Performative Sammlungen: Begriffsbestimmung eines neuen künstlerischen Formats 9783839452394

In ihrer künstlerisch-wissenschaftlichen Studie untersucht Stefanie Lorey erstmalig Methoden des Sammelns und Ordnens un

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Performative Sammlungen: Begriffsbestimmung eines neuen künstlerischen Formats
 9783839452394

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Kapitel: Vom Sammeln
2. Kapitel: Paradoxien
3. Kapitel: Vom Ordnen
4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate
5. Kapitel: Performative Sammlungen
Kapitel 5a: Performance – While We Were Holding It Together (Ivana Müller)
Kapitel 5b: Theatrale Installation – Museum des Augenblicks (Stefanie Lorey)
Kapitel 5c: Choreographie – Rétrospective par Xavier Le Roy (Xavier le Roy)
6. Kapitel: Gemeinsames und Differentes performativer Sammlungsformen
7. Kapitel: Die performative Sammlung als paradigmatische Form postdramatischer Darstellung
8. Schlussbetrachtungen
Literatur
Danksagung
Dokumentation Museums des Augenblicks

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Stefanie Lorey Performative Sammlungen

Theater  | Band 131

Für Helga und Günter

Stefanie Lorey leitet den Studiengang Theaterregie an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie hat in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert und war Stipendiatin im Dorothea-Erxleben Programm der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig sowie im künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg »Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste« in Hamburg. Seit 2001 realisiert sie zusammen mit Bjoern Auftrag unter dem Label »Auftrag : Lorey« Projekte, die sich an der Grenze zwischen Theater, Performance und installativer Kunst bewegen.

Stefanie Lorey

Performative Sammlungen Begriffsbestimmung eines neuen künstlerischen Formats

Dieser Band entstand in Zusammenarbeit mit dem Institute for the Performing Arts and Film (IPF) der Zürcher Hochschule der Künste und erscheint als Band 21 der Reihe subTexte (www.subTexte.ch) Die Reihe subTexte vereinigt Originaltexte zu jeweils einem Untersuchungsgegenstand aus den beiden Forschungsschwerpunkten »Performative Praxis« und »Film«. Sie bietet Raum für Texte, Bilder oder digitale Medien, die zu einer Forschungsfrage über, für oder mit Darstellender Kunst oder Film entstanden sind. Als Publikationsgefäß trägt die Reihe dazu bei, Forschungsprozesse über das ephemere Ereignis und die Einzeluntersuchung hinaus zu ermöglichen, Zwischenergebnisse festzuhalten und vergleichende Perspektiven zu öffnen. Vom Symposiumband bis zur Materialsammlung verbindet sie die vielseitigen, reflexiven, ergänzenden, kommentierenden, divergierenden oder dokumentierenden Formen und Ansätze der Auseinandersetzung mit den Darstellenden Künsten und dem Film.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © Thies Raetzke Lektorat: Hilke Berger Korrektorat: Gerhild Werner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5239-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5239-4 https://doi.org/10.14361/9783839452394 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung ....................................................................9 1. Kapitel: Vom Sammeln .................................................... 19 Grundlegendes ............................................................... 19 Das sammelnde Subjekt ...................................................... 21 Sammlungsdifferenzierungen ............................................... 25 Nicht alles ist Sammlung .................................................... 30 2. Kapitel: Paradoxien ...................................................... 35 Das Besondere und das Allgemeine .......................................... 35 Bewahrende Zerstörung ..................................................... 37 Parität und Klassifikation.................................................... 40 Nähe und Ferne .............................................................. 41 Offene und geschlossene Systeme. Leben und Tod .......................... 42 Das Singuläre und das Kollektive ............................................ 44 3. Kapitel: Vom Ordnen ..................................................... 47 Das ordnende Subjekt ....................................................... 49 Ordnendes Sammeln – Kreatives Potenzial ................................... 50 4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate .............................. Sammlungs- und Verwahrungsorte .......................................... Archiv versus Sammlung .................................................... Sammlungsbewegungen in der Bildenden Kunst..............................

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Museumsgründer_innen, Materialsammler_innen und Spurensicherer_innen................................................... Autobiographische Sammler_innen .......................................... Gemeinsames: Immanente Kritik ............................................ Gemeinsames: Das Besondere im Allgemeinen ............................... Homogene und heterogene Sammlungen in der Kunst ........................ Serielle Fotografie ..........................................................

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5. Kapitel: Performative Sammlungen ..................................... 75 Das Performative als Attribut künstlerischer Sammlungsformate ............. 75 Wesenszüge ................................................................ 78 Kapitel 5a: Performance – While We Were Holding It Together (Ivana Müller) ........................................... 85 Kapitel 5b: Theatrale Installation – Museum des Augenblicks (Stefanie Lorey) .................................. 95 Entwicklungsprozess ....................................................... 95 Präsentation Museum des Augenblicks....................................... 97 Formale Setzungen in der Materialgenerierung oder Wie wird aus einer Ansammlung eine Sammlung? ....................... 101 Vorpräsentation Augenblicke ................................................ 101 Entwicklungsprozess ....................................................... 102 Spurensicherung, Museumsgründung, Materialsammlung oder autobiographische Sammlung? .......................................... 111 Kapitel 5c: Choreographie – Rétrospective par Xavier Le Roy (Xavier le Roy) ........................................... 115 6. Kapitel: Gemeinsames und Differentes performativer Sammlungsformen ..........................................123 Beispiele performativer Sammlungen im Vergleich zu Akkumulationsformen der Bildenden Kunst ............................... 124 Künstlerische Beispiele performativer Sammlungen im Vergleich zueinander..................................................... 127

Die Position des sammelnden Subjekts ...................................... 128 7. Kapitel: Die performative Sammlung als paradigmatische Form postdramatischer Darstellung ............................................. 131 8. Schlussbetrachtungen ...................................................139 Literatur ................................................................... 155 Danksagung ................................................................ 165 Dokumentation Museums des Augenblicks ................................. 167

»Im Berliner Zoologischen Garten steht neben dem Bassin mit einem See-Elefanten eine ungewöhnliche Vitrine. Hier liegen unter Glas die im Magen des See-Elefanten Roland gefundenen Gegenstände, nachdem dieser am 21. August 1961 verendet war, und zwar: ein rosa Feuerzeug, vier Eisstiele (Holz), eine Metallbrosche in Gestalt eines Pudels, ein Flaschenöffner, ein Damenarmband (Silber?), eine Haarspange, ein Bleistift, eine Wasserpistole aus Plastik, ein Plastikmesser, eine Sonnenbrille, ein Kettchen, eine (kleinere) Metallfeder, ein Gummireifen, ein Spielzeugfallschirm, eine Eisenkette (ca. 40 cm), vier lange Nägel, ein grünes Plastikauto, ein Metallkamm, eine Badge aus Plastik, ein Püppchen, eine Bierdose (Pilsner, 0,33 l), eine Streichholzschachtel, ein Kinderpantoffel, ein Kompass, ein Autoschlüssel, vier Münzen, ein Taschenmesser mit Holzgriff, ein Schnuller, ein Bund mit Schlüsseln (5 St.), ein Vorhängeschloss, ein Plastiketui mit Nähzeug. Der Besucher steht mehr fasziniert als entsetzt vor dieser seltsamen Ausstellung, wie vor archäologischen Fundstücken. Er weiß, dass ihr museales Schicksal vom Zufall (Rolands unberechenbarem Appetit) bestimmt ist, und ist doch beherrscht von dem Gedanken, dass zwischen den Gegenständen mit der Zeit subtilere Beziehungen entstanden sind. Im Bann dieses Gedankens versucht er, Konstellationen herzustellen.«   Dubravka Ugrešić: Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Frankfurt a.M. 1998, S. 7f.

Einleitung

In der zeitgenössischen Museumswissenschaft wird seit geraumer Zeit von der Performativität der Objekte gesprochen. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass Dinge nicht nur Informationen transportieren, sondern ebenso Situationen schaffen und somit Erfahrungen produzieren, zu denen sich ihr Publikum in Bezug setzen kann. Dinge repräsentieren eben nicht nur Vergangenheit, z.B. als museale Artefakte, sondern stellen darüber hinaus ein bestimmtes Verhältnis zur Vergangenheit her, indem sie performativ wirken.1 Dorothea von Hantelmann, Kuratorin und Kunsthistorikern, beschreibt in diesem Zusammenhang die Transformation von Ausstellungs- hin zu Erfahrungsräumen, zur Ausstellung als Ereignis, in dem es nun vermehrt darum geht, einen experimentellen Selbstbezug herzustellen, der sich aus dem Erleben von Verhältnissen zu sich selbst und anderen speist.2 Ausstellungsobjekte dienen hiernach nicht mehr als alleinige Bedeutungsproduzenten, vielmehr verlagert sich die Wahrnehmung auf einen subjektiven inneren Monolog zwischen den Dingen und dem betrachtenden Subjekt. Werner Hanak-Lettner, Kurator am jüdischen Museum in Wien, geht in

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Thiemeyer, Thomas: »Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung«, in: Museen für Geschichte (Hg.): Online-Publikation der Beiträge des Symposiums Geschichtsbilder im Museum im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011. Online verfügbar unter: www.museenfuergeschichte.de/downloads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_Sprache_ der_Dinge.pdf. (Abgerufen am 10.05. 2016), S. 4ff. Vgl. von Hantelmann, Dorothea und Meister, Carolin: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich u. Berlin 2010, S. 7-18, hier S. 17.

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Performative Sammlungen

seinen Überlegungen über die Verflechtung von Ausstellung und Drama sogar so weit, museale Objektpräsentationen als »Prototyp des performativen Ereignisses«3 zu bezeichnen. Für ihn ist die Ausstellung als »dramaturgisch strukturiertes und performatives Medium« zu verstehen, das sich in seiner Anlage als performatives Ereignis zeigt, in dem es »die RezipientInnen zu einer äußerst aktiven Haltung provoziert«.4 Boris Groys bemerkt dazu, dass sich das Museum von einem »Ort der ständigen Sammlung zu einer Bühne für wechselnde Großausstellungen« verwandelt, die wie Theaterstücke »nur während einer gewissen Zeit aufgeführt und dann abgebaut und aufgelöst werden« und die er als »Museen auf Zeit« bezeichnet.5 All das könnte den Schluss nahelegen, dass sich die Forderung und Einführung der neuen Begrifflichkeit performative Sammlung auf die aktuelle Ausstellungspraxis zeitgenössischer musealer Präsentationsformen beziehen könnte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der hier entwickelte Terminus performative Sammlung steht vielmehr für einen neuen Formatbegriff, der als spezifische Darstellungsform innerhalb performativer Kunstpraxen angesiedelt ist. Seine Definition wird nachfolgend aus einer rein theaterwissenschaftlichen Perspektive heraus und unter Zuhilfenahme eines eigenen künstlerischen Zugriffs entwickelt. Die Notwendigkeit seiner Benennung begründet sich aus der Erkenntnis, dass Sammeln und Ordnen als künstlerische Methode und Darstellungsform bis zum heutigen Zeitpunkt ausschließlich aus dem Blickwinkel der Bildenden Kunst heraus beschrieben und untersucht wurde, während Akkumulationspraxen in den performativen Künsten bisher keinerlei Beachtung geschenkt wurde. Dabei lassen sich diverse zeitgenössische Arbeiten finden, die Sammlungsverfahren als systematisches Mittel der Materialgenerierung nutzen, um in Aufführungsformaten (wie etwa Performances, Choreographien, Lecture

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Hanak-Lettner, Werner: Die Ausstellung als Drama. Wie das Museum aus dem Theater entstand, Bielefeld 2011, S. 190. Ders. S. 190. Groys, Boris: Logik der Sammlung. Am Ende eines musealen Zeitalters, München u. Wien 1997, S. 59 u. 60.

Einleitung

Performances, Audio-walks oder theatrale Installationen) Präsentationen zu entwickeln, die gleichfalls als Sammlung kenntlich werden.6 In den folgenden Überlegungen werden exemplarisch drei Darstellungsformen im Hinblick auf ihre Zuschreibung als performative Sammlung untersucht: Ivana Müllers Performance While We Were Holding It Together, Xavier Le Roys Choreographie Rétrospective par Xavier Le Roy sowie die theatrale Installation Museum des Augenblicks, die das künstlerischwissenschaftliche Forschungsvorhaben als eigene praktische Position ergänzt. Zu Beginn jedoch gilt es, die Vorgänge des Sammelns und Ordnens auf ihre grundlegenden Funktionen hin zu überprüfen, ebenso wie die Sammlung selbst im Hinblick auf ihr Erscheinungsbild und ihrer konstitutiven Wesenszüge einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit – gesamtbetrachtend sind darüber bereits ganze Bücher geschrieben worden7 – sondern das Ziel ist es, mit einem fokussierten Blick signifikante Charakteristiken und Eigenschaften künstlerischer Sammlungsformate und explizit performativer Sammlungen aufzuzeigen. Als wissenschaftlicher Ausgangspunkt dient zunächst Manfred Sommers philosophische Analyse des Sammelvorgangs. Sein Buch Sammeln. Ein philosophischer Versuch liefert erste Ansatzpunkte, um die Termini Sammeln und Ordnen als (zusammenhängende) Handlungsvorgänge zu verstehen und darauf aufbauend die Zuschreibung einer Sammlung definieren zu können. Prinzipiell wird zwischen Ansammlung und Sammlung unterschieden. Um Sinnhaftigkeit und damit 6

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Andere Beispiele als die hier verhandelten sind etwa: Tomorrows Parties von Forced Entertainment; Nebenschauplätze Nr. 1, Das 20. Jahrhundert von Lindholm & Hofmann; Die Enzyklopädie der Performancekunst von Wagner-FeiglForschung; 50 Aktenkilometer und 100 % Berlin, Zürich, Melbourne usw. von Rimini Protokoll oder Bouncing in Bavaria und Standbild mit Randexistenzen von Auftrag : Lorey. Siehe hierzu exemplarisch: Sommer, Manfred: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a.M. 1999; Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo – Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450-1800, Opladen 1994 oder Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998.

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Performative Sammlungen

Lesbarkeit im Zusammengetragenen zu etablieren, setzen Sammlungen immer ein sammelndes und zugleich ordnendes Subjekt voraus. Dazu muss eine Unterteilung zwischen ökonomischen und ästhetischen8 Sammlungsverfahren getroffen werden, da allein letztere für die vorliegenden Überlegungen von Belang sind. Neben Walter Benjamin und Jean Baudrillard, die sich mit der Figur des Sammlers beschäftigen, liefern die Ausführungen des Philosophen Reinhard Brandt über verschiedene Formen des Sammelantriebs die Grundlage dafür, sich den divergierenden Begehrungsvermögen zu widmen, die das Sammeln antreibt, um ästhetische Sammlungsprozesse weiter differenzieren zu können. Innerhalb ästhetischer Akkumulationsverfahren gilt es zudem zwischen heterogenen und homogenen Sammlungen zu unterscheiden, da sie im Hinblick auf ihre Akkumulations- als auch Präsentationsverfahren gegensätzliche Rezeptionsästhetiken hervorrufen, die für die spätere Betrachtung von explizit künstlerischen Sammlungsformaten von Belang sein werden. Ein weiterer Fokus liegt auf den Polaritäten, die gerade ästhetische Sammlungen in sich vereinen: Etwa eine bewahrende Zerstörung, die den Objekten in der Überführung in einen Sammlungsbestand zuteilwird. Oder das Hervortreten von Singulärem, während das Kollektive weiterhin sichtbar bleibt. Des Weiteren eine zum Zeitpunkt der Präsentation abgeschlossene, aber ebenso in die Zukunft hinein offene Struktur, die jeglicher Kollektion zugrunde liegt. Hier wird deutlich, dass der Sammlung, gerade aus künstlerischer Perspektive, ein besonderer Reiz innewohnt, da sie Diversitäten vereint, die sich nicht ausschließen, sondern vielmehr gegenseitig bedingen und die Sammlung so in ständiger Bewegung halten. Die Darlegung des Ordnungsvorgangs als ästhetische Setzung, die – im Sinne einer Sortierung, aber auch Inszenierung des Sammlungsmaterials – neue Bedeutungszusammenhänge entwirft, bildet die Überleitung zu künstlerischen Akkumulationsverfahren in den Bildenden Künsten. 8

Ästhetisch meint Sommer hier in Bezug auf eine sinnliche Wahrnehmung, als ein Betrachten um der Anschauung willen. (Vgl. hierzu Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, S. 8.)

Einleitung

Ausgangspunkt hierfür bildet ein Artikel aus den 1970er Jahren mit dem Titel Künstler und andere Sammler, verfasst von dem Kunsthistoriker Walter Grasskamp, in dem er die Bewegung der Museumsgründer_innen und Spurensicherer_innen erstmals ausführlich analysiert. Dabei zeichnet Grasskamp einen neuen künstlerischen Zugriff nach, bei dem die Autorität des Schöpfertums zugunsten einer Neuaufbereitung von vorgefundenem Material abgelehnt wird.9 Eine aktuelle Perspektive auf akkumulierende Kunstpraktiken veranschaulicht der umfangreiche Katalog interarchive, der »archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld«10 sowohl im Hinblick auf künstlerische Praktiken als auch anhand theoretischer Beiträge diskutiert. Im Gegensatz dazu fokussiert der Ausstellungskatalog Deep Storage. Arsenale der Erinnerung detailliert »Modelle künstlerischer Gedächtnisarbeit«11 . Der von Matthias Winzen in diesem Kontext formulierte Vorschlag, künstlerische Sammlungsverfahren über ihre zugrundeliegenden differierenden Ortsmetaphern zu unterscheiden, gibt den vorliegenden Überlegungen Anlass, innerhalb künstlerischer Präsentationsformen die alleinige Zuschreibung performative Sammlungen – und nicht performative Archive – zu legitimieren. Denn es zeigt sich, dass gerade die Begrifflichkeiten Archiv und Sammlung klar voneinander abzugrenzen sind, da – so die These – jegliche Form künstlerischer Akkumulationsverfahren in ihrer Präsentation zuvorderst als Sammlung benannt werden muss, selbst dann, wenn sie sich offensichtlich archivarischer Praktiken bedient. Denn das Archiv ist kein Präsentations- sondern ein Verwahrungsort. Eine Sammlung indes ist inszenierte Zurschaustellung selektiv zusammengetragener Objekte, etwas, das jede künstlerische Präsentation auszeichnet. 9 10 11

Wetzel, Michael: »Autor/Künstler« in: Ästhetische Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 2001, S. 480-544, hier S. 484. Von Bismarck, Eichele, Feldmann u.a. (Hg.): interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld, Köln 2002. Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungskatalog Haus der Kulturen München; Nationalgalerie SMPK Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf; Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 7.

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Performative Sammlungen

Die nachfolgende Auswahl exemplarischer Arbeiten demonstriert verschiedene Sammlungs- und Anordnungsstrategien, die sich vor dem Hintergrund beider Ausstellungskataloge in die erweiterten Gattungszuschreibungen Spurensicherung, Materialsammlung, Museumsgründung und autobiographische Sammlung unterteilen lassen.12 Allen ist gemein, tradierte Sammlungsformen zu hinterfragen, indem sie neue Strategien des Sammelns und Ordnens in Abgrenzung zu traditionellen Sammlungsformaten entwerfen. Ein Blick auf performative Sammlungspraxen macht schließlich deutlich, dass die Benennung einer weiteren Kategorie vonnöten ist: die der performativen Sammlung. Ihre Beschreibung steht hier im Mittelpunkt. Die Verwendung der Attribution performativ wird zunächst anhand von John Austins Theorie der Sprechakte13 nachskizziert und um die gendertheoretische Position Judith Butlers sowie Erika Fischer-Lichtes theaterwissenschaftliche Perspektive erweitert.14 Hierbei konzentriert sich die Betrachtung auf das Ereignishafte, das sich immer wieder neu konstituierende performativer Sammlungspraxen. Zusammengefasst liegt ihre grundlegende Abgrenzung zu Akkumulationsformen der Bildenden Kunst in ihrem Aufführungscharakter als performativem Ereignis, bei dem der Vorgang des Sammelns in seiner Prozesshaftigkeit visualisiert wird. Wesentlicher Bestandteil der Präsentation performativer Sammlungen ist das Zusammentragen des Sammlungsmaterials als Vollzugsereignis, da das Versammelte erst im Augenblick seiner Sichtbarmachung erfahrbar wird, während es in gesetzter Dramaturgie und als zeitliches Ereignis am Publikum vorüberzieht. Die spezifische Charakteristik des Flüchtigen muss folglich nicht nur 12

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Siehe hierzu auch: Metken, Günter: Spurensicherung – Eine Revision. Texte 1977 – 1995, Dresden und Berlin 1996 sowie Kittner, Alma-Elisa: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979. Siehe hierzu: Butler, Judith: »Performative Acts and Gender Construction – An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Case, Sue Ellen (Hg.): Performing Feminism, Baltimore u. London 1990, S. 270-282. Sowie: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004.

Einleitung

in ihrer Präsentationsform verankert, sondern darüber hinaus im versammelten Material selbst verortet werden. Im Spannungsfeld zwischen Ereigniskunst und musealem Bewahren können performative Sammlungen daher als momenthafte Sammlungen beschrieben werden, da sie sich im Hier und Jetzt konstituieren und so zwischen den Polen Konservierung und Vergänglichkeit oszillieren. Neben einer ersten Definition, die den Begriff der performativen Sammlung zu fassen versucht, erfolgt eine genauere Untersuchung ihrer signifikanten Wesenszüge, um Gemeinsames und Differentes zu bereits benannten künstlerischen Sammlungsformaten abzugleichen. Dazu wird die performative Sammlung als paradigmatische Form postdramatischer Darstellung vor dem Hintergrund von Hans-Thies Lehmanns Analyse postdramatischer Theaterformen diskutiert.15 Analogien zu den von Lehmann formulierten Tendenzen und Stilmitteln – die heute sicherlich unter historischen Gesichtspunkten betrachtet werden müssen – finden sich etwa in der formalen Struktur performativer Sammlungen, deren Konsequenz eines geordneten Nacheinanders sich vor die inhaltliche Dramaturgie eines Textes schiebt. Ihre nichthierarchische serielle Anordnung wiederum verweist das verhandelte Material auf dessen Materialität zurück, während der Sammlungsbestand als zeitliche Abfolge im Gegenwärtigen hervorgebracht wird. Die Akzentuierung von Präsenz tritt so in den Vordergrund und verschiebt den Fokus auf den Prozess, nicht auf das abgeschlossene Resultat. Neben der Formulierung spezifischer Eigenarten performativer Sammlungen, die ihre Einführung und Bedeutung als neues ästhetisches Format16 legitimieren, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Betrachtung und Analyse praktischer Beispiele, um kennzeichnende Rezeptions- als auch Produktionsästhetiken zu untersuchen. Die Auswahl der hier verhandelten Arbeiten basiert auf der Bandbreite künstlerischer Formate, die als performative Sammlungen beschrieben werden können: von Performances über choreographische Arbeiten bis hin zu (theatralen) Installationen. Unter dem Blickpunkt einer 15 16

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Ästhetisch hier auch verstanden als Aisthesis, als sinnliche Wahrnehmung.

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Performative Sammlungen

klassischen Aufführungsanalyse werden die Beispiele auf ihren performativen Sammlungscharakter hin überprüft und die Besonderheiten ihrer Rezeption herausgearbeitet. Angelehnt an bereits beschriebene Gattungszuschreibungen akkumulierender Praktiken aus den Bildenden Künsten wird dabei deutlich, dass sich die Arbeiten auch unter die genannten Kategorien wie Spurensicherung, Materialgenerierung, Museumsgründung und autobiographische Sammlung einordnen lassen. Eine gesonderte Aufmerksamkeit wird der praktischen Position der Forschung, dem Museum des Augenblicks geschenkt, eine Arbeit, die im Rahmen dieses künstlerisch-wissenschaften Forschungsvorhabens von mir entwickelt wurde. Anhand dieses Beispiels kann nachgezeichnet werden, wie spezifische Produktionsbedingungen und ästhetische Setzungen zur Formgebung dieser Installation geführt haben, die gleichfalls als performative Sammlung verstanden werden kann. Die Auseinandersetzung mit Sammlungsverfahren innerhalb künstlerischer Schaffensprozesse zieht sich wie ein roter Faden durch meine eigenen performativen Arbeiten.17 Seit 2001 realisiere ich zusammen mit Bjoern Auftrag unter dem Label Auftrag : Lorey Projekte, die sich zwischen Konzept- und installativer Kunst, zwischen Performance, dokumentarischem Theater und Site Specific Art, zwischen Stadttheater und Freier Szene bewegen. Immer wieder haben wir Sammlungs-

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In Standbild mit Randexistenzen (zuletzt 2019 in Zürich) versammeln wir unterschiedlichste Menschen für einen einzigen Abend auf der Bühne, um ihnen jeweils eine Minute Bühnenpräsenz zu schenken. Für WMF. Wiedersehen macht Freude (Berlin, 2005) haben wir mit über 70 Beteiligten Interviews über Momente des Neben-sich-Stehens geführt und daraus einen Theaterabend konzipiert. Wir haben in Johannesburg 500 Menschen nach ihren ganz persönlichen Ängsten befragt und diese als Whispering Wall (2009) über eine Soundinstallation wiedergegeben. In Horror Vacui (Frankfurt, 2011) haben wir die Schauspielerin Kathleen Morgeneyer gebeten, all ihre Bühnentode noch einmal nacheinander zu präsentieren. Bouncing in Bavaria (Frankfurt, 2012) besteht ausschließlich aus einer Aneinanderreihung von persönlichen Erinnerungsfragmenten, die als Aufführungstext von Traute Hoess und Felix von Manteuffel wiedergegeben werden.

Einleitung

und Ordnungspraktiken als künstlerische Methode und Darstellungsform verwandt. Die Erkenntnis darüber ist Ausgangspunkt all meiner nachfolgenden Überlegungen.

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1. Kapitel: Vom Sammeln

Grundlegendes Den Anfangspunkt meiner Überlegungen bildet die Frage, wann überhaupt von einer Sammlung gesprochen werden kann? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Zusammengekommenes als Zusammengehöriges ausgewiesen wird? Aus philosophischer Perspektive gibt Manfred Sommer hierzu eine erste Orientierung. Ihm zufolge zeichnen »niemals […] weniger als drei eine Sammlung aus«1 , da sie sich immer aus einer Mehrzahl an Dingen zusammensetzt. Dass damit eines noch keine Sammlung sein kann, versteht sich von selbst. Selbst zwei, die zusammenkommen, sammeln sich weder an, noch verabreden sie sich zu einer Versammlung, sondern lediglich zu einem Treffen, so Sommer weiter. Drei jedoch »fügen sich im Blick eines Betrachters bereits zu einer winzigen Sammlung zusammen. Tres faciunt collectionem.«2 Sommers These lässt sich weiter ausführen. Denn zwei Objekte bilden in ihrer Gegenüberstellung eine Einheit, die sich hermetisch abzuschließen vermag. Ein drittes Objekt hingegen kann die geschlossene Paarbildung zugunsten einer Reihe auflösen, die fortgesetzt werden kann. Das dritte Objekt legt die Spur zum Regelwerk und eliminiert zugleich den Verdacht des Zufälligen, indem es die Bedingungen des Zusammenkommens wiederholt und als festgesetzte Ordnung verankert.

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Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, S. 116. Ebd., S. 116; (H. i. O.).

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Performative Sammlungen

Im Dritten offenbart sich die innere Logik der Sammlung, das Sammlungsprinzip, das für alles Nachfolgende zur Gesetzmäßigkeit wird. Wie nun lässt sich der Vorgang des Sammelns beschreiben? Und vor alledem: Was kann, was lässt sich sammeln? Auch darauf gibt Sommer zunächst eine sehr allgemeine Antwort: zerstreute Dinge. Zerstreut kann allerdings nur sein, was »einen Raum zur Verfügung hat, in welchem es weit genug auseinander sein kann und durch den es sich derart zu bewegen vermag, dass es nachher nahe beieinander ist«. Das teilt den Raum für ihn in wenigstens zwei, »einen, aus dem heraus, und einen, in den hinein die Sammelbewegung sich vollzieht«.3 Sommers These der Zerstreuung bedarf auch hier einer Erweiterung, die sich nicht allein auf eine räumliche Separation bezieht, sondern zugleich eine zeitliche Differenz mit einschließt: etwa wenn Dinge aus unterschiedlichen Epochen zusammengetragen werden. Sammeln bezeichnet folglich einen Vorgang, der Dinge aus unterschiedlichen räumlichen, aber auch zeitlichen Ebenen an einen gemeinsamen Ort zusammenführt, an dem sie nahe genug beieinander sein können, um als Zusammengehöriges erfahrbar zu werden; an einen Ort, wie der Historiker Krysztof Pomian bemerkt, an dem »alle Nützlichkeit auf immer verbannt zu sein scheint«.4 Denn in der Überführung in eine Sammlung verliert das Ding seinen ursprünglichen Gebrauchswert. Im Gegenzug wird ihm eine neue Bestimmung zugewiesen, die nun nicht mehr darauf abzielt, benutzt, sondern vielmehr betrachtet zu werden.5 Unter diesen Voraussetzungen impliziert der Vorgang des Sammelns immer eine Tilgung ursprünglicher Kontexte, die den Objekten ein Vergessen zuführt. An dessen Leerstelle tritt ein universaler Wert: der Wert des Ästhetischen.6

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6

Ebd., S. 9. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998, S. 14. Alle weiteren Überlegungen gehen von einem ästhetischen Sammlungsvorgang aus. Der Gegenpol hierzu wäre ein rein ökonomisches Sammeln, eine Unterscheidung, auf die zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer eingegangen wird. Vgl. von Hantelmann u. Meister: »Einleitung«, S. 14.

1. Kapitel: Vom Sammeln

Aus gleichfalls philosophischer Perspektive definiert Jean Baudrillard das Sammeln als einen Vorgang, bei dem das aus seinem Gebrauch gezogene und seiner Funktion enthobene Ding ein rein subjektiver Status zugewiesen wird. Es hört auf »Teppich, Tisch, Kompass oder Nippsache zu sein«7 und wird Objekt einer Sammlung. Sein Allgemeinwert wird zugunsten neuer Zuschreibungen abgelöst. Auch Walter Benjamins Überlegungen zur Charakteristik des Sammlers schließen daran an, wenn er scheibt, dass im Sammeln »ein Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird, um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten«.8 Unter der Voraussetzung gleicher Eigenschaften wird das Sammlungsobjekt mit anderen gleichartigen Objekten zusammengeführt und in neue Kontexte übersetzt. Sammeln kennzeichnet demnach eine Handlung, bei der unterschiedliche Objekte aus ihren ursprünglichen Bedeutungszusammenhängen entnommen werden, um sie – aus ihrer Zerstreutheit heraus und ihrer Nützlichkeit beraubt – unter einem gemeinsamen Nenner zusammenzutragen und in neue Kontextualisierungen zu überführen.

Das sammelnde Subjekt Um Zerstreutes an einem gemeinsamen Ort zu versammeln, bedarf es eines sammelnden Subjekts, das die Dinge nicht einfach zusammenführt, sondern vor dem Hintergrund von Beschaffenheit, Gestalt oder Erinnerungswert ein- oder ausschließt und damit festlegt, welches Objekt in die Kollektion aufgenommen wird und welches nicht. Ohne dieses sammelnde Subjekt, das aktiv und bewusst auswählt, entstehen keine Sammlungen, sondern Anhäufungen oder Ansammlungen. So können sich Dinge (selbst) sammeln, wie der Staub unter dem Bett oder Laub

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Baudrillard, Jean: Das System der Dinge – Über unser Verhältnis zu alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M. 2007, S. 111. Benjamin, Walter: »Aufzeichnungen und Materialien. Der Sammler«, in: Ders.: Das Passagenwerk, Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1983, S. 269-280, hier S. 271.

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Performative Sammlungen

auf den Straßen. Dieser Vorgang wird dem Begriff der Sammlung jedoch nicht gerecht. Hier handelt es sich um Ansammlungen von Gleichem, das sich unter bestimmten (physikalischen) Bedingungen selbst versammelt. Ein sich sammeln und ein gesammelt werden muss demnach voneinander unterschieden werden. Von Interesse wird in diesen Überlegungen nur die zweite Variante sein, jene Sammlungen nämlich, die sich durch ein inneres Ordnungsprinzip auszeichnen, das vom sammelnden Subjekt erkannt beziehungsweise festgelegt wird. Denn Sammler_innen tragen weder wahllos noch zufällig zusammen. Vielmehr haben sie »ein intimes und für Außenstehende unerklärliches Wissen, ein Wissen, das nur aus einer Art Symbiose erwächst, in der die Sammlung und in ihrer Mitte der Sammler aufeinander zuwachsen«9 , wie der Philosoph Reinhard Brandt darlegt. Das sammelnde Subjekt ist also niemals abwesend von seinen zusammengetragenen Objekten zu denken, es ist vielmehr in seine Sammlung verwoben und zeigt sich an und in ihr. Nach Brandt zeichnet sich im Sammeln von Besonderem daher immer auch der Rückbezug zur Einzigartigkeit der Sammler_innen selbst ab: Die Einmaligkeit jedes einzelnen gesammelten Objekts spiegelt das individuelle Sein in der Welt wider und fungiert somit als Rückversicherung für die eigene Singularität.10 Durch die gezielte Entnahme von Objekten aus ihrem Umfeld, die zugleich die Kontrolle über das Gesammelte miteinbezieht, emanzipieren sich die Sammler_innen zudem gegenüber einer Welt, die nicht unmittelbar auf ihre eigenen Bedürfnisse reagiert.11 Im Sammeln scheint der Wunsch angelegt, dem Wirrsal der Welt habhaft zu werden, indem sich ihr sammelnd genähert wird. In ihren Überlegungen zur SozioLogik des Sammelns attestieren Wuggenig und Holder dem sammeln9

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Brandt, Reinhard: »Das Sammeln der Erkenntnis«, in: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo – Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 14501800, Opladen 1994, S. 21-33, hier S. 24. Vgl. ebd., S. 25. Stagl, Justin: »Homo Collector: Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns«, in: Assmann, Gomille, Rippl (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen 1998, S. 37-53, hier S. 38.

1. Kapitel: Vom Sammeln

den Subjekt daraufhin »ein individualistisches Streben nach Perfektion, d.h. ein vom eigenen Willen bestimmtes, abschließbares Projekt der Transformation von Chaos in Sinn«.12 Sammeln stellt sich infolgedessen als den Wunsch dar, das eigene Umfeld als Mikrokosmos im Makrokosmos manipulieren – oder vielmehr kontrollieren zu wollen. Meiner Ansicht nach ist es jedoch vor allem der Vorgang des Ordnens, der das Bedürfnis nach Kontrolle und Manipulation über die zusammengetragenen Objekte befriedigt. Ihm liegt das Streben nach Erschaffung eigener Ordnungssysteme zugrunde, deren Regelwerke vom sammelnden Subjekt entweder selbst hervorgebracht oder wissenschaftlich definiert werden. Denn jede Sammlung schließt die Gestaltung einer Ordnung mit ein, um Zusammenhang und Sinn zwischen den Einzelobjekten zu etablieren. Erst im Akt des Ordnens zeigen sich Sammlungen als »psychologische Funktion angesichts der Unwägbarkeiten der Welt«.13 Erst im Sortieren und Arrangieren wird ein Überblick über das Gesammelte möglich, in dem Relationen und Bezüge aufgezeigt und so Bedeutung und Sinn zugewiesen werden. Nach Wuggenig und Holder liegt dem Sammlungsvorgang darüber hinaus der Versuch zugrunde, die Zeit »als irreversible Größe und anthropologische Grenze sammel- und handhabbar zu machen«.14 Im Erstellen von Sammlungen manifestiert sich das Streben danach, den natürlichen zeitlichen Ablauf von Geburt und Tod zu unterbinden, indem Dinge vor ihrem Verfall gerettet und so vor ihrem Verschwinden und ihrer Vernichtung bewahrt werden. Dabei treten die Sammlungsobjekte in ihrer Verwahrung und Verfügbarhaltung als kulturelles und individuelles Gedächtnis hervor, sie fungieren als materiell gewordene Geschichte, indem sie auf ursprüngliche und vergangene Kontexte verweisen und so vergangene Epochen vergegenwärtigen oder als Träger 12

13 14

Wuggenig, Ulf u. Holder, Patricia: »Die Liebe zu Kunst. Zur Sozio-Logik des Sammelns«, in: von Bismarck, Eichele, Feldmann u.a. (Hg.): Interarchive, Köln 2002, S. 205-223, hier S. 210. Rusterholz, Sabine: Speicher fast voll – Sammeln und Ordnen in der Gegenwartskunst, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Solothurn 2008, S. 4-21, hier S. 4. Wuggenig u. Holder: »Die Liebe zu Kunst. Zur Sozio-Logik des Sammelns«, S. 209.

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Performative Sammlungen

persönlicher Erinnerungen des sammelnden Subjekts dienen. Sie sind »Erinnerungen in körperlicher Form«15 , wie Boris Groys es formuliert, die Vergangenheiten erfahrbar halten und vor ihrem Vergessen sichern. Ihr Verwahren ist damit zugleich in eine Ferne hin ausgerichtet, eine Aussicht, die impliziert, was möglicherweise in der Zukunft über unsere Vergangenheit und Gegenwart gewusst werden kann.16 Ebenso zukunftsgerichtet, aber vielmehr im Sinne einer phänomenologischen Eigengültigkeit verwendet Peter Strohschneider im Zuge seiner Betrachtungen wissenschaftlicher Sammlungsverfahren den Begriff der »Latenz«17 . Er bezieht ihn auf ein zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht zu erfassendes Potential, das den Dingen innewohnt und in gegenwärtiger Beforschung noch nicht gehoben, jedoch in die Zukunft hinein imaginiert werden kann. Unter dieser Prämisse verweisen die Objekte in ihrem gespeicherten und noch unerschlossenen Wissen auf einen zukünftigen Möglichkeitsraum neuer wissenschaftlicher Entdeckungen, um derentwillen sie verwahrt und für zukünftige Betrachtungen gesichert werden. Im Bemühen um das Verwahren wird für den Kunsttheoretiker Matthias Winzen nicht nur ein behütender, sondern ein zugleich angstvoller Antrieb erkennbar. Denn behütet werden sollen die Sammlungsobjekte, um sie vor dem Untergang zu retten. Gleichzeitig jedoch soll »die systematische Anhäufung von Objekten […] immer auch die symbolische Kontinuität des sammelnden »Subjekts« in die Zukunft hinein sichern«.18 Das Bedürfnis nach Herstellung von Konstanz liegt 15 16

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Groys: Logik der Sammlung, S. 47. Vgl. Rieger, Monika: »Anarchie im Archiv. Der Künstler als Sammler«, in: Ebelding, Knut u. Günzel, Stephan (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in der Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 253-269, hier S. 253. Strohschneider, Peter: »Faszination der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität«, in: Denkströme, Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 8 (2012), S. 9-26, hier S. 20. Winzen, Matthias: »Sammeln – so selbstverständlich, so paradox«, in: Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungskatalog Haus der Kulturen München; Nationalgalerie SMPK Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf; Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 10-19, hier S. 10.

1. Kapitel: Vom Sammeln

dem Sammlungsvorgang ebenso zugrunde wie die Verbildlichung von linear fortschreitender Zeit. Die Sammlung diene als »zeitüberwindender Spiegel dessen […], der sie anlegt und der selbst weniger dauerhaft ist als sein Spiegel«, führt Winzen dazu weiter aus und zitiert in diesem Zusammenhang den Künstler Christian Boltanski: »Wir alle […] sind mit der Geschichte unseres eigenen Grabsteins beschäftigt«.19 Es ist also die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, die die Sammler_innen antreibt, ihre Furcht davor, keine Spuren zu hinterlassen und zeichenlos aus der Welt zu verschwinden. Im Anlegen einer Sammlung offenbart sich nicht nur ein Bemühen, zusammengetragene Objekte vor ihrem zeitlichen Verfall zu sichern, sondern ebenso der Versuch, sich selbst in eine ungewisse Zukunft hinein zu manifestieren.

