SchauSpielPlatz Venedig: Theatrale Rezeption und performative Aneignung eines kulturellen Imaginären um 1900 9783839435823

A different view of Venice - cultural practices of a playful and imaginary appropriation of a city.

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SchauSpielPlatz Venedig: Theatrale Rezeption und performative Aneignung eines kulturellen Imaginären um 1900
 9783839435823

Table of contents :
Inhalt
1. Prolog: Staging Venice
2. Consuming Venice
3. Travelling Venice
4. Playing Venice
5. Epilog: Re-Staging Venice
Literatur- und Abbildungsverzeichnis
Dank

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Dorothea Volz SchauSpielPlatz Venedig

Edition Kulturwissenschaft | Band 112

Dorothea Volz (Dr. phil.) studierte, lehrte und forschte in Mainz, Paris und London. Ihre Arbeits- und Interessensschwerpunkte liegen im Bereich Kulturgeschichte, Populärkultur, Metropolenforschung und politisches Theater.

Dorothea Volz

SchauSpielPlatz Venedig Theatrale Rezeption und performative Aneignung eines kulturellen Imaginären um 1900

Diese Publikation wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gutenberg Akademie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05: Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2015 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Dorothea Volz, Mainz, 2016 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3582-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3582-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Prolog: Staging Venice | 7 1.1 Theoretische Verortungen I: Von allgemeinen Plätzen, Allgemeinplätzen und anderen Räumen | 9 1.1.1 Venedig als kulturelles Imaginäres | 21 1.1.2 Venedig als Heterotopie | 23 1.2 Theoretische Verortungen II: Von Wahrnehmung und Aneignung | 25 1.2.1 Performative Praktiken | 29 1.2.2 Zirkulation und Sichtbarkeit sozialer Energien | 31 1.3 Kontextuelle Verortungen: Von urbanen und transnationalen Kulturräumen | 33 1.3.1 Theatralität der Metropolen um 1900 | 35 1.3.2 Vermassung und Massenkultur | 38 1.4 Spielplan | 41 2. Consuming Venice | 43 2.1 Konsumgeschichte und -gesellschaft um 1900 | 47 2.1.1 Museen | 52 2.1.2 Warenhäuser | 58 2.1.3 (Welt-)Ausstellungen | 63 2.2 Flanieren als Konsumpraktik | 69 2.2.1 Konsumräume als ‚ environmental theatre‘ | 71 2.2.2 Konsumräume als andere Räume | 74 2.3 Erlebniswelt Vergnügungspark | 75 2.3.1 Venice in London | 85 2.3.2 Venise à Paris | 97 2.3.3 Venedig in Wien | 101 2.4 Konsumenten, Flaneure und ‚experiencer‘ | 109 3. Travelling Venice | 115 3.1 Tourismusgeschichte(n) | 116 3.1.1 Authentizität und Aufführung | 125 3.1.2 Zuschauer und Performer | 128 3.2 Reisewelt(en) als Warenwelt(en) | 132 3.2.1 Panoramen und imaginäres Reisen | 137

3.2.2 Mobile Reise -(T)Räume | 143 3.2.3 Zwischen(t)raum Orientexpress | 149 3.3 Venedigtourismus | 153 3.3.1 Reiseliteratur und Imagination | 157 3.3.2 Buchholzens auf Reisen | 160 3.3.3 Touristische Stadteinsichten und -ansichten | 164 3.3.3.1 Die Gondel | 167 3.3.3.2 Der Markusplatz | 174 3.3.3.3 Der Lido | 178 3.4 Blickachsen und Reisebewegungen | 181 4. Playing Venice | 185 4.1 Zwischen Stadtkulisse und Stadt als Kulisse | 191 4.1.1 Streit um ein Bühnenbild: Das gerettete Venedig | 192 4.1.2 Reinhardt (be-)spielt Venedig | 196 4.2 Zwischen Bild und Spiel | 203 4.2.1 Die Pantomime A Venetian Night | 205 4.2.2 Bewegung und bewegte Bilder | 209 4.2.3 Stillstand? Vedute und Stadtfotografie | 213 4.3 Zwischen Schau- und Spielplatz | 218 4.3.1 Historisierung: aus neu mach alt | 220 4.3.2 Ästhetisierung: die Biennale di Venezia | 225 4.3.3 Theatralisierung: Reinhardts venezianischer Kaufmann | 229 4.4 Re -Mapping the Playground | 232 4.4.1 Das Venedig-Prinzip als Spiel-Prinzip | 233 4.4.2 Venedig reenacted | 237 5. Epilog: Re-Staging Venice | 241 Literatur- und Abbildungsverzeichnis | 255 Bibliografie | 255 Internetquellen | 283 Film - und Videospielverzeichnis | 284 Abbildungsverzeichnis | 284 Dank | 287

1. Prolog: Staging Venice

In Italo Calvinos Novelle Die unsichtbaren Städte1 begegnen sich der Reisende Marco Polo und der Herrscher Kublai Khan. Polo wird aufgefordert, dem Khan die Orte, die er bei seinen Abenteuern durchstreifte, zu beschreiben und der Herrscher wird nicht müde, nach weiteren Berichten zu verlangen, hungrig auf mehr, um durch die Geschichten des Reisenden Kenntnis über seine eigenen Besitztümer und das Ausmaß seines Herrschaftsgebietes zu erlangen. Schließlich gesteht Polo erschöpft ein, dass er nun von allen Städten berichtet habe, die er kenne. Doch der Khan entgegnet ihm: „,Da ist noch eine, von der du nie sprichst.‘ Marco Polo senkte den Kopf. ,Venedig‘, sagte der Khan. Marco lächelte. ,Wovon sonst, meinst du wohl, habe ich dir erzählt?‘ Der Kaiser verzog keine Miene. ,Und doch habe ich nie seinen Namen von dir gehört.‘ Darauf Polo: ‚Jedesmal, wenn ich eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig.‘“

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Venedig wird hier zum Nukleus aller Städte, zu der Stadt, die alle anderen vereint. Als Heimatstadt des Venezianers Polo bildet sie seine ‚Urerfahrung‘ einer Stadt, die „erste[.] Stadt […], die implizit bleibt.“3 Gerade über Venedig hüllt der Handelsreisende sich in Schweigen, fürchtet er doch, die Erinnerung an die Stadt zu verlieren, wenn er sie in Worte fasst.4

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Calvino 2013.

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Calvino 2013, 94.

3

Calvino 2013, 94.

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„‚Wenn die Bilder der Erinnerung erst einmal in Worte gefasst sind, erlöschen sie‘, sagte Polo. ‚Vielleicht fürchte ich, das ganze Venedig auf einmal zu verlieren, wenn ich davon spreche. Oder vielleicht habe ich es, während ich von anderen Städten sprach, bereits nach und nach verloren.‘“ Calvino 2013, 94.

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Die poetische Novelle Calvinos ist nicht nur durch diese zentrale Stellung, die Venedig zugesprochen wird, nicht nur mit Blick auf ihr grundlegendes Sujet der Stadt als Erfahrung, als Lebens- und Grenzraum,5 sondern auch hinsichtlich der Vermittlung und Übertragung dieser Stadterfahrung exemplarisch für die vorliegende theater- und kulturwissenschaftliche Arbeit, die an Venedig beispielhaft die Verhandlung kultureller Praktiken 6 der (Stadt-)Aneignung untersucht und dafür das Beziehungsgeflecht von tatsächlichem Erleben, Fiktion und Imagination analysiert.7 Calvino schickt seinen venezianischen Protagonisten als Fremden an den Hof des Kahns, wo Polo die Erinnerungen an seine Reisen zuerst nicht in Worte fassen kann, denn dem Reisenden ist die Landessprache noch unbekannt. 8 Er erlernt sie erst im Verlauf der Erzählung, so dass er zu Beginn die bereisten Welten nur mit dem Einsatz des eigenen Leibes und der erworbenen Güter erschaffen kann, „mit Gesten, Sprüngen, Ausrufen der Bewunderung oder des Schreckens“ 9 und durch „Trommeln, gesalzene Fische, Halsketten aus Warzenschweinzähnen“10. Stadt wird hier körperlich, im Konsum, und schließlich auch narrativ erfahrbar; Polos Reisen manifestieren sich an seinem Körper, werden in der Darstellung, in den Waren und in seinen Worten lebendig, mit denen er die „innere Bühne“ 11 –

5

Vgl. weiterführend zur Interpretation des Stadtmotivs bei Calvino beispielsweise

6

Vgl. hierzu Reckwitz 2003 und den Abschnitt Performative Praktiken des einleiten-

Sommer 1979. den Prologs. 7

Zur Unterscheidung der drei Begrifflichkeiten vgl. Iser 1991 und den Abschnitt Vene-

8

Vgl. Calvino 2013, 29. Marco Polo erlernt die Sprache immer besser – doch die Ver-

dig als kulturelles Imaginäres des einleitenden Prologs. ständigung profitiert davon keineswegs, denn nun verschwindet der Platz für die Imaginationen des Khans. Vgl. ebd., 45. 9

Calvino 2013, 45.

10 Calvino 2013, 45. 11 Mit ‚innerer Bühne‘ wird hier ein Begriff aufgegriffen, der sich vor allem im Rahmen der Hörspieltheorie etabliert hat. Erwin Wickert prägte den Begriff mit der Veröffentlichung des Aufsatzes „Die innere Bühne“ in Akzente 1 (1954), 505-514. Vgl. weiterführend Mahne 2007. Calvino beschreibt, wie diese innere auch eine imaginäre Bühne des Khans wird, für den so aus den Erzählungen ein geradezu physisches Erlebnis wird: „Die Beschreibungen der von Marco Polo besuchten Städte hatten diese schöne Eigenschaft: daß man in Gedanken darin umherspazieren, sich in ihnen verlieren, stehenbleiben und die kühle Luft genießen oder sie eilends verlassen konnte.“ Calvino 2013, 45.

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also die Imagination – des Kahns bespielt. In die dem Text damit zugrunde liegende Aufführungssituation versetzt Calvino auch den Leser, der sich als Empfänger der Berichte einerseits in der Rolle des Herrschers wiederfindet, andererseits aber auch als Zuschauer zweiter Ordnung12 zum Beobachter von Hervorbringung und Rezeption der Geschichte(n) wird. Der Handelsreisende Marco Polo ist als einer der berühmtesten Söhne Venedigs13 und europäischer Mythos14 Mittler zwischen den Welten, zwischen Kulturen und Zeiten, zwischen der historischen Reise und der Gegenwart des Novellen-Lesers. Dass sich für Polo dabei gerade Venedig als unbeschreibbar und zugleich konstant präsent erweist, kommentiert pointiert die Singularität der – und in ihrer Singularität so vielfach beschriebenen – Lagunenstadt.

1.1 T HEORETISCHE V ERORTUNGEN I: V ON ALLGEMEINEN P LÄTZEN , ALLGEMEINPLÄTZEN UND ANDEREN R ÄUMEN Venedig ist weit weniger eine geografisch lokalisierbare Stadt15 als vielmehr ein ‚commonplace‘, im wortwörtlichen und übertragenen Sinne ein Allgemeinplatz. Mit der Hinwendung zum Raum in den Kulturwissenschaften, dem sogenannten

12 Im Rahmen einer theaterwissenschaftlichen Arbeit muss hier auf die Tradition des ‚Spiels im Spiel‘ hingewiesen werden, vgl. Kiermeier-Debre 2003. Für die neuere Medienforschung wird die Frage nach dem Zuschauer zweiter Ordnung beispielsweise verhandelt bei Dieterich 2009. 13 Vgl. zu Marco Polo und seiner Rezeptionsgeschichte weiterführend Akbari 2008. 14 Allgemein zum Mythos und den Mythen Europas vgl. das dreibändige Projekt zur Aufarbeitung europäischer Erinnerungsorte von Boer et al. 2012, hierin zum Thema Europa als Mythos besonders Schmale 2012. Zu historischen Mythen in Venedig vgl. beispielsweise Maguire 2010; die bekanntesten venezianischen Mythen und Legenden versammelt in seiner populärwissenschaftlichen Arbeit Lebe 2003. Für die Betrachtung Venedigs als Mythos in der Literaturwissenschaft vgl. weiterführend Sarter 1992, vgl. ebenso Dieterle 1995. Für eine Auseinandersetzung mit dem Mythos, seiner Funktion und Bedeutung vgl. Blumenberg 2006; für eine kurze Einführung zum Mythos aus der Perspektive der Theaterwissenschaft vgl. Primavesi 2014. 15 Richard Sennett definiert Stadt basal als „Siedlungsform, die die Begegnung einander fremder Menschen wahrscheinlich macht.“ Sennett 2004, 60f.

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‚spatial turn‘16, erhielt die soziale Konstruktion und Konstitution des Raumes und, in Nachfolge Henri Lefebvres, des sozialen Raumes besondere Aufmerksamkeit.17 „Raum meint soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten.“18 Als Konsequenz dieser Neubetrachtung hat sich die Unterscheidung von ‚place‘ und ‚space‘ durchgesetzt, in der deutschen Übersetzung meist ‚Ort‘ und ‚Raum‘, wobei ersteres als lokalisierbare und letzteres als sozial konstruierte Größe definiert wird.19 Etwas anders führt dies Michel de Certeau weiter, wenn er Ort definiert als „Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden.“20 Diese Elemente seien am Ort nebeneinander und niemals auf derselben Stelle zu denken. Raum hingegen „ist ein Geflecht von beweglichen Elementen.“21 Er sei, anders als der Ort, weder stabil noch eindeutig, sondern definiert durch seinen Gebrauch; „[i]nsgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.“22 So wird der Ort bei de Certeau durch die praktische Aneignung erst zum Raum. Die hier stattfindenden (Aus-)Handlungen formen und definieren ihn und unterziehen ihn einem beständigen Wandel.23 „Ebenso, wie Gemeinschaften nicht ‚natürlich‘ gegeben sind, ist

16 Vgl. zum ‚spatial turn‘ das entsprechende Kapitel bei Bachmann-Medick 2006, hier besonders 284-328; vgl. ebenso Döring und Thielmann 2008. 17 Vgl. Lefebvre 1991. Lefebvre unterscheidet den wahrgenommenen und repräsentierten Raum vom Raum der Repräsentation, wobei letzterer, so Kajetzke und Schroer, „der imaginierte Raum der Bilder und Symbole [ist], in dem auch widerständige und alternative Raummodelle und Raumnutzungen ihren Platz haben. Entscheidend für das Raumverständnis Lefebvres ist das dialektische Zusammenspiel aller drei Raumebenen. Raum ist ein sowohl mentales und physisches als auch symbolisches Konstrukt. Anhand dieser drei Ebenen soll die gesellschaftliche Produktion des Raums untersucht werden.“ Kajetzke und Schroer 2010, 196. Vgl. auch Lefebvre 2006. 18 Bachmann-Medick 2006, 289. 19 Vgl. Bachmann-Medick 2006, 291; vgl. weiterführend Lefebvre 1991. 20 De Certeau 2006, 345. 21 De Certeau 2006, 345. 22 De Certeau 2006, 345, Hervorhebung im Original. Vgl. weiterführend zur performativen Hervorbringung des Raumes – auch unabhängig von und widersprüchlich zu (s)einem physischen Ort – Däumer, Gerok-Reiter und Kreuder 2010a. 23 Hier wird auf die handlungsgeleitete bzw. performative Hervorbringung der Stadt als Raum verwiesen, was den Stadtraum auch als Bühne lesbar werden lässt. Vgl. Däu-

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auch der Raum keine vorgegebene Größe, sondern wird durch Vorstellungen, Praktiken und Symbole hervorgebracht. Raum entsteht als gesellschaftliches Phänomen erst dadurch, dass sich Menschen in ihm bewegen und zu ihm verhalten.“24 Übersetzt man ‚place‘ nicht mit ‚Ort‘, sondern bedenkt stattdessen die Mehrdeutigkeit des ‚Platzes‘, so eröffnet sich eine weitere Ebene, die über die Idee einer geografischen Verortung hinausweist. Der Platz ist einerseits konkret, eine Freifläche, ein öffentlicher Zwischen-Raum, nutzbar „für den gemächlichen, flanierenden Aufenthalt, für das Herumgehen und Herumstehen, für vereinbarte oder zufällige Begegnungen“25. ‚Place/Platz‘ benennt zwar eine konkrete Örtlichkeit – am Beispiel Venedig zeigt sich dies deutlich in der Engführung der Stadt auf den als pars pro toto für sie emblematisch gewordenen Markusplatz 26 –, andererseits aber verweist ‚Platz‘ auch auf soziale und kulturelle Konstruktionen. Der Platz kann für etwas stehen, eine Präsentationsfläche bieten und selbst repräsentativ wirken.27 Napoleon soll den Markusplatz den schönsten Salon Europas genannt haben28 – womit ein öffentlicher, äußerer Raum mit einem intimeren Raum der Repräsentation verbunden wird und dem Platz eine soziale und gesellschaftliche Funktion zugewiesen wird. Er wird beschrieben als Verhaltens-

mer, Gerok-Reiter und Kreuder 2010b, 10. Lewis Mumford versteht die Stadt auch als „theatre of social action“, Mumford 2003, 94. Vgl. hierzu auch Makeham 2005, 150. 24 Pernau 2011, 68. 25 Seitter im Verweis auf den Architekten und Stadtplaner Camillo Sitte, vgl. Seitter 2010, 209. Sitte beschreibt, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts der moderne Städtebau zur besseren Ausnutzung durch eine neue Blockbauweise Plätze weitgehend vernichtet oder dem Verkehr überlassen habe, vgl. ebd. Die Bedeutung öffentlicher Plätze als Versammlungsplätze und die politische Sprengkraft, die ihr Verschwinden mit sich bringt, lassen sich auch anhand von Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit nachvollziehen, so beispielsweise an den Konflikten, die um den Taksim-Platz in Istanbul entbrannt sind. Vgl. hierzu Pamuk 2013. 26 Sylvia Bieber beispielsweise beschreibt den Markusplatz als „,Tor‘ zur Stadt“, wie er auch in den Veduten dargestellt erscheint, vgl. Bieber 2010, 67. 27 Hier klingt Lefebvres Dreiheit des sozialen Raumes an, den er in räumliche Praxis, Raumrepräsentationen und Repräsentationsräume unterteilt. „Mit diesem dreistelligen Verständnis des sozialen Raums versucht Lefebvre, den früheren Dualismus von physischem und mentalem Raum zugunsten einer Praxis-Perspektive zu überwinden, die auch den Einsatz des Körpers voraussetzt […].“ Döring 2010, 92. 28 Zumindest wird dies vielfach kolportiert, wenn auch in unterschiedlichen Wortlauten vgl. beispielsweise Curtis und Pajaczkowska 2002, 156.

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plattform und bietet die Möglichkeit, flanierend zu beobachten, während man selbst beobachtet wird. Als Sichtanordnung und in diesem Sinne auch als Ort der Vor- und Aufführung ist der Platz ein theatrales Phänomen, als Verhaltensplattform im Sinne von Selbst- und Fremdbestätigung, in der Konstituierung von Wirklichkeit durch vollzogene Handlungen aber auch ein performatives Phänomen: Er ist Schau- und Spielplatz. Während mit dem Begriffs- und Theoriefeld der Theatralität auf die „demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten“29 hingewiesen wird, beschreibt Performativität „die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft“30. Die Benennung als ‚Place/Platz‘ verweist auf soziale und kulturelle Konstruktionen; auch das Subjekt kann ihn, konkret wie abstrakt gedacht, einnehmen und ausfüllen, erreichen und begrenzen, zuweisen und verweigern – er definiert und veranschaulicht einerseits städtische Ordnungen, andererseits gesellschaftlich-soziale. Die politische Idee des Versammlungsplatzes als Platz der Öffentlichkeit, im Sinne einer agora,31 kann in der wörtlich genommenen Bezeichnung ‚Allgemeinplatz‘ mitgedacht werden, wird diese eben nicht nur auf ihre metaphorische Bedeutung des allseits Bekannten (und in seiner Bekanntheit zur Plattitüde) reduziert, sondern als Hinweis auf die Konstruktion des Raumes als Besitz aller, der Allgemeinheit, verstanden – so wird der Platz zum Raum durch seine kollektive Nutzung. Für die vorliegende Arbeit zielt die Idee Venedigs als Allgemeinplatz auf die Selbstverständlichkeit der Präsenz Venedigs als Topos westeuropäischer Kulturproduktion und -rezeption,32 wie auch auf die Aneig-

29 Fischer-Lichte 2012a, 29. Vgl. auch Warstat 2005b: „Aus heutiger Sicht gilt: Wo immer etwas oder jemand bewußt exponiert oder angeschaut wird, erhält Kultur eine theatrale Dimension.“ Ebd., 358. 30 Fischer-Lichte 2012a, 29. 31 „[D]ie agora bezeichnet ja den zentralen multifunktionalen Platz in der Stadt […].“ Seitter 2010, 209. Als Platz der Versammlung in der griechischen Antike bildete er den zentralen Ort des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens; so fanden hier nicht nur Versammlungen, sondern, wie beispielsweise in Athen, auch Theateraufführungen statt. Vgl. Seidensticker 2007, 64. 32 Da dies schon vielfach für Venedig geschehen ist, und das Themenfeld sich als zu groß für die Darstellung eines umfassenden Forschungsstandes erweist, wird für die vorliegende Arbeit auf die Rekapitulation desselben verzichtet und stattdessen in den einzelnen Kapiteln auf die jeweils wichtige Forschungsliteratur verwiesen. Einige Arbeiten sollen hier exemplarisch für einen ersten Eindruck aber dennoch angeführt werden: Im Feld der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ist eines der wichtigsten Referenzwerke nach wie vor die 1993 erschienene Habilitationsschrift Paradoxie der

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nung durch die sich auf die Lagunenstadt Beziehenden und auf „Vorstellungen, Praktiken und Symbole“33, durch die Venedig als Raum hervorgebracht wird. Die Lagunenstadt galt in ihrer Zeit als Dogenrepublik als Sinnbild einer ‚Herrschaft der Gemeinschaft‘;34 mit der Eroberung durch napoleonische Trup-

Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 1797-1984 von Angelika Corbineau-Hoffmann. Corbineau-Hoffmann widmet sich unter einem komparatistischen Blickwinkel und unter der Prämisse eines literarischen Bedeutungsgewinns Venedigs nach dem Verlust politischer Macht vor allem der Darstellung Venedigs in Epik und Lyrik. Christiane Schenks Studie zum Venedig-Bild der Décadence-Literatur legt den Schwerpunkt auf Venedig als untergehende Stadt, als Sinnbild der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, vgl. Schenk 1987. Die Studie von Bernard Dieterle Die versunkene Stadt. Sechs Kapitel zum literarischen Venedig-Mythos richtet das Augenmerk auf die Motivgeschichte, vgl. Dieterle 1995. 2014 erschien Venedig als Zeichen. Literarische und mediale Bilder der „unwahrscheinlichsten der Städte“ 1787-2013 von Martin Nies. Nies widmet sich der Lagunenstadt mit einer kulturwissenschaftlichen Fragestellung und unter der Prämisse eines semiotischen Zugangs, wofür er ein weites und heterogenes Feld an Quellen und Beispielen erschließt. Auch die englischsprachige Literatur weist einen großen Korpus an Arbeiten zu Venedig auf, hier sei nur stellvertretend auf den Sammelband Venetian Views, Venetian Blinds. English Fantasies of Venice von Manfred Pfister und Barbara Schaff von 1999 hingewiesen. Zentral für die vorliegende Arbeit und mit einem Ansatz aus dem Bereich der Tourismusforschung hat sich Robert C. Davis und Garry Marvin 2004 erschienene Studie Venice, the Tourist Maze. A Cultural Critique of the World’s Most Touristed City erwiesen. Die interdisziplinäre Arbeit weitet den Blickwinkel auch auf die Einheimischen aus, seien diese doch im Rahmen der Tourismusforschung nur allzu oft ignoriert worden und hätten meist als „background figures in what remains fundamentally a northwestern-European story of self-discovery“ gedient, vgl. Davis und Marvin 2004, 12. Natürlich finden sich auch für die Geschichte Venedigs als Motiv der Kunst und der Kunstgeschichte zahlreiche Abhandlungen, hingewiesen sei hier nur auf den Ausstellungskatalog Venedig. Von Canaletto und Turner bis Monet, 2008 herausgegeben von Martin Schwander. Für die Filmwissenschaft finden sich überwiegend populärwissenschaftliche Werke, eine Übersicht zu Venedig im Film bis in die 80er Jahre ist beispielsweise aufgelistet bei Ellero 1983. Für den Bereich des Theaters wird Venedig vor allem mit Bezug auf einzelne Dramatiker behandelt, so finden sich wissenschaftliche Abhandlungen im Rahmen der Shakespeare-Forschung, vgl. beispielsweise Tosi 2011, oder auch der Forschung zu Hugo von Hoffmannsthal, vgl. unter anderem Rispoli 2014. 33 Pernau 2011, 68, hier in Bezug auf die generelle Raumherstellung.

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pen 1797 und dem Verlust der politischen Eigenständigkeit wurde die einstige Serenissima zum Spielball zwischen französischen, österreichischen und später italienischen Interessen und Ansprüchen.35 Folgt man der Literaturwissenschaftlerin Angelika Corbineau-Hoffmann, so findet sich in dieser Abwertung des politischen Einflusses ein Grund für die Aufwertung des kulturellen Gewichts der Lagunenstadt, die nun in gewissem Sinne zum poetischen Allgemeineigentum wurde. Denn Corbineau-Hoffmann sieht in diesem Moment des politischen Machtverlusts die Geburtsstunde des literarischen Topos Venedig; die Stadt sei nicht mit ihrem politischen Untergang, sondern aufgrund dieses Untergangs literarisch entdeckt worden, „[n]icht nur als der Staat endet, beginnt die Stadt ein poetisch relevantes Thema der Literatur zu werden, sondern weil er endet.“36 Nun war Venedig frei für die Bedeutungsbelegungen von außen, für den Blick des Fremden, der Maler und Poeten, deren Erlebnisse und Erfahrungen zur dominanten Stadtwahrnehmung wurden. Nicht wenige Künstler blieben mehrere Jahre in der Lagunenstadt, manche, wie Richard Wagner, bis zu ihrem Tod. 37 Ihre Werke, Gedichte, Bilder, Erzählungen, Romane, Dramen und später Filme begründeten eine neue Tradition der Venedig-Aneignung,38 die über das „lange

34 Die Serenissima wurde betrachtet als „Muster eines wohlgeordneten, demokratischen Staatswesens“ unter der Führung eines Dogen, „die Regierung in den Händen einer vielköpfigen ‚Volksvertretung‘“, Forssman 1971, 14. Mit dem politischen wie wirtschaftlichen Niedergang der Dogenrepublik und ihrer Auflösung durch die napoleonische Eroberung wandelte sich auch der Blick auf Venedigs Geschichte, die nun eine negative Umwertung erfuhr. Vgl. ebd. 35 Nach der Eroberung durch Frankreich fiel Venedig mit dem Frieden von Campoformio 1797 an Österreich und wurde im Frieden von Pressburg 1805 wieder an Frankreich abgetreten. Nach dem Wiener Kongress fiel die Stadt 1814 wieder Österreich zu. Unterbrochen durch eine kurze Phase der Selbstbestimmung endete diese Fremdherrschaft 1866, vgl. Forssman 1971, 9-10. Ab 1866 wurde Venedig dann Italien eingegliedert, vgl. Rösch 2000, 172. 36 Corbineau-Hoffmann 1993, 6, Hervorhebung gesperrt im Original. 37 Zur Thematik Venedig als Stadt und Stätte der Künstler vgl. Schenk 1987, hier besonders Kapitel 3.4.; vgl. zu Wagner und Venedig auch Dieterle 1995, hier besonders Kapitel V Wagner in Venedig. Zur Geschichte der englischen Künstler in Venedig seit 1880 vgl. Borchmeyer 2013. 38 Damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, Venedig sei zuvor ‚terra incognita‘ gewesen: Weit verbreitet waren beispielsweise venezianische Veduten in Europa – jedoch, so die These Corbineau-Hoffmanns, der hier gefolgt werden soll, verändert sich die (literarische) Rezeption durch die Dominanz des fremden Blicks und dem durch

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19. Jahrhundert“39 hinausreicht. Sie belebten – und belegten – den Allgemeinplatz Venedig neu, so dass man mit dem wieder beginnenden 40 und in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Lagunenstadt stark ansteigenden Tourismus41 Venedig als ‚Salon‘42 der Reisenden beschreiben kann, die sich hier heimisch fühlten, folgten sie doch einer Erfahrung, die bereits vorgeprägt worden war. 43 In ihrer Präsenz wiederum scheint Venedigs weitere Existenz begründet zu liegen, denn mit dem Ende der venezianischen Republik steht eine wachsende Zahl von reisenden Künstlern und Bürgern einer (vermeintlich) entvölkerten Stadt gegen-

den Machtverlust bedingten Ende einer eigenständigen venezianischen Geschichtsschreibung. Vgl. Corbineau-Hoffmann 1993, 6. Martin Nies übt in seiner Studie Kritik an dieser These Corbineau-Hoffmanns: „So nachvollziehbar diese […] These auch ist, erklärt sie eben doch nur die aus dem ‚Untergang‘ […] hervorgebrachten und semantisch mit diesem korrelierten Deutungsmuster des literarischen Raumes Venedig.“ Nies 2014, 94. 39 Vgl. Kocka 2001 und die weiteren, noch folgenden Ausführungen des einleitenden Prologs. 40 Venedig war Reiseziel der Grand Tour und bekannt für Vergnügungen vieler Art, somit ein traditionsreiches Reiseziel der wohlhabenden Europäer. Nach dem Ende der Republik jedoch scheint die Stadt erst verwaist, dann durch die verschiedenen Besatzer auch ausgeraubt, so spricht Forssman davon, dass Venedig „durch Kunstraub und Kunstverkauf“ große Verluste erlitt. Prominentes Beispiel des Kunstraubs war die Entwendung der vier Bronzepferde, die sich auf dem Markusplatz befanden, und die von der französischen Besatzungsmacht nach Paris gebracht wurden. Als Venedig wieder an Österreich fiel, wurden die Bronzepferde genutzt „[z]u einer wirkungsvollen politischen Manifestation“ und wieder in Venedig installiert, vgl. Forssman 1971, 14-15. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Venedig dann von den Reisenden ‚wiederentdeckt‘, wobei weder die Rolle der Poeten, Literaten und Maler, die Venedig besuchten, noch die des Kunsthistorikers John Ruskin zu unterschätzen ist, vgl. Ruskin 1903 und 1904, vgl. ebenso Hewison 2009; vgl. zur Wiederentdeckung Venedigs durch die Reisenden auch die Ausführungen im Kapitel Travelling Venice. 41 So beschwerten sich beispielsweise bereits Italien-Reisende wie Henry James oder Otto Julius Bierbaum um 1900 über die Touristenmassen auf dem Markusplatz, vgl. hierzu die Ausführungen im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 42 Vgl. Curtis und Pajaczkowska 2002, 156. 43 „Venedig ist, vielleicht mehr als jede andere Stadt, eine ‚vorgeprägte‘ Erfahrung; sie mit neuen Augen sehen oder neu ersinnen zu wollen, ist schwierig.“ Kilmurray und Oustinoff 2006, 16, hier zitiert nach Schwander 2008, 14.

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über.44 Und nicht nur das: War die Stadt nach ihrer Einnahme vom Verfall sowohl der baulichen Substanz als auch ihrer politisch-gesellschaftlichen Bedeutung bedroht, waren es die Künstler, ausländischen Maler und Poeten, die die Lagunenstadt wiederentdeckt hatten; ihnen folgten weitere Reisende, durch die die Stadt geradezu wiederbelebt wurde. Die Lyrik Lord Byrons spielte hier eine wichtige Rolle und mag die besondere Stellung mit gefördert haben, die Venedig von englischen Reisenden zugedacht wurde.45 Auch der Kunsthistoriker John Ruskin setzte der Stadt (und ihrem Verfall entgegen) ein weit rezipiertes Denkmal mit seinem mehrbändigen Werk The Stones of Venice,46 das Ende des 19. Jahrhunderts bereits in der Taschenbuchausgabe für Venedigreisende erschien.47 Die Geschichte einer Aneignung von außen, durch den Blick des Fremden, dem das innervenezianische Gegengewicht scheinbar fehlt, der ein Venedig in unterschiedlichen Kunstformen konstruiert und rekonstruiert, ist bald nicht mehr auf bestimmte Gesellschaftsschichten begrenzt, sondern spiegelt sich in einer breiten Rezeption wider, denn der Niedergang der Lagunenstadt überschneidet

44 „Wer Güter auf der Terraferma hatte, setzte sich einstweilen dort ab.“ Forssman 1971, 10. Folglich verließen vor allem die adligen und wohlhabenden Bürger Venedig, so dass sich der Eindruck einer verarmten Stadt in den ersten Jahren der Fremdherrschaft noch verstärkte, vgl. ebd. Die aktuelle Touristenanzahl von 60.000 pro Tag entspricht der Einwohnerzahl der Lagunenstadt (ohne Festland), vgl. hierzu auch den Dokumentarfilm Das Venedigprinzip von Andreas Pichler von 2012, auf den auch in Kapitel 4.4.1 der vorliegenden Arbeit eingegangen wird. Offizielle Zahlen für die Provinz Venezia können online den Statistiken unter http://demo.istat.it/bil2013/index.html [Letzter Zugriff: 27.12.2014] entnommen werden. 45 „Byron leitete einen Prozeß ein, durch den Venedig zu einer neuen Bedeutung aufstieg: die [sic!] Stadt wurde zu einem ästhetischen Objekt, zu Symbol und Kunstfigur.“ Schenk 1987, 120; vgl. auch Forssman 1971, 18. Vgl. hierzu weiterführend Dieterle 1995, besonders Kapitel II „Byron in Venedig“ zu Byrons Gedicht Childe Harold’s Pilgrimage, seiner prominentesten Venedigreferenz, ebd., 89-115. Inspiriert von Byron setzte sich William Turner in seiner Malerei wieder mit Venedig auseinander, vgl. Forssman 1971, 21. Auch Byrons venezianische Dramen, The two Foscari und Marino Falieri, Doge of Venice, wurden im Rahmen eines solchen Medienwechsels rezipiert: So entstand zu letzterem 1826 ein Gemälde von Eugène Delacroix. Vgl. Forssman 1971, 26. 46 In deutscher Übersetzung vgl. Ruskin 1903 und Ruskin 1904. 47 Es handelt sich um die sogenannte Travelers’ Edition, vgl. Schwander 2008, 17. Motyka hält fest, dass „ein Großteil der britischen Besucher […] das umfangreiche Werk […] vor Antritt der Reise gelesen zu haben [scheint].“ Motyka 1990, 18.

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sich mit dem Beginn von Industrialisierung und Urbanisierung 48, mit dem Aufstieg des Bürgertums49 – laut Jürgen Kocka die gesellschaftliche Schicht, die das 19. Jahrhundert maßgeblich prägt 50 – und der neuen Sichtbarkeit der Masse51 in den Metropolen. Deren Unterhaltungsbedürfnis, die Aneignung eines bestimmten kulturellen Habitus und die Präsentation desselben,52 verbunden mit neuen technischen Möglichkeiten,53 spiegelt sich in kulturellen Praktiken wider. So zeugen auch die neuen, populären Freizeitangebote der Metropolen von den stattfindenden Veränderungen. Für eine immer größer werdende Menge an Menschen wird nun auch die touristische Reise möglich und erschwinglich. 54 Dabei wird der Tourist mit seiner Vorstellung von Venedig in Venedig konfrontiert, so ist „[i]n einem Reiseführer von 1842 [zu lesen]: ‚Nach Venedig kommt niemand als Fremder.‘“55 Wie diese „‚vorgeprägte‘ Erfahrung“56 Venedigs entsteht, das wird die vorliegende Arbeit untersuchen und zeigen, dass diese auch eine praktisch eingeübte ist – denn, so die Annahme, in den sich etablierenden Freizeitparks, durch Reisebeschreibungen, auf der Theaterbühne und im neu entstehen-

48 Clemens Zimmermann unterscheidet zwischen Urbanisierung als quantitativen Begriff, der das Anwachsen der Städte im 19. und 20. Jahrhundert benennt, und als qualitativen Begriff, der „die Herausbildung und Verbreitung der ‚urbanen‘ Lebensformen“ beschreibt, Zimmermann 1996, 11. 49 Wurde das Bürgertum im 18. Jahrhundert vor allem über Besitz definiert, wandelte sich dies zu einer Definition des Bürgertums über bürgerliche Verhaltensweisen und so über „ein Set kultureller Praktiken“, Marx 2007b, 136. Vgl. hierzu auch weiterführend Kocka 2001, 98-138; vgl. ebenso Kocka 1995. 50 Vgl. Kocka 1995, 7. 51 Vgl. zur Thematik der Masse und Massenkultur weiterführend Prügel 2014. 52 „In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.“ Bourdieu 1987, 277-278, Hervorhebung im Original. Zur Auseinandersetzung mit dem Habitus-Begriff bei Bourdieu vgl. Krais und Gebauer 2014. 53 Vgl. zur Technik- und Unterhaltungskultur Kuchenbuch 1992. 54 Vgl. hierzu das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 55 Kilmurray und Oustinoff 2006, 16, hier zitiert nach Schwander 2008, 14. Vgl. ebenso Ritter 2010, 24. War lange das von den Venezianern geschaffene Bild auch für die Rezeption der Reisenden dominant, so wurde bereits im 17. Jahrhundert mit vermehrter Reisetätigkeit die Außenperspektive wichtiger. Vgl. Burke 2011, 79. 56 Vgl. Kilmurray und Oustinoff 2006, 16, hier zitiert nach Schwander 2008, 14.

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den Medium Film wird der Besuch, die tatsächliche Reise, stellvertretend erlebt oder vorweggenommen.57 Hier fungiert Venedig als Kulisse, als Schau- oder Konsumobjekt eines transnationalen urbanen Publikums.58 Die Vereinnahmung Venedigs durch den Blick von außen und die kulturelle Reproduktion der Lagunenstadt lässt sich in ihren Erscheinungsformen bis in die Gegenwart verfolgen. Sie reicht von dem Nachbau der Stadt als Kulisse, wovon das berühmteste Beispiel sicherlich das Hotel The Venetian in Las Vegas darstellt,59 bis hin zur Behauptung venezianischer Identität, wie sie beispielsweise in den alljährlichen Kostümschauen und -prämierungen des venezianischen Karnevals zu beobachten ist,60 einem vermeintlichen Ausdruck regionaler Identität, der längst zu einem Phänomen der Aneignung von außen wurde.61 Vergleichbar damit ist auch die Venezianisierung der amerikanischen Erfolgsautorin Donna Leon, die ihr literarisches Alter Ego Commissario Brunetti durch die dunklen Gassen der Lagunenstadt streifen lässt, und die sich zudem selbst hier niedergelassen hat und mittlerweile Teil des ‚kulturellen Inventars‘ geworden zu sein scheint.62

57 Zur Verwebung von Ausstellungs- und Unterhaltungskomplex vgl. Bennett 1995; zu den hier genannten Beispielen vgl. die entsprechenden Abschnitte in den folgenden Kapiteln. 58 Franke und Niedenthal sprechen von „der Allgegenwart Venedigs mindestens im Bilderkanon der ‚westlichen‘ Welt“ und der Omnipräsenz der Stadt, so dass der Reisende vor allem die Bestätigung seiner Vorstellungen suche. Vgl. Franke und Niedenthal 2011, 19. 59 Vgl. hierzu Schwarzmann 2003, 130-131. 60 Hier nehmen teil – und gewinnen – Menschen aus aller Welt, so beispielsweise die Deutsche Tanja Schulz-Hess, die mehrere Jahre hintereinander den ersten Preis des Kostümwettbewerbs erhielt. Vgl. http://www.spiegel.de/reise/staedte/schoenstes-kos tuem-in-venedig-marco-polos-reisen-holt-den-sieg-a-609451.html. [Letzter Zugriff: 27.12.2014]. 61 Vgl. zur Geschichte des Karnevals Weichmann 1999, 175-198. Der Karneval in seiner heutigen Form gilt als ‚invented tradition‘ und wurde erst in den 1970er Jahren wiederbelebt, weshalb er im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur am Rande behandelt wird. „,Invented tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past.“ Hobsbawm 1986, 1. 62 Vgl. hierzu Borchmeyer 2013, 412-430. Auf der offiziellen Homepage von Donna Leon wird ihre eigen Vita darauf reduziert, sie als Autorin der Brunetti-Reihe vorzu-

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Diese Beispiele einer engen Verzahnung unterschiedlichster Reproduktionen und Rezeptionen der Stadt, die sich in gewissem Sinne als geradezu ortlos erweist, können mit Corbineau-Hoffman in einer Tradition gelesen werden, die begann, als Venedig Macht und Geltung verlor. Als „sinnentleertes Stadtbild, auf eine bloße Kulisse reduziert“63 scheint die Lagunenstadt als sozialer Raum vermeintlich funktionslos, weil er eben nicht mehr sozial konstruiert wird – nun erst kann die Literatur Venedig kulturell neu erschaffen. „Aus dem Stadtbild entsteht ein Imaginationsbild, die Kulisse wird zum tragenden Fundament literarischer Fiktionen.“64 Martin Nies kritisiert hier Corbineau-Hoffmann, wenngleich er ihrem Ansatz nicht grundsätzlich widerspricht. Nies sieht jedoch in ihrer These keine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Gründen für den Aufstieg Venedigs als literarischer Topos. Dem entgegen legt er in seiner semiotischkulturwissenschaftlich ausgerichteten Arbeit den eigenen Schwerpunkt auf die Frage nach den „Propositionen in dem Denk- und Literatursystem der raumzeitlichen Kultur“65 dank derer Venedig poetisiert werden konnte und nach den „Probleme[n] und Problemlösungen“66, die am Beispiel Venedigs verhandelt werden konnten. Von ihm wird Venedig „als lediglich ein Referenzraum aufgefasst, dem sich Geschichten einschreiben lassen, deren Entstehung und Bedeutung sich auch, aber eben nicht primär, aus einer irgendwie gearteten Wirklichkeit Venedigs ableiten, vielmehr jedoch aus kulturell ohnehin vorhandenen Diskursen, die nun modellhaft am Beispiel genau dieses Referenzraumes semantisch kondensiert werden können.“

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Während Nies hiermit für eine Lesart Venedigs als Zeichen argumentiert, folgt die vorliegende Arbeit weniger einem semiotischen denn einem performativen

stellen, ihren Geburtsort zu erwähnen und dann auf ihre langen Jahre in Venedig hinzuweisen, vgl. http://www.donnaleon.net/ [Letzter Zugriff: 18.11.2013]. Wenngleich der zunehmende Tourismus auch in den Romanen der US-Amerikanerin kritisch betrachtet wird, tragen ihre Bücher auch ihren Teil zur anhaltenden Popularität der Lagunenstadt bei. Davon zeugen nicht zuletzt Reiseführer auf den Spuren Brunettis, die den Venedigbesucher zu Schauplätzen der Bücher führen, vgl. beispielsweise Holtmann 2014; vgl. auch Hoffmann und Heinrich 2012. 63 Corbineau-Hoffmann 1993, 8. 64 Corbineau-Hoffmann 1993, 8. 65 Nies 2014, 94-95. 66 Nies 2014, 95. 67 Nies 2014, 95, Hervorhebung im Original.

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Ansatz. Corbineau-Hoffmann verzichtet in ihrer vergleichenden Studie bewusst auf dramatische Bearbeitungen, in denen sie die Stadt als „sekundär präsent“68 betrachtet und auch Nies beschränkt sich in seinem Beispielkorpus auf „literarische und filmische Texte“69. Durch den Ansatz der vorliegenden Arbeit wird aber gerade die Idee der Kulisse, des Allgemeinplatzes, der zum Schau- und Spiel-Platz wird, in den Mittelpunkt gestellt. Damit stellt diese Arbeit Venedig nicht als literarisches und textuelles, sondern als kulturelles Phänomen ins Zentrum, und untersucht mit diesem Fokus Venedig als ‚Anwendungsgebiet‘, als Dispositiv unterschiedlicher, performativer kultureller Praktiken. Der auf Michel Foucault zurückgehende Dispositiv-Begriff70 soll hier in seinem Verständnis aus dem Bereich der Cultural Studies „als komplexes Zusammenspiel [von] technischer Apparatur, Medieninhalten sowie institutionellen Praktiken ihrer Produktion und vor allem ihrer Rezeption, bzw. Nutzung“71 angewendet werden. Über die literarische Rezeption hinausgehend, wird in dieser Arbeit aus theaterwissenschaftlicher Perspektive die Frage nach der Theatralität72 der Stadt und nach ihrer theatralen, beziehungsweise performativen, Aushandlung wie Aneignung gestellt.73 Um Venedig in diesem Kontext als theatrales und performatives, zudem als metropolitanes und transnationales Phänomen zu untersuchen, werden drei zentrale performative kulturelle Praktiken analysiert: Die Aneignung im Konsum, im Reisen und im Spiel. So wird unter der Prämisse einer Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft im Folgenden zuerst die Lagunenstadt als Kulisse metropoli-

68 Corbineau-Hoffmann 1993, 5. 69 Nies 2014, 25. 70 Foucault definiert das Dispositiv wie folgt: „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantrophische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt.“ Foucault 1978, 119-120; vgl. weiterführend zur Dispositivanalyse Bührmann und Schneider 2008; vgl. zur Diskussion des Dispositiv-Begriffs auch Hoesch 2013, hier im Kontext einer theaterwissenschaftlichen Annäherung an den Tourismus. 71 Bührmann und Schneider 2008, 12-13. 72 Erika Fischer-Lichte beschreibt Venedig als „theatralische Stadt par excellence“, vgl. Fischer-Lichte 1999, 95. Zum Konzept der Theatralität bietet der Beitrag von Matthias Warstat im Metzler Lexikon Theatertheorie einen Überblick, vgl. Warstat 2005b. 73 Vgl. hierzu auch den Abschnitt Performative Praktiken des einleitenden Prologs.

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tanen74 Lebens am Beispiel der Freizeitparks untersucht, wofür eine Kontextualisierung im Rahmen der Themenfelder des Ausstellens, des Präsentierens und des Konsumierens erfolgt. Im Kapitel Travelling Venice wird Venedig dann am Beispiel populärkultureller Reiseliteratur untersucht und dafür im Kontext der Entwicklung des Tourismus und seiner imaginären Vorprägungen im Panorama und seiner realen Begleiterscheinungen durch die Eisenbahn analysiert. Das letzte thematische Kapitel wird schließlich die Idee der Stadt als Kulisse wörtlich nehmen und theatrale und filmische Venedigrekonstruktionen untersuchen. 1.1.1 Venedig als kulturelles Imaginäres Vom touristischen Blick dominiert, kann auch für Venedig die Klage Marlene Dietrichs angeführt werden, die angesichts ihrer medialen Präsenz meinte, sie sei zu Tode fotografiert worden75 – doch im Unterschied zur Filmdiva kann sich die Lagunenstadt den Augen der Öffentlichkeit nicht entziehen. Venedig bleibt ausgestellt und angeblickt, Reiseziel, Fotomodell und Bildmotiv – und dabei zugleich geografisch verortbar, fiktiv und kulturell ‚bespielt‘, im ständigen Abgleich mit seinen kulturellen Reproduktionen, als fast ortlos gewordene, omnipräsente Stadt, als ‚kollektives Imaginäres‘76. Dieser Begriff wird hier unter Bezug auf Hans Belting, der die subjektive Imagination von dem kollektiven Imaginären trennt, eingeführt und verwendet. Letzteres bilde eine gemeinschaftliche Basis: „So unterscheidet sich das Imaginäre von den Produkten, in denen es zum Ausdruck kommt, als der gemeinsame Bildgrund und Bilderfundus in einer kulturellen Tradition, aus denen die Bilder der Fiktion abgerufen und mit denen sie inszeniert werden können.“77 Betrachtet man Venedig als einen solchen „ge-

74 Der hier verwendete Anglizismus „metropolitan“ wird eingesetzt, um den Metropolen-Fokus und die Sonderstellung zu betonen, die die Metropolen in ihrer kulturellen Dynamik und Strahlkraft beweisen. So bezieht sich der Begriff im Rahmen dieser Arbeit auf das urbane Leben in London, Paris, Wien und Berlin. Zur Definition der Metropole vgl. Reif 2006 und den Abschnitt Theatralität der Metropolen des einleitenden Prologs. 75 Vgl. hierzu das Fotografie-Projekt Venedig der FH Mainz aus dem Jahr 2013, das von dem Dietrich-Zitat ausgehend einen eigenen Blick auf die Lagunenstadt behauptet, so seien „Bildstrecken entstanden, die ein anderes Licht auf Venedig werfen.“ http://vene dig.fh-mainz.de/ [Letzter Zugriff: 03.01.2015] bzw. http://foto-hs-mainz.de/de/arbei ten/projekte [Letzter Zugriff: 10.08.2017]. 76 Vgl. Belting 2001, 28. 77 Belting 2001, 74.

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meinsame[n] Bildgrund“, so ist damit nicht lediglich die Benennung eines gemeinsamen Themas unterschiedlicher kultureller Produkte zu sehen, sondern kann von einer weiten Verbreitung und identitätsstiftenden kulturellen Funktion dieser geteilten Vorstellungen ausgegangen werden. Die ‚Produkte‘, in denen das kollektive Imaginäre zum Ausdruck kommt, stehen als Phänomene der Anwendung und Ausübung kultureller Praktiken im Zentrum dieser Arbeit. In diesem Sinne wird das kollektive Imaginäre hier als kulturelles Imaginäres verstanden.78 Dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser folgend ist das Imaginäre der Brückenschlag zwischen real und fiktiv – und damit der Zwischenraum par excellence. Das Imaginäre erweist sich bei ihm als Einbruch des Realen im Fiktiven,79 wobei Iser das Reale definiert als „außertextuelle Welt“80 und das Fiktive als „das Nicht-Wirkliche, als Lüge und Täuschung“81. Wichtig ist ihm die Analyse der Beziehungen der Pole zueinander und weniger ihre Gegenüberstellung.82 Als Zwischenraum erweist sich Venedig in mehrfacher Hinsicht – betrachtet als kulturelles Imaginäres, als Teil einer imaginären Geografie83, als Heterotopie. Dabei muss gerade der Verschränkung aus Ort, Raum und Imagination besondere Beachtung geschenkt werden.

78 Zur Entwicklung und Verwendung des Imaginären als Konzept der Kulturwissenschaften vgl. Simonis und Rohde 2014. Die Autoren halten fest, dass noch keine „übergreifende, theoretische Fundierung des kulturellen Imaginären“ geleistet worden sei, vgl. ebd., 1. In ihrem Überblick zum aktuellen Stand der Forschung werden die Begriffe des kollektiven und kulturellen Imaginären synonym verwendet. 79 Vgl. Iser 1991, 18. 80 Iser 1991, 20. 81 Iser 1991, 20. 82 Iser 1991, 23. 83 Die Idee der imaginären Geografie wird hier unter Verweis auf Said eingeführt, vgl. Said 2003, 49. Zur Entwicklung und Weiterführung der Idee der imaginären Geografie, besonders unter Verweis auf die Arbeiten des Geografen Derek Gregory, vgl. Döring 2010, 95-97.

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1.1.2 Venedig als Heterotopie Raum wird spätestens seit dem ‚spatial turn‘ – geografisch, kulturell und fiktiv – neu betrachtet und verortet. „Denn die Raumperspektive erstreckt sich hier auf Räume, die nicht mehr nur real, territorial und physisch, auch nicht mehr nur symbolisch bestimmt sind, sondern beides zugleich und damit potenziert zu einer neuen Qualität: ‚Heterotopien‘, so nennt sie Foucault, unter 84

‚imaginary geography‘ fasst sie Said […].“

Die zwei Koordinaten, real und symbolisch, zwischen denen Doris BachmannMedick hier ihre Definition der Raumtypen aufspannt, werden in der dritten, beides verbindenden Dimension „potenziert“. Dieser liegt eine Idee des ‚Dazwischens‘, des Grenzzustandes und Zwischenraumes zugrunde. Beispielhaft verweist Bachmann-Medick auf zwei Raum-Konzepte dieses ‚Dazwischens‘: die imaginäre Geografie und die Heterotopie. Edward Saids These einer imaginären Geografie als Manifestation von Machtverhältnissen begründet Identität(en) über die Konstruktion eines anderen Raumes in Abgrenzung zum Eigenen, bei ihm konkret in der ‚Erfindung‘ des Orients, der einer westlichen Identitätsstiftung dient.85 Eng verknüpft werden kann dies mit der Idee der „imagined community“86, die auf den Politikwissenschaftler Benedict Anderson zurückgeht. Anderson hat in seiner Untersuchung der Nation dieselbe als Konstruktion beschrieben, nicht als natürlich gewachsene Einheit, wenngleich sie die Künstlichkeit ihrer Erscheinung zu verschleiern sucht. Nation wird mit ihm als Setzung definiert, als Bildung einer Gemeinschaft in Abgrenzung zu anderen. 87 Er definiert dieses Gebilde als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.“88 In diesem Imaginationsprozess erweist sich die Gemeinschaft aber auch als kulturelle, und die Medien, für Anderson vor allem die Zeitungen, spielen dabei eine besondere Rolle, denn sie stärken, jenseits der

84 Bachmann-Medick 2006, 297-298. 85 Vgl. hierzu Said 2003, 1. 86 Vgl. Anderson 1996. 87 Vgl. Anderson 1996, 16. „Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.“ Gellner 1964, 169, hier zitiert nach Anderson ebd. Die Hervorhebung stammt von Anderson. 88 Anderson 1996, 15.

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‚face-to-face community‘, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und das Wissen um die Existenz anderer als Teil des Kollektivs. 89 Foucaults Heterotopie hingegen beschreibt einen Raum außerhalb der Realität, aber in ihr verortet, der sich als Spiegel und Gegenentwurf denken lässt. Heterotopien seien Orte, so Foucault, auf die sich andere beziehen, „aber so, daß sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren.“90 Dabei unterscheidet er zwischen Utopien, „die Platzierungen ohne wirklichen Ort“91 seien, also irreale und nicht realisierte Räume, und Heterotopien, die er definiert als „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie gleichsam geortet werden können.“

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Diesen Heterotopie-Begriff wendet Wiebke Amthor auf Venedig an. Dabei geht sie von einer Literaturwissenschaft als Raumwissenschaft mit Verweis auf Jurij Lotman als System relationaler Gegebenheiten aus, die in und durch Sprache konstruiert werden.93 Im Verständnis der vorliegenden Arbeit kann dies im Sinne einer performativen Hervorbringung gelesen werden. 94 Amthor schlussfolgert: „Die Relationalität des sprachlich erzeugten literarischen Raumes entspricht der Konzeption des realen Raums als relationalem.“ 95 Venedig besteht damit in der Literatur wie real nur ‚in Bezug auf‘ etwas – bei Amthor wird die Stadt unter Verweis auf Foucault als Heterotopie markiert, denn als Ort der Abweichung de-

89 Vgl. Anderson 1996, 43. Vgl. weiterführend zum Zusammenhang von Medienverbreitung, Mediennutzung und der Entstehung von Öffentlichkeit Habermas 1990. 90 Foucault 1992, 38. 91 Foucault 1992, 38f. 92 Vgl. Foucault 1992, 39. Vgl. weiterführend zur Verbindung von (Wissens-)Raum und Heterotopie bei Foucault auch Zenck 2010. 93 Vgl. Amthor 2009, http://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/779/807. [Letzter Zugriff: 28.12.2014]. 94 Zur Beziehung von gesprochener Sprache und Performativität vgl. die für die Performativitätstheorie grundlegenden Vorlesungen von John L. Austin, How to Do Things with Words von 1955, vgl. Austin 2014. 95 Amthor 2009. Zur Verbindung von Heterotopie und Venedig vgl. auch Mahler 1999.

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finiert sei Venedig ein singuläres Beispiel, das zugleich „eine solche realisierte Abweichung vom und zugleich Bestätigung des Bestehenden“96 darstelle. „Venedig ist nicht allein vielfach von einzelnen Heterotopien durchsetzt, sondern es wirkt in Bezug auf die westeuropäische Kultur in seiner Gesamtheit als Heterotopie. Aufgrund seiner Lage und Architektur zugleich Infragestellung, Übersteigerung und Bestätigung städtebaulicher Ideen, funktioniert Venedig als gesellschaftlicher Raum völlig anders als die übrigen europäischen Städte. Nicht nur werden in Venedig die gewohnten räumlichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt, da der Stein auf dem Wasser zu schwimmen scheint oder die Kanäle die Funktion von Straßen übernehmen. Venedig ist vielmehr auch – gesellschaftlich-räumlich betrachtet – Stadt als Museum, in der sich eine spezielle Form von Synchronie und Diachronie ausbildet, es ist – Stadt des Karnevals – immer auch bewusste Inszenierung von Alterität.“

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Amthor weitet den Heterotopie-Begriff auf Venedig als Gesamtheterotopie aus und begreift die Stadt als Gegensatz – und damit in Bezug – zur „westeuropäische[n] Kultur“98, als Kontrastfolie europäischer Städte – und somit auch denkbar im Said’schen Sinne als Gegenstand einer ‚imaginären Geografie‘. Weder beschränkt auf den realen noch auf den symbolischen Raum, ist Venedig nicht ohne eine Rückbindung an die spezifische Stadtmaterialität zu denken. Amthor verweist auf „Lage und Architektur“, die „zugleich Infragestellung, Übersteigerung und Bestätigung städtebaulicher Ideen“ 99 darstellen. So muss die behauptete Singularität der Lagunenstadt auch auf die hier mögliche Stadtraumerfahrung, auf die spezifische Materialität Venedigs, zurückzuführen sein.

1.2 T HEORETISCHE V ERORTUNGEN II: V ON W AHRNEHMUNG UND ANEIGNUNG Für den geografisch-realen Stadtraum hat die Soziologin Martina Löw hinsichtlich der Verschränkung von Stadtwahrnehmung und Stadterscheinung den Begriff der „Eigenlogik“100 geprägt. Löws Gedanke erlaubt die Verbindung von Stadtarchitektur, Stadtgeschichte und Stadterleben, wenn sie schreibt, dass „[d]ie

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Amthor 2009.

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Amthor 2009.

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Amthor 2009.

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Amthor 2009.

100 Löw 2008, 65.

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Materialität der Stadt […] als raum-zeitlicher Gedächtnisspeicher baulich und landschaftlich historisch gewachsener Eigenheiten gedacht werden [kann], die das unverwechselbare materielle Substrat für die sinnlich-körperliche Erfahrung eines Ortes ausmachen.“101 Die Konstruktion einer Stadt basiert einerseits auf den vom Subjekt gesetzten Relationen, andererseits auch auf den ‚Eigenheiten‘ der spezifischen Stadt, die sich Körper und Geist des Besuchers vermitteln. Damit wird die Stadt-Geschichte als Stadt-Materialität Teil einer performativen Praktik der Stadtaneignung.102 Dabei stellt Venedig eine besondere Herausforderung dar, scheint es sich hier doch weniger um Realität und Vorstellung als um die Vorstellung einer Realität zu handeln, noch dazu einer höchst vielschichtigen und ambivalenten, so dass die ‚Eigenlogik‘ hier auch eine gewisse Unlogik inkludiert. Wenn für Löw die ‚Eigenlogik‘ der Stadt, deren materielle Gegebenheiten und die ihr eingeschriebene Stadt-Geschichte und Entwicklungen das Verhalten der Bewohner wie auch der Besucher und den Umgang mit der Stadt mitbestimmen,103 so muss auch hier für Venedig gesondert danach gefragt werden, was es bedeutet, wenn, zumindest aus der Außenperspektive, die Stadt weit mehr durch Touristen denn durch Bewohner geprägt wird. 104 Gerade vor dem Hintergrund einer Öffnung und Verbindung der Diskurse des ‚spatial turn‘ mit dem ‚iconic turn‘, letzteres als „Nachdenken über […] wie das Nachdenken mit Hilfe von Bildern“105 und damit einer Aufwertung der Bildwissenschaft gegenüber der Dominanz der Sprachwissenschaft,106 sieht Bachmann-Medick das Potenzial für neue Fragestellungen und Perspektiven, indem nicht nur der abstrakte Raum, sondern auch der Raum in seiner Materialität wieder ernst genommen wird.107

101 Löw 2008, 108. 102 „Die materielle Qualität der Städte trägt zur Strukturieren der Verhaltensweisen und Praktiken wesentlich bei.“ Löw 2008, 108; vgl. zur Verbindung von Performativität und Stadt(er)leben in Bezug auf Lefebvre ebd., 51. 103 Vgl. Löw 2008, 83f. 104 „Dass Venedig sich heute mindestens genauso stark daraus erklärt, was Menschen auf der ganzen Welt dort suchen, und nicht nur aus den politischen und ökonischen [sic!] Institutionen vor Ort, kann zugleich die historische und relationale Bedeutung der Eigenlogikkonstitution verdeutlichen.“ Löw 2008, 94. 105 Bachmann-Medick 2006, 329, Hervorhebung im Original. 106 Vgl. Bachmann-Medick 2006, 329; sie nennt hier als Vordenker des ‚iconic turn‘ William J. T. Mitchell und Gottfried Boehm. 107 Vgl. Bachmann-Medick 2006, 316.

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Venedig steht für die Umkehrung gewohnter Wahrnehmungen,108 hier gerät das Vertrauen in die eigenen Sinne ins Wanken. Verweist die Lagunenstadt einerseits als Heterotopie durch ihre kontrastierenden Beziehungen zur Außenwelt auf deren „Ordnung und Funktionsweise“109 und macht diese sichtbar, bietet sie sich andererseits (und dies auch hinsichtlich der kulturellen Rezeption) als Experimentierfeld an, um „Wahrnehmungsmuster, […] Sehgewohnheiten und Denkmuster“110 in Frage zu stellen, so Amthor. Für Venedig als Denkfigur speist sich auch aus der Materialität der Stadt der Verweis auf ihre Rolle des Dazwischens, als liminaler Raum,111 denn Venedig oszilliert nicht allein mit Blick auf den geografischen Ort zwischen Land und Wasser.112 Die Lagunenstadt war als Handelszentrum lange Ort des Dazwischens von West und Ost, bis heute sichtbar an den Fassaden der Stadthäuser und nicht zuletzt auch an der byzantinisch geprägten Architektur des Markusdoms;113 zudem bedient Venedig konkret und metaphorisch Motive zwischen der Lebensfreude des Karnevals und der Morbidität einer untergehenden Stadt, ist zugleich Symbol romantischen Liebessehnens und individueller Verlorenheit im Labyrinth der Gassen.114 Dieses Dazwischen hat Erika Fischer-Lichte im Verweis auf den Mythos Venedig wie folgt beschrieben: „Sie [die Stadt Venedig] erscheint als ein Ort ‚betwixt and between‘ (Victor Turner), als ein Übergang, eine Passage, ein Ort der Verwandlungen.“115 Mit der Benennung Turners verweist Fischer-Lichte hier explizit auf die Ritualforschung.116 Vor dem Hintergrund der von Arnold van

108 So schreibt Corbineau-Hoffmann: „Offensichtlich setzt Venedig die gewohnte Wahrnehmung außer Kraft.“ Corbineau-Hoffmann 1993, 3. 109 Amthor 2009. 110 Amthor 2009. 111 Vgl. hierzu Fischer-Lichte 1999, 95. 112 „Die Dominanz des spiegelnden Wassers in Kombination mit Licht, Schatten und Farben lässt die Gebäude wie flüchtige Formen wirken, hingegen erscheint das Flüssige und Flüchtige seinerseits zeitweilig als Festes. Scheinbar beständige Funktionen, Gesetze und Bilder lösen sich durch die Verschränkung von Wasser und Stein, von Flüssigem und Festem auf und erscheinen in einem neuen Licht.“ Amthor 2009. 113 Vgl. zur Geschichte und Gestaltung des Markusdoms weiterführend Maguire 2010. 114 Vgl. Gramatzki 2008, 402-404. 115 Fischer-Lichte 1999, 95. 116 „Die gesamte Gesellschaft betreffend bestimmt Turner Rituale als Mittel zur Erneuerung und Etablierung von Gruppen als Gemeinschaften. Dabei sieht er vor allem zwei Mechanismen am Werk: erstens die in den Ritualen erzeugten Momente von communitas, die er als gesteigertes Gemeinschaftsgefühl beschreibt, das die Grenzen

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Gennep geleisteten Arbeit kann sie Liminalität mit Turner definieren als „Zustand einer labilen Zwischenexistenz ‚betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial‘.“117 Der liminale Raum stellt Gesetzmäßigkeiten in Frage und erlaubt das Ausloten anderer Konzepte und Vorstellungen, er öffnet sich als Möglichkeitsraum, birgt aber auch Gefahren, wird Spielfeld für die Aneignung und Aushandlung individueller und kollektiver Identitäten, für Gemeinschaftsbildungen und Selbstverortungsprozesse. Hier werden Grenzen aufgehoben und können neue Gemeinschaften entstehen; aber nicht nur das Individuum, auch das Symbol kann in dieser Phase eine Umkodierung erfahren, seine Bedeutung kann sich verändern und verschieben.118 Mit Bezug auf Venedig stellt sich für die vorliegende Arbeit die Frage, wie und ob sich die Liminalität des Raumes und seine Ambivalenzen in der Rezeption widerspiegeln. Venedig als kulturelles Imaginäres ist nicht losgelöst von der geografischen Realität und Eigenlogik der Stadt zu denken; als kulturelles Imaginäres verortet sich Venedig in einem Stadium des Dazwischens, oszilliert zwischen den Polen der Fiktion und der Realität. Wie wirkt die Eigenlogik der Stadt auf kulturelle Prozesse der Aushandlung und Aneignung? Legitimiert sie Setzungen oder stellt sie eine Störstelle der Rezeption dar? Und wie wird Venedig fern der geografischen Materialität erlebbar gemacht, wie imaginiert und wie materialisiert? Für die vorliegende Arbeit soll dies mit Blick auf urbane, performative kulturelle Praktiken am Beispiel von populärkulturellen Phänomenen um 1900 untersucht werden. Dabei steht im Zentrum die Frage nach der Materialisierung des imaginären Raumes: Wie konnte er leiblich erfahren und konsumiert werden?

aufhebt, welche die einzelnen Individuen voneinander trennen; und zweitens eine spezifische Verwendung von Symbolen, die sie als verdichtete und mehrdeutige Bedeutungsträger erscheinen lässt und es allen Beteiligten ermöglicht, verschiedene Interpretationsrahmen zu setzen.“ Fischer-Lichte 2012b, 15, Hervorhebung im Original. 117 Fischer-Lichte 2012b, 14, zitiert hier Turner 1969, 95. 118 Vgl. hierzu und zur Anwendung der Ritualtheorie auf theaterwissenschaftliche Fragestellungen auch Warstat 2005c.

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1.2.1 Performative Praktiken Womit beschäftigt sich die vorliegende Arbeit, wenn sie auf den Begriff der ‚Praktiken‘ verweist?119 In seiner schon längst selbst zu einem Zeugnis seiner Zeit gewordenen Kulturgeschichte der Neuzeit benennt Egon Friedell die Themenfelder einer kulturgeschichtlichen Historiografie und argumentiert für diese wie folgt: „Gerade hier: in Kost und Kleidung, Ball und Begräbnis, Korrespondenz und Couplet, Flirt und Komfort, Geselligkeit und Gartenkunst offenbart sich der Mensch jedes Zeitalters in seinen wahren Wünschen und Abneigungen, Stärken und Schwächen, Vorurteilen und Erkenntnissen, Gesundheiten und Krankheiten, Erhabenheiten und Lächerlichkeiten.“

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Diese scheinbar etwas willkürliche Zusammenstellung benennt ein Bündel kultureller Phänomene, die in ihrer (zwischenmenschlichen) Aushandlung hervorgebracht und verhandelt werden, über die beispielweise gesellschaftliche Stellungen und Zugehörigkeiten bestimmt werden und die kulturelle Praktiken genannt werden können. Die ‚Praktik‘ ist ein der Soziologie entnommener Terminus, der in seiner basalen Auslegung besagt, dass „Praktiken nichts anderes als Körperbewegungen darstellen und dass Praktiken in aller Regel einen Umgang von Menschen mit ‚Dingen‘, ‚Objekten‘ bedeuten […].“121 Diese entstehen im Wechselspiel von Akteur und Produkt, sie sind nicht allein vom Menschen und seiner Handlung abhängig, sondern, so Andreas Reckwitz, inkludieren auch eine gewisse Materialität im Sinne von „Artefakte[n], die vorhanden sein müssen, damit eine Praktik entstehen konnte und damit sie vollzogen und reproduziert werden kann.“122 In der Theaterwissenschaft wurde in Folge der Arbeiten Judith Butlers123 die Performativität der Praktik betont, also der Schwerpunkt weniger

119 Für diesen Themenkomplex danke ich für die anregenden und bereichernden Gespräche besonders Friedemann Kreuder und Ellen Koban. Vergleiche hierzu auch das DFG-Projekt Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, http://www.blogs.uni-mainz.de/undoingdifferences-e/. [Letzter Zugriff: 27.12.2014]. 120 Friedell 1960, 23. Friedell fasst diese Themenfelder unter dem Begriff der „Sitte“, vgl. ebd. 121 Reckwitz 2003, 290. 122 Reckwitz 2003, 291. 123 Prägend für die Forschung war u.a. Judith Butlers Auseinandersetzung mit der Herstellung von Geschlecht, basierend auf der Unterscheidung von gesellschaftlich-

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auf die Praktik als routiniertes Handeln denn als „Akte der öffentlichen Hervorbringung von Bedeutung“124 gelegt. Hier liegt in der Betonung des Performativen auch eine besondere Hervorhebung der Möglichkeit zur Veränderung, des „beständige[n] Potential[s] zur kulturellen Innovation“125, das diesen Handlungen innewohnt.126 Performativ bezeichnet dabei einen wirklichkeitskonstituierenden und selbstreferentiellen Akt.127 Unter performativer Praktik wird hier im Folgenden der Akt der Bedeutungs- und Wirklichkeitshervorbringung durch menschliches Handeln im Austausch mit sozialer Um- und Dingwelt verstanden. Die von Friedell benannten kulturellen Phänomene können mit Milton Singer als „cultural performances“128 gefasst werden – womit Gewicht auf die Aushandlung gelegt wird, auf die Performance, die, Victor Turner folgend, als eine „Praxis, in der eine Kultur sich selbst erkennt“129 mit identitätsstiftendem Potenzial belegt wird. Wie Marcus S. Kleiner schreibt: „Der [sic!] Modell der Performance, d.h. Kultur als Inszenierung, ebenso wie der Begriff Performativität, also Sprache als Handlung, zeigen nicht einfach an, dass etwas getan wird, sondern alles Tun aufgeführt und wiederaufgeführt wird, die Herstellung kultureller Bedeutungen und Erfahrungen praktisch erfolgt. Die Wiederholung in der Wiederaufführung ist immer auch transformatorisch, impliziert ein Anderswerden-(können) […].“

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Kultur ist nur greifbar in ihrem Vollzug – und in diesem zugleich auch wandelbar und dynamisch. Das Moment der Inszenierung ist die Hervorbringung und Bestätigung von Kultur – zugleich Moment ihrer möglichen Veränderung. Kulturpraktiken sind nicht einfach Folgeerscheinungen von technischen Entwicklun-

sozialem Geschlecht (Gender) und biologischem Geschlecht (Sex); vgl. hierzu weiterführend Butler 1990; vgl. auch Schrödl 2014. 124 Reckwitz 2003, 283. 125 Reckwitz 2003, 297. 126 Vgl. Reckwitz 2003, 297. 127 Vgl. Fischer-Lichte 2012a, 38. 128 Erstmals benannt wurde der Begriff der cultural performances von Milton Singer 1959 im von ihm herausgebrachten Buch Traditional India. Structure and Change. Vgl. hierzu Carlson 2013, 13. Vgl. weiterführend Singer 1972 und Turner 1992. 129 Turner hier paraphrasiert von Klein und Sting 2005, 7. 130 Kleiner 2013, 19.

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gen, sondern Technik wird von Praktiken bedingt, Praktiken durch Technik hervorgebracht.131 1.2.2 Zirkulation und Sichtbarkeit sozialer Energien Reckwitz verweist in seiner Abgrenzung des Feldes der Theorien zur sozialen Praktik als Anwendungsbeispiel auf den ‚New Historicism‘132, der unter praxeologischem Zugriff auf den Foucault’schen Diskursbegriff „die Verwendung von Aussagesystemen im Rahmen bestimmter sozial routinisierter Rezeptions- und Produktionspraktiken analysiert […].“133 Die hiermit implizit beschriebene Aufführungssituation lässt das Theater als paradigmatischen Verhandlungsraum bzw. Analysegegenstand erscheinen. Dabei kann, so die These, die der folgenden Untersuchung zugrunde liegt, gerade im Verweis auf den ‚New Historicism‘ die Bühne nicht allein als Spiegel kultureller Ereignisse untersucht werden, auch nicht allein in gesellschaftlicher Vorreiterstellung, sondern muss eingebunden in einem vielschichtigen Netz aus unterschiedlichen Praktiken, Phänomenen und Akteuren, in einer Wechselwirkung, die mit Stephen Greenblatt als Zirkulation beschrieben werden kann, gelesen werden. Greenblatt entwickelte bereits in den 1990er Jahren seine Idee einer „Zirkulation sozialer Energie“134, die sich als eine Faustformel der von ihm mitbegründeten Richtung des ‚New Historicism‘ etablierte. Unter Anwendung der von Clifford Geertz elaborierten Zuwendung zum Untersuchungsgegenstand durch „dichte Beschreibung“135 wird so ein Forschungsgegenstand nicht losgelöst, sondern in seinen Beziehungsverhältnissen untersucht. Man folgt damit den ‚Energieströmen‘, die zu seiner Generierung, spezifischen Erscheinungsform und seinen kulturellen Folgewirkungen führen. Auf diese Weise wird die Wechselwirkung kultureller Hervorbringungen ins Zentrum gestellt, die sich auf unterschiedlichsten Wegen materialisieren. Die Wahl des Terminus ‚Energie‘ scheint dabei auf den ersten Blick sehr offen und schwer greifbar. Wenn nach Greenblatt „alles, was von der Gesellschaft

131 Vgl. Reckwitz 2003, 285. Mit Bezug auf Artefakte und ihren Gebrauch spricht Reckwitz davon, dass Dinge ‚kulturalisiert‘ und Handlungspraxis ‚materialisiert‘ werde, vgl. ebd. 132 Vgl. hierzu die Einführung von Moritz Baßler von 2001. 133 Reckwitz 2003, 298. 134 Greenblatt 1993, 31. 135 Vgl. Geertz 1983.

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produziert wird“136 Teil dieser Zirkulationsbewegung und somit Energie sein kann, so muss zur Analyse auf die Momente der Vergegenwärtigung, auf das Erscheinen, die Vor- und Aufführung fokussiert werden. Durch Barbara Gronaus Auseinandersetzung mit dem Konzept der Energie lässt sich eine solche Fokussierung als Verständnis der Energie in ihrem „theatralen Charakter“ lesen: „Ob als Wirkung, unsichtbare Kraft oder transgressive Verbindung – die Basis aller Energievorstellungen liegt in ihrem eminent theatralen Charakter. Über Energie zu sprechen, heißt stets Szenarien in den Blick zu nehmen, die das Flüchtige und Immaterielle rahmen und ausstellen, denn nur so wird aus dem Unsichtbaren oder Gespürten eine dis137

kursivierbare Größe, wird aus Erfahrung eine Entität.“

In der vorliegenden Arbeit werden die Zirkulationen und Momente der Materialisierung kultureller Praktiken in das Zentrum der Überlegungen gerückt. Die Untersuchungsbeispiele bilden dabei Erscheinungsformen dieser sozialen wie kulturellen Energien, sind zugleich Momente der Ausübung kultureller Praktiken, ihrer Bedingungen und ihrer Aushandlung. Am Beispiel der Aneignung eines so singulären Stadtraumes wie Venedig wird dafür anhand populärkultureller Phänomene Beziehungsgeflechten und Querverweisen zwischen Praktik und Phänomen, Kulturakteur und Kontext gefolgt und so der Rezipient als (Aus-) Handelnder besonders berücksichtigt. Venedig als kulturelles Imaginäres und gemeinschaftsstiftendes Phänomen einer ‚imagined community‘ soll dabei weniger mit Blick auf nationale Erfahrungsräume, als vielmehr auf Metropolen als Erfahrungsräume untersucht werden. Ohne die nationalen Nutzungen und unterschiedlichen Entwicklungen negieren zu wollen, wird hier das Augenmerk auf die kulturelle Praktik als urbane gelenkt und nach den Momenten der Durchlässigkeit gesucht. Wie zirkulierten populärkulturelle Phänomene im metropolitanen und transnationalen Kontext um 1900? Welche Rolle spielte dabei Venedig als geografisch verortbarer, bereisbarer, zugleich fiktiv verhandelter und imaginär zirkulierender Grenzraum?

136 Greenblatt 1993, 31. „Es handelt sich um Macht, Charisma, sexuelle Erregung, kollektive Träume, Staunen, Begehren, Angst, religiöse Ehrfurcht, zufällige, intensive Erlebnisse.“ Ebd. Greenblatt analysiert hierfür am Beispiel des Elisabethanischen Theaters die zwischen Bühne und Gesellschaft stattfindenden „Tauschverhandlungen“ und weist das Theater als paradigmatischen Ort der Energie-Zirkulation aus. Vgl. ebd., 32. 137 Gronau 2013, 9.

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1.3 K ONTEXTUELLE V ERORTUNGEN : V ON URBANEN UND TRANSNATIONALEN K ULTURRÄUMEN In der Transnationalismusforschung wird die Idee der Mobilität von Kultur unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht, denn hier wird nach verbindenden Aspekten zwischen nationalen Gemeinschaften gesucht, wie es auch die Internationalitätsforschung nahelegt, sowie nach Grenzüberschreitungen und Grenzverbindungen. Margrit Pernau betont in Transnationale Geschichte, dass bereits das Wort ‚transnational‘ eine In-Frage-Stellung der Nation bedeute.138 Neben der Möglichkeit, sich transnationalen Phänomenen komparatistisch zu nähern, 139 bietet die Transferforschung einen Ansatz, der sich vor allem den Beziehungen und Bewegungen widmet und somit den Fokus auf die Mobilität der Kultur richtet. Für die vorliegende Arbeit sollen Differenzen – gesellschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Natur, die zwischen den Metropolen Westeuropas Ende des 19. Jahrhunderts auszumachen sind – nicht negiert werden. Stattdessen soll das Potenzial kultureller Techniken und Praktiken ausgelotet werden und anhand dieses fruchtbaren Gegensatzes aus transnationalen Bildern und Ideen als mobile Phänomene einerseits und ihren nationalen Vereinnahmungen andererseits untersucht werden. Dabei verweist der Ansatz der Transfergeschichte zudem auf den Konstruktionscharakter von Gemeinschaft, da hier Austauschprozesse nicht zwischen gegebenen Einheiten untersucht werden, sondern diese als sich im Austauschprozess konstituierend beschrieben werden können.140 Von Anderson ausgehend rücken in das Zentrum der Untersuchung mediale Erfahrungsräume,141 die Ende des 19. Jahrhunderts einer wachsenden Menschenmenge 142 offen standen und über die ein Gemeinschaftsgefühl verhandelt und ausagiert werden konnte. Gerade beim Versuch, unterschiedliche Metropolen und damit unterschiedliche Nationen zu untersuchen, kann die mangelnde Vergleichbarkeit der hetero-

138 Pernau sieht darin einen Vorteil gegenüber der Nutzung von Begrifflichkeiten wie ‚translokal‘ oder ‚transregional‘, vgl. Pernau 2011, 118. 139 Dabei stehe im Zentrum der komparatistischen Annäherung die Frage nach „einer gemeinsamen Oberkategorie“, Pernau 2011, 30. 140 Vgl. Pernau 2011, 43 in Bezug auf Espagne 1994; vgl. hierzu auch Schröder und Höhler 2005. 141 Vgl. Anderson 1996, 43. 142 Vgl. hierzu die bei Sennett genannten Bevölkerungszahlen für London und Paris, Sennett 2004, 173f.

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genen urbanen Entwicklungen in Westeuropa allerdings zu Recht angemahnt werden. Denn, so zeigt es Hannu Salmi in seiner europäischen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts: Nationalismus sollte weniger als politisches, sondern vielmehr als kulturelles und historisches Phänomen betrachtet werden, das auch die Lebenspraktiken der Bürger prägte: „Nationalism is often viewed in terms of politics, but it was in many ways a cultural historical phenomenon, loaded with meanings, signs and symbols. It has left its imprint on the arts, popular culture, historical understanding, education – and emotions.“143 So wurde der spezifische nationale Zugriff auf verschiedene Themen folglich ebenfalls im Rahmen der Populärkultur sichtbar; auch Venedig wurde, unterschiedlich motiviert und realisiert, national vereinnahmt.144 Die Lagunenstadt wurde realpolitisch nach einer wechselhaften Zeit der Fremdherrschaft, unterbrochen von kurzen Phasen der Souveränität, 1866 schließlich dem jungen Königreich Italien eingegliedert. 145 Die wechselnden Besitzansprüche und Machtverhältnisse spiegeln sich zum Teil in den jeweiligen nationalen Venedig-Diskursen. Doch es habe sich nicht nur das Leben in den einzelnen Metropolen unterschieden, so argumentiert Salmi weiter, sondern es zeigten sich auch innerhalb der einzelnen Nationen signifikante Diskrepanzen zwischen dem Leben auf dem Land und dem in der Stadt. Die Stadt war ein Zentrum mit Strahlkraft auch in weiter entfernte Regionen, Ursprungsort von Veränderungen und Ort ihrer hohen Konzentration und dabei singulär und in Vorreiterstellung hinsichtlich neuer Entwicklungen.146 Bedingt durch ihre Funktionen als Anziehungspunkte und Zirkulationsorte etablierten sich die Metropolen in unterschiedlichem Maß, jedoch stärker als die ländlichen Regionen, geprägt von einem zunehmenden Austausch an Menschen, Waren und Informationen. So hält Salmi die Großstädte unterschiedlicher Nationen für besser vergleichbar als das Leben eines Stadt- und eines Landbewohners derselben Nation.147

143 Salmi 2008, 58. 144 Vgl. hierzu die Ausführung zu Venedig in der Rekonstruktion des Freizeitparks im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit und die hier beschriebenen Verknüpfungen zur englischen, französischen und österreichischen Geschichte und Kultur. 145 Vgl. Rösch 2000, 172. 146 Vgl. Salmi 2008, 3. Mit dem Ausbau der Kommunikationstechnologien und -möglichkeiten sieht Sennett die Diskrepanz zwischen Stadt und Land so stark abnehmen, dass heutige Entwicklungen in der Großstadt direkt auf die gesamte Gesellschaft Auswirkungen zeigen können. Vgl. Sennett 2004, 170f. 147 Vgl. Salmi 2008, 3.

