BAND Soll und Haben - 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft 9783110506389, 9783828201057

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BAND Soll und Haben - 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft
 9783110506389, 9783828201057

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Stabile Währung
Begrüßung
Eine stabile Währung als Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft
Dank und Aufgaben der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft
II. Wendepunkt
Die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft als ein Wendepunkt der deutschen Geschichte
Stellungnahme
Diskussionsbericht
III. Perspektiven
Kritik der Sozialen Marktwirtschaft aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik
Stellungnahme
Diskussionsbericht
IV. Verfassungsrechtliche Relevanz
Soziale Marktwirtschaft - ein Begriff ohne verfassungsrechtliche Relevanz?
Stellungnahme
Diskussionsbericht
V. Europäisierung
Soziale Marktwirtschaft und Europäisierung des Rechts
Stellungnahme
Diskussionsbericht
VI. Ordnungspolitische Aspekte
Strukturpolitik im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft?
Stellungnahme
Diskussionsbericht
VII. Historische Aspekte
Demokratie und Soziale Marktwirtschaft - Zwei Seiten derselben Medaille? Die Erfahrungen der deutschen Nachkriegszeit
Stellungnahme
Diskussionsbericht
Verzeichnis der Autoren
Verzeichnis der Diskutanten

Citation preview

Knut Wolfgang Nörr • Joachim Starbatty Soll und Haben - 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft

Marktwirtschaftliche

REFORMPOLITIK Schriftenreihe

der Aktionsgemeinschaft

Soziale Marktwirtschaft

Herausgegeben von Rolf Hasse und Joachim Starbatty

Bd. 3: Soll und Haben - 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft

N. F.

Soll und Haben 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft

Herausgegeben von

Knut Wolfgang Nörr und Joachim Starbatty Mit Beiträgen von

Reinhold Biskup • Heinz Grossekettler Jan Hegner • Ernst-Joachim Mestmäcker Knut Wolfgang Nörr • Thomas Oppermann Hans-Jürgen Papier • Fritz Rittner Bertram Schefold • Günther Schulz Manfred Stadler • Joachim Starbatty Hans Tietmeyer • Hans Willgerodt

Lucius & Lucius • Stuttgart

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Soll und Haben - 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft / hrsg. von Knut Wolfgang Nörr und Joachim Starbatty. Mit Beitr. von Reinhold Biskup ... - Stuttgart: Lucius und Lucius 1999 (Marktwirtschaftliche Reformpolitik; N.F., Bd. 3) ISBN 3-8282-0105-9

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH • Stuttgart • 1999 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: Spiegel Buch GmbH, Ulm Printed in Germany

Vorwort Schon vor Kriegsende hatte Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders und spätere Wirtschafaminister und Bundeskanzler, richtungweisende Grundsätze für die Beseitigung der Zwangswirtschaft und den Aufbau einer sozial orientierten marktwirtschaftlichen Politik entwickelt Seine Vorstellungen stießen jedoch sowohl bei den Besatzungsmächten als auch bei den Vertretern der maßgeblichen deutschen Parteien auf Widerstand. SPD und Gewerkschaften wollten eine sozialistische Wirtschaftsordnung durchsetzen, und auch die CDU hatte sich in ihrem Ahlener Programm von 1947 für einen „Christlichen Sozialismus" ausgesprochen. Unterstützung fand Erhard vor allem bei den ordoliberalen Mitgliedern des im Januar 1948 gegründeten Wissenschaftlichen Beirates der Wirtschaftsverwaltung der Bizone — unter ihnen Walter Eucken, Leonhard Miksch und Franz Böhm. Nachdem die drei westlichen Alliierten im Juni 1948 die Währungsreform angekündigt hatten, legte Erhard am 17. Juni der Vollversammlung des Wirtschaftsrates eine Gesetzesvorlage über die Politik nach der Währungsreform vor. In einer Sitzung, die sich bis zum Morgen des folgenden Tages hinzog, entschied Erhard die Schlacht zu seinen Gunsten. Das, was damals ökonomisch und sozial ein Wagnis war, wurde in einen Gesetzestext gegossen: das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform" vonj 24. Juni 1948. Hier heißt es: „Der Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug zu geben". Dieser Satz verrät — angesichts ausgehungerter Menschen und leerer Warenregale — Vertrauen in die produktive Kraft von Menschen und klugen Institutionen. Das Leitsätzegesetz bildete den Kern des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft und war die Basis für den Wiederaufbau der Bundesrepublik nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges. An der Währungsreform und an dem Leitsätzegesetz haben in vorderster Front freiheitlich orientierte Ökonomen und Juristen mitgewirkt. Insofern knüpfen der Jurist Knut Wolfgang Nörr und der Ökonom Joachim Starbatty als Veranstalter des 6. Alfred Müller-Armack-Symposions „Soll und Haben - 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft" (5.-7. November 1998) an die Freiburger Tradition an, in der der Ökonom Walter Eucken und der Jurist Franz Böhm die gedanklichen Grundlagen für das Entstehen der Sozialen Marktwirtschaft gelegt haben. Zu den Gründungsvätern zählen wir auch Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Alfred MüllerArmack. In ihrem Sinne wollten wir auf dem 6. Alfred Müller-Armack-Symposion zusammenarbeiten. Die Anknüpfung an die Freiburger Tradition kommt in der Zusammensetzung der Referenten zum Ausdruck; beispielhaft seien der Ökonom Hans Willgerodt und der Jurist Ernst-Joachim Mestmäcker genannt. Willgerodt ist dem Freiburger

VI

Vorwort

Ordoliberalismus über seinen Lehrer Fritz W Meyer verbunden, er war langjähriger Kollege von Alfred Müller-Armack in Köln und ist leiblicher Neffe von Wilhelm Röpke - diesem auch verwandt in der Stringenz der Gedankenfiihrung und der Formulierungskraft; Ernst-Joachim Mestmäcker, Schüler von Franz Böhm, trägt national und international dafür Sorge, daß der Wettbewerbsgeist von Eucken und Böhm Verbreitung findet; er selbst ist Stammvater einer reichen Schar freiheitlich orientierter Juristen. Der vorliegende Band ist der Ertrag dieses Symposions. Die Beiträge sprechen grundsätzliche Fragen zur Sozialen Marktwirtschaft an. Als ein thematischer Schwerpunkt der Veranstaltung sei beispielhaft die verfassungsrechtliche Verankerung der Sozialen Marktwirtschaft herausgegriffen. Während Hans-Jürgen Papier, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes, die These vertrat, das Grundgesetz sei bezogen auf den Inhalt des wirtschaftlichen oder wirtschaftspolitischen Verhaltens neutral, betonte der Ökonom Hans Willgerodt die verfassungsrechtliche Relevanz des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft: Das Grundgesetz schließe nicht nur eine Zentralverwaltungswirtschaft aus, sondern auch das wirtschaftliche Chaos und zwar vornehmlich über die Vorschriften zu Rechtsstaat und Eigentum; also bleibe es verfassungsrechtlich für die Lösung der gesamtwirtschaftlichen Abstimmung bei der alleinigen Zulässigkeit der Marktwirtschaft. Damit ist auch eine Besonderheit dieses Symposions angesprochen — der Dialog über die Disziplingrenzen hinweg. Wenn die Probleme, mit denen sich beide Disziplinen beschäftigen, konkret benannt werden und Juristen und Ökonomen bereit sind zuzuhören, dann zeigt sich rasch, daß sich die Beiträge ergänzen und bereichern; Juristen lernen von Ökonomen, wie sich Phänomene in einem bestimmten institutionellen Umfeld entwickeln, und Ökonomen lernen von den Juristen, welche verfassungsmäßigen Vorgaben bei der ökonomischen Analyse zu berücksichtigen sind, damit die „Bodenhaftung" nicht verlorengeht. Auch die Beispiele und Erfahrungen, die aus unmittelbar erlebter Praxis beigesteuert wurden, haben die Diskussion bereichert und anschaulich gemacht. Der Zuspruch aus dem Kreis der Teilnehmer war so groß, daß wir diesen Dialog über die Fachgrenzen hinweg fortsetzen wollen. Wir haben uns vorgenommen - angeregt durch den Beitrag von Reinhold Biskup —, daß wir uns mit den juristischen und ökonomischen Konsequenzen der Wiedervereinigung und der damit verbundenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Transformation auseinandersetzen wollen. Wenn das Symposion wissenschaftlich und atmosphärisch gut gelungen ist, so haben wir das den unermüdlichen und zugleich liebenswürdigen studentischen Mitarbeitern der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) zu verdanken: Jens Brammen, Georg von Hülsen, Matthias Niggel, Roman Schleicher und Kathrin Stein. Besonders bedanken wir uns bei Anja Lakowitz für engagierten und effizienten Einsatz bei der Vorbereitung des Symposions und der Erstellung

Vorwort

VII

der Diskussionsberichte. Ein besonderes Maß an Einsatzbereitschaft haben der bisherige Geschäftsführer der ASM, Jan Hegner, und der neue Geschäftsführer, Axel Stühmer, an den Tag gelegt. Ihnen ist vor allem zu verdanken, daß das Symposion geglückt ist Wir danken dem Rektor der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Professor Dr. Hans-Werner Ludwig, für die Gastfreundschaft. Der schöne Rahmen, den Festsaal, Großer und Kleiner Senat für Vorträge, Diskussionen und Empfang geboten haben, hat zum guten Gelingen des Symposions beigetragen. Schließlich danken wir Dr. Gerhard Schmidt, dem Vorsitzenden der Heinz Nixdorf-Stiftung. Sein Rat hat das Symposion bereichert, und die finanzielle Unterstützung durch die Heinz Nixdorf-Stiftung hat es möglich gemacht.

Knut Wolfgang Nörr Tübingen, im Februar 1999

Joachim Starbatty

Inhaltsverzeichnis Vorwort I.

V

Stabile Währung Begrüßung Joachim Starbatty

3

Eine stabile Währung als Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft Hans Tietmeyer

7

Dank und Aufgaben der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft Jan Hegner

II.

17

Wendepunkt Die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft als ein Wendepunkt der deutschen Geschichte Knut Wolfgang Nörr

23

Stellungnahme Fritz Rittner

39

Diskussionsbericht

45

III. Perspektiven Kritik der Sozialen Marktwirtschaft aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik Heinz Grossekettler

53

Stellungnahme Bertram Schefold

83

Diskussionsbericht

87

X

Inhaltsverzeichnis

IV. Verfassungsrechtliche Relevanz Soziale Marktwirtschaft ein Begriff ohne verfassungsrechtliche Relevanz? Hans-Jürgen Papier

95

Stellungnahme

V.