Sammlungsdifferenzierungen Gesammelt wird prinzipiell das, was sich äußerlich oder inhaltlich ähnlich ist; und Ähnliches, so Sommer, nennen wir gleich.20 Gesammelt wird damit stets Gleiches, Dinge also, die neben ihren Verschiedenheiten eine Eigenschaft besitzen, die sie mit anderen gleichartigen Dingen zusammenführen lässt. Sommer differenziert hierzu einerseits zwischen ökonomischen Sammlungen wie der Anhäufung von Geld oder dem Sammeln von Pilzen. Diesen Sammlungen liegt das einfache Ziel zugrunde, möglichst viel Gleichartiges einer Sorte zusammenzutragen. Dagegen stellt er das ästhetische Sammeln, eine Akkumulationsform, die weniger an der Anhäufung von Gleichartigem interessiert ist, sondern den Fokus auf die Betrachtung des Sammlungsmaterials lenkt, um Differentes im Gleichen erkennen zu können. Der eine hortet Gleiches, ungeachtet dessen, dass es verschieden ist. Der andere hebt Gleiches auf, gerade weil es verschieden ist. Ästhetisch – abgeleitet von griechischen aisthesis: »sinnliche Wahrnehmung« – nenne ich diese differenzierte Weise zum Sammeln, weil wir hier über 19 20

Ebd., S. 10. Vgl. Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, S. 26ff.

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Performative Sammlungen

die Gleichheit hinaus, die durch den Begriff bestimmt ist, auch noch auf eine Verschiedenheit achten, die sich in der Anschauung zeigt.21 Das Bestreben, Andersartiges im Gleichartigen zu entdecken, liegt allein ästhetischen Sammlungsverfahren zugrunde, im Gegensatz zum akkumulierenden Sammeln, dessen Ziel es ist, eine möglichst große Menge gleichartiger Dinge zusammenzuführen. Ästhetisches Sammeln unterscheidet sich gegenüber akkumulierendem Sammeln aber nicht nur dadurch, dass im Zusammenführen von Gleichem auf dessen Verschiedenheit geachtet wird, die sich in der Anschauung zeigt. Diesem eingehenden Betrachten liegt zugleich ein Verwahren zugrunde, das zunächst einmal zeitlich nicht begrenzt ist. Beim akkumulierenden Sammeln hingegen werden Pilze oder Geld zusammengetragen, um sie zu gegebener Zeit zu vernichten oder wieder in ihren natürlichen Kreislauf zurückzuführen. Sei es, indem die Pilze verspeist oder das Geld wieder ausgeben wird. Akkumulierendes Sammeln zielt somit immer auch auf die Nützlichkeit der zusammengetragenen Objekte, ihren Verbrauchswert, den sie trotz Überführung in eine Sammlung nicht verlieren. Demgegenüber zeichnet sich ästhetisches Sammeln dadurch aus, dass die Objekte aus dem alleinigen Grund des Selbstzwecks zusammengeführt werden, aus einem ästhetischen Interesse heraus, das den Dingen einen Tauschwert zuschreibt, ohne dass sie weiter einen Gebrauchswert besitzen. Denn ihre ursprüngliche Zweckmäßigkeit ist in der Überführung in eine Sammlung verloren gegangen. Sie werden, aus der Anstrengung des Nutzens entlassen und ihrem alltäglichen Gebrauch entzogen, nunmehr deswegen versammelt, um betrachtet oder gegebenenfalls mit anderen Objekten getauscht werden zu können.22 Die Gleichheit der Dinge, wie Sommer sie benennt, kann einerseits objektimmanent bestimmt sein, wie etwa in Sammlungen von gleichartigen Porzellantassen, Muscheln oder Kronkorken. Hier liegt die Ähnlichkeit offensichtlich in der Oberfläche, in der Materialität und Beschaffenheit der einzelnen Sammlungsobjekte. Andererseits vermag

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Ebd., S. 28 (H. i. O.). Vgl. Brandt: »Das Sammeln der Erkenntnis«, S. 25.

1. Kapitel: Vom Sammeln

das Gleiche erst in der Benennung durch die Sammler_innen selbst hervorzutreten, indem materiell verschiedenartige Objekte einem bestimmten Überbegriff untergeordnet werden, wie ›sonderbare Dinge‹, ›Urlaubserinnerungen‹ oder ›Dinge aus meiner Hosentasche‹. Hier zeigt sich die Gleichheit der Objekte erst innerhalb der Zuweisung zu einer bestimmten Kategorie. Im Zuge dieser Überlegungen halte ich es deshalb für notwendig, eine weitere, von mir gesetzte Differenzierung einzuführen, die zwischen homogenen und heterogenen Sammlungen unterscheidet. Homogene Sammlungen etwa benötigen keine äußeren Zuweisungen, ihr Material bezieht sich allein über ihre offensichtliche materiell gleiche Gestalt aufeinander. Ihre Präsentation vollzieht sich über ein Zusammenkommen von oberflächlich Gleichem, um das Individuelle im Ähnlichen aufzuzeigen. Dabei führt die oberflächliche Gleichheit der Objekte in ihrer Nebeneinanderstellung zur Differenzierung derselben, indem das, was vordergründig gleichartig war, in seiner Zusammenführung als unterschiedlich erfahrbar wird. Homogene Sammlungen schärfen so den Blick für das Einzigartige in der vermeintlichen Einheit. Heterogene Sammlungen hingegen erfordern immer eine Kontextualisierung von außen, um das Versammelte als Zusammengehöriges auszuweisen. Dabei werden divergierende Objekte unter einen bestimmen Überbegriff miteinander in Bezug gesetzt, wobei der Fokus der Betrachtung auf dem verbindenden Element zwischen andersartigen Objekten liegt. Heterogene Sammlungen zeigen das Ähnliche in der Vielheit, indem das, was vorher verschieden war, in seinem Zusammenkommen als Gemeinsames erfahrbar wird. Bezüglich ihrer Rezeption divergieren beide Sammlungsformen also diametral zueinander, eine Feststellung, die in Hinblick auf künstlerische Sammlungsformate noch von Belang sein wird. Bis hierher lässt sich festhalten, dass das Sammeln von Gleichem allen Sammlungsformen zugrunde liegt. Unterschiede zeigen sich im Zuge bisheriger Beobachtungen zunächst im Zusammenführen von äußerlich oder inhaltlich Gleichem. Zudem ist zwischen Sammlungen differenziert worden, die um ihrer Anschauung willen und zum Selbstzweck zusammengetragen werden und solchen, die

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Performative Sammlungen

aufgrund ökonomischer Nutzwerte akkumuliert werden. Reinhard Brandt schlägt nun eine weitere Unterscheidung vor, die er anhand des Sammelantriebs trifft. Hierfür benennt er zum einen das Sammeln aus einem Begehrungsvermögen heraus, das Objekte nach dem Gesichtspunkt des Nutzens zusammenträgt und so dem akkumulierenden Sammeln entspricht. Ferner führt er das Sammeln aus einem reinen Gefühl der Lust auf, wie etwa private Sammlungen von seltsam geformten Steinen, bunten Glaskaraffen oder seltenen Masken. Die dritte Form kennzeichnet für ihn ein Sammeln aus einem Erkenntnisvermögen heraus, das zu Sammlungen führt, die dem Erforschen der Wahrheit dienen wie Bibliotheken, wissenschaftliche Sammlungen, naturhistorische Museen oder Kunst- und Wunderkammern.23 Alle drei Sammlungstypen divergieren zusammengefasst wie folgt: Das pure Begehren akkumuliert blind, so Brandt, ihm geht es um die Anhäufung von Masse, im Gegensatz zum Sammeln aus Wohlgefallen, das sich für das Einzelne interessiert. Das Sammeln der Erkenntnis indes richtet sich auf beides, nämlich auf »das Individuelle als das Allgemeine«.24 Wissenschaftliches Erkenntnisinteresse zielt darauf, aus dem Besonderen ein Regelwerk abzuleiten, das für das Allgemeine zu gelten vermag. Im Gegensatz zu Sommer, der allein zwischen ästhetischen und ökonomischen Sammlungsverfahren unterscheidet, differenziert Brandt also weiter, indem er ästhetisches Sammeln noch einmal unterteilt in ein Sammeln aus Wohlgefallen und ein Sammeln, das von einem Erkenntnisinteresse hervorgebracht wird. Die von Brandt benannten Motivationen lassen sich allerdings nicht immer klar voneinander trennen beziehungsweise bleiben nicht unveränderlich. So kann – um nur ein Beispiel zu geben – eine Sammlung aus reinem Wohlgefallen heraus begonnen werden und sich im Laufe der Zeit hin zu einem Sammeln verschieben, das auf einem Erkenntnisinteresse beruht: Wie das Sammeln von Muscheln, die vormals aufgrund der Freude an unterschiedlichen Formen und Farbschattierungen zusammengetragen 23 24

Vgl. ebd., S. 23. Ebd., S. 29.

1. Kapitel: Vom Sammeln

wurden, im späteren Verlauf jedoch zu einem Sammeln aus Wissbegierde führt, indem sich in die Betrachtung aus reinem Wohlgefallen ein forschendes Interesse mischt. Dieses forschende Interesse vermag das Sammeln aufgrund eines reinen Wohlgefallens abzulösen. Oder aber beide Impulse bleiben gleichzeitig bestehen und führen – um in Brandts Kategoriensystem zu bleiben – zu einem interessevollen Wohlgefallen, aus dem heraus die Sammlung weiter fortgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund muss künstlerischen Sammlungsverfahren aus meiner Sicht ein besonderer Status zugewiesen werden, denn ihnen liegt bereits von Beginn an die Verknüpfung von Erkenntnisinteresse und Wohlgefallen an Form und Gestalt zugrunde. Ihr Sammlungsantrieb gestaltet sich sowohl über die ästhetische Erscheinung des Sammlungsmaterials als auch über einen Erkenntnisgewinn, die – über das reine Zusammentragen und wohlgestaltete Arrangieren der Objekte hinaus – beide in der Sammlungspräsentation angelegt sind. Gerade im Hinblick auf künstlerische Sammlungspräsentationen sei darauf hingewiesen, dass neben dem Zusammentragen von Objekten im materiellen Sinne ebenso ephemere Dinge wie etwa Erinnerungen, Düfte, Geräusche oder Sonnenflecken Teil einer Sammlung werden können. Um dieses schwer zu Fassende, Nicht-Dingliche festzuhalten und zu speichern bedarf es Trägermaterialien in Form von Fotopapier, Ton- und Videobändern, Duftstreifen oder Flakons. Auch wenn diese ephemeren Dinge auf materielle Medien angewiesen sind, um gesammelt zu werden, ist ihre Gestalt an sich weiter unstofflich beziehungsweise körperlos, ihr Zusammenkommen kann infolgedessen als immaterielle Sammlung bezeichnet werden. Neben der Fokussierung auf nicht-manifeste Sammlungsgegenstände unterscheiden sich immaterielle Sammlungen gegenüber materiellen Kollektionen in einem wesentlichen Punkt: Ihr Sammlungsmaterial wird erst im Vorgang des Sammelns hervorgebracht. Dieses Hervorbringen kann als ein performatives Verfahren verstanden werden, als ein Ereignis, bei dem Ephemeres materialisiert wird, um archiviert und damit wiederholt erfahrbar zu werden. Ein performatives Sammeln, das sich als spezifisches Verfahren in künstlerischen Akkumulationen wiederfindet und gleichzeitig die Grundstruktur

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jeder fotografischen Sammlung darstellt, wie am Beispiel der seriellen Fotografie noch verdeutlicht werden wird. Darüber hinaus wird sich zeigen, dass performatives Sammeln immer den Ausgangspunkt performativer Sammlungen bildet. Der Umkehrschluss ist jedoch keineswegs, dass jedwede Sammlung nicht-dinglicher Objekte als performativ bezeichnet werden kann. Es muss unterschieden werden zwischen einem Vorgang des performativen Sammelns und dem Endergebnis einer performativen Sammlung, die sich nicht zwangsläufig gegenseitig bedingen. Vielmehr ist eine Differenzierung zwischen Handlung und Resultat erforderlich, die nicht nur im Hinblick auf die Definition performativer Sammlungen notwendig erscheint, sondern ebenfalls maßgeblich für die grundlegende Bestimmung jeglicher Sammlungsform ist.

Nicht alles ist Sammlung Angesichts dessen lässt sich festhalten, dass der Akt des Sammelns in seinem Ergebnis nicht immer zwangsläufig zu einer Sammlung führt. Vielmehr müssen der Sammelvorgang selbst und die Sammlung als ein mögliches Resultat dieser Handlung getrennt voneinander betrachtet werden. Denn gesammelt wird ständig, zugleich sammeln sich immerfort Dinge an, trotzdem führen all diese Ereignisse und Handlungen nicht anstandslos zu Sammlungen. Auch dieser Text akkumuliert. Mehr noch, er erfüllt formal das, wovon er inhaltlich handelt: Er sammelt, während er vom Sammeln spricht. Kann man ihn deshalb sogleich als Sammlung bezeichnen? »Zur Verfertigung von Gedanken und diskursiven Erkenntnissen«, bemerkt Reinhard Brandt, benötigen wir eine »Sammlung von Gesichtspunkten oder topoi«, die inhaltlich geordnet und literarisch aufbereitet werden.25 Der Vorgang des Sammelns ist somit die Grundstruktur, aus der heraus sich jedweden Thematiken und Diskursen genähert wird, der Ausgangspunkt jeglicher Verhandlung von Inhalten. Vor 25

Ebd., S. 21.

1. Kapitel: Vom Sammeln

dem Hintergrund von Wissensgenerierung kann Sammeln daher als »zugleich gezieltes und kontingentes Resultat einer wissenschaftlichen und kulturellen Praxis« beschrieben werden und Forschen infolgedessen als ein »gezieltes systematisches Sammeln von Erkenntnissen«.26 Jeder tieferen Beschäftigung mit einem Sujet liegt der Akt des Sammelns zugrunde: Man sammelt Objekte, Bücher, Artikel, Meinungen und Gedanken, um sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, es zu erfassen, um seiner habhaft zu werden. Jetzt gilt es allerdings genau zu sein. Denn nur weil sich etwas sammelt oder gesammelt wird, führt sein Resultat nicht zwangsläufig zu einer Sammlung. Unter dieser Prämisse könnte jedwede Form von Text, jeder Vortrag und – viel banaler – jedes Gespräch als Sammlung verstanden werden. Denn auch ein gut gemeinter Rat an eine Freundin speist sich aus angesammelten Erfahrungen des eigenen Lebens. Unter solchen Bedingungen wäre der Begriff der Sammlung zweifellos obsolet, egalisiert und zur Nutzlosigkeit verdammt und das Ende dieser Überlegungen beschlossene Sache. Hinsichtlich des Resultats von Akkumulationsprozessen muss also prinzipiell zwischen Ansammlungen und Sammlungen unterschieden werden, ebenso wie der Zweck des Zusammentragens differenzierter betrachtet werden muss. Als konstitutive Eigenschaft schreiben Wuggenig und Holder daher der Sammlung – entgegen einer Ansammlung – ein »internes Organisationsprinzip« zu, eine »innere Thematik als primäre Motivation«.27 Voraussetzung für das Vorhandensein einer inneren Thematik ist – wie bereits beschrieben – ein sammelndes Subjekt, das die Objekte bewusst auswählt und zusammenträgt, um sie in neuen Bedeutungszusammenhängen anzuordnen. Wie aber verhält es sich mit Objektakkumulationen, deren Sammlungsobjekte nicht bewusst ausgewählt werden, obwohl ein handelndes

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Te Heesen, Anke u. Spary, E.C.: »Sammeln als Wissen«, in: dies. (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftliche Bedeutung, Göttingen 2002, S. 21-33, hier S. 7 u. 8. Wuggenig u. Holder: »Die Liebe zu Kunst. Zur Sozio-Logik des Sammelns«, S. 209.

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Performative Sammlungen

Subjekt zugegen ist? Die Versammlung von Dingen in der Hosentasche scheint mir hierfür ein recht anschauliches Beispiel. Denn diese Dinge stellen zunächst eine Ansammlung von Objekten dar, da sie weder bewusst ausgewählt noch um der Anschauung willen zusammengetragen werden. Ihre Versammlung in der Hosentasche ist vielmehr zufallsbedingt. Dazu werden sie nur kurzzeitig aus dem Verlauf ihres alltäglichen Gebrauchs herausgenommen, um an einem gemeinsamen Ort verwahrt zu werden; wie der Autoschlüssel, das Feuerzeug oder der Haargummi. Zu einer Sammlung werden sie erst im Moment ihres bleibenden Entzugs aus dem alltäglichen Gebrauch, in dem sie etwa in einen Setzkasten gelegt werden, um dauerhaft betrachtet werden zu können. Daraus folgt, dass eine Sammlung nicht allein ein handelndes Subjekt benötigt, das Dinge an einen gemeinsamen Ort zusammenträgt. Denn dieses Zusammentragen kann zufallsbedingt sein. Werden die Dinge aber ausgestellt und unter der Überschrift Dinge aus meiner Hosentasche präsentiert, kann durchaus von einer Sammlung gesprochen werden, obwohl die Auswahl nicht bewusst vollzogen wurde, sondern sich über Größe und Gebrauchswert zusammengefunden hat.28 Dinge müssen also nicht nur zusammengeführt, sondern auch dauerhaft verwahrt werden, um ihrer Anschauung willen. Bei niedergeschriebenen Gedanken in Form von Büchern oder Aufsätzen verhält es sich hinsichtlich der Frage, ob hier von einer Sammlungsform zu sprechen ist, etwas anders. Denn die angesammelten Informationen werden zwar aus ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, jedoch keineswegs ihrer Nützlichkeit beraubt, sondern vielmehr in neue Nützlichkeiten überführt, etwa Zitate anderer Autor_innen, die zur Bekräftigung eigener Thesen genutzt werden. Oder 28

Es gibt tatsächlich ein Projekt des Künstlers Karsten Bott mit dem Titel Hosentaschensammlung. Für diese Arbeit sammelte Bott auf Frankfurts Straßen Dinge wie Papierfetzen, Knöpfe, Schrauben, Haarspangen usw. auf und archivierte sie akribisch. Gesammelt werden durften nur Objekte, die in Form und Größe in seiner Hosentasche Platz finden konnten. Die Kollektion wurde in 6 Vitrinen – ordentlich nebeneinander gereiht und beschriftet – in der Kunsthalle Mainz als Teil der Werkausstellung Bottsʼ präsentiert. (Karsten Bott: Von jedem Eins, Kunsthalle Mainz 2011)

1. Kapitel: Vom Sammeln

aber indem fremdes Material mit eigenen Überlegungen verwoben wird, um, in andere Worte gefasst, weitergeführt zu werden. Zentraler Unterschied zum hier verwendeten Sammlungsbegriff ist, dass das angesammelte Textmaterial in einen neuen Text eingebettet wird, also in etwas Neuem aufgeht. Es verschwindet in dem, was aus ihm besteht, nämlich dem Werk, zu dessen Erzeugung es verwendet wurde.29 Nun lässt sich argumentieren, dass jegliches Sammeln sein Ursprungsmaterial verändert, indem es, aus originären Zusammenhängen herausgelöst, neu kontextualisiert zur Anschauung gebracht wird. Dem halte ich entgegen, dass Texte ihr gesammeltes Material nicht singularisieren, um es nebeneinander zu stellen und zu vergleichen. Vielmehr unterziehen sie es einer Transformation, deren Ziel es ist, eigene Gedankengänge in den Vordergrund zu stellen. Allein um der Anschauung willen werden auch keine Anthologien erstellt, obwohl diese Form unter dem Begriff der Textsammlung firmiert. Es lässt sich daher festhalten, dass Aufsätzen, Büchern oder Artikeln zwar der Akt des Sammelns vorangestellt ist, diese Handlung in ihrem Ergebnis aber keineswegs zu einer Sammlung führt. In diesem Zusammenhang gilt es daran zu erinnern, dass über die Kategorien der Ansammlung und Sammlung hinaus eine weitere Differenzierung getroffen wurde, die nach Sommer zwischen ökonomischen und ästhetischen Sammlungen unterscheidet. Allein ästhetische Sammlungen, deren Objekte ihrer alltäglichen Nützlichkeit entzogen wurden, um sie, aus wissenschaftlichem Interesse oder aus einem reinen Wohlgefallen heraus, für das Auge auszustellen, gilt es zu generell künstlerischen und explizit performativen Sammlungen in Bezug zu setzen.30

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Vgl. Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, S. 39. Vgl. Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, S. 14.

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2. Kapitel: Paradoxien

Die Notwendigkeit, den Vorgang des Sammelns sowie die Sammlung selbst zu spezifizieren, hat in meinen bisherigen Ausführungen immer wieder zu Dichotomien geführt, die es voneinander abzugrenzen galt: etwa Ansammlungen gegenüber Sammlungen, homogene gegenüber heterogenen Sammlungen oder aber das ökonomische gegenüber einem ästhetischen Sammeln. Dichotomien zeigen sich nun gleichwohl und im engeren Sinne als Paradoxien im Akt des Sammelns selbst, und es lohnt sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen, da gerade künstlerische Sammlungsformate diese nutzen, um sie hervorzuheben, zu unterlaufen oder zu kolportieren.

Das Besondere und das Allgemeine Ein erstes Paradox zeichnet sich bereits im Vorgang der Selektion möglicher Sammlungsobjekte ab. Denn einerseits wird das ausgewählte Objekt gegenüber anderen bevorzugt, für sammelwürdig befunden und damit singularisiert und zugleich sakralisiert.1 Als Repräsentant seiner Gattung wird ihm eine Stellvertreterfunktion zugewiesen, die es vereinzelt, während ihm ein neuer Bedeutungsraum zugewiesen wird.2 Es 1 2

Vgl. Belk, Russel W.: Collecting in a Consumer Society, Routledge 1995, S. 67, 94. In der Umwandlung von Dingen hin zu Sammlungsobjekten bescheinigt der Soziologe Alois Hahn den Sammler_innen eine Art »Midasfähigkeit«, da sie den Objekten einen neuen Status zuzuweisen vermögen. Für ihn nimmt das private wie auch institutionelle Sammeln zudem das vorweg, was die Konzept-

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Performative Sammlungen

wird zu einem Semiophor, wie Krzysztof Pomian über den Ursprung des Museums schreibt, zu einem Bedeutungsträger, bestehend »aus einem Träger und Zeichen, die darauf angebracht sind«.3 So verweist es auf mehr als seine bloße Funktionalität und Materialität, sondern zudem auf vergangene Epochen, historische Personen oder kulturelle und gesellschaftliche Rituale. Andererseits wird ihm die »Einzigartigkeit, um derentwillen es gesammelt wird […] sammelnd genommen«4 , indem es mit anderen außergewöhnlichen Sammlungsexemplaren gleichgesetzt wird, wie Matthias Winzen feststellt. Als »Fall unter Fällen«5 wird sein Singuläres in der Nebeneinanderstellung mit anderem Singulären nivelliert. Der von Winzen skizzierte Weg einer Sammlungsbewegung, der vom Besonderen zum Allgemeinen führt, beschreibt jedoch lediglich die Entwicklung von der Selektion eines Sammlungsobjekts hin zu seiner Überführung in eine Sammlung. Außer Acht gelassen ist die Rezeption des Sammlungsmaterials, die wiederum das Individuelle in der Gleichartigkeit zu erschließen vermag. Nach meinem Empfinden muss der Sammlungsverlauf deshalb um eine (Rück-)Bewegung erweitert werden, die in der Betrachtung des Sammlungsmaterials vom Allgemeinen zum Besonderen führt. Wenn man nun das Besondere mit dem Begriff des Differenten gleichsetzt und die Bezeichnung des Allgemeinen dazu auf ein Ähnliches verweist, dann lässt sich die Bewegung des Sammlungsobjekts vom Besonderen zum Allgemeinen noch einmal ganz anders beschreiben. Weniger nämlich als ein linearer Verlauf, der von ei-

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kunst mit ihren objects trouvés bzw. Ready-mades – wie etwa Marcel Duchampsʼ Fontaine- als künstlerisches Verfahren etabliert hat: Ästhetische Transformationsprozesse, die trivialen Objekten durch bloßes Positionieren innerhalb eines Ausstellungskontextes neue Weihen zuteilwerden lassen. Das, was für wert befunden wird, gesammelt zu werden, kann nun – als ein Besonderes gekennzeichnet – unter neuer Fokussierung betrachtet werden. (Vgl. Hahn, Alois: »Soziologie des Sammlers«, in: Sammeln – Kulturtat oder Marotte, Trierer Beiträge. Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, Tier 1984, S. 11-19). Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, S. 95. Winzen: »Sammeln – so selbstverständlich, so paradox«, S. 12. Ebd., S. 12.

2. Kapitel: Paradoxien

ner Einzigartigkeit zum Verallgemeinerten verläuft, sondern vielmehr als ein beständiges Oszillieren des Sammlungsmaterials zwischen Differenz und Wiederholung.6 Eine sich wiederholende und zugleich entgegengesetzte Bewegung also, die immer beides umfasst, das Individuelle im Repetitiven und umgekehrt, die Wiederholung im Singulären.

Bewahrende Zerstörung Ein weiteres Paradoxon zeigt sich in der verwahrenden und zugleich vernichtenden Wirkung, die jede Sammlung auf ihre Objekte ausübt. Denn Dinge werden gesammelt, um sie vor ihrem Verschwinden zu retten. Dafür werden sie an einen sicheren Ort gebracht, um sie vor ihrer natürlichen Zersetzung zu schützen. Gleichzeitig werden die Objekte in der Entnahme aus ihren ursprünglichen Bedeutungszusammenhängen entkontextualisiert und damit dysfunktionalisiert. Als bewahrende Zerstörung bezeichnet Matthias Winzen diesen Widerspruch und zieht als Beispiel archäologische Bergungen heran, die er als Manifestation des Verlusts beschreibt, als wissenschaftlich dokumentierte Zerstörung, die sich an der Ausgrabung geschichtlich relevanter Objekte vollzieht.7 In der Vernichtung des originären Kontexts erweist sich Winzens Antonym der bewahrenden Zerstörung als notwendiges Übel, das von Sammler_innen willentlich in Kauf genommen wird, zugunsten eines Speicherns und Konservierens, zugunsten einer Dokumentierbarkeit des Einzelobjekts. Für Alma-Elisa Kittner verbindet sich im Verwahren der Objekte ebenso deren Mumifizierung, da die Dinge als Sammlungsobjekte konserviert und infolgedessen stillgelegt werden.8 Wie etwa Kollektionen präparierter Schmetterlinge, die, aufgespießt auf Nadeln, dicht an dicht aneinandergereiht und angeordnet in strengen Taxonomien, 6 7 8

Vgl. hierzu Wuggenig u. Holder: »Die Liebe zu Kunst. Zur Sozio-Logik des Sammelns«, S. 211. Winzen: »Sammeln – so selbstverständlich, so paradox«, S. 12. Vgl. Kittner, Alma-Elisa: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009, S. 189.

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in naturkundlichen Museen vorzufinden sind. Hier wird der konkrete Tod eines Lebewesens zugunsten seiner Verwandlung in ein Sammlungsobjekt als Transformationsprozess deutlich, der sich – im übertragenen Sinne – an jeglichem Sammlungsmaterial vollzieht. Die Sammler_innen allerdings, so Kittner unter Berufung auf Walter Benjamin, erfahren die Einordnung der Dinge in ihre Sammlung gleichwohl als deren Wiedergeburt. Denn im Zusammentreffen mit dem sammelnden Subjekt sowie der Einordung zu seinesgleichen widerfährt dem Ding sein eigentliches Schicksal: es wird seiner wahren Berufung zugeführt und somit wieder- beziehungsweise neu belebt.9 Demnach durchläuft das Sammlungsobjekt mehrere disparate Prozesse der Veränderung, die in Parallelität zueinander stattfinden. In seiner Entnahme aus ursprünglichen Bedeutungszusammenhängen wird sowohl die originäre Umgebung als auch das ursprüngliche Objekt selbst zerstört oder zumindest beschädigt. Ebenso wird es in der Überführung in eine Sammlung vor seinem natürlichen Verfall gerettet, in dem es verwahrt und konserviert wird. Seine Konservierung jedoch führt in gleicher Weise zu seiner Mumifizierung: Aus seinen Kontexten gerissen und seiner ursprünglicher Funktion beraubt stirbt es ab, um in einen passiv machenden und abtötenden Sog entlassen zu werden, der von allen Sammlungen und Archiven auszugehen vermag.10 Aus der Perspektive des sammelnden Subjekts dagegen wird es wiedergeboren, um – in all seiner wiedergewonnenen Reinheit hervorgehoben und in die Kollektion miteingefügt – seiner wahren Bestimmung Folge zu leisten. Ihm wird eine Wiedererweckung zuteil, die der Archäologe und Kunstliebhaber Georges Salles Ende der 1930er Jahre treffend und wie folgt beschreibt: Mit väterlichem Blick zeigt er uns das zuletzt Hinzugekommene, eine hellenistische Bronze: ein winziger bärtiger Athlet in vollem Lauf; wirklich er läuft so beherzt, dass man voll Rührung unwillkürlich 9

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Vgl. Benjamin, Walter: »Ich räume meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln«, in: ders.: Gesammelte Schriften Band IV,1 Kleine Prosa Baudelaire Übertragungen, Frankfurt 1978, S. 388-396, hier S. 389. Vgl. Winzen: »Sammeln – so selbstverständlich, so paradox«, S. 12 u. 13.

2. Kapitel: Paradoxien

denkt, dieser tapfere Kerl habe dank einem glücklichen Zufall endlich sein Ziel erreicht. »Das konnte man nicht dort lassen«, schließt liebenswürdig sein Gönner. Wie viele ähnliche Gegenstände werden, gleich welches Schicksal sie eines Tages erwartet, noch lange in der Sonne verweilen, weil sein seherisches Auge sie ausgewählt hat.11 Neben dem beglückenden Moment, auserwählt und neuen Weihen zugeführt zu werden, muss an dieser Stelle zugleich auf die gewaltsame Komponente hingewiesen werden, die jeglichem Vorgang des Sammelns und Ordnens inhärent ist. Im Transformationsprozess hin zum Sammlungsobjekt tritt sie dabei besonders in Kollektionen von vormals Lebendigem wie ausgestopften oder präparierten Tieren hervor: indem Individuen um ihrer Anschauung willen objektiviert werden. Am deutlichsten zeigt sich dieser Aspekt in anthropologischen Sammlungspräsentationen, die sich auf Völkerschauen oder Menschenteile fokussiert hatten, um vor dem Hintergrund eines wissenschaftlichen Forscherblicks Subjekte in Objekte zu verwandeln.12 Dieser übergriffige, rigide, ja brutale Moment gegenüber jeglichem Sammlungsmaterial ist aber nicht nur in der Umwandlung zum Sammlungsobjekt verankert, es haftet zugleich allen Einordnungsverfahren in ihren Auf- und Abwertungen, Fixierungen und Benennungen an.13 Der Vorgang des Sammelns und Ordnens intendiert also immer auch eine Degradierung des Sammlungsobjekts, sei es hinsichtlich seiner Reduzierung auf seine Rolle als Anschauungsobjekt oder aber in Bezug auf subjektive Ordnungssystematiken, die es in klassifikatorischen Rastern einzuengen und festzuschreiben versuchen.

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Salles, Georges: »Die Sammlung«, in: ders.: Der Blick, Berlin 2001, S. 35-54, hier S. 53. Zur besonderen Problematik anthropologischer völkerkundlicher Sammlungen siehe auch: Berner, Hoffmann, Lange (Hg.): Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011. Vgl. Winzen: »Sammeln – so selbstverständlich, so paradox«, S. 12.

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Parität und Klassifikation Sammlungen müssen jedoch nicht nur als klassifizierende, sondern ebenso als paritätische Ordnungs- und Präsentationssysteme verstanden werden. Paritätisch deshalb, weil ihre Anordnungen auf der einen Seite ein gleichberechtigtes Nebeneinanderstellen von Dingen etablieren: Um zu vergleichen und auf Differenzen hin überprüft werden zu können, müssen die Dinge unter gleichen Voraussetzungen zur Anschauung gebracht werden. Diese Darstellungsform wird häufig in homogenen Sammlungen sichtbar, deren Augenmerk auf dem Aspekt einer differenzierten Betrachtung von äußerlich Ähnlichem beruht, etwa in medizinischen oder geowissenschaftlichen Sammlungen. Klassifizierend sind sie auf der anderen Seite, weil Ordnungssysteme immer auch Einordungssysteme bedeuten und damit Hierarchien zwischen den Sammlungsobjekten aufstellen, um sie bezüglich ihrer Wichtigkeit und Wertigkeit zu sortieren, um sie kategorisieren zu können. Deutlich spiegeln taxonomische Anordnungen die Hierarchisierung ihrer Sammlungsobjekte wider, neben ihnen können ebenso räumliche Strukturen oder Perspektivinszenierungen Klassifikationen festlegen. Ordnungs- und Präsentationssysteme sind dabei nicht unabhängig von bestehenden Gesellschaftsdiskursen zu betrachten, sie sind Systematisierungen des Wissens, die sich an übergeordneten Denksystemen orientieren und diese reflektieren und stützen.14 Denn erst die Benennungen von Dingen und das Standardisieren dieser Benennungen haben zu den »Kategoriensystemen geführt, mit denen menschliche Gesellschaften sich selbst und ihr Weltbild ordnen«.15 Klassische Sammlungspräsentationen sind demnach maßgeblich an klassifizierenden gesell-

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15

Baur, Joachim: »Messy Museums. Über Ordnung und Perspektiven des Museums«, in: Reinhard Johler u.a. (Hg.): Kultur_Kultur. Denken, Forschen, Darstellen, Münster 2013, S. 369-377, hier S. 371. Stagl: »Homo Collector: Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns«, S. 43.

2. Kapitel: Paradoxien

schaftlichen Strukturen beteiligt, indem sie diese erst hervorbringen beziehungsweise bestätigen. Die Gleichzeitigkeit von Parität und Klassifikation zeugt zudem von zwei unterschiedlichen Bedürfnissen, die an die Sammlung herangetragen werden. Einerseits zeigen sie sich im Streben danach, Dinge objektiv miteinander vergleichen zu können, um Ähnlichkeiten und Unterschiede hervorzuheben und erforschen zu können. All das setzt eine paritätische und kongruente Anordnung des Sammlungsmaterials voraus. Andererseits äußern sie sich in einem Verlangen nach Einordnung und Systematisierungen der äußeren Welt, das sich in taxonomischen Ordnungssystemen niederschlägt, zu denen es sich zu verorten und zu positionieren gilt.

Nähe und Ferne Für den Mediävisten Peter Strohschneider konstituiert jede Sammlung für ihre Objekte eine zweite Umgebung, »deren frühere Horizonte durch einen späteren epistemischen Ordnungszusammenhang«16 substituiert werden. Dabei muss diese Substitution weniger im Sinne eines Austauschs verstanden werden, vielmehr vollzieht sich hier eine Überlagerung von zwei verschiedenen Verweissystemen. Denn trotz Einbettung in neue Bedeutungskontexte zeugen die Objekte immer noch von Spuren ihres ursprünglichen Zusammenhangs. Über ihre neue Binnenbedeutung hinaus, wie Justin Stagl diese zweite Umgebung der Objekte bezeichnet, repräsentieren die Sammlungsobjekte eben auch jenen Ausschnitt der Welt, dem sie ursprünglich entnommen worden sind.17 Ihr neuer Bezugsrahmen ersetzt nicht die Verweise auf ihre Herkunft und Funktion, den Objekten ist vielmehr

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Strohschneider, Peter: »Faszination der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität«, in: Denkströme, Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 8 (2012), S. 9-26, hier S. 20. Vgl. Stagl: »Homo Collector: Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns«, S. 41.

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ein abwesendes und zugleich gegenwärtiges, originäres Schimmern zwischen Nähe und Ferne immanent. Etwas bleibt an den Dingen also haften, wie Strohschneider weiter ausführt, »Momente einer früheren, fernen >Welt< […] die sie als abwesende in eigentümlicher Weise in der Sammlung gegenwärtig machen und zur Geltung bringen«.18 Ein Nachglühen wohnt ihnen inne, das die vorangegangenen Funktionsbeziehungen aus der Ferne reliktartig aufstrahlen lässt – obwohl den Objekten, in anderen Sinnzusammenhängen geordnet, neue Bedeutungen zugewiesen werden.

Offene und geschlossene Systeme. Leben und Tod Sammlungen stellen in der Gegenwart abgeschlossene und zugleich in die Zukunft hinein offene Systeme dar. Geschlossen, weil sie in ihrer Präsentation ein bis zu diesem Zeitpunkt Angesammeltes zeigen. Offen, weil sie ebenso auf die bis dahin noch nicht gesammelten Objekte verweisen. Denn nur selten können Sammlungen jemals zu Ende geführt werden. Eine vermeintliche Ausnahme bilden industriell und in einer bestimmten Anzahl und Variation hergestellte Objekte wie beispielsweise Figurenreihen aus Überraschungseiern oder Serien von Matchbox-Autotypen. Wobei auch diese Sammlungen ständig optimiert werden können, selbst wenn alle Exemplare einer Serie versammelt wurden: Einzelne Exponate können durch besser erhaltene ausgetauscht werden, Auswahlkriterien können immer kleinteiliger verfasst werden, indem etwa nur Objekte aus einem bestimmten Herstellungsjahr zugelassen werden. Alle anderen Sammlungsmaterialien, seien es Naturalia, Mirabilia, Artefacta, Scientifica, Antiques oder Exotica, – um in den Klassifikationen der Kunst- und Wunderkammern der Renaissance zu bleiben – weisen in ihrem Zusammenkommen deutlich auf das noch nicht gesammelte, das nicht entdeckte letzte Sammlungsobjekt hin. Dieses Unabgeschlossene, das, was die Kollektion unvollendet erscheinen lässt, hält nicht nur die Sammlung, sondern 18

Strohschneider: »Faszination der Dinge«, S. 20.

2. Kapitel: Paradoxien

gleichermaßen das sammelnde Subjekt lebendig. Denn ein möglicher Abschluss würde die Sammler_innen der selbst zugewiesenen Aufgabe berauben. Die Vollendung käme einer Stilllegung gleich, während sich die endgültige Mumifizierung der einzelnen Sammlungsobjekte wie ein Schleier über die gesamte Kollektion legen würde. Durch das fehlende letzte Objekt, so Baudrillard in diesem Zusammenhang, werde das Subjekt selbst aufgerüttelt und wachgehalten. Die Unverfügbarkeit über das noch nicht Gesammelte, ebenso wie die Lücke, die damit markiert wird, erhöht für ihn die Begehrlichkeit, die das Sammeln antreibt. Im Gegenzug dazu bedeutet das »Vorhandensein des abschließenden Stückes im Grunde auch das Ende des Sammlers«.19 Baudrillard zufolge sublimieren Sammler_innen im letzten fehlenden Objekt geradezu die Unvermeidbarkeit des eigenen Todes. Die Sammlung nicht zu beenden, die Vermeidung eines Abschlusses, »das[s] die endgültige Elision der Wirklichkeit signifizieren würde«20 , sei dabei und trotz aller Begehrlichkeiten und zugunsten eines Mangels als gesetzte Unterbrechung zu verstehen, die stellvertretend das Unvermeidliche verzögere oder gar verhindere. Die Sammlung in ihrer Ambiguität zwischen Offenhaltung und Vollendung, so Boris Groys hierzu, ist ein »Ort des Todes wie auch der Ort, an dem man versucht, den Tod zu überwinden«.21 Weniger vom Tode gekennzeichnet sieht der Kunsthistoriker Harald Tesan das sammelnde Subjekt in seiner Sehnsucht nach Komplettierung der Kollektion und gleichzeitiger Erhaltung ihrer Unvollständigkeit als eine Art Glücks-Junkie. Ihm zufolge befindet sich »das Sammlerhirn im dauerstimulierenden Zustand«, das auf eine Perfektion aus ist, die nie erreicht werden kann. Vor dem Hintergrund der Neurowissenschaften, die Glück als trainierbare neuronale Stimulation begreift und von der Frequenz eines neu Erlebten und Erlernten abhängt, zeigt sich für ihn im Sammeln ein »lustvolles Über-sichHinauswachsen«, während das »Gehirn laufend »Kicks« vom Lernen

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Baudrillard: Das System der Dinge, S. 118. Ebd., S. 119. Groys: Logik der Sammlung, S. 44.