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Industrialisierung und Urbanisierung, Ökonomisierung und Zuwanderung als Erscheinungen der Metropolen implizieren eine erhöhte Zirkulation an Menschen, Produkten und Ideen – und legen einen erhöhten transnationalen kulturellen Austausch nahe, mit Auswirkungen auf das Lokale. Im Verweis auf mediale Phänomene kann mit Bachmann-Medick konstatiert werden: „[G]erade solche (durchaus global verbreiteten) Imaginationen und Repräsentationen prägen die lokalen Besonderheiten; gerade von ihren grenzüberschreitenden Fiktionalisierungen aus wäre das ‚Reale des Alltags‘ in den örtlichen Lebensumständen zu erforschen. 148

Zudem laufen im lokalen Raum gewissermaßen die globalen Stränge zusammen […].“

Dabei wird der flüchtige Charakter der Kultur, so Greenblatt in A Mobility Studies Manifesto, meist zugunsten einer behaupteten Lokalisierbarkeit, einer Tradition und historischen Verankerung an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Region, überdeckt bzw. negiert. „Cultures are almost always apprehended not as mobile or global or even mixed, but as local. Even self-conscious experiments [...] turn out to produce results that are strikingly enmeshed in particular times and places and local cultures. And the fact that those local cultures may in fact be recent formations, constructed out of elements that an earlier generation would not have recognized, makes very little difference. Indeed one of the characteristic powers of a culture is its ability to hide the mobility that is its enabling condition.“

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Vor diesem Hintergrund wird Venedig als transnationales kulturelles Imaginäres betrachtet und als Phänomen einer transnationalen, urbanen Kultur der zu untersuchenden Metropolen in den Fokus gerückt werden. 1.3.1 Theatralität der Metropolen um 1900 Die Metropole kann in ihrer rudimentärsten Definition gefasst werden als Stadt mit hoher Bevölkerungszahl auf engem Raum.150 Aber nicht nur Menschen, auch Kapital findet sich hier in erhöhter Konzentration; Metropolen sind „Orte strukturellen Reichtums an materiellen und kulturellen Ressourcen.“151 Sie haben eine

148 Bachmann-Medick 2006, 296. Mit „Reale des Alltags“ zitiert sie Appadurai 1998, 23. 149 Greenblatt 2010, 252. 150 Vgl. Reif 2006, 3. 151 Reif 2006, 3.

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wichtige Position im Gefüge der anderen Städte inne, denn auf ihnen ruht die Aufmerksamkeit, sie sind zugleich nationale wie internationale Knotenpunkte und Zielorte von Migrationsbewegungen.152 Die Metropole bietet ein „Mehr“, das Menschen anzieht – und was nicht zuletzt in ihrer „kulturelle[n] Magnetfunktion“153 begründet liegt. Die Strahlkraft der Metropolen wurde durch den Ausbau der Verkehrswege verstärkt und bedingt, denn nun rückten auch entfernte Gebiete in eine erreichund erreisbare Nähe, einerseits durch den Austausch von Menschen, andererseits durch den von Informationen. Die neue Mobilität und der Informationsfluss aus und in die Metropolen bedingten nicht nur Veränderungen, die auf einen großen Teil der gesamten Bevölkerung wirkten, sondern prägten das Leben so nachhaltig, dass „Urbanität, im erweiterten Begriffsverständnis der Gesamtheit aller typischen (groß-)städtischen Lebens- und Verhaltensweisen […] sich schrittweise in der gesamten Gesellschaft“154 verbreitete. Damit können folglich Entwicklungen der und in der Großstadt auch als gesamtgesellschaftliche Entwicklungen interpretiert werden oder zumindest vor dem Hintergrund einer weiteren Ausbreitung gelesen werden. So betont auch Peter W. Marx mit Blick auf das Berliner Theater der vorletzten Jahrhundertwende, dass die „metropolitane Kultur […] immer auch internationale Kultur“ 155 gewesen sei. Sie müsse als relationale Kultur im Beziehungsgeflecht und Austausch der anderen Metropolen interpretiert und gelesen werden.156 Die Metropolen bilden für unterschiedliche Diskurse eine zentrale Verhandlungsplattform, als Anziehungspunkte, als „vortices“157, also als ‚Strudel‘, wie es Joseph Roach als Begriff für solch lokalisierte Verdichtungen geprägt hat. Seine Beschreibung dieser ‚vortices‘ erinnert direkt an Venedig und die urbanen Zentren gleichermaßen, wenn er sie nicht nur als räumlich implementierten Karneval, also eine Verkehrung der Ordnung, sondern auch in Bezug auf eine Logik aus Ökonomie und Vergnügen definiert. „The vortex is a kind of spatially in-

152 Vgl. Reif 2006, 3. 153 Reif 2006, 4. Richard Sennett verweist darauf, dass man die Entwicklung der Städte nicht ahistorisch betrachten und keineswegs von einer plötzlichen Revolution ausgehen kann, die die Stadt zu einer Erscheinung der Moderne gemacht habe. Vielmehr beschreibt er einen Prozess, in welchem sich Vergangenheit und Gegenwart eng miteinander verschränken. Vgl. Sennett 2004, 40. 154 Zimmermann 1996, 38. 155 Marx 2007b, 149. 156 Vgl. Marx 2007b, 149. 157 Roach 1996, 28.

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duced carnival, a center of cultural self-invention through the restoration of behavior. Into such maelstroms, the magnetic forces of commerce and pleasure suck the willing and unwilling alike.“158 In diesem Sinne gedacht, fungiert und funktioniert auch Venedig den Metropolen vergleichbar als Verhaltensplattform. In das Kraftzentrum dieser karnevalesken Energiekapsel stellt Roach den Rezipienten, der sich über und durch diese ‚Strudel‘ selbst verorten und seine Zugehörigkeit verhandeln kann. Er beschreibt Räume mit einer hohen Konzentration von Aufmerksamkeit, die wiederum auf ihre Umgebung ausstrahlen. So führt Roach im Verweis auf den Historiker Pierre Nora und dessen Idee der Erinnerungsorte159 aus: „Technological invention (architectural innovation particularly) and social organization create what Nora calls ‚places‘ or sites of memory – what I call vortices of behavior. Their function is to canalize specified needs, desires, and habits in order to reproduce them.“160 Die Großstadt als vitale und virulente Verhaltensplattform kann mit Richard Sennett auch als „theatrum mundi“161 beschrieben werden. Am Beispiel von Paris erklärt er, wie sich das öffentliche Leben Ende des 19. Jahrhunderts als „ausgelassenes Schauspiel“162 zeigte, gefüllt mit flüchtigen Momenten spektakulärer Ereignisse.163 Die Begegnungen seien im Theaterrahmen, auf und mit der Bühne, und auf der Straße vergleichbar, „[i]n beiden Bereichen findet Ausdruck in einer weitgehend von Fremden bestimmten Umgebung statt. […] Als Ort, an dem sich das Verhältnis von Bühne und Straße beobachten läßt, bietet sich die

158 Roach 1996, 28. 159 Pierre Nora begründete die Forschung zu den Erinnerungsorten mit seinem mehrbändigen Werk zu den „lieux de mémoire“ Frankreichs. Mittlerweile wurden ähnliche Sammlungen für viele weitere Nationen angelegt, teils auch für überstaatliche Zusammenschlüsse wie Europa. Vgl. Nora 1995, vgl. für Deutschland François und Schulze 2005 und für Europa Boer et al. 2012. 160 Roach 1996, 27-28. 161 Sennett 2004, 62, Hervorhebung im Original. 162 Sennett 2004, 165. 163 Für Sennett wird hier auch die Zeit eines Wandels markiert, die das Ende des öffentlichen Lebens bedeute, denn der Einzelne werde mehr und mehr zum stummen Betrachter dieser Schauspiele. „Passive Betrachter, schweigende, staunende Zuschauer – mochte sich die Stadt auch im Taumel der Erregung befinden, in ihrer äußeren Erscheinung zeigten sich doch Anzeichen einer Veränderung.“ Sennett 2004, 166.

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Großstadt an.“164 Der Bewohner einer Weltstadt sei, folgt man Sennett, im Gegensatz zum Provinzbewohner bereit, nicht nur das Sicht- und Beobachtbare anzunehmen, sondern auch das, was sich bisher nur in seiner Imagination abspielt.165 Gerade in der Stadt wird die Verbindung theatraler und alltäglicher Praktiken deutlich: Wie im Theater sei auch der Mensch in der Öffentlichkeit der Stadt Fremden ausgesetzt, so Sennett, und daher vor die Aufgabe gestellt, das eigene Handeln glaubhaft zu vermitteln – gelingt dies, „so besitzt ein solcher Auftritt eine ‚urbane‘ Qualität.“166 Die Ausweitung des „Theaters als Paradigma der Moderne“167 zur ‚Theatralität als Paradigma der Moderne‘, nicht als auf den Theaterrahmen beschränkte, sondern als eine das (kulturelle) Leben generell betreffende Praxis, führt, so die Annahme, zu einer spannenden Neuinterpretation des Verhältnisses von Theater und Leben als wechselseitiger Austausch von Techniken und Praktiken, durch den kulturelle (Massen-)Phänomene generiert werden. 1.3.2 Vermassung und Massenkultur Massemedien und Massenkultur bedingen eine neue Vergleichbarkeit: In seiner Arbeit zu diesen Phänomenen hat Kaspar Maase Deutschland, Frankreich und England untersucht und begründet dies unter anderem mit der Schwierigkeit ei-

164 Sennett 2004, 58. Weiter konstatiert er, dass der prädestinierte Ort der Untersuchung der öffentlichen Rollen, des Vergleichs von Theaterbühne und Straßentheater, die Weltstadt sei. Ebd. 165 Hier Honoré de Balzac paraphrasierend, vgl. Sennett 2004, 63. 166 Sennett 2004, 61. Sennett weiter: „Die Stadt ist eine Ansiedlung von Menschen, in der sich solche Inszenierungsprobleme mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder ergeben.“ Ebd. Hier gleichen sich Situationen, in welchen das Verhalten eines Schauspielers und eines Fremden wahrgenommen werden; für beide Begegnungen gilt die Glaubwürdigkeit der Vermittlung, „ist externes Wissen des Publikums ohne Belang – in der Stadt, weil es nicht anders sein kann, im Theater, weil es nicht anders sein soll.“ Ebd., 62. 167 Vgl. hierzu Balme, Fischer-Lichte und Grätzel 2003, hierin besonders der Aufsatz von Fischer-Lichte: „Vom Theater als Paradigma der Moderne zu den Kulturen des Performativen. Ein Stück Wissenschaftsgeschichte“, 15-32; vgl. ebenso weiterführend die im Rahmen des Mainzer Graduiertenkollegs Theater als Paradigma der Moderne: Drama und Theater im 20. Jahrhundert (ab 1880) (1992-1996) entstandenen Publikationen.

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nes Vergleichs mit anderen nationalen, agrarischeren Strukturen.168 Mit einer Analyse der „Gemeinsamkeiten und Austauschbeziehungen“ beruft er sich auf das „europäische Moment in der Geschichte der Massenkultur.“ 169 Dabei sei der Massenkultur als Ereignis und als Praktik170 eine egalisierende Macht zuzuschreiben, die unterschiedliche Schichten und Klassen versammelt, denn „nun begannen sich Arme und Reiche, Mächtige und Abhängige bei Radrennen und Flugvorführungen, in Music Halls und vor der Kinoleinwand zu begegnen.“171 Marcus S. Kleiner markiert hier den Beginn der Populärkultur: „Die Epoche des Populären beginnt ab Mitte des 19. Jahrhunderts, ist ein kultureller Zusammenhang moderner Gesellschaften und wird durch die Verbürgerlichung der Unterhaltung bestimmt […].“172 Populär wird hier folglich als Ausweitung der Rezeptionsmöglichkeit und des Rezipientenkreises definiert, die Zugangsmöglichkeit zur Kultur für eine größere Schicht. So wird die Unterhaltung zu einem Teil des bürgerlichen Selbstverständnisses und zur Plattform einer Selbstdefinition über kulturelle Teilhabe. Paul Nolte weist darauf hin, dass gerade die Jahrhundertwende hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen „als eine fundamentale gesellschaftsgeschichtliche Zäsur ernst zu nehmen“173 sei. Im Verweis auf Georg Simmels Aufsatz Die Großstadt und das Geistesleben von 1903 markiert er eine Diskrepanz zwischen neuem Massenentstehen und -erleben und gleichzeitiger neuer Aufwertung des Einzelnen als urbane Lebenserfahrung, „Fremdheit und Vermassung einerseits, Freiheit und Individualismus andererseits“ 174. In dieser Phase einer kulturellen wie sozialen Verdichtung, so Tobias Becker und Johanna Niedbalski, „beschleunigten sich […] die Verstädterung und Urbanisierung in zuvor unbekanntem Ausmaß“175, fand zudem „eine Ausdehnung der Freizeit und die Wandlung der Freizeitgewohnheiten“176 statt und entwickelten sich „die bis heute prägenden Massenmedien“177.

168 Vgl. Maase 1997, 13. 169 Maase 1997, 14. 170 Vgl. Maase 1997, 20. 171 Maase 1997, 24, Hervorhebung im Original. 172 Kleiner 2013, 25, Hervorhebung im Original. 173 Nolte 1996, 284-285. 174 Nolte 1996, 288-289. 175 Becker und Niedbalski 2011, 8. 176 Becker und Niedbalski 2011, 8. 177 Becker und Niedbalski 2011, 9.

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Dabei kann in besonderem Maße das Augenmerk auf den Begriff des Spektakels gerichtet werden, das als zentraler Aspekt des urbanen Vergnügens immer wieder betont wird.178 Die zunehmende und selbstverständlicher werdende Technisierung des Alltags spiegelte sich nicht nur in einer Technisierung der Bühne wider, sondern die Bühne erwies sich zugleich als Versuchslabor neuer Wahrnehmungsweisen und ihrer Entwicklungen.179 Gerade in der Unterhaltungsindustrie ist dabei die Notwendigkeit, aber auch das Interesse am Spektakulären, am Neuen und Ungewohnten ein zentraler ästhetischer, ebenso wie ein marktwirtschaftlicher Faktor. Die faktische Zunahme an Unterhaltungsetablissements und -formen180 wurde durch das Anwachsen der urbanen Bevölkerung, deren zunehmendem Wohlstand und den damit einhergehenden Unterhaltungsbedürfnissen bedingt, aber auch durch nationale Rahmenbedingungen begünstigt, wie beispielsweise durch die Einführung der Gewerbefreiheit von 1869 durch den Norddeutschen Bund und ab 1871 dann im gesamten Deutschen Kaiserreich, mit der die Neugründung von Bühnen erleichtert wurde.181

178 Kritisch argumentieren hier hingegen Margrit Brahm und Roberto Orth im Ausstellungskatalog „Les Grands Spectacles“ gegen die These einer generalisierbaren Spektakelkultur des Bürgertums, da sie davon ausgehen, dass nur in einer Stadt mit einer großen Oberschicht wie Paris von einem solch breiten Zugang zum Spektakel ausgegangen werden könne, vgl. Brahm und Orth 2005, 18-19. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die urbanen Zentren Westeuropas und beruft sich hier auf die starke Nutzung des Unterhaltungsangebots in den Metropolen, wie es beispielsweise bei Christophe Charle für Paris, London, Berlin und Wien aufgearbeitet wurde, vgl. Charle 2012. 179 Vgl. zu den Entwicklungen der Historischen Theateravantgarden Fischer-Lichte 1995, vgl. ebenso Brauneck 2001. 180 Vgl. hierzu Charle 2012. 181 Vgl. Marx 2013, 59. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem kulturellen Leben in den Metropolen des Fin de Siècle hat vielfach stattgefunden, sowohl als singuläre Geschichte einzelner Städte oder Nationen, als auch in vergleichender oder verbindender Perspektive. So hat sich beispielsweise Vanessa Schwartz der Spektakelkultur in Paris im Fin de Siècle gewidmet, vgl. Schwartz 1993, und Becker, Littmann und Niedbalski der Unterhaltungskultur in Berlin um 1900, vgl. dies. 2011a. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive erscheinen vor allem die Studien zur visuellen Logik des Unterhaltungstheaters wie sie Nic Leonhardt für Berlin betrieben hat, vgl. Leonhardt 2007, und die Analyse des bürgerlichen Lebens als Spektakelund Inszenierungskultur im Kaiserreich von Peter W. Marx, vgl. Marx 2008, für die vorliegende Arbeit zentral.

P ROLOG : S TAGING V ENICE

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1.4 S PIELPLAN Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt nicht auf dem gesamten, sogenannten „lange[n] 19. Jahrhundert“ wie es von verschiedenen Historikern182 als Zeitraum von der Französischen Revolution bis hin zum ersten Weltkrieg und teils bis an dessen Ende definiert wurde.183 Vielmehr steht mit dem Beginn des modernen Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts auch eine zentrale Phase der Nationalstaatskonsolidierung im Zentrum, eine „‚lange Jahrhundertwende‘“184. Die vorliegende Arbeit widmet sich folglich der urbanen Kultur um 1900 und beschäftigt sich überwiegend mit den Jahren zwischen 1880 und 1910. Für das weite Spektrum an Themen und Fragestellungen wird neben der zeitlichen Einschränkung auch eine inhaltliche Zuspitzung vorgenommen: Innerhalb des genannten Zeitrahmens wird die Aufmerksamkeit auf das Venedigbild in den Metropolen London, Paris, Berlin und Wien und auf die dort stattfindenden Verschränkungen von (populär)kulturellen Erscheinungen und kulturellen Praktiken gerichtet sowie ihre gegenseitige Hervorbringung zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Die Rezeptionsgeschichte Venedigs soll im Wechselspiel von populärkulturellen Ereignissen und urbaner Rezeption und Venedig als Dispositiv performativer Praktiken untersucht werden. Dabei stehen Metropolenbewohner und kulturelle Netzwerker, performative kulturelle Praktiken und der körperliche wie imaginäre Austausch mit der Umwelt im Zentrum, denn wie Salmi bemerkt: „A cultural history of nineteenth-century Europe should pay attention to the agents of history that spun their webs of significance and also changed them; to those social practices that connected and disconnected people of the past; and to the tangible, concrete, bodily world in which the people of the century lived and experienced their surroundings, both real and imagined.“

185

182 Prominent und die Diskussion prägend muss hierfür auf Jürgen Kocka verwiesen werden, vgl. Kocka 1995. 183 Auch andere Setzungen sind möglich, so beginnt beispielsweise für Wolfram Siemann der Zeitraum mit der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und endet mit dem Ersten Weltkrieg; vgl. Siemann 2007, 11. 184 Becker und Niedbalski 2011, 8; die Autoren beschränken diese auf die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930, vgl. ebd. Vgl. weiterführend beispielsweise Nitschke 1990. 185 Salmi 2008, 2.

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Venedig als kulturelles Imaginäres erlaubt einen grenzüberschreitenden Ansatz, wobei weniger das Phänomen an sich denn die kulturellen Praktiken seiner Aneignung Beachtung finden sollen. Um sich diesen zu nähern, wird anhand von drei Fallstudien eine Suchbewegung vollzogen, die sich zuerst der Aneignung der Lagunenstadt durch das Konsumieren als körperliche Praxis widmet, wie sie in der Begehung und Benutzung von Venedig-Reproduktionen im Freizeitpark möglich gemacht wurde. Im dritten Kapitel wird die Herstellung des Raumes in der direkten Auseinandersetzung mit der Eigenlogik der Stadt durch das Bereisen Venedigs betrachtet. Dafür erfolgt eine Kontextualisierung durch die Annäherung über die Entwicklung des Tourismus und des Reisens, bevor der Widerschein dieser Entwicklungen innerhalb Venedigs selbst aufgegriffen wird. Wie erlebt der Tourist die Stadt, sich selbst und die anderen Touristen? Wie unterscheidet sich dieses Erleben von den vorangegangenen Aneignungsschritten? Welche urbanen Strategien können hier angewendet werden – oder versagen? Im vierten Kapitel wird Venedig als Spiel- und Schauanordnung in den Fokus gerückt, dazu die Geschichte der Stadt als Kulisse anhand einzelner Beispiele aufgegriffen und in Beziehung zum Erleben der Lagunenstadt in der Kunst gestellt. Als Schauanordnung ist dabei auch der indirekte Blick über die bildliche Reproduktion, die hier entstehende Reduktion und zugleich fantastische Erweiterung wie sie in der Malerei, der Fotografie, aber auch im Film und auf der Theaterbühne stattfinden, zentral. Spielen als kulturelle Praktik wird so vor dem Hintergrund der Stadtbilder, der Stadt als Kulisse auch im wörtlichen Sinne und der Spektakelkultur der Metropolen untersucht.

2. Consuming Venice

Im vorliegenden Kapitel steht die Aneignung und In-Besitznahme Venedigs in, durch und als Konsum im Zentrum. In Verbindung mit Fragen zu Raum und Mobilität wird am Beispiel der Entwicklung populärkultureller Unterhaltungsphänomene, vom Museum über die Weltausstellung bis zum Freizeitpark, und mit Blick auf die Ausstellungspraxis Ende des 19. Jahrhunderts, der Idee der Verfügbarkeit von Welt nachgegangen, ihrer Präsentation und Repräsentation und den eng damit verbundenen Entwicklungen des Warenhauses. Hierfür wird der Blick auch auf die weit verbreiteten Rekonstruktionsbestrebungen, im Besonderen die unterschiedlichen Nachbauten Venedigs,1 gerichtet. Im Kontext einer erwachenden „consumer society“2 und zugleich (und damit verbunden) in einer frühen Phase des Massentourismus3 soll hier der These nachgegangen werden, dass die omnipräsente Behauptung einer vorgeprägten Erfahrung der Venedigreise um 1900 nicht unabhängig von einer gerade in der Rekonstruktion der Freizeitparks perfektionierten Ware ‚Venedig‘ und innerhalb eines ausgedehnten Verständnisses des „exhibitionary complex“4 als ‚complex of consumption‘ gedacht werden kann. Hierfür soll im Folgenden Konsumgeschichte als Kulturgeschichte5 im Kontext metropolitaner Kulturpraktiken sowie selbst als performa-

1

Auf unterschiedliche Beispiele hierfür wird im Folgenden eingegangen. Davis und Marvin berichten von einem Venedig-Nachbau von fünf auf sieben Metern, den englische Architekten bereits 1843 in London ausgestellt hatten. Vgl. Davis und Marvin 2004, 283.

2

Einen Überblick über theoretische Schriften zur Konsumgesellschaft bietet The Consumer Society Reader, herausgegeben von Schor und Holt 2000.

3

Vgl. hierzu auch das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit.

4

Bennett 1995, 60.

5

Im Zentrum der Konsumgeschichte steht die Untersuchung von Beziehungen, „die Logik der Zirkulation von Waren, Bilder und Ideen. Nicht Karl Marx und Max We-

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tive Praktik untersucht werden. Konsumgeschichte, so Heinz-Gerhard Haupt, sei zugleich Sozial- und Kulturgeschichte: „Konsumgeschichte verbindet sich nicht nur mit der Geschichte des Handels und der Konsumgüterindustrie, der Märkte und der Marktgesellschaft, der Unterschiede der Klassen, sozialen Gruppen und Geschlechter sowie ihren Auseinandersetzungen, sondern auch mit der Entwicklung der Warenästhetik, der Werbung, des Marketings ebenso wie mit der Herausbildung des Geschmacks, der gesellschaftlichen und individuellen Selbstdarstellung und des Lebensstils.“

6

So ist Konsum, den Haupt als „Erwerb von Gütern mit dem Ziel, diese zu verzehren oder zu benutzen“7 beschreibt, umfassender zu denken; Wolfgang König erweitert ihn in seiner Definition auch auf Dienstleistungen.8 Beide Autoren betonen dabei die Inanspruchnahme eines aktiv Konsumierenden, der durch und in seiner Nutzung das Konsumgut als solches definiert. Ein weitgefasster Konsumbegriff wirft auch ein Schlaglicht auf die Kultur. Die Untersuchung von Kultur und Konsum bzw. Kultur als Konsum beschreibt Pierre Bourdieu als einen Paradigmenwechsel: „Die Wissenschaft vom Geschmack und vom Kulturkonsum beginnt mit einer – mitnichten ästhetischen – Übertretung: Sie hat jene sakrale Schranke niederzureißen, die legitime Kultur zu einer separaten Sphäre werden läßt, um zu jenen intelligiblen Beziehungen vor-

ber, sondern Georg Simmel und Walter Benjamin, die die moderne Großstadt und damit die Moderne zu entziffern versuchten, geben die Stichworte.“ Geyer und Hellmuth 2003, XIII. 6

Haupt 2003, 12.

7

Haupt 2003, 12. Dabei stellt er für das 19. Jahrhundert Verbrauchsgüter und für das 20. Gebrauchsgüter in das Zentrum seiner Überlegungen – womit auch ein Wechsel von Gütern der Alltagsbedürfnisse wie Kleidung und Nahrung hin zu eher technischen Gütern beschrieben wird. Vgl. ebd.

8

Vgl. König 2008, 13. Unter Verweis auf Baudrillard und Lefebvre formuliert Mike Featherstone die Kritik am Konsum als eine dem Wort inhärente, wenn auch vergessene oder verdrängte: „In other words the critique of consumerism takes us back to a neglected meaning of the term ‚consume‘: to waste, devour, spend, exhaust, destroy.“ Featherstone 1983, 6, hier anschließend an Baudrillard 1975, 145.

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zudringen, die [die, DV]9 scheinbar isolierten ,Optionen‘: für Musik und Küche, Malerei und Sport, Literatur und Frisur, zu einer Einheit fügen.“

10

‚Legitime Kultur‘ wird von einem imaginären Podest geholt, neben Alltagsphänomene gestellt und gleichwertig in Beziehung zu anderen Gegenständen der Konsumforschung gesetzt. Sie erweist sich dabei jedoch als widerspenstiges, ephemeres und immaterielles Produkt, das einen Kommodifizierungsprozess erst durchlaufen und konsumierbar gemacht werden muss.11 Diesen Vorgang beschreibt Burkhard Schnepel als einen Transformationsprozess: „Kultur als Ware mangelt es zunächst noch an Unmittelbarkeit. Sie muss sich irgendwie verdinglichen oder materialisieren, muss in eine verkäufliche Form gebracht werden, etwa als Performanz oder Themenpark, Museum oder Speise, Postkarte oder Souvenir, also als etwas, das besucht, fotografiert, begangen, gegessen, bestaunt, genossen, angefasst, geliebt, bezahlt und weggetragen werden kann. Und das, was für diese Möglichkeit der Veräußerung gerahmt, hergestellt und benannt wird, ist immer eine konkrete Abstraktion oder ein diakritisches Zeichen der Kultur als Ganzes. In anderen Worten: Kultur wird nie in ihrer Gänze verkauft, sondern immer nur in Form eines materiellen, ideellen oder performativen Repräsentanten, der symbolisch für dieses Ganze steht und der oft durch Werbung in Reisebroschüren, etc. auf diese Fähigkeit hin getrimmt und zugeschnitten wurde.“

12

Kommodifizierung ist nicht als reine Materialisierung beschrieben; so kann die hier erfolgte Benennung der ‚Performanz‘ in der Mehrdeutigkeit der Begrifflichkeit als Aufführung oder im Sinne einer Leistung als konsumierbare, aber ephemere Repräsentation der Kultur verstanden werden, die „bestaunt, genossen“13 oder in Anspruch genommen wird. Kultur wird durch einen Prozess der Fragmentarisierung zur Ware, der zugleich den Aggregatzustand von Kultur verändert und sie „in Form eines materiellen, ideellen oder performativen Repräsentanten“14 in den ökonomischen Kreislauf einspeist. Damit müssen aber auch die

9

Eigene Ergänzen werden im Folgenden durch DV gekennzeichnet.

10 Bourdieu 1987, 26. Hier kann auch auf den im einleitenden Prolog zitierten Egon Friedell verwiesen werden, der in seiner Kulturgeschichte als Sittengeschichte ähnliche Verbindungen postuliert. 11 Vgl. Schnepel 2013, 29. 12 Schnepel 2013, 29. Der Autor verweist zur Frage der Abstraktion auf John Comaroff und Jean Comaroff 2009, 24 und MacDonald 1997, 155-156. 13 Schnepel 2013, 29. 14 Schnepel 2013, 29.

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angeführten Definitionen von Konsum weitergedacht werden, wie es John Brewer tut, wenn er Konsum als „Gelegenheit zu Lustgewinn und Hedonismus“ 15 beschreibt. Konsument ist damit nicht nur der Käufer, sondern auch der „Träger eines besonderen, oft als modern und zeitgemäß beschriebenen Gemütszustandes und Weltverständnisses. […] ‚Konsument‘ ist dann jeder, der aus Waren und Objekten aller Art Lustgewinn und Anreize für die Phantasie und Traumwelt ziehen kann, ohne daß er diese Produkte wirklich erwerben oder besitzen muß. In diesem Sinn, um ein klassisches Beispiel zu nennen, kann auch eine Stadt oder eine Metropole ‚konsumiert‘ werden.“

16

Brewers Definition des Konsumenten richtet das Augenmerk auf die immaterielle Seite des Konsums, wenn nicht nur Immaterielles, sondern auch immateriell konsumiert werden kann, indem er die imaginäre Ebene mitdenkt – eine Ebene, die einerseits das Konsumangebot erweitert, andererseits aber auch die Konsumentengruppe signifikant vergrößert, steht Konsum damit auch jenen offen, denen die finanziellen Mittel fehlen. Für eine so angelegte Konsumforschung ist die Idee der Verfügbarkeit der Ware nicht an den Wohlstand der Masse gebunden, nicht an die Frage des monetären Kapitals, also auch nicht zwingend an den Kauf an sich. Konsum ist damit gebunden an Momente der Sichtbarkeit und theoretischen Zugänglichkeit zu Konsumprodukten; unabhängig vom Geldbeutel der Betrachter ist Konsum eine Frage der (theoretischen) Verfügbarkeit und der Präsentation, der Ausstellung und Vorführung der Güter.

15 Brewer 1997, 58. Volker Barth definiert Konsum in Anlehnung an Colin Campbell sehr ähnlich als „‚kreativen Prozess‘“, Barth 2007, 27. Barth führt weiter aus: „Konsum bezeichnet eine hedonistische Handlung, die auch als ‚Tagträumen‘ oder ‚Fantasieren‘ beschreiben werden kann.“ Ebd., 28; Barth verbindet dies mit der Idee der Imitation als mimetisches Handeln, welches er dem Konsumenten zuschreibt, der sich durch das Warenhaus bewegt. Vgl. ebd. 16 Brewer 1997, 58-59.

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2.1 K ONSUMGESCHICHTE

UND - GESELLSCHAFT UM

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1900

Wenngleich die Geschichte des Konsums auch eine Geschichte des sozialen Lebens ist, bindet König die Entwicklung einer ‚Konsumgesellschaft‘ eng an die Entwicklungen der Moderne.17 Konsum wird zu einer die Moderne bestimmenden Lebenspraktik, denn der Konsum wandelt sich von einer überlebenswichtigen Notwendigkeit zu einem Ausdruck von individueller und sozialer Identität;18 es geht nicht mehr allein um die Sicherung der eigenen Existenz, sondern um deren Gestaltung, „um Entfaltung und Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und um die Integration in gesellschaftliche Gruppierungen.“19 Den Beginn der Entwicklungen einer ‚consumer society‘ setzt Mike Featherstone zwar bereits im 18. Jahrhundert an, legt aber ebenso einen wichtigen Akzent auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn hier fanden einschneidende Veränderungen statt, „[c]hanges which […] dramatically transformed the experience of consumerism and formed the basis for it to become a distinctive way of life.“20 Georg Simmel hat Konsum nicht nur als Motor der Moderne beschrieben, sondern zugleich als identitätsstiftend und integrativ wirkend,21 so dass hier in der Mehrdeutigkeit der Begrifflichkeit auch von einem Konsumkomplex gesprochen werden kann. Ganz konkret und auffällig veränderte beispielsweise die maschinelle Produktion von Kleidung die Sichtbarkeit sozialer Differenzen, denn durch Anzüge von der Stange zu erschwinglichen Preisen wurde das Straßenbild vereinheitlicht und

17 Vgl. König 2008, 9-10. Der Untertitel seines Buches lautet dementsprechend Konsum als Lebensform der Moderne. Auch wenn die Konsumgesellschaft ihren Siegeszug erst nach dem Zweiten Weltkrieg antreten konnte, wurden viele der Entwicklungen bereits Ende des 19. Jahrhunderts angestoßen und vorgeprägt. Die Münsteraner Tagung Die vielen Gesichter des Konsums thematisierte 2013 die Frage der zeitlichen Verortung der Anfänge der Konsumgesellschaft um die vorletzte Jahrhundertwende. Vgl. http://www.lwl.org/LWL/Kultur/WIR/Tagungen/zurueckliegende_Tagungen/20 13/1388993608_1/Tagung_Die_vielen_Gesichter_des_Konsums_1850-2000.pdf. [Letzter Zugriff: 17.12.2014]. Vor diesem Hintergrund muss auch die bei König vertretene Vorstellung einer amerikanischen Vorreiterrolle und Prägung des Massenkonsums diskutiert werden, vgl. König 2008, 10. 18 Hier bietet sich die thematische Vertiefung zur Verbindung von Luxus und Konsum an, vgl. weiterführend Reith 2003. 19 König 2008, 16. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 2012a, 170. 20 Featherstone 1983, 4. Hier hebt er vor allem die neu entstehenden Räume und die Massenproduktion an Bildern hervor, die das Leben prägten, vgl. ebd., 5. 21 Vgl. Simmel 1977, vgl. ebenso Lenz 2011, 95.

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durch Massenkonfektion ein nivellierender Effekt geschaffen: Der andere konnte nun nicht mehr zwingend qua äußerer Zeichen zugeordnet und eingeordnet werden.22 „[D]ie Maschinenproduktion verdeckte die sozialen Unterschiede – wichtige Unterschiede, die man kennen mußte, um in einer sich ausweitenden Welt von Fremden bestehen zu können. Der Fremde wurde dabei zu einer ungreifbaren, mysteriösen Figur.“23 Zugleich erfolgte aber auch der Zugriff auf das Fremde über den Konsum.24 Das hier konstatierbare Oszillieren zwischen Vereinheitlichung und Verfremdung zieht sich auch durch die Warenproduktion und -präsentation, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Dafür soll zuerst der Blick auf die Räume des Konsums geworfen werden, denn ihre Strahlkraft entfaltet die ‚consumer society‘ in den neuen urbanen Räumen, in „Sphären des Geschmacks, der Mode und des Stils.“25 In diesen „Objektbereichen“26 etablierten sich durch Nachahmung und Zurschaustellung neue Möglichkeiten der Identitätsbildung; Gebrauch und Verbrauch eröffneten die Aussicht auf gesellschaftlichen Aufstieg. Fischer-Lichte betont, dass von Menschen genutzten Dingen keine eigene „agency“27 zugesprochen werden kann – jedoch „hat sich der sie verwendende Mensch auch ihnen anzupassen. Diese Form der ‚Passung‘ zwischen Ding und verwendendem Menschen bezeichnen wir als Lernprozess durch Übung […].“28 So prägen die Dinge unser Handeln

22 Vielmehr wurden die Qualität der Ware und die Möglichkeit, Luxusgüter zu erwerben, zu Distinktionsmerkmalen, so dass hier von einer Verschiebung gesprochen werden kann. 23 Sennett 2004, 37. Die auf Emile Zolas Roman Au Bonheur des Dames basierende BBC-Produktion The Paradise von 2012 greift dies in der ersten Staffel auf, wenn der zu einem Geschäfts-Partner des im Zentrum der Handlung stehenden Warenhausbesitzers aufgestiegene Barbier sich von einer Verkäuferin sagen lassen muss, dass der neue Anzug allein aus ihm noch keinen Gentlemen mache. An Sennett anschließend kann hier auch weiter auf den Themenkomplex Metropole und Fremdheit verwiesen werden. Simmel hat den Fremden in einem Exkurs von 1908 thematisiert und ihn als denjenigen beschrieben, der heute komme und morgen bleibe, vgl. hierzu Simmel 1992, 764. 24 Vgl. Geyer und Hellmuth 2003, XVIII. 25 Siegrist 1997, 18. Siegrist bezieht sich hier auf den Aufsatz von John Brewer im selben Aufsatzband, vgl. Brewer 1997. 26 Siegrist 1997, 18. Vgl. auch Geyer und Hellmuth 2003, XX. 27 Fischer-Lichte 2012a, 165, Hervorhebung im Original. 28 Fischer-Lichte 2012a, 165.

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mit.29 Unter Bezug auf Bruno Latour unterscheidet sie zwischen Akteur und Aktant, letzterer als Beschreibung der auf unser Verhalten einwirkenden Dingwelt. „Nun sind Dinge, sofern es sich um Artefakte handelt, von Menschen hergestellt, um eben mit ihnen bestimmte Handlungen zu vollziehen. Hartmut Böhme bezeichnet sie deshalb als ‚sedimentierte Vollzüge‘ oder auch als ‚ein Archiv menschlicher Praktiken‘.“30 Mit der Moderne und eng gebunden an die Entwicklung des Kaufhauses markiert Fischer-Lichte einen Wandel der Bedeutung der Dinge, die nun weniger ein bestimmtes Verhalten verlangen 31 denn eine bestimmte Zugehörigkeit markieren: „Es sind insofern die Dinge, die einer besitzt, die über seine Teilhabe an der Gesellschaft, seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder seinen Ausschluss aus ihr entscheiden.“32 Verbunden mit der Idee eines imaginären Konsumierens eröffneten sich über die erhöhte Zugänglichkeit der neuen Räume neue Spielflächen einer metropolitanen Selbstdarstellung. Diese neuen Räume – zu ihnen gehören Museen, Warenhäuser, Weltausstellungen und Freizeitparks –, flankiert von neuen Medien, wurden Orte der Nachahmung, die breiten Bevölkerungsschichten zur Verfügung standen, die Öffentlichkeit schafften und ihr Raum gaben, „as spaces of emulation, places for mimetic practices whereby improving tastes, values and norms of conduct […].“33 Nicht nur als Lernorte, sondern auch als Teil eines metropolitanen Unterhaltungsangebots waren sie Bühnen der Nachahmung, die, so soll es am Beispiel der Freizeitparks noch untersucht werden, auch das karnevaleske Moment des Rollentauschs inkludierten und die Möglichkeit einer Etablierung von Gegenwelten. Sie waren Orte einer sichtbaren Verfügbarkeit von Welt und ebenso Orte metropolitaner Kulturpraktiken und deren Ausübung. Bei aller Ortsgebundenheit erweisen sich diese Räume des Konsums als transnationale Untersuchungsgegenstände.34 Zwar betont Hannes Siegrist, dass politische Systeme und Konsum eng miteinander verwoben sind und Nationalstaaten Einfluss nehmen, was sich anhand von Reglementierungen, Kontrolle und Förderungen zeigt. „Die Staaten und Nationen haben in den vergangenen Jahrhunderten die Grenzen zwischen den einzelnen Konsumräumen abgesteckt, die territorialen und nationalen Unterschiede der Konsumkulturen und Konsu-

29 Vgl. Fischer-Lichte 2012a, 165. 30 Fischer-Lichte 2012a, 167. Sie bezieht sich hier auf Böhme 2006, 101. 31 Vgl. Fischer-Lichte 2012a, 169. 32 Fischer-Lichte 2012a, 170. 33 Bennett 1995, 30, hier im Bezug auf Warenhaus und Museum. 34 Vgl. hierzu die Ausführungen zum Ansatz der Transnationalismusforschung im einleitenden Prolog der vorliegenden Arbeit.

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menten geprägt und den Austausch zwischen ihnen zu kontrollieren versucht.“ 35 Neben einer Nutzung des Konsums als Mittel nationaler Abgrenzungsbestrebungen steht jedoch der transnationale Austausch materieller und immaterieller Produkte. Philipp Prein kann analog zur „beschleunigten Produktion und Zirkulation von Waren“36 – sichtbar beispielsweise anhand der Fülle und Vielfalt der Objekte auf den populären Weltausstellungen – auch eine „beschleunigte Produktion und Zirkulation von Bildern“37 konstatieren. So erwiesen sich nationale Grenzen als besonders durchlässig mit Blick auf einen wechselseitigen urbanen Transfer, der zum Teil erfolgreicher zwischen den Metropolen unterschiedlicher Nationen stattfand als zwischen den Städten derselben Nation.38 So konnte sich ein vergleichbares Spektrum populärkultureller Phänomene ausbilden, welches das metropolitane Selbstverständnis prägte, das performativ hervorgebracht und theatral verhandelt wurde, auch und gerade in den neuen Räumen des Konsums. Ende des 19. Jahrhunderts rückten die urbanen Zentren näher aneinander, sowohl durch die tatsächliche Verkürzung der Reisezeiten, als auch durch ein medial transportiertes Gefühl der Nähe.39 Als kreative Zentren in der Entwicklung von Neuheiten waren die großen Städte Geburtsstätten und Multiplikatoren der Verbreitung von kulturellen Veränderungen, was zugleich Zeichen und Bedingung der Metropolen ist, denn „[e]rst in der wechselseitigen Bespiegelung formiert sich das Repertoire kultureller Praktiken und Institutionen, die den über nationale Grenzen hinausweisenden metropolitanen Lebensraum bilden.“ 40 Dieses Repertoire stand durch die Folgen der Urbanisierung einer wachsenden Anzahl an Stadtbewohnern zur Verfügung, einer Masse, die zunehmend sichtbar wurde, beispielsweise in Paris durch die Folgen der Haussmannisierung der 1850er und 1860er Jahre.41 Die neuen, großen Boulevards boten den Menschen neue öffentliche Bühnen; es vollzog sich nicht nur eine Raumveränderung, sondern, so Richard Sennett, auch ein gesellschaftlicher und kultureller Wandel. Die Bürger wurden mobiler, unter anderem durch die zunehmende Spezialisierung einzelner Stadtviertel, was eine wachsende Bereitschaft bedingte, sich neue We-

35 Siegrist 1997, 38. 36 Prein 2005, 122. Vgl. hierzu auch die Ausführung zur Metapher der Zirkulation und ihren ökonomischen Wurzeln bei Marx 2008, 35ff. 37 Vgl. Prein 2005, 122. 38 Vgl. hierzu den einleitenden Prolog der vorliegenden Arbeit. 39 Vgl. Schivelbusch 2011, 39; vgl. ebenso Buschauer 2010, 27f. 40 Marx 2008, 321, hier im Verweis auf den transmetropolitanen Diskurs, wie er bei Heinz Reif thematisiert wird, vgl. Reif 2006, 4. 41 Vgl. Vögle 2012, 195.

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ge und Stadtteile zu erschließen. „Daß einen die Alltagsgeschäfte aus dem eigenen quartier hinausführen, wurde zu einem Element bürgerlicher Stadterfahrung; auf diese Weise rückten Kosmopolitanismus und Zugehörigkeit zur bürgerlichen Klasse näher zueinander.“42 Das Weltbürgertum, das Sennett hier benennt, mutet eigentümlich an, hatte der Stadtbewohner doch nur sein Viertel verlassen – und dennoch eröffnete sich ihm eine neue Welt, beispielsweise in der (visuellen) Präsenz der Waren, durch die die verfügbare Welt sicht- und kaufbar wurde. So eröffneten sich neue Möglichkeiten der theoretischen und praktischen Aneignung; über den imaginären Konsum standen diese nicht mehr nur den Wohlhabenden offen. Diese Erfahrung der Verfügbarkeit von Welt war eng gebunden an die neu entstehenden Konsumräume, beispielsweise an den Besuch der neuen Warenhäuser, so dass Sennett konstatieren kann: „Kurz, Kosmopolitanismus – als Erfahrung von Vielfalt innerhalb der Stadt – wurde für die Arbeiterklasse zu einer Konsumerfahrung.“43 Dieses Weltbürgertum ist somit einerseits eng gebunden an eine zunehmende Mobilität der Menschen, andererseits aber auch an eine wachsende Mobilität und Zirkulation der Waren. Folge und zugleich Voraussetzung der neuen Mobilität ist die in den Metropolen vorhandene Masse, die erreicht, und die Öffentlichkeit, die nicht nur als physisches, sondern auch als mediales Phänomen hergestellt werden kann. Die Stadt bot neue Möglichkeiten, Aufmerksamkeit zu generieren, so konnten die Stadtbewohner beispielsweise über Printmedien und Litfaßsäulen angesprochen werden.44 Gleichzeitig war auch die Stadt selbst Gegenstand der Berichterstattung für eine wachsende Leserschaft. Peter Fritzsche beschreibt am Beispiel von Berlin um 1900 die massenhafte Verbreitung der Zeitungen, die in enger Verbindung zur Entwicklung des Konsums standen. „With the onset of consumer culture at the end of the nineteenth century, Berliners came to see their surroundings through the perspective of the city newspaper.“45 Durch Anzeigen und Werbung wurden Bedürfnisse geweckt und gesteigert 46 sowie die Stadt und das

42 Sennett 2004, 180, Hervorhebung im Original. 43 Sennett 2004, 180. 44 Vgl. zur Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert, ihrer Entwicklung und Verbindung zur Literatur Habermas 1990, 13. 45 Fritzsche 1996, 72. 46 Vgl. Featherstone 1983, 5. Die Warenherstellung ist keine einseitige Bedürfnisbefriedung nach vorheriger Bedürfnisweckung – nicht nur produzierte die Industrie für einen von ihr geweckten Bedarf, sondern sie reagierte auch auf bestehende oder neu erwachte Bedürfnisse. Vgl. Lenz 2011, 53. Vgl. hierzu weiterführend auch Schrage 2003.

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Stadtbild sichtbar verändert. Für Brewer verbinden sich die medialen mit den räumlichen Veränderungen, die er als Entwicklungen einer bis in die 1920er Jahre anhaltenden „Periode der aufkommenden Moderne, die Zeit der Arkaden und Warenhäuser, der Grammophone, Radios und Massenpresse“47 fasst. Auf vielen und vielschichten Ebenen wurde, so Thomas Lenz, die „sogenannte[.] Konsumgesellschaft […] öffentlich und offensichtlich“.48 Gerade diese Sichtbarkeit rückt die Frage nach dem Wie ins Zentrum, lenkt das Augenmerk auf die angewendeten Präsentationstechniken und auf die Räume dieser Präsentation und Repräsentation. Dafür soll der beschriebene Konsumkomplex mit dem Ausstellungsort par excellence, dem Museum, verbunden werden, dessen Präsentationstechniken dann auch auf Weltausstellungen, in Warenhäusern und Freizeitparks zur Anwendung kommen. Das Museum wird dabei als Dispositiv49 urbaner und populärkultureller Entwicklungen begriffen. Es bildet die Voraussetzung bestimmter Verhaltensweisen und prägt Wahrnehmungskonventionen, es durchwandert den Bereich des Konsums; so kann es auch als Bestandteil des metropolitanen „vortex“50 gelesen werden. 2.1.1 Museen Im 19. Jahrhundert wandelten sich die Wunderkammern und Kuriositätenkabinette als Vorläufer der Museen von exklusiven, herrschaftlich-repräsentativen Sammlungen zu Zentren öffentlicher Repräsentation des Bürgertums;51 Museen entwickelten sich zu allgemein zugänglichen Orten, Lern- und Erfahrungsräumen und etablierten sich zunehmend als Orte der Öffnung für die Masse.52 Ausstellungsobjekte ebenso wie die Ausstellungsbesucher selbst können in der Logik des von Tony Bennett benannten ‚exhibitionary complex‘ verortet werden.

47 Brewer 1997, 59, hier besonders unter Berücksichtigung der Metropolen Paris und London. 48 Lenz 2011, 17. 49 Vgl. Foucault 1978, 119-120. 50 Roach 1996, 28. 51 So wurde der Louvre nach der Französischen Revolution vom ehemaligen Symbol absolutistischer Herrschaft zum Ort nationaler Selbstdarstellung, indem er zu einem öffentlichen Museum umfunktioniert wurde. Vgl. Nora 1986, XVIII. 52 Vgl. Bennett 1995, 47.

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„The institutions comprising ‚the exhibitionary complex‘, by contrast, were involved in the transfer of objects and bodies from the enclosed and private domains in which they had previously been displayed (but to a restricted public) into progressively more open and public arenas where, through the representations to which they were subjected, they formed vehicles for inscribing and broadcasting the messages of power (but of a different type) throughout society.“

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Mit Blick auf die Evolution des Museums benennt Bennett drei Kategorien, die das Neuartige am allgemein zugänglichen Ausstellungsraum beschreiben: „the museum as a social space“, „the museum as a space of representation“ und „the museum as a space of observation and regulation“.54 Damit das Museum ‚sozialer Raum‘ (social space) werden konnte, musste es nicht nur die Objekte, sondern auch die Subjekte aus ihrer ursprünglichen Umgebung lösen. Die Stadtbewohner hatten sich für den Museumsbesuch aus ihrem häuslichen, privaten Umfeld herausbegeben – und wurden selbst Teil der Ausstellung, Teil des Raumes der Beobachtung und Regulierung, denn die neuen Museen, hier interpretiert als Repräsentationsräume der Macht, stellten einerseits Exponate aus, lieferten andererseits durch ihre Anlage und Architektur auch ihre Besucher den Blicken der anderen aus. Bennett zeigt in seiner Genealogie des öffentlichen Raumes, unter Bezugnahme auf Jürgen Habermas, dass die Wandlung des Museums vom exklusiven zum allgemein zugänglichen Ort die Entstehung von Regeln bedingte, die den Besuchern den besonderen musealen Raum vergegenwärtigten, in welchem ‚unzivilisiertes‘ Verhalten nicht gestattet war.55 So fand eine kulturelle und soziale Prägung statt, deren Hilfsmittel gedruckte Anleitungen und geleitete Führungen, Beschilderungssysteme und Wachpersonal darstellten, die die Besucher in ihrer Bewegung und ihrem Verhalten lenkten.56 Die neuen Regeln sollten Gästen aus allen Schichten, vor allem den unteren, nicht nur die Objekte näher bringen, sondern sie das Verhalten eines Bürgers am Beispiel der anderen Anwesenden erlernen lassen. In diesem

53 Bennett 1995, 60f. 54 Bennett 1995, 24. 55 Darauf verweisen beispielsweise Verhaltensregeln wie die folgende: „No swearing, no spitting, no brawling, no eating or drinking, no dirty footwear, no gambling […].“ Bennett 1995, 27. 56 Vgl. Bennett 1995, 24 und 33.

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Sinne wurde das öffentliche Museum zur Bühne kultureller Transformationsbestrebungen.57 Mit der Beschreibung als ‚exhibitionary complex‘ beschränkt sich Bennett jedoch nicht allein auf Museen, er weitet seine Beobachtung auf Jahrmärkte und Freizeitparks aus, denn diesen kulturellen Phänomenen ist die Idee der sich selbst begutachtenden Masse gemein, „forming a technology of vision which served not to atomize and disperse the crowd but to regulate it, and to do so by rendering it visible to itself, by making the crowd itself the ultimate spectacle.“58 Auch für die ab den 1850er Jahren überaus populären Weltausstellungen und vergleichbaren Gewerbemessen erweist sich die Omnipräsenz der Masse als Teil ihres Erfolgs, so dass diese „für das Ausstellungserlebnis ebenso entscheidend [war] wie die Exponate. Durch das ständige Gedränge und Geschiebe war die Masse einerseits ein Hindernis auf dem Weg zu den Objekten, andererseits war sie aber nicht nur ein Stressfaktor, sondern selbst ein faszinierender Anschauungsgegenstand.“59 Unter der Prämisse eines ‚exhibitionary complex‘ lassen sich verschiedene kulturelle Phänomene betrachten, die ein vergleichbares Prinzip an Kulturpraktiken, an Reglementierung, Blickregieführung und Sichtbarmachung vereinen – die nicht nur die ver- und gesammelten Objekte ordnen und präsentieren, sondern auch die Besucher.60 Bennetts Ansatz stellt dabei das öffentliche Museum ins Zentrum einer weitgefassten Kulturgeschichte,61 so dass man es mit Barbara Kirshenblatt-Gimblett in einer „political economy of showing“62 verorten kann, die im 19. Jahrhundert eine Hochphase erlebte und zu deren Erscheinungsformen auch andere populärkulturelle Phänomene gezählt werden können. 63

57 Vgl. Bennett 1995, 19. In Analogie zu einem familiären Ideal wurde die dort ausgeübte Überwachung und Kontrolle auch als schützende väterliche Autorität beschrieben, vgl. Bennett 1995, 18. 58 Bennett 1995, 68. Bennett bringt die Entstehung des Museums mit der Foucault’schen Theorie zu Überwachung und Strafe in Verbindung und betrachtet das Museum als einen Ort der Perfektion gegenseitiger Selbstüberwachung und Kontrolle, vgl. ebd. 59 Barth 2007, 21, hier in Bezug auf die Weltausstellung in Paris 1867, die täglich ca. 50.000 Menschen besuchten. 60 Vgl. Barth 2007, 19. 61 Vgl. Bennett 1995, 5. 62 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 1. 63 Vgl. Bennett 1995, 5. Zwischen Weltausstellungen und Museen findet eine rege Wechselwirkung statt: Einerseits verwandeln sich ausgestellte Objekte in museale Exponate, andererseits werden Exponate zur kaufbaren Ware, vgl. Vedder 2005, 171.

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Die Ausbildung des Museums als „space of representation“ 64 kann mit Blick auf das Exponat zum Ausgangspunkt einer Befragung von Ausstellungstechniken und ihrer Wirkung werden – die sich, so soll im Folgenden gezeigt werden, wechselseitig auch in der Präsentation der Konsumprodukte widerspiegeln. Das Objekt muss innerhalb der musealen Ausstellungsräume neu gedacht werden, denn bevor es zum Exponat wird, wird es einem Prozess der Fragmentierung und der Benennung unterzogen. Innerhalb der Ausstellung hat es bereits eine Bewertung erfahren: Indem es hier präsentiert wird, wird es mit (neuem) Wert belegt.65 Damit ist es zugleich Zeichen einer bestimmten Vergangenheit und Zeichen der Gegenwart, die es bewertet, ausstellt und in einen (neuen) Bedeutungszusammenhang bringt. Die sichtbare, visuelle Ordnung ist somit eine Werteordnung, die explizit und implizit verhandelt wird. In Abgrenzung zum Kuriositätenkabinett zeigte das Museum des 19. Jahrhunderts anstelle des Besonderen das Repräsentative; man sammelte nach rationalen Gesichtspunkten, klassifizierte die Objekte, ordnete die Exponate und versuchte mit pädagogischem Ziel das Geheimnisvolle zu eliminieren.66 So schreibt Benett: „In these respects, the museum provided its visitors with a set of resources through which they might actively insert themselves within a particular vision of history by fashioning themselves to contribute to its development.“67 Diese Verwissenschaftlichung des musealen Objekts, die sich als eine zusätzliche schriftliche Einordnung und so gelesen durchaus als Misstrauen gegenüber dem Sichtbaren fassen lässt, lässt sich in der Tendenz einer generelleren Bilderfeindlichkeit verorten, als „ikonophobe Grundeinstellung“68, wie sie Christopher Balme mit Blick auf die Theaterbühne Ende des 19. Jahrhunderts benennt. Dem wachsenden Spektrum der Unterhaltungsangebote, die vor allem kommerzorientierte, vermeintlich oberflächliche, weil visuelle Formen der Zerstreuung boten, wird das scheinbar Höherwertige gegenübergestellt: im Museum die Kategorie der Wissenschaftlichkeit,69 im Theater das Dichterwort.70 Die sich hier abzeich-

Auch werden die Weltausstellungen musealisiert, wie das Beispiel eines 1900 in Paris geplanten Museumsbaus für die bisherigen Weltausstellungen zeigt, vgl. ebd., 172f. 64 Bennett 1995, 24. 65 Vgl. Flügel 2005, 56. 66 Vgl. Flügel 2005, 26. 67 Bennett 1995, 47. 68 Balme 2007, 66. 69 Vgl. zum Zusammenhang von Wissenschaft und Inszenierung bzw. zur Inszenierung von Wissenschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Becker 2014. 70 Vgl. Balme 2007, 67.

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nende Tendenz lohnt einer näheren Betrachtung: Denn zwischen den Ansprüchen der Kritiker und den Bedürfnissen des Publikums zeigt sich eine Diskrepanz – keineswegs waren nur bildungsferne Schichten für visuelle Reize empfänglich. „Zu offensichtlich war es, dass sich vor allem in den Großstädten eine Bildkultur herausgebildet hatte, die sich nicht ausschließlich als Bestandteil einer proletarischen Schaulust abtun ließ.“71 Als Ablösung der pejorativen Begrifflichkeit der ‚Schaulust‘ versucht der Begriff des ‚Schauwertes‘ im Visuellen eine eigene Qualität zu finden. Der Schriftsteller, Journalist und Dramaturg Alfons Paquet hat sich 1908 in seiner Dissertation damit beschäftigt, indem er sich der Idee des Schauwerts von Ausstellungen widmet.72 Paquet argumentiert dafür, so Balme, „dass sich der Wert von Gütern keineswegs in ihrem Gebrauchs-, Tausch- oder Grenzwert erschöpfe.“73 Vielmehr werde das Sichtbare bei ihm „eine eigenständige Wertkategorie, die er die ‚äußeren Sichtbarkeit- und Erkennbarkeitseigenschaften der Güter‘ nennt.“74 Das Äußere des Objekts erfährt eine Aufwertung; zusätzlich zu „ästhetischen, ökonomischen und ethischen Werturteilen“ 75 wird die Erscheinungsform ein Wert an sich. Die Idee des imaginären Konsums findet damit eine Art ‚Währung‘: „Der Schauwert ist in gewisser Weise die Fortsetzung des Diskurses über Schaulust auf der Objektebene: Der Schauwert ist die Befriedigung des Rezeptionsbedürfnisses der Schaulust.“76

71 Balme 2007, 67. Balme sieht diese Abwertung teils auch heute noch präsent, wenn die Betonung der Visualität mit Inhaltsarmut gleichgesetzt wird. „Wertpositiv scheint sich das Wort nur im zoologischen, musealen und touristischen Kontext, obwohl im letzteren mit einem pejorativen Beigeschmack, etabliert zu haben.“ Ebd., 68. 72 Mit Hinblick auf eine wissenschaftliche Erstverwendung verweist Balme auf Paquets Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft von 1908, vgl. Balme 2007, 68. Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Marx 2007a. 73 Balme 2007, 69. 74 Balme 2007, 69. 75 Balme 2007, 69. 76 Balme 2007, 68. Diese Aufwertung des Visuellen steht für eine bilderfreundlichere Denkrichtung – und nach Balme für einen „um 1900 sich abzeichnenden geistigen Wandel“, ebd., 78. Dieser Wandel wird hier zwar am Beispiel, aber keineswegs beschränkt auf das Deutsche Kaiserreich konstatiert. Vielmehr zeige sich eine generelle Tendenz, die „nur einen, wiewohl sehr exponierten Punkt an einem Theatralitätskontinuum“ bilde, vgl. ebd., 65. Dabei werden Fragen aufgeworfen zur „Macht der Bilder im schwierigen Prozess transnationaler Verständigung.“ Ebd., 78.

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Gerade mit Blick auf das Ausstellungsexponat bleibt die visuelle Inszenierung wichtiger Bestandteil der Vermittlung. Walter Benjamin betont, dass die reine Präsentation und wissenschaftliche Rahmung nicht ausreichend sei, um dauerhaft beim Publikum zu wirken. „Die Masse kann nicht ‚belehrt‘ werden. Sie kann Wissen nur mit dem kleinen Chock [sic!] in sich aufnehmen, der das Erlebte im Innern festnagelt.“77 Der Ansatz einer Aneignung über einen „Chock“ impliziert ein sinnliches Wahrnehmen, eine Verbindung des Rezipienten mit dem Sichtbaren über ein Erlebnis. Wenngleich nicht jede Präsentation einen wie von Benjamin geforderten starken emotionalen Zugang provozieren will und kann, ist das Theatrale dem Musealen eigen. Barbara Kirshenblatt-Gimblett konstatiert: „Exhibitions are fundamentally theatrical, for they are how museums perform the knowledge they create.“78 In diesem theatralen Prozess differenziert Kirshenblatt-Gimblett zwei Arten der Präsentation von Objekten, die „in situ displays“79, die eine möglichst realitätstreue Nachahmung der Vergangenheit beabsichtigen, und die „in-context displays“80, die sich an Zusammenhängen thematischer oder chronologischer Art orientieren.81 Die Autorin unterscheidet ersteres als Möglichkeit, im Extremfall das Leben selbst auszustellen, während sich bei Letzterem ein „drama of the artefact“82 abspiele und das Exponat in ein Narrativ eingebunden werde: „Objects are the actors and knowledge animates them.“83 Das Museum verändert die Wahrnehmung des Sichtbaren und die Wahrnehmung der Sichtbaren. „Once the seal of the quotidian is pierced, life is experienced as if represented: the metaphors of life as a book, stage, and museum capture this effect with nuances particular to each metaphor.“84 Das alltägliche Leben wird zur Ausstellung seiner selbst, die im Museum angewendeten Präsentationstechniken wirken als visuelle Techniken und Aufladung mit Schauwert auch außerhalb der Museumswände.

77 Benjamin 1991, 528. 78 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 3. 79 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 3. 80 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 3. 81 Vgl. Kirshenblatt-Gimblett 1998, 3. 82 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 3. 83 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 3. 84 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 51, vgl. ebenso Riegel 1996, 84.

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2.1.2 Warenhäuser Das britische Warenhaus des Kaufhausgründers Harry Gordon Selfridge stellt eine direkte Verbindung her zwischen Museum und Einkaufsparadies: Selfridge orientierte sich für die Ausgestaltung der Fassade seines nach ihm benannten Warenhauses am British Museum und zitierte dessen Bau durch die Nachbildung der „iconic columns of the frontage“85. Diese Aufbereitung der Fassade zeigt nach außen eine Nähe, die sich auch im Innern wiederfindet, denn das Kaufhaus „had the same sort of cultural resonance as railway stations and other festival sites such as fairs, exhibitions and sports stadia.“86 Das Warenhaus ist über den konkreten Ort hinaus Sinnbild gesellschaftlicher Wandlungen, nicht nur Umschlagplatz für Güter, sondern ein „Symbol für die Veränderungen im Konsumbereich – und für den sozialen Wandel insgesamt“,87 so formuliert es Lenz, der sich mit dem Phänomen aus historisch-soziologischer Perspektive beschäftigt und sich in seiner Untersuchung auf das Warenhaus und die Moderne im deutschen Kaiserreich bezieht. Die neuen Tempel der Konsumgesellschaft – Émile Zola nannte das Kaufhaus „la cathédraled du commerce moderne“88 – entstanden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Erfolgsgeschichte beginnt laut Siegrist in einer Phase der „Konsumrevolution“ und erlebt ihren Aufstieg und ersten Höhepunkt in Europa in den Jahren 1860 bis 1920. 89 Das Warenhaus wurde Sinnbild der Moderne, wie Lenz ausführt, es „war Produkt und Symbol der modernen Konsumgesellschaft und aufgrund seiner physischen Unübersehbarkeit bot es sich als Projektionsfläche für Hoffnungen und vor allem Befürchtungen in Bezug auf ‚die‘ Moderne geradezu an.“ 90 Objekt der Begierde waren die hier vorhandenen und ausgestellten Güter; über deren Erwerb konnte gesellschaftliche Zugehörigkeit demonstriert oder behauptet werden. Der Besuch im Warenhaus wurde, dem Museumsbesuch vergleichbar, zu einer inszenierten und choreografierten Erfahrung, das Kaufhaus wurde zum Ort der Nachahmung und Einübung kultureller Praktiken, zum Ort der Ausstellung,

85 Chaney 1983, 25. Eine Verbindung zwischen Warenhaus und Venedig findet sich mit dem Beispiel des Kaufhauses Haughwout in New York, für dessen Fassade man sich 1857 am venezianischen Palazzo Rezzonico orientiert hatte, vgl. Forssman 1971, 203. 86 Chaney 1983, 25. 87 Lenz 2011, 10. 88 So Émile Zola in Au Bonheur de Dames, hier zitiert nach Friedberg 1993, 43. 89 Vgl. Siegrist 1997, 42. 90 Lenz 2011, 204. Hier schwingt bereits die bald aufkommende Kritik mit, vgl. Lenz 2011, der den Diskurs hierzu für das Deutsche Kaiserreich aufarbeitet.

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der Präsentation und Repräsentation. Die Produkte wurden dafür in ein entsprechendes Narrativ eingebunden. Im Warenhaus wurden keine historischen Artefakte, sondern Gebrauchsgegenstände versammelt – aber auch diese in ein ‚Drama‘ integriert. Sennett erklärt dies am Beispiel eines gewöhnlichen Topfes: Dessen Schauwert wird gesteigert, indem er nicht in einer Reihe vergleichbarer Töpfe dem Käufer angeboten, sondern indem er in einem orientalisch anmutenden Tableau ausgestellt wird. Das Arrangement soll dazu verleiten, den Topf gedanklich in der Fremde zu verorten und ihn eng an exotische Reisefantasien zu binden.91 So wird nicht nur ein Gebrauchsgegenstand verkauft, sondern zugleich eine Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden bedient. Damit erscheint die Präsentationsform der Mode der ‚period rooms‘ vergleichbar, in welchen sich Vergangenes mit Gegenwärtigem verband: „If the period room was a means by which the spaces of the past might be represented, then so too, the spaces of a modernist present and future, and because of this period rooms must be understood to act as truly modern performative entities.“92 Trevor Keeble beschreibt den ‚period room‘ als Präsentationsort einer vermeintlichen Zeitkapsel, die den Vorgang ihrer eigenen Kuratierung, ihren Konstruktionscharakter verschleiert.93 War es hier vor allem die Vergangenheit, so war es im Kaufhaus die Exotik, die einen zusätzlichen Kaufanreiz bieten sollte. Dort verband sich die Herausarbeitung des Schauwertes mit einer als geradezu narrativ zu kennzeichnenden Art der Warenpräsentation. „Sie [Boucicault und andere Warenhausbesitzer, DV] verschleierten den Gebrauchscharakter der Artikel; sie verliehen einem Kleid dadurch ‚Status‘, daß sie ein Bild der Gräfin X., die es gerade trägt, dazuhängten; sie machten einen Topf ,attraktiv‘, indem sie ihn im Schaufenster in die Nachbildung eines maurischen Harems platzierten. Kurz, sie lenkten ihre Kunden davon ab, darüber nachzudenken, wie oder auch wie gut diese Dinge gemacht waren und wie ihre eigne Rolle als Käufer beschaffen war. Die Ware war alles.“

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Neben dieser Form des ‚In-Context Displays‘ wurde die Attraktivität eines Konsumprodukts auch dadurch gesteigert, dass es in einen verfremdeten Kontext, im Nebeneinander unterschiedlicher Objekte gezeigt wurde, wodurch sein

91 Vgl. Sennett 2004, 191. 92 Keeble 2006, 4. 93 Vgl. Keeble 2006, 2. 94 Sennett 2004, 190.

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Schauwert ergänzt beziehungsweise erweitert und gesteigert wurde. Sennett nennt dies eine „Strategie der Desorientierung“95: „Die Warenhausbesitzer verstärkten die anziehende Wirkung, die von der Zusammenstellung verschiedenartiger Gegenstände ausging, indem sie andauernd nach exotischen nouveautés suchten, die sich inmitten der alltäglichsten Waren verkaufen ließen. […] Der Umsatz, so könnte man sagen, wurde im Warenhaus durch eine Art von Desorientierung erzielt: Der Kaufreiz ging von der Aura aus Fremdheit und Mystifikation aus, die diese Gegenstände zeitweilig umgab.“

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Verkauft wurde weniger der Gegenstand, denn Reisefantasien, wie auch die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg durch Warenbesitz. In dieser narrativen Einbettung und visuellen Inszenierung spiegeln sich deutlich die Präsentationsstrategien des musealen Exponats wider. Denn gerade die Loslösung der Ware aus ihrem alltäglichen Gebrauchskontext bildet die Voraussetzung einer Aufwertung des Schauwertes, die Kirshenblatt-Gimblett mit ‚Poetik der Trennung‘ („poetics of detachment“)97 benennt. So losgelöst und

95 Sennett 2004, 193. Das Warenhaus selbst war eine Folge der Entwicklungen der Urbanisierung, denn in den zunehmend pulsierenden Innenstädten wurde die Ladenmiete immer teurer und Platz zu einem wichtigen Gut – so ist die Entwicklung mehrstöckiger Warenhäuser eine logische Folge der ökonomischen, aber eben auch der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, vgl. Chaney 1983, 23. In den Warenhäusern wurde der Kauf zunehmend anonym, das vorherige Feilschen fiel weg und damit auch der notwendige direkte Kontakt mit einem Verkäufer. Hier drohte kein Gesichtsverlust mehr, wenn das Geschäft ohne Abschluss blieb. Um den Kunden dennoch zu binden, wurden Wege der Inszenierung immer wichtiger. „As the piece of business between the purchaser and retailer became more functional and impersonal it is as if the stage in which it took place became correspondingly more important. The grandiloquence of the setting changed the frame which grounded an individual’s use of the city centre, he/she was both dwarfed and given a vicarious importance by the scale of the facilities made available for them.“ Chaney 1983, 24; Warenhäuser waren zugleich Bühnen der sich darin befindlichen Käufer, aber auch der Verkäufer – und zudem Ausstellungsflächen der Ambitionen ihrer Besitzer, die unter immer größeren Dächern eine ganze Welt zu versammeln versuchten, vgl. Chaney 1983, 24. 96 Sennett 2004, 189, Hervorhebung im Original. Geyer und Hellmuth weisen darauf hin, dass das Fremde eine konstruierte Größe ist, die durch „kulturelle Akte und Praktiken“ erzeugt wird, vgl. Geyer und Hellmuth 2003. XIX. 97 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 18.

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neu kontextualisiert in einem ‚In-Situ Display‘ wird dem Exponat wie dem Kaufobjekt ein neuer ästhetischer Wert verliehen, es wird neu und anders wahrnehm- und erfahrbar. Teil der Präsentationstechnik ist neben der Einbettung und Inszenierung auch die Rahmung und diese auch ganz konkret materialisiert in Form von Schaufenstern, deren Einsatz einen zentralen Moment der Hervorhebung bedeutet. Die Glasscheibe ist Voraussetzung der visuellen Rezeption der Ware in der Auslage, die das Sichtbare durch eine unsichtbare Trennung betont, die eine theoretische Verfügbarkeit und zugleich praktische Unerreichbarkeit markiert. Wie die museumseigene Vitrine bewirkt auch das Schaufenster eine Distanzierung und Hervorhebung, es stellt das Produkt aus. „[T]he arcade was lined with luxury items produced in the economies of the newly industrialized textile trade. Hats, umbrellas, gloves, and cloth mantles were displayed in shop windows and vitrines as if they were antiquated objects in a natural history museum.“98 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden ganzflächige Fenster eingesetzt, wodurch sich „die Erscheinungsweise der dahinter ausgestellten Waren entscheidend [veränderte].“99 Zudem wurde über die Beleuchtung das Sichtbare ästhetisch aufgewertet, die Ware gleichsam ins rechte Licht gerückt, wofür man sich an der „Lichtführung […] wie auf der Bühne des Theaters“ 100 orientierte. War die Glasscheibe zuvor nachts eher Spiegel der Vorbeigehenden, wurde nun die Warenauslage auch bei Dunkelheit erhellt,101 das Schaufenster zu jeder Zeit zur Guckkastenbühne der Objekte, scheinbar jedem erreichbar.102 Als „a prime proscenium for commodity display“103 ermöglichte das Schaufenster den Blick in das Ladeninnere und etablierte als Vierte Wand eine Bühnensituation der Auslage. „Das erleuchtete Schaufenster als Bühne, die Straße als der dazugehörige Theatersaal, und die

98

Friedberg 1993, 49-50.

99

Schivelbusch 2004, 141.

100 Schivelbusch 2004, 142. 101 Benjamin weist auf die Verbindung von Straßenbeleuchtung und Flaneur hin: „Die Erscheinung der Straße als Interieur, in der die Phantasmorgie des Flaneurs sich zusammenfaßt, ist von der Gasbeleuchtung nur schwer zu trennen. Die erste Gaslaterne brannte in den Passagen. […] Unter Napoleon III. wächst die Zahl der pariser [sic!] Gaslaternen in schneller Folge. Das erhöhte die Sicherheit in der Stadt; es machte die Menge auf offener Straße auch des Nachts bei sich selbst heimisch; es verdrängte den Sternenhimmel aus dem Bilde der großen Stadt zuverlässiger als das durch ihre hohen Häuser geschah.“ Benjamin 1969, 52. 102 Vgl. Schimmer 2012, 21, hier im Verweis auf Taylor 2002, 42-43. 103 Friedberg 1993, 65.

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Passanten als Publikum, damit wären wir wieder am Schauplatz des großstädtischen Nachtlebens angelangt“104, konstatiert Wolfgang Schivelbusch. „The show window was the proscenium for visual intoxication, the site of seduction for consumer desire.“105 Die städtische ‚Aufführung‘ wurde Vor- und Verführung; sie zielte auf eine Ansprache der Sehnsüchte durch eine Provokation der Sehsüchte. Während das Museum mit seinen Exponaten als Mittler zwischen Gegenwart und Vergangenheit fungiert,106 erscheint das Warenhaus stärker konzentriert auf die Vermittlung einer Verfügbarkeit und Gleichzeitigkeit der Räume und Zeiten. Die in der Auslage und dem Kaufhaus ausgestellten und angebotenen Waren wurden aber nicht nur inszeniert, als seien sie museale Exponate, auch die Warenästhetik orientierte sich am historischen Kunstwerk. Ingeborg Cleve beschreibt am Beispiel einer frühen Gewerbeausstellung, der Exposition des Arts de l’Industrie von 1801 in Paris, die Anfänge einer Ästhetisierung der Waren im Sinne einer Orientierung der Produktion an der Kunst als Beginn einer Geschichte einer „art utile“, der „nützliche[n] Künste“107. Im Nachklang der Französischen Revolution sollte beides, Kunst- sowie Gebrauchsobjekt, als im Dienst des Volkes stehend verbunden werden.108 Dafür richtete sich die Warenproduktion ästhetisch stark am Vorbild der Antike aus,109 so dass eine Anlehnung an die Kunst geschaffen wurde, die auch den Alltag prägen sollte.110 Cleve folgend scheiterte dieser Ansatz einer aufoktroyierten Ästhetik. Stattdessen verbanden sich bald unterschiedlichste Bildtraditionen in der Ware, so dass „bei den Konsumgütern ein eklektizistisches Nebeneinander von diversen Klassizismen einschließlich rehabilitierter Königsstile, aber auch morgenländischer Ornamente, gotischer Zierate [sic!] oder naturalistischer Formen“ 111 herrschte. Die Verschiebung in der Warenästhetik zeigt einen Wandel an: Nicht das Produkt wurde der Kunst, sondern die Kunst dem Produkt untergeordnet. 112 Die einseitige Ausrichtung auf eine bestimmte Ästhetik wird in der Praxis durch den Einfluss der Ver-

104 Schivelbusch 2004, 143. 105 Friedberg 1993, 65. 106 Vgl. Flügel 2005, 24, ebenso 53. 107 Cleve 1997, 555. 108 Vgl. Cleve 1997, 556. 109 Vgl. Cleve 1997, 557. 110 Vgl. Cleve 1997, 558. 111 Cleve 1997, 558, hier in direktem Bezug zur Pariser Industrieausstellung von 1834. Vgl. auch die Beschreibung einer „chaotisch-exotischen“ Warenästhetik Ende des 19. Jahrhunderts bei Geyer und Hellmuth 2003, XXV. 112 Vgl. Cleve 1997, 560.

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braucher und ihrer Bedürfnisse zu einer generelleren Zitationspraxis, einem Verweis auf unterschiedlichste Referenzpunkte, in der sich historisch und geografisch Fernes vermischen. Die Verfügbarkeit des Produkts und seine Greifbarkeit implizierten zugleich eine Verfügbarkeit von Raum und Zeit, die sich in der Warenästhetik manifestierten. Auch räumliche Grenzen wurden so ästhetisch-visuell überwunden. Die Gewerbe- und späteren Weltausstellungen perfektionierten diesen Eklektizismus mit dem Anspruch einer umfassenden Präsentation der Welt und ihrer Güter. 2.1.3 (Welt-)Ausstellungen Die Weltausstellungen, deren weltweiter Siegeszug mit der Londoner Messe von 1851 nicht mehr aufzuhalten war, hatten sich als internationaler Exportschlager und Ereignisse mit großer Anziehungskraft erwiesen.113 Sie wurden geprägt von ihrer Zeit und prägten diese, sie bedingten zugleich die „Entzauberung und (Wieder-)Verzauberung der Welt.“114 Sie strukturierten und ordneten die Gegenwart wie auch die Vergangenheit, präsentierten nationale wie koloniale Errungenschaften und brachten eine Version der Welt auf engstem Raum zusammen, eine „dreidimensionale Weltenzyklopädie“115. Sie behaupteten für sich in ihrer Ausgestaltung, in der Fülle der präsentierten Waren und Länder, einen universellen Anspruch.116 Der Besucher erschloss sich hier die Welt in körperlicher Raumaneignung.

113 Barth beschreibt die Besonderheit der Weltausstellungen in Abgrenzung zu den seit der Französischen Revolution stattfindenden Gewerbeschauen mit Blick auf ihren Universalitätsanspruch, vgl. Barth 2007, 10. Vgl. zudem die Entwicklung der großen Warenhäuser, denn es lasse sich, so Marx, „eine genealogische Linie zwischen dem Warenhaus und den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stattfindenden Weltausstellungen ziehen“, Marx 2008, 275. Das hier angebotene Erlebnis bot einen sinnlichen und visuellen Anreiz für die Besucher, vgl. ebd. 114 Barth 2007, 18. Barth benennt dies als „grundsätzliche Charakteristika“ der „Klassischen Moderne“, ebd. 115 Barth 2007, 18, hier in Bezug auf die Weltausstellung von 1867. Zur Verbindung aus Weltausstellung und Konsum des Fremden vgl. auch Barth 2003. 116 Wie Barth betont, wird dieser Anspruch von der aktuelleren Forschungsliteratur nicht mehr hingenommen, sondern werden die Ausstellungen vielmehr „als eigenständige, utopische Welten mit sich überlagernden Bedeutungsstrukturen“ analysiert, Barth 2007, 14.

64 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG „Weltausstellung bedeutete jedoch kein reines Anschauen, sondern eine körperliche Erfahrung. Der Besucher musste sich auf dem riesigen Ausstellungsgelände eigenständig von Exponat zu Exponat bewegen. Dieses Durchlaufen war einem weit reichenden Regelwerk unterworfen, um das reibungslose Funktionieren der Ausstellung zu gewährleisten. Das Medium Weltausstellung hatte somit eine doppelte Ordnungsfunktion.“

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Damit ordnete es nicht nur dem Menschen die Welt, sondern auch den Menschen in der Welt. 1867 wurde in Paris die Idee des Nationalpavillons auf der Weltausstellung etabliert und damit eine Ordnungsstruktur geschaffen, die den Aspekt der vergleichenden nationalen Leistungsschau mit der sinnlichen Erfahrung der Fremde verband. „Es wurde […] auf Imagination, Fantasie, Träume und nicht zuletzt Erotik gesetzt. Die fremden Regionen sollten zum Erlebnis werden“118, konstatiert Volker Barth. Wird das Erlebnis als Ereignis verstanden, so lässt es sich definieren als das, was vom Alltäglichen abweicht, nämlich als besondere Erfahrung,119 die „sich von Prozessen unterscheidet, die ohnehin und überall stattfinden“120, so ist auch die Sichtbarkeit zentraler Aspekt des Ereignisses. Willmar Sauter führt in seiner Definition des theatralen Ereignisses aus, dass „[d]ie deutsche Etymologie […] auf die enge Relation des Begriffs zum Sehen und zur Wahrnehmung [verweist]: E.[reignis] ist, was ins Auge fällt.“121 Die Weltausstellungen als temporäre, flüchtige und einmalige Aufbauten können als theatrale Ereignisse bezeichnet werden,122 machten sie doch nicht nur die Fremde in bis dahin ungekanntem Ausmaß sicht- und erlebbar, sondern präsentierten sie auch in neuer Perfektion und steigerten sich in dem Ausmaß der Aufbauten. So wurde das Fremde und Ferne in zunehmendem Maße verfügbar: Während die Pariser Weltausstellung von 1889 sich noch auf den Nachbau einer

117 Barth 2007, 18-19. 118 Barth 2007, 24. 119 ‚Erlebnis‘ hat sich als alternative Begrifflichkeit erst ab den 1850er Jahren verbreitet. Steinkrüger unterscheidet zwischen Erlebnis und der Idee der ‚Freizeit‘, die deutlicher einer industrialisierten Gesellschaft zuzuweisen sei, vgl. Steinkrüger 2013, 37-38. 120 Sauter 2005, 92. 121 Sauter 2005, 92. 122 „So wird die Ereignishaftigkeit performativer Kunstformen darin gesehen, dass deren Produktionen eine zeitliche Begrenzung aufweisen, nie in der gleichen Form ein zweites Mal stattfinden können und in Verlauf und Wirkung unwiderruflich sind. Ereignishaftigkeit und Transitorik (Flüchtigkeit) gelten dabei als zwei Seiten derselben Medaille.“ Sauter 2005, 93.

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Kairoer Straße beschränkte, inszenierte der Pariser Nachfolger von 1900 „distant spaces and distant times“123; unter anderem konnte hier auch ein Venise à Paris besucht werden.124 Die Rekonstruktion der Welt wurde zur geografischen und historischen Reise, „a ‚Tour du Monde‘ recreated Africa, South America, and Asia with dioramas and plaster reproductions; a small Swiss village; a village in Andalusia (at the time of the Moors); and a proto-theme park ‚Vieux Paris‘ which recreated medieval Paris, replete with strolling actors in costume. The ‚Quai des Nations‘ – a row of national pavilions of the most powerful nations – was designed with each building in indigenous style, lined up facing the Seine.“

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Die Weltausstellungen sind Orte, die sich weder auf ihren Konstruktionscharakter noch auf ihre Flüchtigkeit beschränken lassen, wenngleich beides zentrale Pfeiler ihrer Existenz bilden. Wie eng dabei die Weltausstellungen mit der Moderne zusammenhängen, das beschreibt Alexander Geppert in seiner Studie Fleeting Cities, in der er Gewerbe- und Weltausstellungen zwischen 1896 und 1930 analysiert und diese als „interconnected exemplars of urban modernity“126 beschreibt. Die Ausstellungen, nicht selten in eigens für sie errichteten Gebäuden untergebracht und flankiert von architektonischen Neuheiten, stehen, Geppert folgend, als ‚flüchtige Städte‘ geradezu paradigmatisch für ihre Zeit. In Anlehnung an Charles Baudelaires Definition der Moderne beschreibt er sie „as a set of representational practices that embraces ‚the ephemeral, the fugitive, the contingent‘ and characterizes the present in general, and the world of the fin-desiècle metropolis in particular.“127 Die ephemeren und nur temporär installierten Städte sind Präsentationsflächen und Zeichen einer neuen Mobilität, sind selbst Teil dieser Dynamik und eingebunden in kulturelle und ökonomische Zirkulationsprozesse. Die Metropolen des Fin de Siècle, vor allem die Knotenpunkte Paris, London und Berlin als Zentren vielschichtiger Repräsentationspraktiken, werden bei Geppert mit Verweis auf Henry Lefebvre zugleich als ‚spaces of representation‘ und als ‚representation of space‘ betrachtet.128 Der Raum ist Rah-

123 Friedberg 1993, 84. 124 Vgl. die weiteren Ausführungen hierzu im Abschnitt Venise à Paris des vorliegenden Kapitels. 125 Friedberg 1993, 84. 126 Geppert 2010, 3. 127 Geppert 2010, 3. Hervorhebung im Original. 128 Vgl. Geppert 2010, 4.