Hans Willgerodt

115

Diskussionsbericht

121

Europäisierung Soziale Marktwirtschaft und Europäisierung des Rechts Ernst-Joachim Mestmäcker

129

Stellungnahme Thomas Oppermann

153

Diskussionsbericht

161

VI. Ordnungspolitische Aspekte Strukturpolitik im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft? Joachim Starbatty

169

Stellungnahme Manfred Stadler

195

Diskussionsbericht

201

VII. Historische Aspekte Demokratie und Soziale Marktwirtschaft Zwei Seiten derselben Medaille? Die Erfahrungen der deutschen Nachkriegszeit Günther Schulz

209

Inhaltsverzeichnis Stellungnahme Reinhold Biskup Diskussionsbericht

Verzeichnis der Autoren Verzeichnis der Diskutanten

XI

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I. Stabile Währung

Soll und Haben - 5 0 Jahre Soziale Marktwirtschaft Hrsg. von Knut Wolfgang Nörr und Joachim Starbatty Lucius & Lucius, Stuttgart, 1 9 9 9

Begrüßung Joachim Starbatty,

Tübingen

Sehr verehrter Herr Bundesbankpräsident, Spectabiiis, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich heiße Sie im Festsaal der Universität Tübingen im Rahmen des 6. Alfred Müller-Armack-Symposions der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) herzlich willkommen. Wir werden über „Soll und Haben — 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft" diskutieren. Vor 50 Jahren, am 21. Juni 1948, dem Stichtag der Währungsreform, war die Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft. Wir können auch sagen: Eine stabile Währung war und ist die Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft. Oder in den Worten Ludwig Erhards: Nichts ist so sozial wie stabiles Geld. Herr Bundesbankpräsident, Sie haben heute einer denkwürdigen Zentralbanksitzung präsidiert. Auf einmal scheint das, was 50 Jahre als unverbrüchlich galt, in Frage gestellt zu werden. Ich begrüße sehr herzlich einen Mitstreiter von Ihnen im Zentralbankrat, den Präsidenten der Landeszentralbank von Baden-Württemberg. Verehrter Herr Präsident, ich heiße Sie willkommen in Tübingen. Ich bin überzeugt, lieber Herr Palm, daß der Bundesbankpräsident auf Sie immer zählen kann — nicht zuletzt auch deswegen, weil das „Ländle" hier als das klassische Land der Sparer gilt. Auch Norbert Kloten, früherer Präsident der Landeszentralbank von Baden-Württemberg und geschätzter Kollege von uns, ist bei uns. Herzlich willkommen. Ich begrüße — stellvertretend für die Mitglieder der ASM — Dr. Rudolf Mikus; seit langen Jahren arbeiten und streiten wir gemeinsam für eine freiheitliche und zugleich soziale Ordnung. Lieber Herr Mikus, Sie fördern durch Ihre Mitgliedschaft und Ihr aktives Interesse an unserer Arbeit unser Bemühen, die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft zu vertiefen und zu festigen. Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, gute Konzepte sind eine notwendige Bedingung für gute Politik, aber allein sind sie nicht hinreichend. Es muß hinzukommen, daß Persönlichkeiten die intellektuelle Kapazität besitzen, sie zu verstehen, und auch den Mut, sie umzusetzen. Ludwig Erhard war eine solche Persönlichkeit. Er hat zusammen mit Konrad Adenauer die Grundlagen für den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg des kriegszerstörten Deutschlands gelegt. Die Ludwig Erhard-Stiftung arbeitet in seinem Sinne. Ich freue mich, aus dem

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Joachim Starbatty

Vorstand der Ludwig Erhard-Stiftung Herrn Martin Grüner begrüßen zu können. Herr Grüner, Sie werden als früherer parlamentarischer Staatssekretär bestätigen können, welch große Rolle das persönliche Element in der Politik spielt Zum Schluß begrüße ich mit besonderer Freude Herrn Dr. Gerhard Schmidt, den Vorsitzenden der Heinz Nixdorf-Stiftung. Lieber Herr Schmidt, Sie sind einer der eifrigsten Arbeiter für die Ziele der Sozialen Marktwirtschaft Sie haben Ideen, Sie stoßen Projekte an, Sie unterstützen, Sie helfen, Sie beraten. Auch dieses 6. Alfred Müller-Armack-Symposion verdankt viel Ihrem Rat und alles Ihrer Unterstützung. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie es Herrn Nörr und mir ermöglicht haben, die mehr als tausend Studierenden hier mit einem ganz zentralen Element der Sozialen Marktwirtschaft, der Geld- und Währungsordnung, vertraut zu machen. Ich bin überzeugt, diese Veranstaltung hat einen starken Nachhall. Herr Bundesbankpräsident, Ihnen bin ich dankbar, daß gerade Sie es übernommen haben, den Einführungsvortrag zum 6. Alfred Müller-Armack-Symposion zu übernehmen. Als wir vor einem Jahr das Thema — „Eine stabile Währung als Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft" - festlegten, wußten wir beide nicht, daß ein so konventionell formuliertes Thema dermaßen brandaktuell sein würde. Lieber Herr Tietmeyer, nur wenige Stationen aus Ihrem reichen Lebenslauf möchte ich Revue passieren lassen. Sie haben in Münster, Bonn und Köln Volkswirtschaftslehre studiert und in Köln promoviert. Ich weiß, daß Sie sich selbst zu den Schülern Müller-Armacks zählen. Sie sind dann ins Bundeswirtschaftsministerium gewechselt und haben 1970/71 maßgeblich den Werner-Bericht erarbeitet, der - in drei Stufen — die Schaffung einer Währungsunion vorsah. Dieser Drei-Stufen-Plan ist seinerzeit gescheitert - u.a. deshalb, weil die damaligen EGMitgliedstaaten nicht bereit waren, die damit verbundenen politischen Konsequenzen zu tragen. Sie haben als Leiter der berühmten Grundsatzabteilung im Bundeswirtschaftsministerium im Jahre 1982 das Lambsdorff-Papier mitformuliert, das — gewissermaßen — als Lackmustest das Ende der SPD-FDP-Koalition besiegelte. Sie sind — 1982 — als Staatssekretär in das Bundesfinanzministerium gewechselt. Sie waren hier u.a. sogenannter Sherpa für Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel bei der Vorbereitung der WeltwirtschaftsgipfeL Wir erinnern uns: Im Himalaya schleppen die Sherpas das Gepäck in die jeweiligen Basislager. Von berühmten Sherpas berichtet man, daß sie bisweilen auch die Hauptdarsteller - also die Bergsteiger und Gipfelteilnehmer — nach oben geschleppt haben. Das trifft in Ihrem Fall natürlich nur im übertragenen Sinne zu. Sie sind im Jahre 1989 in das Direktorium der Bundesbank gewechselt - als Vizepräsident, später als Präsident. In dieser Zeit waren Sie maßgeblich an der deutsch-deutschen Währungsunion und der Abfassung des deutschen Einigungsvertrages beteiligt. Auch an der Entstehung des Maastricht-Vertrages haben Sie Anteil. Insbesondere der Bundesbank ist es zu verdanken, daß das Statut des Maastricht-Vertrages nach dem Vorbilde der Deutschen Bundesbank geformt

Begrüßung

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wurde. Sie haben als maßgeblich Verantwortlicher dafür gesorgt, daß die Bundesbank bei schweren europäischen Wettern Kurs halten konnte. Nun geben Sie das Ruder an die Europäische Zentralbank ab. Sie soll die Rolle übernehmen, die die Bundesbank in ihrer Funktion als Ankerwährung gespielt hatte. Sie selbst haben alles Erdenkliche getan, damit dieser Schritt ins Ungewisse, dieses in der Geschichte unvergleichliche Unterfangen, zu einem guten Ende führen möge. Lieber Herr Tietmeyer, wer Sie genauer kennt, weiß, daß Sie prinzipientreu, aber nicht dogmatisch sind. Die Marktteilnehmer wußten immer, daß auf Sie und die Bundesbank Verlaß ist und daß Sie die Fahne der Unabhängigkeit und der Geldwertstabilität immer hochhalten würden. Ihre Einstellung ist in den internationalen Sprachschatz als „Prinzip Tietmeyer" — französisch „principe Tietmeyer" eingegangen, bewundert von vielen, gefürchtet von wenigen, von allen respektiert. Herr Bundesbankpräsident, Sie haben das Wort.

Soll und Haben - 5 0 Jahre Soziale Marktwirtschaft Hrsg. von Knut Wolfgang Nörr und Joachim Starbatty Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Eine stabile Währung als Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft Hans Tietmeyer,

Frankfurt

I. Die heutige Veranstaltung erinnert mich in doppelter Hinsicht an meine persönliche Vergangenheit Einerseits war ich in den vergangenen Jahrzehnten häufig interessierter Zuhörer bei den Veranstaltungen der „Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft". Neben gelegentlich neuen Erkenntnissen habe ich dabei vor allem auch ordnungspolitischen Zuspruch und Rückenstärkung erhalten. Andererseits erinnert die Widmung dieses Symposiums an einen meiner großen akademischen Lehrer, der für mich auch Vorgänger in einigen meiner späteren Ämter war. In den fünfziger Jahren habe ich nicht nur Vorlesungen bei Alfred Müller-Armack gehört und seine oft sehr praxisorientierten Seminare besucht, in denen er nicht selten auch über den Stand der Verhandlungen auf europäischer Ebene berichtete. Bei ihm schrieb ich auch meine Diplomarbeit über den „Ordo-Begriff in der katholischen Soziallehre", und zwar im Vergleich zum neoliberalen Ordo-Begriff. Und es war für mich schon etwas Besonderes, daß ich von 1973 bis 1982 im Bundesministerium für Wirtschaft die Grundsatzabteilung I „Wirtschaftspolitik" leiten durfte, jene Abteilung, die in den fünfziger Jahren von Müller-Armack geleitet und geprägt wurde und deren Wertschätzung ja auch in den letzten Wochen wieder deutlich wurde. Auch auf europäischer Ebene durfte ich später in die Fußstapfen von Müller-Armack treten, und zwar als Vorsitzender des EG-Ausschusses für Wirtschaftspolitik in den siebziger Jahren. Er war es ja, der diesen Ausschuß 1960 unter dem ursprünglichen Namen „Ausschuß für Konjunkturpolitik" durchgesetzt hatte und zunächst auch seine Leitung übernahm. II. Die Währungsreform von 1948 zusammen mit der weitgehenden Freigabe der Preise durch Ludwig Erhard wird zu Recht als die tatsächliche Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft im Nachkriegsdeutschland bezeichnet. Zwar gab es das Konzept in wesentlichen Teilen schon früher. Aber die Realisierung begann 1948.

