Russische Literatur 1780-2011: Literarische Richtungen - Schriftsteller - Kulturpolitisches Umfeld. 12 Essays 9783205789895, 9783205789260

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Russische Literatur 1780-2011: Literarische Richtungen - Schriftsteller - Kulturpolitisches Umfeld. 12 Essays
 9783205789895, 9783205789260

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Rudolf Neuhäuser

Russische Literatur 1780 –2011 Literarische Richtungen – Schriftsteller – kulturpolitisches Umfeld 12 Essays

2013 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Ilja Sergejewitsch Glasunow, Der Beitrag der Völker der UdSSR zur Weltkultur und Zivilisation, Gemälde 1980 (Ausschnitt)

© 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: J. Hamacher, Neuss Druck und Bindung: Prime Rate Kft. Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78926-0

Russische Literatur 1780-2011 Epochen – Schriftsteller – kulturpolitisches Umfeld

Inhaltverzeichnis Vorwort ................................................................................................... I.

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Russlands Literatur auf dem Weg nach Europa 1. Vom späten 18. Jahrhundert bis zum Beginn der Romantik........ 7 2. Alexander Puschkins Tragödie Boris Godunow .......................... 37 3. Alexander Puschkin: Die Verzweiflung über sich selbst ............. 59

II. Von der Romantik zum Realismus 1. Das Kierkegaardsche Paradigma in der Geschichte der Literatur........................................................................................ 77 2. Das Biedermeier (Realidealismus) in der Prosa der fünfziger Jahre ............................................................................................. 103 3. Das Biedermeier (Realidealismus) in der Lyrik der fünfziger Jahre ............................................................................................. 123 4. Gontscharows Roman Die Schlucht und der russische Roman des Realismus............................................................................... 147 III. Jahrhundertwende und Sowjetliteratur 1. Avantgarde und Avantgardismus................................................. 2. Alexander Ginzburg und die Manipulation von Texten .............. 3. Jurij Trifonows Langer Abschied und die Prosa der 1960er Jahre ............................................................................................. 4. Alexander Wampilow: Die Entenjagd .........................................

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IV. Russland – Quo vadis? 1. Der Beginn des 21. Jahrhunderts ................................................ 229 Drucknachweise ...................................................................................... 247

Vorwort

Die Essays dieses Bandes stellen keine Monographie dar, sie versuchen aber durch ihre Auswahl die Aufmerksamkeit der Leser für die wesentlichen Erscheinungen, sowohl der großen gesamteuropäischen Epochen wie Romantik und Realismus, wie auch der dazwischen liegenden Phänomene, wie Zeiten des Umbruchs, des Protests und des Neubeginns und im Fluss der Evolution zu Unrecht vergessener literarischer Richtungen in Russland, welche im Sog der Zeit der Vergessenheit anheim gefallen zu sein scheinen, zu wecken und damit eine wegweisende Orientierung, sozusagen einen Kompass zu bieten, vielleicht auch künftige Studien anzuregen! Dahinter steht als Absicht, deutlich zu machen, dass die russische Literatur trotz mancher Irrwege im 20. Jh. ein fester Bestandteil der europäischen Literatur ist, wenngleich sich manche russische Intellektuelle zu Beginn des 20. Jh. und wiederum zu Beginn des 21. Jh. damit nicht ganz einverstanden erklärt und dabei auf das eurasische Element in Russlands Erbe verwiesen haben. Ein Schwerpunkt des 1. Teils ist der russische Nationaldichter Alexander Puschkin. Sein von Literaturgeschichte und Wissenschaft eher wenig beachtetes Drama Boris Godunow weist ihn als Kenner Shakespeares und des historischen Hintergrundes aus. Der zweite Essay handelt vom Tod Puschkins. Aus existentieller Verzweiflung heraus versuchte der Dichter dem Schicksal die Verantwortung über Leben oder Tod zu überlassen. Dahinter stand vermutlich ein – ihm selbst vielleicht unbewusster? – aus tiefster Verzweiflung heraus motivierter Selbstmordversuch! Wer kennt die Auseinandersetzungen, die den Beginn des Sentimentalismus (dt. Empfindsamkeit) in Russland begleiteten, oder die russische Sturm und Drang Bewegung, die als Teil der Frühromantik wesentlich dazu beitrugen, die Romantik in Russland zu etablieren? Der Dichter, Erzähler und Historiker Karamsin, der zwischen spätem Sentimentalismus und frühromantischer Begeisterung ganz in der Tradition der Stürmer und Dränger stand, ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Evolution der Literatur in Russland um die Jahrhundertwende. Gontscharow als Begründer eines neuen Typus des Romans, der von Dostojewskij und anderen weiter geführt wurde, steht am Beginn des Realismus. Dies soll nicht vergessen werden. Sein letzter Roman erschien in dem Jahr, als Dostojewskij seinen ersten großen Roman schrieb. Ihm, dem heute populärsten und aktuellsten Autor des 19. Jh., ist ein ebenfalls im Böhlau Verlag erchienener separater Band gewidmet. Das beklagenswerte Schicksal der Schriftsteller in der Sowjetunion wird in knapper Form anhand des Konflikts zwischen zwei Dissidenten dargestellt, wobei auch die Brüchigkeit der offiziellen Darstellung in Erscheinung 3

tritt. Im Gegensatz dazu steht die Literatur der 1960er und 70er Jahre, die am Beispiel der Erzählungen Jurij Trifonows zeigt, wie ein Autor – der in dieser Zeit nicht der Einzige war! – sich den Zwängen der Ideologie zu entziehen verstand. Der allzu früh verstorbene Dramatiker Alexander Wampilow begründete im selben Jahrzehnt die Neue Welle im russischen Drama, die, wie auch die Erzählungen Trifonows, bereits in Richtung Perestrojka weist. Die Studie über Avantgardismus versucht nachzuweisen, dass in der neueren Literatur Russlands zwischen etablierten literarischen Strömungen in der Regel eine avantgardistische Richtung stand. Dies wird am Beispiel der Avantgarden von der Mitte des 18. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh. ausgeführt. Eine weitere bisher unbeachtete Erscheinung in der russischen Literatur ist das literarische Biedermeier, hier auch als Realidealismus bezeichnet, das in den 1850er Jahren Prosa, Lyrik und Literaturkritik beherrschte. Autoren wie Turgenjew, Dostojewskij und Tolstoj haben dazu mit ihren Erzählungen einen Beitrag geleistet! Es bleiben noch zwei Studien, die für den Autor von übergreifender Bedeutung sind. Im Essay über das Kierkegaardsche Paradigma wird eine geistesgeschichtliche Entwicklung dargestellt, die für den europäischen Menschen vom 18. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts von Bedeutung war und ihre Wurzeln in der Philosophie und Pädagogik dieser Epoche hat. Die konservative, religiös motivierte Kritik der ersten Hälfte des 20. Jh. hat versucht, dafür Glaubensverlust verbunden mit modernistischen Bestrebungen haftbar zu machen und hat dabei Unterstützung bei dem dänischen Theologen und Philosophen gesucht. Diese Versuche werden hier nachdrücklich zurückgewiesen, dabei wird ihre Abwegigkeit deutlich gemacht. Kierkegaard wird sozusagen „zurecht gerückt“. Seine Überlegungen zum ästhetisch lebenden Menschen und dem ethisch lebenden Menschen erweisen sich in unserem Verständnis als grundlegende Einsicht in das Menschenbild der Literatur dieser fast 200 Jahre währenden Epoche. Dahinter stehen die Schul- und Universitätsbildung, wie auch der geistesgeschichtliche Hintergrund der Epoche. Ganz anders steht es mit dem letzten Aufsatz Russland – quo vadis? Hier werden in einer knapp gehaltenen Übersicht sowohl politische, wie auch soziale und literarische Aspekte der Entwicklung Russlands nach dem Ende der Sowjetunion, den Wirren der Perestrojka und dem missglückten Versuch einer Modernisierung nach amerikanischem Vorbild dargestellt. Die positiven wie auch negativen Entwicklungen in Russland von 2000, dem Jahr der Amtsübernahme durch Präsident Wladimir Putin, bis 2011 werden einer kritischen Analyse unterzogen, die auch neue Literatur einbezieht. Der Autor hofft, dass die Leser den gleichzeitig erscheinenden Band über Dostojewkij, dem Schöpfer der „Russischen Idee“ und begeisterten Vertreter einer „Russischen Seele“, der von Russland die Erneuerung ganz Europas erwartete, in 4

Ergänzung der Themen des vorliegenden Bandes verstehen. Beide Bände sind vielfach miteinander verbunden. Da diese Essays sowohl das an Russland interessierte Leserpublikum, wie auch an die Studierenden der Slawistik und an Fachkollegen gerichtet sind, werden im Text russische Namen in der üblichen deutschen, mitunter leicht modifizierten Umschrift wiedergegeben. Ziel ist es, die Aussprache dieser Namen dem deutschsprachigen Leser zu erleichtern. Ergänzungen in Klammern und Anmerkungen in Fußnoten und Literaturangaben – sie sind vorwiegend an Slawisten mit Russisch Kenntnissen gerichtet – verwenden dagegen in der Regel die wissenschaftliche Umschrift. Auch da gibt es die eine oder andere Ausnahme. So werden weithin bekannte Namen, wie der des russischen Sprach- und Literaturwissenschaftlers Vinogradov sowohl im Text wie in der Anmerkung mit „v“ und nicht „w“ geschrieben. Der vom Deutschen her stammende Name des ersten russischen Sozialisten Herzen wird auch in Fußnoten so geschrieben und nicht als Gercen oder in Umschrift als Gertsen wiedergegeben. Dies gilt für ähnliche Beispiele. Da es im Russischen nur einen Buchstaben für „w“ und „v“ im deutschen Alphabet gibt, wird ein „w“ im Text in der Regel in den Anmerkungen als „v“ erscheinen. Weitere Korrespondenzen seien kurz erwähnt: „š“, bzw. „ž“ in der wissenschaftlichen Umschrift entspricht dt. „sch“ (stimmlos, bzw. stimmhaft), „č“ entspricht dt. „tsch“, „šč“ entspricht dt. schtsch. Mein Dank gilt vor allem zwei Personen, ohne deren Hilfe dieser Band nicht entstanden wäre: Dies ist mein Kollege Prof. Žarko Bebić, selbst Literat und Autor, der die alten Texte digitalisierte, und mein lieber Freund Joachim Hamacher, eine wahre Koryphäe in Sachen Computer, der die Formatierung der Texte durchführte. Last, but not least gilt mein Dank meiner lieben Frau Christa-Maria, die mir stets zur Seite gestanden ist, die Mühen und die Belastung durch die Arbeit an den beiden Essay Bänden, die zwei Jahre in Anspruch nahm, mit viel Geduld mitgetragen, stets mit Rat geholfen und im Notfall mit einem Machtwort einen Kurzurlaub an der kroatischen Küste eingeschoben hat, der für frische Energie sorgte! Ihr ist dieser Band mit Liebe und Dank gewidmet!

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I. Russlands Literatur auf dem Weg nach Europa 1.

Vom späten 18. Jahrhundert bis zum Beginn der Romantik

Das 18. Jahrhundert lässt sich nur schwer stilistisch einordnen. Als es begann, existierte in Russland kaum eine weltliche Literatur im westlichen Sinne, als es endete, hatte Russland die europäische literarische Tradition vom Barock und Klassizismus bis zum Sentimentalismus nachvollzogen und stand an der Schwelle der Romantik. In der Politik begann mit Katharina II. (1762-1796) der für Russland bis heute charakteristische Wechsel von gelenkter Liberalität zu unverhüllter Autokratie. Katharinas liberale Herrschaft endete allerdings bald unter dem Einfluss der Französischen Revolution. Auf die repressive Regierung ihres Sohnes Paul (1796-1801), der in einer Palastrevolte umkam, folgte der anfänglich liberal gesinnte Enkel Katharinas, Alexander I. (1801-1825), der sich aber nach den Napoleonischen Kriegen der Etablierung reaktionärer Prinzipien widmete, wie dies auch anderswo in Europa geschah. Es war übrigens Katharina, die das erste administrative System von Zensoren in Russland schuf, das seither mit kurzen Unterbrechungen, so zu Beginn der Herrschaft Alexanders, bis Ende des 19. Jahrhunderts die russische Literatur begleitet hat. Die Rezeption einer weit mehr als hundertjährigen Tradition im Zeitraum von etwa 50 Jahren nach dem Ende der Herrschaft Peter des Großen (16721725) führte verständlicherweise zu Überschneidungen. Dennoch lässt sich fast stets eine dominante Richtung erkennen, die den allgemeinen Geschmack bestimmte. Von den dreißiger Jahren bis Ende der sechziger Jahre herrschte die klassizistische Poetik, die in den siebziger Jahren von der sentimentalen und empfindsamen Dichtung abgelöst wurde. Der Sentimentalismus war bereits vor der Mitte des 18. Jahrhunderts nach Russland vorgedrungen, konnte sich aber nur langsam durchsetzen. Als er schließlich tonangebend wurde, blieb er bis weit hinein in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts ein Teil des literarischen Lebens. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich eine frühe, von didaktischem Bemühen und einem ungehemmten Moralisieren gekennzeichnete Phase, die sich am Gedankengut der Aufklärung orientierte, von einer späten, mehr auf Geschmacksbildung und ästhetische Wirkung abzielenden Phase unterscheiden. Von beiden lässt sich die Frühromantik trennen, die einem gänzlich anderen Weltbild verpflichtet war. Vereinfacht dargestellt könnte man die strenge Regelpoetik des Klassizismus mit der auf Logik und Vernunft gegründeten Philosophie eines Descartes („Cogito, ergo sum“) vergleichen. Die auf Verstandes-, Herzens- und Geschmacksbildung zielende, aber nur vage formulierte Poetik des 7

Sentimentalismus entsprach hingegen der moral sense school des englischen Sensualismus, der head (Vernunft) durch heart (Empfindungen) als Quelle aller Erkenntnis ersetzte. Rousseau formulierte: „Je sens, donc je suis“. Für den sentimentalen Autor stand das Streben nach Harmonie und Schönheit, das nur bei wenigen wie Radischtschew durch die Empörung des aufgeklärten Humanisten über die Übel der Leibeigenschaft in den Hintergrund gedrängt wurde, an erster Stelle. Der Autor Michail Murawjew (17571807) formulierte es so: „Ebenso wie es eine physische Schönheit gibt, die unsere Gefühle in den Werken der Natur und Kunst anspricht, so gibt es eine sittliche Schönheit, die für unser Verständnis nur in den Sitten, Taten der Menschen, ihren Empfindungen und Worten erkennbar ist.“1

Schönheit als ästhetisches Ideal wurde im Sentimentalismus mit dem ethischen Ideal des Guten gleichgesetzt. Damit wird auch Murawjews Feststellung verständlich: „Äußere Schönheit ist nur ein Hinweis auf eine schöne Seele. Gott hatte die Natur mit physischer Schönheit ausgestattet, um den Menschen angenehme Empfindungen zu vermitteln und ihre Empfindsamkeit zu schulen, so dass sie empfänglich für die Werte der inneren Schönheit wurden.“2

Die Gesellschaft als Gemeinschaft schöner, das heißt guter Seelen, sollte sich in einem harmonisch geordneten Staatswesen verwirklichen. In der späten, vorwiegend von emotionalen und ästhetischen Werten bestimmten Phase des Sentimentalismus gingen ästhetisches Empfinden und ethisches Ideal im eleganten Stil (izjaščnyj slog) auf.3 Ab den achtziger Jahren finden wir in Russland bereits frühromantische Texte, die ihr Vorbild vor allem im deutschen Sturm und Drang und – etwas später, nach der Jahrhundertwende – in der englischen Gothic novel und in den französischen Romanen der Mme de Staël und Chateaubriands finden. Der Frühromantiker hatte zu einem neuen Selbstverständnis gefunden, das sich aus einem neuen Verhältnis zu Natur und Gesellschaft ergab. Die Natur,

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Murav’ev beschäftigte sich intensiv mit den Schriften der englischen Sensualisten. Seine Essays illustrieren das russische Verständnis des Sentimentalismus. Siehe sein Essay: Freude und Leid (Udovol’stvie i skorb’) in seinen Gesammelten Werken: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. III. St. Peterburg 1820. S. 29-31. So P. P. Čekalevskij (1751-1817), Sekretär, später Vizepräsident der Akademie der schönen Künste in St. Petersburg, in seinem Traktat Rassuždenie o svobodnych chudožestvach. St. Petersburg 1792. Nachdruck in: Istorija estetiki. Pamjatniki mirovoj estetičeskoj mysli v 5-i tomach. Bd. 2, Moskau 1964. Vgl. R. Neuhäuser: Towards the Romantic Age. Essays on Sentimental and Preromantic Literature in Russia. The Hague 1974, S. 27-31.

umfassend als Inbegriff alles Existierenden gedacht, wurde als ein ewig sich erneuernder Organismus gesehen, der moralischen Werten gegenüber indifferent war und ebenso gut wie böse wirken konnte. Nach der Naturkatastrophe des Lissaboner Erdbebens von 1755 und der moralischen Katastrophe der Französischen Revolution mochte man nicht mehr an eine Leibnizsche prästabilierte Harmonie glauben. Der frühromantische Mensch sah sich als Individuum und Einzelgänger, der kritisch der gesellschaftlichen Ordnung gegenüberstand und oft genug in einen Konflikt mit ihr verwickelt wurde. War er nicht an sozialen Fragen interessiert, so berauschte er sich an Werken vergangener Epochen, suchte eine Verbindung zur mythologischen Urzeit, zur nationalen Vergangenheit, oder strebte zurück zur ursprünglichen Natur exotischer Landschaften und Völker. Diese Tendenzen wurden nach 1800 prägend für das literarische Geschehen. Doch auch hier stößt man auf das charakteristische Wechselspiel beharrender und rebellierender Kräfte. Als zu Beginn des neuen Jahrhunderts zunehmend frühromantische Tendenzen in der Literatur sichtbar wurden, entstand zugleich eine Neubelebung der klassizistischen Regelpoetik als Symbiose von Klassizismus und sentimentaler Ästhetik. Als Neoklassizismus bestimmte diese Richtung, allerdings nie unumstritten, das offizielle literarische Geschehen Russlands bis tief in die Zeit der Romantik hinein. Pate standen dabei Autoren wie La Harpe, Batteux und Hugh Blair, deren Werke nach 1800 in Übersetzungen in Russland erschienen. Auch die alte Regelpoetik Boileaus erlebte eine Reihe von Neuauflagen nach 1800.4 Wie sehr diese, man könnte sagen „antimoderne“ Richtung, noch einen jungen Vertreter der Romantik beeinflusst hat, zeigt ein Gemälde Iwan Repins. Es zeigt, wie der sechzehnjährige Puschkin anlässlich einer Prüfungsfeierlichkeit 1815 sein Gedicht Erinnerungen an Zarskoe Selo rezitiert und dies in typisch klassizistischer Pose tut – den rechten Arm hoch über sich gestreckt, den linken Fuß weit nach links abgestützt. Die Zuhörer, darunter der greise Dichter Derschawin, waren begeistert. Puschkins erster offizieller Triumph als Dichter stand so im Zeichen einer ungebrochenen Tradition. Das verwirrende Nebeneinander von verschiedenen Einflüssen, der Regelpoetik des Klassizismus, wie auch barocker Lyrik, sentimentaler und frühromantischer Motive erklärt das Auftreten von Schriftstellern, die sich stilis-

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Ch. Batteux: Traité sur les beaux-Arts reduits à un même principe (1746); und Cours de Belles-I.ettres (1750); H. Blair: Lectures on Rhetoric (1783); F. de la Harpe: Lycée ou Cours de littérature ancienne et moderne (1799-1805). Diese Autoren wurden auszugsweise in Russland zwischen 1790 und 1815 in russischen Übersetzungen gedruckt. Boileaus L'Art poetique (1674) war bereits von Trediakovskij in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts übersetzt worden, wurde aber von Graf Chvostov 1804 neu übertragen und erlebte zahlreiche Neuauflagen.

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tisch nicht eindeutig zuordnen lassen. Dazu gehört Alexander Radischtschew, der als Verfasser der Reise von St. Petersburg nach Moskau (Putešestvie iz Peterburga v Moskvu, 1790) bekannt ist. Wegen des aufklärerischen, antidespotischen Inhalts dieses fingierten Reiseberichts wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde von Katharina in Verbannung nach Sibirien verwandelt. Als ihr Sohn Alexander I. den Thron bestieg, da rehabilitierte er Radischtschew (1801). Die Enttäuschung über die Nutzlosigkeit seines reformerischen Bemühens auch unter Zar Alexander trieb ihn allerdings ein Jahr später in den Selbstmord. Seine Reise wurde erst nach 1905 in Russland zum Druck zugelassen! Radischtschews Ode Freiheit (Vol’nost’), die in Auszügen der Reise beigefügt war, gilt als erstes revolutionäres Gedicht der russischen Literatur. Die literarische Bedeutung Radischtschews besteht darin, dass er nach dem Vorbild von Laurence Sterne’s Sentimental Journey through France and Italy (Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, 1767) und Charles Dupaty’s Briefe über Italien (Lettres sur l'Italie,1788) die Gattung des Reisebriefromans in die russische Literatur einführte. Voltaires Rationalismus und Rousseaus Naturbegeisterung standen dabei Pate. Auch Herder dürfte Radischtschew beeinflusst haben.5 Die literarischen Verfahren, die Radischtschew in seiner Reise anwendet, sind überwiegend dem Sentimentalismus zuzuordnen. Auch er will mit Betrachtungen, die in gefühlvolle Worte gefasst sind, das Herz des Lesers rühren. Zwei der bedeutendsten Dichter dieser Richtung, Iwan Dmitriew und Nikolaj Karamsin, sollen hier vorgestellt werden. Iwan Dmitriew hatte sich in seinen Werken ganz dem sentimentalen Ästhetizismus verschrieben. Zu Beginn der neunziger Jahre arbeitete er an Karamsins Zeitschrift Moskauer Journal mit. Die meisten seiner Gedichte veröffentlichte er hier und in anderen Zeitschriften seines Freundes. Er kann geradezu als der Modeautor der neunziger Jahre gelten. Von seinen eher konventionellen lyrischen Gedichten und Liedern wurden manche in Musik gesetzt und in vornehmen Salons vorgetragen, so wie das Lied vom graublauen Täuberich (Stonet sizyj goluboček, 1792), in dem ein Täuberich aus unerfüllter Liebe verzweifelt und stirbt. Die letzte Strophe deutet an, dass der Täuberich nur ein Symbol des von unerfüllter Liebe träumenden Dichters ist. Der Täuberich ist tot und das Täubchen trauert um ihren Liebsten: „Sie weint und stöhnt mit verzweifeltem Herzen und geht rund um den Teuren herum –, aber... ach! Schöne Chloe! Dein teurer Freund wird nicht erwachen!“ (Plačet, sto-

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J. G. Herder: Vom Einfluss der Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaft auf die Regierung. In: Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791). Das bekannte Slawenkapitel aus demselben Werk Herders, das als mächtiger Stimulus für das Erwachen des Nationalbewusstseins der Slawen gilt, wurde übrigens 1810 ins Russische übertragen.

net, serdcem noja, // Chodit milogo vokrug – // No... uvy! prelestna Chloja! // Ne prosnetsja milyj drug!)

Dichtung wird hier zu einer Sublimierung vorgestellten Leidens, ist also doppelt von der Realität entfernt. So ließ sich der Täuberich in einem zweiten Gedicht auch leicht wieder zum Leben erwecken: „Er flatterte auf und fand sich in den Händen der teuren Grazie: Auf ihr Klavier ließ er sich nieder und hüpfte auf den Saiten. Ich schaute und fragte mich zweifelnd, ist er es tatsächlich vor mir: Noch hübscher und teurer zeigte sich der Täuberich mir!“ (On vsporchnul i očutilsja // Miloj Gracii v rukach: // Na klavir ee spustilsja // I zaprygal na strunach // Ja gljadel i somnevalsja // Točno l’ on peredo mnoj: // Mne prigožej pokazalsja // I milej Golubčik moj!)

Im persönlichen Leben wie in der Dichtung auf Harmonie und Schönheit bedacht, durchlief Dmitriew eine Beamtenkarriere, die ihn bis zum Mitglied des Senats und unter Zar Alexander I. auf den Posten des Justizministers führte. 1814 trat er in den Ruhestand und schrieb lesenswerte Memoiren.6 Was er dort über die Kriterien sentimentaler Poetik sagt, hatte für seine Zeit allgemeine Gültigkeit: „Schönheit und Vollkommenheit der Dichtung wurden nach der Glätte des Verses und einem reichen Reim allein beurteilt.“ Erlesene Gefühle, verfeinerte Stimmungen –, dies alles in einen harmonischen Stil gefasst, waren bei ihm das Ziel aller sentimentalen Dichtung. Dmitriews Freund Nikolaj M. Karamsin, der als spätsentimentaler Autor bereits an der Schwelle zur Romantik steht, schwankte anfänglich zwischen dem aufgeklärten Weltbild des Humanisten und dem irrationalen Streben des frühromantischen Individualisten, wandte sich aber nach den Wirren der Französischen Revolution erneut dem aufgeklärten Sentimentalismus zu. Er schloss sich früh einem Freimaurerkreis an, in dem pietistische und mystische Strömungen mit dem Gedankengut der Aufklärung zusammentrafen.7 Zugleich korrespondierte Karamsin mit dem Schweizer Philosophen Lavater,

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I. A. Dmitriev (Hg.): Vzgljad na moju žizn’: Die Memoiren wurden bereits 1823 geschrieben. Die Freimaurerlogen, in denen sich viele Schriftsteller trafen, spielten eine überaus wichtige Rolle für die Entwicklung des sentimentalen Ästhetizismus und der Frühromantik. Die große Zahl von Übersetzungen pietistischer und mystischer Literatur (Arndt, Böhme, Saint-Martin, etc.) durch Freimaurer fällt mit dem Höhepunkt des Sentimentalismus und dem Beginn frühromantischer Tendenzen zusammen. Wenn ein russischer Freimaurer meinte: „Der Mensch ist nur ein Auszug aus allem, was existiert“, so nahm er damit einen wesentlichen Aspekt romantischen Weltverständnisses vorweg. Siehe G. Florovskij: Puti russkogo bogoslovija. S. 119. Zur Bedeutung der Freimaurerei für die Entwicklung der russischen Literatur siehe auch das Kapitel Freemasonic Concepts. In: R. Neuhäuser: Towards the Romantic Age. Nijhoff, The Hague 1974, S. 17-25.

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wobei seine Gedanken vor allem um das Wesen und die Rolle des Bösen in der Welt kreisten.8 Der von ihm gepflegte Stil wurde maßgebend für die Entwicklung der russischen Literatursprache. Erst Puschkins Forderung aus den frühen zwanziger Jahren nach der Angleichung der Literatursprache an die einfache Volkssprache erschütterte Karamsins Autorität. In der Folge charakterisierte diese kritische Einstellung vor allem die mittelständische Intelligenz (raznočincy), während aristokratische Kreise weiterhin den Karamsin-Mythos pflegten, für den der Dichter Wjasemskij, ein Freund Puschkins, Worte fand, die als Motto gelten können: „In Karamsin ist ganz Russland verkörpert... Er ist der wahre und beinahe einzige absolute Repräsentant unserer Kultur“. In dem frühen programmatischen Gedicht Poesie (Poezija, 1787) nennt Karamsin seine literarischen Vorbilder, die dem Kanon der frühromantischen Literatur im Westen entsprechen. Wir finden darunter Thomsons Seasons (Die Jahreszeiten, 1730), Youngs Night Thoughts (Nachtgedanken, 17421745), Grays Naturlyrik und die Dramen Shakespeares, Goethes und Lessings. Zum Teil übersetzte er auch Texte dieser Autoren, so die Jahreszeiten, Lessings Emilia Galotti (1788) und Shakespeares Julius Caesar (1786). Wie die Stürmer und Dränger war auch Karamsin von Shakespeare begeistert. So spricht er von der „wilden Erregung der Seele“ bei Shakespeare, von seinem „gigantischen Pinselstrich und seinem Genie, das in seiner Vision die Sonne wie die Atome einschließt“. In einem Essay über die russische Aufführung der Emilia Galotti entspricht Karamsins Stil dem Kraftstil des Sturm und Drang. Zu den bevorzugten sprachlichen Fügungen gehören Ausdrücke wie etwa „Abgrund“, „Dolch“, „das kalte Eisen durchdringt die Brust“, „erdolchen“, „die Seele zerreissen“.9 Es lässt sich vermuten, dass die Bekanntschaft mit Jakob Michael Reinhold Lenz, der seine letzten Lebensjahre in St. Petersburg verbrachte, Karamsins Interesse an der Frühromantik stimulierte. Von 1789 bis 1790, zur Zeit der beginnenden Französischen Revolution, unternahm Karamsin eine Bildungsreise, die ihn nach Deutschland, in die Schweiz, nach Frankreich und England führte. Vornehmliches Ziel dieser

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Karamsin musste sich wohl schon bei der Lektüre der Schriften Rousseaus mit dieser Problematik beschäftigt haben, die Rousseaus ersten Discours prägt. Rousseau, dessen Ausspruch „Je sens, donc je suis“ als verbindendes Motto für den Sentimentalismus wie auch die Romantik gelten kann, war in Russland bereits um 1760 bekannt. Karamzins Kraftstil und sein Interesse für Texte des Sturm und Drang fallen zeitlich mit seinem Briefwechsel mit Lavater zusammen. In einem dieser Briefe findet sich der charakteristische Satz: „Ich bin, und mein Ich ist für mich ein Rätsel, das ich nicht auflösen kann.“ Zit. in H. Rothe: Karamsins Europäische Reise. Bad Homburg 1968, S. 70 f. Dieser Satz reflektiert sowohl das philosophische Anliegen der Freimaurer wie auch den seit Rousseau typischen Hang zu Selbstanalyse und Reflexion. Siehe auch N. M. Karamzin: Izbrannye sočinenija. Bd. I. Moskau-Leningrad 1964.

Reise war es, jene Schriftsteller, die er verehrte, aufzusuchen, wie auch alle Orte zu besuchen, die er aus der Literatur bereits kannte. So weilte er bei Herder, Wieland, sah Goethe, stieg bei Lavater ab, besuchte Ferney, den Sitz Voltaires bei Genf, und verließ Lausanne „in der heitersten Stimmung und Rousseaus Nouvelle Héloïse in der Hand..., um die herrlichen Gegenden mit eigenen Augen zu sehen, in welche der unsterbliche Rousseau seine schwärmerischen Liebenden versetzte“. Karamsins Briefe eines reisenden Russen (Pis’ma russkogo putešestvennika, 1791), er selbst nannte sie einen „Spiegel meiner Seele während meiner Reise“ und „Schattenbilder meiner Einbildungskraft“, illustrieren das sentimentale Literaturverständnis, das die Realität nur in den Gefühlserlebnissen erfasst, die von ihr ausgehen, und dann diese Emotionen in harmonische Worte fasst. Doch auch hier finden sich Textstellen, die – geprägt vom philosophisch-weltanschaulichen Grübeln des Autors – das sentimentale Weltverständnis sprengen. Dazu gehört die rätselhafte Geschichte vom französischen Abbé, der plötzlich von „ennui“ befallen wird und Selbstmord begeht.10 Das frühromantische Gefühl der Angst vor einer gar nicht so harmonischen Welt, in der in Wahrheit das Böse neben dem Guten herrscht, wie auch der Protest gegen soziale Normen, die der Natur nicht entsprechen, finden zunehmend Eingang in Karamsins Werke der neunziger Jahre. Dahinter steht wohl auch Rousseaus Zweifel an den Segnungen der Zivilisation. In der Erzählung Das Dorf (Derevnja, 1792) schildert Karamsin das Bild einer finsteren, blitzdurchzuckten Gewitternacht, auf die ein klarer Himmel und Mondschein folgen, dann resümiert er: „So beherrschen Dunkel und Licht, Laster und Tugend, Sturm und Ruhe, Kummer und Freude gemeinsam die Welt!“ Diese Gemeinsamkeit von Gut und Böse, die Goethes Wort von den zwei Seelen in des Menschen Brust vorweg nimmt, wurde zum existentiellen Problem für Karamsin im Verhältnis der Geschlechter, das er am Beispiel der Unberechenbarkeit und der Irrationalität der Liebe immer wieder abhandelte. So meinte er in der Verserzählung Alina (1790): „Liebe allein ist das Gesetz der Liebe, und das Herz hat keine Gewalt über seine Wahl.“ Karamsins berühmteste Prosaerzählung Die arme Lisa (Bednaja Liza, 1792) greift dieses Thema auf und zeigt, wie zwei junge Menschen der Leidenschaft zum Opfer fallen und auf Grund sozialer Konventionen nicht zu Glück und Erfüllung finden. Lisa endet im Selbstmord, ihr Geliebter Erast siecht von Schuldgefühlen getrieben dahin. Ein dunkles Schicksal, das sich der Deutung entzieht, hat das Leben und die Liebe beider zerstört. In dieser Erzählung dominieren sentimentale Züge, zugleich aber ist ein ironischer Unterton spürbar, der das Rousseausche, naive Naturverständ-

10 Siehe: Karamsins Reisebrief vom 2. Februar 1790.

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nis relativiert und abwertet, wie Erasts Reaktion zeigt, als er sich in Lisa verliebt hat: „Ihm [Erast] schien es, dass er in Lisa das gefunden hatte, was sein Herz schon lange suchte. ‚Die Natur ruft mich in ihre Umarmung’, – dachte er und beschloss – zumindest zeitweilig –, die große Welt zu verlassen.“

Karamsins Erzählung Arme Lisa war in Russland das populärste Buch des ausklingenden 18. Jahrhunderts. Manche aristokratischen Leser ließen in ihren Gärten kleine Lauben errichten, die der Titelheldin gewidmet waren. Dorthin zogen sie sich zurück, um in der Einsamkeit der Natur die Erzählung zu lesen und „Tränen der Rührung zu vergießen.“ So entstand auch in der Nähe des Simonow-Klosters bei Moskau in idyllischer Umgebung unweit des Teiches, in dem Liza Selbstmord begangen haben soll, „dank der Empfindsamkeit der Moskauer Leser und ihres zarten Geschmacks in der Literatur mit den Mitteln und auf Initiative eines ihrer Liebhaber“ ein Häuschen, dem in einer Gravur eine gefühlvolle Dame, Karamsins Erzählung in der Hand, zustrebt. Am Ufer des Teiches stand auf einer Tafel zu lesen: „Die feurige Phantasie der Leser sieht die arme Lisa, die darin ertrank: fast auf jedem dieser Bäume haben interessierte Besucher in verschiedenen Sprachen ihre Gefühle des Mitleids für die unglückliche Schöne und ihre Hochachtung für den Verfasser dieser Erzählung dargestellt. So ist zum Beispiel in einen Baum eingeschnitzt: ‚In diesen Wellen hat die arme Lisa ihre Tage beendet; Wenn Du Gefühl hast, Wanderer, seufze auf’.“

Der Teich wurde zu einem beliebten Ausflugsort der Moskauer Gesellschaft, die in Scharen dorthin strömte. Sogar die Bezeichnung Lisas Teich bürgerte sich für ihn ein.11 Aber auch die heute kaum mehr spürbare, jedoch im Kontext des späten 18. Jahrhunderts deutliche soziale Kritik soll erwähnt sein. Karamsins Lisa ist ein Bauernmädchen, desssen Herz von derselben verfeinerten Sensibilität geprägt ist, wie das des adeligen Erast. Diese explizite Feststellung des Autors wirkte im Russland des 18. Jahrhunderts geradezu revolutionär. Zwischen 1791 und 1794 erreichte die Französische Revolution ihren Höhepunkt. In Russland wurden Schriftsteller verhaftet, die Freimaurerlogen wurden geschlossen, und sogar Karamsin geriet unter Verdacht. Zugleich erlebte er tragische Ereignisse, – sein Freund Lenz starb im Wahnsinn (1792), Alexander Petrow, der engste Freund Karamsins, folgte ihm kurz darauf nach. Diese Ereignisse erschütterten Karamsin und vertieften die literarischen Impulse der Frühromantik in ihm. Der dichterische Ausdruck die-

11 So dargestellt in einer Radierung von Nikolaj Sokolov in der ersten Buchausgabe von

Karamzins Erzählung Bednaja Liza (Die arme Lisa, Moskau 1796).

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ser persönlichen Krise sind die beiden Erzählungen Die Insel Bornholm und Sierra Morena (beide 1793) sowie der fingierte Briefwechsel Melodor an Filalet und Filalet an Melodor (1795). In der Insel Bornholm griff Karamsin das von Derschawin erstmals in der russischen Literatur behandelte Thema der Geschwisterliebe auf, das von der Gesellschaft tabuisiert war und zeigte, wie gesellschaftliche Konventionen eine an sich natürliche Leidenschaft unterdrücken und so menschliches Glück zerstören.12 Karamsin steht dabei auf der Seite der Natur: „Heilige Natur! Dein zarter Freund und Sohn ist unschuldig vor dir... Du wolltest, dass ich Lila [= die Schwester des Sprechers] lieben soll!“

Karamsin nennt seinen unglücklichen Helden ein „Opfer der Leidenschaft, nicht des Lasters!“ Leidenschaft als unmittelbarer Ausdruck der Natur wird positiv gewertet. Für seine düsteren, dem tragischen Sujet angepassten Naturschilderungen verwendet Karamsin die Stilmittel der ossianischen Lieder. Die Erzählung Sierra Morena verschärft die Fragestellung noch. Alonzo, der totgeglaubte Geliebte Elviras, kehrt in dem Moment zurück, als Elvira eben mit dem Erzähler, der sie getröstet und sich letztlich in sie verliebt hatte, die Ehe schließen will. Aus Enttäuschung und als Strafe für Elvira tötet sich Alonzo. Elvira geht ins Kloster, der unglückliche Erzähler flieht den Schauplatz des Geschehens. Karamsin verdeutlicht, dass keine der drei Personen vorbedacht Schuld auf sich genommen hatte, jeder handelte jeweils nach seinem inneren Gefühl. Die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Gut und Böse sind eben nicht mehr eindeutig zu definieren, jeder Mensch trägt beides in sich. Ein tragisches, letztlich nicht deutbares Schicksal bestimmt das Geschick der Menschen. Glück und Erfüllung scheinen in Reichweite des Menschen, entschwinden aber, sobald er zugreifen will. Die Schlusszeilen dieser Erzählung sind im Stil der Stürmer und Dränger der Frühromantik formuliert: „Kalte Welt! Ich verließ dich! Wahnwitzige Wesen, Menschen genannt! Ich verließ euch! Mögt ihr wüten in eurem blinden Wahn, euch quälen, einander zerstören! Mein Herz ist für euch tot, euer Geschick rührt mich nicht.“

Ähnlich spricht Elvira: „Die Erde ist zwischen uns geborsten, und vergeblich streckst du mir deine Hände entgegen! Ein Abgrund hat uns für alle Ewigkeit getrennt.“

Die beiden fiktiven Briefe von 1795 fügen der Erzählung den philosophischweltanschaulichen Hintergrund hinzu. Im ersten spricht Melodor (= Karamsin, der Dichter) zu Filalet (= Karamsin, dem Philosophen). Karam-

12 G. Deržavin: Iroida, ili Pis’mo Vivlidy k Kaunu (1773).

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sin wiederholt die wesentlichen Züge des sentimentalen Weltverständnisses, wie er sie in seinen Essays Was braucht ein Autor? (Čto nužno avtoru?) und Über Wissenschaft, schöne Kunst und Aufklärung (Nečto o nauke, chudožestve i prosveščenii, beide 1793) eben niedergelegt hatte, widerlegt sie aber dann mit den Argumenten des frühromantischen Rebellen. Melodors Schlussfolgerung lautet: „Wo ist dieses tröstliche System nun...? Es ist in seinen Grundfesten in sich zusammengestürzt!… Wo sind die Früchte der Wissenschaft und Weisheit? Wo ist die Erhabenheit demütiger, moralischer Wesen, die für das Glück geschaffen sind? Zeitalter der Aufklärung! Ich erkenne dich nicht... Himmlische Schönheit ist verschwunden – Schlangen zischen an ihrer Stelle! – Welch ein Wandel!“

Anstelle der sentimentalen und aufgeklärten Utopie vom kommenden Goldenen Zeitalter sieht er nun die Stille „des Todes, der Kälte, der Finsternis“. Wie Tag und Nacht folgen Gut und Böse aufeinander, „so wie es im Menschen keine Harmonie, Ordnung und Vollkommenheit mehr gibt – so gibt es sie auch in der Natur nicht“. Und er schreibt, dass das „Chaos seiner Seele“ die „Unordnung der Schöpfung“ wiedergibt. Das tragische, zum Chaos tendierende Weltbild des frühromantischen Menschen ist hier deutlich zu erkennen. Im zweiten Brief schwört Karamsin jedoch den rebellischen Tendenzen seiner Jugend ab, zieht sich auf einen religiös gefärbten, moralisierenden Standpunkt zurück und erneuert seinen Glauben an die Maxime sentimentalen Weltverständnisses: „Die Saat des Guten ist im menschlichen Herzen und wird nicht für immer verschwinden, – die Hand der Vorsehung wird sie vor Kälte und Stürmen bewahren... Menschen, durch unglücklichen Irrtum, können böse sein, die Natur aber niemals!“

Resignation und ein sich Zurückziehen auf die inneren Werte des Individuums, ein erneutes Bekenntnis zu sozialer Harmonie und Gerechtigkeit kennzeichnen seine Haltung ab 1794. Dichten wird dabei vom Ausdruck eines existentiellen Bedürfnisses, wie in der Frühromantik, wieder zur angenehmen „Erfindung“, zum Spiel mit verfeinerten Gefühlen: „Mein Freund! Die Wirklichkeit ist arm: Spiel' mit den Träumen deiner Seele...“ („Moj drug! suščestvennost' bedna: Igraj v duše svoej mečtami ...“)

Der Dichter wird zum „erfahrenen Lügner“, dessen „angenehme Erfindungen“ das Leben versüßen.13 Zum Spätwerk Karamsins gehören Erzählungen aus der Geschichte Russlands, wie Natalja, die Bojarentochter (1792) und Die Bürgermeisterin Martha oder die Unterwerfung Nowgorods (1803). Damit schuf Karamsin

13 Siehe Karamsins Gedicht: Dem armen Dichter (K bednomu poetu, 1796).

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frühe und modellhaft wirkende Beispiele einer russisch-nationalen historischen Erzählung. Zugleich waren diese Texte ein Zeugnis seines Nationalbewusstseins, das in seine zwölfbändige Geschichte des russischen Reiches (1804-1826) einfloss, die er als Hofhistoriograph Alexanders I. schrieb. Es war dies das bedeutendste Geschichtswerk Russlands, aus dem Generationen von gebildeten Russen ihr Geschichtsverständnis bezogen und das Schriftstellern bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts als Stoff- und Motivsammlung diente. In der Literaturgeschichte unterschätzt und wenig beachtet ist Karamsins erzählerische Prosa nach 1800. Dazu gehört der unvollendete Versuch eines Erziehungsromans Ein Ritter unserer Zeit (Rycar’ našego vremeni, 1802/03), der eine gegen Rousseau gerichtete Polemik enthält. Noch merkwürdiger ist die gleichfalls in Karamsins Zeitschrift Der Bote Europas (Vestnik Evropy, 1802) abgedruckte Erzählung Meine Beichte (Moja ispoved’), die man das Selbstporträt eines russischen Nihilisten nennen könnte! Der Held, ein verzogener, adeliger Jüngling, hat „keine klaren Gedanken und im Herzen kein starkes Gefühl außer Langeweile“. Der „überflüssige Held“ der russischen Romantik, aber auch Dostojewskijs „Mensch aus dem Untergrund“ sind hier bereits in wesentlichen Zügen vorweggenommen! So wie in diesen beiden Texten beschäftigten Karamsin „Phänomene des menschlichen Herzens“ auch in der Erzählung Der Gefühlvolle und der Kalte (Čuvstvitel’nyj i cholodnyj, 1803). Es war dies Karamsins letzter künstlerischer Prosatext. Ab 1804 widmete er sich voll und ganz seiner groß angelegten Geschichte des russischen Reiches. Karamsins größte Leistung war allerdings die Entwicklung einer modernen Literatursprache, die auch für den heutigen Leser nicht mehr antiquiert klingt. Der „neue Stil“ (= novyj slog), auch als „eleganter Stil“ (= izjaščnyj slog) bezeichnet, wurde zum Modestil der Zeit und als „Karamsinscher Stil“ von den Konservativen und Neoklassizisten, aber auch von manchen Frühromantikern wegen seiner, bei Karamsins Nachfolgern oft übertriebenen Glätte, Weichheit und seines Schmelzes wegen verspottet. Karamsin übernahm die Salonsprache, den so genannten mittleren Stil in Lomonossows Klassifikation, den er mit Entlehnungen, vor allem aus dem Französischen, und Neubildungen nach westeuropäischen Vorbildern bereicherte. Der Journalist und Literaturkritiker Gretsch schrieb 1840 im Rückblick: „Sein Stil überraschte alle Leser, wirkte auf sie wie ein elektrischer Schlag“. Karamsins Reform führte dazu, dass in Lehrbüchern der Rhetorik eine neue Abteilung Prinzipien des eleganten Stils aufgenommen wurde.14 Archaismen wurden

14 So zum Beispiel in N. Košanskijs Obščaja ritorika. St. Peterburg 1818, 2. Aufl.1830,

10. Aufl. 1849!

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vermieden, die Syntax wurde nach der inhärenten Logik der russischen Sprache zurechtgerückt und folgte nicht mehr dem lateinischen und deutschen Vorbild. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Karamsin als Historiker, Prosaautor und Schöpfer der modernen Literatursprache geradezu zu einem nationalen Monument. Gogol sprach 1847 gar von seiner „Heiligkeit“; der Dichter und Kritiker Wjazemskij, ein enger Freund Puschkins, stellte ihn neben Peter den Großen und nannte beide die „neuen Erzieher Russlands“. Schewyrew, selbst Dichter und Universitätsprofessor für russische Literatur, resümierte 1842: „Er [Karamsin] vollendete den Ausgleich zwischen Europäisierung und den Ansprüchen und dem Geist russischen Lebens... Karamzin gebührt die Ehre, die Literatur unserer Gesellschaft endlich begründet zu haben“15.

Die Frühromantik schuf den Übergang zur Romantik, die in Russland erst nach Ende der Napoleonischen Krieg einsetzte. Literarische Zirkel und Gesellschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielten dabei eine nicht unwichtige, aber von der Wissenschaft wenig beachtete Rolle. An der Moskauer Universität, die als erste russische Universität auf Initiative des Universalgenies Lomonossow, dessen Namen sie noch heute trägt, gegründet wurde, bestand bereits von 1781 bis 1791 eine Freundschaftliche gelehrte Gesellschaft, der führende Schriftsteller der Zeit, darunter der Aufklärer, Freimaurer und Philantrop Iwan Nowikow und Karamsin, angehörten. In dem der Universität angeschlossenen Internat wurden der künftige Dichter Schukowskij und die literarisch begabten Söhne des Freimaurers und Direktors der Universität Iwan Turgenjew erzogen, die um die Jahrhundertwende einen frühromantischen Dichterkreis bildeten. Im Jahre 1799 gründete der erst achtzehnjährige Andrej Turgenjew zusammen mit seinen gleichaltrigen Freunden, von denen vor allem Alexej S. Mersljakow und Wassilij Schukowskij (= Žukovskij) gehörten, in Moskau einen literarischen Zirkel, der sich 1801 als die Freundschaftliche literarische Gesellschaft konstituierte. Damit bestand eine Verbindung zur Tradition des 18. Jahrhunderts. Die Mitglieder der Gesellschaft zeichneten sich durch ein hohes Maß an nationalpatriotischer Begeisterung aus. Sie waren aufgeschlossen für die frühromantische Literatur, vor allem die Literatur des deutschen Sturm und Drang. Wie dieser verehrten sie Shakespeare und Rousseau, den jungen Goethe und Schiller.16 Der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts einschließlich Karamsin standen sie kritisch gegenüber. So meinte Turgenjew in einer Rede

15 H. Rothe: Karamsin and His Heritage. In: Essays on Karamsin. Hg. L. Black. Paris,

The Hague 1975. S. 154 f. u. 161. 16 Andrej Turgenev übersetzte Shakespeare (Macbeth, King Lear) und Schiller (Kabale

und Liebe; Teilübersetzung). Die Räuber und Don Carlos begeisterten ihn!

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von Karamsin: „Er ist um so schädlicher, als er in seinem Genre schön zu schreiben versteht...“ In der Manier der Stürmer und Dränger forderte er dann für Russland eine Literatur, die „das Erhabene mit dem Hässlichen, dem Gigantischen, dem Außergewöhnlichen mischen sollte.17 Die Literarische Gesellschaft löste sich schon im Laufe ihres ersten Jahres wieder auf. Andrej Turgenjew starb kurz darauf. Seine literarische Hinterlassenschaft besteht neben einigen Übersetzungen aus wenigen Gedichten und den Texten seiner Reden im Kreise der Gesellschaft. Turgenjews Freund Alexej Mersljakow begann ebenfalls im Geiste des jungen Schiller, dessen Ode An die Freude (1786) er in seinem Gedicht Ruhm (Slava, 1799) nachahmte, dabei aber Schillers humanitäre Note durch einen patriotischen und national gefärbten Enthusiasmus ersetzte. Seine Versepistel Brief Werthers an Charlotte (Pis’mo Vertera k Šarlote, 1801) variiert Goethes Roman und enthält manche frühromantische Motive. Mersljakows Werther ist eine frühe Verkörperung des romantischen Helden und trägt in sich Züge eines Faust, Don Juan, aber auch Petschorin (nach Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit, 1840). So sagt Mersljakows Werther von sich: „Ich habe mit meinem Verstand die ganze Welt umspannt, alles sehen, alles erkennen, alles versuchen wollte ich. Tausend Wahrheiten eröffneten mir die Wissenschaften und erweiterten mein Wesen Stund’ um Stund’. Jetzt bin ich kraftlos, mutlos und ermattet ...“18

Mersljakow wurde später ein bekannter Literaturkritiker und Professor für russische Literatur, der im reifen Alter neoklassizistischen Anschauungen anhing. Aber noch seine öffentlichen Vorlesungen aus dem Jahre 1812 beinhalten ausgesprochen frühromantische Züge. So stellte er dort fest: „Werke der schönen Künste sind eine Angelegenheit der Gefühle und des Geschmacks und sind als solche keinen strengen Regeln unterworfen und können, wie es scheint, in keinem unveränderlichen System und keiner unveränderlichen Wissenschaft vom Schönen festgelegt werden.“

Zur selben Zeit, als in Moskau die Freundschaftliche literarische Gesellschaft entstand, fand sich in St. Petersburg ein ähnlicher Kreis von Literaten und kunstbegeisterten jungen Männern zusammen, welche die Freundschaftliche Gesellschaft der Liebhaber des Schönen bildeten, die sich ab 1803 in Freie Gesellschaft der Liebhaber der Literatur, Wissenschaft und Kunst umbenannte. Ab 1807 wurde die Gesellschaft zusehends konservativ, 1825 löste sie sich auf. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens neigte auch sie, wenngleich

17 Russkij bibliofil Nr. 1, Januar 1912, S. 29. 18 A. Merzljakov: Stichotvorenija, Leningrad 1958, S. 219.

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in geringerem Maße als Turgenjews Kreis, frühromantischen Tendenzen zu. In der Zeitschrift Der nördliche Bote (Severnyj vestnik, 1804/05) und in den beiden Bänden des Musenalmanachs (Svitok muz, 1802/03) erschienen Übersetzungen und originale Texte der Mitglieder dieses Kreises, darunter auch Auszüge aus Goethes Hermann und Dorothea und mehrere Übersetzungen lyrischer Gedichte Goethes, vor allem Übersetzungen von Iwan Born, der sich ebenso wie Goethe und die frühe Romantik für Volkslieder interessierte. In seinem Kurzen Handbuch der russischen Literatur (Kratkoe rukovodstvo k rossijskoj slovesnosti, 1808) wandte er sich gegen den Versuch, alte Volkskunst zu „verbessern“, und plädierte im romantischen Geist dafür, die Originalität echter Volkslieder zu bewahren. Alexander Wostokow, später einer der ersten Slawisten Russlands, veröffentlichte 1812 einen Versuch einer russischen Verskunst (Opyt rossijskogo stichosloženija, 1812, ergänzt 1817), der vor allem der Erforschung volkstümlicher Verse viel Raum gab. Zugleich schrieb er selbst im Geiste russischer Volksepik zwei Versepen, Swetlana und Mstislaw, eine heroische Erzählung in vier Gesängen (Svetlana i Mstislav, bogatyrskaja povest’, 1802), die auf dem altrussischen Igorlied beruht, und Pewislaw und Sora, eine alte Erzählung in fünf Idyllen (Pevislav i Sora, drevnjaja povest’, 1802 ).19 Karamsin hatte schon davor die Welt von dem Fund des altrussischen Heldenlieds in der Hamburger Zeitung Spectateur du Nord (Oktober 1797. S. 55-56) mit den Zeilen informierte: „Es wird Erstaunen erregen, dass man vor zwei Jahren in unseren Archiven ein Bruchstück eines Poems entdeckt hat, das von einem unbekannten Autor des 12. Jahrhunderts mit dem Titel Lied der Krieger Igors gedichtet wurde und welches sich mit den schönsten Stellen der Gedichte Ossians vergleichen lässt.“

19 Eine sehr wichtige Rolle bei der Ablösung von alten literarischen Modellen spielte die

von Herder geförderte Hinwendung zu alten Sprachdenkmälern, Volksdichtung und Mythologie. An die Stelle der griechischen und römischen Mythologie trat das Interesse für nationale Mythologien. So gab Michail Čulkov 1793 ein Kurzes mythologisches Lexikon heraus. 1804 erschien A. Kaisarovs Versuch einer slawischen Mythologie in alphabetischer Ordnung. Im selben Jahr veröffentlichte G. Glinka seine Studie Die alte Religion der Slaven. Als einziges bedeutendes Zeugnis altrussischer Heldendichtung wurde Ende des Jahrhunderts das Igorlied (Iroičeskaja pesn’ о pochode na Polovcev udel’nogo knjazja novagoroda Igorja Svjatoslaviča) aufgefunden, dessen Echtheit bis heute allerdings nicht unbestritten ist, dessen einziges Manuskript (Original) beim großen Brand von Moskau 1812 vernichtet wurde. Es handelt sich um ein in der altrussischen Literatur einzigartig dastehendes Epos aus dem 12. Jahrhundert. Frühromantische Autoren verwendeten Motive daraus in ihren Gedichten, so auch Wostokow.

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Unverdient vergessen ist Gawrila Kamenjew, über dessen Grab Puschkin dreißig Jahre nach Kamenjews Tod meinte: „Er war der erste in Russland, der es wagte, dem Klassizismus abzusagen. Wir als russische Romantiker haben die Verpflichtung, sein Gedächtnis hochzuhalten.“

Seine Lieder (Pesni, 1802, 2. Aufl.1815) gehören zu den besten Texten der russischen Frühromantik. Ihre Spannweite reicht von sentimentalen, rokokohaften Naturszenen bis zu Bildern existentieller Verzweiflung, wie in folgenden Versen: „Die Nacht in ihrer Karosse, schwarz und traurig, // fliegt stumm vom Osten her; // breitet feuchte Schatten über die Erde, // es dunkelt der Fluss // . . . // Der Himmel ist von den Farben der Dämmerung bedeckt, // sieht mit blutigem Gesicht herab; // in der glosenden Ferne schaut das Auge // weder Sterne noch Mond.“20

Kamenjews Ballade Gromwal (1804), die nach mittelalterlichen Motiven gestaltet ist, gehört zu den frühesten russischen Texten dieses Genres. Obwohl die Mitglieder der Freien Gesellschaft den extremen Formen des Sturm und Drang fern standen und vielfach zu eher konservativen Anschauungen neigten, so finden wir doch unter ihnen vereinzelt Vertreter der frühromantischen Richtung, die vor allem mit lyrischen Gedichten und kurzen essayistischen Prosatexten hervortraten.21 Zur russischen Frühromantik gehören vor allem die folgenden drei weiteren „Stürmer und Dränger“. Wassilij T. Nareschnyj, ein Freund Andrej Turgenjews und Mersljakows, wuchs mit Schiller und den Dramen des deutschen Sturm und Drang auf. Noch vor seinem dreißigsten Geburtstag hatte er sechs (!) antidespotische Dramen verfasst, von denen nur vier erhalten sind. Die Themen entstammen zum Teil der russischen Geschichte, wie in seiner populären Tragödie Der Kronprätendent Dmitrij (Dmitrij Samozvanec, 1800. Man vergleiche dies mit Schillers Demetrius, 1804/05). Nareschnyj trieb den Kraftstil des Sturm und Drang auf die Spitze. Seine Dramen sind heute nicht zu Unrecht vergessen. Eine wesentlich höhere Einschätzung verdient seine Sammlung von Prosaskizzen aus der mythischen Frühgeschichte Russlands. Sie sind eine sehr 20 Noč’ v kolesnice, černoj, pečal’noj,

Zarevnym svetom nebo pokryto, Ticho s Vostoka letit. Smotrit krovavym licom; Vlažnye teni stelet na zemlju; V rdjanom prostranstve oko ne vidit Tusknet reka. Zvezd i luny. 21 Am Rande ist Vasilij Dmitriev zu erwähnen, der Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764) zu übersetzen begann und Gedichte über Sibirien schrieb. In Sibirien fand Dmitriev „die Täler der Pyrenäen, die Kaskaden des Tivoli, die Schönheit der Schweiz und die Schönheit eines frühen Morgens in den Alpen“. In: PoetyRadiščevcy. Moskau-Leningrad 1933, S. 794.

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phantasievolle Wiedergabe der ältesten Geschichte Russlands und erschienen 1809 unter dem Titel Slawonische Abende (Slavenskie večera). Ganz im Geiste Herders und der Romantik erzählte er Schlüsselereignisse aus der nationalen Geschichte. Der nordische Stil, in dem auch die Abende geschrieben sind, wurde in Russland als „rau, düster, wild und stets träumerisch“ (surovyj, mracnyj, dikij i vsegda mečtatel’nyj) definiert und setzt sich vom heiteren südlichen Stil der romanischen Völker einschließlich Griechenlands, und dem üppigen östlichen Stil altindischer, persischer, arabischer und biblischer Dichtung (Psalmen) ab. Die rhythmische und poetische Sprache, die Betonung nationaler Größe, die patriotische Gestimmtheit lassen Nareschnyjs Werk als eines der wenigen bedeutsamen Werke der russischen Frühromantik erscheinen.22 Nikolai I. Gneditsch (1784-1833), in der Literaturgeschichte als konservativer Dichter, Übersetzer der Ilias und einer der bedeutenderen Vertreter des russischen Philhellenismus bekannt, war in seiner Jugend ebenso wie Nareschnyj ein markanter Vertreter des Sturm und Drang. Als Student stand er mit Andrej Turgenjews Kreis in Verbindung, nach seiner Übersiedlung nach St. Petersburg wurde er mit den Mitgliedern der Freien Gesellschaft bekannt. Bereits mit achtzehn Jahren hatte er drei Bücher veröffentlicht.23 Auch für Gneditsch waren Schiller, dessen Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) er 1803 übersetzte, und Shakespeare, von dem er 1808 King Lear (1606) ins Russische übertrug, die großen Vorbilder. Gneditschs frühe Dramen und Novellen sind heute nur mehr von literaturgeschichtlichem Interesse. Von sehr viel höherer Qualität sind seine Gedichte im Stil der ossianischen Dichtung, so das lange Gedicht Die Schönheiten Ossians oder Gesänge in Selma (Krasoty Ossiana ili Pesni v Sel’me, 1804). In einer Fußnote vermerkte der Autor, dass er darin „alle Schönheiten Ossians vereinigen wollte“. Gneditschs frühromantische Verse weisen in ihrer vollendeten lyrischen Ausdruckskraft weit über ihre Zeit hinaus. Denis V. Dawydow (1784-1839) wird in Literaturgeschichten meist als Dichter der Romantik der dreißiger Jahre behandelt, obgleich die Entsteh-

22 In den letzten Jahren seines Lebens schrieb Narežnyj einige Romane, darunter den

Russischen Gil Blas, oder Die Abenteuer des Fürsten Gabriel S. Čistjakov (1814). Diese Romane setzten die Tradition des pikaresken Romans des 18. Jahrhunderts fort, ihre Sujets lassen an Gogol denken. 23 Gnedičs frühromantische Werke erschienen in dem anonymen Band Plody uedinenija, 1802, und schließen ein Drama nach Art von Schillers Räuber ein: Moric, ili žertva mščenija. Weitere Dramen waren: Abufar, oder die arabische Familie (= Übersetzung eines Romans von J. F. Ducis) und Moritz oder Das Opfer der Rache. 1803 erschien der Roman Don Corrado de Gerrera, oder Der Geist der Rache und Barbarei bei den Spaniern (Don Korrado de Gerrera, ili duch mščenija i varvarstva Ispancev).

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ungszeit von zwei Drittel seiner Verse in die Zeit von 1803 bis 1820 fällt und sie damit zur Frühromantik gehören. Auch er hatte in seiner Studienzeit in Moskau Kontakt mit dem literarischen Kreis um Andrej Turgenjew. Ab 1806 diente er in einem Husarenregiment und nahm an allen Kriegen der nächsten zehn Jahre aktiv teil. Dawydow war der erste russische Dichter, bei dem im Geiste Rousseaus und der Romantik Leben und Dichtung zu einer Einheit verschmolzen. Zugleich ist er der einzige bedeutende Vertreter der Kriegsdichtung, die zu gleicher Zeit in Deutschland von Theodor Körner und Ernst Moritz Arndt repräsentiert wurde. Dawydows frühe Lyrik will als Tagebuch der Kriegsabenteuer des Autors und Helden verstanden werden. Im Mittelpunkt stehen Feldzüge, Biwaks und die Romantik des freien und ungezügelten Husarenlebens. Die Person des Helden und Autors wurde in ihnen idealisiert, romantisiert und stilisiert. Das Leben wurde poetisiert. Dawydow schuf ein Arsenal von Symbolen, das es ihm erlaubte, dieses Bild jederzeit evozieren zu können. Dazu gehörten das Pferd des Husaren, sein Säbel und seine Pfeife ebenso wie sein Schnurrbart, ein Glas Punsch oder Wein, Mädchen, Lagerfeuer und sein treuer Freund Burzew, der Scharmützel und Trinkgelage mit ihm teilt. So beginnt das Gedicht Husarenfest (Gusarskij pir, 1804) mit den Zeilen: „Um Himmels willen, reich' doch die Pfeife! // Stell’ die Flaschen vor uns hin, // alle Reiter ruf’ zusammen // mit den aufgezwirbelten Schnurrbärten.“24

Dawydows Husar wurde in diesen Versen zu einer weiteren Verkörperung des frühromantischen Kraftmenschen, der jenseits von Vernunft und Konventionen der Gesellschaft steht. Dazu lesen wir in Dawydows Autobiographie: „In einem friedlichen und seligen Leben ist keine Poesie. Irgendetwas muss die Seele bewegen und die Phantasie befeuern.“25

Die beginnende Romantik manifestierte sich deutlich im Schaffen zweier Schriftsteller, – Konstantin Batjuschkow (1787-1855) und Wassilij Schukowskij (1783-1852). Batjuschkow diente zwischen 1802 und 1803 im neu geschaffenen Ministerium für Volksaufklärung, in dem neben anderen auch die Schriftsteller Nikolaj Radischtschew und Gneditsch tätig waren. 1805 wurde er Mitglied der Freien Gesellschaft. In seinen frühen Gedichten wandte er sich gegen die

24 Radi boga, trubku daj!

Vsech naezdnikov szyvaj Stav’ butylki pered nami. S zakručennymi usami! 25 Denis Davydov: Stichotvorenija. 4. Aufl. Moskau-Leningrad 1959, S. 41. Die erste Buchausgabe der Gedichte erschien 1832. Eine vollständige, noch vom Autor selbst vorbereitete Ausgabe erschien 1840.

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Neoklassizisten, aber auch gegen die Epigonen des Sentimentalismus. Als Offizier nahm er an den Kriegen mit Schweden (1808) und Frankreich (1807, 1813/14) teil und erreichte mit dem siegreichen russischen Heer Paris. Zuletzt diente er in der russischen diplomatischen Mission in Neapel. 1822 versank er in Wahnsinn. Batjuschkows frühe Dichtung orientiert sich an der poésie fugitive und der anakreontischen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Die Freuden des irdischen Lebens, der Freundschaft und Liebe, der individuellen Freiheit und des Lebensgenusses stehen im Vordergrund. In der programmatischen Epistel Meine Penaten (1811/12) legte er seine Auffassung vom Dichten nieder. Das Horaz’sche Ideal eines goldenen Mittelmaßes, eines einfachen Lebens, des Dienstes am Vaterland, verschönt von der „heiligen Dichtkunst“, charakterisieren seine Auffassung: „Ohne Gold und Ehren // ist der gute Geist // der heiligen Dichtung zugänglich // und plaudert oft mit mir // unter meinem stillen Dach…“26

Nach 1812 zeigen sich zunehmend pessimistische Züge in seinen Versen – Trauer und Menlancholie bis hin zum Lebensüberdruss. Die Elegie wird zu Batjuschkows bevorzugtem Genre. Plastische Konkretheit der Bilder, psychologische Vertiefung und autobiographische Motive zeichnen seine Elegien aus. Im Lied Lied Haralds des Kühnen (Pesn’ Garal’da Smelogo, 1816) griff er einen altnordischen Stoff auf. Die Gedichte Auf den Ruinen eines Schlosses in Schweden ((Na razvalinach zamka v Švecii, 1814) und Der Schatten des Freundes (Ten’ druga, 1814) zeigen den Einfluss der ossianischer Dichtung. Der sterbende Tasso (Umirajuščij Tass, 1817) illustriert die romantische Idee des Dichters, dem die Musen und der Ruhm „den Kranz der Unsterblichkeit“ flechten. 1817 erschienen zwei Bände Dichtung und essayistische Prosa unter dem Titel Versuche in Versen und Prosa (Opyty v stichach i proze). Die formvollendete Prosa seiner Essays, ihre einfache, aber ansprechende Sprache übten einen großen Einfluss auf die nachfolgende Generation aus, insbesondere auch auf Puschkin. In seinem Auszug aus den Briefen eines russischen Offiziers über Finnland (Otryvok iz pisem russkogo Oficera o Finlandii, 1809) zeichnete Batjuschkow eine typisch nordische Landschaft, wie sie unter dem Einfluss der ossianischen Lieder zu einem Kennzeichen frühromantischer Dichtung wurde. Als einer der Schöpfer der romantischen Elegie wird Batjuschkow zusammen mit Schukowskij mitunter als Begründer der russischen Romantik bezeichnet. Das Wesen seiner Dich-

26 „Bez zlata i čestej

Dostupen dobryj genij Poezii svjatoj, I často v mirnoj seni Beseduet so mnoj...“

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tung drückte Batjuschkow selbst in der Formel aus: „Das Träumen ist die Seele der Dichter und der Gedichte“ („Mečtan’e est’ duša poetov i stichov“). Die bedeutendste dichterische Persönlichkeit vor Puschkin ist neben Karamsin der Kritiker, Dichter und Übersetzer Wassilij A. Schukowskij, illegitimer Spross eines Aristokraten und einer gefangenen Türkin. Er studierte gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Moskau, wo er sich im Kreis Andrej Turgenjews bewegte und mit dem deutschen Sturm und Drang bekannt wurde. Die sentimental-romantische Übersetzung von Thomas Gray’s Friedhofsballade Elegy in a Country Churchyard (1802). brachte ihm frühen Ruhm. Schukowskij milderte allerdings die sozialkritische Aussage von Gray’s Ballade. Das Landleben idealisierte er im Sinne des Sentimentalismus. Bereits in diesem frühen Werk zeigte sich so seine Verbundenheit mit dem Stil des sentimentalen Ästhetizismus, – ein charakteristischer Zug, den er stets beibehielt. Seiner Übersetzung von August Bürgers romantischer Ballade Lenore (1774) im Jahre 1808 als Ljudmila folgten zahlreiche weitere Balladenübersetzungen, auch eigene Balladen, was ihm den Spitznamen „balladnik“ einbrachte. Baron Filip Wigel, ein Zeitgenosse Schukowskijs, schrieb dazu in seinen Erinnerungen: „Seine [= Schukowskijs] wunderbare Begabung war nötig, um uns zu bewegen, ohne Abneigung seine Balladen nicht nur zu lesen, sondern sie auch schließlich zu lieben. Ich weiß nicht, ob er unseren Geschmack verdorben hat; zumindest hat er uns neue Empfindungen verschafft, neue Vergnügen. Das ist auch der Beginn der Romantik bei uns.“27

Dank seiner hervorragenden Übertragungen wurde Schiller in Russland einer der bekanntesten Dichter. Auch Byron, Southey, Thomas Moore, Walter Scott, Goethe und Uhland gehörten zu den Autoren, die er bevorzugt übersetzte. Nach dem Muster westlicher Übertragungen schuf er Nachdichtungen altindischer und persischer Heldendichtung. Er übersetzte auch Teile des spanischen Nationalepos El Cid ins Russische. Im hohen Alter schuf er die noch heute gültige Übertragung der Odyssee. Schukowskij ist ohne Zweifel

27 R. Neuhäuser: The Romantic Age in Russian Literature. Poetic and Esthetic Norms.

An Anthology of Original Texts (1800-1830), München 1975. Schukowskij selbst meinte im Rückblick, er sei „in Russland der poetische Onkel aller deutschen und englischen Teufel und Hexen“. Auch Belinskij sah in Schukowskij den Begründer der russischen Romantik. So schrieb er 1843 in der Zeitschrift Otečestvennye zapiski, es sei „Žukovskijs Verdienst, dass er die Romantik in die russische Dichtung eingeführt hat“. Als 1822 fast gleichzeitig Puschkins Poem Der Gefangene im Kaukasus (Kavkazskij plennik) und Schukowskijs Übertragung des Byronschen Poems The Prisoner of Chillon erschienen, notierte Vjazemskij: „Das Erscheinen der erwähnten Werke, die wir den besten Dichtern unserer Zeit verdanken, bedeutet noch etwas anderes: Den Erfolg der romantischen Dichtung bei uns.“ (Syn otečestva Nr. 49, 1822).