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aus Symbolzusammenhängen bezieht«.22 Die Selbst(über)forderung im Streben nach Vollständigkeit hält die Synapsen ihm zufolge ebenso in Schwung, wie die Wissbegierde und Forschungslust nach bisher noch Unentdecktem. Die von Tesan skizzierten Glücksgefühle entsprechen der von Baudrillard formulierten, stetigen Aufrüttelung des sammelnden Subjekts durch das Begehren nach dem letzten fehlenden Objekt. Das anhaltende weil unerfüllte Verlangen, das über ein stetiges Jagdfieber immer weiter in Gang gehalten wird, fordert und stimuliert die Sammler_innen. Zudem wird in der symbolischen Kontrolle über den Abschluss des eigenen Sammlungsvorgangs mikrokosmische Allmächtigkeit simuliert, die die Unabsehbarkeit und Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Endlichkeit sublimiert. Noch dazu markiert die stetige Aneinanderreihung weiterer Sammlungsobjekte eine zeitliche Kontingenz, die stellvertretend für Kontinuität des eigenen Lebens zu stehen vermag.

Das Singuläre und das Kollektive Sammlungen präsentieren sich als ein Ganzes und zugleich als ein Zusammensein von Vielem. Ihre Gesamtgestalt (die Collectio) überdeckt ihre Einzelteile (die Collecta) nicht, vielmehr verbleibt das Zusammenkommen der Sammlungsobjekte als das, was es ist, ein Vieles, das sich als gegliedertes Ganzes und zugleich als Einheit zeigt. Denn auch »im Falle ihrer innigsten Verknüpfung und Verflechtung«, so Manfred Sommer hierzu, »sind sie noch immer für sich bestehende individuelle Objekte oder müssen sich doch wenigstens als solche betrachten lassen […]«.23 Verstünde man die Collectio nun als Werk, so Sommer weiter, als etwas, was nach einem Zusammenkommen von Vielem zu einem

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Tesan, Harald: »Vom Sammeln – Gesammelte Aspekte einer Kulturtechnik«, in: Strobel, Matthias u. Dippel, Andrea (Hg.): Die Kunst des Sammelns. Phänomene des Ordnens, Archivierens und Präsentierens, Nürnberg 2011, S. 11-20, hier S. 16. Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, S. 200.

2. Kapitel: Paradoxien

Ganzen würde, müsste keine weitere Zusatzleistung erbracht werden, um dieses zu generieren. Das Zusammenkommen von Vielem führt seiner Ansicht nach von selbst zu einem »Sich-bilden einer neuen Sache, eben einer Sammlung, etwas, das sich von selbst ergibt, sobald die Vielen einander nur nahe genug sind«.24 In diesem Punkt gilt es Sommer zu widersprechen, denn hinsichtlich der vorangegangenen Ausführungen über die Wesensmerkmale einer Sammlung reicht es nicht, dass Vieles nur nahe genug beieinander ist, um als Sammlung sichtbar zu werden. Zweifellos bildet sich etwas Neues, wenn sich eine Vielzahl an einem Ort versammelt, um in seinem Zusammensein als Gesamtheit eine neue Gestalt anzunehmen. Meiner Ansicht nach muss diese neue Gestalt jedoch nicht zwangsläufig als Sammlung erkannt werden, sondern kann gleichfalls als Ansammlung oder Versammlung von Einzelteilen verstanden werden. Um aber das Zusammenfinden von Vielem als Sammlung zu erfahren, bedarf es einer Ordnung, die – sei es aus einer inneren Struktur heraus oder sichtbar in der äußeren Anordnung – die Dinge miteinander verbindet und sie, über ihr bloßes Zusammensein hinaus, in Bezug zueinander setzt. Dabei eröffnen sich neue Bedeutungszuweisungen nicht nur allein über die Verortung als Sammlungsmaterial selbst, sondern vielmehr über die syntagmatischen Beziehungen der Dinge untereinander, die sie ins Verhältnis zueinander setzen.25 Es ist demnach immer die Ordnung, die als Form die Sammlung hervorbringt. Sie muss zugegen sein, um die Objektakkumulation nicht als Sammelsurium zu verkennen. Es lohnt sich also, im Folgenden einen dezidierteren Blick auf den Akt des Ordnens zu richten.

24 25

Ebd., S. 200. Vgl. Bal, Mieke: »Vielsagende Objekte. Das Sammeln aus narrativer Perspektive«, in: dies.: Kulturanalyse, Frankfurt a.M. 2002, S. 117-145, hier S. 139.

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3. Kapitel: Vom Ordnen

Angesichts meiner vorangegangenen Ausführungen zeichnet sich ab, dass der Ordnungsvorgang im Hinblick auf die Fokussierung des Sammlungsbegriffs eine substanzielle Rolle einnimmt. Seine elementare Bedeutung möchte ich zunächst anhand eines linguistischen Sinnbildes veranschaulichen. Denn die Wortfolge Sammeln und Ordnen ähnelt der rhetorischen Stilfigur des Hendiadyions. Diese Figur bezeichnet einen komplexen Begriff, der durch zwei verschiedenartige Worte gebildet wird, welche, mit der Konjunktion und miteinander verbunden sowie eher attributiv verknüpft, auf eine übergeordnete Bedeutung hinweist. Die Wortfolge Sammeln und Ordnen kommt der Zuschreibung eines Hendiadyions deshalb sehr nahe, weil ihre Kombination auf den Begriff der Sammlung hindeutet. Wie bereits beschrieben, führt der alleinige Vorgang des Sammelns in seinem Resultat nicht automatisch zu einer Sammlung. Liegt der Objektakkumulation allerdings ein Ordnungssystem zugrunde, eine innere Thematik als übergeordnetes System, kann durchaus von einer Sammlung gesprochen werden. Die Vorgänge des Sammelns und des Ordnens müssen folglich als Handlungen zusammenfallen, um ein Zusammenkommen von Vielem als Sammlung auszuweisen. Ein weiteres Beispiel für die Relevanz von Ordnungsvorgängen, das als Allegorie bisher vorwiegend in sozial- und kulturwissenschaftlichen Kontexten in Bezug auf Gedächtnis und Erinnerung verwandt wurde, ist die Legende von Simonides von Keos. In ihrem Kern beruht sie auf Simonidesʼ Erkenntnis »dass es vor allem die Anordnung der Dinge

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Performative Sammlungen

sei, die zur Erhellung der Erinnerung beitrüge«.1 Seiner Feststellung liegt die Erzählung vom Ursprung der antiken Mnemotechnik zugrunde, Ausgangspunkt ist eine Tragödie: Während eines festlichen Mahls stürzt plötzlich das Dach des Hauses über der Tischgesellschaft zusammen und begräbt alle Anwesenden unter sich. Simonides, durch Zufall einziger Überlebender dieses Unglücks, kann anhand der von ihm erinnerten Sitzordnung die Leichen zuordnen und identifizieren. Dabei vermag er das Vergangene nur zu rekonstruieren, weil für ihn Unverbundenes und Singuläres innerhalb eines Ordnungssystems als Zusammengehöriges erfahrbar wird. Es ist eben die Ordnung, die Akkumulationen Sinn verleiht, sie lesbar macht oder im Fall von Simonides erst erinnerbar. Folglich ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Vorgänge des Sammelns und Ordnens mit narrativen Verfahrensweisen in Verbindung gebracht werden, da ihre Methoden des Auswählens, Kombinierens oder Verdichtens explizit an rhetorisch-poetische Strategien erinnern.2 Die Literaturtheoretikerin Mieke Bal vergleicht den Akt des Sammelns z.B. mit narrativen Prozessen, da in beiden Objekte, subjektives Handlungsvermögen und Konfrontationen als Ereignisse zusammenkommen, die in ihrem Resultat zu einer Erzählung führen. Ihr zufolge kreiert das sammelnde Subjekt in der systematischen Aneinanderreihung von Einzelobjekten gleichfalls eine Semiotik der Erzählung, die – ähnlich narrativen Praktiken – Identität, Historisches und Situationen verhandelt und die Sammler_innen zu Akteur_innen der Erzählungen werden lässt.3 Naheliegende Beispiele hierfür sind Erzählstrukturen, wie sie Alma-Elisa Kittner im Zusammenhang mit autobiographischen Sammlungsverfahren untersucht. Subjektive Erfahrungen werden hier

1

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Siegmund, Gerald: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas, Tübingen 1996, S. 62. Zitiert nach Haverkamp, Anselm: »Auswendigkeit: Das Gedächtnis der Rhetorik«, in: Haverkamp, Anselm u. Lachenmann, Renate (Hg.) Gedächtniskunst. Raum-Bild-Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt 1991, S. 25-52, hier S. 26. Vgl. Kittner: Visuelle Autobiographien, S. 198. Vgl. Bal: »Vielsagende Objekte«, S. 122ff.

3. Kapitel: Vom Ordnen

in sinnvolle Zusammenhänge überführt, indem selektiert, zusammengestellt und neu geordnet wird, um Vergangenheit (re-)konstruieren zu können. Dieses besondere Format künstlerischer Akkumulationsverfahren gilt es zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer zu fokussieren.

Das ordnende Subjekt Im Zuge aller bisherigen Überlegungen über die besondere Rolle des Ordnens lässt sich festhalten, dass eine Sammlung nicht nur bezüglich ihres akkumulierenden, sondern immer auch im Hinblick auf ihr ordnendes Subjekt betrachtet werden muss. Denn neben der individuellen Auswahl zusammengetragener Objekte schreiben sich die Sammler_innen ebenso mit der Hervorbringung eigener Regelwerke in die Kollektion mit ein. Ordnungsverfahren privater Bücherregale, in denen individuelle Anordnungssystematiken unterschiedlichster Ausführungen zutage treten, geben dafür ein gutes Beispiel. Denn hier kann entweder klassisch alphabetisch, nach Verlagen, Kontinenten und Ländern, Schriftsteller_innen, Erscheinungsdatum, Sprachen oder getrennt in Belletristik, Theorie und Bildbänden sortiert werden. Manche ordnen allein nach einem einzigen Merkmal, andere wiederum abstufend nach diversen Untersortierungssystemen. Allein oder innerhalb dessen ergeben sich inhaltliche Zuordnungen: Bücher werden nach Themenkomplexen zusammengefasst, in literarische Perioden oder Reihen eingeteilt.4 Autor_innen werden zusammengestellt oder entschieden nicht nebeneinander platziert. Einige ordnen ihre Bücher allein im Hinblick auf ihre Verwertung und weniger in Bezug auf ihren Inhalt, indem sich die Zusammenstellung aus der Reihenfolge der gelesenen Bücher ergibt. Wieder andere stellen ihre Bücher lediglich aus, um ihr Wissen zu repräsentieren, woraus sich gegebenenfalls eine 4

Vgl. Perec, Georges: »Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise, seine Bücher zu ordnen«, in: ders.: Denken/Ordnen, Zürich und Berlin 2014, S. 29-39, hier S. 36.

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Sortierung ergibt, die sich nach den Blickachsen möglicher Betrachter_innen richtet. Es soll sogar Leser_innen geben, die ihre Bücher nach Farben und Formaten sortieren, weil das wilde Gemisch heterogener Buchgestaltung ihre Augen beleidigt. In der Praxis, so Georges Perec in seinem Text mit dem schönen Titel Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise, seine Bücher zu ordnen, sind diese Einteilungsmuster keineswegs für sich allein zufriedenstellend, immer werden Bibliotheken über die Kombination mehrerer Kategorien geordnet.5 Innerhalb dieser individuellen Arrangements treten die Sammler_innen hinter ihren Kollektionen hervor und zeigen sich in der Generierung eigener Regelwerke. Neben dem sammelnden Subjekt, das sich mit seiner persönlichen Auswahl der Objekte in die Sammlung miteinschreibt, ist es also immer auch das ordnende Subjekt, das sich durch seine eigenen Anordnungssystematiken repräsentiert.

Ordnendes Sammeln – Kreatives Potenzial Ordnungsverfahren setzen aber nicht erst dann ein, wenn die Sammlungsstücke bereits gefunden, ausgewählt und an einen gemeinsamen Ort überführt wurden, um dort arrangiert zu werden. Meist ist ein bereits gesetztes Prinzip bestimmend für die Auswahl der Objekte, ein Regelwerk also, das den Sammelvorgang selbst strukturiert. Dieses Regelwerk kann mehr oder minder streng sein, je strikter es jedoch ausgeführt wird – so meine These –, je enger und vielschichtiger die Systematiken sind, desto maßgeblicher bestimmt es die Sammlung in ihrer Anordnung und damit in ihrer Darstellung. So können Dinge zusammengetragen werden, weil sie aus einer einzigen Epoche stammen. Oder weil sie an einem speziellen Ort gefunden worden sind. Über Zeit und Raum hinweg können Form, Farbe und Materialität Ausschlusskriterien bilden und die Sammlung weiter fokussieren. Je mehr Eigenheiten

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Ebd., S. 37.

3. Kapitel: Vom Ordnen

hervorgehoben werden, je enger sich die Auswahl abzeichnet, umso formaler und reglementierter gestalten sich die Systematiken der Sammlungspräsentation. Ihre Lesart wird also, neben dem Arrangement ihrer Objekte, durch die spezifische Objektselektion bestimmt, die sich wiederum in der Anordnung des Sammlungsmaterials niederschlägt und als formale Vorgabe die Sammlung charakterisiert. Im Grundsatz lässt sich also festhalten, dass die Hervorbringung eigener Anordnungssystematiken das eigentliche kreative Potential ästhetischer Sammlungsverfahren erst herausbildet. Denn in der Dualität von Sammeln und Ordnen stellt sich das Anordnen im Sinne einer Zusammenstellung, Sortierung und Formierung als Komposition, als Inszenierung des Sammlungsmaterials dar, als ein Arrangement, das neue Bedeutungen und Kontextualisierungen entwirft. »Sich in die Perspektive der Objekte zu begeben, unbelebten Gegenständen subjektiven Sinn abzugewinnen, dem Material bildhafte Kraft und neue Bedeutung einzuschreiben – das sind zentrale Momente kreativer Arbeit […]«6 , führt Matthias Winzen dazu aus. Auch wenn er sich hier ausschließlich auf künstlerische Sammlungsformate bezieht, wohnt doch jeglichem ästhetischen Ordnungsverfahren ein kreativer Prozess inne, dem ein Arrangieren und Inszenieren des Sammlungsmaterials sowie die Hervorbringung neuer Bedeutungszusammenhänge zugrunde liegt. Angekommen beim kreativen Vermögen liegt es nahe, überzuleiten zu Werken der Bildenden Kunst, deren künstlerische Verfahren explizit auf den Vorgängen des Sammelns und Ordnens beruhen und die darüber hinaus Objektakkumulationen als eigenständige Kunstwerke präsentieren. Anhand ihrer diversen Präsentationsformen und hinsichtlich ihrer Bezugssysteme und Anordnungspraktiken, auf die sie inhaltlich und formal referieren, lassen sich hierbei erste Schlüsse ziehen, inwiefern künstlerische Sammlungsformate kulturelle und wissenschaftliche Praktiken reflektieren, bezweifeln oder kritisch hinterfragen. Die nachfolgenden Betrachtungen stehen deswegen unter dem Fokus differierender Ausführungen und Referenzbezüge, die sich in den unterschiedlichen künstlerischen Praktiken wiederfinden. Im Zuge ihrer Beschrei6

Winzen: »Sammeln – so selbstverständlich, so paradox«, S. 12.

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Performative Sammlungen

bungen werde ich erste Grundlagen zum neuen Begriff der performativen Sammlung herausbilden und in deren Folge Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich Gestalt und Methode dieser speziellen Sammlungsform aufzeigen. Um dem Vorwurf der Unvollständigkeit entgegenzuwirken, sei darauf hingewiesen, dass ich mich im weiteren Verlauf ausschließlich auf Sammlungsverfahren der Bildenden und Darstellenden Kunst beziehe, rein musikalische oder filmische Werke also außer Acht lasse, auch wenn hier gleichfalls Akkumulationsverfahren als künstlerische Methode aufgedeckt werden könnten.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Sammlungs- und Verwahrungsorte Neben unterschiedlichen inhaltlichen und formalen Referenzen sowie divergierenden Akkumulationsverfahren – Aspekte, auf die später noch zurückzukommen sein wird – unterscheiden sich Matthias Winzen zufolge künstlerische Sammlungsformate der Bildenden Kunst durch ihre Bezüge auf unterschiedliche Ortsmetaphern, die er in die Kategorien Archiv/Sammlung, Atelier, Kiste und Datenraum unterteilt. Dabei sieht er den Datenraum als eine a-skulpturale Aufbewahrungsform, dem ein Sammeln von elektromagnetischen und digitalen Daten vorangeht. Im Gegensatz dazu beschreibt er die Kiste – zu der er auch Koffer, Behälter und energetische Speicher zählt – und deren künstlerischen Zugriff auf das Material als eine skulpturale Aufbewahrungsform. Demnach liegt das Hauptaugenmerk hier auf einem »Verpacken, Einlagern, Verschwindenlassen, Dematerialisieren oder auch dem symbolisch energetischen Aufladen«1 der Sammlungsgegenstände. Im Atelier wiederum, so Winzen weiter, stehen vor allem Handlungen wie Sammeln, Sortieren, Bewerten und Verpacken im Vordergrund. Das Archiv und die Sammlung letztendlich, die er als Präsentationsformen zusammenfasst, definieren sich über Referenzen auf »Erinnerung, Gedächtnis, Tagebuch, Geschichte und Vergangenheit überhaupt. Der künstlerische

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Ebd., S. 15.

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Gestus solcher Werke ist, etwas festzuhalten, auszubreiten, zu dokumentieren, herzuleiten, aufzuzählen und zu sortieren.«2 Die Zusammenführung von Archiv und Sammlung erweist sich hinsichtlich ihrer Funktion als Ortsmetaphern zunächst als sinnvoll, da beide Korrelationen bezüglich ihres Gestus und ihrer Referenzialität zueinander aufweisen. Im Hinblick auf ihre Präsentationsform gebe ich allerdings zu bedenken, dass künstlerische Sammlungsformate in ihrem Vorgang des Ausstellens keinesfalls als Archiv, sondern per se als Sammlungen verstanden werden müssen, unabhängig davon, auf welche Ordnungssysteme sie referieren. Dazu ein kurzer Exkurs in die klassischen institutionalisierten Begriffsbestimmungen.

Archiv versus Sammlung Im Zuge ihrer Beschreibung archivischer Prinzipien definiert die Kunsthistorikerin Monika Rieger das Archiv grundsätzlich als »eine Institution zur systematischen Erfassung, Erhaltung und Betreuung administrativer, juristischer und politischer Dokumente sowie den Raum oder das Gebäude, in dem dies stattfindet«.3 Eine Sammlung dagegen stellt für Krzysztof Pomian jegliche Zusammenführung von Objekten dar, die »zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zwecke eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt und angesehen werden können«.4 Beiden Definitionen liegt auf den ersten Blick eine wesentliche Gemeinsamkeit zugrunde: Sowohl Archive als auch Sammlungen tragen Dinge aus unterschiedlichen Orten in einen gemeinsamen Raum zusammen, der – im allgemeinen Verständnis – errichtet beziehungsweise eingerichtet wurde, um zu verwahren, zu konservieren und zu erhalten.

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Ebd., S. 14 u. 15. Rieger: »Anarchie im Archiv«, S. 253. Pomian: Der Ursprung des Museums, S. 16.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Sammlungsverfahren erfordern darüber hinaus – wie bereits hinlänglich beschrieben – eine Auswahl des Sammlungsmaterials durch ein sammelndes Subjekt. Hier offenbart sich ein erster substanzieller Unterschied, denn entgegen einem Sammlungsbestand wird Archivgut nicht eigens gesucht, sondern fällt an. Das Archiv kann daher eher als Ort der Ansammlung denn als Ort der Sammlung5 beschrieben werden. Beide divergieren ferner bezüglich ihrer Zweckhaftigkeit, denn die Absicht des Archivs ist es, zu verwahren, um Vergangenes möglichst lückenlos rekonstruieren zu können. Eine Sammlung dagegen wählt dezidiert und subjektiv motiviert aus, auch im Hinblick auf eine mögliche Präsentation des gesammelten Materials. Das Archiv also befasst sich mit einer möglichst dichten Akkumulation, demgegenüber ist das Hauptaugenmerk einer Sammlung immer auf die individuelle Selektion von Objekten gerichtet. Die entscheidende Differenz beider Ordnungssysteme liegt aber sicherlich darin, dass Sammlungen im institutionalisierten Sinne darauf angelegt sind, ihren Bestand einem breiten Publikum zu präsentieren, was sich sowohl in der architektonischen Struktur der Räumlichkeiten als auch in der Sichtbarmachung der einzelnen Objekte niederschlägt. Ein Archiv dagegen ist kein Präsentations-, sondern ein Verwahrungsort. Archive sind nicht auf eine Zurschaustellung ausgewählter Objekte hin angelegt, sondern darauf, archiviertes Material bei Bedarf hervorzuholen, um es zu betrachten und für Recherchen fruchtbar zu machen, sie sind damit Arbeits- und Aufbewahrungsort zugleich. Eine Sammlung indes ist inszenierte Zurschaustellung selektiv zusammengetragener Objekte, deren gerade nicht in Präsentation befindliches Material an einem gesonderten Ort gelagert wird, dem Depot. Künstlerische Sammlungsformate müssen letztendlich nicht nur auf ihre divergierenden Ortsmetaphern hin überprüft werden, sondern auch in Bezug auf ihre Akkumulationspraktiken, auf die sie sich beziehen. So suggeriert eine Anhäufung von Kleidern etwas anderes als 5

Assmann, Aleida: »Archive im Wandel der Mediengeschichte«, in: Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 165-175, hier S. 173.

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aufeinander gestapelte Pappkisten oder fotografische Serien gleichartiger Motive, die in Abhängigkeit ihres Arrangements unterschiedliche Assoziationen freisetzen.6 Bezüglich ihrer Präsentationsverfahren allerdings tragen auch solche Arbeiten, deren Objektakkumulationen archivarische Anordnungen widerspiegeln, nicht nur zusammen, um zu verwahren, sondern um ihre Sammlungsobjekte als subjektive Auswahl einem breiten Publikum öffentlich zugänglich machen. Künstlerische Akkumulationen sind folglich im Moment ihrer Präsentation immer als Sammlung zu begreifen, selbst wenn sie in ihrer Anordnung und Referenz archivarische Charakteristiken aufweisen. Aufgrund dessen wird im weiteren Verlauf ausschließlich der Begriff der Sammlung in Bezug auf die Präsentation künstlerischer Akkumulationsverfahren verwandt werden.

Sammlungsbewegungen in der Bildenden Kunst Schon in den Montagetechniken des frühen 20. Jahrhunderts, über die »Collagen und Objekte der Dadaisten und Surrealisten bis hin zu den Assemblagen der nouveaux réalistes und der Pop Art« lässt sich eine erste Bewegung nachzeichnen, in der Künstler_innen Objektakkumulationen aus der »Rolle eines bloßen Vorrats an Vorbildern« herauslösen hin zu einem »Vorrat möglicher Werkbestände«, wie der Kunstkritiker und Soziologe Walter Grasskamp konstatiert.7 Ab den 1970er Jahren bilden sich Sammlungsverfahren als künstlerische Strategie und Darstellungsform als eigenständiges künstlerisches Genre heraus. Im gleichzeitigen Hinterfragen nach der kulturellen Relevanz von Kunstwerken sowie in Anlehnung an die frühen Verfahrensweisen der Montage nützen die Künstler_innen jener Zeit Objektakkumulationen als Modus, um im »Verzicht auf die Produktion von Neuheiten« und »als Versteck hinter scheinbar fremde[m] und altmodische[m]

6 7

Vgl. hierzu Kittner: Visuelle Autobiographien, S. 162. Grasskamp, Walter: »Dokumentation: Künstler und andere Sammler«, in: Kunstforum international, Band 32 (1979), S. 31-80, S. 35.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Material« einen Ausweg aus der Stagnation der Objekttreue zu gewinnen.8 Dabei verabschieden sie sich von der Idee des Schöpfertums eines Künstler_innensubjekts, das Neues und Originäres zu kreieren vermag, indem sie Autonomie und Abbildfunktion hinterfragen und mit einem abgeschlossenen einheitlichen Werkverständnis brechen. In ihrer Abwendung von der Erschaffung eines Kunstwerks einschließlich seines Symbolcharakters verlagern sie ihre künstlerische Produktion hin zu Präsentationen von Objektakkumulationen, deren Inhalt sich aus vorgefundenen und bereits existierenden Einzelobjekten zusammenfügt. Damit präsentieren die Künstler_innen einen neuen künstlerischen Zugriff, der auf »die Autorität des Schöpfertums verzichtet bzw. dessen Autorschaft sich auf die Neuzubereitung eines gegebenen ästhetischen Materials […] beschränkt«.9 In ihrem Rückzug vom Einzelwerk als einmalige Setzung präferieren sie nunmehr Formate, die ihre gesellschaftliche Wertigkeit und Seriosität darüber kompensieren, sich auf wissenschaftliche Praxen oder gesellschaftlich etablierte Institutionen wie Museen und Archive zurück zu beziehen.10 Innerhalb dieser Bewegung etablieren sich in den 70er Jahren zwei neue Künstler_innengruppen, die Grasskamp als Spurensicherer_innen und Museumsgründer_innen bezeichnet. Ihre Differenz beruht auf unterschiedlichen Referenzen: Während die Spurensicherer_innen in ihren Arbeiten auf wissenschaftliche Ordnungsmuster rekurrieren, übernehmen die Museumsgründer_innen Ordnungsstrategien der Kunstvermittlung, um sie zu kritisieren oder zu ergänzen.11 Unter der Prämisse von Gedächtnisarbeit und Erinnerungskultur stellen Vitali, Schuster und von Wiese der Spurensicherung die Zuschreibung der Materialsammler_innen gegenüber. Nach ihnen verweisen diese Objektakkumulationen auf eine räumliche Darstellung des Gedächtnisses als Depot, als Verwahrungsort sowie auf das »Gedächtnis-

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Ebd., S. 48. Wetzel, Michael: »Autor/Künstler«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 2001, S. 480-544, hier S. 484. Vgl. Grasskamp: »Dokumentation: Künstler und andere Sammler«, S. 49. Vgl. ebd., S. 35 u 36.

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Bild des Magazins«.12 Unter diesem Aspekt erscheint die Zuschreibung der Materialsammlung umfassender, schließt sie doch im Gegensatz zur Museumsgründung auch solche Arbeiten mit ein, die sich archivarischer Praktiken bedienen und deren vorgestelltes Interesse es ist, zu verwahren, ohne dass explizit Gegenentwürfe zu institutionalisierten Museen entfaltet werden. Demgegenüber treten weiterhin die Spurensicherer_innen, die sich mit ihren fragmentarischen und indizienhaften Objektsammlungen auf »die Schrift und die Spur als GedächtnisMetapher«13 berufen. Ihre Werke zeichnen sich durch Rekonstruktionsverfahren eines Vergangenen aus, dessen Neu- und Überschreiben gleichfalls das Vergessen mitverhandeln. Alle Sammlungsvariationen unterscheiden sich bewusst in formalen Strategien sowie inhaltlichen Bezugsystemen und bedürfen einer genaueren Betrachtung, gerade weil damit ein Spektrum ausgebreitet wird, innerhalb dessen sich die sammelnden Künstler_innen in ihrer Auseinandersetzung mit Akkumulationsverfahren als Methode und Darstellungsform in unterschiedlichster Art und Weise bewegen. Im Zuge einer Kontextualisierung performativer Sammlungen, die als erweiterte Präsentationsform der aufgeführten künstlerischen Sammlungsverfahren verstanden werden muss, ist es daher notwendig, einige Arbeiten beispielhaft nachzuzeichnen, um Vergleiche untereinander und Differenzen zueinander aufzuzeigen, die für die spätere Definition performativer Sammlungen hilfreich sein werden.

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Vitali, Schuster, von Wiese: »Vorwort«, in: Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungskatalog Haus der Kulturen München; Nationalgalerie SMPK Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf; Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 7-9, hier S. 8. Ebd., S. 8.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Museumsgründer_innen, Materialsammler_innen und Spurensicherer_innen Walter Grasskamp verwendet die Zuschreibung Museumsgründer_innen unter Bezugnahme auf Künstler_innenmuseen wie die von Marcel Broodhaers, Herbert Distel oder Claes Oldenburg. Oldenburg etwa entwirft 1972 für die Documenta 5 das Mouse Museum, ein begehbares Häuschen, das in seinem Grundriss an die Silhouette von Mickey Mouse erinnert. In ihm versammelt er 367 unterschiedlichste Dinge, angefangen bei eigenen Atelierobjekten über Scherzartikel und Souvenirs bis zu Plastikspielzeug, die er alle in die Rubriken nicht veränderte Objekte, veränderte Objekte und Atelierrelikte einteilt. Zudem beruft er Kaspar König – einen etablierten Museumskurator – zum Museumsdirektor des Mouse Museums, der, neben der Betreuung der Herstellung eines Ausstellungskatalogs, Oldenburg bei organisatorischen Fragen hilfreich zur Seite steht. Tatsächlich ist die Entscheidung, welches Objekt einer bestimmten Kategorie zugeordnet wurde, für die Besucher_innen des Museums nicht immer sofort ersichtlich. Denn das Ziel von Oldenburgs Anordnungen ist weniger eine eindeutige Zuweisung der Dinge in feste Kategorien, vielmehr gilt seine Aufmerksamkeit dem »vielfältigen Beziehungsgeflecht, das durch die verschiedenen Möglichkeiten der Zuordnung entstehen konnte«14 , wie Astrid Legge im Rahmen ihrer Analyse zu Künstler_innenmuseen bemerkt. »Die Würde und die Gleichheit aller Gegenstände, ungeachtet der Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst« sind für Oldenburg maßgeblich, so Legge, Oldenburgs Sammlung zeige somit, dass »selbst die banalsten Dinge dieser Welt eine Magie haben und als kultureller Ausdruck ihrer Zeit gelten können«.15 Seine Anordnungen sind folglich weder taxonomisch noch im 14

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Legge, Astrid: Museen der anderen »Art«. Künstlermuseen als eine alternative Museumspraxis, Dissertation an der Philosophischen Fakultät der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule Aachen 2000. Nur online verfügbar unter http://darwin.bth.rwth-aachen.de/opus3/volltexte/2001/178/pdf/Legge_Astrid.pdf, (abgerufen am 29.10.2014), S. 159. Ebd., S. 159.

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Hinblick auf eine Klassifizierung der ausgestellten Dinge sortiert. Vielmehr verläuft die Präsentation als gleichberechtigtes Nebeneinander, ohne dabei Wertigkeiten aufzeigen zu wollen. Oldenburg stellt so normative Machtverhältnisse klassischer Museumspräsentationen infrage, indem er auf alternative Ordnungssystematiken verweist. Demgegenüber beziehen sich Karsten Botts Objektakkumulationen in erster Linie auf den Vorgang des Archivierens und Sortierens, ohne explizit auf das Museum als Institution sowie auf dessen Funktion der Kunstvermittlung zu rekurrieren. Seine Werke zeichnen sich durch ausufernde Sammlungspraktiken aus, seine konsequenteste Arbeit in diesem Zusammenhang ist sicherlich Von Jedem Eins (erstmals 1993). Hier setzt sich der Inhalt der Kollektion aus buchstäblich allen Alltagsgegenständen zusammen, die nur denkbar erscheinen. In raumfüllenden Installationen, angelehnt an Verwahrungsorte wie Magazine oder Depots, zeigt Bott gleich einem riesigen Arsenal an objects trouvés Zahnbürsten, Federn, Schraubenzieher, Joghurtbecher, Spielzeugwaffen, Eierwärmer, Tapetenmuster, Teller und Tassen aus Porzellan, Kleiderbügel, Brotkörbe, Plastikschüsseln, Lampenschirme, Untersetzer, Schutzhelme, Brillenbügel, Stützstrümpfe, Eiswürfelbehälter, Aschenbecher, Uhren, Bügeleisen, selbst eingelegte Gurken, Weihnachtskugeln, Streichholzschachteln, Bimssteine, Kehrbleche, Pokale, Personenwaagen, Fieberthermometer, Kuchenformen, Nabelklemmen, Acrylfarben, Löffel, Messer, Gabeln, Kissenüberzüge, Schlüsseln, Salzstreuer, Lohntabellen, Tarotkarten, Bilderrahmen, Türschilder, Kacheln, Schürzen, Spazierstöcke, Obstkisten, Plastiktaschen faltbar, Milchkartons, Batterien, Seifen, Sonnenbrillen, Frisbeescheiben, Einmachhilfen, Fensterrahmen, Briefkästen, Garderobieren und vieles, vieles mehr in unterschiedlichen Ausführungen.16 Die Objekte werden in Regalreihen, Vitrinen oder flächendeckend auf dem Boden präsentiert, während das Publikum auf erhöhten Stegen durch die Installation schreitet und von oben auf den Mikrokosmos alltäglicher Gebrauchskultur blickt. Der Verdacht des Sammelsuriums wird schnell durch 16

Der aktuelle Bestandaufnahmekatalog ist im Verlag Walther König unter dem Titel Von Jedem Eins käuflich zu erwerben.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

ein Hervortreten strikter Ordnungsschemata zerstreut: Ähnliches wird nebeneinander sortiert und Überbegriffen wie etwa Spielzeug, Jagd, Glaube, Beruf, Krieg, Familie, Haustier oder Feier/Brauchtum untergeordnet. Das Unterfangen, die Objekte in strenge Kategorien einzuordnen, scheitert jedoch mitunter an den vielfältigen Möglichkeiten weiterer Zuordnungskonstellationen. Anschaulich beschreibt Iris Reepen in einen Kurzbeitrag zu Botts Werk dieses Dilemma, in dem sich sowohl der Künstler als auch die Betrachter_in selbst befinden – beispielsweise im Abwägen, ob die Gerätschaften eines Metzgers eindeutig unter der Rubrik Beruf eingeordnet werden können oder nicht doch in den Kategorien Jagd, Haustiere oder Bauernhof besser aufgehoben wären. Oder aber ob Überbegriffe wie Feier/Brauchtum und Tod offensichtlichere Klassifizierungen sein könnten.17 Die Akribie, mit der Bott versucht, die Welt der alltäglichen Gebrauchsgegenstände abzubilden, schlägt sich nicht nur in den Mengen von versammelten Objekten nieder, sondern zeigt sich zudem im Versuch einer Benennung und Einordnung, die zuweilen mehrere Optionen bereit hält. Mit ironischem Blick auf seine selbst gestellte Sisyphusaufgabe und gleichzeitigem »ernsthaften wissenschaftlich-klassifikatorischen Vorgehen, durch das unter anderem auch ergraute Kaugummis museale Weihen erhalten«18 , wie Reepen weiter ausführt, stellt Bott sich der Lust an seinen selbstgeschaffenen Regelwerken und neuen Bedeutungskonstruktionen. Zugleich zelebriert er das Manische, das jeder Sammelleidenschaft innewohnt, in einem solchen Ausmaß, die jede Privatsammlung von über Jahrzehnte hinweg zusammengetragenen Kronkorken aus allen Ländern der Erde, Kaffeehaus-Zuckerwürfelverpackungen oder Gas-

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Reepen, Iris: »Karsten Bott«, in: Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungskatalog Haus der Kulturen München; Nationalgalerie SMPK Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf; Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 82-84, hier S. 82. Ebd., 82.

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masken in allen erdenklichen Größen und Ausführungen übertrifft und im Vergleich dazu kaum kurios erscheinen lässt.19 Im Gegensatz zu den Museumsgründer_innen und Materialsammler_innen, die sich mit ihren Referenzen auf die Funktionsweisen von Museen, Archiven, Depots oder Magazinen beziehen, rekurrieren die Spurensicherer_innen auf keinen spezifischen Verwahrungsort, sondern berufen sich in erster Linie auf Systematiken und Methoden wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnungssysteme. Die Bezeichnung findet ihren Ursprung in dem von Günter Metken begründeten Begriff der Spurensicherung: 1974 kuratierte Metken im Hamburger Kunstverein eine Ausstellung, die er mit Archäologie und Erinnerung. Spurensicherung20 übertitelte. Erstmalig wurden hier Werke von Didier Bay, Christian Boltanski, Jürgen Brodwolf, Claudio Costa, Nikolaus Lang sowie Anne und Patrick Poirier zusammengeführt und gemeinsam präsentiert. Im Zusammentragen von Reliktartigem, Bruchstückhaftem und Übriggebliebenem waren die Arbeiten sowohl inhaltlich als auch strukturell über ihre Referenz auf anthropologische Recherchen verbunden, während sie zugleich den Blick auf den Mensch als Spezies und Individuum zurück warfen.21 Metken beschreibt die Ähnlichkeit der Werke untereinander mit der »Freude am Winzigen – an Fragmenten, Reduktionen, Modellen […] ferner das Rechnen mit dem Einverständnis des Betrachters, der Teilchen auf eine Erkenntnis oder Gestalt hin 19 20

21

Vgl. dazu exemplarisch: Maeght, Adrien: ils collectionnent …, musée des Arts décoratifs, Paris 1974. Laut der Archivseite des Kunstvereins im Internet wurde die Ausstellung wie folgt angekündigt: »Die Gruppenausstellung zeigt eine Auswahl von zeitgenössischen KünstlerInnen, die sich Archäologie und Ethnologie als Bezugspunkte ihrer Arbeit gewählt haben. Die Begriffe werden in einem weit gefassten Verständnis gebraucht: die römische Archäologie, die Ethnologie fremder Kulturen, das Archäologie-Verständnis des 19. Jahrhunderts, die Archäologie der eigenen Umgebung, die Archäologie der eigenen Person.« Quelle: www.kunstverein.de/ausstellungen/archiv/1970-1979/ 1974/19740406-spurensicherung.php, (Abgerufen am 29.10.2014). Vgl. Metken, Günter: Spurensicherung – Eine Revision. Texte 1977 – 1995, Dresden und Berlin 1996, S. 12.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

ergänzt.«22 In Abgrenzung zu den Materialschlachten der Pop Art und des Nouveau Réalisme in Form von expressiven Waren- und Schrottbergen, aber auch gegenüber den ausufernden Präsentationen der Museumsgründer_innen und Materialsammler_innen zeigen sich die Arbeiten der Spurensicherung eher zurückgenommen, indem sie im Privaten, Unscheinbaren, Nebensächlichen und im scheinbar zufällig Gefundenen nach den Indizien alltäglicher Biographien fahnden.23 Einer ihrer renommiertesten Vertreter ist sicherlich Christian Boltanski. Relikte wie (vermeintlich) persönliche Dinge oder Erinnerungsstücke sind oftmals Teil seiner künstlerischen Akkumulationen, die Spuren vergangener Leben nachbilden. Über Präsentationsformen, die an museale Ausstellungspraktiken erinnern, verleiht er seinen Kollektionen von Gefundenem, Rekonstruiertem und Konstruiertem eine Autorität, die das Sammlungsmaterial zu modernen Reliquien transformieren lässt.24 Wie etwa in einer frühen Arbeit mit dem Titel Vitrine de référence (1970), in der er in Glasvitrinen Rudimente von Alltagskultur wie behauene Zuckerstücke, handgemachte Tonkugeln und Spielzeugwaffen in ethnographisch-musealer Anordnung arrangiert, die, zusammen mit ihren zugewiesenen Texttafeln, auf Lebensspuren früherer Kindheiten verweisen. »Der Betrachter vollendet das Kunstwerk«, kommentiert Boltanski seine eigenen Arbeiten, »ich liefere den Stimulus, der Betrachter reagiert mitsamt seiner Vergangenheit, seinen ureigensten Erlebnissen – und macht daraus etwas anderes«.25 In der Verschmelzung von vorgefundenem und erfundenem Material entwirft Boltanski immer wie-

22 23 24

25

Ebd., S. 15. Vitali, Schuster, von Wiese: »Vorwort«, S. 7. Vgl. Hemken, Kai-Uwe: »Christian Boltanski«, in: Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungs-katalog Haus der Kulturen München; Nationalgalerie SMPK Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf; Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 78-79, hier S. 79. Beil, Ralf: »Das Leben ist ein kurzer schwarzer Strich. Ein Gespräch mit Christian Boltanski«, in: Ebd.: Christian Boltanski – Zeit, Ostfildern 2006, S. 47-80, hier S. 48.