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Hans Tietmeyer

Wilhelm Röpke hat dies so beschrieben: „So kam der wirklich entscheidende Schlag im Sommer 1948, als Ludwig Erhard mit seiner Gruppe den hier völlig unverschleierten und vollkommenen Bankrott des inflationären Kollektivismus — der „zurückgestauten Inflation" — mit der entschlossenen Rückkehr zur Marktwirtschaft und zur monetären Disziplin beantwortete und dabei takdos genug war, einen alle Erwartungen übersteigenden Erfolg zu erringen." Soziale Marktwirtschaft, hohe Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und Stabilität der D-Mark, so lautete der fruchtbare ökonomische Dreiklangin Deutschland, der das, was man später o f t Wirtschaftswunder nannte, möglich machte. Allerdings, mit dem Umsetzen der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft in die reale Wirtschaftspolitik hat es häufig gehapert Schon Erhard mußte so manchen Kompromiß eingehen. Er wußte jedoch noch, ob und in welchem Maße die Wirtschaftspolitik einen ordnungspolitischen Sündenfall beging. Seither hat leider auch das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in der öffentlichen Diskussion vielfach an Klarheit und Schärfe verloren. Teilweise ist das Wort von der Sozialen Marktwirtschaft leider zu einer Leerformel verkommen. Nicht selten gab und gibt es auch Fehlinterpretationen. Ein Rückbesinnen auf die Prinzipien und ordnungspolitischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft ist deswegen in der Welt von heute und morgen zweifellos wichtiger denn je. Denn angesichts des steigenden internationalen Wettbewerbs und der Globalisierung sowie angesichts der eindeutig zu hohen Arbeitslosigkeit und eines überforderten Wohlfahrtsstaates stellt sich die Frage nach der vernünftigen Balance zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Kohäsion heute besonders prägnant Müller-Armack hat den Sinn der Sozialen Marktwirtschaft einst in die berühmte Formel gegossen, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden." Diese irenische Formel, die Verbindung von marktwirtschaftlicher Freiheit und sozialem Ausgleich, bleibt auch nach funfzigjahren hochaktuell. Sie ist allerdings oft — bewußt oder unbewußt — auch mißverstanden worden. Fälschlicherweise werden nicht selten die „Marktwirtschaft" und das „Soziale" auch heute noch als etwas Getrenntes oder Gegensätzliches, nicht als ein ineinander Verwobenes gesehen. Für manchen erscheint soziale Gerechtigkeit nur außerhalb des Marktes oder durch Einschränken des Wettbewerbs — sei es durch nationale Gesetzgebung oder internationale Kooperation — erreichbar. Als ob Markt und Wettbewerb nicht auch schon selbst soziale Funktionen erfüllten wie z.B. Sicherung der Freiheit, Ermöglichung von Eigeninitiative und Eigenverantwortung sowie Machtbegrenzung, von der effizienten Faktorallokation ganz zu schweigen. Die Einschätzung, daß sozialer Fortschritt nur außerhalb des Marktes erreichbar sei, hat unter anderen auch der diesjährige Nobelpreisträger für Ökonomie, Amartya Sen, in seinen wohlfahrtstheoretischen Arbeiten widerlegt. Sen hat insbesondere für die ärmeren Länder gezeigt, daß soziale Entwicklung und funktionierende Märkte sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen

Eine stabile Währung als Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft

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und verstärken. Dies ist ja auch die Erfahrung, die wir in Deutschland in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Krieg mit der Sozialen Marktwirtschaft gemacht haben. Erstens können soziale Ziele zum großen Teil gerade durch die freiheitsschützenden und Wohlstands fördernden Funktionen des Marktes und des Wettbewerbs erreicht werden. Denn sie halten am besten wirtschaftliche Macht in Schach, ermöglichen sozialen Aufstieg durch eigene Leistung und sichern die ökonomischen Grundlagen für notwendige soziale Korrekturen. Zweitens können, ja müssen in der Sozialen Marktwirtschaft Maßnahmen der sozialen Sicherung und Ergänzung so angelegt sein, daß sie die Funktionen des Marktes nicht außer Kraft setzen, sondern sie im Gegenteil soweit wie möglich stärken. Die zentrale Bedeutung des Wettbewerbs im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zielt dabei keinesfalls auf eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche oder gar auf einen „Kapitalismus pur". Im Gegenteil, die Väter der Sozialen Marktwirtschaft haben sich entschieden gegen eine Reduktion der menschlichen Existenz auf das Ökonomische gewandt. Die Soziale Marktwirtschaft als ein Grundkonzept für die Wirtschafts- und Sozialordnung steht vielmehr auch in der Tradition der christlichen Sozialethik, die persönliche Freiheit und Verantwortung, Subsidiarität und Solidarität als zentrale Prinzipien kennt. Ich erinnere nur an die Arbeiten von Röpke, Rüstow oder auch vom späteren Kölner Kardinal Joseph Höffner. Und ich mache aufmerksam auf das Memorandum „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit", das vor wenigen Tagen eine von der Deutschen Bischofskonferenz eingesetzte Expertengruppe vorgelegt hat Die dort ausgearbeiteten neun Gebote geben wertvolle Orientierung für eine Politik, die entschlossen auf den Abbau der Arbeitslosigkeit zielt. Und entschlossenes Handeln für mehr Beschäftigung ist notwendiger denn je. Denn die eindeutig zu hohe Arbeitslosigkeit ist das drängendste wirtschaftspolitische Problem. Im Mittelpunkt der Sozialen Marktwirtschaft steht der mündige und eigenverantwortliche Bürger. Er ist als tätiges Subjekt primär verantwortlich für seine Lebensgestaltung und Zukunftssicherung. Aufgabe des Staates ist es, dafür geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Oder, wie es Oswald von Nell-Breuning einmal ausgedrückt hat: „Hilfreich ist der Beistand, der die Selbstentfaltung fördert; schädlich ist, der sie beeinträchtigt, hindert oder stört." Um die konkrete Ausgestaltung dieser Rahmenbedingungen muß allerdings immer wieder neu gerungen werden. Müller-Armack selbst betonte, daß die Soziale Marktwirtschaft ein „der Ausgestaltung harrender progressiver Stilgedanke" ist. Sie ist insoweit ein offenes System, offen für neue Entwicklungen in der Wirtschaft selbst und auch offen für Veränderungen in den Präferenzen. Soziale Marktwirtschaft bedarf also der ständigen Weiterentwicklung und des Anpassens an geänderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Realitäten. Aber natürlich: Weiterentwickeln der Sozialen Marktwirtschaft meint nicht, an ihren konstitutiven Eckpfeilern und

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Hans Tietmeyer

Prinzipien zu sägen. Dies gilt in besonderer Weise auch für die Sicherung der Geldwertstabilität. Sie kann und darf nicht je nach den politischen Opportunitäten zur Disposition gestellt werden. Ludwig Erhard hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Die Soziale Marktwirtschaft ist ohne eine konsequente Politik der Preisstabilität nicht denkbar." Nur auf der Basis eines anhaltend stabilen Geldes wächst nämlich Vertrauen in die Geldordnung, lassen sich täglich und millionenfach auf den Güter-, Faktor- und Finanzmärkten effiziente Tauschvorgänge organisieren und langfristig tragfähige Wirtschaftsbeziehungen begründen. Das fördert zugleich Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Und hiervon profitieren letztlich alle, denn Preisstabilität ist ein öffentliches Gut, von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen ist. Das Vertrauenskapital, das Inländer wie Ausländer einer stabilen Währung entgegenbringen, ist zugleich ein beträchtliches soziales Vermögen mit einer hohen gesamtwirtschaftlichen Rendite. Günstige Zinsen, eine Verstetigung der Wirtschaftsentwicklung und mehr Planungssicherheit zahlen sich allemal aus - einzelwirtschaftlich wie gesamtwirtschaftlich. Dauerhaft wertbeständiges Geld ist aus diesem Grund ordnungspolitische Aüokations- und Sozialpolitik in einem. Es leistet in dieser doppelten Funktion einen wichtigen Beitrag zur Förderung von sozialem Frieden und Wohlstand. Davon zeugen auch die Erfahrungen, die wir in (West-)Deutschland in den letzten fünfzig Jahren mit der D-Mark gemacht haben.

III. Die Soziale Marktwirtschaft als ein umfassender Gesellschaftsentwurf beinhaltet auch ein entsprechendes Verständnis von der Rolle des Staates. Der Staat der Sozialen Marktwirtschaft ist ein starker Staat; ein Staat, der sich partikularen Interessen verweigert und statt dessen ein Anwalt der Interessen der Gesamtheit ist, und zwar der längerfristigen; ein Staat, der Regeln setzt, die für alle gleichermaßen gelten. Dieser in seinen Funktionen starke Staat erfordert zugleich eine möglichst strikte Trennung vom privaten Bereich. Und er muß sich selbst in seinen ihm zufallenden Funktionen begrenzen. Er hat stets zu prüfen, ob er im Sinne der Subsidiarität Kompetenzen an Ebenen durchreichen kann, die näher an den Problemen sind. Und er hat auch zu prüfen, ob es effizienter sein kann, eine staatliche Aufgabe an eigenständige, ja unabhängige Institutionen zu delegieren. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Delegation der staatlichen Aufgabe, für ein dauerhaft stabiles Geld zu sorgen, an eine von der Tagespolitik unabhängige Zentralbank. Natürlich ist auch das Geld, das in der Obhut einer unabhängigen Zentralbank liegt, nicht apolitisch. Geldwertstabilität ist und bleibt ein wichtiges politisches Ziel, nicht zuletzt weil von Inflation beträchtliche Verteilungswirkungen ausgehen. Sie trifft nämlich insbesondere die Schwächeren und die Uninformierten. Die Delegation der Geldpolitik an eine unabhängige Zentralbank zielt daher nicht