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der erste bedeutende Übersetzer westeuropäischer Dichtung in Russland und zugleich ein unübertroffener Meister in diesem Genre. Seine hohe Auffassung von der Übertragung fremdsprachiger Dichtung zeigt sich im Ausspruch: „Der Übersetzer von Prosa ist ein Sklave; der Übersetzer von Versen ein Rivale des Autors.“ Nach Schukowskij soll der Übersetzer nur die gedankliche Struktur des Originals übernehmen, sie aber eigenständig in Worte kleiden. So trugen seine Übersetzungen stets den Charakter originaler Texte. Schukowskij verwandelte sozusagen den fremden Text „in eine Schöpfung seiner eigenen Phantasie“28 Dabei war es unvermeidlich, dass für Schukowskij typische Motive, Wendungen und Stimmungen auch dort erschienen, wo sie im Original nicht vorgegeben waren. Dies führte den Kritiker Nikolaj Polewoj dazu, 1832 von Schukowskij zu sagen: „Ein Gedanke allein nimmt unseren Dichter ganz in Anspruch: Ihn übernimmt er ohne Auswahl von Uhland, Schiller, Goethe, Byron, Hebel,... ein und derselbe Gedanke und Traum... stets ein Thema – die Sehnsucht der Liebe, der stillen Freude, das Opfer der Liebe, das Wiedersehen jenseits des Grabes!“29 Schukowskij selbst unterschied bewusst nicht zwischen seinen originalen Werken und Übersetzungen. Die Originaldichtung Schukowskijs ist gegenüber dem Übersetzungswerk zweitrangig, obgleich er auch hier exquisite Verse schrieb, aus denen oft Mystik, Religiosität und ein unbestimmtes Sehnen nach einem unerreichbaren Ideal sprachen. Seine eigene unerfüllte Liebe schlug sich in wehmütigen, elegischen Zeilen nieder. Viele seiner Gedichte beruhen auf der Gegenüberstellung von „hier“ und „jetzt“ mit einem nur erahnten, jenseitigem „dort“, das den Dichter lockt und ruft. Wjasemskij definierte in einem Brief aus dem Jahre 1821 das Wesen der Dichtkunst Schukowskijs recht treffend: „Bei Schukowskij ist alles Seele, und alles ist für die Seele.“30 Er warf ihm vor, dass er sich allzu sehr in ein ideales Arkadien zurückziehe. Schukowskij ist ein Meister der Stimmungsdichtung, des Nicht-Zu-Ende-Sprechens: „Was ist unsere irdische Sprache vor der göttlichen Natur // Wer könnte die Schöpfung in Worten nachschaffen? // Ist denn das Unaussprechbare dem Ausdruck untertan?“31

28 So Schukowskij selbst über die Funktion des Übersetzers in seinem Essay Über die

Fabel und die Fabeln Krylovs (O basne i basnjach Krylova, 1809). 29 N. Polevoj: Očerki russkoj literatury. Bd. 1. St. Peterburg 1839, S. 117. 30 R. Neuhäuser: The Romantic Age, S. 94. 31 Siehe sein Gedicht Das Unaussprechbare (Nevyrazimoe: “Čto naš jazyk zemnoj pred

divnoju prirodoj? // Kto mog sozdanie v slovach peresozdat’?” // Nevyrazimoe podvlastno 1’ vyražen’ju?”).

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Trauer um Vergangenes, ein sich Versenken in die Erinnerung als Quelle des Trostes, und vor allem die Stimmung der Wehmut und Melancholie charakterisieren seine Dichtung. Die Koordinaten seines dichterischen Universums lassen sich mit den Begriffen „heiliges Ehedem“ („svjatoe prežde“ in Pesnja, 1816), „magisches Dort“, in Einsamkeit („magičeskoe tam“, Uedinenie, 1813) und „ersehntes Land, in Frühlingsstimmung („kraj želannogo“, Vesennee čuvstvo, 1816) umschreiben. In Schukowskijs verinnerlichter Lyrik verbindet sich Nachempfinden vergangener Erlebnisse mit der Vorahnung einer jenseitigen, künftigen Realität. Die konkrete Gegenwart entzog sich seiner dichterischen Phantasie. Man kann zu Recht Schukowskij den bedeutendsten Vertreter des Karamsinschen Stils in der Dichtung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nennen. Als Puschkins erstes großes Poem Ruslan und Ludmila (1820) erschien, schenkte Schukowskij dem jungen Dichter sein litographiertes Porträt mit der Aufschrift: „Dem siegreichen Schüler von seinem besiegten Lehrer am feierlichen Tag der Vollendung des Ruslan und Ludmila.“32 Noch eine Anmerkung zu Schukowskijs Sprache ist angebracht. Trotz seiner persönlichen Bekanntschaft mit den jungen russischen „Stürmern und Drängern“ im Kreise Andrej Turgenjews hat Schukowskij nie die stilistischen Auswüchse des Kraftstils übernommen. Er pflegte stets einen harmonischen und musikalischen Stil, der Härte und Dissonanzen vermied. Damit geriet er in einen Gegensatz sowohl zu den Neoklassizisten wie auch zu den jungen Romantikern des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts. Die Literaturgeschichte identifiziert den Beginn der Romantik verschiedentlich mit der Publikation von Schukowskijs Übersetzung der Lenore als Ljudmila (1808), dem Erscheinen von Puschkins Poem Ruslan und Ludmila (1820) und der Publikation seines zweiten romantischen Poems Der Gefangene im Kaukasus, das zugleich mit Schukowskijs Übersetzung von Byrons Poem The Prisoner of Chillon im Jahre 1822 erschien. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass bereits in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende der Begriff „romantisch“ (russ. ursprünglich „romaničeskij“) in Russland verwendet wurde.33 Die erste russische Definition des Romantischen findet sich in der Zeitschrift Nördlicher Bote (Severnyj vestnik, 1805). Dort erschien die folgende Definition des Romantischen, die von einem ein anonymer Literaten stammt:

32 R. Neuhäuser: op. cit., S. 210. 33 Das Adjektiv „romaničeskij“ scheint erstmals von Karamsin 1791/92 in seinen Brie-

fen eines russischen Reisenden verwendet worden zu sein, allerdings im Sinne von „unnatürlich“, „übertrieben“ und „romanhaft“.

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„Im Hinblick auf die dichterische Handlung ist das Romantische [= romaničeskoe] eine verfeinerte Potenz, – und diese Verfeinerung benötigt nicht die Verbindung mit dem Wunderbaren. Ein Gegenstand wird romantisch, wenn er den Anschein des Wunderbaren gewinnt, ohne dabei an innerer Wahrheit zu verlieren.“34

Das heute übliche Adjektiv „romantičeskij“ erschien erstmals in der Erzählung Modest und Sofija von V. M. Prewoschtschikow (1810). 35 Schließlich sprach Wjasemskij 1817 in einer Einleitung zu den gesammelten Werken des Dramatikers Oserow erstmals von einem „sogenannten romantischen Genre („tak nazyvaemyj romantičeskij rod“) in der Literatur. Schon zwei Jahre früher war in der Zeitschrift Der Geist der Zeitschriften (Duch žurnalov) eine lange Diskussion von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur (1809-1811) erschienen, in denen bereits romantisch als Kennzeichen einer neuen literarischen Bewegung verwendet wurde. In derselben Zeitschrift wurde 1817 das literarische Erbe der Madame de Staël diskutiert. Der russische Leser erfuhr daraus, dass „die französische Autorin in ihrem Werk über Deutschland De l’Allemagne nur einmal das Wort romantisch verwendet hatte, dessen magische Kraft zum wunderwirkenden Talisman der Schlegels und Sismondis geworden ist“36 Die russische Kritik bewertete die neue literarische Bewegung allerdings eher noch negativ. Nichts destoweniger hatte damit das Zeitalter der Romantik endgültig Eingang in die russische Literatur gefunden. Die Romantik leitete in der Geschichte Europas, an der die russische Geschichte und Literatur von nun an voll integriert war, eine Entwicklung ein, die in der Folge die großen historischen Ereignisse auf politischem, philosophischem und gesellschaftlich-kulturellem Gebiet bis weit in das 20. Jh. hinein bestimmt hat. Drei Begriffe, Individualismus, Nationalismus und Idealismus, kennzeichnen sie. Schon Johann Gottfried Herder sprach von der Einheit von POESIE (= Selbstverwirklichung des Individuums), PHILOSOPHIE (= systemhafte Erfasssung alles Seienden durch die Ver-

34 R. Neuhäuser: op. cit., S. 94. „Romaničeskoe dlja stichotvorčeskogo dejstvija est'

utončennaja vozmožnost’; – a utončenie sie ne trebuet smešanija s čudesnym. – Romaničeskim delaetsja predmet, kogda priobretaet on vid čudesnogo, ne terjaja pri tom istiny.“ 35 In der Erzählung Modest und Sofia von V.M. Prevoščikov scheint die Wendung „romantičeskie sny“ (= romantische Träume) auf. Siehe dazu S.M. Laughlin: Romaničeskij-Romantičeskij-Romantizm. In: “Romantic” and its Cognates. The European History of a Word. Hg. H. Eichner. Toronto 1972. Auch R. Neuhäuser: O povijesti značenja književnog termina romaničeskij. In: Umjetnost riječi XIV, 4, Zagreb 1970. 36 Duch žurnalov, Nr. 27, 1815. Siehe auch R. Neuhäuser: The Romantic Age. S. 167.

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nunft), und GESCHICHTE (= die Selbstfindung der Nation) als einem heiligen Dreieck.37 Sehen wir es uns näher an. Nation und Geschichte. Erstmalig in der Geschichte Europas versuchte man durch Studium nationaler literarischer Traditionen in Volkslied, Märchen und Mythologie zu einem neuen Selbstgefühl der Nation als Sprachgemeinschaft zu kommen. Russland verstand sich dabei als nordisches Land und orientierte sich an den skandinavischen Sagas, an MacPhersons Ossianischen Liedern und den altrussischen Chroniken, wie dies Wassilij Nareschnyj in seinen Slawonischen Abenden tat. 38 Herder gab dem slawischen Nationalismus mit seinem berühmten Slawenkapitel einen mächtigen, weit ins 19. Jahrhundert hineinwirkenden Anstoß.39 Seine Beschreibung der Slawen als „friedliche Ackerbauern“, die ein „fröhliches musikalisches Leben“ liebten, „mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, das Raubens und Plünderns Feinde“ seien, trug viel zum Mythos der slawischen Seele bei. Herder prophezeite den Slawen eine große Zukunft. Das nationalbewusste Denken, als Slawophilie allgemein erst seit Mitte des 19. Jh. im öffentlichen Bewusstsein, fand schon am Beginn des Jahrhunderts Ausdruck in Polemiken zwischen den Anhängern des „Kosmopoliten“ Karamsin, dessen neuer Stil das Russische den modernen europäischen Sprachen angleichen wollte, und den Anhängern des Admiral Schischkow, des späteren Präsidenten der russischen Akademie der Wissenschaften, die sich in der literarischen Gesellschaft der Liebhaber der russischen Literatur (Beseda ljubitelej rossijskoj slovesnosti, 1811-1815) sammelten. Die „Altertümler“ („archaisty“, wie sie der sowjetische Literaturkritiker Tynjanow nannte) wollten so weit wie möglich die Lexik des Altkirchenslawischen und die Grundzüge des Lomonossowschen hohen Stils beibehalten. Einige jüngere Literaten versuchten hingegen, diese Prinzipien mit einer Aufgeschlossen-

37 J. G. Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. Brief 26, Riga 1793-97. 38 1785 erschien eine russische Übersetzung von Bishop Percy’s Northern Antiquities

(1770). MacPherson’s Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands (1760-63; 1773) wurde 1783 von A. Dmitriev ins Russische übertragen. 1792, 1803 unđ 1810 erschienen weitere Übersetzungen dieser überaus populären Sammlung! 1800 wurde in Moskau das altrussische Igorlied veröffentlicht. Versuche, eine slawische Mythologie zusammenzustellen, die die griechisch-römische Mythologie ersetzen könnte, reichen bis in die sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts zurück (Lomonosov, Popov, Čulkov). Vasilij Levžin (1746-1826) gab eine Sammlung russischer Märchen heraus (1780-83). Zwischen 1804 und 1815 erschienen mehrere Versuche einer slawischen Mythologie von A. Kaisarov, G. Glinka und P. Stroev. 39 J. G. Herder: Ideen zur Geschichte der Menschheit, III, 16-IV: Slavische Völker. Die russische Übersetzung erschien in der Zeitschrift Genij vremen 47, 1807.

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heit für die romantische Ästhetik zu verbinden. Als Pawel Katenin zu diesem Zweck 1816 seine neue gegen Schukowskijs sentimental-romantische Version Ljudmila (1808) gerichtete Übersetzung von Bürgers Ballade Lenore als Olga betitelt veröffentlichte, da entzündete er damit eine Polemik zwischen den Anhängern der im Vergleich „geglätteten“ und „verschönten“ Übersetzung Schukowskijs und den Anhängern eines russischen Kraftstils. Der Dichter Wilhelm Küchelbecker und der dramatische Autor Alexander Gribojedow unterstützten Katenins Bemühen um eine national-russische, an der Volkssprache orientierte Literatursprache. Ebenso wie die Sprache sollte auch der Inhalt der Literatur russisch sein. Küchelbecker nannte „den Glauben der Vorväter, die vaterländischen Sitten, die Chroniken, die Lieder und volkstümlichen Sagen“ („vera praotcov, nravy otečestvennye, letopisi, pesni i skazanija narodnye“) als Quelle für die Literatur.40 Die von Montesquieu kommende und von Mme de Staël verbreitete Ansicht, dass jedes Volk aufgrund der geographischen Gegebenheiten und seiner völkischen Tradition eine individuelle Ausprägung seiner Literatur anstreben müsse, wurde von Puschkin präzise formuliert: „Das Klima, die Herrschaftsform, der Glaube geben einem jeden Volk eine besondere Physiognomie, die mehr oder weniger im Spiegel der Poesie reflektiert wird. Es gibt eine Form der Gedanken und Gefühle, eine Unzahl von Gewohnheiten, Bräuchen und Traditionen, die ausschließlich einem bestimmten Volk gehören.“ 41

Idealismus und Ästhetik. Mit der fortschreitenden Säkularisierung verlor der Dichter zusehends die re-ligio (= Rückbindung) an ein transzendentes Zentrum, – das individuelle Ich wurde wie in Fichtes Philosophie verabsolutiert. Anstelle des Gottesbegriffes trat das Ideal in seiner dreifachen Ausformung des Schönen, Wahren und Guten. Mit diesen höchsten ästhetischen und ethischen Normen kamen jedoch zugleich ihre Gegenbegriffe, das Hässliche, die Lüge und das Böse, zusehends in den Blick, wie etwa in den Erzählungen Gogols. Der Dichter fand den Zugang zum Ideal vor allem über das Schöne. Er wurde zum ästhetischen Menschen, wie ihn Kierkegaard nannte, der sich und die Welt nur durch das Prisma des ästhetischen Ideals erfasste. Er wurde sich selbst zum ästhetischen Objekt. Darüber später mehr.

40 V. K. Kjuchel’beker: О napravlenii našej poezii, osobenno liričeskoj, v poslednee

desjatiletie. In: Mnemozina II, 1824. 41 „Klimat, obraz pravlenija, vera dajut kažđomu narodu osobennuju fizionomiju,

kotoraja bolee ili menee otražaetsja v zerkale poezii. Est’ obraz myslej i čuvstvovanij, est’ t’ma obyčaev, poverij i privyček, prinađležaščich isključitel’no kakomu-nibud’ narodu.“ A. S. Puškin: O narodnosti v literature. (1825) In: Sobranie sočinenij Bd. VI, Moskau 1962.

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Die Poesie und der Dichter. Das Primat des Ästhetischen befreite die Dichtung von konventionellen Gegebenheiten: „Die Poesie ist höher als die Sittlichkeit oder ist zumindest eine ganz andere Angelegenheit“ formulierte Puschkin.42 Die Dichter als „Interpreten der Geheimnisse der Götter“ („iz’’jasniteli tainstv božestv“, so Andrej Turgenjew, 1801) verstanden sich als autonome Gesetzgeber im Reiche der Kunst, – als Genies im Sinne des romantischen Geniekultes.43 Küchelbecker sagte vom Dichter: „Der Dichter lehrt die Völker und Epochen und errät die Geheimnisse der Vorsehung, er ist wie ein Halbgott ohne Schwächen, ohne Laster, ohne alles Irdische.“ 44

Professor Kroneberg lehrte an der Universität in Charkov: „Das Genie ist nicht nur Form, sondern ein Teil des schöpferischen Geistes der Natur und indem es in Harmonie mit ihren Gesetzen handelt, besitzt es selbst seine Autonomie in der Kunst.“45

Der Begriff des Alles verstehenden und umfassenden Genies war notwendigerweise mit dem gegensätzlichen Begriff des Wahns und Wahnsinnes verbunden, der sich im Leben mancher Romantiker manifestierte. Die Identität von Genie und Welt führte zur Gleichsetzung von genialem Leben und Literatur. Das Genie lebte literarisch, bzw. literarisierte das Leben. Batjuschkow formulierte diesen Gedanken einprägsam: „Lebe wie du schreibst, und schreibe wie du lebst.“46 In diesem Sinne konnte ein Kritiker der dreißiger Jahre vom Werk des frühromantischen Dichters und Husaren Denis Dawydow (1784-1839) sagen, „Das ganze Leben Dawydows ist Poesie, … die poetische Seele findet in allem ihre Poesie.“ 47

42 „Poezija vyše nravstvennosti ili po krajnej mere sovsem inoe delo“. A. S. Puškin: Zametki

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na poljach stat’i P. A. Vjazemskogo "O žizni i sočinenijach V. A. Ozerova". (1817) In: A. S. Puškin: O literature, Moskau 1962. An. I. Turgenev: O poezii i о zloupotreblenijach onoj. (Rede aus dem Jahr 1801). In: Žurnal Ministerstvo narodnogo prosveščenija XLIV, 3, 1913, S. 8. „Poet učit vremena i narody i razgadyvaet tajny providenija, on točno est’ polubog bez slabostej, bez porokov, bez vsego zemnogo.“ V.K. Kjuchel’beker, Otryvok iz putešestvili po poludennoj Francii. In: Mnemozina IV, 1825. „Genij, ne tol’ko obraz, no čast’ tvorčeskogo ducha prirody, i dejstvuja soobrazno ее zakonam, imeet v iskusstve svoju avtonomiju.“ А. I. Kroneberg: Mysli ob izjaščnych iskusstvach. In: Moskovskij telegraf III, 1827. „Živi, kаk pišeš’, i piši, kаk živeš’.“ K.N. Batjuškov: Nešto о poete i poezii. In: Batjuškov: Opyty v stichach i proze, St.Petersburg 1817. „vsja žizn' Davydova est' poezija,... poetičeskaja duša nachodit vo vsem poeziju...“ Sovremennaja bibliografija. Stichotvorenija D.-a Davydova (Rezension). In: Moskovskij telegraf IV, 1832.

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Ästhetik und Theorie. Schlüsseltexte der frühen Romantik wurden bereits in den achtziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts übersetzt. Dazu gehören Rousseaus Confessions (1787), sein sentimental-romantischer Roman Nouvelle Heloise (1769, 1782), der Erziehungsroman Emile und der Discours Du contrat social. Sie waren in Russland die verbreitetsten Werke des Autors. Die junge Generation zog seine Confessions allen übrigen Texten vor!48 Shakespeares Julius Caesar (übersetzt von Karamsin 1787), Schillers Die Räuber (1793), Goethes Die Leiden des jungen Werther (1781, 2 1794, 31796, 41816) sind weitere Werke, die bereits an der Schwelle der Romantik übersetzt wurden! Diese Titel und Daten zeigen, dass das Interesse an frühromantischer Literatur in Russland schon in den achtziger Jahren erwachte und in den neunziger Jahren einem ersten Höhepunkt zustrebte. Wesentlich für das Entstehen der Romantik in ganz Europa waren jedoch die romantische Ästhetik und Philosophie in Deutschland. Immanuel Kant, der erste bedeutende Vertreter einer idealistischen Ästhetik, legte in seiner Lehre vom Schönen und Erhabenen dafür die Grundlage. Darüber wurden die russischen Leser bereits 1804 in einem Buch von Ja. Ruban informiert, in dem Kants Ästhetik in russischer Übersetzung vorgelegt wurde.49 Schillers Essays zu Fragen der Ästhetik wurden 1810 und 1812 übersetzt. Von zentralem Interesse sind aber zwei Namen: Die Brüder Schlegel auf dem Gebiet der Literatur und Ästhetik und Schelling als der Philosoph der Romantik. August Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1809-1811) wurden 1815 einer kritischen Betrachtung unterzogen, wobei der Rezensent auch ausführliche Textzitate gab. Schelling fand einen beredten Fürsprecher in Dr. med. D. M. Vellanskij, ab 1805 Professor in St. Petersburg, der bei Schelling in Jena und Würzburg studiert hatte.50 Von ihm erschienen zwischen 1804 und 1805 zwölf (!) naturkundliche und naturphilosophische Werke, in denen er Schellings Identitätsphilosophie, sein romantisches Verständnis einer organischen, letztlich vergeistigten Natur vertrat. An der Universität Charkov war es Professor Johann Baptist Schaad, der zwischen 1804 und 1816 tätig war und seine Hörer mit Fichtes Philosophie

48 Vgl. Ju.M. Lotman: Russo i ruskaja kul'tura XVIII v. In: Epocha prosveščenija. Le-

ningrad 1967. 49 Ja. Ruban: Kantovo osnovanie dlja Metafiziki nravov, Nikolaev 1803 (Übersetzung

aus dem Deutschen). Eine Studie über Kants Ästhetik erschien 1804 in St. Petersburg. Auszüge aus seinen Schriften zur Ästhetik erschienen in Ulej 14, III, 1812. 50 Zu Schlegel siehe in Duch žurnalov III-V, VII (1815). D. M. Vellanskij (1774-1847) veröffentlichte Proluzija k medicine kаk osnovatel’noj nauke, St.Petersburg. 1805; Biologičeskoe issledovanie prirody v tvorjaščem i tvorimom ее kačestve, soderžaščee osnovnye načertanija vseobščej Fiziologii, St.Petersburg 1812, und weitere Werke!

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bekannt machte. Schon bevor er nach Russland kam, hatte er in Jena gelehrt und Traktate über Fichtes Philosophie geschrieben. In St. Petersburg wirkte Alexander Galitsch (1783-1848), der zur Zeit der napoleonischen Kriege in Deutschland studiert hatte und nach seiner Rückkehr Lehrer am Lyceum in Zarskoe Selo wurde, wo Puschkin und Küchelbecker zu seinen Schülern zählten! Ab 1817 war er an der St. Petersburger Universität tätig, von der er aber 1822 als „Freidenker“ vertrieben wurde. Galitsch lehrte Ästhetik und Philosophie nach dem Vorbild der deutschen idealistischen Denker. Mit seinem Versuch einer Wissenschaft vom Schönen (Opyt nauki izjaščnogo, 1825) schuf er ein Lehrbuch romantischer Ästhetik. In seiner Geschichte der philosophischen Systeme (Istorija filosofskich sistem, 1818-1819) erwähnte er als erster in Russland die Schriften Hegels! In Moskau lehrte Michail Pawlow (1793-1840), der zwei Jahre lang in Deutschland studiert hatte. Nach seiner Rückkehr 1820 befasste er sich mit Naturwissenschaften. In seinen Büchern, die in den zwanziger und dreißiger Jahren erschienen, vertrat auch er die Ansichten Schellings und des deutschen Idealismus. In der Geschichte der Ästhetik in Russland spielt der Schriftsteller Wladimir Odojewskij (1804-1869), ein romantisches Universalgenie, das auf literarischem, musikalischem und naturwissenschaftlichem Gebiet hochbegabt war, eine bedeutende Rolle. Odojewskij ist zugleich der russische Autor, der in höchstem Maße philosophische und ästhetische Theorien in seine literarischen Werke einbezog. Er gründete und leitete den Kreis der Liebhaber der Weisheit (= Ljubomudry) und gab zusammen mit Küchelbecker die Zeitschrift Mnemosyne heraus. Seine ästhetischen Ansichten erschienen dort, wie auch in dem philosophischen Roman Russsische Nächte und seinem bislang unveröffentlicht gebliebenen Buch Versuch einer Theorie der schönen Künste und ihrer besonderen Anwendung auf die Musik (Opyt teorii izjaščnych iskusstv s osobennym primeneniem onoj k muzyke).51 Für Odoevskij ist das Gebiet der darstellenden Kunst identisch mit dem Reich der Phantasie, in dem „der Geist danach strebt sich zu vergegenständlichen,… das Unbestimmte wird bestimmt, das Unendlich wird endlich.“ („duch stremitsja sdelat’ sebja predmetom,… neopredelennoe stanovitsja opredelennym, beskonečnoe konečnym.“) Der umgekehrte Vorgang, „der Gegenstand erhebt sich zum Geist“ („predmet vozvyšaetsja do ducha“), geschehe in der Musik. Die Poesie verbindet nach Odojewskij beides: Hier sei der Geist identisch mit dem Gegenständlichen, das Endliche liege im Wettstreit mit dem Unendlichen, die Zeit würde zum Raum, der Raum zur Zeit

51 Auszüge erschienen in Z. A. Kamenskij (Hg): Russkie estetičeskie traktaty pervoj treti

XIX veka, Bd. 2, Moskau 1974, S. 156-168.

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erweitert. Odojewskij schließt weiter, dass die Poesie der Religion entspräche, die Musik der Philosophie. Die geistigen Fähigkeiten eines Volkes ließen sich am Grad der ästhetischen Vollendung seiner Kunst messen. Letztes Ziel der Kunst sei die schöpferische Selbstverwirklichung des Einzelnen, seine Annäherung an das göttliche Ideal. Zu den frühen Vertretern einer romantischen Ästhetik in Russland gehört auch der schon erwähnte Übersetzer und Professor Iwan Kroneberg (17881838), der von 1800 bis 1806 in Halle und Jena studiert hatte und ab 1819 an der Universität Charkov tätig war. Er war einer der ersten russischen Gelehrten, die aktiv die Philosophie und Ästhetik der deutschen Romantik in Russland verbreiteten. Kronebergs Aphorismen (1825) vereinigten originale und übersetzte Texte, die unter anderem Titel mehrere Auflagen erlebten: Amalthea, 1825-26; Broschüren/Brošjurki, 1830; Auszüge/Otryvki, 1835. In der Zeitschrift Moskauer Telegraph (1827) veröffentlichte Kroneberg ebenfalls Aphorismen zur romantischen Ästhetik. Typische Beispiele, die Kronebergs Ästhetik zeigen, sind folgende Aphorismen: „10. „Die Poesie besitzt kein äußeres Ziel. Jegliches poetisches Schaffen ist ein notwendiges Werk der Natur, und daher ein organisches Ganzes, Leben.“ (Poezija ne imeet nikakoj vnešnej celi. Vsjakoe piitičeskoe tvorenie est’ neobchodimoe proizvedenie prirody, i posemu i organičeskoe celoe, žizn’.) 11. „Die Poesie selbst ist an sich vollkommen und jedes ihrer Werke ist etwas Ganzheitliches, das Seele und Körper besitzt, ein begrenztes und unendliches Wesen, ein lebendiges und lebenschaffendes Wesen... es ist eine selbständige Welt der Ideen und Anschauungen.“ (Poezija sama po sebe soveršenna i každoe proizvedenie ее est’ nečto celoe, imejuščee dušu i telo, suščestvo ograničennoe i beskonečnoe, živoe i životvorjaščee... est’ otdel'nyj organičeskij mir idej i sozercanij.)

Zu den einflußreichsten Theoretikern der russischen Romantik gehört der Journalist und Schriftsteller Orest Somow (1793-1833), zugleich einer der ersten professionellen Journalisten Russlands, der von seinem schriftstellerischem Einkommen leben musste. Somow hatte in Charkow studiert und stand den Dekabristen nahe. Sein Ruhm beruht auf dem dreiteiligen Traktat Über die romantische Poesie (O romantičeskoj poezii, 1823). Für Somow sind der Nationalcharakter dichterischer Texte, ihr Lokalkolorit, die Wurzeln in der nationalen Folklore, in Überlieferung und Mythologie, wesentliche Kennzeichen der romantischen Dichtung. In seinen drei Essays gab er eingehende Charakteristiken englischer romantischer Dichter und einen Überblick über die deutsche Dichtung, der sich an Mme de Staëls Buch De 1'AIlemagne orientierte. Nach Somow ist „die ganze sichtbare und geträumte Welt das Eigentum des Dichters… in dem Geheimnis seiner Inspiration schaut er mit gedanklichem Blick die unsichtbare und göttliche Welt.“

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(„ves’ mir vidimyj i mečtatel’nyj [est’] sobstvennost’ poeta... v tainstvennom svoem vdochnovenii javljaet myslennym vzorom svet nezrimyj i divnyj.“) Russland hat, wie deutlich zu erkennen ist, in den drei Jahrzehnten von den 80er Jahren des 18. Jh. bis zum Beginn der 20er Jahre des 19. Jh. den Weg nach Europa nicht nur politisch von den liberalen Reformen der Zarin Katharina bis zu dem Sieg über Napoleon, der die russische Armee bis Paris führte, sondern auch kulturell und literarisch gegangen. Die russische Literatur zählt seither zu den großen europäischen Literaturen. Allerdings wurde auch deutlich, dass sich schon am Beginn des 19. Jh. tief sitzende nationale Vorbehalte gegen die Integration in den europäischen „mainstream“ richteten. Dies ist noch heute spürbar!

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2.

Alexander Puschkins Tragödie Boris Godunow

Alexander Puschkin (1799-1837), Russlands größter Dichter, beschäftigte sich bereits als Schüler mit dramatischen Versuchen. Im Lyzeum von Zarskoje Selo entstanden zwei Komödien, die allerdings nicht erhalten sind. Im Jahre 1821 schrieb Puschkin an einer Komödie mit ernstem Hintergrund, in der er die sensible Problematik der Leibeigenschaft berührte, von der aber nur Bruchstücke erhalten sind. Noch im selben Jahr begann er sich unter dem Einfluss revolutionär gesinnter Freunde erstmals mit einer Tragödie aus der ältesten Geschichte Russlands zu beschäftigen. Im Mittelpunkt dieser Tragödie stand die Figur des Wadim, der die Freiheiten des alten Nowgorod gegenüber dem gewalttätigen Rjurik verteidigte. Wadim erscheint als starke Führerpersönlichkeit. Er unterliegt jedoch und begeht Selbstmord. Die Tragödie blieb unvollendet.52 Puschkin wurde 1820 in den Süden Russlands strafversetzt. Dort begann er sich intensiv mit englischer Sprache und Literatur zu befassen. Neben Byron war es vor allem Shakespeare, für den er sich interessierte. So schrieb er im Frühjahr 1824, dass er „Shakespeare und die Bibel“ lese: „Der Heilige Geist spricht mein Gemüt mitunter an, doch ich ziehe Goethe und Shakespeare vor.“53 Im Juli wurde Puschkin dann nach Michajlowskoje, dem Gut seines Vaters in der Nähe von Pskow, verbannt. Dort entstanden im Herbst des Jahres die ersten Entwürfe zu der Tragödie Boris Godunow. Puschkin hatte vor, ein Drama in vier Akten zu schreiben. Erst im Laufe der Arbeit ließ er diese Einteilung fallen, so dass das Drama in der Erstfassung fünfundzwanzig Szenen umfasst, die vor der Drucklegung auf dreiundzwanzig Szenen reduziert wurden. Bereits im November 1825, ein Monat vor dem Dekabristenaufstand, lag das Werk in Reinschrift vor. Der Titel war im Stil eines Chronikberichts gehalten und lautete Komödie über den Zaren Boris und Grischka Otrepjew. Inzwischen hatte sich der neue Zar Nikolaj I. zum persönlichen Zensor Puschkins aufgeschwungen. So reichte der Dichter ein Exemplar seines Werkes beim Chef der Geheimpolizei Graf Benckendorff ein. Bereits im Dezember des folgenden Jahres kam die Antwort. Sie beruhte auf einem Gutachten des Zensors, der „unschickliche Ausdrücke“ bemängelte, den mangelhaften Zusammenhang der Szenen kritisierte und feststellte, dass man Mönche nicht so darstellen dürfe, wie es Puschkin in einer Szene 52 Puschkin dürfte unter dem Einfluss des Dekabristen V. F. Raevskij gestanden haben.

Die Gestalt des Vadim wurde bereits 1789 von Knjažnin in einer Tragödie verarbeitet. In der Literatur der Romantik diente er als Symbolfigur für die Freiheiten des alten Russland. 53 A. S. Puškin: Brief an Vjazemskij vom April - Mai 1824. In: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 13, S. 92.

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tat, die an der litauischen Grenze spielt. Der Zensor empfahl den Druck unter Auslassung gewisser Stellen, hielt aber eine Aufführung unter anderem auch deshalb nicht für möglich, weil „Patriarchen und Mönche bei uns auf der Bühne noch nie zu sehen waren“.54 Der Zar riet darauf Puschkin, das Drama zu einem historischen Roman in der Manier Walter Scotts umzuarbeiten. Puschkin erklärte sich dazu außerstande, so dass seine Tragödie de facto unter Verbot stand. Dennoch erschien Anfang 1827 die berühmte Szene im Tschudowo Kloster im Druck.55 Die Reaktion war mäßig, man stieß sich an Stil und Sprache. Zwei Jahre später bemühte sich Puschkin neuerlich um Druckerlaubnis und reichte zu diesem Zweck ein etwas umgearbeitetes Manuskript ein, das diesmal auch approbiert wurde. Boris Godunow erschien im Januar 1831.56 Nach weiteren zwei Jahren wurde eine Aufführung von ausgewählten Szenen aus der Tragödie vom Zensor verboten. Im Jahre 1870 (!) kam endlich eine gekürzte Fassung, die aus sechzehn Szenen bestand, zur Aufführung. Der vollständige Text konnte erstmals nach der Revolution von 1917 auf die Bühne kommen. Zum historischen Hintergrund Die historischen Ereignisse aus der Sicht der heutigen Geschichtswissenschaft lassen sich wie folgt resümieren: Zar Iwan der Grausame stirbt 1584. Im Machtkampf um die Nachfolge sind neben führenden Bojarengeschlechtern auch der Schwager Iwans, der aus dem neuen Dienstadel stammende Boris Godunow beteiligt. Er setzt sich durch und regiert Russland als Vormund des schwachsinnigen Sohnes Iwans, Fjodor Iwanowitsch, der neuer Zar wird. Im Jahre 1589 erhebt Godunow aus einem Dreiervorschlag der Moskauer Kirchensynode den Metropoliten Job zum ersten Patriarchen in der Geschichte Russlands. Der jüngste Sohn und Thronfolger Iwans, der neunjährige Dimitrij (= Demetrius), kommt 1591 auf rätselhafte, bis heute ungeklärte Weise, ums Leben. Der offizielle Bericht spricht von einem Un-

54 Bereits am 10. September 1826 kam es zu einer Lesung aus dem Drama im Kreis be-

freundeter Schriftsteller. Weitere Lesungen, so im Oktober desselben Jahres bei Venevitinov, folgten. Im Laufe der Jahre 1827-1828 las Puškin mehrmals aus seinem Drama vor. Das Werk fand viel Beifall bei diesen Lesungen. 55 Moskovskij vestnik Nr. 1, 1827. Weitere Auszüge folgten, so im Almanach Severnye cvety na 1828 god. 56 Das Manuskript, das Puškin an Pletnev übergab und das dieser am 20. Juli 1829 in der III. Abteilung der kaiserlichen Hofkanzlei einreichte, ist nicht erhalten geblieben. Es beinhaltete die letzten Korrekturen und Änderungen Puškins für die Druckfassung. Ein Jahr vorher war Bulgarins historischer Roman zu demselben Thema des Pseudodemetrius erschienen, der sich auf PuškinsTragödie stützt.

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fall anlässlich eines epileptischen Anfalls. Wieweit Boris Godunow mit dem Tod des Dimitrij zu tun hat, ist unklar. Zar Fjodor Iwanowitsch stirbt 1598. Am 17. Februar dieses Jahres wird Boris Godunow in einer Landesversammlung unter dem Vorsitz des Patriarchen zum Zaren gewählt. Im Laufe seiner Herrschaft setzt Boris Godunow Maßnahmen durch, welche die Bauern enger an die Grundherren binden. Seine Maßnahmen fördern den kleinen Grundbesitzer, werden aber von den Bojaren ebenso wie von den Bauern als ungerecht empfunden. In der Folge kommt es zu Bauernunruhen, die von Godunow blutig unterdrückt werden. Schwere Hungersnöte in den Jahren 1601-1603 tragen zusätzlich zu den sozialen Spannungen bei. Im Jahre 1604 tritt in Polen ein Pseudodemetrius (russ. Lžedimitrij) auf, dessen Herkunft bis heute nicht geklärt ist, der sich als Iwans verstorbener Sohn Dimitrij ausgibt. Er wird vom polnischen Adel unterstützt und von König Sigismund III. in Krakau empfangen. Im Oktober des Jahres zieht er mit einem Heer nach Russland. Dies löst eine elementare Volksbewegung aus. In kurzer Zeit erobert der Prätendent eine Reihe von Städten in Westrussland. Im Januar 1605 erleidet er allerdings eine vernichtende Niederlage, findet aber weiterhin beim Volk Unterstützung. Boris Godunow stirbt im April. Im Mai läuft das Moskauer Heer zu Dimitrij über. Am 7. Juni zieht er als Sieger in Moskau ein und wird am 21. Juli zum Zaren gekrönt. Nach der Eheschließung mit Maryna Mniszek wird Dimitrij 1606 in einer antipolnischen Revolte gestürzt und kurz darauf ermordet. Die von Puschkin in der Tragödie auf der Bühne gezeigten Ereignisse behandeln die Zeitspanne vom 17. Februar 1598 bis zum 7. Juni 1605, umfassen demnach eine Periode von mehr als sieben Jahren. Puschkin und Karamsins Geschichte des russischen Staates. Im September 1825 schrieb Puschkin an seinen Freund Wjasemskij: „Du willst einen Plan? Nimm das Ende des 10. Bandes und den ganzen 11. Band [der Geschichte Karamsins], dann hast Du auch schon den Plan.“

Diese beiden Bände waren im März 1824 erschienen. Puschkin übernahm aus ihnen das historische Material in nahezu unveränderter Form. Handlungsablauf, die Reihenfolge der Episoden, zahlreiche Details und sogar einzelne Formulierungen entsprechen dem Text Karamsins. Puschkin fand bei Karamsin nicht nur eine ihm verlässlich scheinende geschichtliche Quelle, sondern zugleich auch eine literarisch aufbereitete „Geschichte“, in der Handlung, Figurenkonfiguration, Situationen und moralische Wertung vorgegeben waren. Karamsins Sicht entsprach freilich dem sentimentalen Literaturverständnis. Wie auch im sentimentalen Roman muss Unrecht letzten Endes seine Strafe finden. Für Karamsin besteht kein Zweifel, dass Godunow

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den Thronfolger Dimitrij ermorden ließ und damit eine Blutschuld auf sich lud, die seine Bestrafung erfordert. Ebenso wenig Zweifel gibt es bei ihm darüber, dass der falsche Dimitrij mit dem entlaufenen Mönch Grigorij Otrepjew identisch ist, der als Werkzeug der Geschichte, bzw. der Vorsehung, die Rache am Mörder vollzieht. Da Boris den wahren Erben beseitigen ließ, erfordert es die poetische Gerechtigkeit, dass auch sein Sohn umkommt. Karamsin betont die Schuldgefühle Godunows noch stärker, als dies in Puschkins Drama der Fall ist. Er würdigt aber auch die politischen Fähigkeiten des Zaren und seine Reformversuche, die ihn dem Volk entfremdeten. Einen dramatisch wirkungsvollen Widerspruch sieht er in der Mischung von Frömmigkeit und Grausamkeit im historischen Godunow, der einerseits stets in der Heiligen Schrift nach Argumenten zur Rechtfertigung seiner Tat sucht, andererseits als Helfershelfer Iwans des Grausamen an dessen Taten teilgenommen hat und selbst vor der Verhängung grausamer Strafen und einem Mord nicht zurückschreckt. Puschkin übernahm zwar Karamsins Geschichtsdarstellung, veränderte aber die Akzente und einige Details. So trifft der historische Basmanow, der Heerführer Godunows, selbst die Entscheidung zu Dimitrij überzulaufen. Bei Puschkin wird er erst von Gawrila Puschkin davon überzeugt, dass es keinen Sinn mehr hat, sich der Volksmeinung entgegenzustellen, die bereits Dimitrij unterstützt. Gawrila Puschkin, ein entfernter Verwandter des Autors, wird bei Karamsin nur kurz als Abgesandter des Prätendenten erwähnt. Puschkin hat seine Rolle stark ausgeweitet. Bei Karamsin ist das Volk traditionell monarchisch gesinnt und Boris lange Zeit treu. Dem Pseudodemetrius folgt es erst, als es von dessen Echtheit überzeugt ist. Bei Puschkin steht das Volk den Vorgängen rund um den Zarenthron eher gleichgültig gegenüber. So sagt einer: „Worüber weint man dort?“ Ein anderer: „Wer kann das wissen? Die Bojaren wissen’s“. Das Volk lässt sich von den Bojaren manipulieren und weint auf ein Zeichen hin. Einer aus dem Volk: „Alles weint – // Komm, Freund, so tun wir's auch.“ Ein anderer: „Hab keine Tränen“.57 Sogar dem Zensor fiel hier der Unterschied zwischen Karamsin und Puschkins Darstellung auf, und er kritisierte die mangelnde Begeisterung des Volkes für Boris bei dessen Krönung im Drama. Karamsins Auffassung vom Volk als treuem Diener des rechtmäßigen Herrschers erfordert es, dass Godunow als Mörder und damit als unrechtmäßiger Herr Russlands dargestellt wird. Damit stehen Fragen, die spätere Geschichtsschreiber und Dramatiker bewegten, wie etwa „Ist Dimitrij tatsäch-

57 Benutzt wird die Übersetzung des Boris Godunow von H. v. Heiseler, Stuttgart 1975

(= Reclam UB 2212). Die Nummerierung der Szenen in der Reclamausgabe entspricht ab Szene 13 nicht der Letztfassung Puschkins, da sie eine vom Autor gestrichene Szene (Szene 13) enthält. Für den russischen Text siehe Band 7 (S. 1-98) der vollständigen Werkausgabe Polnoe sobranie sočinenij von 1937-59.

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lich ermordet worden?“, „Wer waren die Mörder?“, „War Godunow Mitwisser oder gar Anstifter?“, „Wer war der Prätendent?“, „Glaubte der Prätendent an seine Identität mit dem Sohn Iwans IV., oder war er sich des Betruges bewusst?“, nicht zur Debatte. Bei Karamsin fehlen überdies der Chronist Pimen, der entfernte Vorfahre Puschkins Afanassij Puschkin, der Onkel des Gawrila Puschkin, der junge Fürst Kurbskij, der sich aus Idealismus dem Prätendenten anschließt, und der Gottesnarr Nikolka. Puschkin und Shakespeare Puschkin schrieb in seinem Entwurf eines Vorworts für Boris Godunow, dem russischen Theater seien „die volkstümlichen Gesetze des Dramas Shakespeares und nicht die Hofmanieren Racines“ angemessen. Und er gestand: „Ich entwarf meine Tragödie nach dem System unseres Vaters Shakespeare.“ In Shakespeare sah Puschkin den Schöpfer einer romantischen und volkstümlichen Tragödie.58 Was er damit meinte, geht aus einem Briefentwurf an Rajewskij hervor: „Die ausführliche Darstellung der Epoche und historischer Personen ohne Bühneneffekte oder romantischem Pathos.“ An die Stelle der üblichen Liebesintrige setzte Puschkin den Ehrgeiz in der Funktion einer handlungsmotivierenden Leidenschaft ein. Dazu kommt wie bei Shakespeare die „freie und breite Darstellung der Figuren, die achtlose und einfache Zusammenstellung der Typen.“59 Schon Puschkin selbst hat auf einzelne weitgehende Ähnlichkeiten zwischen seinem Drama und Werken Shakespeares hingewiesen, wie etwa auf die sehr ähnlichen Naturelle des Pseudodemetrius und Heinrichs IV. Polewoj verwies auf Ähnlichkeiten mit Shakespeares Richard II, der wie Puschkins Held von einem Rivalen gestürzt wird.60 Die Literaturgeschichte hat weitere Beispiele der Beeinflussung Puschkins durch Texte Shakespeares festgestellt. Godunows Monolog in der siebten Szene („Die höchste Macht errang ich...“) hat sein Vorbild in Worten, die Macbeth nach der Beseitigung Ban-

58 Puškin, op. cit., Bd. 11, S. 178 f. Vgl. auch den Brief an Vjazemskij vom 13. Septem-

ber 1825 in Bd. 13, S. 225-227. 59 Op. cit., Bd. 13, S. 198. Brief an Raevskij aus der zweiten Julihälfte 1825. Vgl. dazu

A. W. Schlegel, der in der siebenundzwanzigsten seiner Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808) sagt: „Shakespeare beobachtet im Gebrauch der Prosa und der Verse sehr feine Unterscheidungen nach dem Stande, noch mehr aber nach dem Charakter und der Gemütsstimmung der Personen.“ Schlegel spricht hier auch von der „Mischung der dialogischen und lyrischen Bestandteile“ bei Shakespeare. A. W. Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, hg. E. Lohner, 7 Bde, Stuttgart 19621974, Bd. 6, S. 140f., S. 113. 60 N. A. Polevoj: Očerki russkoj literatury, 2 Bde., Petersburg 1839, Bd. 1, S. 204f.

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quos spricht. Boris Godunow ist auch mit König Claudius in Hamlet verglichen worden. Der Monolog Basmanows in der 21. Szene entspricht dem Monolog Salsburys in König Johann. Für die Liebesszene zwischen Dimitrij und Maryna könnten ähnliche Szenen zwischen Richard III. und Lady Anne, bzw. Heinrich V. und Katherina, vorbildhaft gewirkt haben. Puschkins Darstellung trägt allerdings parodistische Züge, geht es doch weniger um Liebe als um Marynas und Dimitrijs ehrgeizige Zukunftspläne. Auch die komischen Szenen, wie etwa die 19. Szene, haben ihr Vorbild bei Shakespeare. Zugleich aber bestehen ganz wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Autoren. Puschkin lehnte sich wohl stark an Shakespeares Chroniken an, vermied jedoch die freie Handhabung des geschichtlichen Materials, die wir bei Shakespeare finden. Shakespeares Dramen sind ja gerade deshalb dramatisch und theatergerecht, weil der Autor nicht davor zurückscheut, das geschichtliche Material den dramaturgischen Notwendigkeiten unterzuordnen. Puschkin vermied jeden Anschein einer Manipulation der Geschichte. Daraus ergibt sich die Schwäche seiner Tragödie, – die mangelnde Dramatik in der Abfolge der Ereignisse. Auch die Rolle des starken, geschichtsbestimmenden Individuums ist bei Puschkin reduziert. Dies erwächst aus seinem Geschichtsverständnis, läuft aber ebenfalls den Konventionen dramatischer Darstellung zuwider. Dies stellte schon der Zensor 1826 fest: „In englischen und deutschen Dramen“ gebe es „immer eine Kontinuität und eine Pointe“; Puschkins Stück dagegen bestehe nur aus „Bruchstücken von Karamsin, die in Szenen und Gespräche aufgeteilt sind.“61 Wir finden bei Puschkin im Gegensatz zu Shakespeare keine titanischen Leidenschaften, keinen rhetorisch geschmückten und metaphernreichen Stil. Die Ebene des Übernatürlichen ist auf das historisch Glaubwürdige reduziert. Puschkins Lakonismus wird deutlich, wenn man etwa die Todesszene Boris Godunows (148 Zeilen) mit der Heinrichs IV. (362 Zeilen) vergleicht. Im Gegensatz zu Shakespeare fehlen bei Puschkin weithin retardierende Momente und überraschende dramatische Entwicklungen. In Sprache und Ausdrucksweise bewegen sich die Figuren bei Shakespeare stets auf einem gewissen stilistischen und rhetorischen Niveau, das nicht unbedingt der Lebenswirklichkeit entspricht. Bei Puschkin finden wir demgegenüber eine größere Annäherung an das Leben. Er erweist sich so als kritischer Leser Shakespeares, der sich zwar ausgiebig, aber doch nur dort an Shakespeare orientierte, wo es für ihn begründet schien.62

61 Zit. nach B. P. Gorodeckij: Dramaturgija Puškina. Moskau-Leningrad 1953, S. 206. 62 Zu den Einflüssen zählen auch Schillers Räuber, worauf schon Bulgarin hinwies, und

Goethes Götz von Berlichingen, wie aus einem Brief an Vjazemskij vom April-Mai 1824 hervorgeht. Siehe Puškin, op. cit., Bd. 13, S. 92. Die kurzen, straffen Szenen und die Verwendung des Blankverses haben ihr Vorbild unter anderem auch in Schillers Jungfrau von Orleans, die Puškin in Žukovskijs Übersetzung bekannt war.

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Historische Distanz und Gegenwartsbezug Für ein historisches Drama ist es wesentlich, dass es dem Zuschauer das Gefühl der historischen Distanz vermittelt. Traditionell geschieht dies durch die Verwendung historischer Details und einer archaisierenden Stilisierung der Sprache. Beide Verfahren werden von Puschkin aber nur sparsam eingesetzt. Er versucht vielmehr Dialoge mit historischen Fakten anzureichern, die mit ihren Konsequenzen für die Handlungsgegenwart und ihren potentiellen Auswirkungen auf die – dem Zuschauer bekannte – Zukunft angeführt werden. Auf diese Weise gelingt es ihm, historische Veränderungen und den Gang der Geschichte spürbar zu machen. Auch der Gegensatz von Tradition und Innovation wird damit deutlich. Dies gilt im besonderen Maße für die 5. Szene. Der Mönch Pimen, ein Vertreter der geistigen und religiösen Traditionen Russlands und eine der gelungensten Figuren des Dramas, „schreibt die wahrhaften Berichte nieder... // der Heimat längst vergangenes Geschick“ (17. Szene). Tatsächliche Geschichte wird zu erzählter Geschichte. Diese ist ihrerseits eine Quelle für geschichtlich bedeutsames Handeln. In der 9. Szene fasst Puschkin im Monolog seines Vorfahren Afanassij Puschkin verschiedene Chroniken und Berichte zusammen, die den konkreten historischen Hintergrund für Godunows gegenwärtiges Handeln bilden. In der 19. Szene, die kontrapunktisch dem Bericht Pimens gegenübergestellt ist und ihn ergänzt, werden aus der Sicht des Patriarchen die Folgen des Mordes geschildert. Aus dem Bericht vergangenen und gegenwärtigen Geschehens erwächst wiederum das Handeln für die Zukunft. Auch in den Monologen des Boris und anderer Figuren wird immer wieder Vergangenes beschworen und Gegenwärtigem gegenübergestellt, wodurch dem Zuschauer die historischen Dimensionen des Geschehens auf der Bühne bewusst bleiben. Zu historischen Dramen der Zeit Puschkins gehörten Anspielungen auf die zeitgenössische Politik und Gesellschaft. Solche Allusionen finden wir in den Dramen Katenins und Küchelbeckers, und man hat sie auch in Puschkins Tragödie zu finden versucht. Es widerspricht aber dem Geschichtsverständnis Puschkins, ein historisches Werk zu benutzen, um das Geschehen seiner Zeit zu kommentieren, geht es ihm doch vor allem um die „Wahrheit der Geschichte“. In einem Brief an den Herausgeber der Zeitschrift Der Moskauer Bote (1828) wandte er sich sogar ausdrücklich gegen Versuche, in seinem Werk Allusionen zu suchen: „Wollen sie erfahren, was mich noch an der Drucklegung meiner Tragödie hindert? Jene Stellen, die darin Anlass geben können für Applikationen, Anspielungen, allusi-

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ons. Dank den Franzosen begreifen wir nicht, wie ein Dramatiker seiner Denkungsart völlig entsagen kann, auf dass er sich ganz in die Epoche, die er gestaltet, versetze“.63

Dieser Ansicht steht ein allerdings anderer Kommentar des Autors entgegen, der unmittelbar nach der Fertigstellung des Werkes an Wjasemskij schrieb: „Ich konnte keineswegs alle meine Ohren unter der Narrenkappe verbergen. Sie ragen hervor“.64 Puschkin schrieb seine Tragödie unter der Herrschaft des Zaren Alexander I., der Mitwisser des Mordes an seinem Vater war und damit sein Gewissen belastet hatte. Die letzten Jahre seiner Herrschaft brachten einen Rückzug des Zaren von den Regierungsgeschäften, die mehr und mehr in die Hände seiner Günstlinge und Vertrauten übergingen. Parallel dazu entwickelte sich die Verschwörung der Dekabristen. Puschkins Tragödie ist nicht zuletzt dem Thema des allmählichen Verfalls der Autorität gewidmet. Das problematische Verhältnis des alten Bojarentums zum Zaren einerseits und zum Volk andererseits, das gestörte Verhältnis Godunows zum Volk und seine Gewissensbisse wegen des Mordes an Dimitrij konnten von den Zeitgenossen Puschkins durchaus als Anspielung auf die zeitgenössische Situation verstanden werden. Das befürchtete Puschkin wohl in seinem Brief von 1828. Das komplexe Dreiecksverhältnis Zar – Adel – Volk musste in den Diskussionen der Dekabristen eine große Rolle spielen. Es bildet, wie noch zu zeigen ist, die Grundlage für die Struktur des Boris Godunow. Aus seinem Geschichtsverständnis heraus gab Puschkin eine Darstellung des Zusammenspiels der Komponenten politischen Handelns, aus dem sich sehr wohl Lehren für die Gegenwart ableiten ließen. Das mochte ihm bewusst gewesen sein, als er den zitierten Brief an Wjasemskij schrieb. Zur Rezeption Puschkins Tragödie wurde von seinen Zeitgenossen eher gleichgültig, von seinen Freunden aber positiv, mitunter begeistert aufgenommen. Bereits der Zensor vermerkte, dass sich das Werk wohl nicht aufführen lasse. Nadeschdin war der Auffassung, es handle sich um eine „Abfolge historischer Szenen“, um eine „Geschichtsepisode in Figuren“, das heißt also um ein Lesedrama.65 Auch der Kritiker Belinskij kam zu dem Schluss, Boris Godunow sei „überhaupt kein Drama“, sondern ein „episches Poem in umgangssprach-

63 Zit. nach R. Neuhäuser: The Romantic Age in Russian Literature. Poetic and Esthetic

Norms. München 1975, S. 235 f. 64 A. Puškin: Brief an Vjazemskij vom 7. November 1825. In: Op. cit., Bd. 13, S. 239. 65 N. I. Nadeždin: Sočinenie A. Puškina. In: Literaturnaja kritika. Estetika, Moskau

1972, S. 261.

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licher Form.“66 Und Polewoj meinte schon 1833, dass „Boris Godunow“ im Urteil der Kritik „als dramatisches Werk nicht bestehen wird.“67 In der Tat zeigt Puschkins Drama einige Schwächen. Die beiden Hauptpersonen sind nicht unmittelbar im Konflikt miteinander dargestellt, wie dies bei Shakespeare stets der Fall ist. Jede lebt in ihrer eigenen Sphäre. Es fehlt die konkrete Konfrontation. Auch sieht man die beiden Hauptfiguren nicht allzu häufig auf der Bühne. Boris tritt nur in sechs, Dimitrij in neun von insgesamt dreiundzwanzig Szenen auf. Beide, der staatsmännische kluge Boris und der „süße Abenteurer“ Dimitrij, haben positive Züge. Beide Charaktere sind wie in einer klassizistischen Tragödie eher statisch und nicht in ihrer Entwicklung gezeigt. Es fehlt an innerer Kausalität und Kontinuität. Der Dimitrij im Tschudowo Kloster ist ein anderer als Dimitrij, der Prätendent in Polen, der lateinische Verse zu zitieren versteht. Er hat sich vom einfachen Mönch zu einem galanten Helden gewandelt. Dimitrijs Absichten werden dem Zuschauer erst in der 8. Szene enthüllt. In der 19. Szene erleidet er eine vernichtende Niederlage; drei Szenen später zieht er – allerdings für den Zuschauer unsichtbar – als Sieger in Moskau ein. Er steht bereits in der 19. Szene zum letzten Mal auf der Bühne. Boris Godunow tritt nicht vor der 4. Szene auf und stirbt in der 20. Szene, obgleich noch drei weitere Szenen folgen. Derselbe Boris, der grausam den Thronerben ermorden ließ, ist kaum mit dem Zaren zu vergleichen, der am Sterbebett seinem Sohn staatsmännische Ratschläge erteilt. Von hier aus lässt sich auch Katenins verwunderte Frage zur Aussage des Dramas verstehen: „Qu’est-ce qu’il prouve?“68 Puschkins Verständnis der Geschichte und des Dramas Puschkin wollte „ein vergangenes Zeitalter in all seiner Wahrheit auferstehen lassen.“69 Er legte diese Auffassung dem Mönch und Chronikschreiber Pimen in den Mund. Wie er soll der Autor eines historischen Dramas gleichmütig Schuld und Recht, Gutes und Böses aufzeichnen. Er muss wie das Schicksal leidenschaftslos sein und darf die Geschichte nicht manipulieren.

66 V. G. Belinskij: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. N. F. Bel’čikov u. a., 13 Bde. Moskau

1953-1959, Bd. 7, S. 505. 67 N. A. Polevoj, loc. cit. 68 J. Bayley: The Drama. In: Pushkin. A Comparative Commentary. Cambridge 1971,

S. 166f. 69 A. Puškin, op. cit., Bd. 11, S. 181.

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„Nicht er [= der Autor], nicht seine politische Denkweise, nicht seine geheimen oder offenen Vorlieben sollen in der Tragödie zu Wort kommen, sondern die Menschen einer vergangenen Zeit, ihre Gedanken, ihre Vorurteile.“70

Damit findet die getreue Übernahme der geschichtlichen Abläufe aus Karamsins Geschichtswerk ihre Motivation. Dennoch steht hinter Puschkins Drama ein ganz anderes Geschichtsverständnis als bei Karamsin, dem Hofhistoriographen Alexanders I. Darauf deutet auch folgende Aussage Puschkins hin: „Karamsin folgte ich in der klaren Entwicklung der Ereignisse; in den Chroniken bemühte ich mich, die Art des Denkens und die Sprache der damaligen Zeit zu erraten.“71

Puschkin sah die Geschichte als steten Kampf zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Innovation und Tradition. Aus dieser Sicht erfährt Boris Godunow eine durchaus positive Einschätzung, die auch die moderne Geschichtswissenschaft teilt. Immerhin gelang es ihm, Russland über ein Jahrzehnt den Frieden zu erhalten. Seine ökonomischen Maßnahmen waren darauf bedacht, den neuen Dienstadel, dem er selbst angehörte, zu stärken. So ist er auch für Puschkin ein Repräsentant der Innovation, der Rationalität und des historischen Fortschritts. Allerdings scheitert er an den historischen Gegebenheiten. Es ist nicht so sehr der Pseudodemetrius, den er bereits auf dem Schlachtfeld besiegt hat; es sind vielmehr die Koalition von altem Adel (Bojaren) und Volk und die ausländische Intervention, die seinen Untergang herbeiführen. Wir kommen damit zum Kern des Geschichtsverständnisses Puschkins. Dem einen Pol der Geschichte, der vom starken Individuum Boris Godunow bestimmt wird, steht als Gegenpol das Volk gegenüber, eine dumpfe und weitgehend blinde Masse, die von den Kräften des Beharrens bestimmt, stets dazu tendiert, am Alten und Überlieferten, also an der Tradition, festzuhalten. Das Volk ist bei Puschkin ebenso wenig Initiator geschichtlichen Fortschritts, wie die Geschichte die Selbstverwirklichung des Volkes ist. Es ist ein Medium politischer Aktionen. Sein Handeln wird von verschiedenen Kräftekonstellationen – bei Puschkin dem verschwörerischen Tun der Bojaren und den Manipulationen des Pseudodemetrius – bestimmt. Daneben finden wir bei Puschkin auch noch Anklänge an das frühromantische Verständnis des Volkes, das sich unter anderem an Shakespeare orientierte, der das Volk als antiautoritär, rebellisch, aufmüpfig, schwer lenkbar und wankelmütig darstellte. Somit wird die Geschichte bei Puschkin von drei Faktoren bestimmt: Von den positiven Kräften der Innovation und Rationali-

70 Loc. cit. 71 Ibid., S. 140.

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tät, die nach romantischer Auffassung mit dem starken und selbstbewussten Individuum verbunden sind, von den gegenläufigen Kräften des Beharrens und der Tradition, die im Volk ihre Stütze finden, und schließlich von den historischen Konstellationen und Zufällen, die insgesamt unvorhersehbar und unberechenbar sind. Zu letzteren gehört das Agieren verschiedenster Interessensgruppen, wie der Bojaren und des polnischen Adels, aber auch einzelner Individuen, wie des entlaufenen Mönches Grigorij Otrepjew und der schönen Polin Maryna Mniszek, die vom Ehrgeiz in verwegene Abenteuer getrieben werden. Umgekehrt führt das Bewusstsein des Mordes am wahren Thronerben zu den Alpträumen und Gewissensbissen Boris Godunows. Das schwächt ihn und trägt so zu seiner Niederlage bei. In Puschkins Verständnis des Theaters zeichnete sich in der Zeit unmittelbar vor Entstehung des Dramas ein Wandel ab. Bis dahin dürfte Puschkin in formaler Hinsicht klassizistische Normen akzeptiert haben. In inhaltlicher Hinsicht war er, wie das unvollendete Drama Wadim zeigt, auch von frühromantischen Themen und Motiven beeinflusst. Aufgrund der Lektüre von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur und vor allem durch Shakespeare kam er zu einer neuen Sicht des Theaters.72 Vor allem sah er die Notwendigkeit von Reformen: „Der Geist der Zeit verlangt nach wichtigen Veränderungen auch auf der dramatischen Bühne.“ 1828 schrieb Puschkin rückblickend: „Ich stellte mir vor, dass uns die Regelmäßigkeit und Vollkommenheit des klassischen Altertums und die blassen, eintönigen Kopien ihrer Nachahmer langweilten, dass der ermüdete Geschmack neue, kräftigere Empfindungen brauchte und sie in den trüben, aber brodelnden Quellen der neuen, volkstümlichen Dichtung fände.“73

Puschkin stützte sich auf Ansichten, die Guizot in seinem Vorwort zur Übersetzung der Dramen Shakespeares von 1821, die Puschkin benutzte, niedergelegt hatte. Guizot stellte dort fest: „Die theatralische Aufführung ist ein Volksfest... Die dramatische Poesie konnte nur im Milieu des Volkes und nirgend anderswo entstehen. Bei ihrem Entstehen war sie für die Unterhaltung des Volkes bestimmt.“74

Puschkins Rezension von Pogodins „volkstümlichem Drama“ Marfa Posadniza (1830) paraphrasiert die Ansichten Guizots. In Fortführung seiner Ge-

72 In einem Brief an seinen Bruder vom 14. März 1825 bat Puškin, ihm Sismondi („Lit-

erature“) und Schlegel („Dramaturgie“) zu schicken. Siehe A. Puškin, op. cit., Bd. 13, S. 151. 73 R. Neuhäuser, op. cit., S. 232-237. 74 Zit. nach M. P. Alekseev: Puškin. Sravnitel’no-istoričeskie issledovanija. Leningrad 1972, S. 213.

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dankengänge legte Puschkin darin sein eigenes Verständnis des Dramas nieder. Er forderte, das Drama müsse eine allgemein verbindliche Idee ausdrücken und die Personen der Handlung müssten komplex sein, „erfüllt von vielen Leidenschaften, vielen Lastern.“ Die „dargestellten Umstände“, heißt es, „müssen ihre Vielfalt und Vielseitigkeit vor dem Zuschauer entwickeln.“75 Dazu kommen als weitere Komponenten des Dramas die Übereinstimmung von handelnden Personen und historischen Ereignissen, die Mischung des Komischen mit dem Tragischen, das Prinzip des „Unterhaltsamen“ und der Ersatz des einheitlichen Stils, „dieser vierten unabdingbaren Konvention der französischen Tragödie“, durch jeweils der Person angepasste sprachliche Ausdrucksformen.76 Der Gebrauch von Vers und Prosa, die Mischung von Tragik und Komik und von gegensätzlichen Zügen überhaupt wurden von Schlegel besonders im Hinblick auf Shakespeare hervorgehoben.77 Puschkin verzichtete auf die Einheiten von Zeit und Ort. Auch die Einheit der Handlung ist durch die Präsenz zweier zentraler Figuren gestört. Ein weiterer Unterschied zum klassizistischen Drama liegt darin, dass dort die Ereignisse, die zum dramatischen Ende führen, in der Vorgeschichte liegen, während sie im romantischen Drama Puschkins vor den Augen der Zuschauer ablaufen.78 Die theoretische Begründung für seine Ansichten legte Puschkin in einem Briefentwurf an Rajewskij schon 1825 fest. Darin betonte er die Konventionalität des Theaters, das an sich keine wahrheitsgetreue Darstellung auf der Bühne zulässt. „Von allen literarischen Gattungen ist die dramatische die unwahrscheinlichste. Unter den dramatischen Werken ist die Tragödie am unwahrscheinlichsten; denn der Zuschauer muß größtenteils Zeit, Ort und Sprache vergessen.“79

Als besonders wichtig betrachtete Puschkin deshalb die Wahrheitstreue in den Situationen und Dialogen des Dramas, „die Wahrheit der Leidenschaften, die Wahrhaftigkeit der Gefühle in den dargestellten Umständen.“ Wie bei Shakespeare müssten die Helden „vollkommen zwanglos reden wie im 75 A. Puškin, op. cit.,Bd. l2, S. 159f. 76 Siehe Puschkins Brief an den Herausgeber des Moskauer Boten, zit. nach Neuhäuser,

op. cit., S. 235. 77 So spricht A. W. Schlegel, in der Fünfundzwanzigsten Vorlesung seiner Vorlesungen

über dramatische Kunst und Literatur (S. 111f.) von der „kühnen Vernachlässigung der Einheiten von Ort und Zeit“ und der „Vermischung komischer und tragischer Bestandteile“ bei Shakespeare. Die „romantische“ Kunst und Poesie „gefällt sich in unauflöslichen Mischungen; alles Entgegengesetzte, Natur und Kunst, Poesie und Prosa, Ernst und Scherz, Erinnerung und Ahnung, Geistigkeit und Sinnlichkeit, das Irdische und Göttliche, Leben und Tod, verschmilzt sie auf das Innigste miteinander.“ 78 Eine Ausnahme bildet nur die Ermordung des echten Dimitrij. 79 Puškin, op. cit., Bd. 11, S. 39.

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Leben.“ Wie Shakespeare müsse der Autor „die zur gegebenen Zeit und den gegebenen Umständen passende Sprache finden, die dem Charakter entspricht.“80 In Boris Godunow alternieren dementsprechend Prosa und gereimter Blankvers, und die Personen drücken sich mitunter in einem volkssprachlichen Idiom aus. Ein ehemaliger Schulkollege Puschkins meinte, dass in einigen Versen „eine gewisse künstliche Grobheit“ in Erscheinung trete.81 Und der Zensor stellte schon 1826 fest, dass ein „Mensch, der auch nur den geringsten Geschmack besitzt“, dem Publikum niemals solche Ausdrücke vorsetzen würde, die man „in keiner anständigen Gaststätte aussprechen darf“, und fügte hinzu: „Bei uns ist man noch nicht gewohnt, dass jeder Held eines Romans seine eigene Sprache spricht.“82 Wie Puschkin in seinem Briefentwurf schrieb, verwendete er für „einfache und grobe Menschen“ eine „gemeine und niedrige Sprache.“83 Die Struktur des Boris Godunow Schon der Versroman Eugen Onegin zeigt, wieviel Aufmerksamkeit Puschkin der Struktur seiner Werke zu widmen pflegte. Dies gilt auch für seine Tragödie. Puschkin entschloss sich für eine unkonventionelle, lose Struktur, die auf der Abfolge von dreiundzwanzig Szenen beruht. Blagoj hat darauf hingewiesen, dass dieser linearen Abfolge die geometrische Figur des Kreises zugrunde liegt. Um eine Mittelachse aus drei Szenen (Szenen 11, 12,13), die alle in Polen spielen, sind kreisförmig, bzw. spiegelbildlich, je zehn Szenen (1-10 und 14-23) angeordnet. Jeder Szene der ersten Hälfte des Dramas entspricht eine Szene der zweiten Hälfte. Wenn wir nur die wesentlichsten Szenen herausgreifen, ergibt sich folgendes Bild: Skizze 1

1 2 3 Prolog

4

5

7

11 12 13 Mittelachse

17

19

20

21

22 23 Epilog

Prolog (1-2-3) und Epilog (21-22-23) bestehen aus je drei „heldenlosen“ Szenen. Es treten nur Bojaren und „Menschen aus dem Volk“ auf. Dem po-

80 81 82 83

Ibid., S. 178f. M. P. Alekseev, op. cit., S. 250. B. P. Gorodeckij, op. cit., S. 208. A. S. Puškin, op. cit., Bd. 14, S. 46 u. 48.

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tentiellen Verrat Schujskijs im Prolog entspricht im Epilog der tatsächliche Verrat des Basmanow. Je drei Szenen zwischen Prolog und Mittelachse, bzw. Mittelachse und Epilog weisen interessante Parallelen auf: Die 4. und 20. Szene beinhalten den ersten, bzw. letzten Auftritt Godunows, seine Krönung, den Sieg über Dimitrij, seinen Tod. In beiden steht so Godunow im Zentrum. In der 5. und 19. Szene befindet sich ein schlafender Dimitrij auf der Bühne. Es handelt sich um den ersten und letzten Auftritt Dimitrijs. In der 7. und 17. Szene wird Godunow mit imaginären (7. Szene) und realen (17. Szene) Kindern konfrontiert. Auch die hier nicht angeführten Szenen lassen sich zueinander in Bezug setzen.84 Schon aus dieser Anordnung der Szenen lässt sich erkennen, dass Puschkin bewusst zwei Handlungslinien parallel laufen lässt, die Godunow-Handlung, die von der Krönung zum Sieg über Dimitrij und letztlich zum Tod des Helden führt, und die Dimitrij-Handlung, die mit der Flucht des Mönchs Grischka Otrepjew aus dem Kloster beginnt und mit der Rückkehr des Pseudodemetrius nach Moskau endet. Die Gunst des Volkes, der Verrat der Bojaren und die Hilfe der Polen bringen Letzterem trotz Verfolgung und Niederlage den Sieg. Dieser Parallele im Handlungsaufbau entsprechen weitere Parallelen und Gegenüberstellungen im Personeninventar. Dazu gehören der Chronikschreiber Pimen und der Krakauer Hofpoet, der katholische Priester (ein Jesuit) und der russische Patriarch, der zarentreue Afanassij Puschkin und der abtrünnige Gawrila Puschkin. Im Drama werden zwei Feste gefeiert, eines in Moskau und eines in Krakau, und zwei Arten von Liebe dargestellt, Marynas von Ehrgeiz bestimmte Neigung zu Dimitrij und Xenias liebende Trauer um ihren toten Gatten. In allen diesen Fällen stellt Puschkin Russisches und Polnisches gegenüber. Die zentrale Stellung der drei polnischen Szenen deutet wohl darauf hin, dass Puschkin in der polnischen Intervention das entscheidende politische Ereignis sah, das Dimitrij den Weg nach Moskau öffnete. Prolog und Epilog zeigen an, wo die ausschlaggebenden geschichtlichen Kräfte liegen, mit denen der starke, geschichtsbewegende Held zu rechnen hat. Es sind dies die Intrigen der Bojaren, die Godunow nicht als gleichwer-

84 Die 6. und 18. Szene stellen eine Gefährdung des Dimitrij dar: 6. Szene: Der Patriarch

ordnet eine Fahndung an. 18. Szene: Eine vierfache Übermacht droht Dimitrijs Pläne zu vereiteln. Die 8. und 16. Szene stellen seinen Triumph dar: In der 8. Szene gelingt Dimitrij die Flucht. In der 16. Szene besiegt er das Heer Godunovs. Die 9. und 15. Szene zeigen die Bedrohung der Herrschaft Godunovs.