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mung und zugleich selbst Teil dessen, was gerahmt und was in seiner Flüchtigkeit inszeniert wird. Mit Fleeting Cities spielt Geppert bereits im Titel auf den Gegensatz scheinbar stabiler und überzeitlicher Architektur und des Flüchtigen an. Aufgebaut wurden temporärere Gebilde, vielfach Konstruktionen aus Glas und Stahl, paradoxe Bauten auf Zeit, die die industrialisierten Lebensumstände repräsentierten und potenzierten in der Geschwindigkeit ihres eigenen Entstehens und Verschwindens und der Zirkulation der in ihnen ausgestellten Waren. Die oft verwendeten Bauelemente Stahl und Glas hatten Symbolcharakter für das Zeitalter der Industrialisierung; gerade die breiten Glasfronten standen für den Versuch, „das Innen und das Außen neu [zu] verhandeln“129, einen Bezug zur Umgebung herzustellen. Auch wenn die Glasscheibe eine Trennung verstetigte, so erlaubte sie zugleich eine erhöhte Sichtbarkeit.130 Nicht allein die Architektur der Räume zeichnete sich durch Durchlässigkeit aus; die teils vielfältige Nutzung der Räumlichkeiten belegt auch ein Verschwimmen der inhaltlichen Grenzen, so beispielsweise zwischen Gewerbeschau und Vergnügungs-Spektakel. Die Entstehungsgeschichte der Londoner Olympia Hall steht hier paradigmatisch für die Nähe der Austragung von wirtschaftlichem Wettbewerb und der Verstetigung von Unterhaltungsangeboten. 1886 als National Agricultural Hall gebaut, stand die Messehalle in engem Bezug zu Gewerbeund Weltausstellungen, sie erfuhr aber bereits kurz nach ihrer Einweihung eine faktische Umwidmung: Statt für Messen wurde sie für Zirkusshows genutzt, so dass sich die Konstruktion – auch diese erbaut aus Stahl und Glas – mehr als Unterhaltungszentrum denn als Ausstellungshalle etablierte. 131 Auch temporäre Vergnügungsparks fanden hier Platz – und dass im wahrsten Wortsinn, denn es waren vor allem die gigantischen Dimensionen, die die Halle für ein überdachtes Freizeitvergnügen empfahlen. Der ungarische Unterhaltungsunternehmer Bolossy Kirlafy produzierte hier beispielsweise sein Spektakel Constantinople132 und

129 Becker 2014, 76. 130 Vgl. Becker 2014, 76-77. 131 Eine Beschreibung der Halle und ihres Aufbaus findet sich bei Arthur T. Walmisley 1888, 71f. Für den Hinweis auf dieses Buch danke ich Sandra Bornemann. 132 Bolossy Kiralfy beschreibt in seiner Autobiografie das Projekt, in London Konstantinopel ‚nachzubilden‘ und dabei die gesamte Halle in einen „new entertainment complex“ zu verwandeln. „One part of the theatre, called Annex, was converted into a Turkish-Oriental world’s fair, completed with space for side shows, restaurants, and stores. A new stage was constructed in the huge theatre – 400 feet in width and 180 to 240 feet in depth, forming a half oval toward the audience.“ Kiralfy 1988, 151; vgl. hierzu auch Leonhardt 2007, 163. Vorangegangen war aber der Nachbau

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beschrieb die Halle aufgrund ihrer Größe als idealen Aufführungsort: „The Olympia, a gigantic glass-roofed structure in London that could hold some twenty-five thousand people, was an ideal edifice for a truly fantastic spectacle.“133 Die Halle als Ort der Masse und des Massenspektakels wurde auch von Max Reinhardt und Karl Gustav Vollmoeller ausgewählt und entsprechend bespielt: Sie machten sie zur ersten Aufführungsstätte der Inszenierung des Mirakels.134 Die mächtige Halle wurde dafür in eine mittelalterliche Kathedrale verwandelt; aus der Masse der Zuschauer und der Masse der Spielenden entstand eine Gemeinschaft durch den Moment des geteilten Erlebens, der Partizipation an der Performance.135 Gerade die Olympia Hall oszillierte zwischen einer Einbettung in eine Ökonomie des Spektakels und zugleich einer Einbettung in das Spektakel der Ökonomie. Solche Ausstellungsräume ermöglichten eine körperlich erfahrbare wie auch imaginäre Reise; so erwiesen sich gerade die Weltausstellungen als Teil eines imaginären Reisekomplexes. Hier wurde kein anderer als der tatsächliche Ort benötigt, dieser jedoch in einen außeralltäglichen verwandelt. 136 So ist es kein Zufall, dass eines der ersten Angebote für Gruppenreisen des englischen Unternehmers Thomas Cook, einem Pionier auf diesem Gebiet, der Reise zur Londoner Weltausstellung von 1851 galt. „Millions attended the Exhibition, many of whom had their travel and lodging coordinated by Cook, and perhaps their out-

und das Vergnügungsunternehmen Venice in London, das Bolossys Bruder Imre Kiralfy umsetzte, vgl. hierzu den Abschnitt Venice in London im vorliegenden Kapitel. Die Ablösung von Venedig durch Konstantinopel erwies sich als pragmatische Lösung, denn so konnte Bolossy die architektonischen Vorgaben des vorangegangenen Unternehmens übernehmen: Aus dem Canal Grande wurde der Bosporus, aus der Sehnsucht nach einer italienischen, die Sehnsucht nach einer orientalischen Ferne. So war der Vergnügungspark „well suited to the British fascination with the East and to the interior of the Olympia. The canals used for Venice could be reused as the waterways of Constantinople. No major structure had to be changed or added, only superficial decorative changes were necessary. […] Caiques replaced gondolas“, Kiralfy 1988, 252. 133 Kirlafy 1988, 150. 134 Vgl. hierzu Marx 2006, 127. 135 Vgl. Marx 2006, 135, vgl. auch Fischer-Lichte 2013, 229 und 231. Fischer-Lichte verweist auf die Kurzlebigkeit einer solchen Gemeinschaft, die sich nach dem geteilten Erleben wieder auflösen kann, vgl. ebd. 136 Vgl. Steinkrüger 2013, 54.

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look on travel and tourism shaped by Cook as well.“137 Körperliche und imaginäre Mobilität verbanden sich beim Besuch der Weltausstellungen: die von Sennett benannte Dynamisierung der Bewohner innerhalb der Stadt, die zu einem Gefühl kosmopolitaner Bürgerlichkeit führte, die Reise der Waren und Besucher, die für die Ausstellungen die Metropolen aufsuchten, und der mobilisierte Blick der Anwesenden, die durch das Warenhaus im imaginären Konsum geübt waren. Die Welt wurde verfügbar, indem sie, repräsentiert durch Produkte und Exponate, vor Ort versammelt und sichtbar wurde, indem der Besucher flanierend und mit umherschweifendem Blick imaginär konsumierte, auf diese Weise von dem Sichtbaren Besitz ergriff. „The World Exhibition was a monumental site for the conflation of the mobilized gaze of shopping and tourism with the virtual gaze of the faux-real.“138 Dieses „Falsch-Wahre“ des Sichtbaren wird in den Ausstellungsräumen der Moderne körperlich erfahrbar, so wird hier der Besucher zum Flaneur und entwickelt einen Zugang zur Welt. Friedberg erzählt in Window Shopping eine Kulturgeschichte des Blicks als konsumierenden Blick, die sie mit der kommodifizierten Erfahrung von Mobilität verbindet. Zwar widmet sie sich in besonderem Maße der Entwicklung des Kinos und seinen Voraussetzungen, jedoch untersucht sie hierfür nicht allein die Filmgeschichte, sondern vielmehr die Veränderungen visueller kultureller Praktiken, die sie eng an die Prozesse der Kommodifizierung bindet; ihr Buch „traces the cultural contexts of these commodified forms of looking and of the experiences of spatial and temporal mobility which were first converted into ‚commodity-experiences‘ in the nineteenth century.“139 Das konsumierende Sehen wurde in den Ausstellungs- und Warenwelten, den Kaufhäusern und Weltausstellungen, ein- und ausgeübt, wo die Ware zum Erlebnis, das Erlebnis zur Ware wurde.140 Die Weltausstellungen verbanden in gewissen Sinne alte und neue Formen der Präsentation und des imaginären Konsums; sie verbanden den ökonomischen Wettbewerb mit unterhaltsamen und spektakulären Phänomenen. Während in den Museen des 19. Jahrhunderts das Objekt seinen Schauwert zugunsten der Illustration genereller

137 Strong 2014, 27. Strong führt aus, dass das Cook’sche Reiseprogramm einen umfassenden Anspruch verfolgte, inklusive „new technologies of seeing and learning“. So schrieb er begleitend zur Reise auch Reiseführer für seine Kunden und veröffentlichte sogar eine Anleitung zur richtigen Verfassung von Reisetagebüchern. Vgl. ebd., 24. 138 Friedberg 1993, 82. Hervorhebungen im Original. 139 Friedberg 1993, 7, Hervorhebung im Original. 140 „Commodities masquerade as experiences and experiences are turned into commodities.“ Featherstone 1983, 6.

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Tendenzen verlor,141 überwog in den Weltausstellungen das Interesse am Fremden, Exotischen und Außergewöhnlichen. Dieses Fremde wurde körperlich erfahrbar durch die Bewegung im Raum. So konstatiert Barth mit Blick auf die Weltausstellungen: „Der Besucher wurde zum Flaneur, zum stillen Betrachter einer schier unendlichen Vielzahl arrangierter und inszenierter Objekte, an denen er, durch Vitrinen und Absperrungen getrennt, entlang spazierte. Die Wunderwelt der Ausstellung forderte ihn zum Gedankenspiel mit diesen Objekten heraus, die er nicht kaufen, sondern nur im Geiste besitzen konnte. Die Ausstellung wurde zur begehbaren Fantasie, zum gelebten Tagtraum.“

142

Im Ausstellungs-Komplex als (imaginärem) Konsum-Komplex wandelte sich das Flanieren zur konsum-adäquaten Kulturpraktik in der neuen ‚Wunderwelt‘.

2.2 F LANIEREN

ALS

K ONSUMPRAKTIK

Dem Tempo der Metropolen zwar ausgesetzt, aber ihm durch den eigenen Gehrhythmus auch ein Gegengewicht entgegen setzend, das sich beschleunigende Leben durch einen umherschweifenden Blick betrachtend, so präsentiert sich die Gestalt des Flaneurs in der Lesart Walter Benjamins.143 Dem Flaneur wird die Metropole selbst zum Panorama, in der er, so Benjamin, „auf dem Asphalt botanisieren geht.“144 Der Flaneur als ziellos Umherstreifender geht in den Straßen der Stadt selbst verloren; als Beobachter des metropolitanen Lebens ist er zugleich ihr Chronist,145 der seine Beobachtungen in Form literarischer Ergüsse nicht unabhängig vom ihm umgebenden Konsumkreislauf produziert. „[T]he flâneur seems to move through the city, presenting a panoramic view of it by virtue of his travels, which can then be ‚viewed‘ as such by the sedentary reader of

141 Vgl. Bennett 1995, 24. 142 Barth 2007, 20. Auf der Pariser Weltausstellung von 1867, auf die sich Barth bezieht, war der Verkauf der Exponate untersagt. 143 Auch ist es Benjamins bis heute den Flaneur-Diskurs dominierende Lesart, die Paris in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Vgl. Rose 2007, 22. Rose verweist auf unterschiedliche Benennungen für den Flaneur, so wurde für London der „idler“ als naher Verwandter des Flaneurs beschrieben und konnte man in Berlin die Figur des „Eckstehers“ finden. Vgl. ebd., 45f. 144 Benjamin 1969, 36. 145 Vgl. Benjamin 1969, 37.

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his adventures.“146 Zugleich ist der Flaneur auch Gegenstand der Literatur, 147 die ihn teils humoristisch als voyeuristischen Zuschauer des kostenlosen Straßentheaters betrachtet.148 In Anlehnung an Foucaults Gedanken zur panoptischen Überwachung beschreibt Friedberg den Flaneur als überaus modern, steht er doch für das Ephemere und Flüchtige: „Like the panopticon system, flânerie relied on the visual register – but with a converse instrumentalism, emphasizing mobility and fluid subjectivity rather than restraint and interpellated reform.“149 Während in Museen, Warenhäusern und Vergnügungsparks ein BlickRegime galt, dem ein Ordnungsgedanke zugrunde lag, ein System aus Anleitung und Führung, steht die Figur des Flaneurs 150 in ihrer Ziellosigkeit dem überwachenden Blick entgegen. Harald Neumeyer definiert Flanieren als

146 Rose 2007, 72. 147 Und dabei war der Flaneur, so belegt es Rose, keineswegs nur der Beobachter, der Charakterstudien seiner Zeit und seiner Zeitgenossen anlegte, sondern stand auch selbst im Zentrum solcher Beobachtungen. Während Benjamin einen eher ernsten Blick auf das Phänomen und die Mode der publizierten Physiologies wirft, kann Rose in ihrem Abdruck zweier solcher Publikationen aus Frankreich und England – Louis Huarts Physiologie du Flaneur von 1841 und Albert Smiths The Natural History of the Idler upon Town von 1848 – ein Schlaglicht auf eine wesentlich humoristischere Betrachtung der Betrachter werfen. Der Flaneur wurde zu einer selbstreflexiven Figur, zu einer Gebrauchsanleitung der Selbstbeobachtung und Verortung, vielleicht mehr denn zur Verortung der Anderen. Vgl. Rose 2007, 22. 148 „[T]he flâneur is described as one who visits all those events he can observe for free as a spectacle gratis.“ Rose 2007, 22, hier in Bezug auf einen Artikel aus der Zeitschrift Figaro vom 13. November 1831. 149 Friedberg 1993, 16. Vgl. hierzu weiterführend Foucault 2008. 150 Die Figur der ‚Flaneuse‘ entstand bezeichnenderweise erst im Kontext der Warenhäuser, wo die Frau zur Kaufhauskundin wurde; durch den Wandel im Konsumbereich erschlossen sich den Frauen neue öffentliche Räume, die das ziellose Umherschlendern nicht mehr fragwürdig erscheinen ließen, vgl. Friedberg 1993, 35. „[T]o find the origins of a female observer – a public woman who was neither a fille publique nor a femme honnête – one has to turn to new spaces that appeared in the mid-nineteenth century, public spaces such as the department store or the amusement park, spaces where woman could exist outside of these two narrow definitions. The flâneuse was the nineteenth-century version of a female observer, whose gaze was mobilized in these new public spaces of modernity.“ Friedberg 1993, 36.

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„ein vom Zufall bestimmtes Gehen, ein Gehen, das, was das Erreichen eines bestimmten Ortes oder das Durchschreiten eines festgelegten Raumes angeht, als richtungs- und ziellos zu verstehen ist, ein Gehen, das dabei zugleich frei über die Zeit verfügt, Zeit mithin 151

keiner Zweckrationalität unterwirft.“

Durch die Veränderungen der Metropole in der Moderne und die Auswüchse der Industrialisierung wurde der Flaneur und seine anti-modernistische Rezeptionshaltung – im Sinne einer Verweigerung beispielsweise des Tempos des modernen Lebens – scheinbar aus dem Straßenbild gedrängt. Die Passagen als „ein Mittelding zwischen Straße und Interieur“ 152 erlaubten dem Flaneur den Aufenthalt in einer geschützten Umgebung, die dennoch öffentlich war. „Mehr als an jeder anderen Stelle gibt die Straße sich in ihr als das möblierte, ausgewohnte Interieur der Massen zu erkennen.“153 War die Passage Heimat des Flaneurs, so wurde mit deren Verschwinden das Warenhaus zur neuen Zuflucht: „Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur darstellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische.“

154

Benjamin beschreibt hier die Warenhäuser als Teil eines Niedergangs. Sie wurden zu den neuen Salons der Flanierenden; im ziellosen Umherstreifen wurden Bedürfnisse geweckt, die im Schau- oder, sofern möglich, auch im Kaufakt befriedigt werden konnten. Der Blick war hier nicht nur ein beobachtender, sondern ein imaginär konsumierender. 2.2.1 Konsumräume als ‚environmental theatre‘ Im Warenhaus wurde der Anreiz zu mehr Konsum geschaffen – nicht durch eine spezifische Preispolitik, sondern vielmehr durch die Erweckung bestimmter Bedürfnisse und die Vorführung des Verfügbaren, was nicht selten zur Verführung

151 Neumeyer 1999, 11. 152 Benjamin 1969, 37. 153 Benjamin 1983b, 1052. 154 Benjamin 1969, 58. Die Stadt ist für Benjamin zudem ein labyrinthisches Erlebnis: „Die Stadt ist die Realisierung des alten Menschheitstraumes vom Labyrinth. Dieser Realität geht, ohne es zu wissen, der Flaneur nach.“ Benjamin 1983a, 541.

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wurde. Überzeugt wurde der Kunde, indem die Ware entsprechend präsentiert, zu einem Ereignis gemacht wurde, indem die Warenhausbesitzer „das Geschäft in ein Spektakel verwandelten und den angebotenen Waren assoziativ eine Bedeutung verliehen, die ihnen an sich abging.“155 Wert und Bedeutung der Ware (wie auch des Exponats) hängen dabei nicht von ihrem Materialwert ab – vielmehr befinden sie sich in einem „continual process of symbolisation and re-symbolisation. Consumer culture thus presents a vast synthesis of fictions and realities into which traditional reference points collapse.“156 Die Massenware wurde exotisiert, das Verfügbare wieder spannend gemacht, sowohl visuell, als auch durch die Einbettung in eine Objektinszenierung. „Die maschinelle Produktion einer Vielzahl von Waren, die erstmals als Massenartikel verkauft wurden, und das Warenhaus setzten sich beim Publikum nicht wegen der Nützlichkeit oder des niedrigen Preises der dort angebotenen Waren durch, sondern weil sie aus dieser Mystifikation Kapital schlugen. Gerade als die materiellen Güter einförmiger wurden, verlieh man ihnen in der Werbung menschliche Eigenschaften, machte sie zu faszinierenden Geheimnissen, die den Kunden nicht ruhen ließen, bis er die Ware gekauft hatte, um sie zu durchschauen.“

157

Der Erfolg des Warenhauses fußte auf eben jenen Inszenierungsstrategien, die Sennett im Wechselspiel von Verfügbarkeit und Mystifizierung identifiziert. In diesem Sinne kann von einer theatralen Strategie gesprochen werden, die den Konsum zu einem Erlebnis und Ereignis werden ließ. Diese Nähe zum Theatralen und Spektakulären entging auch den Zeitgenossen nicht: „The new stores have been invariably characterised as ‚palaces‘, ‚theatres‘, veritable ‚dream worlds‘ of consumption, because they encouraged the customer to wander around amidst a panorama of goods carefully arranged and displayed to conjure up images of 158

luxury, exotica, romance and ‚the new‘ […].“

155 Sennett 2004, 189. 156 Featherstone 1983, 6. Zur vielschichtigen Bedeutung und Bedeutungsgenerierung von und bei Alltagsgegenständen vgl. auch weiterführend Barthes 2010. 157 Sennett 2004, 37. 158 Featherstone 1983, 5, hier in Bezug auf Williams 1982.

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Für Featherstone ist der flanierende Kunde hier folglich mit einem „environmental theatre“159 konfrontiert. Auch Marx vergleicht das Warenhaus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit dem kommerziellen Theater, als Ort, an welchem sich die modernen Entwicklungen mit allen Sinnen erfassen lassen, als „Schauplatz einer umfassenden und sinnlichen Erfahrung von Modernisierung“160. Aber es war eben nicht nur die Ware, die hier Teil der Inszenierung wurde, so fungierten die Kaufhäuser „ebenso als ‚Schauplätze‘ gesellschaftlichen Wandels und sozialer Mobilität wie als Katalysatoren dieser Entwicklungen.“161 Auch auf der Ebene der Raumgestaltung lässt sich diese veränderte Schauund Spielanordnung nachweisen. Hier zeigen sich Berührungspunkte zu Raumexperimenten der historischen Theateravantgarde, denn die Avantgarde versuchte, räumliche Schranken abzubauen und den Gemeinschaftscharakter des Erlebnisses zu stärken. Auch die neuen Konsumtempel verzichteten auf die, der Bühnenrampe ähnelnde, einzelne Verkaufstheke. Stattdessen wurde diese vervielfältigt, womit die Raumordnung offener und eine „Dezentrierung der Perspektive“162 möglich wurde. Auch in diesem Sinne kann das Kaufhaus als ‚environmental theatre‘ betrachtet werden, das, wie Warstat es beschreibt, „die alte Trennung von Akteur und Wahrnehmenden in einem ungeteilten Raum und einer einheitlichen Erlebnisgemeinschaft“163 aufhebt. Dabei hat die bessere Sichtbarkeit eine doppelte Funktion. Was in Bezug auf die moderne Berufswelt bei Sennett als „Konzept der ‚durchlässigen Wand‘“164 bezeichnet wird, (wenn in einem Betrieb die Bürowände fallen und in Großraumbüros gearbeitet wird,) bietet eine Möglichkeit der gegenseitigen Überwachung, ist also zugleich „Sichtbarkeit und Isolation“165. Mit dem Aufbruch starrer Raumkonzepte in Theatern und Warenhäusern sollte eine Aktivierung der Zuschauer beziehungsweise Käufer einhergehen und ein gemeinschaftliches Theater- beziehungsweise Kauferleben

159 Vgl. Allain und Harvie 2006, 148-150. Der Begriff wurde von Richard Schechner geprägt, vgl. ebd., 148. Vgl. ebenso Balme 2003, 137. 160 Marx 2008, 273. 161 Marx 2008, 273. 162 Warstat 2005a, 65. Warstat betont allerdings auch, dass diese Kaufhäuser noch bis in die 20er Jahre hinein vor allem den begüterten Schichten offen standen. 163 Vgl. Warstat 2005a, 63f. 164 Sennett 2004, 30. 165 Sennett 2004, 30.

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möglich werden;166 mehr noch kann von einer Theatralisierung der ökonomischen Verhältnisse gesprochen werden. Die teils klassenübergreifende Gemeinschaft, die hier entstand, erlebte die Konsumerfahrung als konstitutives Moment: In und durch diese geteilte Erfahrung wurde eine Erlebnisgemeinschaft geschaffen. Mit Fischer-Lichte kann diese Art der Gemeinschaft auch als ‚ästhetische‘ verstanden werden, also als Gemeinschaft, die „durch spezifische ästhetische Mittel wie neue Räume oder neue Aufteilung von Räumen, Atmosphäre, Rhythmus, den Einsatz energetischer und dynamischer Körper und Ähnliches geschaffen wurden, ohne auf gemeinsame politische, religiöse, ideologische oder weltanschauliche Überzeugungen zurückzugreifen.“167

2.2.2 Konsumräume als andere Räume Mit dem Wandel zur Konsumgesellschaft und dem Beginn der Massenproduktion begann eine Prioritätenverschiebung von der „Sicherung der Grundbedürfnisse“168 zum „Spektrum der Kulturbedürfnisse“169, wie König schreibt. Flankiert wurde dieser Wandel durch eine erhöhte Mobilität, die einen schnelleren Austausch und eine höhere Konzentration an Waren, Informationen und Bildern erlaubte. Die schnellere Verbindung zwischen Wegen der Produktion und der Distribution wurde durch den Ausbau des Schienennetzes170 und die zunehmende Urbanisierung ermöglicht. Die wachsende Mobilität beschleunigte den Austausch, den Transport von Besuchern und Waren in die Metropolen, ebenso in entlegenere Regionen und entfernte Landstriche. 171 Sie veränderte aber auch die Struktur der Stadtviertel und ermöglichte einen Kosmopolitanismus als Erfahrung einer Fülle und Vielfalt.172 In der Akkumulation, in der ambivalenten Verbindung aus zeitentrückten, historisierten oder exotischen Arrangements und neuesten Produkten, aber vor allem im Verweis auf die Strategien der Inszenie-

166 Warstat hier mit Blick auf die politische Festkultur der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, vgl. Warstat 2005a, 75. 167 Fischer-Lichte 2012b, 12. 168 König 2008, 16. 169 König 2008, 16. 170 Vgl. Chaney 1983, 23. 171 Vgl. Chaney 1983, 26. Der Prozess der Warenwerdung des Eisenbahnreisenden, wie ihn Schivelbusch beschrieben hat, wird im folgenden Reise-Kapitel der vorliegenden Arbeit aufgegriffen. 172 Vgl. Sennett 2004, 180.

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rung und Aneignung findet sich die Basis der Anziehungskraft der neuen Konsumräume. Museum, Warenhaus und Weltausstellung ist durch die Ansammlung verschiedener Zeiten und Gegenden eine Überzeitlichkeit gemein, die sie, ähnlich auch den Jahrmärkten, als Heterotopien im Sinne Foucaults kennzeichnen: als Orte, die verschiedene Räume akkumulieren und auf sie verweisen. Foucault definiert diese als „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in der Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien“173. Und weiter schreibt er: „Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.“174 Beispiele solcher heterotopischen Orte sind für ihn Museen und Bibliotheken, die er zugleich als Orte der Zeitakkumulation benennt.175 Die hier beschriebenen Konsumräume fungieren als Zwischen-, Vermittlungs- und Deutungsräume, sie sind Teil dessen, was Siegrist „einen kulturellen Apparat“ nennt, „der die Verständigung zwischen den Produzenten, Vermittlern und Konsumenten der Güter ermöglicht und die Deutung von Kaufen und Verbrauchen anleitet.“176 Im Wechselspiel von neuen, öffentlichen Orten, neuen Medien und neuen (Inszenierungs-)Techniken werden in den wachsenden Großstädten kulturelle Praktiken und Orte ihrer Einübung geboten. Das Subjekt kann sich als Benutzer und Verbraucher über sein Verhalten in den neuen Konsumräumen definieren, bzw. über die reale und imaginäre Nutzung der konkreten wie abstrakten Objekte definiert werden. Diese Räume können als Heterotopien und Chronotopien beschrieben werden, als Momente der Materialisierung der Zeiten oder des Flüchtigen und als Realisierung anderer Räume.

2.3 E RLEBNISWELT V ERGNÜGUNGSPARK Vergleichbar den Weltausstellungen kristallisiert sich auch für den Freizeitpark jenes transnationale Moment deutlich heraus: Die Unternehmer und ihre Netzwerke zeichnen sich in großem Maße verantwortlich für eine frappierende Ähnlichkeit des Gezeigten an unterschiedlichen Orten.177 Als Netzwerker rückt auch der einzelne Kulturakteur stärker in den Fokus, der für die erstaunlich homogene

173 Foucault 1992, 39. 174 Foucault 1992, 39. Hervorhebung im Original. 175 Vgl. Foucault 1992, 43. 176 Siegrist 1997, 19. 177 Vgl. Geppert 2010, 4.

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Gestaltung eines transnational zirkulierenden Formats wie die Weltausstellung mit verantwortlich zeichnet, diesen internationalen „exhibitions […] as transitory yet recurrent meta-media“178. Die gut vernetzten, individuellen Unternehmer, Entscheidungsträger und Aussteller folgten ökonomischen Interessen, sie reagierten auf neue Entwicklungen und erfolgreiche Neuerungen und bedingten deren rasche Verbreitung. Geppert greift Bennetts Begrifflichkeit des ‚Ausstellungskomplexes‘ auf und schlägt eine Dynamisierung des Begriffes vor, indem er weniger von einem Komplex, denn von einem Ausstellungsnetzwerk und -netzwerkern spricht. „Their intermingling led to transnational adjustments in consecutive expositions. Once successfully introduced, new elements and novel features were quickly transferred across borders and integrated into later exhibitions, largely regardless of their respective national contexts.“179 Durch Weltausstellungen wurde Neues schnell adaptiert – und dabei transnational eine hohe kulturelle Dynamik bewiesen, die zugleich auf die Homogenität der Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums in den Metropolen hinweist. Nicht anders lässt sich dies auch für die Freizeitparks denken. Die Flüchtigkeit des Spektakulären, das immer nur für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit zu fesseln weiß180 – im Park und in der Weltausstellung scheint dieses Ephemere durch die Potenzierung der Angebote in gewissem Sinne verstetigt, in der Verbindung aus physischen und visuellen Reizen. Die Vorläufer des Freizeitparks lassen sich zu fahrenden Schaustellern und temporären Festivitäten, zu Markt- und Rummelplätzen verfolgen und die Entwicklung solcher Parks sich somit je nach Schwerpunktsetzung ihrer Charakteristika innerhalb einer langen Tradition und Geschichte verorten; als fest installierter, öffentlich zugänglicher Ort des Vergnügens etablierte sich der Freizeitpark in seiner uns bis heute vertrauten Form allerdings erst Ende des 19. Jahrhunderts.181 Foucault beschreibt die Festwiesen mit ihren Attraktionen als Orte

178 Geppert 2010, 5. 179 Geppert 2010, 5. 180 Vgl. Sennett 2004, 165. 181 Vgl. zur Entwicklung des Vergnügungsparks beispielsweise Steinkrüger 2013, 247ff. Steinkrüger beginnt seinen historischen Abriss zur Geschichte der Vergnügungsparks mit den Tivoli Gardens, wo seit dem 17. Jahrhundert gegen die Bezahlung eines hohen Eintrittspreises ein exklusives Vergnügungen versprochen wurde. Vgl. ebd., 247. Er bezieht sich hier unter anderem auf Steinecke 2009, 66.

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der Flüchtigkeit, als „absolut chronische Heterotopien“182. Im Vergnügungspark verbindet sich das flüchtige Fest mit einer (temporären) Verstetigung. Die flüchtigen Aufbauten erwiesen sich durch transnationale Austauschprozesse als hochmobil: Die Entwicklungen der Themenparks 183 dies- und jenseits des Atlantiks legen Zeugnis ab von einer regen Wechselbeziehung, einer Zirkulation neuer und erfolgreicher Entwicklungen wie auch der Unternehmer und Netzwerker selbst, die teils auf mehreren Kontinenten aktiv waren. 184 „Überall gelang es offensichtlich, mit einem vergleichbaren Angebot an Attraktionen ein Massenpublikum anzusprechen und zu begeistern“ 185, konstatiert Niedbalski, so dass auch hier von einer Vereinheitlichung der Erwartungen ausgegangen werden kann und sich die angebotenen Attraktionen weltweit ähnelten. Dennoch wurden nationale und regionale Unterschiede nicht völlig nivelliert. 186 Die Parks befanden sich vielmehr in einer ambivalenten Zwischenposition aus Flüchtigkeit und Zirkulation, aber auch konkreter Verortung. Sie können, so Niedbalski, zugleich „im Spannungsfeld von globaler Homogenisierung und lokaler Aneignung“187 begriffen werden. Nicht nur der Aufbau der Anlagen war in ständiger Bewegung, sondern auch die sie bevölkernden Besucher. Gerade im Kontext der die Freizeitparks umgebenden Metropolen war Geschwindigkeit als ein zentrales Thema in variantenreichen Formen vertreten: Durch eine große Anzahl an Fahrattraktionen, die den Rausch der Geschwindigkeit erleben ließen, wurde der Besucher in Bewegung versetzt. Ihm stand die Möglichkeit der Nutzung von unterschiedlichsten Fortbewegungsmitteln offen, darunter sichtbar auf Schienen geleitete Fahrgeschäfte, aber auch Kutschen und Boote, die durch die Parkarchitektur an bestimmte Routen gebunden waren. Für letztere wurden teils künstliche Seen angelegt oder Kanäle; für Venedig-Nachbauten galt, das hier auf das Angebot einer Gondelfahrt

182 Foucault 1992, 44. 183 Zum Begriff ‚Themenpark‘ und dem Spektrum an alternativen Bezeichnungen aus dem angelsächsischen Raum vgl. Steinkrüger 2013, 43. 184 Vgl. Schwarzmann 2003, 113. 185 Niedbalski 2012, 356. Die Autorin betont, dass es sich hierbei nicht um den Prozess einer einseitigen Aufnahme von amerikanischen Neuheiten seitens europäischer Unternehmer handelte, sondern um eine Wechselbeziehung. 186 „Deterritorialisierte kulturelle Formen dienen somit zur Konstitution territorial definierter Identitäten.“ Bormann 1998, 55, hier zitiert nach Steinkrüger 2013, 12. 187 Niedbalski 2012, 358.

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nicht verzichtet werden konnte.188 Aber auch mit der Präsentation neuester Technik, der Elektrizität189 und der bewegten Bilder, mit Vorführungen des jungen Mediums Films wurde das Publikum ‚mobilisiert‘. Dabei wurde der Besucher nicht nur passiv in Bewegung versetzt – er bewegte sich auch selbst und eigenständig durch den Raum, entdeckte die meist großzügig angelegten Parks zu Fuß, ein ‚environmental theatre‘, in welchem die Zuschauer „die Bühne(n) umgeben können und umgekehrt.“ 190 Die scheinbar freie Wahl der Bewegungs- und Blickrichtungen wurde, dem Museum vergleichbar, durch die architektonische Anlage und ein System aus Leitlinien und Hinweisschildern beeinflusst. Neben den Fahrgeschäften lag ein weiteres zentrales Moment in der Rekonstruktion und der Präsentation vergangener Zeiten oder fremder Orte, die einen zentralen Reiz der Vergnügungseinrichtungen ausmachten. Das kulturelle Phänomen des Nachbaus exotischer Architektur oder historischer Stadtbilder hatte sich bereits als Teil des städtischen Unterhaltungsangebots etabliert und bewährt: Mittelalterliche Nachbauten von Stadtzentren fanden ihr Publikum und trafen auf reges Interesse, so lockte beispielsweise 1889 die Weltausstellung in Paris mit einem „Alt-Paris“191, „Alt-Wien“192 wurde Teil der Wiener Musik- und Theater-

188 Zur Entwicklung der Gondel vom alltäglichen Transportfahrzeug zum rein touristischen Vergnügen, das „einer sentimental journey“ dient, vgl. Franke und Niedenthal 2011, 21. 189 Der Vergnügungspark Venedig in Wien beispielsweise entwickelte sich im Laufe seiner Geschichte auch zur Elektrischen Stadt, vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 153. 190 Balme 2003, 137. 191 Kristan 1996, 179 192 Kristan 1996, 178, vgl. weiterführend ebd., 178ff; vgl. ebenso Rubey und Schoenwald 1996, 26. Die hier beschriebenen Rekonstruktionen sind Teil einer Geschichtspopularisierung, die, wenngleich auch sehr spielerisch, in der Rekonstruktionen der Vergangenheit das aufkommende Interesse an der Geschichte mit der Sehnsucht zu reisen verbinden und dabei den Vorteil der räumlichen Nähe mit der Idee einer zeitlichen Entfernung kombinieren. In der Ausschreibung zur Tagung Die Reise in die Vergangenheit. Geschichtstourismus im 19. und 20. Jahrhundert der Universität Siegen vom November 2014 wurde konstatiert, dass eine Auseinandersetzung mit der Funktion und Form des Geschichtstourismus von Seiten der Geschichtswissenschaft noch nicht stattgefunden hat, vgl. Fleiß und Schwarz 2014. https://www.uni-siegen.de/phil/geschichte/lehrstuehle/neueregeschichte/histourismu s/information.html?lang=de [Letzter Zugriff: 28.12.2014].

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ausstellung von 1892.193 Letztere bot einen Nachbau des Wiener Marktes von 1692 und seiner anliegenden Gebäude, wo den Besuchern neben kulinarischen Angeboten auch Geschäfte und eine Hanswurst-Bühne offeriert wurden.194 Oskar Marmorek, der als Architekt für diesen Nachbau verantwortlich zeichnete, beschrieb die Grundlage des Interesses seiner Zeitgenossen wie folgt: „Diese Reconstructionen sind nicht blos charakteristisch für das Interesse, das die Gegenwart an allem nimmt, was die eigene Geschichte betrifft, vielleicht ist nicht mit Unrecht darin auch ein Zeichen zu erblicken, dass die intime, insbesondere malerische Bauweise der Vergangenheit dem durch die modernen Bauschöpfungen oft nicht befriedigten Stimmungsbedürfnisse der Gegenwart entgegenkommt. Daraus ist vielleicht auch zu erklären, dass neben den Reconstructionen aus eigener Vergangenheit, noch eine Art dieser ,plastischen Illustrationen‘ Anklang und Erfolg hatte: die Vorführungen malerischer Architektur fremder Länder.“195

Marmorek führte den Erfolg auf die zwei Eckpunkte des Fernen und des Fremden zurück, auf eine Mobilität durch Zeit und Raum. Dabei betonte er zugleich die Notwendigkeit einer entsprechenden ‚Stimmung‘, die Suche nach einer bestimmten Atmosphäre. Mit Ulrich Hatzfeld kann dies als „Stimmungsmanagement“196 der Themenparks beschrieben werden, durch das „architektonische Gestaltung und Unterhaltungsprogramm“ 197 und ebenso alle anderen sinnlichen Ebenen, von der Lichtregie über das musikalische Rahmenprogramm, auch über den Einsatz von „Geräuschen und Gerüchen“198, verbunden werden. Dabei bestehe die Funktion des gewählten Themas, des ‚Originals‘, auf das die Rekonstruktion verweist, vor allem darin, als Anknüpfungspunkt alle anderen Elemente zu verbinden.199 Siegfried Mattl beschreibt am Beispiel der historischen Rekonstruktionen eine Verschiebung der Inszenierungen: Waren die Weltausstellungen noch an umfassenden Nachbauten interessiert, fand in den neuen Vergnügungseinrichtungen

193 Vgl. Linhardt 2006, 263, vgl. ebenso Kristan 1996, 178. 194 Vgl. Schwarzmann 2003, 131. 195 Marmorek zitiert nach Kristan 1996, 187. 196 Hatzfeld 1997, 299, hier zitiert nach Steinkrüger 2013, 30. 197 Steinkrüger 2013, 30. Zwar beschäftigt sich Steinkrüger in seiner Abhandlung mit aktuellen Freizeit- und Themenparks, doch die Ideen zu Funktion und Strategie der Parks lassen sich auch auf ältere Beispiele anwenden. 198 Steinkrüger 2013, 30. 199 Vgl. Steinkrüger 2013, 30.

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eine zunehmende Schwerpunktlegung auf „Motive […], die den Mythos einer Stadt ausmachten“200 statt. Damit meint er auch eben jene Rekonstruktionen, die im Sinne des Historismus einen mittelalterlichen Markt herausgriffen. So sei Geschichte hier zu einem Teil der Unterhaltung gemacht und in den Dienst der Ware gestellt worden.201 Das ‚Stimmungsmanagement‘ der Freizeitparks diente zur Leitung des Besuchers, der mit touristischem Blick das Sichtbare neu entdecken und einer historischen oder geografischen Imagination folgen sollte. Die Nachbauten ermöglichten eine nostalgische Zeitreise, wurden Teil einer kulturellen Erinnerungspraktik, die sich nicht auf die populärkulturelle Unterhaltung beschränkte. Gerade mit Blick auf den architektonischen Eklektizismus des 19. Jahrhunderts und die Verbindung unterschiedlichster Epochen und Regionen, beispielsweise in der Dekoration von Hausfassaden, zeigt sich eine populäre Zitationspraxis.202 Vergangenheit wird hier im Sinne eines architektonischen Ornaments verdinglicht, zum verfügbaren und sichtbaren Konsumprodukt. Parallel zu den unterschiedlichen Rekonstruktionen entwickelte sich eine mit der Industriellen Revolution aufkommende Sehnsucht nach dem konkreten Erhalt der Zeugnisse der Vergangenheit, des nun in rasanten Schritten Entschwindenden. So schreibt Wienfried Nerdinger, dass durch die Rekonstruktion „eine Erinnerung durch Wiederholung von Formen bewahrt und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben“ werde.203 Mit Blick auf das 19. Jahrhundert lässt sich der architektonische Eklektizismus des Historismus einerseits als Erinnerungsarbeit, andererseits als eine Übertragung der Warenlogik der Konsumgesellschaft auf die Architektur lesen, denn auch hier wird alles verfügbar gemacht: Im Zitat exotischer oder exotisierter Bauweisen werden längst vergangene Zeiten greif- und sichtbar gemacht.204 Der imaginäre Konsum der Geschichte durch den Blick war also nicht nur Teil der musealen Inszenierung, nicht nur Teil der Unterhaltungsindustrie der Weltausstellungen, sondern auch als ästhetisches Konzept im alltäglichen Straßenbild vertreten.

200 Mattl 2009, 41. 201 Vgl. Mattl 2009, 41. 202 Vgl. Pech, Pommer und Zeininger 2014, 6. 203 Nerdinger 2010, 10. 204 Vgl. hierzu weiterführend beispielsweise Koppelkamm 1987. Die hier angeführten Beispiele einer architektonischen Aneignung des Orients sind vor allem als Bezugnahme zu einem imaginierten Orient zu lesen, was die Vermischung, das Nebeneinander und Durcheinander unterschiedlicher Länder, Epochen und Stile erlaubte. Vgl. zur Idee des imaginierten Orients Said 2003.

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Der Freizeitpark beflügelte die Imagination, aktivierte den Blick in Richtung Vergangenheit und Ferne. So wurden die Imagination, der Blick und der Körper mobilisiert.205 Die Nachbauten konnten betrachtet, zum Teil aber auch begangen und genutzt werden. Dabei erwies sich der Vergnügungspark als eine „parody of urban experience, turning the jumbled subjectivities of urban life into bodily enactments.“206 Die Beschleunigung des Lebens wurde zu einer physisch erlebbaren. Dem urbanen Leben konnte aber auch eine Entschleunigung entgegengestellt werden, einerseits vermittelt durch den Rückgriff auf die benannten historischen Architektur-Ensembles, andererseits auf vormoderne Transportmittel, wie die Gondel. Der Flaneur fand um 1900 eine Zuflucht in Venedig, denn die Lagunenstadt generierte ihre Sonderstellung auch aus der Absenz jener die Metropole prägenden technischen Neuerungen und aus der Sichtbarkeit der Historie über die Fassaden der Häuser, standen doch in Venedig dem Automobil kaum Straßen zur Verfügung,207 so dass die historischen Gassen mit den vielen Kanalbrücken überwiegend das Reich der Fußgänger blieben. Dies greift der Freizeitpark auf und erlaubt im Moment der Gondelnutzung und dem Flanieren durch venezianische Straßenzüge eine Illusion einer vorindustriellen Zeit. Zugleich sind es die technischen Errungenschaften der Gegenwart, die den Nachbau der Kanäle ermöglichen – und teils auch die Vermittlung und schließlich Kommodifizierung des Erlebnisses. So konnte sich der Besucher des Themenparks Venedig in Wien vor Ort in einer Gondel durch das k. k. Hofatelier Fritz Luchardt fotografieren lassen. „Der Zuspruch zu diesen photographischen Aufnahmen ist demgemäß auch ein sehr lebhafter und ist man im Publicum allgemein entzückt von den ebenso scharf als sprechend ähnlich und äußerst gefallsamen Bildern.“208 Das flüchtige Erlebnis wurde in materialisierter Form als personalisiertes Souvenir erwerbbar. Für den Besucher der Vergnügungsparks galt, wie auch für den Theaterbesucher der Zeit, dass seine Nutzung der kulturellen Angebote ihn sichtbar machte, zum „visuellen Subjekt, das mit seiner räumlichen und ökonomischen Präsenz einen Akt kultureller Teilhabe und Selbst-Inszenierung vollzog“209. Mit Verweis auf Paris im Fin de Siècle stellt Vanessa R. Schwartz eine Verbindung

205 Vgl. Friedberg 1993, 89. 206 Friedberg 1993, 90, hier in Bezug auf John F. Kasson 1978. 207 Franke und Niedenthal nennen die Idee einer straßenlosen Stadt „die Grundbedingung des Systems Venedig“. Vgl. Franke und Niedenthal 2011, 19. 208 Anonymus 1895c. 209 Marx 2008, 281.

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her zwischen der Kultur des Spektakels und den Prozessen urbaner Gemeinschaftsbildung, denn „[t]he visual representation of reality as spectacle […] created a common culture and a sense of shared experience through which people might begin to imagine themselves as participating in a metropolitan culture because they had visual evidence that such a shared world, of which they were part, existed.“

210

So hatten sich folglich über das Visuelle ein geteilter Erfahrungsraum und ein Bewusstsein für die persönliche Teilhabe an der metropolitanen Kultur entwickelt. Ähnlich argumentiert Marx, der mit Blick auf das am Komischen orientierte Theater Ende des 19. Jahrhunderts die These aufstellt, dass sich gerade in den populären Unterhaltungstheatern, in ihrer vermeintlichen Trivialität, eine zentrale gesellschaftliche Instanz etablierte, weil diese in der Lage waren, Gemeinschaft fühlbar und erlebbar zu machen, so dass die Vermutung nahe liegt, dass „gerade die komische, nicht-heroische Populärkultur einen wesentlich größeren Anteil an der Bewältigung der (auch traumatischen) Modernisierung [hat], als der Blick auf die Höhenkammliteratur und -kultur glauben machen will.“211 Der Freizeitpark setzte mit der entschleunigten Gondelfahrt mehr als nur eine anti-moderne Bewegungsform um: Während der Fahrt wurde der Besucher zudem in die Position versetzt, die Umgebung als Panorama aus einer idealen Betrachtungsposition heraus wahrzunehmen und wurde zugleich selbst zum ausgestellten Teil der Rekonstruktion, er vervollständigte das Bild der Venedig-Reise, in das er sich als Venedig-Tourist geradezu ‚originalgetreu‘ integrieren ließ. Gegen die Bezahlung eines Eintrittspreises erwartete den Besucher im Freizeitpark Neues und Spektakuläres, Sensationelles und Fantastisches. Ähnlich den neu entstehenden Warenhäusern war der Zugang niederschwellig: Die Parks lockten mit geringen Ticketpreisen und der weitere Konsum im Park blieb fakultativ. Die zentrale Ware war das Erlebnis, das sich unterschiedlich und individuell gestalten ließ, ein Tauschhandel von Geld und Zeit gegen Unterhaltung und Zerstreuung. Dabei fand in der Nutzung der Angebote jedoch eine Selektion statt, denn die vollständige, körperliche Teilhabe war gebunden an zusätzliche finanzielle Ausgaben. Zwar lockten gerade die Freizeitparks durch niedrige Ein-

210 Schwartz 1998, 6, hier zitiert nach Marx 2008, 226. Schwartz bezieht sich in diesem Zitat auf Paris Ende des 19. Jahrhundert, Marx überträgt die Annahme auf das Deutsche Kaiserreich im vergleichbaren Zeitrahmen; er generalisiert die Ausführung damit für metropolitane Kultur(en). 211 Marx 2008, 204.

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trittsgelder eine große Menschenmasse an, doch wurden diese meist ergänzt durch Gebühren für die Benutzung der einzelnen Angebote. So war das Wandeln im Park einer breiteren Schicht möglich und das Flanieren nicht gebunden an einen bestimmten Status, allerdings galt dies nicht in gleichem Maße für die Nutzung der Attraktionen oder den weiteren Konsum vor Ort, wie beispielsweise für die Einkehr in den Wirtshäusern oder den Kauf von Souvenirs. Dem Besuch im Warenhaus vergleichbar stand der imaginäre Konsum einer großen Masse offen, durch den Einsatz der Schaufenster war die Betrachtung der Auslage jedem Vorbeigehenden möglich, jedoch besaßen nicht alle die Mittel zum realen Erwerb des Sichtbaren. Betrachtet man den Flaneur als Konzept, das prinzipiell jeder Metropolenbewohner nutzen kann, Flanieren als performative kulturelle Praktik, die sichtbar ausagiert wird und angeeignet werden kann, so erweisen sich die Freizeitparks in ihrer Verbindung aus imaginärem Konsum und Mobilität als Perfektionierung der ökonomischen Veräußerlichung des Flanierens. Hier wird das Flanieren zur Voraussetzung der Erfahrung, zur Etablierung und Komplettierung der hier entstehenden und konsumierbaren Gegenwelten, die das zeitlich und räumlich Ferne in den Metropolen verorten. In Luna- und Freizeitparks wird das Flanieren selbst zur erkauften Ware.212 Im künstlichen Umfeld der Stadtnachbauten wird das scheinbar ziellose Umherstreifen jedem gegen Bezahlung eines Eintrittsgeldes ermöglicht, es wird so zur Massenware – was das Konzept ad absurdum führt, zumal der Besucher im Park in Bahnen gelenkt, geleitet und überwacht wird. Der Flaneur wird massentauglich und eingezäunt, er wird zu einer Rolle, Flanieren zu einer Praktik, die hier ein- und ausgeübt werden kann, nun aber nicht mehr, um sich dem hektischen Großstadtleben entgegenzustellen, sondern um die Voraussetzung zur Nutzung der Parks zu erfüllen. Zugleich wird die Schnelligkeit und Schnelllebigkeit der Großstadt durch Fahrgeschäfte und Bühnenspektakel nachgeahmt. Die künstliche Umgebung begrenzt sich nicht auf vereinzelte Kaufelemente – alles wird zu einem Konsumerlebnis. Im Freizeitpark wurde die Verfügbarkeit von Welt ausgestellt, indem diese nachgebaut wurde. Am Beispiel von Parks, die sich Venedig widmeten, sollen die angeführten Kulturpraktiken in den Metropolen um 1900 genutzt werden, um

212 „Was der Luna-Park, der den kleinen Mann zum Exzentrik macht, später in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amusements zustande brachte, das ist in der Beschreibung von Poe vorgebildet. Die Leute verhalten sich bei ihm so als wenn sie nur noch reflektorisch sich äußern könnten.“ Benjamin 1969, 56 im Verweis auf Edgar Allan Poe.

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über Konsum im Kontext von ‚Original‘ und ‚Kopie‘ und nicht zuletzt die Ambivalenz aus Vertrautheit und Fremdheit weiter nachzudenken. Eine Stadt wie Venedig wird im direkten Bereisen und durch ihre visuelle Präsenz konsumiert, theoretisch verfügbar und eingebunden in „Phantasie und Traumwelt“213 zur Ware. Die Voraussetzung solcher Sichtbarkeit bilden Ausstellungs- und Präsentationstechniken, Inszenierungspraktiken, deren Bühnen u.a. die neu entstehenden Museen, Weltausstellungen, Warenhäuser und Freizeitparks waren. Hier wurde die (Waren-)Welt um 1900 verfügbar gemacht, hier verband sich das Dies- und Jenseits der Schaufenster und Glasvitrinen mit den Boulevards und Passagen, mit der Imagination der Betrachter. Friedberg beschreibt die Passagen in dieser Hinsicht als Kulminationspunkte moderner Sehnsüchte. „The passage, with its Welt-Panorama and travel agencies, negotiated transport, marketed ephemera, satisfied the desire for images, but also the desire for movement, transition. In the architectural passage, the mobilized gaze found its virtual analog.“214 Venedig wurde auf- und nachgebaut – präsentiert als ‚period room‘, der einerseits eine bestimme Vergangenheit wieder aufleben ließ, andererseits aber immer auch auf die Gegenwart verwies, die sich so eine bestimmte Vergangenheit imaginierte.215 Im Rückgriff auf die Vergangenheit wurde auch Venedig eine besondere Rolle zuteil, war doch die Stadt selbst scheinbar zeitentrückt. Zugleich fand in der Referenz auf die Lagunenstadt eine „Binnenexotisierung“ statt: „Solche Ensembles, die das (mehr oder weniger) dem europäischen Kulturraum entstammende Eigene darstellten, entfalteten auf die Zuschauer eine besondere Anziehungskraft. Die gleichzeitige Ausstellung eines deutschen oder irischen Dorfes, einer Straße von Kairo und eines Südsee-Ensembles […] bewirkte ein ‚Ineinander des Exotischen und des Heimatlichen‘ und damit eine Exotisierung des ‚Eigenen‘, eine ‚Binnenexotik‘. Darüber hinaus lag der besondere Reiz der europäischen Klischeebilder auch in ihrer weiten und zum Teil ambivalenten Deutbarkeit durch die Besucher. Stets changierten die möglichen Lesarten zwischen einer Identifizierung mit dem ‚Eigenen‘ und der Abgrenzung vom ‚Anderen‘, zwischen einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit (beziehungsweise

213 Brewer 1997, 58. 214 Friedberg 1993, 76, hier in Bezug auf das Berliner Kaiserpanorama. 215 Vgl. Keeble 2006, 2.

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der vermeintlichen Natürlichkeit des Anderen) und einer fortschrittsoptimistischen Idealisierung der Gegenwart.“

216

Die Gleichzeitigkeit des Eigenen und Anderen wird von Niedbalski als Dynamik beschrieben, die die stereotype Darstellung und Reproduktion europäischer Klischeevorstellungen als Selbstvergewisserung zu nutzen weiß. 217 Unter den Vorzeichen des Konsums erweist sich dies auch als Verfahren der Welt-Ordnung. Venedig ist dabei zugleich vertraut und fremd, durch den Kontext teils zusätzlich exotisiert, teils aber auch einverleibt. Dabei richteten sich die Nachbauten an die, die es sich nicht leisten konnten, real zu reisen, aber auch an die, die Venedig bereits besucht hatten, sowie an die, die die Reise noch vor sich hatten. 2.3.1 Venice in London Die Londoner Olympia Hall war einerseits ein typischer Ort für die Grenzen aus Waren- und Freizeitkonsum, andererseits umso mehr ein ungewöhnlicher Ort für eine Reise nach Venedig. So äußert sich ein Journalist erstaunt über die Wahl der Halle: „Olympia is the last place in the world where average mortals would have thought it possible to cross the Rialto, and study the immortal beauties of the Piazetta.“218 Aber genau hier wurde nun 1891 eines der folgenreichsten und erfolgreichsten Projekte einer Reihe von Venedigrekonstruktionen der Moderne aufgebaut: Venice in London, initiiert und umgesetzt von Imre Kiralfy. Kiralfy (1845-1919), im habsburgischen Ungarn geboren und Teil einer hochmobilen Gruppe von Unterhaltungskünstlern, war einer jener Netzwerker, der mit seiner Biografie paradigmatisch für die Entwicklungen des Unterhaltungssektors stand. Mit Venice in London lieferte er ein schillerndes Beispiel für die erfolgreiche Rekonstruktion der Lagunenstadt und prägte zudem viele weitere Folgeprojekte. Zentral in seinem Lebenslauf – und den zum Teil parallel verlaufenden Entwicklungen der Biografie seines Bruders Bolossy – war eine starke Prägung durch das Showbusiness; bereits als Kind trat er mit seinem Bruder als Artist auf,219 bevor beide damit begannen, europäische Unterhaltungsshows für den

216 Niedbalski 2012, 363. Hier zitiert die Autorin Hermann Bausinger mit dem Begriff und der Idee der Binnenexotik, vgl. Bausinger 1986, 93. 217 Vgl. Niedbalski 2012, 362. 218 Anonymus 1892b, 14. 219 Barker spricht von slawischen Tänzen, mit denen die Brüder ihre ersten Auftritte hatten; hier war die ganze Kiralfy-Familie vor und hinter den Kulissen involviert. Später entwickelten sie daraus eine Bühnenshow, vgl. Barker 1988, xxvi.

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amerikanischen Markt zu adaptieren.220 In den USA konnten sie große Erfolge feiern; 1887 trennten sich die Wege der Brüder,221 wenngleich sich ihre Interessen und Arbeitsgebiete weiterhin überschnitten. Den Höhepunkt von Imre Kiralfys Laufbahn bildet sicherlich seine Arbeit in der White City, ein Areal in London, das 1908 für die Olympischen Sommerspiele genutzt wurde, dann aber unterschiedliche, äußerst populäre Ausstellungen beherbergte, die die Massen anzuziehen wussten. Geppert führt hierzu an, dass man Kiralfy mit Blick auf diesen späteren Zenit seiner Karriere auch einen „superman in the exhibition world“222 nannte. Als Ausstellungskurator wirkte er prägend und kann in diesem letzten beruflichen Stadium – und im Vorfeld des ersten Weltkrieges – in starker Nähe zur britischen Krone verortet werden, so dass Geppert ihn als eine Art frühen PR-Agenten des englischen Empire betrachtet.223 Venice in London hingegen ist noch in einer für den internationalen Markt gedachten Unterhaltungslogik zu verorten, eine Unternehmung, die ein weiter gefasstes europäisches Publikum begeistern sollte. „In 1891, Kiralfy turned from spectacles to the organization of exhibitions in which pageants became integrated. ‚Informative‘ exhibitions, and entertainmentoriented spectacles and historical pageants shared the same subject matter and thus ideally complemented one another.“224 Der Lebensweg dieses international agierenden Unterhaltungs- und Ausstellungsnetzwerkers zeigt eine enge Verwobenheit der unterschiedlichen Präsentations- und Inszenierungsformen, angefangen bei Zirkusshows, über Jahrmarktstreiben bis hin zu Ausstellungen. Auch Venice in London war ein vielfältiges Mischwesen, angelegt als temporäre Parkanlage, die vergleichbar den Weltausstellungen mit einem Ausstellungsteil und der Rekonstruktion von Plätzen und Straßen aufwarten konnte, jedoch gleichermaßen mit einem fest installierten Showprogramm, einem täglich mehrmals zur Aufführung gebrachten Spektakel das Publikum anzog. Der Entertainment-

220 Vgl. Barker 1988, xxii. 221 Vgl. Barker 1988, xxii. 222 Geppert zitiert hier die Times vom 15. Mai 1908, vgl. Geppert 2010, 105. 223 Vgl. Geppert 2010, 104. 224 Geppert 2010, 104f. Die Verbindung eines Ausstellungsteils mit unterhaltenden Elementen kann einerseits als Erbe der Weltausstellungen, in einer unterhaltenden Präsentation von Technik und Ware, gelesen werden, andererseits aber auch im Zuge der Entwicklungen der Präsentation naturwissenschaftlichen Wissens und der hierfür vorgenommenen Inszenierungen. So präsentierte beispielsweise die Berliner Urania ihre Forschung auch szenisch, wofür sich in ihren Räumlichkeiten auch ein Theatersaal befand. Vgl. Becker 2014, 155 und 166.

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Netzwerker experimentierte hier mit den Möglichkeiten der Verbindung unterschiedlicher Präsentationsformen und Unterhaltungsangebote. Zwischen 1891 bis 1893 trieb Kiralfy mit Venice in London die Massen in die Londoner Olympiahalle. Das Spektakel widmete sich thematisch der Lagunenstadt Venedig: Ganze Straßenzüge wurden nachgebaut, Architektur und Kunsthandwerk präsentiert, aber auch Straßenkünstler, die vor allem Musikalisches darboten, sowie die zu erwartenden Fahrgeschäfte waren in Form von Gondelfahrten vertreten und gehörten zum Programm. Als „quintessence of a Venetian visit“ wurde die Gondelfahrt noch 60 Jahre später in der Erinnerung eines Besuchers zum zentralen Element des Parkbesuchs.225 Daneben bot die Aufführung eines mehrmals täglich angebotenen Spektakelstücks ein Potpourri venezianischer Geschichte und Geschichten. Die Wahl Venedigs als Thema und Setting sollte unterschiedliche zeitgenössische Sehnsüchte und Bedürfnisse befriedigen. Harold Hartley, finanziell beteiligt an Kiralfys Unterfangen, und – darauf weist Brendan Gregory in seiner Arbeit hin – darauf bedacht, Kiralfys Anteil auch am kreativen Prozess möglichst gering wirken zu lassen, beschreibt in seine Memoiren die Entwicklung der Geschäftsidee wie folgt: „We [Hartley und Joseph Lyons, DV] often discussed the possibilities of Olympia for a big show of some novel character, being both confident that, given the right attraction, there was money in it. Our ideas ranged from Old London to the Orient. We gave serious consideration to a Dutch or Scandinavian Show, being convinced that the water should be a big feature in it, but came to the conclusion that neither of these, however well done, possessed sufficient romantic interest to be successful draw. One evening later on Lyons, who had never travelled, asked me if I had ever been to Venice, as he had an Idea that it might be reproduced with its canals in an attractive form. Being well acquainted with Venice, I at once realised its possibilities and thus Venice in London was born.“

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Hartley beschreibt die Notwendigkeit eines Narrativs und einer Annäherung an Venedig über die doppelte Idee der Verfügbarkeit von Zeit und Raum, die zugleich eine zeitgenössische Reisefantasie bediente. Die hier beschriebene Annäherung über Alt-London und den Orient fasst jene Richtungs-Doppelung der Idee von Verfügbarkeit der Welt als räumliche und zeitliche Akkumulation deutlich zusammen, eine Sehnsucht nach Fremdheit auf zwei Ebenen: die zeitliche

225 Vgl. Gregory 1988, 172f. 226 Hartley 1939, 56, hier zitiert nach Gregory 1988, 139.

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Distanz und die Exotik des Anderen. Bezeichnend ist zudem, dass die Idee nicht von einem Venedigkenner artikuliert wird: Joseph Lyons bezieht sich auf ein kollektives Imaginäres, das sich aus Geschichten und Bildern speist, nicht jedoch aus einem direkten, eigenen Erleben. Ästhetisch reizvoll, zeitlich und räumlich fremd, eingebettet in ein existentes, aber keinesfalls statisches Narrativ, so im kollektiven Imaginären visuell verankert, bildet die Lagunenstadt die perfekte Grundlage des erfolgreichen Parks. Für die Besucher wurde die Attraktivität durch die Betonung vermeintlicher Authentizität gesteigert: „A principal objective of the show was to be as authentic as possible.“227 So wurde auf die ‚originalgetreuen‘ Elemente des Nachbaus verwiesen und auf die ‚echten Venezianer‘, die man für Venice in London angestellt hatte und die sich unter anderem als Gondolieri im Park verdingten. Diese Strategie der Authentizitätsbehauptung über die personelle Verbindung zwischen Kopie und Original greift eine Logik der Völkerschauen auf, weil es nun nicht nur die Bauwerke, sondern auch die einheimischen Mitarbeiter waren, die Venedig lebendig werden ließen, die die Lagunenstadt geradezu verkörperten: „Italian gendarms in full uniform, with lisping Venetian accents, show you the way.“228 Benennt Steinkrüger als Schlüssel zum Erfolg eines Themenparks die Komponenten „eine andere Zeit, einen anderen Raum, eine andere Sphäre/Welt […] oder eine Kombination aller drei“229, so soll dieses Andere jedoch kein Gefühl absoluter Fremdheit erzeugen. Barth folgend ist „[d]as Fremde, gedacht als radikale Fremdheit, als völlig unbekanntes, unverständliches, unnachvollziehbares Anderes […] kein Konsumobjekt“ 230, ihm fehle die Möglichkeit, einer Bedeutungsbelegung und „Weiterentwicklung des Konsumobjekts durch den Konsumenten“231. Das Fremde müsse „um überhaupt konsumiert werden zu können, diskursiv aufgeladen, zugänglich gemacht und damit sich selbst entfremdet werden.“232 Die Selbst-Entfremdung des Fremden ist folglich eine Vertrautmachung für den Betrachter, der so konsumieren kann. Die Anziehungskraft des Parks besteht weniger darin, sich hier wirklich an einem anderen Ort zu befinden, als

227 Vgl. Gregory 1988, 172. 228 Anonymus 1892b, 15. 229 Steinkrüger 2013, 47. Steinkrüger bezieht sich hier auf Alan Bryman 2005, 15. 230 Barth 2003, 159. 231 Barth 2003, 158. Barth definiert Konsum „als die kreative Transformation“ von Objekten durch den Nutzer, als eine Neubelegung mit Bedeutung des Zeichens, die es für den Konsumierenden wertvoll werden lasse und zu Lustgewinn und Vergnügen beitrage, vgl. ebd., 156. 232 Barth 2003, 159-160; vgl. auch Steinkrüger 2013, 47.

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vielmehr in einer konsumierbaren Fremdheitserfahrung, welche das Vertraute neu und anders betrachtbar werden lässt,233 so dass der „Besucher in sauberer, wohldosierter Form die Reize anderer Länder kennen lernen“234 kann. So sei in England auch das bessere Venedig zu finden, – unabhängig von äußeren Einflüssen wie Wetterbedingungen und zudem ohne gefahrvolles Reisen schnell erreichbar – kann hier der „winter misery“235 entkommen werden, wie ein Reporter von The Illustrated London News feststellt: „Just at this time a couple of years ago I was in the real Venice, and I don’t suppose I was ever colder in my life. When east winds are blowing, I suppose Venice and Milan to be worse than Siberia. The winds do no merely chill you, they flog you to death. Venice in Italy cannot be heated by any warming apparatus, but Venice in London can, and the directors may be earnestly congratulated on the result.“

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Auch andere weit verbreitete Freizeitvergnügungen warben mit solchen Vorteilen und verkauften eine Form der Welt- oder Zeitentrücktheit: „Like the ‚winter-garden‘ these public buildings (the market hall, the train station, the exhibition hall) offered to the visitor a timeless (or seasonless) public space. The winter-garden constructed a ‚theatre of nature‘ where nature itself became a commodity.“237 Ebenso wie die populären Wintergärten, meist offene und durchlässige Glas- und Eisenkonstruktionen, Natur zur Ware werden ließen, geschah dies im Park mit der hier nachgebauten und verfügbar gemachten Stadt. Wie Kultur im Zuge der Kommodifizierung den Aggregatzustand wechselt und zu einer konsumierbaren Ware wird, das zeigt am Beispiel der Vergnügungseinrichtung besonders eindrücklich das im Zentrum von Venice in London stehende Spektakel, das eine zusätzliche narrative und theatrale Rahmung des Erlebnisses erlaubte. Nicht nur auf der Basis einer kulturellen und kollektiven Imagination, auf die die Anlage von Venice verweisen konnte, sondern auch und ganz konkret durch die hier stattfindenden Aufführungen wurde Venedig konsumierbar. Kiralfy entwickelte ein Spektakelstück, das als visuelle und temporeiche Überforderung weniger eine überzeugende Geschichte, aber ein die Zeitgenossen überzeugendes Unterhaltungsangebot darstellte. „Imre Kiralfy’s Grand

233 Vgl. Steinkrüger 2013, 55. 234 Schwarzmann 2003, 117. 235 Anonymus 1892a. 236 Anonymus 1892a. 237 Friedberg 1993, 63, Hervorhebung im Original.

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Spectacle of Venice: The Bride of the Sea“238 wurde in Venice in London zweimal täglich, um 14.30 Uhr und um 20.30 Uhr, aufgeführt. Diese „grandest scenic representation“239 belegte ihren Anspruch als sinnliche Überwältigung mit der Beschreibung der Massenszenen und den Zahlen ihres Gigantismus: „Mr Imre Kiralfy takes pleasure in inviting public attention to the gigantic proportions of this great original dramatic, historical, and poetical aquatic pageant, the mammoth extent of its stages covering more space than ever before attempted in any similar representation. A moment’s thought will suggest the intricate, complicated, costly mechanism requisite for such a perfect realization of Ancient and Modern Venice with its historical silent Streets, solid Squares, carious Canals and lovely lagoons.“

240

Gerade an den immensen Kosten wurde der sensationelle Charakter und die Einzigartigkeit der Unternehmung festgemacht, eines „spectacle which for size and splendour has never before been equalled in this country“241. Täglich fielen, so die Werbeanzeige, allein für das Spektakel Ausgaben für 1400 Bühnenbeschäftigte an, dazu kämen weitere Angestellte, insgesamt 1850 für den gesamten Park. Zudem seien 10000 Kostüme, 100 Gondeln und 150 Gondoliere, „who are actual Venetians“242, in das Gesamt-Spektakel involviert. Die Dramaturgie dieser Werbung fand ihren finalen Höhepunkt im Hinweis auf den Eintrittspreis – denn trotz der hohen Kosten und des großen Aufwands sei dies alles bereits und lediglich für nur einen Schilling zu bestaunen.243 Die Botschaft war deutlich: Der Besuch rechnete sich – bei geringen Ausgaben wurde einem ein immenser immaterieller Gegenwert geboten. F. S. Roberts konnte noch 2003 konstatieren, dass das Wirken der KiralfyBrüder in der englischen Theatergeschichtsschreibung weitgehend unbeachtet blieb244 aufgrund ihrer Beschäftigung mit populären Unterhaltungsformen. Gerade im Spektakel und Spektakulären sieht Barbara Barker, Herausgeberin der

238 Anonymus 1892c. Bei der hier zitierten Quelle handelt es sich um eine mehrseitige Werbeanzeige für das Spektakel. 239 Anonymus 1892c. 240 Anonymus 1892c. 241 Tit-Bits zitiert in Anonymus 1892c. 242 Anonymus 1892c. 243 Anonymus 1892c. 244 Vgl. Roberts 2004, 20.

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Autobiografie von Bolossy Kiralfy, 245 eine Kunstform des Dazwischen begründet, die von den Kiralfys beherrscht wurde, „linking the realistic theatre that began early in the nineteenth century and the birth of cinema at the onset of the twentieth. Robust and gaudy, spectacle commanded the attention of an age. On its bustling, action-filled stages was reflected the spirit of the times. Bolossy’s career embraced the rise and decline of spectacle. He and his colleagues pushed the technology of the stage to its limits. They competed fiercely with one another to achieve the most complex scenic designs, lighting effects, and realistic disasters. The more they provide, the more the audience demanded. […] spectacles grew until they could grow no more. Splendor supplanted substance and the individual actor was lost in a swirl of 246

stage color.“

Die von Barker hier beschriebene Dynamik des Spektakels, die zugleich seine ökonomische Grundbedingung war, erweist sich als Notwendigkeit der beständigen Veränderung und Steigerung.247 In ihrer Argumentation werden die Spektakelstücke zu ‚Dinosauriern‘ der Unterhaltungsindustrie, groß und beeindruckend durch ihre Ausmaße, aber auch schwerfällig und teuer und nicht in der Lage, mit den weiteren Entwicklungen Schritt zu halten, mit den besseren technischen Möglichkeiten, die der Film lieferte, um einen Effekt der Überwältigung und einen sinnlichen Wirbel auszulösen.248 Vermutlich ist es dem populären Charakter der Spektakelstücke geschuldet, dass sie lange ein Schattendasein führten und auch ihre Urheber wenig Anerkennung fanden. Der Versuch, das Spektakelstück249 zu definieren, zeigt seine Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit auf, die es zugleich schwer macht, es zu generalisieren.

245 Vgl. Barker 1988, xvix-xxxiv. Die Autobiografie basiert auf Bolossys Erinnerungen, wurde allerdings im Laufe der Jahrzehnte durch seine Nachkommen fortgeführt und erweitert, so dass sich auch Aufführungen erwähnt finden, an denen er nicht teilgenommen hat. Barker glich die hier festgehaltenen Erinnerungen mit denen von Bolossys Bruder Imre Kiralfy ab und ergänzte sie durch Archivmaterial – der subjektive Charakter dieser Quelle muss somit betont werden, wie auch die Zeitspanne, in der sie entstand. Vgl. hierzu auch Barker 1988, xxi f. 246 Barker 1988, xix. 247 Dies zeigt sich auch am Beispiel des Wiener Freizeitparks Venedig in Wien, der 1901 zur Internationalen Stadt, 1902 zur Blumenstadt, 1903 zur Elektrischen Stadt wurde. Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 153. 248 Vgl. Barker 1988, xix. 249 Vgl. hierzu auch Leonhardt 2007, 158ff.

92 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG „Indeed, it is not yet easy to categorize them; Gregory in 1988 called them ‚spectacle plays‘ and Barker six years later described them as a nearly forgotten theatrical form of ‚stage spectacle‘ with music but little dialogue, which freed theatre from literature to stand on its own visual strength; the huge casts were directed with such a great sense of movement that the audience was swept into an intimate involvement with the action. Kent similarly spoke of ‚a stage spectacular which epitomized the subordination of the actresses to scenic and compositional imperative‘. Postlewait in a wider ranging assessment has recently characterized them as ,grand flowing pageants of visual action and scenic transformation… which located narrative in a flow of spectacular images and changing configurations, [which] seemed made for film‘. In short the Kiralfys had developed that ‚unity of action‘ that Hugo Münsterberg later, having just seen the Birth of a Nation, pinpointed as the essence of the modern film in which a succession of images produces the narrative continuity.“

250

250 Roberts 2004, 21. Auch Bolossy Kiralfy äußerst sich hierzu in seiner Autobiografie: „The Kiralfy family, trained in Paris and London, believed that real music theatre had to be popular theater, attracting an audience from all segments of society. It had to embody in logical form all aspects of the theater – music, lyrics, dance, and drama – in a production that was usually greater than the sum of its parts. It had to have a meaningful story with a universal theme, and it had to have a hero or heroine with whom the audience could sympathize. Pantomime came close, but was really staged ballet without strong plot. Closest in format to the type of musical production we wanted to present were the comic operas prevalent in England and France. They were ideal for small touring companies. But construction of larger theaters with modern stage machinery generated development of French extravaganzas. The extravaganza was spectacle ballet theater with a story based on a fairy tale or a major theme.“ Kiralfy 1988, 89. Weiterführend könnte hier die Beziehung zwischen der opulenten visuellen Prozession im Freizeitpark und der in England Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden Bewegung der pageants untersucht werden. FischerLichte beschreibt die Verbreitung dieser pageants als anti-moderne Bewegung, die sich gegen die Auswirkungen von Urbanisierung und Industrialisierung stellten, indem sie einen neuen Ort der Gemeinschaft schafften und die Stadt dabei als verbindenden Rahmen nutzten. Sie fanden unter freiem Himmel statt, verwiesen auf geschichtliche Ereignisse, beispielsweise durch die Nähe zu Denkmälern oder anderen Monumenten, und sie vereinten eine große Masse an Bewohnern, die sich aktiv am Geschehen beteiligten. „In structure, they were not unlike religious dramas, but the hero of the performance was the town itself rather than a saint or another similarly significant character.“ Des Weiteren vereinten diese pageants Paraden und Musikstücke, verbunden durch eine an der Stadthistorie orientierten narrativen Struktur.

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Diese Spektakelstücke, die sich vor allem an Größe und Ausmaß, der Anzahl der Darsteller und der Kosten der Produktion messen ließen, folgten dem Vorbild englischer und französischer Extravaganza251 und verbanden die Begeisterung für die Technik mit der universellen Sprache des Tanzes, welche in einem rudimentären Plot verwoben wurde.

Abb. 1: Bühne und Wasserbassin mit Szenen des Spektakels Old Venice Das Spektakelstück als Ausdruck der Moderne,252 als Versuch, das Theater mithilfe der Technik zu immer neuen Höhenflügen zu führen, steigerte mit den Angeboten zugleich die Erwartungen des Publikums. Entgegen einer Lesart des

Nach Fischer-Lichte war der Inhalt dabei auf die Vermittlung von Beständigkeit ausgerichtet: Das Historienspektakel sollte den Eindruck erwecken, dass sich wenig verändert habe. „Pageants were therefore expected to help society overcome the crises triggered by modernization. They did so by generating a backward-looking utopian vision.“ Fischer-Lichte 2013, 224-225. 251 Vgl. Leonhardt 2007, 160, vgl. auch Kiralfy 1988, 89. 252 Man mag es als besonders treffendes Genre der Zeit begreifen, folgt man Charles Argumentation für eine „Schauspiel- und Spektakelgesellschaft“ des 19. Jahrhunderts. Darunter versteht er eine theatrale gesellschaftliche Durchdringung „in all ihren sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen.“ Charle 2012, 9.

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medialen Wettkampfes zwischen Theater und Film, den das Theater im Versuch seiner technischen Annäherung verlieren muss, sollen hier im Folgenden weniger Fragen technischer Defizite des Theaters im Zentrum der Untersuchung stehen,253 denn die Deutung des Spektakels als Zeitkunst, die auch direkte Auswirkungen auf den frühen Film aufweist. Mit Tom Gunning lässt sich das Interesse an der Attraktion als wichtiges Moment des frühen Films lesen, der nicht so sehr durch ein Narrativ, als vielmehr durch die Ausstellung der Attraktionen geprägt wurde.254 Beispiele hierfür sind exotische Orte und Reisebilder wie auch Bilder von (technischen) Bewegungen wie einer Eisenbahnfahrt.255 Auch Kiralfys ‚environmental theatre‘ arbeitete mit einer solchen Attraktionslogik, die den Zuschauer direkt und indirekt, körperlich und imaginär mobilisierte. Das Spektakel war ein visuell überwältigender Bilderreigen. Die Aufführungen in Kirlafys so benanntem Parkabschnitt Old Venice präsentierten nicht irgendein vergangenes Venedig, sondern referierten auf einen visuellen und literarischen Kanon, auf „the Venice of Titian and Shakespeare in all her glory“256. So orientierten sich die Kulissen an venezianischen Veduten, während die Aufführungen ein Potpourri unterschiedlicher historischer und literarischer Ereignisse lieferten. „Interwoven into various historical events, such as the triumphant return of Vittorio Pisani after the defeat of the Genoese, and the embarkation of Valentina Visconti, Queen of Cyprus, are the romantic episodes of the Merchant of Venice. Antonio, Bassanio, Lorenzo, Gratiano, and Shylock enact in pantomime in their parts, whilst Portia, Jessica, and Nerissa appear from time to time to add ‚female interest‘ to the scene.“257

Neben den Referenzen an die ,venezianische Geschichte und Tradition war es vor allem das Shakespeare’sche Dramenwerk, das präsentiert wurde, allerdings in sehr spezieller Reduktion. Lediglich die ‚romantischen‘ Episoden des Kaufmanns von Venedig fanden den Weg auf Kiralfys Bühne. Dabei erschien der Handlungsverlauf für den Betrachter kaum nachvollziehbar, was jedoch nicht als

253 So argumentiert Barker für eine Schwerfälligkeit und damit baldige Rückständigkeit des Genres: „Splendor supplanted substance and the individual actor was lost in a swirl of stage color. Inevitably these gigantic dinosaurs of nineteenth-century entertainment became extinct, too unwieldy and expensive to survive.“ Barker 1988, xix. 254 Vgl. Gunning 1996, 30. 255 Vgl. Gunning 1996, 27-28. Vgl. hierzu weiterführend Vardac 1949. 256 Anonymus 1892b, 14. 257 Anonymus 1892b, 14f.

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großes Manko empfunden wurde,258 denn auf die inhaltliche Anbindung und Ausformulierung des Narrativs wurde wenig Wert gelegt. Dramen, Mythen und Traditionen wurden nach Belieben vermischt. In The Saturday Review war zu lesen: „[…] even if Ser Giovanni and Shakespeare make no special mention of Portia and her fair attendant as being present at the poetical ceremony of the annual marriage of Venice 259

to the Adriatic

, there is every probability that they often witnessed this pageant, which

is reproduced at Olympia with such vivid magnificence.“260

„Die Vermählung mit dem Meer“261 ist als venezianische Tradition wiederum als Aufgreifen einer hochritualisierten und performativen Praktik zu sehen, ein theatraler Akt. Höhepunkt des Spektakelstücks aber bildete ein Festakt der Portia, die Bassanio in ihrem Belmonter Palast zum Ehemann wählt. „[I]n order to celebrate her wedding and the victory of Vittorio Pisani at one and the same time, the charming heiress organizes a revel worthy of Venice in her palmiest days. Some eight hundred admirably costumed coryphées take part in this remarkable spectacle […].“262 Mit einem Massenballett und der erneuten Verbindung von historischem und dramatischem Ereignis endete das Spektakel. Für das Londoner Venedig wurde ein Gesamtpaket aller Eigenschaften geschnürt, die eine Ware begehrenswert erscheinen lassen: „All is new, beautiful and strange“263 – so der Lincoln Chronicle über das Spektakel. Vergleichbar der Attraktivität moderner Waren der Massenproduktion verband der Freizeitpark das Neue, Schöne und Fremde; wie die Massenware war er nicht Original, sondern Abbild und Kopie, referierte auf ein vermeintliches und abwesendes Original, dessen exotisch-

258 Vgl. Anonymus 1892b, 15. 259 Hier wird auf die venezianische Tradition der Vermählung mit dem Meer angespielt; in Anlehnung an diese nannte Kiralfy sein Spektakel ‚Venedig, Braut des Meeres‘. So sollen die venezianischen Dogen in einem ritualisierten Festakt auf das Meer gefahren sein und sich symbolisch durch den Wurf eines Ringes ins Meer mit diesem vermählt haben. Vgl. hierzu Lebe 2003, 100. 260 Anonymus 1892b, 15. 261 Lebe 2003, 95. 262 Anonymus 1892b, 15. 263 Anonymus 1892c. Kirlafy zitierte hier zur Eigenwerbung unterschiedlichste andere Zeitungen.

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orientalische Seite264 inkludiert und zugleich frisch und neu präsentiert wurde. Dabei war es besonders wichtig, die passende Atmosphäre zu erzeugen. Mit Verweis auf Gernot Böhme kann Atmosphäre definiert werden als physisches Empfinden, das von Objekten, Menschen und einer räumlichen Anordnung ausgehen kann, als „etwas zwischen Subjekt und Objekt. Sie [die Atmosphären, DV] sind nicht etwas Relationales, sondern die Relation selbst.“265 Die Erzeugung der Atmosphäre als Aufgabe des freizeitparkeigenen ‚Stimmungsmanagements‘266 kann als Voraussetzung eines Einbezugs in das sichtbare Geschehen betrachtet werden. „Whoever experiences an atmosphere is not suddenly confronted with it but quite literally immersed in it.“ 267 Unter dem Schlagwort der Immersion verbindet sich Raum und Körper. Laura Bieger erläutert: „Die Ästhetik der Immersion ist eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz. Sie ist eine Ästhetik des empathischen körperlichen Erlebens und keine der kühlen Interpretation. Und: sie ist eine Ästhetik des Raumes, da sich das Eintaucherleben in einer Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum vollzieht.“

268

Hier verbindet sich die Welt mit dem Bild, das Bild mit der Welt, sie überlagern sich in einem körperlichen Erleben. So entstehen Räume „in denen sich die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit des Bildes in der unmittelbaren Wirklichkeit des Körpers konsolidieren.“269 Unter dieser Prämisse kann der Freizeitpark als „immersive theatre“270 beschrieben werden. Im Unterschied zur Be-

264 Nicht unterschlagen werden soll dabei, dass dem Nachbau venezianischer Paläste eine eigene Exotik inne wohnte. Galten die venezianischen Gebäude zunächst als gotisch, so wurden sie mit der Mode des Orientalismus im 18. und 19. Jahrhundert exotisiert und als Ausweis einer „anderen“ Geschichte betrachtet. Mehr denn ein westeuropäisches Erbe wurde nun in Venedig der Einfluss von Byzanz gesehen, so dass die Architektur weniger als Bestätigung der eigenen Kulturgeschichte, denn als sinnliche Erfahrung und Nachvollzug einer Abgrenzung erfahren werden konnte. Vgl. Davis und Marvin 2004, 69. 265 Böhme 2001, 54. 266 Vgl. Hatzfeld 1997, 299, zitiert nach Steinkrüger 2013, 30. 267 Fischer-Lichte 2013, 237. 268 Bieger 2007, 9. 269 Bieger 2007, 9. 270 Vgl. Allain und Harvie 2014, 192-195. Hier wird zwischen immersive und environmental unterschieden, indem letzteres für größere Gruppen und ersteres als intensive

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trachtung zweidimensionaler Bilder wechselt der Standpunkt des Zuschauers, „the immersive perspective enables the viewer to see from within the image.“271 Entgegen einer Konzentrierung auf ein reines visuelles und akustisches Erlebnis war hier der Besucher zugleich Mitakteur. 2.3.2 Venise à Paris Die kostspieligen Spektakelstücke waren eingebunden in transnationalen Austauschprozesse, sie zogen ihre Rentabilität teils aus der Ansprache größerer Publikumssegmente, die zur Anreise bewegt werden mussten, teils auch aus der Möglichkeit der Wiederverwertung. Um möglichst viele Zuschauer zu aktivieren,272 wurden die Ticketpreise niederschwellig angesetzt und musste das Vergnügen möglichst langfristig angeboten werden, was gerade in London die Wahl einer überdachten Halle wie der Olympia Hall attraktiv machte. Zudem musste auch die Möglichkeit von Tourneen beziehungsweise einem möglichen Wiederaufbau an anderer Stelle mitbedacht werden.273 Dass eine internationale Ausrichtung des Freizeitparks Venice in London geplant war, das belegt Kiralfys Ansinnen, den Pariser Palais des Machines zu nutzen, um Venedig auch dem Pariser Publikum zugänglich zu machen. 274 Auch hier wurde wieder eine Ausstellungshalle für die industrielle Produktion als Ort des Vergnügens gewählt; ein Lageplan aus dem Jahr 1894 zeigt das Vorhaben nahe des Champs de Mars.