Eine stabile Währung als Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft

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auf ein apolitisches Geld, sondern auf ein entpolitisiertes Geld, mit dem das Ziel der dauerhaften Geldwertstabilität von tagespolitischen Opportunitäten weitgehend abgetrennt werden soll. Um zu delegieren, muß der Staat allerdings einen eindeutigen Auftrag an die unabhängige Zentralbank formulieren. Der Staat kann kein Bündel gleichrangiger Ziele vorgeben. Denn eine unabhängige Institution, die nicht unmittelbar aus demokratischen Wahlen hervorgeht, hätte kein Mandat für ein politisches Werturteil, das zwischen diversen gleichrangigen Zielen abwägt und eigenständig Prioritäten setzt. Dann würde sie in der Tat leicht zu einem Staat im Staate werden. Die den einschlägigen Formulierungen des Bundesbankgesetzes folgenden, aber im einzelnen noch präziseren Formulierungen des Maastricht-Vertrages zum Auftrag der Europäischen Zentralbank sind daher so richtig. Dort heißt es in Artikel 105: „Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft..." Beide Sätze sind konsequent und logisch. Die Preisstabilität als vorrangige Aufgabe entspricht der ökonomischen Einsicht, daß Geldpolitik einen starken Einfluß auf den Geldwert hat. Und es entspricht der Notwendigkeit, daß eine unabhängige Institution ein vorrangiges Ziel braucht. Und auch der Auftrag zur Unterstützung der Wirtschaftspolitik, soweit das vorrangige Ziel nicht beeinträchtigt wird, ist vernünftig. Natürlich steht die Geldpolitik immer auch in einem gesamtwirtschaftlichen Kontext. Genauso wie die Geldpolitik einen stabilen Geldwert auf Dauer nicht ohne Zutun der anderen Politikbereiche sichern kann, ist umgekehrt das Erreichen anderer wirtschaftspolitischer Ziele selbstverständlich nicht völlig losgelöst von den monetären Bedingungen. Und zu einem geeigneten Policy-mix in einem Land oder einem Währungsgebiet gehört natürlich auch eine angemessene Geldpolitik. Niemand muß befürchten, daß die Geldpolitik in Europa blind sei gegenüber Spielräumen, die beispielsweise eine sparsame Fiskalpolitik und eine moderate Lohnpolitik eröffnen. Freilich, bei alledem gilt: Dauerhaft stabiles Geld ist zumindest mittel- und längerfristig der beste Beitrag der Geldpolitik, um auch anderer Ziele wie Beschäftigung, Wachstum und möglichst stabile Wechselkurse zu fördern. Mag sein, daß diese Feststellung keinen Preis für akademische Originalität gewinnt Aber so ist das in der Realität. Und zur Realität gehört auch die Erfahrung, daß dauerhaft stabiles Geld eher von einer politisch unabhängigen Zentralbank gewährleistet werden kann als von einer Zentralbank, die de jure oder de facto im Einflußbereich der Tagespolitik steht. Jedenfalls haben die Väter des Maastricht-Vertrages auf diese Erfahrung gesetzt, als sie den Artikel 107 formulierten. Darin heißt es: „Bei der Wahrnehmung der ihnen übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlußorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitglied-

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Hans Tietmeyer

oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlußorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen." Diese Weisungsunabhängigkeit und das Verbot der Einflußnahme bedeuten natürlich nicht, daß die EZB sich nicht der Diskussion zu stellen hat Diskussionsbereitschaft und Berichterstattung gegenüber der Öffentlichkeit und auch gegenüber politischen Instanzen können sehr wohl nützlich, ja notwendig sein, solange damit nicht politischer Druck oder indirekte Einflußnahme verbunden werden. Die heutige geldpolitische Situation bei uns ist im wesentlichen durch drei Elemente gekennzeichnet: Erstens: In Deutschland ist das Ziel der Preisstabilität heute erreicht. Und es zeichnen sich in Deutschland und in den größten Teilen des Eurolandes - wenn auch nicht überall — derzeit erfreulicherweise keine unmittelbaren Gefahren für den Geldwert ab. Dies eröffnet enorme Chancen. Die derzeitige Phase der Niedrigzinsen - und zwar sowohl nominal als auch real noch immer deutlich niedriger als in der angelsächsischen Welt — könnte grundsätzlich durchaus für längere Zeit anhalten. Voraussetzung dafür ist allerdings eine entsprechende Politik auch auf der anderen Seite des Policy-mix. Im übrigen ist es weitaus leichter und auch ökonomischer, eine erreichte Geldwertstabilität zu bewahren und ein vorhandenes Stabilitätsvertrauen der Anleger zu erfüllen, als eine einmal verlorengegangene Stabilität und ein beschädigtes Vertrauen wiederherzustellen. Zweitens: Die konjunkturellen Aussichten im künftigen Euroland haben sich im Hinblick auf die Welthandelsperspektiven zuletzt zwar verschlechtert; sie sind gleichwohl alles in allem noch immer positiv. Allerdings, es ist richtig: Die Gefahren von draußen haben eindeutig zugenommen. Die Weltwirtschaft ist zwar nicht als Ganzes in der Krise, aber doch eine Reihe wichtiger Regionen. Und die Finanzmärkte sind ohne Frage anfälliger geworden. Wir — sowohl in der Bundesbank als auch in unseren Partnernotenbanken - sehen das sehr genau, und wir beobachten sorgfältig, wie sich das weiterentwickelt. Wir wissen, daß wir nicht auf einer Insel leben. Ob die derzeitige leichte Entspannung anhält, bleibt noch abzuwarten. Und drittens: Bezogen auf den Durchschnitt der Notenbankzinsen im gesamten Euroland befinden wir uns heute mitten in einer Zinssenkungsphase. Man darf ja wenige Wochen vor dem Start der Währungsunion - nicht nur auf die deutschen Zinsen starren. Schon jetzt leben wir de facto weitgehend in einer Währungsunion. Wie weit dieser Prozeß gehen wird, das hängt von den weiteren Entwicklungen und ihrer Einschätzung ab. Wir beraten darüber regelmäßig sowohl im europäischen als auch im deutschen Zentralbankrat. Sicherlich prägt die sogenannte Zinskonvergenz heute die Geldpolitik im künftigen Euroland. Paralysiert ist die deutsche und europäische Geldpolitik deswegen aber nicht Wenn entschieden Staaten

Eine stabile Währung als Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft

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werden muß, so geschieht das auch; und zwar in Eigenverantwortung der Geldpolitik sowie mit der gebotenen Souveränität, um eine als sachlich richtig erachtete Entscheidung zu treffen — dies gilt selbst dann, wenn sie mit öffentlichen Ratschlägen übereinstimmt. Ökonomen werden allerdings über das angemessene Zinsniveau diskutieren und streiten, solange es Zinsen (und Ökonomen) gibt. Die Debatte über die richtige Geldpolitik ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Die Bundesbank und die Europäische Zentralbank sind an einer sachorientierten Diskussion interessiert. Wo kein Tabu ist, kann auch keines gebrochen werden. Im Dialog mit den politischen Instanzen spricht dabei — nicht zuletzt im Hinblick auf die Nervosität an den Finanzmärkten — manches vor allem für eine intensive Diskussion im Forum internum. So wie wir im Zentralbankrat auch heute mit dem Bundesminister für Finanzen und seinem zuständigen Staatssekretär einen offenen und argumentativen Meinungsaustausch geführt haben. Darüber hinaus ist aber natürlich auch eine Diskussion in der Öffentlichkeit legitim - und bisweilen sogar nützlich. Zwei bescheidene Wünsche für die öffentliche Diskussion möchte ich jedoch anmelden. Erstens: Die Diskussion sollte auf dem Boden des geltenden Rechts stattfinden und jede diesbezügliche Fehlinterpretation von vornherein möglichst vermeiden, nicht nur aus legalistischen Gründen. Denn das, was im MaastrichtVertrag verankert ist: etwa die Unabhängigkeit der EZB, ihr vorrangiges Ziel der Preisstabilität und die Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite, das ist ja nicht durch Pech oder Unglück in den Vertrag hineingekommen. Es ist die Quintessenz aus der europäischen Währungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, in der ja die D-Mark eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat. Daß der Vertrag in diesen Kernpunkten vernünftige Antworten enthält, war doch wohl auch der Grund für die breite Zustimmung in Bundestag und Bundesrat — zumindest habe ich das bisher immer so verstanden. Und zweitens: So richtig der Hinweis ist, daß die Geldpolitik über das Ziel der Geldwertstabilität hinaus natürlich auch auf andere gesamtwirtschaftliche Größen einwirkt; Geldpolitik hat auch Grenzen. Stabiles Geld bei niedrigen Zinsen kann eine vernünftige Finanz-, Steuer-, Sozialund Wirtschaftspolitik unterstützen. Aber sie kann notwendige Entscheidungen auf diesen Feldern nicht ersetzen. Wim Duisenberg hat zu Recht vorgestern im Anschluß an die Sitzung des EZB-Rats daran erinnert: „Wie sich in der Vergangenheit vielfach gezeigt hat, kann die Geldpolitik strukturelle Probleme nicht lösen." Geldpolitik ist kein Substitut für strukturelle Anpassungen. Und präventive Schuldzuweisungen an die Adresse der Notenbanken sind es auch nicht. IV. Über die Stabilität unserer Währung wird in der Währungsunion künftig auf europäischer Ebene entschieden. Mit dem Ende dieses Jahres geht die geldpolitische