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tig anerkennen, und die Volksmassen, deren Verhalten sich einem rationalen Kalkül entzieht: „Doch weißt Du selbst, das sinnentblößte Volk, ist abergläubisch, wankend und rebellisch. Leicht gibt es sich der leeren Hoffnung hin, getrieben von des Augenblicks Befehle bleibt es dem Wahren taub mit kühler Seele und nährt allein mit Haben seinen Sinn, es liebt den schamlos mutigen Bedränger ..."

Schon in der 1. Szene wird das Volk als Gegenstand von Manipulationen gezeigt. Von Godunow heißt es dort, „er hat’s vermocht, das Volk mit Ruhm, // mit Schrecken und mit Liebe zu bezaubern.“ Schujskij, der selbst ein Anrecht auf den Thron zu haben meint, rät, „wenn Zar Boris den Listen nicht entsagt, // so schaffen klüglich Aufruhr wir im Volk // und lenken es hinweg von Godunow.“ Letztlich hat die Verschwörung nur Erfolg, weil sie vom Volk unterstützt wird, wie Gawrila Puschkin unterstreicht: „Doch weißt Du, wo wir stärker sind, Basmanow?... // Im Glauben – ja, im Glauben nur des Volks.“ Gawrila Puschkins Manipulation des Volks („Doch Dimitrij will mit Gnaden euch bedenken...“) entspricht derjenigen Schtschelkalows am Beginn („Wir alle werden vor dem Zaren knien...“). Doch beide Male zeigt sich, dass der Manipulation des Volkes Grenzen gesetzt sind. Im Volk kann sich eine Eigengesetzlichkeit entwickeln, die mitunter der Steuerung entgleitet. Darauf wird eingangs in den Worten Worotynskijs zu Schujskij hingewiesen: „Zum Kloster wandte sich das ganze Volk. // Was denkst Du nun? Wie wird der Aufruhr enden?“ Am Ende ist dieser Gedanke noch deutlicher, als das Volk dem Aufruf, doch Dimitrij zu huldigen, unbeachtet lässt und in Schweigen verharrt. Prolog und Epilog, in denen diese Thematik vorherrscht, stehen der Haupthandlung als Rahmen gegenüber, der die Grenzen der Macht im Handeln der Helden verdeutlicht. Die Haupthandlung: zwei Handlungskreise. Zwischen Prolog und Mittelachse stehen insgesamt sieben Szenen; zwischen Mittelachse und Epilog folgen sieben weitere Szenen. Wenn wir berücksichtigen, dass, Prolog und Epilog und Mittelachse aus je drei Szenen bestehen, dann ist eine weitergehende Anwendung dieses Strukturprinzips nicht unwahrscheinlich. Es zeigt sich, dass in jeder der beiden Abfolgen von sieben Szenen wiederum die mittlere Szene eine neue Achse bildet, um die konzentrisch und in symmetrischer Entsprechung zweimal drei Szenen angeordnet sind. Damit ergibt sich folgende Gesamtstruktur:

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Skizze 2 1. Kreis

1 2 3

1. Akt

4 5 6

7

2. Akt

8 9 10

Mittelachse

2. Kreis

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

3. Akt

4. Akt

5. Akt

Diese Oberflächenstruktur des Dramas wird von einer inneren Struktur überlagert, die sich daraus ergibt, dass Puschkin zwei Handlungsebenen zugleich darstellt. Auf der politischen Ebene führt Boris Godunows Weg von der Krönung zur Niederlage auf dem Schlachtfeld und weiter zum überzeugenden Sieg über Dimitrijs Heer. Sein Tod, der Verrat der Bojaren, die Intervention Polens und das Verhalten des Volkes führen jedoch zur Niederlage seines Hauses. Auf der psychologischen Ebene hat der Mord, für den Godunow bei Puschkin die Verantwortung trägt, unheilvolle Konsequenzen. Von Alpträumen und seinem Gewissen gequält, hat Boris nicht die Kraft zur entscheidenden Tat. Dimitrij hingegen wird vom Ehrgeiz zur Macht getrieben. Dimitrijs Erfolg beruht, wie die drei zentralen Szenen darstellen, teils auf den Gegebenheiten der politischen Ebene, teils auf den Gegebenheiten der psychologischen Ebene: In der 11. Szene sind es die russischen Bojaren, in der 12. Szene die polnischen Adligen, die den Prätendenten aus eigenem Interesse unterstützen. In der 13. Szene ist es Marynas Ehrgeiz, der Dimitrij in seinem Vorhaben bestärkt. In allen drei Szenen des Mittelteils erscheint der Prätendent als passives Werkzeug anderer: „Ein Vorwand bin ich nur, für Zank und Krieg“. Sein eigener Ehrgeiz spielt auf der politischen Ebene kaum eine Rolle, ist aber auf der psychologischen Ebene als Motiv bedeutsam: „Von Hochmut überkommen // betrog ich Gott und trog die Könige, // ich log der Welt...“ Psychologische und politische Ebene sind aufs engste verschränkt. Godunows Unfähigkeit, trotz militärischer Übermacht den Thron für sein Haus zu retten, ist auf der psychologischen Ebene motiviert. Puschkin macht die Bedrohung, der Godunow unterliegt, deutlich, indem er in den beiden Szenen, die die Achsen des ersten und zweiten Handlungskreises bilden (Szenen 7 und 17), näher darauf eingeht. Aus der Perspektive dieser beiden Szenen, um die sich buchstäblich die Godunow-Handlung dreht, wird die Ursache des Scheiterns auf beiden Ebenen einsichtig. Die Struktur der

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Szenen ist analog. Beide beginnen mit Kommentaren „aus dem Volk“; in beiden wird Godunow mit Kindesmord konfrontiert. In der 7. Szene setzt sich Godunow zuerst mit dem Volk auseinander, das auch hier als Verkörperung der Kräfte des Beharrens erscheint: „Die Menge ist lebendiger Herrschaft Feind, // und die Gestorbenen weiß sie nur zu lieben.“ Das Volk hat seine Gunst von ihm abgewendet: „Sie aber tobend dankten mir mit Flüchen! // So denkt der Pöbel: Such’ dann seine Gunst!“ Darauf folgt in einem langen Monolog die Schilderung von Godunows Gewissensqualen: „Dann hebt die Not an: Wie an Eiterbeulen verbrennt die Seele, Gift erfüllt das Herz, im Ohre klopft der Vorwurf wie ein Hammer, die Kehle stickt und Schwindel dreht das Haupt, und vor den Augen Kinder, rot von Blut... Man will entlaufen – doch wohin... Entsetzen! Ja, der ist arm, den sein Gewissen plagt!“

Die Gewissensqualen überlagern die politischen Sorgen und verdrängen sie. In der 17. Szene wird Boris’ Rivale Grischka Otrepjew aus der Kirche ausgestoßen. Es zeigt sich jedoch, dass das Volk bereits auf seiner Seite steht. In der Konfrontation mit dem Gottesnarren Nikolka wird Godunow wieder an seine Mordtat erinnert. Nikolka: „Die kleinen Kinder kränken Nikolka... Lass sie umbringen, wie du den kleinen Zarewitsch umgebracht hast.“ In dieser Szene zeigt sich auch die Parallele zwischen der Dimitrij-Handlung und der Godunow-Handlung: Grischka Otrepjew wird vom Patriarchen, dem dienstbaren Kirchenfürsten Godunows, verflucht; Boris wird vom Gottesnarren, dem Heiligen aus dem Volk, verstoßen. Auf Boris’ Aufforderung, doch für ihn zu beten, antwortet Nikolka: „Nein, nein! Man darf nicht beten für den Zaren Herodes: Die Muttergottes hat’s verboten.“ Der erste Handlungskreis (Szenen 4, 5, 6 und 8, 9, 10). Der erste Handlungskreis dient der Vorbereitung des zweiten, in dem der Sieg Dimitrijs und die Niederlage des Boris dargestellt werden. Fasst man beide Kreise zusammen, so stellt die Godunow-Handlung den Weg von höchster Macht über die Gefährdung dieser Macht zu Niederlage und Tod dar. Die Dimitrij-Handlung verläuft umgekehrt vom Tod des echten Dimitrij über Gefährdung und Niederlage zum Sieg des Pseudodemetrius. Die beiden Handlungen sind im Aufbau der Szenen miteinander verschränkt. Der erste Handlungskreis beginnt und endet mit Boris Godunow. In der ersten Szene der Abfolge (Szene 4) steht er nach vollzogener Krönung auf dem Höhepunkt der Macht. In der letzten Szene (Szene 10) wird er sich der Gefährdung seiner Macht bewusst. In Szene 4 geloben ihm die Bojaren Treue, und das Volk steht auf seiner Seite. Noch in der 10. Szene ist sich Boris Godunow der Herrschaft sicher. In einer Rede an seine Tochter Xenia und den Sohn Fjodor verspricht er ihnen die Herrschaft und ruft sie auf, sich darauf 53

vorzubereiten. Eine Gefährdung deutet sich jedoch bereits an, als er von einer geheimen Zusammenkunft Afanassij Puschkins mit Schujskij erfährt und Verrat vermutet. Schujskij berichtet ihm jedoch selbst vom Erscheinen des Prätendenten in Polen. Godunow lässt sich darauf von Schujskij den Tod des echten Dimitrij bestätigen. Die 10. Szene und damit der erste Kreis endet mit neuen Klagen Godunows über seine Alpträume und Gewissensbisse. Dem Zuschauer wird im Schlussmonolog des Zaren ein Zusammenhang zwischen dem Kindesmord und der Gefährdung der Macht des Zaren durch den Prätendenten nahegelegt. Ohne dass Boris es ausspricht, erscheint in seiner Rede Dimitrij als Rächer der bösen Tat. An Shakespeare erinnert die schattenhafte, gespenstische Erscheinung des Prätendenten in der Vision des Zaren. Auch der Hexenmeister in Szene 7 und die ebenfalls dort erwähnten „Zauberer, Traumdeuter und Hexen“ gehören zum Inventar der Stücke Shakespeares. Grischka Otrepjews Weg läuft in umgekehrter Richtung. Er beginnt in der 5. Szene, in welcher der Tod des echten Dimitrij, diesmal von einem Zeugen des Ereignisses, dem Mönch Pimen, geschildert wird, der die Schuld des Boris bestätigt. Parallel zum Tod des echten Dimitrij, ein Ereignis, das in der Erzählung Pimens sozusagen nochmals vor den Augen der Zuschauer abrollt, steht die „Geburt“ des neuen und falschen Dimitrij. Ein sich dreimal wiederholender Traum Dimitrijs deutet seine Erhöhung und seinen Fall an: „Mir träumte, eine Leiter führe steil auf einen Turm hinaus und von der Höhe wie einen Würmertopf ersah ich Moskau. Die Menschen unten schwärmten auf den Platz und deuteten nach mir und alle lachten, von Scham und Schrecken ward ich da befallen und stürzte häuptlings nieder und erwachte...“

In der 6. Szene ist Grigorij bereits drei Tage auf der Flucht. Höchste Gefährdung kündigt sich an, als der Patriarch seine Wächter mahnt: „Fangen, fangen den Teufelsdiener...“ In der 8. Szene wird diese Gefährdung konkretisiert. Zwei Wächter des Patriarchen stoßen auf den flüchtigen Dimitrij, der ihnen gerade noch entkommen kann. Damit endet vorläufig die DimitrijHandlung. Wir erfahren von Gawrila Puschkin in der 9. Szene, dass Dimitrij bereits die Unterstützung des polnischen Königs hat. Der zweite Handlungskreis (Szenen 14, 15, 16 und 18, 19, 20). Im zweiten Handlungskreis laufen beide Handlungen parallel. Beide Kontrahenten scheinen vorerst vom Sieg ihrer Sache nicht nur überzeugt, sondern auch von den Ereignissen begünstigt zu sein. Dimitrij überschreitet die Grenze am 16. Oktober 1604 (Szene 16). Sein Aufstieg findet einen vorläufigen 54

Höhepunkt in der gewonnenen Schlacht bei Nowgorod-Sewersk. Doch auch Godunow ist siegessicher. Der Patriarch schlägt vor, die wunderwirkenden Gebeine des toten Dimitrij nach Moskau bringen zu lassen. Schujskij verspricht, vor das Volk zu treten und „aufzudecken jenes Bettlers Trug“. Doch Sieg und Siegesgewissheit trügen beide. In der 18. Szene kündet sich die Niederlage Dimitrijs an. In der 19. Szene ist sie vollzogen. Gawrila Puschkin resümiert: „Wes die Schuld auch sei, // doch sind wir wirklich ganz und gar geschlagen, // vernichtet ganz.“ Sein Gegner Godunow kann sich des Siegs jedoch nicht erfreuen. In der folgenden Szene erkennt er, dass sein Sieg ein „leerer Sieg“ ist. Unmittelbar darauf erleidet Boris einen plötzlichen Anfall. Es folgt sein letzter Monolog mit Ratschlägen an den Thronfolger, seinen Sohn Fjodor. Boris stirbt an inneren Blutungen. Sein unerfahrener Sohn soll die Regierung antreten, beraten von Schujskij – ein übles Omen, wie der Leser weiß, der bereits von Schujskijs Abneigung dem Hause Godunow gegenüber Kenntnis hat. Beide Hauptfiguren haben Niederlagen erlitten, die für ihre Sache das Ende bedeuten können. Aufgrund der Konstellation am Ende des zweiten Handlungskreises ist die Situation wieder offen, wenngleich sich schon eine Wende zugunsten des Prätendenten abzuzeichnen beginnt. Denn Dimitrij scheint vom Schicksal eher begünstigt zu sein als Fjodor. Puschkin verlegt mit Absicht den Ausgang dieses Ringens um die Macht in die drei Szenen des Epilogs, in denen weder Boris noch sein Erbe noch der Pseudodemetrius auftreten. Geschichtsbestimmend sind letztlich eben andere Kräfte. Es ist nicht das starke Individuum, das allein aus sich heraus die Geschichte lenken kann. Als entscheidend erweisen sich die zufälligen Machtkonstellationen, wobei dem Volk eine nicht unwesentliche Rolle zukommt. Das Drama endet mit dem Verrat der Bojaren. Basmanow läuft auf Gawrila Puschkins Rat zu Dimitrij über. Das Volk begrüßt Dimitrijs Sieg. Doch als die Bojaren Godunows Familie ermorden, schweigt das Volk entsetzt. Als Mossalskij es aufruft, den neuen Zaren hochleben zu lassen, verharrt es in Schweigen. Damit soll angedeutet sein, dass auch der neue Mord nicht ungesühnt bleiben kann, dass das Volk seine Gunst auch Dimitrij wieder entziehen wird. Daraus, wie es sowjetische Literarhistoriker einst taten, ableiten zu wollen, dass es Puschkins Absicht war, in seinem Boris Godunow „eine Analyse der geschichtsbewegenden Kräfte der revolutionären Volksbewegung zu geben“, ist allerdings eine zu weit gehende Annahme, die sich aus dem Text nicht belegen lässt. Wie Aleksejew gezeigt hat, ist das „Schweigen des Volkes“ ein Motiv mit einer langen, nicht uninteressanten Geschichte. Es hat seinen Ursprung in einer historischen Predigt des Erzbischofs von Senez, Jean de Beauvais, der 1774 aus Anlass des Begräbnisses von Ludwig XV. unter anderem sagte: „Das Volk hat natürlich kein Recht zu murren, aber es hat das Recht zu 55

schweigen, und sein Schweigen ist eine Lehre den Königen.“85 Dies wurde zu einem geflügelten Wort, das Graf Mirabeau aufgriff und am 15. Juli 1789, dem Tag nach dem Sturm auf die Bastille, in der konstitutionellen Versammlung verwendete, als der König sich eben auf dem Weg dorthin befand. Mirabeau schlug vor, dass „düsteres Schweigen“ den König bei seinem Eintritt treffen sollte; denn: „Le silence des peuples est la leçon des rois.“ Wir finden diesen Bericht in M.-A. Thiers Studie der Französischen Revolution, die in zweiter Auflage 1828 erschien und sich in Puschkins Bibliothek befand. Es ist zu vermuten, dass Puschkin darin die Anregung für seine abschließende Regiebemerkung erhielt, die er erst 1829 in das Manuskript einfügte. Diese Einfügung hat zahlreiche Kommentare hervorgerufen. So nannte Belinskij den Boris Godunow ein „wahrhaftes und geniales Muster für ein Volksstück“ und bezeichnete die abschließende Regiebemerkung als „würdig eines Shakespeares“: „In diesem Schweigen des Volkes hört man die schreckliche, tragische Stimme einer neuen Nemesis, die das Urteil über ihr neues Opfer spricht – über den, der das Geschlecht der Godunows zerstörte.“86

Belinskijs Wort von einer „neuen Nemesis“ ist in viele kritische Stellungnahmen zu Puschkins Drama eingegangen. Es hat seinen Ursprung allerdings nicht bei Belinskij, sondern in einem Aufsatz Varnhagens von Ense aus dem Jahre 1838.87 Boris Godunow am Vorabend der Perestrojka Gerade die Schwierigkeiten der Inszenierung haben Regisseure immer wieder gereizt, den Boris Godunow auf die Bühne zu bringen. Die Theatergeschichte belegt die Aktualität, ja vielleicht sogar Brisanz der Aussage dieser Tragödie. Der Starregisseur des Moskauer Avantgarde-Theaters An der Taganka Jurij Ljubimow probte von Februar bis Dezember 1982 eine Neuinszenierung. Einige Jahre vorher hatte das Kleine Theater (Malyj) in Moskau eine traditionelle Aufführung herausgebracht. Sie erwies sich jedoch als blass und wenig publikumswirksam. Sie wurde nach kurzer Zeit abgesetzt. Ljubimow wollte dagegen publikumswirksam inszenieren und modernisierte das Stück.88 Im Einklang mit Puschkins Vorstellungen vom Theater als

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M. P. Alekseev, op. cit., S. 235. V. G. Belinskij, op.cit., Bd. 9, S. 430ff. M. P. Alekseev, op. cit., S 213. Vgl. A. H. Law: Sowjetisches Theater. Spielzeit 1982/83. In: Osteuropa 34, 1984, S. 242, und P. Debreczeny: Boris Godunov at the Taganka: A Note on a NonPerformance. In: SEEJ 28, 1984 (S. 99-101), S. 99 ff.

Volksschauspiel, das ursprünglich auf dem Dorfplatz aufgeführt wurde, und in Anlehnung an das antike Drama führte er einen Chor ein, der sich ständig auf der Bühne befindet und das Volk darstellt. Gekleidet in Lederjacken, Jeans, Ballerinaröcken u. ä. bildet er einen bunten Hintergrund, aus dem die handelnden Figuren hervortreten. Die Schauspieler treten teilweise in modernen Straßenanzügen auf. Die Schlussszene „Das Volk verharrt schweigend“ ist ebenfalls dramatisiert. Boris Godunow erhebt sich aus dem Grab und ruft Puschkins Schlussbemerkung laut heraus. Der Schauspieler, der Mossalskij darstellt, steigt in den Zuschauerraum und fragt das Publikum „Was schweigt ihr denn?“ Nach der Generalprobe im Dezember 1982, an der Behördenvertreter teilnahmen, wurde die Aufführung abgesetzt. Der Kreislauf der Geschichte führt in das 19. Jahrhundert zurück, als Puschkins Tragödie ebenfalls nicht, oder nur in „gereinigter Fassung“ aufgeführt werden konnte.

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3.

Alexander Puschkin: Die Verzweiflung über sich selbst

Betrachten wir Verzweiflung als ein Grundphänomen menschlicher Existenz, dann wird es durch Eigenschaften charakterisiert, die das In-der-Welt-Sein des Betroffenen, wie Heidegger es in Sein und Zeit formuliert hat, grundsätzlich und unlösbar in Frage stellen und damit zur Selbstaufgabe, zur Isolation und letztlich zur Selbstzerstörung, d. h. bis hin zum Selbstmord führen können. Nach Heidegger zerbricht die Einheit von Ich und Welt, das „Lebensgefühl im ganzen gerät aus den Fugen“.89 Das enorme destruktive Potenzial der Verzweiflung äußert sich als eine die Existenz selbst bedrohende Hoffnungslosigkeit, die dem Menschen keinen Handlungsspielraum und damit auch keinen Ausweg lässt. In der Antike war es der „Zorn der Götter“, dem das Individuum schicksalhaft zum Opfer fiel, in der Moderne ist es eine Gesellschaftsstruktur, die sich durch zunehmende Anonymität und dem Primat des ökonomischen über dem Humanem auszeichnet. Für den wissenschaftsgläubigen Menschen ist Verzweiflung aber auch eine Folge blinder Kausalgesetze, die das Individuum ohne erkennbaren Grund treffen. Eine interessante Erscheinung in der Geschichte der Literatur ist, dass manche Epochen dadurch charakterisiert werden, dass existentielle Verzweiflung unter Schriftstellern häufig auftritt. Dies scheint besonders in Übergangszeiten der Fall zu sein, in denen sich tiefgehende Veränderungen in Gesellschaft und Kultur und damit auch in der Literatur vollziehen. Als Beispiele kann man auf die Frühromantik (Sturm und Drang) und die angehende Moderne verweisen, d. h. die Literatur im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es handelt sich auch hier um zwei Beispiele in Zeiten eines gesellschaftlichen Umbruchs, die zur Erfahrung einer Existenz bedrohenden Verzweiflung führten. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat in seinem Werk Die Krankheit zum Tode (1849) eine ausführliche Analyse zum Thema Verzweiflung vorgelegt.90 Es handelt sich dabei, wie er meint, um eine Krankheit, deren unikale Natur darin besteht, dass man sie sich nicht nur einmal zuzieht und sie dann hat, sondern eine Krankheit, die man sich in jedem Augenblick der Verzweiflung stets und kontinuierlich erneut zuzieht! Nach Kierkegaard ist es so, dass die Verzweiflung mit dem Grad ihres Bewusstwerdens an Intensität zunimmt. Vom Schicksal getroffen, wünscht sich der Mensch ver89 90

So O. F. Bollnow. Siehe Friedhelm Decher: Verzweiflung. Anatomie eines Affekts. Lüneburg 2002, S. 49. Hg. H. Diem u. W. Res. Kierkegaard steht der Epoche, der die beiden hier angeführten Autoren angehören, zeitlich nahe und seine Ausführungen verdienen deshalb besondere Aufmerksamkeit. Ich folge dabei F. Decher, der sich mit Kierkegaard ausführlich befasst hat.

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zweifelt ein neues Selbst. Wesentlich ist aber, dass Kierkegaard zwischen der Verzweiflung über „etwas“ und der Verzweiflung über „sich selbst“ differenziert. Werfen wir vorerst einen Blick zurück auf Nikolaj Karamsin (17661826), der ausgehend von seiner Beschäftigung mit philosophischen Problemen, wie der Natur des Bösen in der Welt und der Macht rätselhafter Schicksalsschläge, die das menschliches Glück immer wieder in Frage stellen letztlich an der Welt verzweifelte. Eine Versepistel an seinen Freund Alexander Pleschtschejew von 1794 bestätigt dies. Karamsin stellt fest, es gibt keine Definition des Glücks, – alle Philosophen wären an dieser Aufgabe gescheitert. „Das Schicksal hat erklärt: Die Welt soll die Wohnstätte von Illusionen und leerem Wahn sein...“91 Die Verzweiflung, in die Karamsin 1793-94 geriet, beruhte auf drei Faktoren – einem persönlichen Schicksalsschlag, dem Verlust eines engen Freundes; dem literarischen und kulturellen Wandel, der in der Literatur im Sturm und Drang Ausdruck fand; und schließlich auf einem zeitgeschichtlichen Ereignis, dem von der Revolution in Frankreich verursachten Blutbad. Alles zusammen war, mit Kierkegaard gesprochen, eine Verzweiflung über etwas, also nach Kierkegaard eine uneigentliche Verzweiflung. Man könnte auch mit Ludger Heidbrink mit Bezug auf die zweitund drittgenannten Aspekte der Verzweiflung bei Karamsin von einer historischen Verzweiflung sprechen, wobei Heidbrink das Fortschrittsbewusstsein am Ende der Aufklärung mit einem Leiden an der Herrschaft der historischen Zeit konfrontiert.92 In jedem Falle steht im Vordergrund die Verzweiflung „über etwas“. Kierkegaard würde bei Karamsin vermutlich von einem „affektiert verzweifelten“ Zustand sprechen. Es war der Beginn einer Krankheit, die sich noch nicht ganz erklärt hatte! Die „Krankheit“ brach aber nicht wirklich aus. Die uneigentliche Verzweiflung, die Karamsin erfasst hatte, fand eine versöhnliche Lösung, motiviert nicht zuletzt durch seine religiöse Grundeinstellung, die er nie ganz in Frage stellte. Karamsin verzichtete einerseits auf seine früheren hochgesteckten Erwartungen und sah in Werten wie der Kultivierung der Freundschaft und im erneuerten Glauben an Gottes Vorsehung Möglichkeiten, dem Bösen in der Welt zu begegnen. Zweifel blieben ihm. In seinem Gedicht An den armen Dichter (1796) sagt er: „Mein Freund! Die Wirklichkeit ist arm: Spiel' mit Träumen in Deiner Seele.“93 Der

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Nikolaj M. Karamzin: Polnoe sobranie stichotvorenij. Moskau-Leningrad 1966, S. 136-145. Vgl. zu Karamsin auch meinen Aufsatz Karamzin’s Spiritual Crisis of 1793 and 1794. In: J. L. Black (Hg.): Essays on Karamzin. Russian Man-of-Letters, Political Thinker, Historian, The Hague, Paris 1975. S. 69. L. Heidbrink: Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung. München 1994. Karamzin, op. cit., S. 193.

Dichter wird nun für ihn zu „einem erfahrenen Lügner“, dessen „angenehme Erfindungen“ das Leben versüßen. Dies erinnert an Hölderlins Zweizeiler Die Scherzhaften, „Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müsst! o Freunde! Mir geht dies // In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.“ Die Hölderlinsche Verzweiflung wurde allerdings von Karamsins tief verwurzelter Religiosität abgefangen. Es blieb beim Zweifeln und wie Kierkegaards Landsmann Jens Peter Jacobsen in Niels Lyhne schrieb, „im Zweifel verzweifelt niemand“, wie auch Kierkegaard schon festgestellt hatte. Karamsin hat es sich schließlich, wie es Kierkegaard formuliert, in der Endlichkeit eingerichtet, jedoch ohne dabei endgültig zum Kierkegaardschen Fatalisten und Deterministen zu werden. Karamsin führte eben, wie Kierkegaard auch sagt, eine ästhetische Existenz und dazu gehört das Spiel mit Möglichkeiten! Ganz anders war es mit dem eine Generation jüngeren, 1799 geborenen Alexander Puschkin, der zugleich in seinem lyrischen, dramatischen und prosaischen Schaffen einen Höhepunkt der Romantik in Russland darstellt. Nach einer turbulenten Jugend, die ihn immer wieder in Konflikt mit den Behörden brachte und ihn beinahe zur Teilnahme an der Adelsrevolte gegen die Zarenherrschaft im Dezember 1826 führte (= Dezembristenaufstand), wandelte sich der aus einem alten Adelsgeschlecht stammende Dichter um 1830 zu einem nationalkonservativen, standesbewussten Menschen, der Begriffe wie Liberalismus und Demokratie zutiefst ablehnte, allerdings die autokratische Herrschaft des Zaren durch verstärkte Teilnahme des Adels an der Regierung gemildert sehen wollte. Das comme il faut der gebildeten Adelsgesellschaft, das noch in Tolstojs Jugend so wichtig war, wie dessen Tagebücher uns so schön zeigen, galt in vollem Umfang auch für Puschkin.94 Seine Briefe geben uns indessen wenig Aufschluss über seine innersten Gefühle. Zar Nikolaj I., der nach dem Dezembristenaufstand den Thron bestieg, hatte damals mit dem aufmüpfigen Dichter ein ernstes Gespräch geführt, dessen Inhalt uns unbekannt geblieben ist. Man weiß, dass er Puschkin gerne zu seinem Hofdichter poeta laureatus gemacht hätte, wogegen sich der Dichter aber sträubte.95 Bald danach hatte er sich zum persönlichen Zensor des Dichters aufgeschwungen. Puschkin musste von da ab seine Manuskripte in der Kanzlei seiner Majestät einreichen! Nach vielen Liebesgeschichten lernte

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Puškin schrieb an seine Frau auch darüber: „Aber Du weißt, wie wenig ich alles mag…, alles, was nicht comme il faut ist; alles, was vulgär ist“ (Brief vom 27. 8. 1833), zit. in Robin Edmonds: Puschkin. Biographie. Zürich u. Düsseldorf 1996, S. 297 (Englische Originalausgabe: Pushkin. The Man and His Age. London 1994). Zur Biographie Puškins vgl.: Henry Troyat (= Lew Tarassow): Puschkin. Eine Biographie. München 1959 (Heyne Tb 1080). Französische Originalausgabe, Pouchkine. Paris 1953 und Gudrun Ziegler: Alexander S. Puschkin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1979 (Rororo rm 279).

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Puschkin im Jahre 1828 die bildschöne, junge Adelige Natalja Nikolajewna Gontscharowa kennen, die damals gerade 16 Jahre alt war! Sie hatte einen etwas zweifelhaften familiären Hintergrund, – der Vater war geisteskrank, der Großvater, der ihn vertrat, verschleuderte das Vermögen, Natalja selbst war arm wie eine Kirchenmaus, Puschkin tief verschuldet. Nichtsdestoweniger fand die Heirat 1831 statt. Natalja entwickelte sich bald zu einer sehr modebewussten, der Koketterie – heute würde man dafür Flirten sagen – nicht abgeneigten, etwas flatterhaften, an Literatur wenig interessierten Dame, die an rauschenden Bällen und Festen im Umfeld des Hofes Gefallen fand. Das illustriert ein Vorwurf Puschkins eineinhalb Jahre nach der Hochzeit, „Du kokettierst mit dem ganzen diplomatischen Korps!“96 Puschkin erhielt ab 1831 vom Zaren den nominalen Posten eines Ratgebers im Außenministerium für ein Jahresgehalt von 5.000 Rubel und damit verbunden Zutritt zu Archiven, was er für seine historischen Studien benötigte. Allerdings kostete die Zwölfzimmerwohnung, die Puschkin ab Dezember 1832 mietete, allein 3.300 Rubel jährlich. Der Zar half Puschkin mehrmals mit größeren finanziellen Zuwendungen, da der Dichter weiterhin verschuldet war, nicht zuletzt auch wegen seiner Passion für das Glückspiel, von dem er nicht lassen konnte. Sein Einkommen beruhte neben dem kleinen Gehalt auf den Einkünften von seinen literarischen Werken und da gab es immer wieder Schwierigkeiten, da die Zensur den Druck oft lange verzögerte. Der Zar, der von Natalja Nikolajewna fasziniert war und sich augenscheinlich in sie verliebt hatte, ernannte Puschkin im Dezember 1833 zum Kammerjunker, den niedrigsten Rang der höfischen Karriereleiter.97 Dies war ein Posten bei Hof, der jungen Adeligen zukam und deshalb von Puschkin als Demütigung empfunden wurde, ihn aber wie auch seine Frau verpflichtete, bei verschiedenen Anlässen, so auch bei intimen Hofbällen, zu erscheinen. Der Dichter notierte sich: „Ich bin zum Kammerjunker ernannt worden (das ist äußerst unschicklich in meinen Jahren). Aber der Hof wünscht, dass Natalja Nikolajewna im Anitschkow-Palast tanzen kann.“98

Dies war der Ort für intime Hofbälle. Puschkin, der die Verpflichtungen am Hof in ihrer wahren Natur wohl erkannte, wollte sich mehr als einmal davon

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Im Januar 1832 erwähnte Puškin in einem Brief an einen Freund, „sie [Natalja] tanzt auf Bällen, flirtet mit dem Zaren…“ (Edmonds, S. 212). In seinem Tagebuch notierte Puškin im Januar 1834, dass ihm der Großherzog (ein Bruder des Zaren) zu der Ernennung gratuliert hätte. Daraufhin hätte er geantwortet, „Ich danke Eurer Hoheit demütig. Bis jetzt hat mich jeder ausgelacht. Sie sind der erste, der mir gratuliert hat.“ Edmonds, op. cit., S. 224. Tagebuchnotiz vom 1.01.1834, zit. in Troyat, op. cit., S. 384f.

befreien, was vom Zaren jedoch als „Undankbarkeit“ gewertet und abgelehnt wurde. Er hätte in diesem Fall auch den Zugang zu den Archiven verloren. Puschkin, der sich gerne auf das Land zurückgezogen hätte, um in Ruhe an seinen historischen Werken zu arbeiten, war von nun ab unausweichlich an den Hof gebunden und geriet in immer größere Abhängigkeit vom Zaren.99 Im Herbst 1834 zogen die zwei Schwestern Nataljas, Alexandra und Katharina, nach St. Petersburg und ließen sich im Hause Puschkins nieder, der von nun an mit „seinem Harem“ von drei Damen, wie man in der Gesellschaft spöttelte, bei Festen am Hof erschien. Puschkin war gezwungen, eine größere Wohnung zu nehmen und die Schulden bei Monsieur Durier und Madame Sichler, den führenden Couturiers in St. Petersburg, wuchsen. Natalja merkte in einem Brief an ihren Bruder an, „Wir sind so verarmt, dass es Tage gibt, an denen ich nicht weiß, wie ich den Haushalt betreiben soll, und sich mir alles im Kopfe dreht.“ Ende des Jahres 1835 war Puschkin hoch verschuldet: „Er hatte Schulden bei Kaufleuten und Offizieren, beim Hausbesitzer, Schneider, Kutscher, Apotheker, Milchhändler, Bäcker, Buchbinder, dem englischen Kaufhaus, in dem sich sein Frau bediente, und bei seinem gesamten Personal.“100

Auch musste er ansehen, wie seiner Frau nicht nur vom Zaren der Hof gemacht wurde, sondern sie zugleich auch mit anderen flirtete. Was den Zaren betrifft, so ist es bis heute ungeklärt, ob sie bereits zu Puschkins Lebzeiten seine Mätresse war, nach seinem Tod wurde sie es. Die Quellen legen allerdings nahe, dass sie zu Lebzeiten Puschkins ihrem Mann treu blieb. Unmittelbar vor dem tödlichen Duell hatte Puschkin ein Gespräch mit dem Zaren, in dem er zugegeben haben soll, „ich gestehe freimütig, dass ich Sie persönlich im Verdacht hatte, meiner Frau den Hof zu machen.“101 Puschkins Situation hatte sich durch eine weitere Ballbekanntschaft Nataljas ab Herbst 1834 noch kompliziert. Im Mittelpunkt stand der holländische Gesandte in Russland, Baron Louis Borchard van Heeckeren, ein Mann von zweifelhaftem moralischen Charakter, den die österreichische Botschafterin in Russland 1829 als „gerissen, falsch und peu sympathique“ bezeichnete.102 Der damals 41-jährige Baron hatte 1833 auf der Rückreise nach

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Natalja war absolut dagegen von St. Petersburg wegzuziehen, wie sie ihrer Schwägerin Olga 1835 gestand. Sie könnte nicht einmal ein paar Tage von St. Petersburg weg! Edmonds, op. cit., S. 232. Troyat, op. cit., S. 414. Allein 1834 war Puschkin gezwungen, an die 3.000 Rubel für seinen Vater und seinen Bruder Lew zu bezahlen! Edmonds, op. cit, S. 224f. Edmonds, op. cit., S. 297. In einem Brief vom 1. 10. 1835 sah sich Natalja gezwungen, ihren Bruder zu bitten, ihr „einige hundert Rubel – in extrem dürftigen Umständen – “ zu schicken! Edmonds, S. 229. Ibid., S. 256.

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Russland in Deutschland zufällig den schlanken und hochgewachsenen 22-jährigen, überaus attraktiven, aber bettelarmen französischen Baron Georges-Charles d'Anthès getroffen, Gefallen an ihm gefunden und ihn kurzerhand in seiner Kutsche mitgenommen. D’Anthès war ursprünglich als Glücksritter nach Preussen gekommen und wollte, als er dort nicht ankam, sein Glück in Russland versuchen.103 1836 adoptierte ihn Baron van Heeckeren mit Zustimmung des natürlichen Vaters. Schon zwei Jahre davor hatte er ihn in St. Petersburg in die Gesellschaft eingeführt, wo er dank der Verbindungen seines prospektiven neuen „Vaters“ rasch Karriere machte und bereits 1834 Offizier der Gardekavallerie des Zaren wurde. Bald wurde er zum Modeheld der St. Petersburger Salons. Sein Offizierskollege Alexander Trubeckoj sagte im Rückblick von ihm und seinem „Vater“: „Ich weiß nicht zu sagen, ob er mit Heeckeren oder Heeckeren mit ihm zusammen lebte. Zu jener Zeit war Unzucht in der oberen Gesellschaft weit verbreitet…“104

Homosexuelle Neigungen waren, solange sie privat blieben, geduldet. Auf die zweifelhafte Natur dieser Beziehung deutet auch die Tatsache hin, dass d’Anthès in seinen französisch geschriebenen Briefen an seinen Adoptivvater ihn stets in der 2. Person Singular mit „tu“ und nicht im Plural mit „vous“ ansprach, wie es in Frankreich im 19. Jh. üblich war. Dieser d'Anthès, im selben Jahr wie Natalja geboren, hatte sich bald für sie interessiert. Natalja stand damals im Zenith ihrer gesellschaftlichen Erfolge und d’Anthès machte ihr den Hof, wobei er geschickt den leidenschaftlichen Liebhaber spielte. Natalja scheint sich ihrerseits tatsächlich in ihn verliebt zu haben. Von Küssen und Umarmungen abgesehen, geschah aber vorerst nichts weiter Anstößiges. Im Laufe des Jahres 1835 scheint sich das Interesse des „jungen Heekkeren“, wie d’Anthès nun in Russland genannt wurde, zu einer wahren Leidenschaft entwickelt zu haben, zumindest wenn man seinen Briefen an den Adoptivvater, die erst 1946 veröffentlicht wurden, Glauben schenken darf. Aus ihnen geht hervor, dass Natalja seine Liebe erwiderte, doch darauf bestand, „ihre Pflichten gegenüber ihrem Manne nicht zu verletzen.“ Laut d’Anthès soll sie zu ihm gesagt haben: „Ich liebe dich, wie ich noch nie zuvor geliebt habe, aber bitte mich nicht um mehr als mein Herz...“105 Im Hintergrund mag stehen, dass möglicherweise in der Liebe der 23-jährigen Natalja zu dem 35-jährigen Dichter eine gewisse Abkühlung eingetreten war. Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Wir kennen Puschkins Briefe an sie, die voll Vertrauen und Liebe sind, aber nicht die Nataljas. Auch gibt es eine,

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Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass der bekannte Graf von Monte Christo Dantès (= d’Anthès) heisst! Ibid., S. 258. Ibid., S. 266.

allerdings nicht sehr glaubwürdige Aussage, dass Puschkin auch nach seiner Heirat häufig Bordelle besucht haben soll. Andererseits schenkte ihm Natalja in der kurzen Zeit ihrer Ehe vier Kinder! Noch etwas mag von Bedeutung sein. Da Natalja mit ihrer Schwester Katherina ständig in St. Petersburg unterwegs war, lag es an der wenig attraktiven, aber mütterlichen Schwester Alexandra, welche Vergnügungen bei Hof eher vermied, die Kinder und den Haushalt zu betreuen. Puschkin war ihr zugetan, sie interessierte sich für Puschkins literarische Tätigkeit, verehrte ihn als den großen Dichter und ihre „mütterliche“ Sorge führte zuletzt zu einem besonderen Vertrauensverhältnis. Puschkins älterer und väterlicher Freund Schukowskij machte sich 1836 eine Notiz über Puschkins „Beziehungen [zu Alexandra] und Les révélations d’Alexandrine“. Es bleibt offen, was er damit meinte. Allerdings existiert eine, wenn auch sehr viel später aufgezeichnete Geschichte, die besagt, dass ein Diener einen Ring oder ein Kettchen Alexandras in Puschkins Bett (!) gefunden haben soll.106 Sicher ist jedenfalls, dass zwischen den beiden ein überaus vertrauliches Verhältnis bestand. Jedenfalls wissen wir, dass Natalja durchaus eifersüchtig auf ihre Schwester war. Henri Troyat, der Biograph des Dichters, charakterisiert das Verhältnis Puschkins zu den beiden Schwestern in der französischen Ausgabe seiner Biographie wie folgt: „Le corps de Nathalie et l’âme d’Alexandrine formaient un tout indissociable. Le poète, sans le savoir, aimait deux femmes à la fois“.107 Im Januar 1836 wurde die Rückzahlung eines Teils der 45.000 Rubel fällig, die Puschkin vom Zaristischen Schatzamt ein Jahr davor erhalten hatte.108 Da er die Rückzahlungen nicht leisten konnte, wurde ab 1. Januar sein Gehalt einbehalten! Er konnte seine Rechnungen nur mehr mit Schuldscheinen, die mit 10% verzinst wurden, bezahlen. Puschkin bereute zutiefst, dass er in den Dienst des Zaren getreten und zusätzlich dazu bei ihm verschuldet war: „Sie betrachten mich nun als einen Lakaien, den sie behandeln können, wie sie wollen. Schande ist leichter zu ertragen als Verachtung.“ 109

Er musste erkennen, dass er in eine Situation geraten war, mit der er so nicht weiter leben konnte, die sich ihm als ausweglos darstellte und aus der er sich auch nicht mehr zu befreien vermochte! Jeglicher Zweifel, den er bis dahin noch haben mochte, – Zweifel hält stets alternative Möglichkeiten offen! –, war verblasst. Der Verlust von Wahl- und Entscheidungsfreiheit vertiefte die

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Ibid., S. 262. Ibid., S. 273. Im Sommer 1835 hatte Puškin nach eigenem Eingeständnis 60.000 Rubel Schulden, worauf ihm das Schatzamt des Zaren 45.000 Rubel geliehen hatte. Ibid., S. 227f.

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Verzweiflung! Dazu kam, dass die Geheimpolizei seine Briefe an Natalja öffnete und sie mit allen intimen Details an den Zaren weitergab, was Puschkin bekannt wurde. Er notierte sich: „Ohne politische Freiheit zu leben ist wohl möglich; ohne familiäre Integrität aber unmöglich: Zuchthaus ist ungleich besser.“ In seinem Tagebuch notierte er sich: „Welch tiefe Unsittlichkeit in den Gewohnheiten unsrer Regierung! Die Polizei erbricht Briefe des Ehemanns an seine Frau… Ich kann Untertan sein, sogar Unfreier, – aber Knecht und Hofnarr werde ich auch beim himmlischen Herrscher nicht sein.“110

In seiner Zeitschrift Der Zeitgenosse veröffentlichte Puschkin einen Aufsatz über Voltaire, der gleich ihm die erniedrigende Stellung eines Kammerjunkers am Hofe Friedrich des II. innehatte. Darin schrieb er Zeilen, die wohl mehr für ihn selbst galten: „Der wahre Platz des Dichters ist sein Schreibzimmer... nur Unabhängigkeit und Selbstachtung allein können uns über die Bagatellen des Lebens und über die Stürme des Schicksals erheben.“

Beides hatte er verloren! Im Gegensatz zu Karamsin scheint bei Puschkin die Verzweiflung über etwas – das Verhalten seiner Frau, bzw. des Zaren und Ballbekanntschaften seiner Frau, wie auch die Zwänge einer Existenz im Schatten des Hofes –, sehr bald einer Verzweiflung über sein Selbst gewichen zu sein. War Karamsin mit Kierkegaard gesprochen eher ein Bornierter, der es sich in seiner beschränkten Existenz eingerichtet hatte, so war Puschkin in seiner Jugend ein Kierkegaardscher Phantast, der jegliche Begrenzung missachtete. Als er in den 1830er Jahren mehr und mehr Zwängen unterworfen wurde, die ihm immer engere Grenzen auferlegten, da versuchte er sein ihm aufgezwungenes Selbst abzulegen und sein wahres Selbst zu leben, was ihm aber nicht gelang. In einem Brief vom Mai 1836 schrieb er, „Der Teufel hat es sich ausgedacht, dass ich in Russland mit Seele und Talent geboren wurde.“111 Ausgehend von dem, was Kierkegaard die Verzweiflung über Irdisches nennt, entsprach sein Zustand schließlich dem, was Kierkegaard als eine Verzweiflung über sich in der Welt bezeichnet: „Das Selbst passt auf sich selbst auf, damit beschäftigt, die Zeit auszufüllen nicht es selbst sein zu wollen, und doch selbst genug, um sich selbst zu lieben.“

Das Resultat bezeichnet Kierkegaard als Verschlossenheit. Decher fasst zusammen:

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Hans Rothe: Puškin und der Staat. In: Gerhard Ressel: A. S. Puškin und die kulturelle Identität Russlands. Frankfurt a. M. 2001, S. 60. Alexander Sergeevič Puškin: Sobranie sočinenij v desjati tomach. (= Gesammelte Werke in 10 Bänden). Bd. 10, Moskau 1959-1962, S. 294.

„Das Entscheidende an diesem Zustand ist, dass der Verschlossene niemanden, keine einzige Seele, in sein Selbst einweiht... So lebt der verschlossen Verzweifelte dahin, in seinem Inneren abgekapselt von allem und jedem, beschäftigt allein mit dem Verhältnis seines Selbst zu sich selbst, verzweifelt bemüht, nicht er selbst sein zu wollen.“112

Dies trifft auf Puschkin recht gut zu, wenngleich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in letzter Radikalität. Denn – und ich bleibe bei Kierkegaard – sobald ein solcherart Verzweifelnder zum vollen Bewusstsein davon gelangt, weshalb er nicht er selbst sein will, beginnt er aus Trotz, sein wahres Selbst zu suchen. Puschkin, der geniale Dichter und Spötter, hatte sich viele Feinde gemacht, zudem hatte seine privilegierte Stellung bei Hof Neid geweckt. Jurij Lotman schreibt, es hatte sich „eine regelrechte gesellschaftliche Verschwörung gebildet, der sich Müßiggänger, Schwadroneure und Gerüchtemacher genauso wie erfahrene Intriganten und erbarmungslose Feinde des Dichters anschlossen: der von ihm lächerlich gemachte Bildungsminister Uwarow, Außenminister Nesselrode, der Puschkin hasste...“

Puschkin wurde immer gereizter und aggressiver, schien fieberhaft nach Anlässen für Duelle zu suchen. Lotman formuliert präzise, „dem verhängnisvollen Zweikampf ging eine ganze Kette von ‚Proben’ voraus – Duelle, die dann nicht stattfanden, und Forderungen, die mitunter jeder Grundlage entbehrten.“113

Daraus sprach ein gewisser Überdruss an der Welt, der Wunsch sich an ihr zu rächen, wobei dem allen wohl die Erkenntnis der Unmöglichkeit zu Grunde lag, das was er als sein wahres Selbst betrachtete, zu verwirklichen. In einem Brief vom Beginn des Dezembers 1836 an seinen guten Freund Odojewskij resumierte er schließlich: „Bloß der Teufel weiß, wie erschöpft ich bin.“114 Eingangs war die Rede davon, dass Verzweiflung eine Krankheit zum Tode sei. Kierkegaard hat dargelegt, dass im Gegensatz zu einer schweren Erkrankung die Qual der Verzweiflung gerade darin besteht, nicht sterben zu können. So mag es auch Puschkin letztlich empfunden haben, selbst wenn die Notizen noch versöhnlich klingen mögen. Zuletzt scheint er aber den Tod gesucht zu haben. Puschkins Gesundheitszustand hatte sich 1836 deutlich verschlechtert. In einer allerdings erst nach seinem Tode geschriebenen Kurzbiographie lesen wir in Bezug auf sein letztes Lebensjahr:

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Decher, op. cit., S. 29. J. Lotman: Alexander Puschkin – Leben als Kunstwerk. Leipzig 1989, S. 320 u. 325. Puškin, op. cit., S. 322.

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„Er konnte nur unter Schwierigkeiten eine fortlaufende Unterhaltung führen, konnte nicht lange am selben Ort sitzen. Er schauderte, wenn er laute Geräusche hörte – Gegenstände, die auf den Boden fielen. Er öffnete nervös Briefe. Er konnte weder den Lärm von Kindern noch Musik ertragen.“115

Natalja schrieb an ihren Bruder: „Ich sehe, wie traurig und niedergeschlagen er ist. Er kann nachts nicht schlafen...“ Puschkin selbst schrieb an seinen Vater. „Hier tue ich nichts, außer Bitterkeit zu produzieren.“ Doch nun zu den literarischen Texten, die seinen innersten Zustand, wie wir annehmen können, und seine Zerrissenheit widerspiegeln. Gegen Ende des Jahres 1833 schrieb Puschkin ein Gedicht, in das er augenscheinlich bereits seine ganze Verzweiflung hineinlegte. In Gebe Gott, dass ich nicht den Verstand verliere... stellt er ein Leben in Freiheit dem Dasein in einer geschlossenen Anstalt gegenüber. Seine Freiheit stellt der Dichter bezeichnenderweise als hypothetisch dar: „Wenn man mich in Freiheit ließe, würde ich stürmisch mich in den dunklen Wald begeben...“ Er wäre „voll des Glücks..., stark und frei wäre ich...“ Dem stellt er das Dasein eines Wahnsinnigen im Vergleich mit einem Zoo dar, wo er „angekettet wäre wie ein Tier“, den „Spöttereien der Zuseher“ ausgesetzt, die vor dem Gitter zu ihm drängen. Das Gedicht endet mit dem Bild einer schlaflosen Nacht, in der nur das Schreien der Irren, das Klirren der Ketten und die Flüche des nächtlichen Wachpersonals zu hören sind. Der Dichter sieht sich als Wahnsinnigen, als Ausstellungsobjekt in einem Zoo, als „angekettet“ und im Begriff, den Verstand zu verlieren! Das Gedicht findet eine merkwürdige Parallele in einem Brief des Dichters an seine Frau vom Sommer 1834. Puschkin schreibt da, dass er gerne noch 25 Jahre leben würde, sollte er aber früher als zehn Jahre „sich abwenden“ müssen, so schreibt er, „weiß ich nicht, was Du machen wirst und was Mascha [Tochter] sagen wird, und besonders Sascha [Sohn]. Er wird wenig Trost darin finden, dass man sein Papachen als einen Hofnarren (!) begraben hat und Mamachen so wahnsinnig lieb war auf den Bällen im Anitschkow-Palast.“116

Ein zweites, im Sommer 1834 entstandenes Gedicht ist nicht in Strophen gegliedert und besteht nur aus 8 Zeilen, die an seine Frau gerichtet sind, in denen Puschkin den raschen Flug der Zeit beklagt, vom kommenden Tode spricht und wiederum seinen tiefen Wunsch ausdrückt, aus der „großen Welt“ zu fliehen, denn „in der Welt gibt es kein Glück“, aber „es gibt Ruhe und Freiheit“. Wie ein „müder Sklave“, träumt er von einer Flucht fort „an den fernen Ort des Schaffens und reiner Freuden.“ Puschkin hat Notizen für

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Siehe Edmonds, op. cit., S. 276f., siehe dort auch die beiden folgenden Zitate. Puškin, op. cit., S. 205f.

die geplante Fortsetzung des Gedichtes hinterlassen, in denen er deutlicher seinen Wunschtraum formulierte: „ins Dorf übersiedle ich meine Penaten – Felder, Garten, Bauern, Bücher; poetisches Schaffen – Familie, Liebe etc. – Religion, Tod.“117

Am 4. November 1836 erhielt Puschkin einen anonymen Brief mit einer klarer Andeutung, dass er ein gehörnter Ehemann sei. Weitere Kopien gingen an eine Reihe von Bekannten. Der Text war kurz und deutlich: „Die Ritter des großen Kreuzes, die Kommandeure und die Ritter des sehr vornehmen Ordens der betrogenen Ehemänner, die sich unter dem Vorsitz des ehrenwerten Großmeisters des Ordens, Seiner Exzellenz D. L. Naryschkin, im großen Kapitelsaal versammelten, haben einstimmig Monsieur Alexander Puschkin zum Assistenten des Großmeisters des Ordens und zum Historiker des Ordens gewählt. Der ständige Sekretär Graf I. Borche.“118

Der erwähnte Dmitrij Naryschkin war der Ehemann der schönen Maria, der langjährigen Geliebten Alexander I., des Vorgängers des Zaren Nikolaus. Dies konnte nur heißen, dass Puschkin vom Zaren so viele Vergünstigungen erhalten hatte, weil er ihm so wie einst Naryschkin seine Frau zur Verfügung stellte. Die Anspielung war deutlich genug. Als Autoren werden heute zwei homosexuelle Aristokraten, Fürst Peter Dolgorukow und Fürst Iwan Gagarin vermutet, doch fehlt der letzte Beweis. Puschkin konnte damals nur raten. Er musste handeln, da Kopien des anonymen Schreibens auch an andere Personen gegangen waren. Den Zaren konnte er nicht zum Duell fordern, auch war er sich nicht sicher, ob der Autor nicht absichtlich einen Konflikt zwischen ihm und dem Zaren herbeizuführen beabsichtigte. Es gab aber einen anderen Rivalen, in dem Puschkin den Autor vermutete. Er bezichtigte den Baron van Heeckeren, dass er der Autor des anonymen Schreibens wäre und fügte weitere beleidigende Worte an die Adresse des Adoptivsohnes dazu, den er als Emporkömmling verachtete, und forderte ihn kurzerhand zum Duell heraus. Der Brief war an d’Anthès gerichtet, wurde aber von Baron van Heeckeren abgefangen. Um das anstehende Duell abzuwenden, arrangierte van Heeckeren, der um das Leben seines Adoptivsohns fürchtete, dass d'Anthes sich bereit erklärte, um die Hand Katharinas, der Schwester Nataljas, anzuhalten, die ohnehin ihrerseits in den jungen Offizier verliebt war. Die Verlobung wurde angesetzt und Puschkin blieb nichts anderes übrig, als seine Duellfor117 118

Siehe Anhang zu 1.3. Les Grands-Croix, Commandeurs et Chevaliers du Serenissime Ordre des Cocus, réunis en Grand Chapitre sous la présidence du vénérable Grand Maitre de l’Ordre S.E.D.L. Narychkine, ont nommé à l’unanimité M. Alexandre Pouchkine coadjuteur du Grand Maitre de l’Ordre des Cocus et historiographe de l’Ordre. Le sécrétaire pérpetuel: Cte J. Borche. Zit. Edmonds, op. cit., S. 281.

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derung an den künftigen Schwager zurückzuziehen. Die Hochzeit fand am 10. Januar 1837 statt. Puschkin war nun der Meinung, dass er der Sieger in dieser Auseinandersetzung war, da er seinen Rivalen d'Anthès als Feigling, der vor dem Duell in eine ungewollte Ehe flüchtete, bloßgestellt hätte. Dies wurde aber in der Öffentlichkeit keineswegs so gesehen. Da dachte man anders: Wenn d’Anthès Katharina heiratete, die eine nicht sehr attraktive Frau und zudem älter als er und ohne Geld oder Besitz war, dann wohl nur um der Ehre Nataljas willen und um der Familie Puschkin einen Skandal zu ersparen. Damit vollbrachte er ein persönliches Opfer und wurde zum Helden, – für Puschkin blieb nur die Rolle des Schurken. D’Anthès hatte als Schwager Puschkins nun ein freieres Verhältnis zu Natalja und nutzte dies, um auch nach seiner Eheschließung mit seiner neuen Schwägerin Natalja zu flirten, obwohl ihm Puschkin den Zutritt zu seinem Haus verboten hatte. Die Situation spitzte sich weiter zu, als d’Anthès auch in Anwesenheit seiner Frau Katharina seine Leidenschaft für Natalja betonte. Am Abend des 23. Januars fand ein Ball statt, bei dem d’Anthès einen geschmacklosen Witz über seine Frau und Natalja machte, den diese dann ihrem Mann weiter erzählte. Dies brachte anscheinend das Fass zum Überlaufen. Am nächsten Tag verpfändete Puschkin das Tafelsilber seiner Schwägerin Alexandra für 2.200 Rubel und schrieb einen scharfen Brief an den Baron van Heeckeren, der diesem am 25. Januar überbracht wurde. Außerdem bestellte er zwei Pistolen.119 In seinem Brief fielen äußerst verletzende Ausdrücke an die Adresse des Barons van Heeckeren und seinen Adoptivsohn, wie folgende Briefzitate zeigen: „Sie… sind als väterlicher Kuppler Ihres Sohnes aufgetreten… Wie ein obszönes altes Weib lauerten Sie meiner Frau hinter jeder Ecke auf, um ihr von der Liebe Ihres Bastards (oder was dergleichen) zu berichten… Ihrem Sohn kann ich nicht gestatten… nur ein Wort an meine Gattin zu richten. Noch viel weniger sollte er Soldatenwitze vortragen und die Rolle des Hingebungsvollen und unglücklich Leidenschaftlichen spielen, denn er ist nichts als ein Feigling und ein Schuft. …“120

Die Antwort traf prompt ein: Bereits am 26. Januar 1837 forderte ihn van Heeckerens Adoptivsohn zum Duell. Der Baron selbst konnte sich als Diplomat nicht schlagen. Die Sekundanten bemühten sich noch, ein Gespräch zur Beilegung der Auseinandersetzung herbeizuführen. Puschkin lehnte brüsk ab. Der kurze Absagebrief an den Sekundanten ist erhalten. Er klingt so, als hätte Puschkin bereits mit seinem Leben abgeschlossen, man könnte vielleicht sagen, das von ihm herbeigeführte Duell war vielleicht in Wirklichkeit ein Selbstmordversuch des Dichters. Auf den Gipfeln der Verzweif-

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Edmonds, op. cit., S. 296. Ibid., S. 298f. Siehe auch Rolf-Dietrich Keil: Puschkin. Ein Dichterleben. Frankfurt u. Leipzig 2001. S. 439-442.

lung angelangt, wünschte er sich nun „vielleicht nichts sehnlicher, als in dem ihn allseits umfassenden Dunkel der Nacht auf ewig zu versinken, um am Ende in die Ruhe des Grabes hinüberzugleiten…“121 Puschkin: „Ich bin mit keinerlei Unterredungen zwischen den Sekundanten einverstanden... Ich werde meinen [Sekundanten] nur an den Ort der Begegnung bringen... er [d'Anthès] kann, wenn es ihm gefällt, einen Sekundanten für mich wählen; ich akzeptiere ihn vorweg... dies ist mein letztes Wort und ich habe betreffs dieser Angelegenheit nichts weiter zu antworten... Ich werde das Haus nur mehr verlassen, um an den Ort des Duells zu fahren.“

Die Bedingungen des Duells waren überaus hart: Die Duellanten mussten sich in einer Entfernung von zwanzig Schritten voneinander aufstellen, jeder dabei fünf Schritte von einer Barriere entfernt. Auf Signal konnten sie maximal diese fünf Schritte aufeinander zugehen, sodass dann nur mehr eine Distanz von zehn Schritten zwischen ihnen lag. Sie konnten aber auch jederzeit vor Erreichen der Barriere einen Schuss abgeben. Das Duell sollte bis zur Kampfunfähigkeit eines der Duellanten dauern. Das Duell fand am 27. Januar 1837 am Stadtrand von St. Petersburg statt. Puschkin hatte weder Familie noch Freunde davon informiert! D’Anthès schoss bereits vor Erreichen der Barriere, Puschkin wollte vermutlich bis zur Barriere schreiten. Der Schuss traf ihn im Unterleib, verletzte Hüfte und Darm. Bereits auf dem Boden liegend, zielte er sorgfältig auf die Brust seines Gegners, der ihm die Schmalseite seines Körpers darbot und mit dem Unterarm sein Herz schützte. Puschkin traf genau, durchschoss den Arm d’Anthès’, die Kugel prallte dann auf einen Uniformknopf und verursachte weiter keine Verletzung. D'Anthès stürzte zu Boden, Puschkin rief „Bravo“. Er wurde in seine Wohnung zurückgebracht und Ärzte wurden gerufen, die die Schwere der Verletzung erkannten und dem Dichter keine Hoffnung machten. Zwei Tage später starb Puschkin an seiner Verletzung. Es stellen sich zwei Fragen. Warum stimmte Puschkin der kurzen Distanz von nur 10 Schritten zu? Als exzellenter Schütze hätte er bei einer wesentlich größeren Distanz die besseren Chancen gehabt. Warum ließ er seinem Rivalen den ersten Schuss, der ihn tödlich verletzte und schoss nicht als Erster? Selbst als er bereits zu Tode verletzt am Boden lag, traf er mit seinem Schuss, den er bereits verletzt und liegend abgab, den Rivalen genau über dem Herz. Nur ein Uniformknopf rettete diesen vor dem Tod. Juri Lotman interpretiert die Ereignisse, die zum Tod des Dichters führten, auf seine Weise: „Er entriss seinen Verfolgern die Initiative und gestaltete das Spiel nach eigenem Plan. Opfer zu sein, lag nicht in seinem Charakter.“122

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Titel eines Buches von Emile M. Cioran. Siehe Decher, op. cit., S. 68.

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Was aber war dann sein Plan? Es war möglicher Weise die äußerste Verzweiflung, die ihn dazu führte, sein wahres Selbst im Bewusstsein der Aussichtslosigkeit aller Bemühungen dem Schicksal zur Entscheidung zu überlassen! Puschkin war der bessere Schütze, sein Gegner jünger, vermutlich in besserer Form, aber nicht als guter Schütze bekannt. Warum also überließ ihm Puschkin die Möglichkeit des ersten Schusses, indem er selbst bis an die Barriere gehen wollte, um dann auf kürzeste Distanz seinen Schuss abzugeben. Er musste doch wissen, dass er damit das Schicksal herausforderte! Erinnerte sich Puschkin an die Petersburger Wahrsagerin Alexandra Kirchhof, die ihm 1819 – Puschkin war damals 20 Jahre alt – vorhergesagt hatte, er werde im Alter von 37 Jahren sterben, wenn er nicht einer Gefahr, die ihm von einem weißen Mann drohe, auszuweichen verstehe! D’Anthès trug als Gardeoffizier eine weiße Uniform, auch beim Duell war sie unter seinem Mantel sichtbar. Puschkin war überaus abergläubisch, was vielfach belegt ist. Seine Biographin Gudrun Ziegler meint dazu, „Puschkins Vorstellung vom Schicksal hatte einen Hauch von ‚schwarzer Magie’.“123 Man kann gegen diesen Hintergrund vermuten, dass er sich dieser Weissagung bewusst war! Warum verständigte er weder seine Familie, noch von wenigen, unumgänglich notwendigen Ausnahmen abgesehen, seine engsten Freunde von dem bevorstehenden Duell? Noch auf der Fahrt zum Ort des Duells begegnete ihm eine Kutsche mit seiner Frau. Puschkin ließ nicht anhalten. Am Totenbett noch beruhigte er seine Frau und sagte zu ihr: „Sei ruhig… Du hast keine Schuld an meinem Tod… Das ist eine Sache, die mich allein angeht…“124

Kurz vor Eintreten des Todes fügte er dem hinzu: „Sieh zu, dass man dich vergisst. Zieh weg aufs Land. Trage zwei Jahre lang Trauer, dann verheirate dich wieder, aber mit einem geeigneten Mann.“125

Beides lässt klar erkennen, dass Puschkin seiner Frau keine Schuld zuwies. Es war etwas, das „allein ihn anging“, wie er meinte. Dies wird durch ein weiteres Faktum belegt. In den letzten Tagen vor dem Duell arbeitete Puschkin an einem Aufsatz für seine Zeitschrift über Milton und Chateaubriands Übersetzung von Paradise Lost. Darin unterstrich er sich folgende Worte, die sich auf Milton bezogen, der bereits blind, in Armut und verfolgt von übler Nachrede Paradise Lost diktierte: „… in schlechten Zeiten das Opfer übler

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Lotman, op. cit., S. 326. Ziegler, op. cit., S. 143. Troyat, op. cit., S. 486. Ibid., S. 491.

Nachrede.“126 Man kann vermuten, dass er diese Worte auch auf sich selbst bezog und sich als Opfer von Verleumdungen und „übler Nachrede“ sah. Natalja sah sehr wohl auch den Hintergrund dazu, den Puschkin verdrängte. Als sie erkannte, dass der Tod ihres Mannes unvermeidlich geworden war, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, umklammerte den Arm des Arztes Dr. Dahl und schluchzte, „Ich habe meinen Mann getötet. Ich bin schuld an seinem Tod. Aber ich schwöre vor Gott, dass mein Herz und meine Seele rein sind.“127

Dies alles lässt sich im Sinne Lotmans verstehen, Puschkin „gestaltete das Spiel nach eigenem Plan.“ Und diesem Plan lag, muss man vermuten, die Erkenntnis des Dichters zugrunde, dass die Situation ausweglos geworden war, sodass er die Entscheidung über Tod oder Leben dem Schicksal überließ. Berücksichtigt man die Weissagung von 1819, dann könnte man es auch schärfer formulieren: Es handelte sich um einen möglicherweise auch unbewusst inszenierten Selbstmord, bei dem sich Puschkin allerdings eine „Hintertüre“ offen ließ, – sollte er es im Duell schaffen, unversehrt bis zur Barriere zu kommen und dann seinen Schuss abzugeben, dann gäbe es noch ein Weiterleben in Ehren und eine Zukunft jenseits der absoluten Verzweiflung, die ihn erfasst hatte! Denn es kann als sicher angenommen werden, und Puschkin muss sich dessen bewusst gewesen sein, dass in diesem Falle d’Anthès keine Chance gehabt hätte! Die Tragik dieses Duells, das Russland seines größten Dichters im Alter von 37 Jahren beraubte, wird durch ein weiteres Faktum unterstrichen. Duelle waren in Russland offiziell verboten. Die Regierung hatte von dem Duell Puschkins erfahren und Beamte zum Ort des Duells ausgeschickt, um es zu verhindern. Diese hatten jedoch eine falsche Ortsbeschreibung erhalten. Es wird vermutet, dass dies mit Absicht geschah. Als sie auf Umwegen mit beträchtlicher Verspätung eintrafen, hatte das Duell bereits stattgefunden. War dies ein Zufall? Führende Regierungsfunktionäre wie Nesselrode und Uwarow waren mit Puschkin verfeindet! Der Bruder des Zaren, Großfürst Michael, meinte zu Puschkins Tod: „Eine Last weniger!“ D’Anthès wurde gar von vielen dazu beglückwünscht, dass er Russland von einem „allgemein bekannten Liberalen“ befreit hätte!128 Der Zar sorgte für die Familie des Verstorbenen, wie er Puschkin bereits am Totenbett wissen ließ. Frau Puschkin erhielt eine Pension, die Schulden des Dichters wurden bezahlt, Zar Nikolaus veranlasste die Publikation der Werke und übernahm die Sorge für die Ausbildung der Kinder. D’Anthès wurde degradiert zum einfachen Soldaten und 126 127 128

Edmonds, op. cit., S. 295. Troyat, op. cit., S. 494. Ibid., S. 496f.

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mit Polizeibegleitung an die Grenze gebracht. Baron van Heeckeren musste ebenfalls Russland verlassen und wurde bald darauf niederländischer Gesandter in Wien. Ab 1842 nahm Natalja auf Wunsch des Zaren wieder an Hofbällen und den Vergnügungen der aristokratischen Gesellschaft in St. Petersburg teil. Zwei Jahre später hielt der Generalmajor Lanskoj, der einst Wache gehalten hatte, als sich Natalja geheim mit d’Anthès traf, um ihre Hand an. Natalja stimmte zu. Lanskoj wurde daraufhin vom Zaren zum Kommandanten des Gardekavallerieregiments ernannt und erhielt auf Staatskosten eine prunkvoll eingerichtete Wohnung in St. Petersburg. Zar Nikolaus wurde Taufpate des ersten Kindes der beiden! (Troyat, S. 509f.) Musste dies nicht an seinen Vorgänger Zar Alexander I. und die schöne Marija Naryschkina erinnern? Im Nachlass des d’Anthès wurde ein Brief Nataljas, datiert vom 10. Juni 1844, gefunden, in dem sie d’Anthès aus Anlass ihrer Verehelichung bittet, ihre Briefe zu verbrennen und nicht mehr zu korrespondieren. Sie schreibt: „Seien Sie gewiss, dass ich niemals vergessen werde, dass Sie es waren, der mich bekehrte, dass ich Ihnen die guten Gefühle schulde und die vernünftigen Gedanken, die ich nicht kannte, bevor ich Ihnen begegnete.“129

Der Biograf Puschkins Henri Troyat fasst zusammen: „Natalja war glücklich mit Lanskoj, zweifellos glücklicher als mit Puschkin. Sie alterte in vornehmer Gemütsruhe und wurde eine hochachtbare Dame mit strengen, verblühten Gesichtszügen und traurigen Augen.“130 (Troyat, S. 510)

Natalja starb acht Jahre nach dem Tod des Zaren am 26. November 1863 im Alter von einundfünfzig Jahren. Juri Lotman über die Gesellschaft, in der Puschkin lebte: „Poesie und Menschenwürde, Schöpfertum und Genialität waren zutiefst fehl am Platz in der Welt, in der Puschkin lebte, und darum stieß ihn diese Welt von sich ab wie einen Fremdkörper, womit sie ihn zugleich aus dem Leben stieß. Diese Welt hatte ihm zwar ein Leben zu bieten, doch zu Bedingungen, die der Dichter nicht zu akzeptieren vermochte.“

Diese Worte sind hart, umreißen aber exakt die Zustände, die in Russland herrschten, und mit denen Dichter konfrontiert wurden. Auf Puschkin folgte Lermontow, der gleichfalls in einem Duell starb, – nachdem er vom Zaren in das Kriegsgebiet im Kaukasus geschickt worden war. 129

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Rolf-Dieter Kluge: A. S. Puschkins tragisches Ende. In: „Ein Denkmal schuf ich mir...“ Alexander Puschkins literarische Bedeutung. Eine Ringvorlesung aus Anlaß seines 200. Geburtstages. Hg. R.-D. Kluge, Tübingen 2000, S. 337. Datum und Autorschaft des Briefes sind nach Kluge allerdings nicht eindeutig gesichert. Ibid., S. 510.