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der neue (fiktive) Vergangenheiten, die sich in der subjektiven Betrachtung seines Publikums vergegenwärtigen. Im Gegensatz zur Arbeit von Historiker_innen werden die von ihm gesetzten Indizien »nicht zum Baustein einer Geschichte, die aus der Vergangenheit aufscheint, sondern zur Handlung und zum Erlebnis in der Gegenwart der Betrachter«, fasst Monika Rieger Boltanskis Gesamtwerk zusammen.26 Denn Rekonstruktionsprozesse sind eben immer auch als Fiktionalisierungsprozesse zu verstehen, als Vorgänge, in der Vergangenheit gegenwärtig rekonstruiert und Lücken – das also, was dem Vergessen anheimgefallen ist – sublimiert werden. Rekonstruktion von Vergangenheit wird so als Konstruktion von Vergangenheiten erfahrbar, die sich verankert in der persönlichen und gegenwärtigen Kontextualisierung der Objekte durch ihr Publikum. Eine ganz andere Form der Spurensuche vollzieht Francis Alÿs in seinem Werk Fabiola (1994). Hierfür trägt der Künstler über 20 Jahre hinweg handgefertigte Reproduktionen des Ursprungsportraits der Heiligen Fabiola zusammen, der Sammlungsbestand ist bis heute auf über 400 Gemälde angewachsen. Da das Original seit langem als verschollen gilt, können sich die versammelten Kopien lediglich auf bereits vorangegangene Reproduktionen beziehen. Zumeist von Amateuren angefertigt, variieren die Bilder in Details und technischen Ausführungen. Als unzulängliche Kopien, die ihre Vorlage nie als Ganzes wiederzugeben vermögen, zeichnen sich dennoch gemeinsame Spuren nach, die auf das Ursprungsportrait zurückweisen und eine Vorstellung des Originals abbilden. Der Reiz in der Rezeption dieser Sammlung liegt darin, Gemeinsames zu identifizieren, um die Fährte zum Ursprung der Serie offen zu legen. Zugleich gilt es, die vielfachen Abweichungen und Variationen zu entdecken, die das Material trotz seiner Ähnlichkeit zueinander aufweist. Fabiola präsentiert sich und im Unterschied zu Vitrine de référence als homogene Sammlung, ihr Augenmerk richtet sich darauf, Ähnliches zusammenzutragen, um vergleichen zu können. Ihre Legitimation erfährt die Kollektion dabei über die äußere Gleichartigkeit der

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Rieger: »Anarchie im Archiv«, S. 269.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Objekte, im Gegenzug zu Boltanskis heterogenem Sammlungsverfahren, dessen Sammlungsmaterial einer äußeren Benennung bedarf, um als Zusammengehöriges erkannt werden zu können. Auf die Differenz, die sich aus der jeweiligen Rezeption homogener oder heterogener Sammlungsformate ergibt, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal dezidiert eingehen. Innerhalb der Zuschreibung der Spurensicherung muss jedoch zuvorderst eine weitere Unterscheidung getroffen werden, die sich unter der Bezeichnung Autobiographische Sammler_innen zusammenfassen lässt. Nicht zuletzt durch AlmaElisa Kittners kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung über visuelle Autobiographien wird gezeigt, dass dieser speziellen Form künstlerischer Sammlungspraktiken ein eigener Raum zusteht.

Autobiographische Sammler_innen Die (Re-)Konstruktionsverfahren einer autobiographischen Sammlung ähneln jenen der Spurensicherung, beide lassen in ihren Arbeiten subjektive Vergangenheiten anhand von Relikten und Fragmenten erfahrbar werden. Beide Verfahren berufen zudem Objekte in den Zeugenstand, die, gerade weil sie in einem künstlerischen Kontext präsentiert werden, Fragen bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit und wahren Zugehörigkeit aufwerfen: Was zertifiziert ein Objekt dafür, als authentisches Material gelesen zu werden, und ein anderes nicht? Wieso wird handschriftlichen Notizen oder alten Schwarz-weiß-Schnappschüssen Authentizität und damit Glaubwürdigkeit zugeschrieben? Akkumulationen autobiographischer Sammler_innen verweisen ausdrücklich auf die eigene Biographie und eröffnen ihrem Publikum einen (scheinbaren) Einblick in ihr Leben. Hierfür entwickeln sie unterschiedlichste Formen von Sammlungspräsentationen. Andy Warhol beispielsweise häuft über fast zwei Dekaden hinweg Dinge wie Quittungen, Zeitungsausschnitte, Fotos, Unterhosen, Notizen, Tonbänder, ungeöffnete Post, Schuhe oder Einladungskarten an, die er in 611 Pappkartons aufbewahrt und ihnen die Bezeichnung time

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capsules gibt.27 Das Auswahlkriterium dieser riesigen Menge heterogenen Sammlungsmaterials beruft sich einfachheitshalber und lediglich darauf, Gebrauchsgegenstand seines eigenen Lebens gewesen zu sein. Warhol scheint für diese Arbeit sprichwörtlich all das zusammengetragen zu haben, was ihm über zwei Jahrzehnte in die Hände gefallen ist. Im Gegensatz dazu präsentiert sich das Projekt Birthday Ceremony (1997) der Künstlerin Sophie Calle in einer vielfach strengeren formalen Struktur. In dieser Arbeit vereint die Künstlerin ihre über 14 Jahre hinweg angesammelten Geburtstagsgeschenke in einer gemeinsamen Kollektion, der folgender Kontext zugrunde liegt: 1980 beschließt Calle – aus Angst, man könne ihren Geburtstag vergessen – jedes Jahr ein Geburtstagsfest zu feiern, bei dem sich die Menge der Gäste nach der Anzahl der vollendeten Lebensjahre richtet. In jedem Jahr ist es zudem einem ausgewählten Gast erlaubt, eine weitere für Calle noch unbekannte Person einzuladen, die natürlich gleichfalls ein Geschenk zu entrichten hat. Sophie Calle beginnt dieses Ritual im Alter von 27 Jahren und beendet es an ihrem 40sten Geburtstag. In der darauf folgenden Gesamtpräsentation richtet sie 15 Vitrinen ein, die sie mit ihren gesammelten Geschenken nach Jahren sortiert ausstattet: Dinge wie Bücher, Briefe, Trödel, Plastikkitsch und Antiquitäten, selbstgefertigte Kunstwerke, Schokolade und Weinfaschen; eine bunte Vielfalt, changierend zwischen banal und bizarr. Zusätzlich wird jede Vitrine mit einer Inventarliste ausgestattet, auf der die Präsente sorgfältig aufgelistet sind. Dazu kommen Anwesenheitslisten der geladenen Gäste, die einen Einblick in Calles illustren Freundeskreis (Anette Messager, Christian Boltanski, Bruce Nauman oder Yves Klein) geben.28 Die Geburtstagsgeschenke wiederum reflektieren im Sinne einer (fremdbestimmten) biographischen Erzählung die öffentliche und private Person Sophie Calle. 27

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Selbst ausgestellt hat er diese allerdings nie, andere haben nach seinem Tod angefangen, die einzelnen Kartons zu katalogisieren. Weltweit zum ersten Mal präsentiert wurde der Inhalt von etwa 100 time capsules 2003 im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt a.M.. Vgl.: Heinrich, Barbara: »Die wahren Geschichten der Sophie Calle«, in: dies (Hg.): Die wahren Geschichten der Sophie Calle, Ausstellungskatalog Fridericianum 2000, S. 6-18.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Demgegenüber wählt die Malerin und Fotografin Annette Messager für ihre Arbeit Albums-collections (1971-1976) diverse Notizbücher als Präsentationsform, die sie mit eigenen Zeichnungen, Fotografien, Skizzen, Notizen oder verfremdeten Illustrationen aus Zeitschriften anfüllt. Jedes Buch wird mit einer eigenen Überschrift versehen. Unter dem Titel Collection pour trouver ma meilleure signature (Album-collection Nr. 24) etwa versammelt sie auf Papierschnipsel geschriebene Variationen ihrer eigenen Unterschrift. In Ma collection de champignons bons et de champignons mortels (Album-collection Nr. 43) kombiniert sie selbstgefertigte Farbstiftzeichnungen von Pilzen mit handschriftlichen Notizen, in Mes dessins secrets (Album-collection Nr. 36) stellt sie Skizzen geheimer Leidenschaften nebeneinander.29 In Kollektionen persönlicher Alltags- und Gebrauchsgegenstände, eigenen Zeichnungen, handschriftlichen Notizen oder getippten Listen bedienen sich die Künstler_innen autobiographischer Zeugenschaften in unterschiedlichster Form und Ausführung. Gleich einem detektivischen Spiel spiegelt sich in der Rezeption ihrer Kunstwerke der Versuch, Zusammenhänge zu rekonstruieren, die die Eigenheiten eines privaten Subjekts hinter der künstlerischen Identität hervortreten lassen. Dabei werden die dargelegten Tatsachen auf ihre vermeintliche Wahrhaftigkeit hin überprüft, um Objekte zu entlarven, die zugunsten einer künstlerischen Wirksamkeit als vorgeblich Eigenes hinzugezogen wurden. In ihrem Oszillieren zwischen Rekonstruktion und Konstruktion zeigen autobiographische Sammlungen insofern nicht das Fiktive als vielmehr das Fiktionale jeglicher Erinnerungsarbeit, das sowohl in der Selbstbeschreibung als auch in den Rekonstruktionsverfahren der Betrachter_innen hervortreten kann. In ihrer Rezeption spiegeln die Sammlungen zudem den Blick zurück auf mögliche eigene biographische Erzählungen, etwa indem sie die Frage aufwerfen, was eine eigene Auflistung vergangener Geburtstagsgeschenke wohl über einen selbst verraten würde oder aber, wie eine persönliche Liste von dessins secrets aussehen könnte.

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Vgl. Kittner: Visuelle Autobiographien, S. 322ff.

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Gemeinsames: Immanente Kritik Allen beschriebenen künstlerischen Sammlungsverfahren ist bisher gemein, dass sie sich in ihren Präsentationspraktiken an institutionell und gesellschaftlich etablierten Ordnungs- und Ausstellungspraxen orientieren. Gleichzeitig liegt ihren Arbeiten Skepsis und grundlegender Zweifel an musealen Sammlungsverfahren und wissenschaftlichen Taxonomien zugrunde, indem sie tradierte Sammlungsformen hinterfragen und neue Strategien des Sammelns und Ordnens in Abgrenzung zu traditionellen Sammlungsformaten entwerfen: Ihre Werke werden bestimmt durch ungewöhnliche Auswahlverfahren und alternierende Ordnungssysteme, die ihre Sammlungsobjekte in überraschende Bezugsrahmen setzen und so ein Neu-Sehen des vermeintlich Altbekannten ermöglichen. Künstler_innen, die sich den Verfahren der Spurensicherung, des autobiographischen Sammelns, der Materialsammlung oder Museumsgründung bedienen, haben den Sammelvorgang als eine künstlerische Methode rehabilitiert, die nicht nur neue Bezüge stiftet, sondern sie zugleich infrage stellt und »mit Zusammenhängen so beliebig schaltet und waltet, dass man sich am Ende fragt, ob die selbstverständlichsten Zusammenhänge nicht gerade die absurdesten sind.«30 Die Setzung von neuen Bezugssystemen ist jedoch nicht nur im Sinne einer individuellen Zusammenstellung von vormals Zerstreutem zu verstehen, sondern etabliert sich auf andere Weise im persönlichen Kontextualisieren der Sammlungsobjekte durch die Betrachter_innen selbst, die sich mit ihren eigenen Lebenswelten in Bezug dazu setzen. Innerhalb einer Vielschichtigkeit künstlerischer Sammlungs- und Anordnungssystematiken stellt sich Bedeutungsproduktion somit nicht allein »durch eine hierarchisierte Organisation von oben« dar, so Sabine Rusterholz anlässlich der Ausstellung Speicher fast voll – Sammeln und Ordnen in der Gegenwartskunst, sondern vielmehr »durch eine Vielstimmigkeit, innerhalb derer sich der Einzelne mit seinen eigenen Referenzialitäten positioniert«.31 In einem rein subjektiven Zugriff auf das 30 31

Grasskamp: »Dokumentation: Künstler und andere Sammler«, S. 70. Rusterholz, Sabine: Speicher fast voll, S. 21.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Sammlungsmaterial und die Vielfältigkeit individueller Ordnungsprinzipien emanzipieren sich die Künstler_innen gegenüber kulturellen und wissenschaftlichen Akkumulationsverfahren und Klassifikationssystemen. Sie führen Zerstreutes in eine, nämlich ihre subjektive Ordnung, derweil sich »das Bild – die Erscheinung, das Phänomen, die Erkenntnis, die Synthese und was dergleichen mehr«32 aus dem großen Ganzen bildet.

Gemeinsames: Das Besondere im Allgemeinen Weiterhin ist allen bisherigen künstlerischen Sammlungsformaten gemein, dass sie das Banale, das Alltägliche in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Hierfür vollziehen die Künstler_innen eine Umkehrung zur klassischen Sammlungsbewegung, die Außerordentliches akkumuliert, um es mit anderem Einzigartigen gleichzusetzen – und damit paradoxerweise das Singuläre unterminieren. Künstlerische Sammlungsverfahren, die im Gegensatz dazu das Gewöhnliche fokussieren, begehen einen Weg, der vom Allgemeinen zum Besonderen führt. Damit stellen sie nicht nur den gesellschaftlichen Kanon des Sammelwürdigen in Frage, sondern schaffen zugleich neue Aufmerksamkeiten für alltägliche Phänomene: Altbekanntes wird neu fokussiert und der Blick für das Einzigartige geschärft, das sich in ihm zeigt. Gesamtbetrachtend lässt sich festhalten, dass alle Sammlungsformate – unabhängig davon, auf welche Ortsmetaphern sie sich beziehen und auf welchen Verfahren sie beruhen – wiederkehrende Thematiken aufrufen, die sie über die bloße Akkumulation von Objekten hinaus miteinander verbinden: Die Akzentuierung auf triviale, alltägliche Sammlungsobjekte, denen in der Überführung in eine Sammlung neue Weihen zuteil werden; die Sichtbarmachung von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ordnungssystemen, die unser Weltbild

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Sachsse, Rolf: »über: sammel: sucht«, in: Azoulay, Sachsse, Weisser (Hg.): All: About: Sehnsucht, München Berlin 2011, S. 45-48, hier S. 48.

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prägen; die Nutzbarmachung eben jener Ordnungssysteme, um alternative Wissensgenerierungen aufzuzeigen; das Spiel mit ungewöhnlichen Benennungen, Zuweisungen oder Regelwerken und damit ein Unterwandern und Durchbrechen tradierter Ordnungsverfahren; und letztendlich die Offenlegung von Rekonstruktions- und Konstruktionsverfahren, mit denen Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges in subjektiv-sinnvolle Zusammenhänge zu überführen versucht wird.

Homogene und heterogene Sammlungen in der Kunst Was alle hier angeführten Beispiele gleichermaßen verbindet, ist – ausgenommen Francis Alÿs Fabiola – ein Zusammentragen von äußerlich differentem Material, das in heterogenen Sammlungen und unter der Benennung einer oder mehrerer Rubriken zusammengeführt und in Verbindung zueinander gesetzt wird. In Fabiola hingegen ergibt sich die Verbindung des Sammlungsmaterials untereinander über die Auswahl von äußerlich Gleichartigem, das zu homogenen Sammlungen führt. Ein weiteres Beispiel homogener Akkumulationsverfahren sind die Arbeiten des Künstlers Peter Piller. In ihnen versammelt er gefundene und zugespielte Zeitungsfotos, die er nach inhaltlichen Überschneidungen und gemeinsamen gestalterischen Elementen unter Überschriften wie Schießende Mädchen, In Reihe stehende Menschen oder Auto berühren kodiert. In seiner Zusammenführung von Fotografien gleichen Inhalts werden so Regelwerke ersichtlich, deren Systematik sich erst in der Nebeneinanderstellung von äußerlich gleichem Material offenbart. So scheint in der beiläufigen Handlung der Berührung eines Autos zunächst nichts Verwunderliches zu sein. Wenn man aber, so Piller in einem Interview zu dieser Serie, »davon 10, 20 oder 30 Bilder sieht, stellt man sich die Frage, was das soll und ob es nicht vielleicht aufschlussreich ist bezüglich der Beziehung, die Leute zu ihren Fahrzeugen haben«.33 33

Piller, Peter: »Archiv Peter Piller«, in: von Bismarck, Eichele, Feldmann u.a. (Hg.): Interarchive, Köln 2002, S. 312-313, hier S. 313.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

In den fotografischen Aufnahmen profaner Handlungen bilden Pillers Sammlungen über das Zufällige hinweg absonderliche Verhaltensweisen als wiederkehrende Prinzipien heraus, die sich als kulturelle und gesellschaftliche Eigenheiten zeigen. Zugleich wird in jedem ähnlichen Verhalten sein Differentes ersichtlich, das sich als Variation einer Handlung eröffnet. Hier wie auch in Francis Alÿs Fabiola zeichnet sich eine Eigenart homogener Sammlungen ab, die sich sowohl in ihrer Darstellung als auch in ihrer Rezeption manifestiert: Das Spiel zwischen Differenz und Wiederholung innerhalb einer Vorführung von Vielfalt im vordergründig Gleichen. Sowohl homogene als auch heterogene Sammlungsverfahren präsentieren sich als zusammengehöriges Ganzes, im gleichzeitigen Gewahrwerden ihrer einzelnen Teilelemente. Ihre Betrachtung vollzieht sich in der Aufspaltung oder in der Zusammenführung ihrer Sammlungsobjekte und impliziert ein Verfahren, das, wie Christoph Heinrich im Zuge seiner Überlegungen über serielle Künste beschreibt, Analyse und Synthese hervorbringt.34 Rezeptionsästhetisch tritt damit und aus meiner Sicht ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Formaten hervor: Heterogene Sammlungen zielen vornehmlich – um in der Begriffswahl Heinrichs zu bleiben – auf die Synthese, auf das inhaltliche Kontextualisieren materiell und formal verschiedener Objekte, um sie als Zusammengehöriges erfahren zu können. Homogene Sammlungen indes fordern demgegenüber die Analyse, im Sinne einer Zerlegung von Einheitlichkeit, um das Differente zu erschließen. Bezüglich ihrer Wahrnehmung vollziehen heterogene Sammlungen somit einen Weg, der vom Singulären auf ein Ähnliches verweist. Ihr Erkenntnisprozess verläuft induktiv, indem vom Einzelnen zum Allgemeinen geschlossen wird, im Sinne der Offenbarung einer Eigenschaft, die allen Objekten gemein ist. Im Gegensatz dazu findet die Wahrnehmungsbewegung in homogenen Sammlungen vom Ähnlichen hin zum Einzigartigen statt, also deduktiv, indem im Allgemeinen das Besondere fokussiert wird. 34

Heinrich, Christoph: »Serie – Ordnung und Obsession«, in: Schneede, Uwe M. u. Heinrich, Christoph (Hg.): Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2001, S. 7-12, hier S. 8.

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Serielle Fotografie Wie sich zeigt, sind die Wiederholung und das Serielle vornehmlich Eigenschaften homogener Sammlungen. Explizit und als formale Setzung tritt beides in einer ihrer besonderen Spielarten in Erscheinung: der seriellen Fotografie. Ihr gebührt eine besondere Stellung, denn ihr Aufkommen als eigenständige Kunstform in den 1960er Jahren erweist sich als Wegbereiter aller nachfolgenden Sammlungsverfahren in den Bildenden Künsten. Zugleich ist der seriellen Fotografie eine Eigenschaft immanent, die einen Brückenschlag hin zu performativen Sammlungen bildet: Ihr Sammlungsmaterial, in diesem Fall die Abbilder eines Originären, entsteht erst im Moment des Akkumulationsprozesses. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die one year Performance Time Clock Piece (1980 – 1981) von Tehching Hsieh. Für diese Arbeit bedient Hsieh über ein ganzes Jahr hinweg stündlich eine Stempeluhr und hält den Moment mithilfe einer Filmkamera fotografisch fest, indem er ein Bildframe pro Aufnahme nutzt. In einer selbst aufgesetzten Vereinbarung mit David Milne, dem damaligen Executive Director der Foundation for the Community of Artists legt er die Grundregularien zusätzlich schriftlich fest: With a 16mm movie camera, I shall document each time I punch the Time Clock by shooting one frame. At the completion of the performance, the witness will confirm, that the film is unedited. 35 Zu Beginn des Projekts rasiert er sich den Kopf und lässt seine Haare ab diesem Zeitpunkt wachsen, ohne sie erneut zu schneiden. Zudem trägt er zu jeder Aufnahme die gleiche graue Uniform, um sich in seinem Appartement vor dem immer gleichen Hintergrund aufzunehmen. Durch die strenge formale Setzung der äußeren Rahmenbedingungen zeigt sich das Vergehen von Zeit exemplarisch an kleinen Abweichungen der

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Heathfield, Adrian u. Hsieh, Tehching (Hg.): Out of now. The lifeworks of Tehching Hsieh, London und Cambridge 2009, S. 104.

4. Kapitel: Künstlerische Sammlungsformate

Positionierung vor der Kamera oder an den immer länger werdenden Haaren des Künstlers. Während der einjährigen Dauer definiert das streng gesetzte Zeitintervall Hsiehs gesamtes Leben: Seine Wohnung für eine längere Zeitspanne zu verlassen, ist ihm nicht möglich, seine Schlafdauer am Stück beträgt nie mehr als 50 Minuten. Leben und Kunst verbinden sich untrennbar miteinander. Nicht immer gelingt ihm die Einhaltung der strikten Taktung, Lücken in der Präsentation der aufeinander folgenden Frames verweisen auf Fehlschläge in der Durchführung, die er akribisch auf den Stempelkarten protokolliert (94 Mal verschlafen, 29 Mal zu spät, 10 Mal zu früh). Alles in allem realisiert Hsieh 8726 Einzelaufnahmen, die er nach Ablauf seiner one year performance gemeinsam präsentiert. Hierfür stellt er die Selbstaufnahmen in zeitlicher Abfolge nebeneinander und kombiniert sie mit den dazugehörigen Stempelkarten, zusätzlich zeigt ein Filmprojektor die einzelnen Frames in schneller Abfolge hintereinander. Die Wahl einer Filmkamera suggeriert dabei eine lineare Zeiterfahrung, die den Tag auf eine Sekunde und das Jahr auf eine sechsminütige Zeitspanne komprimiert. Das kurze Zeitintervall, das die Präsentation umfasst, steht so im starken Kontrast zur Langzeitrealisation des gesamten Kunstwerks. In Verbindung von Conceptual und Performance Art generiert Hsieh über ein Jahr hinweg einen Sammlungsbestand, der erst im Moment seines Zusammentragens hervorgebracht wird: als fotografische Repräsentation eines Ereignisses, das evoziert werden muss, um fotografiert und dokumentiert werden zu können. Unter dem Aspekt eines Hervorbringens von vorher so nicht Dagewesenem und vor dem Hintergrund eines Aufführungs- beziehungsweise Ereignischarakters können künstlerische Akkumulationen also auf performativen Sammlungsverfahren basieren, wenn sie erst im Sammelvorgang selbst ihre Sammlungsobjekte generieren: Indem sie performativ gesammelt werden. Hsiehs Präsentation seiner Selbstportraits hingegen zeigt sich als klassische Ausstellungspraxis der Bildenden Kunst, als Kollektion fotografischer Abzüge und filmischer Dokumentation seiner künstlerischen

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Aktion. Das Attribut des Performativen lässt sich jedoch gleichfalls auf die Darbietung eines Sammlungsbestands anwenden, dann nämlich, wenn die Sammlungspräsentation selbst zum performativen Ereignis wird. Infolgedessen schlage ich vor, die bisher genannten Sammlungsformen um ein weiteres Format zu komplettieren, das die Materialgenerierung als performativen Sammlungsvorgang sowie die Präsentation als performatives Ereignis zusammenführt und dem in bisherigen Publikationen zu künstlerischen Sammlungspraktiken weder Raum, Benennung noch Definition gegeben wurde: der performativen Sammlung.

5. Kapitel: Performative Sammlungen

Das Performative als Attribut künstlerischer Sammlungsformate Um die Definition einer performativen Sammlung eingrenzen zu können, möchte ich zunächst noch einmal an die Notwendigkeit erinnern, zwischen Ansammlungen und Sammlungen, ökonomischem und ästhetischem Sammeln sowie nach dem jeweiligen Sammelantrieb, der allem Zusammentragen von Objekten vorangestellt ist, zu unterscheiden. Ähnlich verhält es sich mit dem Attribut des Performativen im Hinblick auf die Beschreibung performativer Sammlungen. Denn das Performative umfasst grundsätzlich und daher sehr allgemein »verschiedene Ansätze der Auseinandersetzung mit kulturellen Formen des Hervorbringens, Handelns und Bewirkens«1 , die in unterschiedlichen Fachdisziplinen wie Philosophie, Literatur-, Sprach-, Sozial- und Kulturwissenschaft, aber auch in Bereichen der Ökonomie verhandelt werden. Im Hinblick auf performative Sammlungsformate ist es deshalb notwendig, das Performative unter der Voraussetzung seiner wirklichkeitskonstruierenden und selbstreferenziellen Wirkung zu verstehen.2 Ausgehend von der Sprechakttheorie des Philosophen John L. Austin bringen performative Aussagen einerseits Wirklichkeiten hervor, anderseits bedeuten sie das, was sie vollziehen, ohne auf etwas anderes zu verweisen, wie etwa: »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ›Queen 1 2

Von Hantelmann, Dorothea: How to Do Things With Art, Zürich u. Berlin 2007, S. 10. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 28.

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Elisabeth‹ …«.3 Der Inhalt dieser Aussage verschiebt sich vom Sagen zum Tun, dabei zeigt sich, dass performative Sprechakte gleichfalls als Transformationsprozesse zu begreifen sind, die im Moment der Äußerung einen Zustand in einen anderen überführen und so neue Realitäten hervorbringen können. Ihr Vollzug manifestiert sich zudem über eine »ritualisierte öffentliche Aufführung«4 , die einer autorisierten Person oder einer Zeugenschaft bedarf, um Wirklichkeit zu werden. Bezieht Austin sich hier lediglich auf Sprechhandlungen, wendet die Kulturphilosophin Judith Butler den Begriff auch auf körperliche Handlungen an.5 Ihr Fokus liegt auf performativen Akten, die soziale Wirklichkeiten und im Besonderen Geschlechteridentitäten konstituieren. Grundlage ihrer Überlegungen bildet die Annahme, dass Identität nicht vorrangig biologisch gegeben ist, »sondern das Ergebnis spezifischer kultureller Konstitutionsleistungen darstellt.«6 Nach Butler bringen performative Handlungen Identitäten in ihrer Bedeutung erst hervor, ohne sich auf etwas vorgängig biologisch oder ontologisch Gegebenes zu berufen. Sie sind selbstreferenziell, da sie sich nicht auf Substanzielles oder bereits Seiendes beziehen. Dazu sind sie wirklichkeitskonstituierend, da erst im Vollzug eines performativen Aktes das Hervorzubringende entsteht. Körperliche und soziale Identität, so Erika FischerLichte in diesem Zusammenhang, wird also »stets durch performative Akte konstituiert«.7 Performative Akte sind wiederholende Akte, die sich aus Konventionen herleiten, die immer wieder neu aktualisiert werden. Abweichungen innerhalb dieser »stilisierten Wiederholungen«8 führen zu Transformationen derselben und setzen eine gesonderte Dynamik in Gang, 3 4 5

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Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979, S. 28 u. 29. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 41. Vgl. Butler, Judith: »Performative Acts and Gender Construction – An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Case, Sue Ellen (Hg.): Performing Feminism, Baltimore u. London 1990, S. 270-282. Fischer-Lichte, Erika:Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 42.

5. Kapitel: Performative Sammlungen

in der die dadurch hervorgebrachten Identitäten in ständiger Bewegung gehalten werden. Hier wird das Prozessuale in der Erzeugung von Identität deutlich, das nach Butler zugleich einen Prozess der Verkörperung darstellt. Dazu zieht sie Parallelen zu Theateraufführungen, indem sie dem Performativen immer einen Akt der Verkörperung zuschreibt. Dieser bedarf wie im Theater einer Zeugenschaft, um geteilt, betätigt und so vollzogen werden zu können. Performativität, erläutert diesbezüglich auch Erika Fischer-Lichte, »führt zu Aufführungen beziehungsweise manifestiert sich im Aufführungscharakter performativer Handlungen«.9 Generell impliziert die Kategorie des Performativen als realitätserzeugende Dimension also immer einen Aktcharakter, das Vollzugereignis sowie Momente der Setzung, die sich im Vorgang eines Sich-Zeigens vor einem Publikum manifestieren.10 Unter diesen Voraussetzungen ist die Begriffsbestimmung für eine Definition performativer Sammlungen fruchtbar. In einer ersten Abgrenzung zum konventionellen Sammlungsbegriff zeichnen sich performative Sammlungen durch ihren Ereignischarakter aus. Der Vorgang des Zusammentragens wird hier als Vollzugsereignis reproduziert, um das Versammelte innerhalb einer gesetzten Zeitlichkeit als Sammlung auszuweisen. Das sich immer wieder neu Konstituierende, das der Begriff des Performativen impliziert, bildet sich als hervortretendes Merkmal des performativen Sammlungsbegriffs heraus. Dies steht im Gegensatz zu erhaltenden und konservierenden Eigenschaften einer klassischen Sammlung. Dabei wird das Sammlungsmaterial performativer Sammlungen erst im Augenblick seiner Sichtbarmachung erfahrbar, zugleich ist die Sammlung selbst nur als zeitliches Ereignis rezipierbar. Die spezifische Charakteristik des Flüchtigen ist also nicht nur in ihrer Präsentationsform verankert, sondern lässt sich darüber hinaus im versammelten Material selbst verorten. Im Spannungsfeld zwischen Ereigniskunst und musealem Bewahren können performative Sammlungen deshalb als momenthafte Sammlungen beschrieben 9 10

Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 41. Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002, S. 289ff.

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werden, da sie sich im Hier und Jetzt immer wieder neu konstituieren und so zwischen den gegensätzlichen Polen der Konservierung und Vergänglichkeit oszillieren.11

Wesenszüge Im Zuge dieser ersten Begriffsbestimmung möchte ich nun die Wesensart performativer Sammlungen genauer betrachten. Auf der Folie bereits benannter Eigenschaften lautet die zugrunde liegende Definition zunächst wie folgt: Künstlerische Formate wie Performances, theatrale Installationen, Choreographien, Lecture Performances oder Audio Walks können die Gestalt einer performativen Sammlung annehmen, wenn ihr verhandeltes Material unter der Prämisse einer inhaltlichen oder formalen Ähnlichkeit in einer seriellen Anordnung als zeitliche Abfolge präsentiert wird. Der entscheidende Unterschied zu klassischen Sammlungsformaten liegt hierbei im Aufführungscharakter als performativem Ereignis, bei dem der Vorgang des Sammelns in seiner Prozesshaftigkeit visualisiert wird. Denn als wesentlicher Bestandteil der Präsentation wird das Zusammentragen als Vollzugsereignis in der Gegenwart erfahrbar. Der eigentliche Sammlungsprozess muss jedoch nicht notwendigerweise mit der Sammlungspräsentation zusammenfallen, der Vorgang kann ebenso zeitlich vorgelagert stattfinden. Wesentlich ist, dass der Sammlungsbestand erst im Vollzug seiner Akku-

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Der Diskurs darüber, dass sich eine Performance nicht mehr nur über ihren flüchtigen, ephemeren Aufführungscharakter, ihre Nicht-Wiederholbarkeit und ihre Nicht-Dokumentierbarkeit auszeichnet, sondern ebenso als Dokument gelesen werden muss, das kulturelle Codes überliefert und festhält, ist sicherlich maßgeblich für ein neues Verständnis bezüglich des Begriffs der Dokumentation im Allgemeinen, der Dokumentierbarkeit von Performances sowie das künstlerische Format des Reenactments. (vgl. Schneider, Rebecca: Performing Remains, London/New York 2011) Innerhalb meiner Abgrenzung zum musealen Bewahren einer klassischen Sammlung und ihrer materiellen Objekthaftigkeit allerdings möchte ich am Begriff des Flüchtigen festhalten, ohne dabei den Nachhaltigkeitsaspekt negieren zu wollen.

5. Kapitel: Performative Sammlungen

mulation hervorgerufen wird, dass er also ebenfalls einer Ereignishaftigkeit unterliegt. Nur so kann in der Präsentation der Kollektion ein erneutes Aufrufen als performatives Ereignis erfahrbar werden. Am Beispiel der seriellen Fotografie hat sich gezeigt, wie Sammlungsmaterial – in diesem Fall fotografische Aufnahmen – erst im Vorgang des Gesammelt-Werdens entsteht. Dabei werden die Fotografien selbst wieder zu Dingen, die dauerhaft rezipiert werden können. Hier tritt eine spezielle Eigenart fotografischer Sammlungsverfahren hervor, da nicht im eigentlichen Sinne Objekte, sondern vielmehr deren Abbilder zusammengetragen werden. Eine »Gegenüberstellung in Abwesenheit« wird dadurch ebenso möglich wie eine Nebeneinanderstellung von »geographisch oder historisch auseinanderliegenden Gegenständen«.12 Fotografische Verfahren erweitern demnach den Bereich des Sammelbaren um Nicht-Versammelbares, weil nicht-zusammenführbare Objekte wie etwa Getreidesilos oder Straßenzüge durch deren Abbilder nun akkumuliert, archiviert und ausgestellt werden können. Auch Ephemeres, Ereignisse also, deren Wahrnehmung einer zeitlichen Begrenzung unterliegen wie Sternschnuppenregen oder Jahreszeitenwechsel, können so einer dauerhaften Betrachtung zugeführt werden. Ihnen kann durch Speichermedien wie etwa Fotopapier »eigene Beharrlichkeit und Beständigkeit« verliehen werden, wie Manfred Sommer dazu anmerkt.13 Das Vergängliche, so Sommer weiter, erfährt seine Dauer allerdings nur »um den Preis der Mittelbarkeit und Nachbildlichkeit«.14 Es ist eben nicht das Ereignis selbst, sondern immer dessen Repräsentation, die, vermittelt über ein Speichermedium, in eine Sammlung Einzug hält. Ähnlich verhält es sich in performativen Sammlungsverfahren. Auch hier wird Ephemeres wie Erinnerungen, Träume, Zukunftsvisionen, Ängste aber auch Bewegungsabfolgen akkumuliert, das erst durch die Stimmen und Körper von Schauspieler_innen, Tänzer_innen und Performer_innen artikuliert oder durch Ton- und Videoaufnahmen

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Grasskamp: »Dokumentation: Künstler und andere Sammler«, S. 54. Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, S. 108. Ebd., S. 108.

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festgehalten wird. Wieder benötigt das eigentliche Sammlungsmaterial ein Trägermedium, um mittelbar rezipiert werden zu können. Im Unterschied zu fotografischen Kollektionen unterliegt das Trägermaterial performativer Sammlungen allerdings selbst einer Ereignishaftigkeit, etwa durch live aufgeführte Bewegungssequenzen oder sprachliche Verfasstheiten, die eine eigene Zeitlichkeit beanspruchen. Ebenso kann das Sammlungsmaterial über Medien wie Video oder Soundfiles präsentiert werden, die im Gegensatz zu fotografischen Abzügen wiederum einen zeitlichen Verlauf markieren. Ein grundlegender Unterscheid zu allen bisher genannten Sammlungsformaten liegt darin, dass sich das Versammelte nicht als objekthafte Ausstellung von Dinglichem zeigt. Der Sammlungsbestand rekrutiert sich vielmehr aus Geschehen in der Zeit. Trotz vermittelter Trägermedien verliert er seine Ereignishaftigkeit nicht, da die Sichtbarmachung des Sammlungsmaterials selbst als performativer Akt verläuft. Bezogen auf den Sammlungsprozess bedarf die Attribution des Performativen an dieser Stelle eine genauere Einordnung, liegt doch grundsätzlich jedem Vorgang des Sammelns ein performativer Akt zugrunde: Im Zusammentragen verstreuter Objekte wird eine Handlung vollzogen, die Dinge aus ihren vormaligen Kontexten herauslöst, um sie, durch Zuordnung neuer Bedeutungsebenen, in Sammlungsobjekte zu transformieren. Performatives Sammeln, wie es hier verstanden werden will, meint jedoch mehr als die Transformation in ein Sammlungsobjekt. Denn hier lässt sich die Performativität des Akkumulationsprozesses sowohl auf produktionsästhetischer als auch rezeptionsästhetischer Ebene verankern. Einerseits innerhalb der Hervorbringung des Sammlungsmaterials im Sinne eines formgebenden Sammelns, das ephemeres Material in den Zustand einer wiederholbaren Betrachtung überführt. Und andererseits in Bezug auf die Rezeption, bei der das Publikum das Zusammenkommen des Sammlungsbestands als zeitliches Nacheinander noch einmal aktiv nachvollziehen kann. Da sich die performative Sammlung als Aufführung präsentiert, benötigt sie ein Publikum, eine leibliche Ko-Präsenz, um überhaupt Gestalt annehmen zu können. Nach Erika Fischer-Lichte geht eine Aufführung aus »der Begegnung oder Konfrontation aller

5. Kapitel: Performative Sammlungen

Beteiligten« hervor, sie entsteht »immer erst in ihrem Verlauf«.15 Erst die Zusammenführung von Publikum und Sammlungsmaterial lässt die Sammlung als Ereignis erfahrbar werden. Denn entgegen allen anderen (objekthaften) Akkumulationen formiert sich die performative Sammlung im Prozess ihrer Anschauung, indem sie unter der Beteiligung aller erst hervorgebracht wird. In der Wechselbeziehung zwischen Handlungen und Verhaltensweisen können sich die Zuschauer_innen hierbei als Subjekte erfahren, die »das Handeln und Verhalten anderer« mitbestimmen und deren »eigenes Handeln und Verhalten ebenso von anderen mitbestimmt wird«.16 Im Vergleich zu musealen Sammlungsverfahren fordert die performative Sammlung folglich eine besondere Form rezeptionaler Teilhabe ein, auf deren unterschiedliche Auswirkungen ich anhand ausgewählter Beispiele zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer eingehen werde. Weiter muss festgehalten werden, dass nicht jede Form performativer künstlerischer Präsentation per se als Sammlung verstanden werden kann, selbst wenn ihr der Vorgang des Versammelns vorangestellt ist. Denn grundsätzlich wird in künstlerischen Prozessen immer Material zusammengetragen, um es – miteinander verwoben, komponiert und aufeinander abgestimmt – einer bestimmten Dramaturgie und innerhalb eines zeitlich festgelegten Ablaufs zur Aufführung zu bringen. Die Präsentation einer performativen Sammlung hingegen impliziert das geordnete Nacheinanderstellen von äußerlich oder inhaltlich ähnlichem Material, wobei das Einzelne weiterhin als Singuläres erkennbar bleibt. Performative Sammlungen zeichnen folglich das Bild eines zergliederten Ganzen nach, dessen Teilelemente zugleich als Vereinzeltes sichtbar bleiben. Sähe man von dieser spezifischen Darstellungsform ab, wäre jede Installation, jeder Theaterabend oder jede Choreographie – ähnlich wie jeder Text oder jedes Gespräch – als (performative) Sammlung zu verstehen. Daraus folgt, dass die spezifische Form des performativen Sammlungsvorgangs sowie der besondere Modus eines seriellen

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Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, S. 54. Ebd., S. 56.