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Verantwortung endgültig von den nationalen Zentralbanken der Teilnehmerländer auf den Europäischen Zentralbankrat über. Die D-Mark wird dann Teil des Euro. Seit seiner Konstituierung im Juni hat der Europäische Zentralbankrat bereits eine Vielzahl von wichtigen Entscheidungen getroffen — zuletzt wieder vor zwei Tagen. Weitgehend festgelegt ist das Instrumentarium, mit dem das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) arbeiten wird. Das gilt inzwischen auch für die meisten Details. Die tragende Säule der Refinanzierung wird das auf nationaler Ebene bewährte Repo-Geschäft sein, und zwar als kurzlaufendes Zwei-Wochenbzw. als längerlaufendes Drei-Monats-Geschäft. Der Zinssatz für diese Hauptrefinanzierungsquelle wird innerhalb eines Korridors liegen, dessen obere und untere Grenzen die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungs- und die Einlagenfazilität markieren. Damit kann die Geldpolitik eine weitgehend stetige Entwicklung des Geldmarktes fördern, so daß sie wohl nur relativ selten Feinsteuerungsinstrumente wird einsetzen müssen. Auch die beschlossene verzinsliche Mindestreserve wird im Geldmarkt als Puffer wirken. Sie kann größere Schwankungen im Liquiditätsbedarf der Banken ohne größere Notenbankinterventionen weitgehend abfedern. Festgelegt ist auch die künftige geldpolitische Strategie, die aus zwei Hauptelementen bestehen wird. Erstens wird die Geldmenge eine herausragende Rolle spielen. Dies wird in der Ankündigung eines quantitativen Referenzwertes für das Wachstum eines breiten Geldmengenaggregats zum Ausdruck kommen. Diesen wird der EZB-Rat im Dezember bekanntgeben. Zweitens erfolgt auf breiter Basis auch eine Beurteilung der Aussichten für die Preisentwicklung und der Risiken für die Preisstabilität anhand eines breiten Spektrums wirtschaftlicher und finanzieller Indikatoren. Diese Strategie unterstreicht das eindeutige Ausrichten des EZB-Rats an seinem vorrangigen Ziel, der Sicherung der Preisstabilität. Sie fördert außerdem die Transparenz der Entscheidungsfindung für die kritische Öffentlichkeit. Insgesamt schreiten die institutionellen und technischen Vorbereitungen gut voran. Das ESZB wird zum 1.1.1999 ohne Zweifel voll handlungsfähig sein. Erfreulicherweise gibt es im EZB-Rat auch eine weitgehende Übereinstimmung in der stabilitätspolitischen Grundorientierung. Das hat sich auch in der letzten Sitzung wieder gezeigt. Bisher haben auch die Märkte positiv reagiert. Von den Unsicherheiten an den internationalen Finanzmärkten blieben die Währungen des Euroraums jedenfalls weitgehend verschont. Auch scheinen die Märkte die vereinbarten bilateralen Wechselkurse weitgehend für glaubwürdig zu halten. Zugleich bringen sie wohl auch der künftigen Stabilitätspolitik Vertrauen entgegen. Jedenfalls sind die langfristigen Zinsen im Euroraum bislang weitgehend stabil. Und sie befinden sich sowohl in nominaler als auch in realer Betrachtung auf historischem Niedrigniveau. Aber natürlich bleibt gerade für die dauerhafte Stabilität des Euro noch viel zu tun, von dem dringend notwendigen Abbau der Arbeitslosigkeit bei uns und einigen anderen Euro-Ländern ganz zu schweigen.

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Bewährungsproben wird es gewiß in Zukunft noch manche geben. Auch weil die Europäische Währungsunion unter historischer Perspektive ein Novum ist. Auf der einen Seite haben wir im Euroraum nämlich eine gemeinsame supranationale Geldpolitik. Wir werden also gleiche monetäre Bedingungen und weitgehend gleiche Zinsen in allen Teilnehmerländern haben. Auf der anderen Seite aber stehen elf — und in wenigen Jahren wahrscheinlich noch mehr - weiterhin weitgehend souveräne Nationalstaaten mit bisher unterschiedlichen Ordnungs- und Sozialsystemen, mit verschiedenen Rechts- und Steuersystemen. Die hieraus resultierenden Konfliktpotentiale dürfen nicht unterschätzt werden. Schließlich können Konflikte dann nicht nur zwischen der Geldpolitik und den anderen Politikbereichen entstehen, sondern auch zwischen den beteiligten Staaten. Angesichts dieser asymmetrischen Konstruktion ist es wichtig, daß es neben der notwendigen internen Flexibilität der beteiligten Volkswirtschaften auch eine hinreichend gemeinsame Grundorientierung der Politik der Teilnehmerstaaten gibt. Mit dem Euro werden sich die Bedingungen in Europa nämlich erheblich wandeln: interne Wechselkurse entfallen, alle Teilnehmerländer müssen sich mit dem gemeinsamen Zinsniveau arrangieren, Wechselkurs und Geldpolitik entfallen als nationale Politikoption, und der Wettbewerb wird zweifellos härter, für die Unternehmen wie für die nationale Politik. Zwar kann ein stabiler Euro die Perspektiven für Wachstum und Beschäftigung deutlich verbessern. Doch dafür muß die nationale Politik den Boden bereiten. Dringend nötig ist in einer Reihe von Ländern - nicht zuletzt auch in Deutschland — eine größere interne Flexibilität auf den nationalen Güterund Arbeitsmärkten. Im Euroraum fehlen nämlich grenzübergreifende automatische Ausgleichsmechanismen, die — wie bisher in den einzelnen Nationalstaaten — regionale Unterschiede bei Konjunktur, Wachstum und Beschäftigung abfedern könnten. Und auch die in den USA immer wieder zu registrierende Mobilität der Arbeitskräfte dürfte sich in Europa kaum im gleichen Maße ergeben. Jedes teilnehmende Land muß diese neuen und verschärften Herausforderungen bewußt annehmen und seine nationalen Strukturprobleme im Bereich der öffentlichen Finanzen einschließlich der Sozialversicherungssysteme lösen, die Eigeninitiative der Wirtschaft erleichtern sowie Flexibilität und Mobilität am Arbeitsmarkt stärken. V. Der Euro ist ohne Zweifel das Ergebnis des langjährigen Bemühens um eine gemeinsame europäische Währungspolitik. Schon 1970 hatte die sogenannte Werner-Gruppe einen mutigen Plan für eine in drei Etappen zu errichtende Währungsgemeinschaft vorgelegt. Er sah allerdings vor, die Funktionen einer gemeinsamen Währungspolitik parallel mit den darüber wachenden geld- und wirtschaftspolitischen Institutionen auf die Gemeinschaft zu übertragen. Dieses Konzept

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fand damals jedoch keine politische Zustimmung. Alfred Müller-Armacks damalige Beurteilung des Werner-Plans ist auch heute noch interessant Er schrieb: „Die Sicherung der europäischen WährungsStabilität muß realistisch aus dem Zusammenschluß der [damals] sechs EWG-Staaten als Kern einer europäischen Stabilitätsgemeinschaft hervorgehen." Diese Position mag ein zeitbezogenes Element in sich haben. Europa ist heute keine Sechser-Gemeinschaft mehr, und die politische Vorstellung vom Einigungsprozeß ist heute möglicherweise stärker vom Gedanken der Subsidiarität geprägt, als es damals der Fall war. Dennoch ist MüllerArmacks Grundposition auch im Euro-Zeitalter relevant. Denn eine Währungsunion - auch nach dem Bauplan des Maastricht-Vertrages - ist mehr als nur ein währungstechnischer Verbund. Sie ist eine weitgehende Risikogemeinschaft, die — bei aller notwendigen Gestaltung nach dem Prinzip der Subsidiarität — auf Dauer wohl auch eine weitergehende politische Bindung erfordert. Darauf habe ich oft hingewiesen. Insofern fühle ich mich auch heute noch in der Tradition von MüllerArmack. Der Euro darf nicht der Endpunkt der europäischen Integration sein. Er weist in die Zukunft. Und alle Beteiligten haben die Verantwortung, das Notwendige zu tun, damit der Euro die in ihn gesetzten Erwartungen und Hoffnungen erfüllen kann.

Soll und Haben - 5 0 Jahre Soziale Marktwirtschaft Hrsg. von Knut Wolfgang Nörr und Joachim Starbatty Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Dank und Aufgaben der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft Jan Hegner, Tübingen Meine sehr verehrten Damen, sehr verehrter Herr Präsident, sehr geehrte Herren, nach dem offiziellen Auftakt mit dem Vortrag von Herrn Bundesbankpräsident Professor Tietmeyer im Festsaal der Universität Tübingen möchte ich Sie nun zum Empfang im Kleinen Senat herzlich begrüßen. Wir haben gerade in eindringlicher Weise gehört, wie wichtig es ist, wachsam und wehrhaft zu sein. Herr Präsident Tietmeyer hat am Beispiel der Geldpolitik deutlich gemacht, wie sehr deren Stabilitätsorientierung eine notwendige Bedingung für Wohlstand und Wachstum darstellt Dabei bieten die deutschen Erfahrungen zweier Währungsschnitte, einer Phase geldpolitischer Turbulenzen im Zuge der beiden Erdölpreisexplosionen in den 70er Jahren und einer aber ansonsten — insbesondere in der jüngsten Vergangenheit — werterhaltenden Geldpolitik reichlich Anschauungsmaterial, um diese notwendige Bedingung zu belegen. Am Vorabend der Europäischen Währungsunion, deren institutionelle Führung bereits ersten Böen politischer Einflußnahme widerstanden hat, ist es besonders wichtig, auf die Notwendigkeit eines nicht politisierten Geldes hinzuweisen. 50 Jahre Erfahrungen mit der Sozialen Marktwirtschaft haben aber auch gezeigt, daß Wachsamkeit und Wehrhafügkeit nicht nur auf dem Feld der Geldpolitik nötig sind, sondern für die Soziale Marktwirtschaft in ihrer Gesamtheit. Leider läßt sich im Jubiläumsjahr nicht für alle Politikfelder ein ähnlich positives Resümee ziehen, wie es für die Geldpolitik möglich ist. Interessanterweise sind — etwa mit Blick auf den Arbeitsmarkt, das System der sozialen Sicherung oder die Landwirtschaft — die gegenwärtig dringendsten Probleme in solchen Bereichen entstanden, die dem wettbewerblichen Allokationsprozeß am meisten entzogen sind. Seit 1953 steht die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft als überparteiliche Vereinigung in dem Bemühen, wirtschaftspolitische Mißstände zu analysieren und Verbesserungsvorschläge aufzuzeigen. Mit unseren verschiedenen Veranstaltungsarten haben wir ein Instrumentarium entwickelt, das uns erlaubt, aus unabhängiger Warte gezielt und wo immer nötig auch reaktionsschnell den Finger auf eine ordnungspolitische Wunde zu legen. Den 50sten Jahrestag der Sozialen Marktwirtschaft wollen wir zum Anlaß nehmen, um mit dem 6. Alfred Müller-Armack-