Puschkins Duell und Tod kann nur als Ausdruck seiner äußersten Verzweiflung verstanden werden, die ihm wohl den Tod als letzten Ausweg erscheinen ließ. Anhang: Zwei Gedichte ohne Titel.131 „Gott, lass mich nicht den Verstand verlieren, Nein, lieber Wanderstab und Beutel; Nein, lieber Mühsal und Hunger. Nicht dass ich meinen Verstand hochschätzte; nicht, dass ich mich ungern von ihm trennte: Wenn man mich in Freiheit ließe, wie freudig würde ich in den dunklen Wald laufen! Ich würde in flammendem Fieberwahn singen, ich würde mich vergessen im Nebel wirrer, wunderlicher Träume. Ich würde den Wellen hingegeben lauschen, und ich würde, des Glückes voll, in den leeren Himmel schauen; und ich wäre stark und frei wie der Wirbelstrurm, der die Felder aufwühlt, der die Wälder knickt. Aber das Schlimme ist: Verliere den Verstand, und du wirst schrecklich wie die Pest sein, sofort wird man dich einsperren, man wird dich Irren an die Kette legen und man wird kommen, um dich wie eine Tier durch das Gitter zu reizen.

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Vgl. die zweisprachigen Texte der beiden Gedichte in: Kay Borowsky u. Ludolf Müller (Hgg.): Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1983 (Reclam jun. Universal-Bibliothek, 7994), S. 130f. Der Autor hat sich erlaubt, an einigen wenigen Stellen die Übersetzung neu zu formulieren.

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Und nachts werde ich nicht die helle Stimme der Nachtigall hören, nicht das dumpfe Rauschen der Eichenwälder – sondern das Schreien meiner Kameraden, das Schimpfen der nächtlichen Aufseher, das Gellen und Klirren der Ketten.“ (1833) „Es ist Zeit, mein Freund, es ist Zeit! Das Herz bittet um Ruhe – Es fliegen die Tage, Tag um Tag davon, jede Stunde trägt Ein Teilchen des Daseins fort, und wir beide Gedenken gemeinsam zu leben… Und sieh gerade da werden wir sterben. Auf der Erde gibt es kein Glück, aber es gibt Ruhe und Freiheit. Lange schon träumt mir ein beneidenswertes Los – Lange schon plante ich, ein müder Sklave, die Flucht in eine ferne Heimstatt des Schaffens und der reinen Wonnen.“ (1834)

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II. Von der Romantik zum Realismus 1. Das Kierkegaardsche Paradigma in der Geschichte der Literatur Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat in seinem Werk Entweder/Oder den ästhetisch lebenden Menschen als Verkörperung des modernen Menschen bezeichnet und ihn dem ethisch lebenden Menschen gegenübergestellt.132 Eine bestimmte Ausrichtung einer christlich-konservativen Kulturkritik hat Kierkegaards Analyse des Ästhetikers in eine umfassende Kritik der Moderne eingebaut, in der die Moderne rundweg verdammt wird. Es ist das Anliegen dieser Studie, Kierkegaards scharfsinnige Analyse aus dieser Fixierung zu lösen und sie dem humanistisch geprägten Bildungsideal der Zeit vom späten 18. bis zum frühen 20. Jh. zuzuordnen. Wird Kierkegaard in Zusammenhang mit Literatur und Kunst genannt, so denkt man in erster Linie an Gelehrte, wie den Literarhistoriker Rehm und den Kunsthistoriker Sedlmayr, mit deren Namen die christlich-konservative Kritik an der Moderne, wie sie von der unmittelbaren Nachkriegszeit nach Ende des 1. Weltkriegs bis hinein in die sechziger Jahre weit verbreitet war, verbunden ist. Dahinter steht eine weltanschaulich konservative Gesellschaft- und Kulturkritik, die über Kunst und Literatur hinausgehend, die gesellschaftliche Entwicklung der Neuzeit als Fehlentwicklung versteht. Revolutionen und Weltkriege haben das ihre dazu beigetragen, die Moderne insgesamt zu verdammen. Kierkegaards Kategorien wurden fest in diese Sicht der historischen Entwicklung integriert. Es ist das Anliegen dieser Studie, sie wieder aus dieser Fixierung herauszulösen und zu zeigen, was sie bei einer nüchternen Betrachtung der literarischen Entwicklung leisten können. Doch vorerst einige Zeilen zur christlich-konservativen Kulturkritik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Schlüsselfigur ist der einst viel zitierte Pitirim Sorokin, dessen Studie Die Krise unserer Zeit. Ihre Entstehung und Überwindung 1950 erschien.133 Sorokins Diagnose des gesellschaftlichen Zustands und seiner Wurzeln lässt sich wie folgt zusammenfassen:

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Texte von Kierkegaard werden nach der folgenden Ausgabe zitiert: Sören Kierkegaard: Entweder/Oder, 2 Bände, Jena 1922. Pitirim A. Sorokin (geb. 1889) wuchs in Russland auf und lehrte von 1916 bis 1922 an der Universität in Petrograd (= St. Petersburg). Zwischen den beiden Revolutionen war er Mitglied der Kerenskij Regierung. Nach einem Prozess, der mit einem Todesurteil endete, das in Verbannung umgewandelt wurde, konnte er in die USA emigrieren. Seit 1930

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1. Kulturen entstehen und vergehen, wobei sie zwischen zwei Wertesystemen pendeln: Dem ideationalen Kultursystem, das dem Glauben an einen „übersinnlichen“ und „übervernünftigen“ Gott verpflichtet ist, und dem sensoriellen Kultursystem, das nur die mit den Sinnen erfassbare Realität kennt. Sorokin meint, ein „allen Gliederungen gemeinsamer Grundwert bildet die Prämissen und die Stütze der betreffenden (einheitlichen) KulturGanzheit.“134 2. Die europäische Kultur kannte urspünglich nur das ideationale Wertesystem, in dem Gott als Grundwert und fundamentales Wertprinzip erscheint. Sie beruhte auf einer theokratischen Basis: „Kurzum, die integrierte mittelalterliche Kultur war... ein einheitliches System, ein Ganzes, dessen Teile das gleiche höchste Wahrheits- und Wertprinzip bekannten: einen unendlichen, übersinnlichen und übervernünftigen Gott, der allgegenwärtig, allmächtig, allwissend, absolut gerecht, gut und herrlich ist, der die Welt und den Menschen erschaffen hat.“135

3. Ab dem Ende des 12. Jh. sei es durch die Wendung zu einem wissenschaftlichen, der sinnlichen Wahrnehmung und dem Experiment verpflichteten Weltbild zum Verfall dieses Kultursystems gekommen. Diese Wende vollzog sich in Stufen: Im 13. und 14. Jh. entstand das idealistische Kultursystem, das gleichermaßen getragen war vom Glauben an die Transzendenz, dem Vertrauen auf die Vernunft und die Sinneswahrnehmung. Ab dem 16. Jh. kehrte sich die Reihenfolge der Werte um: An die erste Stelle traten die Sinneswahrnehmung und die Vernunft; die Bindung an einen transzendenten Gott wurde immer loser. Die moderne sensorielle Kultur beruhe allein auf Sinneswahrnehmung. Es gebe keine andere Realität und keine anderen Werte. Die Bindung zur Transzendenz sei gekappt. 4. Die moderne sensorielle Kultur der Gegenwart sei krank und befinde sich in einer tiefen Krise. Sie sei von geistigem Verfall, Desintegration, Chaos, Amoralismus, und – aus politischer Sicht – von Revolutionen und Totalitarismen gekennzeichnet. 5. Die Künste einschließlich der Literatur spiegeln am deutlichsten den Zustand der Kultur.136 Die sensorielle Kunst der Gegenwart, von Sorokin als Modernismus bezeichnet, sei vorzüglich diesseitig, dekadent, abartig, amoralisch. Ihre Kennzeichen seien die Sucht nach dem immer Neuen, Sensationel-

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lehrte er als Kultursoziologe an der Harvard Universität und entfaltete ein fruchtbares und weithin einflussreiches Wirken. P. Sorokin: Die Krise unserer Zeit. Ihre Entstehung und Überwindung. Joachim Heinrich-Verlag 1950, S. 13. Op. cit., S. 14. Ibid., S. 24.

len, nach Exotik. Sie sei krankhaft und pathologisch. An die Stelle von elitären Einzelleistungen trete die Massenproduktion. „Die westliche Kultur liegt in vollkommener Dunkelheit. Ein gewaltiger Tornado fegt über die ganze Menschheit hin.“ (Sorokin, 1950, S. llf.) Sorokin fasst zusammen: „Im Stadium der Überreife [der sensoriellen Kunst; R .N.] werden Prostituierte, Verbrecher, Gassenjungen, Geisteskranke, Hypokriten, Vagabunden und andere Typen der minderwertigen Gesellschaft ihre ‚Helden’... Daher muss sie sensationell sein, leidenschaftlich, pathetisch, sinnlich und unaufhörlich neu. Sie kennzeichnet sich durch geile Nacktheit und Begierde. Das Band mit Religion, Sitte und anderen Werten hat sie gelöst...“ „Fassen wir das Ergebnis zusammen: die zeitgenössische Kunst ist in erster Linie ein Sammelbecken krankhafter Erscheinungen aus Kultur und Gesellschaft. Ihr Schwerpunkt liegt im Leichenschauhaus der Polizei, im Versteck des Verbrechers und den Geschlechtsorganen, und sie vollbringt ihre Leistungen zumeist in einem Geiste, welcher dem Tiefstand der gesellschaftlichen Kloaken entspricht.“137

In Sorokins Geschichtsbetrachtung liegt eine eschatologische Radikalität, die vielleicht vieles der russischen Tradition und dem persönlichen Erleben des Autors verdankt. In gemilderter Form, aber nichtsdestoweniger umfassend und letztlich modernefeindlich ist die Kritik eines bekannten Wirtschaftsfachmannes der Nachkriegszeit. Alfred Müller-Armack (geb. 1901), Ökonom und Universitätsprofessor, Wirtschaftspolitiker von Rang der fünfziger Jahre, der als Mitarbeiter Ludwig Erhards am Wirtschaftsaufschwung in Deutschland beteiligt war, – er prägte den Begriff Soziale Marktwirtschaft und schuf dafür die theoretischen Grundlagen – und in verschiedenen Positionen in der EWG nachhaltig die europäische Integration förderte, hat in mehreren Schriften aus globaler Sicht die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Europas von der Urzeit bis in die Gegenwart nachgezeichnet. In sieben Wachstumsringen verfolgt er die fortschreitende Säkularisierung, die letztlich die abendländisch-christliche Kulturform des Mittelalters und der frühen Neuzeit auflöst und in der Gegenwart zu einem durchgehenden, alle Lebensbereiche erfassenden Nihilismus geführt habe. Die neuzeitliche Kulturform beruhe demnach auf einer Sprengung des mittelalterlichen Weltbildes. Die mittelalterliche Katholizität hätte nach Müller-Armack in „großartiger Geschlossenheit eine umfassende und ausgewogene Weltform geschaffen, die alle Lebensbereiche in gleicher Weise durchdrang und sie einer universalen Ordnung einfügte.“138

Im 16. und 17. Jh. hätte sich das moderne Bewusstsein vorbereitet, im 18. Jh. wäre es zum Durchbruch gekommen. Als wesentliche Komponenten nennt 137 138

Ibid., S. 11f., S. 26, 54f. A. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott, Münster 1948, S. 101.

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Müller-Armack den „französischen Aufklärungsenthusiasmus, englisches Nützlichkeitsdenken, deutsch-lutherischen Glaubenszweifel, romanische Skepsis...“139 Sie alle führen seiner Ansicht nach zu einer fortschreitenden Säkularisierung aller Lebensbereiche. Die Einheit des religiösen Weltbildes gehe so verloren. Aus der aristokratischen Persönlichkeitskultur hätte sich im Laufe des 19. Jh. eine Massenkultur entwickelt, die zu Zwang und Verknechtung tendiere. An Stelle der Religion trete die Idolbildung, die zu einer Vielzahl von Ideologien führe, die auch vor der Grenze zum Pathologischen nicht Halt machen. Müller-Armack fasst zusammen: „Wir sind bei der Gestaltung einer rein irdischen Welt an einem Wendepunkt angelangt, der den Blick in das vollkommene Chaos öffnet.“140

Auch die zeitgenössische Kunst sei von nihilistischer Skepsis, ästhetischer Radikalisierung, Säkularisierung, und Nihilismus bestimmt. Seit einem Jahrhundert würden die künstlerischen Stilformen zerfallen.141 Den einzigen Ausweg aus dieser Situation sieht Müller-Armack in einer neuerlichen Hinwendung zur Transzendenz.142 Wenden wir uns nun der Literatur zu, so vertrat der im Exil in Frankreich lebende Russe Wladimir Weidle ähnliche christlich-konservativ bestimmte Ansichten, die in seinem Buch Die Sterblichkeit der Musen (1958) deutlich werden. Weidle thematisiert in einer literarischen, überaus metaphernreichen Sprache den Verfall der modernen Kunst, vor allem am Beispiel der Genren des Romans und der Verskunst. Für ihn ist die zeitgenössische Kunst nicht nur ein „Kranker, der auf den Arzt wartet, sie ist ein Sterbender, der seiner Auferstehung harrt.“143 Die religiös geprägte Sprache verrät das dahinter stehende Weltbild: Von der „Einheit von Kunst und Religion, von schöpferischer Phantasie und christlichem Glauben“ abgefallen, aus der christlichen Gemeinschaft ausgetreten, hätten Künstler und Dichter den Weg in den Abgrund angetreten.144 Ähnlich wie bei Sorokin wird dabei der religiös geprägte Mensch des Mittelalters und der frühen Neuzeit dem modernen, areligiösen Menschen gegenübergestellt: „Der Künstler oder Schriftsteller der Neuzeit lebte noch in einer Welt, die von religiösen Kräften, Ideen und Bildern ganz durchdrungen war, in einer Welt, die – auch

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Op. cit., S. 117. Ibid., S. 167. Ibid., S. 189f., 334f. Alfred Müller-Armack spricht auch von Kulturstilen als „Ausdruck metaphysischer Haltungen“, die im Bereich der Transzendenz verankert seien. Siehe sein Buch Religion und Wirtschaft, Stuttgart 1959, S. 530f. Wl. Weidle: Die Sterblichkeit der Musen. Stuttgart 1958, S. 384. Ibid., S. 358.

wenn man nicht darum wusste – im Menschen das Ebenbild des Mensch gewordenen Gottes erblickte; sie nahm ihn in der Perspektive einer Religion wahr, die zugleich die Transzendenz und die Immanenz des Göttlichen lehrte. Die Welt, in der er heute lebt, unterscheidet sich von jener nicht nur darin, dass der Glaube an Gott geringer geworden ist, sondern, dass auch der Glaube an den Menschen dahinsiecht. Denn was heute vergöttert wird, ist der entmenschlichte Mensch.“145

Weidle verbindet dies mit der Romantik, dem „Verschwinden des Stils und dem Aufkommen der Ästhetik, d. h. der rein ästhetischen Bewertung des Kunstwerks.“146 Dies führe zu „metaphysischer Einsamkeit“ und Solipsismus. Ein ekstatischer Musendienst wird zur neuen Religion der Kunst.147 Ein Gewissen und ethische Grundsätze kennt diese Kunst nicht. Dies drücke sich auch im Menschenbild der zeitgenössischen Literatur deutlich aus: „Nun zeigt uns die Gegenwartsliteratur einerseits Menschen ohne Regel und Richtung, Bewusstseins- und Empfindungskomplexe, die jeglicher inneren Form ermangeln, andererseits jedoch Gliederpuppen, die mit bestimmten Etiketten versehen sind, die ein bloßes Fingerschnippen des Autors nach links oder rechts wirft und deren Bewegungen sämtlich von ihm vorgesehen und vorausberechnet sind.“148

Sie gleichen, wie Weidle an anderer Stelle sagt, „den Insassen eines Zoologischen Gartens, dem eine Monstrositätenschau angegliedert ist.“149 Weidle stellt denselben Gegensatz von vorromantischem und modernem Menschen auf wie später Ludwig Pesch. Wie dieser, wenngleich mitunter etwas differenzierter, sieht er den Weg von der Romantik in das 20. Jh. als einen kontinuierlichen Abstieg. Nur eine Umkehr, sprich eine neuerliche Hinwendung zu einem religiösen Weltbild, könnte die Kunst auferstehen lassen. Auch bei Weidle, der zwar im Gegensatz zu Pesch kaum auf gesellschaftliche und politische Aspekte eingeht, herrscht die Tendenz zu globalen Verallgemeinerungen vor. Die fundamentalen Aspekte der Weltanschauung des Künstlers und Dichters gelten für den zeitgenössischen Menschen an sich. Der Literarhistoriker Ludwig Pesch hat die bei allen oben genannten christlich-konservativ motivierten Autoren gemeinsame Gegenüberstellung von mittelalterlichem (positiv gewertet) und neuzeitlich, modernem (negativ gewertet) Menschen zugespitzt auf den Gegensatz von Romantik, die zur Moderne führt, und den beiden vorangegangenen Epochen der europäischen Kultur.

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Ibid., S. 375. Ibid., S. 152. Ibid., S. 119. Ibid., S. 73. Ibid., S. 63.

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Pesch geht von einem fundamentalen Gegensatz aus zwischen dem technischen Menschen, dem homo faber, und dem Kulturmenschen, der seelischen und geistigen Werten verpflichtet ist.150 Obzwar er in Europa eine „seit Jahrhunderten wirkende Untergrundbewegung“ sieht –Stichworte sind die Namen Giordano Bruno, Jakob Böhme, Spinoza, u.a. – ist der Sündenfall des modernen Menschen mit der Zeit der beginnenden Romantik verbunden. Vom späten 18. Jh. führe eine gerade Linie in das 20. Jh., eine Linie des Verfalls und der Degeneration des Menschen. Auch bei Pesch ist der Verlust der Rückbindung an die Transzendenz die wesentliche Ursache dieser Entwicklung. Statt sich „mit Gott zu beraten“, verbünde sich der Kulturmensch mit dem Erdgeist, d. h. er lässt sich vom homo faber inspirieren. Wesentliche Stationen auf dem Weg des Abstiegs sind: Die Welt wird als Akt des Denkens deklariert. Das Ich identifiziert sich voll und ganz mit der Welt wie in der idealistischen Philosophie. Es verschwinde die „klassische Dualität oder Polarität Welt/Mensch und Gott/Mensch.“ An ihre Stelle tritt die „alldurchdringliche Einheit des Ich“ (Pesch, S. 17), das wie Gott in dieser Welt herrscht. Zugleich löst sich der Mensch aus der „Gebundenheit der kirchlichen Ordo“. Kirche und Religion, eine religiös fundierte Ethik werden überflüssig. Die gesellschaftlichen Stände, die bisher auf einer „prädestinierten Stufenordnung“ beruhten, werden durch soziologisch definierte Klassen ersetzt. Jenseits der Vernunft werden die irrationalen Tiefen der Seele, Leidenschaften und Triebe enttabuisiert. Mit Novalis wird „Wahnsinn“ zu der „dem Romantiker angemessenen Existenz“. Letztlich wird die Vernunft als Begrenzung empfunden und durch das Unbewusste (= Irrationale) als Ich schlechthin ersetzt. (Pesch, S. 20) Der Romantiker flieht nach außen in die Exotik oder aber nach innen. Pesch spricht vom „Universum als Innenraum der Seele“. Der Mensch emanzipiert sich von allen traditionellen Bindungen, allen ethischen und religiösen Werten. Der Höhepunkt fällt nach Pesch in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, „als es für die Epigonen der totalen Emanzipation nur noch Eines gab, wovon sie sich emanzipieren konnten: den Menschen – als die Kunst zum ersten Mal in ihrer Jahrtausende alten Geschichte das Kardinalsprinzip ihrer ästhetischen Existenz in Frage stellte und verleugnete: die Wiederherstellung der Welt – als die Kunst zum ersten Mal nicht schöpferisch, sondern zerstörerisch in Erscheinung trat.“151

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L. Pesch: Die romantische Rebellion in der modernen Literatur und Kunst. München 1962. Op. cit., S. 11.

Auf dem Weg der Emanzipation wird die Revolution, d. h. die permanente Empörung, „zur zentralen Kulthandlung der neuen Religion.“152 Mit Blick auf den Künstler/Dichter resümiert Pesch: „So gewinnt der Künstler eine Stellung, die er nie zuvor besaß: Er ist nicht mehr bloß der Rühmende des Absoluten, der dem Absoluten als dessen Geschöpf gegenübersteht, sondern das Absolute selbst.“153

Daraus erwachse die autonome Kunst, das freie Spiel, die Arabeske, das Labyrinth, das Chaos. Ästhetische und ethische Bindungen entfallen gänzlich. Im letzten Kapitel seines Buchs, betitelt Die Schönheit Luzifers, schlägt Pesch eine Brücke zur gesamtgesellschaftlichen Befindlichkeit der Gegenwart: „Der Nihilismus des 20. Jahrhunderts ist ein technisches Regiment, das den Urwald geistfeindlicher Instinkte und Brünste nach rationalen, automatisch wirkenden Regeln entfesselt und zum Einsatz bringt.“154

Bislang hat bei den genannten Kritikern der Moderne der Philosoph Kierkegaard kaum eine Rolle gespielt. Bei Hans Sedlmayr, einem namhaften Kunsthistoriker, dessen bekanntestes Werk Der Verlust der Mitte bereits 1948 erschien, spielt er als scharfsinniger Analytiker des ästhetischen Menschen eine wichtige Rolle.155 Sedlmayr untersucht die für jede Stilepoche typische Bauform und zieht Schlüsse auf die dahinter stehende Werteskala des Künstlers. Auch er wurzelt in der schon mehrfach beschriebenen christlich-konservativen Weltanschauung. Mit der Neuzeit beginnt auch für ihn eine Entwicklung, die im 18. Jahrhundert zum Verlust der Mitte, d. h. Gottes als Lebensmittelpunkt, führt. An die leer gewordene Stelle Gottes tritt der Mensch, der sich in der Folge zum ästhetischen Menschen entwickelt. Dabei käme es zum Verlust der „zentralisierenden Kraft der Persönlichkeit und ihres ethischen Zusammenhangs.“156 Zitate aus Kierkegaards Werken bei Sedlmayr illustrieren den Begriff der Ironie, den Gegensatz von ästhetisch und ethisch, den Begriff des Interessanten, das Spiel mit Möglichkeiten u.a.m. In seinen Publikationen der fünfziger und sechziger Jahre bezieht sich Sedlmayr auch mehrfach auf Rehms Schriften. Walther Rehm hat unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges sein bereits ab 1940 (!) entstandenes Werk Experimentum medietatis. Studien zur

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Ibid., S. 27, 64. Ibid., S. 25. Ibid., S. 221. Hans Sedlmayr (1896-1984) kam 1936 als Professor für Kunstgeschichte nach Köln und ging 1943 an die Universität in Freiburg. Ab 1964 lehrte er in Salzburg. H. Sedlmayr: Der Verlust der Mitte. Salzburg 1948, S. 72.

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Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts herausgegeben.157 Darin finden wir drei Studien vereint: Eine Studie zur dichterischen Gestaltung des Unglaubens bei Jean Paul und Dostojewski; Gontscharow und die Langeweile; Jacobson und die Schwermut. Die Begriffe Unglauben, Langeweile, und Schwermut deuten bereits auf Kierkegaard hin, der bei Rehm eine Schlüsselrolle spielt: „Kierkegaard... widmet der aus der säkularen, ästhetisch-romantischen Weltanschauung gewachsenen Lebensverfassung des 19. Jahrhunderts seine bohrenden kritischen Analysen: der Ironie als dem Symptom des Egoismus und des Ichverlusts; der Schwermut, als der Hysterie des Geistes, als der Sünde, nicht mehr tief und innerlich zu wollen; der Langeweile, als der Kontinuität im Verschlossenen, Leeren, im Nichts; der Verzweiflung, als der Krankheit zum Tod und als Verlust des Ewigen; der Angst, als der Voraussetzung und Folge der Sünde mit dem Gegenstand des Nichts; dem Dämonischen, als der Angst vor dem Guten und als Verschlossenheit gegenüber dem metaphysischen Vertrauen.“158

Auch Rehm sieht in der „uralten Begierde des Menschen, Gott zu werden“, der „cupiditas experiendae potestas sua“ die letzte Ursache für den Abstieg des modernen Menschen. Die aus Rehms Weltanschauung erwachsenden Schlussfolgerungen gehen weit. So meint er in Gontscharow einen Vorbereiter des antichristlichen russischen Nihilismus zu erkennen und bei Jacobsen eine Entwicklung hinein ins Freidenkerisch-Atheistische und Nihilistische.159 Seine Analysen der Werke Gontscharows und Jacobsens haben dennoch bis heute noch Gültigkeit, – lässt man die christlich-konservative Metaphysik und die überzogenen Schlussfolgerungen beiseite. Abschließend soll der Philosoph Robert Heiss hier Erwähnung finden, hat er doch als Professor in Freiburg 1963 eine Kierkegaard Studie in seinem Buch Die großen Dialektiker des 19. Jahrhunderts (Hegel, Kierkegaard, Marx) veröffentlicht, in der vorzüglich jene Aspekte des Werks des däni-

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Walther Rehm (1901-1963), Literarhistoriker, kam 1928 als Privatdozent nach München und ging 1938 als Professor für neuere deutsche Literatur nach Giessen. Im selben Jahr wie Sedlmayr (1943) kam er nach Freiburg. Seine Modernekritik Experimentum medietatis erschien 1947 (21962). Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Rehms stehen Einsamkeit, Individuation, Todesproblem, Renaissancekult, Decadence und wirklichkeitsfremder Ästhetizismus, Dingmystik, Dingferne und Realitätsverlust; s. Vorwort zu dem posthumen Band: Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900. Göttingen 1969. Rehm: Experimentum medietatis. S. 53. Ibid., S. 183, S. 221.

schen Philosophen herausgestellt werden, die auch bei den oben angeführten Autoren wie Rehm und Sedlmayr im Vordergrund stehen.160 Die Generation der um 1900 Geborenen hat in der Zeit vor und nach dem 2. Weltkrieg das beschriebene Schema eines Kulturverfalls entwickelt, das auf der Prämisse beruht, dass die Absetzung Gottes, seine Verdrängung als Lebens- und Kulturmittelpunkt, notwendigerweise dazu führt, dass sich der Mensch selbst an die leer gewordene Stelle setzt. Parallel zum Schwinden einer religiös motivierten Ethik entwickelt sich sozusagen als Ersatz ein übersteigerter Idealismus und Ästhetizismus, dessen Konsequenzen für das Individuum bis hin zum Absturz in die Angst, die Verzweiflung, das Chaos bereits Kierkegaard diagnostiziert und beschrieben hätte. Wenngleich aus heutiger Sicht diese im Grunde simplifizierende und von religiöser Ideologie gesteuerte Sicht nicht zu halten ist, weil wir wissen, dass die Wirklichkeit wesentlich komplizierter war, und auch das, was wir unter Moderne verstehen, keineswegs durchwegs negativ gewertet werden kann, so wäre es doch verfehlt, Kierkegaards Analyse zusammen mit dem Geschichtsbild der christlich-konservativen Modernekritik als verfehlt abzutun und zu ignorieren. Kierkegaard stellt uns einen Begriffsapparat zur Verfügung, der, so meine ich, ein Phänomen beschreibt, das sich im Leben und in der Literatur vom späten 18. Jahrhundert bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, und darüber hinaus immer wieder manifestiert hat. Jenseits einer religiös und metaphysisch motivierten Gesellschaftskritik, sollte man auf die tatsächliche Entwicklung europäischer Kultur Rekurs nehmen, wie sie sich vor allem in der Entwicklung des Bildungswesens spiegelt. Hier ist nicht der Ort detailliert darauf einzugehen, es sollen aber einige charakteristische Züge anhand von zeitgenössischen Zeugen belegt werden. Die vergangenen zweihundert Jahre stellen wohl den Höhepunkt der Entwicklung des Gutenbergschen Zeitalters dar, das durch die stürmische Entwicklung neuer Medien in den letzten Jahrzehnten nun dem Ende zuzugehen scheint. Zugleich ist eine ganz bestimmte Form des europäischen, eurozentrisch orientierten Humanismus klassischer Ausprägung, der das Bildungswesen des 19. Jahrhunderts bestimmt hat, im Schwinden begriffen. In der russischen Literatur finden wir nicht selten Hinweise auf die übermäßig idealistisch ausgerichtete Bildung. Alexander Herzen sagte von seinen Universitätslehrern, sie wären „keine weltlichen Gelehrten, sondern Missionare einer humanistischen Religion gewesen.“161

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Robert Heiss (1903-1976), ein Philosoph, war ab 1936 Professor in Köln. Auch er ging 1943 nach Freiburg. S. Pushkarev: The Emergence of Modern Russia 1801-1917. Holt, Rinehart and Winston, New York, Chicago, San Francisco, Toronto, London 1963, S. 59.

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Bekannt ist auch der Universitätsprofessor für Universalgeschichte T. N. Granowskij, bei dem eine ganze Generation junger Russen zur Schule ging und dessen Idealismus Dostojewskij in den Dämonen parodierend bloßstellte. Die Konzentration auf Buchwissen, auf eine vorzüglich literarische Bildung führte vielfach zu Ästhetizismus und Weltfremdheit. Ein Zeitgenosse Dostojewskijs, Apollon Grigorjew, formulierte: „Bei uns sind Bücher nicht einfach Bücher, Gegenstände des Studiums oder der Unterhaltung: bei uns gehen Bücher direkt ins Leben über, in unseren Körper und unser Blut, sie änderten und ändern immer oft noch das ganze Wesen unserer moralischen Welt...“

Er sprach auch von „analytischer Epoche“162 Turgenjew thematisierte den Hang zu Analyse und Grübelei in seinem Essay Hamlet und Don Quichote, Saltykow-Schtschedrin sprach von übermäßiger Reflexion („reflekterstvo“) in seiner frühen Novelle Gegensätze (Protivorečija). Dostojewskij ließ seinen anonymen Helden in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund die bezeichnenden Worte sagen: „Schließlich haben wir jenen Punkt erreicht, dass wir das ‚wirkliche Leben’ fast schon als eine Anstrengung betrachten, fast als eine schwere Arbeit und wir alle uns privat eingestehen, dass es in Büchern viel besser ist... Lasst uns allein, ohne Bücher, und wir sind sofort verloren und verwirrt… Wir sind Totgeburten und werden schon seit vielen Jahren nicht von lebenden Vätern gezeugt; das passt uns auch immer besser.“163

In seinem unvollendeten Roman Netotschka Nesvanowa gab er eine Genese des aus der Phantasie lebenden, von hemmungsloser Lektüre gespeisten Bewusstseins: „Ich begann mit einer wahren Gier zu lesen, und die Lektüre fesselte mich bald vollständig... bald waren Herz und Kopf dermaßen bezaubert, bald hatte meine Phantasie sich so üppig entwickelt, dass ich gleichsam die ganze Welt, die mich bisher umgab, vergaß… Es war mir beschieden, diese ganze Zukunft in einer Weise zu durchleben, dass ich sie zuerst aus Büchern kennen lernte,… und daher nahm ich mir unbewusst vor – so als hätte ich es insgeheim mit mir selbst schon abgesprochen – mich einstweilen mit der Welt der Phantasie und der Träumerei zu begnügen, in der ich die eigentliche Herrscherin war.“164

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R. N.: Zur Kritik der romantisch-idealistischen Epoche im Frühwerk Dostoevskijs. In: Opuscula Slavica et Linguistica. Festschrift für Alexander Issatschenko. Klagenfurt 1976, S. 250. F. M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. München 1985 (dtv 2154, Nachwort von R. N.), S. 149f. Vgl. damit Turgenevs Charakterisierung seiner Zeitgenossen als „tief belesene Faultiere“ im Roman Ein Adelsnest (= Dvorjanskoe gnezdo)! R. Neuhäuser: Zur Kritik… ., S. 69.

Wir können annehmen, dass Dostojewskij in dieser Passage eigenes Erleben verarbeitet hat. Sein Zeitgenosse Saltykow-Schtschedrin schrieb in einer Rezension einer Übersetzung aus dem Deutschen (Erzählungen für Kinder aus der Welt der alten Griechen) über die Wirkung solcher Lektüre auf die Phantasie der Kinder: „Von daher kommt die Neigung zur Verträumtheit, die man in vernünftigen Grenzen halten sollte, und erlangt ganz im Gegensatz dazu überaus gigantische Ausmaße, und das Kind, wenn es mit der Zeit zum Manne wurde, erscheint als Mensch, der unfähig ist, sich mit seinen nächstliegenden und wirklichen Interessen zu befassen und sein ganzes Leben in Gedanken in Traumwelten herumirren wird, die von seiner kranken Phantasie geschaffen wurden. Man möge mich nicht der Übertreibung anklagen: der Umstand, von dem wir sprechen, ist nicht gleich sichtbar; aus der Feme schleicht er in aller Stille heran und saugt am ganzen Wesen des Kindes, aber umso schlimmer sind die Folgen!“165

Die existentiell verankerte Problematik des ästhetischen Menschen, wie sie aus obigen Texten zu uns spricht, bildet in der Literatur vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert ein immer wiederkehrendes Paradigma, das die Struktur vieler literarischer Texte charakterisiert. Die Geschichte zeigt nun, dass es immer wieder intuitiv und spekulativ begabte Philosophen, Schriftsteller und Künstler gegeben hat, die solche paradigmatische Strukturen erkannt und auch aufgezeigt haben! Dazu gehört Sören Kierkegaard, der unkonventionelle, existentialistisch gestimmte Denker, der im 19. Jh. vielleicht am deutlichsten die wesentlichen Komponenten dieses Paradigmas erkannte und dies in der Gegenüberstellung zweier grundlegender Existenzformen des Menschen seiner Zeit, – des ästhetisch lebenden Menschen und seines Gegenspielers, des ethisch lebenden Menschen, verkörperte; eine Opposition, die in vielen Texten der Epoche zu finden ist!166 Für Kierkegaard war der moderne Mensch seiner Zeit, d. h. der Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts, eben der ästhetisch lebende Mensch. Ausgangspunkt ist für Kierkegaard das Individuum in der Befangenheit des hic et nunc seiner Existenz. Von da ausgehend hat Kierkegaard einen anthropologischen Entwurf vorgelegt, der den „modernen Menschen“ erfassen soll und zur Dichotomie der oben genannten typischen Ausformungen menschlicher Existenz führt. Diese Dichotomie bildet das Grundgerüst seines

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Saltykov-Ščedrin: Sobranie sočinenij. Bd. 1, Moskau 1965, S. 346. Kierkegaard kennt auch den religiös lebenden Menschen als dritte und höchste Existenzstufe. Darauf soll hier aber nicht eingegangen werden. Entweder/Oder beschränkt sich auf den Gegensatz von Ästhetik und Ethik.

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Hauptwerks in zwei Bänden Entweder/ Oder.167 Von der Rolle des Ästhetischen sagt Kierkegaard: „Das Ästhetische im Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird. Wer in und von dem Ästhetischen, durch und für das Ästhetische in ihm lebt, der lebt ästhetisch.“(II, 149) „Ästhetisch leben heißt, sein Leben dem Schönen widmen: Das eben ist das Schöne, das Göttliche an der Ästhetik, dass sie immer nur mit dem Schönen zu tun hat, im wesentlichen also mit den schönen Künsten und dem schönen Geschlecht.“ (I, S. 382)

Es heißt nach Kierkegaard aber auch, beständig nur im Moment leben, wodurch das Leben dazu tendiert, „in zusammenhanglose Einzelerlebnisse“ zu zerfallen. (II, S. 150) Zu diesen zentralen Aspekten kommen weitere, die in den folgenden zehn Punkten dargestellt werden sollen und zusammen das bilden, was ich Das Kierkegaardsche Paradigma nenne. Der Ästhetiker ist der literarisch belesene und gebildete Mensch, der aus und durch die Phantasie lebt, die ihre Nahrung vor allem in der schönen Literatur findet. So sagt Kierkegaard: „Die Frucht der Romanbildung kann eine zweifache sein. Entweder das Individuum vertieft sich mehr und mehr in die Illusion, oder es arbeitet sich heraus, verliert den Glauben an die Illusion und gewinnt den Glauben an die Mystifikation. In der Illusion spielt das Individuum eine Rolle vor sich selbst, in der Mystifikation vor den anderen; aber beides ist eine Folge der Romanbildung.“ (I, S. 228)

Die Romanbildung führt zu Rollenspiel und Maske. Somit entsteht eine Kausalkette Lektüre → Phantasie → Illusion → Mystifikation → Maske, die sich als signifikant für viele literarische Texte des 19. Jh. erweisen sollte! Genuss, Begierde, Lust. Der Ästhetiker ist nach Kierkegaard der Mensch des Genusses, vor allem des Genusses des Schönen. So geht es ihm auch in der Liebe „nicht darum das Mädchen zu besitzen, sondern es künstlerisch zu genießen.“ (I, S. 333) Damit wird der ästhetisch lebende Mensch zum Verführer, zu einem Don Juan, der für Kierkegaard der Inbegriff des „durch die begehrende Begierde geleiteten Verführers“ ist. (I, S. 85) „Seine Liebe ist nicht seelisch, sondern sinnlich, und die sinnliche Liebe ist ihrem Begriff nach nicht treu, sondern absolut treulos; er liebt nicht eine, sondern alle, d. h. er verführt alle. Er ist nämlich nur im Moment, der Moment aber ist begrifflich gedacht eine Summe von Momenten, und damit haben wir den Verführer.“ (I, S. 85)

Daraus ergibt sich eine weitere Kausalkette: Das Schöne/Poetische → Genuss → Begierde → Egoismus → Reflexion → Persönlichkeitsverlust →

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Siehe Anm. 132. In der Folge sind Zitate aus Kierkegaards Werk mit I (= 1. Band), oder II (= 2. Band) und der Seite im Text vermerkt!

Realitätsverlust. Dies wird deutlich aus folgender Beschreibung des ganz im hic et nunc seiner Existenz aufgehenden Ästhetikers: „Das Poetische war das Plus, das er von sich aus der Wirklichkeit hinzufügte. Dieses Plus genoss er in der poetischen Situation der Wirklichkeit, um es dann wieder in der Form dichterischer Reflexion herauszuziehen. So wusste er den Genuss zu genießen, denn auf Genuss war sein ganzes Leben angelegt. Zuerst genoss er das Ästhetische persönlich, dann seine Persönlichkeit ästhetisch. Zuerst genoss er egoistisch persönlich, was die Wirklichkeit ihm gab und wiedergab, denn er hatte sie beschenkt und bereichert; dann verflüchtigte sich seine Persönlichkeit, und nun genoss er die Situation und sich selbst in der Situation. Zuerst benutzte er die Wirklichkeit als Anlass, als Moment; dann ließ er sie von der Poesie aufsaugen.“ (I, S. 237)

Die Reflexion und die Erinnerung. Die bereits angesprochene Reflexion bezieht ihren Inhalt vor allem aus der Erinnerung. Beide Momente ermöglichen es dem ästhetischen Menschen, der zugleich ein reflektierter Verführer (I, S. 9) ist, das Schöne in größtmöglicher Vollkommenheit zu genießen. Dieser Drang nach der Erfahrung der Vollkommenheit des Schönen führt ihn dazu, mehr und mehr in der Erinnerung zu leben, denn dies „ist das vollkommenste Leben, das sich denken lässt.“ (I, S. 29) Und da „die Erinnerung reichlicher sättigt als die Wirklichkeit“ (loc. cit.), meint Kierkegaard: „Für mich gibt es nichts Gefährlicheres, als die Erinnerung“ (loc. cit.). Allerdings erlebt der ästhetisch lebende Mensch in dem Maße, in dem er Wirklichkeit durch Reflexion ersetzt, einen gravierenden Realitätsverlust. Letztlich wird seine eigene Identität in Frage gestellt. In der Scheinwelt, die er sich schafft, ist er letztlich nur ein Schatten seiner selbst, sein Ich zerfällt. Das Interessante. Der nur im Augenblick lebende ästhetische Mensch hat keinen Sinn und keinen Bedarf für bleibende ethische Werte, dafür aber ein „scharf entwickeltes Organ für das Interessante im Leben“, da das jeweils momentan Interessante eben den auf den Augenblick gerichteten Blick bestimmt. Und so weiß er „das Interessante aufzufinden; und wenn er es gefunden hat, sucht er das Erlebte dichterisch [d. h. in der Reflexion, R.N.,] zu reproduzieren.“ (I, S. 272) Das Leid. Ein Leben in Reflexion und Erinnerung führt nach Kierkegaard unweigerlich zum Leid, denn „die Erinnerung ist vorzugsweise das Element des Unglücklichen“ (I, S. 203): „Unglücklich ist, wer außer sich ist, in der Vergangenheit [d. h. Erinnerung] oder in der Zukunft, wer keine Gegenwart hat, in der er lebt.“ (I, S. 202) Die notwendige Folge: „Ein reflexionssüchtiges Individuum wird jedes Leid in ein reflektiertes Leid verwandeln.“ (I, S. 157) Als Mensch des Genusses wird er aber auch daraus einen Lustgewinn erzielen und so kommt es dazu, dass Kierkegaard sagt, „Nur das Leid suchen wir... gar geheimnisvoll schleicht das Leid in der Welt umher; nur wer es sympathetisch fühlt, wird ahnen, wo es sich verbirgt.“ (I, S. 159) Es ergibt sich eine weitere Kausalkette: Reflexion/Realitätsverlust/Identitätsverlust → 89

Leid → reflektiertes Leid → Genuss/Lust am Leid → das reflexionssüchtige Individuum. Der leidende Mensch ist aber zugleich auch ein gespaltener Mensch, denn aus dem bisher Gesagten ergeben sich zwei Oppositionen. Die eine charakterisiert Kierkegaard metaphorisch mit dem Gegensatzpaar schöne Musik und geheime Qualen. Gemeint ist der Gegensatz von emotionalem Erleben und ästhetischer Reflexion. Er fasst dies zusammen in folgender Definition des Dichters: „Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, dessen Lippen so geformt sind, dass sein Seufzen und Schreien sich in schöne Musik verwandelt, während seine Seele sich in geheimen Qualen windet.“ (I, S. 17)

Die zweite Opposition hat zu tun mit der Sehnsucht nach Vollkommenheit und der Unmöglichkeit, sie je zu erreichen. Der Begierde nach dem Genuss der Liebe steht die Unmöglichkeit einer dem Verlangen adäquaten Gegenliebe gegenüber. Als Virtuose des Genusses (II, S. 150) genießt der ästhetische Mensch als ewiger Don Juan die Verführung an sich, verlangt aber stets nach mehr, denn der vollendete Genuss verlangt nach bedingungsloser Hingabe der Verführten an sein Verlangen: „Nein, erst wenn man ein Mädchen so weit bringt, dass sie ihren freien Willen nur noch dazu hat, sich hinzugeben, erst wenn ihr die Hingabe als eine solche Seligkeit erscheint, dass sie darum betteln würde sich hingeben zu dürfen, und wenn sie dabei frei ist: das ist Genuss.“ (I, S. 305f.)

Die Isolation des Individuums in der Gesellschaft. Nach Kierkegaard nimmt diese Isolation „immer mehr überhand.“ (I, S. 127) Den Grund dafür sieht er in dem überhand nehmenden „Leben nach Kalkül“: „Denn Isolation tritt überall da auf, wo man sich als Zahl geltend macht; wo einer sich als 'einer' geltend macht, da sieht jeder die Isolation...“ (loc. cit.)

Tritt dazu das Leben in Erinnerung und Reflexion, so wird die Isolation zu einer Grundbefindlichkeit des ästhetisch lebenden Menschen. Illusion und Maske, – das Leben als Rollenspiel. Beides entspringt der Lektüre der schönen Literatur (s. oben), und hat seine Wurzeln vor allem in der Reflexion, in der die Wirklichkeit durch die Scheinwelt der poetischen Fiktion ersetzt wurde. „Das Leben sei eine Maskerade, sagst Du; und Du spielst auf der Maskerade des Lebens, zu Deinem unendlichen Spaß Deine Rolle mit solcher Virtuosität, dass es noch niemand geglückt ist, Dich zu entlarven: Offenbarst Du Dich, so ist das nur ein neuer Betrug... Nur unter der Maske kannst Du atmen. Dass Dir der wirkliche Mensch wirklich nahe kommt, benimmt Dir den Atem... einer zärtlichen Schäferin reichst Du schmachtend die Hand und bist sofort in einen sentimentalen Schäfer verwandelt. Einen ehrwürdigen geistlichen Vater betrügst Du mit einem Bruderkuss. So wirst Du

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allen alles und bist selbst nichts: Ein lebendiges Rätsel mit der Aufschrift Entweder/Oder.“ (II, S. 132f.)

Wir können die Kausalkette fortsetzen: Maske → Rollenspiel Betrug/Verstellung → der Mensch als Rätsel. Schwermut und Indifferenz. Mit der „älteren Kirchenlehre“, wie Kierkegaard sagt, rechnet auch er Schwermut zu den Todsünden. Schwermut ist nicht identisch mit Leid. Sie ist darüber hinausgehend ein existentieller Zustand, der aus der eigenen Schuldhaftigkeit des Menschen erwuchs und zu seinem Wesen werden kann! Wie schon festgehalten, strebt der ästhetische Mensch als Verführer und Genussmensch stets nach Lust. Dies kann seinen Geist aber nie voll befriedigen. Daraus entstehen Zorn und Angst und zuletzt Schwermut, nach Kierkegaard, die Hysterie des Geistes, der sich nicht selbst verwirklichen kann, dessen „Bewegung gehemmt und zurück gedrängt“ wird, weil eben der ästhetische Mensch nur in der Zerstreutheit des Augenblicks lebt. „Schwermut ist die Sünde, nicht tief und innerlich zu wollen; und das ist die Mutter aller Sünden. Diese Krankheit oder vielmehr diese Sünde ist in unserer Zeit allgemein verbreitet; das ganze junge Deutschland und Frankreich seufzt darunter.“ (II, S. 159)

Das „Nicht-tief-und-innerlich-Wollen“ bedeutet zugleich die Ablehnung der Wahl im Leben und damit die Ablehnung des ethischen Prinzips, „denn das Ethische kann man nur absolut wählen... Durch die absolute Wahl wird also das Ethische gesetzt...“ (II, S. 149) Das ästhetische Prinzip impliziert das nicht-Wählen und deshalb meint Kierkegaard auch, „das Ästhetische ist die Indifferenz.“ und „das Ästhetische ist nicht das Böse, sondern die Indifferenz.“ (II, S. 141) Die Langeweile. Kierkegaard sieht sie als Grundübel seiner Zeit und ordnet sie dem ästhetisch lebenden Menschen zu. Ein Leben, das sich vorzüglich in Erinnerung und Reflexion abspielt, führt zu einem Realitäts- und Identitätsverlust. Der Mensch erstarrt letztlich in Untätigkeit. Daraus resultiert Langeweile: „Die Langeweile nimmt überhand und die Langeweile ist die Wurzel alles Bösen. Im Anfang war die Langeweile. ...in Untätigkeit erstarrt liege ich da; ich sehe nichts vor mir als gähnende Leere, nur von ihr lebe ich, nur in ihr bewege ich mich.“ (I, S. 33)

Die Langeweile hat eine zweite Wurzel im Gift des Zweifels der Seele, der ethische Werte abhanden gekommen sind.168

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Für den ästhetisch lebenden Menschen ist letztlich die ganze Welt, sind alle Menschen langweilig. Als existentieller Zustand ist Langeweile „das Erleben des Todes im Zustand des Lebendseins!“ (I, S. 33).

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Die Verzweiflung. Sie steht am Ende des Prozesses, dem die Existenz des Ästhetikers unterworfen ist. Sie ist „die letzte ästhetische Lebensanschauung.“ (II, S. 164) Denn „jeder, der ästhetisch lebt, ist verzweifelt, ob er es weiß oder nicht.“ (II, S. 162) Irgendwann überfallt ihn das „Nichts der Verzweiflung“, spätestens dann, wenn er erkennt, dass er sein Ich im Streben nach Genuss und Lust verschwendet hat und begreift, dass sein Leben nur der „Belustigung des Geistes“ (II, S. 168) gedient hat. Es ergibt sich eine dritte bedeutsame Opposition, die von Zufall bzw. Indifferenz einerseits und Wahl bzw. ethisch motivierter Entscheidung andererseits. Der ästhetisch lebende Mensch ist aber zu letzterer in der Regel nicht fähig und deshalb einem Leben der progressiven Vereinsamung, der Illusion, des Rollenspiels, der Schwermut und Langeweile ausgesetzt, das schließlich in Indifferenz und Verzweiflung mündet. Dieses Kierkegaardsche Paradigma charakterisiert eine Anzahl von Texten, worauf hier in Umrissen hingewiesen werden soll. In einem kurzen Prosatext Karamsins in seinen Reisebriefen ist von einem lebenslustigen französischen Abbé die Rede, der einst aus unerklärlichen Gründen in Schwermut versank und letztlich durch Selbstmord aus dem Leben schied. Der Mensch als Rätsel erscheint hier zum erstenmal in Karamsins Prosa. Karamsin beschreibt allein die äußerlichen Veränderungen seines Helden, den wachsenden Hang zu Reflexion und Ich-Bezogenheit, die verstummende Kommunikationsfähigkeit, den Realitätsverlust und letztlich seinen Hass auf das Leben.169 In Karamsins fiktivem Briefwechsel sind Melodor und Filalet zwei konträre Figuren, wobei Melodor, der Dichter, Verehrer von Schönheit und Harmonie, der ästhetisch lebende Mensch ist, und in existentielle Verzweiflung verfällt, als die Realität in Form der Schrecken der französischen Revolution hereinbricht und seinen Glauben an die Macht des Schönen und Guten in der Welt zerstört. Sein Gegenspieler Filalet führt ein ethisch bestimmtes Leben. Er glaubt an die Gedanken der Aufklärung, an moralische Prinzipien als „Heilmittel für ein verdorbenes Herz und einen verdorbenen Verstand.“170 Die Genese eines russischen Verführers, dessen Leben nur auf den momentanen Genuss ausgerichtet ist, finden wir schließlich in der späten Erzählung Karamsins Meine Beichte. Ihr Held verleugnet jegliches moralisches Maß, seine Ich-Bezogenheit wird mit einer Rousseau parodierenden Aussage verdeutlicht, in der er sich als Zentrum der Welt sieht. Seine wichtigste Auf-

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N. M. Karamzin: Sočinenija v dvuch tomach. Band 2, Leningrad 1984, S. 183-189. Op. cit., S. 189.

gabe ist die Verführung schöner Frauen, womit er die Leere in seiner Seele verdeckt. Sein Welt Verständnis entspricht dem des ästhetischen Menschen: „In meinem Kopf war keinerlei klare Idee, und im Herzen keinerlei starkes Gefühl, außer Langeweile. Die ganze Welt erschien mir wie ein chaotisches chinesisches Schattenspiel, alle Regeln eine Zügel für schwache Geister, alle Pflichten eine unerträgliche Bürde.“171

In der unvollendeten Erzählung Ein Ritter unserer Zeit schilderte Karamzin auch die Romanbildung, d. h. die Entstehung der von Romanlektüre genährten Phantasie seines Helden Leon: „Für Leon öffnete sich eine neue Welt in den Romanen... Die Seele Leons segelte in der Welt der Lektüre, wie Christoph Kolumbus im atlantischen Ozean...“172

Die Überschrift des IX. Kapitels verweist auf grundlegende, daraus hervorgehende Charakterzüge Leons, wie „Träumerei und eine Neigung zur Melancholie.“ Das erotische Verlangen wird im letzten Kapitel des unvollendet gebliebenen Textes angesprochen, aber nicht mehr ausgeführt. In Ansätzen können wir in Karamsins hier angeführten Texten, die größtenteils aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts stammen, wesentliche Aspekte des kierkegaardschen Paradigmas erkennen: Reflexion, Langeweile und Schwermut, Realitätsverlust, Genuss, aber auch Verzweiflung. Das ästhetisch motivierte Streben nach dem Erlebnis des Schönen, steht im Zentrum vor allem der Lyrik der späten Romantik der fünfziger Jahre des 19. Jh. Der idealistisch ausgerichtete Dichter dieser Zeit lässt sich als eine weitere Verkörperung des ästhetisch lebenden Menschen verstehen. So sagt Botkin: „Der poetische Inhalt besteht vor allem aus dem Inhalt der eigenen Seele...“173 Weitere wesentliche Motive dieser Dichtung sind, ähnlich dem Biedermeier, ein Sich-Versenken in die Erinnerung, eine übermäßige Tendenz zur Reflexion, das Motiv des Weltschmerzes, der Enttäuschung im Leben und der Liebe, das vorzeitige Altern der Seele, die Resignation. Dem entspricht auch ein Großteil der Prosa der fünfziger Jahre. Stellvertretend für ähnliche Texte sei folgender kurzer Dialog aus Turgenjews Erzählung Passynkow angeführt: „Unser ganzes Leben ist ein Traum, und das Beste in ihm ist wiederum ein Traum! Und die Poesie? – fragte ich.

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Karamzin, op. cit., Band 1, S. 537. Karamzin: Izbrannye sočinenija. Band 2, Moskau-Leningrad 1964, S. 765. R. N.: Das „Biedermeier“ (Realidealismus) in der russischen Lyrik der fünfziger Jahre. In: Wiener Slawistischer Almanach, Bd. 15, 1985, S. 39.

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Auch die Poesie ist ein Traum, bloß einer vom Paradies.“174

Der Realitätsverlust, den der ästhetisch lebende Mensch erfährt, wenn er sich auf ein Leben in der Reflexion zurückzieht, wird von Turgenjew in einem ausdrucksvollen Bild dargestellt. Der Ich-Erzähler in Eine Korrespondenz sagt dort von sich, er sei „verurteilt, sein ganzes Leben in einem Zimmer mit Spiegelwänden zu leben...“ Der ästhetische Mensch als Widerpart des ethischen Menschen bestimmt auch vielfach die Personenkonfiguration im Roman des russischen Realismus. Dies zeigt sich am deutlichsten in den Werken Gontscharows und Dostojewskijs, – aber auch bei Turgenjew und Tolstoj! In Gontscharows erstem Roman Eine gewöhnliche Geschichte finden wir eine Variante dieser Opposition, die nicht zuletzt Gontscharows Beschäftigung mit ökonomischen Fragen entspricht. Dem Neffen Aduev jun., einem jungen Mann mit literarischen Ambitionen und den typischen Verhaltensweisen des ästhetischen Menschen, steht sein Onkel Aduev sen. gegenüber, der traditionelle ethische Prinzipien vertritt. Dieselbe Konstellation bestimmt den Gegensatz der Charaktere im Roman Oblomow, wenn auch auf fundiertere Weise. Walter Rehm hat, wie schon erwähnt, ausgehend von Kierkegaards Entweder/Oder und Begriff der Angst, die wesentlichen Charakterzüge des ästhetisch lebenden Menschen in Relation zu den Motiven Angst, Nichts und Langeweile bei Gontscharow analysiert.175 Sein Widerpart ist der ethisch lebende Mensch Stolz. Allerdings sieht Rehm nicht das Paradigma, sondern bleibt in seiner Analyse auf der typologischen Ebene stehen. Auch ist festzustellen, dass er die deutlich gegebenen religiösen Aspekte bei Oblomow unterbewertet. Oblomow, der in seinen Schul- und Universitätsjahren zum ästhetisch lebenden Menschen wurde, führt im Grunde eine religiös motivierte Existenz.176 Diese beiden einander widersprechenden Existenzformen hat Gontscharow in seinem dritten Roman Der Abgrund auf zwei Figuren verteilt, die zueinander in Opposition stehen. Der Künstler Rajskij verkörpert dort den ästhetischen Menschen par excellence. Seine Maxime ist: „Die Schönheit... bewegt die Welt“. Wie bei Kierkegaard ist auch bei Rajskij die Figur des Don Juan die ideale Existenzform des Menschen. Von ihm sagt er: „Don Juan genoss vor allem ästhetisch.“177 Kann Rajskij nicht lieben, dann 174 175 176 177

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R. N.: Zur Frage des literarischen Biedermeiers in Russland (Die Literatur der fünfziger Jahre). In: Wiener Slawistischer Almanach, Bd. 10, 1982, S. 124. W. Rehm: Gontscharov und Jacobsen oder Langeweile und Schwermut. Göttingen 1963. R. N.: Nachwort. In: I. A. Gontscharow. Oblomow. München 1980 (dtv 2076, S. 657669). I. Gončarov: Sobranie sočinenij v 6-i tt. Moskau 1959, Bd. 5, S. 12. Eine Variante des ästhetischen Menschen in diesem Roman ist Rajskijs Schulfreund Ivan Kozlov. Bei

verfällt er in existentielle Langeweile. Das entgegengesetzte Prinzip der ethisch bestimmten Existenz wird von der „Babuschka“ (= Großmutter), bzw. dem Forstmann Tuschin, verkörpert. Intellektuelle, sittliche und religiöse Werte sind in ihm harmonisch vereint. Sein Sägewerk und Landgut werden als glückliche, wohlgeordnete Welt, wenngleich mit utopischen Zügen, beschrieben.178 Dostojewskij hat bereits in seinem Frühwerk vor 1848 den idealistisch und romantisch gestimmten Träumer gestaltet. Nicht nur der Träumer, auch viele weitere Verkörperungen dieses Typus in seinem Schaffen nach 1860 scheinen geradezu den Texten des dänischen Philosophen entsprungen zu sein. Umgekehrt lassen sich viele Textstellen aus Kierkegaards Schriften wie Kommentare zu Dostojewskijschen Romanfiguren lesen! Der namenlose Mensch aus dem Untergrund, der in immer neuen Varianten in seinen Texten auftaucht, ist weithin identisch mit dem kierkegaardschen ästhetisch lebenden Träumer! Von Makar Dewuschkin und dem Herrn Goljadkin, deren beider Phantasie von literarischen Texten gespeist wird, bis zu Netotschka Neswanowa, die sich an der Phantasiewelt der von ihr gelesenen Romane berauscht, zeichnet Dostojewskij die Genese des kierkegaardschen Ästhetikers. Mit dem Menschen aus dem Untergrund, und dem lächerlichen Menschen der gleichnamigen späten Erzählung, bis hin zu Iwan Karamasow konfrontiert Dostojewskij den Leser mit einem späten Stadium in der Entwicklung des ästhetisch lebenden Menschen, in dem die Parameter des kierkegaardschen Ästhetikers deutlich sichtbar werden: Reflexion und Genuss, Lust am Leid, geheime Seelenqualen, Verlangen nach unbedingter Liebe, Illusion und Isolation, Langeweile und Schwermut, Indifferenz und Verzweiflung. Leo Tolstoj, der – lesen wir seine Tagebücher und verfolgen wir seine Entwicklung von den vierziger bis in die achtziger Jahre – stets zwischen einer ästhetisch und ethisch bestimmten Existenz schwankte, hat in den beiden Figuren Napoleons und Pierre Besuchows in Krieg und Frieden gleichfalls den ästhetisch lebenden Verführer dem ethisch lebenden Menschen gegenübergestellt: „Die Faszination Napoleons ist [für Tolstoj, R. N.] die ins Äußerste vorgetriebene Faszination des Ästhetischen, das gegen pragmatische Einrede immun immer sich er-

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ihm dominiert das Eintauchen in die Phantasiewelt der Lektüre, bei Rajskij die Liebe zu schönen Frauen. R. N.: Gončarovs Roman Obryv und der russische Roman des Realismus. In: I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung. (Hg. P. Thiergen). Köln 1989, S. 85106.

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wiesen hat…Und deshalb ist Napoleon als der ‚Feind des Menschengeschlechts’ die vollkommenste Inkarnation des ‚Künstlers’.“179

Die Gegenposition wird durch Pierre und Natascha verdeutlicht, die in ethischer Verantwortlichkeit, im gelebten Familienglück, zu dem Ethos finden, das nach Tolstoj allein eine dauerhafte Basis für ein Leben ohne den destruktiven Schein ästhetischer Verführung abgibt! Abschließend ein Kommentar zu einem Autor der russischen Moderne, Anton Tschechow. Drei Komponenten haben auf die thematische und inhaltliche Gestaltung seiner Prosa eingewirkt: Die literarischen Richtungen seiner Zeit, vor allem des Fin de siècle und der Dekadenz, die eigene Lebenserfahrung und das kierkegaardsche Paradigma. Wir können sagen, dass das, was Maria Herzfeld in Wien zu ihrer Zeit von der Dekadenz schrieb, durchaus auch die Situation in Russland charakterisiert und Tschechows eigene existentielle Befindlichkeit wiedergibt. In ihrem Aufsatz Fin de siècle (1892) schrieb sie von der Literatur der Zeit, sie scheine „ausgefüllt vom Pessimismus ‚müder Seelen’.“ Es wäre eine „Welt absterbender Ideale“, charakterisiert von „apathischer Mutlosigkeit und Weltverzweiflung,... dem Gefühl des Fertigseins, des Zu-Ende-Gehens – Fin-de-siècle Stimmung.“ 180

Betrachtet man Tschechows Aussagen zum zeitgenössischen Menschen, besonders dem gebildeten, intelligenten Zeitgenossen, so wird man feststellen, dass sich die anthropologische Prämisse Tschechows weitgehend mit dem Menschenbild der dekadenten Dichtung deckt! Dies zeigt sich am Beispiel des Iwanow, der zentralen Figur des gleichnamigen Dramas, in dem man typische Züge des kierkegaardschen Ästhetikers erkennen kann. Im Vordergrund seines Strebens steht bei Iwanow die Lust an der Liebe: „Ich heiratete aus leidenschaftlicher Liebe und schwur ewig zu lieben, aber... es vergingen fünf Jahre,... und ich..., ich verlor die Liebe zu ihr.“

Er ist eben der Ästhetiker in der Maske des Don Juan, der immer wieder neuer Erregung bedarf. Als seine erste Leidenschaft in Leere, Ermüdung, Melancholie und Verzweiflung endet, entflammt sogleich die neue Leidenschaft zu Sascha. Iwanows Monolog in der 6. Szene des III. Aktes wiederholt dabei Motive, die wir auch in der Versdichtung der Dekadenz finden. Iwanow sieht sich als „bedauernswerter und nichtiger Mensch… Ich verachte mich,... zutiefst hasse ich meine Stimme,... ich verbringe meine Tage und

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H.-J. Gerigk: Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes. Berlin 1975, S. 150 u. 166. G. Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Reclam Bd. 7742 [9] 1981, S. 260f.

Nächte in Untätigkeit.“181 (Bd. 12, S. 52f.) Er spielt vor sich und seiner Umgebung eine Rolle, er verstellt sich. Der Arzt L’vov fordert ihn wiederholt auf, „Werfen Sie die Maske ab.“ (Ibid. S. 51 ) Er und Sascha vertreten Positionen des kierkegaardschen ethisch lebenden Menschen, wenngleich auch dies von Tschechow ironisiert und ins Banale gezogen wird! Der Ästhetiker Iwanow endet in Verzweiflung. In einem zweiten Monolog im IV. Akt, kurz vor seinem Selbstmord, wiederholen sich die angeführten Motive in noch schärferer Akzentuierung: „Mit schwerem Kopf, mit träger Seele, ermüdet, zerrissen, ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Ziel, wie ein Schatten, wanke ich daher unter den Menschen und weiß nicht, wer ich bin, wozu ich lebe, was ich will? Und es scheint mir, dass die Liebe Unsinn ist, Liebkosungen eine Verstellung, dass in der Arbeit kein Sinn liegt, dass ein Lied und hitzige Reden verächtlich und veraltet sind. Und überall trage ich mit meiner Person Trauer, kalte Langeweile, Unzufriedenheit, Abscheu gegenüber dem Leben unter die Menschen... Ich bin rettungslos verloren!“

In Briefen aus den Jahren 1888 und 1889 hat sich Tschechow ausführlich zu der Problematik seiner Figur geäußert. Er bezeichnet Iwanow als „... eine leicht erregbare Natur, hitzig, stark Vergnügungen zugeneigt,..." (P, Bd. 3, S. 109) und verallgemeinert: „Die russische Erregbarkeit hat eine spezifische Eigenschaft: sie wird rasch von Erschöpfung abgelöst.“

Sobald der Mensch 30-35 Jahre alt wird, fühlt er als Folge dieser Erregbarkeit letztlich Erschöpfung und Langeweile (P, Bd. 3, S. 110), ist aber unfähig, dafür eine Ursache zu benennen. In weiterer Folge, meint Tschechow, erscheinen unbestimmte Schuldgefühle und Gewissensbisse, jedoch, wie Iwanow sagt, „worin eigentlich meine Schuld besteht, das verstehe ich nicht...“ (P, Bd. 3, S. lll) Dazu gesellt sich das Gefühl einer wachsenden Einsamkeit und Isolierung vom Leben. Tschechow fasst zusammen: „Enttäuschung, Apathie, nervöse Zerrüttung und Erschöpfung sind die unmittelbaren Folgen übermäßiger Erregbarkeit (vgl. das überentwickelte Bewusstsein [=„usilennoe soznanie“] des Dostojewskijschen Menschen aus dem Untergrund! ) und eine solche Erregbarkeit ist unserer Jugend in höchstem Maße zu eigen.“ (P, Bd. 3, S. 111) Der Arzt und Naturwissenschaftler Tschechow versucht sogar eine quasi wissenschaftliche Darstellung des von ihm festgestellten Phänomens in einem Diagramm zu geben:

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Alle Texte aus Tschechows Werken und Briefen werden nach der Ausgabe Polnoe sobranie sočinenij i pisem v tridcati tomach, Nauka, Moskau 1974-83 unter Angabe des Bandes zitiert. In Briefzitaten ist ein P vorangesetzt. Die Übersetzung stammt von R. N.

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Die Abfolge von Erregbarkeit – Erschöpfung/Langeweile – Einsamkeit (vozbudimost’ – utomljaemost’ / skuka – odinočestvo) erscheint in der graphischen Darstellung als aufsteigende Linie, die steil einem Höhepunkt zustrebt, um dann unvermittelt abzusacken, bis sie wieder ansteigt. Tschechow kommentiert: „Alle erschöpften Menschen verlieren nicht die Fähigkeit, sich in höchstem Maße zu erregen, allerdings nicht für sehr lange, wobei nach jeder Erregung eine noch größere Apathie eintritt.“ (P, Bd. 3, S. 112)

Durch sein Schicksal, seine harte Jugend, seine Krankheit stand Tschechow der existentiellen Befindlichkeit der Moderne besonders nahe. Er wusste von seiner Krankheit als einer zum Tode, wenngleich er diesen Gedanken immer wieder von sich wies. Im November 1893 schrieb er an seinen Verleger Suworin, „Ich lebe und bin gesund. Der Husten ist gegenüber früher stärker geworden, aber ich denke, bis zur Schwindsucht ist noch ein weiter Weg.“ (P, Bd. 5, S. 243)

Nur zwei Monate später sagt er von diesem Husten, „er entwickelt sich bei mir immer mehr crescendo.“ (P, Bd. 5, S. 260) Im selben Jahr noch konstatiert er nüchtern, „Ja, ich bin zumindest so klug, dass ich meine Krankheit nicht vor mir verberge und mich nicht belüge und meine Leere nicht mit fremden Tüchern zudecke... Nicht ich bin schuld an meiner Krankheit,...“. (Ibid., S. 134)

Dass sich Tschechow im Grunde keine Illusionen über seine reduzierte Lebenserwartung machte, zeigt ein Satz aus einem Brief vom Sommer 1892. Dort erzählt er, er hätte hundert Fliederbüsche und fünfzig Kirschbäume in seinem Gut Melichowo gepflanzt. Dann folgt der entlarvende Satz, „Es wird ein vorzüglicher Garten entstehen, und in etwa 8 bis 10 Jahren [d. h. 190002] werden meine Erben davon ein gutes Einkommen haben.“ (Ibid., S. 76)

Da er 1904 starb, irrte er sich bloß um 2 bis 4 Jahre, schätzte sogar sein verbleibendes Leben noch kürzer ein, als es tatsächlich sein sollte! All das weist darauf hin, dass man davon ausgehen kann, dass das Lebensgefühl Tschechows tatsächlich weitgehend dem Lebensgefühl des Fin de siède und der Dekadenz entsprach. Dass Tschechow dem kierkegaardschen ästhetisch lebenden Menschen nahestand, ist aus dem bisher Gesagten wohl einsichtig

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geworden. Auch für ihn gelten ebenso wie für viele seiner Figuren Kierkegaards Worte: „Unter dem Himmel der Ästhetik ist alles so leicht, so schön, so flüchtig; es kommt die Ethik angeschritten, so wird alles hart, kalt und unendlich langweilig.“ ( Kierkegaard, I, S. 329)

Er empfand den Konflikt der Positionen im doppelten Sinn als unlösbar. Wie auch seine literarischen Figuren, war er unfähig, die beiden Positionen zu einem sinnvollen Ausgleich zu bringen; auch sah er, wie in der zeitgenössischen Gesellschaft die beiden Positionen aufeinander prallten. Sie waren und blieben unvereinbar und in einem unlösbaren Konflikt verstrickt. Dies führte notwendigerweise zu Ironie und Zynismus. Beides ist sowohl bei Kierkegaard wie auch bei Tschechow zu finden.182 Walter Rehm hat Ironie metaphorisch als das „freie Schweben über dem eigenen Leben“ bezeichnet, – als das „unendlich leichte Spiel mit dem Nichts,“ dahinter steht allemal das Gefühl eines Realitätsverlustes, was nichts anderes bedeutet, als eben die Erkenntnis einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Idealität und Realität, sei diese Erkenntnis nun bewusst oder intuitiv vollzogen.183 Auch Tschechows Erzählungen und Dramen liegt in der Personenkonstellation nicht selten das kierkegaardsche Paradigma zugrunde. So ist der Professor in der Erzählung Eine langweilige Geschichte ein Mensch, der sich und seine Umgebung allein aus der Perspektive des Ästhetikers betrachtet. Dies bezieht sich auf seine Ehefrau ebenso wie das Gebäude, in dem er seinen Beruf ausübt. Die „schlanke Warja“ wurde zu einer „wohlbeleibten, plumpen Alten“, und die ästhetischen Mängel des baufälligen Universitätsgebäudes sieht er als „prädisponierende Ursache des russischen Primitivismus.“ Bei seiner eigenen Tätigkeit hebt er die rethorische Brillanz des Vortrags hervor. Konsequenterweise stuft er seinen Beruf als Rollenspiel ein, – und bezieht daraus Genuss. Dieses durch und durch ästhetische Verhältnis zu Wissenschaft und Umwelt führt letzten Endes zu Lebensekel, Lebensüberdruss und Indifferenz, „in der letzten Zeit bin ich allem gegenüber so gleichgültig geworden, dass mir positiv alles egal ist, ...“ (7, 304). Am Ende stehen Indifferenz und Verzweiflung: „... Gleichgültigkeit – das ist eine Lähmung der Seele, der vorzeitige Tod.“ (Bd. 7, S. 306)

Als sich das Leben als Rollenspiel als zweck- und nutzlos erweist, erwächst daraus Verzweiflung. Auch seine Tochter Katja ist eine Variante des ästhetisch lebenden Menschen. Der Autor betont bei ihr die Rolle dessen, was Kierkegaard Romanbildung nannte.

