessen schon nach geltendem Recht erheblicher Spielraum eingeräumt. Abnehmende Rechtssicherheit ist also insofern nicht zu befürchten. Nichts anderes gilt für den Grund der Haftung. In den problematischen Fällen ist dafür bislang allzu häufig ausschlaggebend, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt. Es gibt bis heute keine exakten Kriterien, wann das der Fall sein so1l242. Mit einem variablen Rechtswidrigkeitszusammenhang bei ansonsten feststehendem Haftungsgrund führt das hier vorgeschlagene Modell demgegenüber zu einer erheblichen Klärung der Haftungsvoraussetzungen. Davon sind auch Auswirkungen auf die außerforensische Vergleichsbereitschaft zu erwarten, die auf weit rationalere Kriterien als bislang zu reagieren hätte, was Beweislage und Prozeßrisiko anbelangt. c) Randbereiche

Abschließend bedarf die vorstehend entwickelte These noch der ErheIlung ihres Umfeldes, um ihre Reichweite abstecken zu können. Zur Begründung wurde wesentlich auf die Heilfunktion ärztlicher Maß240

Vor Absenkung der Haftungsschwelle warnen aus diesem Grunde

Wachsmuth/Schreiber, NJW 1981, 1985. 241 Damit setzt sich Lange, Gutachten zum 43. DJT, Bd. I, S. 24 ff., sowie ders., Schadensersatz, S. 12 f., auseinander. 242 Dazu oben 11. 2. a., S. 59 f.

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2. Teil: C. Beweis der Kausalität

nahmen im Bezug auf die vorgeschädigten Rechtsgüter des Patienten abgestellt. Nun gibt es eine ganze Reihe von ärztlichen Eingriffen etwa Sterilisation, Abruptio, Kosmetische Operation oder Organentnahme zu Zwecken der Organspende -, die nicht in erster Linie vom Heilungszweck getragen werden. Sofern in diesen Fällen "Beweisprobleme" auftauchen, trifft man auf eine ähnliche tatsächliche Fragestellung wie in den Ausgangsfällen: die ärztlichen Maßnahmen sind auf den menschlichen Körper bezogen, dessen Reaktionen nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden können; die angewendeten ärztlichen Methoden sind nicht frei von Nebenwirkungen. Man denke beispielsweise an den schicksalhaften Narkosezwischenfall bei einer Organentnahme oder an eine natürliche Rekanalisierung durchtrennter Eileiter. Demgegenüber scheint die rechtliche Einordnung in ein Konglomerat von vorgeschädigtem Rechtsgut des Patienten und Heilbehandlung, das