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Symposion zunächst Rückschau zu halten und Fehlentwicklungen zu identifizieren. In einem zweiten Schritt werden wir dann sehen, unter welchen Bedingungen das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft auch in der Zukunft seiner Bedeutung als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gerecht wird. Dreh- und Angelpunkt in dieser Konzeption ist dabei immer wieder die Rolle, die dem Einzelnen in der Gemeinschaft zufällt. Nur wenige Persönlichkeiten können — wie Sie, Herr Präsident - an exponierter Stelle ihre ordnungspolitische Überzeugung vertreten. Das Gros der Bürger kann dies zwar nicht so exponiert, aber dennoch mit gleicher Überzeugung in dem jeweils eigenen Wirkungskreis. Dazu aber ist eine marktwirtschaftliche Überzeugung Voraussetzung. Im Rahmen der Müller-Armack-Symposien versammeln sich viele, die im Hinblick auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eine zumindest in den Grundfesten gleichgerichtete Überzeugung vertreten. Eine Reihe von Ihnen haben die Umstände und Protagonisten der ersten Stunde erlebt und erfahren, daß die Soziale Marktwirtschaft ein krisentaugliches Konzept ist. Da meine Generation diese Aufbauleistung nicht erlebt hat, ist es um so wichtiger, daß in einem Forum wie diesem die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft in einem zeitbezogenen Kontext definiert werden. Von ihren Vätern ist die Soziale Marktwirtschaft immer als ein dynamisches Konzept angesehen worden; jetzt gilt es, dieses als ein auch heute lebendiges besonders der nachwachsenden Generation zu vermitteln. Wie wichtig das ist, bestätigt eine Umfrage, die die ASM an 100 allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg durchgeführt hat. Als ein wesentliches Ergebnis laßt sich festhalten, daß den Schülern zwar viele ökonomische Begriffe geläufig sind, sie aber die Wirkungsketten, die die einzelnen Wirtschaftsbereiche miteinander verknüpfen, nicht ausreichend verstehen. Viele Schüler stehen dem Markt als Lenkungssystem skeptisch gegenüber und erwarten vom Staat die Lösung der anstehenden Probleme, eine Einstellung, die von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird. In dieser Erwartungshaltung kommt eine stetige Abkehr von dem Menschenbild des,mündigen Bürgers' zum Ausdruck, der den eigentlichen Mittelpunkt einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung darstellt. Die zunehmende Übertragung der Verantwortlichkeiten für die individuelle Daseinsgestaltung aus dem Bereich überschaubarer Regelkreise in die des Staates droht die Einsicht zu verdrängen, daß Freiheit und Eigenverantwortung als zwei Seiten der gleichen Medaille einander bedingen. Dies gilt in gleicher Weise für das Bewußtsein, daß eine sich auf Freiheit und Subsidiarität gründende Gesellschaftsordnung einen Anspruch auf kollektive Hilfeleistung für den Fall des individuellen Unvermögens grundsätzlich begründet; allerdings schließt dieser Anspruch gleichzeitig die (moralische) Verpflichtung ein, Hilfe nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn die eigene Leistungsfähigkeit tatsächlich ausgeschöpft und überschritten wurde. Die Auflösung dieses unabdingbaren Zusammenhangs hat zu einer Umverteilung geführt, die ein tragbares und ver-

Dank und Aufgaben der Aktionsgemeinschaft Soziale Markwirtschaft

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nünftiges Maß längst überschritten hat und über eine hohe Steuer- und Abgabenbelastung leistungshemmend wirkt. Paradoxerweise besteht eine gewisse Gefahr, für die gegenwärtigen Unzulänglichkeiten ausgerechnet den Neoliberalismus verantwortlich zu machen; dieser Entwicklung wollen wir entgegentreten und laden Sie herzlich ein, daran mitzuwirken. Wie das im persönlichen Umfeld eines jeden einzelnen aussehen mag, dazu bleibt — abseits der Vorträge — bei Wein und Brezeln hoffentlich genug Raum, zu diskutieren. In diesem Sinne möchten wir in den kommenden Tagen ein Forum bilden, in dem nicht nur deutlich wird, wie man Vieles anders, sondern dabei auch das Meiste besser machen kann. Bevor ich Sie nun bitten möchte, sich an unserem schwäbischen Büffet zu erfreuen, möchte ich Herrn Stühmer, unserem designierten Geschäftsführer, und seinen Mitarbeitern danken, daß sie in unermüdlicher Kleinarbeit das Symposion vorbereitet haben und dessen Ablauf sicherstellen werden.

II. Wendepunkt

Soll und Haben - 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft Hrsg. von Knut Wolfgang Nörr und Joachim Starbatty Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft als ein Wendepunkt der deutschen Geschichte Knut Wolfgang Nörr,

Tübingen

I.

Wenn nach dem bekannten Wort Rathenaus, eines der großen Industriemagnaten oder tycoons im ersten Viertel unseres Jahrhunderts, nicht mehr die Politik, sondern die Wirtschaft unser Schicksal ist, die Wirtschaft: also „die eigentlich daseinsbestimmende Macht"1 darstellt, dann tut man gut daran, in Hinblick auf grundlegende Weichenstellungen wirtschaftspolitischer und wirtschaftsordnungspolitischer Art2 von einem Wendepunkt, einem kritischen Anhalten in der Geschichte eines Volkes oder Staates zu sprechen. Ein solches Anhalten setzt voraus, daß man sich in einer Bewegung befunden, also einen Weg zurückgelegt hatte, den weiterzugehen man zögert und scheut, ja schließlich entschieden ablehnt, um dann neue Wege einzuschlagen. Die Historiker haben uns nun gelehrt, daß ein geschichtlicher Weg, der zurückgelegt worden war, nicht als Einheit betrachtet, sondern seinerseits in zeitliche Abschnitte zerlegt werden sollte, um die Bedeutung der Weichenstellung, um die es geht, schärfer in den Blick zu bekommen, also besser zu verstehen. In dieser Verfahrensweise soll im folgenden versucht werden, den Wendepunkt vom Jahr 1948, genauer vom Juni des Jahres 1948, aus einem zweifachen zeitlichen Blickwinkel, nämlich einem kürzeren und einem längeren in Bezug auf die Geschichte Deutschlands vor 1948 zu betrachten, also gewissermaßen einen kurzperiodischen und einen langperiodischen Maßstab zu benutzen. Der langperiodische Gesichtspunkt wird uns bis zurück in das BismarckWilhelminische Reich im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts führen, während 1 2

L. Gall, Historische Zeitschrift 263 (1996) S. 135. Zum Konzept der Wirtschaftsverfassung in diesem Zusammenhang vgl. Nörr, Im Wechselbad der Interpretationen: der Begriff der Wirtschaftsverfassung im ersten Jahrzwölft der Bonner Republik, in: Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste: Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, hg. von K Acham/K.W. Nörr/B. Schefold, 1998, S. 356.

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Knut Wolfgang Nörr

die kurzperiodische Betrachtung, der wir uns zuerst zuwenden, den Zeitraum nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ins Auge faßt. II. Bekanntlich wurde nach 1945 die Zwangswirtschaft der Kriegsjahre zunächst fortgesetzt. Doch jedermann rechnete damit, daß es sich um Übergangserscheinungen handelte und eines Tages eine auf normale Verhältnisse zugeschnittene Wirtschaftsordnung den Zustand beenden würde. Wie diese Wirtschaftsordnung auszusehen habe, begann man, sobald die ersten Publikationslizenzen durch die Besatzungsmächte erteilt wurden, lebhaft zu diskutieren. Hierbei kamen die Verfechter einer freien Marktwirtschaft zunächst kaum zu Wort; das Feld beherrschten vielmehr die alten kapitalismuskritischen Semantiken und Prophetien, die wieder aufgefrischt, an manchen Stellen aber auch neu justiert wurden. Die Diskussionen führte man in den soeben gegründeten politischen Parteien, im Kreise der Vertreter der Nationalökonomie und der im Absterben begriffenen Staatswissenschaft, in den Sozialwissenschaften und der politischen Publizistik; aber auch die inter- und transmediären Mächte meldeten sich zu Wort, also die Gewerkschaften, die Unternehmensverbände und die Kirchen. Alle diese Pläne und Blaupausen pflegte man in den westlichen Besatzungszonen zunächst ohne Rückversicherung bei den Militärregierungen zu erstellen; das änderte sich natürlich, sobald die Umsetzung in förmliche, auf Anordnung und Befolgung gerichtete Akte in Angriff zu nehmen war. Wenn wir von alten Prophetien sprachen, die aufgefrischt und nachgebessert wurden, dann hatten wir natürlich die Eigentumskonzeptionen und die wirtschaftlichen Ziel- und Ablaufvorstellungen im Auge, die in den (ihrerseits nicht eindeutigen) Begriffen der Sozialisierung und des Sozialismus zusammengefaßt wurden. Diese Vorstellungen stützten sich, wie nicht anders zu erwarten, auf die traditionellen Rechtfertigungen, wie sie bei Marx, bei seinem (unterschiedlichen) wissenschaftlichen Gefolge, aber auch in den marxistischen Parteiprogrammen zu finden waren; wir brauchen sie hier nicht zu wiederholen. Es sind aber auch neue Legitimationen hinzugekommen, von denen wir drei nennen wollen3. - Zum einen wurde das politische Mißlingen der Weimarer Republik zu einem entscheidenden Teil auf die nach 1918 ausgebliebene Sozialisierung zurück-

3

Vgl. statt aller den von W Weddigen edierten Sammelband: Untersuchungen zur sozialen Gestaltung der Wirtschaftsordnung, 1950. Dieser Band ist aus Überlegungen des Sozialpolitischen Ausschusses des 1948 in Marburg wiedererrichteten Vereins für Socialpolitik hervorgegangen. Hier fällt in den Beiträgen von G. Rittig (Theoretische

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geführt, die im großen Maßstab hätte erfolgen müssen; damit sich die Geschichte nicht wiederhole, wäre nun endlich die Sozialisierung durchzuführen. — Zweitens berief man sich auf die Weltwirtschaftskrise, das große Trauma, das in der Tat neben der Hyperinflation der zwanziger Jahre über die Generationen hinweg sich in das Gedächtnis der Nation eingedrückt hat, eine Krise, der das auf dem Freiheitsgedanken und auf den überkommenen Eigentumsverhältnissen beruhende Wirtschaftssystem nicht Herr geworden sei. Eine sozialistische Wirtschaftsordnung würde es zu Krisen solcher Dimension aber nicht kommen lassen. — Die dritte Rechtfertigung führt uns von den geschichtlichen Ereignissen weg in den Bereich wirtschaftswissenschaftlicher Anschauung. Auch hier konnte man zunächst an Lehrmeinungen der Zeit vor und nach 1918 anknüpfen, insbesondere an die morphologische Analyse des Spätkapitalismus, wie sie (freilich nur noch mit halbem Herzen dem Determinismus verpflichtet) von Werner Sombart vorgelegt worden war. Aber auch hier trat mit Joseph Schumpeter eine willkomene neue Autorität auf den Plan; bekanntlich hatte er die Unvermeidlichkeit, gleichgültig ob erwünscht oder nicht, des „Marschs in den Sozialismus" verkündet, wie der Titel des letzten Vortrags lautete, den Schumpeter gehalten hat4. Seine These fußte in erster Linie auf einer Analyse der Entwicklung des Unternehmertums in seiner unternehmerischen, volkswirtschaftlichen, politischen, zivilisatorischen Umwelt, und unter dem Gesichtspunkt des Überhandnehmens der diesem Unternehmertum feindlich gesinnten Kräfte. Die Feststellungen, die nicht prognostisch gemeint waren, aber wie Prognosen wirkten, nahm man mit Befriedigung auf. Allerdings blieb manchen Autoren das Sphinxartige, das den Schriften Schumpeters eigen war, nicht verborgen; in der

4

Grundlagen der Sozialisierung), W Weddigen (Zur Theorie der Wirtschaftslenkung und Sozialisierung) und teilweise auch H. Ritsehl (Die Prinzipien der Gemeinwirtschaft) das Vorherrschen von auf bemerkenswerte Weise unpräzisen und sozusagen weichgeschnittenen Darlegungen ins Auge; man spürt förmlich die Angst, sich ins analytische Detail zu begeben. Es handelt sich um die alte (und veraltete) historischgeisteswissenschaftliche Methodik, freilich eher zweiter oder dritter Qualität, oder um politische Programmatik mit kleineren wirtschaftstheoretischen Ornamenten. Von der großen „modelltheoretischen" Wende, wie sie dann auf der Bad Pyrmonter Tagung 1950 des Vereins für Socialpolitik nach dem Wetterleuchten auf der vorbereitenden Tagung im Herbst 1947 in Rothenburg ob der Tauber mit aller Deutlichkeit zutage getreten ist, kann man in den genannten Beiträgen nichts spüren. In deutscher Ubersetzung im Jahrbuch für Sozialwissenschaft 1 (1950) S. 101 erschienen. Unsere Autoren stützten sich auf die bekannte Monographie Schumpeters über Capitalism, Socialism, and Democracy von 1942, deren deutsche Übersetzung 1946 erschienen war.