182 183

Vergleiche Kierkegaards Aphorismen in Entweder/Oder mit Tschechows Stil und Sprache! W. Rehm: Kierkegaard und der Verführer. München 1947, S. 42.

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Der Konflikt mit dem ethisch lebenden (oder vielmehr leben „wollenden“!) Menschen ist bei Tschechow oft internalisiert, d. h. in die Psyche der Person hineinverlagert. Der Professor selbst beklagt den Mangel an einer „allgemeinen Idee“, eines „Gottes des lebendigen Menschen“ (Ibid., S. 307 u. 309), d. h. dessen, was Kierkegaard Ethos nennt. Er beklagt dies am Ende seines Lebens, als sich der Konflikt der beiden Positionen in voller Schärfe entfaltet. Im Gegensatz dazu sind im Duell die beiden Positionen externalisiert. Lajewskij ist ein Romantiker und Don Juan, der Ästhetiker par excellence; sein Gegenspieler van Koren ist ein etwas überzogen agierender Ethiker. Tschechow ironisiert und banalisiert im Grunde beide Positionen. Am Ende deutet er das Aufkeimen eines ethischen Verantwortungsgefühls in Lajewskij an, – der Ethiker erwacht in ihm, er stellt sich der Wahl, um mit Kierkegaard zu sprechen, – doch das Ende bleibt offen. Tschechow schließt: „Niemand kennt die tatsächliche Wahrheit..., vielleicht werden sie die tatsächliche Wahrheit erreichen...“ (Ibid., S. 454f.)

In Krankensaal Nr. 6 ist der gebildete und belesene Gerichtsvollzieher Iwan Dmitrijewitsch Gromow, der Frauen liebt und stets leidenschaftlich von Liebe spricht, der ästhetisch lebende Mensch, der aber auch – zumindest in Gedanken, also in abstracto – eine ethische Position einnimmt. Tschechow schreibt: „Er teilte die Menschheit in ehrliche und niederträchtige Menschen; eine Mitte gab es nicht“. Dies ist aber nur eine gedachte und keine gelebte Position. Er liebt es eben als Ästhetiker „über die Gerechtigkeit nachzudenken“ und entfremdet sich zusehends dem Leben. (s. Bd. 8, S. 76 u. S. 78) Ebenso ineinander verschränkt sind die Positionen des Arztes Andrej Jefimytsch Ragin, der in seiner Jugend ein religiöser Mensch war und sich als Arzt eine rationale und ethisch verantwortungsbewusste Einstellung zu eigen gemacht hat: „Andrej Jefimytsch liebt außerordentlich Verstand und Ehrlichkeit.“ (Bd. 8, S. 84) „Der Verstand dient als einzig mögliche Quelle des Vergnügens“ meint er. (Ibid., S. 88) Auch hier liegt der Position des Ethikers eine abstrakte und theoretische, dem konkreten Leben ferne Einstellung zugrunde. Ragin flieht vor dem Leben in den Genuss der Lektüre. An Stelle der Romanbildung tritt die ebenso lebensfremde Verstandesbildung aus Büchern über Geschichte und Philosophie. Beide Figuren müssen scheitern. Die Flucht aus der Wirklichkeit endet in der Psychiatrie! Tschechows Gestaltungsprinzip des Reduktionismus und der Banalisierung tritt noch deutlicher hervor in Der Mensch im Futteral am Beispiel des Griechischlehrers Belikow. Das ästhetische Moment reduziert sich auf ein illusionäres „schön“, das ebenfalls vorhandene ethische Prinzip auf die Akzeptanz jeglicher Gebote und Verbote ungeachtet ihrer Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit. Das Leben gleitet immer wieder ab in die Banalität, in

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„poschlost’“ (= Gemeinheit, Kitsch), wie es der Literaturlehrer Nikitin in Der Literaturlehrer formuliert: „Mich umgibt nichts als Gemeinheit, langweilige, nichtige Menschen, Töpfe mit Sahne, Krüge mit Milch, Küchenschaben, dumme Frauen... Es gibt nichts Schrecklicheres, Kränkenderes, Traurigeres als die Gemeinheit. Nichts wie weg von hier, heute noch weg, sonst werde ich verrückt!“ (Bd. 8, S. 332)

Wir erkennen, Tschechow reduziert und banalisiert die kierkegaardsche Opposition Ästhetiker und Ethiker, er internalisiert sie, ironisiert sie und so wird sie – gegenüber den unheilvollen Strukturen der Welt – zu einem etwas lächerlichen, in den Konsequenzen aber nichts destoweniger tragischen und schicksalhaften Dilemma, das letztlich unlösbar bleibt, – weil es aus der Sicht des Autors als conditio humana unlösbar ist! Und diese conditio humana realisiert letztlich Tschechows ureigene Lebensperspektive, – die eines unheilbar Kranken, dem die Welt, – das Schicksal, – Gott eine erfüllte, in eine normale Lebensspanne eingebettete Existenz verweigert hat und der sich als Arzt dieser Bedingtheit seiner Existenz auch voll bewusst war. Hier trifft sich der autobiographische Hintergrund mit dem Lebensgefühl des Fin de siècle und der Dekadenz und beides wird auf den traditionellen Motivkomplex projiziert, den wir als das kierkegaardsche Paradigma bezeichnet haben, das besonders, aber nicht nur, in der russischen Literatur vom ausgehenden 18. Jh. bis in die Moderne seine wesentliche Bedeutung bewahrt hat. Ein Zusammenhang mit einem angeblich Jahrhunderte währenden Kulturverfall mit Höhepunkt in der Moderne, wie dies aus einer bestimmten, christlich-konservativen Sicht behauptet wurde, besteht allerdings nicht. Das Kierkegaardsche Paradigma hat seine Wurzeln vielmehr in einem humanistisch geprägten Bildungsideal, das vom späten 18. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus eine dominante Rolle in Gesellschaft und Literatur spielte und erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch eine globalisierte und auf das Lebenspraktische ausgerichtete, d. h. ökonomisch bestimmte Lebensweise ersetzt wurde. In der jugendlichen Spaßgesellschaft und einer vielfach zu Korruption und Gewinnmaximierung tendierenden Gesellschaft ist weder für Kierkegaards ästhetisch lebenden, noch seinen ethisch lebenden Menschen Raum vorhanden, – noch zu einer sinnvollen Integration beider!

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2.

Das Biedermeier (Realidealismus) in der Prosa der fünfziger Jahre.

In der sowjetischen Literaturgeschichtsschreibung gab es die eingebürgerten Begriffe der Literatur der 40er Jahre und analog dazu die Literatur der 60er Jahre. Diese Begriffe meinten ursprünglich alle literarischen Texte, die in dem bezeichneten Jahrzehnten entstanden. Im allgemeinen wurde mit dem ersten Begriff nur die sogenannte Natürliche Schule unter Einschluss der Physiologischen Skizze, bzw. die so genannte Gogolsche Richtung erfasst. Die zeitliche Ausdehnung reichte bis in die Mitte der fünfziger Jahre.184 Der zweite Begriff umfasste die gesellschaftsbezogene Literatur des kritischen Realismus von der Mitte der fünfziger Jahre bis Ende der sechziger Jahre. Auf diese Weise wurde den Ordnungsbegriffen ein geradliniger, eindeutiger Sinn unterschoben, der nur eine bestimmte Art von Texten erfasste und vieles ausschloss. Es entstand der Eindruck, dass die gesamte Literatur der vierziger bzw. sechziger Jahre einer Richtung angehört und alle anderen nicht konformen Texte vernachlässigenswerte, epigonale Randerscheinungen wären. Die sowjetrussische Literaturgeschichtsschreibung, die den Realismus bereits mit Puschkins Eugen Onegin in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beginnen ließ, stand unter dem Zwang, die Evolution des Realismus in den nachfolgenden Jahrzehnten belegen zu müssen.185 Deshalb wohl schuf man den nahtlosen Übergang von der Literatur der 40er Jahre zur Literatur der 60er Jahre, wie beispielsweise in der dreibändigen, von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Literaturgeschichte (1963) geschehen.186 184

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Zu Fragen der Periodisierung s. auch: R. N.: Towards the Romantic Age, The Hague, Nijhoff, 1974, S. 237-240; ders.: Periodization and Classification of Sentimental and Preromantic Trends in Russian Literature between 1750 and 1815. In: Canadian Contributions to the Vllth International Congress of Slavists, The Hague, Mouton, 1973; ders.: Periodization in Literary History: Some Observations and an Example. In: Actes du VII Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée, Budapest 1979. Am Beispiel des Realismus und seiner vielseitigen Verwendung in der sowjetischen Literaturgeschichtssschreibung vor allem der dreißiger Jahre – heute als vulgärsoziologisch verdammt – lässt sich eine weitere Konsequenz unpräziser Begriffsbildung zeigen. Es wird in diesem Falle nicht zwischen nur formal bestimmten Wesensbegriffen und solchen, die inhaltlich historisch konkret bestimmt sind, unterschieden. Damals suchten und fanden sowjetische Literaturhistoriker einen literarischen Realismus bereits in der altrussischen Literatur. ANSSSR (Hg.), Istorija russkoj literatury v III-ch tt., Bd. 2-3, Moskau-Leningrad 1963. Vgl. auch Bd. VII u. VIII der ebenfalls von der Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Istorija russkoj literatury. 1955-1956.

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Die beiden so bezeichneten Kapitel tragen dort die Untertitel Prosa 18481855 und Der kritische Realismus in der Literatur der 60er Jahre (18551868). Die erstgenannte Periode wird dabei mit der Gogolschen Richtung identifiziert. Ohne auf die an sich fragwürdige Usance einer Einteilung der literarischen Entwicklung nach Jahrzehnten weiter einzugehen, besteht doch die Frage nach der so vereinnahmten und damit als Phänomen sui generis verschwundenen Literatur der fünfziger Jahre. Sofern sie nicht einer der beiden genannten realistischen Richtungen angehörte, wurde sie stiefmütterlich behandelt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass viele Texte dieses Jahrzehnts von Gemeinsamkeiten bestimmt sind, die es erlauben, sie zu einer selbständigen Richtung in der Entwicklung der russischen Literatur zusammen zu fassen, einer Richtung, die manche Ähnlichkeit mit dem Biedermeier in den deutschsprachigen Literaturen zeigt. Die Tatsache, dass die modernen europäischen Literaturen sich in steter Wechselwirkung entwickelten, rechtfertigt, wie ich meine, eine solche Vorgangsweise. Obwohl in dieser Arbeit nicht auf den gesamten europäischen Kontext eingegangen werden kann, möchte ich doch darauf hinweisen, dass die englische Literatur nach Legouis um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein idealist reaction erlebt hat.187 Auch das sogenannte aesthetic revival, das mit dem Namen John Ruskin verbunden ist, dessen Publikationen in die fünfziger Jahre fallen, fügt sich hier ein. Wir können auch die novel of manners nennen, die zumindest teilweise hier einzuordnen ist. Diese Aspekte lassen sich in Analogie zum Biedermeier in der deutschsprachigen Literatur verstehen. Als kulturgeschichtlicher Begriff ist Biedermeier ab etwa 1900 gebräuchlich und findet Verwendung in der Stilgeschichte mit Bezug Kunstgeschichte, Kunsthandwerk und Möbelkunde.188 Die literaturwissenschaftliche Biedermeierforschung datiert aus den zwanziger Jahren. Der Germanist Paul Kluckhohn bezeichnete mit Biedermeier die „erste nachromantische Generation“ im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts. In der Folge unterschied man lokale Biedermeierrichtungen nach Landschaften (österreichisches, schweizerisches, schwäbisches, westfälisches, preußisches Biedermeier). Nach

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E. Legouis: A History of English Literature, Rev. Ed. London, Dent n.d. (bes. S. 1145 u. S. 1152-1145). In ungarischen Studien wurde auf ein französisches Biedermeier verwiesen. So z. B. bei D. Baröti: Biedermeier izlés a francia irodalomban. In: Etudes frangaises publiées par l'Institut de l’Université, François-Joseph 21, Kolozsvár 1942. Vgl. auch H. Remak: The Periodization of XIXth Century German Literature in the Light of French Trends: a Reconsideration. In: Neohelicon 1-2. 1973, S. 184. Eine einführende Darstellung in das literarische Biedermeier anhand von ausgewählten Texten bietet E. Neubuhr: Begriffsbestimmung des literarischen Biedermeier, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974. Die ausführlichste Darstellung findet das Biedermeier bei F. Sengle: Biedermeierzeit, 2 Bände, 1971-1972.

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Kluckhohn ist der gemeinsame Zug aller Texte des Biedermeier die Resignation, die er in der politischen Situation der ersten Hälfte des Jahrhunderts begründet sieht: „Die Ideale werden bewahrt, aber ihr Gegensatz zur Wirklichkeit wird stark empfunden... so klaffen Ideal und Wirklichkeit auseinander. ...die Einsicht in die Notwendigkeit des Kompromisses oder die Unlösbarkeit der Lebensaufgabe führt zu Resignation und Entsagung.“189

Wesentlich ist die veränderte Einstellung des Dichters im Biedermeier zum romantischen Begriff der Leidenschaft. Dazu lesen wir bei Kluckhohn: „Leidenschaft ist ihr [der Biedermeierdichtung] nicht mehr ein beglückendes Erlebnis,… sondern eine zerstörende Macht, ein Verhängnis, gegen das man sich wehrt und das zu tiefem Leide führt oder in Entsagung endet..., und das die Dichter weniger direkt als in der Erinnerung reflektiert darstellen“.190

In diesen beiden Aussagen Kluckhohns finden sich bereits diejenigen Komponenten, die auch in der russischen Literatur – allerdings erst ab Ende der 40er Jahre – in Erscheinung treten! Auch in Russland gilt, was Kluckhohn von der Prosa des Biedermeier meint: „Bevorzugte Erzählform ist ganz allgemein die Novelle, die man geradezu die Modegattung jener Zeit nennen kann. ‚Novellen! Nur Novellen! das ist das panem et circenses des modernen Publikums.’ (Feuchtersleben).“191

Auch in Russland dominieren die lange Erzählung oder die Novelle (povest’) bzw. der Kurzroman, die sich sowohl von der Skizzenliteratur und den kurzen Erzählungen der Natürlichen Schule, wie auch von den komplexen und mehrsträngigen Romanen der sechziger Jahre unterscheiden. Auch nach Wilhelm Bietak steht im Biedermeier dem unbefriedigenden Bereich der Wirklichkeit das Reich der Ideale, erfasst mit allen Kräften der Phantasie gegenüber. Als ausgleichendes Element schiebt sich in diese Gegensätze, die den Menschen aufzureiben drohen, als „milderndes Element“ die Resignation: Die Resignation entsagt einerseits der Verwirklichung der Ideale und gibt so ihre Ansprüche an die Wirklichkeit auf. Andererseits aber schränkt sie sich auf die Erfüllung ein, die die Wirklichkeit zu geben vermag, und übt in dieser Genügsamkeit Verzicht hinsichtlich der idealen Anlage des Lebensgefühls. Die Resignation schafft demnach im Lebensgefühl einen Ausgleich der widerstreitenden Kräfte, in dem nun Ideal und Wirklichkeit zwar nicht zu einer Einheit verschmolzen werden, aber dafür gleichberechtigt und für den Menschen gleich verpflichtend nebeneinander ruhen. Jeder neue

189 190 191

Neubuhr, op. cit., S. 15. Ibid., S. 124. Ibid., S. 129.

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Konflikt der beiden wird durch die Resignation nach der einen oder der anderen Richtung hin beigelegt.192

Rudolf Majut hat zum Bild des literarischen Biedermeier weitere charakteristische Komponenten beigesteuert. Er sieht im Menschen des Biedermeier eine „Unfähigkeit zur Tat“ sowie eine „Zerrissenheit der Seele“, die zusammen das „Hamletische Wesen“ dieses Menschentyps ausmachen: „ ...tatsüchtiges Wollen, das keinen rechten Weg von der Theorie des Ideals zur Praxis der Wirklichkeit findet oder im Bewusstsein dieses Mangels beizeiten dem Handeln entsagt und die Sicherheit des Bestehend-Erträglichen für besser hält als die Unsicherheit des Kommend-Erhofften.“193

Weitere charakteristische Züge des literarischen Biedermeier sind: Die Beschränkung auf eine schlichte, genügsame bürgerliche Kultur, Sehnsucht nach Zurückgezogenheit und Privatleben, der Versuch einer Synthese von Realität und Idealität, der Verzicht auf das große Leben, eine Neigung zum Quietismus, eine Tendenz, die Wirklichkeit im Alltag zu finden, „Heiterkeit auf dem Grunde der Schwermut“ (Kluckhohn), detailliert dargestellte Landschaften von großer dichterischer Stärke, ein Gefühl für Stimmungen (Impressionismus), eine Tendenz zur Kleinkunst, retrospektives, d. h. rückschauendes Erzählen. In Bezug auf die russische Literatur hat in neuerer Zeit D.Tschižewskij als einziger in seiner Vergleichenden Geschichte der Slawischen Literaturen (Band 2) den Begriff Biedermeier verwendet. Im Kapitel Spätromantik. Biedermeier lesen wir: „Die Romantik erlischt nicht auf einmal. Wir haben vor allem noch Altersformen der romantischen Dichtung: da ist zuerst das Biedermeier, dichterisch eine bei den Slawen wenig bedeutende Strömung, die die romantischen Motive in einer abgeschwächten Form bringt. Die Phantastik wird durch die Gelehrsamkeit oder durch Sammeleifer, das Pathos durch Reflexion ersetzt. Am wichtigsten ist wohl die Pflege der äußeren Form.“194

Tschižewskij nennt außer dem Polen Norwid auch Karoline Pawlowna (geborene Jenisch) und Tjutschew als Autoren des Biedermeier. Es ist augenscheinlich, dass sich Tschižewskijs Verständnis des Biedermeier von der epigonalen Romantik und der Spätromantik ableitet. Außerdem beschränkt

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Ibid., S. 6. Ibid., S. 9. D. Tschižewskij: Vergleichende Geschichte der slawischen Literaturen, Bd. 2, Berlin, W. de Gruyter, 1968 (Göschen Bd. 1223/1223a). Zur Verwendung des Begriffs „Biedermeier“ in den ost- und südosteuropäischen Literaturen siehe bei A. Flaker: Stilske formacije, Zagreb, Liber, 1976, S. 67-70 (bes. Anm. 14, S. 8f.).

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sich Tschižewskij auf die Versdichtung. Das Biedermeier als literarische Richtung sui generis existiert auch bei ihm nicht. In seiner Russischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist in Kapitel V Spätromantische Dichtung gleichfalls die Rede von „Einwirkungen der sich zum Biedermeier entwickelnden Romantik des Abendlandes.“195 Als einziger Autor wird hier Tjutschew mit dem literarischen Biedermeier in Verbindung gebracht.196 In der Russistik ist die Literaturwissenschaft seither über diese Ansätze zu einer Biedermeierforschung nicht hinausgekommen. Als Grundlage der folgenden Darstellung dienen sechs Erzählungen Turgenjews und drei Erzählungen Tolstojs, die aus den fünfziger Jahren stammen. Diese Erzählungen sind von I.S. Turgenjew, Das Tagebuch eines überflüssigen Menschen (Dnevnik lišnego čeloveka, 1850), Eine Korrespondenz (Perepiska, 1854), Jakob Passynkow (Jakov Pasynkov, 1855), Faust (1856), Asja (1858), Erste Liebe (Pervaja ljubov’, 1860); von L.N. Tolstoj, Luzern (Iz zapisok knjazja Nechljudova. Ljucern, 1857), AIbert (1858) und Familienglück (Semejnoe sčast’e, 1859). Es muss hier offen bleiben, wie weit auch Texte zweit- und drittrangiger Autoren dieser Zeit sich hier einfügen.197 Die von Tschižewskij angeschnittene Frage nach dem Biedermeier in der Versdichtung wird im folgenden Kapitel (2.3) behandelt. Damit wird die Literaturwissenschaft die Existenz eines literarischen Biedermeier in der russischen Literatur im Sinne einer literarischen Richtung wohl anerkennen müssen. Von vornherein dürfte allerdings außer Frage stehen, dass das literarische Biedermeier in Russland eine begrenzte zeitliche Ausdehnung hatte und qualitativ wie quantitativ nicht mit dem Biedermeier in der deutschen Literatur zu vergleichen ist. Aus diesem Grunde wäre auch die Bezeichnung Biedermeier für die russische Richtung zur Diskussion zu stellen. Heinz Kindermanns alternativer Begriff Realidealismus (1926), der den Übergangscharakter dieser Richtung und zugleich ihre Nähe zum Realismus betont, scheint gut geeignet zur Charakterisierung der russischen Literatur der fünfziger Jahre zu sein.198

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D. Tschižewskij: Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, 1.Band: Die Romantik. München 1967, S. 117. Op. cit., S. 131. Hier sei auf folgende Texte hingewiesen, die sich ganz oder teilweise in den Realidealismus, bzw. das Biedermeier, einfügen: A. V. Družinin, Polinka Sachs; F. M. Dostoevskij, Belye noči; A. F. Pisemskij: Vinovata li ona?, M. T. Michailov: Izgoev. Auch in den Romanen Sergej Aksakovs und dem Erzählwerk Leskovs finden sich manche „biedermeierliehe“ Züge. Alle mit Titel hier genannten Werke entstanden zwischen 1847 und 1855. Heinz Kindermann: Romantik und Realismus. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 4, 1926, 651-675.

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Idealität und Realität Auch in Russland war das bestimmende Erlebnis der heranwachsenden nachromantischen Generation der intensiv erlebte Gegensatz eines von Literatur, Kunst und Philosophie postulierten Ideals und einer Wirklichkeit, die dem nicht entsprach. Die Kunstperiode (Heine) hatte im Zeichen des Idealismus und der Romantik ideale Erwartungen geschaffen, die im Zeitalter der Restauration konservativer Lebensformen keine Erfüllung fanden. Die Physiologische Skizze und die Natürliche Schule hatten die sozialen Konflikte auf dem Weg über die Literatur bewusst gemacht. Aus der Sicht der Gogolschen „poschlost“ („pošlost'“, dt. Perfidie) wurde die Wirklichkeit als entfremdet und entfremdend empfunden. Die Helden des Realidealismus sind Getriebene, Heimatlose, sind oft auf Reisen und auf der Suche nach einem festen Punkt im Leben. In Eine Korrespondenz ist der Erzähler in Dresden, in Asja befindet er sich in einem namenlosen Städtchen am Rhein, Tolstojs Erzähler in Luzern hält sich auf der Durchreise in der gleichnamigen Stadt in der Schweiz auf. Eine namenlose Provinzstadt, das Landgut eines Freundes oder die Straßen St. Petersburgs, sind die übrigen Schauplätze, – Stationen auf einer Reise, die meist im heimatlichen Landbesitz beginnt, deren Ende aber oft im Ungewissen bleibt. Kehrt der Held letztlich doch ins heimatliche Gut zurück wie im Tagebuch eines überflüssigen Menschen und Familienglück, dann um dort zu sterben (Tagebuch…) oder das Leben in resignativer Selbstbescheidung zu beschließen (Familienglück). Der symbolhafte Charakter des Unterwegseins wird besonders deutlich in der Erzählung Asja, an deren Ende die Zeilen stehen: „Einige Jahre danach sah ich einmal im Ausland eine Frau in einem Eisenbahnabteil, deren Gesicht mich lebhaft an Asjas unvergessliche Züge erinnerte…“

Das Leben wird zur Reise, die ideale Erfüllung zu einer flüchtigen Impression, die aber nichts destoweniger tiefe Spuren hinterlässt. Am Ende steht Resignation. Die Sphäre der Idealität wird in die Jugend verlegt, in die Zeit eines naiven Glaubens an die Wirklichkeit des Schönen, Wahren und Guten, – dieser Dreiheit einer von Kunst und Philosophie postulierten Idealität. Der heranwachsende Mensch erlebte sie zu Hause in der sentimental-romantischen Lektüre und in der Schule in einem Bildungsprozess, der – nicht zuletzt um einer ganz anders gearteten Wirklichkeit auszuweichen – gerade auf dem abstrakten Humanismus des philosophischen Idealismus aufbaute. In der Prosa des Realidealismus verbindet sich so das Erlebnis einer glücklichen Jugend mit dem Erlebnis der Natur, der Kunst und einer romantischidealistischen Lektüre. Dazu kommen die ersten Regungen erotischer Be-

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ziehungen zum anderen Geschlecht. Der Jugend als Zeit einer maximalen Annäherung an das Glück steht die Enttäuschung des jungen Mannes gegenüber, der in dem Moment, als er sich selbständig im Leben verwirklichen will, schon die Beschränktheit zeitgenössischen Lebens erkennen muss. Die Klage über die vergangene Jugend, die daraus entspringt, wird zu einem häufig anzutreffenden Motiv des Realidealismus. So ruft der Erzähler in Jakob Passynkow aus: „Wo ist diese Begeisterung? Oh weh! Dort wo auch die Jugend ist.“ Der Held in Erste Liebe klagt: „Oh, Jugend, Jugend! Du hast damit nichts zu tun, du verfügst sozusagen über alle Schätze des Universums…“ Wie Delessov, der Beschützer Alberts, versenkt man sich gern in die Vergangenheit. Delessow, von dem genialen Musizieren Alberts in die Zeit seiner Jugend versetzt, erlebt erneut die Zeit der ersten Liebe und vernimmt im Geigenspiel Alberts die Worte: „Für Dich ist vergangen, für immer vergangen die Zeit der Stärke, der Liebe und des Glücks. Sie ist vergangen und wird nie wiederkehren.“ Die Erinnerung wird zum „besten Glück, dass dir geblieben ist.“ Ähnlich formuliert es auch die Heldin in Familienglück. In ihrer Jugend, zur Zeit erfüllter Liebe denkt sie: „Warum sind wir nicht alle jung, nicht alle glücklich, wie diese Nacht, und wie wir mit ihnen?“ Aus dem Rückblick erkennt aber auch sie, dass dies die einmalige und maximale Annäherung an ein Lebensideal war, das ebenso wenig wie ihre Jugend Bestand haben kann. Und sie bekennt: „ Und weder eine solche Nacht, noch solch einen Morgen habe ich jemals später nochmals erlebt.“ Die Sphäre der Idealität, in der aus der Sicht des Menschen der Nachromantik allein das Glück beschlossen ist, bleibt aber nicht nur der Jugend zugänglich. Auch der Erwachsene kann ihr im Erlebnis der idealen Liebe, in Kunst und Literatur und schließlich in der Natur erneut begegnen. Es ist besonders die Erfahrung der leidenschaftlichen, aber unerfüllten Liebe, die als prägendes Erlebnis das Weltverständnis des Realidealisten bestimmt. Parallel dazu kann die Kunst stehen. So verbindet sich in der Erzählung Faust das Erlebnis einer Lesung von Goethes Poem Faust mit dem Erwachen der Liebe. Das Erahnen des Ideals im Kunstwerk wird hier geradezu zum Auslöser für die Liebe Vera Nikolajewnas zum Erzähler, – sie, die anfangs Literatur nur als „erdachte Werke“ versteht, sieht in ihr plötzlich eine das Leben überwältigende Macht. In Tolstojs Erzählung Albert ist es die Musik, in der allein noch der Titelheld eine Sinnerfüllung im Leben erfahren kann. Ähnlich kontrastiert in Luzern die Musik scharf mit einer unakzeptablen Wirklichkeit. Hier steht neben der Musik die Natur, die ebenso wie die Kunst die Möglichkeit einer Verwirklichung des Ideals andeutet, aber der mutwilligen Zerstörung durch die Behörden des Kurorts unterliegt. In der Natur sieht der Erzähler dieselbe „allgemeine Harmonie der Schönheit“, „in allem Ruhe, Sanftheit, Einheit und Notwendigkeit des Schönen“, wie in der Musik. Der gemeinsame Oberbegriff für beide ist das Ideal des Schönen. So wie sich 109

Idealität in der Kunst nur begrenzt verwirklichen kann – das Publikum des „Tiroler Sängers“ erfasst nicht die Harmonie und Schönheit seiner Lieder –, es wird Idealität in der Natur durch zivilisatorische Eingriffe des Menschen zunichte gemacht. Der Moralist, verbindet die Unvereinbarkeit von Natur/Kunst und Lebenswirklichkeit mit einer moralischen Wertung, die ihren Ursprung in einem rousseauschen Zivilisationsverständnis hat. Die großbürgerliche und aristokratische Gesellschaft, die das Leben bestimmt, hat die Harmonie von Kunst und Natur durch die Disharmonie kommerzieller Beziehungen ersetzt. In Albert tritt die Kunst (= Alberts Geigenspiel) als Parallele und Ausdruck der verloren gegangenen und nie realisierten idealen Liebe auf. Der verarmte, dem Alkohol verfallene Musikant Albert kann seine Idealvorstellung nur in einer traumhaften Vision im froststarren St. Petersburg verwirklichen. Hier erlebt er den Triumph der Kunst und die Erfüllung in der Liebe, – beides Dinge, die ihm im realen Leben versagt bleiben. Im Traum erfährt er: „Die Kunst ist die höchste Manifestation der Macht im Menschen.“ Seine Geliebte erscheint ihm und „Albert stürzte sich zusammen mit ihr in den Mond im Wasser und begriff, dass er jetzt sie, die er mehr als alles auf der Welt liebte umarmen konnte; er umarmte sie und fühlte ein überwältigendes Glück.“

Aber nicht nur Albert, auch seine Zuhörer erahnen in der Musik das Ideal. Von ihnen sagt der Erzähler: „Sie wurden hinüber getragen in eine vollständig andere Welt, die sie vergessen hatten. In ihren Seelen erhob sich bald ein Gefühl stillen Schauens der Vergangenheit, bald leidenschaftlichen Erinnerns an etwas Glückliches…“

In Erster Liebe finden wir eine klare Aussage über das Verständnis der Kunst seitens des Realidealisten und zugleich eine klare Formulierung des tragischen Zwiespalts zwischen Realität und Idealität: „Das ist es, was Poesie schafft: sie sagt uns das, was nicht ist und was nicht nur besser ist, als das, was ist, sondern sogar der Wahrheit näher kommt…“

Ganz ähnlich formuliert es Tolstoj in Albert. Von dem visionären Traum des Titelhelden heißt es dort: „Das ist mehr als die Realität; das war die Realität; die Erinnerungen.“ Aus diesen Zeilen wird aber auch das Bestreben des Realidealisten deutlich, das Leben am Maßstab einer idealen Traumwelt zu messen, die allein Sinn und Erfüllung verspricht. Er muss jedoch erkennen, dass die Realität nicht dem idealen Maßstab entspricht und dieser letztlich nicht realisierbar ist. Daraus entspringt die Klage Passynkows in Turgenjews gleichnamiger Erzählung.199

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Siehe II.1, S. 93f.

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In den meisten Texten des Realidealismus steht allerdings nicht die Kunst, sondern die Liebe im Zentrum der Handlung. So bestimmt der Gegensatz von leidenschaftlicher Liebe und Lebensumständen, die ihre Realisierung nicht zulassen, die Handlung in allen sechs Erzählungen Turgenjews wie auch in Tolstojs Kurzroman Familienglück. Das Erlebnis der Liebe wird von ihrem Erwachen bis hin zum visionären Erleben einer idealen Erfüllung geschildert, die allerdings im realen Leben keinen Bestand hat, und nur in der Phantasie und der Erinnerung eine gewisse begrenzte Verwirklichung findet. Erinnerung, Traum und Dichtung werden so zu einer zweiten Wirklichkeit, die die Realität verdrängt. Am deutlichsten wird die Suche nach idealer Erfüllung in Jakob Passynkow geschildert. Turgenjew wandelt das Thema gleich vierfach ab. Der Erzähler und sein Freund Passynkow lieben beide Sophie, die aber einem dritten folgt. Sophies Schwester Warja wiederum liebt Passynkow, der seinerseits von dem bürgerlichen Mädchen Mascha verehrt wird. In allen Fällen scheitert die Liebe an den realen Umständen des Lebens. Die Erzählungen Faust und Asja stellen Varianten dieses zentralen Themas dar: Der Held auf der Suche nach dem glückhaften Erlebnis des Ideals, sucht es in der Liebe zu einem Partner zu verwirklichen. Vera Nikolajewna in Faust zerbricht am Gegensatz von Idealität und den realen Anforderungen des Lebens, konkretisiert in den moralischen Forderungen ihrer verstorbenen Mutter, die ihr als Geist erscheint. Sie folgt ihr ins Grab. Der Erzähler resigniert. In Asja ist es die Heldin, die noch deutlicher als Vera Nikolajewna nach der Verwirklichung ihrer Idealvorstellung vom Glück strebt. Asjas Neigung zur leidenschaftlichen, unbedingten Liebe liegt in ihrem ganzheitlichen Charakter begründet: „Bei ihr gibt es kein halbherziges Gefühl.“ Nach den Worten ihres Bruders Gagin, sucht sie die Erfüllung ihres Ideals in einem Menschen, der entweder ein Held oder ein malerischer Hirt ist, d. h. ihr schwebt als Ideal die große Leidenschaft vor oder als Alternative die ideale Harmonie, die Idylle eines entrückten Arkadiens. Beides sind Idealvorstellungen, die sich nicht realisieren lassen. Asjas Vorstellung von einem unerreichbaren Ideal wird mehrfach abgewandelt: Sie sehnt sich danach, eine große Tat (podvig) zu vollbringen; sie möchte sich als Vogel „im Blau verlieren“; sie möchte „stets die ganze Wahrheit“ sagen. Der Erzähler kann die Unbedingtheit ihrer Gefühle nicht erkennen, bzw. als er sie erkennt, schreckt er vor dem absoluten Anspruch dieser Liebe zurück und Asja geht ihm verloren. In Tolstojs Kurzroman Familienglück hingegen scheint vorerst das Experiment der großen Liebe zu gelingen. Die Erzählerin heiratet ihren Geliebten Sergej Michajlytsch trotz eines großen Altersunterschieds. Die Liebe beider wird jedoch von solcher Intensität und hochgespannten Erwartungen bestimmt, dass die Realität des Alltags und das tägliche Wirken im kleinen 111

Kreis Unstimmigkeiten hervorrufen, die durch eine Übersiedlung nach St. Petersburg nur noch vertieft werden. Die Liebe zerbricht, als beide zur Erkenntnis gelangen, dass der Partner nicht dem Idealbild entspricht, das jeder vom anderen in sich trägt. Idealität und Realität sind eben nicht zu vereinen, – eine schmerzliche Erfahrung, die der Held rückblickend in der Erinnerung nachvollzieht. Seine Lebenserfahrung kann aber dennoch nicht seine idealistische Grundeinstellung ändern. Passynkow, der „letzte Romantiker“, drückt diese Grundhaltung in den Worten aus: „Aber bemitleidenswert ist, wer ohne Ideal lebt!“ Er bleibt dem Ideal treu, selbst als er erkennen muss, dass es für ihn unerreichbar bleibt. Verinnerlichung und Resignation Für den Menschen des Realidealismus sind Selbstverwirklichung und ein bescheidenes Maß an Glück nur im Verzicht und Rückzug auf die private Sphäre möglich. Der Held zeigt in der Regel nur eine geringe Selbstachtung und sieht sich bescheiden als: „gutmütiger und einfacher, gutherziger lieber Kerl“ (= milyj malyj, Faust). Was seine konkrete Existenz betrifft, so ist er meist ganz in den Alltag versponnen. Er hat eine gesellschaftlich unbedeutende Position, ist ein kleiner Staatsbeamter, der nicht näher beschriebenen Aufträgen nachgeht, ein kleiner Gutsherr, der sein Land bestellt, oder aber ohne besonderes Ziel im Ausland reist. In Eine Korrespondenz wird diese Absage an das romantische Selbstverständnis einer vergangenen Epoche am deutlichsten formuliert. Der Ich-Erzähler meint von sich, er besäße „keinerlei große Wahrheiten, keinerlei tiefgehende Ansichten; ich besitze dies nicht, – diese Wahrheiten und Ansichten. Ich wurde zu einem ‚lieben Kerl’…“ Dieses reduzierte Selbstverständnis ist charakteristisch für alle Helden der hier herangezogenen Erzählungen. In Erste Liebe formuliert Luschin, der väterliche Freund des Helden, das Lebensziel des Realidealisten so: „Die Hauptsache: normal zu leben und sich nicht Leidenschaften zu unterwerfen.“ Tolstoj spricht in Familienglück von „Einfachen Lebensfreuden und der Harmonie mit der Welt.“ Als gemeinsamen Nenner realidealistischer Lebensansprüche könnte man am ehesten Einfachheit und Harmonie nennen. Es überrascht nicht, dass Goethes Hermann und Dorothea als literarisches Modell für Asja angeführt wird. Die Realisierung dieser bescheidenen Ansprüche wird aber von der erwachenden Leidenschaft, in der das Individuum sein Lebensideal zu sehen vermeint, vereitelt. Erst nach dem Zusammenbruch der hochgespannten Erwartungen aus dieser Liebe tritt das Selbstbescheiden wieder in den Vordergrund. Die erlebte Enttäuschung bewirkt einen Rückzug in das innere Leben und führt zu Introspektion und Selbstanalyse: „Wir kennen keine andere Lebensaufgabe, als wieder nur die unsere Persönlichkeit zu bearbeiten…“ (Tagebuch eines überflüssigen Menschen).

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Der Erzähler des Tagebuchs sagt von sich selbst: „ ...ich beeilte mich in mich zu gehen… Ich analysierte mich selbst bis zum letzten zum Gehtnichtmehr…“

Von Jakob Passynkow wird berichtet: „ ...Seine Stimme wurde noch leiser, sein Blick kehrte in sein Inneres und erlosch… Ohne jegliche Anstrengung befand er sich in der Sphäre des Ideals.“

Er zieht sich ins Nichtstun, in ein beschauliches Leben zurück, „ ... nichts will man tun, niemand will man sehen, von nichts träumen, keine Lust zu denken.“ (Faust)

Der Held sucht die Einsamkeit: „Ich bin total vereinsamt auf der Welt… jetzt liegt die Einsamkeit wie eine Last auf mir“ (Eine Korrespondenz).

Er findet aber oft nur „ eine erschreckende, innere Leere!“ (Tagebuch eines überflüssigen Menschen) Sofern er das elterliche Gut noch besitzt, zieht er sich dorthin zurück, sucht „seelische Ruhe“ (Faust) und die Erinnerung an eine glückliche Kindheit. Das alte Landgut ist die Zuflucht („prijut“) vor den Stürmen des Lebens, der Erzähler möchte sich hier ein „wenngleich nur kurzlebiges Nest flechten“ (Tagebuch…), oder aber in Resignation sein Leben zu Ende führen. Die Welt wird wie in Tolstojs Familienglück zur „kleinen Welt“, in der bestenfalls ein reduziertes Glück erreichbar ist. Man muss es eben, wie es Sergej Michajlytsch formuliert, „einfacher mögen“. (Familienglück) Besteht die Möglichkeit des Rückzugs in eine bescheidene Nische nicht, so bleibt der Held der realidealistischen Prosa ein „Beobachter“, der bescheiden am Rande des Weges steht und die vorüberhastenden Menschen „ohne Neid und Ärger“ betrachtet, da er weiß, dass keiner es viel weiter bringen wird als er! (Eine Korrespondenz) Sobald er die Unmöglichkeit idealer Selbstverwirklichung erkannt hat, resigniert er und versteht sein weiteres Leben als ein Leben zum Tode. In Tagebuch…und Eine Korrespondenz ist der Tod des Helden ein Teil der Rahmenhandlung, in Jakob Passynkow Teil der Handlung selbst. In diesen Fällen wird besonders deutlich, was vorerst nur indirekt spürbar ist: das intensive Bewusstsein einer befristeten Existenz in einer Welt, die uns die Sphäre der Idealität nur ahnen lässt, ihre Wirklichkeit aber jenseits des Todes ansiedelt. Von allen Erzählungen lässt sich aus dieser Perspektive sagen, was der Ich-Erzähler in Tagebuch… von seinen Aufzeichnungen meint. Er nennt sie „Erinnerungen ... am Rande des Grabes“. Da rückschauend erzählt wird, bildet die Resignation, die erst als Folge der geschilderten Ereignisse auftritt, doch die emotionale Grundstimmung und bestimmt auch bereits den Beginn des Textes. Sie ist ein organischer 113

Teil der Erzählhaltung. Am deutlichsten wird diese resignative Haltung, die alle Helden Turgenjews und Tolstojs in den vorliegenden Texten kennzeichnet, in Faust, dem der Autor ein entsprechendes Motto aus Goethes Poem voranstellte: „Entbehren sollst du, sollst entbehren“. Am Ende der Geschichte seiner Liebe kommt der Erzähler zu diesem Motto zurück: „Entbehrung, beständige Entbehrung, – dies ist der geheime Sinn des Lebens, des Rätsels Lösung.“ Ebenso geht es dem namenlosen Erzähler in Asja, der aus Angst vor der Leidenschaft zögert und es verabsäumt, das Glück zu fassen, als es sich ihm anbietet: „und so war der letzte Halm, an den ich mich hätte klammern können, meiner Hand entglitten.“ Das „brennende, zärtliche, tiefe Gefühl“, das Asja in ihm erweckte, „wiederholte sich nicht mehr“. Auch ihm bleibt nur die Entsagung und – ein recht biedermeierliches Bild – der verdorrte Geranienzweig, den ihm einst Asja schenkte und dessen Duft “alle Freuden und alle Kummer des Menschen – ja, den Menschen selbst, überdauert“. Einen anderen Verlauf nimmt der schmerzliche Zusammenstoß mit der Lebenswirklichkeit in Tostojs Familienglück, als die ideale Liebe der Erzählerin und die ebenso ideale Gegenliebe ihres Mannes an den Versuchungen der großen Welt zerbrechen. Im zweiten Teil dieses Kurzromans finden beide Helden wieder zueinander, allerdings ist die große und ideale Liebe vergangen und es bleibt nur der resignative Rückzug auf ein kleines Glück. Er wird für sie zum „alten Freund“, sie findet Erfüllung in der Sorge um ihren Sohn: „ ...das alte Gefühl wurde zu einer teuren, unwiederbringlichen Erinnerung, und ein neues Gefühl der Liebe zu den Kindern und den Vater meiner Kinder setzte den Beginn eines anderen, aber bereits auf ganz andere Weise glücklichen Lebens, das ich in dieser Minute noch nicht zu Ende gelebt habe…“.

Während bei Tolstoj die Problematik entweder in philosophische Betrachtungen mündet, oder im Sinne seines Verständnisses der Familie einen versöhnlichen, wenngleich immer noch von resignativem Bescheiden geprägten Ausgang nimmt, ist bei Turgenjew Resignation mit Trennung und Tod verknüpft. So erlebt der Erzähler in Jakob Passynkow den Tod seines Freundes, der ihm gerade noch von seiner verborgenen Liebe zu eben demselben Mädchen erzählt hat, das auch der Erzähler einst vergebens geliebt hatte: „Das war als ich erfuhr, als ich erkannte, was das von mir vor langem gewählte Wort Resignation bedeutet.“

Es bleiben ihm nur „traurige und zarte Gedanken und süßer Schmerz in der Brust“. Der resignative Rückzug in die Verinnerlichung, in die Welt der Erinnerung, wird von Alexej Petrowitsch, dem Ich-Erzähler in Eine Korrespondenz, in einem einprägsamen Bild dargestellt, wenn er von sich sagt, er sei „verur114

teilt, sein ganzes Leben in einem Zimmer mit Spiegelwänden zu verbringen.“ In diesem Satz kommt sowohl das Eingeschlossensein, die Abgrenzung von der großen Welt, wie auch die übermäßige Hingabe des Realidealisten an Erinnerungen zum Ausdruck. Das Raum-Zeit-Gefüge (Chronotop) Wie Bachtin gezeigt hat, entwickelt jede literarische Richtung ihr charakteristisches Chronotop.200 Im Realidealismus wird die Zeit prozesshaft in ihrer verändernden Funktion erlebt. Der Standpunkt des erlebenden Ichs liegt inmitten dieses Prozesses, der Standpunkt des erzählenden Ichs ist ihm durch Verlegung in die Erinnerung entzogen. Daraus resultiert eine verdoppelte Erzählperspektive, die den unbeständigen Charakter der Lebenswirklichkeit besonders deutlich macht, denn jeder Augenblick ist zugleich für das erlebende Ich Gegenwart und für das erzählende Ich bereits Erinnerung. Mit anderen Worten, die Wirklichkeit wird nur im Zugriff der Erinnerung zur Realität. Beständig ist nur, was bereits vergangen ist und als Teil der Erinnerung stets neu abrufbar und damit verfügbar geworden ist. Die Gegenwart des erlebenden Ichs gerinnt zur Erinnerung, vor allem an das prägende Erlebnis der enttäuschten Liebe, das von einem emotional, resignativ markierten Erzählstandpunkt aus im Rückblick dargestellt wird. Es kommt zu einer dialektischen Verknüpfung dieser beiden zeitlichen Standpunkte, insofern das prägende Erlebnis den Erzählstandpunkt und dieser wieder die Gestaltung des Erzähltextes in Form der Erinnerung bestimmt. Erlebnis und Reflexion werden als gegenseitig bedingt dargestellt. Das prägende Erlebnis und die Fähigkeit zu einem unmittelbaren Erlebnis überhaupt werden von resignativer Reflexion – dem Erlebnis der Realität in ihrer gedanklichen Vermitteltheit – überlagert.201 Beide sind mit biographischen Signaturen {Jugend und Alter) versehen, wobei sich das Alter oft mehr auf einen geistigen und psychischen

200 201

M. Bachtin: Formy vremeni i chronotopa v romane. Očerki po istoričeskoj poetike. In: M. Bachtin: Voprosy literatury i estetiki. Issledovanija raznych let. Moskau 1975. Was Nikolaj Kryščuk beispielsweise in Energija ironija, in der Literaturnaja gazeta Nr. 18, vom 2. Mai 1982, S. 3 von der zeitgenössischen sowjetischen Prosa sagt, lässt sich auch auf die Literatur des Realidealismus des 19. Jahrhunderts beziehen: „ ...Ne vižu pol’zy v tom, čto slova ‚refleksija’ i ‚samoanaliz’ proiznosjatsja poroj prezritel’no i kak by skvoz’ zuby. Kak budto i pravda ironija svidetel’stvuet liš’ o tom, što čelovek ne umeet govorit’ del’no, a vsjakie somnenija i poisk javljajutsja liš’ sposobom uklonenija ot vypolnenija dolga. Samo značenie otricanija, zaključennogo v ironii, ne odnoznačno. Ona ne tol’ko otricaet i ne prosto otricaet, no – korrektiruet: za nej vsegda predpologaetsja ideal, v toj ili inoj stepeni otličajuščijsja ot dejstvitel’nosti.” Dies über die Literatur der 1960er Jahre!

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als einen physischen Alterungsprozess bezieht. Der Held ist physisch nur gering gealtert, ist aber geistig und seelisch an einen Punkt gekommen, von dem aus keine weitere Entwicklung möglich erscheint. Die Zeit in der Prosa des Realidealismus ist so nicht identisch mit der realen Zeit. Im Prozess der rückblickenden Schau wird sie psychologisiert und dynamisiert. Sie kann mitunter aber auch überhaupt aufhören zu existieren. Der Erzähler tritt in der momentanen Identität von Erzählgegenwart und Erinnerung aus dem Fluss der Zeit heraus. Der Zustand resignativer Wehmut wird als unveränderlich und jenseits der Zeit stehend empfunden. Der aus der Zeit herausgetretene Mensch führt so ein Schein- oder Schattendasein in der Erinnerung. Die realen Lebensumstände werden irrelevant und allein der Tod bleibt als letzte und unabwendbare Realität erhalten, wie dies am deutlichsten in Turgenjews Eine Korrespondenz, aber auch in Tolstojs Albert dargestellt wird, dessen Titelheld nur knapp dem Tod durch Erfrieren entgeht. Als man ihn in die Wärme trägt, vermeint er, man trüge ihn zu Grabe, – eine nicht zufällige Aussage. Sein Tod ist die einzige Realität, die er zur Kenntnis nehmen muss und nur eine Frage der Zeit, – die Spanne bis dahin muss leer bleiben, denn alles, was sie konkret anfüllen mag, bleibt gegenüber seiner Vision irrelevant. Die sinnstiftende Macht der Kunst, die ihn einst in seiner Jugend bewegt hat und die er nur mehr im Zustand der Trunkenheit nachleben kann, wird zum Traum, zur Vision, zur Erinnerung und ist nur mehr außerhalb der konkreten raum-zeitlichen Koordinaten zu verwirklichen. Die räumlichen Komponenten des Chronotops entsprechen den zeitlichen. Dem prozessualen Charakter der Zeit als stete Veränderung bis hin zum resignativen Heraustreten aus der Zeit in der Erinnerung entspricht ein sich stets veränderndes Raumgefüge, in dem der Ort, an dem eine Person sich befindet, als zufällig und vorübergehend erscheint. Der wechselnde Hintergrund, sei es die Provinzstadt oder die Straßen und Salons der Hauptstadt oder das Ausland, dient als Folie, welche die Ferne des Ideals durch die Banalität des Alltags und gesellschaftlicher Belustigungen nur noch betont. Einzig die Natur ist von dieser Darstellung ausgenommen. Sie bildet ein Raum-Zeit-Gefüge ganz eigenen Gepräges. Für den Realidealismus ist die Verwendung lyrischer Naturszenen ein häufig verwendetes Verfahren. Es kann sich dabei um stilistische Miniaturen im Ausmaß von wenigen Zeilen oder um Seiten füllende Schilderungen handeln. Neben dem manchmal erwähnten heimatlichen Gut, in dem der Garten oder Park als Gegenstand dieser lyrischen Vignetten dient wie im Tagebuch eines überflüssigen Menschen und Faust, sind es Wald- und Fluss-, oder See-und Meerlandschaften, deren Schilderung die Nähe des Ideals andeutet. In der Natur kündigt es sich dem sensiblen Menschen an, ohne jedoch für ihn ganz greifbar zu werden. So sind diese Vignetten auch stets aus dem raumzeitlichen Zusammenhang ausgespart. In ihnen tritt der Mensch wiederum aus Zeit und Raum heraus. Dies 116

wird dadurch betont, dass oft Nacht und Meer, bzw. See und Fluss, als raumzeitliche Koordinaten gewählt werden. Beide sind in der Literatur der Romantik oft beschworene Ambiente, deren Symbolcharakter leicht verständlich ist, drücken sie doch in ihrer Grenzenlosigkeit, ihren chaotischen und finsteren Tiefen und ihrer steten Bewegtheit, die Ausgesetztheit und Verlorenheit des Menschen aus. Die Konturen lösen sich auf, Zeit und Raum verlieren ihre Grenzen und verfließen ineinander wie auch Gegenwart und Vergangenheit. Besonders Nachtszenen sind häufig und haben einen stark ausgeprägten Symbolcharakter. In Tagebuch… schildert der Held eine nächtliche Bootsfahrt am Meer in der Bucht von Neapel. Mitten im Dunkel leuchten die Lichter eines Dampfers, auf dem eben ein Ball stattfindet: „Welch eine Nacht dies war, welch ein Himmel, was für Sterne, die zitternd auf den Wellen sprühten! Der Kapitän des Schiffes gab einen Ball… ich erinnere mich besonders an das Trillern einer kleinen Flöte inmitten der dumpfen Rufe der Trompeten; es schien sie schwebte wie ein Schmetterling um mein Boot… ich befahl dem Fährmann weg zu fahren, in das ferne Dunkel… Ich erinnere mich, die Töne folgten mir lange und beständig… Schließlich erstarben sie. Ich erhob mich im Boot und mit stummer Wunschsehnsucht breitete ich meine Arme aus über das Meer… Oh! Wie mir das Herz weh tat damals! Wie schwer die Einsamkeit auf mir lag!

Nacht und Gewässer spielen auf Grund ihres Symbolwertes auch eine bedeutsame Rolle in Asja und Luzern. Die Schilderung der Überfahrt des Erzählers über den nächtlichen Rhein in Asja nimmt Sujet und Ende der Novelle vorweg: “Der Kahn stieß ab und wurde von der Strömung davongetragen. Der Fährmann tauchte die Ruder kraftvoll ins dunkle Wasser. ‚Sie sind in den Lichtstreifen hinein gefahren und haben ihn zerstört!’ rief mir Asja nach. Ich sah auf das Wasser nieder, doch nur schwarze Wellen wogten um den Kahn. ‚Leben Sie wohl!’ hörte ich noch einmal ihre Stimme.‚Bis morgen!’ rief Gagin. Das Boot legte am andern Ufer an. Als ich ausstieg und zurück blickte, war auf der anderen Seite niemand mehr zu sehen. Das Mondlicht hatte wieder eine goldene Brücke über den Strom gespannt.“

So wie Asjas Liebe im Lauf der Geschehnisse aus ihr heraus bricht und sie dem Erzähler zuführt, so reicht auch der Silberstrahl des Mondes von einem Ufer des Rheins zum anderen. Doch der Erzähler, der mit seinem Kahn in der Nacht den Fluss übersetzt, zerstört ihn. In Luzern dienen Nacht und See und davor die Szenerie der Altstadt als Hintergrund für die Darbietung des „Tiroler“ Sängers. In Albert gerinnen Kunst, erste Liebe und Natur zu einem Erinnerungsbild, das die höchste Annäherung des Menschen an das Ideal andeutet: „Er erinnerte sich an die erste Liebe…, die ersten Liebeserklärungen in der Lindenallee, erinnerte sich an den Zauber und die Natur rundum, unenträtselbar und voll von Geheimnissen.“

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In Familienglück ist der Park ein Ort der erwachenden Liebe der Heldin. Ihr nächtlicher Spaziergang im Park an der Hand ihres Geliebten Sergej Michajlytsch ist ein später immer wieder von ihr beschworener Höhepunkt ihrer Liebe und deutet auf eine maximale Annäherung an das Ideal hin. Zeit und Raum lösen sich auch hier auf: „Es schien mir, dass man von hier nicht weiter gehen konnte, dass die Welt der Möglichkeiten hier endete, dass es für immer in seiner Schönheit eingemeißelt bleiben musste.“

Diese Naturszenen, als deren Ort der Garten, der Park, der Wald, das Meer, der See oder der Fluss fungieren, sind kontrapunktisch dem Alltagsmilieu gegenübergestellte Enklaven, in denen Raum und Zeit eine veränderte Qualität annehmen. So wie die Natur in ihrem steten Wandel ewig jung und unverändert ist, so ist auch die Zeit hier zur Ewigkeit gedehnt, in ihrem Ablauf angehalten. Damit bilden diese Enklaven in einer Welt, die sich eines veränderlichen Raum-Zeit-Kontinuums besonders bewusst ist, ein Pendant zu Erinnerung und Phantasie, die scheinbar ähnlich zeitlos und unveränderlich sind. Lyrische Naturszenen und die stete Beschwörung der Vergangenheit in Phantasie und Erinnerung stehen so der schmerzlich empfundenen Realität gegenüber, in der die unstete Qualität von Raum und Zeit parallel zum Verlust des Glücks erlebt wird, das nur mehr in der Natur, im Erlebnis der Kunst und in der Erinnerung nacherlebt werden kann. Erzähltechnik Die angeführten Erzählungen zeigen Gemeinsamkeiten auch in Bezug auf ihre Gestaltung. Mit Ausnahme von Albert dominiert in allen das rückschauende Erzählen. Der Erzähler distanziert sich von dem Erzählten, indem er es entweder als Erinnerung darstellt, als Tagebuch, oder als Briefwechsel gestaltet. Die Technik des distanzierenden Erzählens stützt sich auf die Fiktion eines Herausgebers oder bedient sich einer Erzählfigur, die Selbsterfahrenes berichtet. Der Erzähler kann, aber muss nicht mit dem Held der Erzählung identisch sein. Im Falle der Identität beider, ist zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich zu unterscheiden. Dies gilt auch dort, wo ein Herausgeber existiert. In den von ihm herausgegebenen Texten findet sich wiederum die Spaltung der Hauptfigur in Erzähler und Held. Eine Sonderstellung nimmt Albert ein, insofern hier im Gegensatz zu allen anderen Texten ein auktorialer Erzähler vorhanden ist. Nichtsdestoweniger findet sich auch hier die Spaltung der Hauptfigur in ein unmittelbar erlebendes Ich (= Albert) und ein reflektierendes, erzählendes Ich (= Delessow). Auch das von der Erinnerung bestimmte distanzierende Erzählen kommt in Albert zur Geltung, insofern durch das Medium der Musik (Alberts virtuoses Geigenspiel) die

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Vergangenheit und die darin ruhende Verwirklichungsmöglichkeit des Ideals beschworen wird, sodass auch innerhalb dieser Erzählung wiederum die Polarität von Gegenwart und Vergangenheit gegeben ist. Dies geschieht im 2. Kapitel, das ganz der Schilderung der Wirkung der Musik gewidmet ist. In Alberts Geigenspiel erstehen „Erinnerungen an etwas Glücklichem“ und „Bilder der Vergangenheit“. Am Ende des 3. Kapitels wiederholt sich dieses Erlebnis im Traum. Die Vergangenheit wird in Alberts Erzählung aus seiner Jugend im 5. Kapitel lebendig. Im 7. Kapitel folgen dann zwei weitere visionäre Traumszenen, in denen Albert in die „freie und schöne Sphäre der Träumerei“ eintaucht, in denen die Zeit anhält und Vergangenheit und Gegenwart erst in der Erinnerung, bzw. der distanzierenden Reflexion Wirklichkeitscharakter erlangt. Damit ergeben sich zwei zeitliche Bezugspunkte, der Erinnerungsstandpunkt des Erzählers und der Erlebnisstandpunkt des Helden in der Erzählgegenwart. In Luzern und Albert, wo die beiden Standpunkte zeitlich zusammenfallen, wird zeitliche Distanz durch die Hereinnahme eines von der Erzählgegenwart distanzierten Beobachters geschaffen.202 Die Wirklichkeit wird dreifach gebrochen. In der einfachen wie auch der doppelten zeitlichen Distanzierung wird jedes geschilderte Ereignis der Erzählgegenwart zugleich aus der Sicht des erlebenden Ichs (= Held) und der des erzählenden Ichs (= Erzähler) gesehen. Was hier unscharf als Erzählgegenwart bezeichnet ist, unterliegt allerdings zumeist einer weiteren Gliederung. Da im Realidealismus der prozessuale Charakter der Zeit im Sinne stetiger Veränderung und Zerstörung im Vordergrund steht, denn erst was der Mensch in das Reservat der Erinnerung einbringt, ist vor dem Zugriff der Zeit sicher, zerfällt die Erzählgegenwart wieder in eine mehr oder weniger große Zahl zeitlicher Bezugspunkte. Dies wird besonders in jenen Erzählungen deutlich, die in der Form des Tagebuchs oder der Korrespondenz gestaltet sind. Turgenjews Erzählung Eine Korrespondenz ist dafür ein gutes Beispiel. Der Hauptteil der Korrespondenz fällt in die Zeit vom März bis zum Juli 1840. Es folgt dann ein weiterer Brief der Heldin im Januar 1841, und eineinhalb Jahre später, im September 1842, folgt der letzte Brief des Helden. Auf diese Weise werden die in den Briefen aus der ersten Jahreshälfte 1840 geschilderten Ereignisse in den beiden folgenden Briefen nochmals zeitlich distanziert. Diese zeitliche Distanzierung innerhalb der Erzählgegenwart kann mit einem Rahmen, beruhend auf der Fiktion eines Herausgebers, verbunden sein wie in Erste Liebe, wo der Erzähler zugleich als Herausgeber fungiert. Der Rahmen spielt hier Ende der

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In Luzern ist der Autor, der Erzähler Nechljudov, der distanzierte Beobachter, in Albert ist es Delesov.

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1850er Jahre, die Erzählgegenwart im Jahre 1833. Im letzten Kapitel berichtet der Erzähler über seine letzte Begegnung mit dem von ihm geliebten Mädchen, ein Ereignis, das in das Jahr 1837 fällt, also vier Jahre von der Erzählgegenwart distanziert ist! Wir können so drei Arten der Zeitbehandlung unterscheiden: 1. Eine zeitlich in sich geschlossene, kompakte Erzählgegenwart steht dem Erzählstandpunkt gegenüber wie im Tagebuch eines überflüssigen Menschen. 2. Dieser entfällt, dafür gliedert sich die Erzählgegenwart in zeitliche Blöcke. Dies ist der Fall in Faust, wo eine zeitliche Distanz von drei Jahren die eigentliche Erzählgegenwart vom Schluss der Erzählung trennt. In Eine Korrespondenz und Albert vereint die Hauptfigur ein erlebendes und einen reflektierendes Ich. 3. Einem zeitlich von der Erzählgegenwart distanzierten Erzählstandpunkt steht eine nach obigem Muster strukturierte Erzählgegenwart gegenüber wie in Jakob Passynkow. Von der eigentlichen Erzählgegenwart sind getrennt eine acht Jahre zurückliegende Rückblende, der Schlussteil, der sieben Jahre nach der eigentlichen Erzählgegenwart folgt und der Epilog, der weitere sieben Jahre nach dem Schluss der Erzählung spielt. In Asja folgt auf die Erzählgegenwart ein Epilog, der „einige Jahre“ später spielt. In Erste Liebe folgt der Erzählgegenwart ein vier Jahre davon distanzierter Epilog. In Luzern folgt nach der Erzählgegenwart eine zeitlich nicht fixierte Reflexion. Drei Jahre trennen die Erzählgegenwart vom Schlussteil. Meist ist der Erzählstandpunkt viele Jahre, manchmal Jahrzehnte, von der Erzählgegenwart abgesetzt. Die Aufgliederung dieser durch zeitliche Distanzierung verstärkt den Eindruck des prozessualen Charakters der Zeit, den Verlust der Gegenwart im Strom der Zeit, der nicht umkehrbar ist, und des darin erahnten idealen Glücks. In den hier zugrunde gelegten Texten sind eingeschobene, die Handlung retardierende Reflexionen des Erzählers, bzw. des erzählenden Ichs, ein wichtiges Element. Sie verstärken im Leser nicht nur das Bewusstsein der zeitlichen Distanz, sondern ermöglichen es ihm, das Geschehen der Erzählgegenwart aus der Sicht des Erzählstandpunktes aus zu kommentieren. Diese Reflexionen können kurz gehalten sein wie in Familienglück, oder auch Seiten füllen wie in Luzern. Wichtige Themen dieser Reflexionen sind Resignation, Trauer über verlorenes Glück, Erinnerungen, Vergänglichkeit, die verlorene Jugend, Einsamkeit, Rückzug aus der Welt und Lebensangst. Diese Motive können sich klischeeartig im Laufe einer Erzählung wiederholen. So beginnt Tagebuch eines überflüssigen Menschen mit Reflexionen über den herannahenden Tod, die den darauf folgenden Lebensbericht motivieren. In der letzten Tagebucheintragung wird die Reflexion wieder aufgenommen. Auch Eine Korrespondenz beginnt mit der Schilderung des herannahenden Todes, wobei diesmal auch das Sterben des Helden miteinbezogen wird. Die Erzählung endet mit resignierenden Reflexionen des Helden. Ganz ähnlich sind die Reflexionen, mit denen Jakob Passynkow (siehe die Klage über den 120

Tod des letzten Idealisten und Romantikers), Faust (siehe Reflexionen über die Bürde des Lebens und dessen Sinn: Entsagung), Asja (Reflexionen über das verlorene Glück) und Erste Liebe (Klagen über die verlorene Jugend) schließen. In Tolstojs Luzern nimmt die abschließende Reflexion gar über drei Seiten ein. Sie wird im Sinne von Tolstojs gesellschaftskritischen und dialektischen Absichten modifiziert, enthält aber trotzdem die für den Realidealismus typische Form der Klage: „Eine unglückliches, bedauernswertes Geschöpf ist der Mensch mit seinem Bedürfnis nach positiven Lösungen, in diesen sich ewig bewegenden Ozean von Gut und Böse, von Fakten, Vorstellungen und Gegensätzen geworfen…“203

Familienglück beginnt ähnlich den Turgenjewschen Erzählungen mit einem Todeserlebnis, das auch die Reflexionen der Heldin prägt, die am Beginn der Erzählung stehen: „Warum? Warum soll ich etwas tun, wenn auf diese Weise meine beste Zeit verloren geht? Warum? Und warum gab es keine andere Antwort als Tränen.“

Die kurze Schlussreflexion betont einerseits den unwiederbringlichen Verlust des ursprünglichen Glücks, deutet aber die Möglichkeit eines anderen, reduzierten Glücks an. Um beim Leser die spezielle Färbung des Erzählstils, wie sie durch das Verfahren des distanzierenden Erzählens erzielt wird – in Turgenjews Texten ist die Rede vom „Sehen durch eine gefärbte Brille“ bzw. von „Reflexionen von Spiegelwänden“ – während der Lektüre aufrecht zu erhalten, schiebt der Erzähler immer wieder Passagen ein, die entweder die zeitliche Distanz durch konkrete Zeitangaben verdeutlichen, oder kurze Reflexionen über den Fluss der Zeit bringen. Diese Darstellung einiger wesentlicher Merkmale des Realidealismus lässt erkennen, dass ein überwiegend einheitliches ästhetisches Normensystem Struktur und Text dieser neun Erzählungen bestimmt. Damit soll gezeigt werden, dass die so genannte „Literatur der 50er Jahre“ keineswegs allein den beiden Richtungen der Natürlichen Schule und des Kritischen Realismus zugeordnet werden kann. Dazwischen steht eben der Realidealismus, bzw. das literarische Biedermeier, die noch in vielfältiger Weise der Romantik und dem Idealismus verbunden sind, sich aber zugleich kritisch von beiden absetzen.

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In Albert fehlt die abschließende Reflexion, bzw. sie ist auf eine aphorismenhafte Kürze reduziert. Albert ist halb wach, halb bewusstlos: „ ‚Da ja živ, začem že choronit’ menja?’ – bormotal Al’bert, v to vremja kak ego, besčuvstvennogo, vnosili v komnatu.“

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3.

Das Biedermeier (Realidealismus) in der Lyrik der fünfziger Jahre

Die jungen Dichter der vierziger und fünfziger Jahre wurzeln noch in der übermächtigen romantischen Tradition. Manche wie Turgenjew wandten sich später von der Lyrik ab, oder versuchten die Thematik der Natürlichen Schule auch in der Lyrik zu verwirklichen (Nekrassow). Andere hingegen entwickelten auf dem Hintergrund der romantischen Tradition ihren eigenen individuellen Stil. Anfangs der vierziger Jahre wertete Belinskij die Versdichtung noch sehr hoch. So schrieb er 1841: „Die Poesie ist die höchste Kunstgattung.“204 Sechs Jahre später musste er allerdings in einem Rückblick auf die Literatur des vergangenen Jahres feststellen: „Im Vergleich mit der Prosa spielen Verse eine zweitrangige Rolle… Gegenüber früher gibt es unvergleichlich weniger Dichter.“205 Drei Jahre später resümierte Nekrassow in der Zeitschrift Der Zeitgenosse: „Es gibt keine Gedichte. Einige wenige bedauern das, viele freut es.“206 In seinem Essay Die Gedichte von A. A. Fet 207 stimmte auch der Kritiker Wassilij Botkin dem zu: „Ein praktisch ausgerichtetes Zeitalter ist ein Feind jeglicher Poesie.“208 Er wies darauf hin, dass sich die Literatur in anderen Ländern ähnlich entwickelt hätte. Gervinus hätte dies in seiner Geschichte der deutschen Nationalliteratur von 1835-42 ebenso festgestellt wie Prosper Merimée im Moniteur universel. Botkin zitiert Merimées Meinung, nur im unzivilisierten, „wilden Zustand“ könne Dichtung gedeihen, in der gegenwärtigen Zivilisation wäre der Dichter ein „höchst unnützes Mitglied der Gesellschaft“.209 Ohne diese Ansicht zu teilen, hält sie Botkin doch für charakteristisch für seine Zeit. Das stimmte im Großen auch noch für die russische Literatur der späten fünfziger Jahre. Im Zeitalter einer „praktischen Ausrichtung der Gesellschaft“ blieb ihr die Gunst des Leserpublikums versagt. Die Dichtung der fünfziger Jahre bietet kein einheitliches Bild. Neben augenscheinlich romantischen Motiven, Bildern und Themen stehen realistische Details und mitunter die Hinwendung zu Themen von sozialkritischer Aussagekraft, die aus der Natürlichen Schule übernommen werden. Romantische und realistische Tendenzen mischen sich, worauf schon A. Grigorjew 204 205 206 207 208 209

V. G. Belinskij: Razdelenie poezii na rody i vidy. In: Otečestvennye zapiski, 3, 1841. V. G. Belinskij: Vzgljad na russkuju literaturu 1846 goda. In: Sovremennik 1, 1847. N. A. Nekrasov: Russkie vtorostepennye poety. In: Sovremennik 1, 1850. Sovremennik 1, 1857. V. P. Botkin: Literaturnaja kritika. Publicistika. Pis’ma. Moskau 1984, S. 192. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Text durch Angabe der Seite identifiziert. Der Aufsatz Merimées scheint allerdings in der genannten Pariser Zeitung nicht auf. Botkins Quelle konnte nicht identifiziert werden.