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und zeitlich definierten Präsentationsformates zusammenfallen müssen, um von einer performativen Sammlung sprechen zu können. In Anbetracht dieser signifikanten Eigenschaften zeichnet sich eine nächste Differenz zu musealen Sammlungsformaten ab. Denn entgegen dem Besuch von Theateraufführungen, Kino oder Konzerten wird die Aufenthaltszeit in einem Museum weitestgehend selbst verwaltet und nur durch die relative Zeitspanne der Öffnungszeiten begrenzt. Innerhalb dieser können sich die Besucher_innen zeitungebunden und nach ihren subjektiven Bedürfnissen im Raum bewegen. Sie verfügen damit über die Freiheit, »die Geschwindigkeit des Ausstellungs-Handlungsablaufs«17 individuell zu bestimmen, wie Werner Hanak-Lettner konstatiert. Die Erzählzeit, die sich nach ihm durch »die Aufmerksamkeit gegenüber einem Gegenstand, einem Text, durch die Gehgeschwindigkeit im Raum«18 etabliert, wird hier dem Publikum selbst überlassen. Der Besuch einer Ausstellung erlaubt einen Vorgang, der anderen in Realzeit dargebotenen Aufführungsformen verwehrt bleibt: Die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und individuell zu entscheiden, welchem Objekt wie lange Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei können einzelne Abschnitte selbstbestimmt wiederholt rezipiert werden. Demgegenüber zeichnen sich performative Sammlungen durch ihren Aufführungscharakter aus, ihre Rezeption verläuft innerhalb eines zeitlich festgelegten Ablaufs. Die Erzählzeit wird hier nicht durch die Rezipient_innen selbst, sondern durch die Inszenierung festgelegt, in der sich der Sammlungsbestand als zeitlich gesetztes performatives Ereignis präsentiert. Unabhängig davon, wie weit der Bewegungsradius abgesteckt beziehungsweise ob eine Interaktion Teil der Aufführung ist, wird dem Publikum ein selbstbestimmtes Vor- und Zurückschreiten innerhalb der Sammlungsrezeption verwehrt. Da die einzelnen Elemente nacheinander in Erscheinung treten, um daraufhin wieder zu verschwinden, bleibt

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Hanak-Lettner, Werner: Die Ausstellung als Drama. Wie das Museum aus dem Theater entstand, Bielefeld 2011, S. 107. Ebd., S. 108.

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zudem das, was bereits betrachtet wurde, lediglich in der Erinnerung zurück und kann nicht wiederholt betrachtet werden. Es wäre an dieser Stelle jedoch voreilig zu vermuten, performative Sammlungen würden sich gegenüber klassischen Sammlungspräsentationen darin unterscheiden, dass das Publikum eine feste Position einnimmt, während das Sammlungsmaterial in der Systematik eines Aufscheinens und Verwindens an ihm vorüberzieht. Damit würde der Umkehrschluss vollzogen, dass anstelle der Betrachter_innen, die sich nach individuellen Bedürfnissen zu unbeweglichen Objekten im Raum positionieren, nun das Publikum einen festen Platz einnimmt, während sich an seiner Stelle das Sammlungsmaterial bewegt. Dies mag sicherlich für diejenigen performativen Sammlungen zutreffen, die sich mit einer klaren Trennung von Bühne und Publikumsraum als klassische Theatersituation präsentieren. Performative Sammlungsformen finden sich jedoch gleichfalls in Formaten wie Audio-Walks, Performances, choreografischen Arbeiten oder theatralen Installationen wieder, die in ihrer Anlage durchaus ein individuelles Bewegen im Raum sowie eine subjektive Positionierung zum Betrachteten erlauben. Dennoch ist auch hier die Erzählzeit der Präsentation unabhängig vom Publikum zu sehen, selbst wenn es – wie beispielsweise in meiner theatralen Installation Museum des Augenblicks oder der choreographischen Arbeit Rétrospective par Xavier Le Roy, die im Folgenden noch vorgestellt werden – durch seine Bewegungen und Reaktionen Sammlungselemente auslöst oder deren Reihenfolge (vermeintlich) selbstbestimmt festlegen kann. Denn der Gesamtverlauf der Präsentationen verbleibt zeitlich und dramaturgisch gesetzt, da das, was aufeinander folgt, nicht allein autonom durch die Zuschauer_innen definiert wird, sondern trotz individueller Kombinationsmöglichkeiten innerhalb der Darstellung festgelegt bleibt. Vor dem Hintergrund einer ersten Skizzierung performativer Sammlungen gilt es nun, ihre einzelnen Erscheinungsformen zu untersuchen. Dazu sollen ihre Präsentationsformate unter dem Fokus formaler Setzungen betrachtet werden, die sie als Sammlung ausweisen. Hinsichtlich ihrer künstlerischen Gestaltung sowie ihrer Rezeption werden darüber hinaus Eigenheiten und Charakteristiken,

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die sie von bereits benannten Sammlungsformaten der Bildenden Kunst unterscheiden, abgeglichen. Hierfür werde ich ausgewählte Arbeiten aus dem Bereich der performativen Künste, die exemplarisch für performative Sammlungsformate stehen, einer genaueren Betrachtung unterziehen. Den Anfang bildet While We Were Holding It Together, eine Performance, die 2006 von Ivana Müller für die Sophiensaele in Berlin entwickelt wurde.

Kapitel 5a: Performance – While We Were Holding It Together (Ivana Müller)

Ivana Müller, While We Were Holding It Together 2006, ©Karijn Kakebeeke

In dieser Arbeit stehen, sitzen und liegen fünf Performer_innen gleich einem tableau vivant in bewegungslosen Posen auf der Bühne. Eine hat den linken Arm gehoben, so als wolle sie eine unsichtbare Tür aufhalten. Ein nächster steht breitbeinig da, seine Arme sind nach vorne geöffnet, so als wolle er etwas auffangen. Wieder einer scheint

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mit seiner rechten Hand etwas Langes, Senkrechtes festzuhalten, das er vor sich herträgt. Zwei weitere haben sich auf dem Boden niedergelassen. Eine liegt seitlich und stützt sich dabei mit beiden Händen nach oben auf, als würde sie etwas beobachten. Ein anderer reicht einem imaginären Gegenüber die Hand. Die Aufführung beginnt mit einer längeren Sequenz des Schweigens, dann fangen die Performer_innen an, abwechselnd kurze Texte zu sprechen, die – abgesehen von kleinen Ausnahmen – immer mit der Replik »I imagine …« beginnen. I imagine we are standing in the middle of a forest. We are on a family weekend. And we haven’t seen each other for a while. We just had lunch and we are about to continue our trip up the hill. – - – I imagine we are wearing matching training suits. I am bringing aunt Hilda her tea. – - – I imagine I am a fox. This is the animal gallery. The bear, the wild cat, the tiger and the rabbit are behind me. – - – I imagine we escaped from the zoo. Three days ago. And we are hungry. It’s pouring rain. Our furs are soaking wet. And smelly. – - – I imagine I am a 150 year old oak tree. – - – I imagine a different position of my hand would have been a better choice. – - – I imagine I am the commander of a special military unit. We are overlooking the forest in a mountainous region. Possibly Kashmir. Or something like that. I have a big black mustache. My assistant Achmed is bringing me my binoculars. – - – I imagine myself entering a room in a cheap hotel in Bangkok. In front of me a young oriental lady. In school uniform. Happens to be relaxing on a straw mat. – - – I imagine I am sick. My mouth is dry. My muscles are in pain. I have fever and I feel slightly noxious. I think I am dying. – - – I imagine I am standing on the number thirty-eight bus. – - – I imagine I’ve been run over by the number thirty-eight bus. I imagine my hip is broken. – - – I imagine snow is falling on us. Thick layers of snow. – - – I imagine us still here in 300 years. Being discovered by an archaeologist.1

1

Das zitierte Beispiel gibt den Aufführungstext zu Beginn der Aufführung wieder.

Kapitel 5a: Performance – While We Were Holding It Together (Ivana Müller)

Das Handlungsverb »imagine«, das in seiner Übersetzung ein Annehmen, Vermuten, Ausmalen, Vorstellen oder Einbilden bedeutet, weist hier auf das unendliche Potential hin, ein einzelnes Bild zu lesen beziehungsweise kontextualisieren zu können. In diesem Sinne fährt die Aufführung fort, stetig neue Szenarien zu entwerfen, die sich als Bildunterschiften unter das Standbild legen. Zwischen den einzelnen Sätzen und vor dem Beginn einer neuen Erzählung werden dazu immer wieder längere Pausen gelassen. So entsteht der Eindruck, dass die Zuschreibungen erst im Moment ihrer sprachlichen Veräußerung erfunden werden. Manchmal lassen sich die Performer_innen von Vorangegangenem inspirieren, dann wieder entwerfen sie völlig neue Skizzen eines möglichen Handlungshergangs. So absurd ihre Entwürfe zuweilen sein mögen, immer sind sie so beschrieben, dass figurative und narrative Erzählung zusammenfallen können. Nach und nach entsteht so ein Reigen aus unzähligen möglichen Bildzuschreibungen, der die Performer_innen in immer neue Kontexte und Beziehungen zueinander setzt. Die Szenarien spielen sich indes lediglich in der Vorstellungswelt der Performer_innen und ebenso ausschließlich in dem Köpfen des Publikums ab. Ivana Müllers Konstruktion führt exemplarisch vor, wie Theatralität und Fiktionalisierung Hand in Hand gehen, zugleich wird das Theater als Ort der Imagination bestätigt. Das konsequente Verharren in denselben und zum Teil durchaus unkomfortablen Haltungen wiederum verbleibt nicht ohne Wirkung. Realität und Zeitlichkeit der gehaltenen Posen brechen in diesen assoziativen Imaginationsraum ein, wenn etwa die körperliche Anstrengung eines ausgestreckten Arms über die Dauer der Aufführung sichtbar wird. In ihrer Statuarik und repetitiven Textkomposition folgt die Arbeit einer klaren und reduzierten Form, die sich in einer wiederholenden Setzung von Blacks fortsetzt. Sie takten den Ablauf des Sehens und rhythmisieren den Zeitfluss.2 Nach und nach werden zudem Geräusche zugespielt, die das Erzählte illustrieren oder in neue Räume versetzen, 2

Vgl. Zitko, Hans: »Der Ritus der Wiederholung. Zur Logik der Serie in der Kunst der Moderne«, in: Hilmes, Carola u. Mathy, Dietrich (Hg.): Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung, Obladen/Wiesbaden 1998, S. 159-183, hier S. 159.

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Ivana Müller, While We Were Holding It Together 2006, ©Karijn Kakebeeke

wie etwa Schritte im Schnee, leichter Regenschauer oder die Klanglandschaft einer Sommerwiese. Im letzten Drittel dann beginnt Müller mit kleinen Variationen im Aufbau zu spielen: In einem Black tauschen die Performer_innen unbemerkt die Plätze und nehmen die Position anderer Spieler_innen ein, während sich die Texte weiterhin auf die Komposition und Gesten der Körper im Raum beziehen. Dann ein Black, und nur noch vier Performer_innen stehen auf der Bühne, kurz darauf ein weiteres Black und das Bild ist wieder vollständig. Gegen Ende werden die Erzählungen über Band eingespielt, die Performer_innen leihen den eingespielten Stimmen ihre Sprechmimik, männliche Stimmen legen sich auf weibliche Körper und umgekehrt. Stimme und Körper werden so voneinander getrennt, anstelle der Körper bewegt sich allein der Text durch den Raum. Wie schon im Positionswechsel zuvor exerziert, verschieben nun sprachliche Idiosynkrasien das Gefüge, ohne dass der etablierte Bildaufbau verändert wird. Die strikte Einhaltung des formalen Grundsettings tritt über den Austausch von Körper und

Kapitel 5a: Performance – While We Were Holding It Together (Ivana Müller)

Stimmen noch einmal mit aller Deutlichkeit hervor, zugleich wird das Spiel als Spiel sichtbar. Gegen Ende dann wendet sich die Aufmerksamkeit dem Publikum zu, indem es vom Licht fokussiert wird, während die Performer_innen imaginieren, wer ihnen da eigentlich die ganze Zeit zugeschaut hat. Die letzte Szene zeigt eine leere Bühne. Nur noch Stimmen sind zu hören, die sich vorstellen, was von der Performance übrigbleiben könnte, wenn die Show zu Ende ist. Als Versammlung von Szenarien, die immer mit der gleichen Anfangsreplik beginnen, stellt Müllers Arbeit eine Akkumulation vielfältiger Anfänge dar, deren Ausgangspunkt eine in ihren Haltungen festgefrorene Momentaufnahme bildet. Dramatische Bögen ergeben sich allein über die Modifikation der Grundstruktur, inhaltlich jedoch verbleibt der Text in Form einer Serie, bei der sich Bildbeschreibung an Bildbeschreibung reiht und eine »Dialektik zwischen Ordnung und Neuheit oder Schema und Innovation«3 nachzeichnet. Die Wiederholung gleicher Merkmale vermag dabei zum einen »die Vielfalt eng gesteckter Grenzen« aufzuzeigen und zum anderen »die Uniformität innerhalb scheinbarer Vielfalt« zu verdeutlichen.4 Das Sammlungsmaterial oszilliert zwischen Differenz und Wiederholung, in dem das Individuelle im Repetitiven hervortritt und zugleich die Wiederholung im Singulären sichtbar wird. Und es wird vorgeführt, wie Einzigartiges erst in der Versammlung von Ähnlichem und umgekehrt Kollektives nur im Zusammenkommen von Differentem in Erscheinung treten kann. Zugleich zeigt sich ein Merkmal performativer Sammlungen, das als grundlegende Matrix gilt: Die Wiederholung eines fortlaufenden formalen Schemas, das ein Spiel mit Variationen beinhaltet, ohne die gesetzte Regel grundsätzlich zu brechen. Im Kontext ihrer Überlegungen über serielle Darstellungen in der Kunst beschreibt Elke Bippus zwei Vorgänge, die sich in der Wiederholung zeigen. Nach ihr wird die gesetzte Regel in jedem erneuten Auftreten stabilisiert und bestätigt. Zugleich »geht aus der steten Repetition 3 4

Eco, Umberto: »Die Innovation im Seriellen«, in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, München 2011, S. 155-180, hier S. 167. Heinrich: »Serie – Ordnung und Obsession«, S. 11.

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ein und desselben Prinzips in Varianten eine Dynamisierung hervor, die das geregelte System in seiner endlichen Progression und Ordnung entgrenzt […].«5 Angewandt auf die Gestalt performativer Sammlungsformate folgt die serielle Anordnung in ihrem repetitiven Verlauf einem Prozess, der das Vorangestellte immer wieder aufgreift und zugleich die wiederholende Ausführung in ihrer Varianz ins Unendliche hinein fortzusetzen vermag. Diese Grundstruktur schließt eine weitere wesentliche Eigenheit performativer Sammlungsformate mit ein: Die augenblickliche Erfahrbarkeit des Zusammentragens von Sammlungsmaterial. In ihrer Aneinanderreihung von Bildzuschreibungen referiert die Aufführung auf den Sammlungsakt als Prozess, als zeitliche Abfolge einer sich wiederholenden Handlung. Verstreutes wird zusammengetragen und an einen gemeinsamen Ort zusammengeführt. In diesem Fall handelt es sich um die Entwürfe einzelner Mikroszenarien, die über eine sprachliche Verfasstheit während ihrer Präsentation an einem gemeinsamen Ort versammelt werden, um sich dort als Zusammengehöriges auszuweisen. Da sich das Sammlungsmaterial selbst als Ereignis zeigt, verbleibt – im Gegensatz zu objekthaften Akkumulationsverfahren – bereits Präsentiertes allein in der Erinnerung bestehen, während Zukünftiges nur imaginiert werden kann. Damit wird dem Publikum ein selbstbestimmtes Vor- und Zurückschreiten verwehrt. Vielmehr zieht die Sammlung als Verlauf an ihm vorüber, wobei der Prozess des Zusammenkommens in den Fokus der Betrachtung rückt. While We Were Holding It Together kennzeichnet eine Akkumulationsstruktur, die der Kategorie der homogenen Sammlung zugeordnet werden kann. Äquivalent zum Beispiel von Francis Alÿs Fabiola wird hier äußerlich ähnliches Material versammelt, das sich als Sammlung von Gleichem präsentiert. Dabei legitimiert sich der Sammlungsbestand über eine wiederholte Anfangsreplik, der Inhalt bezieht sich auf dasselbe Setting. Im Gegensatz dazu stehen heterogene Sammlungsformen, 5

Bippus, Elke: »Ephemere Differenzbildungen in Serie«, in: Blättler, Christine (Hg.): Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München 2010, S. 165-177, hier S. 169.

Kapitel 5a: Performance – While We Were Holding It Together (Ivana Müller)

deren Objektakkumulationen darüber bestimmt sind, explizit auf das sammelnde Subjekt zu verweisen, etwa durch die Zuschreibung autobiographischer Zeug_innenschaften oder über eine subjektiv geprägte Auswahl. Demgegenüber muss die Zusammengehörigkeit homogener Sammlungsbestände weder über einen äußeren Bezugsrahmen noch über das sammelnde Subjekt selbst belegt werden. Vielmehr können die Sammler_innen hier hinter ihr versammeltes Material zurücktreten. Dennoch können Gestalt und Beschaffenheit eines homogenen Sammlungsbestands gleichermaßen auf Vorlieben und Fixierungen des sammelnden Subjekts verweisen. Eine Sammlung von Glasvasen gleicher Gestalt, Bierdosen aus allen erdenklichen Ländern oder das Sammeln abgepackter Zuckerwürfel wirft unterschiedliche Blickwinkel auf mögliche Interessensgebiete. In homogenen Sammlungen bestätigen zuvorderst die Objekte selbst ihre Auswahl, indem sie, fern von persönlichen Konnotationen und individuellen Selektionsverfahren, unter der Prämisse einer gesetzten äußeren Systematik zusammengetragen werden, die den weiteren Sammlungsverlauf bestimmt. Nicht die Sammler_innen, sondern die Regelsetzung tritt hier in den Vordergrund, die die Versammlung aller weiteren Sammlungsstücke gestaltet und die Objekte untereinander in Bezug setzt. Schärfer formuliert bedeutet dies, dass das sammelnde Subjekt zugunsten einer seriellen Struktur beziehungsweise eines methodischen Vorgehens abgelöst wird, das in seiner Formalität die Dinge über ihre Gleichheit hinaus miteinander verbindet. Ein möglicher Subjektivismus wird im Selektionsverfahren ausgeschlossen.6 Übertragen auf die Inszenierung performativer Sammlungen lässt sich gleichfalls schlussfolgern, dass auch hier das Künstler_innensubjekt hinter der inhärenten Systematik des Versammelten zurücktreten kann. Unter dieser Prämisse offenbart sich die homogene performative Sammlung als Inszenierungsstrategie, die das verhandelte Material für sich selbst sprechen lässt. Im Gegenzug wird den Betrachter_innen eine neue Rolle zugewiesen,

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Vgl. Bippus, Elke: Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art und Postminimism, Berlin 2003, S. 65.

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indem ihnen, befreit von der Dominanz einer auktorialen Schöpfungsinstanz, neue Freiräume eröffnet werden, sich zum Präsentierten zu positionieren. Hinsichtlich ihrer Rezeption entfaltet die homogene Sammlungspräsentation also besondere Qualitäten. Der Reiz ihrer Betrachtung liegt weniger im Gewahrwerden der stetigen Wiederkehr eines vormals schon Gesehenen, wie Umberto Eco über die Rezeption der Serie schreibt, sondern vielmehr in den »Variationsstrategien beziehungsweise der Art, wie das Immergleiche behandelt wird, um es jeweils verschieden erscheinen zu lassen.«7 Der Abweichung der Regel wird neue Aufmerksamkeit zuteil, indem die Variation eine gesonderte Bedeutung gewinnt. So kann sich »zwischen Ähnlichkeit und Differenz ein liminaler Raum«8 eröffnen, der neue Sichtweisen auf das Präsentierte provoziert. Ein anderes Beispiel homogener performativer Sammlungsformate ist meine theatrale Installation Museum des Augenblicks, die – zusammen mit einer ersten Zwischenpräsentation unter dem Titel Augenblicke – im Rahmen dieser künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsarbeit realisiert wurde. Schon der Titel spielt mit einem Paradoxon: Einem Museum als Verwahrungsort, das etwas zu versammeln sucht, das an Kurzlebigkeit und Flüchtigkeit kaum zu überbieten ist – der erlebte Augenblick. Hierfür stellt das Museum des Augenblicks zwei divergierende Sammlungsformen gegenüber, die inhaltlich miteinander verwoben und zugleich eigenständig voneinander in verschiedenen Medienformaten präsentiert werden. Dabei verhandelt die Arbeit den Akt subjektiver Erinnerung auf unterschiedlichen Ebenen: Als auditive und visuelle Spurensuche versammelt das Museum individuelle Erinnerungsfragmente und fragt zugleich danach, wie sich gelebtes Leben in den Gesichtern alter Menschen abzeichnet oder vielmehr nachzeichnen lässt. Dafür werden eine Vielzahl memorierter Augenblicke zusammengetragen, die in ihrer Rekonstruktion als sprachlich 7 8

Eco: »Die Innovation im Seriellen«, S. 168. Kalu, Joy Kristin: Ästhetik der Wiederholung. Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances, Bielefeld 2013, S. 164.

Kapitel 5a: Performance – While We Were Holding It Together (Ivana Müller)

verfasste Rudimente eines gelebten Lebens im Vorgang des Erzählens neu heraufbeschworen werden und so Gestalt annehmen. Zugleich werden filmische Portraitaufnahmen alter Menschen projiziert, die sich vergangene Momente in stiller Haltung vergegenwärtigen. Im Folgenden möchte ich die Installation nicht nur hinsichtlich ihrer Rezeption, sondern ebenso in Bezug auf ihre spezifischen Produktionsbedingungen und -entscheidungen untersuchen. Mein Fokus liegt hierbei auf den ästhetischen Setzungen, die eine Ansammlung in eine Sammlung transformieren und als performative Sammlung ausweisen.

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Kapitel 5b: Theatrale Installation – Museum des Augenblicks (Stefanie Lorey)

Entwicklungsprozess Für dieses Projekt wurden etwa 40 Hamburger Seniorinnen und Senioren nach Augenblicken in ihrem Leben befragt, die ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind.1 Angefangen bei den allerersten Erinnerungsbildern über Jugenderinnerungen bis zu Momentaufnahmen aus der Mitte ihres Lebens. Augenblicke, die, nie gebannt auf Fotografien und doch sprachlich rekonstruierbar als inneres Bild, als Tonaufnahme festgehalten wurden. Zudem baten wir die Beteiligten, Momente in die Zukunft hinein zu imaginieren.2 Hier konzentrierten sich die Fragen auf den Augenblick kurz vor und kurz nach dem Tod: das letzte Bild, bevor die Augen für immer geschlossen werden, sowie das erste Bild danach – in der Annahme, dass ein Sehen nach dem Sterben existiert. Zuletzt fragten wir nach einem Blick auf die Welt in 500 Jahren. Was sieht man, dystopische oder utopische Momente? Die Auswahl beschränkte sich auf Senior_innen, die ihr 70stes Lebensjahr bereits vollendet hatten, zum einen, weil auf eine große Lebensspanne zurückge1 2

Angelehnt an das Goethe Zitat: »Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!« aus: Faust. Der Tragödie erster Teil, Vers 1699-1702. Wir meint in diesem Zusammenhang meinen langjährigen Kollegen und künstlerischen Partner Bjoern Auftrag, verantwortlich für das Soundarrangement, sowie Marc Jungreihmeier, zuständig für das Videodesign. Beide waren von Anfang an am konzeptionellen Entwurf sowie der Planung und Durchführung dieser Arbeit beteiligt.

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schaut werden konnte, zum anderen, weil die Konfrontation mit dem eigenen Tod bereits in realistische Nähe gerückt war. In einem zweiten Schritt forderten wir die ausgewählten Teilnehmer_innen auf, ihren Blick über einen Zeitraum von etwa 25 Minuten still in eine Videokamera zu richten, während sie sich die bereits erzählten Augenblicke noch einmal innerlich vergegenwärtigen sollten. Mit hochsensiblen Mikrophonen zeichneten wir zusätzlich Körpergeräusche wie Magengrummeln, Schluck- und Atemgeräusche, Räuspern oder Husten auf. Die Anzahl der erzählten Augenblicke belief sich schlussendlich auf etwa 100 Soundfiles zwischen zwei- und fünfminütiger Länge. Für die Präsentation der Portraitsammlung wählten wir nur 12 Aufnahmen aus. Die geringe Anzahl richtete sich einerseits nach strengen formalen Auswahlkriterien und trug andererseits der visuell sowie technisch möglichen Umsetzung Rechnung. Inhaltlich wählten wir die Zahl 12, weil sie mit der Referenz auf eine Maßeinheit unserer Zeiteinteilung spielt, 12 Monate ergeben ein Jahr, 2 mal 12 Stunden einen Tag, zudem markiert sie Anfang und Ende einer zeitlichen Dekade. Das Interesse an der Versammlung privater, sprachlich verfasster Augenblicke resultierte aus mehreren Fragestellungen. Auf inhaltlicher Ebene waren wir neugierig, wie kleine, aus einem größeren Zusammenhang gerissene Momentaufnahmen etwas über die Protagonist_innen sowie über soziale Strukturen damaliger Zeiten vermitteln können. Wo ergaben sich innerhalb dieser doch sehr heterogenen Erzählungen Korrelationen aufgrund einer gleichen Altersgruppe sowie ähnlicher sozialer und geographischer Herkunft? Wie stellten sich die Beteiligten ihren letzten Moment auf Erden vor? Wie unterschieden sich die imaginierten Augenblicke von real erlebten? Bildete sich ein Schwanken zwischen faktischer und mythischer Erinnerung ab? Warum wurde sich an bestimmte Situationen genau erinnert, während andere dem Vergessen anheimfielen? Konnte ersichtlich werden, wie aus der unendlichen Fülle von Augenblicken, die ein einzelnes Leben beinhaltet, ausgewählt wurde? Zuvor jedoch mussten wir entscheiden, wie und in welcher Form das Material präsentiert werden sollte, um in seinem Zusammenkom-

Kapitel 5b: Theatrale Installation – Museum des Augenblicks (Stefanie Lorey)

men als Sammlung gelesen werden zu können. Da sich die Verbindung der einzelnen Teilelemente nicht über meine Person als Sammlerin manifestieren sollte – über meine persönliche Auswahl etwa oder Bezüge zu meiner eigenen Biographie –, entschieden wir uns für eine homogene Sammlungspräsentation. Eine Methode, die, wie bereits beschrieben, den Sammlungsbestand nicht über die besondere Beziehung zum sammelnden Subjekt auszeichnet, sondern über erkennbar Ähnliches gleicher Form. Dem Bedürfnis, das Sammlungsmaterial anzugleichen, lag also keinesfalls der Gedanke zugrunde, Unterschiede nivellieren zu wollen. Gerade in Bezug auf die Portraitaufnahmen war unser Interesse vielmehr darauf gerichtet, Singuläres im Gemeinsamen zu entdecken. Denn in der Versammlung von Gleichem, so Christoph Heinrich über serielle Verfahren in der Kunst, zeigt sich nicht die »Absage an die Einzigartigkeit des Einzelnen«, in der das Einzelne in der Masse aufzugehen droht, vielmehr wird ein »Bekenntnis zum Individuellen« erkennbar, da »in der Gleichheit die vielen Nuancen des Unterschiedlichen« offengelegt werden.3 Die Voraussetzungen dafür finden ihren Ausdruck in einem von äußerer Selbstdarstellung befreiten Sammlungsmaterial, das, im Spannungsfeld zwischen Ähnlichkeit und Individualität, den Blick öffnet für grundlegende Eigenheiten und Wesenszüge der – in diesem Fall – einzelnen Portraitierten. Davor jedoch muss der Sammlungsbestand in seiner Generierung strengen formalen Setzungen unterzogen werden, die in der Betrachtung ersichtlich werden können.

Präsentation Museum des Augenblicks Auf struktureller Ebene waren wir daran interessiert zu sehen, was sich verändert, wenn wir Bild und Sprache voneinander trennen und in zwei eigenständige, ästhetisch unabhängige Sammlungen überführen würden, um sie danach wieder zeitgleich zu präsentieren. Die Aufführung des so versammelten Materials gestaltet sich daraufhin wie folgt: Die 3

Heinrich: »Serie – Ordnung und Obsession«, S. 8.

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Stefanie Lorey, Museum des Augenblicks (Hamburg) 2014, ©Thies Rätzke

Portraitaufnahmen werden einzeln auf 1,20 auf 1,80 große Leinwände gebeamt, die in einem Kreis von circa 8 Meter Durchmesser angeordnet wurden. In seiner Mitte befinden sich drei Drehstühle, jeweils ausgestattet mit einem Quadrophonie-Kopfhörer. Die Quadrophonie bezeichnet ein Klangarrangement, das bereits in den 1970er Jahren entwickelt wurde und als Vorläufer des Dolby Surround Systems sowie der 5.1Kanalkonfiguration gilt. Die für dieses besondere Klangerlebnis konzipierten Kopfhörer sind mit zwei Kopfhörermuscheln auf der rechten und linken Seite ausgestattet, um der Vierkanal-Stereofonie im Gegensatz zum klassischen Zweikanal-Stereo Setting eine erweiterte RaumAkustik zu ermöglichen. Alle Kopfhörer sind zudem mit einem – eigens für diesen Anlass konfektionierten – Kompassmodul versehen, das erlaubt, auf die jeweils subjektiven Blickrichtungen des Publikums zu reagieren und so individuell abgestimmte Soundfiles auf die jeweiligen

Kapitel 5b: Theatrale Installation – Museum des Augenblicks (Stefanie Lorey)

Stefanie Lorey, Museum des Augenblicks (Hamburg) 2014, ©Thies Rätzke

Kopfhörer routen zu können.4 Wird einem Portrait längere Zeit Aufmerksamkeit geschenkt, reagiert das Kompassmodul. Anhand seiner Datenübertragung wird daraufhin eine nach Geschlecht geordnete Augenblickserzählung zugespielt. Dabei wird die zeitliche Abfolge von der ersten Kindheitserinnerung bis hin zum letzten Bild nach dem Tod berücksichtigt, darüber hinaus aber regiert der Zufallsgenerator. Akustisch verortet sich der Ton in Blickrichtung vorne und wird so dem betrachteten Portrait zugeordnet. Wendet man sich während der Erzählung einem anderen Bild zu, verbleibt die Stimme an ihrem Platz und lokalisiert sich in den Kopfhörern je nach Drehrichtung räumlich eher links oder rechts. Eine neue Augenblicksbeschreibung wird erst dann wieder zugespielt, wenn die vorangegangene Erzählung beendet und einem weiteren Portrait über eine festgelegte Zeitspanne erneute 4

Entwickelt wurde das Kompassmodul von Thomas Willemsen, einem Doktoranten der Geomatik, der sich im Zuge seiner eigenen Dissertation mit IndoorNavigation beschäftigt hat.

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Aufmerksamkeit geschenkt wird. Während des 20minütigen Aufenthalts im Museum variiert die Sammlung der erzählten Augenblicke so in Anzahl und Auswahl und ist für jeden Einzelnen als individuelles Ereignis erfahrbar.5 Die Körper- und Atemgeräusche der Portraitierten, die synchronisiert zu den jeweiligen Videoaufnahmen zugespielt werden, dienen darüber hinaus als durchgängiger Klangteppich. Auch auf diese Tonspur hat das Kompassmodul Einfluss. Dabei simuliert das Routing der Körpergeräusche – auf die individuelle Blickrichtung der Besucher_innen reagierend – ein räumliches Hören im Sinne eines Vorne, Rechts und Links, bei dem die Geräusche des/der Angesehenen als frontal wahrgenommen werden. Die Videoaufnahmen wiederum präsentieren sich konstant und unabhängig von den jeweiligen Blickachsen des Publikums. Sie markieren lediglich durch ihr Aufblenden zu Beginn sowie ihrer Abblende am Ende den zeitlich begrenzten Aufenthalt im Museum des Augenblicks. Soweit das inhaltliche sowie formgebenden Setting. Wie aber verlief der Akkumulationsprozess der Sammlung mit seinen formalen Voraussetzungen? Wie bereits beschrieben, bedarf ein sich äußerlich ähnliches Sammlungsmaterial klarer ästhetischer Vereinbarungen, um sich als Gemeinsames auszuweisen und nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit anheim zu fallen. Es galt also zu vermeiden, dass das Versammelte sich in ein Angesammeltes, in ein Sammelsurium auflöste, in dem sich die Bedeutung seines Zusammenkommens verlief und nicht mehr nachvollziehbar war. Im Folgenden werden – unter Berücksichtigung formgebender Entscheidungsfindungsprozesse – solche Setzungen am Beispiel der Entstehungsphase des Museum des Augenblicks nachgezeichnet.

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An dieser Stelle möchte ich auf die Dokumentation des Museums des Augenblicks verweisen, die am Ende dieser Arbeit unter dem angegebenen QR Code bzw. unter der Internetadresse: mda-hh.auftraglorey.de zu finden ist.

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Formale Setzungen in der Materialgenerierung oder Wie wird aus einer Ansammlung eine Sammlung? Während der zweijährigen Produktionsphase des Museum des Augenblicks realisierten wir zunächst eine Teilpräsentation unter dem Titel Augenblicke, um die von uns gesetzten künstlerischen Parameter einer ersten Prüfung zu unterziehen. In dieser Vorarbeit kombinierten wir Augenblickserzählungen von Senior_innen sowie gefilmte Portraitaufnahmen als zwei unterschiedliche Sammlungsformen gleicher Thematik, die wir miteinander in Bezug setzten. Allerdings stand uns für diese Präsentation nur ein begrenzter technischer Aufbau zur Verfügung: Das Kompassmodul als Spielelement war noch nicht konstruiert, die später verwendeten großen Projektionsflächen wurden lediglich durch vier nebeneinanderstehende 42 Zoll LCD Flatscreens anskizziert.

Vorpräsentation Augenblicke Die eingeschränkten technischen Gestaltungsmöglichkeiten führten zu der Entscheidung, das Videomaterial als Reihe am Publikum vorüberziehen zu lassen. Dabei schieben sich die Portraitaufnahmen in zweiminütigen Abständen von einem Monitor auf den nächsten. Während das letzte Portrait aus der Reihe fällt, platziert sich zeitgleich ein neues an ihren Anfang. Die Tonaufnahmen wiederum teilen sich auf drei Spuren auf, jede davon unterscheidet sich in der Zusammenstellung der erzählten Augenblicke von den beiden anderen. Auf sechs festinstallierten Kopfhörern verteilt, präsentieren sich die kurzen Erzählungen in einem unabhängigen Rhythmus zu den betrachteten Videoportraits, da die Geschichten in ihrer Erzählzeit zwischen zwei und fünf Minuten variieren. Akustisch verbunden werden beide Sammlungen über die zu den Bildern synchronisierten Körper- und Atemgeräusche, die ebenso über die Kopfhörer wiedergegeben werden.