Erfahrung kleiner Gruppen oder Einzelner beschrieben wird. Vgl. ebd., 193; vgl. auch Vanhoutte und Wynants 2010, 47. 271 Vanhoutte und Wynants 2010, 47. 272 Vergleichbar der Aktivitäten von Imre wagte sich auch sein Bruder Bolossy vermehrt an neue Räumlichkeiten: „Finally in the late 1880s Bolossy left the confines of indoor theatres for the wide-open spaces of exhibition halls and amusement parks, where he produced what critics called the ‚grandiosest shows on earth‘. He gave the working classes, anxious for relaxation and self-improvement, accurately reproduced civilizations, all under one roof.“ Barker 1988; xxii 273 Die Internationalisierung spiegelt sich auch deutlich am Beispiel der Biografie der Kiralfy-Brüder, die, wie bereits erwähnt, nicht nur als Kinder durch Europa tourten, sondern später auch in den USA lernten und arbeiteten. Vgl. Barker 1988, xxii. 274 Vgl. zu Kiralfys Vorhaben auch Anonymus 1893.

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Abb. 2: Plan für Venise à Paris im Palais des Machines Der abgebildete Raum ist zweigeteilt in einen Aufführungsraum mit Wasserbassin und einen Ausstellungs- und Flanierbereich. Ein Programmheft, das sich stolz Imre Kiralfy’s Venice in Paris nennt und in London gedruckt wurde, wirbt für das geplante Anliegen, wahrscheinlich mit Blick auf die Anwerbung potenzieller Investoren.275 Auf dem Cover findet sich neben einer herrschaftlichen Dame – vermutlich eine Allegorie einer königlichen Venezia, die sich auf ein Medaillon stützt, auf welchem wiederum das Porträt Kiralfys abgebildet ist – die Andeutung einer Kampfdarstellung, eine Abbildung des Markusplatzes und der obligatorischen Gondeln. Deutlich zu erkennen ist aber auch der Umriss des Eifelturms.276 Nicht verlegen um Superlative werden Spektakel und Ausstellung mit dem Hinweis auf die Rentabilität und die hohen Einnahmemöglichkeiten beworben.277 Dabei wird auch beschrieben, wie der niedrige Eintrittspreis durch die weiteren Vergnügungsangebote im Park, für die immer wieder zusätzliche Kosten anfallen, ausgeglichen werden sollte.278 Noch mehr Gondeln sollten zu noch mehr zahlendem Publikum führen279 und der Londoner Erfolg in Paris nicht nur wiederholt, sondern gar übertroffen werden. Auch wird der Bezug zur fran-

275 Vgl. hierzu Kiralfy o.J. 276 Vgl. hierzu die Abbildung auf der ersten Seite von Kiralfy o.J., 1. 277 Vgl. Kiralfy o.J., 2. 278 Vgl. Kiralfy o.J., 6. 279 Vgl. Kiralfy o.J., 2.

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zösischen Umgebung geschaffen: Geschickt verweist Kiralfy als nationalen Anknüpfungspunkt auf die napoleonische Eroberung Venedigs. 280 In der transnationalen Dynamik eines solchen Imports wird somit ein zentraler Moment nationaler Identitätsstiftung mit eingeschrieben. Zwar wurde diese Rekonstruktion so nicht realisiert – jedoch fand Venedig während der Weltausstellung von 1900 einen Platz in Paris, und Kiralfys Londoner Venice wurde zum Vorbild für andere Vergnügungseinrichtungen.281 Die Pariser Weltausstellung von 1900 überragte in ihrem Gigantismus viele ihrer Vorläufer282 und entwickelte sich zu einem Zuschauermagneten. 283 Das umfangreiche Schauspektakel umfasste auch einen kleinen, aber recht zentral verorteten Ausschnitt der Lagunenstadt: Im Nachbau Venise à Paris verband sich Flânerie und Konsum mit der Lagunenstadt, die begehbare Kulissenbühne konnte von den Besuchern körperlich erfahren werden. Die Rekonstruktion war eine der Attraktionen dieser Weltausstellung, die sich durch eine besondere Dichte an Nachbauten auszeichnete, wie sie beispielsweise das Ufer der Nationen284 dominierten. Die Rekonstruktionen und Reminiszenzen ließen in ihrem selbstverständlichen Nebeneinander Welt und Zeit schrumpfen und zelebrierten eine

280 Vgl. Kiralfy o.J., 3. 281 So verweist Gabor Steiner im Ausstellungsführer zu Venedig in Wien auf das Londoner Vorbild, das er hier auf das Jahr 1890 datiert. Abwertend schreibt er, dass dieser Nachbau „lediglich aus einer Wasserbühne [bestand]. Der Prospect stellte den Marcusplatz vor, die gemalten Culissen zu beiden Seiten vertraten die Stelle der berühmten Palastbauten. Bilder der Aufzüge aus dem altvenetianischen Leben entrollten sich hier. Auf der Wasserstrasse der Bühne kamen die weltlichen Processionen angefahren, landeten auf dem Marcusplatz und entfalteten hier im Style [sic!] eines Ausstattungsstückes den Pomp der alten Kaufherren-Republik mit dem Dogen im Mittelpunkt. Die Zuschauer sahen über das Proscenium nach Venedig hinüber, sie genossen ein schön gestelltes lebendiges Bild – das war in seiner Art nicht wenig, es war aber auch Alles.“ Steiner 1895, 4. Steiner erwähnt zudem einen weiteren Bau in Berlin-Charlottenburg von 1894. Dieser solle als eine Art ‚Best-of‘ italienischer Sehenswürdigkeiten als begehbare Stadt allerdings lediglich mit bemalten Kulissen aufgebaut worden sein, vgl. Steiner 1895, 4-5. Zum Berliner Nachbau konnten keine weiteren Quellen und Nachweise gefunden werden. Zur Geschichte der Erlebnisparks in Deutschland vgl. Scherreiks 2005. 282 Vgl. Woodward 1900, 472. 283 Brockmeier nennt 48 Millionen Besucher, „so viele wie nie zuvor“, Brockmeier 2010, 25. 284 Vgl. Friedberg 1993, 84.

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Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die räumliche und zeitliche Verfügbarkeit und Konsumierbarkeit der Welt. Venise bestand aus einem nachgebauten venezianischen Platz mit mehreren Gebäuden und einer Panorama-Aussicht: „Venise avec sa Piazetta, son Palais Ducal, son fameux Pont des Soupirs, et la Basilique de San-Marc, telle est la Venise transportée à Paris, la petite Venise en miniature à laquelle ne manque que les eaux bleues de l’Adriatique et les barcarolles [sic !] de ses gondoliers chantant au bruit cadence des rames.“

285

Dabei waren die Gebäude begehbar, das Ambiente wurde zudem ‚venezianisch‘ belebt und das Gelände entsprechend bespielt. Neben Konzerten und „fêtes venitiennes“286 wurde das Angebot durch die Gastronomie komplettiert, 287 so dass von der Möglichkeit eines umfassenden sinnlichen Erlebnisses ausgegangen werden kann. Das Mittel der Mobilität war wieder der Umgebung entsprechend gewählt: „[D]u côté de la Gare du Champs de Mars“ 288 bestand die Möglichkeit, eine Gondel zu besteigen. Dem Besucher bot sich so ein breites Panorama venezianischer Sehenswürdigkeiten. In einem zeitgenössischen Ausstellungsführer wird der Nachbau in einem Vergleich mit der Lagunenstadt angepriesen: „Telle qu’elle s’offre au regard, Venise à Paris, est d’une fidélité et d’un relief si pittoresque qu’elle provoquera l’enthousiasme de milliers de visiteurs qui on vu la ‚perle de l’Adriatique‘ ou de ce qui ne l’ont entrevue que sur les gravures ou les images.“ 289 In dieser Beschreibung wird nicht einfach eine Vergleichbarkeit der Stadteindrücke behauptet, sondern es werden die unterschiedlichen Arten der Stadtaneignung als ebenbürtig gleichgesetzt: Die Betrachtung der Stadt über die mediale Repräsentation in der Malerei oder der Besuch des Touristen vor Ort in der italienischen Lagunenstadt – sie scheinen dem Besuch auf der Weltausstellung gleichwertig. Alle Aneignungswege führen zum gleichen Erlebnis und Eindruck und bestätigen gegenseitig die Erwartung und die Authentizität des Sichtbaren im Abgleich mit eben jener Erwartung, folgt man dem Ausstellungsführer. Alle drei Wege, das Bild, die Reise, der Nachbau, etablieren sich als Möglichkeiten, die Stadt zu konsumieren, ihrer habhaft zu werden, im konkreten Erleben vor Ort, in der Be-

285 Exposition Internationale 1900, 272. 286 Lapauze 1900, 13. 287 Vgl. Lapauze 1900, 13. 288 Exposition Internationale 1900, 272. 289 Silvestre 1900, 155f.

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trachtung des Abbildes oder in der körperlichen Nutzung der Rekonstruktion. Auf allen Ebenen ist dabei der Konsum zwar an haptische Momente gebunden, er beschränkt sich aber nicht darauf. Der Ausstellungsführer steigerte den Vergleich zur Behauptung einer dem Original fast überlegenen Venedig-Erfahrung in Paris, die hier mit dem Vorteil der geografischen Nähe begründet wurde. „Palais, église, prisons ont été reproduits avec une ampleur, une richesse auxquelles l’orgueil de l’Italie elle-même a rendu hommage. On vit à Venise sans quitter Paris: on y entre ébloui, on en revient charmé.“290 Venedig lag also vor der eigenen französischen Haustür und das in einer, wie hier behauptet wird, überaus gelungenen Ausführung, die das Empfinden der Betrachter anzusprechen wusste und ein dem Besuch in Italien vergleichbares, sinnliches Erleben erschuf. Verkauft wurde dem Besucher so ein idealisiertes Erlebnis. Die Stadt als Ware wurde atmosphärisch heraufbeschworen, mit der Gondelfahrt, dem leiblichen Konsum, der Teilhabe an Festivitäten – eine Verzauberung und Verzückung im Anblick der Rekonstruktion, die in ihrer hier eher rudimentären Form als Zitat dennoch zentrale Schlüsselmomente vereinte und körperlich erfahrbar machte. 2.3.3 Venedig in Wien Unter anderen Vorzeichen, aber ebenfalls inspiriert von Kiralfys Londoner Spektakel eröffnete 1895 im Wiener Prater unter der Leitung von Gabor Steiner (1858-1944) das sommerliche Unterhaltungsangebot Venedig in Wien. Steiner kam wie Kiralfy auch aus einer theateraffinen Familie und betrieb seit 1887 eine Theater- und Konzertagentur in Wien.291 Er arbeitete 1892 während der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen als „künstlerischer Leiter der Hanswurst-Bühne“292 und lernte dabei den Architekten des dort erbauten „Alt-Wien“, den hier bereits zitierten Oskar Marmorek (1836-1909) kennen.293 Gemeinsam mit dem Ingenieur Gustav Bruck setzten Marmorek und Steiner die Idee eines wienerischen Venedigs um und füllten damit eine Leerstelle des sommerlichen Angebots der Hauptstadt: „Ueberall hörte man Rufe des Staunens über die schönen Bilder, die sich dem Auge bieten, Aeußerungen der Freude darüber, daß in Wien wieder einmal ein wirklich welt-

290 Silvestre 1900, 156. 291 Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 25. 292 Rubey und Schoenwald 1996, 26. 293 Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 26.

102 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG städtisches Unternehmen entstanden ist, ein anziehender Sammelpunkt für die vielen Tausende, die Wien im Sommer nicht verlassen können, und nicht minder für die Fremden, 294

welche Abends so oft hilflos fragen, ob denn in Wien gar nichts los sei?“

Im Freizeitpark wurde nun eine Möglichkeit geboten, auch im Sommer zu sehen und gesehen zu werden. Auf dem Gelände des Praters, dem ehemaligen Kaisergarten, der ab 1890 als ‚englischer Garten‘ unter der Führung der Londoner Gesellschaft „The Vienna Kaisergarten Syndicate Limited“295 stand, eröffnete Steiner bereits im Mai 1895 seinen venezianischen Nachbau.296 Der Prater hatte sich als Ort des Vergnügens für breite Bevölkerungsschichten etabliert; bereits Mitte des 18. Jahrhunderts wurde er zum öffentlichen Ort erklärt, wenngleich die Zuweisung als Raum beständiger Unterhaltungsangebote erst Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte, als „der Volksprater als eigentlicher stationärer Vergnügungspark […] 1873 anlässlich der Wiener Weltausstellung eröffnet“297 wurde. Und nicht nur das: Als Ort der Gemeinschaft und der gemeinsamen, öffentlichen Freizeitgestaltung werde hier eine Idee der Kollektivität als Erinnerungs- und Erlebnisgemeinschaft gelebt: „Er zählt […] zu einem der wichtigsten lieux de mémoire der Österreicher und vor allem der Wiener und kann als entscheidender Ort des kollektiven Gedächtnisses angesehen werden“,298 so Eva Schwarzmann. Dabei liege die Bedeutung des Ortes nicht allein auf der historischen und politischen Dimension des Praters, ebenso sei er aufgrund seiner Beständigkeit als Erholungsort geradezu Spiegel nationaler Eigenschaften.299 So aufgeladen erweist sich auch die Implementierung Venedigs im Prater als besondere Wahl: Wolfgang Scheppe geht davon aus, dass Venedig in Wien als Aufbau der Lagunenstadt auf österreichischem Herrschaftsgebiet eine besondere Bedeutung hatte und hier auch eine Art Korrektur der realpolitischen Ereignisse auf dem Feld populärkultureller Unterhaltung stattfand. Österreich hatte Mitte des 19. Jahrhunderts die ihm zugeschlagene Enklave Venedig an das junge Königreich Italien verloren, so dass nun mit diesem Nachbau auf österrei-

294 Anonymus 1895a. 295 Rubey und Schoenwald 1996, 42. 296 Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 42. 297 Steinkrüger 2013, 248. 298 Schwarzmann 2003, 107. Die Autorin greift hier das bereits erwähnte Konzept der Erinnerungsorte nach Pierre Nora auf, vgl. Nora 1986 und 1995. 299 Schwarzmann 2003, 107.

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chischem Gelände eine Art Linderung des ‚Phantomschmerzes‘ betrieben wurde.300 Venedig war auch außerhalb des Parks in Wien virulentes Thema kultureller Verarbeitungen, wie „zahlreiche Operetten, Singspiele und Ballette“ und „Häuser wie der im venezianischen Palazzo-Stil erbaute Dogenhof auf der Praterstraße, eine Reminiszenz an das damals bereits verlorene Venetien“ 301, es belegen. Das zunehmend populäre Reiseziel wurde den Wienern mit dem Freizeitpark vor die eigene Haustür gesetzt, durchsetzt und verbunden mit einem Potpourri weiterer Zerstreuungen. Eröffnet wurde Venedig in Wien am 22. Mai 1895.302 Rubey und Schoenwald beziffern die Besucherzahlen auf bis zu 20.000 Menschen täglich,303 die Österreichische Illustrierte Zeitung nennt gar 40.000 bis 50.000 an Sonn- und Feiertagen.304 Zur Einweihung schrieb die Wiener Neue Freie Presse: „Venedig in Wien – oder vielmehr Venedig im Prater ist heue Abend eröffnet worden, und die Wiener haben alsbald durch eine Massen-Invasion Besitz von dem Miniatur-Abbild der Lagunenstadt ergriffen und sich daselbst behaglich niedergelassen, obwol [sic!] die gemalten Prachtbauten noch nicht überall ausgebaut sind und es stellenweise noch recht unfertig und wildromantisch aussieht.“

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Begründet wird der direkte Erfolg mit einer vermeintlichen Parallelität der österreichisch-italienischen Charaktere, „eine tiefgefühlte Wahlverwandtschaft, die sich nicht allein auf die hüben und drüben giltige [sic!] Parole auf ‚Wein, Weib und Gesang‘ beschränkt, sondern auch in dem ganzen schönheits-, genuss- und sangesfrohen Millieu in [sic!] zweites, südlich verklärtes, farbenfröhliches Alterego [sic!] gefunden hat.“

306

300 Vgl. Scheppe 2009, 1235. 301 Schwarzmann 2003, 129, hier in Bezug auf Sinhuber 1993, 137f. 302 Anonymus 1895b. Der Erlös des Eröffnungstages wurde den Erdbebenopfern in Laibach gespendet – „zum Besten der Bedrängten in Laibach und der der Wiener Freiwilligen Rettungskräfte“, ebd. 303 Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 44. 304 Vgl. Anonymus 1895c, 5. 305 Anonymus 1895a. 306 Anonymus 1895c, 5.

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Die Betonung des Vertrauten im Fremden wurde ergänzt durch eine, der Kiralfy’schen Unternehmung vergleichbaren Vermischung unterschiedlichster Möglichkeiten von Präsentation und Rezeption, der Vermischung von Schauund Spielanordnungen. So steht in einem Ausstellungsführer von Venedig in Wien: „Bei Schaffung dieser neuen Sehenswürdigkeit schwebte uns der Gedanken vor, eine Vereinigung von Schönem und Nützlichem in möglichst eigenartiger Form zu bieten. Und so ist ‚Venedig in Wien‘ ein Kunstwerk, aber auch eine Industriestätte, eine Ausstellung und ein Vergnügungsort, ein Stadtportrait und ein Landschaftsbild, eine Vermählung von Altem und Neuem, von venetianischem Geiste und wienerischer Lebensfreude.“

307

Die Fläche von 5000 qm wurde mit einer Auswahl venezianischer Architektur bestückt, die ein „verjüngtes Ebenbild von Venedig“308 abbilden, aber dennoch den Charme der Stadt naturgetreu transportieren und „vor Allem den eigenartigen intimen, von allen anderen Städten verschiedenen Charakter Venedigs“ 309 vermitteln sollte. Dafür wurden einerseits „mit geradezu absoluter Treue“ 310 Gebäude kopiert und nachgebaut, aber auch „frei erfundene Gebäude“ 311 eingebunden, „mit engster Anlehnung an den venetianischen Charakter und mit einer Fülle von echt venetianischem Detail“312. Es sollte ein Gesamteindruck entstehen, der sich weniger am italienischen Venedig, denn an der Erinnerung der Besucher an den Ort, also einem kollektiven kulturellen Imaginären orientierte. In diesem Sinne wurde der Nachbau zur Materialisierung und Rekonstruktion einer idealisierten Imagination. Zudem bot die Anlage die Möglichkeit der Selbstbetrachtung, auch der Besucher wurde zur Attraktion.313 Strukturiert war der Park durch eine zentrale Calle, eine Promenade, die als Leitsystem die Menschenmas-

307 Steiner 1895, 1f. 308 Steiner 1895, 5, Hervorhebung im Original gesperrt. 309 Steiner 1895, 5. 310 Steiner 1895, 6. 311 Steiner 1895, 6. 312 Steiner 1895, 6. 313 Richard Sennett weist darauf hin, dass sich weitere Gesellschaftsgruppen erst im 18. Jahrhundert das „Promenieren in den Parks“ erschlossen, wie auch den Theaterbesuch und andere „Annehmlichkeiten der Stadt“, die nun nicht mehr nur einem privilegierten Zirkel vorbehalten blieben. Vgl. Sennett 2004, 33.

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sen in ihrer Bewegungsrichtung regulierte. 314 Diese Flaniermeile wurde von einem Kanalsystem umrundet, sie diente einer Logik der Präsentation und Selbstpräsentation, aber auch der sozialen Kontrolle. Verbunden mit einer detailverliebten Ausstattung der Nachbauten, die auch den betretbaren Innenräumen den Anschein von Wohnlichkeit geben sollten,315 wurde der Kanal für die Fahrt mit einer der 25 Gondeln genutzt, die sich besonders um den Anspruch auf Originalität bemühten: „Vierzig Gondoliere sind angeworben, urwüchsige Venetianer Bursche [sic!], ein rechtes Elitecorps, ausgewählt aus den bekanntesten und geschicktesten Gondelführern der Lagunenstadt. In schmucker Tracht, die nach den Zeichnungen des Oberinspectors Gaul von der Hofoper angefertigt ist, versehen sie den Dienst dieser Vehikel, die eine Specialität der 316

Lagunen sind, wie die Fiaker eine Specialität der Strassen Wiens.“

In Theaterkostüme gekleidet war die Ausstellung der Venezianer, die hier geradezu im Sinne einer Völkerschau zelebriert wurde, zwar einerseits direkt in ihrem theatralen Charakter gekennzeichnet, dieser war aber andererseits, wie auch die Wiener Pferdekutschen, als ortspezifische Besonderheit Garant der vermeintlichen Originalität des Gezeigten. Auch der folgende Artikel, der erstaunlich nah an den Informationen des Ausstellungsführers bleibt und wohl mehr der Werbung denn der Berichterstattung zuzuordnen ist, lobt das Unterfangen für seine Authentizität: „‚Venedig in Wien‘ ist keine Culissenschieberei mehr, nichts auf Täuschung Berechnetes – es ist der vollendete veritable Städtebau, der hier die Furchen einer mächtigen großen Seestadt nachgezogen, der ihre althistorischen Häuser und Paläste, ihre Gassen und Plätze mit peinlichster Porträtreue abconterfeite, und um die Illusion auf die Spitze zu treiben, ein echtes und bezauberndes Stück originellsten Venetianerthumes, die Lagunen und Kanäle mit echten Venetianer Gondeln und Gondolieris hereingenommen hat.“

317

314 Zur Leitung der Besucher in Freizeitparks vgl. auch Bennett 1995, 56. Mit Bezug auf aktuellere Entwicklungen nennt Steinkrüger den Besucher „Objekt panoptischer Überwachung“, der die Kontrolle für das unbekümmerte Vergnügen abgebe, vgl. Steinkrüger 2013, 289f. 315 Vgl. Steiner 1895, 7. 316 Steiner 1895, 11, Hervorhebung im Original gesperrt. 317 Vgl. Anonymus 1895c, 5.

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Das Zusammenspiel aus venezianischen Dienstleistern und venezianischer Architektur scheint überzeugend: „Man kann sagen, die Staffage ist ebenso originell und wirksam wie das Stadtbild selbst.“318 Als „Meisterwerk“319 und Verbindung von Unternehmergeist und Anspruch an die Kunst wird der Nachbau gepriesen, aber zugleich auch als „Potemkin’sche Architektur“ 320 beschrieben. Das Oszillieren zwischen dem Anspruch der Authentizität und der bewussten Ausstellung der Abweichung im Sinne einer Perfektionierung des Originals zieht sich durch die Werbebroschüren und Presseartikel. „Die Gründer des Wiener Venedigs waren auch dabei von richtigen Tact und Geschmack geleitet, daß sie keine Nachahmung eines bestimmten Theils der alten Dogenstadt schaffen wollten, was bei der nothwendigen Verkleinerung immer kümmerlich und ,gschnasig‘ ausgesehen hätte. Es ist vielmehr eine abwechslungsreiche Suite architektonischer Varianten über venetianische Motive, die da improvisiert worden ist, und Architekt Marmorek hat sein ungemeines Geschick für solche Phantasiegebilde und Luftschlösser wieder ebenso glücklich bewiesen, wie vor drei Jahren bei ,Alt-Wien‘ in der Musik- und Theaterausstellung.“

321

Dieser Artikel macht nun keinen Hehl daraus, dass hier keine Täuschung vollzogen wird, der man tatsächlich erliegen könnte. Die ‚Idee Venedig‘ wird in Andeutungen und Referenzen vermittelt, ohne dass dabei die Wiener Umgebung gänzlich verschwunden wäre. Themenparks versuchen zwar eine andere Welt zu erschaffen, die Illusion ist jedoch nie perfekt. Zentral sei, so Steinkrüger in Bezug auf die Funktion von Themenwelten in Freizeitparks, das „als ob“322 und das „spielerische[.] Vergnügen“323, für dass die Künstlichkeit der Umwelt immer noch im Bewusstsein gehalten werden müsse. Wichtig erscheint somit das Als-ob des Parks, das eine bereisbare Fantasie für die Besucher greifbar und begehbar machte.

318 Anonymus 1895a. 319 Anonymus 1895a. 320 Anonymus 1895a. 321 Anonymus 1895a, Hervorhebung im Original gesperrt. 322 Steinkrüger 2013, 61. 323 Steinkrüger 2013, 61.

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„Man fühlt sich unwillkürlich in die Fabelwelt und Fabelstimmung eines Eldorado

324

[sic!] versetzt und ahnt dabei gar nicht, dass man rings um sich die Zeugen einer großen geschichtlichen Vergangenheit erblickt, diese Palastfronten in deren Interieurs ein Jahrtausend venezianischer Geschichte sich abspielt. So lässt sich das oberflächliche Genießen leicht und an jedem Punkte zu tieferem geistigen Erfassen veredeln und Anregung empfangen zu mancherlei Betrachtungen über menschliches Glück und Unglück und die unerforschlichen Rathschlüsse der Vorsehung…“

325

Die bereits benannte „Wahlverwandtschaft“ Venedigs und Wiens markierte auch das Etablissement Ristorante Vienna a Venezia als vermuteter „Hauptanziehungspunkt“326 und folgerichtige Setzung, das wie eine Enklave inmitten des Parks installiert wurde und den direkten Verweis auf die umgebende Stadt lieferte, „ein Stück vom lebensfrohen Wien ist hier in die venetianische Umgebung hineingestellt.“327 Hier musste der Wiener auf nichts verzichten, die Speisekarte war mit landestypischen Spezialitäten bestückt328 und die Unterhaltung wurde von den Grinzingern mit österreichischer Musik gewährleistet, durch ihre „urwüchsigen Wiener Lieder und Tänze“ 329. Venedig war der Erinnerung und der Stimmung nach reproduziert, das urbane Vergnügen der österreichischen Metropole aber gleichermaßen präsent. Betrachtet man das Lokal in seiner Mehrdeutigkeit, so ist es ein Spiel mit der konstanten Präsenz des umgebenden Anderen, eine Exotisierung des Eigenen durch seine Verortung: eine ‚Binnenexotisierung‘. Dieses Spiel mit dem Fremden und Vertrauten wird auch auf einer Doppelseite des Dannberger’s PSCHÜTT! Caricaturen beschrieben, wobei der Anspruch vermeintlicher Authentizität belustigt betrachtet wird. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass hier sogar die Grinzinger im Original zu sehen seien oder auf eine italienische Frage die Antwort folge: „O, mit mir können Sie

324 Koppelkamm weist darauf hin, dass bald in fast jeder Stadt ein Etablissement zu finden war, das Eldorado oder Alhambra genannt wurde. Vgl. Koppelkamm 1987, 159, vgl. ebenso ebd., 161. 325 Anonymus 1895c, 5. 326 Anonymus 1895c, 6. 327 Steiner 1895, 30. 328 Janet Stewart macht darauf aufmerksam, dass das reiche kulinarische Leben im Wien der Jahrhundertwende auch Ausdruck der Modernität im Sinne einer Neugier und realen Einverleibung des Fremden war: „[T]he exotic foods available in many of these restaurants signify a desire to know the ‚Other‘, a marker of modernity.“ Stewart 2007, 194. 329 Steiner 1895, 30.

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schon – deutsch reden.“330 Weniger die Perfektion denn der Aufbau einer spezifischen Stimmung erscheint folglich zentral; „[i]m Mittelpunkt der Kulissenstädte stand die ‚Stimmung‘, die imitierte Atmosphäre einer Stadt, aber auch die totale Unterhaltung des Publikums. Ihre Apotheose erlebte dieses Konzept mit der Eröffnung von Venedig in Wien […].“331 Das doppelbödige Spiel des Als-ob wurde in Wien gesteigert durch den Aufbau eines Ashanti-Dorfes in direkter Nähe, was den Aspekt der ‚Binnenexotisierung‘ weiter stärkte. Die Völkerschau vermischte Aspekte des Jahrmarktstheaters und der musealen Ausstellungspraktik, wurden dort Menschen in „zunehmend ‚lebensechte[n]‘ Arrangements“ gezeigt, „sodass es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer wahlweisen Durchdringung von populärer Schaukultur und traditioneller Wissensvermittlung kam.“332 Das Dorf war von seiner Verortung her im Wiener Tiergarten, in der Nähe der Vergnügungseinrichtungen, deutlich der Unterhaltung zugewiesen und zudem noch durch die räumliche Setzung inszeniert als Teil eines ‚natürlichen‘ Lebens im Sinne eines zivilisationsfernen.333 Der Kontrast der einfachen Hütten zu den Lagunenkulissen kann somit auch als eine Gegenüberstellung von Kultur und Natur gelesen werden. Dabei bedienten sich beide Attraktionen einer vergleichbaren Strategie der Vermarktung und waren ähnlich aufwendig erbaut. So beschreibt die Neue Freie Presse das Angebot in Venedig in Wien wie folgt: „Die ganze Stadt bildet auch einen großen Ausstellungsbazar, in dem die Erzeugnisse der Wiener und der venetianischen Kunstindustrie mit einander in Concurrenz treten. In den kleinen Lädchen sieht man die italienischen Marmorstatuetten, Florentiner Mosaikarbeiten, venetianische Spiegel und Gläser, Fayencen und Bronzen, und in dem mit Fresken geschmückten Hause des Tintoretto kann das Wiener Publicum die Anfertigung der Glasbilder und Glasmosaike von Murano durch Arbeiter und Arbeiterinnen, die von dort hieher [sic!] gekommen sind, verfolgen, wozu sich heute schon das Publicum mit lebhaftem Interesse drängte.“

334

Das benachbarte Ashanti-Dorf konnte mit vergleichbaren Attraktionen aufwarten, nicht nur mit Blick auf das Unterhaltungsangebot, sondern auch auf die erwerbbaren Güter:

330 Anonymus 1895d, Hervorhebung im Original gesperrt. 331 Mattl 2009, 41. 332 Schwarz 2009, 44. 333 Vgl. Schwarz 2009, 45. 334 Anonymus 1895a.

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„Zuletzt gehört es zu den Wiedersprüchen und Absurditäten, dass man ausgerechnet in einer modernen, mit technischer und logistischer Raffinesse hergestellten Vergnügungslandschaft das ,Natürliche‘ und ,Ursprüngliche‘ zu finden glaubte. Neben dem ,Dorf‘ gab es auch Konzerte und Restaurants und im ,Dorf‘ selbst kam ein modernes kulturindustrielles Prinzip zur Anwendung, indem es zugleich ein Marktplatz war, auf dem die ,Aschanti‘ Souvenirs verkauften.“

335

Als das Publikumsinteresse an Venedig schwand, orientierte sich auch Steiner an anderen Fremden, an dem Aufbau der Internationalen Stadt, später der Elektrischen Stadt, um sich schlussendlich wieder immer stärker den Jahrmarktsattraktionen anzunähern und mit Boxkämpfen und Freakshows ein zahlendes Publikum zu gewinnen, bevor er den Park 1912 schließen musste.336

2.4 K ONSUMENTEN , F LANEURE

UND

‚E XPERIENCER ‘

Die teils temporären, teils im Stadtbild fest verankerten Orte des hier beschriebenen ‚Ausstellungskomplexes‘337 waren Teil des metropolitanen Unterhaltungsangebots, aber auch Lern- und Erfahrungsräume, Orte, an denen eine bestimmte Handlungsweise gefordert und eingeübt, angeleitet und überwacht wurde. 338 Bei aller Vergleichbarkeit der hier stattfindenden Führung, auch im Sinne einer Vorund Verführung, unterscheidet sich das an Bildung und Belehrung ausgerichtete Museum von dem auf Umsatz angewiesenen Kaufhaus und dem auf Massenunterhaltung spezialisierten Freizeitpark nicht zuletzt durch seine ‚agency‘, verstanden als „spezifischer Handlungshorizont“339. Die Überkreuzung des aus der Zeit gefallenen Venedigs, dieser entschleunigten Stadt, mit der pulsierenden Moderne durch die Thematisierung, die Reproduktion und den Nachbau Venedigs in Freizeitparks steht im Kontext von einer durch Weltausstellungen und Warenhäuser geprägten Präsentations- und Konsumlogik. So vehement für die Nachbauten auch eine scheinbare Perfektion betont und ihre Vorteile gegenüber dem Original sogar hervorgehoben werden, sind sie doch angewiesen auf die Bereitschaft der Besucher, sich auf das Erlebnis

335 Schwarz 2009, 48. 336 Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 167. 337 Vgl. Bennett 1995, 60. 338 Vgl. Bennett 1995, 27. 339 Marx 2012, 164. Marx bezieht sich in seiner Definition der agency auf Worthen 2010, 33.

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einzulassen und hierfür auch die Täuschung, die Maskerade zu akzeptieren. Der Nachbau bleibt eine Kopie. Wie das Massenprodukt die exklusive Ware vielen zugänglich macht, so wird über den Park Venedig für die Masse erreichbar. König unterscheidet in diesem Kontext für den Konsumbereich „Substitute, Surrogate und Imitate“340, wobei er ersteren Begriff als wertfrei, die beiden letzteren als pejorativ bestimmt. Substitute ermöglichen einer breiten Schicht den Zugang zu einem Luxusartikel, sie erweitern die Konsumentengruppe, wenngleich es sich um Kopien eines Ursprungsmodells handelt, das im Original weiterhin nur einer geringen Schicht zugänglich bleibt. Massenwaren „ahmen […] das Aussehen, aber auch den Geruch und den Geschmack der Bezugsprodukte nach“341 – auch der Themenpark schmückt sich mit der Behauptung von Authentizität und Originalität und macht ein noch nicht jedem erreichbares Gut der Masse verfügbar. Thomas Kuchenbuch betont in seiner Technikgeschichte des 19. Jahrhunderts, dass die Reproduktion dem Original lange nicht als ebenbürtig empfunden worden sei, was auch mit der mangelhaften Qualität der Reproduktionen zusammenhing: „Das Erlebnis der Oper rangierte weit vor dem kurzen Schallplattenausschnitt, die persönliche Anwesenheit bei der Krönungsfeier weit vor den wenigen Wochenschaubildern, das im Museum bestaunte Gemälde weit vor den noch unbefriedigenden Farbreproduktionen usw.“342 Das auratische Erleben des Originals, wie es Walter Benjamin beschrieben hat, der sich mit dem Verfall dieser Aura im technischen Zeitalter beschäftigt hat,343 kann mit der Kopie nicht wiederholt werden, dem Substitut haftet ein Mangel an. Jedoch kann gerade mit Blick auf Venedig und die hier vorgestellten Anlagen zu Recht gefragt werden, was als Original zu werten sei. 344 Bedeutet für viele Besucher der Park den Erstkontakt mit der Lagunenstadt, wird das Venedig-Erleben hier vorgeprägt. Steinkrüger hält zudem fest, dass gerade im Kontext von Themen- und Freizeitparks

340 König 2008, 251. 341 Vgl. König 2008, 251. 342 Vgl. Kuchenbuch 1992, 13. 343 Vgl. Benjamin 2003, 13. 344 „In the twentieth and twenty-first centuries the project of Venice may be said to be complete. It has been called the ‚Disneyfication‘ of Venice. Venice has been true to its destiny. That is all. […] In some respects Venice is the most successful city in the world. Cities are of their nature artificial. Venice will simply take the urban concept to a new height. […] It is no good in pretending that the tourists do not see the ‚real‘ Venice in the way that tourists do not see the ‚real‘ London or the ‚real‘ Paris; the tourist Venice is the essential, quintessential Venice.“ Ackroyd 2010, 291-292

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eine Verschiebung stattfindet: „Der Nachbau repräsentiert nicht, wie die Pyramiden, den götterähnlichen Status der Pharaonen, sondern repräsentiert eine Pyramide (als Symbol für Ägypten).“345 Venezianische Häuser sind damit nicht als Wiedergabe einer ‚Eigenlogik‘ der Stadt,346 sondern als Zeichen für Venedig zu lesen und somit umso deutlicher in einer Logik der Rezeption durch den Blick von außen. Der Blick von außen wäre damit den Nachbauten immanent, sie stehen als pars pro toto für das Bild der Stadt. Das sich dreidimensional und begehbar materialisierende Venedig-Bild im Freizeitpark unterscheidet sich von den Bildern und Nachbauten, die ein Maler oder Regisseur von der Stadt erschaffen kann, durch die direkte körperliche Aneignung, die Mit-Erschaffung in der Bewegung, die der Besucher vollzieht. Was die historische Theateravantgarde mit der Abschaffung der Rampe und einer direkteren und unmittelbareren Ansprache der Zuschauer anstrebte 347 und was sich ebenso in der Vervielfältigung der Verkaufstheken348 und architektonischen Ausgestaltung der Warenhäuser für den Kunden erfüllte, das erweist sich bei populärkulturellen Unternehmungen, die im Umfeld des Jahrmarkts und des sich im Fin de Siècle neu etablierenden Vergnügungsparks zu verorten sind,349 als Bedingung der Möglichkeit der Teilhabe am dortigen Angebot. Nicht allein in der Betrachtung und der Perfektion des Betrachtungsgegenstands wurde die Imagination belebt, sondern in der Verbindung aus Gehen und Sehen, in der Mobilisierung des Zuschauer-Körpers, dem eine fiktive Welt geboten wurde. Der Besucher des Vergnügungsparks verlässt zumindest partiell eine vermeintlich sichere Position des (städtischen) Beobachters und zeigt sich aktiv mobil, den irreal-realen Raum auch physisch erfahrend. Die Mobilität des Körpers und des Blicks erscheint dabei als Reminiszenz auf den Flaneur der Großstadt, der ziellos die Stadt und ihr Treiben betrachtet – und ist zugleich ad absurdum geführt, ironisiert durch die Künstlichkeit der Umgebung, die die Ziel-

345 Steinkrüger 2013, 66. „Themenwelten rekurrieren auf bereits etablierte Bedeutungseinheiten, für die bestimmte Symbole als passend oder unpassend gelten. Eine Thematisierung ist also nicht ein Nebeneinander einzelner symbolisch aufgeladener Elemente, sondern ein räumliches Gesamtgefüge.“ Steinkrüger 2013, 63. 346 Löw 2008, 108. 347 Vgl. Fischer-Lichte 1993, 265. 348 Vgl. Warstat 2005a, 65. 349 Vgl. zur Geschichte der Freizeitparks beispielsweise mit US-amerikanischem Fokus Jones und Wills 2005, vgl. in vergleichender Perspektive Schlehe et al. 2010; zu Inszenierungs- und Ausstellungspraktiken vgl. Steinkrüger 2013.

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losigkeit einschränkt und selbst das Unbewusste zum Teil einer Verkaufsstrategie werden lässt. Dem Flaneur eröffneten sich neue Räume und damit auch neue Blicklandschaften;350 seine neuen Verhaltensplattformen waren Warenhäuser und Freizeitparks. Mit Blick auf die hier vorgestellten Vergnügungseinrichtungen ist diese Erfahrung und das Erleben, das Eintauchen in eine andere Welt, zentraler Moment des Parkbesuchs. Die Nachbauten befördern ein sinnliches Erleben, das sich weder in der Realität des Stadtraumes, noch in der Fiktion eines Kulissenaufbaus allein verorten lässt. Venedig ist hier nicht nur ‚environmental theatre‘, sondern geht darüber hinaus; mit Robin Nelson kann von „immersive environments“351 gesprochen werden. „While, historically, theatre audiences observed a constructed world in actual space, immersive environments, actual and virtual, allow us both to see space and move into and through it.“ 352 Was Nelson hier in Bezug auf den virtuellen Raum weiterdenkt, als Raum, der erst im Prozess der Nutzung durch Bewegung und Bespielung entsteht, kann mit der Idee des performativen Raumes nach Fischer-Lichte für die hier erfolgten Analysen verbunden werden.353 Wenn es im performative Raum „die eigene leibliche Bewegung im und durch den Raum ist, welche die Einbildungskraft in Gang setzt, so dass die unterschiedlichen Szenen, die sich in diesem Raum zugetragen haben mögen oder abspielen könnten, imaginiert werden“ 354, so verbindet sich hier in der Bewegung durch den Raum das Sichtbare mit dem Fiktiven, wird in der Imagination des Besuchers das Sichtbare belebt. Der von Nelson für den Nutzer des virtuellen Raums vorgeschlagene Begriff des „experiencer“355, der sich in einer Umwelt bewegt, die nicht einen Sinn bevorzugt, nicht allein das Auge oder Ohr ansprechen will, sondern eine weite sinnliche Erfahrung erlaubt,356 kann auch

350 Friedberg 1993, 3. „As a social and textual construct for a mobilized visuality, flânerie can be historically situated as an urban phenomenon linked to, in gradual but direct ways, the new aesthetic of reception found in ‚moviegoing‘. As I will argue, the imaginary flânerie of cinema spectatorship offers a spatially mobilized visuality but also, importantly, a temporal mobility.“ Ebd. 351 Nelson 2010a, 19. 352 Nelson 2010, 19a. 353 Fischer-Lichte 2006, 218. 354 Fischer-Lichte 2006, 216. Fischer-Lichte bezieht sich in ihrem Aufsatz auf Klaus Michael Grübers Inszenierung Rudi von 1979 und die Audiotouren von Hygiene Heute (2000-2002). 355 Nelson 2010b, 45. 356 Vgl. Nelson 2010b, 45.

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auf den Besucher der hier vorgestellten, sich materialisierenden Venedigfantasien Anwendung finden. In der möglichen deutschen Übersetzung als ‚Erfahrender‘ erlaubt diese Benennung den Verweis auf die notwendige aktive wie passive Mobilisierung, in der Wahl des Begriffs ‚Erlebender‘ den Verweis auf die Ereignishaftigkeit und den notwendig involvierten Körper.

3. Travelling Venice

Venedig, heute wohl „the world’s most touristed city“1 und bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Reiseziel, kann als Potenzierung des touristischen Reiseerlebnisses, als „the epitome of the tourist experience“2, verstanden werden; hier wurden (und werden) unterschiedliche touristische Reisemotivationen, Sehn- und Seh-süchte befriedigt. Mit Blick auf die vorletzte Jahrhundertwende erweist sich der neu entstehende Tourismus als Verdichtung urbaner kultureller Praktiken, als Kommodifizierung des Reisens. Gerade Venedig fungiert hier auch als Ort der Ausübung dieser Praktiken und ihrer Aushandlung, der Fragen nach (visueller) Vorprägung und Erfahrung, nach Erlebnis und Ware, nach (Ab-) Bild und Ereignis. Dieses Kapitel ist daher dem Reisen aus den Metropole nach Venedig gewidmet und untersucht das physische wie auch das imaginäre Reisen und ihre Verbindungen sowie die Bedingungen des Reisens in einer visuell geprägten und zunehmend mobilisierten Spektakelgesellschaft 3. Anschließend an

1

So heißt es im Untertitel des Buches von Robert C. Davis und Garry Marvin 2004. Davis und Marvin haben in ihre kulturkritischen Auseinandersetzung eine Annäherung an Venedig gewählt, die auf Appadurais Konzept der „scapes“ als sinnstiftende Konstruktionseinheiten zurückgeht und dafür die Stadt in vier solcher „scapes“ untergliedert, „Timescape, Landscape, Seascape, and, lastly, Worldscape“ (Davis und Marvin 2004, 5), wobei sie nicht nur den Blick des Touristen, sondern auch den der Einheimischen thematisieren, was sie selbst als Desiderat der Forschung ausmachen. Vgl. ebd.

2

Davis und Marvin 2004, 1.

3

Der Begriff ist hier wieder in Anlehnung an Charle gedacht, der das 19. Jahrhundert als Jahrhundert einer „Schauspiel- und Spektakelgesellschaft“ bezeichnet. Vgl. Charle 2012, 9.

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Dennis Kennedy soll der Zuschauer als Tourist 4 beziehungsweise der Tourist als Zuschauer5 und die Reise als Auf- und Vorführung betrachtet werden.6 Venedig, so die These, wird auf vielschichtigen Ebenen Teil eines Produktions- und Reproduktionsprozesses, der performativ das Reise-Erlebnis und seinen Gegenstand hervorbringt.

3.1 T OURISMUSGESCHICHTE ( N ) War, so Hans-Magnus Enzensberger, „[d]ie Reise als Abenteuer, als Selbstzweck [...] bis tief ins 18. Jahrhundert hinein unbekannt“7, so veränderte sich dies in der Moderne. Die kulturelle Praktik des Reisens wurde von neuen Motivationen angetrieben, so dass der Tourismus als Erscheinung der Moderne bezeichnet werden kann: „[T]ravelling is an age-old phenomenon, but the roots of modern tourism date back to the nineteenth century“8, stellt Taina Syrjämaa fest. Und John Urry schreibt: „Indeed acting as a tourist is one of the defining characteristics of being ‚modern‘ […].“9 Auch Erik Cohen nennt Tourismus ein „thoroughly modern phenomenon.“10 Er begründet dies mit dem Wandel der Reisemotivation, mit dem sich zugleich ein Mentalitätswandel vollzog: Es fand

4

Die Ausdifferenzierung und Unterscheidung von Reisendem und Touristen, von „traveler“ und „tourist“, führt Boorstin durch, vgl. Boorstin 1973, 85. MacCannell hingegen lehnt die hiermit vollzogene Abwertung des vermeintlich oberflächlicheren Touristen ab und konstatiert auch bei ihm eine vergleichbare Suche und Sehnsucht nach Authentizität, vgl. MacCannell 1999, 104; vgl. hierzu auch Hoesch 2013, 54. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit steht der Tourist, auch als Authentizitätssuchender, im Zentrum der Überlegungen, so dass auf eine sprachliche Abgrenzung zwischen Reisendem und Touristen verzichtet wurde.

5

Vgl. hierzu weiterführend Kennedy 2011, hier vor allem das fünfte Kapitel, The

6

Zur theaterwissenschaftlichen Annäherung an den Tourismus und seine Bedingungen

Spectator as Tourist, 94-114. vgl. neben Kennedy 2011 ebenso Balme 1998, vgl. auch Hoesch 2013. Für den Hinweis auf letztere Arbeit danke ich Friedemann Kreuder. 7

Enzensberger 1969, 186.

8

Syrjämaa 2000, 177.

9

Urry 2002, 2.

10 Cohen 1972, 165.

T RAVELLING V ENICE

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eine Öffnung dem Fremden gegenüber statt und man begab sich auf Reisen nicht trotz, sondern für die Erfahrung des und der Fremde.11 Eine Vorreiterrolle für eine moderne Idee des Reisens nahm die sogenannte Grand Tour12 ein, die Teil des adeligen Selbstverständnisses war. Sie diente zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert der „Bildungserweiterung, Abschluss der Erziehung, Aneignung und Verfeinerung der weltmännisch-gesellschaftlichen Umgangsformen“13 – es handelte sich um ein Reiseprogramm, das zugleich als Ausbildungsprogramm fungierte. So kann das Reisen auch als ritualisiertes Ereignis in einem Prozess der Identitätsbildung verstanden werden; denn so funktionalisierte Reisen lassen sich – im Anschluss an Arnold van Gennep – als Übergangsrituale denken, sogenannte ‚rites de passage‘.14 Anschließend an Genneps Thesen, der das Ritual in eine Phase der Trennung, des Übergangs bzw. der Schwelle und der Wiederangliederung unterteilt,15 ist auch die Reise durch einen Dreischritt strukturiert, markiert durch „Aufbruch, Passage, Ankunft“16. Durch Rituale ändern sich soziale und kulturelle Rollen, Gemeinschaften und Verhält-

11 Vgl. Cohen 1972, 165. 12 Vgl. Gyr 2010, http://www.ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/tourismus/ueligyr-geschichte-des-tourismus. [Letzter Zugriff: 14.01.2011]. Vgl. auch Davis und Marvin 2004, 12. Davis und Marvin betonen, dass die bisherigen Auseinandersetzungen mit dem Tourismus in Venedig vor allem auf der Geschichte der Grand Tour basieren und dabei zudem den Schwerpunkt auf die auch für die vorliegende Arbeit wichtigen Entwicklungen eines kosmopolitanen Bewusstseins legen. Zur Geschichte der Grand Tour vgl. auch Enzensberger, der die Kavalierstour als Weg der Welterfahrung beschreibt – wobei die Welt „die vornehme Gesellschaft, nicht etwa ein Kanon von kulturellen Denkmälern“ umfasst. Enzensberger 1969, 187. Vgl. weiterführend beispielsweise Dreyer 2009. 13 Gyr 2010; vgl. auch Davis und Marvin 2004, 11. 14 Vgl. Gennep 2005. 15 Vgl. Gennep 2005, 21. 16 Prein 2005, 119. Wie im Ritual wird auch hier am Ende eine Veränderung des Reisenden erwartet, doch dieser kann auch in seine ursprüngliche Rolle zurück. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte im Bezug auf die Reversibilität des Rituals im Theater, Fischer-Lichte 2005, 30. Hier lässt sich auch darüber nachdenken, ob das Reiseritual weiter unterteilt werden kann in einen Dreischritt der Reise bis zum Zielort, oder ob erst wieder die Ankunft am Ausgangsort das Ritual abschließt und damit die finale Wiedereingliederung in der Heimat stattfinden muss. Gerade an touristisch hochfrequentierten Orten kann man davon ausgehen, dass hier auch in der Fremde wieder Strukturen des Ausgangsortes gespiegelt und re-inszeniert werden.

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nisse, Beziehungen des Einzelnen zu einer Gruppe und innerhalb der Gruppe selbst. Rituale verändern die Wirklichkeit, sie sind „transgressive Ereignisse […], deren Funktion darin besteht, unterschiedliche Arten von Grenzüberschreitungen zu ermöglichen“17. In Anlehnung an Gennep hat Victor Turner für diese Übergangsmomente die Begrifflichkeit ‚liminaler‘ Zustände geprägt. 18 Warstat beschreibt diese liminale Passagen-Phase mit Blick auf Turner wie folgt: „Wer sich in einem liminalen Zustand befindet, fühlt sich vorübergehend von allen regulären sozialen Bindungen, alltäglichen Abläufen und gesellschaftlichen Regeln losgelöst“19. Die Idee einer Ablösung vom Alltäglichen ist auch auf die Reiseerfahrung anwendbar und umfasst dabei die Zeitspanne des Aufbruchs bis zur Wiederankunft in der Heimat. Wenn die Grand Tour sich also jenseits des Gewohnten und Alltäglichen vollzog und eine Erfahrung des Außeralltäglichen ermöglichte, musste auch das Reiseziel in diesem Sinne funktionalisiert werden.20 Trotz geregeltem Ablauf, geplanter Reiseroute und vordefiniertem Ziel der Reise 21 konnten sich, fern von direkter Kontrolle und ständiger Beobachtung, Freiräume etablieren und es fanden sich Möglichkeiten, sich unterschiedlichsten Vergnügungen hinzugeben.22 Venedig beispielsweise war fester Bestandteil der Grand Tour, einerseits als Stadt des Handels und der Kaufleute ein ökonomisches Zentrum, andererseits aber eilte der Lagunenstadt auch der Ruf voraus, ein Ort des Lasters, des Glücks-

17 Warstat 2005c, 274. 18 Vgl. hierzu Turner 1992, 25. 19 Warstat 2005c, 276. 20 In besonderem Maße trifft dies zu, wenn am Reiseziel Feiern und Festivitäten stattfinden, wie beispielsweise in Venedig in der Zeit des Karnevals. „Erinnert der Massentourismus eher an derb-volkstümliche mittelalterliche Feste, so ermöglichen Kulturund Bildungsreisen eine geradezu religiöse Erfahrung, wird der Alltag transzendiert und im Licht einer anderen Weltsicht neu interpretiert. Der Tourismus selbst ist von den Begrüßungsritualen bis zur Nachbearbeitung der Reiseeindrücke zu Hause geprägt von rituellen Abläufen. Mit den rituellen Feiern hat er gemeinsam auch die Verwandlung, das Spiel, das Vergnügen, die im Kontrast zum Ernst des Lebens stehen.“ Luger 2010, 26, hier im Verweis auf Hennig 1997, 78ff – hierbei handelt es sich um die Insel Verlag Ausgabe von Hennigs Buch Reiselust, das dann 1999 bei Suhrkamp erschien, vgl. Hennig 1999. 21 Vgl. Gyr 2010. 22 Vgl. Gyr 2010; vgl. auch Davis und Marvin 2004, 11.

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spiels und der Prostitution zu sein.23 Vor dem Hintergrund eines hier möglichen Auslebens ungewohnter Freiheiten, der Sammlung unterschiedlichster Erfahrungen und dem Genuss verschiedenster Zerstreuungen, bot Venedig den Vergnügungshungrigen einen reizvollen Besuchsanlass. Bereits 1759 24 hatte Voltaire in seiner Satire Candid25 die Stadt als Zentrum solchen Vergnügens beschrieben – und deren Folgen für die wohlhabenden Besucher. In seiner Lesart erwies sich die Lagunenstadt als Touristenfalle des Geldadels; „zwar soll Venedig nur für die venezianischen Adligen etwas taugen, aber dessen ungeachtet sollen auch Fremde dort wohl aufgenommen werden, sofern sie viel Geld haben“.26 Folgt man Davis und Marvin, so war es auch die spezifische Lage Venedigs, die eine besondere Raumerfahrung ermöglichte – und zu einem wichtigen Aspekt der Selbstvermarktung der Lagunenstadt mit Blick auf die Reisenden wurde: „Venice became the continent’s brothel, but also, thanks to its limited scale and unique waterways, Europe’s first theme park. By the time the collapse of the Serenissima Repubblica came in 1797, Venice was already well on its way to living off tourism alone. As such, we might say, it was perhaps the first postmodern city, selling no product other than itself and its multiple images to tens or even hundreds of thousands of free-spending foreigners who came there annually.“

27

Attraktiv für reisende Fremde durch eine singuläre geografische Lage bediente Venedig auf vielfältige Weise das Interesse an Unterhaltung und Abwechslung.28

23 Vgl. Davis und Marvin 2004, 2, ebenso 44ff. Die reichen Besucher scheinen hier vor allem ihres Geldes wegen willkommen, vgl. Voltaire 2009, 65. 24 Vgl. Sander 2009, 117. 25 Mit der Schreibweise Candid ohne -e folge ich der Vorgabe der hier zitierten Ausgabe von 2009. Vgl. Voltaire 2009, 107 (Anmerkungen). 26 Voltaire 2009, 65. 27 Davis und Marvin 2004, 3. Burke spricht von Venedig-Mythen und Anti-Mythen, letztere auch als „reaction against the tourist city. There was an ‚anti-myth‘ as well as a myth of Venice, a black legend as well as a golden one, viewing the city as a dystopia rather than a utopia, hell in place of paradise, and emphasizing despotism rather than liberty, and conflict and conspiracy rather than harmony.“ Burke 2011, 81. 28 Voltaire beschreibt in Candid die Stadt in dieser Hinsicht als Enttäuschung, findet sein Protagonist hier doch keine Ablenkung, obwohl diese vielfach vorhanden war, vgl. Voltaire 2009, 79. Vgl. hierzu auch den Einstieg in Kapitel 4 „Playing Venice“.

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In der Romantik wurde das Reisen vor allem vom Ideal der Freiheit geprägt.29 Wolfgang Schnepel beschreibt die Romantik als Strömung „mit […] letztlich unerfüllbaren Sehnsüchten nach dem Fernen und Fremden“ 30, die in der Idee des Reisens eine Verwirklichung dieses Sehnens fand. Freiheit wurde, Enzensberger folgend, dabei „räumlich zum Bilde der zivilisationsfernen Natur, zeitlich zum Bilde der vergangenen Geschichte“31, womit sich das Reisen zu historischen Stätten und das hier befriedigte Interesse an der Geschichte, wie auch das Reisen in Gegenden unberührter Natur als Suche nach Freiräumen denken lässt. Vor diesem Hintergrund wurde Europa bereist – und dabei auch Italien besucht, von Dichtern und Denkern wie Lord Byron32 oder Johann Wolfgang von Goethe, der seinen Aufenthalt in der Italienischen Reise literarisch verarbeitete.33 Rüdiger Hachtmann stellt in seiner Tourismus-Geschichte fest, dass „[e]ine Reise durch den europäischen Kontinent […] stärker als jemals zuvor zu einer Zeitreise [wurde]“34 und dass gerade Italien dem neu erwachten Interesse an der Vergangenheit reichlich Anschauungsmaterial lieferte.35 Als „Wiege der europäischen Kultur“36 wurde Italien zur Anlaufstelle für Bildungshungrige. Nies be-

29 Vgl. Enzensberger 1969, 186. 30 Schnepel 2013, 28. 31 Enzensberger 1969, 190. Enzensberger beginnt seine Theorie des Tourismus mit der Frage nach dem Aufkommen der Bezeichnung „Tourist“, die er in den Wörterbüchern seit 1800 nachweisen kann, vgl. Enzensberger 1969, 182. 32 Lord Byron wird mit Venedig vor allem durch sein Gedicht Childe Harold’s Pilgrimage verbunden, vgl. hierzu Forssman 1971, 18, vgl. auch Dieterle 1995, 89-115. 33 Goethe 1993; vgl. zu Goethe und Venedig weiterführend Mönig 2012. 34 Hachtmann 2007, 52. 35 Vgl. Hachtmann 2007, 51. Vgl. ebenso Nies 2014, 98. Wolfgang König weist darauf hin, dass Italien bereits seit der Renaissance als Sehnsuchtsort der Reisenden etabliert worden war, vgl. König 2008, 174. 36 Landwehr 2007, 329. Neben Neapel und Rom sei es vor allem Venedig gewesen, was „zum unbezweifelbaren Pflichtprogramm“ gehört habe, ebd. Vor dem Hintergrund einer Bildungsreise fungierten die ausgewählten Städte als Zeugen kontinentaleuropäischer Geschichte, so dass hier ein kollektives kulturelles Erbe rezipiert und aktiviert werden konnte. „Europa wurde dann zum gemeinsamen kulturellen Bezugspunkt, nun nicht mehr in erster Linie religiös aufgeladen wie bei der Pilgerreise oder ständisch beschränkt, wie bei der Kavalierstour des Adels.“ Hachtmann 2007, 49f. Dabei bleibt zu hinterfragen, inwiefern Venedig eine Sonderstellung einnimmt, nicht nur als Ort des Eigenen, sondern auch als Ort des Fremden, aufgrund seiner spezifi-

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zeichnet die Italienreise im 19. Jahrhundert bereits als ein „sozial relevante[s] Breitenphänomen“37. Mit den Entwicklungen des Transportwesens, vor allem durch den Ausbau des Verkehrsnetzes der Eisenbahn, konnte das ersehnte Fremde in immer entlegeneren Regionen verortet werden; so verband sich durch die Schienen die Exotik Italiens mit der des dahinter liegenden Orients.38 „Der ‚Süden‘, vormals allein durch das Kunstland Italien repräsentiert, erweiterte sich unabsehbar und verschmolz mit dem Orient in jeder Form, dessen Entdeckung […] auch wieder rückwirkend den Geschmack an Italien selber in andere Bahn brachte. Europa wurde grau, und die Exotik blühend.“39 Je mehr sich das Reisen von ökonomischen Notwendigkeiten löste, desto zentraler wurde es von der Suche nach Vergnügen und Zerstreuung bestimmt. Reisen wurde zu einem individuellen Projekt und Erlebnis, das als Freizeitbeschäftigung nur einer exklusiven Schicht offen stand: „Bildungs-, Landschaftsund Unterhaltungsreisen beschränkten sich […] bis ins 19. Jahrhundert wegen des hohen Zeit- und Geldaufwands auf den Adel und das begüterte Bürgertum.“40 Gerade das neu entstehende Bürgertum jedoch, das sich für die Ausfüllung und Markierung seiner gesellschaftlichen Rolle kulturelle Praktiken, einen Habitus41, aneignen musste, begann mit der Petit Grand Tour, die an die Grand

schen Geschichte und der Handelsverbindungen in den Orient, eine Fremdheit, die in der Architektur Sichtbarkeit erlangt, so beispielsweise am Markusplatz. „For most other tourists, the experience of San Marco remains predominantly a sensual one, with little in the way of historic or moral relevance.“ Davis und Marvin 2004, 69. Für die Autoren scheint Venedig (bis heute) den Aspekt der Fremdheit als sinnliche und ästhetische Erfahrung nachfühlbar zu machen. Aus ihrer Perspektive fungiert die Stadt kaum als Erinnerungsort europäischer Geschichte: „It is worth remembering that Venice’s history actually offers little with which most modern-day visitors can identify personally. Unlike Florence, Rome, or Athens, the city fits rather poorly in the general narrative of Western Civilization.“ Davis und Marvin 2004, 68; vgl. zur Verbindung Venedigs mit der Islamischen Welt weiterführend Carboni 2007. 37 Nies 2014, 101. 38 Vgl. Sternberger 1974, 47. 39 Sternberger 1974, 47. Vgl. hierzu auch Storch 2009a, 19. Die Darstellung Venedigs als orientalische Stadt ist vielfach auch Topos der Literatur, so beispielsweise in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, vgl. hierzu Mahler 1999, 35. Zur Geschichte der deutschen Reiselust auf Italien vgl. Siebenmorgen 1997. 40 König 2008, 174. 41 Vgl. zum Habitus nach Pierre Bourdieu als Konzept der Soziologie Krais und Gebauer 2014.

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Tour nicht nur namentlich anschließen sollte, das Reisen zum Mittel der Mehrung des eigenen Bildungskapitals zu nutzen.42 Mit Sternberger kann das Reisen im 19. Jahrhundert schließlich als ein „unaufgebbares Pendant und Zubehör des bürgerlichen Lebens“43 beschrieben werden. Dabei wird der Aspekt einer im bürgerlichen Reise-Ritual vollzogene Transformation – wenn überhaupt – zum Moment einer reversiblen Wandlung für das reisende Subjekt. „Travelling is defined as a crossing into a realm with a different reality status. Other than border-crossing in literature, which always implies irreversible transformation, the tourist’s experience is an event without a risk, with the return included in the package.“ 44 Vergleichbar dem Theaterereignis wird eine liminale Erfahrung in der Komfortzone der Konsequenzlosigkeit behauptet – und vergleichbar dem Theaterzuschauer kann auch für den in seinen Alltag zurückkehrenden Touristen diese angezweifelt werden, da sie keinen sichtbaren Identitäts- oder Statuswechsel zur Folge haben muss.45 Turner führt für liminale Phasen, die „jenseits religiös-ritueller Kontexte“46, so beispielsweise in Alltagskulturen verortbar sind, den Begriff des Liminoiden ein. 47 Gerade für das Bildungsbürgertum soll hier also weniger die Idee eines Statuswandels im Reisen stark gemacht werden, wie er für die Reisenden der Grand Tour als Reifungsprozess noch angenommen werden kann, denn das Reisen kann als Teilhabe an einer kulturellen Praktik verstanden werden, die die eigene Zugehörigkeit bestätigt. Die Mode der Gruppenreisen,48 die mediale Vor- und Nachbereitung

42 „Die ‚Petit Grand Tour‘ der Patrizier zeichnete sich durch einen verglichen mit dem Adel strafferen Reiseablauf und eine kürzere Reisedauer aus. Zudem hatte die Reise eine stärkere ökonomische Orientierung und diente beispielsweise der Information über technologische Neuerungen und ökonomische Produktionsmethoden der Manufakturen.“ Bock 2010, 261; vgl. auch Hachtmann 2007, 52. 43 Sternberger 1974, 55-56. 44 Pfister und Schaff 1999, 9. 45 Vgl. Warstat 2005c, 276. Vgl. auch hier in Bezug auf die Folgen ritueller Gemeinschaftserfahrung im theatralen Rahmen Fischer-Lichte 2005, 30. 46 Turner 1974, 64-65 47 Vgl. Turner 1974, 64-65. Warstat verweist darauf, dass sich die Begriffsunterscheidung von liminal und liminoid in der Forschung bisher nicht durchsetzen konnte, vgl. Warstat 2005d, 187. 48 Vgl. für die Entwicklung des Tourismus im viktorianischen England, u.a. durch die Veranstaltungen von Thomas Cook, dem Pionier der Gruppenreisen, Strong 2014.

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durch Reiseführer und Reiseberichte49 und das Versenden von Postkarten50 deuten beispielhaft auf eine solche Funktion hin. Zudem wurde die Reise nun auch als kollektiver Heilungsakt interpretiert, denn für den bürgerlichen Tourismus des 19. Jahrhunderts wurde das Reisen zu einer Gegenbewegung zur Industrialisierung und deren Folgen für das metropolitane Leben, zu einer Suche nach Natur und Natürlichkeit, nach Ursprünglichkeit.51 Angetrieben von den Idealen „Gesundheit und Bildung“52 sollte durch die Reise in Gebiete, die vorindustrielle Natur wie auch eine vorindustrielle Kultur zu bieten hatten, ein Heilungsprozess beflügelt werden und der Metropolenbewohner wieder zu sich selbst finden.53 Hasso Spode konstatiert, dass die bereisten Orte zum „fast schon verschütteten Kern des verkünstelten, entwurzelten Zivilisationsmenschen“54 einen Weg eröffnen sollten. In diesem Sinne ist auch die Geschichtsreise zu verstehen. „The promise of time travel has become standard fare in commercial tourist appeals, with many tourist destinations featured as surviving remnants of an earlier, or even ‚timeless‘, way of life“55, so Judith Adler. Im Reisen wird Vergangenheit zu einer räumlichen Erfahrung. Spode beschreibt dies als einen Vorgang, der Räumen Fortschrittlichkeit oder mangelnde Modernität zuweist. Sie wirken wie aus einer anderen Zeit, werden mit dem eigenen Herkunftsland verglichen und in Relation zu diesem gesetzt, dabei gewertet „als zurückgeblieben-peripher oder vorausgeeilt-zentral“56. Nicht immer ist es also der Blick zurück, auch die Zukunft kann an solchen Räumen erahnt werden.57 Das touristische Reiseziel sei, so Benjamin

49 Vgl. Müller 2012 und die weiteren Ausführungen im vorliegenden Kapitel. 50 Vgl. Holzheid 2011 und die weiteren Ausführungen hierzu im folgenden Kapitel Playing Venice. 51 Wie Syrjämaa schreibt, machte die Verschmutzung der Großstadt das Reisen in außerstädtische Gegenden attraktiver, vgl. Syrjämaa 2000, 180. 52 Spode 2013, 101. 53 Vgl. Spode 2013, 101. 54 Spode 2013, 103. 55 Adler 1989, 1375. 56 Spode 2013, 99. 57 „Reisen sind fortan immer auch Zeitreisen, sei es in die Zukunft oder in die Vergangenheit.“ Spode 2013, 99. Bereits für das 18. Jahrhundert beschreibt Adler die ‚Zeitreisen‘ nicht nur als Reisen in die Vergangenheit, sondern auch als Reisen in die Zukunft, so konnte beispielsweise auf einer Reise nach England der dortige industrielle und technische Fortschritt bestaunt werden, vgl. Adler 1989, 1375.

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Hoesch, „Heterotopie der Touristen“58, ein Gegenort gerade in der Abgrenzung des touristischen Raumes zum Lebensraum für „Einheimische“ 59. Spode folgend sind Reiseziele aber auch Chronotopien, die nicht nur mehrere Orte an einem, sondern auch mehrerer Zeiten an einem Ort vereinen. 60 Sowohl das zeitlich, als auch das geografisch Ferne rückte in das Zentrum des Reiseinteresses, der Blick wurde sowohl auf Exotisches, als auch auf Vergangenes gerichtet. Vergangenheit wurde ebenso zum Sehnsuchtsort wie das geografisch Ferne,61 so dass beide Anreize als Fluchttendenzen gelesen werden können – vor allem wenn Orte gewählt wurden, die von der Industrialisierung unberührt geblieben schienen. Venedig als vermeintlich zeitlose Stadt, an der die Industrialisierung scheinbar spurlos vorüberging, als „eine Art permanenter Ausstellung der Vergangenheit“62, wie sie Otto Julius Bierbaum in seiner Reisebeschreibung von 1903 nennt, spielte als Zielort der geschichtlich motivierten Reise eine besondere Rolle. Die Lagunenstadt hatte, im Vergleich zu anderen Städten, nur unwesentliche oder zumindest für den Reisenden kaum wahrnehmbare Transformationsprozesse durchlaufen.63 Mit dem Untergang der Republik hatte, folgt man Erik Forssman, ein Stillstand eingesetzt, „[p]lötzlich blieb die Zeit hier stehen, und wie in einem Bilderbuch aus Stein und Farbe konnte man nun die Geschichte der Stadt an ihren überreichen Monumenten nacherleben.“64 Venedig erfüllte den Kriterienkatalog eines touristischen Reiseziels paradigmatisch als in der Zeit entrückt und musealisiert, als architektonische Schatzkammer und sichtbare Verbindung unterschiedlicher Kulturen65 und Zeiten. So schreibt auch Bierbaum: „Der Hauptreiz dieser Stadt liegt in ihrem Verfall und darin, daß sie weniger als alle übrigen Städte die Möglichkeit hat, sich wesentlich zu modernisieren.“ 66 Dieser touristischen Logik folgend wurden auch die Venezianer funktionalisiert und in ihrem vermeintlich vor-industrialisierten Lebensstil romantisiert, wie es mit Blick auf die Malerei die Tradition der Abbildungen zu venezia minore belegt,

58 Hoesch 2013, 61. 59 Hoesch 2013, 61. Vgl. hierzu auch die Konstruktion Venedigs als literarisches, aber auch räumliches Zeichen bei Nies 2014. 60 Vgl. Spode 2013, 99. 61 Vgl. Spode 2013, 100. 62 Bierbaum 1999, 70. 63 Vgl. Pemble 1995, 1. 64 Forssman 1971, 7. 65 Vgl. hierzu Carboni 2007. 66 Bierbaum 1999, 69.

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die das Alltägliche, das scheinbar authentische Leben der ‚einfachen‘ Bevölkerung zeigen.67 3.1.1 Authentizität und Aufführung Die Suche nach Natur und Natürlichkeit verbindet sich mit dem touristischen Ideal der Authentizität, denn, MacCannell folgend, vermuten dies die Reisenden in anderen Epochen, Zeiten und Regionen: „The progress of modernity (‚modernization‘) depends on its very sense of instability and inauthenticity. For moderns, reality and authenticity are thought to be elsewhere: in other historical periods and other cultures, in purer, simpler life-styles. In other words, the concern of moderns for ‚naturalness,‘ their nostalgia and their search for authenticity are not merely casual and somewhat decadent, though harmless, attachments to the souvenirs of destroyed cultures and dead epochs. They are also components of the conquering spirit of modernity – the grounds of its unifying consciousness.“

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Während sich das moderne Leben zunehmend künstlich anfühlt, macht sich der Tourist auf die Suche nach dem vor-industrialisierten Leben, das er in der Ferne vermutet. Als Reaktion auf einen Entfremdungsprozess in der eigenen Lebenswelt sucht er in anderen Welten nach ‚authentischen‘69 Erfahrungen von Kultur und Tradition.70 In diesem Sinne ist die touristische Suche nach Authentizität eine Folge der Industriellen Revolution,71 der Selbstentfremdung des Subjekts in der modernen Welt und den pulsierenden Städten. Die Suche nach dem Authentischen kann als Reaktion auf dieses Gefühl eines Verlustes aufgefasst werden.

67 Vgl. Forssmann 1971, 177 und hierzu weiterführend auch das vierte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 68 MacCannell 1999, 3. 69 Zur Begrifflichkeit ‚authentisch‘, ihrer Bedeutung und Verwendung und zur sich hierzu entspannenden Diskussion sind eine Vielzahl an Publikationen erschienen. Mit Blick auf die Kulturwissenschaft sei hier beispielhaft hingewiesen auf Daur 2013, ebenso auf Fischer-Lichte et al. 2007 und Berg, Hügel und Kurzenberger 1997. Im Rahmen und zur Thematik der vorliegenden Arbeit vgl. ebenso Outka 2009 und Lindholm 2008. 70 Vgl. Smith, MacLeod und Robertson 2010a, 14. 71 Vgl. Smith, MacLeod und Robertson 2010a, 15.

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Reisen als performative Praktik ist auch eine theatrale: Auf der ‚touristischen Bühne‘ werden die reisenden Betrachter Zeugen einer „staged authenticity“,72 sie dienen der Vorführung als Publikum und sind zugleich Mitakteure der Aufführung. Denn Touristen „travel to other places not to explore their feelings and go on a voyage of self-discovery, but rather to play to the crowds. ‚Distance‘ as experienced through physical displacement from everyday life (travel) or as a lack of cultural similarity (even superiority) causes people to change their habits of social interaction.“

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Mit Bezug auf Erving Goffmans Aufteilung des sozialen Lebens in „front and back regions“74 hat MacCannell eine Theorie erarbeitet, die auf der Annahme fußt, dass auch der Tourist von einer Fassade ausgeht, die er betrachtet, und die ihm den Blick auf den ‚authentischen‘ Hintergrund verdeckt. 75 Diese „tourist settings“76, die als ‚stage settings‘ gelesen werden können, versucht der Tourist, „one of the best models available for modern-man-in-general“77, hinter sich zu lassen. „The touristic way of getting in with the natives is to enter into a quest for authentic experiences, perceptions and insights. The quest for authenticity is marked off in stages in the passage from front to back.“78 Hier erhofft sich der Reisende eine „intimacy of relations and authenticity of experiences.“ 79 Die bereisten Orte werden zu Räumen, die diese Illusion bedienen; „tourist settings are arranged to produce the impression that a back region has been entered even

72 MacCannell 1999, 98. 73 Smith, MacLeod und Robertson 2010b, 150-151. 74 MacCannell 1999, 92, Hervorhebung im Original. In der deutschen Übersetzung wird daraus „Vordergrund“ und „Hintergrund“. Goffman erklärt diese Begrifflichkeiten in Bezug auf das soziale Rollenspiel wie folgt: „Wir finden häufig eine Trennung in einen Hintergrund, auf dem die Darstellung einer Rolle vorbereitet wird, und einen Vordergrund, auf dem die Aufführung stattfindet. Der Zugang zu diesen Regionen wird unter Kontrolle gehalten, um das Publikum daran zu hindern, hinter die Bühne zu schauen, und um Außenseiter davon fernzuhalten, eine Aufführung zu besuchen, die nicht für sie bestimmt ist.“ Goffman 1996, 217. 75 Vgl. MacCannell 1999, 94. 76 MacCannell 1999, 96. 77 MacCannell 1999, 1. 78 MacCannell 1999, 105. 79 MacCannell 1973, 589.

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when this is not the case.“80 MacCannell impliziert dabei die tatsächliche Existenz einer solchen ‚back region‘, einer authentischen Lebensrealität, die dem Touristen verschlossen bleibe. Kennedy kritisiert dieses Konzept der Authentizität bei MacCannell für das Festhalten an der Idee des Authentischen, denn Authentizität ist bei Kennedy ein soziales Konstrukt, das vor allem als Thema des Diskurses Aufmerksamkeit verdient.81 So ist es weniger die Frage nach dem Authentischen als die Frage, warum und worin es gesucht wird, die sich als spannend erweist. Auch Schnepel liest die Suche nach Authentizität als Hinweis auf andere virulente Diskurse. „Auf der touristischen Bühne kommen dabei häufig mehrere verschiedene Suchen nach Authentizität zusammen. Und diese diversen ‚quests‘ inszenieren wiederum ein neues Stück mit einer neuen, ihm eigenen Authentizität.“82 Die hier anklingende Nutzung theatraler Begrifflichkeiten wie Bühne, Inszenierung und Spiel verweist auf die Unmöglichkeit der Authentizität, indem die Ebene des Spiels im Sinne einer Täuschung, eines Vor-Spielens eingebunden wird. Die Verwendung einer ans Theater angelehnten Sprache mag hier mehr metaphorischer Natur sein, im Sinne einer Goffman’schen Theatralisierung alltäglichen Handelns83 und im Kontext einer zunehmenden Theatralisierung des öffentlichen Lebens, wie es im Anschluss an Richard Sennett 84 und Guy Debord85 konstatiert werden kann, oder wie Englhart, Fischer und Gehl darauf aufbauend festhalten: „Die Ausweitung des Theaterbegriffs korreliert also mit der Theatralisierung der Wirklichkeit.“86 Jedoch wird mit dieser Begriffswahl auch

80 MacCannell 1973, 589. 81 Vgl. Kennedy 2011, 96. Vgl. hierzu auch Luger 2010, 28. Letzter misst die touristische „Erlebnisqualität“ an der „Begegnung mit der Sehenswürdigkeit“, denn für diese sei „der sinnliche Direktkontakt, der auf eine ‚Berührungsmagie‘ verweist“ entscheidend. Weiter jedoch legt Luger die Kategorie der ‚Magie‘ weniger als Qualität des touristischen Ziels denn als im Touristen selbst entstehendes Phänomen aus: „Letztlich entsteht jedoch der Eindruck von Authentizität im Betrachter selbst […].“ Ebd. 82 Schnepel 2013, 34. 83 Vgl. Goffman 1996. 84 Vgl. Sennett 2004. 85 Vgl. Debord 2004. Wie bereits angeführt spricht beispielsweise Charle sich für die Setzung der Entstehung einer Spektakelgesellschaft bereits im 19. Jahrhundert aus, vgl. Charle 2012, 9. 86 Englhart, Fischer und Gehl 2010, 11.

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die performative Hervorbringung der touristischen Erfahrung von Authentizität impliziert und hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund kann auch der Rückgriff auf das Beispiel der Freizeitparks spannend sein, denn die Parks werben mit dem Versprechen einer authentischen Erfahrung.87 Diese soll über die Perfektion der Illusion haptisch und die Nutzung der Fahrgeschäfte auch körperlich erfahrbar werden. Im Sammelband Key Concepts in Tourist Studies werden diese zwei Annäherungen im Lemma zu „authenticity“ unterschieden als „existential authenticity“ und „objective authenticity“.88 Ersteres stellt die Rolle des Subjekts und seine (körperliche) Teilhabe ins Zentrum, wie beispielsweise beim Wandern oder Klettern. „These tourists are seeking authenticity within themselves and discover their essential selves.“89 Dem gegenüber steht das auch in der Gruppe erfahrbare und weniger auf die eigene körperliche Teilhabe fokussierte Konzept von „objective authenticity“. Hierunter werden Produkte, Ereignisse und Rituale gefasst, „that we perceive as being traditional expressions of genuine cultures.“90 Der Freizeitpark als per se künstliche Konstruktion erlaubt über den körperlichen Einbezug durch die Fahrgeschäfte eine Annäherung an die Idee einer ‚existenziellen Authentizität‘, viel deutlicher aber über den Verkauf von Souvenirs und die Nachahmung venezianischen Verhaltens beispielsweise in der Gondelfahrt die Illusion einer ‚objektiven Authentizität‘. So muss weniger von einer kategorialen Trennung als von einer graduellen Gewichtsverlagerung der Authentizitätssuche und -erfahrung ausgegangen werden. Dabei ist die Frage, ob etwas überhaupt authentisch sein kann oder nicht, weniger wichtig als die Frage nach der Motivation der Suche danach und die Untersuchung der Momente, in denen Authentizität behauptet, und der Mittel, mit denen sie hervorgebracht wird. 3.1.2 Zuschauer und Performer Der Tourist und der Besucher metropolitaner Themenparks weisen Parallelitäten auf hinsichtlich ihrer Rolle als zuschauende Akteure und aktive Zuschauende. Sucht der Fernreisende die Natürlichkeit – und übersieht dabei deren künstliche

87 Vgl. hierzu die Beispiele Venice in London, Venise à Paris und Venedig in Wien aus dem vorherigen Kapitel Consuming Venice. 88 Smith, MacLeod und Robertson 2010a, 13-17. 89 Smith, MacLeod und Robertson 2010a, 16. 90 Smith, MacLeod und Robertson 2010a, 14.

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Herstellung –,91 so ist dem Parkbesucher die Künstlichkeit seiner Umgebung bewusst und die Täuschung Teil des Vergnügens. Vor dem Hintergrund moderner Konsumerfahrung kann der Eintritt in den Freizeitpark als bewusste Nutzung einer technisch reproduzierten Wirklichkeit betrachtet werden, während der Tourist eben jene Erfahrung der Welt als Reproduktion zu meiden versucht. Der Reisende sucht nach Erlebnissen, die nicht innerhalb der Metropolen gemacht werden können, deren Singularität die Mühen der Reise rechtfertigt und die nur an einem anderen, fremden Ort konsumiert werden können. Statt der Kopie will der Reisende das Original; so kann in Anlehnung an Benjamin das Reiseziel mit dem auratischen Kunstwerk verglichen werden, 92 das in seiner Einzigartigkeit am Originalschauplatz betrachtet wird. Ziel der Reise wäre damit ein auratisches, ästhetisches Erleben.93 In seinem Reisebericht Eine empfindsame Reise im Automobil94 beschreibt Bierbaum Venedig als Täuschung und Spiel und attestiert der Lagunenstadt damit mangelnde Authentizität: „Alles hat hier den Anschein, als sei es für den Fremden gemacht. Dieser Umstand beeinträchtig den Genuss der schönen Stadt erheblich, in der die einzige Industrie, die es gibt, allzu eifrig gepflegt wird: die Fremdenindustrie. Man wird das Gefühl nicht los: Welch Schauspiel, aber, ach, ein Schauspiel nur.“95 Bierbaum erfreut sich zwar an dem Spiel, wertet es aber ab, es sei bloßes Vor-Spiel und damit Venedig trügerische Kulisse einer auf den Reisenden abgestimmten Inszenierung. Die Lagunenstadt stelle nur eine Täuschung dar, nur die Vortäuschung von Leben, reine ‚front region‘. Die Begegnung mit den Einheimischen fasst er nicht als authentisches Erlebnis, sondern als eine Inszenierung für den Betrachter.96 Vor der Stadtsilhouette wird das Leben

91 Hier bleibt weiter zu diskutieren, ob nicht auch die unterschiedlichen Reisemotivationen unterschiedliche Erwartungen produzieren, die dem Aspekt des Authentischen unterschiedlich viel Gewicht verleihen. 92 Benjamin 2003, 12-13. 93 Vgl. Benjamin 2003. Der Gedanke der Verbindung aus auratischem und touristischem Erleben mit Verweis auf Walter Benjamin ist der unveröffentlichten Magisterarbeit von Benjamin Hoesch entnommen, Hoesch 2013, 12-18. Hier führt Hoesch den Gedanken weiter unter der Prämisse der Präsenz-Erfahrung, denn Benjamin beschreibe ein „touristisches Präsenzerlebnis“, vgl. ebd., 16. 94 Bierbaum 1999. 95 Bierbaum 1999, 73. Zu Venedig als Ort der Fremden vgl. Mahler 2010. 96 Bierbaums Beispiel hierfür ist die Begegnung mit den venezianischen Tauben auf dem Markusplatz, die er ironisch kommentiert, vgl. Bierbaum 1993, 73 sowie die Ausführungen zum Markusplatz im letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels.

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zum Spiel, ohne sozialen Sinn, ein theatraler Auftritt und reiner Schau-Akt, ohne Konsequenzen,97 folgt man dem eng gefassten Theaterbegriff Bierbaums. Wenn Kennedy die touristische Erfahrung am Reiseziel als Aufgabe der Imagination beschreibt, als Ereignis, das vor allem in der Vorstellung des Subjekts Form annimmt, so relativiert er die Rolle der Reisedestination. Das Erlebnis vor Ort sei „ultimately a prompt for an event that occurs in the mind of the visitor, just as […] the meaning of a performance occurs in the mind of spectator.“ 98 Vergleichbar der Performance wird das Sichtbare im Betrachter mit Bedeutung belegt, im Rahmen der (touristischen) Performance wird der Reisende zum sinnstiftenden Zuschauer. Die scheinbar passive Rolle des Betrachtenden muss dabei hinterfragt werden,99 denn, wie Gay McAuley konstatiert: „If the performance event can be defined as what takes place between performers and spectators in a given space and time, then the spectator has to be seen as a crucial and active agent in the creative process.“100 Die aktive Mitgestaltung des Reisenden macht ihn selbst zum Performer, zum Mit-Spieler, legt die Ausgestaltung und Erfahrung der Reise auch in seine Verantwortlichkeit; die Vorstellung einer vermeintlich konsequenzlosen Rolle des Betrachters wird abgelöst von der Idee der Kreation, der Co-Autorschaft des touristischen Ereignisses und der Betrachtung des Reisenden in einer Rolle.101 Dabei generiert der Tourist Bedeutung und nutzt

97

Vgl. dazu auch Simmel 1922. Corbineau-Hoffmann hält fest: „Für Simmel ist Venedigs Zweideutigkeit eine Realität; für die Literaturwissenschaft ist sie eine Fiktion […].“ Corbineau-Hoffmann 1993, 8. In der vorliegenden Arbeit und im Kontext kultureller Praktiken wird sie hier als Imagination verstanden.