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in seinen kritischen Essays hingewiesen hat. Dies zeigt sich besonders bei Dichtern wie Rostoptschina und Nikitin, bei denen persönliche Lebensumstände die kritische Einstellung verstärken. All dies macht es schwer, die Dichtung der fünfziger Jahre einer Schule oder Richtung zuzuordnen. Dennoch bestehen Gemeinsamkeiten, die es erlauben, einige der bedeutendsten Dichterpersönlichkeiten der Zeit mit Ausnahme Nekrassows unter dem Stichwort Realidealismus, bzw. Biedermeier zusammenzufassen. Insgesamt gilt für die Lyrik der fünfziger Jahre, dass sie in viel höherem Maße, als dies von der Prosa gesagt werden kann, Ausdruck einer erneuerten idealistischen Einstellung, eines idealist revival ist. Es stehen Dichterpersönlichkeiten wie Tjutschew, Fet, Majkow, Pawlowa, Nikitin und Mej nebeneinander, zu denen noch Rostoptschina und Schadowskaja, zum Teil auch Ogarjew gezählt werden können, die in unterschiedlichem Maße an die romantische Tradition anknüpfen, aber dennoch gemeinsame Züge aufweisen, die sie von der Dichtung der zwanziger und dreißiger Jahre deutlich unterscheiden. Am Beginn der fünfziger Jahre schildert A. Grigorjew in seinen literarkritischen Essays den typischen Intellektuellen seiner Generation als neuen Hamlet, der zwar nach Idealen strebe und sich danach sehne besser zu sein, als er tatsächlich ist, aber an den Widersprüchen des zeitgenössischen Lebens leide und scheitere. Er sei der Mensch, der sich endlos der Reflexion hingebe. Seine cholerische und zugleich melancholische Natur bleibe dennoch dem Schönen, Wahren und Guten zugetan. Reine Kunst und Neodidaktik Der Kritiker Alexander Druschinin hat sich 1855-56 ausführlich zu dieser Thematik geäußert und eine philosophisch vertiefte Begründung zu geben versucht.210 Er sah in der gesamten Geschichte der Literatur zwei konträre Richtungen, die er als künstlerische Dichtung und didaktische Dichtung bezeichnete. Puschkin wird dabei als Repräsentant eines Dichtungsverständnisses gesehen, das sich am Vorrang des ästhetischen Ideals orientiert. Unter Verweis auf ihn meint Druschinin, die Dichtung sei für „Gebete, süße Töne und Inspiration“ geschaffen, für das „ewig Schöne, Gute und Wahre“ (S. 147), sie sei ihr geistiges Fundament. Davon erwartet sich Druschinin eine größere didaktische Ausstrahlung, als die von ihm so genannte „neodidaktische Richtung“ je erzielen könne. Die sentimentale Romantik lehnt Druschinin allerdings als „krank, schwach und eine Verirrung“ (S. 159) ab!

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A. V. Družinin: Literaturnaja kritika. Moskau 1983. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Text durch Angabe der Seite identifiziert. Siehe auch A. S. Puškin i poslednee izdanie ego sočinenij. In: Biblioteka dlja čtenija 4, 1855.

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Ebenso setzt er sich von der epigonalen Dichtung ab und stellt mit Befriedigung fest, dass die poetische Sprache einfacher geworden wäre.“ (S. 137) Ziel der Dichtung sei es, die „Prosa des Lebens“ zu poetisieren, „in den gewöhnlichsten Gegenständen die Poesie zu erkennen.“ (S. 89) Anhand der Dichtung Fets bestimmt er als wesentliche Aufgabe der Dichtung das „Enträtseln der subtilsten Beziehungen der menschlichen Seele zu der ihn umgebenden Welt…, die Wiedergabe des kaum Erkennbaren in der Poesie des Lebens.“ (S. 90 u. 98) Auch Botkin hat sich mit der Problematik der beiden Lager in der Kunst befasst und das Kunstverständnis des idealistischen Lagers zu definieren versucht. Er meint, dass das seelische Leben und die Welt innerer Phänomene nur in der Kunst einen „direkten und wahrhaftigen“ Ausdruck fänden. (S. 153) Hier kämen die geheimsten Regungen der Seele zur Darstellung. Botkin unterscheidet die merkantile (S. 193) Ausgerichtetheit der Zeit von der Hinwendung zum Praktischen, die er als Tendenz zu einem Pragmatismus positiv bewertet und der romantisch-epigonalen „Herrschaft der leeren Worte und Phrasen“ gegenüberstellt. (S. 196) Kunst, pragmatisch gesehen, stelle die tatsächlich vorhandenen inneren, geistigen Werte einer Gesellschaft dar. In diesem Sinne ist für Botkin die Dichtung eine „ewige und wesentliche Eigenschaft der menschlichen Seele“ (S. 196). Im Geist des Idealismus verankere der Kritiker das Schöne metaphysisch: „Das Schöne stellt die ewige Grundlage der Manifestation des Weltgeistes dar, die Grundlage jeglicher nichterkennbaren schöpferischen Kraft des Universums.“(S. 198) Dem entspreche im Sensorium des Menschen das Gefühl für das Schöne, das identisch sei mit dem Gefühl für das Poetische, das Botkin auch den sechsten Sinn des Menschen nennt. (S. 201) Die utilitaristische Theorie (= Druschinins Neodidaktik) widerspricht auch nach ihm dem Wesen der Kunst. (S. 202) Nach Art des Realidealismus betont Botkin die Bedeutung der konkreten Details, „das Bestreben alles zu individualisieren… Die Einzelheiten bilden die lebendige Struktur des Ganzen.“ (S. 203) Auch er setzt sich deutlich von der epigonalen romantischen Dichtung ab, die er „lächerlicher Extreme“, der Naivité und Phantastik beschuldigt. (S. 204) Wird der Dichtung vorgeworfen, „sie trenne sich von der Gegenwart und ihren Anforderungen“, dann sei dies nichts Negatives, sondern im Gegenteil geradezu eine Vorbedingung für den Dichter, der die „ewigen Eigenschaften der Natur“ und die „ewigen Prinzipien der menschlichen Seele“ zum Gegenstand seiner Dichtung mache. (S. 210f.) Botkin weist dabei auf Goethe als Beispiel hin. So wie Druschinin spricht auch er immer wieder von „den inneren verborgenen Regungen der Seele“ als wesentlichem Zug der zeitgenössischen Dichtung. (S. 212) Er definiert geradezu die Thematik der Dichtung im Hinblick darauf: „Der poetische Inhalt ist vor allem der Inhalt der eigenen Seele…“. (S. 215) Daneben 125

nennt er das „Naturgefühl“, d. h. den Sinn für die Schönheit der Natur, als weitere Quelle der Dichtung. Von den Dichtern des idealistischen Lagers hat sich nur Fet ausführlich zu Fragen der Poetik geäußert, so in seinen Erinnerungen und in dem Aufsatz Über die Gedichte F. Tjutschews (1859).211 Dort wendet er sich gegen die sozial engagierte Dichtung, und darüber hinaus gegen jedes Dichten, das sich kritisch in Relation zu „anderen Tätigkeiten des Menschen“ setzt. Für ihn ist Poesie ein absoluter Wert. Dichtung hat nicht einen Gegenstand wiederzugeben, sondern sein Ideal darzustellen. (S. 146) Dieses Ideal definiert er in allgemeinster Form als das Schöne, das in der ganzen Schöpfung vorhanden sei, aber vom Dichter erst aufgefunden werden müsse. In diesem Sinne sei die gegenständliche Welt das objektive Korrelat der Dichtung. Als ihr subjektives Korrelat käme dazu die Klar- oder Hellsicht (= „zorkost’,“ oder „jasnovidenie“) des Dichters. Das verborgene Schöne sei der zentrale Gegenstand der Dichtung, vom Dichter sinnlich geschaut, gedanklich erfasst und im Wort wiedergegeben. So sei in jedem „wahrhaft schönen Werk“ auch der „Gedanke“ mitgegeben. (S. 150) Je „entfernter und allgemeiner“ der „poetische Gedanke“ ist, desto höher sei er zu werten. Ebenso wie im Gedicht das konkrete Detail dazu diene das Ganze anzudeuten, soll auch der poetische Gedanke nur angedeutet sein und müsse vom Leser zu Ende gedacht werden. Der Leser wird so im Prozess der „Ergänzung des Unausgesprochenen“ zum Mitschaffenden des Autors. (S. 151) Eine erstaunlich moderne Auffassung, die Erkenntnisse der modernen Ästhetik vorwegnimmt! Der ideale Dichter entspricht bei Fet dem ästhetischen Menschen Kierkegaards, bzw. der schönen Seele Rousseaus. Der Unterschied zur Romantik – besonders ihrer sentimentalen Variante wie bei Schukowskij – liegt in der Betonung der konkreten Wirklichkeit und des konkreten Details. Im Sinne des Real-Idealismus wird unter Vorwegnahme symbolistischer Ästhetik das in der konkreten Wirklichkeit verborgene Ideal gesucht. Das subjektive Element ist auf die „Klarsicht“ des Dichters und seine Fähigkeit der gedanklichen Erfassung des objektiv Schönen im Wort reduziert. Die Poetik des Realidealismus umfasst so Druschinins Postulat von der didaktischen Wirkung der „künstlerischen Poesie“ (= artističeskaja poezija), die größer sei als die Wirkung der „neodidaktischen Dichtung“, wie auch Fets Postulat einer reinen Kunst, die nur dem Ideal des Schönen verpflichtet sei. Wie diese Grundsätze in der Bewertung eines Dichters zum Tragen

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A. A. Fet: Moi vospominanija (1890) und Rannie gody moej žizni (1893). Zitate im Text aus der Ausgabe A. A. Fet, Sočinenija v dvuch tomach, Bd. 2. Moskau 1982, S. 145-163. Weitere Verweise erfolgen im Text.

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kommen, der im Grunde der auf das Praktische ausgerichteten Nekrassowschen Richtung näher steht als dem Realidealismus, zeigt Botkins Essay über N.P. Ogarjew.212 Ogarjews erste Gedichte erschienen in den Zeitschriften Vaterländische Annalen (= Otečestvennye zapiski, 1840-45) und Der Zeitgenosse (= Sovremennik,1, 1849). 1850 wurde Ogarjew in Nekrassows Artikelserie Russische zweitklassige Dichter (Russkie vtorostepennie poety) von Botkin rezensiert. Die Besprechung ist aufschlussreich als ein zeitgenössisches Dokument, das uns einen Einblick in die Kategorien angewandter realidealistischer Kritik vermittelt. Die Gedichte Ogarjews, auf die sich Botkin beruft, entsprechen in ihrer Gestimmtheit in etwa Dostojewskijs Novelle Weiße Nächte. Die retrospektive Schau herrscht vor. Botkin lobt an den Gedichten: „Die Wahrhaftigkeit und Einfachheit des Ausdrucks“, „Die träumerische Anmut“, „Die Originalität des Kolorits“, „Das tiefe poetische Gefühl“, – der Dichter verstehe es „die feinsten, im Augenblick verschwindenden Regungen zu erhaschen.“ (S. 163) Die Themen der von Botkin in Auszügen zitierten Gedichte entsprechen den Vorlieben des Realidealismus. Im Gedicht Das Alte Haus besucht der Dichter das Haus, in dem er seine Jugend verbrachte. Daran schließt sich Nocturne, das eine nächtliche Szene im alten Landhaus und einen Rundgang durch Haus und Garten beschreibt. Das Gedicht Die Kerze brennt, das thematisch an Das Alte Haus anschließt, beinhaltet eine Vignette – einen Traum für die Dauer einer niederbrennenden Kerze – in der das lyrische Ich sich in eine Nacht am Fluss und darauf in das nächtliche Verona versetzt, um die Liebe zwischen Romeo und Julia nachzuempfinden. Die verlöschende Kerze beendet seinen „schönen Traum“. (S. 157) Botkin betont das Motiv des Nicht-Sagbaren in Ogarjews Gedicht Beichte.213 Zu etwa derselben Zeit schrieb Fet seine berühmten Zeilen „Oh, wenn man sich ohne Worte durch die Seele äußern könnte.“214, ganz zu schweigen von Tjutschews noch berühmterer Zeile zu demselben Motiv, die übrigens im Zeitgenossen (Sovremennik) 1854 erneut publiziert wurde: „Ein ausgesprochener Gedanke ist eine Lüge“.215

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V. P. Botkin: N. P. Ogarev. In: Sovremennik 2, 1850. Zitiert nach: V. P. Botkin: Literaturnaja kritika... Ogarevs erster Gedichtband erschien erst 1856. Zitate aus Botkins literaturkritischen Schriften stammen aus dem genannten Band und werden im Text durch Angabe der Seite identifiziert. „A v tom, čto kak-to čudno // živet v duševnoj glubine, // Mne vyskazat’sja trudno.“ (S. 155) O, esli b’ bez slova // Skazat’sja dušoj bylo možno! Kak moški zareju, 1844. „Mysl’ izrečennaja est’ lož’.“ Silentium. In: Molva, 33, 1833.

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In Die Kutsche erblickt der Reisende bei einbrechender Nacht neben sich in der Kutsche ein Frauengesicht, das ihn an eine Jugendliebe erinnert.216 Dieses Motiv – das erneute Erleben der längst vergangenen Jugend – ist typisch für den Realidealismus. Es folgt im Gedicht eine Vignette von sieben Zeilen, in deren Zentrum der Wunsch steht, die Reise möge nie enden, – „nie sollte dieser Weg ein Ende haben“, um so ein intensiveres Nacherleben der Vergangenheit zu ermöglichen. Die Ernüchterung kommt allerdings, als er am Ziel angekommen seine Jugendliebe aufsucht, – und eine kranke, verbrauchte Frau findet, in der er kaum seine alte Liebe mehr erkennt. Eine andere Vignette, in der sich intensives Glücksgefühl zu Wortmusik löst, ist das kurze Gedicht Töne (= Zvuki), das an Fets berühmte Zeilen „Ein Flüstern, ein verhaltenes Atmen“ („Šëpot, robkoe dychan’e“) erinnert und zur Gänze von Botkin zitiert wird. (S. 159) Es schließt mit charakteristischen Formulierungen: „In diesen Minuten könnte man vergehen, // In diesen Minuten einfach sterben.“217 Als Beispiel für das Genre der Naturlyrik nennt Botkin das Gedicht Mittag.“ (= Polden’, S. 160) Der Dichter liegt im Wald „in Selbstvergessenheit“ und geht ganz im Erleben der mittäglichen Natur auf. Ebenso wie das gleichfalls von Botkin zitierte Gedicht Frühling (S. 161) enthält Mittag das übliche Inventar realidealistischer Naturlyrik. In Frühling kommt noch die Sehnsucht nach „ein fernes, zauberhaftes Land“ (vgl. Goethes Lied der Mignon), und ein detailliertes Bild der Natur dazu. Beide Gedichte werden von Botkin als „in jeder Hinsicht hervorragend“ bezeichnet. Der Kritiker fügt hinzu: „Wir kennen wenige poetische Beschreibungen der Natur, die so meisterhaft gezeichnet sind.“ Er hebt besonders die Musikalität der Verse hervor. (S. 161) Abschließend meint er, Ogarjew gebühre unter den Dichtern der Zeit – Botkin schrieb seinen Aufsatz 1850 – der erste Platz! Die Dichtung des Realidealismus In der Zeitschrift Vaterländische Annalen stellte der Kritiker P.N. Kudrjawzew in einer Rezension von Fets Gedichtband von 1856 fest: „Die Abwesenheit jeglicher Prätensionen, jeglicher hysterischer Ausrufe… sanfte Gelassenheit an Stelle exaltierter Scharlatanerie, eine zu Dank verpflichtende Einfachheit an Stelle einer widerlichen Aufdringlichkeit.“

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“viden’e davnich dnej, // Peredo mnoj voskreslo // tak slučajno i snova byl ja molod” (S. 158). “V eti minuti rastajat’ by možno, // V eti minuty legko umeret’.” In: A. A. Fet: Stichotvorenija. Moskau-Leningrad 1963 (Bibl. Poeta. Malaja serija), S. 19. Weitere Verweise auf diese Ausgabe im Text mit Seitenangabe.

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Damit erfasste er nicht nur wesentliche Züge der Lyrik Fets, sondern solche der Dichtung der fünfziger Jahre überhaupt. Zugleich wird der Gegensatz zur spätromantischen epigonalen Dichtung deutlich herausgestellt. Die Leidenschaften sind gezügelt, die Üppigkeit der Epitheta ist reduziert. Die Kurzform der Versdichtung, das lyrische Stimmungsgedicht, überwiegt. Die erzählende Dichtung tritt in den Hintergrund. Die Gedankenlyrik gewinnt eine impressionistische, aphorismenhafte Kürze, philosophische Gedichte im eigentlichen Sinne, die komplexe Gedanken in größerer Ausführlichkeit behandeln, fehlen. Volksliedhafte Dichtung, Anakreontik und anthologische Dichtung, antike Motive, das Nachleben der Antike im zeitgenössischen Griechenland und Italien, fremdsprachliche spätromantische Dichtung (z. B. Heine!) bieten eine willkommene Alternative zur zeitgenössischen Thematik, die, wenn überhaupt, dann nur in stark subjektivistischer Einengung zum Gegenstand von Gedichten wird. Überhaupt gilt für die Dichtung der fünfziger Jahre, was Druschinin von Fet sagt, „er lebt ganz im Augenblick“ (S. 93), „er erhascht das nicht Fassbare.“ (S. 89) Der flüchtige Moment des hic et nunc, das intensive seelische Erleben eines glück- oder schmerzhaften Augenblicks wird zur bestimmenden Thematik der Lyrik. So steht neben der Flucht in exotische Bereiche (Folklore, Antike, fremdsprachliche Dichtung) die Flucht in raumzeitlich auf das äußerste Maß begrenzte, nur subjektiv im persönlichen Erleben erfasste Ambiente. Weiters fällt eine gewisse Dichotomie auf. Die grundlegenden Motive und Themen treten in zwei kontrastierenden Varianten auf. Als Beispiel lässt sich das Motiv des Rückzugs aus der Welt anführen. Er kann negativ als schmerzhaftes Erlebnis geschildert werden, das zu Einsamkeit und Leid führt, oder aber im Sinne eines Rückzugs in ein begrenztes, bescheidenes Glück ins Positive gewendet werden. In der folgenden Darstellung soll die Lyrik der fünfziger Jahre am Beispiel der bedeutendsten realidealistischen Dichter unter vier Gesichtspunkten betrachtet werden: 1. Das lyrische Ich. Zur Selbstdarstellung des Dichters; 2. Das Erlebnis der Liebe; 3. Natur und Alltag (= „byt“), die Bedeutung des Details, die Vignette, und 4. Die retrospektive Darstellung: Traum und Erinnerung. Herangezogen wurde das lyrische Werk von Afanassij Fet (18201892), Apollon Majkow (1821-1897), Lew Mej (1822-1862), Iwan Nikitin (1824-1861), der Dichterinnen Karolina Pawlowa (geb. Jaenisch, 18071893), Julija Schadowskaja (1824-1883), Jewdokija Rostoptschina (18111858), und Nadeschda Chwoschtschinskaja (1824-1889), soweit es in die fünfziger Jahre fällt.218

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Für die genannten Autoren wurden folgende Textausgaben verwendet. Hervorhebungen in zitierten Gedichtzeilen stammen vom Verfasser. Seitenangaben erfolgen im Text in Klammer:

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1. Das lyrische Ich. Zur Selbstdarstellung des Dichters. Bei Nikitin, dem Sohn eines Geschäftsmannes, dominiert die negative Lebenseinstellung. So sagt er von sich, er fühle sich als „Fremdling“, „der Neue Zeitgeist sei ihm fremd“. (S. 59) Als „bescheidener Beobachter“ steht er am Rande des Lebens, und zieht sich schließlich als „freiwilliger Eremit in dieser Welt“ in die Einsamkeit zurück, um sich dort der Betrachtung der Natur und seinen Erinnerungen hinzugeben. Sein Glaube an das Ideal wird ins Religiöse gewendet.219 In dem Gedicht Mein Gruß an Euch…“ (= „Privet moj vam...“ S. 95f.) gibt er nichts destoweniger ein recht biedermeierliches Bild des Rückzugs aus der Welt mit deutlich religiöser Akzentuierung.220 Häufiger sind jedoch die negativen Selbstdarstellungen, deren gemeinsamer Grundzug das Motiv des überflüssigen Menschen ist, wie in Der Mond scheint in meine Fenster (= Svetit mesjac v okna) in dem der Dichter von sich sagt, er sei „für andere nicht von Nutzen, sich selbst zur Last.“ (S. 266) Er fühlt sich als „überzähliger Gast bei einem fremden Mahl.“ (S. 105) Zu ähnlichen Selbstdarstellungen wie bei Nikitin kommt es auch im Schaffen anderer Dichter der Zeit. Schadowskaja fühlt sich vom Leben benachteiligt. Es ist als ob ein „Grausamer Zauberer“ (P., S. 132) sie mit seinem Fluch belegt hätte, über die Folgen lesen wir bei Pawlowa: „geheime Qual,… lange Tage des Unglücks…“ (S. 188). Selbst Fet gesteht ein, dass der Dichter ein einsames Leben“ führe. (S. 213) Er spricht von „Kälte in der Brust.“ (S. 159), Nikitin spricht von einer „erkaltenden Seele“. (S. 115) Als überflüssige Menschen ihrer Zeit empfinden sie sich in der Regel zu schwach für die Bürde des Lebens. Selbst Pawlowa, die in einigen Gedichten auch den Willen zum Kampf mit den Widerwärtigkeiten des Lebens zeigt, bekennt ein, dass ihre Kräfte nicht reichen: „Alle Lebenskräfte sind erstorben.“ (S. 199) Misserfolge verfolgen den Menschen: „Wohin immer ich blickte, überall treffe ich auf Misserfolg“. (S. 201) Selbst Chwoschtschinskaja, die in

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A. Fet: Stichotvorenija. Moskau-Leningrad, 1963; A. Maikov: Izbrannoe. Leningrad 1952. (Bibl. poeta. Malaja ser.); L. Mej: Izbrannye proizvedenija. Moskau-Leningrad 1962 (Bibl. poeta. Malaja ser.); I. Nikitin: Polnoe sobranie stichotvorenij. MoskauLeningrad 1965 (Bibl. poeta. Bolšaja ser.); K. Pavlova: Polnoe sobranie stichotvorenij. Moskau-Leningrad 1964 (Bibl. poeta. Bolšaja ser.); Poety 1840-1850 godov. Leningrad 1972 (Bibl. poeta. Bolšaja ser.); Russkie poetessy XIX veka. Moskau 1979. (Sostavil N.V. Bannikov). Verwendete Abkürzungen: B.P. = Poety 1840-1850 godov. (Bibl. Poeta); P. = Russkie poetessy. „ja verju istine svjatoj“, (S. 90); „veruj, nadejsja i ždi...“, S. 262). “Milee mne moj ugolok prostoj, // Božestvennoj ikony lik svjatoj, // Pered nim gorjaščaja lampada, // Tichij trud, duši moej otrada,...” (S. 96).

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vielen Gedichten eher Nekrassows realistischer Richtung zuneigt, resümiert, „unser Weh führt nicht weit“. (P., S. 265). Der Dichter fühlt sich vorzeitig gealtert: „Ohne Alter bin ich früh gealtert“ („Ja sostarilsja rano bez starosti“, Nikitin, S. 206). Bei Schadowskaja finden wir schließlich die passende Metapher für die Empfindung eines langsamen Sterbens: „Die Seele ist wie ein Lämpchen ohne Öl // am Grunde verglommen“. (P., S. 131) Hand in Hand mit dem vorzeitigen Altern geht das Bewusstsein der Orientierungslosigkeit. Nikitin sieht sein Leben als „ohne klares und großes Ziel“. (S. 99), bei Pawlowa kämpft die Seele mit „leeren Fieberphantasien“. (S. 152) Mej kleidet diese Situation in das beliebte romantische Bild des Bootes, das im Dunkel am Meer ins Ungewisse fährt.221 Wie auch in der Prosa des Realidealismus steht am Ende das resignative Sich-Bescheiden, das aber mitunter auch biedermeierliche und selbstzufriedene Töne annehmen kann. Die Spannweite reicht eben von stiller Verzweiflung bis zum Glück eines bescheidenen Lebens. Am negativen Ende des Spektrums stehen Zeilen wie die Pawlowas von der „Wüste des Lebens“ im Gedicht Noch nicht ist es Zeit (= Ne pora! S. 197), oder Nikitins Klage, sein Leben sei „so langweilig wie eintönig“ (S. 90), denen bei Chwoschtschinskaja die resignierenden Worte entsprechen: „Das Eine ist dahin, das Andere wird vorübergehen“. (P., S. 265) Mej kleidet seine Sehnsucht nach Ausgleich in die Sprache des Gebetes, „Oh, mein Herr, schick’ mir Langmut!“ (S. 120) So wie er sucht auch Pawlowa die „Aussöhnung mit dem Schicksal“ (S. 169), sie möchte zur Ruhe kommen und einschlafen.“ (S. 197) Die Resignation führt zu Isolation und Einsamkeit.“222 Die Resignation kann aber auch, positiv gesehen, zum Rückzug vom Leben in eine „stille Nische“ werden – „In ein vergessenes Winkelchen werde ich mich setzen“ (Fet, S. 271), in dem Zufriedenheit und ein begrenztes Glück möglich sind. Dazu gelangt Pawlowa, die 1858 von sich sagt, „Ich bin still geworden, ich bin zufrieden, // der Wahnwitz ist vergangen“. (S. 217) Selbst Nikitin findet mitunter zu einer stoischen Haltung, die das Leben erträglich werden lässt: „Die strenge Kälte des Lebens // trage ich mit Ruhe“. (S. 87) Nicht selten ist die Resignation wie bei Mej religiös gefärbt. Nikitins Worte „Sei demütig und glaube“ (S. 98) könnten dafür als Motto des Realidealismus gelten. Überhaupt ist anzumerken, dass bei den meisten Dichtern der fünfziger Jahre die religiöse Einstellung deutlich zu erkennen ist. Dies gilt vor allem für die Gedichte von Mej (s. S. 92ff., 120, 123f., 133), Pawlowa (s. S. 153, 196) und Nikitin (s. S. 90, 98, 100f., 117ff.).

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„Neset – bog vest’ kuda, a tol’ko plyt’ mne len’, // Vse vokrug menja – gustaja mgla i ten’.“ (S. 91). “I kak vse ticho, i prostorno, // I bezotvetno v nej do dna” (Pavlova, S. 184).

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Das biedermeierliche Ambiente ist da deutlicher ausgeprägt, wo der Rückzug in die Innerlichkeit positiv gestaltet wird. Geradezu wie ein Genrebild von Spitzweg mutet die folgende Selbstdarstellung Nikitins an, in der auch der religiöse Bezug und die charakteristische Rückwendung in die Vergangenheit nicht fehlen: „Am teuersten ist mir mein einfacher Winkel, // Das heilige Antlitz der göttlichen Ikone… // Und die stille Arbeit, die Freude meiner Seele,…// Ich sitze am Kaminfeuer // lese die Chroniken der Vergangenheit, // Und nachdenklich füge ich zusammen die bescheidenen Verse“. (S. 96) Ganz ähnlich formuliert Pawlowa: „Schenk’ mir stilles Tun, eine bescheidene Tätigkeit“. (S. 218) Meist geht die positive Darstellung Hand in Hand mit einem sich Versenken in die Natur. Dort findet der Glaube an das Ideal einen Rückhalt. Die Natur birgt ja, wie Botkin ausführte, das Ideal des Schönen in sich. Soweit er sein Leben in die Natur verlegt, kann der Dichter daran teilhaben. Vor allem die Verse Fets und Majkows vermitteln dieses positive Bild. So schreibt Majkow vom Leben, „Schön – sagt er – ist das irdische Leben! // Reich und fröhlich die irdische Welt!“ (S. 116), und Fet drückt dasselbe Lebensgefühl in noch enthusiastischerer Weise so aus: „Das Herz fühlt soviel Lebensfreude, // Soviel Glück haben wir hierher [mit uns] gebracht.“ (S. 203) Die letztere Phrase bezieht sich allerdings auf ein Liebeserlebnis. Natur und Liebe sind eben die zwei Bereiche, in denen der Mensch der fünfziger Jahre sich dem Ideal nähern kann. Bei Pawlowa finden wir dazu eine noch sehr im romantischen Geist formulierte Stellungnahme, die wiederum dieses positive Lebensgefühl der Hingabe an Liebe und Natur ausdrückt.223 Mitunter werden im Vers auch die Ideale der idealistischen und romantischen Philosophie, das Schöne, Gute und Wahre, direkt angesprochen.224 Die Darstellung des Ideals ist besonders häufig mit dem Erlebnis eines intensiv empfundenen Moments des Glückes in der Natur und Liebe verbunden, wenn die Zeit stillzustehen scheint und die Welt des Alltags in den Hintergrund tritt. Man könnte von einer Flucht in den schönen Augenblick sprechen. Der Realidealist ist aber nicht mehr der Romantiker der zwanziger Jahre! Das zeigt sich am reduzierten Pathos und den konkreten und liebevoll gezeichneten Details aus der Umwelt des Dichters, die mit der Konnotation des Gewöhnlichen ausgestattet sind. Der Ton ist oft umgangssprachlich gefärbt. Dies wird beispielsweise besonders deutlich in Fets Anrufung der Muse, die bewusst familiär formuliert ist: „Reich’ mir die Hand. Setz’ dich! Entzünde Deine Fakel der Inspiration. // Sing’, meine Gute!“ (S. 274) 223 224

“i budem voschvaljat’, kak Saadi, // Žurčan’e struj i prelest’ roz” (S. 189). So spricht Nikitin von “ljubov’ i vlečen’e... k istinam večnym” (S. 97) und Mej meint, “Net! v lone u tebja, vsesil’nogo tvorca, // Počiet Krasota i nyne i ot veka...” (S. 131). Pavlova spricht von “svetila pravdy i dobra” (S. 197).

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2. Das Erlebnis der Liebe. Der Mensch der fünfziger Jahre setzt sich von der romantischen Leidenschaft und ihrem Pathos ab: „Es ist sündig, in unserer Zeit so zu lieben!“ (Schadowskaja, P., S. 131) Es überwiegt die stille, oft resignierende Zuneigung. Die Begegnung mit dem Du ist aber nicht unproblematisch. Der meist stark ichbezogene Held kann oft den Zugang zum Du nicht finden. Man geht aneinander vorbei, erkennt nicht die Zuneigung des anderen, bleibt dort stumm, wo man sprechen müsste. Wie schon in der Dichtung der vierziger Jahre wird das Schweigen, das Ungesagte thematisiert. Die Unerfülltheit in der Liebe reicht bis zur Unfähigkeit zu lieben. Liebe bringt so Schmerz und Angst mit sich. Am Ende stehen Trennung, Einsamkeit, Resignation. Doch dies ist nur eine Seite, der eine andere, positiver gezeichnete, gegenübersteht. Dichter wie Fet und Majkow sehen in der Liebe das vielleicht wesentlichste Phänomen ihrer Existenz überhaupt und stehen damit der Romantik noch nahe. Jedoch gibt es in der Liebe auch bei ihnen bestenfalls eine momentane Erfüllung, sehr oft kommt es aber nicht so weit, erfüllte Liebe wird nur antizipiert, durch eine Geste, einen Blick angedeutet, ohne ausgesprochen zu werden. Auch hier gilt, dass das Ideal dem Menschen letztlich nicht zugänglich ist. Es gibt allenfalls eine momentane, vorübergehende, nur erahnte Erfüllung, eine sehr reduzierte Form erfüllter Liebe. Oft jedoch auch das nicht, der Dichter klagt über die Unfähigkeit zu lieben wie Schadowskaja, die von sich schreibt, „Aber ich selbst kann nicht lieben“. (P., S. 130) Oder aber der Dichter ist ratlos und begreift selbst nicht den Grund seiner Liebe: „Selbst jetzt kann ich, soviel ich mich auch bemühe, nicht enträtseln, was ich an Dir so liebte“. (Schadowskaja, P., S. 129) Pawlowa stellt sich dieselbe Frage.225 Als Folge erscheint die Liebe als „Unklare Fieberphantasie“ (Fet, S. 287). Dem liegt die Unfähigkeit zugrunde sich auszudrücken, die Unfähigkeit zur Kommunikation.226 Fet spricht von einer Begegnung mit der Geliebten, die vom Schweigen geprägt ist, „Ich kam, um zu schweigen. Auch jetzt schweige ich.“ (S. 242) Nikitin stellt geradezu apodiktisch fest: „Das Beben des Herzens, – // ist nicht in Worte zu fassen!“ (S. 297) In ihrem Gedicht Wir haben uns auf seltsame Weise gefunden (My stranno sošlis’, S. 153) schildert Pawlowa Liebe als Resultat einer zufälligen Begegnung, die sich in Gesprä-

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„Začem sud’by pričuda // Nas dvuch vela sjuda?!“ (S. 158). Fet schreibt 1859: “No čto gorit v grudi moej – // Tebe skazat’ ja ne umeju" (S. 303). Majkov sieht dieselbe Unfähigkeit zur Kommunikation bei seiner Geliebten: „Ty zasnula, bezmolvno menja ukorjaja“ (S. 71), und an anderer Stelle: „Leleeš čuvstvo ty v bezmolvii, v tiši“ (S. 73). Fast dieselben Worte verwendet Rostopčina, „No tol’ko gljadiš’ i molčiš’ – // Net sily, net slova!...“ (B.S., S. 120).

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chen erschöpft, – am Ende stehen statt der Aussprache das Schweigen und der Abschied.227 Pawlowa endet ihr Gedichte Plötzlich wirst Du schweigen…, das der Begegnung mit einem geliebten Menschen gewidmet ist, denn auch mit der Zeile „Lass’ mich Deine Wunden berühren!“ Die Begegnung endet im Schweigen. (S. 155) Das Motiv der flüchtigen, aber intensiv erfüllten Liebe, nimmt ein häufig verwendetes Motiv der neuromantischen Dichtung vorweg (s. Rilke: „Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?“). Pawlowa gibt für diese Art der Begegnung das Bild zweier Kometen, die einander für kurze Zeit sehr nahe kommen, um dann wieder Äonen voneinander entfernt ihre Bahnen weiter zu ziehen.228 Die Unbeständigkeit der Liebe, die stete Gefahr sie wieder zu verlieren, hat Schadowskaja in ein ausdrucksvolles Bild gefasst. Ein Sklave trägt eine mit Flüssigkeit gefüllte Schale. Er setzt vorsichtig Fuß vor Fuß, um nichts zu verschütten. Dieses Bild beinhaltet charakteristische Komponenten des Selbstverständnisses des Liebenden im Realidealismus: die romantische Vorstellung von der Macht der Liebe (ihr Träger ist Sklave), die unstete Natur der Leidenschaft (verglichen mit Wasser, das leicht vergossen ist), und die Tendenz, die Liebe zu verbergen (die Schale). Letzteres Motiv wird in einem anderen Gedicht derselben Autorin in die Zeilen gefasst: „Das Herz möchte ich unter meiner äußerlichen Gleichgültigkeit verbergen“. (P., S. 131f.) Das Liebesverständnis, das hinter diesen Gedichten steht, ist in Turgenjews Novelle Asja in einer Weise formuliert, die für den Realidealismus besonders charakteristisch ist. Einige Zeilen aus dem Gedicht Pawlowas Die Fee als Begleiterin (Sputnica feja, 1858) könnten vom Ich-Erzähler in Turgenjews Novelle stammen: „Bleib’ stehen! Wollen wir wieder zusammen gehen, – // Rief ich aus, – Bleib’ bei mir // Schenk’ mir die Torheit der Vergangenheit // Den Makel ganz zu sühnen.“ (S. 202) Aber obgleich der Dichter in demselben Gedicht zum Abschied bloß um eine Umarmung bittet, kommt es nicht dazu. Die Fee bleibt schemenhaft verborgen und fern. In der letzten Zeile enthüllt sich der Grund: die Fee ist nichts anderes als die vergangene Jugend des Autors! Damit tritt ein weiterer Aspekt der Liebesproblematik in den Vordergrund: Liebe wird oft mit Jugend gleichgesetzt und retrospektiv, resignativ in der Erinnerung nacherlebt. Am Ende steht fast immer die Trennung. Fet hat dies in einem Gedicht geradezu zum Motto seines Lebens gemacht: „Ich habe mich zur ewigen Trennung verurteilt“ (S. 310). Und dennoch ist Liebe, wie Pawlowa sagt, „Alles, was wahr und heilig ist.“ (S. 189)

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„I molča drug drugu, i krepko kak brat’ja, // Požali my ruku potom“, (S. 154). „Sojdutsja bliže na mgnoven’e, // Čem vse miry meždu soboj“ (S. 173).

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Im Zentrum der Liebeslyrik der fünfziger Jahre steht aber in der Regel der nur antizipierte, glückhafte Augenblick. Das wohl berühmteste Beispiel dafür ist Fets Gedicht von 1850 Ein Flüstern, verhaltenes Atmen (Šëpot, robkoe dychan’e, S. 199), in dem nur die Erwähnung eines „lieben Antlitzes“ und „Küsse und Tränen“ eine Liebesszene andeuten. Die „Tränen“ lassen aber auch hier Zweifel offen, wie weit das Liebesglück mit Leid und Trennungsschmerz verbunden ist. Im Rückblick erscheinen solche Momente als „süßer Traum“.229 Zwei Bilder, die in höherem Maße mit Details angereichert sind, finden wir in den Gedichten Fets Die Weide (= Iva) und Majkovs Im Regen (Pod doždëm). In Ersterem sitzt der Dichter mit seiner Geliebten am Ufer und sieht ihre Züge im Spiegel der Wasseroberfläche. Er „erzittert“ vor plötzlichem Liebesglück, als er ins Wasser blickt, „Ich bebe, sehe glücklich, wie auch Du im Wasser bebst“. (S. 230) Das im Wasser gebrochene Bild vermittelt die emotionelle Gleichgestimmtheit der Liebenden, ohne dass sonst eine direkte Kommunikation in Wort, Geste, oder Berührung zustande kommt. So gesehen ist Fets Gedicht geradezu paradigmatisch für das Erlebnis der Liebe in der realidealistischen Dichtung. Majkows Gedicht ist in höherem Maße konkretisiert und detailliert: Während eines Gewitters verbergen sich der Dichter und seine Geliebte unter einer Tanne. Die Sonne scheint durch den Regen und lässt ihren Unterstand als „goldenen Käfig“ erscheinen. Ein plötzlicher Donnerschlag lässt sie aufschrecken und, „Du hast dich an mich geschmiegt, vor Angst mit den Augen zuckend…// Segensreicher Regen: goldener Gewittersturm“. (S. 92) Auch hier erfährt der Leser nichts vom Beginn oder Ende der Liebe. Der durch den Donnerschlag eingeleitete glückhafte Moment steht im Zentrum des Gedichtes, – und darin erschöpft sich bereits das Erlebnis der Liebe. Im goldenen Käfig der Tanne entsteht für einen Augenblick lang eine in sich geschlossene Welt. Doch selbst dieses Maß an Erfüllung geht nicht über Gesten und eine impulsive Berührung hinaus und ist wiederum von Schweigen begleitet. Das Schweigen ist bei Fet und Majkow meist positiv gefärbt.230 Fets Gedichte sind jedoch etwas vage, Andeutungen ersetzen konkrete Schilderungen. In Welch’ eine Seligkeit: Die Nacht und wir allein (Kakoe sčast’e: i noč’, i my odni, S. 227) ist der Dichter mit „ihr“ allein in der Nacht am Fluss. Doch die Kommunikation beschränkt sich auf Gedanken, zur Aussprache kommt es nicht: „Und ich will sagen, dass ich dich liebe – // Dich, Dich allein liebe und küsse ich!“ (S. 227) Ähnlich ist die Situation im Gedicht Fets 229 230

„Da, sladok byl moj son chot’ na odno mgnoven’e.“ (S. 200). Typische Aussagen, die das belegen, sind in folgenden Zeilen enthalten: „Ljublju, esli, ticho k pleču moemu golovoj prislonivšiš’...“ (Majkov, S. 70); „my ulybnulis’ bezmolvno, kak budto by v sladkom molčan’i // My mysl’ju sošlisja i mnogo skazali ulybkoj i vzorom“ (ibid.)

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Welch’ eine Nacht. Die glasklare Luft ist wie gefroren! (Čto za noč'! Prozračnyj vozduch skovan, 1854) Auch hier wird der Wunsch nach Kommunikation ausgesprochen, – doch was weiter geschieht, bleibt im Dunkel. Es bleibt bei dem Wunsch, „Oh, jetzt würde ich gerne mich bekennen!“ (S. 228) Im Hintergrund steht wiederum das Schweigen, diesmal jedoch in die Vergangenheit verlegt, als der Dichter ihre Liebe nicht wahrnehmen wollte, – „Ich schwieg: dich liebte ich nicht“. Nun aber liebt er sie. Ihre Reaktion bleibt im Dunkel, das Gedicht endet, ohne darauf einzugehen. 3. Natur und „byt“. Die Bedeutung des Details und der Vignette.231 In der Dichtung der fünfziger Jahre nimmt die Naturlyrik einen überaus großen Raum ein. Dies lässt sich als Erbe der Romantik verstehen, für die Natur Ausdruck des Unendlichen, Göttlichen, des Schöpferischen war. Aus ihr schöpft der Dichter Inspiration, in sie zieht er sich mit seiner Geliebten zurück. Die Natur als Ausdruck des Schönen ist das dem Dichter gemäße Ambiente.232 Wir finden dieses Naturverständnis mit unterschiedlicher Akzentuierung bei allen Dichtern der fünfziger Jahre. Majkow spricht vom „Geheimnis der Natur“ (S. 96), Fet findet in der Natur „das Geheimnis des Glücks“ (= „tajnu ščast'ja“, S. 309). Um das Bild der schöpferischen, ewig lebenden, schönen Natur beim Leser zu evozieren, bedient sich der Dichter gewisser Versatzstücke, die zusammen ein Inventar bilden, das für die Naturlyrik der Zeit charakteristisch ist. Dazu gehören vor allem die folgenden Komponenten: Wald / Moos / Büsche; das Wasser / Fluss / Bach / Teich / Meer; das Feld; die Nacht / Abend, Dämmerung / Dunkel / Himmel / Sterne / Mond; der Garten / Park / Allee, das Gras / Rasen / Blüte / Beeren; der Vogel / Nachtigall / Lerche / Rotkehlchen; weiters Wolken, Wind, Tau, Schilf, Fisch, Welle, Mühle, Brücke, Stille, u. a.233

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Der Begriff Vignette wird hier im übertragenen Sinne gebraucht, in einer Bedeutung, die sich von der photographischen Technik herleitet und im amerikanischen Englisch einbürgert ist: "Vignette. A Short literary sketch briefly descriptive and characterized usually by delicacy, wit, and subtlety." Webster. Third New International Dictionary, 1971, S. 2551. „Pojmi živoj jazyk prirody – // I skažeš' ty: prekrasen mir!“ (Nikitin, S. 107), und „I vot teper’, kak i togda, // Priroda večnaja sijaet“ (Nikitin, S. 99). Les (auch: bor, čašča, rošča, kusty, sosna, iva, rakity, pen’, moch, vetki, listy, u.a.); Voda (auch: reka, ozero, prud, ručja, more); Pole (auch: lug, niva); Noč’ (auch: večer, mrak, sumerki, zarja, teni, son, zvezdy, mesjac, luna); Nebo (auch: solnce, nebesnyj svod); Sad (auch: park, alleja); Trava (auch: cvetok, jagody); Ptica (auch: solovej, žavoronok, malinovka); weiters oblako, tučka, veter, rosa, kamyši, ryba, volna, mel’nica, most, tišina, tiš’, etc.

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Die häufigsten Ambiente sind Wald und Garten, bzw. Park und Allee, meist verbunden mit einer Fluss- oder .Seelandschaft und einer abendlichen oder nächtlichen Zeitspanne. Im Schaffen Fets spielt allein über ein Drittel aller Gedichte aus den fünfziger Jahren am Abend oder in der Nacht. Dies gilt vor allem von Gedichten, die eine Liebesbegegnung schildern. Beispiele für typische nächtliche Ambiente finden wir in den Versen Schadowskajas Nacht…Hier im schattigen Garten // schlug ein Fenster zu… (S. 129), und Nikitins Versen Am blauen Himmel schwimmen über den Feldern // Wolken mit gold’nen Rändern (S. 285), die fast alle Versatzstücke anführen.234 Wir finden sie ebenso in seinem Gedicht Ins Album von N. V. Plotnizkaja: „Kühl ist’s. Alle Fenster sind geöffnet // in den duftenden und dämmrigen Garten. // Im Teiche funkeln die Sterne. Die Weidenbüsche über der kristallenen Fläche schlafen“. (S. 243) Fets bereits erwähnte berühmte Gedicht Šëpot, robkoe dychan’e bedient sich desselben Inventars.235 Das Naturerlebnis wird nicht nur oft mit dem Motiv der Liebe verknüpft, sondern auch mitunter mit der Kunst. Vor allem ist es die Musik, die der Dichter sozusagen in der Natur vernimmt, die ihre Harmonie in musikalische Akkorde fasst. Nikitin spricht von „der Musik des Waldes“ (S. 237f.), Majkow erlebt die nächtliche Natur als Musik. (S. 93) Dies kann der Gesang eines Mädchens im Wald, einer Nachtigall, eines anderen Vogels, oder aber das Rauschen des Wassers sein. Dies alles deutet auf die Harmonie hin, die als Ausfluss ihres göttlichen Ursprungs in der Natur liegt und vom sensitiven Dichter vor allem dann erfühlt werden kann, wenn der Lärm des Alltags verstummt. In diesem Sinne schreibt Majkow von der „nächtlichen Harmonie.“ (S. 93) Die deskriptive Naturlyrik bevorzugt oft biedermeierliche, mit konkreten Details ausgestattete Bilder, die Wald- und Flusslandschaften zum Hintergrund haben. Die Liebesthematik fehlt in diesen Gedichten. Ein Beispiel dafür ist Fets Gedicht Der Wald (Les, S. 226).236 Hierher gehören auch die zahlreichen, dem Frühling gewidmeten Gedichte. Auch Herbstgedichte sind vertreten, während indessen dem Winter oder Sommer gewidmete Gedichte fast gänzlich fehlen. Im Schaffen Fets ist im Schnitt sogar jedes sechste Gedicht in den fünfziger Jahren dem Frühling gewidmet! Frühling bedeutet

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nebo, pole, oblako, les, tuman, večer, noč’, mesjac, zarevo, les, zvezdy. solovej, son, ruč’e, noč’, teni, tučki, zarja; siehe auch seine Gedichte Večer, Poslednij zvuk umolk (S. 239 u. 241) u.v.a. Typische Zeilen bei Fet sind die folgenden: „Smolkaet les, blednej ruč’ja sijan’e“ (S. 204), oder „V vode oprokinulsja les“ (S. 218). Geradezu virtuos wendet Fet dieses Inventar an im Gedicht „Kakaja noč’! Kak vozduch čist“ (S. 281) „Vblizi stučit vertljavyj djatel’... A na sosne porosšej mochom, // Melkaet belki chvost pušistyj“.

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nicht nur das Erwachen der Lebenskräfte in Wald und Feld, sondern zugleich auch im Leben. (Fet, S. 212 u. 214)237 Majkows Frühlingsgedichte sind in ihrer lyrischen Beschwingtheit, ihrem verspielten Pathos und ihrer Kürze vielleicht noch typischer für die Zeit als Fets Gedichte. Sie erinnern in Form und Gestimmtheit an Mörikes Frühlingsgedichte (z. B. „Frühling lässt sein blaues Band // Wieder flattern durch die Lüfte...“). Wiederum ist es die Intention des Dichters das Erlebnis eines flüchtigen Augenblicks mit wenigen, sorgfältig ausgewählten Details in Worte zu fassen. Majkows Gedicht Der Frühling (Vesna) kann vielleicht als das archetypische Frühlingsgedicht des Realidealismus überhaupt gelten.238 Ähnliche Gedichte finden wir bei Schadowskaja, Bald ist’s Frühling (= Skoro vesna, P., S. 128), und Rostoptschina, An einem Morgen im Mai (= V majskoe utro, P., S. 72). Das letztgenannte Gedicht beginnt betont prosaisch mit Details aus dem Alltag, „Zieht schnell die Vorhänge hoch, // Lasst mir die Sonne herein, // Öffnet das Fenster weit.“ (P., S. 72) Ein pessimistisches Lebensgefühl tritt nur in den wenig zahlreichen Herbstgedichten in Erscheinung. So dient bei Schadowskaja das herbstliche Ambiente als Folie für Enttäuschung im Leben. (P., S. 132). Nikitin und Majkow wählen das herbstliche Ambiente für Gedichte, die von Abschied und Trennung handeln. In Oktober (S. 221f.) vergleicht Nikitin die Schönheit der herbstlichen Natur mit der Anmut eines Abschiedslächelns und „der letzten Umarmung in Liebe“. (S. 222) Majkow führt dasselbe Thema in Die Schwalben aus. (S. 99) Der Abflug der Schwalben in den sonnigen Süden ruft die Stimmung von Abschied und Trennung hervor. Majkows Herbstgedicht Träumerei (Mečtanija) zeichnet dagegen ein Bild biedermeierlicher Behaglichkeit. Der Dichter hat sich vor dem Oktoberfrost in sein Zimmer zurückgezogen und gibt sich Erinnerungen hin. Den Schluss bildet eine Genreszene, in der das biedermeierliche Kolorit verstärkt hervortritt: Ein schwarzer Kater liegt auf dem Tisch unter der Ikone und „hebt das Köpfchen mit den gelben Augen und blickt sich schnurrend im Zimmer um…“ (S. 90). Majkows Gedicht Herbst ist das einzige fröhliche Herbstgedicht: „Ich bin in der Seele bloß fröhlich – // und singe wie ein Verrückter“ („Tol’ko ja vesel dušoj – // I kak bezumnyj, poju!“, S. 102). Letzterer Ausdruck deutet allerdings bereits ein Umschlagen der Stimmung an. Die Naturlyrik ist ein Genre, das bereits in der Romantik und schon im 18. Jahrhundert beliebt war. Die Tradition wirkt hier stärker nach als in ande237

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Als besonders typisch für Frühlingsgedichte im Realidealismus können auch die Gedichte Fets Ešče vesny dušistoj negi (S. 212), Pervyj landyš (S. 214), Pervaja borozda (S. 224) , und Vesna na dvore (S. 238) gelten. „Goluben’kij, čistyj // Podsnežnik – cvetok: // I podle skvozistyj, // Poslednij snežok... /// Poslednie slezy // O gore bylom, // I pervye grezy // O sčast’i inom“ (S. 105).

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ren Bereichen und erschwert die zeitliche Zuordnung. Die realidealistischen, biedermeierlichen Aspekte in Stil und Inhalt sind nicht leicht zu fassen. Neben dem bereits mehrfach erwähnten realistischen Details aus dem Alltag (russ. byt) sind es Genrebilder, um einen Begriff aus der Kunstgeschichte zu verwenden, die in der Lyrik der fünfziger Jahre häufig vorkommen. Sie schließen meist eine Handlung ein, so vor allem im Werk von Nikitin und Pawlowa, und orientieren sich oft am Volkslied. Nikitins sieben Strophen langes Gedicht Der Großvater (Deduška) im Volksliedton ist dafür ein gutes Beispiel. Der Titelheld ist ein alter Bauer, der Bastschuhe flicht und verkauft, in Armut lebt, aber dennoch mit seinem Leben zufrieden ist.239 Auch Nikitins 46 (!) Strophen umfassendes erzählendes Gedicht Die Kutschersfrau (= Žena jamščika, S. 136-141) schließt biedermeierliche Bilder ein.240 Nikitin erzählt die tragische Geschichte vom Tod eines Kutschers, der Frau und Kind unversorgt zurücklässt. Häufiger und charakteristischer für den Realidealismus in Russland sind aber kurze Gedichte, die eher deskriptiv sind. Hierher gehören Fets Gedichte über Fischfang und Jagd, ebenso wie Majkows Gedicht über die Heumahd.241 Die letzte Strophe dieses Gedichts bringt ein typisches Genrebild mit wenigen, aber charakteristischen Details.242 Der Freude an der Natur und einem einfachen Leben entspricht vielleicht am besten Majkows Fünfzeiler Sommerregen (Letnij dožd’, S. 97).243 In diesen Gedichten ist der Mensch eingebettet in eine Natur, die ihm wohlgesinnt ist und „goldenen Regen“ in „goldene Getreidekörner“ verwandelt. Solche Genrebilder stehen häufig als Abschluss eines Stimmungsgedichtes, können aber auch in ein lyrisches Naturbild eingebaut sein. In Ein langweiliger Abend (Skučnyj večer) zeichnet Schadowskaja das Bild eines Winterabends in der verschneiten Stadt, das geradezu an den Dichter Blok erinnert.244

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„Rad on žit’ , ne proc’ v mogilu – // V temnyj ugolok... // Gde ty čerpal etu silu, // Bednyj mužičok?“ (S. 277) „Dremlet podle pečki, // Prislonjas’ k stene, // Mal’čugan kurčavyj // V starom zipune. /// Slabo osveščaet // Blednyj ogonek // Detskuju golovku // I rumjanec šček“ (Nikitin, S. 136). Fet: Rybka (S. 289) und Psovaja ochota. (S. 290f.) Majkov: Senokos. (S. 98) „Tol’ko žučka udalaja // “V rychlom sene, kak v volnach, // To vzletaja, to nyrjaja, // Skačet, laja vpopychach“ (S. 98). „Zoloto, zoloto padaet s neba! – // Deti kričat i begut za doždem... // – Polnote, deti, ego my sberem, // Tol’ko sberem zolotistym zernom // V polnych ambarach dušistogo chleba!“ „ ... v okoško, temna, cholodna, // Noč’ ugrjumaja smotrit odna; // Šumno sani poroj proezžajut, // Da i doma v potemkach mercajut, // I lenivo, i tusklo gorja, // Pokrivlennye dva fonarja“ (S. 127).

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Das verbindende Element in diesen Genrebildern ist das konkrete Detail aus dem Alltag (russ. byt), und eine manchmal nur angedeutete, oft aber in mehreren Zeilen ausgeführte Handlung. Die Grenze zwischen deskriptiven und narrativen Verfahren ist fließend. Zu der erstgenannten Kategorie gehören viele Verse Fets und Majkows. Die Details schaffen eine biedermeierliche Stimmung des Wohlbehagens im Kleinen. Der Leser wird gezwungen, in das Bild „hinein zu steigen“, das jeweilige Ambiente selbst zu erleben. Mitunter entstehen einprägsame Bilder und symbolkräftige Aussagen wie in den folgenden Zeilen Fets: „Über dem Brunnen, auf einer hochragenden Stange, // wo ein alter Eimer baumelte wie ein Aushängeschild, // Krächzte plötzlich ein Rabe.“ (S. 223) Die Art und Weise wie Fet in Bienen (Pčely) das Bild einer sommerlichen Natur mit einer Schilderung seines seelischen Zustandes verbindet, erinnert an modernistische Gedichte einer späteren Zeit. Wieder ist es ein scharf hervortretendes Detail, – ein Blütenstengelchen einer Fliederblütendolde und ein Bienchen –, das die Verbindung zwischen beiden Bereichen schafft.245 Ein Detail, das in den fünfziger Jahren besonders häufig vorkommt und in den zitierten Textstellen auch schon mehrfach aufgeschienen ist, ist das Fenster („okno“, „okoško“). Als Übergang vom Innen zum Außen hat es Symbolcharakter und vermittelt zwischen menschlicher Behausung und der Natur draußen. Es ist Trennung und Verbindung zugleich, es lässt ein Abbild der Außenwelt herein, verdeutlicht aber zugleich die Ausgeschlossenheit des Ichs diesseits des Fensters. Oft sitzt man wie Schadowskaja beim Fenster, blickt hinaus.246 Der Blick aus dem Fenster regt die Phantasie an, in die Vergangenheit zu schweifen: „Ich blickte aus dem Fenster – // Und erinnerte mich zufällig // An andere Zeiten.“ (Pawlowa, P., S. 113). So sind auch Rostoptschinas Zeilen zu verstehen: „Es lockt mich das trübe Fenster. // Ich könnte immer schauen, lange schauen.“ (S. 265) Ähnlich lesen wir bei Nikitin: „Ich kann nicht schlafen. Das Fenster ist geöffnet.“ (S. 218) Insgesamt lassen sich über dreißig Beispiele für die Verwendung dieses Motivs bei den hier herangezogenen Dichtern in den fünfziger Jahren anführen! In der Prosa des Realidealismus kommen immer wieder stilistische Miniaturen vor, in denen der Held aus der Zeit heraustritt und sich im Einklang mit dem ersehnten Ideal wähnt: Neben dem manchmal erwähnten heimatlichen Gut, in dem der Garten oder Park als Gegenstand dieser lyrischen Vignetten dient..., sind es Wald und Fluss- (See-, Meer-) Landschaften, deren Schilderung die Nähe des Ideals andeutet. In der Natur kündigt es sich dem 245 246

„V každyj gvozdik dušistoj sireni, // Raspevaja, vpolzaet pčela... I nikak ja ponjat’ ne umeju, // Na cvetach li, v ušach li zvenit“ (S. 213). Žadovskaja, Sižu ja u okna..., (P., S. 124), oder Mej, Ty s toskoj gljadiš’ v okno…, (S. 132).

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sensiblen Menschen an, ohne jedoch für ihn greifbar zu werden. Dies gilt gleichermaßen für die Lyrik. Zeit und Raum verlieren da wie dort ihre Konturen, es kommt zu einer Hypostase des hic et nunc. Wie bei Goethe scheint der Dichter zum Augenblick sagen zu wollen: "Verweile doch, du bist so schön". Besonders in der Dichtung Majkows und Fets kommt es zur Thematisierung dieses Aspekts in kurzen lyrischen Gedichten. Es können Vignetten dieser Art auch in längeren deskriptiven Naturgedichten eingebaut sein, oder als ihr Abschluss dienen. Das lyrische Ich empfindet besonders die Stille, Harmonie, Schönheit und die zeitlich-räumliche Unbegrenztheit des jeweiligen Ambientes, aus dem es seine schöpferische Kraft zieht. Die Natur wird ihm darin zum Heiligtum.“ 247 Die Inspiration strömt leichter in der nächtlichen Natur, wie in den Zeilen Nikitins, die fast einen modernistischen Klang haben und von Balmont stammen könnten: „Sterne über den Feldern, // Einöde und Schilf…// So strömen wie von selbst // die Töne aus der Seele.“248 Zu Majkow spricht in solchen Augenblicken das „Geheimnis der Natur“. (S. 96) Fet fühlt sich gar zurückversetzt ins Paradies.249 Er „ertrinkt“ ohne Wiederkehr in der Tiefe des nächtlichen Himmels, („vse nevozvratnee tonu,“ S. 273). Der Mensch fühlt sich als Teil der Schöpfung, er vernimmt wie später Blok die Sphärenmusik. So sprechen auch bei Nikitin die Sterne in einer „feierlichen und wundersamen Sprache!“ (S. 214) Das Bestreben des Dichters geht dahin, solche Augenblicke festzuhalten.250 In Tolstojs Kurzroman Familienglück (Semejnoe sčast’e) steht eine Vignette, die einen Spaziergang der Erzählerin mit ihrem Geliebten im nächtlichen Park beschreibt. Zeit und Raum lösen sich auf: „... Es schien mir, dass dies alles für immer in seiner Schönheit fixiert sein müsse.“ Ähnliche Formulierungen finden wir bei Majkow und Fet. So sagt Majkow in Landschaft (= Pejzaž): „Du gehst – und der Weg hat kein Ende, als ob Du über Wasser gingst“ (S. 85) und Fet schreibt: „nein, weiter geh’ ich nicht… // Die ganze Nacht bin ich bereit da zu sitzen“. (S. 297) und an anderer Stelle: „Ich möchte hier bleiben, atmen, schauen und immer nur lauschen…“ (S. 206). Ebenso reagiert Nikitin: „Diese Nacht, voll von gold’nen Träumen, // Ich möchte sie endlos, endlos verlängern!“ (S. 296)

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“točno v chrame, stoju ja v tiši // I v vostorge moljus’ ot duši” (S. 285). “Zvezdy nad poljami, // Gluš’ da kamyši... // Tak i ljutsja sami // Zvuki iz duši!” (S. 286). „I ja kak pervyj žitel’ raja, // Odin v lico uvidel noč’.” (S. 273). „Etot mir, kak luč sredi nenast’ja, // Ochvatit’ dušoj svoej vpolne“ (S. 91).

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4. Die retrospektive Darstellung: Traum und Erinnerung. Die Prosa der fünfziger Jahre ist fast durchwegs aus der Retrospektive erzählt. Die Ereignisse werden bewusst distanziert. In der Versdichtung spielt die Erinnerungsperspektive keine ähnlich dominante Rolle. In der Lyrik herrscht die Erlebnisgegenwart vor. Nichtsdestoweniger sind viele Gedichte, vor allem längere erzählende Gedichte, aus der Perspektive eines nach rückwärts gewandten Blickes geschrieben. Der Dichter ist sich des trügerischen, rasch veränderlichen Charakters der Zeit bewusst, „trügerisch ist der Flug der allmächtigen Zeit“. (Fet, S. 210) Es zieht den Dichter in die Vergangenheit, da die Zeit dort ihre Macht verliert.251 Ein Gedicht wie Fets Gestern, bekränzt mit duftenden Blüten (Včera, uvenčana dušistymi cvetami, S. 243) könnte ebenso in der Gegenwart geschrieben sein, – der Dichter versetzt es aber einen Tag zurück, um die spezielle emotionelle Färbung, die der Reflexion über Vergangenes eignet, zu erzielen. Fets vierstrophiges Gedicht Ich war wieder in Deinem Garten (Ja byl opjat’ v sadu tvoem, S. 278) ist ganz auf dem Gegensatz von einst und jetzt aufgebaut. Das oft verwendete Ambiente, Abend- und Nachtszenen mit ihrem Spiel von Licht und Schatten, eignet sich besonders gut für die Evokation von Erinnerungsbildern. „Der Schatten“ (russ. „ten’“) ist so eines der häufigsten Worte in der Lyrik der Zeit. Fet setzt das Bild der beginnenden Nacht mit der Erinnerung gleich.252 Bei Fet und auch Majkow haben die Erinnerungen ein eher biedermeierliches Kolorit.253 Fet schreibt in Die Leierkastenspieler (Šarmanščiki): „Wir hegen zärtlich die Vergangenheit“ (S. 231). Mitunter stehen dem traditionelle Klagen über die „Verluste der Seele“ gegenüber, über „alles, was längst – längst die Seele verloren hat“ (S. 310), und eine „schmerzliche Träne“ („žgučaja sleza“) begleitet die Lektüre vergilbter Briefe (S. 310). Im Gegensatz zu Fet und Majkow empfindet Pawlowa das Vergangene als einen Verlust, der zu Trauer und Schmerz führt.254 Bei ihr wie auch bei Nikitin sind Erinnerungen vor allem negativ gefärbt. „Alles kommt in Erinnerung, was Zeit wäre zu vergessen“ (S. 217) klagt Pawlowa, und Nikitin, der eine überaus schwere Jugend erlebt hat, erinnert sich nur mit Schmerz daran. Schadowskaja sieht zwar das „bessere Leben“ in der Vergangenheit,

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„Duša moja // I v glub’ minuvšich let unositsja nevol’no” (Fet, S. 222). „I na tebja [= noč’] kak na vospominan’e // Ja obraščaju vzor...” S. 204). So schreibt Majkov: „Zabivšis’ na divan, sižu; vospominan’ja // Vstajut peredo mnoj...“ (S. 90). Bei Fet flackert das Feuer im Kamin und „videnij pestrych verenica“, „byloe ščast’e i pečal’,“ (S. 257) erscheinen vor ihm in der flackernden Glut. „O bylom, o pogibšem, o starom // Mysl’ nemaja duše tjažela”. (S. 109). Von sich selbst schreibt die Dichterin, „I myšlju s tjažkoju toskoju // O tom, čto bylo, čto prošlo“ (S. 184).

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doch im Rückblick erscheint ihr das Leben nichtsdestoweniger als ein „grausamer Hexenmeister“ (P., S. 132), die Erinnerung daran wird auch bei ihr von Trauer begleitet. Toska als Trauer um die vergangene Jugendzeit und verlorenes Liebesglück ist häufig Teil der Erinnerung oder bildet sogar ihr wesentlichstes Thema. Es ist vor allem die Begegnung mit dem geliebten Du, die in der Regel mit der Erinnerungsperspektive verbunden ist. In Fets Gedicht Umsonst, Göttliche (= Naprasno, divnaja, S. 200) steht in der ersten Strophe das Futur, in den folgenden drei Strophen finden wir jeweils in der ersten Zeile die Vergangenheit. Der Dichter steht so zwischen einem vergangenen Erlebnis, aus dem er eine mögliche Zukunft ableitet. Schadowskaja spricht in Das verzauberte Herz (Zakoldovannoe serdce, P., S. 130) von der Verzauberung durch die Liebe in der Jugend, eine Verzauberung, die sich später wiederholt. Im Rückblick erscheint die ursprüngliche Verzauberung wie durch Spiegel vervielfacht.255 Das Motiv der Trauer über die vergangene Jugendzeit ist ebenso prominent wie in der Prosa der Zeit. Wie dort kann es auch als Thema eines Textes erscheinen. In typischer Formulierung finden wir es beispielsweise bei Mej in einer als rhetorische Frage formulierten Klage: „Wo habt ihr euch verborgen, Tage einer lieben Jugendzeit…“ (S. 90). Der Dichter versetzt sich gerne in seine Jugend. Fet: „Ich erinnere mich, als noch ein Kind ich war…“ (Fet, S. 222). Besonders deutlich wird die Bedeutung der Jugend für den Realidealisten in Nikitins langem Gedicht Das Leben (Žizn’), in dem er der „schönen Jugendzeit“ das erwachsene Leben gegenüberstellt: „Der Akt des Lebens ist gelebt – und jetzt // Bietet sich eine andere Szene den Augen.“ (S. 63ff.) Erstere ist die Zeit der Wunschträume („grezy“), letztere eine „Zeit der Verluste“ (S. 63). Das Gedicht mündet resignativ in die Erwartung des Todes: „Und schrittweise sterben“ (S. 65; letzte Zeile). Auch bei Pawlowa wird die Klage um die vergangene Jugend thematisiert, wie in Ich liebe euch, junge Maiden (Ljublju vas, mladye devy, S. 170f.). Abschließend sei noch auf zwei Tendenzen in der Lyrik der fünfziger Jahre hingewiesen. Die Dichter des Realidealismus schreiben gerne Gedichte im Volksliedton, sie wählen sich aber auch oft Themen aus der antiken Geschichte, Literatur und Mythologie. Vor allem Nikitin, der aus Woronesch stammt, der Heimatstadt Kolzows, der viele romantische, dem Volkslied nachempfundene Verse schrieb, folgt diesem Vorbild. Sein Gedicht Erbschaft (Nasledstvo, S. 112f.) entspricht in Form, Rhythmus und Inhalt ganz

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„Znaj: to prežnich dnej očarovan’e // Ty vo mne iskusno probudil; // To drugoj ljubvi vospominan’e // Vzor moj vdrug nevol’no otrazil“ (S. 130).

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den Liedern Kolzovs.256 Im Laufe der fünfziger Jahre schrieb Nikitin ein Dutzend Lieder und Balladen im Volksliedton. Zum Teil beruhen sie auf autobiographischen Motiven, die mit seiner harten Jugend zu tun haben, zum Teil orientieren sie sich inhaltlich an Nekrassows Lyrik. Nichts destoweniger finden wir auch hier die bereits angeführten Elemente des Realidealismus bis hin zu recht biedermeierlichen Bildern, die den Ton der sozialkritischen Anklage mildern, wie in dem angeführten Gedicht, das mit den Zeilen endet: „Und lieb ist der Seele // Jegliches Schicksal, // Die ganze schöne Welt // Dünkt mir ein Paradies.“ (S. 113). Idyllische Bilder, der Dichter möchte sorglos als Vögelchen leben (S. 113f.), wechseln mit anderen, die stark negativ gefärbt sind, wie in Gib’ nicht dem einsamen Schicksal die Schuld (Ne vini odinokuju dolju, S. 113f.). Dieses letztere Gedicht erinnert geradezu an den langen Monolog des Untergrundmenschen in Dostojewskijs bekannter Novelle (2. Teil), den dieser der Prostituierten Liza vorträgt, um ihr das trübe Schicksal zu verdeutlichen, das sie erwartet. Mej, der sich weniger an Kolzov orientiert als Nikitin, schreibt entweder lange, balladenhafte Gedichte volkstümlichen Inhalts oder kurze, meist nur einstrophige Lieder.257 Majkows volksliedhafte Lyrik schließt Wiegenlieder, Liebeslyrik und Motive aus dem Volksleben ein.258 Auch bei Rostoptschina und Schadowskaja finden wir Beispiele volksliedhafter Lyrik.259 Antike Motive sind häufig in der Dichtung Pawlowas, Mejs, Majkows und Fets, sie fehlen nur bei Nikitin. Manche Gedichte sind dem zeitgenössischen Italien gewidmet, schließen aber antike Motive ein. Es dominieren Themen aus der griechisch-römischen Mythologie und Geschichte. Bei Majkow und Fet finden wir Gedichte, die einem Gemälde, einer Statue, oder einer historischen Figur gewidmet sind. Beides, die folkloristische wie auch die antike Thematik, drücken das Bestreben des Realidealisten aus, sich aus dem Leben zurückzuziehen, der Gegenwart zu entfliehen. Daneben steht wohl als nicht weniger wichtiger Grund die Suche nach vergangener Schönheit und Größe, als Ausdruck der Annäherung an das Ideal in vergangenen Kulturen, bzw. die Suche nach dem naturverbundenen Leben des einfachen Menschen auf dem Lande. Die Themen, Motive und Verfahren der Lyrik der fünfziger Jahre erinnern in vieler Hinsicht noch an die Dichtung der Romantik. Das Charakteristikum realidealistischer Dichtung liegt in der Gewichtung der einzelnen Ele-

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„Ne ostalos’ja // Mne ot batjuški // Palat kamennych, // Slug i zolota...“ (S. 112). Mej: Rusalka (S. 85-89), Vichor’ (S. 125-130), Pesnja (S. 114 u. 124), Zapevka (S. 123), Poležaevskoj faraonke (S. 127). Majkov: Kolybel’naja pesnja (S. 113), Mat’ (S. 125f.), Ja b’ tebja procelovala (S. 127), Pridanoe (S. 123f.) Golubaja dušegrejka, (B. S., S. 122f.), Niva (B. S., S. 285).