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Stefanie Lorey, Augenblicke 2013, ©Thies Rätzke

Entwicklungsprozess In dieser Vorpräsentation kristallisierten sich erste Schwierigkeiten heraus, die die Formalität des Sammlungsmaterials betrafen. Denn im Resultat der Zusammenführung wurde deutlich, dass die Regeln, die das Versammelte vereinten, nicht klar genug hervortraten. Wie bereits geschrieben, erfordert die Prämisse, formal Gleiches in Bezug zueinander zu setzen, um Differentes erfahrbar werden zu lassen, dass seine Kongruenzen eindeutig erkannt werden können. Obwohl wir durchaus strikte Regeln in der Generierung des Sammlungsmaterials festlegten, reichten diese nicht aus, um das Versammelte so anzunähern, dass seine Ähnlichkeit offensichtlich zutage treten konnte. Über die Fokussierung auf ein bestimmtes Lebensalter hinaus legten wir eine gewisse Uniformität bezüglich der Bekleidung fest, indem wir den Beteiligten Hemden oder Blusen in dunklen Unifarben zuwiesen. Ferner baten wir alle, sich für die Dauer der Aufnahmen ihres Schmu-

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Stefanie Lorey, Augenblicke 2013, ©Thies Rätzke

ckes sowie ihrer Brillen zu entledigen. Obwohl wir die Beteiligten vor dem gleichen Hintergrund sowie im gleichen Bildausschnitt und Licht aufgenommen hatten, gestalteten sich die Portraitaufnahmen als disparate Menge, die den Verdacht einer gewissen Wahllosigkeit erzeugte und damit die Sinnhaftigkeit des Zusammenkommens in Frage stellte: Zu unterschiedlich zeichnete sich das Alter in den einzelnen Gesichtern ab, zu different gestaltete sich das selbst aufgelegte Makeup der Damen, zu verschieden saßen die von uns gestellten Blusen und Hemden an den Körpern der Portraitierten. Ähnliches betraf die Tonaufnahmen. Hier war die gesetzte Prämisse, die Zeitform des Präsens als festgelegte Erzählzeit zu verwenden. Dadurch forcierten wir Erzählungen, die weniger einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Augenblick beschrieben, sondern vielmehr Bilder evozierten, die den Eindruck erweckten, sich erst im Moment ihrer Versprachlichung vor dem inneren Auge herzustellen. Weiter wurden die Befragten angehalten, sich in ihren Darstellungen allein

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auf den ausgewählten Augenblick zu konzentrieren, ohne im Rückblick zu kontextualisieren oder gar zu bewerten. Da alle Beteiligten einer Generation angehörten und sich die Gruppe außerdem aus einem lokal eng abgesteckten Radius heraus zusammenstellte, hofften wir, dass inhaltliche Verbindungslinien zwischen den einzelnen Erzählungen gezogen werden konnten. Dennoch variierte auch das Audiomaterial in seiner formalen Umsetzung noch zu sehr. Ein grundsätzliches Problem lag sicher darin, dass es allen Senior_innen schwerfiel, sich allein auf einen Moment zu konzentrieren und dabei ausschließlich die Gegenwartsform zu verwenden. Obwohl die Erzählungen nachbearbeitet wurden, indem wir schnitten, umstellten und kürzten, differierten die Augenblicksbeschreibungen erheblich in ihrer Fokussierung und Erzählhaltung. Als Reaktion darauf setzten wir die Gesetzmäßigkeiten für die folgende Präsentation nochmals enger. Die auf Video portraitierten Teilnehmer_innen wurden – über die Zughörigkeit zu derselben Altersgruppe hinaus – über ein weiteres äußerlich gleiches Zeichen hin ausgewählt, nämlich weißhaarig zu sein. Da die Aufnahmen im oberen Brustbereich endeten, beschlossen wie zusätzlich, die Disparatheit der Bekleidung dahingehend zu lösen, alle Beteiligten schulterfrei aufzunehmen und so den Eindruck nackter Körper zu simulieren. Wieder baten wir darum, dass sich für die Dauer der Videoaufnahmen allen Schmucks und aller Sehhilfen entledigt wurde. Wir engagierten eine Maskenbildnerin, die die unterschiedlichen Teints der Teilnehmer_innen untereinander anpasste. Auf diese Weise konnten wir die einzelnen Portraits soweit angleichen, dass eine Versammlung von Menschen entstand, deren gesellschaftliche und soziale Zuweisungen durch Bekleidung und Makeup zurückgedrängt wurden zugunsten körpereigener Individualitäten. Vor dem immer gleichen, weiß leuchtenden Hintergrund aufgenommen, der keine räumliche Verortung zuließ, präsentierten wir die alten Menschen auf monumentalen Tableaus, wobei die Intimität der überlebensgroßen Nahaufnahmen durch die vermeintliche Nacktheit der Protagonist_innen noch intensiviert wurde. Der ruhende, nach innen gewandte Blick, der das Publikum zugleich zu durchdringen schien, sowie die Grundatmosphäre kollektiver Kör-

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pergeräusche betonten zudem das Gefühl fast schmerzlich erfahrbarer Nähe.6 Für die Tonaufnahmen entwickelten wir ebenfalls ein strengeres Regelwerk. Dafür wurden die Beteiligten – über die Verwendung der Gegenwartsform hinaus – angehalten, jede neue Begebenheit innerhalb ihrer Augenblicksbeschreibungen mit der Anfangsreplik »Ich sehe …« zu beginnen. Eine Setzung, die mit einer zweifachen Konnotation spielt: Einerseits die Benennung eines Vorgangs, der das Hervorholen eines Erinnerungsbildes beschreibt, das sich während seiner Versprachlichung vor dem eigenen Auge manifestiert. Andererseits ist ihm die Imagination eines Zukunftsszenarios implizit, dem ein prophetisches Sehen zugrunde liegen könnte. Ein Aspekt, der in Bezug auf die Todesbilder sowie auf den geforderten Blick in die Zukunft eine inhaltliche Entsprechung fand. Die nachfolgenden Beispiele zeigen exemplarisch drei Augenblicksbeschreibungen: Kindheit, Erwachsensein sowie den letzten Moment vor dem Tod. Ich sehe eine Wohnung, in der sich mehrere Personen aufhalten. Ein kleiner Junge, eine junge Frau und eine ältere Frau. Ich sehe, dass die Frau und ihre Mutter hektisch durcheinanderlaufen. Ich sehe, dass die alte Frau mit dem kleinen Jungen die Treppe hinuntergeht und vor

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Die Portraitaufnahmen referieren in ihrer Ästhetik auf die serielle Portraitphotographie von Thomas Ruff oder Olaf Nicolai. In ihren Werken finden sich gleichfalls strikte Setzungen von Bild-größe, Bildausschnitt, Blickwinkel der Kamera, Lichtsetzung und Hintergrund, um die Formalität der Gesamtpräsentation zu gewährleiten. Ein direktes Pendant bildet aber sicherlich die Arbeit Babylon Babies (2001) von Marie Jo Lafontaine. Dafür präsentierte die Künstlerin auf neun großformatigen Farbfotografien Portraitaufnahmen junger Menschen, die ebenfalls schulterfrei sowie frontal zur Kamera hin ausgerichtet aufgenommen wurden. Hier scheint es, als würden die Portraitierten »ihren selbstsicheren, von der Ahnung eines Lächelns getragenen Blick auf die Augen des Betrachters« ausrichten; ein Effekt, der sich gleichfalls im Museum des Augenblicks herstellte. (Vgl. hierzu Hellmold, Martin (Hg.): Kopf an Kopf. Serielle Portraitfotographie, Ausstellungskatalog Kunsthalle Tübingen, Tübingen/Heidelberg 2006, S. 122.)

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dem Haus auf der Straße ein LKW steht. Ich sehe, dass der LKW mit einer Plane bespannt ist und die hintere Heckklappe heruntergeklappt ist. Ich sehe, dass im LKW mehrere Männer sitzen und aus dem LKW ein Mann aussteigt, auf die Straße. Ich sehe, dass der Mann, der aus dem LKW aussteigt, sehr dünn ist und ein langer Mantel um seinen Körper herum schladdert. Ich sehe, dass die alte Frau den Mann begrüßt, umarmt, und ich höre, dass die alte Frau zu dem kleinen Jungen sagt: Das ist dein Vater. Ich sehe, dass die drei ins Haus treten und die Treppe hochgehen und oben in der Wohnung die junge Frau und der Mann sich umarmen. Und weinen.   Ich sehe ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Ich sehe eine olivgrüne Decke, dazwischen weißer Stuck. Ich sehe einen Dielenboden. Ich sehe einen Korkteppich, rund wie der kreisrunde Stuck oben an der Decke. Ich sehe ein Bild von Kandinsky an der Wand, einen orangenen Ball. Ich sehe zwei Matratzen auf der Erde. Ich sehe am Kopfende zwei Gläser Rotwein. Ich sehe im Bett eine junge Frau, neben ihr ein junger Mann. Ich höre Janis Joplin: »Cry baby cry«. Ich sehe, wie die junge Frau ganz entspannt und zufrieden und selig lächelnd im Bett liegt, und ich sehe, wie sie ihre Hand ausstreckt und wie der Händedruck erwidert wird. Ich sehe, wie sich durch die Hitze des Tages und durch die Hitze der Begegnung der Schweiß in ihrer Bauchgrube sammelt, bis er wie ein kleiner Bach zur Seite rinnt. Ich sehe ganz großes Glück im Augenblick.   Ich sehe zwei Krankenhausbetten, die man automatisch rauf und runter stellen kann. Ich sehe mich im Bett liegend. Ich sehe, dass die Ärzte sich Mühe mit mir geben. Ich sehe mich ganz ruhig und gelassen. Ich sehe meine Bettnachbarin, eine junge Frau. Ich sehe, dass sie sich Sorgen um mich macht. Ich sehe aber, dass mich das eigentlich gar nicht mehr interessiert. Ich sehe das kahle Zimmer, mit Vorhängen, die aber geöffnet sind. Ich sehe einen Schrank, in dem meine Tasche steht. Und ich sehe einen Tisch mit zwei Stühlen, an dem man essen könnte. Ich sehe leider kein Bild an der Wand, es ist eine kahle Wand. Alles ist leider kahl und weiß und steril, hoffentlich.

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Schnell wurde deutlich, dass sich die wiederkehrende Replik förderlich auf den verwendeten Sprachstil auswirkte, da der bereits im Präsens formulierte Satzbeginn half, in der vorgegebenen Erzählzeit der Gegenwartsform zu bleiben. Daneben wurden die Senior_innen aufgefordert, sich ihre erinnerten Momentaufnahmen im wortwörtlichen Sinne vor Augen zu führen und gleich einer Bildbeschreibung wiederzugeben. Das formelhafte Benennen des Sehens wirkte wie ein »symbolischer Funke«7 , der den Erinnerungsvorgang auslöste, um Vergessenes als Vergangenes zurückzuholen. Die wiederholte Bekundung einer aktiven Handlung diente hierfür als Beschwörungsformel und half zudem, die Einbettung in einen größeren Zusammenhang außer Acht zu lassen: Was in diesem Moment nicht gesehen werden konnte, bedurfte keiner Erwähnung. Daneben verwies die formelhafte Wiederholung auf die als Kreis angeordneten Videoportraits, deren Zentrum die Besucher_innen selbst bildeten. Das Publikum, umschlossen von großformatigen Aufnahmen alter Menschen, war mit einer Sammlung konfrontiert, die den Blick zurückwarf, ja es geradezu mit Blicken umschloss; ein nach innen gerichteter und zugleich in eine unbestimmte Ferne sich verlierender Blick erlaubte, die alten Gesichter einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Die Aufmerksamkeit konnte auf kleine körperliche Reaktionen wie ein feines Nasekräuseln, ein Augenaufschlag, ein Räuspern oder eine sichtbare Schluckbewegung am Hals gerichtet werden; physische Veräußerungen also, die, akustisch synchronisiert, einzelnen Personen zugeordnet werden konnten und den Eindruck körperlicher Präsenz erzeugten. Gegenüber den Körpergeräuschen, die akustisch und visuell zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden konnten, korrespondierten die Zuspielungen der Augenblicksbeschreibungen wenn überhaupt, dann nur zufallsbedingt mit demjenigen Portrait, welchem gerade gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Denn das Kompassmodul re7

Assmann, Aleida: »Zur Metaphorik der Erinnerung«, in: Hemken, Kai-Uwe: Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 1646, hier S. 36.

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agierte lediglich darauf, ob ein männliches oder weibliches Portrait längere Zeit betrachtet wurde, um daraufhin eine geschlechtsspezifische Augenblicksbeschreibung zuzuspielen. Die Auswahl wiederum verlief über einen festgelegten dramaturgischen Ablauf, der einen Bogen von den ersten Kindheitserinnerungen bis zum letzten Bild nach dem Tod spannte. Innerhalb der einzelnen Kategorien regierte der Zufallsgenerator. Ob die erzählten Momentaufnahmen auf die Autor_innenschaft der Portraitaufnahme verwiesen, konnte nicht verifiziert werden und stimmte in den allermeisten Fällen auch nicht überein. Vielmehr spielte die geschlechtsspezifische Korrespondenz zwischen Bild und Ton mit der Möglichkeit einer Übereinstimmung gleicher Urheber_innenschaft. Der Zweifel darüber hielt die Zuschauer_innen an, Bild- und Tonebene über die simultan abgespielten Körpergeräusche hinaus immer wieder neu zu verknüpfen, um eine Erzählung – gleich einem detektivischen Spiel – einem bestimmten Gesicht zuzuordnen. Allein dem Publikum oblag es, beides in einem additiv performativen Vorgang zusammenzuführen und subjektiv sinnstiftend in Bezug zueinander zu setzen. Vermutungen, die Stimmfärbungen und Inhalte in Korrespondenz zu einer Portraitaufnahme brachten, beruhten hier allein auf intuitiven Mechanismen beliebig bestimmter Indizien. Die vorgegebene Trennung von Bild und Ton provozierte geradezu eine Zusammenführung, bei der die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten als eigenbestimmte, individuelle Sinnkonstruktion spielerisch erfahrbar werden konnten. Unter diesem Aspekt findet die »autopoetische feedback-Schleife«8 innerhalb dieser interaktiven Konstruktion ein besonderes Abbild. Diese (unbewusste) Wechselbeziehung zwischen Publikum und Dargestelltem wird nach Erika Fischer-Lichte erst durch den Verlauf einer Aufführung hervorgebracht. Denn im kollektiven Prozess der Hervorbringung firmierten die Zuschauer_innen hier zu einer multiplen Autor_innenschaft, zu Ko-Autor_innen einer Kollektion, die sich erst im Moment der Konfrontation aller Beteiligten manifestierte. Nicht das fertige Werk, sondern

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Siehe hierzu Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 58ff.

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dessen Anfertigung stand im Mittelpunkt des Interesses, in dessen Verlauf sich das Publikum als aktiver Part wahrnehmen konnte.9 In Anbetracht dessen ließe sich zugespitzt behaupten, dass der eigentliche Akkumulationsprozess als interaktiver Vorgang einer persönlichen Auswahl im übertragenen Sinne den Besucher_innen selbst überlassen blieb. Der auditive Bestandteil der Sammlung wurde nicht durch eine Person für ein Kollektiv kuratiert, vielmehr wählte das Publikum über die Setzung der Blickrichtung – wenn auch unbewusst – die jeweils selektiv individualisierte Zuspielung selbst aus. Unter diesem Gesichtspunkt wurden aus Besucher_innen Kurator_innen ihrer personalisierten Sammlung, ohne je eine bewusste Auswahl getroffen zu haben. Die Videoaufnahmen mit ihren dazugehörigen synchronisierten Körpergeräuschen wurden daneben zu Kompliz_innen des eigenen Hörens: ein tiefes Ausatmen, leichtes Schmunzeln oder lautes Schlucken kommentierte die Augenblicksbeschreibungen anderer und fügte sich als gemeinsam erfahrbarer Hörraum in das Gesamterlebnis mit ein. Zuweilen wurden die Portraitaufnahmen still in die Kamera blickender alter Menschen zu Protagonist_innen anderer Erzählungen, zu Darsteller_innen fremder Erinnerungsfragmente. Die bruchstückhaft verbliebenen Augenblicksbeschreibungen wiederum animierten das Publikum, selbst weiterzuschreiben und das Erzählte mit Eigenem zu verweben, um so die Sammlung gedanklich anzureichern. Die formale Präsentation, die weniger auf eine Illustration des Inhalts denn auf eine strukturelle Anordnung hinauslief, die Offenheit des Materials sowie ein Aufbau, der eine hohe Interaktivität forderte, all das zielte auf unterschiedlichsten Ebenen darauf ab, die Zuschauer_innen zu aktivieren, um an der Entstehung und Fortführung der Sammlung teilzuhaben. Anstatt eine Botschaft einfach nur präsentiert zu bekommen, wurden sie aufgefordert, sich als handelnde Subjekte wahrzunehmen, deren Anwesenheit im Raum spürbare Auswirkungen

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Vgl. hierzu auch Porombka, Stephan: »Literaturbetriebskunde. Zur »genetischen Kritik« kollektiver Autorschaft«, in: Porombka, Schneider, Wortmann (Hg.): Kollektive Kreativität, Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, Band 1, Tübingen 2006, S. 72-87, hier S. 81.

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auf die jeweilige Aufführungssituation sowie die darin vermittelten Inhalte hatte. Aufgrund aller bisher beschriebenen ästhetischen Setzungen und technischen Arrangements wird deutlich, dass der Blick – über die Verhandlung individueller und kollektiver Erinnerung hinaus – in dieser Arbeit eine zentrale Rolle einnimmt: Auf sprachlicher Ebene verortet er sich in den Momentaufnahmen, auf die die Senior_innen erinnernd oder zukunftsimaginierend blicken und dabei selbst zum Objekt ihrer Betrachtung werden. Die Portraitaufnahmen wiederum zeigen einen nach innen gerichteten und zugleich in eine unbestimmte Ferne geöffneten Blick, der ihr Publikum von allen Seiten umschließt. Entgegen der Bewegungslosigkeit fotografischer Aufnahmen präsentieren die Videos einen lebendigen Blick, der den zeitlichen Vorgang des Sehens und Schauens zeigt. Aufgegriffen wird er ferner in den individuellen Blickachsen der Zuschauer_innen, deren differierende Ausrichtung als direkte Auswirkung auf das auditiv Rezipierte erfahrbar wird. Das Ende der Aufführung, markiert durch ein kollektives Schließen der Augen, verweist letztendlich auf den Moment des Todes, in dem der Blick endgültig erlischt. Vor diesem Hintergrund zeigt die Installation ein Museum, dessen Gegenstand der Betrachtung die Betrachtung selbst ist. Inhaltlich setzt sich die Arbeit mit dem Rückblick auf die eigene Lebenszeit auseinander, sie fokussiert Anfang, Mitte und Ende. Schon die zirkuläre Hängung der Projektionsflächen referiert auf den Kreislauf von Leben und Sterben. Dabei wird der Blick auf erste Kindheitserinnerungen zurückgeworfen, gleichzeitig thematisiert die Imagination des letzten Augenblicks die eigene Vergänglichkeit. Rekonstruierter Anfang des Bewusstseins und konstruiertes, bewusstwerdendes Ende treffen aufeinander, und es wird offenbar, dass der Tod als Ereignis für die Protagonist_innen dieser Arbeit in zeitliche Nähe gerückt ist. Offensichtliche Parallelen zueinander lassen sich in den imaginierten Sterbeszenarien finden. Alle zeichnet die Hoffnung aus, ruhig und gelassen – mal mythisch aufgeladen, zuweilen ganz nüchtern – gehen zu können: Lieblingsorte werden benannt, der letzte Blick verweilt in der Natur oder auf dem gewohnten Heim. Man stirbt allein, zu zweit oder umgeben von der Familie, immer aber handelt es sich um das Abschied-

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nehmen von einer Welt, mit der man seinen Frieden gemacht hat. Neben sehr idyllischen Szenen an Sehnsuchtsorten beschreiben andere eher realistisch anmutende Szenarien im Krankenhauszimmer. Dennoch steht bei allen ein friedliches Gehen, ohne Leid und Schmerzen, im Vordergrund. Und so wird am Ende die Frage an die Besucher_innen zurückgegeben, wie sich das Szenario des eigenen Todes vorgestellt werden kann und unter welchen Bedingungen man selbst die Welt verlassen möchte. Was ist das Letzte, auf das man blicken mag? Und wie sehr deckt sich der Wunsch mit der wahrscheinlichen Realität?

Spurensicherung, Museumsgründung, Materialsammlung oder autobiographische Sammlung? Im Hinblick auf alle bisher vorgestellten performativen Sammlungsformen lassen sich Korrespondenzen zu bereits benannten Gattungen künstlerischer Sammlungsformate aus der Bildenden Kunst aufzeigen. Dabei wird ersichtlich, dass bestehende Zuschreibungen auf performative Sammlungsverfahren übertragen werden können, auch wenn zuweilen mehrere Kategorien zutreffen. Müllers Performance etwa lässt sich hierbei noch relativ eindeutig dem Feld der Spurensicherung zuordnen. Stellt doch die Spur oder stellen vielmehr die Spuren, die unter eine einzelne Momentaufnahme gelegt werden, den Ausgangspunkt ihrer Arbeit dar. Ihr Sammlungsmaterial setzt sich aus vielfältigen Konstruktionsmöglichkeiten möglicher Realitäten zusammen, aus fragmentarisch verbleibenden Momentbeschreibungen, die sich als Versatzstücke möglicher kollektiver Erlebnisse präsentieren. Die wiederkehrende Formel »I imagine …« verweist auf die Potentialität der Vorstellungswelt, in der vieles denkbar wäre, solange es mit dem visuell dargebotenen Bild korrespondiert. Im so formulierten Möglichkeitsraum wird Erinnerung als Handlung ersichtlich, der Fiktionalisierungs- und Überschreibungsprozesse inhärent sind, um eine im Nachhinein kongruente Erzählung zu ermöglichen. Das vielfältige Interpretationsangebot einer einzigen dargestellten Körperkomposition bietet sich zudem als Projektionsfläche an, um die

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Erzählungen fortzusetzen. Denn ihr fragmentarischer Charakter befördert ein Neu- und Weiterfabulieren, mit dem die Sammlung gleich einer unendlichen Liste durch ihr Publikum fortgeschrieben werden kann. Die Spur im Sinne eines Erinnerungsvorgangs tritt hier als Gedächtnis-Metapher explizit hervor, im Gegensatz zum Bild des Magazins als Speicherort, das zuvorderst ein Verwahren thematisiert. Die theatrale Installation Museum des Augenblicks hingegen vereint gleich drei Gattungen miteinander: Sie kann sowohl der Kategorie der Museumsgründung, der Spurensicherung als auch der Materialsammlung zugeordnet werden. Ersteres liegt auf der Hand, da schon der Titel darauf verweist: Ein Museum, in dem Darstellungen persönlich erinnerter Augenblicke präsentiert werden. Die als Kreis angeordneten Leinwände zirkeln dabei einen klar definierten Raum ab, der erst betreten werden muss, um das Museum besuchen zu können. Daneben rekurriert die Hängung in ihrem exakt austarierten Nebeneinander auf klassische Ordnungsmuster kunstvermittelnder Institutionen. Die Videoaufnahmen nehmen mit ihren formal gestalterischen Grundrastern auf fotografische Ästhetiken der Bildenden Kunst Bezug, etwa die Portraitserien eines Thomas Ruff. Indem die Aufnahmen ihr Publikum kreisförmig umschließen, provozieren sie – im Gegensatz zum klassischen Sammlungsaufbau und unterstützt von drehbaren Stühlen – keine lineare, sondern vielmehr eine zirkuläre Publikumsbewegung, in der die einzelnen Portraits wiederholt betrachtet werden können. Da es sich um Film- und nicht um Fotoaufnahmen handelt, lassen sich so in jedem Zurückkommen kleinste Veränderungen in Haltung, Blick oder Mimik feststellen. Die Rückkehr zu einer Portraitaufnahme impliziert keine Wiederholung von Gleichem, sondern demonstriert vielmehr einen zeitlichen Verlauf, der zugleich auf die Vergänglichkeit des Augenblicks anspielt. Eine Zeitlichkeit, in der sowohl das Publikum als auch das Betrachtete selbst voranschreiten und in der das Vorangegangene erinnert werden muss, um es mit der erneuten Betrachtung abzugleichen, damit ein Neu-Sehen überhaupt erst ermöglicht wird. Das Museum des Augenblicks lässt sich darüber hinaus der Kategorie Spurensicherung zuordnen. Denn die Versammlung subjektiver Augenblicksbeschreibungen stellt Indizien unterschiedlicher Biographi-

Kapitel 5b: Theatrale Installation – Museum des Augenblicks (Stefanie Lorey)

en dar, die auf gemeinsam Erlebtes einer Generation verweisen. Als Sammlung individueller Erinnerungsbilder einer vergangenen Zeit, in denen prägende Nachkriegserinnerungen sowie strenge gesellschaftliche Konventionen immer wieder aufblitzen, fügen sie sich so zum Bild einer Altersgruppe zusammen, zum kollektiven Gedächtnis einer durch gleiche äußere Rahmenbedingungen ähnlich erlebten Vergangenheit. Deutlich wird, dass der außergewöhnliche Augenblick keineswegs Vorrang erhält, da die Intensität der Einschreibung als Erinnerungsbild nicht zwangsläufig mit der Spektakularität des Ereignisses verbunden zu sein scheint. Im Vordergrund des Memorierten stehen bleiläufige, fast unscheinbare Begebenheiten, die sich weniger über ihr imposantes Geschehen auszeichnen als etwa darüber, stellvertretend für einen prägenden Lebensabschnitt zu stehen oder aber mit einem spezifischen Geruch, einem wichtigen Menschen oder einer bestimmten Umgebung assoziiert werden. Letztendlich kann die Installation auch als Materialsammlung gelesen werden. Vitali, Schuster und von Wiese haben hierzu und im Zuge einer Abgrenzung zur Gattung der Spurensicherung auf das Bild des Magazins oder geschlossenen Speicherraums verwiesen, das die Arbeiten der Materialsammler_innen kennzeichnet. Im Museum des Augenblicks lagern die gesammelten Momentaufnahmen bis zu ihrer Aktivierung durch die Blickrichtung der Besucher_innen auf der Festplatte des Tonrechners. Dort warten sie, sortiert nach Rubriken und nach Geschlechtern getrennt, um eine Art Übergangsdasein zu führen: Sie verharren in einem Dämmerzustand und bleiben für die Öffentlichkeit unsichtbar.10 Bis zum Zeitpunkt ihrer Präsentation sind sie somit eher als Archiv- denn Sammlungsmaterial zu verstehen. Die Festplatte, bereits ein Speichermedium, erfüllt die Funktion eines Verwahrungsortes, an dem die versprachlichten Erinnerungsbilder aufbewahrt werden. Unter diesem Blickwinkel verfügt auch das Museum des Augenblicks – wie

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Vgl. Lange, Birgit: »Sensible Sammlungen«, in: Berner, Hoffmann, Lange (Hg.): Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011, S. 15-40, hier S. 39.

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die meisten Museen – über ein Depot, einen Speicherraum, aus dem heraus sich die jeweils aktuelle Ausstellung speist. Allein die Kategorie der autobiographischen Sammlung bleibt ohne Beispiel oder Zuordnung. Auch wenn die versammelten Augenblicksbeschreibungen als biographische Versatzstücke beschrieben werden können, handelt es sich in diesem Fall um eine Sammlung verschiedener biographischer Momente. Autobiographische Sammlungen hingegen führen Material zusammen, das darüber legitimiert wird, sich auf eine Biographie zu beziehen. Nämlich auf die der Sammlerin oder des Sammlers selbst. Äquivalent zum literarischen Format der Autobiographie, das eine Einheit zwischen Autor_in, Erzähler_in und Protagonist_in postuliert, fällt auch in einer autobiographischen Sammlung das sammelnde Subjekt mit der Person zusammen, auf dessen Bezugsrahmen sich der Sammlungsbestand bezieht.11 In Abgrenzung zu biographischen Kunstformen wird die Zusammenstellung des Sammlungsmaterials also keiner fremden Person überlassen, sondern obliegt dem sammelnden Subjekt. Abschließend möchte ich deshalb einer Arbeit Aufmerksamkeit schenken, die als autobiographische performative Sammlung verstanden werden kann und – im Gegensatz zu While We Were Holding It Together und dem Museum des Augenblicks – darüber hinaus Charakteristiken heterogener Sammlungsverfahren sichtbar werden lässt: Das choreographische Projekt Rétrospective par Xavier Le Roy.

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Vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994.

Kapitel 5c: Choreographie – Rétrospective par Xavier Le Roy (Xavier le Roy)

Xavier Le Roy, Rétrospective par Xavier Le Roy ©MOMA-PS1

Rétrospective wurde 2012 für die Antoni Tapiès Foundation in Barcelona entwickelt und, neben diversen anderen Spielstätten, unter anderem in den Deichtorhallen in Hamburg präsentiert. Sowohl die Tapiès Foundation als auch die Deichtorhallen sind klassische Präsentationsräume der Bildenden Kunst. In der Hamburger Version wurden hierfür

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zwei nahezu abgeschlossene Räume innerhalb des Museumsgebäudes zur Verfügung gestellt. Als durchgängige Präsentation innerhalb der Öffnungszeiten des Museums angelegt, blieb es dem Publikum wie bei jedem konventionellen Ausstellungsbesuch freigestellt, wann und wie lange es der Aufführung beiwohnen wollte. Xavier Le Roy lässt in dieser Arbeit vier Tänzer_innen zugleich kurze Ausschnitte aus seinen Solo-Choreographien zwischen 1994 und 2009 ausführen. Dafür wählt er drei unterschiedliche Präsentationsformen, die er als »loop«, »immobility« und »narrative« bezeichnet und auf vier Stationen aufteilt.1 »Loop« wiederholt eine Bewegungssequenz, »immobility« stellt eine festgefrorene Haltung aus einem Soli dar, »narrative« setzt die Tanzgeschichte der Performer_innen auf sprachlicher Ebene in Bezug zu einem vorangestellten kurzen Auszug aus Le Roys Werken. Begonnen wird wie folgt: Hello welcome to »Retrospective«. My name is [name of the dancer], and what you just saw is an excerpt of Xavier le Roy’s [title of the chosen work]; and it was also the beginning of my retrospective for this exhibition.2 Anschließend verknüpfen sie den dargestellten Ausschnitt mit Berichten aus ihrem eigenen künstlerischen Werdegang, in dessen Verlauf die Zuschauer_innen zudem in persönliche Gespräche verwickelt werden. »Loop« und »immobility« werden jeweils von einer Tänzerin bzw. einem Tänzer ausgeführt, »narrative« hingegen führen immer zwei Performer_innen parallel zueinander aus. Betritt nun neues Publikum den Raum, ertönt ein Signalton, der die Gespräche abrupt unterbricht und drei der vier Tänzer_innen dazu veranlasst, den Ausstellungsraum zu verlassen. Nur eine Tänzerin beziehungsweise ein Tänzer bleibt auf der narrativen Position zurück

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Cvejić, Bojana: »The first interview about Retrospective«, october 12, 2001, Montpellier«, in: dies.: (Hg.): Rétrospective by Xavier Le Roy, Dijon 2014, S. 243-266, hier S. 247. Galí, Aimar Pérez: »Can the dancer ›speak‹?«, in: Cvejić, Bojana (Hg.): Rétrospective by Xavier Le Roy, Dijon 2014, S. 287-297, hier S. 287.

Kapitel 5c: Choreographie – Rétrospective par Xavier Le Roy (Xavier le Roy)

und spricht zu Ende, um dann in der Bewegung zu erstarren. Daraufhin kehren die anderen Tänzer_innen zurück und beginnen von neuem. Dafür kündigen sie, verteilt im Raum und unabhängig voneinander, jeweils ein Werk Le Roys durch Nennung von Titel und Uraufführungsdatum laut an, um dann in ihre jeweilige Präsentationsform überzugehen, die sie stetig untereinander wechseln.

Xavier Le Roy, Rétrospective par Xavier Le Roy ©MOMA-PS1

Durch die Zirkulation des Publikumsstroms und der Tänzer_innen untereinander wird die Darbietung so immer wieder unterbrochen, neu aktiviert und aktualisiert. Neben dem eigentlichen Präsentationsraum ist zudem ein weiterer Raum zugänglich, in dem die Zuschauer_innen Videos von Le Roys Soli betrachten können. Er dient als Informationszentrum, immer ist dort jemand anwesend, der Fragen beantworten und Hintergrundwissen zu den einzelnen Arbeiten weitergeben kann. Für Le Roy selbst erfüllt dieser zweite Raum die

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Performative Sammlungen

Funktion eines Ausstellungskatalogs, der einen weiteren diskursiven Zugang zu seinem Werk eröffnet.3 Unter der Überschrift einer Retrospektive werden in dieser Arbeit rekonstruierte Sequenzen in unterschiedlichen Darstellungsmodi aus dem Gesamtwerk eines Künstlersubjekts präsentiert. Dabei fungieren die Körper der Tänzer_innen als lebendiges Archiv, aus denen heraus sich die Sammlung speist. Das Besondere hierbei ist, dass das Material eine radikale Subjektivierung hin zu einer »Aneignung durch die Akteure der Retrospektive« erfährt, wie Franz Anton Cramer in seiner tanzwissenschaftlichen Reflexion über diese Arbeit treffend formuliert.4 Denn in den narrativen Positionen wird die Werkschau mit unterschiedlichen Lebenswelten anderer Tänzer_innen durchkreuzt. Über ihre individuellen Aneignungspraktiken generieren sie neues Wissen. Indem die Selbstbeschreibungen der Tänzer_innen als subjektive Kontextualisierungsrahmen dienen, vermögen sie die Werke Xavier Le Roys in einen größeren Bezugsrahmen einzubetten. Äquivalent zur Arbeit birthday ceremony, in der angesammelte Geburtstagsgeschenke einen Einblick in die Vorlieben und Interessen der Privatperson Sophie Calle geben, präsentiert Le Roy die eigene (künstlerische) Biographie über die körperliche Darstellung und sprachliche Vermittlung seiner Tänzer_innen. Beide Arbeiten spiegeln die eigene biographische Erzählung über den objektivierten Blick anderer Subjekte. Sowohl Calle als auch Le Roy legen die Autor_innenschaft ihrer Selbstdarstellung vermeintlich in fremde Hände, ohne jedoch die Kontrolle über die Gesamtinszenierung abzugeben. Le Roy verwehrt sich ferner jeglichem kuratorischen Zugriff auf seine Werkschau. Darauf verweist bereits die Wahl des Titels, bei dem er die Präposition durch (par) gegenüber einem von (de) Xavier le Roy 3

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Vgl. Le Roy, Xavier u. Obrist, Hans Ulrich: »Es ist schrecklich, der eigenen Wahrnehmung nicht trauen zu können«, in: Du: die Zeitschrift der Kultur, Band 72 Zürich 2012, S. 88-89, hier S. 89. Cramer, Franz Anton: Retrospective as mode of production: Zum Werkbegriff in Rétrospective par Xavier le Roy, unter: www.performap.de/map4/ausstellenund-auffuehren/re-trosprective-as-mode-of-produktion, 2013. (Abgerufen am 26.03.2014), S. 1-9, hier S. 4.

Kapitel 5c: Choreographie – Rétrospective par Xavier Le Roy (Xavier le Roy)

vorzieht. Seine Rückschau gestaltet sich weniger als eine Präsentation von Einzelwerken, »aus denen bestimmte Elemente ablesbar werden (eben eine ›Entwicklung‹ oder ein ›Personenstil‹)«, wie Cramer schreibt, sondern vielmehr als Erschaffung eines neuen Werks, »welches sich indessen aus bekannten oder zumindest wiedererkennbaren Elementen speist«.5 Rétrospective ist als eigenständige Arbeit zu lesen, die auf das traditionelle Format einer Werkschau rekurriert und zugleich mit ihrer Begrifflichkeit spielt, indem Versatzstücke einer chorographischen Vergangenheit zusammengeführt werden, die die ausführenden Tänzer_innen mit individuellen künstlerischen Kontextualisierungen verweben und anreichern. Im Sinne einer performativen Rückschau präsentiert sich Rétrospective als prozesshafte Darstellung individueller Tanzhistorie, in der das stetige Fortschreiben durch andere Tanzbiographien thematisiert wird. Le Roy öffnet die Zuschreibung weg von der monographischen Darstellung einer künstlerischen Identität, hin zu einer Gruppenarbeit, »bei der die behandelnden Werke […] sich wandeln bzw. erweitern oder eigentlich sogar vervielfachen«.6 Seine Retrospektive umfasst mehr als die Betrachtung einzelner Werke eines Künstlersubjekts, sie richtet die Aufmerksamkeit gleichfalls auf deren Kontextualisierung. Damit stellt Le Roy klar, dass die Rekonstruktion eines künstlerischen Schaffensprozesses nicht einfach singularisiert, sondern immer auch im Rahmen seiner Einschreibung betrachtet werden kann beziehungsweise muss. Wie in vielen seiner Arbeiten wendet er sich gegen subjektorientierte Konzepte, die eine einzelne Urheber_innenschaft favorisieren, und stellt die Frage nach der Konstruktion von Autor_innenschaft. Dabei bildet er ab, wie die Stabilität der Begriffe Autor und Werk aufgelöst werden kann zugunsten eines »hochdynamischen, hyperaktiven Netzwerk[s], in dem die semantischen und semiotischen Energien nicht stillgelegt, sondern immer nur für einen Moment gebündelt werden können«.7 Le Roys Werkschau zeigt gleichfalls ein variables Geflecht

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Ebd., S. 3. Ebd., S. 3. Porombka, Stephan: »Literaturbetriebskunde«, S. 72 – 87, hier S. 77.

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von Bezugssystemen, die sich durch Tänzer_innen und Publikum immer wieder neu aktualisieren. Auch in dieser Arbeit führt er vor, wie sich das Selbst in einem offenen Prozess stetig neu hervorbringt, ohne dass eine endgültige Form festzulegen wäre.8 In Rétrospective befragt er zudem die Autorschaft der eigenen Lebenserzählung. Anstelle eines Autors als Schöpfer »eines originären, vollendeten, einheitlichen und abgeschlossenen Kunstwerks«9 gibt er die Kontrolle ab zugunsten einer pluralen Perspektive von Vielstimmigkeit aktiver Co-Autor_innen, die sein künstlerisches Werk in ihrem Sinne weiterschreiben. Daneben weist auch diese Arbeit grundlegende Eigenschaften performativer Sammlungen auf. Denn ihre Präsentation gestaltet sich als eine Versammlung von inhaltlich ähnlichen Ereignissen, die durch körperliche und sprachliche Verfasstheiten im Moment ihrer Betrachtung hervorgerufen werden. In ihrer sequenzhaften Aneinanderreihung einzelner, fragmentarisch verbleibender Ausschnitte tritt so die Grundstruktur performativer Sammlungen hervor: Das Sammlungsmaterial wird in serieller Anordnung und zeitlicher Abfolge als Ereignis präsentiert, während die einzelnen Teilelemente, selbst Ereignisse, im Moment ihres Zeigens neu hervorgebracht werden. Die Arbeit zeichnet zudem die Struktur eines in sich geschlossenen und zugleich in die Zukunft hinein offenen Systems nach, das innerhalb seiner Konfiguration weiter fortgeschrieben werden kann. Denn die ausgewählten Exzerpte aus Le Roys künstlerischer Biographie verstehen sich in ihrer Zusammenführung einerseits als ein bis zu diesem Zeitpunkt abgeschlossenes Vorhaben. Andererseits impliziert ihre gegenwärtige Abgeschlossenheit einen Raum, der zukünftige Arbeiten sowie weitere Fortschreibungsmöglichkeiten anderer Individuen miteinschließt. Die Inszenierung wird weniger über dramatische Bögen strukturiert als vielmehr über die serielle Anordnung aufeinanderfolgender 8

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Vgl. hierzu: Siegmund, Gerald: »Die Artikulation des Dazwischen: Xavier Le Roy«, in: ders.: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 370-407. Dreysse, Miriam: »Multiple Autorschaften. Zum Verhältnis von Arbeitsweise und ästhetischer Form«, in: Matzke; Weiler; Wortelkamp (Hg.): Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft, Berlin u. Köln 2012, S. 91-118. hier S. 104.

Kapitel 5c: Choreographie – Rétrospective par Xavier Le Roy (Xavier le Roy)

Tanzsequenzen und persönlicher Erzählungen, die die Sammlung anreichern. Die wiederkehrenden Unterbrechungen, ausgelöst durch den auf- und abfließenden Publikumsstrom, unterbinden eine lineare, zusammenhängende Erzählstruktur. Rétrospective verbleibt in der Offenheit eines Museumsbesuchs, der ein selbstbestimmtes Kommen und Gehen des Publikums zulässt. Zugleich folgt die Präsentation als Aufführung einer Dramaturgie, die ein selbstbestimmtes Vor- und Zurückschreiten innerhalb der Sammlung verwehrt. Als Kollektion unterschiedlicher Aufführungssequenzen sowie individueller künstlerischer Lebensentwürfe wird hier äußerlich Differentes als inhaltlich Zusammengehöriges erfahrbar, da das Sammlungsmaterial auf einen gleichen Ausgangspunkt referiert, die künstlerische Biographie Xavier Le Roys. Damit folgt die Arbeit der Gestalt autobiographischer, heterogener Sammlungsverfahren. Anders als in den ersten beiden Arbeiten tritt in Rétrospective keine formale Regel in den Vordergrund, die Hervorbringung und Auswahl des Sammlungsmaterials definiert. Vielmehr wird unter dem zusammenfassenden Begriff einer Werkschau äußerlich heterogenes Material versammelt, das sich auf inhaltlicher Ebene als Bestandteil und Ausdruck einer einzelnen Künstleridentität miteinander verbindet. Hier ist es der Sammler selbst, das Künstlersubjekt Xavier Le Roy, der die thematische Setzung vorgibt und die Auswahl legitimiert. Er tritt als Arrangeur und als Sujet der Kollektion hervor, ist inhaltliche Referenz und ordnendes Subjekt zugleich und damit zweifach mit der Sammlung verwoben, indem er sich in und an ihr zeigt.