98

Kennedy 2011, 95.

99

Gerade der letzte Punkt scheint mir in Bezug auf Venedig bemerkenswert, denn gerade hier scheinen die Insider zu fehlen. Der Tourist ist Teil der die Stadt bevölkernden Touristenmasse – und versucht, so zeigt es der Blick in die Reiseliteratur, auf die im Folgenden noch weiter eingegangen werden wird, sich von dieser abzugrenzen.

100 McAuley 1999, 235. 101 Vgl. weiterführend zur Frage der vermeintlichen Passivität des Zuschauers und unterschiedliche Betrachtungsweisen der Interaktion im Kontext von Aufführungen beispielsweise McAuley 1999, hier besonders Kapitel 7 The Spectator in the Space. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Kulturtouristen als Performer und Schauspieler bei Gostmann und Schatilow 2008, 18-22. Adlers Sicht auf die Entwicklung des Reisens von der Pilgerfahrt zum Massentourismus beschreibt eine zunehmende Industrialisierung einer Reise-Kunst: „Mass tourism differs from the medieval pilgrimage or the 17th-century voyage d’Italie no more than a Hollywood movie dif-

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sie auch für die Eigenpräsentation vor anderen. Reisen als performative kulturelle Praktik ist in diesem Sinne ein Prozess, den der Reisende mit Sinn versieht und zur Verhandlung eigener Zugehörigkeit nutzt, so schreibt Adler: „Performed as an art, travel becomes one means of ‚worldmaking‘ and of self-fashioning.“102 Wenn Venedig für Bierbaum nun Täuschung und zugleich Enttäuschung bedeutete, so ist dies folglich weniger auf die mangelnde Authentizität der Lagunenstadt zurückzuführen denn auf die Notwendigkeit, diese im reisenden Subjekt entstehen zu lassen. Seine Ablehnung Venedigs als Stadt der kommerzialisierten Anbiederung kann so auch als Selbstbestätigung des Reisenden gelesen werden, der sich abgrenzt von den ihn umgebenden Touristen und dies auf die Stadt projiziert, befriedigt diese doch die Bedürfnisse ihrer Besucher. Scheint das Sichtbare weniger bedeutsam als die Frage, wie es gesehen und wie es rezipiert wird, wie es auf die Imagination der Betrachter wirkt beziehungsweise wie es in der Imagination entsteht, so rücken auch die Reisenden in ihrem Erleben und ihrer Vorprägung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In Bezug auf kollektive Wahrnehmungen und Gemeinschaftserlebnisse kann man hier mit Belting von der Überblendung des Sichtbaren durch das Imaginäre sprechen.103 Ähnlich dem Theaterbesuch wird auch die Reise zu einem geteilten individuellen Erlebnis, das der Reisende sinnlich und subjektiv erfährt, das dennoch ein Gemeinschaftserlebnis bleibt, unabhängig von der direkten Sichtbarkeit eines Publikums. Durch die Lektüre der Reiseberichte, durch literarische, gemalte oder filmische (Vor-)Bilder, die meist unabhängig vom Aufenthaltsort rezipiert und konsumiert werden können, wird das Wissen um die Existenz anderer Reisender etabliert.104 Kollektiv und Individuum verorten sich somit auch in einer, teils real erfahrenen oder imaginierten, ästhetischen Gemeinschaft. Gerade vor dem Hintergrund der Entstehung des Massentourismus Ende des 19. Jahrhunderts muss

fers from an icon or a painting by LeBrun and, like the movie, may profitably be approached as a discrete, industrialized manifestation of an art with an enduring history.“ Adler 1989, 1369, Hervorhebung im Original. Vgl. auch Gostmann und Schatilow 2008, 19. 102 Adler 1989, 1368, hier mit Verweis auf Nelson Goodman (1978): Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978. 103 Vgl. Belting 2001, 74-75. 104 Dies zeigt sich beispielsweise anhand von Reiseführern, mit denen der Besucher „Auf den Spuren von…“ die neue Gegend erkundet. Damit bestimmt die vorangegangene Bereisung eines Ortes durch andere und deren Verarbeitung des Aufenthalts das Erleben des Reisenden und seine Wahrnehmung der Umgebung.

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das Reisen auch im Kontext der Ideen zum imaginären Konsum Beachtung finden.

3.2 R EISEWELT ( EN )

ALS

W ARENWELT ( EN )

Tourismus ist, an die im ersten Kapitel ausgeführten Theorien anknüpfend, im Feld des Konsums zu verorten; „Mobilität und Massentourismus“ 105 gesellen sich hier zu Bereichen wie Kleidung und Ernährung.106 Obwohl sich der Massentourismus in seinem uns heute geläufigen Verständnis und seiner bekannten Erscheinungsform erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, 107 finden sich seine Vorboten bereits Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts.108 Kennedy konstatiert: „Modernity and tourism are intertwined: as the technology of travel increased so more and more of the world became objectified as sights to wonder over or visit for private refreshment.“109 In diesem Sinne beschreibt auch Cohen das Verhalten des Touristen als Ausübung einer Konsumpraktik: „This tourist type [the organized mass tourist, DV] buys a package-tour as if it were just another commodity in the modern mass market.“110 Dabei wird das Reisen zu einer gewinnbringenden Anlage, weniger im Sinne rein materieller Wertschöpfung denn als „Mehrung diverser Kapitalien: Geld, Macht, Ruhm, Gesundheit, Seelenheil, Beziehungen, Wissen.“111

105 König 2008, 174. 106 Vgl. König 2008, 16. 107 Vgl. Spode 2013, 93-94. 108 Vgl. Cohen 1972, 165. Cohen setzt Tourismus als „[t]raveling for pleasure“ im frühen 19. Jahrhundert an und beschreibt diese Art zu Reisen als Folge weitreichender Veränderungen, vgl. ebd. 109 Kennedy 2011, 99. 110 Vgl. Cohen 1972, 167. Cohen unterscheidet in seiner Abhandlung vier unterschiedliche Reise-Typen, wobei der Tourist der gebuchten All-Inklusive-Reise am einen Ende der Achse steht und ihm entgegen der Individual-Tourist am anderen Ende. Vgl. ebd. 111 Spode 2013, 98. Aus der Perspektive des Reisenden wird allerdings auch eine Investition notwendig, so dass Geld als Kapital eingesetzt werden muss und sich verringert bzw. in andere Güter wandelt. Denn die Verbindung aus Reisen und Konsum zielt nicht nur auf den Erwerb materieller Güter. „Consumption did not mean simply buying concrete objects; it meant as well buying abstract commodities and services, such as a tour.“ Syrjämaa 2000, 180.

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Die Folgen der Industrialisierung brachten die Stadtbewohner zum Reisen, ermöglichten einerseits das Reisen durch wachsenden Wohlstand und die Entstehung von Freizeit112 und erzeugten andererseits den Wunsch, die sichtbaren Folgen des industriellen Wandels hinter sich zu lassen. Die Sehnsucht, der Großstadt und damit den ‚Nebenwirkungen‘ des urbanen Lebens, der Präsenz der Masse, zu entkommen, beschäftigte eine neu entstehende Reiseindustrie, 113 beflügelt von den Entwicklungen im Bereich des Verkehrs. Dabei ist der Transport der Passagiere nur ein Aspekt der neuen Verkehrswege, die auch Bilder und Informationen schneller zirkulieren ließen. Die zunehmend billigeren und schnelleren Reisemöglichkeiten erlaubten es, einer wachsenden Anzahl an Menschen zum Vergnügen zu reisen.114 Diese neue Mobilität sollte den Stadtbewohner aus seinem Alltag befreien und ihm eine andere Welt zeigen: „Dies, die unberührte Landschaft und die unberührte Geschichte, sind die Leitbilder des Tourismus bis heute geblieben.“115 Dabei nutzen die Reisenden eben jene die Natur verändernden und die Industrialisierung vorantreibenden Transportmittel und -wege: „Die Eisenbahnmanie verrät bereits den heftigen Wunsch, den Wohn- und Arbeitsplätzen der industriellen Revolution zu entrinnen. Aber was das Netz der Verkehrsmittel zu gestatten schien, vereitelte es zugleich.“ 116 So motivierte die Industrielle Revolution das Verlangen nach vorindustrieller, unberührter Natur, nach kulturell und technisch Unberührtem und war zugleich federführend für die Entwicklungen des modernen Tourismus verantwortlich, machte ihn erst möglich. Die Zirkulation der Güter, aber auch der Menschen veränderte den Blick und veränderte die Reiseziele. Im Rückblick auf die Entwicklungen des Transportwesens hält Schivelbusch fest: „Dieser Verkehr aber ist […] die physische Erscheinung der Warenzirkulation. Von nun an werden die Orte, die der Reisende aufsucht, den Waren immer ähnlicher, die Teil derselben Zirkulation sind. Der touristischen Reise im 20. Jahrhundert ist die Welt ein großes Kaufhaus der Landschaften und Städte geworden.“

112 Vgl. Syrjämaa 2000, 178. 113 Vgl. Enzensberger 1969, 190-191. 114 Vgl. Cohen 1972, 166. 115 Enzensberger 1969, 190. 116 Enzensberger 1969, 191. 117 Schivelbusch 2011, 174.

117

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In der immobilen Mobilität der Zugreise gleicht der Fahrgast der Ware; obwohl Konsument wird er zugleich auch selbst zur Ware, denn seine Mobilität ist eine Mobilität zweiter Ordnung, gibt er doch die Bewegung an die Eisenbahn ab. Vergleichbar einem Paket wird er verfrachtet und zum Transportgut. 118 „The experience of transit changes the traveler. Transportation alters the commodity, but it also becomes a commodity itself – the train ticket.“119 Die Reise selbst wird wie der Reisende zur Ware. Das Ticket ist die haptische Materialisierung der Reise, das sich zudem zu einem persönlichen Souvenir wandeln kann. Die Paradoxie des Tourismus zeigt sich in dem Wunsch nach Authentizität und der notwendigen Kommodifizierung des Erlebnisses, in der Einbettung der Reise in einen ökonomischen Kreislauf, der sie erst möglich macht und der die Reise zu einem Angebot für viele werden lässt. Das Authentische, das nicht Reproduzierbare, das sich der Warenwerdung qua Definition widersetzt, wird einerseits gesucht120 und andererseits verändert, erst für eine Vielzahl an Menschen durch die Einbindung in einen Wirtschaftskreislauf zugänglich und erfahrbar gemacht. Schließlich wird es durch Reiseberichte, durch Postkarten und Souvenirs auch plurimedial vervielfältigt, verdinglicht, transportabel und visuell wie materiell konsumierbar gemacht. Die neuen Reisemöglichkeiten wurden auch innerhalb der Metropolen sichtbar: In Passagen und Arkaden, in den Transiträumen des urbanen Lebens installierten sich Reisebüros, wie beispielsweise am Eingang der Linden-Passage in Berlin.121 In Freizeitparks wie Venedig in Wien verband sich der hier ermöglichte imaginäre Konsum einer Reisefantasie mit konkreten Kaufentscheidungen, wenn direkt vor Ort eine Fernreise bei der Reiseagentur Schenker & Co gebucht und so die gerade lokal vollzogene Reise als ‚Startpunkt‘ für weitere, globale Reiseaktivitäten genutzt werden konnte.122 Auch gab es hier ein Postamt, wo man Post-

118 Vgl. hierzu Buschauer 2010, 50; den Vergleich des Reisenden mit einem Paket hat bereits John Ruskin gezogen, vgl. ebd. 119 Friedberg 1993, 56. 120 Zur Verbindung von Kommodifizierung und Tourismus unter besonderer Berücksichtigung der Idee des kulturellen Erbes und der Traditionspflege im Ritual vgl. Luger 2010, 27. 121 Friedberg bezieht sich hier auf Kracauer 1987, 26, vgl. Friedberg 1993, 76. Vgl. hierzu auch Neumeyer 1999, 351f. Syrjämaa beschreibt, wie sich Reisebüros gerade an den viel frequentierten Plätzen innerhalb der Städte ansiedelten, vgl. Syrjämaa 2000, 188ff. 122 Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 49.

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karten erwerben und versenden konnte.123 Über die Postkarten wurden ikonografische Motive einer Stadt weit verbreitet; Anett Holzheid spricht von einer „Kultur der Postkarte“: „Dass die Karte in prägender Weise in die Kultur diffundierte, zeichnete sich spätestens durch das Aufkommen der Bildpostkarte ab.“ 124 Ihre Verbreitung ist so groß, dass Brahm und Orth sie als Massenmedium des 19. Jahrhunderts bezeichnen können.125 Als Beleg der tatsächlichen Reisebewegung ist sie ein Gruß aus der Ferne und „Vorgeschmack auf die zu erwartenden detaillierten Schilderungen“126. Mit dem Versenden der Karten aus dem Freizeitpark wurde nicht nur der touristische Akt einer Reise komplettiert, sondern diese auch als Gesprächsthema über den Kreis der Anwesenden hinaus erweitert. Die Postkarte ist dabei eine ins Bild übertragene Ortserfahrung, der das persönliche Moment durch die handschriftliche Nachricht auf der Rückseite eingeschrieben wird.127 Nach Marvin und Darvis sind Postkarten „expressions of the quintessence of placeness“.128 Sie verbinden das Fremde mit dem Vertrauten: „[T]he postcard is a convenient vehicle for linking here with there, the other with the familiar“129. Für den Themenpark erzeugten sie die Illusion der Ferne im Kontrast zu der ihn umgebenden Metropole. Die Metropole um 1900 war zugleich Start- und Zielpunkte für Reisende, gleichzeitig „tourist-generating area“ und „tourist destination area“130. Während einerseits verstärkt in die Ferne gereist werden konnte, wurde andererseits auch das Reisen vor Ort erleichtert und auch die Großstadt zum attraktiven Reiseziel, das mit unterschiedlichsten Zerstreuungen lockte. Die Warenhäuser brachten das Ferne und Fremde in die Wohnräume, sichtbar anhand der orientalisierten Ornamente, die Gebrauchsgegenstände zierten, oder an historischen Verweisen, wie sie Trends zu unterschiedlichen Neo-Stile (Neo-Rokoko, Neo-Gotik und dergleichen) belegen.131 So wurde das Unbekannte und Exotische ins Private ge-

123 Vgl. Rubey und Schoenwald 1996, 49. 124 Holzheid 2011, 269. 125 Vgl. Brahm und Orth 2005, 21. 126 Storch 2009, 24. 127 Vgl. Davis und Marvin 2004, 268. 128 Vgl. Davis und Marvin 2004, 269. 129 Davis und Marvin 2004, 270. 130 Syrjämaa 2000, 177. 131 Vgl. Storch 1995a, 14. Auch mit Blick auf die Landschaftsarchitektur lässt sich eine solche Erweiterung der visuellen Zitate und Exotisierung nachverfolgen, so hält Storch mit Blick auf die englischen Gärten des 18. Jahrhunderts fest, dass hier eine

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rückt, „die Welt ins Haus“132 geholt. Ursula Storch beschreibt die Entwicklung des Reisens mit Blick auf eine imaginäre Raumerfahrung, die einer leiblichen vorgreift oder sie gar ersetzt, mit Blick auf Völkerschauen und Panoramen, die die Fremde und Ferne in die Metropolen brachten. Sie schreibt: „So […] begeisterten sich viele Menschen der verschiedenen Bevölkerungsschichten speziell im 19. Jahrhundert in ganz Europa für alle Arten von Reiseillusionen. Sie hatten (Fantasie-)Bilder der Welt im Kopf, die ein Eigenleben entwickelten, zugleich aber immer wieder überprüft werden wollten. So entstand mit der Zeit eine eigene Industrie von Schaustellungen, die dem Heißhunger des Publikums auf ferne Weltgegenden nachkam. Abgesehen von der meist auch unterhaltsamen Note ist dabei die Umkehrung der Ausgangsposition signifikant: nicht mehr nur der Wissbegierige muss sich bewegen, um ein anderes Land oder einen anderen Kontinent kennen zu lernen, sondern die ganz Welt kommt zu ihm und reist dann wieder weiter, zum nächsten neugierigen Publikum. Dieses Phänomen, das vor allem in Großstädten anzutreffen war, stellt ein wesentliches Segment 133

der europäischen Kulturgeschichte des Vergnügens dar […].“

In Museen, Weltausstellungen und Freizeitparks, im Theater und später auch im Kino wurde eine graduell zu unterscheidende Form immobiler Mobilität 134 ermöglicht und die Welt aus dem Zuschauersitz heraus betrachtbar. Im Nachdenken über Reise und Imagination, über die Verbindung aus konkreter und imaginärer Reise durch Zeit und Raum fällt der Blick auch auf das Kulturphänomen des Panoramas,135 das noch vor dem europaweiten Siegeszug der Eisenbahn dem wachsenden Reisebedürfnis des städtischen Publikums entgegenkam.

„Öffnung gegenüber einer anderen Welt und Flucht vor dem Gewohnten“ stattgefunden habe, Storch 1995a, 12. 132 Storch 1995b, 125. 133 Storch 2009a, 15. 134 Vgl. Friedberg 1993, 61. Friedberg stellt hier eine körperliche Immobilität des Kinozuschauers einer erhöhten Mobilität des Blicks gegenüber. 135 Zur Verbindung von Panorama und Theater und zur näheren Analyse der visuellen Kultur in Deutschland im 19. Jahrhundert vgl. Leonhardt 2007.

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3.2.1 Panoramen und imaginäres Reisen Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Bilder. 136 Die „Sucht nach dem Visuellen, die das 19. Jahrhundert wie ein Leitmotiv durchzog, wurde von einem Vergnügungs- und Unterhaltungsgewerbe befriedigt, das mit technischen Innovationen hervortrat.“137 So war auch das Reisen eingebettet in eine Kulturindustrie der Bilder, besonders eindrucksvoll sichtbar an der Mode der Panoramen. Das Panorama steht für eine „Allsicht: Fernsicht, Übersicht, Rundsicht, retrospektive Illusion, Übersicht, Still-Leben der Sehnsucht in allen Dimensionen.“138 Die Entwicklung dieses neuen Bildmediums im „Zeitalter der Illusion“ 139 ist bezeichnend für das Ineinandergreifen technischer und kultureller Veränderungen, wie sie sich auch auf den Theaterbühnen im 19. Jahrhundert materialisierten. Zu reisen, ohne den Ort zu wechseln, wurde bereits im 18. Jahrhundert möglich durch Guckkästen,140 die allerdings nur für einzelne Betrachter konzipiert waren,141 dann durch Panoramarotunden, die die imaginäre Reise in der Gruppe ermöglichten,142 durch mit verschiedenen Beleuchtungsmitteln belebte Dioramen143 und später auch durch flexible Kleinpanoramen, durch Kaiserpanoramen144 und auch durch bewegte Panoramen.145 Storch beschreibt dieses wach-

136 Vgl. Fiebach 1995, 17. Vgl. weiterführend Leonhardt 2007. 137 Geyer und Hellmuth 2003, XVI. 138 Weber 1993, 20, Hervorhebung im Original. 139 Hiermit verweist Sennett auf den Theaterhistoriker Richard Southern, vgl. Sennett 2004, 228; vgl. ebenso Storch 1995, 10. 140 Vgl. hierzu Storch 2009, 15-16. 141 Vgl. Storch 2009, 16. 142 Vgl. Storch 2009, 16. 143 Vgl. Storch 1995, 11. Vgl. auch Storch 2009, 17. Storch konstatiert, dass das Diorama „der räumlichen Illusion […] die zeitliche“ hinzufügte, ebd. 144 Das Kaiserpanorama ermöglichte die Betrachtung von dreidimensionalen Aufnahmen: Mithilfe der Stereoskopie konnte räumliches Sehen imitiert werden. Das Rondell des Kaiserpanoramas ermöglichte es mehreren Menschen, die hier im Kreis nebeneinander saßen und jeweils durch ein eigenes Guckloch schauten, die einzelnen Bilder zu betrachten, die dann zum nächsten Betrachter weiterbewegt wurden. Vgl. Storch 2009, 20. 145 Gerade als das Reisen noch nicht allen möglich war, erfreute sich diese Form der imaginären Reise großer Beliebtheit, bevor sie von den neueren Medien überflügelt wurden, vgl. Storch 1995, 120. Vgl. zur Verbreitung von Panoramen und anderer Bildmedien wieder Leonhardt 2007.

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sende Angebot an Illusionsmedien im Kontext einer Auseinandersetzung mit einer zeitgenössischen „Verzerrungen“146 der Wahrnehmung, begründet durch „[d]ie fortschreitende Technisierung, die industrielle Revolution und die Relativierung von Raum und Zeit“147, die vor keinem Lebensbereich Halt machten und „neue Betrachtungsweisen“148 provozierten und evozierten. „Das Panorama präsentiert den eingebrachten Raum und die geraffte Zeit als Hier und Jetzt, worin der Betrachter sich finden soll. […] Die Grundidee ist vollkommene Täuschung.“149 Als detailverliebtes Abbild zielte das Panorama auf Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit und die Perfektion der Illusion. Die Entwicklung des Panoramas als metropolitane Unterhaltungsform setzte, folgt man Bruno Weber, bereits mit den Landschaftsbildern des 15. Jahrhunderts ein.150 1788 erstmals durch den Iren Robert Barker der Öffentlichkeit präsentiert,151 zeugte die Entstehung des Panoramas von einer Nähe zur Illusion der Theaterbühne, liest man es als Kulisse und Hintergrund der Imagination des Betrachters.152 Erste Motive waren Stadtansichten, unter anderem London 153 und Paris; nicht selten wurde eine Rundumsicht der Stadt als Motiv gewählt, in der sich das Panorama befand, womit es teils in direkter Konkurrenz zum Original stand – eine besondere Herausforderung für die Ausführenden. Um das schnell ermüdende Publikumsinteresse längerfristig wach zu halten, wandelten sich die

146 Storch 1995, 11, im Verweis auf Baltrušaitis 1984, 6. 147 Storch 1995, 11. 148 Storch 1995, 11. 149 Weber 1993, 21. 150 Vgl. Weber 1993, 20f. 151 Das Patent hierzu hatte er bereits 1787 angemeldet, vgl. Wilcox 1993, 29. 152 „Sämtliche Elemente des Panoramas waren im britischen Bühnenbild und Theaterdesign, in den illusionistischen dekorativen Entwürfen und in der topographischen Malerei im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts vorgegeben. Vor allem die Vedute, die eine Stadt oder Landschaft in einem eindringlich horizontalen Format darstellte, muß Barker angeregt haben.“ Wilcox 1993, 28; zur Verbreitung der Bilder von Venedig und vor allem der für die Stadt ikonischen Sehenswürdigkeiten wie Markusplatz mit Campanile und Basilika, Rialtobrücke, Canal Grande und Gondoliere vgl. auch Davis und Marvin 2004, 262. 153 So schreibt Mattl: „Man könnte meinen, das ‚moderne‘ London feierte sich mit den Panoramen selbst. […] Das Beispiel Londons sollte Schule machen, denn überall suchte sich das Panorama zunächst jene Stadt als bevorzugtes Thema, in der es errichtet wurde.“ Mattl 2009, 38.

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Motive von der exakten Abbildung154 hin zur Imitation zeitlicher Abfolgen.155 Dem nun häufiger reisenden Bürger, einem „mobilen Berufsmenschen“156, konnte der Panorama-Aufbau sowohl eine Ferne geografischer als auch zeitlicher Natur präsentieren, ohne dass der vertraute Raum verlassen werden musste. Die Historiendarstellungen157 Ende des 19. Jahrhunderts läuteten eine zweite Hochphase der Panoramenmode durch die Abbildung nationalstaatlicher Themen ein.158 Panoramen wurden rentabel durch einen transnationalen Austausch, so zirkulierten die Leinwände mit unterschiedlichen Motiven in verschiedenen Städten und Ländern.159 Dies musste aber auch die Motivauswahl beeinflussen, waren doch Stadt- und Landschaftsabbildungen besser geeignet für den grenzüberschreitenden Einsatz denn die Abbildung historischer Ereignisse mit nationaler Färbung.160

154 Durch das wachsende Angebot wurden die Bilder aber auch unsauberer und mangelhafter, so dass sie „zuletzt bestenfalls als Jahrmarktsunterhaltung“, aber nicht mehr für das gebildete Publikum attraktiv erschienen, vgl. Oettermann 1993, 47. Auch Sternberger beschreibt einen Wandel in der Entwicklung der Panoramen, deren Faszination mit einem Moment der Entrücktheit begann und sich zu einer Begeisterung für die technische Perfektion gewandelt habe, vgl. Sternberger 1974, 1516. 155 Vgl. Wilcox 1993, 34. 156 Plessen 1993b, 13. 157 Plessen 1993b, 13. 158 „Um 1880 kam es international zu einer Wiederbelebung der Panoramamalerei. Der Impuls dazu ging von Frankreich aus.“ Oettermann 1993, 47; Oettermann erklärt die Beliebtheit der Panoramen über ihre Funktion der Ermöglichung eines kostengünstigen Besuchs entfernter Regionen für die Besucher Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Ebd., 48. 159 Vgl. Oettermann 1993, 44. 160 Gerade in den Anfängen war dies beispielsweise im Deutschen Reich noch durch die Kleinstaaterei erschwert, weshalb hier vorerst dem auf kleinere Städte verteilten Publikum erfolgreicher Kleinpanoramen, auch Cosmoramen, vorgeführt werden konnten. Hier fanden auch „Zimmerreisen“ ein Publikum. Vgl. Oettermann 1993, 49. Die Panorama-Unternehmen bedienten mit ihren Angeboten nationale wie internationale Märkte, offenbarten jedoch ihre Herkunft nach Möglichkeit nicht, waren national-patriotistische Themen in der Panoramamalerei en vogue. „Wie aber hätten deutsche Hurrapatrioten reagiert, wenn allzu publik geworden wäre, daß an der ma-

140 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG „So wie die Panoramen und Dioramen zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch ihren bis zur Illusion gesteigerten Realismus präphotographisch waren, also die menschliche Warhrnehmungsfähigkeit [sic!] auf das photographische Abbild vorbereiteten und die Erfindung der photographischen Technik herausforderten, so kann man Panoramen und Stereoskope gegen Ende des Jahrhunderts als ‚vorfilmisch‘ verstehen. – Nicht was ihren Beitrag zur Fortbildung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit betrifft, auch nicht in Bezug auf die technische Entwicklung, sondern einzig und allein auf die Organisations- und Finanzierungsstrukturen, die optische Massenkommunikation erst möglich machen.“

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Wie Stephan Oettermann spricht auch Siegfried Mattl von einer ökonomischen Zirkulation, von „einem freundschaftlichen Wettbewerb zwischen den modernen Großstädten“, die mit Panoramen aufwarten konnten und einen „intensiven Stadtpanorama-Handelszyklus“162 beförderten. Die Ferne rückt näher – dafür ist zugleich ein Verlust von Tiefe feststellbar, der auch im Panorama Ausdruck findet. „War das Panorama in seiner Frühphase noch ein Trainingsraum zur Imagination von Grenzüberschreitung – die geöffnete, überschreitbare Grenze war das herrschende Erfahrungsmuster des späten 18. Jahrhunderts – so ist Weiträumigkeit im späten 19. Jahr163

hundert nur noch als eine in sich kreisende Zirkulation erfahrbar.“

Im Zentrum dieser Kreisbewegung findet sich in der Panorama-Rotunde das Subjekt wieder, denn in der Rotunde folgt der Aufbau des Bildes der Kreisform der Außenmauer, so dass der Besucher sich ins Zentrum des Aufbaus stellen kann und von diesem Punkt aus das Bild betrachten. In einer Rundumsicht wird aus dem Blickwinkel des Betrachters und für den Betrachter geordnet und sortiert und alles präsentiert.

lerischen Darstellung der ruhmreichsten deutschen Siege vor allem der ‚Erbfeind‘ verdiente?“ Oettermann 1993, 49. 161 Oettermann 1993, 51. „Tatsächlich ist das Kino die Quintessenz aus allen Bemühungen im 19. Jahrhundert, die Sehsucht zu befriedigen: Vom Panorama übernimmt es Realismus und Monumentalität, vom Diorama die Bewegung durch das ‚Spiel des Lichts‘, von der Photographie das technische Verfahren, vom Riesenrundgemälde Organisation und Finanzierung der Produktion; das Stereoskopen-Kaiser-Panorama steht Pate für den Vertrieb.“ Ebd. 162 Mattl 2009, 38. Mattl bezieht sich dabei auf die Zeit nach die Napoleonischen Kriege. 163 Vgl. Giersch 1993, 96.

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„Das Panorama führt den kreisenden Blick entlang einer die gesamte Darstellung durchziehenden Bewegungsmatrix; denn die sich vom Faux terrain bis über die Leinwand erstreckende Topographie ist durch ein Netz von Blickbahnen in einer Weise erschlossen, wie es schon wenig später die wirkliche Landschaft dank eines neuen Verkehrsnetzes sein wird. Die Mobilisierung und Regulierung der Blicke mithilfe der neuen Massenmedien antizipiert und reflektiert die wenig später erfolgende Mobilmachung der Körper in den neuen Transportmitteln und -wegen.“

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Die Rotunde animierte den Betrachter auch selbst zur Bewegung:165 Durch eine Drehung um die eigene Achse eröffnete sich ihm der Rundumblick, stand der Betrachter im Zentrum eines Rundbaus und des ihn umgebenden Panoramas. In diesem Prozess einer leiblich-visuellen Aneignung wurde im Panorama das Abbild animiert und zu einer eigenen, körperlichen Erfahrung. Die körperliche Konfrontation bedingte, so Giersch, dass die Bilder „dem Gedächtnis einverleibt“166 wurden. Auch die Freizeitparks nutzten die Panorama-Malerei als zusätzliche Attraktion und erweiterten mit ihrer Hilfe den nachgebauten Raum. Im Ausstellungsführer von Venedig in Wien wird „das prächtige Panorama des Marcusplatzes und der Seufzerbrücke“167 als „Juwel“168 angekündigt, als visuelles Highlight. Für dieses Panorama wird auf die Wirkmacht der Bühnenmalerei vertraut, die „diese unvergleichlichen architectonischen Objecte in einer ebenso täuschenden wie zum Theile ganz neuartigen Weise dem Beschauer vor das entzückte Auge zaubert – ein im vornehmsten Sinn künstlerisches Ausstellungswerk der Hoftheatermaler Brüder Kautsky 169

& Rottonara.“

164 Giersch 1993, 96. 165 „Das Besondere besteht jedoch in der Architektur, dem zylindrisch gerundeten Bildraum, der die Orientierung in dieser Datenlandschaft wesentlich erleichtert. Denn das körperliche Orientierungssystem ist nun einmal durch die Koordinaten des realen Raumes, an das Vorn und Hinten, Oben und Unten, konditioniert.“ Vgl. Giersch 1993, 94f. Vgl. hierzu auch den Einsatz des Rundhorizonts auf der Theaterbühne, wie er bspw. in Bayreuth eingesetzt wurde, vgl. Giersch 1993, 97. 166 Giersch 1993, 95. 167 Steiner 1895, 14. 168 Steiner 1895, 14. 169 Steiner 1895, 14, Hervorhebung im Original gesperrt.

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Und gerade hier, in der Umsetzung als Bühnenprospekt, findet so mancher Journalist das Wesen der Stadt ausgezeichnet wiedergegeben: „Uebrigends ist im Prater auch Gelegenheit geboten, einen Blick auf das wirkliche Venedig zu thun. Man tritt in einen dunklen Laubgang, und plötzlich sieht man durch einen sich seitwärts öffnenden Bogen auf den Marcusplatz und die Piazetta. Die Täuschung ist eine vollkommene. Man glaubt, daß man den Bogen nur zu durchfahren brauche, um auf den offenen Platz hinaustreten zu können. Noch einen Schritt weiter, und abermals blickt man durch einen Bogen in den Canal, über den sich die Seufzerbrücke zwischen dem Dogenpalast und dem Staatsgefängnis wölbt. Kautsky und Rottonara haben da wieder einmal zwei Meisterstücke ihrer Panorama-Malerei geliefert, die schon heute von den Wienern mit Ausrufen des Erstaunens und Entzückens begrüßt wurden.“

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Das Abbild wird hier zur Wirklichkeit erklärt und als ‚wirkliche‘ Darstellung Venedigs begrüßt. Die vermeintlich perfekte Täuschung scheint dabei nicht weniger körperlich erfahrbar als die begehbaren Rekonstruktionen. Der Besuch in der Lagunenstadt scheint erst hier, in der visuellen Vor-Täuschung des touristischen Stadterlebens im Ab-Bild und damit in der Zitation der visuellen Vorprägung der Erwartung an die Stadtansicht, perfektioniert. Das zweidimensionale Panorama wird durch den Park zum Erlebnis, hier geradezu im Sinne eines ‚Theater der Immersion‘171 erfahrbar, wenn der Besucher sich fühlte, als sei er selbst Teil des Bildes, als könne er sehen „from within the picture.“172 Als frühes Massenmedium steht das Panorama für eine spezifische Art der Weltaneignung, es kann als Vorbereitung einer neuen Reiserfahrung gelesen werden. Dabei hat die Illusion, Schütze folgend, eine wirklichkeitskonstituierende Funktion: „Nimmt man sie [die Reise-Illusionen, DV] als Realität […] und nicht als Ersatz, muss man anerkennen, dass sie sich in den Alltag einmischen. Sie nähren Träume und erfüllen Wünsche, sie verzaubern ihren Gegenstand oder entzaubern ihn, indem sie ihn als bloße Illusion entlarven; meistens ist beides nicht voneinander zu trennen.“

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Das Imaginäre als Mittler zwischen Fiktion und Realität nährte sich auch aus den Panoramen. Während im Panorama der Betrachter selbst noch Ursprung der

170 Anonymus 1895a, Hervorhebung im Original gesperrt. 171 Vgl. Vanhoutte und Wynants 2010, 47. 172 Vanhoutte und Wynants 2010, 47. 173 Schütze 2009, 28.

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(Kreis-)Bewegung war, er die Geschwindigkeit steuerte und somit eine „beruhigende Mobilität“174 erlebte, mit der er seinen Blick wandern lassen konnte, wurde in den neuen Transportmitteln der Blick passiv bewegt. 3.2.2 Mobile Reise-(T)Räume Am Anfang der Geschichte des Bahnreisens steht die Verbindung aus Eisenbahnfahrt und Spektakel. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Entwicklungen der Dampflock als Attraktion spielerisch präsentiert: So baute der Engländer Richard Trevithick mit „Catch-Me-Who-Can“ 1808 eine Lok auf, auf der man in einem Schienenkreis gegen einen Obolus mitfahren konnte. Durch die Rundfahrt erhielt man einen Eindruck der neuen, pferdelosen Kutsche und eine Idee der Möglichkeiten dieser Technik. Das Fahrgeschäft war jedoch, so zeigt es eine zeitgenössische Abbildung von W. J. Welch, 175 von einem Lattenzaun umgeben, wodurch der Blick nur auf den beschränkten Innenkreis oder eben die Zaunbretter gerichtet werden konnte, so dass hier die Attraktion vor allem in der Bewegung, nicht jedoch in der Veränderung der Blicklandschaft und somit der Wahrnehmung lag. Mit der weiteren Entwicklung und Verbreitung wurde die Eisenbahnreisen Teil eines Unterhaltungsangebots und die Reise selbst ähnelte um 1900 bereits in bestimmten Aspekten dem Besuch einer Theateraufführung.176 Auch imitierten die Bahnhofsgebäude in ihrer Anlage und Architektur, durch ihre Vorhallen und ihre zentrale Verortung in unmittelbarer Nähe zum metropolitanen Unterhaltungsangebot, die Architektur der städtischen Theater. 177 Wolfgang Kaschuba hält fest: „Die ersten Bahnstrecken und Bahnhöfe sind in den Landschaften und Städten fast wie Theaterbühnen inszeniert, um die herum sich das staunende Publikum sammelt.“178 So wurde die Fahrt mit der Eisenbahn zu einem kulturellen Akt, für den bereits die Bahnhofsgebäude ein visuelles Zeichen setzten und die auch entsprechend rezipiert wurde. „Gerüchte und Presseberichte, orale und mediale Kommunikation wirken hier zusammen und lassen sie [die Eisenbahnfahrt] tatsächlich zu ‚großem Theater‘ geraten, zum kulturellen Ereignis und äs-

174 Giersch 1993, 96. 175 Abgedruckt bei Trevithick 1872, 194. 176 Vgl. Trevithick 1872, 192-195. 177 Vgl. Kaschuba 2004, 96. Friedberg vergleicht die Architektur der Warenhäuser mit den Bahnhöfen, die ebenfalls die Idee von Ankunft und Abfahrt generieren, vgl. Friedberg 1993, 112. 178 Kaschuba 2004, 96.

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thetischen Erlebnis.“179 Auch Schivelbusch zieht eine Parallele zum Theater und deutet dabei die Möglichkeit der Aushandlung von Zugehörigkeit an: „Die Reise in eine mit der Eisenbahn erreichbare Gegend erscheint als nichts anderes denn der Besuch eines Theaters oder einer Bibliothek. Der Kauf eines Eisenbahnbillets bedeutet dasselbe wie der Erwerb einer Theaterkarte. Die Landschaft, die man mit dem Billet erwirbt, wird zur Vorstellung. Sie gehört zur Eisenbahnlinie wie die Bühne zum Theater.“

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In diesem Sinne bildet die Fahrt mit der Eisenbahn eine prägende kulturelle und soziale Praktik. „Kurz: Die Reisekultur der Eisenbahn wird als ein zentrales gemeinsames und öffentliches Kulturmuster der Moderne erfahren – und propagiert.“181 Als kostengünstige Reisemöglichkeit erlaubte die Eisenbahn einer großen Anzahl von Menschen, sich rasch von A nach B zu bewegen und nun schneller und komfortabler die Sehnsuchtsorte zu erreichen. Die Distanz zwischen Ländern und Nationen wurde als verkürzt wahrgenommen, da Entfernungen nun in kürzerer Zeit überwunden werden konnten. Der Raum schien zu schrumpfen beziehungsweise er wurde, wie es Heinrich Heine ausdrückte, durch die Eisenbahn „getötet“: „In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.“

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179 Kaschuba 2004, 81. 180 Schivelbusch 2011, 40. 181 Kaschuba 2004, 96. 182 Heine 1896, 360, hier zitiert nach Schivelbusch 2011, 39. Die schnellere Fortbewegung beschreibt Heine als Raumvernichtung: „Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig …“ Vgl. ebd. Zur Interpretation und historischen Verortung des Heine-Zitats sowie zur Rezeption vgl. Buschauer 2010, 27f. Regine Buschauer macht deutlich, wie diese Idee einer Raumerweiterung, die sich zugleich als Vernichtung des Raumes lesen lässt, im Zentrum der kontroversen Diskussionen um die Eisenbahn stand. Vgl. Buschauer 2010, 38. Paul Virilio greift den negativen Aspekt der Raumzerstörung auf und erweitert ihn von der räumlichen auf eine gesellschaftliche Dimension: „Die Dampfmaschine ist eine Kriegsmaschine, sie destruiert beziehungsweise dekonstruiert das gesellschaftliche

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Mit der technischen Mobilität wurde der Fortschritt allgegenwärtig. Ein scheinbar unendliches Schienennetz entzog sich am Horizont den Augen, ohne dort zu enden; dieses Netz strukturierte den Raum und machte ihn durchdringbar, steigerte seine „Leitfähigkeit“183 für die Bewegung, wie Paul Virilio schreibt, und erhöhte damit das Tempo seiner „Auflösung und Zerstreuung“ 184. Die Eisenbahn, so Virilio weiter, verändert den Raum und „bildet den Ursprung eines neuen Katasters“185. Die Eisenbahn brachte das Ferne in Form von Gütern, aber auch durch Informationen näher, sie ermöglichte eine Verdichtung des Austauschs von Eindrücken, ein Nebeneinander von Bildern unterschiedlicher Provenienz. Dabei, so Prein, produzieren „vehikulare Maschinen“ und „mediale Maschinen“ einen ähnlichen Effekt, nämlich „einen Blick, der durch Raum und Zeit gleitet, indem sie räumlich und zeitlich entfernte Dinge zusammenrücken […].“ 186 Die Geschwindigkeit der Reise übte den schnellen Perspektivwechsel und den Umgang mit der Bilderflut ein – was sich noch verstärkte als auch die Fotografie in ihrer Entwicklung zum Film zum bewegten Bild wurde.187 So hält Hachtmann die Eisenbahnfahrt für eine geradezu vorfilmische Erfahrung, eine fahrbare Kinovorstellung, bei der für den Reisenden die vorbeiziehenden Gegenden zu „eine[r] Art dreidimensionale[m] Landschaftsfilm“188 wurden. Sternberger argumentiert für einen „panoramatischen Blick“189: „Die Eisenbahn bildete die neu erfahrbare

Kontinuum; die Bewegung ist nicht mehr bloß die Seele des Krieges, sondern wird zu der des technischen Fortschritts, der sich dem Mythos der Omnipräsenz nähert.“ Virilio 1978, 27. 183 Virilio 1978, 28. 184 Virilio 1978, 28. 185 Virilio 1978, 28. 186 Prein 2005, 119. 187 Vgl. Storch 1995, 123. 188 Hachtmann 2007, 74. 189 Schivelbusch 2011, 59. Einerseits prägte die Wahrnehmung von „All-Sicht“ und „Fernsicht“ im Panorama die Entwicklung des Reisens. Andererseits wurde auch aus dem Zugfenster eine Aussicht gewährt, die einen Fernblick ermöglichte. Durch die Geschwindigkeit jedoch gingen die Details verloren, vgl. Schivelbusch 2011, 59. Vgl. auch Fiebach 1995, 26-27. Bei Sternberger wird dies zu einer generellen gesellschaftlichen Tendenz: „Kurzum, die Ausblicke aus den europäischen Fenstern haben nun ihre Tiefendimension vollends verloren, sind nur Teile ein und derselben Panoramawelt geworden, die sich ringsum zieht und überall nur bemalte Fläche ist.“ Sternberger 1974, 53.

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Welt der Länder und Meere selber zum Panorama aus.“ 190 Die vorbeiziehenden Landschaften prägten die Wahrnehmung der Reisenden, die schnelle Abfolge an Eindrücken gewöhnte an rasch wechselnde Motive, was wiederum zurückwirkte auf den Bilderhunger als gesamtgesellschaftliches Phänomen des 19. Jahrhunderts.191 Die erhöhte körperliche, aber auch die technische Mobilität, wie sie im 19. Jahrhundert mit der Eisenbahn neu erfahrbar wurde, brachte via Reisebillet – vergleichbar dem Eintritt in das Warenhaus, zu den Weltausstellungen oder den Freizeitparks – dem Einzelnen die Welt näher, machte das Fremde und Ferne verfügbar. Reisen wurde erschwinglich und mit der Bahn einer größeren Anzahl an Menschen möglich; so hingen die Entwicklungen des Verkehrs und des Reisens eng zusammen: „Sie [die Eisenbahn] gilt zu Recht als Geburtshelferin des frühmodernen Massentourismus.“192 Die bessere Erreichbarkeit machte auch neue Reiseziele attraktiv und bedingte die „Suche nach der sich unaufhörlich nähernden Ferne“193. Die Eisenbahn wurde Mittler der neuen Verfügbarkeit der Welt; „[s]ie [die Kraftmaschinen] eröffneten in einer neuen und bis dahin ganz unerhörten Weise die Welt, die Länder und Meere.“194 Diese Annäherungen müssen jedoch zugleich in Verbindung mit neuen Mitteln der Abgrenzung gedacht werden, denn mit dem Siegeszug der Eisenbahn erfolgten Grenzkontrollen nun nicht mehr nach dem Prinzip einer „‚Kontrolle im Raum‘“195, so Kaschuba. Statt der zuvor üblichen Überprüfung von Reisenden an Gasthöfen wurden nun Grenzlinien markiert, verstetigt und verfestigt; Grenzen wurden zu einem „permanenten ‚Ort im Raum‘, fixiert als Kontrollerfahrung“.196 Durch die Erhöhung der Reisegeschwindigkeit erfolgten solche Kontrollen auch in immer kürzeren Abständen. So beschleunigte sich auch der Prozess einer Differenzierung, da ei-

190 Sternberger 1974, 46. 191 Vgl. Storch 1995, 11. 192 Gyr 2010. Hachtmann bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Am Anfang des modernen Tourismus steht die Eisenbahn.“ Hachtmann 2007, 9 Susanne Müller beschreibt den Beginn einer weiteren Phase des Reisens in den 1930er Jahren, in welcher die Eisenbahn vom Automobil verdrängt wurde, statt Natur die Großstadt lockte und sich der bildungsbürgerliche Reisende dem reisenden Angestellten und Arbeiter gegenüber sah. Vgl. Müller 2012, 23. 193 Sternberger 1974, 46. 194 Sternberger 1974, 46. 195 Kaschuba 2004, 77. 196 Kaschuba 2004, 77. Vgl. auch weiterführend zur Thematik von Grenze und Nation Anderson 1996, 15.

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ne nationale Vereinnahmung von „Landschaften, Baustilen, Sprachräumen und Atmosphären“197 stattfand. Für Prein verbindet sich im Reisen ein physischer Vorgang mit einem Vorgang der Imagination: „Das Reisen eignete sich im 19. Jahrhundert besonders zur Einübung dieser ‚panoramatischen‘ Wahrnehmung, da es die Bewegung im Raum mit der Erfahrung medial produzierter, imaginärer Geografien verknüpfte.“198 Im Reisen verband sich also das Sichtbare mit der Vorstellung und festigte die Imagination: „Die Schauplätze des Sehenswürdigen verliehen den Imaginationen unter Umständen einen geradezu magischen Halt. Umgekehrt hing die Attraktivität eines Ortes davon ab, wie gut er den Imaginationen Halt zu geben vermochte. Reisen hieß sehen und sehen hieß alles mögliche [sic!] mit medialer Hilfe sehen. Reisende bewegten sich gewissermaßen in einer imaginären Geografie.“

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Der Autor beschreibt hier einen visuellen Mehrwert, der zugleich ein imaginärer ist. Reisen als physische Praxis ist also auch eine imaginäre, wird der bereiste Ort im und durch das reisende Subjekt zum erlebten Raum, durch dessen Bewegungen, Handlungen und Vorstellungen in ihm und für es hervorgebracht.200 Für den Literaturwissenschaftler Said umfasst die hier benannte Idee der „imaginären Geographie“201 die Komponenten der Abgrenzung und Zuschreibung als Mittel der Orientierung in der Welt. In seinem Buch Orientalism von 1978 – vielfach kritisiert202 und dennoch weiterhin ein wichtiger Referenzpunkt der For-

197 Kaschuba 2004, 77. 198 Prein 2005, 119. 199 Prein 2005, 151. 200 Edward Said weitet dies vom Raum auf die Zeit, auf Geschichte und Geographie aus, wenn er schreibt: „Yet there is no use in pretending that all we know about time and space, or rather history and geography, is more than anything else imaginative.“ Said 2003, 55. 201 „Imaginative Geography“, Said 2003, 49. 202 Saids Buch gilt als prägender Moment der Postkolonialismusforschung, wurde mittlerweile aber auch kritisiert, so für die einseitige Zeichnung einer vor allem vom Westen ausgehenden Machtausübung, insbesondere Frankreichs und Englands, später auch der USA. Zu einer Verortung des Buches und seiner Kritik vgl. Schäbler 2012, 43f.

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schung203 – vertritt Said die These eines konstruierten anderen Europas am Beispiel des Orients. Dieser sei als identitätsstiftendes Anderes des Westens kreiert worden, eine romantisch-exotisierte westliche Vorstellung: „The Orient was almost a European invention, and had been since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes, remarkable experiences.“204 Der Orient als das Andere diente als Kontrastfläche des Eigenen, zur Abgrenzung der eigenen Kultur und auch als Ort einer Auslagerung für der eigenen Kultur nicht Konformes, für gefährliche und unterdrückte Sehnsüchte und Fantasien. „Europe was shut in on itself: the Orient, when it was not merely a place in which one traded, was culturally, intellectually, spiritually outside Europe and European civilization […].“205 Gerade diese Auslagerung machte den Orient für Europa zu einer fruchtbaren Denkfigur: „[T]he Orient and Islam are always represented as outsiders having a special role to play inside Europe.“206 In Bezug auf den Foucault’schen Diskursbegriff stellt Said fest, dass Konzepte und Linien, die sich dem Orientalismusdiskurs eingeschrieben haben, die sich in ihrer Geschichte, Entwicklung und Verfestigung nachzeichnen lassen, einen Ost/WestDualismus aufzeigen, der gerade als ‚imaginäre Geografie‘ eine Vorstellung von Welt wie auch ein Verhältnis zur Welt benennt.207 Andrea Polaschegg verweist ergänzend und erweiternd darauf hin, dass nicht nur das Fremde, sondern auch das Eigene als konstruierte Größe aufgefasst werden müsse.208 Am Beispiel des Orientexpress soll diesen Gedanken und der Verbindung aus Imagination und imaginärer Geografie im Folgenden als Dynamisierung der

203 Vgl. hierzu beispielsweise Schnepel, Brands und Schönig 2011; vgl. auch Polaschegg 2005. 204 Said 2003, 1. 205 Said 2003, 71, Hervorhebung im Original. 206 Said 2003, 71. 207 „Imaginative geography […] legitimates a vocabulary, a universe of representative discourse peculiar to the discussion and understanding of Islam and of the Orient.“ Said 2003, 71. 208 Gegen eine einseitige Auslegung der Stoßrichtung dieser Betrachtung schreibt Andrea Polaschegg mit Blick auf den deutschen Orientalismusdiskurs: „[B]eide Größen, das Eigene wie das Andere [sind] Ergebnisse dieser Differenzierungs- und Grenzziehungsoperationen einer Kultur, damit [sind] beide gleichermaßen ‚sozial konstruiert‘ […] und [existieren] nur als relationale Größen […]. Und es bedeutet ferner, dass das Andere als systemerhaltende Kontrastfolie notwendig nach Maßgaben des Eigenen geschaffen ist.“ Polaschegg 2005, 41.

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Überlegungen zu (Ab-)Bild, Transportmittel und Wahrnehmung weiter nachgegangen werden. 3.2.3 Zwischen(t)raum Orientexpress Durch eine breite Rezeptionsgeschichte ist der Orientexpress 209 ein prototypisches Beispiel der Verbreitung und Vermarktung einer Reise, der Entstehung eines kulturellen Imaginären, für das nun das Ziel nicht mehr zentral ist, sondern der Reiseweg zum Abenteuer wird. 1872 gründete der Belgier Georges Nagelmackers die Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL), unter deren Führung die Geschichte des Orientexpress begann. 210 Das europaweite Transportmittel sollte es Reisenden ermöglichen, lange Strecken bequem zu überwinden.211 Der Name Orientexpress lässt sich in Saids Lesart westlicher Orientimaginationen einordnen, er verbindet das Ferne mit der Gegenwart der Moderne, indem die Richtung und die Idee von Geschwindigkeit impliziert wird. Durch Fortschritt und Technik wird hier Raum ‚erobert‘ – während sich der Reisende selbst in einem mobilen Raum befindet. Können die Wagons einer Said’schen Lesart folgend als Eigenes definiert werden, sind es die durchfahrenen Landschaften, die als Fremdes konstruiert werden. Vor dem Hintergrund einer geradezu als unberechenbar empfundenen Fremde hatten sich die Passagiere der Jungfernfahrt, glaubt man Nagelmackers, der sich als geschickter Unternehmer und eigener PR-Agent erwies, vorsorglich für die Durchquerung des ‚gefährlichen Balkans‘ und des ebenso ‚unberechen-

209 Abenteuer suggeriert das Label, unter welchem unterschiedliche Züge und verschiedene Fahrtrouten subsumiert wurden und werden. Unter anderem beeinflussten Kriege und Konflikte die Fahrtrouten: Nach dem Ersten Weltkrieg zum Beispiel durchquerte der Express keine deutschen Gebiete mehr, sondern fuhr unter dem Namen Simplon-Orient-Express über die Schweiz und Venedig in Richtung Türkei. Vgl. Honold 2010, 174. Zwischen Luxus und Gefahr auf der Reise vom ‚Okzident‘ in den ‚Orient‘ oszilliert der Mythos, der in zahlreichen Zeitungsartikeln, Bildern, Büchern und Filmen inszeniert und re-inszeniert wird. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Agatha Christies Krimi Murder on the Orient Express (1934). 210 Vgl. Honold 2010, 169. 211 Voraussetzung hierfür waren der Ausbau des Streckennetzes und der Bau mehrerer Tunnel, die die Alpen bezwingbar machten, vgl. Honold 2010, 168.

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baren Orients‘ bewaffnet.212 Für die mediale Verbreitung der Erlebnisse sorgten die mitfahrenden Schriftsteller und Journalisten, die über ihre Reise in Tageszeitungen und Büchern berichteten; unter ihnen auch Henri de Blowitz, der seine Eindrücke 1884 in Une Course à Constantinople veröffentlichte.213 Die Berichterstattung ermöglichte eine breitere Rezeption der exklusiven Fahrt. Die Jungfernfahrt am 4. Oktober 1883 startete vom Pariser Bahnhof Gare de l’Est mit Ziel Konstantinopel.214 Die Beschreibung des Aufbruchs bei Blowitz erinnert an einen rituellen Akt der Trennung: Unter dem „fantastischen Lärm“ 215 der Lokomotive und mit unerwarteter Geschwindigkeit wurden die Reisenden ihrer gewohnten Umgebung geradezu entrissen; zurück blieben die Angehörigen mit „ängstlichen Blicken“216. Für die Mitfahrenden bedeuteten die Wagons eine soziale wie räumliche Grenzmarkierung zur Umwelt, war das Reisen mit dem Orientexpress doch eine exklusive Angelegenheit. Das Wagonfenster bildete, vergleichbar dem Schaufenster der Warenhäuser, die direkte Verbindung zur Außenwelt und erlaubte zugleich nur den von Schivelbusch beschriebenen ‚panoramatischen Blick‘, eine Erfassung eines groben Überblicks ohne Detailtreue.217 Dem Reisenden Blowitz erschien das Sichtbare dementsprechend auch gerahmt, der Warenpräsentation vergleichbar, als „tableaux“218, als Abfolge der

212 Vgl. Cars und Caracalla 1998, 12. Auch Honold weist darauf hin, dass jenseits der Schienen das Unbekannte begann und Gefahr vermutet wurde. Vgl. Honold 2010, 158. 213 Blowitz 1884. 214 Vgl. Cars und Caracalla 1998, 8. In den ersten Jahren konnte noch nicht direkt mit dem Orientexpress bis Konstantinopel gereist werden, sondern es musste zwischendurch umgestiegen und schließlich noch eine Fähre benutzt werden. Ab 1888 war die komplette Strecke für den Zug erschlossen. Vgl. Honold 2010, 169. 215 „A ce moment, le conducteur de mon wagon m’appelle d’un signe impérieux. Je m’élance sur le marchepied, la porte qui le protége [sic!] se ferme, le sifflet retentit; le bruit formidable de la locomotive couvre tous les autres bruits, et, sans transition aucune, nous nous élançons avec une rapidité inattendue vers le tunnel voisin qui, en un instant, nous enlève la vue de la gare et nous dérobe, nous aussi, aux regards anxieux qui nous suivent.“ Blowitz 1884, 10 216 Blowitz 1884, 10. Die Trennung von der Außenwelt durch die Fortbewegung im Eisenbahnwaggon als Erfahrung einer „tunnelartigen Innenwelt“ und die Angst, daraus nicht mehr zu entkommen, beschreibt Honold als „das klassische Eisenbahntrauma“. Vgl. Honold 2010, 165. 217 Vgl. Schivelbusch 2011, 59. 218 Blowitz 1884, 25.

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Bilder. Mit der Idee des „Tableau vivant“ 219 kann dieser Gedanke weitergeführt werden, wird damit das Sichtbare zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit verortet. Ist das ‚Tableau vivant‘ zudem als Kunstform „an der Schnittstelle zwischen Augenblick und Bewegung, Verfestigung und Verflüssigung“ 220 angesiedelt, so zeigt sich die Parallele zum Blick aus dem Wagonfenster, das ein bewegtes Bild einfängt, auf das der Reisende in eigener, immobilen Mobilität blickt. Raum wird nicht nur „durch performative Akte des Benennens und Beschreibens, sondern bereits durch die Bewegung selbst“221 hervorgebracht. Sowohl die literarische Verarbeitung, als auch die Fahrt durch den Raum lässt diesen entstehen. Anknüpfend an Polaschegg kann man hier festhalten, dass das Fremde und das Eigene in Abgrenzung konstruiert werden, 222 wobei sich die Frage der Grenzziehung und der Grenzüberwindung mit Blick auf den Orientexpress als knifflig erweist. Bewegte sich der Zug zwar durch den Raum und überschritt faktisch Grenzen, so schien er zugleich seine Grenze mit sich zu transportieren und fungierte so selbst als mobiles Grenzhäuschen. Das Erleben der Fremde wurde ermöglicht, Fremdes konsumierbar gemacht, indem die Markierung zwischen fremd und eigen aufrechterhalten wurde. Die von den Schienen in den Raum geschlagenen Schneisen markieren auch einen gedanklichen Weg: Sie sind Zeichen eines technischen Fortschritts und für die Reisenden Zeichen ihrer eigenen Überlegenheit, denn der (geografische) Raum, der durchfahren wird, wird sichtbar neu geordnet. Gemäß den Anforderungen der Eisenbahnlinien wurde die Landschaft verändert; Schivelbusch beschreibt als Folge dieses Prozesses die Entstehung denaturalisierter und entsinnlichter Gegenden.223 Die als westlich und damit zugleich aus damaliger Perspektive als fortschrittlich konnotierte Bahn befindet sich in einer flüchtigen Bewegung, mit der der Raum, durch den sie sich bewegt, als rückständig markiert und kreiert wird. Der Orientexpress steht bereits namentlich für eine Aufwertung des Weges: für das Versprechen, die Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden zu befriedigen, für die Eroberung der Gebiete mittels technischem Fortschritt. Der Reisende sucht das Fremde, vermeintlich Abenteuerliche, bleibt

219 Brandl-Risi 2014, 350. Vgl. hierzu weiterführend Brandl-Risi 2013. 220 Brandl-Risi 2014, 350. 221 Honold 2010, 155. 222 Vgl. Polaschegg 2005, 41. 223 Vgl. Schivelbusch 2011, 24. Der Autor bezieht sich hier „auf den Prozeß der Mechanisierung der ehemals organischen Triebkräfte“ und dessen Wahrnehmung durch die Zeitgenossen. Das Argument wird dann weiter hinsichtlich der Veränderungen der Natur durch den Schienenbau verfolgt. Vgl. ebd., 25.

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aber in seinem faradayschen Käfig kultureller Energien der Außenwelt nur indirekt ausgesetzt. Zudem sieht er das Fremde immer wieder in vertrauter, konsumierbarer Form aufbereitet: Davon zeugt auch der Bau des Hotels Pera Palace, das die Reisenden des Orientexpress in Konstantinopel ab 1892 mit dem gewohnten Luxus empfangen sollte.224 Der Tourismus um 1900 bewegt sich in einem Spannungsverhältnis, das bis heute prägend für die Reiseerfahrung ist: die Suche nach dem Unbekannten und der Anspruch, dennoch Vertrautes vorzufinden. Am Bau von Hotelanlagen, die an entlegensten Orten der Erde immer noch die gewohnten Standards des Reisenden erfüllen sollen,225 zeigt sich diese Ambivalenz. Auch die Wahrnehmung des Raumes unterliegt diesem Zwiespalt. Spode beschreibt dies als eine Dialektik von „Homogenisierung und Differenzierung“226, ein Schwanken zwischen der Suche nach dem Spezifischen und der Erwartung des Gewohnten. „Die Temporalisierung der Unterschiede hatte einen kommerzialisierten und dann industrialisierten Raum- und Erfahrungskonsum in Gang gesetzt und damit eine Dialektik der Raumkonstruktion. Das Authentizitätskonzept führte einerseits in eine bewusste Differenzierung des Raums. […] Das Authentizitätskonzept führte freilich hinterrücks auch in eine Entdifferenzierung bzw. Homogenisierung des Raums.“

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War also einerseits das Unbekannte das Reiseziel, veränderte es sich durch die Reisenden, deren Ansprüche und Bedürfnisse. Die Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden zeigt sich als Oszillieren zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Wie mit Blick auf die Weltausstellungen angeführt, kann das völlig Fremde, so Barth, nicht konsumiert werden – es muss eine Annäherung stattfinden, die das Fremde zugleich verändert. 228 Aus diesem Spannungsverhältnis generiert sich der Vorwurf einer Zerstörung des Reiseziels durch den Tourismus, der jedoch das Ziel erst als touristisches herstellt. 229 Ist es für das touristische Erleben wichtig, dass das Ziel der Reise durch seine Einmaligkeit ausgewiesen wird, so wird dies ad absurdum geführt durch den Anspruch an bestimmte Standards und die entortete Wiederholung eigener Lebensgewohnheiten. Die Paradoxie des Reisens liegt in der Suche nach dem

224 Vgl. Honold 2010, 170. 225 Vgl. hierzu Spode 2013, 102. 226 Spode 2013, 102. Vgl. hierzu auch Hoesch 2013, 59. 227 Spode 2013, 110. 228 Vgl. Barth 2003, 159-160; vgl. hierzu auch Steinkrüger 2013, 47-48. 229 Vgl. Spode 2013, 111.

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Authentischen und der Notwendigkeit seiner Kommodifizierung, in der Suche nach dem Fremden bei gleichzeitigem Wunsch nach Vertrautem.230 So wird der Raum zu einem touristischen, indem er zugleich verfremdet und auf die Bedürfnisse der Reisenden angepasst wird.

3.3 V ENEDIGTOURISMUS Ob historisch oder geografisch fern – Reisen ermöglichte den Blick in eine andere Welt, in geradezu „außeralltägliche[.] Gegenwelten“.231 Vor dem Hintergrund einer so gearteten Flucht – und der bereits konstatierten neuen Art der Weltaneignung – wurde mit der Moderne Venedig zu einem prädestinierten Rückzugsort, der, nach der Eroberung durch Napoleon und dem wirtschaftlichen Niedergang weniger durch Vergnügungen und Ablenkung als durch den architektonischen Stillstand und die weitestgehende Absenz moderner Verkehrsmittel zu begeistern suchte und einen direkten Blick auf die Vergangenheit ermöglichte. Das Oszillieren zwischen fremd und vertraut begleitet die Reiseerfahrung des Touristen – auch der Venedigreisende setzt sich einer Fremdheit aus, in der er eine vermeintliche Rückständigkeit, positiv gedeutet als Entrücktheit, auszumachen meint. Das Reisemotiv einer Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden wird hier als Reise in die Vergangenheit bedient, aber auch als Fernreise durch die singuläre Architektur und Ausgestaltung der Bauwerke, die die Geschichte der Handelsbeziehungen als Austausch zwischen Ost und West sichtbar werden lassen.232 Aus Zeit und Raum gefallen, erscheint die Stadt in ihrer Fremdheit dem Fremden zugleich ähnlich entortet wie er selbst. So schreibt Corbineau-Hoffmann: „Die […] Wesensverwandtschaft zwischen Venedig und dem Tourismus reicht, zumal mit dem durch die literarischen Quellen vertieften Wissen, weiter, als es zunächst schien. Ort der Fremden, bringt Venedig nun die ihm inhärente Fremdheit zur Anschauung.“233 Die besondere Nähe zwischen Venedig

230 „Denn Touristen wollen das Neue oft nur in gewohntem Ambiente und in wohl dosierten Proportionen erfahren.“ Schnepel 2013, 35. Daher müsse auch das Fremde, das den Reisenden verunsichern oder schockieren könnte, gemieden werden. Vgl. ebd. 231 Prein 2005, 119. 232 Vgl. Carboni 2007; vgl. auch Schenk 1987, 97. 233 Corbineau-Hoffmann 1993, 311. „Daß Venedig, selbst eine Fremde, der Mentalität des Touristen besonders entgegenkommt, indem es den Wunsch nach Kontrasten

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und dem Phänomen Tourismus artikuliert sich folglich als Fremdheitserfahrung. Auf der Basis dieser Fremdheit ist der Tourist der Stadt nahe: „Indem sich Venedig und seine Touristen in der Fremdheit begegnen, entsteht eine sekundäre Vertrautheit.“234 Die Fremdheit des Reisenden hat zudem eine besondere Konnotation, denn dieser begibt sich freiwillig in den Kontakt mit dem Neuen. So hält Kennedy fest: „To be a tourist is above all to be a willing stranger.“ 235 Die Lagunenstadt erlebte in der Moderne eine Art Wiederentdeckung – ambivalent als Zeichen eines Niedergangs, aber auch als Hort und Bestätigung des Bleibenden. „It [Venice, DV] had qualities that answered the most deeply felt appeal of the modern heart – the appeal for permanence and coherence in a fragmenting and chaotic universe.“236 Befördert durch die ‚Eigenlogik‘ der Stadt237 wurde eine Weiterschreibung des Sichtbaren im Betrachter provoziert: „Deeply rooted in the past, Venice presented itself to the twentieth century as a palimpsest of memories and looted fragments. Like all memorials and ruins it provoked its visitors into speculating on origins and narratives. Each component of the densely packed urban milieu functions as a metaphor and mnemonic to produce phantom versions of the city 238

[…].“

Die ‚Überreste‘ stehen dabei nicht nur für eine spezifische Vergangenheit und als Zeichen venezianischer Geschichte, sondern werden als kulturelle Fragmente Requisiten der Imagination des Betrachters. Venedig als „theatralische Stadt par excellence“239 ist zugleich eine touristische Stadt par excellence. Als „privilegierter Touristenort“240 bildete die Lagu-

zum Gewohnten erfüllt, markiert jene Seite des Phänomens, auf der sich die gleichsam sekundären Verfremdungen Venedigs durch die Literatur entfalten.“ CorbineauHoffmann 1993, 312. Mit Verweis auf Simmels Venedigaufsatz benennt sie als die andere Seite den oberflächlichen Blick des Touristen, dem ein solch als Kulisse erscheinender Ort in besonderer Weise entspreche. Vgl. ebd. 234 Corbineau-Hoffmann 1993, 312f. Die Fremdheit, die sich in der Literatur widerspiegelt, scheine, so Corbineau-Hoffmann, dem Blick der Fremden, der Autoren, geschuldet. Vgl. Corbineau-Hoffmann 1993, 9. 235 Kennedy 2011, 94. 236 Pemble 1995, 3-4. 237 Vgl. Löw 2008, 65. 238 Curtis und Pajaczkowska 2002, 161. 239 Fischer-Lichte 1999, 95, Hervorhebung im Original. 240 Corbineau-Hoffmann 1993, 293.

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nenstadt ein vermeintliches „Gegenbild der modernen Großstadt“ 241, so Corbineau-Hoffmann, eine „Kunstrealität im Gegensatz zur zweckgerichteten Industriegesellschaft“242 und damit auch einen Gegenpol der Moderne.243 Dabei war es eine für das Industriezeitalter paradigmatische Entwicklung und ein Sieg des technischen Fortschritts, wodurch Venedig dem Massentourismus letztendlich erschlossen wurde: „In the latter part of the nineteenth century a number of developments in transportation and organisation opened up Venice to more tourists. In 1846 a viaduct was built which enabled road traffic to reach the island. In 1857 the railway reached the historic centre with a station on the Grand Canal. In 1867 the first Cook’s tour followed closely on the departure of the Austrian administration and a consequent weakening of the local economy. In 1871 the Mount Cenis tunnel was opened, making Italy more accessible to northern Europe.“

244

Mit dem Bau und der Öffnung des Mont-Cenis-Tunnels begann der Massentourismus in Venedig, „and the ‚army of tourists‘ in Venice“, so John Pemble, „became a cliché of travel journalism as well as a mainstay of the local economy.“245 Die Fahrt mit der Bahn wurde zur dominanten Anreisemethode,246 der Wechsel in die Gondel dann zu einem direkten Übergang von einer panoramatischen Sicht aus dem Eisenbahnfenster zu einer Panorama-Ansicht der Stadt. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts fand die erste vom englischen Reiseunternehmer Thomas Cook organisierte Gruppenfahrt in die Lagunenstadt statt. 247 War das Reisen auch motiviert durch eine Sehnsucht nach Abstand zur Masse, wurde dies in Folge einer zunehmenden Kommodifizierung konterkariert. „Packaged tours, built on the modest but pervasive resources of middle-class Germans, French, and British, and taking advantage of new rail links through the Alps,

241 Corbineau-Hoffmann 1993, 293. 242 Corbineau-Hoffmann 1993, 293. 243 Vgl. Corbineau-Hoffmann 1993, 293. 244 Curtis und Pajaczkowska 2002, 158. 245 Pemble 1995, 15. 246 Dass dies ein bleibendes Thema der Venedigrezeption ist, belegt der 2011 erschienene Film The Tourist (Regie: Florian Henkel von Donnersmarck), der die Anfahrt mit der Bahn und die Ankunft am Bahnhof Venezia Santa Lucia zum Ausgangspunkt eines Verwirrspiels werden lässt. 247 Vgl. Curtis und Pajaczkowska 2002, 158. Die erste Italienfahrt fand am 4. Juli 1864 statt, vgl. Motyka 1990, 18.

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were soon flooding Venice with foreigners.“248 Das Reisen wurde immer mehr zu einem Unternehmen in Gruppen, so dass Corbineau-Hoffmann von einer „Scheinflucht“249 schreibt, die den Großstadtbewohner wieder in Gesellschaft brachte.250 Auch der Blick in die Reiseliteratur um 1900 zeichnet ein ähnliches Bild der Lagunenstadt, das Bild einer von Touristen dominierten Stadt, gefüllt von Menschenmassen, die Venedig geradezu verstellten. 251 Und das obwohl, so Henry James, Venedig auch zu bereisen sei, ohne die heimatlichen Gefilde verlassen zu müssen: „Venice has been painted and described many thousands of times, and of all the cities of the world is the easiest to visit without going there. Open the first book and you will find a rhapsody about it; step into the first picture-dealer’s and you will find three or four highcoloured ‚views‘ of it. There is notoriously nothing more to be said on the subject. Every one has been there, and every one has brought back a collection of photographs.“

252

248 Davis und Marvin 2004, 3. 249 Corbineau-Hoffmann 1993, 293. 250 „Auch die gewünschte Flucht aus der Gesellschaft erweist sich nur als Scheinflucht, da die organisierte Reise wiederum in Gesellschaft stattfindet.“ Corbineau-Hoffmann 1993, 293, hier in Bezug auf Enzensbergers Theorie des Tourismus, vgl. Enzensberger 1969, 163. Der moderne Massentourismus in Form der Gruppenreise steht in enger Verbindung mit dem Namen und der Person Thomas Cooks (18081892), der bereits 1841 innerhalb Englands die erste Gruppenfahrt organisierte, 1845 die erste reine Vergnügungsfahrt und ab 1855 diese auch ins Ausland – letztere führte, wie bereits erwähnt, die Teilnehmer zur Pariser Weltausstellung. Vgl. Gyr 2010, vgl. ebenso Hachtmann 2007, 67. Für Mattl bedeutet der Beginn der Massenreise das Ende der Kontemplation und der Beginn der Konsumption, vgl. Mattl 2009, 39. 251 Vgl. Corbineau-Hoffmann 1993, 300. Der in dem Dokumentarfilm Das Venedigprinzip von 2012 festgehaltene Prozess eines Niedergangs des sozialen Lebens in der Stadt, die nur für und durch den Tourismus zu leben scheint, aber zugleich an diesem zugrunde geht, wird bereits bei Henry James beschriebe, vgl. hierzu Corbineau-Hoffmann 1993, 301. Die vielen Literaten, die sich mit Venedig beschäftigt haben – und noch immer beschäftigen – sind teilweise Chronisten eines Niedergangs, teilweise aber auch der Grund für das anhaltende touristische Interesse, denn auf ihren Spuren entdeckt so mancher Besucher die Stadt. Vgl. Davis und Marvin 2004, 3. 252 James 1992, 7.

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Peter Ackroyd markiert dann auch das 19. Jahrhundert als zentral für die Entwicklung des touristischen (Ab-)Bildes Venedigs: „It was in this century, too, that the conventional image of Venice was fixed for ever in the public imagination – the gondolas, the pigeons, the open-air cafés of Saint-Mark’s Square. It had become a peep-show, a diorama, a bazaar.“253 Auch die zahlreichen Reisebücher und Reisebeschreibungen fügen sich hier ein. Sie bilden ein weiteres Beispiel der so umfassenden Rezeptionsgeschichte der Lagunenstadt und ihrer Festschreibung im kulturellen Imaginären.254 3.3.1 Reiseliteratur und Imagination Der Wandel im Reisen zeigt sich auch als Wandel der Reisebücher. Ursprünglich dominierte die Gattung umfangreicher Apodemiken, die sich an ein gelehrtes Publikum mit dem Ziel weiterer Belehrung richteten, aber diese „verlieren […] ihr Publikum und deshalb ihre Bedeutung. Sie richten sich an den Bildungsreisenden im alten Stil, doch das aufstrebende Bürgertum des 19. Jahrhunderts reist nicht, um sich standesgemäß zu bilden, sondern um sich in vergleichsweise kurzer Zeit ein Bild von einer Region oder Landschaft zu machen. Dieser neue Reisetypus, den man später den Touristen nennen wird, verfügt nur über begrenzte finanzielle und zeitliche Ressourcen.“

255

Für die temporär und monetär begrenzten Reisemöglichkeiten des Bürgers entwickelte sich ein neues Massenmedium, wie Susanne Müller in ihrer Dissertationsschrift Die Welt des Baedeker konstatiert: „Das Publikum am Beginn des 19. Jahrhunderts ist längst nicht so exklusiv wie die adligen Bildungsreisenden der Neuzeit, doch dafür gibt es nun so viele Reisende, dass man das Reisehandbuch schon in seiner Anfangszeit als Massenprodukt bezeichnen kann.“ 256 Reiseführer erlaubten es auch Menschen mit wenig Reiseerfahrung oder Landeskenntnis, sich auf den Weg in die Fremde zu begeben.257 Das neue Medium bringt seinen Gegenstand auf zweifache Art nahe: einerseits durch Beschreibungen der Reiseziele, andererseits aber auch durch Abbildungen, durch Karten, Zeichnungen und später Fotografien. Mit Blick auf die

253 Ackroyd 2010, 291. 254 Für die englischsprachige Reiseliteratur vgl. Motyka 1990. 255 Müller 2012, 16, Hervorhebung im Original. 256 Müller 2012, 26. 257 Vgl. Syrjämaa 2000, 181.

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Leserschaft werden nun weniger reine Bildungsabsichten verfolgt, eher eine Bebilderung der Sehnsüchte vorangetrieben, denn diese Bücher richten sich implizit eben auch an all jene, die nicht selbst reisen (können), sondern nur davon träumen: „Somit handelt es sich auch um eine Reise zu den Wünschen und Träumen der Menschen; der Menschen nämlich, die den Baedeker lesen, um sich von der Welt ein Bild zu machen, die – von der Kulturkritik verhöhnt – von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzen, aber auch derjenigen, die den Baedeker zu Hause lesen, auf dem Sofa sitzend, von der Ferne träumend, wohlwissend, dass sie die vertraute Heimat nie verlassen werden. So oder so: Die Reise nach Baedeker ist eine Geschichte der Sehnsucht und der Seh-Sucht.“

258

So gesehen zeichnen auch Reiseführer für die Entwicklung eines neuen Blicks auf die Welt verantwortlich, über den man sich die Welt aneignen konnte, reisend oder im Wohnzimmersessel sitzend. Die Lektüre dieser Bücher formte die Vorstellung der mobilen wie immobilen Leser. Reiseführer sind „Medien geographischer Imagination“ 259; sie können als visuelle Medien betrachtet werden, wobei sich ihre Funktion nicht auf die Sammlung von Abbildungen beschränkt: „Reisehandbücher sind Sehhilfen für den schnellen, präzisen und bisweilen oberflächlichen touristischen Blick, und zwar auch, wenn sie keine Abbildungen enthalten.“260 Auch die literarischen Beschreibungen können als Teil der Bebilderung der Sehn- und Seh-süchte betrachtet werden. Gerade in der reinen Beschreibung wird die Imagination der Leser besonders gefordert. Der Zweck der Reise – und letztendlich auch der Reiseführer und Reisebeschreibungen – liege in der „Entfaltung eines Raums der Imagination“.261 Vor Ort dienen sie als konkrete ‚Sehhilfen‘, die auf das Beachtenswerte hinweisen, den Blick lenken. „Vielmehr suchen Touristen die sinnliche Erfahrung imaginärer Welten, die Realität der Fiktion. Die Reiseerlebnisse werden zu diesem Zweck inszeniert und konstruiert, die Ele-

258 Müller 2012, 12. Auch war den Autoren dies mit Blick auf ihre potenziellen Leser bewusst. So beginnt beispielsweise Henry de Blowitz seinen Reisebericht von der Jungfernfahrt des Orientexpress wie folgt: „Tous ce qui liront ce que je vais écrire peuvent être appelés á faire un voyage à Constantinople, ou peuvent rêver de le faire; d’autres peuvent l’avoir fait.“ Blowitz 1884, 1. 259 Mohnike 2007, 13. Dieser bezieht sich hier auf Harbsmeier 1982. 260 Müller 2012, 28, Hervorhebung im Original. 261 Hennig 1999, 42, hier zitiert nach Müller 2012, 18.

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mente der Wirklichkeit in neuen Verbindungen angeordnet. Das gilt für die bürgerlichen Reisenden früherer Jahrhunderte wie für heutige Kulturtouristen, für die Badereisenden 262

des 19. Jahrhunderts und für heutige Mallorca-Urlauber.“

Müller stellt hieran anschließend fest, dass die Frage nach der Fiktionalität der Bücher beziehungsweise ihrer Entsprechung in der Reiserealität sekundär sei, denn Reisebücher können vor allem als „Grundlage für eine die Realität überlagernde Seh- und Raumordnung“263 gelesen werden; als Mittler zwischen Fiktion und Realität können sie als imaginär beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund lohnt ein erneuter Blick auf die Verbindung von Imagination und Moderne: Diese sind eng miteinander verwoben, folgt man Appadurai und seiner Arbeit Modernity at Large264. Durch wachsende Mediennutzung und -verbreitung sowie Migrationsbewegungen schreibt er der Imagination eine das Selbst bestimmende Funktion zu, beschreibt „the work of the imagination as a constitutive feature of modern subjectivity.“265 Die Zirkulation von Menschen und Bildern, die im 19. Jahrhundert mit den Entwicklungen der Eisenbahn und der Fotografie einen frühen Höhepunkt erreicht, 266 und der sich hier auch die Reiseführer und Reisebeschreibungen hinzufügen lassen, hat durch zunehmende Globalisierung Bild und Betrachter von einem regionalen, lokalen oder nationalen Kontext und Raum gelöst.267 Imagination ist für kollektive Prozesse ein all-

262 Hennig 1999, 55, hier zitiert nach Müller 2012, 18. 263 Müller 2012, 18. 264 Appadurai 1996. 265 Appadurai 1996, 3, Hervorhebung im Original. Zwar baut er seine Argumentation vor allem auf einer digitalen Postmoderne auf, jedoch lassen sich die Argumentationszüge auch auf den Beginn der Moderne übertragen, wenn er die Verbindung von (bei ihm elektronischen) Massenmedien und Migration als Begründung einer neuen Qualität der Instabilität moderner Subjekte anführt. Der Strom der Bilder und Menschen macht eine räumlich eindeutige Verortung fast unmöglich, Ort und Identität können sich in vielerlei Hinsicht widersprechen. Vgl. Appadurai 1996, 4. 266 Vgl. Fiebach 1995, 17. 267 Vgl. Appadurai 1996, 4: „This mobile and unforeseeable relationship between massmediated events and migratory audiences defines the core of the link between globalization and the modern. […] I show that the work of the imagination, viewed in this context, is neither purely emancipatory nor entirely disciplined but is a space of contestation in which individuals and groups seek to annex the global into their own practice of the modern.“

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tägliches, und ebenso ein handlungsleitendes Phänomen und im Gegensatz zur Fantasie die Vorform eines Ausdrucks, einer Handlung, „the fuel for action.“268 Mit Julius Stindes Buchholzens in Italien269 soll im Folgenden ein Roman untersucht werden, der sich als literarische Reisebeschreibung und als Beschreibung einer Reisebeschreibung erweist. In diesem reflektierenden Modus einer Metaebene erlaubt der Roman einen besonderen, wenn auch fiktiven, Einblick in die Praktiken des (klein-)bürgerlichen Italien-Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts. 3.3.2 Buchholzens auf Reisen 1883 veröffentlicht, markierte der Roman Buchholzens in Italien den Beginn einer Buchreihe über das Leben der Berliner Familie Buchholz und wurde, wie auch die Folgewerke, ein internationaler Erfolg für Stinde.270 Sein Roman, der ursprünglich in Form einer Zeitungskolumne erschienen war, wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Stinde zitiert das populäre Medium des Reiseromans und imitiert dieses, indem er seine Hauptprotagonistin, die Berlinerin Wilhelmine Buchholz, zur IchErzählerin werden lässt. Das Spiel der Identitäten findet auf mehreren Ebenen statt, denn dem Buch ist ein Briefwechsel zwischen dem Verleger Carl Freund, Julius Stinde, der hier als Mentor wider Willen das Werk der Autorin kritisch begleitet, und Wilhelmine Buchholz vorangestellt, so dass der Eindruck einer authentischen Erfahrung suggeriert wird. Der launige Ton, den die Ich-Erzählerin an den Tag legt, stellt eine zusätzliche Komponente der Authentifizierungsstrategie dar. Wilhelmines Reiseabenteuer beginnt in Berlin mit einer ironischen Brechung im Blick auf ihre Reisemotivation. So verweist die Protagonistin zwar selbst auf eine Verortung der Reise in der westeuropäischen Kulturgeschichte, indem sie sich auf Goethes Italienische Reise bezieht:

268 Vgl. Appadurai 1996, 7. Vgl. hierzu auch Marx 2008, 31f. 269 Stinde 1885. 270 Stinde veröffentlichte in dieser Reihe sieben Bände, die in großer Auflage erschienen und in mehrere Sprachen übersetzt wurden, so handelt es sich bei der hier zitierten Ausgaben von 1885 bereits um die 31. Auflage. In England wurde nach dem Erfolg des ersten Romans, Die Familie Buchholz/ Buchholz Family, auch The Buchholzens in Italy übersetzt. Vgl. Anonymus 1886. Auch in Frankreich wurden die Bücher beachtet, so erschien in der französischen Revue des deux Mondes 1885 eine ausführliche Kritik der Reihe, vgl. Valbert 1885.