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mente, ihrem Zusammenspiel, ihrer Funktion. Manche Dichter wie Pawlowa und Schadowskaja sind in höherem Maße der Spätromantik verbunden als andere. Andererseits ist aber auch deutlich geworden, dass die Dichtung des Realidealismus aber bereits Züge der Neuromantik und des Symbolismus vorwegnimmt. Fets Formulierung „Deine agatenen Äuglein“ („tvoi agatovye glazki“, S. 316) könnte auch vom jungen Brjusow stammen. Auch der Einfluss der sozialkritischen Dichtung Nekrassows schlägt mitunter durch, wie in manchen Versen Rostoptschinas, Pawlowas und Nikitins. Nichtsdestoweniger kann festgestellt werden, dass sich entgegen den in der Literaturgeschichte üblichen verschwommenen Aussagen zu dieser Periode die Dichtung der fünfziger Jahre sowohl von der Dichtung der vorangehenden Epoche wie auch der nachfolgenden deutlich abhebt und nicht der realistischen, nekrassowschen Richtung angehört. Ideell ist sie einem religiösen, idealistischen Weltbild verpflichtet, in ihrer konkreten Ausformung trotzdem auf Wirklichkeitsnähe bedacht. Der Zeitproblematik weicht sie eher aus, flüchtet mitunter in die Idylle, oder die Klage über ein ungerechtes Schicksal. Sie zeichnet sich durch einen starken Ichbezug aus. Der intensiv erlebte Augenblick wird, vor allem in der retrospektiven Reflexion, zum zentralen Thema des Gedichts. Von Bedeutung ist die Naturlyrik, daneben die Flucht in den Exotismus der Folklore und der Antike. Die Dichtung der fünfziger Jahre, die hier dem Biedermeier bzw. dem Realidealismus zugeordnet wird, zeigt eine Reihe von gemeinsamen Zügen, die ähnlichen Erscheinungen in der realidealistischen Prosa der Zeit entsprechen. Beide unterscheiden sich von der Romantik ebenso wie vom Realismus und stellen eine eigene Richtung dar, die allerdings in den Literaturgeschichten bislang als solche nicht aufscheint und namenlos geblieben ist.

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4.

Gontscharows Roman Die Schlucht und der russische Roman des Realismus

Als Gontscharows dritter und letzter Roman im Jahre 1869 in der Zeitschrift Russkij vestnik erschien, stellte E.I. Utin, ihr Rezensent, fest, der Autor hätte kein Gefühl für die neue Zeit und könnte Menschen mit neuen Ideen nicht verstehen.260 Die Kritik warf Gontscharow vor, er hätte durch die karikaturistisch verzerrte, lebensferne Darstellung des Nihilisten Mark Wolochow ein falsches Bild dieser Bewegung gezeichnet.261 Seither hat die Literaturgeschichte im Anschluss an Pissarews Studie zur Figur des Oblomow versucht, in diesem das verbindende Element aller drei Romane zu finden.262 Mit dem Typ des liebenswerten Faulpelzes hatte Gontscharow, so scheint es, einen Grundzug des russischen Nationalcharakters erfasst. Aduev jun. in Eine gewöhnliche Geschichte war dazu eine Vorstufe, Rajskij in Die Schlucht ein Nachfahre, in des Autors eigenen Worten ein „erwachter Oblomow“. (SS 8, S. 117) Die Interpretation des Oblomow durch W. Rehm hat daran nichts geändert. Sie rückte bloß das Motiv der existentiellen Langeweile (acedia) bei Oblomow in den Vordergrund. Als Autor des postromantischen Zeitalters beschäftigte sich Gontscharow mit der grundlegenden Problematik dieser Epoche, den Auswirkungen der sentimental-romantischen, idealistischen Bildung auf den Menschen dieser Zeit. In der deutschsprachigen Literatur distanzierten sich Heine und die jungdeutschen Literaten kritisch vom Erbe der Kunstperiode, in der russischen Literatur tat dies der Kreis um Belinskij, aus dem auch Gontscharow 260 261

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Russkij vestnik 11, 1869. Zit. nach A. G. Cejtlin: I. A. Gončarov. Moskau, 1950, S. 276. Hier seien einige kritische Stimmen zur Figur des Mark Volochov angeführt: „Mark – eto sosud, vmeščajuščij v sebe vsju summu russkich zabljuždenij“ (Šelgunov); „Nevinnyj kozel otpuščenija“ (Saltykov-Ščedrin); „Mark ciničen i grjazen i fizičeski i nravstvenno“ (Rezension in Golos); „Mark Volochov... flanirujuščij bespoleznyj šalopaj, a ne tip novogo pokolenija“. (Rezension in Novorossijskij telegraf). Zit. nach Cejtlin, S. 272, 274, 271, 249. Gontscharow selbst meinte von Volochov: „On radikal i kandidat v demagogi.“ Zit. nach Cejtlin, S. 248. Gončarov hat in einem unveröffentlichten Vorwort zum Roman Die Schlucht auf die Einheit seiner drei Romane hingewiesen: „Belinskij, Dobroljubov, konečno, uvideli by, čto v suščnosti eto – odno ogromnoe zdanie, odno zerkalo, gde v miniature otrazilis’ tri epochi – staroj žizni, sna i probuždenija, i čto vse lica – Aduev, Oblomov, Rajskij i drugie sostavljajut odno lico nasledstvenno pereroždajuščeesja...“ SS 6, S. 447. „ ...vižu ne tri romana, a odin. Vse oni svjazany odnoju obščeju nit’ju, odnoju posledovatel’noju ideeju...“ I. A. Gončarov: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach., Moskva 1980. (Bd. 6: Stat’i ob Obryve; Bd. 7: Očerki...; Bd. 8: Stat’i, zametki, recenzii, pis’ma. Zit. hier und des Weiteren als SS).

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hervorging. So lassen sich die Hauptfiguren der drei Romane auf einen Typ zurückführen: Den von sentimental-romantischer Lektüre verbildeten Idealisten, der sich mit Rousseaus schöner Seele und Kierkegaards ästhetischen Menschen gleichsetzen lässt.263 In Die Schlucht markieren der Künstler Rajskij – der Roman sollte ursprünglich Der Künstler heißen – und sein Schulfreund Leontij Koslow zwei Varianten dieses Typs.264 Ihnen zur Seite stehen weitere. Ihre Lektüre umfasst den Bildungskanon, der die Weltanschauung des gebildeten Europäers der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt. Gontscharow nennt Shakespeare, Goethe, Walter Scott, Ariost, Tasso, Ossian, Sterne, aber auch französische Autoren des 18. Jahrhunderts.265 Beide beziehen aus der romantisch-idealistischen Lektüre ihr Liebesverständnis, das die absolute Hingabe an die Leidenschaft der Liebe fordert. Als ästhetisch lebende Menschen sind sie Egoisten, die das in ihrem Leben zu verwirklichen suchen, was ihnen den höchsten Genuss bereitet: Bei Koslow ist es das Eintauchen in die Phantasiewelt seiner Lektüre, bei Rajskij das Erlebnis leidenschaftlicher Liebe zu einer schönen Frau. Als unheilbarer Romantiker (VI, S. 146) ist er auf der Suche nach der Verwirklichung des ästhetischen Ideals.266 Schönheit ist für ihn der höchste Wert. Mit Worten, die denen gleichen, die Fürst Myschkin zugeschrieben werden, leitet er seine „Hymne an die Schönheit“ ein, mit der der zweite Teil des Romans endet: „Die Schönheit bewegt die Welt“ (V, S. 300).267 Jedoch schon die Wahl seines Vorbildes deutet auf die Doppelbödigkeit seiner idealistischen und utopischen Vorstellungen hin. Für ihn ist Don Juan die ideale Verkörperung des Menschen: „Don Juan genoss vor allem ästhetisch“ (Bd. V, S. 12), „Der wahre Don Juan ist rein und schön; er ist ein feinfühliger, humaner Künstler, vom Typ her das chef-d’oeuvre unter den Menschen“ (Bd. VI, S. 127). Rajskij ist wie Don Juan ständig auf der Suche nach der idealen Schönheit. Sein Freund Ajanow durchschaut ihn und wirft ihm vor: „Du 263 264

265

266 267

Vgl. R. N.: Nachwort in der dtv Weltliteratur Ausgabe: I. A. Gontscharow. Oblomow, München 1980, S. 657-669 (dtv. Bd. 2076). In einem Brief vom Juli 1860 an N. A. Majkov wies Gontscharow darauf hin, dass der Künstler Rajskij u.a. sein Vorbild in Majkov habe. An anderer Stelle nennt er V. P. Botkin und Vielgorskij und „mnogie moi sverstniki, romantiki, idealisty, prošatavšiesja prazdno i ničego ne delavšie“ als Vorbilder für Rajskij. Zit. nach Cejtlin, S. 237. Russische Zitate aus dem Roman Obryv folgen der Ausgabe Sobranie sočinenij v šesti tomach, Bde V und VI, Moskau 1959. Vgl. Bd. V, S. 42 f., 67, 161! Weitere Seitenverweise zum Roman im Text unter Angabe des Bandes stammen aus dieser Ausgabe. In dieser Hinsicht gleicht Rajskij manchen Helden Dostojewskijs. Vgl. R. N.: Nachwort zum Idiot. München, Winkler Verlag 1980. Er sagt: „Vsja cel’ moja, zadača, ideja – krasota!“ (Bd. V, S. 114). Sein Ziel ist es, „naslaždat’sja krasotoj“, (Bd. V, S. 12).

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spielst mit den Frauen.“ 268 (Bd. V, S. ll) Für den ästhetischen Menschen löst sich eben die Wirklichkeit auf und wird zum Spiel. Die Verabsolutierung der Liebe führt dazu, dass sie im jeweils konkreten Fall keine Erfüllung finden kann. So ist sie notwendigerweise immer mit Enttäuschung und Leid verbunden. Es kommt soweit, dass lieben und leiden anstelle der konkreten Lebenswirklichkeit treten. Kann Rajskij nicht lieben, dann verfällt er in existentielle Langeweile.269 Wenn es allerdings geschieht, dass seine Liebe auf Gegenliebe stößt und damit das Motiv des Leidens entfällt, dann verliert Rajskij rasch das Interesse. Dies ist der Fall in der Begegnung mit Natascha in der Vorgeschichte des Romans.270 Rajskij ist aber auch der typische Liberale der dreißiger und vierziger Jahre, ein Zeitgenosse des Stefan Trofimowitsch Werchowenskij in Dostojewskijs Dämonen. An der Universität, in verschiedenen literarischen und künstlerischen Kreisen, in denen noch der romantische Geniekult gepflegt wurde, bildete sich sein am Naturrecht und dem romantischen Verständnis des Individuums orientiertes Weltbild aus.271 Er glaubt nicht an Umsturz und Revolution, sondern an den steten, graduellen „idealen Fortschritt“ (Bd. V, S. 209), den er durch die „Entwicklung der Ideen“ und den „Sieg der Wissenschaft“ verbürgt sieht. Davon „erwartet er Resultate“. (Bd. VI, S. 7) Wie in dem Streitgespräch mit dem erzkonservativen Tytschkow, erschöpft sich sein Liberalismus charakteristischerweise in Worten, denen keine Taten folgen, denn für Taten sind er und seine Generation nicht geeignet.272 Der Nihilist Mark Wolochow ist als Kontrast zum Idealisten Rajskij entworfen.273 In ihm schlägt der Idealismus zum Nihilismus um. So tritt er bereits bei seiner ersten Erwähnung im Roman als Bücherschänder auf: „Für ihn gibt es nichts Heiliges in der Welt“. (Bd. V, S. 106) Sieht Rajskij in der Kombination von physischer und geistig-seelischer Schönheit die höchste Entwicklung des Menschen, so verneint Mark geradezu den Menschen. „Er 268

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Schon als Junker galt für Rajskij und seine Kameraden: „igrajut v ljubov’ i žizn’, kak igrok v karty.“ (Bd. V, S. 32) Auch Vera versteht Rajskijs Leidenschaft als Spiel! (s. Bd. V, S. 191) Rajskij: „A ljubit’, ne stradaja – nel’zja” (Bd. V, S. 32). Rajskij kehrt erst zu Nataša zurück, als sie bereits im Sterben liegt. Die neuerliche Möglichkeit der Leiderfahrung erneuert seine Leidenschaft! Vgl. Bd. VI, S. 21; Bd. V, S. 74 ff. „No dela u nas, russkich, net, – rešil Rajskij, – a est’ miraž dela”. Bd. V, S. 276. Gončarow selbst wies auf die Lebensechtheit seines Nihilisten hin. Als er 1862 aufs Land fuhr, traf er dort, aber auch in Moskau, wie er vermerkt, „neskol’ko ekzempljarov tipa, podobnogo Volochovu“ (SS 6, S. 463). Andererseits stellte er fest, dass Volochov auch ein ewiger Typ sei, der in jeder Epoche wiederkehre. Seine Aufgabe sei es, „zajavljat’ slepoj bezuslovnyj protest tomu, čto suščestvuet, est’, bez otčetlivogo ponjatija o tom, čto dolžno byt’.“ Zit. nach Cejtlin, S. 248.

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verneinte den Menschen im Menschen“ (Bd. VI, S. 259) und reduziert ihn auf sein materielles Substrat, den „tierischen Organismus“. Dass auch der Nihilist von der Romantik abstammt und das romantische Lebensgefühl trotz nihilistischer Gebärden nie ganz verleugnen kann, enthüllt sich an den Begleitumständen seiner Affäre mit Vera. Ausdruck dafür sind die Liebesbriefe auf blauem Papier, die Schüsse als Signal für Vera, die geheimen Treffen in der Gartenlaube am Abhang zur Wolga, wie auch seine Zukunftspläne, – er möchte sich „als Junker bewerben mit der Versetzung in den Kaukasus.“ (Bd. VI, S. 317) Der Kreis schließt sich. Mark wird am Ende wieder zum Junker, zu dem, womit auch Rajskij begann, der gleichfalls einst als Junker diente. Es ist bemerkenswert, dass Gontscharow seinem Nihilisten Motive zuordnet, die auch bei Dostojewskijs Nihilisten im Idiot eine Schlüsselrolle spielen. Es sind dies das Motiv der ursprünglichen Unschuld des Menschen und das Motiv der Rechthaberei. Myschkin bezeichnet Marie, Nastasja und Ippolit, aber auch sich selbst (!) als unschuldig. Ähnlich meint Mark von sich: „Er sei an nichts schuld!“. (Bd. VI, S. 315) Auch die Nihilisten um Burdowskij im Idiot wähnen sich „im Recht“ und bestehen darauf. Ebenso Mark: “Er habe recht, in allem recht…“ (Bd. VI, S. 316). Der emanzipierten Frau Olga Ilinskaja, die sich zwischen Oblomow und Stolz entscheiden muss, entspricht in Die Schlucht Vera. In der chronologischen Abfolge der Episoden ist sie das letzte Objekt der Leidenschaft Rajskijs. Sie hat aber eine tiefe Zuneigung zu Mark gefasst, die sie vor der Umwelt geschickt zu verbergen versteht. Vera nimmt eine Sonderstellung im Roman ein. Marfa sagt von ihr, sie sei „nicht von hier“ (Bd. V, S. 211). Schon bei ihrem ersten Erscheinen wird sie als „eine neue Art Schönheit“ bezeichnet. (Bd. V, S. 241) In ihr ist „irgend etwas Neues“, von dem es heißt, „sie beeindrucke durch die verdoppelte Macht der Schönheit – der äußerlichen und innerlichen…“ (Bd. VI, S. 8). Der Autor betont die Symbolik ihres Namens (russ. „vera“ bedeutet „Glaube“), wenn er Rajskij sagen lässt, „Wenn sie aber lügt, so lebe wohl Vera (= der Glaube), und mit ihr jeglicher Glaube an Frauen!“ (Bd. VI, S. 618) Vera verkörpert nicht nur „den Glauben (russ. „vera“) an die Frau, sondern, wie Rajskij erkennt, „die Liebe an sich zu jedem lebendigen Geschöpf.“ (Bd. VI, S. 162) Rajskij sieht in ihr die Verkörperung des höchsten Ideals der Schönheit der Formen und der Schönheit des Geistes. (Bd. VI, S. 162) Beide verbindet die romantisch-idealistische Lektüre, das Verlangen nach Freiheit und ein Egoismus, der bei Vera in den Stolz mündet und sie schließlich in den Abgrund führt. Während Rajskijs Abwesenheit liest Vera in seiner Bibliothek. Unter Marks Anleitung beschäftigt sie sich mit „Feuerbach und seinen Genossen“, den zeitgenössischen Materialisten und utopischen Sozialisten. Ihr Wunsch nach Freiheit und absoluter Selbstbestimmung findet seinen Ausdruck darin, dass sie nicht im selben 150

Haus wohnt wie die Großmutter, Marfa und Rajskij, sondern allein im alten Herrenhaus. Die bislang angeführten Figuren gehören, zumindest in den hier hervorgehobenen Aspekten, zu den eher negativ akzentuierten Gestalten des Romans. Sie sind Ausdruck einer sich verändernden Welt, deren Werten der Autor skeptisch gegenübersteht. Für den christlich-konservativen Gontscharow ist das Prinzip der Ordnung gleichbedeutend mit dem Leben in der Geborgenheit einer auf unabänderlichen sittlichen Normen beruhenden, wohlgeordneten und hierarchisch strukturierten Welt. Das faustische Suchen, die ewig rastlose Aktivität, sind Ausdruck des entgegen gesetzten Prinzips des Chaos.274 Das Prinzip der Ordnung wird in der Person der Großmutter (= Babuschka) und, in einer der Zeit angemesseneren Variante, vom Forstmann Tuschin verkörpert. Das gegenläufige Prinzip des Chaos wird vor allem von Rajskij repräsentiert, – sein rastloses Wandern beginnt und beendet den Roman. Obgleich Gontscharow Rajskij als „erwachten Oblomow“ bezeichnet,275 ist doch nicht zu übersehen, dass Rajskijs Liberalismus und Fortschrittsglaube eher Stolz – dem Antipoden Oblomows – zuzuordnen sind. Rajskij mangelt es zwar an der Tatkraft und den praktischen Fähigkeiten eines Stolz, um seine Vorstellungen zu verwirklichen, jedoch das faustische Suchen, die Rastlosigkeit eines steten Strebens teilt er mit ihm, während Oblomow sich davon deutlich lossagt. Rajskij sagt von sich selbst, er sei „immer im Kampf… ein Opfer von Zwietracht… ewig unzufrieden, kalt.“ (Bd. V, S. 223) Diese Worte könnten ebenso von Goethes Faust gesprochen werden. Im Gespräch mit Koslow definiert sich Rajskij geradezu als Verkörperung ewiger Unruhe und Veränderung: „Die Menschen stürzen sich nach vorne, suchen sich zu verbessern… das Wort und die Tat, der Kampf sind notwendig.“ 276 (Bd. V, S. 175, 179) In einer zeitgemäßen Form wird das Prinzip des Chaos vom Nihilisten Mark Wolochow repräsentiert, der als Verbannter in die Romanhandlung eintritt und als Flüchtiger aus ihr ausscheidet. So gesehen, erweisen sich Rajskij und Wolochow als Doubletten! Beide sind Menschen, für die Goethes Wort gilt: „Nur rastlos betätigt sich der Mensch... // betrachte nur Vernunft und Wissenschaft, // der Menschen allerhöchste Kraft...“ Aus Gontscharows christlichkonservativer Sicht werden sie damit, allerdings im Gegensatz zu Goethe, zu

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Siehe: R. N.: Nachwort zum Roman Oblomow. Anm. 263. Vgl. Gončarov: Lučše pozdno, čem nekogda. In: SS Bd. 8, S. 117. Sofija erfasst diese Züge Rajskijs, sieht aber zugleich auch ihre Unangebrachtheit im Kontext des russischen Lebens und bezeichnet Rajskij als einen neuen Čackij (Bd. V, S. 26f.). Vgl. damit bei Dostojewskij in Winterliche Aufzeichnungen zu sommerlichen Eindrücken, bzw. im Roman Der Jüngling (Versilov in der Rolle eines Čackij)!

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Vertretern des Chaos. So ist es verständlich, dass Gontscharow auch zwischen den Leidenschaften Rajskijs und Marks Ähnlichkeiten konstatiert. Beide verfolgen unter dem Deckmantel didaktischer Absichten durchaus egoistische Ziele, – sie wollen die Frau zum reifen Leben, zur Leidenschaft erziehen. So könnten folgende Worte Marks an Vera durchaus auch von Rajskij stammen: „Sie sind eine Frau, und dennoch keine Frau, sondern eine Knospe, man muss Sie noch öffnen, in eine Frau verwandeln. Dann werden Sie viele Geheimnisse kennen lernen, von denen Mädchenköpfe nicht träumen.“ (Bd. V, S. 222)

Im Wandel der Generationen sind Rajskij und die Babuschka Teil einer zu Ende gehenden Epoche, Wolochow und Tuschin hingegen die Repräsentanten einer neuen Zeit. Veras Weg führt von der Welt der Babuschka in die Rajskijs, die Welt der sentimental-romantischen Lektüre, und die Welt des Nihilisten Wolochows und weiter in die heile Welt Tuschins:

Tradion

Ordnung

Chaos

(1) babuška

Rajskij (2) Vera

Gegenwart

(4) Tušin

Volochov (3)

Auf der Ebene der Fabel fallen die erste und dritte Episode größtenteils in die Vorgeschichte, Veras Beziehung zu Tuschin bis auf Ansätze in die Nachgeschichte des Romans. Allein die Episode Vera – Rajskij fällt zur Gänze in die Romanzeit. Nichtsdestoweniger ist die thematisch bedeutsame Abfolge der Episoden 1 bis 4 auf der Ebene des Sujets durchgezogen. Wir haben die traditionelle Lesart um die Dimension der Faust-Problematik erweitert, sind ihr aber ansonsten bisher gefolgt. Die Eigenart des Romans, die wohl auch für seine Popularität beim Lesepublikum verantwortlich ist, ist noch nicht in den Blick gekommen. Um sie zu verstehen, müssen wir auf die zwanzigjährige Entstehungsgeschichte eingehen.277 Gontscharow selbst sprach von „Unterschiede beim Schreiben… zwischen den ersten Teilen des

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In der Entstehungsgeschichte lassen sich drei Phasen unterscheiden: 1. 1849-52; 2. 1855-57; 3. 1865-68. In den ersten beiden Phasen entstanden die ersten drei Teile des Romans, in der dritten Phase entstanden der vierte und fünfte Teil.

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Romans, die Ende der fünfziger Jahre begonnen und den letzten, die später geschrieben wurden.“ (Cejtlin, S. 268). Der Kritiker des Russkij vestnik meinte deshalb auch, auch, der Roman „entbehre der künstlerischen Einheit.“278 Gontscharows erster Entwurf aus dem Jahre 1849 unterschied sich tatsächlich in wesentlichen Aspekten von der Endfassung: Rajskij macht nicht nur seine erste große Liebe, Sonja Belowodowa, auf das mühevolle Leben der leibeigenen Bauern aufmerksam und rät ihr, sie frei zu geben. Er sollte am Ende des Romans nochmals mit ihr zusammentreffen und von ihr erfahren, dass sie letztendlich doch seinen liberalen Ratschlägen, die er ihr am Beginn des Romans erteilt hatte, gefolgt war und ihr Landgut nach seinen Vorschlägen umgestaltet hatte, sodass es zu einer wirtschaftlich und sozial vorbildlichen Unternehmung geworden war. Parallel dazu sollten Bilder aus dem glücklichen und in sozialem Frieden dahin fließenden Leben im Dorf der Großmutter stehen. Die Parallele zwischen der wirtschaftlichen Umgestaltung eines Landgutes nach liberalen Grundsätzen und der positiven Darstellung einer traditionellen Landwirtschaft im Dorfe Rajskijs sollte wohl die Vereinbarkeit und Harmonie des konservativen mit dem liberalen Wertesystem illustrieren. Anstelle des Nihilisten Wolochow der Endfassung sah die ursprüngliche Konzeption des Romans nach Gontscharows eigener Aussage eine Figur vor, die eine „starke Persönlichkeit… mit kühnem Willen... gemäß neuen und liberalen Ideen… sein sollte.“ (SS 6, S. 463) In diesem Falle hätte Rajskij in dem ursprünglichen, liberalen Wolochow eine Doublette erhalten. Der „erwachte Oblomow“, ursprünglich einer der „überflüssigen Menschen“ vom Ende der Regierungszeit Nikolaus I., wäre dann in zwei Varianten aufgetreten, – der „schönseligen“, auf Ästhetik und Worte begrenzten Variante eines Rajskij, und einer zweiten, im Geiste der gesellschaftspolitischen Veränderungen der späten vierziger Jahre konzipierten Variante des utopischsozialistischen Rebellen. Die Entwicklung Veras zur emanzipierten Frau war ursprünglich geradliniger und konsequenter gestaltet. Freiheitsliebend und progressiv sollte sie sich anhand der Lektüre von Autoren wie Spinoza, Voltaire, Feuerbach und Proudhon emanzipieren und mit der alten, konservativen Welt ihrer Großmutter brechen, um schließlich dem geliebten Freigeist Mark Wolochow nach Sibirien in die Verbannung zu folgen. Zwei thematische Linien bestimmten das ursprüngliche Konzept: 1. Die Entfaltung der Persönlichkeit der Frau (Vera) im Sinne der emanzipatorischen Prosa der vierziger Jahre und 2. die Darstellung der problematischen

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Russkij vestnik 7, 1869, S. 337. Zit. nach Cejtlin, S. 269.

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Existenz des Künstlers als Repräsentant und Ausprägung spätromantischer Sensibilität, wie auch liberaler, utopischer Zukunftserwartungen. Rajskij sollte wohl als Katalysator im dynamischen Prozess der charakterlichen Entwicklung Veras dienen, – als überaus sensibler Seismograph aller Erschütterungen ihres seelischen Gleichgewichts. Er sollte aber auch die liberale Variante in den progressiven, utopischen gesellschaftlichen Erwartungen der vierziger Jahre ausdrücken, die bei Mark zum revolutionären Handeln führen. Nach dem ursprünglichen Plan vertrat Rajskij das Prinzip der Humanität, das auf Sonja Belowodowas Landgut Verwirklichung fand. So gesehen, sollte Rajskij tatsächlich zu einem „erwachten Oblomow“ werden, der allerdings ähnlich Dostojewskijs Myschkin an den Schwächen des sentimentalromantischen Idealisten krankt, einer überentwickelten Phantasie, mangelnder Tatkraft und eines Hedonismus, der auf dem Boden der durchgehenden Ästhetisierung des Lebens erwächst. Die ersten drei Teile des Romans wurden 1859/60 fertig gestellt, – vermutlich im Großen und Ganzen noch nach dem ursprünglichen Entwurf.279 Im Jahre 1865, als Gontscharow die Arbeit an dem Roman wieder aufnahm, erkannte er, dass ihn die Geschichte überholt hatte, und er modifizierte seinen Plan. Im Sommer dieses Jahres schrieb er an S. A. Nikitenko, dass „die andere wichtige Hälfte [des Romans, d.h. Teil IV und V] alles bedeute…“ (Cejtlin, S. 231). Da der dritte, schon vollendete Teil mit dem ersten Zusammentreffen Veras und Marks schloss, lässt es sich vermuten, dass Gontscharow nunmehr den wesentlichen Inhalt des Romans in der weiteren Entwicklung dieses Verhältnisses sah. Drei Jahre später, als sich die zweite Hälfte des Romans dem Ende näherte, betonte Gontscharow in einem weiteren Brief an Nikitenko vom Juli 1868 ihre Eigenständigkeit: „Die zweite Hälfte wird sozusagen noch einen besonderen Roman darstellen, so muss es sein.“ (Cejtlin, S. 233) Gleichzeitig mit der Neufassung der zweiten Hälfte komplizierte Gontscharow das Verhältnis Veras zu Mark. Veras liberale und progressive Charakterzüge erhielten eine neue moralische Bewertung: Als Abirren vom rechten Weg konservativer Moralauffassung musste ihr Weg in den „Abgrund“ führen. Mark Wolochows progressive Tendenzen wurden verstärkt und eindeutig negativ bewertet. Anstelle des ursprünglich geplanten happy end in der Beziehung Veras zu Wolochow ergab sich ein offener Romanschluss, der an die Romane Dostojewskijs der sechziger Jahre erin-

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Gontscharow betonte selbst die Funktion des I.Teils des Romans als Exposition, als er die Belovodova- und Nataša-Episoden als „aksessuarnye javlenija“ bezeichnete (SS 8, S. 121). Am Beginn des II.Teils erscheint Rajskij im Dorf der Großmutter. Im 16. Kapitel dieses Teils tritt erstmals Vera auf. Im letzten Kapitel des III.Teils wird schließlich Veras Geheimnis, ihre Liebe zu Mark, in einer Retrospektive enthüllt.

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nert.280 Die erste Hälfte des Romans lässt sich so als Exposition für den „besonderen Roman“ der zweiten Hälfte verstehen. Gontscharow war sich der Uneinheitlichkeit in der Struktur des Romans durchaus bewusst. Im Rückblick versuchte er in seinem Aufsatz Absichten, Aufgaben und Ideen des Romans Die Schlucht eine den ganzen Roman erfassende und ihn strukturierende Thematik zu finden.281 Er erklärte darin die Leidenschaft der Liebe (strast’) zum verbindlichen Generalthema und führte selbst einige Varianten der Leidenschaft an. Gontscharow spricht auch von „Parallelen der Leidenschaften“ und klassifiziert sie wie folgt: 1. Die „ernste und feurige“, d. h. existentielle Leidenschaft Veras. 2. Rajskijs Leidenschaft, die seinem romantisch-idealistischen Gefühl entspringt. 3. Tuschins „tiefe, vernünftig-menschliche“ Leidenschaft. 4. Die „blinde“ Leidenschaft Leontij Koslows zu seiner abtrünnigen Frau Ulenka.282 5. Die „wilde, tierische“, d. h. elementare, sinnliche Leidenschaft Sawelijs und Marinas. Dazu kommt noch als zeitgenössische Variante 280

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Bei Dostojewskijs Raskol’nikov und Myškin bleibt offen, ob sie den Weg in die Gesellschaft zurückfinden. Porfirij Petrovič hat Raskol’nikov zwar aufgerufen, „wie die Sonne“ zu werden, ein Vorbild für die Mitmenschen. Fürst Myškin lebt im Wahn im Schweizer Sanatorium, doch Vera (Lebedeva) kümmert sich um ihn. Ob Raskol’nikov den Erwartungen Porfirijs einst entsprechen wird und Fürst Myškin mit Hilfe des Glaubens (vera = Glauben!) und der Liebe (Veras Schwester heißt Ljubov’ = Liebe!) gesundet, bleibt offen. Auch Gontscharow lässt offen, ob Vera zu ihrem Retter Tušin findet. Die Babuška hat es ihm zwar zugesagt, Vera aber zögert. Auch Rajskijs weiteres Schicksal bleibt im Ungewissen. „Menja uvlekali projavlenija strasti v čistoj i gordoj nature zenščiny i bor’ba ee s neju. Voobšče menja vsjudu poražal process raznoobraznogo projavlenija strasti, to-est’ ljubvi, kotoryj, čto by ni govorili, imeet gromadnoe vlijanie na sud’bu – i ljudej i ljudskich del. Ja nabljudal etu igru strasti vsjudu, gde videl ee priznaki, i vsegda poryvalsja izobrazit’ ich, – možet byt’ potomu, čto igra strastej daet chudožniku bogatyj material živych effektov, dramatičeskich položenij i soobščaet bol’še žizni ego sozdanijam... Rabotaja nad ser’eznoj i pylkoj strast’ju Very, ja nevol’no rasševelil i isčerpal v romane počti vse obrazy strastej. Javilas’ strast’ Rajskogo k Vere, osobyj vid strasti Tušina k nej že, glubokaja, razumno-čelovečeskaja, osnovannaja na soznanii i ubeždenii v nravstvennych soveršenstvach Very; dalee, bessoznatel’naja, počti slepaja strast’ učitelja Kozlova k svoej nevernoj žene; nakonec, dikaja, životnaja, no upornaja i sosredotočennaja strast’ prostogo mužika Savelija k žene ego Marine, etoj krepostnoj Messaline. ... vse eti paralleli strastej javilis’ sami soboj.” (SS 6, S. 453f.) Ulen’ka lebt nur wenige Jahre mit ihrem Mann zusammen, dann folgt sie ihrem Liebhaber Monsieur Charles nach St. Petersburg. Ihre Beziehung zu Leontij realisiert Marks „Liebe auf Zeit“, d. h. das nihilistische Verständnis der Liebe als zeitlich begrenzt und physiologisch bedingt.

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6. Wolochows „nihilistische“ Leidenschaft als „Liebe auf Zeit“. Raijskij kommt eine Sonderstellung zu, insofern seine vier „Leidenschaften“ (zu Natascha, Sonja, Marfa und Vera) den Roman von Anfang bis Ende begleiten. Im Gegensatz zu Veras und Tuschins „ernsten“ Leidenschaften werden die Raijskijs und Marks als „unernst“ markiert. Ihnen stellt Gontscharow bewusst ins Karikaturhafte überzogene Leidenschaften gegenüber, von denen die einen wiederum aus existentieller Sicht als „ernst“ (die Leidenschaften Koslows und Sawelijs), die anderen als „unernst“ gewertet werden (die Leidenschaften Marinas, Krickajas und Ulenkas). Die Parallelen der Leidenschaft erhellen sich wechselseitig: In Krickajas Leidenschaft für Rajskij karikiert der Autor das Liebesverständnis Rajskijs und stellt es bloß. Krickajas Selbsteinschätzung gilt gleichermaßen für ihn: „Sie sagt, dass ihre Jugend verging ohne Spuren zu hinterlassen, dass sie nicht in Liebe und Glück lebte, und glaubt, dass ihre Stunde schlagen wird, da sie sich verlieben und ideal lieben wird.“ (Bd. V, S. 205).

Auch Rajskijs ständiges Bemühen, das jeweilige Objekt seiner Leidenschaft zu „erziehen“ findet ein Gegenstück bei Krickaja. Ihr Begleiter ist ein „angereister Jüngling“. Krickajas Ziel ist es: „je veux former le jeune homme, ce pauvre enfant!“ (Bd. V, S. 206) Ähnlich wie bei Raijskij verströmt sich ihre Sucht nach erotischen Begegnungen nur in Worten, – als Raijskij ihr einmal scherzhaft den Liebhaber vorspielt (Bd. VI, S. 71), zieht sie sich verschreckt zurück. Dies entspricht Rajskijs Flucht vor Natascha, als sich ihm diese voll Vertrauen und Liebe zugewendet hat! Für beide, Krickaja und Rajskij ist, wie der Autor deutlich macht, das Ziel eben ein „Spiel mit der Leidenschaft“. Die geheime, sinnliche Wurzel der Leidenschaft Rajskijs tritt bereits am Beginn des Romans hervor, als er Sonja Belowodowa als „Buhlerin“ malen möchte. Später wird ihm am Beispiel seiner eigenen zwiespältigen Einstellung zur Gattin Koslows, der frivolen Ulenka, die Doppelnatur seines Liebesverständnisses klar. Er fragt sich: „Sind alle Träume der Liebe, Tränen, zärtlichen Gefühle nur Blüten, unter denen sich Satyr und Nymphe verbergen?“ (Bd. VI, S. 9) Seine Frage scheint eine positive Antwort zu finden, als er Mark und Vera in der Gartenlaube überrascht und zum Zeugen dafür wird, wie Mark letztendlich als „Satyr“ die „Nymphe“ Vera erobert. So wie Mark verurteilt auch Rajskij das traditionelle Verständnis der Liebe: „Diese heilige, tiefe, erhabene Liebe.“ (Bd. VI, S. 56) Rajskij gelangt eben erst am Ende des Romans zur Einsicht in die Natur der Liebe. Bis dahin tendiert er dazu, sie mit sinnlicher Begierde zu verwechseln. Die liebestolle Marina, in den Augen des Autors eine „lose Frau vom Bauernhof“ (Bd. V, S. 203), wird von ihm als „uneigennützige Priesterin eines Kultes, als ‚Mutter der Wonnen’.“ (ibid.) bezeichnet. Leidenschaft (strast’) als irrationales, keiner Einschränkung oder sittlichen Norm unterliegendes hedonistisches Streben nach Lust-

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befriedigung, Eroberung und Besitz des anderen ist der eigentliche Kern der Liebe für den Idealisten wie auch den Nihilisten. Nicht um Veras Liebe, um ihre Leidenschaft bittet Rajskij: „Schenk’ mir, Vera, schenk’ mir Leidenschaft…“ (Bd. VI, S. 53), – Worte, die auch Mark sprechen könnte! Am Beispiel von Ulenkas Leidenschaft für Rajskij wird die auf Besitz ausgerichtete Tendenz der romantisch-idealistischen Liebe Rajskijs verdeutlicht. Ulenka fleht Rajskij an, und wieder vermeint der Leser Rajskij oder Mark sprechen zu hören: „Seid bloß eine Stunde der Meine – ganz der Meine… ich habe Sie im Traum gesehen, in meinen Fieberphantasien, wusste nicht, wie Sie bezaubern“ (Bd. VI, S. 74). Als Rajskij sich schließlich hinreißen lässt und sie leidenschaftlich küsst, ruft Ulenka „Sie sind mein… mein. Sie sind der Meine… der Meine! Sie sind jetzt mein, und niemandem werde ich Sie überlassen!“ (Bd. VI, S. 78)

Kurz darauf verlässt sie allerdings ihren Ehemann und Rajskij mit Monsieur Charles!283 Die „blinde“ Leidenschaft Koslows wiederum hat eine Parallele in Sawelijs Leidenschaft für Marina. Der Autor setzt diese in Beziehung zu Rajskijs Liebe für Vera, die sich anhand dieser Parallelsetzung ebenfalls als „blind“ erweist: „Auch eine Leidenschaft! – dachte Rajskij, – Armer Sawelij!“ (Bd. VI, S. 62) Diese Parallelen der Leidenschaft, – insgesamt schildert der Roman etwa ein Dutzend Liebesbeziehungen –, lassen sich wie ein Raster der Handlung des Romans unterlegen. Damit wäre Gontscharow allerdings zu einer Thematik zurückgekehrt, die der Romantik angehört und in den sechziger Jahren als zentrales Thema eines Prosawerks nicht mehr glaubwürdig war. Da die im ursprünglichen Plan vorgesehene Realisierung der liberalen Absichten Rajskijs in der Endfassung entfiel und die neue antinihilistische und konservative Zielsetzung erst in die zweite Hälfte des Romans Eingang fand, scheint es, dass tatsächlich nur die Parallelen der Leidenschaft als alle Teile umfassendes Thema gelten können. Aus dieser Sicht ließe sich der Roman als verspätetes Werk einer romantischen Welt- und Lebensauffassung verstehen. Der radikale Journalist Okrejz hat in der Zeitschrift Delo dies auch so gesehen und ironisierend kritisiert.284 283

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Hier ergibt sich eine Parallele zwischen Ulen'ka und Mark. Gončarov weist den Leser darauf hin, indem er Rajskij zu Ulen'ka sagen lässt, „da vy novejšij filosof..., ne smešivaete ljubvi s brakom...“ (Bd. VI, S. 76). Dies entspricht Marks „Liebe auf Zeit“ und entlarvt das Liebesverständnis des Nihilisten, reduziert es auf die Begierde des „Satyrs“, wie es Gončarov an anderer Stelle formuliert. „Ljubovnaja blaž’, stradanija iz-za togo, čto vot popavšajasja nam na glaza ženščina nas ne ljubit, ili stradanija ženščiny iz-za togo, čto ljubimyj čelovek ne chočet na nej ženit’sja i t.d., natjanuty do beskonečnosti. Gončarov vsemi silami staraetsja vydat’ nam vse eto bludlivoe pustoslovie, opravdannoe v izjaščnye frazy, za

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Für einen Leser wie Okrejz war die Thematik der idealistischromantischen Leidenschaft zur „Wollust der Liebe“ abgesunken. Gontscharows Versuch, unter Hinweis auf die Parallelen der Leidenschaft die Einheit des Romans zu retten, war im Rahmen realistischer literarästhetischer Normen verfehlt. Der Mangel an künstlerischer Einheit liegt aber nicht nur in der uneinheitlichen Konzeption der Hauptfiguren, auf die Gontscharow selbst verwies, und dem romantischen Thema der Parallelen der Leidenschaft begründet, sondern reicht tiefer. Jeder Erzähltext – abgesehen von extremen Beispielen avantgardistischer Kunst – beruht auf einem Sujet, worunter die Verknüpfung von Ereignissen, Gegenständlichkeiten, Personen, Gedanken und Gefühlen in einem Raum-Zeit-Kontinuum verstanden wird. Sieht man im Sujet das konstituierende Element des Erzähltextes, dann ist auch das Thema ein Teil des Sujets. Es ist die sinnstiftende Komponente, das, was bei einer fortschreitenden Reduktion des Sujets letztlich übrig bleibt. Betrachtet man Gontscharows Roman vom Standpunkt des Sujets aus, so muss man feststellen, dass den beiden Hälften des Romans unterschiedliche Sujets mit unterschiedlicher thematischer Zielsetzung zugrunde liegen. Insofern diese beiden Sujets einander in ihrer Ausrichtung widersprechen, sind sie für die Unausgeglichenheiten des Romanganzen verantwortlich zu machen. In seinem Aufsatz Die Entstehung des Sujets in typologischer Betrachtung (Proizchoždenie sjužeta v tipologičeskom osveščenii, Lotman 1973) hat Jurij Lotman zwei Entwicklungsstufen in der Geschichte der Entstehung des Sujets unterschieden, den zentralen mythenerzeugenden zyklischen Textmechanismus und den linearisierten oder diskret-linearen Textmechanismus.285 Kennzeichnend für den ersteren, vorliterarischen Textbildungsmechanismus, der dem Mythos entspricht, sind sein zyklischer Charakter und die homöomorphe topologische Organisation, welche Äquivalenzbeziehungen zwischen elementaren Situationen und Personen ermöglicht. Der mythologische Text führt die vordergründige Unordnung der Welt auf Normen und eine Ordnung zurück, die auf der Wiederholung und Gleichsetzung elementarer Lebenserfahrungen und Lebenssituationen beruhen. Der Wandel von Tag und Nacht, der Auf- und Untergang von Sonne und Mond, der Kreislauf der Natur im Wechsel von Sommer und Winter, wie auch der Kreislauf des Lebens von Geburt und Tod, vom Sterben einer alten Welt, oder eines alten

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dramu, za kartinu sovremennoj žizni.“ Novye romany starych romanistov. In: Delo 8, 1869, zit. nach Cejtlin, S. 272. Ju. Lotman: Stat’i po tipologii kul’tury. Tartu 1973. Ders.: Die Entstehung des Sujets – typologisch gesehen. In: Kunst als Sprache. Leipzig 1881. Ders.: Proza Turgeneva i sjužetnoe prostranstvo russkogo romana XIX stoletija. In: Slavica XXIII, Debrecen 1986.

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Gottes, und der Geburt einer neuen Welt, beziehungsweise der Auferstehung Gottes, prägen in ewiger, d. h. anfangs- und endloser Wiederholung den Mythos und machen ihn damit zum Gefäß einer das individuelle wie auch gesellschaftliche Leben umfassenden Sinngebung des Seins. Der zentrale Held des Mythos ist zugleich der Doppelgänger eines jeden Individuums wie auch eines jeden Kollektivs, sei es der Familie, der Nation oder der Menschheit als Ganzem. Im Gegensatz dazu gestaltet der diskret-lineare Textbildungsmechanismus die von der Norm abweichenden, aus der Ordnung heraus fallenden, anormalen und sensationellen, individuellen, einmaligen und zufälligen Begebenheiten. Er führt weg vom Mythos und hin zur Erzählung als Novelle im wortwörtlichen Sinne (italienisch: Neuigkeit). Die Prosaliteratur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit ihrer Affinität zum pikaresken Roman und zur individualisierten, in hohem Maße subjektiven Ich-Problematik sentimental-romantischer Literatur entspricht dem sekundären Textbildungsmechanismus. Erst in der Spätromantik der dreissiger Jahre, so in den Petersburger Erzählungen Gogols, lassen sich wiederum Elemente des primären Textbildungsmechanismus finden. Der realistische Roman vollzog die Wende zu einer Literatur, die das je individuelle Schicksal, das zum zentralen Problem romantischer Literatur geworden war, überstieg und die ganze Gesellschaft in ihrer realen Existenz problematisierte. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Thematik und Sujet so zu gestalten, dass – ähnlich dem Mythos – wieder eine universelle Sinngebung möglich wurde, in der auch das gesellschaftliche Ganze von Staat und Nation in die vom Sujet generierten Äquivalenzbeziehungen einbezogen war. Die Literatur des Realismus tendiert somit zu einer Remythologisierung des Romans oder, wie man mit Lotman auch sagen könnte, zur Generierung von novellistischen Pseudomythen. In diesem Sinne lassen sich z. B. Dostojewskijs KaramasowBrüder zusammen mit ihrem Vater als Komponenten einer Person verstehen, die in eine Äquivalenzbeziehung zum individuellen Leser, aber auch zum Ganzen der Nation treten kann. Nicht zufällig verweist Lotman zur Illustration seiner Thesen auf diesen Roman Dostojewskijs: „Das Doppelgängerhafte aller Brüder Karamasow untereinander und ihre gemeinsame Bezogenheit auf Fjodor Karamasow nach dem Schema Verfall – Wiedergeburt, als völlige Identifikation oder kontrastive Gegenüberstellung, bezeugt die Langlebigkeit dieses mythologischen Modells.“ (Lotman 1986, S. 185)

Als Gontscharow um die Jahrhundertmitte seinen Roman konzipierte, gestaltete er das Sujet noch im Einklang mit dem Literaturverständnis des romantisch-idealistischen Zeitalters als Darstellung individueller Schicksale, deren überindividuelle Aussagen jeweils nur den romantischen Künstler oder die sich emanzipierende Frau, aber nicht das gesellschaftliche Ganze betrafen und auch nicht die universelle Sinngebung der [russischen] Welt zum Thema hatten. Diese letztere Zielsetzung ergab sich erst in den sechziger Jahren im 159

Rahmen des realistischen Romans und der damit einsetzenden Remythologisierung des Romansujets. Gontscharows erstes Sujet (= S1) Zeigt aus dieser Sicht eine größere Affinität zum diskret-linearen Textbildungsmechanismus, während das Sujet der Endfassung (= S2) dagegen zum mythenerzeugenden Textbildungsmechanismus tendiert. S1 ist dem Sujettypus der vorrealistischen Literatur, S2 hingegen dem der realistischen Literatur verpflichtet. Im Rahmen von S1 sind die Babuschka und Tuschin ein Teil des farbenprächtigen Hintergrundes, in S2 werden sie zu Gestalten von nahezu mythologischer Bedeutung. Rajskij, der Held in S1, wird in S2 von einem Subjekt zu einem Objekt der Handlung, ja fast zu einer Randfigur, Veras individuelle, emanzipatorische Bestrebungen in S1 werden in S2 zum Symbol des Zusammenstoßes der Prinzipien von Ordnung und Chaos! Lotman sieht die Originalität des russischen Romans des 19. Jahrhunderts in der Entwicklung eines russischen Sujets im Sinne eines Archisujets, das einem Großteil der russischen Romane des 19. Jahrhunderts, vor allem aber den Romanen Dostojewskijs, zugrunde liegt. Ein Ausgangspunkt dieses Archisujets ist die Wechselbeziehung zwischen zwei Figuren, die Lotman als Dandy und Räuber bezeichnet.286 Dahinter steht als Grundthema die Selbstverwirklichung des Helden. Nach Lotman kommt es bereits bei Gogol zu einer Modifikation des Sujets: Die Rolle des gesellschaftlichen Umfeldes verstärkt sich, die soziale Problematik drängt in die Literatur, in der es jetzt nicht mehr primär um Selbstverwirklichung, sondern um Wesensveränderungen sowohl des Helden, als auch der ganzen Gesellschaft geht. Die Romanfiguren sollen nicht nur ein individuelles Schicksal darstellen, sondern ähnlich den Figuren des Mythos universelle Prozesse, in die jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft eingespannt ist. Die wahrheitsgetreue Darstellung der Realien des Lebens (byt), geht Hand in Hand mit der Verwendung von Allegorie und Symbol. Gerade die großen Romane Dostojewskijs von 1866 bis 1881 haben immer wieder zu einer allegorischen Lesart angeregt und der Symbolcharakter vieler seiner Figuren steht außer Zweifel. Lotmans Entwurf eines Archisujets des russischen realistischen Romans enthält drei wesentliche Komponenten: l. Russland (Rus’, dargestellt als weibliche Figur) und die Opposition von 2. Verderber/Verführer (Pogubitel’/soblaznitel’), 3. Retter/ scheinbarer Retter (Spasitel’ / mnimyj spasitel’). Das Wirkungsfeld des Sujets spannt sich in Bezug auf Russland (Rus’) zwischen den Polen verloren sein (byt’ pogublennoj) und gerettet werden (byt’ spasennoj). Der negative Held kann den Bedeutungsgehalt der Symbolfiguren des Antichrist oder Napoleons in sich aufnehmen und in den Varianten

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Mark sieht in Rajskij „stoličnyj dendizm“ (Bd. V, S. 284); Tyčkov spricht von Mark als „razbojnik“ (Bd. VI, S. 20).

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des romantischen Dämons oder des Rationalisten auftreten. Der positive Held kann in den Varianten des ökonomisch erfolgreich tätigen Menschen (auch als Doublette der Antichristfigur) oder des sittlich hochstehenden, außergewöhnlichen Menschen erscheinen. Mitunter tritt ein Vermittler zwischen den beiden konträren Figuren auf, der als Lehrer des Lebens (učitel’ žizni) fungiert. Es ist augenscheinlich, dass dieses sehr allgemein gehaltene Sujetschema einem Grundkonflikt nicht nur Dostojewskijscher Romane entspricht. Die Oppositionen Raskolnikow : Swidrigajlow (Schuld und Sühne), Iwan Petrowitsch : Fürst Walkowskij (Die Erniedrigten und Beleidigten), Fürst Myschkin : Rogoschin (Der Idiot), Stawrogin (ein scheinbarer Retter) : Peter Werchowenskij (Die Dämonen), Aljoscha : Fjodor Pawlowitsch (Die Brüder Karamazow) entsprechen Lotmans Schema. Auch Beispiele für den Lehrer des Lebens finden sich bei Dostojewskij im Jüngling (Makar Dolgorukij) oder den Brüdern Karamasow (Sossima). Unter Dostojewskijs weiblichen Figuren sind es Sonja (Schuld und Sühne), Nastasja Filippowna (Der Idiot), Marja Lebjadkina (Die Dämonen), die eine symbolhafte, mythische Komponente einschließen, welche sich zu Lotmans Verständnis von Russland als Rus’ in Beziehung setzen lässt, so verschieden sie auf der Ebene der Romanhandlung auch erscheinen mögen. Es ist erstaunlich, dass auch Gontscharows Roman in einem hohen Maße der Grundstruktur dieses Archisujets entspricht. Die Babuschka wird von Gontscharow bewusst und an signifikanter Stelle im Schlusssatz des Romans mit Rus’ in Beziehung gesetzt. Ihre beiden Enkelinnen Vera und Marfa sind wohl ebenso bewusst als Varianten dieser Symbolfigur einbezogen: „Hinter ihm standen immer und riefen ihm zu – seine drei Gestalten: seine Vera, seine Marfenka, die Großmutter. Und hinter ihnen stand und zog ihn mächtiger als sie an sich heran noch eine andere riesenhafte Gestalt, eine andere große ‚Babuschka’ – Russland“. (Bd. VI, S. 352) Die Symbolkraft von S2 wird durch die Analogie zum Urmythos von Tod und Auferstehung, Veras Fall und ihre moralische Rehabilitation und die Andeutung der zyklischen Natur des Geschehens – auch die Babuschka erlebte einst ihren Absturz in den Abgrund – wie im Mythos verstärkt. Dem Verderber Mark Wolochow – Gontscharow nennt ihn auch „Abtrünnigen“(„raskol'nik“) – steht ein scheinbarer Retter in der Figur des Dandy und Künstlers Rajskij und ein Retter in der Figur des sittlich hochstehenden und ökonomisch überaus erfolgreichen Tuschin gegenüber. Vera bittet zuerst Rajskij, dass er sie, wenn nötig mit Gewalt, vom Abgrund fernhalte. Rajskij versagt jedoch, womit Veras „Absturz“ auch zum Ausdruck seines Versagens wird. Erst als Mark noch einen Annäherungsversuch unternimmt und dabei mit Gewalt droht, wendet sich Vera an ihren wahren Retter Tuschin, der Mark zur Aufgabe und Abreise veranlasst.

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Die Rolle des Lehrers des Lebens ist unter den Figuren des Romans verteilt, wenngleich es hauptsächlich die Babuschka und Tuschin sind, die diese Funktion erfüllen. Als scheinbarer Lehrer des Lebens stehen ihnen Rajskij und Mark Wolochow gegenüber, die beide – der eine als Idealist, der andere als Nihilist – unter dem Deckmantel der „Entwicklung der Frau“ Irrlehren verbreiten, die nur auf ein Ziel hinführen, – die Verführung der Frau zur Leidenschaft, oder – in der Sprache des Mythos – den Sturz in den Abgrund, der symbolhaft den Verfall der geistigen und sittlichen Werte Russlands meint, zu dem sowohl der Weg des Idealismus wie auch der des Nihilismus als seine Kehrseite führen. Veras Absturz oder Fall gewinnt in S2 eine mythologische Dimension, wenn ihn der Autor als „eigenmächtigen Genuss („vkušenie“) von diesem uralten Baum der Erkenntnis des Bösen“ (Bd. VII, S. 243) definiert, d. h. ihn mit dem biblischen Mythos von der Verführung Satans und der Vertreibung aus dem Paradies in Verbindung setzt. Die „neue“, aus dem Abgrund auferstandene Vera zeigt neue, christliche Verhaltensweisen, sie hat gelernt „zu leiden und zu dulden.“ (Bd. V, S. 412) Das unmittelbare Erlebnis der verzehrenden Leidenschaft Veras zu Mark und ihr Absturz in den Abgrund bewirken bei Rajskij eine Wandlung. Unmittelbar nachdem Rajskij zum Zeugen von Veras „Absturz“ geworden ist, hat er im Schlaf eine Vision. Es erscheint ihm Vera: „Das Bild Veras in solch verführerischen Schönheit, wie er es bei ihr noch niemals gesehen hatte. Ihre Augen leuchteten wie Sterne, voll der Leidenschaft… eine unwiderstehliche Schönheit der erwachten Vera zog ihn wiederum zur Schlucht, zum Triumph der Liebe.“ (VI, S. 228f.)

In dieser Vision hat eine „Entwicklung der Frau“ stattgefunden und hin zur dämonischen Schönheit der „erwachten Vera“ geführt. Der Leser wird an Dostojewskijs „Schönheit Sodoms“ in den Brüdern Karamasow denken! Aber Veras Abgrund ist auch der Rajskijs. So sagt Rajskij zu Vera, „Du bist ein Abgrund [bezdna], zu dem es mich unwillkürlich zieht…“ (Bd. VI, S. 126). Nicht nur Vera stürzt in den Abgrund und erfährt danach eine Läuterung, auch Rajskij, erschüttert vom Erlebnis des Falls Veras, geht durch seinen Abgrund und wird am Ende, als er den illusionären Charakter seiner Vision erkennt, zu einem geläuterten Rajskij, der nicht mehr blind der Leidenschaft frönt. Seine frühere Leidenschaft zu Vera wandelt sich zu tiefem Mitleid. Vera erkennt diese Veränderung und spricht von einem „neuen“ Rajskij (Bd. VI, S. 240). Diese Wandlung betrifft jedoch nur sein Liebesverständnis und lässt seine Weltanschauung unangetastet, verstärkt sogar seine Suche nach dem Ideal der Schönheit in der Kunst, die nun in noch stärkerem Maße zum Ziel seines Lebens wird. Darin erfüllt sich die Tragik des idealistischen Dilettanten Rajskij, der die Sensibilität des Künstlers, aber nicht die Fähigkeit der Umsetzung seiner Visionen in Worte, Farben und Formen besitzt.

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Weder in der Liebe noch in der Kunst kann sich der Idealist und Romantiker verwirklichen. Der mythologische Raum zeigt eine besondere topographische Gliederung. Eine zentrale Funktion kommt der Grenze zu, die Tag und Nacht, Leben und Tod trennt. In Gontscharows Roman üben diese Funktion Abgrund und Fluss aus. Diesseits der Wolga ist der Abhang (= die Schlucht), der zum Fluss hinab führt. Er ist verflucht, seit dort ein Doppelmord aus Eifersucht geschah. (Bd. V, S. 63) „Vom Grund dieser verfluchten Schlucht erhob sich eine Wolke und bedeckte uns alle…“, spricht die Babuschka (Bd. VI, S. 329). Wer den Fluss überqueren will, muss den Abgrund der Schlucht durchschreiten, an sich ein Bild voll Symbolik und mythologischen Assoziationen. Veras „Fall“ vollzieht sich im Abgrund der Schlucht, durch welche die Wolga fließt. Ihre Treffen mit Mark finden dort statt. Am Zaun des Apfelgartens, der die Grenze zwischen dem großen Anwesen Rajskijs und der Schlucht bildet, lernt sie Mark kennen. Am Rande der Schlucht liegt Malinowka, Rajskijs Gut, das als biedermeierlicher locus amoenus geschildert wird.287 „Ein Idyll, Einfachheit und Liebreiz“ kennzeichnen es. „Die Natur selbst hatte ihm [Rajskij] eine freundliche Zuflucht bereitet,… (Bd. V, S. 132). Malinowka selbst ist wiederum zweigeteilt. Im Bereich des Gutes stehen zwei Häuser, ein kleines, in dem die Babuschka mit Marfa wohnt. Von ihm schreibt Gontscharow: „Auf das kleine Häuschen strahlte vom Morgen bis zum Abend heiß die Sonne, die Bäume hielten Abstand zu ihm, um ihm Raum und Luft zu geben.“ (Bd. V, S. 53) In der Tiefe des Hofes steht das alte Haus: „Düster, fast immer im Schatten, grau, abgeblätterte Farbe, stellenweise mit eingeschlagenen Fenstern“ (ibid.), in dem sich einst die alte Bibliothek Rajskijs befand und wo Vera ein Zimmer bewohnt. Der Kontrast scheint bewusst gewählt und wirkt symbolhaft, das Schicksal Veras vorwegnehmend, die sich in ihrem Emanzipationsstreben von der Gemeinschaft zurückgezogen hat, deren Weg vom dunklen Haus in den noch dunkleren Abgrund führt. Doch Vera ist nicht hilflos dem Abgrund ausgeliefert. Jenseits der Wolga warten Natascha und Tuschin, bereit ihr zu helfen. Jenseits der Wolga, in Steppe und Wald, liegt das gesunde, künftige Russland. Dort steht das Pfarrhaus, wo Natascha wohnt, die Gattin des Popen. Bei ihr weilt Vera oft zu Gast, um sich zu erholen und neue Kraft zu schöpfen. Vera bezeichnet

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Rajskij spricht von „prostota form žizni, eta opredelennaja tesnaja rama, v kotoroj prijutilsja čelovek i pjat’desjat – sest’desjat let živet povtorenijami, ne zamečaja ich“. (Bd. V, S. 188) „Babuška, Marfen’ka, daže Leontij – vse našli svoju točku opory v žizni, stali na nee i [stali] ščastlivy”. (Bd. V, S. 190) Dies erinnert an das biedermeierliche Schlusswort in Stifters Roman Der Nachsommer, in dem es heißt, alles hätte nun „Einfachheit, Halt und Bedeutung“ gefunden. Vgl. auch Anm. 263.

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sie als ihren Doppelgänger (Bd. V, S. 246). Natascha ist Ausdruck der geistigen und sittlichen Werte der Orthodoxie, aus denen Vera immer wieder neue Kraft schöpft. Von jenseits der Wolga kommt auch der Retter Veras und – auf der mythischen, allegorischen Ebene – Russlands, der Forstmann und Gutsbesitzer Tuschin. Er war im ersten Plan des Romans nicht vorgesehen und wurde von Gontscharow erst im Zuge der Arbeit an der zweiten Hälfte des Romans entworfen. Im Gegensatz zu Rajskij ist er durch und durch realitätsbezogen, seine Persönlichkeit ist „unromantisch“. (Bd. VI, S. 318) Tuschin verkörpert die Harmonie von Geist, Gefühl und Leben.288 (Bd. VI, S. 320) Intellektuelle und sittliche Kraft sind harmonisch in ihm vereint und mit einem starken Willen gepaart. In ihm verkörpert sich das unbewusste, natürliche, fast makellose System des tätigen Lebens. (Bd. VI, S. 319) Sein Sägewerk und Landgut werden als utopische, glückliche und wohlgeordnete Welt beschrieben. Er ist der Fährmann, der Vera sicher über den Fluss und die Schlucht führt. Sein Angebot an Vera ist: „Wenn das Gewitter los schlägt, Vera Wassiljewna, – dann retten Sie sich jenseits der Wolga in den Wald: Dort lebt der Bär, der Ihnen gehorchen wird… wie es die Märchen erzählen.“ (Bd. VI, S. 85). Der Autor selbst betont die märchenhaften und mythologische Ausmaße erreichenden Assoziationen dieser Gestalt. „Märchen, Wald, Bär“ sind sozusagen topographische Zeichen, die Tuschin als „Herr über das Land und den Wald“ in einen Raum versetzen, der leicht als volkstümlich verfremdetes Bild Russlands zu erkennen ist. Diese Symbolik setzt sich unter Einschluss der Figur Veras fort, als Tuschin ihr seine Liebe gesteht und sie bittet, „Seien Sie meine Herrscherin [Zaritza]. (Bd. VI, S. 250) Der Roman lässt offen, ob Vera zu Tuschin findet, deutet aber ein Zueinanderfinden an. Die Babuschka selbst verspricht Tuschin: „Sie [Vera] wird Ihre Frau sein“. (Bd. VI, S. 331) Jenseits des Flusses liegt auch das Dorf der Babuschka mit dem symbolträchtigen Namen Novoselovo [= Neudorf], in das sich Vera und die Großmutter am Ende des Romans zurückziehen, um ein neues Leben zu beginnen. Von jenseits der Wolga stammt auch der junge, unkomplizierte Wikentjew, der sich Marfa zur Frau holt. Diesseits der Wolga steht unweit der Schlucht eine kleine Kapelle mit einer Christusikone (Bd. VI, S. 95), zu der Vera immer wieder zum Gebet flüchtet. Kapelle und Schlucht sind symbolhafte Markierungen zweier Lebensbereiche. Gontscharow betont ihre Opposition: Vera verspricht Rajskij, nicht mehr in die Schlucht zu gehen (Bd. VI, S. 153). Als Marks Zeichen, ein Schuss, ertönt, reißt sich Vera von Rajskij los, „rannte zur Schlucht“ (Bd. VI,

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„Eto bessoznatel’nyj, novyj čelovek, kak ego vykroila sama žizn’... Tušin – ... naše pročnoe buduščee“. (SS 8, S. 135) „Vse Tušiny soslužat službu Rossii, razrabotav, doveršiv i upročiv ee preobrazovanie i obnovlenie“ (ibid., S. 136).

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S. 154). Dann erinnert sie sich an ihr Versprechen, zögert und „tat noch einen Schritt zur Schlucht zu, kehrte dann aber um und ging langsam zur Kapelle“ (ibid.). Als sie an der Schwelle der Kapelle steht, ertönt ein weiterer Schuss Marks. Vera „stürzte ungestüm über die Wiese zur Schlucht“ (ibid.). Die Christusikone in der Kapelle und der Nihilist Mark in der Schlucht sind die beiden Entscheidungsmöglichkeiten Veras. Als sie sich von der Christusikone löst, ihr eben gegebenes Versprechen bricht und zu Mark läuft, hat Vera die Entscheidung vorweggenommen. Es bleibt nur mehr die Schlucht, der Sturz in den Abgrund: „Vor ihr lag nur die Schlucht, tief wie ein Grab.“ (Bd. VI, S. 244) Beides sind Synonyme für ihren Fall und entsprechen dem mythologischen Ursujet vom Tod, auf den die Auferstehung folgt. Malinowka und die Landschaft zu beiden Seiten der Wolga stellen den zentralen Bereich des mythologischen Raumes dar. Darüber hinaus besteht ein peripherer Bereich, im Roman als „Petersburg und die Welt“ und „das universelle Petersburg" (Bd. V, S. 8) bezeichnet. Nach Lotman hat der zentrale Bereich die Funktion eines Strukturmodells der [russischen] Welt, während der periphere Bereich die eines Archivs von außergewöhnlichen Begebenheiten (Lotman 1986, S. 190) einnimmt. Rajskij, Koslow und Wolochow kommen von der Peripherie. Dort spielen sich drei der vier Leidenschaften Rajskijs ab. Rajskij und Wolochow kehren am Ende des Romans an die Peripherie zurück: Rajskij fährt über St. Petersburg ins Ausland, Wolochow zieht in den Kaukasus. Auch damit betont der Autor ihre Irrelevanz für den zentralen Bereich des Romans. Allein Koslow fügt sich in das Leben auf Malinowka ein. Vera findet in der fürsorglichen Liebe der Babuschka den Weg zurück in die heile Welt Tuschins. Damit wird sie zum Symbol für das christliche Russland, das dem Abgrund, in das es die Entwicklung von der Romantik bis zum Nihilismus zu stürzen droht, aus der Sicht des Autors letzten Endes doch noch entkommen soll. Das Thema der existentiellen Langeweile, bzw. die Problematik des ästhetischen Menschen und die Parallelen der Leidenschaft erweisen sich so als Teilaspekte des Romans, dessen wesentliches Anliegen, wie die vorliegende Analyse zeigen soll, weit darüber hinausgeht. Gontscharow stellt in Die Schlucht nicht nur dieselben existentiellen Fragen zur Zukunft Russlands, die wir in Dostojewskijs und Tolstojs Romanen behandelt finden, sondern hat als erster ein Sujet verwirklicht, das für den realistischen Roman in Russland bestimmend wurde. Gontscharow begann 1865 an der zweiten Hälfte des Romans zu schreiben, d. h. im selben Jahr, als Dostojewskij die erste Version von Schuld und Sühne entwarf. Gontscharow beendete sein Schaffen als Romanautor an dem Punkt, an dem Dostojewskij mit dem ersten seiner großen Romane begann. Das in den Grundzügen weiter oben skizzierte Archisujet mit seinen drei tra165

genden Säulen: Russland (verkörpert durch eine weibliche Gestalt), Verderber, Retter [Rus’/ pogubitel’ / spasitel’], das auch den großen Romanen Dostojewskijs zugrunde liegt, fand in Gontscharows Die Schlucht erstmals eine gültige Verwirklichung. Darin liegt die Bedeutung dieses Romans in der Geschichte des realistischen Romans in Russland und die Faszination, die er seit seiner Veröffentlichung auf den Leser ausgeübt hat.

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III. Jahrhundertwende und Sowjetliteratur 1.

Avantgarde und Avantgardismus

Die literarische und künstlerische Avantgarde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist immer wieder Gegenstand theoretischer Überlegungen und kritischer Diskussionen. In den osteuropäischen Literaturen wurde der Begriff Avantgarde seit den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder häufig diskutiert und hat eine Aufwertung erfahren. Die International Comparative Literature Association widmete diesem Thema ihren V. Kongress in Belgrad (1967). Zehn Jahre später fand das internationale Symposion Književnost – Avangarda – Revolucija in Zagreb statt (1977).289 Im selben Jahr erschien ein Sonderheft der Zagreber Zeitschrift Umjetnost riječi, das Fragen der Avantgarde gewidmet war und die Vorträge einer gemeinsamen Tagung der literaturwissenschaftlichen Institute der ungarischen Akademie der Wissenschaft und der Universität Zagreb publizierte. In die Zeit zwischen diesen Daten fällt das Erscheinen von Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (Ed. Suhrkamp SV 727, 1974) und die Reaktion darauf in den Antworten..., herausgegeben von W. N. Lüdke (Ed. Suhrkamp SV 825, 1976), sowie die Publikation von Aleksandar Flakers Buch über Stilformationen ( Stilske formacije, Zagreb, Liber 1976), von dem ein Großteil der Avantgarde als internationalem Phänomen und insbesondere der russischen Avantgarde gewidmet ist. Damit seien einige wenige Hinweise für das Interesse an diesem Schlüsselbegriff der modernen Kunst und Literatur in den sechziger und siebziger Jahren gegeben.290 Obgleich Flaker in Stilske formacije Zweifel daran äußert, ob die Avantgarde als übernationale Stilform gesamteuropäischer Geltung aufzufassen sei, so sind doch die meisten Literaturhistoriker der Ansicht, dass den Stilrichtungen des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts gemeinsame literarästhetische Zielsetzungen und Tendenzen zu eigen sind, die es erlauben, sie unter dem Oberbegriff Avantgarde zusammenzufassen.

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Nicht zuletzt als Folge dieses Symposions und eines Projektes an der Zagreber Universität entstand unter der Leitung von Prof. A. Flaker ein Begriffswörterbuch zur Avantgarde! Weitere der Avantgarde gewidmete Veranstaltungen der sechziger Jahre sind bei L. Illes angeführt: Die Avantgarde als künstlerische Haltung. In: Actes du V-e Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée, Amsterdam 1969, S. 335f.. Siehe auch Flaker: Poetika osporavanja. Avangarda i književna ljevica. Zagreb 1982, S. 9-19.

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Die Geschichte dieses Begriffes wird seit den frühen sechziger Jahren von der Wissenschaft erfasst.291 So scheint er im Französischen bereits seit der Renaissance als Metapher verwendet worden zu sein. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beschreibt Etienne Pasquin damit einige Schriftsteller.292 Des Weiteren haben Saint-Simon und seine Anhänger viel zu seiner Semantik beigetragen. Saint-Simon selbst verwendete ihn nicht, wies aber dem Künstler die Rolle einer Vorhut in der gesellschaftlichen Entwicklung zu. Schon 1820 hatte Saint-Simon in Lettres de H. de Saint-Simon à Messieurs les Jurés die vorrangige Rolle des Künstlers herausgestellt: ,,Neue Überlegungen haben mir bewiesen“, schrieb er, „dass die Sache vorangehen sollte mit dem Künstler in der Führung, gefolgt vom Wissenschaftler, und dass die Industriellen nach diesen beiden Klassen kommen sollen“ (Calinescu, S. 102). In seiner Schrift De l’organisation sociale (1825) führte er diesen Gedanken weiter aus. Er schrieb dort vom „Triumphmarsch der Menschheit“ in eine schönere Zukunft und fügte hinzu: „ ... dans cette grande entreprise, les artistes, les hommes à imagination ouvriront la marche ; ils ôteront au passé l'âge d'or pour en enrichir les générations futures; ...ils chanteront les bienfaits de la civilisation, et ils mettront en œuvre, pour atteindre leur but, tous les moyens des beaux arts, l'éloquence, la poésie, la peinture, la musique, en un mot, ils développeront la partie poétique du nouveau système."