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6. Kapitel: Gemeinsames und Differentes performativer Sammlungsformen

Unabhängig davon, ob nun homogenes oder heterogenes Sammlungsmaterial zusammengetragen wurde, beruhen alle bisherigen Beispiele performativer Sammlungen auf der gleichen Grundgestalt: Eine Akkumulation von Ereignissen, die über live agierende Körper und Stimmen oder über zeitbasierte Speichermedien wie Video- oder Tonaufnahmen präsentiert werden. Die besondere Charakteristik des Sammlungsmaterials – das Ephemere und Ereignishafte – spiegelt sich gleichwohl in ihrer spezifischen Präsentationsform wider: Als momenthafte Sammlung, die nur als temporäres Ereignis erfahrbar wird, indem das Versammelte innerhalb eines zeitlich gesetzten Verlaufs an seinem Publikum vorüberzieht. Auf das Ziel jeder ästhetischen Sammlung, Dinge unbegrenzt und dauerhaft zu verwahren, um sie vor Verfall und Untergang zu schützen, antwortet die performative Sammlung mit der Flüchtigkeit eines temporären Ereignisses, das sowohl ihr Sammlungsmaterial als auch ihre Gesamtpräsentation auszeichnet. Im Hinblick darauf ist auf ein weiteres Merkmal performativer Sammlungen hinzuweisen: Ihrem ephemeren Material ist aufgrund seiner besonderen Charakteristik eine Dynamik inhärent, die ObjektAkkumulationen klassischer Sammlungsverfahren verwehrt bleibt. Wie bereits beschrieben, müssen Objekte aus ihren ursprünglichen Bedeutungszusammenhängen herausgelöst werden, um sie an einem gemeinsamen Ort zusammenzuführen. Dabei werden sie – dekontextualisiert und ihrer ursprünglichen Funktion enthoben – in Bezug auf ihren ursprünglichen Verwendungszweck stillgelegt. Auch der

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Performative Sammlungen

Sammlungsbestand performativer Sammlungen wird von seinen originären Kontexten isoliert, zugleich bleibt er jedoch in Bewegung, da die einzelnen Elemente weiterhin als Ereignis präsentiert werden. Als Geschehen in der Zeit spielt ihre besondere Darstellungsform zudem mit dem Entzug eines bereits Gesehenen sowie dem aktiven Anreichern an Neudazukommendem; als Materialfluss, der am Publikum vorüberzieht. Unter diesen Voraussetzungen sind performative Sammlungen nur einmalig erfahrbar, da sich ihr Sammlungsmaterial immer wieder neu kontextualisiert und/oder aber verändert präsentiert.

Beispiele performativer Sammlungen im Vergleich zu Akkumulationsformen der Bildenden Kunst Performative Sammlungen rekurrieren, ebenso wie Akkumulationsverfahren der Bildenden Kunst, auf institutionalisierte Ordnungssysteme. Ihre musealen Referenzen können dabei schon im Titel angelegt sein wie etwa im Museum des Augenblicks oder bei Rétrospective.1 Beide Arbeiten vermögen zudem und über die äußere Rahmensetzung hinaus Fragen aufzuwerfen bezüglich Bedeutungskonstruktion und Erzählweise klassischer Ausstellungspraktiken. Le Roy beispielsweise führt vor, wie die ausgestellten Arbeiten seiner Werkschau nicht allein singulär, sondern immer auch kontextualisiert mit und durch andere Individuen gelesen werden müssen. Seine Retrospektive multipliziert sich hierbei zu einem kollektiven Prozess von Vielen, zu einer Gruppenarbeit, die die Mechanismen von Autor_innenschaft und Originalität von Kunstwerken kritisch hinterfragt.2 In einem Arrangement, das zwischen Ausstellung und Aufführung changiert, interagieren die Tänzer_innen direkt mit ihrem Publikum,

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Oder aber es wird mehr oder minder verdeckt darauf hingewiesen, was Sammlungen zu tun pflegen, nämlich ähnliche Dinge miteinander in Bezug zu setzen und sie damit zusammenzuhalten, wie Müllers Titel While We Were Holding It Together impliziert. Vgl. Cramer: »Retrospective as mode of production«, S. 3ff.

6. Kapitel: Gemeinsames und Differentes performativer Sammlungsformen

indem sie es in persönliche Gespräche verwickeln und innerhalb des offenen Settings auf sein Kommen und Gehen reagieren. Befreit von den Bedingungen der Linearität, die eine abgeschlossene, in sich kontingente Erzählung fordert, können sich die Zuschauer_innen innerhalb der festen Dramaturgie frei bewegen, auch weil die serielle Struktur es zulässt, an jedem Punkt der Präsentation ein- oder auszusteigen. Dabei wird das Publikum als formgebender Bestandteil der Ausstellung kenntlich gemacht, mehr noch, durch seine Anwesenheit wird die Sammlung gleichsam fort- und überschrieben. Xavier Le Roy beschreibt seine Intension als Versuch, jeder Besucherin und jedem Besucher zu demonstrieren, dass sie »Einfluss auf ihre Umgebung haben, auf die Dinge, die gegeben sind«, dass sie etwas »in Gang« setzen, »selbst dann, wenn ein Stück bereits läuft«.3 Diese direkte Interaktion des Sammlungsmaterials mit seinem Publikum erweist sich als weitere Spielart performativer Sammlungsverfahren, die verstärkt, weil konzeptionell grundlegend, ebenfalls im Museum des Augenblicks angelegt ist. Ausgangspunkt ist die Erfahrbarkeit subjektiver Aufmerksamkeitsverteilung durch und mit dem Publikum, die sich in der jeweils individualisierten Präsentation der Sammlung zeigt. Dabei werden die divergierenden Blickrichtungen der Besucher_innen zum Auslöser zugespielter Tonaufnahmen, indem der akustische Grundraum auf den individuellen Bewegungsraum reagiert. Ein gemeinsames Erleben dagegen wird über die Separation durch die Kopfhörer sowie die personalisierte Selektion verwehrt, die immer nur einen kleinen Ausschnitt aus der akustischen Kollektion präsentiert. Der Besuch im Museum des Augenblicks changiert zwischen eigenbestimmter Erzählzeit, wie Hanak-Lettner sie in Bezug auf klassische Ausstellungsformate beschrieben hat, und dem dramaturgisch gestalteten Ablauf einer Aufführung. Denn trotz eines zeitlich festgelegten Verlaufs innerhalb eines durchaus engen Bewegungsrahmen, bleibt es dem Publikum freigestellt, welchem Portrait wie lange Aufmerksamkeit geschenkt wird. 3

Le Roy u. Oberist: »Es ist schrecklich, der eigenen Wahrnehmung nicht trauen zu können«, S. 89.

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Die Versammlung von Augenblicken – kleinstmöglichen Zeitintervallen, die die Länge eines Wimpernschlags beinhalten können – erscheint dabei in Relation zu klassischen Sammlungspraktiken als ein Paradoxon. Denn der Augenblick ist zuvorderst ein bloßer Jetzt-Zeitpunkt in der Gegenwart, seine Zeitspanne ist nur individuell erfahrbar und nicht messbar. Als subjektiv ästhetische Zeiterfahrung ist er – gleich der Weile, die seinen zeitlichen Gegenpol bildet – in der Länge variabel.4 Um eingefangen zu werden, benötigt er eine Übersetzung, um für andere nachvollziehbar zu werden und in Form vermittelter Repräsentation in eine Sammlung Einzug zu halten. Denn der Augenblick lässt sich nicht durch eine »noch so ausgefeilte Technik ansichtig machen […] er bleibt selbst eine zeitlose Stelle in der Zeit, dessen Mediatisierung schon im Ansatz sein Geheimnis verfehlte«.5 Deshalb werden im Museum des Augenblicks Erzählungen über Augenblicke versammelt, um das Erlebte sprachlich fassbar zu machen. Immer aber sind diese kurzen Beschreibungen Repräsentationen des eigentlichen Ereignisses, ähnlich dem auf Fotopapier gebannten Sternschnuppenregen. Die Entscheidung, einen auf individueller Zeiterfahrung beruhenden flüchtigen Moment als Sammlungsgegenstand zu wählen, um ihn in Form sprachlicher Verfasstheit innerhalb einer Kollektion von Vielen erfahrbar werden zu lassen, kann durchaus als Gegenentwurf zu objekthaften, musealen Sammlungspräsentationen verstanden werden. Denn der Augenblick steht für das Flüchtige, Vergängliche und Einmalige par excellence. Für etwas, das nicht konservierbar und damit umso weniger einer wiederholten Betrachtung zugeführt werden kann. Die ruhenden Blicke der Portraitierten wiederum können über ihre Dauer als Symbolisierung eines lang gedehnten Augen-Blicks gelesen werden, dessen Ende mit dem gemeinsamen Augenschließen einhergeht, als einzelner extendierter Wimpernschlag.

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Vgl. Bertram, Georg W.: »Wie lange dauert ein Augenblick?«, in: www.welt.de/ kultur/article2645834/Wie-lange-dauert-ein-Augenblick.html, 03.11.2008. (Abgerufen am 26.02.2016) Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, S. 73 u. 74.

6. Kapitel: Gemeinsames und Differentes performativer Sammlungsformen

Künstlerische Beispiele performativer Sammlungen im Vergleich zueinander Auch wenn nicht alle performativen Sammlungen auf den ersten Blick an offensichtlich institutionalisierte Sammlungsverfahren anknüpfen, liegt ihrer Grundstruktur eines Zusammentragens voneinander ähnlichem Material stets eine Positionierung zum Sammel- und Ordnungsvorgang selbst zugrunde. So orientiert sich While We Were Holding It Together am klassischen theatralen Setting einer Konfrontation von Bühne und Zuschauerraum. Gleichwohl verhandelt auch Müllers Arbeit sammlungsrelevante Fragen, etwa indem die Dimension von Konstruktion und Beliebigkeit, die allen Zuschreibungen immanent ist, offengelegt und so Sinnkonstruktion über Benennungen hinterfragt wird. Ivana Müller führt vor, wie ein einziges Arrangement von Körpern durch unterschiedlichste Kontextualisierungen immer wieder neu lesbar werden kann. Ähnlich einer fotografischen Aufnahme bildet Müllers Standbild einen arretierten Moment innerhalb eines komplexen Handlungsverlaufs ab, zu dem das Davor und Danach nur imaginiert werden kann. Im Durchspielen nicht enden wollender möglicher Bezugsrahmen wird ersichtlich, dass nur ein aus seinem Zusammenhang gelöstes, fragmentarisches Sammlungselement die Setzungshoheit neuer Kontexte ermöglicht. Denn erst durch seine Dekontextualisierung wird ein Raum für vielfältige Zuschreibungen geöffnet, in der sich die in der Bewegung eingefrorene Pose neuen Bedeutungszusammenhängen stellen kann. In diesem Fall sind die Bildbeschreibungen jedoch nicht an reale Identitätsentwürfe gebunden, sondern stellen reine Fiktionalisierungen dar. Hier wird das tableau vivant des Bühnensettings in Relation zu potentiellen Ereignissen gesetzt, um sich in der Variationsvielfalt wilder Fabulierungen zu ergehen.

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Die Position des sammelnden Subjekts Im Unterschied zu Müllers imaginierten Zuschreibungen zeugt der Sammlungsbestand im Museum des Augenblicks ebenso wie in Rétrospective von Spuren originärer Bedeutungszusammenhänge. Beide Arbeiten verwenden sprachlich und körperlich verfasstes Erinnerungsmaterial, das ausschnitthaft jenen Teil der Welt repräsentiert, aus dem es vormals entnommen wurde. Unabhängig von neuen relationalen Verhältnissen mit ihren ästhetischen und inhaltlichen Fokussierungen klingen die ursprünglichen Kontexte immer mit an, indem sie etwa auf die Lebensumstände einer bestimmten Generation verweisen. Im Spannungsfeld zwischen neuer künstlerischer Rahmung und ursprünglichem Bezugssystem kann das Sammlungsmaterial auch hier und im Sinne Pomians als Semiophor bezeichnet werden, da es ebenfalls auf mehr verweist als auf die Wechselbeziehungen innerhalb seiner neuen Binnenumgebung. Sowohl While We Were Holding It Together als auch das Museum des Augenblicks zeichnen sich weiter dadurch aus, dass ihre Sammlerinnen – in diesem Fall die Regisseurinnen – weniger als sammelnde denn als ordnende Subjekte hinter ihren Kollektionen hervortreten. Nicht die individuelle Auswahl, sondern das Variationsspiel von formal ähnlichem Material, das sich unter klaren Gesetzmäßigkeiten sequenzartig aneinander reiht, charakterisiert beide Arbeiten. Im Gegensatz zu heterogenen Sammlungsverfahren stellt sich die formale Gleichheit des Materials als vorderstes Prinzip dar. Die Regel bestimmt die Auswahl, die zwar vom sammelnden Subjekt festgelegt, der sich jedoch im Folgenden untergeordnet wird. Solcherart Sammlungen verstehen sich in erster Linie weniger über eine persönliche Zusammenstellung, hinter der das sammelnde Subjekt aufscheint. Im Gegensatz zu heterogenen Sammlungsverfahren zeigen sich die Sammler_innen vielmehr über die Aufstellung eines gesetzten Prinzips, innerhalb dessen das Arrangement des Sammlungsbestands situiert wird. Wie bereits beschrieben tritt hier, zugunsten einer strengen Anordnung von gleicher Gestalt und Struktur, die Regel anstelle des sammelnden Subjekts, um so das Versam-

6. Kapitel: Gemeinsames und Differentes performativer Sammlungsformen

melte, befreit von persönlicher Konnotation, für sich selbst sprechen zu lassen. In der Tradition einer bereits in den 1960er Jahren aufkommenden Kritik am bürgerlichem Genie- und Kunstbegriff vollzieht das sammelnde Subjekt – verstanden als Regisseur_in und Arrangeur_in, als Autor_in des Präsentierten – damit eine Wandlung von Urheber_innenschaft zur Meta-Autor_innenschaft.6 Individuelle Autor_innenschaft verschwindet jedoch keineswegs, sie ist lediglich »befreit von der Aura originären künstlerischen Schöpfertums«7 . Das sammelnde Subjekt als schöpferische Instanz zeigt sich vielmehr in der Funktion als »›Mehrer‹, als Multiplikator von Möglichkeiten«, der »als ein Verwerter, ein Arrangeur« agiert, um »Vorgefundenes, Eingefallenes, Zugefallenes« aufzunehmen, neu zu ordnen und anders lesbar zu machen.8 Dabei kann die Eigengesetzlichkeit des verwendeten Materials die Sammlung in Aufbau und Darstellung ebenso prägen wie die individuelle künstlerische Ausdruckskraft der Sammler_innen im Arrangement der Objekte zueinander. Mehr noch, im Verlust eines determinierten Perspektivismus durch eine einzelne fixe Autor_innenposition, kann sich die homogene Sammlung hin zu einer Vielstimmigkeit unterschiedlicher Positionen öffnen, die vom Material her provoziert wird, da es für sich selbst sprechen kann. Eine Folgerung daraus wäre nun, dass heterogene Sammlungsverfahren im Gegensatz dazu die Sammler_innen explizit in den Vordergrund rücken, da sich das Versammelte über die Verbindung zum sammelnden Subjekt legitimiert, wie etwa in Warhols time capsules. Unter diesem Blickwinkel zeigt sich Rétrospective im doppelbödigen Sinne. Denn die Versammlung heterogenen Materials verweist nur zuvorderst auf das choreographische Lebenswerk Xavier Le Roys. Alle Teilelemente der Sammlung lassen sich auf den Einblick in den Schaffensprozess

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Vgl. Wetzel, Michael: »Autor/Künstler«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 2001, S. 480-544, hier S. 486ff. Ingold, Felix P.: Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur, München 2004, S. 7. Ebd., S. 7.

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einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit zurückbeziehen. Le Roy erfüllt dabei eine zweifache Funktion, er ist inhaltliche Referenz und sammelndes Subjekt der Werkschau. Oder anders gesagt: Er ist Objekt der Betrachtung ebenso wie Autor und Arrangeur seines Werks. Zudem legt er die Rückschau auf seine bisherige Tanzgeschichte nicht in kuratorische Hände, sondern bemächtigt sich ihrer Erzählung, indem er selbst auswählt. Darüber hinaus zeichnet er die Einflussnahme seiner Arbeiten auf andere choreographische Lebenswege nach und verlagert den Fokus hin zu einer Darstellung prozessualer Fortschreibungen innerhalb fremder künstlerischer Biographien. Le Roy verlässt die Instanz einer alleinigen Autorschaft, die er in Ablehnung fremder Kuration besetzt hat, zugunsten von Ko-Autor_innen, die seine Werkschau in plurale Perspektiven auffächert. Im Zuge damit verbundener Ein-, Überund Neuschreibungen tritt Le Roy hinter den singulären Rückblick eines künstlerischen Lebenswerks zurück, um den individuellen Erzählungen anderer choreographischer Werdegänge eine zweite Bühne zu gewähren.

7. Kapitel: Die performative Sammlung als paradigmatische Form postdramatischer Darstellung

Meines Erachtens existieren diverse Parallelen zwischen Charakteristiken postdramatischer Theaterformen1 und dem Format der performativen Sammlung. Allen drei vorgestellten Arbeiten ist etwa eine offene Gesamtgestalt gemein. Ihr Erscheinungsbild zeichnet ein zergliedertes Ganzes nach, in dem eine wiederkehrende Regel den Grundrhythmus einer Wiederholungsstruktur bildet, die optional in die Zukunft hinein fortführbar wäre. Ihre strukturelle Offenheit impliziert zudem eine Narration, die weniger auf eine in sich geschlossene Erzählung angelegt ist. Vielmehr steht ein in die Zukunft hinein offener Verlauf im Vordergrund, der die eigene Prozesshaftigkeit sichtbar macht. Das Fundament bildet immer ein formales Grundprinzip, dessen Ausführung sich stets vor einen möglichen dramatischen Bogen beziehungsweise eine stringente Erzählung schiebt: ein ästhetischer Grundwert,

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Der Begriff des postdramatischen Theaters, der Mitte der 1980er Jahre durch Andrzej Wirth geprägt und Ende 1990 durch Hans-Thies Lehmann auf zeitgenössische Theaterformen angewendet wurde, muss aus einer heutigen Position historisch verhandelt werden. Deswegen sind Lehmanns Überlegungen aber nicht zwingend anachronistisch. Als kanonische Schrift bildet Lehmanns Beschreibung postdramatischen Theaters immer noch einen Ausgangspunkt, um Differenzen zum traditionellen Sprechtheater aufzuzeigen, die in Bezug auf zeitgenössische performative Kunstpraxen natürlich fortgeschrieben und aktualisiert verhandelt werden müssen.

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wenn man so will, dem alle nachfolgenden Entscheidungen untergeordnet werden. Im Zuge seiner Überlegungen zu spezifischen Charakteristiken postdramatischer Theaterformen benennt Hans-Thies Lehmann die Unterwanderung logozentrischer Hierarchie zugunsten einer (zumeist) »visuellen Dramaturgie«2 , einer neuen dominanten Gesetzmäßigkeit, die nicht über einen Text reguliert wird und infolgedessen eigene Logiken entfalten kann. Damit entstehe ein »Theater der Szenographie«3 , ein Bildtheater, dessen innere Systematik anstelle eines dramaturgischen Textverlaufs tritt und den Fortgang der Präsentation bestimmt. Ähnliches lässt sich für die performative Sammlung feststellen. Auch hier schiebt sich eine formale Grundstruktur – in Form einer paritätischen Aneinanderreihung von äußerlich oder inhaltlich ähnlichem Material – vor eine Dramaturgie, die allein durch den Inhalt eines Textes bestimmt wird. Immer wird dieser seriellen Systematik Vorrang gewährt, zuweilen wird ihr Prinzip sogar auf der formal textlichen Ebene aufgegriffen, wie etwa in While We Were Holding It Together oder im Museum des Augenblicks, die mit ihren wiederholenden Anfangsrepliken eine repetitive Logik unterstützen. Diese starke formale Struktur, die insbesondere Gestalt und Inhalt homogener Sammlungen dominiert, gestattet den Sammler_innen, hinter ihren Sammlungsbestand zurückzutreten, um das Versammelte für sich selbst sprechen zu lassen. Innerhalb des Sammlungsverfahrens liegt der Fokus damit weniger auf einem sammelnden denn einem ordnenden Subjekt. Homogene Sammlungen zeigen sich unter diesen Voraussetzungen entfernt von subjektiver Auswahl und persönlicher Konnotation. Ihr Augenmerk liegt auf der Erfüllung einer selbst aufgelegten Systematik, in der die Leidenschaft und Akribie der Sammler_innen hervortritt, sich einer gleichen Aufgabe immer wieder zu stellen, um Ähnliches zusammenzuführen. In ihrer non-hierarchischen, seriellen Struktur erinnert die Grundformel performativer Sammlungen an ein weiteres Stilmittel postdra2 3

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 158ff. Ebd., S. 159.

7. Kapitel: Die performative Sammlung als paradigmatische Form

matischer Theaterformen, das Hans-Thies Lehmann als »Enthierarchisierung der Theatermittel«4 beschreibt. Gemeint ist eine Simultanität der Theaterzeichen, die ihre Non-Hierarchisierung untereinander impliziert: Die Abwendung vom Primat des Textes hin zu einem gleichberechtigten Nebeneinander von Zeichen und Körpern, Text, Raum, Licht oder Sound, die, wie der Musiktheaterregisseur Heiner Goebbels in diesem Zusammenhang festhält, »ihre eigenständigen Kräfte behalten, aber zusammen wirken«.5 Innerhalb performativer Darstellungsformen zeichnen sich besonders performative Sammlungen über einer enthierarchisierte Nebeneinanderstellung ihres verhandelten Materials aus. Dabei verbleibt das Einzelne innerhalb seiner paritätischen Anordnung singulär. In seinem Zusammenkommen mit Ähnlichem geht es zugleich Verbindungen zu seinen Nachbarelementen ein, um sich im Gemeinsamen als Sammlung auszuweisen, ohne dass eines dem anderen untergeordnet wird. Als prozessuales Ereignis strukturiert und rhythmisiert das stetige Nacheinander einzelner Teilelemente die Gesamtgestalt homogener wie heterogener performativer Sammlungen. Rhythmus, konstatiert Erika Fischer-Lichte im Kontext ihres Entwurfs einer Ästhetik des Performativen, entstehe nicht durch einfache Wiederholung, sondern vielmehr »durch Wiederholung und Abweichung von Wiederholtem«6 . Nach ihr ließe sich Rhythmus erst dann als Ordnungsprinzip beschreiben, wenn eine permanente Transformation des Materials stattfindet und so sein Wirken vorantreibt. Auch das Material performativer Sammlungen variiert in seiner Abfolge immer wieder über seine äußeren oder inhaltlichen Ähnlichkeiten hinaus und demonstriert verschiedene Spielarten unter dem Fokus einer sich wiederholenden Charakteristik, die das Versammelte in ein Ordnungsverhältnis zueinander setzt. Immer folgt die Sammlungsstruktur dem Vorgang einer Aufzählung, die sich in der Zeit vollzieht und ihr Vergehen durch metrische und rhythmische Strukturierung gestaltet erfahrbar

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Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 150ff. Ebd., S. 147. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 233ff.

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werden lässt.7 Je strenger die formale Setzung hierbei ist – so meine These – desto expliziter tritt die Abweichung als Variationsspiel in den Vordergrund, das zugleich den Fortgang der Sammlung vorantreibt. Auch Hans-Thies Lehmann formuliert die Wiederholung als künstlerisches Prinzip unter der Zuschreibung einer »Ästhetik der Repetition«8 . Dabei versteht er das Repetitive weniger als ein Wiederholen von etwas Selben, eines in sich Identischen, sondern ebenso als Variation von gleichartigem Material, in der die Abweichung provoziert wird. Gerade homogene Sammlungsformen spielen mit dieser repetitiven Ästhetik, bei der es nicht um die »Bedeutung des wiederholten Geschehens, sondern die Bedeutung der wiederholten Wahrnehmung geht«. Wobei eine besondere Form der Aufmerksamkeit geschult wird, die »durchsetzt von der Erinnerung an das Vorangegangene« das Differente im Gleichen zu erkennen vermag.9 Als strukturelles Prinzip liegt das Repetitiv jeder performativen Sammlung zugrunde, unabhängig davon, ob sie homogenes oder heterogenes Material versammelt. Als selbstbezügliches, obsessives Spiel mit der Form beinhaltet ihr Aufbau immer die strukturale Abfolge von Teilelementen, die sich als prozessuales Ereignis aneinanderreihen. Wie bereits beschrieben, forcieren homogene Sammlungen den Vorgang der Analyse, in dem Einheitliches zerlegt werden muss, um Differentes wahrnehmen zu können, während heterogene Verfahren die Synthese fordern, um Differentes als Zusammengehöriges zu erfahren. Dem sich wiederholenden Sammlungsakt liegt eine kompensatorische Funktion zugrunde: Die Supplementierung einer Ordnung gegenüber dem Chaos der Wirklichkeit. Der selektive Blick richtet sich gezielt und zuvorderst auf ein Merkmal, das alle Teilelemente untereinander verbindet; entweder über das sammelnde Subjekt und/oder über eine äußere Eigenheit. Ohne diese Fokussierung wäre kein Sammelvorgang

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Vgl. Mainberger, Sabine: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin und New York 2003, S. 9. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 334. Ebd., S. 336 u. 337.

7. Kapitel: Die performative Sammlung als paradigmatische Form

denkbar. Durch die Konzentration auf einen Aspekt, der allem Versammelten inhärent ist, wird das Material aus der Komplexität anderer Merkmale und Bedeutungsebenen befreit. Reduziert auf eine spezifische Charakteristik kann es nun geordnet werden, ohne dass seine ursprünglichen Eigenheiten nivelliert werden. Freigeräumt von weiteren möglichen Konnotationsebenen wird ihm vielmehr eine neue Binnenumgebung zugewiesen, die es mit seinesgleichen verbindet und neue Kontextualisierungen ermöglicht. Nicht nur innerhalb des Zusammentragens, sondern auch im Zuge der Rezeption einer Sammlung wird das Bedürfnis befriedigt, dem Wirrsal der Welt für einen Moment zu entkommen, um mit subjektiver Fokussierung und individuellen Ordnungssystematiken das Eigene, Menschliche entgegenzusetzen. In diesem Kontext ist ein weiteres Stilmittel postdramatischer Theaterformen interessant, das sich ebenso in Relation zu performativen Sammlungen setzen lässt: Das »Spiel mit der Dichte der Zeichen«.10 Es beschreibt den Umgang mit Überfülle, gleichzeitig benennt es die Ausdünnung einer Zeichendichte. Innerhalb performativer Sammlungsformen ist hier in erster Linie die gezielte Sparsamkeit der Zeichenverwendung interessant, eine »Strategie des Refus«, wie Lehmann schreibt, als Reaktion auf das »Zeichenbombardement im Alltag«.11 Dadurch, so Lehmann weiter, würde in postdramatischen Theaterformen ein Formalismus betont, der »durch Repetition und Duration die Zeichenfülle reduziert«.12 Nichts anderes vollziehen performative Sammlungen, wenn sie innerhalb einer strengen Systematik Disparates auf ein verbindendes Merkmal hin zusammenführen, um es in einem formal geordneten zeitlichen Nacheinander zu präsentieren. Die Reduktion auf eine Eigenart, auf die hin alles Nachfolgende geprüft und wiedererkannt wird, bestätigt dabei in repetitiver Wiederkehr die gesetzte Regel. Letztlich hebt Lehmann das Ereignishafte und Situative postdramatischer Theaterformen hervor, bei dem das »im Hier und Jetzt re-

10 11 12

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 151ff. Ebd., S. 153. Ebd., S. 153.

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Performative Sammlungen

al werdende Vollziehen von Akten«13 als Akzentuierung von Präsenz in den Vordergrund rückt. Fokussiert auf die »Tätigkeit des Hervorbringens«14 wird der Verlauf der Aufführung nicht über das abgeschlossene Resultat, sondern über ihren Prozess bestimmt. Gerade Performative Sammlungen rekurrieren in ihrer Darstellung des Sammelvorgangs als performatives Ereignis explizit auf den Akt des Hervorbringens, ihre Grundstruktur bildet das stetige Hervorbringen neuen Materials ab, das die Sammlung im Verlauf ihrer Rezeption weiter anreichert. Das Zusammenkommen von Vielem kann während der Präsentation sowohl auf inszenatorischer als auch auf rezeptionaler Ebene noch einmal nachvollzogen werden, indem die Zuschauer_innen zu Zeug_innen und Mitwisser_innen über den Entstehungsprozess der Sammlung werden. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Faktor interessant, der das Publikum zu einer besonderen Form der Sinnproduktion herausfordert. Meiner Ansicht nach ist er der spezifischen Struktur geschuldet, die auch die performative Sammlung charakterisiert: Das Versammelte zeigt sich im Moment der Präsentation als abgeschlossener Prozess. Zugleich ist die serielle Anordnung des Sammlungsmaterials auf eine mögliche Weiterführung hin angelegt, die ihre Form in die Zukunft hinein öffnet. Ihre serielle Struktur impliziert darüber hinaus, dass sie sich an »jeder Stelle unterbrechen und erweitern« lässt, »weder Peripherie noch Zentrum« besitzt und aufgrund ihrer paritätischen Anordnung keine Hierarchie aufweist.15 Die performative Sammlung öffnet sich nicht nur zum Ende hin. Durch ihren fragmentarischen Aufbau als einfache Konstruktion eines Nacheinanders von Gleichem ermöglicht sie ihrem Publikum ein Einbringen an jeder Stelle ihrer Abfolge. Als geschlossenes und zugleich offenes Konstrukt bietet sie kontinuierlich Zwischenräume an, Eigenes und Fremdes assoziativ in die Gesamterzählung miteinzugliedern und die Sammlung weiter anzufüllen. Die

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Ebd., S. 178. Ebd., S. 179. Blättler, Christine: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München 2010, S. 7-14, hier S. 12.

7. Kapitel: Die performative Sammlung als paradigmatische Form

performative Sammlung lädt ihr Publikum stetig ein, sich aktiv an ihrer (imaginären) Bereicherung zu beteiligen.

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8. Schlussbetrachtungen

Vor dem Hintergrund aller bisherigen Überlegungen über spezifische Formen und Funktionsweisen möchte ich abschließend noch einmal auf signifikante Besonderheiten hinweisen, die die performative Sammlung als ästhetisches Format gegenüber anderen performativen Darstellungsformen auszeichnet.1 Wesentlich etwa ist ihr der bereits beschriebene formale Aufbau eines paritätischen Nacheinanders von Singulärem, das sich in einer zeitlichen Anordnung präsentiert. Anstelle eines geschlossenen Kunstwerks zeigt sich die performative Sammlung als ein Ganzes, das zugleich offenlegt, aus Einzelnem zusammengefügt zu sein. Aufgrund ihrer seriellen Grundstruktur, die die Möglichkeit einer stetigen Erweiterung impliziert, ist ihr eine Dynamik inhärent, die sie als bewegliches Konstrukt auszeichnet. Denn anstelle eines Endresultats steht ihr prozessualer Verlauf im Vordergrund, der die Figur konsequent in Schwebe hält: Nur im Gegenwärtigen abgeschlossen kann sie als offenes Werk, als Kunstwerk in Bewegung beschrieben werden, das in die Zukunft hinein unbegrenzt fortgeführt werden kann – nicht nur durch die Künstler_innen selbst, sondern ebenso über die Imaginationskraft ihres Publikums.2 Jedes 1

2

Einige dieser Feststellungen können ebenso für generell ästhetische beziehungsweise künstlerische Sammlungsformate gelten. Da sich die performative Sammlung aber grundsätzlich durch ihren ereignishaften Charakter von allen anderen Akkumulationsformen unterscheidet, werden die hier benannten Aspekte noch einmal gesondert fokussiert. Vgl. hierzu exemplarisch: Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M., 1977.

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Performative Sammlungen

Dazukommende vermag dem Versammelten einen weiteren Aspekt hinzufügen, der die Sammlung auch inhaltlich anreichert. Bezug nehmend auf die aristotelische These, dass das Ganze immer mehr sei als die Summe seiner Einzelteile, liegt es nahe, der performativen Sammlung eine Emergenz zu unterstellen, die auf einem Mehrwert an Erkenntnisgewinn beruht, der durch das Zusammenkommen von Vielen evoziert wird.3 Dies vermag sicherlich für solcherart Kollektionen zutreffen, die aus einem wissenschaftlichen Interesse heraus zusammengetragen wurden. Denn ihr Ziel ist, aus der Versammlung von Singulärem einen Allgemeinwert abzuleiten, der als übergeordnete, abstrahierende Regelhaftigkeit formuliert werden kann. Wird jedoch allein aus einem Wohlgefallen heraus gesammelt, liegt der Fokus der Betrachtung weniger auf neuer Wissensgenerierung denn auf einem rein ästhetischen Interesse, bei dem zuvorderst um der Anschauung willen zusammengetragen wird. Auch diese Sammlungen können über ihre Einzelteile hinaus einen Mehrwert produzieren, wahrnehmungsästhetisch ergibt sich jedoch eine andere Lesart: In ihren Einzelteilen bildet sich immer auch das Gesamte ab, zugleich wird das Ganze im Einzelnen widergespiegelt; als pars pro toto, das ebenso ein totum pro parte inkludiert. Diese besondere Wechselbeziehung zwischen der Sammlung und ihren Teilelementen ist nur möglich, weil sich das Einzelne weder im Gesamten aufhebt noch in ihm verschwindet, sondern als Singuläres weiterhin sichtbar bleibt. Unter dieser Bedingung produzieren die Elemente in ihrer Summe in erster Linie nicht einfach ein Surplus, das sich lediglich aus ihrem Zusammenkommen herstellt. Vielmehr demonstrieren sie in ihrer Gesamtheit gleichermaßen das, was immer schon im Einzelnen angelegt ist: Das verbindende Charakteristikum und damit die Regel, aus

3

Vgl. Schischkoff, Georgi (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1982, S. 211. (Originalzitat: »Das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile.« Aristoteles: Metaphysik, VII 10, 1041b).

8. Schlussbetrachtungen

der heraus sie mit (inhaltlich oder äußerlich) Ähnlichem zusammengeführt wurden. Wissen, dass aus der Zusammenführung heraus entsteht, kann sich so rückwirkend auf jedes einzelne Stück der Sammlung zurückführen lassen, oder anders gesagt: Jedem Teilelement ist inhärent, für was die gesamte Kollektion zu gelten vermag. Wichtig also ist folgende Erkenntnis: Das Einzelne ist nicht nur Bestandteil, es erfüllt zugleich die Funktion des Stellvertreters für die gesamte Kollektion. Folglich dienen die einzelnen Segmente nicht nur der Formgebung einer Gesamtgestalt, sie behalten darüber hinaus einen Wert, der es ihnen erlaubt, für das Ganze wie für das Singuläre zu sprechen. An dieser Stelle ist es hilfreich, ein zweites Mal auf einen Begriff der Rhetorik zurückzugreifen, der die Funktionsbeziehung der einzelnen Teilelemente untereinander veranschaulicht, das tertium comparationis.4 Zurückgeführt auf die aristotelische Metaphernlehre meint es traditionell den Vergleichsgesichtspunkt zwischen zwei Objekten, wortwörtlich übersetzt das Dritte eines Vergleichs.5 Das tertium comparationis ist aber nur sinnvoll zu bestimmen zwischen Objekten, die »weder in jeder Hinsicht gleich, noch in jeder Hinsicht ungleich sind«6 , da weder in dem einen noch anderen Fall eine Gegenüberstellung von Bedarf ist. Weiter muss es, unabhängig von den vergleichenden Objekten, als übergeordneter Aspekt verhandelt, also aus einem höheren Allgemeinheitsgrad herausgebildet werden, der wiederum beiden Objekten gemein ist. Dieser Wert bildet das Beziehungsgeflecht unter den einzelnen Elementen, er bezeichnet die Ähnlichkeit, unter der Diverses miteinander verbunden ist und die erst im Zusammenkommen von beidem in den Vordergrund tritt. Übertragen auf den Sammlungsbegriff verstehe ich das tertium comparationis als Benennung des Gemeinsamen, unter dem Singuläres ausgewählt, zusammengetragen als Zusammengehöriges ausgewiesen wird. Streng genommen ist der Termi-

4 5 6

Siehe hierzu auch die Begrifflichkeit des Hendiadyoins im Hinblick auf das Zusammenspiel von Sammeln und Ordnen. Vgl. Oldemeyer, Ernst: Zur Phänomenologie des Bewußtseins. Studien und Skizzen, Würzburg 2005, S. 228ff. Ebd., S. 228.

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Performative Sammlungen

nus des Dritten eines Vergleichs allerdings nicht mehr präzise, wenn er aus mehr als zwei beteiligten Objekten gebildet wird.7 Dennoch ist das tertium comparationis als Begriffsbestimmung fruchtbar, beziffert es doch den generellen Wert, der in jedem Einzelnen verhaftet ist und damit für die gesamte Sammlung gilt. Weiter gedacht benennt es gleichfalls die allgemeine (interne oder öffentliche) Überschrift der Sammlung, etwa wie »Dinge aus meiner Hosentasche«, »Chinesische Vasen aus der Ming Dynastie« oder »Letzte Erinnerungsbilder norddeutscher 70Jähriger«. Denn es beschreibt das, was es zu erkennen gilt, um das Akkumulierte nicht als Sammelsurium zu lesen: Die inhärente Strategie des Zusammenkommens, die sich auf eine gemeinsame Gleichartigkeit beruft. So gesehen legt die (performative) Sammlung ihren strukturellen Aufbau stets offen zutage und reflektiert zugleich die Bedingungen ihres Akkumulationsverfahrens. Dabei führt die konsequente Sichtbarkeit des Regelwerks zu einer besonderen Form der Rezeption, die eine befreite Wahrnehmung provozieren kann. Denn durch ihr – mehr oder minder – augenfälliges Ordnungsprinzip muss die Verabredung, unter der Zerstreutes zusammengeführt wurde, nicht erst komplex entschlüsselt werden, sondern kann schon ab den ersten präsentierten Teilelementen ersichtlich werden. In der stetigen Wiederholung der Bedingungen des Zusammenkommens wird der Verdacht einer assoziativen Versammlung eliminiert und die Logik der Sammlung entfaltet. Die Wiederkehr des Gleichen scheint dabei eine »besondere Suggestivität« zu entwickeln, die dem Publikum »einen bestimmten Rezeptionsrhythmus« geradezu aufzwingt.8 Besonders performative Sammlungen, die ihrem Publikum eine eigenbestimmte Erzählzeit verwehren, können so einen repetitiven Sog aufbauen, auf den man sich einlassen kann, ja vielleicht sogar einlassen muss: Die wiederkehrende Regel wird erkannt, als retardierendes Element bestätigt und als Grundstruktur angenommen. Indem Wiederholungen die referentielle Logik der Darstellung untergraben, werden die Zeichenkörper in 7 8

Ebd., S. 229. Zitko: »Der Ritus der Wiederholung«, S. 178.