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Knut Wolfgang Nörr Tat mögen wir uns fragen, ob er nicht den von ihm apostrophierten Marsch in den Sozialismus, wenn wir mit dem Titel seines Vortrags spielen dürfen, diesen Marsch also auf Hayeks Road to Serfdom vonstatten gehen sah.

Soweit die neuen Rechtfertigungen für das alte Ziel der sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft. Allerdings haben die geschichtlichen Ereignisse, auf die man zurückblickte, nicht nur neue Legitimationen hervorgebracht, sondern auch die Konzepte und Programme, auf welche Weise die Umgestaltung vorzunehmen sei, beeinflußt und gewissermaßen aufgelockert. Hier waren es hauptsächlich die Erfahrungen mit den totalitären Systemen, die ein Umdenken veranlaßten, dessen Richtung dahin ging, dem Gesichtspunkt der Freiheit größere Bedeutung, als es die älteren Dogmen getan hatten, zuzumessen. Daher wurde,um den genannten Gefahren Rechnung zu tragen und um sich und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß die sozialistische Vorstellungswelt wandlungsfähig sei, der Begriff des „Freiheitlichen Sozialismus" erfunden und programmatisch entwickelt5. Wenn in diesem Zusammenhang von Freiheit gesprochen wurde, so hatte das einen theoretischen und einen praktischen Bezug. Theoretisch war man sich der freiheitsfeindlichen oder zumindest freiheitsindifferenten Natur des geschichtsgesetzlichen Determinismus bewußt geworden; an seine Stelle habe die Setzung von Zielen und eine pragmatische Methodologie zu treten. Damit ist schon die praktisch-politische Seite des Freiheitskonzepts angesprochen. Zwang und Diktat hätten soweit als möglich zurückzutreten; die Setzung der Ziele und die in ihrem Dienste stehende Planung werde primär durch indirekte Lenkungsmethoden, die sogenannte Lenkung der leichten Hand, verwirklicht. Planung und Lenkung würden dann das einheitliche Element in der im übrigen pluralistisch und komplementär gestalteten Wirtschaftsordnung verkörpern; denn neben den sozialisierten Wirtschaftszweigen hätten privates Eigentum und privates Unternehmertum ihren Platz, und wo der Markt funktionierte, sollten sich die Lenkungsmittel mit ihm in Einklang befinden. An die alten Freunde einer rigorosen Sozialisierung gewandt, erinnerte der freiheitliche Sozialist daran, daß auch durch planmäßigen Einsatz der legislativen und administrativen Instrumente dem Privateigentum der Saft entzogen werden könnte. Die großen Ziele, die man verfolgt, die neue Welt, an der man zimmert, würden also nicht dadurch Schaden

5

Zunächst in verschiedenen Publikationen, parteioffiziell zum ersten Mal im Dortmunder Aktionsprogramm der SPD von 1952. - Schrifttum aus der Periode „vor" Karl Schiller etwa bei K. Nemitz, Sozialistische Marktwirtschaft: die wirtschaftsordnungspolitische Konzeption der deutschen Sozialdemokratie, 1960 (V. Agartz, A. Arndt, G. von Eynern, E. Heimann, E. Nölting, H.-D. Ortlieb, H. Peter, H. Ritsehl, Alfred Weber, G. Weisser).

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leiden, daß Reservate für das Privateigentum geschaffen und dem Marktgeschehen Freiräume bereitgehalten werden, Freiräume allerdings kleiner und kleinster Dimension und in ängstlich abgesteckten Bezirken. Dem Dogmatismus der Altvordern schwor der freiheitliche Sozialismus also ab, doch am Vertrauen auf das Plan- und Machbare hielt man fest, einem szientistischen Optimismus, wie wir das nennen könnten, huldigte man nach wie vor. Freilich erkannten die Besonnereren unter den Vertretern der alt-neuen Lehre, daß diesem Optimismus keine angemessene Theorie entsprach, daß der Vorsprung, den die liberale Wirtschaftstheorie hielt, nicht so leicht einzuholen wäre6. Dieses Theoriedefizit hatte aber auch seine politischen Vorteile, weil es Koalitionen mit wirtschaftspolitischen und wirtschaftsprogrammatischen Vorstellungen erlaubte, die womöglich noch unbestimmter, noch weniger theoriegereift als der freiheitliche Sozialismus waren; gemeint ist mit dem die Position der christlichen Parteien vor der Erhard'schen Weichenstellung, der Sozialismus aus christlicher Verantwortung, wie man sich mancherorts versicherte. Augenscheinlich wurzelten die Parteiprogramme auf allen Seiten, sowohl „links" als auch „rechts", in einem breiten Konsens über die Notwendigkeit eines Neubeginns, bei welchem Sozialismen irgendeiner Provenienz und irgendwelchen Inhalts nicht fehlen durften; für die Unionsparteien ist hier das Ahlener Programm der CDU von NordrheinWestfalen vom Februar 1947 am bekanntesten geworden. Den Koalitionen entsprangen die Landesverfassungen in den westlichen Zonen, die alle sozialistisches Gedankengut enthielten und Teilsozialisierungen vorsahen. Manche Länder und Stadtstaaten schickten sich an, das Verfassungsprogramm in die Tat umzusetzen, wobei man keineswegs nach einheitlichem Muster verfuhr; so hat beispielsweise das Land Hessen, wo die sozialistische Verwirklichung am weitesten fortgeschritten war, die eigentumspolitische Methode gewählt, wie sich aus dem einschlägigen Gesetzentwurf von 1948 ergibt, verbunden mit einer die Gewerkschaften favorisierenden Räteorganisation, verbunden übrigens auch mit einer bestimmten politischen Anthropologie, wonach das Bild des zu formenden „Gemeinwirtschaftsbürgers", wie man den neuen Menschen bezeichnen könnte, den bloß demokratischen Staatsbürger ablösen sollte7. III.

Aber viele Wege führen nach Rom und den Sozialismus in der Wirtschaft kann man auch auf andere Weise, zum Beispiel mit den Mitteln des Verwaltungsstaates 6

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So etwa H.-D. Ordieb, Der gegenwärtige Stand der Sozialisierungsdebatte in Deutschland, im oben Fn. 3 erwähnten Satnmelband, S. 278. Näheres bei Nörr, Ja, mach nur einen Plan ...: der hessische Entwurf eines Sozialisierungsgesetzes aus dem Jahr 1948, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 2 0 (1998) 71.

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erreichen8. Für diese Methode entschieden sich die SPD und die Gewerkschaften in der Britischen Zone; wir befinden uns hier gegenüber den Ländern auf dem nächsthöheren politischen Plateau. Mehrere Gründe gaben für die Entscheidung den Ausschlag. Wir nennen nur die zentralistisch-zonenunitarische Politik der britischen Besatzungsmacht in der Anfangsphase; ferner die Ungeeignetheit der eigentumspolitischen Methode in Hinblick auf den weitaus wichtigsten Industriebereich, das Rhein-Ruhrgebiet, wo natürlich ganz andere Dimensionen, und zwar solche der internationalen Politik, auf dem Spiel standen, so daß Sozialisierungspläne hier trotz mancher britischer Unterstützung geradezu hausbacken im wörtlichen wie im übertragenen Sinne wirken mußten. Nicht zu vergessen aber ist auch die Persönlichkeit eines Mannes, nämlich Viktor Agartz, der, noch halb dem Paläozoikum des Sozialismus angehörend, alle politisch-unitarischen und alle wirtschaft-zentralistischen Positionen seiner Partei in sich vereinigte und mit großer Willenskraft verfolgte. Wenn wir virtualiter einen Zweikampf zwischen den Protagonisten der Wirtschaftsordnung, die es für die Zukunft durchzusetzen galt, veranstalten ließen, dann wäre Agartz der Gegner Ludwig Erhards gewesen und hätte Agartz in diesem Duell den Kürzeren gezogen. Während das eigentumspolitische Modell in seiner hessischen Gestalt mehr oder weniger von selbst zerrann und versickerte, forderten sich das zentralistisch-bürokratische Wirtschaftsprinzip und das Marktwirtschaftsprinzip mit geschliffenen Klingen heraus, um die Entscheidung „im Ringen der Metaphysiken", wie einmal gesagt worden ist, herbeizuführen.Am Anfang stand der Entschluß der britischen Militärregierung, ein deutsches Beratungsgremium für wirtschaftliche Angelegenheiten in ihrer Zone einzurichten. Es wurde im Herbst 1945 gegründet und zu seinem Sitz die Stadt Minden bestimmt. Der Vorsitz des Gremiums wurde einem Unternehmer übertragen, aber das ständige Sekretariat befand sich seit Februar 1946 unter der Leitung von Agartz. Über die Bedeutung dieses Sekretariats war man sich von Anfang an im Klaren; es sollte so aufgebaut werden, daß aus ihm ein förmliches Wirtschaftsministerium hervorgehen könnte. Das Sekretariat verwandelte sich alsbald in das Zentralamt für Wirtschaft in der Britischen Zone. Sein behördlicher Aufbau war kaum beendet, als seitens der Amerikaner und Briten die ersten Weichen zum wirtschaftlichen Zusammenschluß ihrer Zonen gestellt wurden. Deutsche Repräsentanten der beiden Zonen erwogen im Herbst 1946 die Errichtung eines bizonalen Verwaltungsamts für Wirtschaft, das mehr oder weniger die Nachfolge der Mindener Behörde antreten sollte. Gegen diese Kontinuität wandten sich die süd8

Zum Folgenden s. Nörr, Als die Würfel für die Marktwirtschaft fielen: zur Entstehungsgeschichte des Leitsätzegesetzes vom Juni 1948, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, Festschrift für Karl Kroeschell, 1997, S. 885. Dort auch die Quellennachweise vor allem in den Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949, 5 Bände, 1976-1983.