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„Es wäre mir ja nie im Traum eingefallen, daß ich in meinem Leben das Land sehen würde, wo die Zitronen blühn und die Kunst von alten Meistern großgesäugt wurde, wenn nicht die Nothwendigkeit gekommen wäre und gesagt hätte: ‚Wilhelmine, es hilft kein 271

Sträuben, du mußt nach Italien!‘“

Doch die hier angesprochene Notwendigkeit ist kein Streben nach Kunst, Bildung und Natur, sondern bezieht sich auf die rheumatische Erkrankung ihres Mannes, für dessen Genesung eine Klimaveränderung erforderlich wird. 272 Stinde schickt seine Protagonisten mit einem Rundreisebillet auf eine Fahrt auf den Spuren der Grand Tour, begleitet von bildungsbürgerlichen Erwartungen, beziehungsweise dem Versuch, diese zu erfüllen, was Buchholzens durch ihr Verhalten und ihre Kommentare immer wieder konterkarieren. Dass die Reise auch gesellschaftlich mit besonderer Bedeutung belegt ist, zeigt eine Szene, in welcher Frau Buchholz ihrer Nachbarin von der geplanten Reise berichtet. Die Nachbarin kommentiert die Neuigkeit mit der Bemerkung, dass die Reise für den Berliner Mittelstand zu teuer sei und dieser sich mit einem Ausflug nach Treptow begnügen müsse.273 Gerade aus dem Wissen um den vorgeprägten Charakter der Reise, die als Reenactment274 einer bildungsbürgerlichen Idee verstanden werden kann, speist sich die Ironie des Romans, wenn die Buchholzens ihr Abenteuer mit größtem Pragmatismus realisieren und kommentieren. Bereits die Reiseentscheidung wird angetrieben von profaner Eifersucht und klischeehaften Erwartungen: So fasst Wilhelmine den Beschluss ihren Mann zu begleiten im Gedanken an die „gluthäugigen Italienerinnen“275 und deren nicht minder temperamentvolle Männer.276 Auch andere Reisende werden von ähnlich alltäglichen Motivationen getrieben: Die Figur des Hosenstofffabrikanten Herr Oehmichen steht beispielsweise keineswegs für eine Flucht vor der industrialisierten Großstadt, ganz im Gegenteil verbindet sich sein Interesse an den Artefakten mit seinen Geschäftsinteressen. Er betrachtet die italienischen Kunstschätze nur nach der Frage ihrer Verwert-

271 Stinde 1885, 1. 272 „Wir hatten in Berlin ja auch Klima, aber es war darnach [sic!]. Im Kalender stand Frühling, und auf den Dächern lag Schnee. Mit einem Worte, es war ein Hundewetter.“ Stinde 1885, 1 273 Stinde 1885, 4. 274 „Reenactment […] bezeichnet das Nachstellen eines vergangenen Ereignisses, in dessen Vollzug Historie als Präsenz erlebt werden soll.“ Otto 2014, 287 275 Stinde 1885, 2. 276 Vgl. Stinde 1885, 2.

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barkeit und studiert die Alten Meister auf der Suche nach Motiven für neue Stoffmuster.277 Um die Artefakte als Sehenswürdigkeiten erkennen zu können, greift Wilhelmine Buchholz auf den bereits bekannten Baedeker278 als Reiseführer zurück. „Sehr angenehm in jeder Beziehung ist der Bädeker [sic!], den Onkel Fritz bei sich trug und mit dessen Hilfe wir uns prachtvoll zurechtfinden konnten. Auch steht Alles darin, was man zu besehen hat und eine Menge Gelehrsamkeit, so daß man immer gleich weiß, ob man sich für einen Gegenstand begeistern muß oder nicht, wodurch das Studium der Merkwürdigkeiten sehr erleichtert wird. Onkel Fritz nannte den Bädeker [sic!] daher kurzweg das Rezeptbuch zum Reisen.“

279

Der touristische Blick folgt einer spezifischen Vorprägung280 – MacCannell führt aus, dass der Reisende etwas nur als Sehenswürdigkeit erkennen kann, wenn er über die entsprechenden (Vor-)Informationen verfügt.281 Dabei wird dieses Erkennen vor allem von der, wie Schütze es nennt, „Macht der Konvention“ 282 bestimmt, welche sich verantwortlich dafür zeichnet, ob etwas zur Sehenswürdigkeit generiert wird.283 Bedingung der Möglichkeit eines ‚richtigen‘ Sehens wird folglich ein entsprechendes kulturelles Hintergrundwissen.284 Die Lektüre des Reiseführers dient in diesem Sinne als ‚Sehhilfe‘, die den Blick des Reisenden lenkt.285

277 Die Antike und die Beschäftigung mit ihr lehnt Herr Oehmichen ganz pragmatisch mit dem Verweis auf den Stoffmangel der Statuen ab. Vgl. Stinde 1885, 8-9. 278 Ab 1830 veröffentlichte der deutsche Verleger Karl Baedeker seine Reiseführer, bald auch in englischer und französischer Sprache. 1895 erschien Baedekers ItalienReiseführer bereits in der 10. englischen Auflage, vgl. Motyka 1990, 15. 279 Stinde 1885, 25. 280 Urry macht darauf aufmerksam, dass es nicht den einen touristischen Blick gibt, sondern dieser je nach gesellschaftlichen, historischen und sozialen Umständen differiert. Vgl. Urry 2002, 1. 281 Vgl. MacCannell 1999, 121. 282 Schütze 2009, 29. 283 Vgl. Schütze 2009, 29. 284 Vgl. Prein 2005, 137. 285 Zur Geschichte der Reiseführer, hier am Beispiel des Baedekers, vgl. Müller 2012. Müller weist unter Bezugnahme auf Christoph Hennig darauf hin, dass die Kritik an der tatsächlichen oder vermeintliche Oberflächlichkeit der Reiseführer – und der Touristen – die Absicht und das Interesse der Bücher und ihrer Nutzer nicht bedenkt,

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Auch Wilhelmine will sich dieses Wissen aneignen. Ihre Reisevorbereitung besteht aus der Auswahl der angemessenen Kleidung und dem Studium der Kunstgeschichte, „denn nichts ist thörichter [sic!], als wenn jemand nach Italien reist und von Kunst keine blasse Ahnung hat. Wer wegen Rheumatismus hingeht, den trifft natürlich in dieser Hinsicht kein Tadel, für den ist das milde Klima die Hauptsache. Aber was wollen Menschen in Italien, die weder wissen, was Antike, noch was Renaissance ist, die nie etwas von der Toscanischen oder der Umbrischen Schule gehört haben und in der Architektur nicht einmal die dürftigsten Kenntnisse besitzen? Derlei Leute thäten besser, zu Hause zu bleiben, anstatt die Kunstwerke anzusehen wie der Mops den kalten Ofen.“

286

Die Ausführung wird durch eine Anmerkung Stindes, der hier als Herausgeber in Erscheinung tritt, in der Fußnote bezeichnend kommentiert: „Meine verehrte Freundin geht hier ein wenig zu weit, aber sie ist insofern zu entschuldigen, als auch sie von der allgemein verbreiteten Ansicht beherrscht zu sein scheint, daß Italien ein Museum sei, dessen Besuch kein Vergnügen, sondern eine Aufgabe ist, das der Deutsche durchrennt, um vor den verschiedenen Objekten sein vermeintliches Verständnis auszukramen, und das er verläßt, um in der Heimath Rechenschaft über die neuerworbenen Kenntnisse abzulegen. Da der Mensch im Allgemeinen jedoch kein Examenstier ist und nicht nöthig hat, sich auf Kunstgelehrsamkeit vereidigen zu lassen, so besucht auch derjenige mit Vortheil Italien, dem das Herz beim Anblick des Schönen aufjubelt und der sich diese Freude nicht durch die dumme Scham verkümmern läßt, nicht jeden bemalten Lappen, nicht jeden verwitterten Marmor, nicht jede umgefallene Mauer fachgemäß klassificieren zu können.“

287

Stindes Anmerkung persifliert die bildungsbürgerliche Reisemotivation, die das Reiseziel zum Anschauungsobjekt und das Objekt – und in dieser Beschreibung wird ganz Italien zu einem historischen Ausstellungsobjekt – zum Mittel degradiert, den eigenen Kenntnisreichtum zu belegen, auch wenn der Besichtigungs-

denn diese seien an der Abbildung des Alltagslebens beziehungsweise der Teilhabe daran wenig interessiert und ebenso wenig willkommen. Vgl. ebd. 14; vgl. ebenso Hennig 1999, 41-42. Dies widerspricht jedoch einer Annahme der touristischen Suche nach Authentizität, wie sie bei MacCannell analysiert wird, vgl. MacCannell 1999. 286 Stinde 1885, 3. 287 Stinde 1885, 3-4.

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gegenstand sich als fragwürdig erweist. Wichtiger ist dem Autor das sinnliche Erleben der Fremde, eine ästhetische Erfahrung, die keine Klassifizierung und Jahreszahl benötigt. Uneinsichtig und ihn unwillentlich bestätigend äußert sich seine Protagonistin über die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erlebnis und die Notwendigkeit hier genutzter „Sehprothesen“288. Denn ohne vorherige Lektüre oder Informationen anderer könnte es passieren, dass „man sonst den historischen Boden für ganz gewöhnlichen Bauschutt hält und bei dem Betreten desselben keine anderen Gefühle hat, als wenn man bei den Rehbergen vorbeispaziert und auf einer Tafel die Inschrift liest: Hier kann Müll abgeladen werden. In dem verklärenden Lichte der Geschichte jedoch wird das Unscheinbarste interessant, und wer graulicher Natur ist, den überlaufen auf historischem Boden mehr Gänsehäute, als beim Durchlesen der Criminalzeitung, auf welche Herr Krause abonnirt [sic!] ist und die wir mitunter leihen. Aber, wie gesagt: Vorstudium ist unbedingt dazu nöthig!“

289

Das lesende Subjekt verortet nicht nur, was es sieht, sondern auch sich selbst über die neu erworbenen Kenntnisse. 3.3.3 Touristische Stadteinsichten und -ansichten Verschriftlichte wie auch visualisierte Ansichten dominierten die Imagination und gaben vor, „wonach sie [die Touristen] Ausschau halten sollten, und im Nachhinein wurden sie daran erinnert, was sie gesehen hatten. Unterwegs halfen ihnen diese Repräsentationen, das des Sehens Würdige zu erkennen und zu bewerten. Fand ihr Blick keinen Halt, griffen sie auf vergleichbare Bilder zurück, die sie von früheren Lektüren und Reisen kannten.“

290

288 Belting 2001, 28. Belting nutzt den Begriff in Bezug auf technische Bilder und eine technische Vermittlung der Welt. Vgl. ebd. In Stindes Buch wird die Nutzung von Hilfsmitteln zur Welterkennung, hier des Reiseführers, auch durch die Begegnung mit einem weiteren Mitreisenden kommentiert, der Wilhelmine den Blick in die Bücher verderben will. Sie reagiert verärgert auf das Ansinnen und fragt nach, woher sie denn sonst ihr Urteil über die Kunst hernehmen solle, worauf ihre neue Bekanntschaft auf die Natur verweist, vgl. Stinde 1885, 11-12. 289 Stinde 1885, 6. 290 Prein 2005, 147.

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So wird die Sehenswürdigkeit durch die mediale Vor- und Nachbereitung, aber auch durch den touristischen Blick, der auf sie gerichtet ist, in ihren Status erhoben und darin bestätigt. Der Tourist befindet sich in einer mehrfachen Überprüfungsschleife, wenn er auf einen Marker reagiert und diesen mit dem Sichtbaren abgleicht. MacCannell beschreibt dies als „double take“291, wenn der Blick von der Beschreibung auf das Objekt, zurück zur Beschreibung und wieder zum Objekt wandert.292 „[…] Sightseers have the capacity to recognize sights by transforming them into one of their markers. Society has the capacity to ‚recognize‘ places, men and deeds by building a marker up to the status of a sight.“ 293 Davis und Marvin beschreiben den Sightseer in Anlehnung an John Urry als „someone, who engages in socially and culturally constructed way of viewing“294. In diesem Sinne wird der „tourist gaze“295 verstanden als Blick, der durch die entsprechende kulturelle und gesellschaftliche Vorprägung das Beachtenswerte erkennt. „Central to our modern notions of what it means to be a tourist is the concept of the sightseer: someone, that is, who engages in a socially and culturally constructed way of viewing […].“296 So hat John Urry den ‚tourist gaze‘ definiert als einen Blick, der die Umgebung zu etwas Besonderem macht. 297 Urrys Idee des touristischen Blicks lässt sich, folgt man Steinkrüger, auch auf künstliche (Themen-)Welten und die dort möglichen imaginären Reisen übertragen. Auch hier werde durch die Anwendung des ‚tourist gaze‘ das Gewöhnliche zum Außergewöhnlichen.298 Der Reisende schenkt, Urry folgend, dann auch dem Visuellen in der Fremde größeres Interesse als Zuhause, zeige „a much greater sensitivity to visual elements of landscape or townscape than [is] normally found in everyday life.“299 Diese erhöhte Aufmerksamkeit, die der touristische Blick erzeugt, benennt Peter Burke als ‚Theatereffekt‘, somit als Art der Wahrnehmung, die das Sichtbare als Aufführung seiner selbst begreifen lässt:300 „The tourist gaze naturally produces

291 MacCannell 1999, 123. 292 Vgl. MacCannell 1999, 123. 293 MacCannell 1999, 123, Hervorhebung im Original. 294 Davis und Marvin 2004, 13. 295 Urry 2002, 1. „The tourist gaze is directed to features of landscape and townscape which separate them off from everyday experience.“ Vgl. ebd., 3. 296 Davis und Marvin 2004, 13. 297 Vgl. Urry 2002, 1. 298 Vgl. Steinkrüger 2013, 54. 299 Urry 2002, 3, vgl. ebenso Davis und Marvin 2004, 13. 300 Vgl. Burke 2011, 89.

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what might be called the ‚theatre effect‘. All the same, some cities, Venice among them, lend themselves to this effect even more than others.“301 So besteht eine direkte Verbindung zwischen dem touristischen Blick und einer theatralen Stadtwahrnehmung. Als Abschluss der Italienreise steht auf dem Reiseprogramm des Ehepaars Buchholz unvermeidbar Venedig. Der bekannten Reiseroute und der weitverbreiteten Reiseliteratur302 folgend darf der Besuch in Venedig nicht fehlen, allerdings weniger als krönender Abschluss denn als von der Reiseplanung abhängende Notwendigkeit. Wilhelmine Buchholz konstatiert: „Unser Rundreisebillet ging auf die Neige und Venedig musste noch mitgenommen werden.“ 303 Die Ankunft in Venedig sei, so Martin Nies, ein Ereignis;304 im Verweis auf die literarische Venedigrezeption nennt er sie eine „markierte Grenzüberschreitung“305, die sich durch die besondere Lage bedingt. 306 Hier lohnt die genauere Analyse des Begriffs ‚Ereignis‘, das, nach Sauter, als „Geschehen von öffentlicher Bedeutung“307 definiert werden kann, zudem „weitere Kreise zieht“308 und über eine sinnliche und visuelle Komponente verfügt. Gerade mit Blick auf die Kulturwissenschaften heißt es bei Sauter weiter: „Während sozialwissenschaftliche Lesarten den E[reignis]-Begriff vor allem als Gegenbegriff zu ‚Struktur‘ auffassen, d.h. als Vorgang, durch den sich Strukturen ändern, orientieren sich ästhetische Ereigniskonzepte auf unterschiedliche Weise an Kriterien wie Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Irreversibilität. So wird die Ereignishaftigkeit performativer Kunstformen darin gesehen, dass deren Produktionen eine zeitliche Begrenzung aufweisen, nie in der gleichen Form ein zweites Mal stattfinden können und in

301 Burke 2011, 89. Der touristischen Raumproduktion wohnt eine theatrale Qualität inne. Burke zitiert hierzu Henry James, der das Reisen mit dem Besuch im Theater vergleicht. Vgl. ebd. 302 Schenk weist darauf hin, dass in Frankreich verschiedene Satiren über die Mode der Venedigreise zirkulierten. Vgl. Schenk 1987, 127. 303 Stinde 1885, 164. Thomas Cook führte Rundreise-Tickets ein, mit denen es seinen Kunden möglich wurde, sich unabhängig durch das Reiseland zu bewegen. Vgl. Hachtmann 2007, 67. 304 Vgl. Nies 2014, 13. 305 Nies 2014, 15, Hervorhebung im Original. 306 Vgl. Nies 2014, 15. 307 Sauter 2005, 92. 308 Sauter 2005, 92.

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Verlauf und Wirkung unwiderruflich sind. Ereignishaftigkeit und Transitorik (Flüchtig309

keit) gelten dabei als zwei Seiten derselben Medaille.“

Im Ritual scheint sich das Ereignis zu bestätigen und zu widersprechen – ist es doch einerseits geprägt von Struktur und der Einhaltung vorgegebener Abläufe und ist es andererseits gekennzeichnet durch Einmaligkeit und Irreversibilität, durch die Provokation einer Veränderung.310 Die Ankunft in Venedig soll als performatives Ereignis betrachtet werden, nimmt man die Perspektive des Reisenden ein, für und durch den sich hier ein einmaliges, ästhetisches Erleben realisiert. Da der Reisende dabei aber einer vorgeprägten Erfahrung folgt und die Erfüllung bestimmter Erwartungen sucht, kann der Ablauf dieses einmaligen Ereignisses zugleich als Wiederholung und Reenactment311 betrachtet werden. Diese paradoxe Situation lässt die Ankunft in Venedig als vorgeprägt erscheinen, die zugleich aber definiert ist durch ihre Abweichung vom Gewohnten. Gerade eine Stadt wie Venedig scheint das Außeralltägliche zu potenzieren.312 Der touristische Kontakt mit Venedig soll im Folgenden anhand zentraler touristischer Reiseräume Beachtung finden, weshalb Markusplatz und Lido näher untersucht werden. Begonnen aber wird mit dem vielleicht wichtigsten (Sinn-)Bild der Stadt, der Gondel. 3.3.3.1 Die Gondel Das Bild der malerischen Stadt, deren Häuser sich aus dem Wasser erheben und die statt von Straßen von Kanälen durchzogen wird, ist, so wurde es in den bisherigen Ausführungen gezeigt, ein kulturelles Imaginäres und dominiert als sol-

309 Sauter 2005, 93. 310 Vgl. Warstat 2005c. 311 Vgl. Otto 2014, 287-290. 312 Der venezianische Karneval, der heute (wieder) einen Teil der Attraktion der Lagunenstadt ausmacht, steht beispielhaft für ein Spiel aus Täuschung und Maskierung; gerade Ende des 19. Jahrhunderts war der Karneval aber in Venedig selbst keineswegs Bestandteil des alljährlichen Festkalenders. Nach der Eroberung der Stadt Ende des 18. Jahrhunderts setzte eine Phase ein, in der der Karneval unregelmäßig und nicht als kollektive Feier stattfand. Seine Wiederbelebung erlebte er erst 1979, vgl. Davis und Marvin 2004, 120. So ist der Karneval, wie bereits erwähnt, in der vorliegenden Arbeit als Teil des Stadtmythos in Bezug auf Verstellung und Spiel zwar mitgedacht und mitgemeint, wird jedoch nicht als kulturelle Praktik, die der Besucher vor Ort erlebte, behandelt. Vgl. zur Geschichte des Karnevals Weichmann 1999; vgl. ebenso Davis und Marvin 2004, 35-41.

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ches die Vorstellungen der Reisenden. Die Erwartungen sind folglich auch bei den Berliner Buchholzens hoch – und die Enttäuschung ist entsprechend groß, denn hier scheinen Vorstellung und Realität weit auseinander zu driften. Die patente Wilhelmine verfällt keineswegs direkt dem Zauber der Lagunenstadt, sondern stellt bei ihrer Ankunft nüchtern fest: „Als wir in Venedig anlangten und aus dem Bahnhof traten, sahen wir ein breites Wasser vor uns und in dem Wasser standen die Häuser. Vor der Treppe hielt eine Anzahl von merkwürdigen Booten mit schwarzen Kästen, die wie Särge aussahen. ‚Ist die Cholera hier‘, fragte ich, ‚weil so viele auf einmal begraben werden?‘ Man bedeutete mir jedoch, die schwimmenden Leichenwagen seien die berühmten Gondeln. – ‚Ich danke‘, antwortete ich, ‚die Häuser bauen sie ins Wasser hinein und in Särgen fahren sie spazieren. Venedig hat wohl einen Klaps?‘“

313

Die Singularität dieser Venedigbegegnung liegt im Mangel an Vorwissen, die Komik speist sich aus dem unbedarften Blick der Protagonistin, die hier zum ersten Mal eine Gondel sieht; wenn ihr auch das Konzept bereits vertraut ist, so doch nicht seine tatsächliche Umsetzung. Wilhelmine schreckt vor den schwarzen Gefährten zurück, die sie eben nicht mit der romantischen Idee der Stadt, sondern vielmehr als Gefährt für den Transport der Toten assoziiert. Damit verweist die Reisende wiederum auf einen bekannten literarischen Topos – für die Fahrt mit der Gondel findet sich in der Literaturgeschichte vielfach der Vergleich mit einer Totenfahrt: „Shelley described the gondola as ‚funereal bark‘, Mark Twain compared it to a ‚hearse‘, and Wagner complained that it made him feel he was ‚taking part in a funeral procession during a pestilence‘, while some classically educated tourists saw the gondolier as Charon.“314

313 Stinde 1885, 164. 314 Burke 2011, 87. Weiter verweist Burke auf Henry James, der die ganze Stadt als Mausoleum beschrieb, und auf Thomas Manns Tod in Venedig. Vgl. ebd. Eng gebunden ist die Idee von Untergang in Venedig einerseits an die Stadtgeschichte und den Verfall der Häuser, andererseits aber auch an die ständige Bedrohung durch das Meer. Der Untergang als Metapher des (politischen) Endes der Serenissima und die reale Bedrohung durch das Meer scheinen heute übertönt von der dominanten Lesart einer Zerstörung der Stadt durch den Massentourismus, vgl. Nies 2014, 15, vgl. ebenso ebd., 353. Davis und Marvin sprechen bereits für das Ende des 19. Jahrhunderts von über fünftausend Touristen, die in der Hauptsaison täglich die Lagunenstadt besuchten, vgl. Davis und Marvin 2004, 216.

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Auch Thomas Mann lässt seinen Protagonisten Gustav Aschenbach in Tod in Venedig zögern, bevor er die Gondel betritt, er spürt „einen flüchtigen Schauder, eine geheime Scheu und Beklommenheit“315, eine Vorahnung seines Todes, die ihn hier erfasst. Verbunden mit der Idee des Stillstands sozialen Lebens in der Stadt und befördert durch den sichtbaren Verfall der Häuser ist das Morbide Teil der Stadterfahrung. „In Venice history had stopped. Behind the activity there was always a stillness; after the music, always a silence. […] History had stopped – but time continued; and evidence of time’s harm was so magnified and multiplied by an atmosphere empty of great events, that the idea of a dying city became one of the most potent obsessions of the European and 316

American imaginations.“

Die sterbende Stadt überträgt sich in ihrer Morbidität auf den Reisenden, der sich hier in einem Zwischenraum wähnt. Die Idee der Grenzüberschreitung wird in der Gondelfahrt versinnbildlicht, am deutlichsten in der Parallelität von Gondelführer und Fährmann zum Reich der Toten. Aber auch ohne mythologischen Verweis wird hier der Zwischenstatus der Lagunenstadt nochmals deutlich. Burke beschreibt das Negativbild der Stadt als „‚the flâneur’s Venice‘“317, als „that [major theme, DV] of decay and death, viewed with a kind of pleasurable melancholy.“318 Zumindest das literarische Subjekt setzt sich einer solchen Bedrohung aus und der Möglichkeit eines tiefgreifenden Wandels, so dass die Literatur- und Filmgeschichte Zeugnis ablegt von dem rekurrierenden Motiv des Selbstverlustes und des drohenden Todes in Venedig.319 Venedig als Ort des Flaneurs ist zudem eine antimoderne Stadt, die sich in ihrem Untergang als Gegenmodell der Großstadt und damit als Zufluchtsort des Flaneurs erweist. Trotz literatur- und motivgeschichtlich aufgeladenen Zeichenhaftigkeit sind die einzigartigen Boote aber vor allem auch Transportmittel des Stadttouristen. Als pars pro toto sind die Gondeln elementar für Venedig und stehen in so engem Bezug zu der am und im Wasser gebauten Stadt, dass Christina Schenk re-

315 Mann 2004, 26. 316 Pemble 1995, 114. 317 Burke 2011, 87, Hervorhebung im Original. 318 Burke 2011, 87. 319 Nies verweist für die deutschsprachige Literatur auf August von Plantens Venezianische Sonette von 1825, seit deren Publikation Venedig mit „untergegangener Größe, Verfall, Dekadenz und ‚Tod‘“ belegt werde, Nies 2014, 15. Vgl. auch weiterführend Perosa 1999.

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sümiert: „Die exotischen, aus fernvergangenen Tagen bis in die Gegenwart unverändert gebliebenen Barken sind Symbol und Kürzel der Stadt, so daß, wer ‚Gondel‘ sagt, sogleich ‚Venedig‘ denkt.“320 Die Gondel ist das zentrale Icon der Stadt, über das ein weltweiter Wiedererkennungswert garantieren wird. „Even reduced to a few sketchy lines, floating on a neutral background and without landscape references, the gondolier and gondola that haunt restaurant walls, menus, ads, and clip art around the world have the power to conjure up such touristic ideals as graceful servility, relaxed luxury, arcane skills, and unobtrusive knowledge.“

321

Von einem alltäglichen Verkehrsmittel wandelte sich die Gondel zu einer touristischen Attraktion. 1881 machte der erste Vaporetto den Booten Konkurrenz 322 – während das neue Transportmittel für die Modernisierung stand, war mit der Gondel die Idee der Bewahrung, des Stillstandes, der Ästhetisierung der Stadt verbunden.323 Nun erst wechselte die Gondel und mit ihr die Gondolieri aus dem Bereich des Transportwesens in die Sphäre der reinen Stadtrepräsentation. 324 Heute, so scheint es, nutzt kein Venezianer eine Gondel, vielmehr ist jeder darin Sitzende direkt als Tourist markiert.325 Diese zentrale Stellung der Gondel machte die Gondelfahrt auch zu einem wichtigen Element der metropolitanen Venedignachbauten, wie im vorherigen Kapitel beschrieben. Hier etablierte sich die Fahrt meist als romantischer Moment der Zweisamkeit, wie ihn beispielsweise das spätviktorianische England neu erfand.326 Die Gondel sei, wie Venedig selbst, auch als Heterotopie zu betrachten, so Franke und Niedenthal: „Dort die Stadt zwischen den Aggregatszuständen fest und flüssig, zwischen dem Jetzt und dem Einst. Hier die Gondel als weithin sichtbare, aber auch nicht einsehbare Privatsphäre im öffentlichen Raum, als klar verständliches Zeichensystem, das für Außenste-

320 Schenk 1987, 112. 321 Davis und Marvin 2004, 136. Die typische ‚Tracht‘ der Gondolieri hingegen entstand wohl erst in den 1920er Jahren, vgl. Ackroyd 2010, 229. 322 Es handelte sich um das Dampfschiff Regina Margherita, vgl. Franke und Niedenthal 2011, 20. 323 Vgl. Davis und Marvin 2004, 140-141. 324 Vgl. Davis und Marvin 2004, 141. 325 Vgl. Davis und Marvin 2004, 155. 326 Davis und Marvin 2004, 149

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hende – zumindest in den Zeiten vor ihrer Degradierung zum touristischen ‚Signifikat‘ – dennoch unergründlich blieb.“

327

Der touristische Gebrauch reduziert die Symbolik der Gondel zwar, dennoch schwingt die Idee des Privaten im Öffentlichen weiter mit, ist die Gondel – so zeigt es ihre bis heute anhaltende Rezeptionsgeschichte – noch immer auch mit dem Unheimlichen verbunden, als schwimmender Sarg ebenso präsent wie als romantisches Moment und Teil des touristischen Stadterlebens.328 Im Freizeitpark ist diese Fahrt von vorneherein nur als Erlebnis angedacht und eingesetzt. Meist in einem Rundweg angelegt, dient der Ausflug mit der Gondel nicht dem zielgerichteten Transport der Insassen, sondern wird sie zum Ort der Betrachtung und die Fahrt mit ihr zur Möglichkeit, selbst betrachtet zu werden.329 Wilhelmine Buchholz, die die Singularität der Lagunenstadt nicht als Faszination, sondern als Absurdität beschreibt, lässt sich schließlich doch zu einer Gondelfahrt überreden – und verfällt dem erwarteten Klischee. „An die schwarzen Affenkasten gewöhnt man sich bald und so am Abend im Mondschein, auf den weichen Kissen ruhend, den Canale grande entlang zu gleiten, anderen Gondeln mit bunten Lampen zu begegnen und dem Singen und Musicieren auf den Wasser zuzuhören, das ist wundervoll.“

330

Das ‚Wunder‘ Venedigs und der Moment der Überwältigung angesichts des Zaubers der Lagunenstadt wirkt auch auf die Berliner Reisenden – wenngleich in einem Moment der touristischen Erfahrung par excellence, der an Künstlichkeit und Ausrichtung auf den Fremden kaum zu übertreffen ist. Diese Gondelnutzung dient allein dem Vergnügen und dem Erlebnis an sich. Die Gondel fungiert nicht mehr als Transportfahrtzeug; sie weist ihre Benutzer als Touristen aus, die wiederum anderen Touristen gondelnd begegnen. Kein einsames Unterfangen trau-

327 Franke und Niedenthal 2011, 23. 328 Vgl. Franke und Niedenthal 2011, 23f. Die Verbindung aus Faszination und Furcht findet sich mit Blick auf Exotik und Fremde immer wieder, „als Sphäre das Unheimlichen, der Bedrohung, des Dunkeln“, vgl. Geyer und Hellmuth 2003, XXVI. 329 Vgl. Gregory 1988, 172f. 330 Stinde 1885, 165. Gegen das Bild der Stadt im Mondschein und die Romantisierung der Venedigerfahrung richteten sich 1910 die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti mit ihrem Pamphlet „Contro Venezia passatista“, vgl. hierzu Altomare et al.1995, 16; hierzu auch Pemble 1995, 159 ff.

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ter Zweisamkeit, sondern ein ‚Gruppen-Event‘ wird aus diesem Reisehöhepunkt, der durch seinen Erlebnischarakter geprägt ist.331 Vergleichbar der Erfahrung in Stindes Reiseroman ist die Beschreibung des Reiseunternehmers Louis Stangen. Der von Sternberger als „Panorama-Unternehmer[.]“332 bezeichnete Stangen organisierte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, Cooks englischen Unternehmungen nacheifernd, geführte Gruppenreisen zu den Pyramiden Ägyptens.333 Bald überließ er diese Reiseziele seinem Bruder Carl und spezialisierte sich selbst auf Italien, „auf den alten Süden also, der, neu und bequemer dargeboten, seine Stellung neben dem üppigeren Orient behauptete.“334 Der Verlust an Exotik wurde ersetzt durch eine bequemere Erreichbarkeit. Von Stangen stammt die Beschreibung einer seiner organisierten Reisen nach Venedig, in deren Zentrum eine Gondelfahrt steht: „Noch heute sind den Venezianern die großen Stangenschen Corso-Gondelfahrten auf dem canale grande vom Jahre 1864 in Erinnerung, die in mondheller Nacht bei Musikund Sängerbegleitung vom Hotel Bauer aus in mit bunten Lampions geschmückten Gondeln und Barken stattfanden, und Tausende von Venezianern und Venezianerinnen an die schmalen Ufer des Kanals und auf den Ponte di Rialto lockten, um zu schauen, wie sich die reiselustigen Prussiani in der Lagunenkönigin amüsirten [sic!] und über die weithin schallenden Barcarolen des italienischen Sängercorps freuten.“

335

Die Gondelfahrt wurde zu einer Aufführung, die aus Reisenden und Venezianern zugleich Akteure und Zuschauer werden ließ. Keine einfache abendliche Schiffsfahrt wird hier beschrieben, sondern eine Komposition, die aus der Fahrt ein Gemeinschaftserlebnis machte, bei dem die Musik ebenso wie die richtige Beleuchtung nicht dem Zufall überlassen wurden. Mag auch die Behauptung, dass „Tausende von Venezianern und Venezianerinnen“ dem Spektakel beiwohnten, schwer überprüfbar und vermutlich übertrieben sein, so kann doch davon ausgegangen werden, dass sich Neugierige einfanden, für die die „Stangen’sche Corso-Gondelfahrt“ ein besonderes Ereignis darstellte, eine Inszenierung, die die Mitreisenden wie die Zuschauenden unterhielt, wobei beide für den jeweils an-

331 Vgl. Davis und Marvin 2004, 155. Im touristischen Reisen wird das eigene Erleben wichtiger und subjektiv beurteilt und nicht gebunden an das Maß der Arbeit, das sein Gelingen ermöglicht, vgl. ebd. 332 Sternberger 1974, 55. 333 Vgl. Sternberger 1974, 54-55. 334 Sternberger 1974, 55. 335 Stangen 1876, 17, hier zitiert nach Sternberger 1974, 55.

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deren zum agierenden Bestandteil der Aufführung wurden. Sternberger sieht Stangens Tourismusangebot als eine Schaustellung des ‚richtigen Venedigs‘ – welches eben nicht nur der Reisegesellschaft, sondern auch den Venezianern selbst präsentiert wurde.336 Venedig wird doppelt zur Bühne und perfekten Kulisse, auf literarische und malerische Klischees verweisend. Im Mondlicht in Gondeln gleitend, begleitet von der Venedig-typischen Musik, zitierte das Spektakel Bilder und Berichte, bediente die Imagination und schuf eine Attraktion für Betrachter und Beteiligte.

Abb. 3: Gondelnde Touristen in Venedig Die zentrale Stellung der Gondeln erklärt sich auch aus der schwierigen Fortbewegung an Land. Auch wenn frühe Zeugnisse einer Stadtansicht nachweisbar

336 Vgl. Sternberger 1974, 55. Die Venezianer wurden auch in der Malerei zu einer eigenen ‚Sehenswürdigkeit‘, vgl. dazu auch Davis und Marvin 2004, 87; ebenso ebd., 97.

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sind,337 war der erste Stadtplan für den Besucher erst 1870 in einem Reiseführer von Baedeker erhältlich – und dieser verzichtete auf ein Verzeichnis der Straßennahmen und benannte stattdessen die Kanäle.338 Doch selbst wenn der Besucher einen Stadtplan nutzen konnte, so erschwerten die vielen verwinkelten Gassen, Brücken und Kanäle die Orientierung. Die Wahl der Perspektive vom Wasser aus auf die Stadt hingegen bot auch die Möglichkeiten, sich besser zurecht zu finden und ein kurzes Verweilen zu ermöglichen, ohne im Labyrinth der Straßen verloren zu gehen. 3.3.3.2 Der Markusplatz Im Zentrum des touristischen Interesses steht auch ein Ort, der in Venedig geradezu paradox anmutet, weil die Stadt an sich geprägt ist von eben jenen kleinen Straßen und Gässchen, dem Labyrinth der Kanäle. Zwischen Markuskirche und Dogenpalast eröffnet sich dem Besucher aber eine ungewöhnlich große Freifläche, die malerisch eingefasst ist. „The heart of tourist Venice is Saint Mark’s Square […].“339 Davis und Marvin bezeichnen den Platz in seiner spezifischen Beschaffenheit als „key touristic signifier of terrestrial Venice“340. Weisen die Hausfassaden in Venedig auf den Reichtum der Bewohner hin, so steht der Markusplatz für vergangene politische Macht, die sich „in so außergewöhnlichen Bauwerken wie dem Dogenpalast, der Markuskirche, dem Campanile, den Prokuratien und der Libreria [manifestieren]“, so Sylvia Bieber. 341 Als Ankunftsort war der Markusplatz lange der Ort des Erstkontakts mit der Stadt, doch auch nach dem Bau der Eisenbahnverbindung bildet er den Moment einer besonderen Begegnung. In Thomas Manns Novelle Tod in Venedig ist zu lesen: „So sah er [Gustav Aschenbach, DV] ihn denn wieder, den erstaunlichsten Landungsplatz, jene blendende Komposition phantastischen Bauwerks, welche die Republik den ehrfürchtigen Blicken nahender Seefahrer entgegenstellte: die leichte Herrlichkeit des Palastes und

337 Zur Thematik der Veduten vgl. den entsprechenden Abschnitt im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit 338 Vgl. Davis und Marvin 2004, 92. 339 Davis und Marvin 2004, 55. Gerade für Venedig zeigt sich, dass die Fokussierung auf einen zentralen Platz wie den Markusplatz und der Besuch des Campanile als Aussichtsturm die Möglichkeit einer schnellen Stadtbegehung eröffnet und es erlaubt, Überblick über das Gewirr der Gassen zu gewinnen; vergleiche hierzu auch im Folgekapitel die Ausführungen zum Campanile in Venedig. 340 Davis und Marvin 2004, 56f. 341 Bieber 2010, 67.

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die Seufzerbrücke, die Säulen mit Löw’ und Heiligem am Ufer, die prunkend vortretende Flanke des Märchentempels, den Durchblick auf Torweg und Riesenuhr, und anschauend bedachte er, daß zu Lande, auf dem Bahnhof in Venedig anlangen, einen Palast durch eine Hintertür betreten heiße, und daß man nicht anders, als wie nun er, als zu Schiffe, als über das hohe Meer die unwahrscheinlichste aller Städte erreichen sollte.“

342

Abb. 4: Markusplatz mit Markusdom und Campanile War der Markusplatz im Mittelalter noch eine zentrale Anlaufstelle für die Pilgerreisenden – „medieval Madame Tussaud’s of biblical curiosities, offering a wide range of sacred objects“343 – so fand auch der Tourist, dem Pilger vergleichbar,344 hier Bestaunenswertes, allerdings weniger sakrale denn ästhetische Schätze. „The sacred has never been limited to the religious alone, and these new aesthetic pilgrims expressed a need, very much like that of medieval pilgrimtourists, to worship at these same cultural shrines.“345

342 Mann 2004, 25-26. 343 Davis und Marvin 2004, 20. 344 Vgl. MacCannell 1999, 43. 345 Davis und Marvin 2004, 29. „Much like present-day visitors to the city, these pilgrim-tourists found the city as a place poised between the familiar and the exotic.“

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Jenseits seiner historischen und politischen Funktion und Geschichte entwickelte sich der Markusplatz, „der große Festsaal von Venedig“ 346, wie ihn auch Frau Buchholz nennt, im 19. Jahrhundert zu einem sozialen Treffpunkt, 347 befördert durch die hier vorhandenen Kaffeehäuser, aber in erster Linie bedingt durch die freie Fläche, die es möglich machte, selbst sichtbar zu werden, und auch andere zu betrachten.348 So schreibt Bierbaum in seiner Reiseerinnerung: „Auf dem Markusplatz trifft man stets alte Bekannte. Er ist der größte Rendez-vous-Platz aller guten Europäer, sein Campanile das riesige Ausrufezeichen, das Alle lockt, die nach Schönheit durstig sind.“349 Die Anwesenheit und Sichtbarkeit der vielen Touristen führte auch, folgt man Autoren wie Henry James, zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der massentouristischen Stadtaneignung. Das Verhalten der lärmenden, vermeintlich ‚unzivilisierten‘ Reisenden, überschreibt die Stadtwahrnehmung.350

Davis und Marvin 2004, 13 Verband sich hier für die mittelalterlichen Pilgerreisenden das Fremde mit dem Vertrauten, so sei der Platz mit seiner spezifischen Architektur und Anlage ein „vast Oriental fantasy land“, Davis und Marvin 2004, 68. Auch Burke verweist auf den Reiz orientalischer Fremde, mit dem die Stadt lockt: „Indeed, Venice was often seen as a setting for the Arabian Nights, thus combining the orientalizing gaze with the sense that the city was not quite real.“ Burke 2011, 88, Hervorhebung im Original. 346 Stinde 1885, 165. 347 Davis und Marvin 2004, 63. 348 Vgl. Davis und Marvin 2004, 63. Die Autoren betonen, dass sich Bewohner und Besucher auf dem Markusplatz mit unterschiedlichen Interessen aufhielten und anders bewegten, so dass selbst an den Tischen der Kaffeehäuser zwar eine physische Begegnung, aber kein Austausch stattfand. Ebd. 349 Bierbaum 1999, 68. Vgl. auch Corbineau-Hoffmann 1993, 301. Ähnlich kolportiert dies auch Ackroyd 2010, 365. 350 „The barbarians are in full possession and you tremble for what they may do. You are reminded from the moment of your arrival that Venice scarcely exists any more as a city at all; that she exists only as a battered peep-show and bazaar. There was a horde of savage Germans encamped in the Piazza, and they filled the Ducal Palace and the Academy with their uproar.“ James 1992, 12. Vgl. auch Corbineau-Hoffmann 1993, 300. Der Kritik am Touristen und seinem Verhalten ist auch der Wunsch eingeschrieben, das Reisen als exklusive Angelegenheit zu wissen, das nur einer bestimmten Schicht offen steht. Das richtige Verhalten wie auch das Erkennen der richtigen Sehenswürdigkeiten und deren adäquate Betrachtung wird zum Distinktionsmittel. Die Kritik am Tourismus ist Teil der touristischen Erfahrung, dient

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Neben dem Besuch der Kaffeehäuser hat sich für den Markusplatz eine weitere touristische Tätigkeit als legitime Kulturpraktik etabliert: das Füttern der Tauben.351 Diese Handlung ist nicht nur ein Zeitvertreib, sondern etabliert, vielfach dokumentiert, eine eigene touristische Tradition, die dem Anwesenden eine Sinnhaftigkeit zuspricht und ein neues, zirkulierendes Motiv erschafft. Zudem sei dies eine der wenigen Möglichkeiten, mit echten Venezianern Kontakt aufzunehmen, kommentieren Davis und Marvin ironisch.352 Auch Bierbaum widmet sich entsprechend den Tauben in seinem Reisebericht. „Die Tauben von San Marco sind echte Venezianer, sie leben von den Fremden, und es steht zu befürchten, daß die meisten von ihnen während der Saison an Fettsucht zu Grunde gehen. Aber es nimmt sich hübsch aus, wie sie sich zutraulich um die Maisspenderinnen scharen. Wenn um zwölf Uhr vom Arsenal her der Kanonenschuß fällt, fliegt die ganze Schar erschreckt auf und umkreist die Piazza. Vielleicht tun sie bloß erschreckt, und das 353

Auffliegen gehört zum Programm der Sehenswürdigkeiten für die forestieri.“

In Venedig ist alles Schauspiel, umso mehr, wenn es sich auf dem Markusplatz zuträgt – selbst den Tauben wird unterstellt, Teil der Industrie und ihrer Inszenierungen zu sein, die dem Touristen ein einmaliges und doch reproduzierbares, ein singuläres und zugleich altbekanntes Venedigerlebnis bietet.

der Selbstverortung und Abgrenzung und ist so alt, wie der Tourismus selbst. So konstatiert auch Enzensberger: „Die Denunziation des Tourismus, die sich mit seiner Kritik verwechselt, ist übrigens von ehrwürdigem Alter“, Enzensberger 1969, 183184. Zugleich zieht sich der Topos des touristischen Fehlverhaltens bis in die Gegenwart: Die Stadt Venedig hat den Markusplatz streng reglementiert. Nach der Ausgabe eines Verhaltensknigges für die Stadt, in welchem der Markusplatz als Freilichtmuseum beschrieben wurde, in welchem man sich angemessenen Verhalten solle, wurden Verbote erlassen. Die öffentliche Nahrungsaufnahme sowie das Sitzen an nicht ausgewiesenen Stellen ist nun ebenso zu unterlassen wie das Flanieren mit nacktem Oberkörper. Vgl. Süddeutsche Zeitung/dpa 2010, http://www.sueddeutsche .de/reise/venedig-will-touristen-erziehen-nicht-essen-nicht-hinlegen-nicht-sonnen-1. 232278 [Letzter Zugriff: 15.01.2014]. 351 Vgl. Davis und Marvin 2004, 76. 352 Vgl. Davis und Marvin 2004, 78. Ackroyd behauptet, dass es Venezianer gäbe, die ihr Viertel nie verlassen hätten und berichtet von einer alten Venezianerin, die den Markusplatz nur zweimal in ihrem Leben gesehen hätte. Vgl. Ackroyd 2010, 254. 353 Bierbaum 1999, 73.

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Der Markusplatz wird zu einem Ort des Flaneurs,354 der zum Betrachten einlädt. Auch hier ist das Flanieren keine exklusive Gegenpraktik mehr, sondern wird zur gängigen Kulturpraktik. So scheint der Platz prädestiniert für Auf- und Vorführung gedacht und in diesem Sinne als Kulisse rezipierbar. Peter Burke konstatiert: „The sense of an unreal city was also expressed by comparing Piazza San Marco, as Couperus did, to a theatre or opera house.“ 355 Gondel und Markusplatz sind prädestinierte Orte des Zuschauers, vor dessen Augen sich das Spektakel entfalten kann. 3.3.3.3 Der Lido Venedig als Reiseziel im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedient eine Vielzahl an Reisemotivationen – und für das Vergnügen fand sich ein Ort ganz besonderer Art: der Lido. Bereits 1857 eröffnet, bediente der Lido die Bedürfnisse eines Strandbades. Wurde Venedig zuvor im Sommer wegen des warmen Klimas eher gemieden, so wurde die Stadt nun dank Strandbad zu einer Sommerattraktion. 356 Bald wurde der Lido ausgebaut und durch neue Hotelanlagen auf den Touristenzustrom in Venedig reagiert.357 Nicht alle waren von dieser Entwicklung angetan, so beklagte Henry James: „You go to the Lido, though the Lido has been spoiled. When I first saw it, in 1869, it was a very natural place, and there was but a rough lane across the little island from the landing-place to the beach. There was a bathing-place in those days, and a restaurant, which was very bad, but where in the warm evenings your dinner didn’t much matter as you sat letting it cool on the wooden terrace that stretched out into the sea. To-day [sic!] the Lido is a part of united Italy and has been made the victim of villainous improvements.“

358

Die ‚Verbesserungen‘ markierten die Insel als exklusiveren Ort der Erholung und bald auch der Zerstreuung: „In the 1880s came the first ‚vaporetti‘, reducing the cost of local transport. At the same time the Lido began to be developed as a

354 Vgl. Davis und Marvin 2004, 63. Dass die Venezianer selbst heute den Platz eher meiden, darauf verweist auch der Dokumentarfilm Das Venedig Prinzip 2012. 355 Burke 2011, 86. Hier im Verweis auf Couperus, Verzamelde werken II, 801. 356 Vgl. Davis und Marvin 2004, 166. 357 Plant beschreibt, wie neue Unterkünfte für die Masse in der Peripherie Venedigs entstanden, während der Lido einem besser gestellten Publikum vorbehalten bleiben sollte, vgl. Plant 2002, 257. 358 James 1992, 20-30.

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tourist zone, significantly marked by the construction of the first great luxury hotel – ‚The Excelsior‘ in 1898.“359 Mit Spode kann die auch dem Besuch des Lido zugrunde liegende Reisemotivation im zweckfreien Reisen gesucht werden, das allein dem „selbstbezogenen ‚Erfahrungskonsum‘ (Knebel 1960)“360 diene. Der Tourismus, der weder ökonomischen Notwendigkeiten noch dezidierten Bildungsabsichten folgt, definiert sich folglich über Motivationen wie Zerstreuung und Unterhaltung. Während Reisen für immer mehr Menschen zu einer Freizeitbeschäftigung wurde und „begüterte Bürger [versuchen], sich den adeligen und großbürgerlichen Reisehabitus anzueignen“361, entstehen neue und exklusivere Reiseziele. „Davon zeugt, dass er [der Adel, DV] neu auf Badereisen setzte und sich an mondänluxuriösen Kurorten mit hier aufkommenden Spielcasinos niederließ. […] Auch da wurde der Adel von Großkaufleuten und Fabrikbesitzern ‚unterschichtet‘ und kreierte in der Folge einen standeskonformen Urlaub mit Seebad.“

362

In dieser Tradition lässt sich die Idee der „Sommerfrische“363 verorten. Ursprünglich von wohlhabenden Familien als sommerliche Landflucht in höhere und damit weniger von Hitze betroffene Regionen begangen, adaptierten diese im 19. Jahrhundert auch bürgerliche Kreise. „Zentren dieser Reiseaktivitäten waren zunächst die Bäder, später dann jene Regionen, die als besonders natürlich – im ökologischen, aber auch im kulturellen und politischen Sinne – galten.“364 Das „Natürliche“ wurde hier wieder zum Konsumgut, das dem Metropolenbewohner Erholung von den Strapazen des Stadtlebens versprach,365 und wurde begleitet von theatralen und performativen Angeboten, so gründeten sich beispielsweise Heimat- und Brauchtumsvereine.366 Erholung umfasste also die Nähe zur Natur, ebenso wie das Angebot an Unterhaltung, das sich teilweise, wie beim Lido, bereits in der Architektur wider-

359 Curtis und Pajaczkowska 2002, hier 158-159. 360 Spode 2013, 98, hier in Bezug auf Knebel 1960. 361 Gyr 2010. 362 Gyr 2010. 363 Marx 2008, 236. 364 Marx 2008, 236. 365 Vgl. Marx 2008, 237. 366 Vgl. Marx 2008, 237. Marx geht im Folgenden auf Im weißen Rössel ein als Beispiel einer erfolgreichen Adaption des Topos der Sommerfrische für die Bühne, vgl. Marx 238f.

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spiegelte, wo sich zudem der luxuriöse Aspekt der Möglichkeit zur Erholung zu reisen in den Hotelanlagen materialisierte: 1900 wurde das Grand Hotel des Bains,367 1908 das Excelsior Palace Hotel eröffnet, letzteres erbaut in einer Mischung aus maurischem und gotischem Stil.368 Venedig gliederte sich damit in eine Reihe von „exklusiven Freizeitorten“ 369 ein, die, wenngleich geografisch weit voneinander entfernt, dennoch strukturell in großer Nähe gesehen werden können. „Aus sozialem und historischem Abstand aber bildeten sie eine Einheit, einen transnationalen Erlebnisraum des Luxus und der Moden, geschaffen für die Elite innerhalb der ohnehin elitären Touristenklasse […].“370 Thomas Mann hat in Tod in Venedig auch dem Lido ein weitrezipiertes literarisches Denkmal gesetzt. Nies liest Manns hier vollzogene Konzeption des Raumes als Gegenraum im Sinne einer „dionysische[n] Repräsentanz innerhalb der europäischen-bürgerlichen Kulturen“371. Gerade die Verbindung von Stadt und Meer sieht er bei Mann als Gegensatzpaar, als „Struktur und Nicht-Struktur“372 und deutet so den Lido als äußersten Punkt der möglichen Konfrontation der Extreme.373 Als Heterotopie ist der Lido zwar Randpunkt, jedoch auch als pars pro toto einer selbst als Heterotopie markierten Lagunenstadt zu lesen. Für Venedig bedeutete er eine Potenzierung der Anziehungspunkte: „Venedig war jetzt beides: eine mythische Kulturstadt und ein exklusives Seebad.“374 Kurorte und Kurbäder375 entwickelten sich von Erholungszentren zu Zentren des Amüsements 376 und wurden zunehmend empfunden als „Orte des Unauthentischen, die vor allem

367 Vgl. Ritter 2010, 30. 368 Vgl. Plant 2002, 214. 369 Spode 2013, 108. 370 Spode 2013, 108. 371 Nies 2014, 220. 372 Nies 2014, 220. 373 „Entsprechend ist Aschenbachs Aufenthalt auf dem Lido als noch auf der äußersten Grenze des Raumes zum offenen Meer hin verortet und sein physischer Tod ereignet sich eben dort am Strand, mit Blick über das Meer hin […].“ Nies 2014, 220. Dieser Grenzraum jedoch, so deutet es Nies, stellt keine Bedrohung des bürgerlichen Lebens dar, denn der Text sei „ein Metatext über Künstlertum, Kunst und Literatur“, Nies 2014, 224. 374 Schwander 2008, 19. 375 Bekannt war bereits, dass das venezianische Klima der Gesundheit förderlich war, wovon beispielsweise die Schrift Venedig als Kurort zeugt, vgl. Taussig 1853. 376 Vgl. Spode 2013, 106-107.

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diversen ‚Zerstreuungen‘ dienen: Bälle und Redouten, Glücksspiel und Prostitution, Sport und Spiel, Platzmusik und Feuerwerk.“ 377 Als Gegenort bildete der Lido aber auch einen innertouristischen Ort der Distinktion, bot er vorerst eine Möglichkeit der Abgrenzung von anderen Venedigreisenden durch seine vermeintliche Exklusivität. In Venedig kulminieren die Reisemotivationen und potenzieren sich die Imaginationen; als Ort des Dazwischens eröffnet die Lagunenstadt ambivalente touristische Erfahrungen, die die Ambivalenz des Tourismus widerspiegeln.

3.4 B LICKACHSEN

UND

R EISEBEWEGUNGEN

Durch kulturelle urbane Praktiken, durch die Mode der Panoramen, aber auch die Veränderungen im Kontext des bereits beschriebenen Ausstellungskomplexes und der neuen Räume des Konsums wurde die Reiseerfahrung in den Metropolen vorgeprägt. Wurde die Fremde kommodifiziert und konsumiert, teils körperlich erfahrbar, so beispielsweise im Flanieren durch den Freizeitpark, wurde das imaginäre Reisen in den Metropolen zunehmend statischer: So wurden beispielsweise Panoramen erweitert zu Fahr-Illusionen, die eine Eisenbahnreise imitierten, eine Fahrt mit dem Passagierschiff oder dem Heißluftballon – und die so der immobilen Mobilität der Eisenbahnfahrt immer ähnlicher wurden.378 „In the nineteenth century, a wide variety of apparatuses turned the pleasures of flânerie into a commodity form, negotiated new illusions of spatial and temporal mobility. […] In short, all of these forms depended on the immobility of the spectator, a stasis rewarded by the imaginary mobilities that such fixity provided.“

379

Friedberg bezieht sich hier auf eben jenen Komplex neuer Illusionsmöglichkeiten, die die Bewegung durch Zeit und Raum erleichterten, dabei aber den Betrachter zunehmend körperlich immobiler werden ließen, während die Vorstellung in Bewegung versetzt wurde.

377 Spode 2013, 107. Spode bezieht sich hierbei auf die generelle Entwicklung der Kurund Seebäder. Weiterhin als natürlich sei hier jedoch, vor allem im frühen 19. Jahrhundert, die Vermischung der gesellschaftlichen Schichten betrachtet worden, so dass er „Seebäder als Labor einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft“ beschreiben kann. Vgl. ebd. 378 Vgl. Kuchenbuch 1992, 6-7. 379 Friedberg 1993, 37.

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Die körperlich vollzogene Reise wiederum erwies sich als Nachvollzug einer Vorprägung: Reiseführer und Reiseberichte lenkten den Blick und erwiesen sich als Sehhilfen des real und imaginär Reisenden. So fanden (und finden) Touristen in Venedig die Bestätigung einer visuellen Vorprägung, „looking for the image they have already formed of Venice“380. Der konsumierende Blick einer bis heute anwachsenden Zahl an Venedigbesuchern richtet sich, so Davis und Marvin, auf diese „images“, die auf mediale Bilder und kursierende Imaginationen verweisen.381 Mit der Entwicklung der Reiseindustrie wurde Venedig zu einer touristischen Stadt par excellence. In einem Kreislauf aus Angebot und Nachfrage wurde der Reisende zum Konsumenten, die Reise, wie auch das vermeintlich Authentische sein Konsumgut – am Beispiel Venedigs zeigte sich diese Entwicklung zum touristischen Warenhaus geradezu paradigmatisch. 382 Die Stadt des Handels und der Kaufmänner blieb dem Handel treu. Doch die Ware veränderte sich und Venedig wurde vom Umschlagplatz des Handels zum Konsumobjekt der Touristen. „They [these tourists] are consuming – not so much Venetian culture, but rather the images of that culture, and consuming them, for the most part, as quickly as possible […].“383 Die (scheinbare) Absenz der Venezianer, ein Topos, der sich von der Flucht des Adels aus der Stadt durch die Eroberung Napoleons384 bis hin zur Vertreibung der Bewohner durch die Invasion der Touristen in der Gegenwart zieht,385 öffnete die Lagunenstadt einer dominanten Lesart durch den Blick von außen und erlaubte eine Vereinnahmung als transnationales Kulturerbe.386 „Wo dem Teilnehmer an einer organisierten Reise die Welt zum Museum wird, wo das Gesehene, bloßer Ausschnitt aus einem größeren, nicht gekannten Zusammenhang, sich

380 Davis und Marvin 2004, 1. 381 Vgl. Davis und Marvin 2004, 1. 382 Wie stark sich hier Venedig von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts veränderte beziehungsweise die Wahrnehmung der potenziell Reisenden und somit auch das Angebot der Stadt, nicht in Bezug auf die Stadtarchitektur, aber zum Beispiel durch die Eröffnung des Lido, dazu vgl. Pemble 1995, 16. 383 Davis und Marvin 2004, 4. 384 Vgl. Forssman 1971, 10. 385 Vgl. Nies 2014, 15. 386 Vgl. zur Thematik des Kulturerbes Girke und Knoll 2013, 9 und vgl. ebenso im vierten Kapitel den Abschnitt Historisierung.

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auf die Dimension eines Fotos reduziert, muß das ohnehin museale Venedig mit seinen funktionslosen Bauwerken zum Prototyp der Sehenswürdigkeiten avancieren.“

387

Das Sehenswerte, so MacCannell, wird definiert über die Reduktion auf dominante Marker, die die Informationen bilden, die der Tourist über eine bestimmte Ansicht und Aussicht erhält.388 Gondel, Markusplatz und Lido sind in diesem Sinne solche Marker, die sich als Orte der Vor- und Aufführung ausweisen, an denen die Stadt zum Panorama wird (Gondel), wo die anderen zum Schauspiel erklärt werden (Markusplatz) oder die Unterhaltung bereits als impliziter Anreiz artikuliert wird (Lido). Als theatrale Stadt hat auch James Venedig in Aspern Hours beschrieben, als Aufführung, der er in einer Gondel sitzend beiwohnt: „And somehow the splendid common domicile, familiar, domestic, and resonant, also resembles a theater, with actors clicking over bridges and, in straggling processions, tripping along fondamentas. As you sit in your gondola the footways that in certain parts edge the canals assume to the eye the importance of a stage, meeting it at the same angle, and the Venetian figures, moving to and fro against the battered scenery of their little houses of comedy, strike you as members of an endless dramatic troupe.“

389

Die Betonung der Theatralität der Stadt Venedig einerseits und die theatrale Konstruktion des touristischen Erlebens andererseits ermöglichen eine Betrachtung Venedigs als performatives Ereignis, das für und durch den Stadtbesucher entsteht. Das Theater dient in Bezug auf das Reisen und die Reiseerfahrung als Metapher, es liefert aber auch unter dem Aspekt einer theatralen Weltaneignung eine Annäherung an das Verständnis der Funktionsweise und Vermittlung von Kulturpraktiken. Gerade in der Idee Venedigs als Schauspiel, als Ort der Vorund Aufführung, als Verhaltensplattform, werden kulturelle Praktiken in ihrer Aneignung und Ausübung dynamisiert.

387 Corbineau-Hoffmann 1993, 293. 388 Er unterscheidet dabei in „on-sight marker“ und „off-sight marker“, MacCannell 1999, 110f. 389 James 1950, 131-132.

4. Playing Venice

„Die venezianischen Paläste […] sind ein preziöses Spiel, schon durch ihre Gleichmäßigkeit die individuellen Charaktere ihrer Menschen maskierend, ein Schleier, dessen Falten nur den Gesetzen seiner eigenen Schönheit folgen und das Leben hinter ihm nur dadurch verraten, daß sie es verhüllen.“ 1 So äußert sich Georg Simmel in seinem erstmals 1907 erschienenen Aufsatz Venedig.2 Von der Architektur der Lagunenstadt ausgehend führt der Soziologe die hier noch wertfrei denkbare Spielmetapher weiter zur Unterstellung eines, bei ihm deutlich negativ behafteten, Spielcharakters Venedigs. Indem er die Baukunst in Venedig mit Florenz vergleicht, meint er ein Gegensatzpaar gefunden zu haben: Während in Florenz eine Übereinstimmung zwischen innerem Leben und äußerer Hülle herrsche, sei Venedig ein paradigmatisches Beispiel der Täuschung, der Maskierung – oder neutraler benannt: des Spiels. Der Spielbegriff findet im Alltagswissen eine breite Verwendung und ist hier verbunden mit der Imagination und dem Austesten seiner Realisierung, „mit einer ‚anderen‘ Wirklichkeit, einer Wirklichkeit des Möglichen, reich an Augenblicken der Verwirklichung.“3 Dennoch oder gerade aufgrund seiner weiten Verbreitung und Anwendung bleibt er schwer konkretisierbar. Helmar Schramm stellt in seinem Versuch der Definition des Spiels geradezu ernüchternd fest, dass es sich um „einen kontextabhängigen Relationsbegriff handelt“ 4. Venedig war, wie es auch beim Blick auf die Tourismusgeschichte gezeigt werden konnte,5 dem Spiel und seiner praktischen Anwendung vielschichtig verbunden, so beispielsweise im hier praktizierten Glücksspiel, dass für viele Rei-

1

Simmel 1922, 68.

2

Vgl. Simmel 1907.

3

Schramm 2014, 332, Hervorhebung im Original.

4

Schramm 2014, 332. Vgl. ergänzend auch Anz 2003.

5

Vgl. im vorangegangenen Kapitel zum Reisen den Abschnitt Tourismusgeschichte(n).

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sende Anreiz zum Besuch der Lagunenstadt bot. Voltaire benennt weitere Freizeitbeschäftigungen, die für seinen Protagonisten Candid jedoch jeden Reiz verloren haben. „Er [Candid, DV] verfiel in düstere Melancholie und nahm weder an der Opera alla moda noch an den übrigen Karnevalsspäßen Anteil; keine Dame vermochte ihn in die leiseste Versuchung zu führen.“6 Neben dem professionalisierten Spiel, wie es die Oper zur Aufführung bringt, werden hier auch das allen offenstehende Maskenspiel des Karnevals 7 und das in den Bordellen vollzogene Liebesspiel benannt.8 Zudem kann auch die Stadterfahrung selbst als spielerisch begriffen werden, im Sinne Simmels und der Idee der architektonischen (Vor-)Täuschung, wie auch mit Blick auf die labyrinthisch erscheinende Stadtanlage. Bedingt durch die Stellung Venedigs zwischen Land und Wasser wird ein Spiel mit der Wahrnehmung provoziert, 9 eine Infrage-Stellung der eigenen Orientierung und Verortung im Raum. Spielen als soziale und kulturelle Praktik, als Aneignung der Welt und Mittel ihrer Hervorbringung und in diesem Sinne als performative Praktik, soll ins Zentrum der folgenden Überlegungen gerückt und in Bezug zur Rezeption und Aneignung Venedigs gesetzt werden. Dafür soll die Lagunenstadt als Auf- und Vorführung im Kontext professionalisierter Spielformen betrachtet werden:10 Oper, Theater und später auch der Film 11 greifen auf Venedig als Spiel-Platz im Sinne des Handlungsortes zurück und nutzen die Lagunenstadt zudem auch als thematisches und ästhetisches „Spiel-Zeug“12. Beispiele hierfür sind die Opern La Gioconda von Amilcare Ponchielli13 und Death in Venice von Benjamin Brit-

6

Voltaire 2009, 79.

7

Vgl. hierzu Weichmann 1999. Vgl. zum Einsatz der Maske in Venedig und ihrer ge-

8

Vgl. hierzu auch Rösch 2000, 168-169.

9

Vgl. Amthor 2009.

sellschaftlichen Funktion Weihe 2004, 162-168.

10 Vorbereitende Gedanken zur Verarbeitung Venedigs in theatraler und filmischer Form wurden von mir im Aufsatz „Keine Heimat, sondern nur ein Abenteuer“ gesammelt, hier allerdings mit anderer Schwerpunktsetzung und unter der Prämisse des Tagungsbandes, der die Verbindung von Theater und Subjektkonstitution befragt, vgl. Volz 2012. 11 Eine Filmografie zu Venedig bis in die 1980er Jahre findet sich bei Ellero 1983. Vgl. auch Pigott 2013. 12 Fischer-Lichte 1999, 95. 13 Uraufgeführt in der Mailänder Scala am 8. April 1876, vgl. Gorrio o. J., vgl. auch Burke 2011, 77.

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ten14, ältere Dramen wie Venice Preserved von Thomas Otway,15 William Shakespeares The Merchant of Venice und Othello,16 aber auch Gerhart Hauptmanns Und Pippa tanzt!17 und Georg Kaisers Die Flucht nach Venedig18, um nur einige zu nennen. Gerade für die Dramen wird dabei in erster Linie eine passive Kulissenhaftigkeit des Handlungsortes vermutet, so dass Corbineau-Hoffmann der epischen und lyrischen Venedigtradition mehr Gewicht zuschreibt, während sie die dramatische abwertet: „Im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit […] gewinnt Venedig Gestalt weniger durch Reiseberichte und Stadtbeschreibungen; auch als Schauplatz von Dramen wie Othello oder Romanen wie Schillers Geisterseher ist Venedig nur sekundär präsent: sein ‚Bild‘ verbindet sich mit den Darstellungen Byrons, Balzacs, Thomas Manns oder Rilkes, vielleicht auch Hemingways und Rose Ausländers […].“

19

Volker Klotz merkt an, dass das Theater generell zwar der dramatischen Handlung einen Ort gibt, aber selten damit den Ort zugleich zum Thema mache. 20 Dem entgegen soll hier Venedig auch als Ort dramatischer Handlung Beachtung finden und damit als im Spiel und spielerisch hervorgebrachter und konstruierter Raum. Die Beschreibung Venedigs durch Fischer-Lichte als „theatralische Stadt par excellence“21 soll dabei in ihren unterschiedlichen Ebenen reflektiert werden. Sie beschreibt mit Bezug auf Max Reinhardts Inszenierung des Kaufmann von Venedig von 1934, auf die im Folgenden noch eingegangen werden wird, die Verbindung der Stadt zum Spiel wie folgt:

14 Die Oper wurde 1973 uraufgeführt, vgl. Burke 2011, 77. 15 Otway 1969. Venice Preserved entstand 1682, vgl. Burke 2011, 81. Burke merkt an, dass englische Reisende eine ‚dramatische‘ Vorprägung erfahren und die RialtoBrücke durch die Augen Shakespeares und Otways betrachtet hätten, auch wenn von den Dramatikern selbst nicht überliefert ist, ob sie die Stadt je bereits haben. Vgl. Burke 2011, 79. 16 Vgl. hierzu weiterführend Tosi 2011, vgl. ebenso Holderness 2010 und MacPherson 1990. 17 Hauptmann 1906. Uraufgeführt wurde Hauptmanns Drama am 19. Januar 1906 im Berliner Lessingtheater. 18 Kaiser 1923. 19 Corbineau-Hoffmann 1993, 5. 20 Vgl. Klotz 1983, 106. Vgl. den Aufsatz auch weiterführend zur Darstellung Venedigs in Johann Strauß’ Operette Eine Nacht in Venedig von 1883. 21 Fischer-Lichte 1999, 95, Hervorhebung im Original.

188 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG „Denn zwischen ‚festlichem Spiel‘ und Venedig scheint eine tiefe Affinität, wenn nicht gar Verwandtschaft zu bestehen. Nicht nur in dem Sinne, daß Venedig die Stadt der Maskeraden und des Karnevals ist, wo die Grenzen zwischen Akteuren und Zuschauern verschwimmen, die Stadt der commedia dell’arte und der Oper; eine theatralische Stadt par excellence, die voll Stolz ihre eigene Theatralität vor ihren eigenen Einwohnern sowie vor Fremden zur Schau stellt: Venedig als die Bühne für die Inszenierung jeglicher Art von theatralischer Architektur und theatralischen Verhaltens [sic!].“

22

Theatralität bezieht sie dabei als konkrete und abstrakte Denkfigur auf die Stadt, die das Sichtbare, ebenso wie die Imagination bestimmt: „Eine solche Affinität besteht ganz sicher auch – und vielleicht sogar in noch stärkerem Maße –, wenn man den Mythos Venedig bedenkt. Dieser Mythos verwandelt die Stadt in eine Heterotopie im Sinne Foucaults. Sie erscheint als ein Ort ‚betwixt and between‘ (Victor Turner), als ein Übergang, eine Passage, ein Ort der Verwandlungen. Und eben dies meint Theater als festliches Spiel. Venedig auf der Bühne in Szene zu setzen, den poetischen Topos und den Mythos, heißt in diesem Sinne nichts anderes, als die Vorstellung von Theater als festlichem Spiel zu verwirklichen.“

23

Auch der Mythos selbst ist verbunden mit der Idee des Spielerischen. Burke beschreibt den Mythos der Stadt als eine Singularität, sei hier eben nicht das Individuum der Held, sondern das Kollektiv, 24 werde weniger auf singuläre Helden fokussiert, denn die Stadt selbst zum Helden erklärt, so dass Venedig „location“25 und zudem „subject“26 kollektiver mythischer Bilder und Erzählungen sei.27 Dabei unterscheidet Burke drei grundsätzliche Mythenschwerpunkte in der Rezeption der Stadt: Im 16. und 17. Jahrhundert sei vor allem durch die Regierungsform der Republik ein politisch begründetes Stadtbild als Hort der Freiheit und Harmonie präsent gewesen, das „Muster eines wohlgeordneten, demokratischen Staatswesens“28, wie es Forssman nennt. Mit dem Niedergang wurde die-

22 Fischer-Lichte 1999, 95. 23 Fischer-Lichte 1999, hier 95. 24 Vgl. Burke 2011, 77. 25 Burke 2011, 77. 26 Vgl. Burke 2011, 77. 27 So beschreibt Burke das Ziel seiner Analyse wie folgt: „In other words, I shall concentrate on topoi, producing a composite or collective image, literary or visual, a conducted tour of common places.“ Burke 2011, 78, Hervorhebung im Original. 28 Forssman 1971, 14.

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ser Mythos Basis eines Gegenmythos, der auf der Annahme basierte, dass hier ein System nur scheinbar für Gerechtigkeit stand. „Der Untergang eines solchen Staatswesens konnte kein blinder Zufall sein, er liess auf innere Fäulnis schliessen, oder noch schlimmer: diese Republik hatte nie ein gerechtes Regime gehabt, sie war von Anfang an eine verabscheuungswürdige Tyrannei gewesen, die nun ihr verdientes Ende gefunden hatte.“

29

So wurde bereits im 18. Jahrhundert das politisch-dominierte Bild zunehmend abgelöst vom „hedonist image of a city of pleasure“30, die vor allem dem Reisenden besonderen Anreiz bot. Mit dem Ende der Dogenrepublik und dem Beginn der Fremdherrschaft wurde dann im 19. Jahrhundert das Bild der in Schönheit untergehenden Stadt geprägt, „the aesthetic image of decaying beauty or beautiful decay.“31 Fischer-Lichte verweist in obigem Zitat auf die Bearbeitung des VenedigMythos als Umsetzung einer Idee von Theater als „festlichem Spiel“ 32. Damit bezieht sie sich einerseits konkret auf Reinhardt und seine Kaufmann-Inszenierungen, andererseits aber auch auf ästhetische Entwicklungen und inhaltliche Setzungen der historischen Theateravantgarde: „Nicht nur Peter Behrens und Georg Fuchs, sondern auch Adolphe Appia und Emile Jaques-Dalcroze definierten Theater neu als ein Fest […].“33 Am Beispiel von Georg Fuchs beschreibt Joachim Fiebach eine Möglichkeit der Denkweise dieser Fest-Idee im Sinne einer „Betonung des FESTLICHEN, daher der sinnlichen Qualität oder Funktion des Theaters für die Sinnen‚bildung‘ und den sinnlichen Genuß“34. So stehe für die Avantgarde „Geselligkeit als sinnliche Erfahrung des (Kunst)Raumes, der sinnlichen Oberfläche (des Visuell-Bildlichen) […] im Mittelpunkt.“35 Reinhardt

29 Forssman 1971, 14. 30 Burke 2011, 79. 31 Burke 2011, 79. 32 Fischer-Lichte 1999, 95. Zur Verbindung von Theater und Fest vgl. weiterführend Fischer-Lichte, Warstat und Littman 2012. 33 Fischer-Lichte 1999, 87. Diesen Künstlern vorangegangen mit einem eigenen Festspielgedanken war Richard Wagner bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. ebd. 34 Fiebach 1995, 47. 35 Fiebach 1995, 47. Die Koordinaten der Gemeinschaftserfahrung, des Sinnlichen und Visuellen und der neuen Raumkonzepte finden sich nicht nur bereits in Theaterformen wie dem Varieté oder der Revue, sondern durchziehen auch andere Spektren des metropolitanen Lebens, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellt wurden.

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als einer der populärsten und erfolgreichsten europäischen Theaterregisseure zu Beginn des 20. Jahrhunderts und Vertreter eines theatralen Festgedankens, der als Regisseur sein Theater als sinnliches Ereignis36 und ‚festliches Spiel‘37 umzusetzen wusste, fungiert mit seinen Inszenierungen als wichtiger Referenzpunkt der Verbindung von Theater, Fest und Venedig und für die hier weiter zu beleuchtende theatrale Auseinandersetzung mit der Lagunenstadt. Von der Spiel- zur Schau-Anleitung soll aber im Folgenden auch das visuelle Spiel mit der Wahrnehmung im Kontext eines sich verändernden medialen Zugriffs auf die Stadt Beachtung finden. Selbst reich an visuellen Eindrücken, zudem eingebunden in eine weitreichende Bild- und Abbildtradition und vor allem im Kontext des durch Bilder und deren mögliche mannigfaltige Verbreitung geprägten 19. Jahrhunderts – Fiebach spricht von einer „Bilderflut“38 –, wird Venedig so auch als Kulisse von sozialem wie theatralem Spiel, als theatrale Stadt im doppelten Wortsinn betrachtet: als Schau- und Spiel-Platz. Im Sinne der Polyvalenz des Theaterbegriffs39 wird eine Annäherung an Venedig erfolgen, die sich mit imaginierten und konkreten Schau- und Spielanordnungen im ‚Theaterraum‘ Venedig auseinandersetzt. Das vorliegende Kapitel unterscheidet sich von den vorangegangenen durch seine an den Beispielen orientierte Herangehensweise. Auf Basis der bereits etablierten und verhandelten Diskurse um die Themenfelder des (imaginären) Konsums und der (Reise-)Bewegung soll hier nun eine Weiterführung im Sinne einer Zuspitzung auf die Idee des Spiels stattfinden. Venedig wird dafür in seiner spielerischen Gestalt als theatrales, piktorales, filmisches und schließlich auch virtuelles Erlebnis und Ereignis betrachtet. So wird der Untersuchungszeitraum ausgeweitet, um an punktuellen, aber signifikanten Beispielen der These einer transmedialen Fortführung der bereits kontextualisierten und untersuchten kulturellen Praktiken als spielerische Formen der Aushandlung und Aneignung nachzugehen.

36 Vgl. Fiebach 1995, 49. 37 Vgl. Fischer-Lichte 1999, 88. 38 Fiebach 1995, 17. 39 „‚Theater‘ bezeichnet orts-, zeit- und gewohnheitsabhängige spezifische Beziehungen zwischen Agierenden und Schauenden. […] Außerdem wird der Begriff für bestimmte Bauwerke, Räume und Bühnen benutzt […].“ Kotte 2014, 361.

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4.1 Z WISCHEN S TADTKULISSE

UND

S TADT

ALS

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K ULISSE

Venedigs Rolle als Kulisse metropolitaner Unterhaltung wurde in den vorangegangenen Kapiteln unter anderem am Beispiel des Freizeitparks betrachtet. Hier diente Venedig als begehbare Kulissenstadt und als bespielbare Theaterkulisse, die das Geschehen auf den Bühnenaufbauten bestimmte, so beispielweise in der Aufführungen in Imre Kirlafys Londoner Nachbau Old Venice. Vage an Shakespeare orientiert, verbunden mit Referenzen auf Mythos und Geschichte der Lagunenstadt bot diese Massenunterhaltung ein visuelles Spektakel, eine Show aus Musik und Tanz, eingebunden in ein spektakuläres Setting.40 Während hier der Reiz gerade im Überangebot der szenischen Bilder und einer spektakulären Ausarbeitung lag, genügen für die Etablierung Venedigs als dramatischer Handlungsort auf der Theaterbühne auch weit weniger visuelle Zeichen. Zur Wiedererkennung reichen Andeutungen der typischen Stadtikonografie, Brücken, Kanäle, der Markusplatz oder die obligatorischen Gondeln. Beispielhaft zeigt dies ein Plakat des Marineschauspiel-Theaters von 1912, das für das fünf-aktige Spektakel Venedig mit dem Blick auf die Lagunenstadt wirbt: Durch Spitzbögen sieht der Betrachter hier auf den Canal Grande und vorbeiziehende Gondeln, im Hintergrund erscheinen Dogenpalast, Markusdom und Campanile. Fast überdeckt wird von den abgebildeten Sehenswürdigkeiten der im Vordergrund stehende Gondoliere, der mit Mandoline im Arm bereit erscheint, das auf einem Balkon stehende weibliche Ziel seines Begehrens musikalisch zu erfreuen.41 Bedient sich das Plakat noch einer Abbildfunktion, entwickelt sich für das Bühnenbild zunehmend ein Verständnis seiner weitreichenderen Möglichkeiten.

40 Vgl. hierzu den entsprechenden Abschnitt Venice in London im Kapitel Consuming Venice. Vgl. weiterführend zu anderweitigen Venedig-Inszenierungen in London, vor allem in Bezug auf den Kaufmann von Venedig, und weitere Versuche der Rekonstruktion Venedigs auch Pemble 1995, 176f. 41 Marineschauspiel-Theater [1912]. Jan Rüger verortet die Marineschauspiele im Umfeld der Gewerbe- und Weltausstellungen, wo sie zum Teil auf künstlichen Seen aufgeführt wurden, so dass Bewohner fern der Küstenregionen daran teilhaben konnten und die Spektakel auch in Berlin und London zu sehen waren. Vgl. Rüger 2009, 60. Auch die Marineschauspiele sind Bestandteil der Unterhaltungskultur des frühen 20. Jahrhunderts und eingebunden in einen Prozess der Kommodifizierung: „The unfolding of the mass market of leisure, entertainment and consumerism turned the celebration of the navy into a commodity that could be bought and, quite literally, played anywhere.“ Rüger 2009, 57.

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Denn spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts kann für das Bühnenbild eine Aufwertung festgehalten werden;42 zwar beschreibt der Begriff auch den gemalten Hintergrund theatraler Handlungen, jedoch geht das Bühnenbild darüber hinaus und bleibt nicht beschränkt auf eine rein bebildernde Hintergrundfunktion: „Das B.[ühnenbild] löst sich von seiner mimetischen Funktion und wird zum inneren Antrieb des Gesamtschauspiels.“43 Aufgewertet als wichtiger Teil des künstlerischen Produkts steht es in enger Wechselwirkung mit den anderen Bühnenkünsten, und entwickelte eine eigene Agenda, wie Nora Eckert konstatiert: „Das Theater zu Beginn unseres Jahrhunderts [das 20. Jahrhundert, DV] wollte Traumbühne sein und setzte zugleich auf Fremdheit und den Kunstcharakter des Genres – eine erste oppositionelle Regung gegen Historismus und Naturalismus. Aber es appelliert gleichermaßen an die Phantasiebereitschaft des Publikums, wünscht sich eines, das zur Imagination fähig ist. Das war mehr und anderes, als man bis dahin im europäischen Kulissenwald wahrnahm. Die Illusion wurde durch das Element der Stimmung erweitert.“

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Zwischen Nachahmung und Ausstellung der Künstlichkeit, zwischen Illusion und Stimmung, zwischen Traum und Wirklichkeit – die vielschichtigen Implikationen von Kulisse und Bühnenbild scheinen sich am Beispiel Venedigs zu potenzieren. Gerade an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert resultieren aus diesen Ambivalenzen auch Darstellungskonflikte, die auf die Möglichkeiten der Nutzung des Bühnenbilds einerseits und auf die mit Venedig verbundenen kulturellen Imaginationen andererseits verweisen. 4.1.1 Streit um ein Bühnenbild: Das gerettete Venedig 1904 begann eine künstlerische Zusammenarbeit zwischen dem englischen Theaterreformer Edward Gordon Craig (1872-1966), dem Dramatiker Hugo von Hofmannsthal und dem Regisseur Otto Brahm. Im Zentrum stand das Drama Venice Preserved von Thomas Otway von 1682, das Hofmannsthal unter dem Titel Das gerettete Venedig neu bearbeitet hatte.45 Craig wurde mit der Ausarbei-

42 Vgl. Pavis und Schneilin 2007, 202. 43 Pavis und Schneilin 2007, 202. 44 Eckert 1998, 17. 45 Hofmannsthal besuchte Venedig mehrmals und machte die Stadt zum Handlungsort einiger seiner Werke: „Vom lyrischen Drama Der Tod des Tizian zum Lustspiel Der Abenteurer und die Sängerin, vom erfundenen Brief des letzten Contarin zum Trauerspiel Das gerettete Venedig, von der Komödie Cristinas Heimreise zum Romanfrag-

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tung des Bühnenbildes beauftragt und Brahm übernahm die Inszenierung des Dramas am Lessingtheater in Berlin. Entstanden war diese Kooperation auf Vermittlung von Harry Graf Kessler (1868-1937), der Craig empfohlen hatte.46 Die Zusammenarbeit nimmt eine spannende Stellung in der Geschichte des Bühnenbildes ein, denn, wie Gregor Streim schreibt, handelte es sich hierbei um ein „frühes Experiment, an einem kommerziellen deutschen Theater das einzuführen, wofür Craig in England die Bezeichnung ‚stage design‘ geprägt hatte und was Hofmannsthal selbst schon 1903 als ‚Bühnenbild‘ bezeichnete.“ 47 Entgegen der Hoffnung Brahms, Das gerettete Venedig als historisches Drama in naturalistischer Ästhetik auf die Bühne zu bringen, hatte Hofmannsthal „statt einer realistischen Inszenierung […] ein suggestiv wirkendes Gesamtkunstwerk im Auge, das durch die Ästhetisierung von Bühnenbild und Schauspiel und ihr enges Zusammenwirken eine traumhafte Stimmung beim Zuschauer erzeugen sollte.“48 Der Dramentext sollte Vorlage sein, ein „Vorwand für Bilder“49. Während Brahm an der Idee der historischen Darstellung und der Wiedergabe eines Lokalkolorits Interesse zeigte, stand für Hofmannsthal die Stimmung im Vordergrund.50 Wenig Positives ist in den Kritiken zum Dramentext zu lesen, widmen sich diese doch vor allem der Frage der gelungenen oder misslungenen Bearbeitung einer überwiegend wenig geschätzten Vorlage.51 Fritz Mauther zumindest schenkt Hofmannsthals Text gerade mit Blick auf die Erzeugung einer spezifischen venezianischen Stimmung in seiner Rezension Beachtung:

ment Andreas ändert sich das Bild der Stadt im Wechsel der Zeiten und Schauplätze.“ Rispoli 2014, 156; zur Verbindung Hofmannsthals mit Italien vgl. weiterführend Rasch 1982. 46 Dieser sei, so Kessler, als Engländer eine optimale Wahl um Bühnenbild und Kostüme zu entwerfen, vgl. Doswald 1976, 135. 47 Streim 1997, 275. 48 Sprengel und Streim 1998, 502. Das Kapitel Der Konflikt um ‚Das gerettete Venedig‘ verfasste Gregor Streim; vgl. auch Streim 1997. 49 Streim 1997, 284. Hofmannsthal äußerte sich bereits 1903 zu seiner Vorstellung einer Neuausrichtung der Bühnengestaltung in seinem Essay Die Bühne als Traumbild, vgl. hierzu Streim 1997, 285. 50 Streim 1997, 286. 51 Vgl. E. H. 1905; vgl. ebenso Mauther 1905.