8. Schlussbetrachtungen

ihrer Materialität erfahrbar.9 Befreit von der Analyse einer Systematik der Versammlung kann sich die Wahrnehmung konzentrieren auf das verhandelte Material sowie dessen Rhythmus in einer zeitlichen Darstellung. Oder anders gesagt: In einer performativen Sammlung kann der semantische Bezug in den Hintergrund rücken, um dem Sinnlichen Vorschub zu leisten. Innerhalb ihres streng formalen Grundprinzips erzeugt die performative Sammlung so Narrationen ohne direkte Handlungs- oder Spannungsbögen.10 Jenseits einer klassisch linearen Struktur vermittelt sie über fragmentarisch verbleibende Elemente hinaus dennoch eine Gesamterzählung. In ihrer nicht-repräsentationalen Ästhetik fordert sie den Zuschauer_innen andere Zugänge ab, als das Nachvollziehen einer in sich geschlossenen Erzählung, indem sie – jenseits einer klassischen linearen Struktur – eine übergeordnete Erzählung allein über Versatzstücke vermittelt. Performative Sammlungen stehen in Tradition zu klassischen seriellen Verfahren, eine Produktionsform, die seit dem 20. Jahrhundert eine Konjunktur in den Künsten erfahren hat.11 Als Verknüpfungsfunktion führen serielle Prinzipien vor, wie Elemente ohne kausale Zusammenhänge allein über ihre Anordnung miteinander in Bezug gesetzt werden können. Auf die Irritation von Wahrnehmungskonventionen abzielend, vollziehen ästhetische Wiederholungsverfahren immer wieder ästhetische Grenzüberschreitungen, in der die semantische Ebene zugunsten sinnlicher Wahrnehmung verlassen wird.12 9 10

11 12

Vgl. Bippus: Serielle Verfahren, S. 25. Im Gegensatz etwa zum Zyklus, der ebenfalls eine Einheit aus mehreren Einzelteilen bildet, die unter der Prämisse einer verbindenden Erzählung stehen und aufeinander aufbauen, um letztendlich wieder am Anfang anzukommen. Anders als die Serie ist der Zyklus als zeitliches Narrativ auf eine Entwicklung hin angelegt. Christoph Heinrich schreibt ihm deswegen das zugrundeliegende Muster von erst dies, dann das und später jenes zu, während die Serie einem das und das und das folgt. (Vgl. Heinrich: »Serie – Ordnung und Obsession« in: Schneede, Uwe M. u. Heinrich, Christoph (Hg.): Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2001, S. 7-12, hier S. 7) Vgl. Blättler: »Einleitung«, S. 7ff. Vgl. Kalu: Ästhetik der Wiederholung, S. 205ff.

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Performative Sammlungen

Ebenso wie serielle Prinzipien zeigt sich die narrative Systematik performativer Sammlungen als Aneinanderreihung fragmentarisch bleibender Darstellungen, die sowohl inhaltliche als auch formale Wirkungsmacht besitzen, indem sich ihre Teilelemente sowohl auf narrativer sowie auf strukturaler Ebene aufeinander beziehen. Ihre Verbindung ergibt sich aus einer inneren oder äußeren Logik, deren Gesamtgestalt an erster Stelle aus dem Anspruch des Vergleichs resultiert, um Ähnliches sowie Differentes zu erkennen und in Bezug zueinander zu setzen. Form und Inhalt stehen in enger Korrelation zueinander, da sie sich gegenseitig bedingen. Ihr starkes Wechselverhältnis eröffnet dem Publikum wiederum stets zwei ästhetische Zugänge. Denn entweder tritt eine Narration als übergreifende Erzählung in den Vordergrund, die einzelne Elemente untereinander verbindet, oder aber die Struktur im Sinne einer Rhythmisierung von narrativen Teilelementen steht an erster Stelle der Wahrnehmung, die, weg von Inhalten, hin zu einem Verweis auf die Dinge in ihrer Materialität führt. Unter diesem Aspekt kann die performative Sammlung sowohl als strukturelle Erzählung als auch erzählende Struktur verhandelt werden, je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird, beziehungsweise zugänglicher erscheint. Sowohl formal als auch inhaltlich bewegt sich die Rezeption performativer Sammlungen zwischen den Polen der Separation und Integration. Denn ihre Betrachtung regt dazu an, Singuläres zu identifizieren und Zusammengehöriges zu entdecken, indem das Sammlungsmaterial auf individuelle ebenso wie auf verbindende Charakteristiken hin überprüft wird. Ihr liegt, wenn man so will, ein didaktischer Zug zugrunde, eine Eigenart, wie sie Christoph Heinrich für serielle Formate formuliert hat. Die performative Sammlung provoziert gleichfalls eine Wahrnehmung, die »die Möglichkeit zu differenzieren und zu präzisieren«13 schärft, ohne einer generellen Wertung zu unterliegen. Aufgrund ihres Prinzips eines paritätischen Nacheinanders konstatiert sie lediglich, ohne zu kategorisieren. Wie die Serie zählt sie auf, ohne zu hierarchisieren und folgt einem Muster, das sich in der Struktur einer reinen 13

Heinrich: »Serie – Ordnung und Obsession«, S. 11.

8. Schlussbetrachtungen

Abfolge durch ein »das und das und das«14 auszeichnet. Gerade homogene Sammlungsformen operieren offensichtlich mit einer Ästhetik des Repetitiven, da sich ihr Material über eine äußere Gleichheit auszeichnet, während in heterogenen Verfahren primär die strukturelle Formation als wiederkehrendes Element sichtbar wird. Beiden Formaten liegt zugrunde, dass sich ihre Gestalt aus ihrem Zweck ableiten lässt: Sie reihen aneinander, um zu vergleichen. Der Vorgang des Vergleichens fordert die Fähigkeit zur Unterscheidung, denn erst ein differenzierender Blick ermöglicht, Sammelwürdiges zu erkennen und Anderes auszuschließen. Dafür muss die Aufmerksamkeit auf eine oder mehrere Eigenschaften gelenkt werden, durch die sich mögliches Sammlungsmaterial auszeichnet. Alle weiteren Charakteristiken werden in den Hintergrund gedrängt zugunsten der Besonderheit, die es mit Gleichartigem vereint. Der selektive Blick simplifiziert also, er reduziert das Versammelte auf das, was allem gemein ist. Zugleich vermag der Sammlungsvorgang die Wahrnehmung hin zu einer Komplexität zu öffnen, die sich in der Betrachtung des Singulären zeigt. Denn in der Zusammenführung wird nicht nur das Gemeinsame ersichtlich, ebenso treten Differenzen hervor, die das Einzelne von allem Anderen abhebt. Überspitzt formuliert mag also gelten, dass erst die Vereinfachung einen Freiraum birgt, der den Blick freiräumt für die Vielschichtigkeit des Sammlungsmaterials. Die (notwendige) Simplifizierung in der Auswahl geht einher mit der Veranschaulichung von Komplexität, wobei sich die Varianz des Versammelten paradoxerweise erst im Vergleich mit Gleichartigem zeigt. Neben schon bereits benannten Oppositionen enthält die Sammlung darüber hinaus eine weitere Polarität: Ihr ist zugleich Ordnung und Obsession, Disziplin und Ekstase inhärent. In ihr trifft Maßlosigkeit und überbordende Fülle auf strenge Auswahl- und Anordnungspraktiken, die vom sammelnden Subjekt aufrechterhalten werden. Aus der Perspektive künstlerischer Akkumulationsverfahren wird der Schaffensprozess dabei einerseits eingeschnürt und in Fesseln gelegt, 14

Ebd., S. 7.

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Performative Sammlungen

anderseits demonstriert der Vollzug der Regel die Leidenschaft, mit der sich einer Aufgabe angenommen und deren Ausführung sich ein um das andere Mal gestellt wird.15 Die strenge Systematik des Sammlungsvorgangs reglementiert die Schaffenslust, zugleich zeichnet sich darin die Passion nach, die allem Zusammentragen inhärent ist. Vor dem Hintergrund verschiedenster Polaritäten, die sich bereits in den Paradoxien des Sammlungs- und Ordnungsvorgangs abgezeichnet haben und hier ihre Fortsetzung finden, zeigt sich die performative Sammlung in produktions- als auch rezeptionsästhetischer Betrachtung als reizvolles Format. Denn es vereint in sich Diversitäten, die nebeneinander koexistieren, ja sich geradezu bedingen, ohne zum gegenseitigen Ausschluss zu führen. Die performative Sammlung offeriert aus sich heraus diverse Spannungsverhältnisse, innerhalb derer Produktions- als auch Wahrnehmungsprozesse in Bewegung gehalten werden. Produktion und Rezeption einer Sammlung evozieren Sehnsüchte und Begehren, die sich gegenseitig und in gesonderter Form ihre Entsprechung finden. Etwa wenn im Anlegen einer Sammlung das Bedürfnis gelesen werden kann, Chaos in Sinn zu transformieren, um dem Wirrsal der Umwelt mit eigenen Ordnungsstrategien entgegenzugetreten. Denn Sammlungen sind immer als subjektive Bilder von Welt zu begreifen, die zu Weltbildern werden können, da sie »Weltverhältnisse erzeugen, hervorbringen und sichtbar machen«.16 Der Akt individueller Ermächtigung über die eigene Umgebung kann auf rezeptionaler Ebene sein Pendant finden, indem das Publikum Kontextverschiebungen durchschaut und neue Bedeutungszusammenhänge erkennt, um eine andere Wirklichkeit, fern von institutionellen Anordnungssystematiken, zu erfahren und sich darin mit eigenen Erfahrungen zu verorten.

15 16

Vgl. Heinrich: »Serie – Ordnung und Obsession«, S. 12. Huber, Hans Dieter: »Vermessene Ansprüche«, in: Bucher Trantow, Katrin u. Pakesch, Peter (Hg.): Vermessung der Welt. Heterotopien und Wissensräume in der Kunst, Ausstellungskatalog Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joanneum, Graz 2011, S. 20-31, hier S. 28.

8. Schlussbetrachtungen

Das Auswählen und Zusammentragen unter der Setzung eigener Regelwerke vermag zudem eine beruhigende Wirkung zu entfalten. Denn die Konfrontation mit Vorgängen des Ordnens, Einteilens und Gruppierens schafft Vertrautheit mit dem Versammelten, dem selbstgewählten Ausschnitt von Welt. Hierzu etabliert das sammelnde Subjekt ein eigenes System, in dem es als Individuum seinen Platz hat und seine Wünsche kennt, sich seines Glücks versichert.17 Unter der Gewissheit einer Regel, innerhalb der sich einer Aufgabe immer und immer wieder gestellt wird, kann ein wiederkehrender Ablauf praktiziert werden, der eine Sicherheit im Handeln etabliert. Der beruhigende Aspekt, der sich in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Zusammengetragenen zeigt, kann sich gleichfalls auf die Rezeption des Akkumulierten übertragen. Denn unter der Betrachtung formaler Anordnungssystematiken vermag sich der Blick zu entspannen, während die repetitive Präsentation des Sammlungsmaterials Gleichmaß und Regelmäßigkeit suggeriert. Die Wiederkehr von Ähnlichem demonstriert aber nicht nur harmonisierende Ordnung, sondern legt zugleich Abweichungen und Differenzen offen, die nun selbst in Nuancen wahrgenommen werden können. Im fortführenden Vergleichen von vorder- oder hintergründig Gleichem wird das Akkumulierte auf sich selbst zurückverwiesen, um einen kontemplativen Raum zu eröffnen, der ein Innehalten ermöglicht. Sammlungen zu erstellen und sie zu betrachten impliziert demnach immer auch ein sich sammeln, um sich selbst neu zu sortieren. Angesichts einer Welt, die von hierarchischen Strukturen durchdrungen ist, vermögen künstlerische Sammlungsformate andere Möglichkeiten von Wirklichkeitskonstitution zu demonstrieren, indem sie alternative Verfahren von Sinnkonstruktion offenlegen. Im Gegensatz etwa zu wissenschaftlichen Akkumulationen, die stets um eine (vermeintliche) Objektivität bemüht sind, spielen künstlerische Sammlungen innerhalb ihrer Anordnungssystematiken mit einem objektivierten Blick, zugleich thematisieren sie ihren subjektivistischen Zugang. Befreit von der Logik epistemischer Prinzipien stellen sie tradierten Ord17

Heinrich: »Serie – Ordnung und Obsession«, S. 12.

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Performative Sammlungen

nungssystemen etwas Eigenwilliges, Fremdes gegenüber und etablieren mit ihren individuellen Auswahlverfahren und Arrangements alternative Setzungshoheiten. Dabei vermögen sie Dinge in Bezug zu setzen, die nicht unbedingt ursächlich nahe beieinander liegen, zugunsten weniger offensichtlicheren Zusammenhängen, die neue Bedeutungsebenen vorführen. Grenzenlose Vielfältigkeit möglicher Methoden der Anordnung wird aufgedeckt, und es wird offenkundig, dass »wissenschaftliche Ordnungssysteme genauso unser Konstrukt sind wie künstlerische oder alltagsbezogene«.18 In der Summe ergibt sich für die performative Sammlung daher folgende Charakterisierung: Als ästhetisches Format steht sie für die Entdeckung von Vielfältigkeit im Einzigartigen, die Wahrnehmung von Singulärem im Pluralen sowie für ein Erfassen von Ähnlichem im Diversen. Sie ist eher dynamischer denn statischer Natur, da sie den Akt des Vollbringens entgegen einem abschließenden Vollbrachtem vorzieht und ihre Prozesshaftigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Denn ihr Zusammenkommen vollzieht sich als Erlebnis in Raum und Zeit. Ihre formale Erzählform, die weder Peripherie noch Zentrum, weder Klimax noch Auflösung kennt, bildet eine nonkausale Narration, die sich zuvorderst über eine strukturelle Anordnung als über eine inhaltliche Stringenz auszeichnet und dennoch eine übergeordnete Erzählung zu entwerfen vermag. Ihr Grundrhythmus ist die Repetition, die mit Varianzen spielt. Ihre serielle Darstellung setzt als parataktische Aneinanderreihung von Ähnlichem die Begrifflichkeiten Differenz und Wiederholung in fortwährende Relation zueinander. Verbindungen einzelner Elemente untereinander werden über eine individuelle Selektion oder über eine gesetzte Regel gezogen, wobei der Fokus entweder auf dem verhandelten Material oder auf dem sammelnden Subjekt liegt. Subjektivierung der Sammler_innen

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Bucher Tranow, Katrin u.a.: »Sind Ausstellungen realistische Utopien? Ein Gespräch über die Ordnung im Museum«, in: Bucher Trantow, Katrin u. Pakesch, Peter (Hg.): Vermessung der Welt. Heterotopien und Wissensräume in der Kunst, Ausstellungskatalog Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joaneum, Graz 2011, S. 819, hier S. 11.

8. Schlussbetrachtungen

oder Materialität des Versammelten stehen sich folglich als mögliche Darstellungsformen gegenüber. Rezeptionsästhetisch zeichnen Einschreibung und Fortschreibung die performative Sammlung aus. Verantwortlich dafür ist ihre offene Form, deren inhaltliche und strukturale Freiräume als ständige Einladung verstanden werden können, sich an der Anreicherung der Sammlung zu beteiligen. Abschließen möchte ich diese Überlegungen jedoch mit einer gesellschaftspolitischen These. Denn die performative Sammlung kann nicht nur als paradigmatische Form postdramatischer Aufführungspraxen verstanden werden, darüber hinaus vermag sie als exemplarisches Gegenbild für die Zeit zu stehen, in der wir leben: In einer Gesellschaft der digitalen Ansammlung (und eben nicht Sammlung), in der wir sammeln ohne zu ordnen, ständig und überall. Bereits in unserem Zusammentragen zeigt sich, dass wir nicht aus einem bestimmten Fokus heraus akkumulieren, also aus einem qualitativen Gesichtspunkt, wie es ästhetische Sammlungen tun, sondern lediglich quantitativ. Deswegen sammeln wir aber keineswegs ökonomisch, denn auch diesen Sammlungen liegt eine Strategie beziehungsweise ein Ziel zugrunde: Geld wird versammelt, auf dass es sich vermehrt und investiert werden kann. Pilze werden zusammengetragen, um sie zu verzehren. Ökonomische Sammlungen sind zudem darauf angelegt, nach einer gewissen Zeit wieder aufgelöst zu werden, um den Sammlungsbestand in seinen natürlichen Kreislauf zurückzuführen. Wir aber lösen nichts auf, im Gegenteil, wir sammeln immer weiter an, allein weil wir es tun können. Die Entwicklung des Internets sowie die Digitalisierung unserer Gesellschaft haben unendliche Möglichkeiten und Zugänge eröffnet, Material zu generieren und zu erfassen und es auf immer kleineren Speichermedien mit immer größer werdendem Fassungsvermögen zu horten. Unsere Speicherkapazität wächst exponentiell zur fortschreitenden Technisierung unseres Alltags. Ganze Arsenale an digitalen Informationen in Form von Artikeln und Aufsätzen, Büchern, Emails, Filmen, Fotografien oder Musik werden so angehäuft, um sie in ferner Zukunft einer Nutzbarkeit zuzuführen, die wahrscheinlich nie eintreten wird. Unsere Sammelwut, deren digitales Speichern von Wissen allein aus quantitativen Zwecken erfolgt und kei-

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Performative Sammlungen

ne Auswahlkriterien entwickelt, führe zur Ermattung unseres anthropologischen Gedächtnisses, wie der Kunsthistoriker Kai-Uwe Hemken feststellt, gleichzeitig werde die Informationsflut immer unbeherrschbarer.19 Quantifizierendes Speichern hat ein qualitatives Sammeln abgelöst, wir kommen über den Vorgang des Akkumulierens nicht hinaus, vielmehr kapitulieren wir irgendwann vor der schieren Menge, und die einst beglückende Vorstellung einer umfassenden Archivierung in naher Zukunft entwickelt sich zu einen Alptraum.20 Bereits in den frühen 1990er Jahren – einer Zeit, in der das Ausmaß unserer digitalen Sammelsurien nicht im entferntesten absehbar war – bescheinigte der Soziologe Alois Hahn unserer Gesellschaft einen vermehrten Sammlungseifer, ohne den wir das Versammelte in lesbare Ordnungssysteme überführen würden, um es sich auch aneignen zu können. Vielleicht, so Hahn, »müsste man sogar sagen, weil wir uns nichts aneignen, sammeln wir«, denn wenn wir uns auf Einzelnes einließen, würden wir »auch bei ihm verweilen können«21 , ja sogar müssen. Sammeln und Ordnen sind kontemplative Handlungen, also von beschaulicher Art, sie bedürfen Zeit und Muße, um ein Ordnungsprinzip zu entwickeln, das befähigt, sich innerhalb des Akkumulierten »mit Sinn und Verstand«22 zu bewegen. Aber Zeit und Muße sind Mangelware in unserer heutigen Gesellschaft, und ein stetiges Ansammeln lenkt davon ab, uns mit bereits Angehäuftem auseinandersetzen zu müssen. Vielmehr hält uns das Weitersammeln in Bewegung und bewahrt uns vor einem möglichen Stillstand, in dem wir gewahr werden könnten, dass wir längst nicht mehr fähig sind, das Chaos unserer Anhäufungen zu ordnen und damit handhabbar zu machen. 19 20

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Vgl. Hemken, Kai-Uwe: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 9-14, hier S. 11. Vgl. Beck, Hans Ulrich: »Transitorische Turbulenzen – Konstruktionen des Erinnerns«, in: Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 65-89, hier S. 65ff. Hahn, Alois: »Soziologie des Sammlers«, in: Sammeln – Kulturtat oder Marotte, Trierer Beiträge. Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, Tier 1984, S. 11-19, hier S. 18. [Hervorh. im Original]. Vgl. Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, S. 101.

8. Schlussbetrachtungen

Eine Vermutung hierzu wäre, dass die Unfähigkeit, mit den Massen an (digitalem) Material, das beständig auf uns einströmt, sinnvoll umzugehen, zu einem wachsenden Bedürfnis nach fremden, visuellen Ordnungsprinzipien und Regelhaftigkeiten führt, die dem Wirrsal um uns herum etwas entgegenstellen, um die Welt für uns stellvertretend zu sortieren. Nicht umsonst steht die Publikumsentwicklung der Museen im relationalen Verhältnis zur Digitalisierung unserer Gesellschaft. Gerade diese Institution erlebt seit Beginn der 2000er Jahre eine neue Renaissance. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive liefert Gottfried Korff hierfür drei Erklärungsversuche, die an vorangegangene Überlegungen anschließen können. Das gesteigerte Interesse an »bewahrenden Institutionen und Konservierungsstrategien« bezieht er erstens und unter Berufung auf Hermann Lübbe auf einen generellen Vertrauensschwund, der sich aus der Dynamik einer sich immer schneller und komplexer entwickelnden modernen Gesellschaft entwickelt hat. Dabei könnten daraus resultierende »belastendende Erfahrungen« durch eine »progressive Musealisierung«23 kompensiert werden.24 Als zweiten Punkt benennt er das Bedürfnis nach Authentizität, das im Zuge einer von »Simulationen und Simulakren geprägten Welt« durch eine direkte Dinglichkeit der Ausstellungsobjekte aufgefangen werden kann. Abschließend beschreibt er das Museum unter Bezug auf Peter Sloterdijk als eine »Schule des Befremdens«, als einen Ort, an dem die Kon-

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Lübbe versteht das Museum hier als Kompensationsmodell, das in der Funktion einer Art Rettungsanstalt Vertrautes aufbewahrt und damit eine stabile Ordnung gewährleisten kann. (vgl. hierzu: Lübbe, Hermann: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grad unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, The 1981 Bithell Memorial Lecture, London 1982). Der Begriff der »progressiven Musealisierung« wird durchaus kontrovers diskutiert, da hier das Museum allein auf eine kompensatorische Funktion zurückgewiesen wird und dadurch Gefahr läuft, politisch instrumentalisiert werden zu können. Im stetigen Blick zurück wird ihm zudem jegliche innovative Beweglichkeit entzogen. (Vgl. hierzu exemplarisch Schnädelbach, Herbert: »Kritik der Kompensation«, in: Kursbuch 91: Wozu Geisteswissenschaften?, Berlin 1988, S. 3545). Als allgemeine These zur Wiederentdeckung der Museumskultur behält sie dennoch seine Relevanz.

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Performative Sammlungen

frontation zwischen Fremd und Eigen befördert wird. Innerhalb eines konstruktiven Austauschprozesses wird das Museum zu einem »Ort der Selbstbeobachtung moderner Gesellschaften«, an dem die »diversities of modernity erkundet und reflektiert werden«.25 Nun ist eine gewisse Dinglichkeit des Sammlungsbestands, auf die sich Korff bezieht, in einer performativen Sammlung nicht gegeben, da sich ihr Sammlungsmaterial aus Ereignissen zusammenfügt. In Relation zu einem anhaltenden Interesse an musealen Sammlungspräsentationen kann sie jedoch durchaus als theatrales Pendant verstanden werden. Dabei steht ihre ereignishafte, flüchtige Konstruktion weniger für eine Bewahrung beziehungsweise Konservierung im klassischen Sinne. Ihr Sammlungsbestand kann gleichfalls in den Zeugenstand berufen werden. Insbesondere wenn er wie etwa in Rétrospective oder im Museum des Augenblicks auf authentisches Material rekurriert, um unter dem Dach eines ästhetischen Zugriffs Vergangenes zu vergegenwärtigen. Denn auch hier wird einer Vergangenheit Form und Präsenz verliehen, innerhalb derer ihr begegnet, zu der sich verhalten werden kann – wenn auch nur für die Zeitlichkeit einer Aufführungsspanne. Generell gesprochen zeichnet jedoch jede performative Sammlung Ausschnitte von Welt nach. Durch formale Sortierungs- und Anordnungspraktiken können diese neu beziehungsweise anders zugänglich gemacht werden und ihr Publikum, über die Aktivierung des eigenen Erfahrungsschatzes, mit der individuellen Verortung konfrontiert werden. In ihrer kontemplativen Wiederholungsstruktur bietet die performative Sammlung so einen Ort des Verweilens, an dem sich anhand fremder Anordnungspraxen selbst neu sortiert und gesammelt werden kann. Unter dem Blickpunkt einer momenthaften Sammlung zeigt sich die Rezeption des Museum des Augenblicks so gesehen in einem doppelbödigen Sinne, wenn über die Verhandlung fremder Augenblicke hinaus die eigene

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Korff, Gottfried: »Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum«, in: Csáky, Moritz u. Stachel, Peter (Hg.): Speicher des Gedächtnisses: Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit. Kompensation von Geschichtsverlusts, Wien 2000, S. 41-56, hier S. 42 u. 43.

8. Schlussbetrachtungen

Augenblicklichkeit thematisiert wird, die im besten Falle mit einen Verweile doch, du bist so schön! unterlegt werden kann.

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Literatur

Assmann, Aleida: »Archive im Wandel der Mediengeschichte«, in: Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 165-175. Assmann, Aleida: »Zu Metaphorik der Erinnerung«, in: Hemken, KaiUwe: Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 16-46. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979. Bal, Mieke: »Vielsagende Objekte. Das Sammeln aus narrativer Perspektive«, in: dies.: Kulturanalyse, Frankfurt a.M. 2002, S. 117-145. Baur, Joachim: »Messy Museums. Über Ordnung und Perspektiven des Museums«, in: Reinhard Johler u.a. (Hg.): Kultur_Kultur. Denken, Forschen, Darstellen, Münster 2013, S. 369-377. Baudrillard, Jean: Das System der Dinge – Über unser Verhältnis zu alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M. 2007. Beck, Hans Ulrich: »Transitorische Turbulenzen – Konstruktionen des Erinnerns«, in: Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 65-89. Beil, Ralf: »Das Leben ist ein kurzer schwarzer Strich. Ein Gespräch mit Christian Boltanski«, in: Ebd.: Christian Boltanski – Zeit, Ostfildern 2006, S. 47-80. Belk, Russel W.: Collecting in a Consumer Society, Routledge 1995. Benjamin, Walter: »Aufzeichnungen und Materialien. Der Sammler«, in: ders.: Das Passagenwerk, Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1983, S. 269-S. 280.

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Performative Sammlungen

Benjamin, Walter: »Ich räume meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln«, in: ders.: Gesammelte Schriften Band IV,1 Kleine Prosa Baudelaire Übertragungen, Frankfurt 1978, S. 388-396. Berner Margit: »Schauen und Wissen. Erste museale Präsentationen der physischen Anthropologie«, in: Berner, Hoffmann, Lange (Hg.): Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011, S. 41-60. Bippus, Elke: Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art und Postminimism, Berlin 2003. Bippus, Elke: »Ephemere Differenzbildungen in Serie«, in: Blättler, Christine (Hg.): Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München 2010, S. 165-177. Blättler, Christine: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München 2010, S. 7-14. Braddock, Jeremy: collecting as modernist practice, Baltimore, Maryland 2012. Brandt, Reinhard: »Das Sammeln der Erkenntnis«, in: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo – Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450-1800, Opladen 1994, S. 21-33. Bronfen; Frey; Martyn (Hg.): Noch einmal anders. Zu einer Poetik des Seriellen, Zürich u. Berlin 2016. Bucher Tranow, Katrin u.a.: »Sind Ausstellungen realistische Utopien? Ein Gespräch über die Ordnung im Museum«, in : Bucher Trantow, Katrin u. Pakesch, Peter (Hg.): Vermessung der Welt. Heterotopien und Wissensräume in der Kunst, Ausstellungskatalog Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joanneum, Graz 2011, S. 8-19. Butler, Judith: »Performative Acts and Gender Construction – An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Case, Sue Ellen (Hg.): Performing Feminism, Baltimore u. London 1990, S. 270-282. Cvejić, Bojana: »The first interview about »Retrospective«, October 12, 2001, Montpellier«, in: dies.: (Hg.): »Rétrospective« by Xavier Le Roy, Dijon 2014, S. 243-266. Dreysse, Miriam: »Multiple Autorschaften. Zum Verhältnis von Arbeitsweise und ästhetischer Form«, in: Matzke; Weiler; Wortelkamp

Literatur

(Hg.): Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft, Berlin u. Köln 2012, S. 91-118. Ecker; Breger; Scholz (Hg.): Dinge – Medien der Aneignung. Grenzen der Verfügung, Königstein/Taunus 2002. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M., 1977. Eco, Umberto: »Die Innovation im Seriellen«, in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, München 2011, S. 155-180. Ebeling, Knut u. Günzel, Stephan (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 7-26. Finkelde, Dominik: »Vergebliches Sammeln. Walter Benjamins Analyse eines Unbehagens im fin de siècle und der europäischen Moderne«, in: arcadia – Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Nr. 42 (2007), S. 187-202. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Fischer-Lichte; Gronau; Schouten: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Referenzialität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 6-13. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Jannides, Lauer, Martinez, Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 198229. Galí, Aimar Pérez: »Can the dancer ›speak‹?«, in: Cvejić, Bojana (Hg.): Rétrospective by Xavier Le Roy, Dijon 2014, S. 287-297. Geimer, Peter: »Über Reste«, in: te Heesen, Anke u. Lutz, Petra (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Schriften des deutschen Hygiene-Museums Dresden, Band 4, Köln 2005, S. 109-118. Grasskamp, Walter: »Dokumentation: Künstler und andere Sammler«, in: Kunstforum international, Band 32, Köln 1979, S. 31-80. Groys, Boris: Logik der Sammlung. Am Ende eines musealen Zeitalters, München u. Wien 1997. Hahn, Alois: »Soziologie des Sammlers«, in: Sammeln – Kulturtat oder Marotte, Trierer Beiträge. Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, Tier 1984, S. 11-19. Hanak-Lettner, Werner: Die Ausstellung als Drama. Wie das Museum aus dem Theater entstand, Bielefeld 2011.

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Performative Sammlungen

Heathfield, Adrian u. Hsieh, Tehching (Hg.): Out of now. The lifeworks of Tehching Hsieh, London und Cambridge 2009. Heinrich, Barbara: »Die wahren Geschichten der Sophie Calle«, in: dies. (Hg.): Die wahren Geschichten der Sophie Calle, Ausstellungskatalog Fridericianum 2000, S. 6-18. Heinrich, Christoph: »Serie – Ordnung und Obsession«, in: Schneede, Uwe M. u. Heinrich, Christoph (Hg.): Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2001, S. 7-12. Hellmold, Martin (Hg.): Kopf an Kopf. Serielle Portraitfotographie, Ausstellungskatalog Kunsthalle Tübingen, Tübingen/Heidelberg 2006. Hellmold, Martin: »Die Prinzipien der seriellen Fotografie«, in: ders. (Hg.): Kopf an Kopf. Serielle Portraitfotographie, Ausstellungskatalog Kunsthalle Tübingen, Tübingen/Heidelberg 2006, S. 40-43. Hemken, Kai-Uwe: »Christian Boltanski«, in: Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungskatalog Haus der Kulturen München; Nationalgalerie SMPK Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf; Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 7879. Hemken, Kai-Uwe: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 9-14. Henning, Nina: Lebensgeschichte in Objekten. Biographien als museales Sammlungskonzept, Münster 2004. Hinske, Norbert: »Kleine Philosophie des Sammelns«, in: Sammeln – Kulturtat oder Marotte, Trierer Beiträge. Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, Tier 1984, S. 2-10. Huber, Hans Dieter: »Vermessene Ansprüche«, in: Trantow Bucher, Katrin u. Pakesch, Peter (Hg.): Vermessung der Welt. Heterotopien und Wissensräume in der Kunst, Ausstellungskatalog Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joanneum, Graz 2011, S. 20-31. Ingold, Felix Philipp: Der Autor am Werk: Versuche über literarische Kreativität, München 1992. Ingold, Felix Philipp: Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur, München 2004.

Literatur

Jahn, Ilse: »Sammlungen – Aneignungen und Verfügbarkeit«, in: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo – Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450-1800, Opladen 1994, S. 475-500. Jannelli, Angela: Wilde Museen: Zur Museologie des Amateurmuseums, Bielefeld 2012. Jardine, Nicholas: »Sammlung, Wissenschaft, Kulturgeschichte«, in: te Heesen, Anke u. Spary, E.C. (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftliche Bedeutung, Göttingen 2002, S. 199-220. Kalu, Joy Kristin: Ästhetik der Wiederholung. Die US-amerikanische NeoAvantgarde und ihre Performances, Bielefeld 2013. Kampmann, Sabine: Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft, München 2006. Kittner, Alma-Elisa: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009. Korff, Gottfried: »Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum«, in: Csáky, Moritz u. Stachel, Peter (Hg.): Speicher des Gedächtnisses: Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit. Kompensation von Geschichtsverlusts, Wien 2000, S. 41-56. Lange, Birgit: »Sensible Sammlungen«, in: Berner; Hoffmann,; Lange (Hg.): Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011, S. 15-40. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994. Le Roy, Xavier u. Obrist, Hans Ulrich: »Es ist schrecklich, der eigenen Wahrnehmung nicht trauen zu können«, in: Du: die Zeitschrift der Kultur, Band 72 Zürich 2012, S. 88-89. Lübbe, Hermann: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grad unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, The 1981 Bithell Memorial Lecture, London 1982. Maeght, Adrien: Ils collectionnent …, Musée des Arts Décoratifs, Paris 1974. Mainberger, Sabine: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin und New York 2003. Mayer, Andreas: »Objektwelten des Unbewussten. Fakten und Fetische in Charcots Museum und Freuds Behandlungspraxis«, in: te

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Performative Sammlungen

Heesen, Anke u. Spary, E.C. (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftliche Bedeutung, Göttingen 2002, S. 169-198. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002. Metken, Günter: Spurensicherung – Eine Revision. Texte 1977 – 1995, Dresden und Berlin 1996. Oldemeyer, Ernst: Zur Phänomenologie des Bewußtseins. Studien und Skizzen, Würzburg 2005. Osthoff, Simone: Performing the archive: The transformation of the archive in Contemporary art from repository of documents to art medium, New York u. Dresden 2009. Pearce, Susan M.: Museums, Objects and Collections: A Cultural Study, Washington, D.C. 1993. Perec, Georges: »Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise, seine Bücher zu ordnen«, in: ders.: Denken/Ordnen, Zürich und Berlin 2014, S. 29-39. Piller, Peter: »Archiv Peter Piller«, in: von Bismarck, Eichele, Feldmann u.a. (Hg.): Interarchive, Köln 2002, S. 312-313. Poehls, Kerstin u. Faust, Stephan: »Ding-Arrangements. Über alltägliches, museales und wissenschaftliches Sammeln«, in: Sammeln – Zur Geschichte und Gegenwart einer alltäglichen, musealen und wissenschaftlichen Praxis, Hamburger Journal für Kulturanthropologie, 2015, Nr. 3, S. 3-16. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998. Porombka, Stephan: »Literaturbetriebskunde. Zur »genetischen Kritik« kollektiver Autorschaft«, in: Porombka, Schneider, Wortmann (Hg.): Kollektive Kreativität, Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, Band 1, Tübingen 2006, S. 72-87. Rheinberger, Hans-Jörg: »Epistemologica: Präparate«, in: te Heesen, Anke u. Lutz, Petra (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Schriften des deutschen Hygiene-Museums Dresden, Band 4, Köln 2005, S. 65-75. Reepen, Iris: »Karsten Bott«, in: Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungskatalog Haus der Kulturen München;

Literatur

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Performative Sammlungen

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Literatur

Wilde, Denise: Dinge Sammeln. Annäherungen an eine Kulturtechnik, Bielefeld 2015. Winzen, Matthias: »Sammeln – so selbstverständlich, so paradox«, in: Schaffner, Ingrid u. Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausstellungskatalog Haus der Kulturen München; Nationalgalerie SMPK Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf; Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 10-19. Wuggenig, Ulf u. Holder, Patricia: »Die Liebe zu Kunst. Zur Sozio-Logik des Sammelns«, in: von Bismarck, Eichele, Feldmann u.a. (Hg.): Interarchive, Köln 2002, S. 205-223. Zitko, Hans: »Der Ritus der Wiederholung. Zur Logik der Serie in der Kunst der Moderne«, in: Hilmes, Carola u. Mathy, Dietrich (Hg.): Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung, Obladen/Wiesbaden 1998, S. 159-183.

Internetartikel Bertram, Georg W.: »Wie lange dauert ein Augenblick? «, unter: www. welt.de/kultur/article2645834/Wie-lange-dauert-ein-Augenblick. html, 03.11.2008 (abgerufen am 26.02.2016) Cramer, Franz Anton: Retrospective as mode of production: Zum Werkbegriff in »Rétrospective« par Xavier le Roy, unter: www.performap.de/ map4/ausstellen-und-auffuehren/retrosprective-as-mode-ofproduktion, 2013 (abgerufen am 26.03.2014) Legge, Astrid: Museen der anderen »Art«. Künstlermuseen als eine alternative Museumspraxis, Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen 2000. Nur online verfügbar unter http://darwin.bth.rwth-aachen.de/ opus3/volltexte/2001/178/pdf/Legge_Astrid.pdf, (abgerufen am 29.10.2014) Sachsse, Rolf: »Über die Sehnsucht des Sammelns«, in: Azoulay, Sachsse, Weisser (Hg.): All About Sehnsucht, München Ber-

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Performative Sammlungen

lin 2011 www.hbksaar.de/fileadmin/hbk/images/personen/sachsse/ Texte/Sehnsucht_des_Sammelns.pdf (abgerufen am 8.12.2014) Thiemeyer, Thomas: »Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung«, in: Museen für Geschichte (Hg.): Online-Publikation der Beiträge des Symposiums Geschichtsbilder im Museum im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011. www.museenfuergeschichte.de/downloads/news/Thomas_ Thiemeyer-Die_Sprache_der_Dinge.pdf. (abgerufen am10.05. 2016)

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Rahmen eines dreijährigen Stipendiums am künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungskolleg Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste verfasst. Ohne die finanzielle Zuwendung einerseits und den regen Ausstauch unter den Stipendtiat_innen sowie dem Leitungsteam Sibylle Peters, Kerstin Evert, Regula Burri und Gesa Ziemer andererseits wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ich danke insbesondere Gesa Ziemer und Heiner Goebbels dafür, die sich auf die Betreuung dieser Arbeit eingelassen haben. Ich danke zudem Kerstin Evert, die mit der Zurverfügungstellung der Räumlichkeiten auf K3, Zentrum für Choreographie die Realisation der künstlerischen Arbeit möglich gemacht hat. Im Rahmen dessen möchte ich mich bei meinen Kollegen Bjoern Auftrag und Marc Jungreithmeier bedanken, die mit ihrer künstlerischen Expertise maßgeblich zum Gelingen des Museum des Augenblicks beigetragen haben, ebenso wie Thomas Willemsen, Solveigh Patett, Inga Wagner, Caspar Schleicher und Markus Both sowie allen Beteiligten, die mir ihre persönlichen Augenblicke erzählt haben. Ich danke Dorothea Hilliger, Jules Buchholtz, Bjoern Auftrag, Elmar Lorey und Bettina Wölfel-Lorey für zahlreiche inhaltliche Diskussionen. Ein großer Dank geht an Miriam Dreysse, Solveigh Patett und Gerhild Werner, die mit ihren klugen Anregungen und genauen Korrekturen dazu beigetragen haben, dass dieser Text lesbar geworden ist. Dazu danke ich Hilke Berger, deren inhaltliche Expertise so hilfreich war, um eine Fassung für diese Publikation zu erstellen. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, insbesondere Günter und Isabell Lorey, die mich immer wieder

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Performative Sammlungen

unterstützt haben, wenn ich nicht mehr daran glauben konnte, dass diese Arbeit jemals zu einem Ende finden würde.

Dokumentation Museums des Augenblicks

Über den folgenden QR Code bzw. unter der Internetadresse: mda-hh. auftraglorey.de ist die Dokumentation des Museums des Augenblicks einsehbar:

 

Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein

Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens 2019, 448 S., Hardcover, Fadenbindung, 71 Farbabbildungen, 28 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4928-4 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4928-8

Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) 2019, 280 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5

Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Hans-Friedrich Bormann, Hans Dickel, Eckart Liebau, Clemens Risi (Hg.)

Theater in Erlangen Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Januar 2020, 402 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 24 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4960-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4960-8

Mateusz Borowski, Mateusz Chaberski, Malgorzata Sugiera (eds.)

Emerging Affinities – Possible Futures of Performative Arts 2019, 260 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4906-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4906-6

Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.)

Staging Gender – Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste 2019, 264 S., kart., 9 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4655-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4655-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de