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deutschen Länder mit Vehemenz; hier prallten die föderalistischen und unitaristischen Tendenzen der zukünftigen Staatsbildung ein erstes Mal hart aufeinander. Jeder der beiden Kontrahenten konnte hierbei auf die Unterstützung „seiner" Besatzungsmacht zählen. Vordergründig ging es um den Sitz der Behörde, ob ebenfalls in Minden oder an einem anderen Ort. Mit Minden befürchteten die süddeutschen Länder, auch dem „Mindener Geist" ausgeliefert zu werden, womit in erster Linie der harsch-doktrinäre Zentralismus in der Person von Agartz9 angesprochen war. (Dieser Zentralismus wurde übrigens auch von Angehörigen seiner eigenen Partei verurteilt, wie sich etwa an Äußerungen Erich Roßmanns ablesen läßt, der den Posten des Generalsekretärs des Länderrats der Amerikanischen Zone innehatte. Von Roßmann stammte auch sinngemäß der Satz, wer das Verwaltungsamt für Wirtschaft beherrsche, würde in den nächsten Jahren der tatsächliche Herrscher in Deutschland werden.) In der Frage des Sitzes konnten sich die süddeutschen Länder vorerst nicht durchsetzen; andererseits wurde nicht Agartz, sondern der den Liberaldemokraten Hessens nahestehende Rudolf Mueller zum Amtschef bestimmt. Für die SPD war aber aus prinzipiellen Gründen die Gestaltung der Wirtschaft nicht eines von vielen Themen, sondern der politische Dreh- und Angelpunkt schlechthin, die Arena, wo der Kampf um die Macht im zukünftigen staatlichen Gebilde seine Entscheidung finden sollte. So nimmt es nicht wunder, daß sie die Wahl Muellers nicht akzeptieren konnte und alles daran setzte, das Ruder wieder herumzuwerfen. Die Gelegenheit hierzu ließ nicht lange auf sich warten; als die Landtagswahlen beziehungsweise die Oktrois der britischen Militärregierung zur Besetzung des Wirtschaftsressorts mit Sozialdemokraten in allen Ländern führte, wurde im Januar 1947 Mueller abgewählt und an seiner Stelle nun doch Agartz berufen. Für einen Augenblick schien es, als hätte der Sozialismus, in welcher Gestalt auch immer, sein Ziel erreicht, als wäre das Tor aufgestoßen zur Verwirklichung einer geplanten und gelenkten Wirtschaftsordnung auf dem Territorium der sich formenden neuen Republik. Aber die Tage von Agartz waren gezählt. Die Gründe hierfür waren zweifacher Art. Zum einen sei an die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage in Europa erinnert, die eine grundlegende Umorientierung der Besatzungspolitik erzwang, zugleich den USA die Führungsrolle übertrug, der sich auch England samt seinen sozialistischen Schützlingen beugen mußte; es genügt, auf die Ankündigung des Marshall-Plans im Juni 1947 hinzuweisen, die sich auch auf die westlichen Besatzungszonen Deutschlands erstreckte. Der zweite Grund war innen9

Seine vielzitierte Rede auf dem Parteitag der SPD in Hannover im Mai 1946 ist in ihrer unter dem Titel „Sozialistische Wirtschaftspolitik" veröffentlichten Gestalt, wie sich aus dem Vorwort ergibt, von Weisser und Nölting mitredigiert, also (was meist übersehen wird) zurechtgeschnitten worden.

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Knut Wolfgang Nörr

politischer Art. Zwar ist es gemäß der „Potsdamer Optik", das heißt der Fiktion einer alle Besatzungszonen einheitlich umfassenden Viermächtekontrolle, die noch lange die Richtung bestimmte, nicht möglich gewesen, dem bizonalen Behördenaufbau eine staatspolitische oder staatsrechtliche Bedeutung zuzuschreiben, aber die Wirtschaftsverwaltung auf Dauer ohne einen legitimatorischen Unterbau sich sozusagen selbst zu überlassen, hätte einem der großen Besatzungsziele, nämlich dem Ziel der Demokratisierung der Unterworfenen, widersprochen. So wurde der Wirtschaftsrat errichtet als ein von den Landtagen beschicktes, daher mittelbares demokratisches Organ. Als der Wirtschaftsrat im Juni 1947 in Frankfurt am Main zusammentrat, waren dort die politischen Parteien in einer Weise vertreten, daß die Gegner eines sozialistischen Wirtschaftskonzepts im Sinne der Planund Lenkungswirtschaft, wenn auch nur mit wenigen Stimmen, die Mehrheit besaßen. Alles in allem konnte Agartz nicht mehr gehalten werden (formell wurde sein Ausscheiden mit Inkompatibilität seines bisherigen Amts und der Abgeordnetenstellung im Wirtschaftsrat begründet). Über die Besetzung des Amts des Direktors der nunmehr als Verwaltung für Wirtschaft bezeichneten und von Minden nach Frankfurt umziehenden Behörde kam es im Juli 1947 zum formellen Bruch zwischen den Lagern, und die SPD verabschiedete sich in die wirtschafts- und wirtschaftsordnungspolitische Opposition: für fast zwanzig Jahre, wie sich dann herausgestellt hat. IV. Im Juli 1947 ist also die grundlegende wirtschafts- und ordnungspolitische Weiche gestellt worden: das allerdings nur zur Hälfte. Denn die Besetzung des Direktorenamts der Wirtschaftsverwaltung mit einem Mann aus den Reihen der Union bedeutete noch keineswegs die Entscheidung für eine auf dem marktwirtschaftlichen Prinzip beruhende Wirtschaftsordnung. Zwar war der wirtschaftliche Sozialismus nach den Vorstellungen von links verbannt, aber zwischen den beiden Möglichkeiten lag eine dritte, die man als den Typus der organisierten oder gebundenen Wirtschaft bezeichnen kann, einen Typus, der seit der Wende von 1878/79 die wirtschaftliche Wirklichkeit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik beherrschte, und dessen Bild auch nach 1945 die meisten Köpfe gefangen hielt. Mit diesem Satz kommt aber nun der langperiodische Maßstab ins Spiel, also der zweite Gesichtspunkt, unter dem die Erhard'sche Wende, man könnte auch sagen: Erhards wirtschaftspolitische Revolution, zu betrachten ist. Bevor wir aber auf die organisierte Wirtschaftsweise als unseren langperiodischen Gesichtspunkt eingehen, müssen wir eine methodische Zwischenbemerkung machen. Wenn man die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Leitvorstellungen in Begriffe zu fassen suchte, hätten vor den 40er Jahren unseres Jahrhunderts

Die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft

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all die Morphologien und Kategorisierungen zur Verfügung gestanden, die von den Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonomie und von den Kapitalismustheoretikern entwickelt worden waren. Aber durch das Werk Walter Euckens (Grundlagen der Nationalökonomie, 1940; Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1952) sind sie in den Hintergrund gedrängt worden; an ihre Stelle trat die idealtypisch scharfe Gegenüberstellung der beiden Wirtschaftssysteme der zentralgeleiteten Wirtschaft einerseits und der Verkehrs- oder Marktwirtschaft andererseits. In der historischen Wirklichkeit sind die beiden Idealtypen per definitionem nicht vorhanden; stattdessen existieren Wirtschaftsordnungen, in denen sich Formen oder Formelemente aus der Zentralverwaltungs- und der Marktwirtschaft miteinander vermischen und verschmelzen. Das Mischungsverhältnis dieser Formelemente variiert nach Ort und Zeit, und jede historische Wirtschaftsordnung gewinnt ihre Eigenart durch die jeweilige Verteilung der dominanten und der bloß ergänzenden Formelemente. Aber jede reale Wirtschaftsordnung, und würde sie sich noch so deutlich von anderen historischen Wirtschaftsweisen unterscheiden, wird von Eucken immer nur als eine Mischung, als ein Amalgam von Elementen verstanden, das auf ein reines Formgebilde, eben die Zentralverwaltungswirtschaft oder die Marktwirtschaft verweist. Der kategoriale Bezug zu den beiden Idealtypen wird nie gelöst und so hat die historisch auftretende Wirtschaftsordnung keine Chance, unter eine Kategorie gefaßt zu werden, die ihrem Erscheinungsbild am nächsten kommt und ihrer Eigenart, ihrem „Geist" entspricht Die Geschichte findet so nicht zur Kategorie und der Geschichtsschreibung wird eines ihrer hauptsächlichen Instrumente zum Verständnis ihres Gegenstands aus der Hand geschlagen. Der Historiker mag gern zugeben, daß die Morphologie der Wirtschaftsordnungen, wie sie Eucken gelehrt hat, aus dem Blickwinkel der Wirtschaftstheorie einen großen Erkenntnisfortschritt bedeutete; aber die Hindernisse, die diese Lehre der historischen Kategorienbildung bereitet, kann er schwerlich akzeptieren10. Wir müssen uns also dem Banne der Idealtypen entziehen und den realen Erscheinungen zuwenden. Hier haben die Zeitgenossen den fundamentalen wirtschaftspolitischen Einschnitt der Jahre um 1880 teils bedauernd, teils beifällig kommentiert. Die vorangegangenen Jahrzehnte waren in ihren Augen vom Freihandelsprinzip geformt gewesen (heute würden wir eher vom Prinzip der freien 10

Aus einem anderen Blickwinkel hat Fritz Rittner eine ähnliche Ansicht geäußert (Über das Verhältnis von Vertrag und Wettbewerb, in: Archiv für die civilistische Praxis 1988, S. 11): „Das der Schule eigene Modelldenken, das in Euckens Alternative von Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft kulminiert, versperrt allzu leicht die historische Dimension, ohne die sich, wie ich meine, weder rechtliche noch wirtschaftliche Vorgänge verstehen lassen. In den mehr oder weniger geschlossen gedachten Modellen findet sich wenig Platz für das >Stirb und Werde