194 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG „Künstlerisch wertvoller als all dieser Plunder erscheint dem Artisten [Hofmannsthal, DV] der Schimmer venezianischer Gläser und venezianischer Prokatstoffe, die Lotterbetten der berüchtigten Courtisanen, die Dolche venezianischer Sbirren und das geheimnisvolle, bleierne Schweigen der Lagunen. Die Stimmung eines vornehmen Flaneurs in Venedig. Byron-Stimmung, Platen-Stimmung. Man fährt in der Gondel und träumt Sonette. So wird kein Drama.“

52

Abb. 5: Bühnenbildentwurf Das gerettete Venedig Während Venedig für Otway nur den Hintergrund bildete, wertete Hofmannsthal die Lagunenstadt als wichtigen Bestandteil der Handlung auf,53 nahm sie gar, Mauther folgend, wichtiger als die dramatische Handlung. „Venedig erscheint

52 Mauther 1905. 53 Vgl. Crowhurst 1967, 173.

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als lebendiges Wesen“54, urteilt Griseldis Crowhurst mit Blick auf die literarische Vorlage. Hofmannsthal implizierte mit seiner Bearbeitung eine Ästhetisierung der Bühne, ein traumhaftes Theaterereignis. Craig setzte dies in einer radikalen Reduzierung der szenischen Mittel um und verzichtete auf die Darstellung venezianischer Pracht. Auf einem erhaltenen Entwurf des Bühnenbildes ist lediglich eine schmucklose, ansteigende Treppe zwischen kargen Hauswänden zu sehen. Streim nennt dies „ein kongeniales Bild zum Textsubstrat“ 55, das in der Stilisierung „der Szenerie einen traumhaft-phantastischen Charakter“56 entwickele und „eine Atmosphäre von Unsicherheit und Bedrohung“ 57 evoziere. Brahm jedoch, der die Zusammenarbeit auch nutzen wollte, um seine Anschlussfähigkeit an neue Entwicklungen und Ästhetiken zu beweisen, konnte mit dieser radikalen Reduktion wenig anfangen und lehnte Craigs Entwürfe ab.58 Ergebnis der künstlerischen Differenzen war ein schaler Kompromiss: Letztlich basierten nur noch zwei Szenen auf Craigs Entwürfen und auch diese entsprachen in der Umsetzung nicht den Vorstellungen des englischen Theaterreformers; so wehrte dieser sich in einem offenen Brief, der im Berliner Tageblatt erschien, gegen die Inszenierung: „Eine für die Bühne bestimmte Szene ist damit nicht fertiggestellt, daß die Zeichnung und das Modell vorliegen, sondern erst, wenn der Künstler, der die Szene gezeichnet hat, sie auch selbst beleuchtet und die Gestalten und Gruppen, die auf der Szene erscheinen und das Bild nur zu oft verderben, sich nach seiner Anleitung bewegen.“

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Das Bühnenbild war in diesem Verständnis wichtiger Ausgangspunkt für die weitere Inszenierungsarbeit – die hier aber nicht im Craig’schen Sinne erfolgt war. Dass dennoch das von Hofmannsthal angedachte Stimmungstheater zumindest teilweise verwirklicht wurde, wenngleich die Inszenierung wenig Beifall

54 Crowhurst 1967, 177. Zudem betont sie, dass für den Autor Venedig das Tor zum Orient darstelle. Vgl. ebd., 174. 55 Streim 1997, 291. 56 Streim 1997, 291. 57 Streim 1997, 291. 58 Vgl. Sprengel und Streim 1998, 505. 59 Offener Brief Edward Gordon Craigs vom 10.01.1905, abgedruckt im Berliner Tageblatt, hier zitiert nach Sprengel und Streim 1998, 679. Hier klingt auch Craigs Theatertheorie über die Unzulänglichkeit der schauspielerischen Umsetzung seiner Ideen an, wie er sie in Der Schauspieler und die Übermarionette artikulierte. Vgl. Brauneck 2001, 55-60 und 78-83.

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fand, lässt die Kritik von Arthur Eloesser vermuten: „Das Stück spielt meist im Innern der Häuser, nur im zweiten Akt gibt es einen Ausblick auf die Lagune, und ich muß gestehen, daß dieses düstere Nachtbild mit seiner toten Ruhe an eindringlicher Gewalt alles übertroffen hat, was ich je auf einer europäischen Bühne gesehen habe.“60 Das Bühnenbild, so scheint es, hatte sich hier von seiner Abbildfunktion emanzipiert; zur Enttäuschung Brahms wurde dem Auge kein Als-ob, kein venezianisches Ensemble geboten. Die karge Kulisse war weniger Verweis auf die Lagunenstadt denn Ursprung der Erzeugung einer handlungsinhärenten, düsteren Stimmung und in diesem Sinne selbst Mit-Akteur und handlungsleitend. Nach der Uraufführung am 21.01.1905 im Lessing-Theater61 endete die Zusammenarbeit zwischen Craig und Brahm, aber auch zwischen Brahm und Hofmannsthal. Letzterer hatte mittlerweile „einen Regisseur gefunden, der seinen ästhetischen Vorstellungen ungleich näher stand als Brahm […], nämlich Max Reinhardt.“62 4.1.2 Reinhardt (be-)spielt Venedig Reinhardt (1873-1943) steht als wichtiger Theatermacher des 20. Jahrhunderts für das Spiel mit unterschiedlichen Theaterformen, für Experimente mit dem Bühnenraum, vom Kammerspiel hin zum Theater der Fünftausend und darüber hinaus auch als Unternehmer und Geschäftsmann für ein international erfolgreiches und grenzüberschreitendes Theater. 63 Seine Auseinandersetzung mit Venedig, die sich in erster Linie, aber nicht ausschließlich, in Shakespeare-Inszenierungen widerspiegelt, zeigt die Tendenz, den Theaterraum weiter zu denken, bis hin zu einer Ausweitung, die weniger das Theater zur Welt denn die Welt zum Theater werden lässt. Immer wieder hat Reinhardt mit seinen Inszenierungen nicht nur neue Räume erprobt, sondern auch die Raumgrenzen ausgelotet. So wurde beispielsweise Shakespeares Sommernachtstraum von ihm 1905 mit einer vielzitierten plastischen Waldnachbildung auf der Bühne des Neuen Theaters am Schiffbauerdamm inszeniert64 oder in den 30er Jahren Der Kaufmann

60 Arthur Eloesser in der Vossischen Zeitung vom 22.01.1905, hier zitiert nach Streim 1997, 274. 61 Vgl. Sprengel und Streim 1998, 508. 62 Sprengel und Streim 1998, 510. 63 Vgl. Marx 2006. 64 Vgl. Marx 2006, 55-57, vgl. ebenso Marx 2007c.

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von Venedig open air in der Lagunenstadt gezeigt. 65 Gerade die Kaufmann-Inszenierungen erzählen, so Fischer-Lichte, die Geschichte einer Hinwendung und Verwirklichung der Idee des Theaters als festliches Spiel, die zugleich eine Ablehnung von einem Primat der Referentialität zugunsten einer Aufwertung der Performativität bedeute. „Mit Max Reinhardt wurde das Theater in Deutschland unübersehbar zu einer sinnlichen, einer körperlichen, zu einer performativen Kunst.“66 Gerade Shakespeares Kaufmann von Venedig wird unter Reinhardts Regie paradigmatisches Beispiel eines Theaters als Fest – laut Fischer-Lichte maßgeblich inspiriert durch den Handlungsort. „Ganz offensichtlich war es der Ort, an dem die Komödie spielt, der Reinhardt anregte und inspirierte: Venedig.“67 Weniger eine Auseinandersetzung mit der Textgrundlage habe hier stattgefunden denn die Inszenierung eines heiteren Spiels, indem der Regisseur zum einen eine in fast allen Kritiken benannte und hervorgehobene „besondere Stimmung“ 68 erschuf, und „indem er die Theatralität der Aufführung betonte und ausstellte.“69 Dies zeigt sich auch in dem besonderen, spielerischen Charakter seiner Inszenierungen: „Reinhardt definiert so Theater neu als Spiel – ein Spiel, dessen Regeln Regisseur, Bühnenbildner, Komponist und die Schauspieler erfinden und festlegen, die jedoch durchaus mit dem Zuschauer verhandelbar sind. Es ist ein Spiel, an dem alle teilnehmen, die Darsteller ebenso wie die Zuschauer. Was auf der Bühne gezeigt und getan wird, ist Material für dies Spiel – und in diesem Sinne Spiel-Zeug, mit dem Darsteller und Zuschauer spielen können. Die Aufführung ist ein Spiel, das die Sinne ebenso beansprucht wie die Phantasie. Dabei ist es wichtiger, das Spiel zu spielen, an dem Ereignis teilzunehmen, als eine Interpretation des Textes zu liefern oder zu entziffern.“

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Der Kniff, mit dem Reinhardt ansetzte, war die Aufwertung des Handlungsortes zu einem „Protagonisten“,71 wie Fischer-Lichte schreibt, denn Venedig stehe in seiner charakterhaften Theatralität in einer „Verwandtschaft“ 72 zur Idee des

65 Vergleiche hierzu die späteren Ausführungen im vorliegenden Kapitel. 66 Fischer-Lichte 1999, 100. 67 Fischer-Lichte 1999, 90. 68 Fischer-Lichte 1999, 91. 69 Fischer-Lichte 1999, 91. 70 Fischer-Lichte 1999, 95. 71 Vgl. Fischer-Lichte 1999, 95. 72 Fischer-Lichte 1999, 95.

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„festlichen Spiels“73 und damit eben in Reinhardts Inszenierungen paradigmatisch für dessen Bemühungen um eine Re-Etablierung des Theaters als Fest und der Erschaffung einer Festgemeinschaft aus Zuschauern und Schauspielern. 74 Mit der Verbindung von Theater und Fest wird ein für die historische Theateravantgarde Ende des 19. Jahrhunderts zentraler Aspekt angesprochen, der sich in Theorien und Schriften artikulierte und in der Gründung von Festspielen konkretisierte, dessen Auswirkungen sich aber auch in der Suche nach neuen Raumkonzepten bis hin zur Erbauung von Festspielhäusern niederschlugen.75 Das Bestreben der Theateravantgarde, Festgemeinschaften zu etablieren, zeigte sich in den bereits angesprochenen Bemühungen zum Abbau der Rampe, womit die Trennung von Bühne und Zuschauerraum aufgehoben werden sollte. Gerade mit Blick auf Reinhardt konstatiert Fischer-Lichte eine Radikalisierung der Festspielidee, wenn dieser „jeder einzelnen Theateraufführung die Möglichkeit zu[sprach], aus sich heraus zum Fest zu werden […].“76 Unterschiedliche Raum- und Inszenierungsideen zielten mit vielfältigen Ansätzen auf die Hervorbringung einer festlichen Stimmung zur Evokation einer Gemeinschaftserfahrung. Dem Fest kann mit Blick auf Gemeinschafts- und Identitätsbildungsprozessen eine wichtige Rolle und Funktion zugesprochen werden: Verstanden als ‚cultural performances‘, als zeitlich begrenzte, kulturelle Prozesse mit festem Programm, Ort, Anlass, Zuschauern und Akteuren etablieren sich Feste als Momente, in denen, so Warstat, „das Selbstverständnis einer bestimmten Gruppe von Menschen ausagiert und dargestellt“ 77 werde. Die hier entstehenden oder sich bestätigenden Gemeinschaften können dabei als politische, wie auch als ästhetische und theatrale betrachtet werden,78 „das heißt, als Gemeinschaften, die aus Akteuren und Zuschauern oder auch nur zwischen den Zuschauern im Verlauf der Aufführung als Folge spezifischer ästhetischer Erfahrungen entstehen und sich nach ihrem Ende wieder auflösen.“ 79 Auch dieser

73 Fischer-Lichte zitiert mit ‚festlichem Spiel‘ Arthur Kahane und verweist auf die Entwicklungen im Kontext der historischen Theateravantgarde, insbesondere auf den Festspielgedanken von Richard Wagner über Peter Behrens und Georg Fuchs, vgl. Fischer-Lichte 1999, 87; vgl. ebenso Balme 1988. 74 Vgl. Fischer-Lichte 1999, 95. 75 Vgl. Fischer-Lichte 2012b, 9-10, vgl. zu Wagners Festspielhaus beispielsweise Bauer 2010, 223. 76 Fischer-Lichte 2012a, 11. 77 Warstat 2005a, 20. 78 Vgl. Fischer-Lichte 2012a, 12. 79 Fischer-Lichte 2012a, 11.

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flüchtigen ästhetischen Gemeinschaft, einer ‚Erlebnisgemeinschaft‘, kann ein politisches Moment inne wohnen: Finden sich unterschiedliche Schichten und Milieus im gemeinsamen Erleben zusammen, teilen und schaffen sie eine gemeinsame Erfahrung.80 Ein sinnliches Gemeinschaftserleben, visuell mitreißend, ein Ereignis für die Sinne, so lässt sich Reinhardts Kaufmann-Inszenierung von 1905 am Deutschen Theater beschreiben. Reinhardt inszenierte den Kaufmann mehrmals,81 doch gerade die Aufführung von 1905, für die Emil Orlik das Bühnenbild schuf, kann als ‚Paradestück‘ des Deutschen Theaters beschrieben werden,82 auch weil Reinhardt hier sein neues Markenzeichen, die Drehbühne, zum Einsatz brachte. „Reinhardt at this time was already committed to the revolving stage which we would now regard as the hallmark of his productions for the conventional auditorium.“83 Er nutzte sie für die unterschiedlichen Szenen in Innen- und Außenbereichen und erzeugte, verbunden mit einer „Lebendigkeit der Darstellung“ 84 eine große Vitalität des Sichtbaren,85 so dass sich der Kritiker Heinrich Hart begeistert zu einem „Heil der Drehbaren!“86 hinreißen ließ. In seiner überschwänglichen Rezension erkannte Hart in der Dichtung und ihrer Verortung in Venedig den Ursprung der von Reinhardt gefundenen verspielten Umsetzung. „Schauplatz: Venedig. Zeit: Renaissance. Zwei Worte, die schon in sich Poesie, ein ganzes Gedicht bedeuten. Und in diesem Rahmen von Ort und Zeit eingespannt das glänzende Muster einer Theaterdichtung, der nur die indische Literatur Gleiches in Reichtum und Farbenpracht an die Seite zu setzen hat. Eine Dichtung, durchaus fürs Theater ersonnen

80 Vgl. Fischer-Lichte 2012a, 11. 81 Es ist eines der von Reinhardt am häufigsten inszenierten Dramen. Er inszenierte den Kaufmann u.a. 1909 am Künstlertheater in München, 1913 erneut in Berlin, nun aber an der Volksbühne, 1918 am Deutschen Theater und 1921 im Großen Schauspielhaus in Berlin, 1924 im Theater an der Josefstadt in Wien und schließlich 1934 auf dem Campo di San Trovaso in Venedig, vgl. Fetting 1987b, 302. 82 Die Inszenierung wurde in der laufenden Spielzeit 150 mal gezeigt und blieb bis 1911 Teil des Spielplans, vgl. Jaron, Möhrmann und Müller 1986b, 589. 83 Rorrison 1986, 59. 84 Jaron, Möhrmann und Müller 1986b, 588. 85 Vgl. Jaron, Möhrmann und Müller 1986b, 588, hier im Verweis auf eine Kritik von Heinrich Hart, vgl. Hart 1905/1986. Fischer-Lichte interpretiert die Drehbühne als Betonung der Theatralität, denn die Szenewechsel vollzogen sich hier vor dem Auge des zusehenden Publikums, vgl. Fischer-Lichte 1999, 94. 86 Hart 1905/1986, 594.

200 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG und geschaffen. Kein dramatischer Erstkampf, sondern ein Spiel. [….] Alles Phantasie, alles Spiel und alles Theater. Aber Theaterei in höchstem Stil, von feinster Art, ganz mit Geist und Poesie durchsetzt. Jeder Zug ist – mit sicherem Blick, mit sicherer Hand – auf Wirkung gestimmt.“

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Harts euphorische Besprechung betont den Spielcharakter, der sich durch Shakespeares Vorlage zieht, aber auch die gelungene Kreation der entsprechenden Stimmung auf der Theaterbühne, die bei Reinhardt geradezu nach Vervollkommnung zu streben scheint. „Schauplatz: Venedig. Zeit: Renaissance. Eine Theaterdichtung in solchem Rahmen erlaubt nicht nur die Entfaltung aller theatralischen Künste, allen sinnlichen Prunks und äußeren Stimmungszaubers, sie fordert einfach dazu heraus und verlangt danach. Alle Aufführungen des Werks überbieten sich denn auch in Farbenpracht und Dekorationsschwelgerei. Daß trotzdem noch eine Steigerung möglich war, hat Reinhardt glücklich erwiesen. Eine Steigerung ins ‚Echte‘, ins Lokal- und Historischtreue, eine Steigerung zur Wirklich88

keitsillusion, die künftig schwer zu überbieten sein wird.“

Ganz anders sah dies Fritz Engel, der sich gerade an der „Steigerung zur Wirklichkeitsillusion“89 störte. Zu sehen seien zwar „starke und stärkste Proben neuer Kunst“90, aber auch „Unruhe und Überfluß.“91 „Auch die Szenerie in Alt-Venedig, mit den Brücken, die über stumme Kanäle steigen, mit tief verschatteten Winkeln und dämmernden Perspektiven, alle diese Köstlichkeiten, nach denen wir im geradlinigen Berlin tägliche Sehnsucht haben, traten in einem Zustand der Überladung heraus. Übertreue Nachbildung der Natur ward hier wieder zum Theater

87 Hart 1905/1986, 593. 88 Hart 1905/1986, 594. Vgl. dazu auch die gegenteilige Meinung Alfred Klaars: „Charakteristisch waren auch die venezianischen Gäßchen mit ihren stimmungsvollen Durchblicken, den Mosaikbildern und Heiligenstatuen an düsteren Palästen, der gedrängten Architektur und den kleinen kühn geschwungenen Brücken. […] Auch ist es wohl ein Anachronismus, die Verfallenheit des heutigen Venedig mit den ruinenhaften Palästen der Seitenkanäle in der Renaissancezeit, in der das Stück spielt, hineinzudichten. Immerhin lag ein Hauch venezianischer Stimmung über diesen Kanalszenen“. Klaar 1905/1987, 303-304. 89 Engel 1905/1987, 315. 90 Engel 1905/1987, 315. 91 Engel 1905/1987, 315.

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und machte – ich wage den Ausdruck nur ungern – den Eindruck des parvenuehaften Aufgeputzten.“

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Mit ‚parvenuehaft‘ wird dabei auf eine Figur referiert, die der Theaterwissenschaftler Marx gerade für das Berlin der Jahrhundertwende stark macht, die sowohl Ziel der Kritik, aber auch Spiegel des Bürgertums in der Metropole war: „Der Dazugekommene, der ‚Aufsteiger‘, der ‚Emporkömmling‘, kurz der Parvenue, wird zur Verkörperung der Veränderung und gleichzeitig Gegenstand des kollektiven Spotts.“93 In Engels Kritik scheint Venedig selbst ein solcher Fremder, der das richtige Maß nicht kennt, dessen Kleid wie eine Verkleidung wirkt. Auf der Bühne wurde dies offensichtlich und für den Betrachter dechiffrierbar in der Übertreibung der Ausstattung. Hier sei durch eine „Überladung“94 und „[ü]bertreue Nachbildung der Natur“95 ein Überfluss an visuellen Reizen geschaffen worden. Statt der Erfüllung einer imaginären (Reise-)Sehnsucht nach vorindustrieller Natürlichkeit präsentierte Reinhardt eine Überfülle, die die Kulisse, so der Kritiker, wieder zur Kulisse werden ließ. Auch Paul Lerch argumentiert ähnlich, wenn er den Besuch der Vorstellung und den Genuss der Reinhardt’schen Kunst zwar als eigene kleine Fernreise und Erholung beschreibt, bei der jedoch eine Gewöhnung einsetze, die den Betrachter ermüdet, „das Auge staunt nicht mehr und die Seele bebt nicht mehr“ 96. Heinrich Stümcke hingegen beschreibt in Bühne und Welt eine Visualisierung, die auf gängige Klischees verzichtet und sich als Stimmungsspiel erwiesen habe: „Weder der Canal Grande mit der Perspektive auf den Rialto oder San Giorgio, noch der Markusplatz mit der Basilika und dem Dogenpalast wurde uns vorgetäuscht, auch nicht mit Gondeln, die sich auf der Bühne immer schwerfällig hölzern ausnehmen, hin und her gefahren, dafür aber in intimen Ausschnitten uns ein Bild venezianischer RenaissanceArchitektur und venezianischen Straßenmilieus entrollt, das die denkbar stimmungs- und stilvollste Staffage für die buntbewegte Handlung bildete.“

92 Engel 1905/1987, 315. 93 Marx 2008, 252. 94 Engel 1905/1987, 315. 95 Engel 1905/1987, 315. 96 Lerch 1905. 97 Stümcke 1906, 210.

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Dreh- und Angelpunkt der Kritiken war die hier benannte Stimmung, die als aufgesetzt oder wirklichkeitstreu die Rezensenten in den Kulissenaufbau oder die Lagunenstadt entführten. Auch Reinhardts Venedig in der Kaufmann-Inszenierung von 1913, bei der Ernst Stern für das Bühnenbild verantwortlich war, erntete Lob vor allem durch die Erzeugung einer spezifischen Stimmung. Die „Stimmungsechtheit“ 98, die Siegfried Jacobsohn hier ausmachen konnte, griff mit pejorativem Unterton auch Alfred Kerr auf: „Sonst Stimmung… Das Gefälligste, was nach den Meiningern gewesen ist.“99 Dass ihn diese eher an bekannte Vergnügungseinrichtungen erinnerte, wurde deutlich, wenn er schreibt: „Es ist eigentlich ‚Venedig in Wien‘.“100 Damit spielte Kerr einerseits auf die österreichische Herkunft des Regisseurs an, andrerseits zitierte er damit den Titel des Steiner’schen Freizeitparks101 – und verweist damit auf die Künstlichkeit der Themenwelten, deren Als-ob für ihn nicht greift. Vergleichbar dem Erleben in den Vergnügungsparks scheint auch bei Reinhardt eine weitere Steigerung der Bühnenmittel stattzufinden, was sich unter anderem in der Schnelligkeit des visuellen Reigens zeigt. „Die Fülle der wechselnden theatralischen Bilder, die der Regie so manche Schwierigkeit bereiteten, wurde in einem Tempo, das mitunter an cinematographische Schnelligkeit erinnerte, vorgeführt.“102 Hier war es also ein bewegtes Spiel mit den Sinnen: Der Betrachter sollte eintauchen und mitgerissen werden; die Mobilität der Bühne überspielte die immobile Position des Zuschauers. Während die Bühne sich filmischer Mittel bediente, griff der Film auf theatrale Konventionen zurück – über den Weg einer Auseinandersetzung mit der Pantomime A Venetian Night von Reinhardt und Karl Gustav Vollmoeller soll im Folgenden beispielhaft auf diese Form medialer Zirkulation eingegangen werden.

98

Jacobsohn 1965, 113.

99

Kerr 1917, 104.

100 Kerr 1913. 101 Vgl. hierzu die entsprechenden Abschnitte zu Venedig in Wien im Kapitel Consuming Venice. 102 F. H. 1913.

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4.2 Z WISCHEN B ILD UND S PIEL Die Pantomime als Gattung lässt ein besonderes Nachdenken über Bild und Szene zu, denn das stumme Spiel verweist in außergewöhnlichem Maße auf das Sichtbare und bildet zudem ein Bindeglied zum frühen (stummen) Film. Gerade die Pantomime ist als theatrale auch eine visuelle Kunst.103 Dabei geht es hier weniger um Wirklichkeitsabbildung als um die Erzeugung neuer Bilder. So beschreibt der Poet Arthur Symons ihre Wirkung wie folgt: „Pantomime, in its limited way, is again no mere imitation of nature: it is a transposition, as an etching transposes a picture. It observes nature in order that it may create a new form for itself, a form which, in its enigmatic silence, appeals straight to the intellect for its comprehension, and, like ballet, to the intellect through the eyes.“

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Zugleich sei die Pantomime von einer Unmittelbarkeit, wie sie dem Traum eigen sei und damit auch eine direkte Ansprache an das Gefühl. „To watch is like dreaming. […] Here, in pantomime, you have a gracious, expressive silence, beauty of gesture, a perfectly discreet appeal to the emotions, a transposition of the world into an elegant, accepted convention: in word, all the outlines of the picture.“

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Selbst Teil einer „Zirkuskultur des 19. Jahrhunderts“ 106, in der sich auch der frühe Film verorten lässt, ist die Pantomime als Genre international dechiffrierbar und als visuelles Spiel der Bilder nah an der Entwicklung des Kinos zu lesen. Pantomime und Film „[beeindrucken] durch opulente optische Effekte“ 107 . A. Nicholas Vardac geht so weit, den Film aus der Pantomime heraus zu erklären, denn den spektakulären Effekten der Pantomime konnte das junge Medium neue

103 Zur Pantomime als literarische Gattung vgl. weiterführend Vollmer 2011. Vollmer beschäftigt sich auch mit der Venezianischen Nacht. Vgl. hierzu das Kapitel zu Karl Vollmoeller, ebd., 381-431. 104 Symons 1967, 187-188. Dieser direkte Zugang in der Sprachlosigkeit erreiche die Zuschauer unmittelbar, so Symons in seinem 1912 in The Mask erschienenen Essay. 105 Symons 1967, 188. Edward Gordon Craig ergänzte den Essay mit einer Notiz, in der er die Pantomime in ihrer Stummheit zum Nukleus des Dramatischen erklärt: „All great Drama moves in silence.“ Craig 1967, 188. 106 Marx 2006, 162. 107 Marx 2006, 163.

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Möglichkeiten der Umsetzung jenseits der Begrenzung der Bühne bieten.108 Liest man dies vor dem Hintergrund von Gunnings These zum frühen Film als eines „Kinos der Attraktionen“109, so zeigen sich auch Parallelen in der Umsetzung. Für die in diesem „exhibitionistische[n] Kino“ 110 gewünschte direkte Ansprache des Publikums wird konsequent die Vierte Wand gebrochen, der Zuschauer angeblickt und angesprochen. Dieser Bruch der Illusion ist nicht der Unzulänglichkeit der Filmemacher geschuldet, sondern der Versuch einer direkten Kontaktaufnahme mit dem Publikum, das emotional mitgerissen werden soll.111 Zudem zeigt sich hier auch die Spur des Theaters im Film, die nicht nur durch eine örtliche Nähe – beispielsweise durch die Einbettung von Filmen in Revuevorführungen –, sondern, so betont Marx im Verweis auf Thomas Elsaesser, auch in der „Binnenstruktur der Filme“ 112 sichtbar wird. Erst nach 1915 entwickelte sich der Film nach dieser Lesart zu einer eigenständigen Kunstform, während zuvor noch versucht wurde, die theatrale Aufführungssituation im neuen Medium nachzuahmen, bis hin zu jener benannten direkten Kontaktaufnahme des Filmschauspielers mit dem Kinopublikum durch den Blick in die Kamera.113 Pantomime und Film lassen sich weder als Konkurrenz, noch als unterschiedliche Stufen einer Weiterentwicklung simplifizieren, sondern müssen in ihrem reziproken Wechselverhältnis betrachtet werden. „Pantomime und Film können – bei allen Parallelen – nicht […] im Sinne einer zwangsläufigen Entwicklungsgeschichte als ‚Vorläufer‘ und ‚Zielpunkt‘ verstanden werden. In der Wechselbeziehung der beiden Genres entspannt sich ein ‚Zwischenreich‘, das auf der einen Seite durch eine große Nähe der Formen und eine Ähnlichkeit der ästhetischen Mittel gekennzeichnet war, das aber auf der anderen Seite die Spannung zweier sich ausdiffe114

renzierender Medien mit einer je eigenen Logik und Dynamik aufwies.“

Vor dem Hintergrund von Gunnings Thesen können die Kunstformen in ihrer Ähnlichkeit der Form und Ästhetik als Spektakel beschrieben werden, wobei das Visuelle, ebenso wie das Akustische, durch diese Begrifflichkeit Beachtung findet. „Das lateinische Wort spectaculum, dem das heutige Wort Spektakel ent-

108 Vgl. Vardac 1949, 156, vgl. ebenso Marx 2006, 162. 109 Gunning 1996. 110 Gunning 1996, 27. 111 Vgl. Gunning 1996, 27-28, vgl. ebenso Marx 2006, 160-161. 112 Marx 2006, 160, hier mit Bezug auf Elsaesser 2002, 36. 113 Vgl. Marx 2006, 160. 114 Marx 2006, 164.

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stammt, bedeutete ursprünglich nicht nur Schauspiel, sondern auch Augenweide, Wunderwerk, Anblick sowie Krach und Lärm.“ 115 Stummfilm wie auch Pantomime wurden meist musikalisch begleitet,116 der Zuschauer also keinesfalls allein durch das Sichtbare einbezogen; vielmehr erfuhr er eine weitgefasstere sinnliche Ansprache, die ihn ins Spielgeschehen hineinzog. So kann mit Blick auf visuelle Opulenz und den Einsatz aller theatralen Mittel auf Kosten der dramatischen Handlung auch auf das Spektakelstück rückverwiesen werden, wie es in Kiralfys Freizeitpark in London zelebriert wurde und die Menschen in eine andere, venezianische Welt eintauchen ließ. 4.2.1 Die Pantomime A Venetian Night In London feierte auch A Venetian Night Premiere.117 Die benötigte Drehbühne musste für die Aufführung im Palace Theatre118 1912 erst installiert werden, doch war der visuelle Reigen und die schnelle Abfolge von Szenen für Reinhardts Inszenierung zentral. „Indeed, it seemed as though the play itself had been designed to test the quick-change capacity of the revolving stage and sets.“ 119 Mit diesem stummen Spiel knüpfte Reinhardt an seine zuvor bereits mit großem Erfolg produzierte Pantomime The Miracle120 mit einer weiteren, für den internationalen Markt gedachten Inszenierung an und baute wieder auf ein Libretto von Vollmoeller. In London wurde A Venetian Night vierundzwanzig Mal ge-

115 Husslein-Arco 2005, 9. 116 Vgl. hierzu Marx 2006, 163. 117 Vorausgegangen war ein Streit mit Lord Chamberlain, der in einem Verbot der Premiere mündete. Erst nach erfolgter Zensur eines Aktes wurde das Stück zur Aufführung freigegeben. Über Sinn und Unsinn dieser Maßnahme entspannte sich eine lebhafte Debatte, die in der englischsprachigen Presse mehr Raum einnahm als die Besprechung der Pantomime selbst. Letztere erhielt überwiegend negative Kritik, weshalb John Palmer die Zensur-Posse einen notwendigen Werbeeffekt nannte, der der enttäuschenden Aufführung die benötigte Aufmerksamkeit verschafft habe. Vgl. Palmer 1912, 607-608. 118 Das Palace Theatre wurde 1891 als Royal English Opera Haus gegründet und 1892 in Palace Theatre of Varieties umbenannt, vgl. Cruckshank 1991. 119 Carter 1914, 243. 120 Die Uraufführung des Miracle fand am 23.12.1922 in der Olympia Hall in London statt. Vgl. Marx 2006, 127. Die Inszenierung, die auf einer Textgrundlage von Vollmoeller basierte, wurde in London ein großer Erfolg und war zwischen 1924 und 1930 auch in den USA zu sehen, vgl. Marx 2006, 145.

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zeigt,121 bevor die Pantomime 1913 in fast identischer Besetzung in den Berliner Kammerspielen wieder aufgenommen wurde, hier nun unter dem Titel Venetianisches Abenteuer eines jungen Mannes.122 Die Handlung von A Venetian Night spielt im Jahr 1860 und ist dementsprechend in der Zeit der österreichischen Fremdherrschaft über Venedig angesiedelt.123 Dies eröffnete der Ausstattung Möglichkeiten für Reminiszenzen und bediente zugleich eine nostalgische Sehnsucht, wie der Kritiker Nobert Falk in Bezug auf die Berliner Aufführung bemerkte: „Er [Reinhardt] erwirkt auch dadurch kostümliche Reize und ein intimeres Zusammenklingen der Farben wie auf alten nachgedunkelten Bildern.“124 Auf mehreren Ebenen erweckte die Pantomime einen altmodischen Eindruck: Die Zeit und der entsprechende Ort, auch die Handlung selbst – die New York Times fasste diese knapp zusammen mit „the story of a young bride, with no affection for her husband, who visits her lover while the bridegroom is celebrating his wedding over the wine cup“125 – und die Wahl der Form erschienen als Nachhall vergangener Zeiten und Welten,126 ein nostalgischer Blick, der jedoch durch die Einbettung alptraumhafter Sequenzen ironisch gebrochen wurde. Mit dieser spukhaften Handlung – Marx spricht von einem „Traumspiel“127 – lässt sich die Pantomime in die Tradition literarischer Reisen nach Venedig einbinden, die in der Lagunenstadt das Fremde suchen. Die Fiktionen schicken dabei ihre Protagonisten auf die Reise, um, Nies folgend,

121 Vgl. Gerbeth 1983, 54. Eine Kopie des Librettos befindet sich als Zensurexemplar im Landesarchiv Berlin mit dem Verweis der Genehmigung vom 28.08.1913, vgl. Vollmoeller 1913. 122 Laut Gerbeth wurde der Vertrag hierzu zwischen der Londoner Premiere im Palace Theatre am 11.11.1912 und der Berliner Erstaufführung in den Kammerspielen am 29.08.1913 geschlossen, vgl. Gerbeth 1983, 54. Vgl. hierzu auch Berthold und Vogt 1983, 58-64. 123 „Das ist sehr geschickt und hübsch gemacht; ohne jede Uebertreibung, vornehm und gedämpft in allen Linien und von Girlanden durchzogen, so reizvoll wie sie eben die Periode von 1860 winden kann.“ Vara 1912, 587. 124 Falk [1913]. 125 Anonymus 1912. 126 Heinz Herald beschrieb das Stück als „eine Art filmischer Commedia dell’arte, mit dem reizvollen Hintergrund der im Verfall noch ein letztes Mal morbide aufleuchtenden Epoche der späten Dogenzeit“, Herald 1953, 61, hier zitiert nach Berthold und Vogt 1983, 60. 127 Marx 2006, 154.

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„in dieser einzigartigen Stadt etwas zu finden, was ihnen in der eigenen Heimwelt wesentlich mangelt. Insofern sind Venediggeschichten verwandt mit exotischen Narrationen: Ein Sehnen der erzählten Individuen nach dem Besonderen, einer Abweichung vom Herkömmlichen, motiviert die Aufenthalte an diesem Ort. Der je nach Konzeption ,fremde‘, ,andere‘ oder ,exotische‘ Raum Venedig fungiert damit häufig als ein zunächst hoch bewerteter Wunsch- und Projektionsraum der Protagonisten.“

128

Für Reinhardts Figurenensemble wird diese Suche gebrochen, wenn sich der Wunschraum von der romantischen Kulisse zur alptraumhaften Szenerie wandelt. Reinhardts Theaterinszenierung der Pantomime benötigte nicht viel, um Venedig vor den Augen der Zuschauer zu etablieren, so bestand das Bühnenbild aus einer Ansammlung „typischer“ Venedigzitate, „a typical Venetian scene of canal, gondolas, flight of bridges in middle distance, and hotel to the left“.129 Kanal, Gondeln und Brücken – diese drei Elemente stehen, wie bereits ausgeführt, als Teil für ein größeres Ganzes. In der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung erinnerte die Kulisse den Rezensenten auch prompt an die berühmten Veduten: „Reizend war das Bild eines Canaletto, als die Gesellschaft der Gondel entstieg.“130

Abb. 6: Film-Still

128 Nies 2014, 13. 129 Carter 1914, 243. 130 Anonymus 1913c, hier zitiert nach Gerbeth 1983, 55.

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Auch wenn die Anzahl der englischen Aufführungen, die Wiederaufnahme und die dazwischen stattfindenden Dreharbeiten am Originalschauplatz 131 – womit die Pantomime eines der wenigen Reinhardt’schen Experimente mit dem Film darstellt – wiederholt als Zeichen des Erfolgs der Pantomime gewertet werden,132 lassen sich kaum positive Kritiken dies- und jenseits des Kanals finden.133 Huntley Carter wertete sie gar als Misserfolg: „The play was unsuccessful from the start; and all attempts to make it appeal by hacking it about failed. At the end of three weeks it came off.“134 Den deutschen Kritikern war das Stück überwiegend schlicht zu platt geraten. Hatte auch der Einsatz der Drehbühne und die so ermöglichten raschen Szenenwechsel des grotesken Traum-Spiels beeindruckt,135 wurde der Pantomime vor allem inhaltliche Oberflächlichkeit vorgeworfen; es blieb der Eindruck eines leeren Spektakels, einer visuellen Ansprache, der die Tiefe fehlte: „Was da in rasender Jagd der Bilder und gymnastischen Kunststücken an uns vorüberflitzt, gibt dem Auge manches; wenig oder nichts der Seele.“136 Und im Vorwärts war zu lesen, es handle sich um „[e]ine Pantomime, die der Kunst, farbige bewegte Szenenbilder zu ordnen, eine Menge Gelegenheit gibt, sich zu bewähren. Es ist aber doch nur ein ganz geringes Werk, was da getrieben wird: ein großer Aufwand um eine Nichtigkeit.“ 137 Die Kritik an der schwachen Handlung des Stücks greift eben jenen Diskurs um Schauwert und Handlung auf und damit den Diskurs um Spektakel und Narration, der sich am Beispiel des frühen Kinos paradigmatisch erzählen lässt. Reinhardts Pantomime zeigt sich in dieser Lesart als Verdichtung der Attraktionen, die er nicht nur mit Blick auf die Bühneninszenierung zu potenzieren versuchte. Auch die filmische Umsetzung, Venetianische Abenteuer eines jungen

131 Vgl. Gerbeth 1983, 54. Gedreht wurde im April 1913 und zur Uraufführung kam der Film am 16.04.1914 in Berlin, vgl. Fritz 1968, 5. Vgl. auch Anonymus 1913a, 3. 132 Marx verweist auf die Kritik, geht aber dennoch von einem Erfolg der Pantomime aus, vgl. Marx 2006, 154-155. Auch Gerbeth geht aufgrund der „großen Zahl von 24 Aufführungen“ von einer positiven Reaktion des englischen Publikums aus, vgl. Gerbeth 1983, 54. Negativ zur englischen Premiere äußert sich beispielsweise Palmer, vgl. Palmer 1912, 607-608, positiv hingegen Egan Mew, vgl. Mew 1912, 643. 133 Vgl. Gerbeth 1983, 55-56. Bei Gerberth ist teils nicht ganz ersichtlich, ob es sich um eine Kritik der Theater- oder Filmaufführung handelt. 134 Carter 1914, 241. 135 Vgl. Carter 1914, 243, vgl. auch Gerbeth 1983, 55. 136 Anonymus [1913b]. 137 Vorwärts vom 31.08.1913, hier zitiert nach Gerbeth 1983, 57.

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Mannes,138 arbeitete mit technisch Neuem, so wurde die Traumhandlung durch Mehrfachbelichtung in ihrem spukhaften Charakter erzeugt und für die Stadtaufnahmen von einer Gondel aus gefilmt, so dass eine bewegte Aufnahme gezeigt werden konnte.139 An seine Grenzen kamen die Möglichkeiten der Technik in der Aufnahme des Motivs Venedig bei Mondschein. Heinz Herald erläutert: „Reinhardt wurde der Schrecken der Kameraleute. Er wollte durchaus die Lagune im Mondlicht aufnehmen, das Spiel der Wellen photographieren, die Palazzi in der Ferne verdämmern lassen – lauter Probleme, die der heutige Film spielend löst, die aber für den Kameramann von 1913 technisch unübersteigbare Hindernisse waren.“

140

Der ironische Blick der Pantomimenhandlung auf romantisches Sehnen und der albtraumhaft-groteske Bruch dieser nostalgischen Fluchtfantasie, die sich letztendlich etwas schal als Traumhandlung seelischer Verwirrungen auflöst, traf bei den zeitgenössischen Rezensenten auf wenig Verständnis. Doch kann mit Blick auf die Aufwertung des Visuellen, auf die Steigerung der Geschwindigkeit, die zunehmende Mobilität der Bilder, einerseits durch die Drehbühne, andererseits durch den Einsatz einer mobilen Kamera, der Inszenierung attestiert werden, dass Reinhardt auf allen Wegen versuchte, die Imagination des immobilen Zuschauers zu mobilisieren und die Bewegung vom Sichtbaren auf den Betrachter zu übertragen. Gerade der Blick von der fahrenden Gondel aus erweist sich zudem als Bezug auf touristische und neue mediale Sehgewohnheiten. 4.2.2 Bewegung und bewegte Bilder Entgegen der Momentaufnahme, welche die Fotografie leisten kann, fängt der Film den Moment in Bewegung ein. Gerade in der frühen Fotografie zeigt sich das Wechselspiel aus technischen Möglichkeiten und ästhetischen und inhaltlichen Setzungen:141 Da längere Belichtungszeiten für ein gutes Ergebnis notwen-

138 Venetianische Abenteuer eines jungen Mannes wurde unter der Regie von Max Reinhardt in Venedig 1913 gedreht. 139 Vgl. Vogt 1983, 64, vgl. ebenso Marx 2006, 156. 140 Herald 1953, 61, hier zitiert nach Berthold und Vogt 1983, 60. Uwe Vogt kommentiert die technische Qualität des Films abwägend: Einerseits sei teils „nur abgefilmte Guckkastenbühne“ zu sehen, andererseits aber auch „mit Hilfe einer exzellenten Kamera-Technik“ gearbeitet worden, Vogt 1983, 64. 141 Mit Friedberg kann für das 19. Jahrhundert von einer doppelten Mobilität ausgegangen werden, einer räumlichen wie auch einer zeitlichen, die einerseits in den Stahl-

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dig waren, wurden immobile Abbildungsgegenstände als Motive gewählt, so wurden beispielsweise venezianische Gebäude aufgenommen. Durch Aufnahmen bei Mondschein142 wurde zudem das Risiko unerwarteter Störungen verringert und zugleich das aus der Malerei bekanntes Motiv Venedig bei Nacht aufgegriffen.143 Bewegung konnte durch Langzeitbelichtung abgebildet werden, wurde aber dann zu einer dynamischen Spur, zu Unschärfe und zum Zeichen der Bewegung im Raum. Der Film hingegen machte die Bewegung mit, vollzog sie nach. Im frühen Film war es vor allem diese Mobilität – von Zügen und Schiffen beispielsweise – die zuerst zum Inhalt der Aufnahmen wurde. Noch konnte aber die Bewegung nicht in die Aufnahme integriert werden im Sinne einer sich mit-bewegenden Aufnahmetechnik. „In early cinema, movement of the camera relative to its tripod was unusual.“144 Noch war es schwer, eine gleichmäßige Bewegung der

und Glaskonstruktionen der Zeit ihren Ausdruck fand, andererseits aber auch in der Fotografie: „And, just as machines of transport […] produced a new experience of distance and time, these architectural spaces were, in a sense, machines of timelessness, producing a derealized sense of the present and a detemporalized sense of the real. Coincident with the new mobilities produced by changes in transportation, architecture and urban planning, photography brought with it a virtual gaze, one that brought the past to the present, the distant to the near, the miniscule to its enlargement. And machines of virtual transport (the panorama, the diorama, and later, the cinema) extended the virtual gaze of photography to provide virtual mobility.“ Friedberg 1993, 4. Die Autorin lenkt hier die Aufmerksamkeit nicht nur auf die zeitliche und räumliche Mobilität, sondern auch auf die Mobilität des Blicks. So bedient sie sich der Terminologie des „mobilized ‚virtual‘ gaze“, den sie beschreibt als „received perception mediated through representation“, Friedberg 1993, 2. 142 Vgl. die Abbildung bei Ritter 2006, 39. 143 Zudem ermöglichte es die Nachtaufnahme, die weniger ansehnlichen Seiten der Stadt zu verbergen, vgl. Ritter 2006, 39. Vgl. auch Pemble 1995, 1. Pemble beschreibt Venedig noch um 1800 als deprimierend in seinem Verfall. Vgl. ebd. Auch Stinde lässt Wilhelmine Buchholz über den Zustand der Stadt jammern, die nur im Mondschein erträglich sei: „Wäre nur nicht Alles [sic!] so zerfallen in Venedig. Die zerbröckelnden Paläste machen den Eindruck, als wäre das Glück auf immer fortgezogen und würde niemals wieder kommen. Nur im Mondschein sieht Alles [sic!] wieder wie neu aus, dann träumt Venedig von seiner alten Herrlichkeit, und wir träumen mit.“ Stinde 1885, 165 144 Keiller 2007, 72.

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Kamera umzusetzen.145 Pionierarbeit leistete hier Alexandre Promio – und dieser wählte für seine Kamera in Bewegung den unbewegten Raum der Lagunenstadt. Bereits 1896 bannte er Venedig auf Zelluloid:146 „The first moving-camera film is supposed to have been a view of Venice photographed from a moving gondola by Alexandre Promio (1868-1926) for the Lumière company in September or October 1896.“147 Promio schuf nicht nur eine der ersten filmischen Aufnahmen Venedigs, sondern schrieb auch mit der Wahl der Perspektive Filmgeschichte: Er entschied sich für eine bewegte Aufnahme, die sich als stilprägend erweisen sollte. Unterwegs im Dienste der Brüder Lumière und ihrer Sammlung an Filmen der „Actualité“, mit denen eine Art filmische Dokumentation der Welt erstellt wurde,148 stellte Promio die Kamera auf einen bewegten Untergrund und filmte von einem Schiff aus.149 So zeigt seine Aufnahme den Blick eines in der Gondel Sitzenden, der das Ufer und die vorbeiziehenden Häuser betrachtet. 150 Die neue Art der Bewegungsaufnahme, also der Aufnahme immobiler Hausfassaden bei gleichzeitiger Bewegung des Aufnahmegeräts, erhielt die Bezeichnung „Travelling“151 oder auch „Panorama-Shot“152. In enger Rückbindung an die Mode der Panoramen und als Weiterführung der sogenannten Moving Panoramas153 kann hier eine Verbindung von Bewegung und Übersicht hergestellt werden. „Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als der erste Run auf die Panoramen vorbei war, wurde – gleichsam als Steigerung des panoramatischen Sehens – das System der Wandeldekoration vom Theater losgelöst und als eigene Attraktion, als Moving Panorama, verkauft.“ 154 Hier

145 Vgl. Keiller 2007, 73. 146 Mehrere Autoren nennen dies die allererste Aufnahme der Lagunenstadt, so beispielsweise Cuff 2013, 12. 147 Keiller 2007, 73. 148 Vgl. Gunning 1996, 26. 149 Andere kamen auf die Idee, die Kamera auf einem Zug oder einer Straßenbahn zu platzieren, später auf Automobile. Vgl. Keiller 2007, 73. 150 „It consists of a single ‚view‘ from a boat travelling north along the waterway, looking left towards the west side of the city.“ Cuff 2013, 12 151 Keiller 2007, 70. 152 Keiller 2007, 70. 153 Vgl. Keiller 2007, 70. Vgl. hierzu auch Storch 2009, 18 und Oettermann 1993, 4251. Vgl. auch die Ausführungen und Beispiele zum Moving Panorama bei Plessen 1993a, 230-251. 154 Storch 2009, 116.

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wurde die Bewegung, wie sie auch aus dem Zugfenster wahrgenommen werden konnte, nachgeahmt – entgegen der Mode der Panoramen, die mit einer Allsicht warben, verlor sich die Detailtreue, denn die Details konnten durch die mobilen Bilder nicht mehr die entsprechende Beachtung finden.155 Auch die frühen Filme zeigten „views resembling those of passengers from railway carriage windows (or panoramas that simulated them)“ 156. Schivelbusch beschreibt diese Sehweise als durchdringend, eine Seherfahrung,157 die auf die Wahrnehmung der metropolitanen Konsumräume zurückwirkt: „Panoramatisch haben wir diese Wahrnehmung der Warenlandschaft im Kaufhaus genannt, weil die Bewegung im Kaufhaus Teil der allgemeinen Verkehrsbewegung ist, welche die panoramatische Wahrnehmung von Eisenbahn- und Boulevard-Landschaften hervorgebracht hat.“158 In diesem Sinne ist auch der filmische Blick ein panoramatischer, das filmische Sehen ein panoramatisches. Promios kurze Filmaufnahme eines venezianischen Stadtpanoramas aus der Position der Gondel heraus endete abrupt: „As we approach the Ponte di Rialto, the film suddenly ends. The Lumière cameras could contain only enough celluloid to record about fifty seconds of footage, but each frame is a moment of the past captured in a unique new medium. The facades of the Venetian palazzi are a glimpse of the city’s rich heritage, whilst the visibly decaying stone and plaster of their poor neighbours reveal the fate of so much sinking architecture. The life and death of Venice is caught in the magical gaze of a camera moving through time and space for 39 seconds of history.“

159

Paul Cuff bemüht hier ein stereotypes Bild der Stadt, das er in einem spannenden Widerspruch sieht: Einerseits zeigte der Film die untergehende Stadt, deren Fragilität in der Schwarzweißaufnahme durch den Blick auf verfallende Fassaden noch verstärkt wird. Andererseits stehen diese Hausansichten aber auch für eine glanzvolle Vergangenheit Venedigs. So markieren die Fassaden zugleich die Geschichte der Stadt und ihre Vergänglichkeit. Aber auch die Kamera selbst als neues Aufnahmemedium steht, ähnlich dem Fotoapparat, für die Gegenwart, mehr noch für ein neues Zeitalter. Durch den Film wird der bewegte Moment konserviert – die Kamera vollzieht stellvertretend für den Zuschauer eine Reise

155 Vgl. Storch 2009, 116. 156 Keiller 2007, 75. 157 Vgl. Schivelbusch 2011, 59. 158 Schivelbusch 2011, 169. 159 Cuff 2013, 12.

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durch Raum und Zeit und wird dabei zugleich zur Konserve dieser Raum- und Zeiterfahrung. Hans Belting schreibt vergleichbar in Bezug auf die Fotografie von einer Doppelfunktion, wenn diese als „Fundstück, das die Kamera der Welt entreißt“160 oder als technisches Produkt gesehen werden kann. 161 „Im einen Fall ist das Bild eine Spur der Welt, im anderen ein Ausdruck des Mediums, von dem es produziert wird […].“162 Venedig als in der Zeit konserviertes Freiluftmuseum seiner eigenen Geschichte zeigt in der Fotografie wie im Film die Gegenwart dieser Vergangenheit. Dabei gerinnt wiederum kurz nach dem Moment der Aufnahme das Bild zu einem Zeugnis des Vergangenen: Die zeitgebundene Aufnahme ist Zeugnis des Vergehens der Gegenwart, ist sie doch bereits im Moment nach ihrer Entstehung ein festgehaltener, vergangener Moment. Zudem ist das Bild nicht nur Zeugnis seines Inhalts, sondern auch seiner Herstellung und damit Teil einer Medien- und Technikgeschichte. Stellt man Promios Aufnahme an den Beginn einer filmischen Rezeptionsgeschichte Venedigs, so lässt sich zugleich für eine Weiterschreibung tradierter Perspektiven argumentieren. In der Wahl des Motivs zeigt sich eine deutliche Nähe zu den gemalten Vorbildern der Veduten. 4.2.3 Stillstand? Vedute und Stadtfotografie Für die venezianischen Veduten, für Stadtbilder, die eigentlich „topographisch getreue Ansichten“163 versprechen, benennt André Corboz drei Traditionsstränge der Darstellung: das Abbild aus der Kavaliersperspektive, also die Vorderansicht der Stadt, die Abbildung von Festivitäten und anderen wichtigen Ereignissen 164 und schließlich „[d]ie von einem auf dem Wasser gedachten Punkt aus aufgenommenen Panoramen“165. Gerade durch Panorama-Ansichten wird ein Über-

160 Belting 2001, 213. 161 Vgl. Belting 2001, 213. 162 Belting 2001, 213. 163 Corboz 1994, 20. Corboz benennt als erste Sammlung von Stadtansichten in Kavaliersperspektive eine um 1500 herausgegebene Gesamtansicht Venedigs, vermutlich von Jacopo de’ Barbari. Diese zeigte Vorderansichten der Stadt, während Bilder, die von einem imaginierten Standpunkt im Wasser aus Venedig abbildeten, ab dem 17. Jahrhundert Verbreitung fanden. Corboz nennt hierzu beispielhaft einen Stich von Willem Blaeu von 1614, vgl. ebd. 164 Corboz 1994, 20. 165 Corboz 1994, 20.

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blick geschaffen, eine Art Sehanleitung und Karte produziert. Das Panorama zeigt eine „Ideal-Stadt“166. Die drei benannten Arten der Abbildung vermischten sich gerade mit Blick auf den Tourismus. So schreibt Corboz: „Diese dreifache ikonographische Tradition läuft an einer Stelle zusammen: bei den Reiseführern.“167 Dabei wird dem Reisenden eben nicht das möglichst naturgetreue Abbild überliefert, sondern es werden die „phantastischsten Bilder“168 abgedruckt. Und auch hier nimmt Venedig eine Sonderstellung ein: „Tatsächlich überdauert die Gewohnheit, wirklichkeitsfremde Darstellungen zu schaffen, in Venedig hartnäckiger als überall sonst.“169 Die Vorstellung dominiert das Ab-Bild. Der komische Einakter Venedig von Robert de Flers und Gaston Arman de Caillavet von 1913170 stellt eine Stadtansicht in das Zentrum eines amourösen Verwirrspiels. Im Mittelpunkt der Handlung stehen Georges und Henriette, ein Pariser Ehepaar. Während Georges begeistert Bilder erwirbt, kann seine Gattin der bildenden Kunst wenig abgewinnen. Als Henriette alleine zu Hause ist, kommt ein Bekannter, Max, zu Besuch und kurz nach ihm trifft auch eine Neuerwerbung des Ehemanns ein. Das Bild, so einigen sich die beiden schnell, zeige Venedig. Von dem Gemälde inspiriert begeben sie sich auf eine imaginäre Reise, die schnell eine romantische Qualität entwickelt und sich für Max in eine unmoralische Liebesbekundung der Hausdame gegenüber steigert. Die Romantik wird jedoch durch das Eintreffen des Ehemanns zerstört – und nun bekommt die vom Bild inspirierte Reise eine neue Wendung. „Max: […] Ich finde das Bild wunderbar … einfach wunderbar! Georges: Sind Sie Kenner? Max: Mich besticht das Sujet! Ich bin förmlich verliebt in diese Stadt … ich schwärme für sie … meine süßesten Erinnerungen heften sich an diesen Ort…

166 Giersch 1993, 96. Nach Giersch wird im Bild die Stadt in einer Statik präsentiert, die nicht von den Erfahrungen der Moderne wie Geschwindigkeit und Wandel erzählt, vgl. ebd. Simmel schreibt zu Venedig, dass sich das Leben in dieser Stadt in einem einzigen Tempo vollziehe, was zu dem Eindruck eines „‚traumhaften‘ Charakters“ führe, vgl. Simmel 1922, 70. 167 Corboz 1994, 22. 168 Corboz 1994, 22. 169 Corboz 1994, 22. 170 Die Uraufführung fand am 24.04.1913 in der Comédie-Française in Paris statt, die deutsche Übersetzung erschien bereits im selben Jahr bei Felix Bloch Erben. Vgl. Flers und Caillavet 1913.

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Georges: Was? An Billancourt? Henriette: Wie? Max: Was sagen Sie? Henriette: Das ist doch Venedig in der Abenddämmerung … da, die Paläste am Kanal… Georges: Aber keine Spur! Das ist das Fabrikviertel von Billancourt, unter [sic!] an der Seine, während der Überschwemmung.“

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Was für den Campanile gehalten wurde, entpuppt sich als Schornstein der Elektrizitätswerke. Die Verwechslung erscheint in den Augen des Kunstkäufers und Kunstkenners absurd: „Aber ich bitte euch! Wer malt den heutzutage noch Venedig! ... Sehen Sie mal … diese fabelhafte Technik … und da diese Lichteffekte auf dem Schlammboden … Wie das gemacht ist … einfach virtuos! Findest du nicht?“172 Statt des Markusplatzes im Nebel ist hier die Industrialisierung, die begeistert.173 Wenn damit auch das kurze Liebesabenteuer für Max ein Ende findet, so zeigt die imaginäre Reise für Henriette Konsequenzen, hat sie doch der Zauber Venedigs verführt. Sie bittet in der finalen Szene ihren Gatten, eine Ankunft in Venedig zu schildern und seine Ausführungen entfachen bei ihr neue Zuneigung zum Angetrauten.174 So ist es hier die das Bild überschreibende und überblendende Imagination, die es letztendlich mit Schauwert versieht, die durch den vermeintlichen Anblick beflügelte Fantasie, die einen Mehrwert generiert und über die sich der Betrachter selbst in das Bild einfügt. Die Vedute war, eingespeist in die Logik des Reisens, begehrtes Souvenir,175 das der Fremde in Venedig erwarb.176 Bild und Fremdheit stehen in einer engen

171 Flers und Caillavet 1913, 26-27. 172 Flers und Caillavet 1913, 27. 173 Der Realismus in der Malerei hat aber durchaus solcher Industriemalerei vergleichbare Ansichten eines gewöhnlicheren Venedigs hervorgebracht; Forssman nennt hierfür das Beispiel der Alltagsdarstellung des Gemäldes Kanal in Venedig von Ludwig Dill von 1883. „Auf diese Weise wurde Venedig den üblichen Hafenbildern oder Industrielandschaften angeglichen.“ Forssman 1971, 172 174 Vgl. Flers und Caillavet 1913, 33. 175 Vgl. Borchmeyer 2013, 33. Bochmeyer schreibt von einem „Vedute-Fieber“, das amerikanische Reisende und Kunstsammler überfallen habe. Ebd. 176 Auch in der Produktion der Bilder nahmen Fremde bald eine zentrale Rolle ein, so beispielsweise der Amerikaner Thomas Moran. Sein Interesse galt der Vermittlung eines ästhetischen Eindrucks, wie es der Vergleich mit der früh-impressionistischen Malerei William Turners nahe legt: „Wie Turner malte Moran Stadtpanoramen von

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Verbindung, folgt man Belting, der das Bild als beruhigendes Mittel der Verortung des Fremden ausweist. In Anlehnung an ihn heißt es in der Einleitung zum Sammelband Bilder des Fremden: „Bilder weisen die Orte an, an denen sich das Selbst positioniert und wo das Andere seinen Platz findet.“177 Ganz konkret fand diese Verortung im Bild mit der Entwicklung der Fotografie einen ersten Höhepunkt, konnte sich nun nicht nur ein Bild von der Fremde gemacht, sondern auch der eigene Körper in dieses Bild eingebunden werden. Die Reisenden begannen, ihren eigenen Besuch in der Lagunenstadt im Bild festzuhalten, integrierten sich selbst in die Abbildung mit ein und belegten so die eigene Anwesenheit vor Ort. Dabei dienten als Hintergrund meist bekannte Sehenswürdigkeiten, denen jedoch der Rücken zugekehrt wurde. Der Abgebildete blickte in die Kamera, seine Aufmerksamkeit richtete sich auf den unbekannten und unsichtbaren künftigen Betrachter des hier festgehaltenen Augenblicks. Der Reisende agierte somit für ein Publikum, das es noch nicht gab und rahmte seine Handlung als Inszenierung für einen Zuschauenden. Ähnlich dem Illusionsbruch im frühen Film durch den direkten Blick in die Kamera wird so für einen imaginierten, späteren Betrachter ein Eindruck erschaffen und damit zugleich eine direkte, physische Verbindung hergestellt, ein direkter Blick, der den Blick des Zuschauers auffängt. Dabei kann es sich beim späteren Betrachter auch um den im Bild abgelichteten Reisenden selbst handeln, so dass hier eine Aktualisierung des eigenen Erlebens erfolgt, ein Blickkontakt zwischen einem vergangenem und einem gegenwärtigen Ich hergestellt wird. Venedig ist dabei Kulisse einer Selbstinszenierung des Reisenden, die über den Moment der Reise hinaus weiterwirkt. Als Bestätigung der eigenen Anwesenheit vor Ort und damit auch der eigenen sozialen Rolle, der Selbstverortung als reisender Bürger, diente zudem die Postkarte. Wie im vorangegangen Kapitel bereits bemerkt, war sie Beleg einer konkreten Ortserfahrung, die durch den Sender personalisiert wurde und die Heimat mit der Fremde verband.178 Dabei war es gerade das Spiel mit der Realität und der Imagination, das auch die Postkarten bedienten, wenn sie nicht Abbilder des Sichtbaren, sondern eine Idealisierung desselben anboten179 – wenn-

der Lagune aus gesehen – ‚più visionari che reali‘ –, entweder in hellem Sonnenschein oder im Lichte dramatischer Sonnenuntergänge.“ Borchmeyer 2013, 34 177 Bayerdörfer 2007, 7, hier in Anlehnung an Belting 2001, 12. 178 Vgl. Davis und Marvin 2004, 268-269 179 „[I]n art and literature even realism is a matter of artifice and what is real is ultimately a matter of cultural definition“, Turner 1992, 24 Während der Malerei ein Hang zur Verklärung unterstellt wird, ist es die Behauptung objektiver Realitäts-

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gleich die Fotografie an sich einen realitätsabbildenden Anspruch erhebt, der jedoch mit der Gestaltung der Postkarten wenig gemein hatte.180 „Offenkundig war die überwiegende Anzahl von Postkartenansichten mit dem Anspruch nach einer reizvollen, heilen Welt verbunden. Sehr schnell wurden Postkartenbilder stereotyp als kitschig-schön empfunden – was zu festen Ausdrücken wie Postkartenidyll oder Postkartenpanorama führte. Kulturbeschreibend kann die Popularisierung der Bildpostkarte, die fast gleichzeitig mit der des frühen Films erfolgt, und die damit einhergehende Propagierung profaner Schönheit als eine frühe Ausprägung der, wie Max Horkheimer und Theodor Adorno (1981, 141-191), es nennen, Kulturindustrie angesehen werden.“

181

Die industrielle Produktion der Stadtansichten führt die Tradition der Veduten und ihre Bildsprache weiter, so dass Norwich die Ende des 19. Jahrhunderts in Venedig aktiven Fotografen als „die echten Nachfolger der Vedutisten“182 bezeichnen kann – und dies sowohl in Bezug auf die Wahl ihrer Motive, als auch vor dem Hintergrund, dass die Künstler teils direkt von Stadtmalern zu Stadtfotografen wurden.183 So komponierten auch die Stadtfotografen ihre Ansichten. „Die Photographen taten das ihre, um diese Glaubwürdigkeit [der Fotografien, DV] zu erhöhen. Carlo Naya [1816-1882, Fotograf mit eigenem Studio in Venedig, DV] komponierte die Aufstellung und Anordnung der Personen mit Bedacht und wählte zusätzlich den passenden venezianischen Hintergrund. Er prägte mit derartig malerischen Szenen den Begriff ‚Venezia pittoresque‘.“

184

Um die Wiedererkennung zu garantieren und Authentizität zu behaupten, bei Dorothea Ritter als „Glaubwürdigkeit“185 bezeichnet, wird das fotografische Bild komponiert und inszeniert, orientiert an den gemalten Vorbildern. Es wird also

abbildung, mit der das neue Medium der Fotografie in Verbindung gebracht wird. Vgl. Ritter 2006, 66. 180 Vgl. Holzheid 2011, 269. 181 Holzheid 2011, 269-270, hier in Verweis auf Horkheimer und Adornos Schrift Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug von 1981. 182 Norwich 2006, 10. 183 So wurde nun versucht, mit Hilfe der neuen Technik gerade auch die Details festzuhalten, die die Malkunst zuvor vor Schwierigkeiten gestellt hatte, vgl. Ritter 2006, 27. 184 Ritter 2006, 67. 185 Ritter 2006, 67.

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eine besondere Anstrengung unternommen, um mittels der Fotografie einen geradezu malerischen und damit einen bekannten und vertrauten Eindruck der Stadt zu vermitteln. Die vermeintliche Natürlichkeit und Echtheit des fotografischen Bildes orientierte sich an gemalten Vorbildern.

4.3 Z WISCHEN S CHAU -

UND

S PIELPLATZ

In Venedig ist der Blick auf die Stadtsilhouette von der Gondel oder dem Vaporetto aus für jeden Reisenden, ob real oder imaginär, ein bekanntes Bild. Simmel lehnt gerade diese Stadtansicht als Täuschung ab: „Jedes innerlich wahre Kunstwerk, so phantastisch und subjektiv es sei, spricht irgend eine Art und Weise aus, auf die das Leben möglich ist. Fährt man aber den Kanal Grande entlang, so weiß man: wie das Leben auch sei – so jedenfalls kann es nicht sein.“186 Dieser Blick auf Venedig ist in seinen Augen der Blick auf die Kulisse eines lebensfernen Spiels. Er diagnostiziert anhand der Fassaden eine Form der städtischen Maskierung, die das alltägliche Leben weniger zum sozialen denn zum theatralen Spiel werden lasse.187 Bereits im Kapitel zum Tourismus wurde die Idee der Kulissenhaftigkeit Venedigs angesprochen, hier im Verweis auf die touristische Suche nach Authentizität.188 Simmels Klage zielt nicht nur darauf ab, dass es hier keine ‚back region‘ zu entdecken gäbe, sondern dass sich die ‚front region‘ bereits als Spiel entlarven lasse. Dabei rezipiert er, im Unterschied zu Bierbaums Betrachtung der Stadt als Schauspiel, Venedig nicht als Lebensraum, sondern als Kunstwerk. Von einem solchen fordert er eine „Übereinstimmung […] mit seiner eigenen Idee.“189 Die Lagunenstadt hingegen sei nicht „Werk der Kunst“, sondern „Künstlichkeit“: „Venedig aber ist die künstliche Stadt.“ 190 Diese Täuschung ist für Simmel keine Konsequenz der historischen Entwicklungen, das heißt keine Folge der vermeintlichen Entvölkerung durch den politischen und wirtschaftlichen Niedergang, vielmehr versteht er sie als der Stadt inhärent, so

186 Simmel 1922, 68. 187 Vgl. Curtis und Pajaczkowska 2002, 154. 188 Vgl. hierzu auch die Bewertung Venedigs durch Bierbaum als Schauspiel im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 189 Simmel 1922, 67. 190 Simmel 1922, 69. Anders sei dies in Florenz, gegen das er Venedig abgrenzt, und das eben ein solches „Werk der Kunst“ sei, vgl. ebd.

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dass er Venedig als „Fassade“ und „entseeltes Bühnenbild“191 beschreiben kann. Damit impliziert ist die Zweidimensionalität des Sichtbaren, eine fehlende Tiefe, die Simmel sowohl den Gebäuden als auch den hier anzutreffenden Menschen unterstellt. „Alle Menschen in Venedig gehen wie über die Bühne: in ihrer Geschäftigkeit, mit der nichts geschaffen wird, oder mit ihren leeren Träumereien tauchen sie fortwährend um eine Ecke herum auf und verschwinden sogleich hinter einer anderen und haben dabei immer etwas wie Schauspieler, die rechts und links von der Szene nichts sind, das Spiel geht nur dort vor und ist ohne Ursache in der Realität des Vorher, ohne Wirkung in der Realität des Nachher.“

192

Spiel ist in dem hier gewählten, enggefassten Begriffsverständnis das Gegenteil von Leben, keine kulturelle Praxis, die etwas erschafft, sondern nur eine, die etwas vortäuscht. Dieses pejorative Spielverständnis gipfelt in der Idee des nur vordergründig Sichtbaren. So greift auch der Begriff der Kulisse für Simmel nicht mehr, sondern muss diese in seiner Beschreibung zum Bild gerinnen. „Mit der Einheit, durch die ein Kunstwerk jedes seiner Elemente seinem Gemeinsinn untertan macht, ergreift hier der Oberflächencharakter das Bild der Menschen. Wie sie gehen und stehen, kaufen und verkaufen, betrachten und reden – alles das erscheint uns, sobald uns das Sein dieser Stadt, das in der Ablösung des Scheins vom Sein besteht, einmal in seinen Bann hat, als etwas nur Zweidimensionales, wie aufgeklebt auf das Wirkliche und Definitive ihres Wesens. Aber, als habe sich dieses Wesen darunter verzehrt, ist alles Tun ein Davor, das kein Dahinter hat, eine Seite einer Gleichung, deren andere ausgelöscht 193

ist.“

Curtis und Pajaczkowska greifen den Begriff auf, wenn sie von „façadism“194 sprechen. Der Erhalt der Fassaden, der nicht dem dahinter verborgenen Zweck und der Nutzung der Gebäude entspricht, ist hier als städtebauliches Prinzip benannt – im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann das Fassadenprinzip als Prinzip eines metropolitanen Unterhaltungskomplexes markiert werden, denn ebenso spielten die Freizeit- und Themenparks wie auch die historischen Nachbauten im

191 Simmel 1922, 69. 192 Simmel 1922, 69. 193 Simmel 1922, 69. 194 Curtis und Pajaczkowska 2002, 155.

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Rahmen von Gewerbe- und Weltausstellungen damit.195 Hier jedoch war die Rekonstruktion entsprechend gerahmt, war auch die Mode der historisierenden Hausfassaden mit ihrer historisch-architektonischen Zitationspraxis nicht per se als Täuschung gedacht. Auch wenn mit der Behauptung von Authentizität und Originalität kokettiert wurde, so war es doch immer ein Spiel mit dem Als-ob, auf das sich der Flanierende, der Konsument und Parkbesucher einließ. Mit Blick auf Venedig lassen sich aber andere Beispiele finden, die die Simmel’sche Behauptung einer vorsätzlichen Täuschung stärken, gerade im Hinblick auf eine historisierende Rahmung als Vortäuschung von Geschichtlichkeit. Eng flankiert von der Idee des Historismus, nicht nur als ästhetisches Prinzip, sondern auch als Haltung zur Welt und Weg der Aneignung von Vergangenheit und Gegenwart, soll daher im Folgenden die Idee der Rekonstruktion Beachtung finden. 4.3.1 Historisierung: aus neu mach alt Baufällig geworden stürzte der Campanile, der Glockenturm auf dem Markusplatz, 1902 in sich zusammen. Schnell war beschlossen, dass er originalgetreu wieder errichtet werden sollte, dem Motto folgend „com’era, dov’era“, also wie und wo er gewesen war.196 Suggeriert dieses Credo die Möglichkeit einer Wiederherstellung des Originals, wurde faktisch ein Prozess der Rekonstruktion begonnen; aus den Trümmern des Vergangenen konnte das Verlorene nicht einfach wieder aufgebaut werden, sondern wurde vielmehr etwas Neues nach dem Bild des Alten geschaffen.197 Mit Pemble kann dies verortet werden im Rahmen weiterer venezianischer Rekonstruktionsarbeiten, die eine „illusion of immortality“198 kreierten, an der für und in Venedig gearbeitet wurde. So konstatiert er: „When buildings crumbled or collapsed, they were resurrected by the thaumaturgic power of nostalgia.“199 Pemble beschreibt, wie Venedig im beständige Prozess einer Konservierung des Bestehenden im 19. Jahrhundert zum Streitpunkt international geführter Debatten wurde, die sich an der Frage des ‚richtigen‘ Erhalts entzündeten. So entdeckten englische Denkmalschützer200 neu ihr Interesse an der Lagunenstadt und eine tiefere, kulturelle Verbindung: „In the

195 Vgl. Marmorek, zitiert nach Kristan 1996, 187. 196 Vgl. Davis und Marvin 2004, 218. 197 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Idee der Rekonstruktion Assmann 2010a, 16. 198 Pemble 1995, 1. 199 Pemble 1995, 1. 200 Zur Entstehung des Denkmalschutzes als Bewegung vgl. Hubel 2011.

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mid-1870s the British intellectual and artistic élite suddenly decided that, as the heirs of Byron, Turner, and Ruskin, they had a special mission to save Venice from the ravages of restoration and modernization.“201 Hier klingt die Idee des Kulturerbes an, das weniger in Bezug zu kanonisiertem Wissen im Sinne einer konkreten Zeitgeschichte steht denn in Bezug zu einem kulturellen Imaginären, und das, wie in Venedig geschehen, sich als transnational vereinnahmbar erweist. „Die heute oft gewählte Antwort auf die Fragen, was die eine Gruppe, die eine Destination von den anderen unterscheidet, lautet ‚Kultur‘ und spezieller noch Kulturerbe, ein in vieler Hinsicht affektiv stärkerer Begriff als das eher anämische und betont neutrale ‚Geschichte‘ 202

– ‚my heritage can beat up your history‘, wie Alan Lew […] es formuliert hat.“

Venedig wurde zu einem transnationalen Kulturerbe, das sich einfügt in den Kreislauf touristischer Kommodifizierung, denn „[l]etztlich ist es gewissermaßen Geschichte selbst, die zu Kulturerbe gemacht wird oder gemacht werden soll und die sich dann zum Gegenstand und zur Ware touristischen Begehrens und Konsums entwickelt.“203 In der Begrifflichkeit des Erbes schwingt zudem der Anspruch legitimer, oder so empfundener, Nachkommenschaft mit und damit das mögliche Anliegen, dieses Erbe zu verwalten, es zu bewahren – und es zu nutzen. Der proklamierte Anspruch ist die Voraussetzung zur Vermarktung, folgern Girke und Knoll, denn um „im großen Maßstab Artefakte und immaterielle Kultur (wie Performanzen, Wissen und Erlebnisse) zu kommodifizieren“, müsse das Besitzverhältnis geklärt sein, „und sei es durch bloße Behauptung.“ 204 So generiert sich ein Interesse am Erhalt des Erbes und wird zudem ein Kampf gegen den Verfall motiviert.205 Denkmalschutz wurde zum Politikum in und um Venedig.206 Ruskin war einer der ersten, der den Erhalt der Stadt problematisierte, jedoch zielten seine

201 Pemble 1995, 144. 202 Girke und Knoll 2013, 9, hier in Bezug auf Alan Lew 2007 unter http://de.slide share.net/alew/defining-place-authenticity-my-heritage-can-beat-up-your-history. [Letzter Zugriff: 16.01.2015] 203 Schnepel 2013, 26. 204 Girke und Knoll 2013, 9. 205 Vgl. Girke und Knoll 2013, 9-10. 206 Vgl. Pemble 1995, 144.

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Bemühungen weniger auf einen Erhalt im Ist-Zustand.207 Vielmehr wollte er das Vorhandene vor allem mit Blick auf das gotische Erbe bewahren, so war es ihm wichtig „to restore it [Venice] to the Gothic Eden he imagined that it had been“208. Zeitgenössische Bestrebungen aber galten vor allem einer Bewahrung des bekannten Venedig-Bildes, so dass Pemble konstatiert: „When people spoke of restoration they now meant making the new look old, not making the old look new.“209 Aleida Assmann deutet die Rekonstruktion so auch weniger als „Stilphänomen“ denn als „neuartige kulturelle Praxis“210.

Abb. 7: Campanile und der selten menschenleere Markusplatz bei Nacht

207 „One could safely say that this process began with John Ruskin, who lifted the entire city of Venice to the level of an aesthetic principle.“ Davis und Marvin 2004, 212 Mit Stones of Venice versuchte er, an die Bauwerke, die er „durch Verfall und durch vernichtende Restaurierungen einem sicheren Untergang geweiht“ sah, eine bleibende Erinnerung zu schaffen. Forssman 1971, 65. 208 Hewison 2009, 7. 209 Pemble 1995, 153. 210 Assmann 2010a, 17.

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Mit Blick auf die Geschichte des Campanile und seine Rekonstruktion zeigt sich die Bedeutung des Turmes vor allem auf semiotischer Ebene: Er galt als Zeichen für und Sinnbild der Standhaftigkeit der Stadt. „The thousand-year-old Campanile in the Piazza San Marco, the most prominent landmark in the Adriatic, was often cited as an example of this durability. Its strength was proverbial.“211 So verwundert es auch nicht, dass sein Zusammensturz als „major catastrophe“212 medial verhandelt wurde – das Bild des Markusplatzes hatte eine signifikante Änderung erfahren. Im Sinne einer Fortschreibung des Stadtmythos der beständigen und zugleich sterbenden Stadt musste der Turm erhalten bleiben. So kann Pemble festhalten: „The purpose of the replica was in fact not to register actuality but to perpetuate a fiction – the fiction that old Venice, the beautiful ruin, had been preserved: preserved in order to go on dying.“ 213 Der neue Turm konnte nur nach Bildern rekonstruiert werden, Pläne waren nicht erhalten.214 Deutlich wurde er als Bauwerk geplant, das seine Geschichte nicht ausstellen, sondern sie verdecken und den Anschein von Alter erwecken sollte – während er zugleich modernen Ansprüche angepasst wurde. So wurde einerseits das Baumaterial des Neubaus so behandelt, dass der neue Campanile älter wirkte,215 andererseits hinter der Steinfassade ein modernes Stahlgerüst eingebaut, so dass im Innern des Turmes die Treppen durch einen Aufzug ersetzt werden konnten.216 Damit wurde der Turm, der 1912 wieder eingeweiht werden konnte, endgültig zu einer auf die Bedürfnisse der Touristen abzielenden Sehenswürdigkeit. Als Aussichtsplattform, als Möglichkeit, den Überblick zu bewahren oder wieder zu gewinnen, war er einer rein touristischen Funktion überführt. Die Geschichte seiner Rekonstruktion wurde nicht in den Wiederaufbau integriert, so dass künftige Besucher den Nachbau als ‚Original‘ rezipieren können.217 Davis und Marvin betonen, dass für den Venedigtouristen der Campanile in gewissem Sinne geschichtslos sei. „The Campanile’s attractions are strictly visual and ambiental; it carries for the tourist no cultural or historical baggage – indeed, it is not even the original Campanile – but it does present visitors with a

211 Pemble 1995, 155. 212 Pemble 1995, 156. 213 Pemble 1995, 158. 214 Vgl. Pemble 1995, 158. 215 Vgl. Davis und Marvin 2004, 218. 216 Vgl. Davis und Marvin 2004, 218. Damit erinnert der Campanile in gewissem Sinne auch an den aktuellen Neubau des Berliner Stadtschlosses. 217 Vgl. Davis und Marvin 2004, 218-219.

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stunning view of the bizarre topography of the city and the surrounding Lagoon.“218 Für die Autoren markiert seine Rekonstruktion aber einen wichtigen Moment in der Entwicklung der Stadt, als Initialzündung einer weiteren und folgenden Musealisierung Venedigs. „As it happend, com’era, dov’era would become both, Venice’s defining credo and its eventual prison, setting it on the road to becoming the museum city it is today.“ 219 Durch die visuelle Imitation des ursprünglichen Bauwerks wurde Geschichte behauptet und zugleich Zeitgeschichte verdeckt, versteckt hinter den Mauern des Turmes: Die alt aussehende Fassade war Kulisse moderner Architektur, so dass man hier von einer unsichtbaren Form der Modernisierung sprechen kann.220 Während hiermit ein Prozess der Aushöhlung beschrieben ist, wird die Stadt für den Blick des Betrachters optimiert, der Tourist blickt vom Campanile aus auf die Stadt wie der Betrachter einer Panorama-Rotunde auf seine Umgebung; aus der Vogelperspektive entzerrt sich vor seinen Augen das labyrinthische Gewirr der Straßen. Die Installierung von Aussichtstürmen war Teil der metropolitanen Unterhaltungsindustrie und des Ausstellungskomplexes, so boten die Freizeitparks der Jahrhundertwende auch die Aussicht als Attraktion an. Der hier ermöglichte panoptische Blick221 versprach dem Besucher zugleich Ordnung und ermöglichte Überwachung durch den Blick von oben auf das Treiben im Park, auf die Weltausstellungen222 – oder auf den Markusplatz. Der Eifelturm, der für die Pariser Weltausstellung von 1889 erbaut wurde und von dessen Plattform aus die Stadt zum Theater des Betrachters wurde,223 steht beispielhaft für dieses Prinzip der Sicht- und Schauanordnung. Die Rekonstruktion des Campanile lässt sich auch lesen im Zeichen des Historismus. Dieser beschränkt sich nicht auf eine Art des geschichtswissenschaftlichen Denkens, das aus der Vergangenheit die Gegenwart erklärte, sondern zeigte sich gerade um 1900 auch in der Literatur, der Kunst und der Architektur. „Er ist durch eine Einstellung zur Vergangenheit geprägt, in der deren Eigenart im Unterschied zur Gegenwart und das zeitlich-dynamische Spannungsverhältnis

218 Davis und Marvin 2004, 71. 219 Davis und Marvin 2004, 218, Hervorhebung im Original. 220 Davis und Marvin 2004, 219. 221 Bennett schreibt von der Möglichkeit einer „panoptic inspection“ im Freizeitpark durch einen zentralen Aussichtsturm, vgl. Bennett 1995, 48. 222 Vgl. hierzu Bennett 1995, 48. 223 Vgl. Kennedy 2011, 98, hier im Verweis auf Hughes 1991, 12, der den Blick vom Eiffelturm mit dem Blick aus dem Zugfenster vergleicht.

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zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betont werden.“224 Aus der Perspektive der kulturellen Gedächtnisforschung kann für die unterschiedlichen Bilder und Narrative, die in und mit einer Stadt virulent sind und werden, von denen manche dominanter als andere und manche ganz vergessen scheinen, auf die Unterscheidung zwischen Archiv und Kanon zurückgegriffen werden. Aleida Assmann betrachtet als Kanon das zirkulierende Wissen, während das Archiv nur einem Expertenkreis zugänglich ist. Zwischen den beiden Ebenen kann allerdings durch eine Rahmenverschiebung eine Aktivierung erfolgen: Archivwissen kann kanonisiert, aber auch kanonisches Wissen wiederum archiviert werden.225 In Venedig überlagert sich der Kanon mit der konkreten Stadt(raum)erfahrung226 und einer permanenten Wechselwirkung aus Vorprägung, Vorstellung und körperlichem Erleben. Mit der Krise des Historismus um die Jahrhundertwende wurde auch eine hieran orientierte Aneignung von Welt brüchiger;227 statt einer Betonung und Behauptung von Geschichtlichkeit war es nun die Orientierung an der Kunst, aus der für Venedig ein Mehrwert gezogen und ein neuer Anreiz für Besucher geschaffen wurde. 4.3.2 Ästhetisierung: die Biennale di Venezia Mit Blick auf die Literaturgeschichte hält Nies das „Bild von der Künstlichkeit Venedigs und der wesensmäßigen Verwandtschaft der Stadt mit der Kunst“ bereits für das 18. Jahrhundert fest.228 Für den Beginn des 20. Jahrhunderts schreibt auch Bierbaum: „Venedig ist mehr als irgend eine [sic!] andere Stadt im eigentlichsten und umfänglichsten Sinne ein großes Kunstwerk“.229 Und auch Burke hält im historischen Rückblick eine Entwicklung Venedigs zu einem „open-airmuseum or a work of art in itself“230 fest. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte des Baus einer Stadt im Wasser und verbunden mit ihrer Kulturgeschichte, einer Lesart der Stadt als Speicher und Fundus von baulichen, model-

224 Jaeger und Rüsen 1992, 75. 225 Vgl. Assmann 2008, 106. 226 Hier im Sinne der von Löw benannten Eigenlogik der Stadt, vgl. Löw 2008, 65. 227 Vgl. zur Krise des Historismus Oexle 2007. 228 Nies 2014, 17. 229 Bierbaum 1999, 70. 230 Burke 2011, 86. Auch Bierbaum schreibt von einer „Art permanenter Ausstellung der Vergangenheit“, Bierbaum 1999, 70.

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lierten und gemalten Kunstwerken, wird die Idee des Freiluftmuseums in der Denkfigur der artifiziellen Stadt potenziert.231 „Die Abgeschlossenheit der Stadt mit ihrer besonderen Situation im Wasser und eine weitgehende Abstinenz moderner Architektur lassen Venedig nicht nur räumlich, sondern auch als der Zeit entrückt und damit der Normalität enthoben scheinen, wobei die quasimuseale Koexistenz von Bauwerken verschiedener historischer Kunst-Epochen Venedig zugleich als eine Verräumlichung der Zeit und der Kunst erscheinen lassen.“

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In mehrfacher Hinsicht ist Venedig dem Artifiziellen verbunden: Als künstlich geschaffene Stadt ist sie gleichzeitig Stadt voller Kunst und kunstvoller Architektur, so dass die Stadt selbst oft als Kunstwerk betrachtet wird. 233 Venedig kennt die Rolle des sakralen Pilgerorts, und ebenso auch die Rolle des „aesthetic shrine“234, zum einen durch die hier vorhandene Kunst und das gepflegte Kunsthandwerk, zum anderen als „open-air museum“235 und Kunstgebilde von eigener Qualität, sondern auch durch die Neuerfindung der Stadt als Kulisse der Kunst.236 Wurde das Leben in der Stadt um 1900 zur Kunst erklärt, so wurde einerseits das Alltagsleben einbezogen: Die Malerei widmete sich der Darstellung der Bewohner und ihrer Tätigkeiten, unter dem Schlagwort „Venezia minore“237 wurde das ‚einfache‘ Leben in der Lagunenstadt abgebildet.238 Alternativen für bekann-

231 Vgl. Nies 2014, 17. 232 Nies 2014, 15, Hervorhebungen im Original. 233 Vgl. Nies 2014, 16. 234 Burke 2011, 85. Bereits im späten 17. Jahrhundert sei Venedig nicht allein Reiseziel religiöser Pilger, sondern bereits Ziel einer „aesthetic pilgrimage“ geworden. Reisende bewunderten die venezianische Architektur, aber auch die hier vorhandenen Kunstwerke. Vgl. Davis und Marvin 2004, 29. 235 Burke 2011, 86. 236 Dabei halten Davis und Marvin fest: „[I]t is image, rather than art, that has long been Venice’s primary attraction, whether for the Gran Tourists of two centuries ago or for the mass tourists of today.“ Davis und Marvin 2004, 6. 237 Forssman 1971, 177. 238 Der Wiener Cecil van Haanen (1844-1914) hatte mit dem Gemälde Venezianische Perlenfädlerinnen im Pariser Salon 1876 Aufmerksamkeit erregt und so das Genre der venezianischen Alltagsmalerei für viele andere attraktiv gemacht. Vgl. Schwander 2008, 21. Vgl. ebenso Véron 1876, 113-114. Die Maler widmeten sich dem venezianischen Alltag, sie zeigten, „wie sich Arbeiter und kleine Leute auf

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te Motive wurden gesucht und gefunden, so ersetzte beispielsweise der Giudecca-Kanal den Canal Grande und wurden Lastkähne anstelle von Gondeln gemalt.239 Auch das Leben also, das sich nicht an den Fremden ausrichtete, wurde so durch den Blick von außen vervielfältigt, gewertet und kommentiert. Andererseits wurde die Stadt aber auch zum stimmigen Hintergrund des Kunsthandels: Gegründet aus der Idee heraus, einen neuen Anziehungspunkt für den Tourismus zu schaffen und dabei von der geschichtsträchtigen und kunstgeschichtlich bedeutsamen Vergangenheit für die Zukunft zu profitieren 240 wurde am 30. April 1895 die erste Biennale di Venezia eröffnet und war „an immediate and resounding success“241; Pemble berichtet von 200.000 Besuchern.242 Als internationale Kunstaustellung und Handelsplattform für Kunst lockte sie Besucher, Künstler und Kunstkäufer und erwies sich als lukrative Einnahmequelle für die Lagunenstadt.243 Hier wurde eine Tradition begonnen oder vielmehr eine Tradition erfunden244 die Venedig mit dem Glanz vergangener Tage und ebenso mit aktuellen Entwicklungen des Kunstbetriebs verband. „At a time when Venetian painters were no longer famous, the Biennale […] linked Venice with the arts.“245 Dabei verband die Messe eine nationale wie auch internationale Leistungsschau der Kunst.246 „Man […] zielte auf eine monumentale und mondiale Schau der anerkannten Weltkunst ab, dies auch schon im Hinblick auf den internationalen Tourismus, der inzwischen zur Existenzgrundlage der Stadt geworden war.“247 Pierre Restany sieht zwei zentrale Aspekte ihrer Gründung: „die Salons und die großen Weltausstellungen, zwei vollkommen widersprüchliche Modelle. Das erste nimmt Begegnungen, ein polyvalentes Gemisch zum Ausgangspunkt.

unbekannten Kanälen und Gassen zu schaffen machen, abseits von den Sehenswürdigkeiten,“ Forssman 1971, 172. 239 Vgl. Forssman 1971, 172 und 175. Forssman bringt dieses Venedig des malerischen Realismus auf folgende Kurzformel: „Schmutziger Kanal ohne Gondel und zerbröckelndes Mauerwerk sind zusammen die neue Formel für Venedig.“ Ebd., 177. 240 Vgl. Fleck 2009, 32. Bereits 1893 fand eine Kunstaustellung in Venedig statt, jedoch wurde das Label der Biennale ab 1895 verhängt. 241 Di Martino 2005, 12. Seit 1932 wird die Kunstbiennale durch die Internationalen Filmfestspiele ergänzt. 242 Vgl. Pemble 1995, 26. 243 Vgl. Di Martino 2005, 12. 244 Vgl. Hobsbawm und Ranger 1986. 245 Burke 2011, 85. 246 Vgl. Balmas 1995, 15. 247 Forssman 1971, 198.

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Die Weltausstellungen dagegen sind von der konkurrierenden Koexistenz der nationalen Pavillons inspiriert.“248 Wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, lag der Reiz der Weltausstellungen, neben dem Gedanken des Wettbewerbs, vor allem in der sichtbaren Verfügbarkeit der Welt und der Sichtbarkeit der anderen. Als Orte der Selbst- und Fremdbestätigung weisen auch die Freizeitparks eine Nähe zur Kunstbiennale auf, gerade mit Blick auf Themenwelten, die die Welt greifbar und körperlich erfahrbar im flanierenden Besuch der Gelände werden ließen. So ähnelt die Beschreibung eines aktuellen Besuchs des BiennaleGeländes von Robert Fleck auch einer Raumaneignung im Freizeitpark: „Wie auf jeder Biennale von Venedig sah sich der Ausstellungsbesucher beim Betreten des Geländes in eine Atmosphäre versetzt, die mit einem Museumsbesuch kaum vergleichbar ist. Ob in den Giardini, dem Parkgelände mit den Nationalpavillons von 29 Ländern und dem italienischen Pavillon, oder im Arsenale, dem ehemaligen Hafen der österreichischen Kriegsmarine aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Weite des Geländes lädt die Besucher in stärkerem Maße ein zu flanieren als in anderen Ausstellungen. Da sitzen Menschen auf Bänken unter den Bäumen der Giardini, bevor sie die nächste Ausstellung in einem Nationalpavillon besichtigen. Im Arsenale mit seinem fast zwei Kilometer langen Verlauf aneinandergereihter Hallen wird das Wandeln in historischen Gebäudeteilen und im Freien auf den Kais am Wasser ein fast ebenso starkes Erleb249

nis wie die ausgestellte Kunst.“

Die Stadt wird zur Bühne der Kunst, nicht für ihre Künstlichkeit abgelehnt, sondern in ihrem Kunstcharakter aufgewertet. Dabei sei die Biennale von Beginn an ein Ereignis gewesen, ein Event,250 das Fleck als „erste Weltausstellung bildender Kunst“251 bezeichnet, als Möglichkeit für die „Besucher eine künstlerische

248 Restany 1995, 48. 249 Fleck 2009, 14. Nationalpavillons gibt es in Venedig seit 1907, begonnen als belgische Initiative, die sich hiervon einerseits mehr Platz für ihre Kunst, andererseits eine größere Freiheit in der Auswahl der Künstler versprach. Vgl. Fleck 2009, 43. Zur Idee der Nationalpavillons, wie es sie bereits auf den Weltausstellungen zu bewundern galt, vgl. Storch 2009, 21. Hier stand vor allem das Landestypische im Zentrum, nicht selten auf Klischeevorstellungen reduziert. Storch weist darauf hin, dass es hier aber nun neu die Komponente der Bewegung im Raum war, die das imaginäre Reisen auch zu einem räumlichen und mobilen Erlebnis werden ließ. Ebd. 250 Vgl. Fleck 2009, 33. 251 Fleck 2009, 28.

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Weltreise“252 zu vollziehen und dies auch mit Bezug auf ein touristisches Erkunden: Auch zur Biennale wurden Gruppen- und Pauschalreisen angeboten, das touristische Interesse gezielt geschürt und gestützt.253 Neben der bildenden Kunst widmeten sich spätere Festivals auch den anderen Künsten, heute dem Film, der Architektur, dem Tanz, der Musik und dem Theater.254 Gerade die Theaterbiennale weist sich mit Blick auf ihre Eröffnungsinszenierung als theatrale Form der Stadtaneignung aus, die die Idee der Stadt als Kulisse der Kunst konsequent weiterführt und hier auch Kunst in Leben überführt. 4.3.3 Theatralisierung: Reinhardts venezianischer Kaufmann „The Theatre Festival of the Biennale began in 1934 with a simple but remarkable idea: produce the great Venetian plays in their own setting.“ 255 Die Stadt als Bühne – Reinhardt nimmt dies wörtlich und führt in Venedig eine neue Version des Kaufmann von Venedig als „Eröffnungsbeitrag für das erste ‚Festival internazionale del Teatro di Prosa‘“256 auf. Reinhardts Inszenierung sollte am Beginn einer „sich hier ausbauend, alljährlich wiederholenden Serie“257 von Theaterproduktionen stehen. Elisabetta Cerrutis schwärmerische Kritik, die am 27. Juli 1934 im Berliner Tageblatt erschien, erlaubt einen Eindruck der hier erzeugten Stimmung. In ihrer Beschreibung wird Venedig zum lebendigen Schauplatz des dramatischen Geschehens, auf dessen Vorgaben im Wortsinn aufgebaut werden konnte: „Mit sicherer Hand und mit der erforderlichen Achtung vor der Vergangenheit des Campo [di San Trovaso, DV] baute und ergänzte Dullio Torres die für die Aufführung fehlenden Teile des Platzes. Mit dichterischer Vollkommenheit erweiterte er organisch aus der gebo258

tenen Möglichkeit heraus die Architektur.“

Cerutti feiert in ihrer Kritik die Theatralität der Stadt, die sie als eigentlichen Star betrachtet und so personalisiert auch mit eigener Spiel-Qualität beschrieb:

252 Fleck 2009, 36. 253 Vgl. Fleck 2009, 39. 254 Vgl. http://www.labiennale.org/en/Home.html. [Letzter Zugriff: 15.01.2015] 255 Di Martino 2005, 177. 256 Vgl. Fischer-Lichte 1999, 96. 257 Cerruti 1934. 258 Cerruti 1934.

230 | S CHAUS PIEL PLATZ V ENEDIG „Und zum Schluss – Gottvater – hilf deinem armen Diener Worte finden, um sein von Andacht erfülltes Herz darzubieten und mit gebeugten Knien der größten Darstellerin dieses Abends zu huldigen: Dir – Venezia! Du bist die Ursache all des Schönen, Grossen und Edlen, das die heutige Pracht in der Seele erweckte – und triumphierend strahlst Du über dem Ganzen – wie auf den Bildern Paolo Veroneses. Dein blondgekröntes Haupt leuchtet, von Himmelsbläue umgeben und zwischen deinen zarten rosa Fingern glitzert der Ring, mit dem du dich der Adria vermählst. Das Heer deiner Anbeter aber strömt dir auch heute von allen Teilen der Welt entgegen, ihre Herzen zu deinen Füssen legend.“

259

Cerutti beschreibt Venedig hier im Verweis auf Legenden und bildhafte Darstellungen als alles dominierenden Bezugspunkt der Inszenierung, als wichtigste Darstellerin des Shakespeare-Dramas. Marvin Carlson sieht diese Inszenierung in einer Reihe anderer ReinhardtUnternehmungen, die den Ort besonders hervorheben, wie Reinhardts Jedermann-Inszenierung von 1920 in Salzburg und seinen Sommernachtstraum von 1933 in den Boboli-Gärten von Florenz. Im Sinne Victor Hugos sieht er die Spezifizität der Orte und ihrer Geschichte zentral für das Geschehen,260 so schreibt Hugo: „On commence à comprendre de nos jours que la localité exacte est un des premiers éléments de la réalité. Les personnages parlants ou agissants ne sont pas les seuls qui gravent dans l’esprit du spectateur la fidèle empreinte des faits. Le lieu où telle catastrophe s’est passée en devient un témoin terrible et inséparable; et l’absence de cette sorte de personnage muet décompléterait dans le drame les plus grandes scènes de l’histoire.“

261

Für Reinhardts Kaufmann wertet der Spiel-Platz die Dramenhandlung nicht einfach auf, er fungiert als Beleg des Wirklichkeitsbezugs des Sichtbaren, worauf die Wahl des bespielten Hauses verweist, „a picturesque house which, according to Reinhardt’s research, had actually been the dwelling of a Jewish merchant in

259 Cerruti 1934. 260 Vgl. Carlson 1989, 27-28. 261 Hugo 1925, 27. Carlson übersetzt dies wie folgt: „Exact locality is one of the first elements of reality. The speaking or acting character do not alone engrave the faithful impression of facts on the soul of the spectator. The place where such a catastrophe occurred becomes a terrible and inseparable witness of it, and the absence of this sort of silent character make the greatest scenes of history in the drama incomplete.“ Carlson 1989, 27-28

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the sixteenth century.“262 Hier verschwimmen Fiktion und Realität und werden die Grenzen zwischen Spiel und Leben aufgeweicht.263 Der Einbezug der Umgebung und ihres Spielcharakters ist zentral für Projekte aus dem Bereich des „environmental theatres“264 und auch „site specific performances“265 arbeiten gezielt mit dem Verweis auf die Authentizität des Ortes und seiner Geschichte. In der Performance wird die Kopräsenz des Zuschauers hier ergänzt durch eine Kopräsenz von sichtbarer Geschichte wie auch sichtbarer Gegenwart, denn auch das Alltagsleben kann vom Zuschauer im Rahmen einer im Stadtraum verorteten Aufführung mitrezipiert werden.266 „Through performance it [a performance space, DV] will inevitably take on certain of the semiotic expectations of the theatre itself, but, at least equally important, it will bring to the theatrical experience its own spatial and cultural connotations, which the sensitive producer will seek to draw on to maximum effect in the work presented to a public.“

267

Der Raum als Spiel-Platz ist nicht nur theatraler Rahmen, sondern immer auch bedingt durch eine städtische Eigenlogik, die dem Spiel eine eigene Qualität zuweist. Bei Reinhardt wurde im Sinne einer umfassenden Einbindung und Verzauberung der Zuschauer die Lagunenstadt zu einem sinnlichen Kunstwerk, nicht allein Kulisse mit Schauwert, sondern handlungstragender Teil der Magie des Theaterabends. Die Grenze zwischen Zuschauern und Spielenden, zwischen Wohn-

262 Carlson 1989, 27-28. 263 So beschreibt Fischer-Lichte am Beispiel der Ankunft des Kronprinzen, wie hier jeder vollzogene Akt zu einem theatralen wurde: „Der Beginn der Premierenaufführung musste hinausgeschoben werden, weil der italienische Kronprinz sich verspätete. Er legte mit seinem motoscafo am Ufer des Rio degli Ognisanti an, der ein Teil des Environments bildete, und zwar fast genau an derselben Stelle, an der später der Prinz von Aragon seine Barke landen lassen würde. Der Kornprinz ging von Bord und stieg unter dem Applaus des Publikums die Stufen zum Zentrum des Aufführungsortes hinauf, ehe er sich auf seinen Sitz begab. […] Hier wurde Theater in der Tat zum festlichen Spiel, das die Gemeinschaft, die an ihm teilnahm, mit einem Selbstbild konfrontierte, das sie als Inbegriff und Verkörperung eines festlichen und theatralen Geistes erscheinen ließ.“ Fischer-Lichte 1999, 98 264 Vgl. Carlson1989, 29-30, vgl. auch Allain und Harvie 2006, 148-150. 265 Vgl. Allain und Harvie 2006, 148-150. 266 Carlson hier in Anlehnung an Armand Gatti, vgl. Carlson 1989, 36. 267 Carlson 1989, 37.

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haus und Theaterkulisse verschwamm. Reinhardt spielte nicht einfach mit der Stadt, er bespielte auch nicht nur „die Brücke, den Platz vor dem Haus, das Innere des Hauses, die Fensteröffnung, den Balkon.“268 Er schuf eine Atmosphäre, durch die der Zuschauer eine sinnliche Ansprache erfuhr. Selbst inmitten und Teil dieses Spiels konnten „Spieler und Mit-Spieler (Zuschauer) in dieselbe Atmosphäre eintauchen“269; es kann also in diesem Sinne nicht nur von einem ‚environmental‘, sondern von einem ‚immersive theatre‘ gesprochen werden. Ebenso wie Spieler und Zuschauer zu einer aktiven ästhetischen und performativen Gemeinschaft wurden, wurde auch die Stadt nicht passiv bespielt, sondern in einer aktiven Rolle Teil der Inszenierung: „Venedig in Szene zu setzen, bedeutete hier, die Stadt selbst zur Mitspielerin zu machen, ihr Gelegenheit zu geben, sich selbst in Szene zu setzen.“270 Venedig war zugleich Darstellerin der Aufführung und Darstellerin der eigenen Geschichte, somit zugleich historischer wie theatraler und überaus gegenwärtiger Spielplatz.271

4.4 R E -M APPING THE P LAYGROUND Venedig im 21. Jahrhundert ist und bleibt ein beliebtes Reiseziel und Spielpatz der Touristen. Regelmäßig nimmt die Lagunenstadt eine zentrale Stellung in den Nachrichten ein – wiederkehrend sind Ereignisse wie der venezianische Karneval, die Biennalen und andere Festivitäten. Sie füllen dann die Schlagzeilen, ebenso wie das jährliche Hochwasser, das den Markusplatz überflutet und das touristische Stadterleben beeinflusst und das zudem an die Gefährdung und Vergänglichkeit Venedigs erinnert, wenngleich es auch selbst wiederum zu einer Attraktion geworden ist. Einen anderen Ansatz der Stadtbetrachtung – und damit eine Arbeit als Gegen-Imagination zu dominanten, kollektiven Vorstellungen – wählt Wolfgang Scheppe mit seinem Projekt „Migropolis“:272 Neben einer Ausstellung wurden die Ergebnisse der hier erfolgten Auseinandersetzung mit Venedig auch in einem zweibändigen Werk veröffentlicht, in welchem versucht wird, Venedig visuell ungewohnt zu bespielen, indem es neu verortet und zur Kulisse

268 Fischer-Lichte 1999, 97. 269 Fischer-Lichte 1999, 97. 270 Fischer-Lichte 1999, 98. 271 Vgl. hierzu Fischer-Lichte 2006, 216. Fischer-Lichtes Beispiel für eine die Herstellung eines performativen Raumes beziehungsweise für die performative Herstellung von Raum ist Rudi von Klaus Michael Grüber von 1979. 272 Scheppe 2009.

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ungewohnter Diskurse wird. Durch unerwartete Ansichten der Stadt, durch Karten, die eine andere Form der Orientierung bieten, die sich nicht an der Stadtarchitektur, sondern an den Bewegungen von Menschen und Waren durch die Stadt orientieren, wird Venedig hier zur Spielfläche modernen Lebens in globalen Kontexten. So wird das dominante Stadtimage kommentiert, indem gegen die Übermacht des touristischen Venedigbildes eine Vielzahl andersartiger Visualisierungen des Lebens in der und um die Stadt gestellt werden. Die Lagunenstadt wird zum Nukleus globaler Entwicklungen, zur Stadt sozialer und wirtschaftlicher Migrationsströme, an der sich Ursachen, Erscheinungsformen und Konsequenzen dieser Bewegungen beobachten lassen. Migration ist für Scheppe in Venedig in dreifacher Hinsicht präsent: als humane Mobilitätsbewegung, die sowohl Tourismus wie auch (illegale) Einwanderung umfasst, als Migration der Gewohnheiten und Güter, beispielhaft am Souvenir aufgezeigt, das in Venedig gekauft, aber in China produziert wird, und als Migration der Bilder. So ist in einer Rezension zu lesen: „Baudrillard’s hyperbole of the loss of the original through its copies is demonstrated in the city’s productivity to renew itself in multiple replications, ultimately appearing itself as a mere emergence of the latter.“273 Venedig ist hier nicht Spielball der Bilder, die sich die Welt von der Stadt macht; auch die Frage nach einem Original, auf das verwiesen wird und das eine Referenz für zahlreiche Kopien ist, steht nicht im Zentrum. Vielmehr ist die Vervielfältigung und die Nachahmung eine Charakteristik Venedigs, die die Stadt zum singulären und zugleich paradigmatischen Beispiel modernen Lebens werden lässt, die spielerische Nachahmung zentraler Moment der Vielseitigkeit und Nutzbarkeit der Stadt für globale Diskurse, eine invented und imagined city des 21. Jahrhunderts. 4.4.1 Das Venedig-Prinzip als Spiel-Prinzip Das Venedig-Prinzip hat Andreas Pichler seinen 2012 erschienenen Dokumentarfilm über die Lagunenstadt und ihre Entwicklungen im Kontext des Massentourismus genannt.274 Der Dokumentarfilm versucht, die ‚back region‘ Venedigs zu filmen. Dafür folgt der Film mehreren venezianischen Protagonisten: einer Schriftstellerin, die noch aus dem alten Stadt-Adel stammt und sich gegen die Missstände aufzulehnen versucht, einem Umzugsunternehmer, der schließlich

273 https://arkinetblog.wordpress.com/2009/10/05/migropolis- venice- atlas- of- a- globalsituation/. [dpr-barcelona (2009): Migropolis. Venice. Atlas of a global Situation. Letzter Zugriff: 05.12.2014] 274 Pichler 2012.

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sein eigenes Hab und Gut selbst auf ein Schiff verladen muss und auf dem Festland eine bezahlbare Wohnung bezieht, ein alter Gondoliere, der von den ‚goldenen Zeiten‘ erzählt, als Hollywood in Venedig Filme drehte, ein Immobilienmakler, der mit schlechtem Gewissen die stümperhaft renovierten Häuser an reiche Ausländer verkauft. Die Einzelschicksale stehen den Bedürfnissen der Venedig-Touristen entgegen, die Venedig mehr als das Aqua Alta, das jährlich wiederkehrende Hochwasser, zu überschwemmen drohen. Eine Touristenführerin beschreibt ihre Arbeit in Venedig als Kampf gegen die Erwartungen der Touristen. Einerseits wolle sie seriöse Informationen über die Lagunenstadt vermitteln, andererseits kämen die Touristen aber mit einer Idee von Venedig an, die sie nicht zerstört haben wollen. Erwartung und Realität könne sich nicht decken, so ihr Fazit.275 Für den Zuschauer versucht der Film eine Gradwanderung zwischen den bekannten Bildern und einer wie auch immer gearteten dahinter liegenden Wahrheit: „Pichler setzt sich und den Zuschauer dem aus, was wohl jeder als Stereotypen von Venedig im Kopf hat: singenden Gondolieri, dem Karneval, dem Markusplatz, Cafés, dem Inneren der Palazzi. Und jedes Mal schafft er es, diese Klischees kritisch zu spiegeln – in Bildern ebenso wie in den Zitaten seiner Protagonisten. Denn keiner von ihnen erscheint vollends glücklich mit dem Wandel der vergangenen Jahrzehnte. Und doch ergeben sie sich eher in Resignation als in den Kampf gegen Venedigs Status als Disneyland.“

276

Der Untergang der Stadt wird hier gezeichnet als das Ende des privaten Lebens in der Stadt zugunsten des Tourismus und des Konsums. So behauptet der Film, dass die Lagunenstadt bis 2030 keine Bewohner mehr haben und zu einem reinen Touristenort, einem Disneyland werden könne. „Ohne Infrastruktur, ohne Geschäfte, ohne Banken: Welches Leben ist möglich in einem Venedig, das in Pichlers Film wie eine Kulisse wirkt?“277 Eine der Protagonistinnen, die Autorin Tudy Sammartini, scheint sich gegen diesen Ausverkauf zu wehren – und potenziert doch in gewissem Sinne die Idee venezianischer Selbstkonservierung. Denn die im Film stolz von ihr präsentierte ‚Denkkammer‘, ihr privater Rückzugsort, gleicht einem Museum: Sie beherbergt eine ganze Bibliothek zu Venedig, zudem Bilder ihres verstorbenen Mannes und

275 Pichler 2012, 35:49-37:16. 276 Runge 2012, online unter: http://www.zeit.de/kultur/film/2012-12/film-das-venedigprinzip. [Letzter Zugriff: 15.03.2013]. 277 Runge 2012.

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alte Fotografien.278 Die Autorin stilisiert sich zur Hüterin eines städtischen Archivs. Da sie zudem darauf verzichtet, im Telefonbuch zu stehen, ihren Namen an der Tür auszuweisen oder auch nur eine Hausnummer zu haben, kann ihre Wohnung als geheimes Museum betrachtet werden, das nur den Wissenden offen steht, ein Archiv im Assmann’schen Sinne, das keinen Wert darauf legt, zum Kanon zu werden.279 Andere Protagonisten haben ihr Leben an den Bedürfnissen der Touristen ausgerichtet und sind teilweise wichtiger Bestandteil der Inszenierung des touristischen Erlebens. Die Gondolieri haben sich arrangiert – und berichten von der Einschränkung der Ausführung ihrer Rolle, davon, dass sie sich wie eine JukeBox fühlen, denn oft wünschen sich die Reisegruppen bereits ein neues Lied, während sie noch singen.280 Diese „Take-Away-Touristen“ würden alles nur durch die Kameralinse betrachten281, sie degradieren die Gondolieri zu Statisten ihrer Venedig-Erfahrung, die für eine spezifische Aus- und Aufführung eingekauft werden, welche sich dann nach der Regie der Reisenden entwickeln soll. Den Soundtrack ihrer Reise bestimmen diese Touristen selbst.

Abb. 8: Ball des Dogen

278 Pichler 2012, 05:53-06:24. 279 Vgl. Assmann 2008. 280 Pichler 2012, 33:47-34:23. 281 Pichler 2012, 35:18-35:48.

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In ähnlicher Richtung kommentiert ein weiterer Venezianer das Verhalten seiner touristischen Gäste und bemüht dafür einen filmischen Vergleich: Er wisse nicht, warum seine Gäste hier seien, vielleicht fühlen sie sich wie Statisten in einem Film. Und zu einem Filmset wird die Stadt immer mehr: Eine kurze Episode des Films zeigt den sogenannte Ball des Dogen, einen prunkvollen Maskenball. Dieser wird angekündigt als Erfüllung eines (touristischen) Traumes, hier stehe die Zeit still, so der Kommentar der Beteiligten. Doch die Bilder sprechen eine andere Sprache: Sie zeigen Menschen in historisch inspirierten Kostümen über einen Steg zum Ort des Geschehens stolpern, dort begrüßt von zum Teil futuristisch angezogenen Fantasiewesen, leichtbekleideten Damen in silbernen Bodys. Unterhalten werden die Gäste mit einer Bühnenshow, die zwar durch klassische Musik gerahmt wird, sonst aber dem eher nüchternen Ambiente einer Diskothek entspricht. Hier treffen die tiefen Dekolletés der Damen und kunstvollen Hochsteckfrisuren auf begehrliche Blicke der Männer, 282 doch endet die Zeitreise bei einer rein oberflächlichen Maskierung der Besucher. 283 Das karnevaleske Spiel des Verkleidens fördert hier keine Verkehrung der Ordnung, sondern eine Anpassung an Erwartungen, die Idee der Kulisse oder des Filmsets Venedig, das für den Besucher zum Laufsteg wird. Mehrmals rückt in der Dokumentation ein Venezianer ins Bild, der mit einem Pappschild in der Stadt steht. Hierauf ist zu lesen, dass er zwar Venezianer sei, aber weder Souvenirshop noch Gondel besitze und man ihm doch für ein Foto einen Euro geben möge.284 Die Normalität seines Daseins wird als Besonderheit markiert, die ihn wiederum zu einer Sehenswürdigkeit werden lässt; seine Selbstinszenierung spielt mit den Erwartungen der Besucher und gliedert sich zugleich in eine touristische Logik der Suche nach dem Authentischen und Besondere ein, in der er sich und sein Bild vermarkten kann. Nach einer Abblende am vermeintlichen Ende des Films folgt ein kleiner Film im Film: Eine Frau steht an eine Glasscheibe gelehnt und studiert eine Karte von Venedig. Der Venezianer mit dem Pappschild fragt, ob er ihr helfen könne und was sie denn suche. „Das Paradies“ antwortet die Fremde. Bereits John Ruskin hatte Venedig als „paradise of cities“285 bezeichnet – die Reisende hat ihr Ziel gefunden, doch das versprochene Paradies zeigt sich scheinbar nicht. Der

282 Die Verbindung von Venedig und Sexualität ist ein die Stadtrezeption prägender Mythos, vgl. Burke 2011, 84. 283 Pichler 2012, 37:20-41:03. 284 Pichler 2012, 32:41-32:55. 285 Ruskin schrieb dies in seinem Tagebuch am 6. Mai 1841, hier zitiert nach Norwich 2003, 89.

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Mann nimmt sie an der Hand und führt sie durch Venedig – nun eben nicht zum Markusdom und zur Rialto-Brücke, sondern zuerst vor eine Baracke, vor der ein Boot auf dem Trockenen liegt. Er bittet sie, Platz zu nehmen und ‚rudert‘ mit ihr, pantomimisch angedeutet, durch die Kanäle, führt sie dann weiter in ruhige Hinterhöfe, um schließlich mit ihr auf einem unspektakulären, grünen Flecken zu stehen und auf das Wasser zu blicken.286 Das Paradies, so hier die visualisierte Behauptung, ist das andere, das vorgestellte Venedig, das im Spiel und in der Imagination entsteht und keine visuellen Anhaltspunkte mehr benötigt. 4.4.2 Venedig reenacted Angekommen im 21. Jahrhundert wird Venedig auch zur Spielfläche der neuen Medien, nicht nur gemalt, abfotografiert und gefilmt, sondern auch virtuell rekonstruiert. Ein Beispiel der Wechselwirkung aus körperlichem und virtuellem Stadterleben liefert Charlie MacDonnell auf seinem Youtube-Kanal Charlieissocoollike. Der Anfang 20-jährige Engländer beschreibt sich selbst als „professional internet human“287 und ist bereits seit 2007 als Videoblogger aktiv. Mit seinen kleinen, selbstgedrehten Filmen erfreut er regelmäßig seine zahlreichen Fans; mittlerweile kommt er auf die beeindruckende Zahl von über zwei Millionen Abonnenten, einzelne Videos wurden bis zu neun Millionen Mal angeklickt. Am 31. Januar 2013 veröffentlichte McDonnell einen Clip mit dem Titel A European Road Trip, mit dem er seinen, von einem Unternehmen für Jugendreisen organisierten Kurztrip durch Europa zusammenfasst. Auf der Route der Rundreise liegt selbstverständlich Italien, wo neben Verona auch Venedig besucht wird. Charlie widmet sich knapp 20 Sekunden der Stadt, die ihm unangenehm ruhig erscheint, „a weird place to visit“288. Während der Videoblogger aus dem Off Venedig als sinkende Stadt ohne Leben und Einwohner beschreibt, sieht der Zuschauer ihn in einer Gondel sitzen, wenige Sätze und Bilder genügen für die Reproduktion gängiger Klischees – aber auch für einen Blick auf die Modulation kultureller Praktiken unter anderen medialen Vorzeichen: Denn auch wenn für Charlie dieser Besuch der erste Kontakt mit Venedig darstellt, kommt ihm die Stadt bekannt vor: „I had that really strong sense of déjà-vu walking around the square“289. Der Grund hierfür findet sich aber nicht mehr in gemalten, literari-

286 Pichler 2012, 01:17:05-01:17:55. 287 http://www.youtube.com/user/charlieissocoollike. [Letzter Zugriff: 01.09.2014]. 288 https://www.youtube.com/watch?v=iozEug7ZnbE, alle folgenden Verweise aus dem Video beziehen sich auf die Minuten 02:48 bis 03:11. [Letzter Zugriff: 01.09.2014]. 289 https://www.youtube.com/watch?v=iozEug7ZnbE .

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schen, theatralen oder filmischen Vorprägungen – die Begründung für die Vertrautheit mit der fremden Umgebung liegt in einer der bevorzugten Freizeitbeschäftigungen des Bloggers, denn, wie er feststellt, spielen Teile des Videogames Assassin’s Creed II290 im historischen Setting der Lagunenstadt. Hier hat ein Medienwechsel stattgefunden, der zugleich eine Fortschreibung des kulturellen Imaginären erlaubt. Für Charlie ist der Aufenthalt in Venedig mehr als ein bloßes „déjà-vu“. Es ist die Erinnerung an eine geradezu körperliche Form der Stadtaneignung, die er nun in gewissem Sinne wiederholt, so dass er erstaunt feststellt: „I’ve climbed to the top of that tower and I think, I’ve killed a man in that museum.“291 Seine unpräzisen Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten – mit dem Turm meint er den im Bild zu sehenden Campanile, für das ‚Museum‘ richtet sich seine Kamera auf den Markusdom – folgen einem touristischen Stadterleben, das sich weniger den Sehenswürdigkeiten selbst widmet denn dem Erkennen der Sehenswürdigkeiten als solche. Venedig wird für Charlie spannend in dem Moment, in dem es sich mit der Erinnerung an eine bereits vollzogene Raumerfahrung verbindet, wenn er seine virtuelle und spielerische Raumaneignung mit dem Sichtbaren verknüpft. In den Kommentaren zum Video freut sich eine Userin namens LadyLiveLol, dass auch andere dieselbe Erfahrung einer Vertrautheit mit eigentlich fremden und unbekannten Orten teilen; sie spricht von einem „Assassin [sic!] Syndrome“292. Das Spiel, das seine Protagonisten durch unterschiedliche Städte jagen lässt, scheint damit Ursprung einer spielerischen Raumerfahrung und einer spezifischen Wahrnehmung der Welt zu sein und zugleich eine Gemeinschaftserfahrung darzustellen. Diese kollektive Vorprägung findet nicht nur auf einer visuellen Ebene statt, sondern auch durch eine in der virtuellen Realität vollzogene Handlung, die als geradezu leibliche Erfahrung personalisiert und verinnerlicht wird. Zwischen der Steuerung des Avatars im virtuellen Venedig und der eigenen, konkreten Bewegung vor Ort wird eine enge Verbindung gezogen, die den Raum herstellt, mit Bedeutung belegt und aufwertet. Im Sinne Jean Baudrillards kann hier von einem Simulakrum gesprochen werden.293 Nach Baudrillard de-

290 Im Video spricht er vom ersten Teil, während eine Einblendung ergänzt, dass es sich um Teil II handelt, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=iozEug7ZnbE . 291 https://www.youtube.com/watch?v=iozEug7ZnbE, 03:09. 292 Siehe hierzu den Kommentar zum Video von LadyLiveLol vom Januar 2014, https://www.youtube.com/watch?v=iozEug7ZnbE . 293 Mit Bezug auf Venedig findet sich vor allem am Beispiel des Hotelkomplexes The Venetian in Las Vegas in der Literatur immer wieder der Bezug zu Baudrillards Idee des Simulakrum. Dabei betonen Autoren wie Burke, dass es sich hierbei nicht um

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cken sich Bild und Vorbild, bei ihm Karte und Territorium, in der Postmoderne nicht mehr, so dass „die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte [funktioniert]“294. Stattdessen habe sich die Abfolge verkehrt, generiert sich das Reale aus der Simulation: „Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor.“295 Während Baudrillard das Simulakrum in der Postmoderne verortet und in letzter Konsequenz unabhängig von seinem Original denkt,296 zeigt das hier angeführte Beispiel das Wechselspiel der Vorprägungen, denn die Spielentwickler haben zur Vorbereitung der Rekonstruktion Venedigs im 15. Jahrhundert nicht nur den Rat bei Historikern gesucht, sondern auch selbst die Lagunenstadt bereist. Sebastien Puel, der Producer des Spiels, beschreibt das Vorgehen wie folgt: „Also, when we create a city in 3D like Venice in the 15th century, we want it to be as accurate as possible. Many of the team’s lead members went directly to Italy and visited each city assisted by a guide who explained them the story behind each building and their respective construction date. We also took a lot of picture as references. So early 2008, right after setting a proper path and our visit to Italy, we started to build our first sections of Venice during pre-production. Our art team is doing an amazing job of creating Italy.“

297

Die Kunst, die hier entsteht, die virtuelle Rekonstruktion der Lagunenstadt, sichert sich durch die Realität ab und geht dann in der Rekonstruktion des historischen Antlitzes über das noch Sichtbare hinaus. Wird dabei der Zugang als einer markiert, der sich nah an den historischen Gegebenheiten orientiert, so bleibt es dennoch sichtbar ein kreativer Zugriff, dessen Ziel die Bespielbarkeit der Stadt im Sinne ihrer Nutzbarkeit durch den User und seine Spielfigur ist. So wird das Problem labyrinthischer Straßen gelöst, indem Hausfassaden keine Hindernisse darstellen, sondern dem Avatar als überdimensionales Klettergerüst dienen; eine

ein Phänomen der Postmoderne handelt. Gerade mit Blick auf die auch in der vorliegenden Arbeit im Kapitel „Consuming Venice“ eingeführten Nachbauten Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich eine wesentlich weiterreichendere Genealogie solcher Abbilder schreiben. „Both simulacra and what is sometimes described as ‚disneyfication‘ are older than we might think.“ Burke 2011, 90 294 Baudrillard 1978, 7. 295 Baudrillard 1978, 8. 296 Vgl. Baudrillard 1978, 14. 297 http://www.pcgames.de/Assassins-Creed-2-PC-218595/Specials/Assassins-Creed-2Interview-mit-Sebastien-Puel-684781/2/. [Letzter Zugriff: 01.09.2014].

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Flugmaschine von Leonardo da Vinci ermöglicht den obligatorischen Überblick über die Stadt. Hier steht die kreative Nutzung des Vorhandenen im Vordergrund, Venedig wird spannend in der Vielfalt der Nutzung als Spielwiese. Der Lead Designer des Spiels betont in einem Interview folglich die Möglichkeiten in Venedig zu schwimmen, Gondel zu fahren und auf hohe Türme klettern zu können298 – was für ihn vor allem die Möglichkeit eröffnet, neue Fähigkeiten der Spielfigur zu programmieren. Aus dem ziellosen Flanieren wird im Spiel eine zielgerichtete Jagd. Dass das Spiel dabei aber dennoch eine Erlebnisdimension umfasst, die nicht nur den Touristen, wie es Charlie ist, im späteren Erleben der Stadt beeinflusst, sondern auch das Nacherleben einer vollzogenen Erfahrung erlaubt, das lässt sich mit Blick auf den Kommentar von DanMun auf dem Onlineforum reddit vermuten. Dieser schreibt: „My grandparents love Venice so I let them play assassins creed 2. They took it in turns to just row a gondola around for over an hour.“299 Für diese virtuellen Besucher ist Venedig nicht mehr handlungstreibender Hintergrund300 oder Kulisse des Spiels – im virtuellen Nachvollzug verschwimmen die Grenzen zwischen realem und fiktivem touristischen Stadterleben. Die Gondelfahrt durch die Welt des Computerspiels zeigt eine spielerische Aneignung des Sichtbaren, ein Nebenprodukt der Spielentwicklung, das hier zum zentralen Moment und Ausgangspunkt einer virtuellen Reise wird. Während Charlie in Venedig seine Spielerfahrung rekonstruiert, also das Reenactment seiner Spielerfahrung erlebt, wird hier die Reise im Spiel nacherlebt.

298 Vgl. http://www.gameone.de/playtube/e3-09-venice-interview-hd-assassin-s-creedii/7. [Letzter Zugriff: 01.09.2014]. 299 http://www.reddit.com/r/gaming/comments/1h2iud/my_grandparents_love_venice_ so_i_let_them_play/. [Letzter Zugriff: 02.10.2014]. Die Online-Plattform reddit ermöglicht ihren registrierten Mitgliedern den Austausch über und die Bewertung von vorhandenen Posts. 300 Für Assassin’s Creed II wird nicht nur die Lagunenstadt, sondern auch ihre Geschichte als Hintergrund verwoben. Das Spiel zeigt Venedig im 15. Jahrhundert. Für die Handlung, in deren Verlauf mörderische Aufträge erfüllt werden müssen, bietet sie sich somit auch thematisch als Stadt der Spione, der Täuschungen an, spielerisch umgesetzt im Karneval.

5. Epilog: Re-Staging Venice

Die vorliegende Arbeit begann mit einem Verweis auf Italo Calvinos Novelle Die unsichtbaren Städte1. Für Calvinos Protagonisten Marco Polo ist Venedig die Urerfahrung einer Stadt. Sie wird in der Novelle nicht wie die anderen Städte des Reiches ausführlich beschrieben, sie wird nicht mit einer eigenen Geschichte bedacht – und steht dennoch im Zentrum, sie umfasst alle anderen Erzählungen: Venedig ist die Immer-Mit-Gemeinte und Immer-Mit-Gedachte, sie ist der Allgemeinplatz, der alles und alle zu versammeln scheint.2 Venedig ist überall. Googelt man Venedig, erhält man eine beeindruckende Zahl an Treffern: Über 17 Millionen Links führt die Suchmaschine in einer halben Sekunde auf, aber nicht alle führen nach Italien. Fährt man nach Neu-Venedig, findet man sich im Berliner Ortsteil Rahnsdorf wieder, Little Venice liegt in London und Petite Venise in Colmar, will man das Venedig des Nordens sehen, so kann damit Amsterdam, Brügge, Stockholm oder Sankt Petersburg gemeint sein, wobei die russische Metropole auch unter Venedig des Ostens firmiert, ebenso wie Dresden, Bangkok oder Udaipur; die Auflistung lässt sich mühelos fortführen.3 Neben Städten oder Stadtteilen, die durch ihre Lage an Kanälen und Flüssen an die Lagunenstadt erinnern, finden sich auch gezielte Venedig-Rekonstruktionen. Die Huffington Post listet solche Nachbauten in den USA, China und Südkorea auf und versieht sie ironisch mit einem „Fake Venice Authenticity

1

Calvino 2013.

2

Vgl. Calvino 2013, 94.

3

So beispielsweise auf der folgenden Homepage, die 14 verschiedene Orte versammelt, die aufgrund ihrer Wasserlage als Venedig ihres Landes oder ihrer Region gelten, vgl. Wade 2009, http://www.bootsnall.com/articles/09-05/fake-venices-around-world.ht ml. [Letzter Zugriff: 30.12.2014].

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Index“4 – auch hier lässt sich die Reihe weiter ergänzen, vor allem, wenn man auch Orte inkludiert, die sich auf einzelne Elemente der touristischen VenedigErfahrung beschränken. So führt die Flugzeugzeitschrift enroute Ausflugsziele in San Diego, Macau, Boston und Irving (Texas) an, für deren ‚Venezianisierung‘ die Möglichkeit einer Bootsfahrt in der unverzichtbaren Gondel zu genügen scheint: „Different strokes for different folks: Sightseeing gets a Venetian twist“5, heißt es dort. Während auf den Reisenden in San Diego eine Gondel für „wellness cruises“6 wartet – „[e]ach hour-long ride comes complete with a gondolier and two massage therapists for a 40-minute couples massage, followed by champagne and strawberries […]“7 –, wirbt man für Macau mit Opern singenden Gondolieri und einer „indoor interpretation of three of Venice’s famed canals“8. In Boston soll man der Aufforderung folgen: „Channel your inner Italian“9, während die angebotene Gondelfahrt musikalisch untermalt wird, hier allerdings durch ein „discreet onboard sound system“10. Irving schließlich bietet den Touristen ein Drei-Gänge-Menü zur Gondelei an.11 Venedig erscheint reduziert auf einzelne Besonderheiten, die in der Kopie und Vervielfältigung in ihrem Status als venezianische Singularitäten konterkariert und ortlos werden, aber ohne den Verweis auf Venedig nicht funktionieren. Zugleich werden Aktivitäten wie das Gondelfahren in Venedig selbst Teil einer kommodifizierten Stadterfahrung für den Reisenden. Erika Fischer-Lichte hat die Lagunenstadt, wie an anderer Stelle bereits zitiert, als Ort des Dazwischens, „als ein Übergang, eine Passage, ein Ort der Verwandlungen“12 beschrieben. Ihre Begrifflichkeiten lassen sich auf den hier gewählten Ansatz mit Blick auf die Prozesse der Aushandlung und Hervorbringung des Stadtraumes übertragen. Die „Passage“13 steht in ihrer Mehrdeutigkeit nicht nur für einen Durchgang, sondern ist auch Heimstätte des Flaneurs. Sie ist zugleich Innen- wie Außenbe-

4

http://www.huffingtonpost.com/2013/11/28/fake-venice_n_4181552.html. [Letzter Zugriff: 30.12.2014], Strutner 2013.

5

EnRoute 2010, 27.

6

EnRoute 2010, 27.

7

EnRoute 2010, 27.

8

EnRoute 2010, 28.

9

EnRoute 2010, 28.

10 EnRoute 2010, 28. 11 Vgl. EnRoute 2010, 28. 12 Fischer-Lichte 1999, 95. 13 Fischer-Lichte 1999, 95.

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reich14 – und ermöglicht die Ein- wie auch Ausübung des imaginären Konsumierens. Durch die Schaufenster erfahren die Waren eine erhöhte Sichtbarkeit und nicht nur wer hier kaufen konnte, sondern auch wer lediglich betrachtete, konnte sich mit den ausgestellten Produkten und inszenierten Arrangements in andere Zeiten und Welten träumen.

Abb. 9: Venice in Venice – Venedig gibt es überall, auch mehrere Städte in den USA tragen den Namen der Lagunenstadt, womit für dieses Ausstellungsplakat gespielt wird Die Passage kann aber auch eine Reisebewegung bezeichnen, so wie auch der Begriff des „Übergang[s]“15, der den Fokus auf die Bewegung des Reisenden richtet und gleichsam auf die rituellen Züge des Reisens verweist, denn mit der Abfahrt wird eine Loslösung vom Gewohnten vollzogen. War es lange der Gedanke eines Statuswechsels im Sinne einer Aus- und Weiterbildung, der dem

14 Vgl. Benjamin 1969, 37. 15 Fischer-Lichte 1999, 95.

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Reisen innewohnte, so wurde das touristische Reisen zu einer bürgerlichen Kulturpraktik, durch die der eigene gesellschaftliche Status bestätigt werden konnte. Mit Fischer-Lichtes Formulierung „Ort der Verwandlungen“16 wird die Venedig inhärente Theatralität beschrieben und ein Nachdenken über die Stadt als Schau- und Spielplatz, nicht nur als Kulisse, sondern als (Theater-)Bühne angestoßen. Dabei, so die These, umgibt Venedig den Zuschauer und taucht dieser als Mit-Akteur in das Spiel ein, durch das Venedig als Raum kultureller Aushandlungen entsteht. Dieser Lesart folgend ist Venedig Verhaltensplattform und Möglichkeitsraum, der das Potenzial der Veränderung birgt oder der bereits für eine Veränderung steht, wie es in Anlehnung an Wibke Amthor für Venedig als Gesamt-Heterotopie gedacht werden kann.17 Im Verweis auf Michel Foucault stellt sie die These auf, dass Venedig einen Gegenraum zur westlichen Kultur darstelle.18 In diesem Sinne ist die Lagunenstadt ein relationaler Raum, der, so die Annahme, erst durch den Blick des Außenstehenden entsteht;19 der Präsenz des Fremden in der Stadt stellt sich keine in vergleichbarem Maße sichtbare Gegenwart der Bewohner entgegen, stattdessen wird das touristische Erleben zur dominanten Stadterfahrung. Die Metropolen des ausgehenden 19. Jahrhunderts standen in enger Verbindung. Dank der Eisenbahn verkürzten sich die Reisewege, nicht nur Menschen, sondern auch Nachrichten und Ideen zirkulierten, wovon auch die urbane Unterhaltungskultur profitierte. Die neuen Freizeitangebote der Metropolen erwiesen sich als Momente kultureller Selbstverortung – und letztendlich auch als Orte der Herausbildung eines neuen kulturellen Selbstverständnisses der Metropolenbewohner. Die vorliegende Arbeit hat sich beispielhaft populären Freizeitangeboten gewidmet, die der Masse der Metropolenbewohner durch einen niederschwelligen Zugang Teilhabe ermöglichten – so konnte in den Warenhäusern ohne Kaufzwang flaniert und an Reiseabenteuern vor der eigenen Haustür oder durch Reiseberichte gar im eigenen Wohnzimmer teilgenommen werden. Die Metropolen erwiesen sich als „vortices“20 im Sinne Joseph Roachs, als verdichtete Momente öffentlicher Vor- und Aufführungen des sozialen und kulturellen Lebens. Die dabei stattfindenden Wechselwirkungen und Dynamiken

16 Fischer-Lichte 1999, 95. 17 Vgl. Amthor 2009, http://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/779/807. [Letzter Zugriff: 28.12.2014]. 18 Vgl. Amthor 2009. 19 Vgl. Corbineau-Hoffmann 1993, 6. 20 Roach 1996, 28.

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des Sehens- und Gesehen-Werdens, der Selbst- und Fremdzuschreibung wurden für die vorliegende Arbeit mit Stephen Greenblatt als Zirkulationsmomente untersucht,21 wobei sich die Analysebeispiele als Momente der Rahmung erwiesen haben, in denen „soziale Energie“22 sichtbar wurde. Mit dem Konsumieren, dem Reisen und dem Spielen standen drei kulturelle Praktiken im Zentrum der Überlegungen, die durch ihren ostentativen Charakter als performative Praktiken untersucht wurden. In diesem Sinne fand mit dieser Untersuchung von urbaner Kultur um 1900 eine Ausweitung der Idee des „Theaters als Paradigma der Moderne“23 zur Idee der ‚Theatralität als Paradigma der Moderne‘ statt, die in eben jenen performativen Praktiken eine neue Sichtbarkeit erfuhr. Im Kapitel Consuming Venice wurde Venedig als Passage wörtlich genommen und im Kontext urbaner Entwicklungen der Zurschaustellung und der Aneignung Ende des 19. Jahrhunderts verortet. Im Zentrum stand die Idee der In-Besitznahme Venedigs durch Konsum, wobei Konsumgeschichte als Kulturgeschichte gelesen wurde. Dabei wurde Konsum nicht eingeschränkt auf den konkreten Erwerb und Verbrauch definiert, sondern, im oben bereits benannten Sinne, auch als Möglichkeit einer imaginären Aneignung. Durch die neue Sichtbarkeit der Waren vergrößerte sich die Zahl der potenziellen Konsumenten und mit der Verfügbarkeit von Welt, die im Museum, der Weltausstellung und schließlich auch im Freizeitpark vorgeführt wurde, erhöhte sich die Anzahl der Güter, aus denen „Lustgewinn und Anreize für Phantasie und Traumwelt“ 24 gezogen werden konnte. Ausgestellt, zur Betrachtung inszeniert, aber auch durch die aktive Nutzung den Betrachter einbindend wurden Schauwerte geschaffen und die Schaulust befriedigt.25 Die von Tony Bennett aufgezeigte Verbindung der unterschiedlichen Schauräume des 19. Jahrhunderts als „exhibitionary complex“26 kann in diesem Sinne auch als Konsum-Komplex gelesen werden. Dabei impliziert die Mehrdeutigkeit des Begriffs nicht nur die Durchdringung der Bereiche des sozialen Lebens durch den Konsum, sondern auch die Ausstellung des Konsumenten, der in und durch Konsum zugleich die Sehnsucht nach Fernem und Fremdem, wie auch nach sozialer Teilhabe und kultureller Zugehörigkeit befriedigen konnte.

21 Vgl. Greenblatt 1993, 31. 22 Greenblatt 1993, 31. 23 Balme, Fischer-Lichte und Grätzel 2003. 24 Brewer 1997, 58. 25 Vgl. Balme 2007, 67. 26 Bennett 1995, 60.

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Die Weltausstellungen waren ein signifikantes Beispiel der Verfügbarkeit dieses Fremden, das zugleich in zeitlich wie auch in räumlicher Ferne verortet wurde. Diese „ersten Themenparks“27 erschlossen dem Besucher die präsentierte Welt durch körperliche Raumaneignung. Hatte Walter Benjamin das Warenhaus als „der letzte Strich des Flaneurs“28 bezeichnet, so boten Weltausstellungen und Vergnügungsparks dem Flaneur ebenfalls eine Zuflucht – die das Flanieren jedoch ad absurdum führte: Eingebettet in eine „economy of showing“29 wurde die scheinbar zweckfreie Beobachtung zum Teil der verkäuflichen und erwerbbaren Attraktionen. Die Freizeitparks, losgelöst von der Idee eines Wirtschaftswettbewerbs, wie ihn die Weltausstellungen als nationale Leistungsschauen noch prägten, erwiesen sich als Verdichtungsmomente urbaner Konsumpraktiken. Am Beispiel von Imre Kiralfys Venedignachbau Venice in London wurde gezeigt, wie das Ferne und Fremde verfügbar und körperlich erfahrbar wurde. Flanieren wurde hier zur Bedingung der Möglichkeit des Konsumierens. Der VenedigNachbau machte den Besucher sichtbar – die Anlage großer Flaniermeilen oder die Fahrt mit der Gondel bildeten Bühnen dieser Sichtbarkeit – und ermöglichte ihm einen spielerischen Akt der kulturellen Selbstverortung, 30 erwies sich der Freizeitpark als Gegenort zur ihn umgebenden Metropole und zugleich als deren Bestätigung. Venedig scheint eine prädestinierte Vorlage des Themenparks zu sein, verbindet sich mit der Stadt die Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden und die Möglichkeit einer Reise in die Vergangenheit und einer Reise in andere Welten. Als Stadt der Fußgänger erweist sich Venedig besonders für die gegenseitige Betrachtung geeignet, für die Beobachtung der Anderen und ihres Verhaltens wie auch der eigenen Ein- und Ausübung von Verhaltensweisen. Das Transportmittel der Gondel fügt sich in diesen Ansatz ein, erlaubt es doch dem Fahrgast einen Logenplatz der Betrachtung einzunehmen, vor dessen Blick sich die Umgebung als Panorama eröffnet. Kiralfy potenzierte diese Grundanlage in der Verbindung eines Ausstellungsarrangements und eines Spektakelstücks. Der Nachbau kommodifizierte Erfahrung und Erlebnis über die Einbettung in eine Logik der Präsentation und der Vorführung, der visuellen und sinnlichen Vereinnahmung. Venice in London kann auch über die Idee der Rekonstruktion eng an eine Konsumlogik gebunden

27 Schwarzmann 2003, 111. 28 Benjamin 1969, 57-58. 29 Kirshenblatt-Gimblett 1998, 1. 30 Vgl. zur kulturellen Teilhabe als sichtbarer Akt sozialer Zugehörigkeit Marx 2008, 273.

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werden: Als ‚Substitut‘31 ahmte der Park ein nicht verfügbares Produkt, Venedig, nach und machte es zugänglich. Das hier stattfindende Spiel mit dem „Als-ob“32 war ein mehrschichtiges, weil zwar Authentizität auch in der Künstlichkeit behauptet wurde – beispielsweise im Verweis auf ‚original‘ italienische Gondeln und Gondolieri –, doch der Reiz des Parks durch den Bezug zur direkten Umgebung erhöht wurde. Gerade aus der Tatsache des Nachbaus und der Gewissheit des Spiels wurde zusätzliche Attraktivität generiert. Der Freizeitpark ist in diesem Sinne ein Ort der Behauptung, ein Zwischenraum, der eine imaginäre Reiseerfahrung ermöglicht, die sich hier materialisiert. Der Besucher wird umfassend und sinnlich vereinnahmt und kann in eine andere Welt eintauchen. Unter dieser Prämisse kann nicht nur von einem ‚environmental theatre‘, sondern von einem ‚Theater der Immersion‘ gesprochen werden, für welches der Zuschauer als Mit-Akteur die Nachbauten selbst bespielt. Als „experiencer“33 im Sinne eines Erlebenden und Erfahrenden ist hier eine VenedigAneignung vollzogen, die den Besucher körperlich bewegt, in der sich die direkte Erfahrung mit dem Imaginären zu einem sinnlichen Erleben mischt. Der Besuch im Park ist ein mehrschichtiges Vor-Spiel, das seinen Reiz auch aus den Verbindungen zur ihn umgebenden Welt und den hieraus entstehenden Brüchen zieht. Die enge inhaltlich Verwebung der einzelnen Kapitel zeigte sich bereits in der Hinführung zum darauf folgenden Themenkomplex: Auch das touristische Reisen war Teil einer Konsumerfahrung, einer Kommodifizierung des Erlebens der Fremde, die zur geografischen wie zeitlichen Ferne wurde und damit zur Reise in unbekannte Gegenden und in die Vergangenheit. Gerade für die Auseinandersetzung mit der Entstehung des Massentourismus wurden Fragen zur Verfügbarkeit, zur Rahmung, Fragen der Authentizität und auch der Anpassung an die Bedürfnisse der Touristen zentral. Im historischen Rückblick zeigte sich ein Wandel der Reise und ihrer Motivation, die sich von der Aus- und Weiterbildung hin zum Genuss und zum Freizeitangebot derer entwickelte, die über das notwendige Zeit- und Geld-Kapital verfügten. Als Reaktion auf den in den urbanen Zentren einsetzenden Entfremdungsprozess wurden Orte des ‚Authentischen‘,34 Natur und Kultur in vorindustriellem Zustand, gesucht – dem Zivilisationsflüchtenden bot sich ein scheinbar zeitloser Ort wie Venedig damit paradigmatisch an.

31 Vgl. König 2008, 251. 32 Vgl. Steinkrüger 2013, 61. 33 Nelson 2010b, 45. 34 Vgl. Schnepel 2013, 34, vgl. auch MacCannell 1999.

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Weil sich der Anspruch des Touristen, vor Ort das ‚Authentische‘ in der Begegnung mit dem Fremden zu erleben, mit der Anpassung der Reiseziele an touristische Erwartungen und Gewohnheiten kollidierte, erwies sich die Zivilisationsflucht als Scheinflucht. Auch konnte der urbanen Masse durch das Verlassen der Großstadt Richtung Venedig nicht entkommen werden: Auf dem Markusplatz begegneten sich die Reisenden in der Fremde wieder. Zudem etablierten sich mit den Angeboten von Reiseunternehmern wie Thomas Cook und Louis Stangen Gruppenreisen, die mehr Menschen das Reisen ermöglichten und damit die Masse mobiler werden ließen. Das Unterhaltungsangebot der Metropolen als Vorbereitung und Ersatz der Reise spielte eine entscheidende Rolle, so boten Panoramen die Möglichkeit, imaginär zu reisen.35 Als frühes Massenmedium bereiteten die Panoramen die leiblich-visuelle Weltaneignung vor. Das imaginäre Reisen wurde dabei in dieser Arbeit nicht als minderwertiger Ersatz der realen Reise betrachtet, sondern in seiner eigenen Qualität und Vernetzung und dabei in enger Wechselwirkung mit der körperlichen Reiseerfahrung untersucht. Als Sehschulen prägten die Panoramen wie auch die Reiseführer 36 das Erleben der Fremde – nicht nur für diejenigen, die selbst bereits gereist waren oder dies noch vor sich hatten, sondern auch für jene, die ihr Zuhause nicht verließen; sie wurden zu Substituten der Reiseerfahrung. Am Beispiel des Romans Buchholzens in Italien von Julius Stinde konnte gezeigt werden, wie Wilhelmine Buchholz die Italienreise als Teil einer bildungsbürgerlichen Praktik, eines bürgerlichen Habitus, begreift, die im Buch als Versuch einer solchen Aneignung durch die Anmerkungen Stindes und die fragwürdige Ausübung seiner Protagonistin konterkariert wird. Was Peter Burke als „theatre effect“37 des touristischen Blicks beschreibt, wird für Wilhelmine gestützt durch die Lektüre des Reiseführers, der ihr als ‚Sehprothese‘38 dient, ohne den sie dem Sichtbaren nicht die entsprechende Bedeutung beimessen kann. Der touristische Blick erkennt als Sehenswürdigkeit, was als solche markiert wird, der Blick in den Reiseführer bestätigt den Status des Sichtbaren und das Sichtbare den Reiseführer. 39 Die neuen Medien wie auch die neuen Transporttechniken veränderten den Blick, der nun „durch Raum und Zeit gleitet“ 40. In der Bewegung des Reisenden,

35 Vgl. Storch 2009, 15. 36 Vgl. Müller 2012, 26. 37 Burke 2011, 89. 38 Vgl. Belting 2001, 28, der sich damit auf die technische Bildvermittlung bezieht. 39 Vgl. MacCannell 1999, 123. 40 Prein 2005, 119.

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als körperliche Mobilität oder als Mobilität zweiter Ordnung, durch mediale Hilfs- und technische Transportmittel ersetzt, wurde Welt vermittelt und angeeignet. Panoramen und Eisenbahn beförderten in diesem Sinne eine Veränderung der Wahrnehmung, letztere eine Beschleunigung der Reisebewegung, die Zirkulation von Menschen, Bildern und Ideen – und so eine Beschleunigung der Wahrnehmung. Hatte die Mode der Panoramen bereits die Illusion der All- und Übersicht erzeugt, so wurde der Blick nun zusätzlich dynamisiert, 41 Wolfgang Schivelbusch spricht von einem „panoramatischen Blick aus dem Abteilfenster“42. Am Beispiel des Orientexpress hat die vorliegende Arbeit aufgezeigt, wie der mobile Raum des Zuges zu einem faradayschen Käfig der eigenen Kultur wurde, die mit dem Blick aus dem Zugfenster auf das vermeintlich Fremde bestätigt wurde. Wenngleich im Reisen eine Mobilisierung stattfand, wurde mit der Eisenbahn das Reisen auch zu einer immobilen Angelegenheit, der Reisende zum Objekt, transportiert wie ein Konsumgut.43 In Venedig scheinen dem panoramatisch geschulten Blick vor allem die signifikanten Marker44 wie Markusplatz und Gondel nicht zu entgehen. Die Lagunenstadt als Ziel der touristischen Sehnsüchte war paradigmatischer Kulminationspunkt touristischer Interessen als vermeintlich zeitloser Ort, der im 19. Jahrhundert für den Erholungssuchenden auch mit einem Strandbad aufwarten konnte. Gerade der Markusplatz als zentraler Ort des touristischen Stadterlebens erwies sich als prädestinierter Platz der Auf- und Vorführung: Hier wurde der Tourist gesehen und konnte betrachten. Dabei eröffnete sich ihm vor allem der Blick auf das touristische Stadt(er-)leben. Durch die Sichtbarwerdung der Reisenden wurde sowohl ein Gefühl der Zugehörigkeit evoziert, als auch Abgrenzung provoziert, wie es das Beispiel von Otto Julius Bierbaums Reisebeschreibung gezeigt hat. Venedig ist für ihn ein Schauspiel,45 das sich ‚Unwürdigen‘ präsentiert. So merkt er an, dass Venedig vielleicht „zu schön für diese plebejische Gegenwart [sei], in die sie gar nicht paßt. Eine Königin, die sich für Geld sehen lassen muß vor Gaffern, die zwar Geld, aber keinen Respekt vor alten echten Majestäten haben. Herr Thomas Cook ist auch ihr Impresario.“46 Die eigene Rolle wird von Bierbaum als Betrachter zweiter Ordnung markiert, wenn

41 Vgl. Fiebach 1995, 26-27. 42 Schivelbusch 2011, 59, hier in Bezug auf Clarétie 1865, 4, Hervorhebung im Original. 43 Vgl. Friedberg 1993, 56. 44 Vgl. die Verwendung der Begriffe „sights“ und „marker“ bei MacCannell 1999, 123. 45 Vgl. Bierbaum 1999, 73. 46 Bierbaum 1999, 69.

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er sich hier selbst in der distanzierten Haltung eines reflektierenden Zuschauers beschreibt, für den das touristische Spektakel wiederum theatrale Züge trägt. Die Sicht auf Venedig als Vorführung für die Touristen impliziert den Vorwurf, dass sich dem Reisenden ‚nur‘ ein Spiel darbiete, dass die Inszenierung für den Betrachter nur ‚front region‘ ohne Hintergrund sei. Begreift man den Touristen als Zuschauer, so muss mit Dennis Kennedy betont werden, dass das Reiseziel selbst als imaginäre Erfahrung zu betrachten ist. Der Ort wird Requisite des touristischen Stadterlebens, als touristischer Raum in seiner (Be-)Nutzung hervorgebracht, denn vergleichbar der Aufführungsrezeption ist der Reisende wie auch der Zuschauer sinnstiftender Betrachter, wird in seiner Wahrnehmung das Sichtbare mit Bedeutung belegt.47 Der Markusplatz, dieser ‚Salon Europas‘48, präsentierte die Reisenden sich selbst und machte sie zur eigentlichen Sensation. Er wurde Schau- und Spielplatz touristischer Zugehörigkeit und Abgrenzung. Auch die Gondeln ermöglichten die Einnahme einer bevorzugten Betrachtungsposition: Vom Wasser aus fächerte sich die Stadt dem Reisenden als Panorama auf, aber auch der durch die Kanäle Gondelnde wurde sichtbar, dabei auch ausgestellt als Reisender, dessen Fahrt weniger dem Transport denn dem Vergnügen diente. Hier überblenden sich der Besuch im Freizeitpark und die Reise nach Venedig, wenn sich an beiden Orten der Besucher durch die Gondelfahrt einen Überblick verschaffen konnte und dabei selbst gesehen wurde. Der Gondelnutzer war in seiner Rolle als Tourist, vergleichbar dem Konsumenten im Warenhaus, „öffentlich und offensichtlich“49, die Gondel wurde mehr und mehr reines Erlebnis denn Mittel der Fortbewegung und die Fahrt ein touristisches wie auch theatrales Ereignis. Der Canal Grande war damit zugleich Zuschauerraum der Reisenden und Bühne ihrer Selbstdarstellung. Zwischen Lido, Markusplatz und Gondel wurden öffentliche Handlungen auf den Bühnen der touristischen Selbstdarstellung ausgeführt; der Reisende als Massentourist, in diesem Sinne als Konsument, war auch hier nicht einfach nur Zuschauer, sondern Mit-Akteur. Der Bogen lässt sich von den Ende des 19. Jahrhunderts angesetzten Beispielen bis in die Gegenwart spannen, denn während Reisen immer alltäglicher wird, immer mehr Menschen möglich ist und für immer mehr Arbeitende ein zentraler Aspekt ihres Lebens wird, der für Lebensqualität steht,

47 Vgl. Kennedy 2011, 95. 48 Vgl. Curtis und Pajaczkowska 2002, 156. 49 Lenz 2011, 17.

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„ist das Angebot an imaginären Reisen heute größer als je zuvor: Man denke an Film, Fernsehen und die neuen Medien, die uns tagtäglich die gesamte Welt ins Haus liefern, oder an die gigantischen dreidimensionalen Erlebnisparks in Form von Westernstädten und Weltraumparks, die in der Nachfolge der bescheideneren Reiseillusionen in den Vergnügungsparks des 19. Jahrhunderts allerorten aus dem Boden schießen.“

50

Diese ‚bescheideneren Illusionen‘ erwiesen sich jedoch nicht nur als Vor-Form, sondern auch als Vor-Prägung, die durch das reale Reisen nicht einfach abgelöst wurden. Vielmehr fand hier eine Aneignung und Aushandlung durch performative Praktiken statt, die im urbanen wie touristischen Umfeld ein- und ausgeübt werden konnten. Die Analyse der touristischen Fixpunkte Markusplatz, Gondel und Lido hat gezeigt, dass hier keine simple Überblendung der Vor-Bilder des Reisenden durch die konkrete Stadt-Raum-Erfahrung vollzogen wurde. Reisen, untersucht in seiner Oszillation zwischen Realem und Fiktivem, lenkt die Aufmerksamkeit vielmehr auf die Darstellung der Beziehung der Pole im Sinne Wolfgang Isers.51 Dabei erweist sich das Imaginäre als verbindende Kategorie und zentraler Moment der Aushandlung. Vorgabe des letzten Kapitels war die kulturelle Praktik des Spielens. Hier fand das Reisen wie auch das Konsumieren eine Verdichtung und Dynamisierung in der Potenzierung theatraler und performativer Spielelemente, die beiden vorangegangenen Kapiteln bereits implizit waren, hier nun aber anhand einer ausführlichen Beispielanalyse eine explizite Ausformulierung erfuhren. So stand mit Playing Venice die spielerische Annäherung und Herstellung Venedigs – nun ganz konkret als Schau- und Spielplatz – im Zentrum. Aufbauend auf dem Konsum- und Reisekapitel fungierte das Spielkapitel als Synthese; hier wurde aufgegriffen, was bereits etabliert werden konnte, und in der Diskussion des Spielens verdichtet. Das Spiel als „‚andere[..]‘ Wirklichkeit“52, als soziale und kulturelle Praktik, ermöglicht die Beschäftigung mit der Aushandlung und Aneignung Venedigs als wörtlich genommene Kulisse. Vor dem Hintergrund einer Mobilisierung der Körper und des Blicks wird die Mobilisierung der Bühnen und der Bilder zentral. Waren bereits Warenhaus und Themenpark in einer „Ökonomie des Vorführens“53 zu verorten, die den Besucher auch körperlich einband, und waren der

50 Storch 2009, 25. 51 Iser 1991, 23. 52 Schramm 2014, 332. 53 „Economy of showing“, Kirshenblatt-Gimblett 1998, 1.

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Konsument wie auch der Tourist in ihrer Weltbetrachtung Zuschauer und MitAkteure, indem sie das Sichtbare mit Bedeutung belegten, so war die spielerische Komponente hier bereits präsent und inkludiert. Venedig als Schau- und Spielraum macht aus der Idee der Kulisse eine Triebfeder der Bedeutungsbelegung, für die nicht allein nachgeahmt, sondern eine Atmosphäre erschaffen wurde, die den Betrachter in andere Welten eintauchen ließ. Dies hat das Kapitel an mehreren theatralen und piktoralen Beispielen und deren je spezifischem Umgang mit Venedig verdeutlicht, unter anderem anhand der Auseinandersetzung mit Max Reinhardt und dessen Einsatz der Drehbühne. Reinhardt mobilisierte den Blick und generierte eine Atmosphäre, die den Zuschauer sinnlich überwältigen wollte. Die Verbindung zum Spiel zeigte sich bereits in den Venedigbeschreibungen: Der Charakter einer maskierten Stadt, die dem Touristen nur den Schein sehen lasse, wird in der Rezeption vielfach behauptet. Eine Täuschung werde hier vollzogen, die soziales Vorspiel ohne soziales Leben zeigt, folgt man Georg Simmel. Für Simmel wird Venedigs Kulissenhaftigkeit zum Beweis einer vermeintlichen Absenz sozialen Lebens, die die Stadt zum entseelten Hintergrund werden lasse.54 So richtete sich auch die Stadt am Touristen aus – Beispiel war hierfür der Wiederaufbau des eingestürzten Campanile, ‚wie er war und wo er war‘55, als rein touristische Attraktion. Der Aussichtsturm bot die Möglichkeit eines Überblicks über die Stadt, die von dort aus zum Panorama wurde. Von oben betrachtet wurde das Sichtbare zum Schauspiel in den Augen des beobachtenden Betrachters. Die Kulissenhaftigkeit kann jedoch auch weniger pejorativ als Voraussetzung eines spielerischen Umgangs mit der Stadt verstanden werden, für den beispielsweise durch die Etablierung der Biennale di Venezia 1895 eine Ästhetisierung vollzogen wurde. Dabei war hier nun die Stadtkulisse selbst Teil des Kunstwerks. Mit der Implementierung der Biennale wurde eine Kunstschau geschaffen, die Venedig zur Ausstellung seiner selbst und in den Stand eines begehbaren Bildes erhob; es wurde Kunst gezeigt und konsumiert, der Kunst eine Bühne geboten und die Bühne dabei selbst zur Kunst. Vor diesem Hintergrund ist das Beispiel der Reinhardt’schen Kaufmann-Inszenierung von 1934 eine erneute Steigerung, denn hier wurde Venedig als Kulisse auf- und ausgestellt, dabei aber nicht nur bespielt, sondern selbst zur Mitspielerin.56

54 Vgl. Simmel 1922. 55 Vgl. Davis und Marvin 2004, 218. 56 Vgl. Fischer-Lichte 1999, 98.

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Mit zwei Ausblicken, dem Dokumentarfilm Das Venedig-Prinzip und dem Computer-Spiel Assassin’s Brotherhood II, wurden die hier angelegten Grundzüge eines immersiven Theatererlebens als fortbestehender Aspekt der Stadtaneignung im realen und virtuellen Raum aufgezeigt. Gerade das Beispiel des Computerspiels verweist dabei auf die Mehrschichtigkeit performativer Praktiken, wenn die körperlich-konkrete Reise nach Venedig für einen Videoblogger zum Reenactment57 einer Spielerfahrung wird. Bei der Gestaltung des Spiels wiederum wurde auf eine dichte Anbindung an den Originalschauplatz geachtet, der dann zu einem Spielfeld virtueller Stadtaneignung wurde. Hier kann eine direkte Verbindung zu den anderen Beispielen gezogen werden: Zwar erlebt der Freizeitparkbesucher keine virtuelle Welt, er kann die Bauten durchaus berühren, aber konsumiert werden kann auch hier vor allem das Spiel des Als-ob, das durch das Verhalten und die Bewegung der Besucher generiert wird. Der Tourist gibt seine Mobilität partiell ab an Transportmöglichkeiten, die wiederum seine Wahrnehmung beschleunigen. Das Sichtbare erfährt erst durch den Reisenden Bedeutung, so dass er als Zuschauer und Mit-Akteur verstanden werden kann. Venedig als Theaterkulisse, aber auch als Freilicht- und Kunstmuseum zielt auf eine sinnliche Überwältigung. Das Computerspiel, das Venedig als Übungsplattform für Handlungen etabliert – auch durch die Möglichkeit der virtuellen Gondelfahrt –, schließt sich diesem Erleben an und steht weniger als gänzlich neue Form denn als kulturelle Spielpraktik der Aneignung da. Im Sinne Helmar Schramms wird das Spiel hier zur Denkfigur, „mit seiner eigenartigen Fähigkeit zur experimentellen Erprobung grenzüberschreitender Synthesen, mit seiner theoretischen und praktischen Potenz zur Modellierung von Denkweisen, Wahrnehmungsformen und Sprachkultur, von Produktionsstrategie und Lebensstil. […] Spiel-Modelle wären u. U. geeignet, Wissenschaft als kulturelles System in ein übergreifendes Ganzes kultureller Artikulationen und Erfahrungen einzubinden.“

58

Der Dreischritt, den die Arbeit in ihrem Aufbau anhand der performativen Praktiken des Konsumierens, des Reisens und des Spielens vollzogen hat, erweist sich in dieser Lesart als Dynamisierung, für die im Spielen eine verbindende und potenzierende Aneignungspraktik gefunden wurde. Venedig als kulturelles Imaginäres verbindet Realität und Fiktion und wird in Prozessen der (spielerischen) Aushandlung performativ hervorgebracht. In diesem Sinne wird das Spiel zur Synthese und zur zentralen, die anderen verbindende Praktik.

57 Vgl. Otto 2014, 287-290. 58 Schramm 2014, 339.

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Blickt man von der Idee des Spiels ausgehend auf die vorangegangenen Kapitel zurück, so kristallisiert sich heraus, dass allen performativen Praktiken ein Moment der Nachahmung innewohnt. Ist im ‚exhibitionary complex‘59 das Exponat dem Kunstwerk vergleichbar, das für seine Einzigartigkeit und Aura 60 bestaunt wird, so ahmt die Ware dies nach, aber macht das vermeintlich Singuläre zugleich verfügbar: Die Massenware erweist sich als Reproduktion, ebenso wie sich Museen und Kaufhäuser als Orte der Reproduktion von Verhaltensweisen etablieren. Auch der touristisch Reisende vollzieht weniger eine rituelle Wandlung im Reisen denn einen Nachvollzug etablierter Erwartungen an eine Schichtzugehörigkeit. Auf der Suche nach dem Authentischen verändert er zudem, was er zu finden hoffte. Die Jagd nach der vermeintlich vorhandenen ‚back region‘ führt zu immer neuen ‚front regions‘,61 die der Reisende als Schauspiel betrachtet. Als Aspekt des Konsums und des Reisens impliziert das Spielen eine Aufwertung der meist pejorativ verwendeten Kategorien der Kopie und der Täuschung, weil hiermit die Idee der Nachahmung als eigenständige Qualität Beachtung finden kann. So hält Nerdinger mit Blick auf die Kunstgeschichte fest: „Eine Kopie ist kein Betrug, ein Faksimile keine Fälschung, ein Abguss kein Verbrechen und eine Rekonstruktion keine Lüge.“ 62 Vielmehr ist die Nachahmung im Sinne einer Wiederholung nicht nur Teil kultureller Praktiken, sondern Bedingung ihrer Wirksamkeit und ihres kollektiven Charakters im Prozess der Selbst- und Fremdverortung. Gerade für Venedig bedeutet diese Annahme eines Spielprinzips auch die beständige Erneuerung und Bestätigung der Stadt als kulturelles Imaginäres; Venedig – ein Schau- und Spielplatz.

59 Vgl. Bennett 1995, 60. 60 Vgl. Benjamin 2003, 15. 61 Vgl. Goffman 1996, 217; vgl. auch MacCannell 1999, 92f. 62 Nerdinger 2010, 10.

Literatur- und Abbildungsverzeichnis

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F ILM - UND V IDEOSPIELVERZEICHNIS Assassin’s Creed II. Ubisoft Montreal 2009. Das Venedigprizip. Regie: Andreas Pichler, Deutschland 2012. The Paradise. Episode 5. Regie: Marc Jobst, Großbritannien 2012. The Tourist. Regie: Florian Henkel von Donnersmarck, USA 2011. Panorama du Grand Canal vu d'un Bateau. Kamera: Alexandre Promio. Venedig 1896. Venetianische Abenteuer eines jungen Mannes. Regie: Max Reinhardt, Venedig 1913. Murnau-Archiv, Wiesbaden.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Bühne und Wasserbassin mit Szenen des Spektakels in Old Venice.In: Kiralfy, Imre (o. J.): Imre Kiralfy’s Venice in Paris. [Spectacles de la Grande Exposition Venitienne de Imre Kiralfy]. London, o.S. © The British Library Board. 1786.b.32, pl. opp. p. 20. Abb. 2: Plan für Venise à Paris im Palais des Machines. Online unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8440756z/f1.item.langDE. [Letzter Zugriff: 28.12.2014]. © Bibliothèque nationale de France. Abb. 3: Gondelnde Touristen auf dem Canal Grande. Bild: Dorothea Volz. Abb. 4: Markusplatz mit Markusdom und Campanile. Bild: Dorothea Volz. Abb. 5: Bühnenbildentwurf von Edward Gordon Craig für Das gerettete Venedig. Grafikarchiv, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln.

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Abb. 6: Film-Still aus Venetianische Abenteuer eines jungen Mannes. Reinhardt, Max (1913). Murnau-Stiftung, Wiesbaden. Abb. 7: Campanile und der selten menschenleere Markusplatz bei Nacht. Bild: Dorothea Volz. Abb. 8: Ball des Dogen. Aus: Das Venedig-Prinzip. © Filmtank. Abb. 9: Venice in Venice. Bild: Dorothea Volz.

Dank

Die Arbeit an meiner Dissertation war für mich eine wissenschaftliche wie auch ganz persönliche Reise, die mir so manche Sorgenfalte beschert hat, aber auch Denk- und Lachfalten, so dass ich dankbar auf diese Lehr-, Lern- und Wanderjahre zurückblicke. Ohne meinen Doktorvater Prof. Dr. Peter W. Marx hätte ich mich nicht auf den Weg gemacht – als mein prägender universitärer Mentor zieht sich seine Version einer Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft durch mein Denken und Arbeiten. Dankbar bin ich für seine langjährige Wegbegleitung von der Zeit als wissenschaftliche Hilfskraft bis zur Doktorandin, für das gemeinsame Ringen um Richtungen und Inhalte, für Fachgespräche, Diskussionen und auch für die Zeit für Gespräche jenseits des Dissertationsthemas. Auch mein Zweitbetreuer Prof. Dr. Friedemann Kreuder hat meine Reise sehr aktiv begleitet, an so mancher Kreuzung mit seinen Denkanstößen die Richtungswahl erleichtert und zudem in wichtigen Momenten mit den richtigen Worten und Taten für die notwendige Entspannung und Gedankenfreiheit gesorgt. Dass die Mainzer Theaterwissenschaft mir zu einem so liebgewonnenen Quartier wurde, lag auch an dem fürsorglichen Hausherrn. Ebenso danke ich herzlich meinen weiteren Gutachtern, die mich an ganz unterschiedlichen Punkten meiner Laufbahn begleitet und inspiriert haben: Prof. Dr. Michael Bachmann, Prof. Dr. Mita Banerjee und Jun.-Prof. Dr. Julia Stenzel. Diese Reise hat von vielen lesenden Begleiterinnen profitiert, die sich äußerst tapfer durch mögliche und unmögliche Varianten gekämpft haben. Allen voran ist hier Annika Wehrle zu danken, die den Spagat zwischen guter Freundin und kritischer Leserin zu meisterhafter Vollendung gebracht und zudem so manche Forschungsreise mit ihrer Anwesenheit bereichert hat. Anna-Kristina Laue hat mit ihren Adleraugen die Arbeit Korrektur gelesen, eine Aufgabe, die sie mit der ihr gewohnten Perfektion erfüllte, und eine Zumutung, die sie ohne Murren ertrug.

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Kristin Becker ist einfach ein Fuchs und war mir als Fährtenleserin eine zuverlässige und wichtige Unterstützung. Mitgelesen, mitgedacht und mitdiskutiert haben auch Katharina Görgen und Caroline Fries, wovon sie keine Auslandsaufenthalte und schlechte SkypeVerbindungen abhalten konnten. Den Weg von der wissenschaftlichen Hilfskraft zur promovierten wissenschaftlichen Mitarbeiterin teils voran, teils gemeinsam mitgegangen sind Sabrina Eisele, Ellen Koban, Sofie Taubert und Stefanie Watzka. Ihnen und allen weiteren mir lieben Mainzer Kolleginnen und Kollegen, besonders Constanze Schuler und Julia Pfahl, möchte ich ebenso herzlich und innig danken. Während meines Aufenthalts als Fellow der theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln kamen weitere Kolleginnen und Kollegen hinzu, die mir in allerbester Erinnerung bleiben. Allen voran und stellvertretend für das gesamte Team danke ich Hedwig Müller und Sascha Förster. Gemeinsam, wenn auch auf ganz unterschiedlichen Gebieten, durfte ich die Reise mit Nina Maier und Jeanne Labigne zu einem Abschluss bringen; mit ihnen an Bord konnte so manche Klippe sanft umgondelt werden. Die Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz hat mir zwei Jahre lang die konzentrierte Arbeit an meiner Forschung ermöglicht. Damit hat das Land Rheinland-Pfalz erneut in mich investiert, wofür ich sehr dankbar bin. Der Gutenberg Akademie der Johannes Gutenberg-Universität danke ich für die finanzielle Unterstützung zur Fertigstellung dieses Buches und für die Möglichkeit, zwei Jahre lang im interdisziplinären Austausch die Landkarten anderer Disziplinen zu studieren. Schätzen gelernt habe ich dabei besonders meine wunderbare Reisegruppe, mit der ich hier ein Stück gemeinsam wandern durfte, allen voran Katharina Bahlmann, Jella Pfeiffer, Tobias Boll und Anita Wohlmann. Während sich bei mir langsam die Reisekilometer ansammelten, wuchs meine Familie stetig an. Dieses Basislager hat mir den Rücken gestärkt, Mut gemacht, Care-Pakete geschickt und mich in allem unterstützt. Aus vollstem Herzen danke ich Jan-Christoph Volz und Anne Dumont mit Elias und Julian, Mirjam Volz und Christoph Singer mit Johanna und Jonathan und Mathias Volz – und meinen Eltern Anneliese und Hansmartin Volz, die unbeirrbar an mich geglaubt und mich mit unendlich viel Liebe und schwäbischem Pragmatismus begleitet haben. Danke!

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 À (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 À (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 À (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 À (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)

Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 À (DE), 978-3-8376-1709-2

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 À (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 À (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 À (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6

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