Olinde Rodriguez, einer seiner Schüler, bezeichnete den Künstler geradewegs als Avantgardisten in einem Essai L’Artiste, le Savant et l’Industriel. Dialogue (1825): „C’est nous, artistes, qui vous servirons d’avantgarde; la puissance des arts est en effet la plus immédiate et la plus rapide. Nous avons des armes de toute espèce: quand nous voulons répandre des idées neuves parmi les hommes, nous les inscrivons sur le marbre ou sur la toile; nous les popularisons par la poésie et la chant; nous employons tour-à-tour la lyre ou le galoubet, l’ode ou la chanson, l’histoire ou le roman; la scène dramatique nous est ouverte, et c’est là surtout que nous exerçons une influence électrique et victorieuse. Nous nous adressons à l’imagination et aux sentiments de l’homme: nous devrons donc exercer toujours l’action la plus vive et la plus décisive; et si aujourd’hui notre rôle parait nul ou au moins très secondaire, c’est qu’il manquait

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292

Renato Poggioli: Teoria dell’arte d’avanguardia. Società editrice il Mulino 1962 (engl. Ausg. 1968); Andrian Marino: Essai d’une définition de l’avantgarde. In: Revue de l'Université de Bruxelles, 1 (1975), S. 64-120; Matei Calinescu: Faces of Modernity: Avantgarde, Decadence, Kitsch. Indiana University Press 1977 ; Hannes Böhringer: Avantgarde – Geschichte einer Metapher. In: Archiv für Begriffsgeschichte XXII (1978), S. 90-113; Književnost–avangarda–revolucija. In: Umjetnost riječi, XXV, 1981 (Sonderband), u. a. Calinescu, S. 98.

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aux arts ce qui est essentiel à leur énergie et à leur succès, une impulsion commune et une idée générale" (Calinescu, S. 284).

Ein weiterer Schüler Saint-Simons versuchte dieser Auffassung eine theoretisch fundierte Grundlage zu geben. D. Laverdant schrieb 1845 in De la mission de l'art et du rôle des artistes: „L’art, expression de la Société, exprime, par son essor le plus élevé, les tendances sociales les plus avancées; il est précurseur et révélateur. Or, pour savoir si l'art remplit dignement son rôle d’initiateur, si l'artiste est bien d’avantgarde, il est nécessaire de savoir où va l’Humanité...“293

Es ist von einigem Interesse, dass einer der großen russischen Schriftsteller sich in seiner Jugend diese Vorstellungen von der avantgardistischen Rolle der Kunst zu eigen gemacht hat. F. M. Dostojewskij, der im Kreise Petraschewskijs mit dem Gedankengut des utopischen Sozialismus bekannt wurde, hat in seinen Aussagen vor dem Untersuchungsrichter (1849) in teilweise fast wörtlicher Übereinstimmung die Einschätzung des Künstlers durch die Saint-Simonisten wiederholt : „Die Literatur ist eine der Ausdrucksweisen des Lebens des Volkes, sie ist ein Spiegel der Gesellschaft. Zusammen mit der Bildung, der Zivilisation (d. h. der Kultur) erscheinen neue Begriffe, die einer Definition, einer Benennung – und zwar einer russischen – bedürfen, um dem Volk weitergegeben zu werden; denn das Volk kann sie im gegenwärtigen Fall nicht benennen, da die Zivilisation (Kultur) nicht von ihm ausgeht, sondern von oben kommt. Nur jener Teil der Gesellschaft kann sie benennen, der vor dem Volk die Zivilisation (Kultur) angenommen hat, d. h. die obere Schicht des Volkes, die für die Aufnahme dieser Idee schon vorgebildete Klasse. Wer also formuliert neue Ideen in einer solchen Form, dass das Volk sie versteht, – wer also, wenn nicht die Literatur!“294

Nach den utopischen Sozialisten spaltet sich die Entwicklung des Begriffes. Die Marxisten und Sozialisten übernehmen ihn mit einer ausgesprochen politischen Akzentuierung. Kropotkin gibt in der Schweiz 1878 eine Zeitschrift L’Avantgarde heraus, der in der Folge weitere mit ähnlichen Titeln folgen.295 Lenin schließlich bezeichnet die Partei als die Avantgarde des Proletariats in seiner Schrift Was tun? (Čto delat’ ? 1902). Andererseits gewinnt das Wort Avantgarde in den beiden ersten Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende eine neue semantische Dimension und bezeichnet nun vor allem die antitraditionalistischen Richtungen der modernen Kunst und Literatur. 1912 sprach Guillaume Apollinaire von Picasso, Derain und den Futuristen als Avantgar293 294 295

Calinescu, op. cit., S. 102-104 u. 284; Poggioli, S. 9f.; Marino, S. 68. Zit. bei R. N.: Das Frühwerk Dostojewskijs. Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch. Heidelberg 1979, S. 161f. Böhringer, op. cit., S. 101f.

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de. 1925 erschien die erste Auflage einer Studie von Guillermo de Torre: Literaturas europeas de vanguardia (Neuauflage 1965 und 1971). Seit den zwanziger Jahren war Avantgarde als Sammelbegriff modernistischer Strömungen weithin in Verwendung. Die antitraditionalistische Kunst nach dem 2. Weltkrieg wurde schließlich im Rückblick als Neoavantgarde bezeichnet. In den sechziger Jahren sprach man einerseits vom Tod der Avantgarde (vgl. Leslie Fiedler: Death of Avantgarde Literature), andererseits begann zur selben Zeit das wissenschaftliche Interesse an dem historischen Phänomen der Avantgarde zu wachsen.296 Die Problematik in der Verwendung des Begriffes ergibt sich aus seiner Geschichte. Drei Bedeutungskomplexe charakterisieren ihn: 1. der militärische Inhalt, der im übertragenen Sinn Antagonismen, Kampf, Feindbilder, Aggressionen, Revolte u. ä. ausdrückt; 2. der politische Inhalt, der seit den Frühsozialisten Saint-Simon und Fourier, den Marxisten des 19. Jahrhunderts bis hin zu Lenin diesem Begriff eine gesellschaftspolitische Dimension gegeben hat. Avantgarde bezeichnet so gesehen die Träger einer progressiven Ideologie; 3. der antitraditionalistische Inhalt in bezug auf Kunst und Literatur, wie er seit etwa 1910 in den modernistischen Richtungen der Zeit zum Ausdruck kommt. Orientiert man sich primär am ersten und ursprünglichen Bedeutungskomplex, dann kann man der Avantgarde nur die Bedeutung einer künstlerischen und literarischen „Vorhut" (vgl. die Kapitelüberschrift The Poets of the Advance Guard bei Poggioli, The Poets of Russia, Kap. VIII, 1960) zuerkennen. In diesem Sinne hat bereits Mario de Micheli in Le avanguardia artistiche del novecento (Milano, 1959) diesen Begriff auch für literarische Tendenzen des neunzehnten Jahrhunderts verwendet. Dem entsprach auch die Definition des Begriffes in einem damals neuen Handbuch literarischer Fachbegriffe.297 Dort lesen wir : „Avantgarde, die (frz. Vorhut). Sammelbegriff für Vorkämpfer einer nach Form und Gehalt neuen literarischen Richtung, die sich gegen den Widerstand von Bestehendem durchzusetzen sucht; sie hört in dem Augenblick auf als Avantgarde zu bestehen, da sie ihr Ziel erreicht und die eigene Norm als verbindlich installiert; im Zeitalter der Omnipotentialität einer pluralistischen Konsumgesellschaft hebt sich der Begriff auf.“

Die von Otto Best angenommene Aufhebung der Avantgarde bedarf eines Kommentars, der weiter unten folgt. Der Definition von Best steht die am häufigsten vertretene Auffassung von der Avantgarde als literarischer Bewegung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entgegen. In der vorliegenden Studie soll der Begriff Avantgarde

296 297

Vgl. Calinescu, S. 121. Siehe auch M. Reich-Ranicki: Die Avantgarde ist tot – es lebe die Veränderung. In: Die Zeit vom 5. Feb. 1965. Otto F. Best. Fischer Taschenbuch 6092 (überarbeitete Ausgabe), 1973.

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jedoch im Sinne von Best verwendet werden. Die „Avantgarde“ des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts wird hier des weiteren als Avantgardismus bezeichnet.298 Dieser Avantgardismus, dessen Grenzen bei Poggioli und Flaker mit 1910 und 1930, bei Szabolci u. a. mit 1905 und 1938 angegeben werden, ist als literarische Richtung widersprüchlich, da es nahezu unmöglich ist, ihn als ein in sich schlüssiges ästhetisches Normengefüge darzustellen, ohne dabei den vielfältigen Tendenzen innerhalb der avantgardistischen Richtungen der Zeit Unrecht zu tun. Grundsätzlich ist in der wissenschaftlichen Literatur ein Schwanken zwischen zwei gegensätzlichen Zuordnungen festzustellen. Für Bürger wie auch Flaker sind es primär, wenn nicht ausschließlich, die antibürgerlichen, linksorientierten, die Russische Revolution bejahenden Gruppen, die als avantgardistisch gelten. Dem entsprach auch die Formulierung des sowjetrussischen Literaturwissenschaftlers D. Zatonskij, der in seinem Essai Was ist Modernismus? (Čto takoe modernizm?) in der Zeitschrift Kontext 1974 den sowjetrussischen Standpunkt darlegte: „Die avantgardistische Kunst war meiner Ansicht nach das typische Produkt der beginnenden revolutionären Epoche, sozusagen ‚Kinderkrankheiten’ ihrer ‚linksradikalen Abweichungen’“ (= ее levackich zagibov, S. 147). Demgegenüber sah H. E. Holthusen in seinem Buch Avantgardismus und die Zukunft der modernen Kunst (München 1964) in ihm ein primär bürgerliches Phänomen! In dieser Arbeit sollen primär drei Fragestellungen behandelt werden: 1. Kann man Avantgardismus als Wesensbegriff zur Bezeichnung eines literarästhetischen Normensystems, d. h. einer literarischen Richtung oder Strömung eigener Prägung im frühen zwanzigsten Jahrhundert verwenden? 2. Gibt es in der Geschichte der neueren Literatur bereits vor dem zwanzigsten Jahrhundert literarische Richtungen, die als Avantgarde bezeichnet werden können und gemeinsame Merkmale aufweisen, die eine solche Benennung rechtfertigen? 3. Hat das zwanzigste Jahrhundert – zumindest in den entwickelten Industrienationen – vielleicht eine grundlegend neue gesellschaftliche Situation geschaffen, die auch das Phänomen der Avantgarde beeinflusst? Die ersten beiden Fragen sollen anhand der Geschichte der russischen Literatur nur für diesen Bereich beantwortet werden.

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Wird der Begriff „Avantgarde“ in Anlehnung an die heute vielfach verbreitete Usance im Sinne von Avantgardismus zur Bezeichnung einer Periode der Literaturgeschichte zu Beginn des 20. Jh.s verwendet, so steht er wie hier in Anführungszeichen.

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1. Der Avantgardismus.

Eine ausführliche und systematische Darstellung der Merkmale des Avantgardismus findet sich in den Schriften Aleksandar Flakers.299 Es fällt auf, dass bei Flaker wie auch bei anderen Autoren Avantgardismus primär als das definiert wird, was er nicht ist, d. h. negativ als Überwindung der „Ästhetischen Normen des Realismus“, des ,,Ästhetizismus der Moderne“, des „Transzendentalen des Symbolismus“ und des „Dekorativen der Moderne“ (so Flaker in Band 19 des Neuen Handbuchs der Literaturwissenschaft). Weitere Kennzeichen dieser Art, die bei Flaker angeführt werden, sind: - Ästhetische Umwertung, bzw. das Niederreißen bestehender ästhetischer Normen und die permanente Negierung kanonisierter Strukturen; - Antiästhetizismus und die Aufhebung der Trennung zwischen dem Ästhetischen und dem Unästhetischen; - Depersonalisierung, d. h. Zerschlagung des Bildes des Menschen als Zentrum der Kunst, und Dehumanisierung, d. h. Betonung des Maschinellen und Automatischen einerseits, des Chaotischen und Irrationalen andererseits; - Zerschlagung des „euklidischen“ Bezugs von Zeit und Raum und im Zusammenhang damit Manipulation von Zeit- und Raumebene; - Negierung der Sprachlogik, Zerstörung der Syntax und Semantik sowie der traditionellen sprachlichen Assoziationen und die Dehierarchisierung von Literatur und Kunst. Neben diesen Merkmalen stehen einige positive : - Assoziativer Strukturaufbau der Texte; - Lexikalische Innovationen und semantische Bereicherungen; - Streben nach offenen und unverbindlichen Formen sowie eine Tendenz zur Groteske und zum Absurden; - Einschluss metatextlicher Äußerungen im Text; das Manifest wird zur literarischen Gattung. Alle angeführten Merkmale lassen sich in Bezug setzen zu der zentralen Intention des Avantgardismus – der radikalen Dekanonisierung (M. Bakoš),300 bzw. ästhetischen Umwertung (A. Flaker), wobei es charakteristisch 299

300

Je li pojam Avangarda potreban? In: Umjetnost riječi, XV, 2 (1971); Die Entstehung der Avantgarde und des Expressionismus bei den Slawen. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 19, Wiesbaden 1976; Stylistic Formation. In: Neohelicon 1-2 (1975); Futurizam, Ekspresionizam ili Avangarda u ruskoj kniževnosti. In: Zbornik za slavistiku, 11, 1976; Stilske formacije, Zagreb 1976; Wie funktioniert ein avantgardistischer Text oder Majakovskijs Verserzählung Pro êto. In: Teorijska istraživanja. 1. Teorija recepcije, Beograd 1980 (S. 81-90); Poetika osporavanja, Zagreb 1982. M. Bakoš: Problemy literarnej avantgardy. Bratislava 1968, S. 10. Vgl. H. Günther: Die These vom Ende der Kunst in der sowjetischen Avantgarde der 20er Jahre. In:

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ist, dass der Avantgardismus einerseits ästhetische Werte als solche ablehnt (Antiästhetizismus), andererseits, wie Bürger gezeigt hat, einen ästhetischen Universalismus vertritt (generelle Verfügbarkeit aller ästhetischen Normen der Vergangenheit und Gegenwart) und darüber hinaus nach Günther ,,die ästhetische Funktion auf neue Bereiche ausweitet“. Bürger, der das Verhältnis von Literatur und Leser analysiert hat, nennt als oberstes Prinzip des Avantgardismus den „Schock des Rezipienten“. An zweiter Stelle steht bei ihm die Selbstkritik der Kunst als Kunst (d. h. die Verneinung der Kunst als solcher und die Tatsache, die Kunst in Lebenspraxis überzuführen). Soweit in einer knappen Zusammenfassung die Thesen, die für den Avantgardismus als literarisches Normensystem eigener Prägung angeführt werden. Bereits aus dieser Zusammenstellung wird ersichtlich, dass die negativen Merkmale des Avantgardismus größtenteils allgemeiner Natur sind und Phänomene beschreiben, die generell bei der Ablösung literarischer Richtungen auftreten. Dies gilt bis zu einem gewissen Maße auch für einige der positiven Kennzeichen, wie etwa lexikalische und semantische Bereicherung und Streben nach offenen Formen. Zugleich deuten die angeführten Merkmale die Schwierigkeit an, im positiven Sinne verbindliche literarästhetische Normen für den Avantgardismus zu finden. Dies führt u. a. auch dazu, dass verschiedene Autoren jeweils verschiedene literarische Gruppen zum Avantgardismus zählen. J. Holthusen, der die Periode von 1918-1923 als das eigentliche Kerngebiet des Avantgardismus bezeichnet hat, nennt die Gruppe der Skythen und Autoren wie Remisow, Belyj, Samjatin, Jesenin und einige andere, die trotz aller individuellen Verschiedenheit doch gewisse gemeinsame Merkmale aufweisen. Dazu rechnet er den „antibürgerlichen Affekt“, die „Sympathie für soziale Revolution“, die „Befreiung von ästhetischen Fesseln“ und die „Regression auf ursprüngliche menschliche Befindlichkeit“. Die von Holthusen genannten Autoren haben allerdings kaum etwas mit dem Futurismus gemein, der sonst eine zentrale Position im Avantgardismus einnimmt. So zählt R. Poggioli den Futurismus, Ego-Futurismus, Imaginismus und Konstruktivismus zum Avantgardismus, verneint allerdings die Frage nach einem verbindlichen literarästhetischen Normensystem. Auch Flaker lässt den Avantgardismus mit dem Futurismus beginnen, bezieht aber auch die Prosa von Belyj, Andrejew und Rosanow unter der Bezeichnung „Avantgardistische Bestrebungen“ ein. Ausgeklammert bleiben das frühe Erzählwerk Samjatins, von dessen Stil der Grafiker Jurij Annenkow meinte, es handle sich dabei um „eine Art literarischer Kubismus“, wie auch die frühen Verse und Schriften Brjussows und andere Symbolisten der neunziger Jahre

Slavistische Beiträge, Bd. 119, München 1978; Ders.: Dva etapa v razvitii russkogo avantgarda. In: Umjetnost riječi, XXV (1981).

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des neunzehnten Jahrhunderts. Obgleich mit dem Auftreten des Futurismus um 1910 ein allgemein anerkannter Beginn des Avantgardismus gefunden wurde, war jedoch sein Umfang und seine Ausdehnung in den nächsten beiden Jahrzehnten unklar geblieben. Selbst wenn der antibürgerliche Affekt und das Bekenntnis zu einer revolutionären, linken Ideologie – beides an sich unliterarische Bezeichnungen und deshalb Kriterien von zweifelhafter Bedeutung und Anwendbarkeit – als Richtschnur genommen werden, wie es manchmal unausgesprochen geschieht, dann zeigt es sich, dass die literarästhetischen Normen der so ineinander in Beziehung gesetzten Richtungen nicht zu vereinen sind. Dies wird noch deutlicher, wenn auch nicht revolutionäre, ideologiefeindliche Gruppen, die avantgardistisch wirkten, in die Betrachtung eingeschlossen werden. Die ungeheure Vielfalt „avantgardistischer“ Strömungen dieser Zeit bleibt notwendigerweise außerhalb des Blickfelds des Literaturhistorikers. Sieht man im Avantgardismus vor allem das gesellschaftliche Engagement und die Sympathie für soziale Revolution, dann stellt sich die Frage, wie aus dieser Perspektive heraus Igor Sewerjanin, das Haupt der Egofuturisten, einzustufen ist, dessen Bänden Gromkokipjaščij kubok, Ananasy v Šampanskom, Poezoantrakt, u. a. sicher eine avantgardistische Funktion zukam. Sewerjanin sagte von sich selbst: ,,Ja solovej : ja bez tendencij I bez osoboj glubiny... ... Ja – solovej, i krome pesen, Net pol’zy ot menja inoj.“ (Solovej. Poezy, 1923)

„Ich bin eine Nachtigall: ohne Tendenz Und ohne besondere Tiefe… Ich – eine Nachtigall, und außer Lieder Gibt’s keinen Nutzen sonst von mir.“

Weiter heißt es, so besonders bei Bürger, dass der Avantgardismus bestrebt war, Kunst ins Leben überzuführen. Kann man aber dann eine Gruppe, wie die der Imaginisten, denen laut Brjussow wohl eine avantgardistische Zielsetzung zu eigen war, – Brjussow: ,,sie sind mit der nützlichen Sache der formalen Erneuerung des Verses befasst.“ (Včera, segodnja i zavtra russkoj poèzii) zur Avantgarde zählen? Machte doch ihr Führer Scherschenewitsch eine diametral entgegenstehende Feststellung: „Das Leben gestaltet sich so, wie dies die Kunst fordert.“ „Die Dichter schaffen nie das, was das Leben von ihnen fordert.“301 Die avantgardistische, innovatorische Tendenz der Texte der Imaginisten ist allerdings nicht zu übersehen. Darauf hat unter anderem auch Lunatscharskij hingewiesen: ,,Über die sogenannten Imginisten, diese vollständig absurden Auswüchse des Futurismus ist es nicht wert zu sprechen.“ (1922).302 Der Antiästhetizismus wurde als ein weiteres wesentli-

301 302

Ot simvolizma do Oktjabrja. Moskau 1924, S. 183. Literaturnoe nasledstvo. Bd. 82, 1970, S. 226.

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ches Kennzeichen des Avantgardismus genannt. Wie lässt sich dies aber nun im Hinblick auf Sewerjanin, die Imaginisten oder auch Serapionsbrüder verstehen? Es wurde auch gesagt, dass die Literatur des Avantgardismus prinzipiell antibürgerlich sei und die bürgerliche Kunst verneine. Am extremsten finden wir dies bei Bürger formuliert. Es lassen sich dafür auch tatsächlich zahlreiche Belege finden. Doch auch hier muss man sich vor Vereinfachung hüten. Derselbe Kirilow, der 1917 dazu aufrief, Raffael zu verbrennen (,,Im Namen des Morgen wollen wir Raffael verbrennen, die Museen zerstören.“), lobte 1919 die klassische Tradition (,,Oh, mit uns sind der strahlende Puschkin // Auch Lomonossow und Kolzow“ (In: Rabočie šagi, M. 1924). In Resolutionen und Dokumenten der Proletkultbewegung, die sich selbst als die Erneuerungsbewegung revolutionärer Kunst verstand, finden wir immer wieder Aufrufe, sich die klassische bürgerliche Tradition kritisch anzueignen.303 An dieser Stelle sei die Frage gestellt, ob die Proletkultbewegung überhaupt dem Avantgardismus zugeordnet werden kann. Der 1918 erschienene Sammelband Proletarskij sbornik (Buch 1) ist, was die künstlerischen Texte betrifft, belanglos, eher epigonal. Die Einleitung gibt eine Darlegung des ästhetischen Programms dieser Bewegung, in welcher der Realismus verteidigt wird. Inhalt und Thematik sind eher dürftig und beschränken sich auf die Revolution, den Glauben an den Sieg der Revolution, und die Notwendigkeit von Opfern für die Revolution.304 Die Entstehung der Produktionskunst wird gleichfalls oft mit einem wesentlichen Zug avantgardistischer Literatur in Verbindung gebracht, so besonders bei Bürger. Es ist bekannt, dass die sog. Faktographie im Grunde nichts Neues bedeutete, sondern viel eher in Analogie zur Literatur der ethnographischen Schule des 19. Jahrhunderts verstanden werden kann. Selbst nach Aussage der sowjetischen Kritikerin N. A. Grosnowa, „hatte die Theorie des Faktischen ihren vollständige Mangel an Perspektive in der Geschichte der russischen Prosa klargelegt.“305 Ein weiteres Problem ist die Einordnung von Gruppen, die eher dem bürgerlichen als dem linken Lager nahe standen. Hierher gehören vor allem die Serapionsbrüder. Es ist bekannt, dass Gorkij „bereit war, in ihnen die Künstler einer neuen Epochen zu sehen, fähig, die schwachen Aspekte des Erbes solcher Koriphäen der russischen Kunst zu überwinden, wie Tolstoj und Dostojewskij.“306 303 304 305 306

Vgl. A. V. Kulinič: Novatorstvo i tradicii v russkoj sovetskoj poèzii 20-ch gg. Kiev 1967. Vgl. Boris Arvatov: Sociologičeskaja poètika. Moskau 1928, S. 100. N. A. Groznova: Rannjaja sovetskaja proza 1917-1925. Leningrad. 1976, S. 118. Ibid., S. 129.

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A. Newerow, ein zeitgenössischer Autor, erklärte 1922/23 über die Serapionsbrüder: „Die Serapionisten hält man derzeit für die spannendsten…“307 Die Mitglieder dieser Gruppe lassen sich schwer auf einen Nenner bringen, teilweise polemisieren sie untereinander. Die avantgardistische Funktion ihrer Texte lässt sich aber kaum abstreiten. Die Feststellung des führenden Serapionsbruders Lev Lunc, ,,Es gibt keine russischen Traditionen; in Russland habe ich keine Lehrer,“ klingt wie ein Echo auf eine ähnlich formulierte Klage Andrej Turgenjews etwa 120 Jahre vor Lunc!308 Man spricht weiters oft von Urbanismus, Dehumanisierung, Technisierung in der Literatur des Avantgardismus (1910-1930). Kann man dann aber die Gruppe der Bauerndichter (Klujev, Klytschkow, Oreschin, Schirjajewez u. a.) zur „Avantgarde" zählen? Von ihnen sagt allerdings Kulinitsch „Die bäuerlichen Dichter in den ersten Jahren nach der Revolution zählten sich zu Recht zur sowjetischen literarischen Avantgarde.“309 Was nun Dehumanisierung und Technisierung betrifft, so findet man dafür Beispiele nicht nur bei den Futuristen, sondern auch bei Dichtern des Proletkults. Aber es wäre eine unzulässige Simplifikation, wollte man die gegenläufige Tendenz bei Autoren der Kusniza (= Schmiede) übersehen. Während der Proletkult (z. B. Gastew) sich für eine „Maschinisierung des Lebens“ aussprach, die so weit ging, dass auch die Intimsphäre des Menschen, sein Gefühlsleben, der „Maschinisierung“ unterworfen werden sollten, finden wir bei den Autoren der Kusniza (z. B. Ljaschko) das Gegenteil: „Ljaschko sah es als notwendig, die Macht menschlicher Gefühle über alle Grenzen hinaus auszuweiten.“310 Manchmal kommt es in Bewertungen ein- und desselben Autors geradezu zu gegenteiligen Feststellungen in Bezug auf seine Zugehörigkeit zur „Avantgarde“. Ein Beispiel dafür ist die Einschätzung Chlebnikows, von dem Flaker sagt: „Somit ist dieser ,budetljanin’ (so russifizierte Chlebnikow den Begriff Futurist) gleichzeitig der nachdrücklichste Archaist und der nachdrücklichste Neuerer der russischen Avantgarde.“ Demgegenüber hat ein sowjetischer Forscher festgestellt: „Man kann zum Beispiel kaum Velemir Chlebnikow als einen einen echten Avantgardisten bezeichnen. Darüber, dass der Futurismus für ihn vor allem ein äußerliches Eti-

307 308 309 310

Utro. Literaturnyj sbornik. Moskau-Leningrad 1927, S. 238. Vorwort zur Tragödie Bertran de Born. In: Gorod. Literatura. Iskusstvo. Sbornik 1, Petrograd 1923, S. 47. Kulinič, op. cit., S. 73. Groznova, op. cit.,S. 95. Vgl. damit Ju. Olešas Zagovor čuvstv.

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kett ist (wie, so möchte ich sagen, der Imaginismus für Essenin), sprachen scharfsinnige Kritiker bereits am Beginn der 1920er Jahre.“311

Man könnte diese Aufzählung widersprüchlicher Komponenten im Verständnis des Avantgardismus und seiner Texte noch fortsetzen. Ich glaube aber, dass die obige kurze Darstellung genügt, um anzudeuten, dass ein literarästhetisch und ideologisch schlüssiges Modell des Avantgardismus kaum möglich ist. Es scheint so, dass Avantgardismus bestenfalls als Ordnungsbegriff, der verschiedene Richtungen zusammenfasst, die trotz unterschiedlicher literarästhetischer Normen eine avantgardistische Funktion erfüllten, verstanden werden kann, aber keineswegs im Sinne eines Wesensbegriffes zur Bezeichnung eines einheitlichen ästhetischen Normensystems verwendet werden sollte! 2. Die literarischen Avantgarden vor 1900. Die formalistische Literaturwissenschaft hat sich in den zwanziger Jahren mit dem Prozess des Zerfalls und der Erneuerung literarästhetischer Normensysteme befasst und die Phänomene beschrieben, die dabei auftreten. Schon in seiner frühen Arbeit Über den Realismus in der Kunst (O chudožestvennom realizme, 1921) hat Roman Jakobson die Deformation künstlerischer Normen („deformacija dannych chudožestvennych kanonov“ und „deformacija, osuščestvlennaja novym učeniem“) als wesentliches Charakteristikum genannt, wobei diese Deformation als Annäherung der Kunst an die Wirklichkeit aufgefasst wird. So spricht der Anhänger des Neuen nach Jakobson: „Ich bin ein Revolutionär in Bezug auf die vorhandenen künstlerischen Gewohnheiten, und ihre Deformierung fasse ich als Annäherung an die Wirklichkeit auf.“

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Flaker: Die russische Avantgarde... In: Neues Handbuch..., S. 422; V. Kožinov: К voprosu ob estetike russkogo avangardizma. In: Literaturnye napravlenija i stil’. (Hg. P. A. Nikolaeva) Moskau 1976. Auch der bekannte jugoslawische Russist Mihajlo Mihajlov hat bereits vor längerer Zeit die Frage nach der Zugehörigkeit gewisser Autoren zur Avantgarde in provokativer Form aufgeworfen. Mihajlov meint, wenn man Kafka der Avantgarde zuzählt, warum dann nicht Remizov, der in Fischteich (1908) Szenen aus dem Prozess Kafkas vorwegnahm? Oder wenn man James Joyce zur Avantgarde zählt, warum dann nicht auch Belyj oder Pilnjak, die in mancher Hinsicht Joyce's Technik vorwegnahmen? Mihajlov verweist auch auf Parallelen zwischen Beckett (ein „Neoavantgardist“) und Andreev (Die Mauer), zwischen Sartre und F. Sologub (Melkij bes) und stellt dieselbe provokante Frage. (M. Mihajlov: Russische Themen. Bern 1969, S. 153-171).

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Deformation bezieht sich dabei nach Jakobson sowohl auf literarästhetische wie auch auf ethische Normen der Gesellschaft. Tynjanow sieht ähnlich wie Jakobson das Wesen der literarischen Evolution in Kampf und Ablösung („bor’ba i smena“; Literaturnyj fakt, 1924). Er betont den übergreifenden, kulturell und gesamtgesellschaftlich wirksamen Charakter der literarischen Ablösung: ,,Auch hier bei dieser Ablösung gibt es Revolutionen unterschiedlichen Maßstabes, unterschiedlicher Tiefe. Es gibt heimische, ‚politische’ Revolutionen, es gibt ‚soziale’ sui generis. Und solche Revolutionen durchbrechen den literarischen Bereich, sie erfassen den Bereich des Alltags“ (= byt).

Da die literarische Reihe ein System von Funktionen in ständiger Bezugnahme auf andere kulturelle Reihen darstellt, – so Tynjanow 1927 in seinem Essay Über kulturelle Evolution – bedingt ein Wechsel in einer Reihe analoge Erscheinungen in den übrigen. In der evolutionären Dynamik der literarischen Reihe kommt es so zu einem ständigen Kreislauf von Kanonisierung und Dekanonisierung und als Folge zu einem steten Wechsel der Dominanten. Ein nicht unwichtiges Moment in diesem Prozess ist nach Schklowskij die „schrittweise Ästhetisierung außerliterarischer Fakten“ (Material i stil’…, 1928).312 Die Geschichte der neueren Literatur – in Russland etwa seit Peter dem Großen – zeigt, dass ein dominantes literarästhetisches Normensystem kaum länger als zwei Jahrzehnte seine führende Rolle beibehält. Dazwischen stehen Zeiten der Ablösung und des Wechsels, die analoge avantgardistische Züge aufweisen, wie sie in neuerer Zeit für den Avantgardismus geltend gemacht wurden –, Züge, deren Gestalt bereits von den Formalisten erforscht wurde. Die wichtigsten avantgardistischen Bewegungen der russischen Literatur vor 1900 seien im Folgenden kurz angeführt und beschrieben.

Vom Klassizismus zum Sentimentalismus In den 1760er Jahren zeigte sich anhand von literarischen Polemiken, dass das bis dahin gültige Genresystem zerbricht. Auf charakteristische Weise verteidigte die ältere Generation Normen, die von der Jugend nicht mehr akzeptiert wurden.313 In dieser „Umwertung der Werte“ gewinnt der Roman eine vorrangige Bedeutung. Lomonossov (1748), Cheraskow (1760) und

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Diese Ansicht hat Šklovskij wohl unter Kenntnis der Theorie der literatura fakta formuliert, aber dann auf die Literatur des 19. Jh. angewendet. Vgl. dazu R. N.: Towards the Romantic Age. The Hague 1974 (bes. Kap. II, 3).

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Sumarokow (1759) nehmen gegen das neue, sentimentale Verständnis des Romans Stellung. Die Lektüre sentimentaler Romane wird als „Zeitverschwendung“ (,,pogublenie vremeni“), als unnütz („bespolezno“) verdammt. Cheraskow meint, sentimentale Romane regten zur Unmoral an. Demgegenüber vertrat der 1741 geborene Semen A. Poroschin, Übersetzer sentimentaler Romane, neue ästhetische Normen. Der sentimentale Roman hatte seiner Ansicht nach das Ziel, Gefühle der Sympathie und des Mitleids im Leser zu provozieren. Auch Fedor Emin bezog sich in seinem Roman Die Abenteuer Miramondos auf ein neues Verständnis des Verhältnisses von Autor – Text – Rezipient, insofern er darin den Leser aufforderte, sich mit dem Autor zu identifizieren, der in der Figur des Feridat, eines Leidensgenossen des Helden Miramondo, vorgeblich seine eigene Leiderfahrung schildert. Dies provozierte eine prinzipiell neue Leserhaltung, die später von der Romantik kanonisiert wurde. Eine analoge Umwertung der Werte führte zu einer Polemik gegen das sentimentale Drama. 1767 erschien eine anonyme Übersetzung von Diderots Fils naturel mit einem Vorwort, in dem Diderot vom anonymen Herausgeber als Schöpfer eines neuen Genres innerhalb der dramatischen Kunst bezeichnet wurde. Das Wesen dieses neuen Genres wurde im Einklang mit der sentimentalen Auffassung definiert. Im selben Jahre wurde Beaumarchais’ sentimentale Komödie Eugenie aufgeführt. Daraufhin schrieb Sumarokow einen Brief an Voltaire, um von ihm Unterstützung in seinem Kampf gegen dieses neue Genre zu erlangen. Im Vorwort zu Sumarokows eigener Tragödie Der Pseudodemetrius (Dmitrij Samozvanec, 1771) veröffentlichte Sumarokow Voltaires Antwort und seinen eigenen Kommentar zu diesem, wie er meinte, „ekligen Genre tränenreicher Komödien“ („pakostnyj rod sleznych komedij“). Diese Polemiken sind, wie mir scheint, immer noch ungenügend erforscht. Als frühe Ansätze zu avantgardistischen Strömungen verdienen sie eine detaillierte Analyse. Im Vorfeld der Romantik, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, können wir meines Erachtens erstmals in der russischen Literatur eine noch deutlichere avantgardistische Strömung feststellen.314 Sie umfasst ausschließlich junge Schriftsteller, die sich in Moskau in der Freundschaftlichen Literarischen Gesellschaft (Družeskoe literaturnoe obščestvo, 1800-1801) und teilweise auch in St. Petersburg in der Freien Gesellschaft der Liebhaber der Literatur, der Wissenschaften und Künste (Vol’noe obščestvo ljubitelej slovesnosti, nauk i chudožestv, anfangs Družeskoe obščestvo ljubitelej izjaščnogo, 18011807) versammelten. Dazu sind einige weitere Autoren der ersten Dekade

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R. N., op. cit., Kap. V, 2-4.

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des 19. Jahrhunderts zu zählen. Die Freundschaftliche Literarische Gesellschaft hatte einen Wortführer in Andrej Iwanowitsch Turgenjew, der ein begeisterter Anhänger des deutschen Sturm und Drang war. Eine charakteristische Stelle aus einer Rede über die Poesie Andrej Turgenjews (Reč’ о poézii, 1801) zeigt eine Einstellung zur literarischen Tradition, wie wir sie wieder bei den Avantgardisten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts finden: „Über die russische Literatur! Können wir dieses Wort denn verwenden? Ist das nicht eine leere Bezeichnung, wenn dafür die Sache in Wirklichkeit nicht existiert… Liest man Lomonossow, Sumarokow, Derschawin, Cheraskow, Karamsin, so findet man allein bei Derschawin winzige Reflexe des Russischen, in der schönen Erzählung Karamsins Ilja Muromez sieht man auch einen russischen Titel, russisches Gestöhn und nicht mehr. Zumindest gibt es keinerlei Hoffnung, dass irgendwann bei uns eine wahrhaft russische Literatur blühen wird. Dafür ist es notwendig, dass wir uns in unseren Gewohnheiten, in unserer Lebensart und unserem Charakter der russischen Originalität zuwenden, von der wir uns täglich entfernen…“315

Die Verknüpfung ästhetischer Vorstellungen mit ethischen, also letztlich die Verknüpfung der Kunst mit Gesellschaftlichem, geht z. B. aus Turgenjews Gleichsetzung der Ästhetik mit der Ethik („izjaščnye nauki sut’ organ nravstvennosti“) hervor. Moral („nravstvennost’“) ist die Grundlage für Wohlergehen („blagodenstvija“). Dem Autor wird in charakteristischer Weise eine führende Rolle in der Gesellschaft zugewiesen. Zugleich damit setzt sich aber Turgenjew vom traditionellen Autorenbild ab: „Weshalb sind denn die Dichter die Gesetzgeber der Sterblichen, die Interpreten der göttlichen Geheimnisse, derzeit nichts anderes als gemeine Schmeichler des Luxus, Sklaven des Müßigangs und der Eitelkeit?“ (Rede über die Poesie...).

Den berühmten Autoren der literarischen Tradition ruft Turgenjew zu: „Wir glauben euch nicht! Schweigt und blamiert euch nicht mit euren Lobpreisungen!“ Er negiert die bisher gültigen ästhetischen Normen auch in seiner Kritik an den Karamsinisten, d. h. die Literatur, die das literarästhetische Normengefüge der Zeit dominierte. Er fordert auch die Stilmischung des Hohen mit dem Niedrigen.316 Die Sprache seiner Tagebücher illustriert ebenso wie die Sprache der frühen Dramen Nareschnyjs und die frühe Prosa des jungen Gneditsch die russische Variante des Kraftstils des Sturm und Drang. Die

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Die oben angeführten Zitate aus den Reden Andrej Turgenevs und die folgenden Textstellen aus Quellen vor 1850 sind der Anthologie R. N.: The Romantic Age in Russian Literature: Poetic and Esthetic Norms. An Anthology of Original Texts (18001850), München 1975 (Slavistische Beiträge, Bd. 92) entnommen. Vgl. I.1 und I.2 oben! Siehe I.1. S. 19.

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Reaktion eines Kritikers auf Nareschnyjs Drama Dmitrij der Usurpator (= Pseudodemetrius, 1800/1804) möge dies illustrieren: „Ich will nicht vom Stil sprechen, noch über die grausame Nachahmung Schillers, die jegliche Erwartung des Zusehers übersteigt: Gift, eine Unzahl von Särgen und das alles auf der Bühne; ununterbrochen Totschlag, höllische Verfluchungen, alle Laster, alle Barbarei, alle Tyrannei einer bösen menschlichen Seele – dies alles, so scheint es, muss jedes gute Herz zwingen, den Blick von der Bühne zu wenden, die voll ist von den Verbrechen von Unmenschen…!“317

Nareschnyj verfasste insgesamt sechs Dramen vor 1810, die alle der frühromantischen avantgardistischen Strömung entsprechen. Auch Mersljakows Brief Werthers an Charlotte zeigt ein neues Menschenbild –, den romantischen, faustischen, suchenden und verzweifelten Menschen, der den beruhigenden Glauben an ein Jenseits verloren hat: „Wie gering ist die Macht der Tugend über die Sterblichen, wenn sie eine starke Leidenschaft im Herzen anzieht! … Verzweiflung hat in mir alle Gefühle erstickt. Verachtet habe ich die Menschen, den Himmel, die Erde, Meine Reue , die Natur und – Dich. Auf die Schändlichkeit dieser Morde blickend, Habe ich mich noch im Recht gehalten, … Des Lebens überdrüssig will ich die Welt verlassen, … Und ein lauteres Glück hab’ ich nirgendwo gefunden. … Die ganze Welt habe ich mit meinem Verstand umfasst, Alles sehen, alles erkennen, alles erforschen wollte ich. … Und ich – und ich gehe jetzt in die ewige Nacht, … Nicht zu einem gütigen Vater – mich ins Nichts zu wenden“318

Dieselben Züge lassen sich im Frühwerk Nikolaj Gneditschs (geboren 1784) erkennen, der Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua und Shakespeares König Lear übersetzte. Er verfasste auch zwei Romane, Don Corrado de Gérera, oder der Geist der Rache und Barbarei der Spanier und Moritz oder das Opfer der Rache. Wie die Forschung festgestellt hat, ist er auch der Autor eines anonym erschienenen Bandes Früchte der Einsamkeit, der seinen avantgardistischen Stil zeigt.319

317 318 319

A. Turgenev, Rede über die Poesie. Siehe Anmerkung 315! A. Merzlakov: Stichotvorenija. Leningrad 1958. Siehe 1.1, S. 19ff. „Styd izlil ja na svoj čerep! – Karl – Karl! da požigaet večnyi ogon’ tartary tvoju vnutrennost’! Ту – Ту mne sovetoval, tvoj Sirenin golos prel’stil menja – i ja poslušal ego. О bezumnoj! (b’et sebja ν lob) ja prokljal doč’ svoju! – tak moe prokljatie, moe bešenstvo privelo ее ν otčajan’e (Eduard vzdychaet; Rudol’f uslyša otstupljaet s užasa). Ga! Kto – kto tak strašno voet? Eduard, Eduard! (chočet brosit’sja k Éduardu, no vdrug s užasom otskakivaet ν storonu – drožit) G! G! G! Ubijca nevinnogo

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Wir sehen in diesen Gestalten typische Beispiele des neuen, dämonischen Menschen, von dem Korff in Der Geist der Goethezeit (Bd. 1, Leipzig 1940, S. 394) gesagt hat: „ … der dämonische Mensch, der aus den unbewussten Tiefen seiner Natur, d. h. aus Gott heraus lebende und von keinen rationalen Erwägungen aus der Bahn seiner Natur abgelenkte Mensch, der nur der in ihm wirkenden Gottheit, dem δαιμόνιον wie Sokrates gesagt hat, gewissermaßen blindlings gehorcht.“

Dies bedeutete einen radikalen Bruch mit dem bisher gültigen Bild des Menschen. In den antidespotischen Versen, mit denen Denis Dawydow (geboren 1784) seine literarische Karriere begann, kommt ein weiterer wesentlicher Aspekt der avantgardistischen Strömung des frühen 19. Jahrhunderts zum Ausdruck. Im romantischen Bild des Autors als Husar entsteht eine neue Variante des starken Individuums. Mit den politischen Auseinandersetzungen der Zeit (Napoleonische Kriege) kam die avantgardistische Strömung gegen Ende des ersten Jahrzehnts zum Stillstand. Sie lebte in den literarischen Polemiken zwischen den Gruppen Beseda und Arzamas – wo bekanntlich auch Puschkin bereits mitwirkte – wieder auf. In den Polemiken rund um Puschkins Poem Ruslan und Ludmila (1820) können wir sie wiederum erkennen. Ein heute vergessener Schriftsteller rezensierte 1820 das eben erschienene Versepos Puschkins. In seiner Rezension brachte er einen nicht uninteressanten Vergleich, der die Betrachtung von der Ebene der Kunst auf die gesellschaftliche Ebene verschiebt, – ein charakteristisches Phänomen in der Rezeption avantgardistischer Strömungen: „Erlauben Sie mir zu fragen: wenn sich jemand Eintritt verschaffte (ich halte das Unmögliche für möglich) in die Moskauer adelige Versammlung, ein Gast mit Bart, in einem Bauernrock und Bastschuhen und mit laut schallender Stimme rufen würde ‚Hallo, Burschen!’ – würden sie einen solchen Rüpel mit Vergnügen betrachten!“320

Die Kritik schließt mit folgender Kennzeichnung des Puschkinschen Textes:

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agnca! Staroj mladenec – bezumnyj Rudol’f! (strašnoe molčan’e) Čestoljubie – adskoe čestoljubie!...“ Aus der Tragödie Čestoljubie ili Pozdnoe raskajanie, veröffentlicht in den Früchten der Einsamkeit. Das vollständige Zitat lautet im Original: ,,... pozvol’te sprosit’: esli by ν Moskovskoe blagorodnoe sobranie kak-nibud’ vtersja (predpolagaju nevozmožnoe vozmožnym) gost’ s borodoju, ν armjake, ν laptjach i zakričal by zyčnym golosom zdorovo rebjata! – Neuželi by stali takim prokaznikom ljubovat’sja! Boga radi, pozvol’te mne, stariku, skazat’ publike, posredstvom vašego žurnala, čtoby ona každyj raz žmurila glaza pri pojavlenii podobnych strannostej. Začem dopuskat’, čtoby ploskie šutki stariny snova pojavilis’ meždu nami?“

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„Ein grober Scherz, nicht gebilligt vom aufgeklärtem Geschmack ist abstoßend und keineswegs unterhaltsam oder lustig. Dixi!“

Der in der Literaturgeschichte etwas bekanntere konservative Autor A. F. Wojejkow machte in einer Rezension aus dem gleichen Jahr Puschkin einen Vorwurf, der in der Kritik avantgardistischer Strömungen gleichfalls immer wieder auftaucht. Ausgehend von einer Kritik von Sprache und Stil warf er dem Autor Unmoral vor („bei ihm sind die Berge nackt, und die Säbel nackt u. ä.“). In den 1820er Jahren konnte sich das literarästhetische Normensystem der Romantik weitgehend durchsetzen. Aber schon in den Erzählungen Belkins der 1830er Jahren, in denen der Autor romantische literarästhetische Normen bereits parodiert, kündete sich das Ende der Romantik an. Von einer avantgardistischen Strömung kann man aber erst wieder am Ende der 1830er und zu Anfang der 1840er Jahre sprechen, als die Natürliche Schule daran ging, literarästhetische und gesellschaftliche Normen der Zeit anzugreifen, und neue Genren, wie die Physiologische Skizze und Novellen mit urbanem und sozialkritischem Gehalt in den Vordergrund stellte. Die Autoren, die sich damals um den Literaturkritiker Belinskij scharten, gehörten der jungen Generation an, die zu dieser Zeit an die zwanzig Jahre alt war. Sie vertrat ein neues Konzept der gesellschaftlichen Entwicklung, das teils auf Hegel, teils auf den Lehren der utopischen Sozialisten fußte, sie vertrat ein neues Menschenbild und nicht zuletzt auch neue sprachliche Normen. Der Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft war ihnen nicht nur bewusst, sie versuchten auch mittels der Literatur auf die Gesellschaft einzuwirken. Ein interessantes Dokument, das gerade die avantgardistischen Züge dieser Strömung betont, ist ein Rapport des Chefs der Geheimpolizei Orlow vom 23. Februar 1848. Der folgende Auszug geht nicht nur auf die kritische Einstellung dieser Strömung zur literarästhetischen Tradition ein, sondern stellt auch die gesellschaftspolitische Wirkung dieser Texte heraus, sowie die sprachschöpferischen Bemühungen ihrer Autoren: „Belinskij, der vor allem an den Moskauer Zeitschriften, danach an den Vaterländischen Annalen (Otečestvennye zapiski) und heute am Zeitgenossen (Sovremennik) teilnimmt, hat sich immer von den anderen Kritikern durch einen groben Ton und der Schärfe seiner Urteile unterschieden. Er anerkennt keine Verdienste weder bei Lomonossow, noch bei Karamsin, noch bei allen übrigen Schriftstellern, begeistert sich allein für die Werke Gogols, den die Autoren der natürlichen Schule als ihr Oberhaupt ansehen und billigt nur jene Schriftsteller, die Gogol nachahmen. Belinskij hat so lautstark und so nachhaltig seine Ansichten verkündet, dass heute fast alle unsere jungen Autoren jede alte Berühmtheit in unserer Literatur als nichts betrachten. Diese Ansicht nämlich findet beständig Ausdruck in der Zeitschrift Krajewskijs Vaterländische Annalen. Obgleich die Urteile über Schriftsteller eigentlich vom Geschmack des Publikums abhängen, aber andererseits die frechen Kommentare über die alten Berühmtheiten die Gefühle jener beleidigen, die gewohnt sind Derschawin, Ka-

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ramsin und andere als Ruhm unseres Vaterlandes zu verehren, kann die Respektlosigkeit vor den literarischen Berühmtheiten die jungen Menschen ihrerseits zur Respektlosigkeit für alles führen, vor dem das Volk Ehrfurcht empfindet, so hat der Leutnant Bannikow vom Ingenieurkorps bei seiner Vernehmung ausgesagt, dass er, nachdem er sich in den Vaterländischen Annalen mit Respektlosigkeit für unsere alten Schriftsteller hat voll laufen lassen, dazu zur Respektlosigkeit für alles übergegangen ist, was anderen heilig ist, auch der Machthaber und der bestehenden Ordnung und sogar der Person Seiner kaiserlichen Hoheit. Schließlich hat er ohne jegliche Notwendigkeit neue fremdländische Wörter eingeführt, wie zum Beispiel Prinzipien, Progress, Doktrin, Humanität und ähnliche. Sie verderben unsere Sprache und schreiben dabei unverständlich und doppelsinnig...“

Der Realismus Der Realismus wurde in den 1850er Jahren zum dominanten literarästhetischen Normensystem und blieb es bis in die 1870er Jahre. In manchen Werken dieses Jahrzehnts, wie den späten Romanen Dostojewskijs und Tolstojs, hat die Wissenschaft bereits Auflösungserscheinungen innerhalb des Realismus festgestellt. Zu Beginn der 1880er Jahre entstand dann die nächste avantgardistische Strömung, die unter dem Zeichen des Ästhetizismus und der Dekadenz in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Bereits 1884 erschienen in der Kiever Zeitschrift Morgenröte (Zarja) Essais von N. Minskij (= N. Vilenkin), die ein Literaturwissenschaftler als „erste ästhetische Manifeste der Moderne“ bezeichnet hat.321 Minskij vertrat einen Ästhetizismus, welcher der Kunst die alleinige Aufgabe zuwies, ,,ästhetisches Vergnügen“ zu produzieren, und brach damit radikal mit den Normen des Realismus. Dazu kam eine Ausrichtung, die Minskij im Rückblick selbst als ,,den Pfad eines Individualismus und der Selbstvergöttlichung“ (samo-obožestvlenija) bezeichnet hat. (s. Avtobiografičeskie zametki, 1922) Die 1882 gegründete Zeitschrift Nördlicher Bote (Severnyj Vestnik) wurde zum Organ der neuen Strömung. Mereschkowskijs Essai Über die Prinzipien des Verfalls und die neuen Richtungen der neuesten russischen Literatur (1893) wurde zusammen mit Minskijs Essay Im Licht des Gewissens (1890) zum Manifest der neuen Strömung. Balmont erklärte das Wort zum Wunder, den Buchstaben zur Magie, Brjussow behauptete, „die Kunst ist das Verstehen der Welt auf anderen, nicht begrifflichen Wegen“ („iskusstvo est’ postiženie mira inymi, ne rassudočnymi put’jami“, in: Vesy, 1904, Nr. 1, S. 19). Mit Valerij Brjussows und Balmonts Bänden Die russischen Symbolisten (1894), „Unter nördlichem Himmel (1894), Mereschkowskijs Symbole (Gedichte und Poeme, 1892) lagen bereits gesammelte

321

P. S. Kogan: Istorija russkoj literatury XIX ν. (Hg. D. N. Ovsjaniko-Kulikovskij), Bd. V, Moskau 1911, S. 66.

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Texte dieser neuen Strömung vor, die sich um 1900 unter dem Namen Symbolismus etablierte und selbst zu einem großen Maße das literarästhetische Normensystem der Zeit prägte. Die Normen sprengende Funktion der neuen Literatur der 1880er und 1890er Jahre, die sowohl literarische wie gesellschaftliche Bereiche betraf – dazu gehörten die Verletzung sexueller Tabus, Erotizismus, Amoral, Satanismus – ist bekannt. Ebenso ihre sprachlichen und stilistischen Innovationen.322 Allen angeführten avantgardistischen Richtungen sind gewisse Merkmale gemeinsam, die sich aus der Perspektive formalistischer Studien der Übergangsphänomene von einer Dominante zur anderen und mit Seitenblick auf den Avantgardismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Dekanonisierung und Dehierarchisierung bestehender Normen in Literatur und Kunst und ihre ästhetische Umwertung. Die Avantgarde zerstört den bestehenden literarischen Kanon, die bestehenden Genrenormen und ästhetischen Wertvorstellungen. 2. Negierung auch der bestehenden, kanonisierten kulturellen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Der Protest der Avantgarde richtet sich im allgemeinen gegen die dominante gesellschaftliche Schicht und ihre Wertvorstellungen und versucht, demgegenüber ein neues Weltbild und Gesellschaftsverständnis zu etablieren. 3. Ästhetisierung von außerliterarischen Elementen. Dies bezieht sich auf Stil, Sprache, Genre, Motivik, etc. Der Bereich des Literarischen wird erweitert bis hin zu tabuisierten Stoffen und Themen, die nunmehr in die Literatur aufgenommen werden. 4. Gruppenbildung. Die Avantgarde tritt als mehr oder weniger geschlossene, in Alter und Generationszugehörigkeit übereinstimmende Gruppe auf. Die typische Avantgarde umfasst meist Autoren im Alter von 18 bis etwa 30 Jahren, d. h. die ,,junge Generation“ einer Zeit. Daraus resultiert die oft spürbare, adoleszente Einstellung vieler Avantgardisten. Aus den angeführten Merkmalen entspringen weitere: Die Negation des literarischen Kanons führt dazu, dass sich die Avantgarde in ihrem Bestreben, die literarische Tradition zu erneuern, entweder fremdsprachlicher oder nicht kanonisierter Texte aus der eigenen Literatur als Ausgangspunkt ihrer Bemühungen bedient, oder ihre Modelle aus anderen kulturellen ,,Reihen“ entlehnt. Die Erneuerung der literarischen Tradition führt in der Folge zu einer Neugestaltung des Verhältnisses von Autor und Leser und zu einer Umfor322

R.-D. Kluge hat gezeigt, dass viele der angeführten Merkmale des Avantgardismus bereits im Symbolismus zutage treten. Vgl. R.-D. Kluge: Symbolismus und Avantgarde in der russischen Literatur. In: Obdobje simbolizma ν slovenskem jeziku, književnosti in kulturi, Bd. 1, Ljubljana 1983, S. 229-238.

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mung des Leserhorizonts. Die Zuwendung zu tabuisierten Themen, zu nicht kanonisierten sprachlichen und stilistischen Formen führt mitunter zum Vorwurf der Unmoral und der Unsittlichkeit der neuen Literatur. Das jugendliche Alter der Avantgardisten und der Zwang, festgefahrene, automatisierte Gestaltungs- und Rezeptionsmechanismen zu durchbrechen, führt zu einer Radikalisierung im Denken, Schreiben und Handeln der Avantgarde. Nicht zuletzt ergibt sich aus dem bisher Gesagten, dass der kulturelle und gesellschaftspolitische Bezug der Literatur gerade von der Avantgarde besonders intensiv erlebt und auch in Texten gestaltet wird. Es versteht sich von selbst, dass jede Avantgarde die angeführten Merkmale auf ihre Weise realisiert. Was in einem Fall im Vordergrund steht, bleibt ein anderes Mal im Hintergrund. Die Feststellung von Gemeinsamkeiten im Sinne von Rahmenbedingungen enthebt die Literaturgeschichte natürlich nicht der Aufgabe, die jeweilige Realisierung in ihrer konkreten Form zu erfassen und zu beschreiben. 4. Die literarische „Avantgarde" (= Avantgardismus) im zwanzigsten Jahrhundert Die avantgardistischen Richtungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von ihren Vorgängern. Im Gegensatz zu der Avantgarde des neunzehnten Jahrhunderts treten sie nicht mehr als eine geschlossene Gruppe auf, sondern bilden ein Nebeneinander von vielfältigen, in ihren Zielsetzungen manchmal konträren Gruppierungen. Auch führen sie nicht unbedingt zur Etablierung einer neuen Dominante, sondern generieren vielmehr stets neue avantgardistische Bewegungen. So entsteht ein dynamisches System von fluktuierenden Avantgarden (bzw. Neoavantgarden), die in Opposition zur jeweils dominanten literarischen Richtung stehen. Dem Avantgardismus als solchem, d. h. dem Komplex von Avantgarden der Zeit von 1910 bis in die 30er Jahre, fällt das Verdienst zu, dieses in der Geschichte der europäischen Literaturen neue Modell begründet zu haben. Die repressive Literaturpolitik in der Sowjetunion und der 2. Weltkrieg haben eine Unterbrechung geschaffen, – die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zeigten jedoch zumindest in den entwickelten westlichen Staaten die erneute Existenz dieses dynamischen Systems vielfältiger avantgardistischer Richtungen. Auch in den osteuropäischen Literaturen war

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es zumindest in Ansätzen zu Neoavantgardebewegungen in Kunst und Literatur gekommen.323 Die weitreichenden Unterschiede im System literarischer Richtungen und Avantgarden vor und nach 1900 lassen die berechtigte Frage stellen, ob nicht ein grundlegender Wandel im gesellschaftspolitischen Bereich erst die Voraussetzung für die Umstrukturierung des literarischen Prozesses geschaffen hat. Mit dieser Fragestellung bewegen wir uns aus dem eigentlichen Bereich der Literaturwissenschaft heraus. Deshalb soll diese Frage auch hier nur angeschnitten werden. Das zwanzigste Jahrhundert kann vielleicht im Rückblick als Zeitalter einer gesellschaftlichen Emanzipation, einer Dehierarchisierung und Demokratisierung in den entwickelten Ländern gelten, obgleich dieser Prozess sich immer von neuem im Kampf gegen autoritäre Ideologien durchsetzen musste. Emanzipation und Pluralität der Werte schufen ein neues Selbstverständnis des Staatsbürgers. Das dynamische System einander konkurrierender, bzw. ablösender Avantgarden kann so vielleicht als Ausdruck und Folge dieses Emanzipationsprozesses innerhalb der pluralistischen Gesellschaft gelten. Die drei Fragen, die wir uns eingangs gestellt haben, lassen sich nun deutlicher beantworten. Der Avantgardismus als literarästhetisches Normensystem des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts ist ein Postulat, das – wie die widersprüchliche Natur avantgardistischer Tendenzen dieser Zeit zeigt – nicht der Wirklichkeit entspricht. Damit ist Avantgardismus als Wesensbegriff zur Bezeichnung der Literatur von ca. 1910 bis ca. 1930 nicht zu halten. Kann Avantgardismus dann als Ordnungsbegriff, welcher der Literatur dieser Periode keine verbindlichen Wesensmerkmale zuweist, sondern dies der Analyse einzelner Tendenzen überlässt, sinnvoll verwendet werden? Angesichts der dominierenden Rolle und der großen Zahl von Avantgarden in der Literatur zwischen 1900 und 1930/1938 ist dies meines Erachtens möglich, aber nur dann zweckmäßig, wenn damit auch die veränderte Funktion literarischer Avantgarden in der pluralistischen, sich permanent emanzipierenden Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts terminologisch verbunden wird. So gesehen, markiert die Periode, die wir hier deshalb als Avantgardismus bezeichnet haben, einen grundlegenden Wandel in der gesellschaftspolitischen und damit auch der kulturellen und literarischen Situation des zwanzigsten Jahrhunderts. Allerdings – das sei hier nochmals deutlich gesagt – liegt diesem Wandel kein einheitliches Normensystem zugrun-

323

So zeigt beispielsweise die von Flaker in einer Monographie beschriebene JP (Junge Prosa oder Jeansprosa) die meisten der hier genannten Merkmale einer Avantgarde. Vgl. A. Flaker: Modelle der Jeans prosa. Scriptor, Kronberg/ Ts. 1975.

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de. Im Avantgardismus zeigten die einzelnen avantgardistischen Gruppierungen eben denselben Pluralismus, der auch die gesellschaftliche Situation der Zeit charakterisiert. Die Revolution in Russland bedeutete einen gewaltigen gesellschaftlichen Umschwung, der sich in einer entsprechend weit reichenden Ablösung von gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen, einer Emanzipationsbewegung riesenhaften Ausmaßes äußerte, wodurch gerade Russland in den Jahren vor und nach der Revolution mehr als andere Länder Europas einen fruchtbaren Boden für Avantgarden neuen Typs abgab. Mit der Konsolidation der Stalinschen Herrschaft kam diese Periode allerdings bald zu einem Ende. Das dynamische System einander ablösender Avantgarden hat sich jedoch in den westlichen Ländern seither etabliert und existiert als solches bis heute. Mit dem Ende der Sowjetunion, der Zeit des Übergangs bis zur Übernahme der Präsidentschaft durch den einstigen KGB Oberst Wladimir Putin ist eine Annäherung an „westliche“ Verhältnisse eingetreten. Ende September 2011 hielt Regierungschef Putin eine Rede vor Verlagschefs und Literaten in der er unnötige Übernahmen von Fremdwörtern ins Russische tadelte, da sie Ausdruck eines Mangels an Selbstbewusstsein seien und rief Kritiker dazu auf, eine „talentierte“ Kritik zu pflegen. Die „stolze Kulturnation“ Russland dürfe nicht Respektlosigkeit für ihre Sprache zeigen, sondern eine „saubere“ Sprache pflegen. Erinnert dies an Graf Orlow?

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2.

Alexander Ginzburg und die Manipulation von Texten

In der Zeit der kommunistischen Herrschaft wurden Texte jeglicher Art nicht selten manipuliert, sie waren mitunter doppelsinnig, der Leser musste zwischen den Zeilen lesen können. Die folgende Begebenheit wirft ein Schlaglicht auf die Situation der Schriftsteller in dieser Zeit. Vorerst einige theoretische Bemerkungen. Die Lektüre von Texten verlangt vom Leser eine Aufgeschlossenheit, eine Bereitschaft, das eigene Vorverständnis, die eigenen Vorurteile aus der Perspektive des Textes heraus zu revidieren. Im Prozess des Lesens konkretisiert sich der Text in seiner Bedeutung. Hans Georg Gadamer definierte das „Verstehen des Textes“ als „eine Integration des Fremdem in das Vertraute…, als Vermittlung der didaktischen Position von Interpret und Text, von Vorverständnis und Sachstruktur...“324 Gadamer vergleicht zu Recht das verstehende Lesen mit einem Gespräch zwischen Text und Leser, ein Gespräch, das zwischen den beiden Bedeutungspositionen vermittelt. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass in einer Gesellschaft, in der Zwänge und Repressionsmechanismen bestehen, die Sprache auch der manipulierten Kommunikation dient, das heißt, eine verzerrte Kommunikation vermittelt. Hier wird der kritische Leser aufgefordert, die hinter der Sprache und uns nur mittelbar aus Text und Kontext erkennbaren ideologischen Verzerrungen wahrzunehmen. Oder um es mit einer Wendung von Habermas zu sagen, „aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialoges das Unterdrückte zu rekonstruieren“.325 Dies soll andeutungsweise an einem Beispiel gezeigt werden, das aktuelle Bedeutung hatte. Der russische Publizist und Dichter Alexander Ginzburg wurde 1977 erneut verhaftet.326 Dies war aus Zeitungsberichten allgemein bekannt. Weithin unbekannt ist ein Text, der damit unmittelbar zu tun hat. In den kommunistischen Staaten bestand eine traditionelle Methode, Dissidenten in den Augen der Öffentlichkeit zu diffamieren. In der Presse wurden gezielt als Leserbrief getarnte Texte publiziert. Durch eine Vielzahl oft anonymer Texte wurden die Betroffenen verunsichert. Anklagepunkte, die später in Gerichtsverhandlungen wieder auftauchen konnten, wurden vor-

324 325 326

H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, Seite 252. J. Habermas: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“. Frankfurt/Main 1968, S. 164. Alexander Ginzburg (geb. 1936) wurde zweimal verhaftet und zu Lagerhaft verurteilt. Die erste Haft folgte auf die Herausgabe der Untergrundzeitschrift Syntax (1959). Die Veröffentlichung eines Weißbuches mit Materialien zu dem Prozess gegen die Schriftsteller Sinjawskij und Daniel (1967) trug ihm die zweite Haft ein. Im Rahmen eines Gefangenenaustausches konnte er 1979 in die USA ausreisen.

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formuliert und in Umlauf gesetzt. Im Falle Ginzburg haben wir es mit einer interessanten Variante dieser Methode zu tun. Knapp vor der Verhaftung Ginzburgs erschien in der Literarischen Gazette, dem Organ des sowjetischen Schriftstellerverbandes, ein fünf Spalten langer Leserbrief mit dem Titel Lügner und Pharisäer. Es ist ein fast klassisch zu nennendes Schriftstück, das die manipulativen Möglichkeiten solcher Texte besonders deutlich aufzeigt, zugleich aber das tragische Schicksal eines Menschen beleuchtet, der zur Manipulation gezwungen wird. Im Brief wird Ginzburg und seinen Freunden vorgeworfen, sie seien Anbeter des Westens, die mittels einer im Westen populären Thematik selbst zu Ruhm und westlichem Geld strebten. Der Brief bezeichnet sie als profitgierige Händler mit Ikonen, die auch vor Einbrüchen nicht zurückschrecken. Trunkene Exzesse, ein ungezügeltes Sexualleben, Handel mit „antisowjetischen Informationen“ werden ihnen zugeschrieben. Die Menschenrechtsbewegung, der sie angehörten, wird insgesamt als unethisch, verlogen, am Rande der Kriminalität abqualifiziert. Dieser Teil des Textes hatte damals zweifellos politische Bedeutung im Hinblick auf die bevorstehenden Gespräche über das Abkommen von Helsinki. Aber noch eine zweite Thematik fällt auf. Der Autor des Briefes bezeichnet sich als gläubigen Christen, der einst, als er im Gefängnis saß, jeden Mittwoch und Freitag fastete und seine Rationen an seinen Mithäftling Ginzburg weitergegeben hätte. Im Namen seines christlichen Glaubens wendet sich der Autor des Briefes besonders empört gegen angebliche Versuche Ginzburgs, Mitglieder religiöser Gemeinschaften mit Geldzuwendungen aus westlichen Quellen dazu zu bringen, verleumderische Aussagen gegen den sowjetischen Staat zu machen. Die Dissidenten werden dabei als „mehrheitlich atheistisch“ bezeichnet. Der Leser mag sich nun fragen, wer denn der Autor des Briefes war. Hier werden wir mit der Tragik eines russischen Lebens konfrontiert, wie es für das 20. Jahrhundert nicht untypisch ist. Es handelt sich um den Lyriker und Publizisten Alexander Petrow-Agatow, der 1977 sechsundfünfzig Jahre alt war, aber die Hälfte dieser Zeit als politischer Häftling in Gefängnissen und Arbeitslagern verbracht hatte. Dem Russischstudenten wird er als Autor des Soldatenliedes Dunkle Nacht (Temnaja noč’ ) bekannt sein. Nach 20-jähriger Haft wurde er 1967 entlassen, aber bereits ein Jahr darauf wegen ,,antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu weiteren sieben Jahren verurteilt, die er zur Gänze absaß. Seit 1975 war er wieder auf freiem Fuß. In der Haft freundete er sich an mit Alexander Ginzburg und anderen Dissidenten, deren Gedanken er teilte. Als Insasse des Archipel Gulag schrieb Petrow-Agatow einen Roman über das Lagerleben (1972 im Westen veröffentlicht) und zahlreiche Gedichte. In allen diesen Werken erscheint vor uns das Bild eines aufrechten, tief

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religiösen Menschen. In dem Gedicht An Gott, das 1971 im Westen veröffentlicht wurde, stehen die Zeilen: Mir ist, da du mich hältst, nicht bang, Mein Seufzer sei Dir anbefohlen. Um vieles möchte ich Dich bitten, Erbitte aber einzig dies: Du magst mich überall behüten Und seist mein Seelenparadies. Wohin auch immer man mich treibt Gib Gott, dass mir Dein Segen bleibt.

In einem unbetitelten Gedicht, das 1973 in den Westen gelangte und ebenfalls der Zeit des Arbeitslagers entstammt, lesen wir: In das Joch werde ich eingespannt – Ein Biest. Ein Stück Vieh. Nur ein Unterschied besteht: als Mensch zählt man mich noch auf Zensuslisten. Vor den Wahnsinnskarren des 20. Jahrhunderts gespannt in welche Tiefen jagt es uns kopfüber hinab ...?

Diese unzensurierten Texte bedürfen kaum eines Kommentars. Da wir von der Vielfalt von Texten ausgegangen sind, die das Leben der Gesellschaft bestimmen, sei angemerkt, dass im Hintergrund der Verse Petrow-Agatows religiöse Texte und letztlich die Bibel steht, die seinen geistigen Habitus bestimmt.327 Der Leserbrief in der Literarischen Gazette zeigt uns einen ganz anderen Menschen. Petrow-Agatow sagt sich von seinen Versen los, – sie seien „unreif und böse...“ – Doch zwischen den Zeilen lässt sich noch anderes finden. Der Autor des Briefes deutet an, „ich sage ja nicht, dass ich mich völlig im

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Die Verse aus dem Gedicht A. Petrow-Agatows An Gott sind in der Übersetzung von F. Ph. Ingold, die aus dem Gedicht Bella Achmadulinas Gott (S. 231f.) in der Übersetzung von Ilma Rakusa wiedergegeben. Beide Texte sind dem von den beiden Übersetzern herausgegebenen Band Gedichte an Gott sind Gebete, Verlag Arche, Zürich 1972, entnommen. A. Petrow-Agatow (geb. 1921) schrieb das bekannte Soldatenlied Tjemnaja noč’. Er wurde 1947 das erste Mal verhaftet und verbrachte insgesamt fast 20 Jahre in Gefängnissen und Lagern. 1968 wurde er wegen „antisowjetischer“ Gedichte zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt und kam 1970 in ein besonders strenges Gefängnis. Dort wurde er zu einem physisch und psychisch gebrochenen Menschen. Im Februar 1977 veröffentlichte er in der Literaturnaja gazeta einen Widerruf, sagte sich von seiner Vergangenheit los und verleumdete zudem noch Mithäftlinge.

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Griff, die reifste Einsicht erlangt, mich von allem gereinigt hätte“. Dies klingt beinahe wie das Einbekenntnis einer Schuld. Doch er fügt dem erklärend hinzu, er müsse jetzt reden, denn „mir erlaubt das Gewissen nicht zu schweigen“. Jedermann in Petrow-Agatows Heimat wusste, wer in vielen Texten als „Gewissen [des Volkes]“ apostrophiert wird ... Auch hier steht dahinter ein ungenannter Text, auf den hinzuweisen ist. Es handelt sich um Lenins grundlegenden Artikel Parteiorganisation und Parteiliteratur, der damals und bis zur Perestrojka die sowjetische Einstellung zu jeglicher publizistischen und literarischen Tätigkeit bestimmte und besagt, dass eine solche Betätigung „ein Rädchen und Schräubchen“ des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen [lies: kommunistischen] Mechanismus sein müsse. Es sei auch nicht vergessen, dass 1971 das Regierungsorgan Izvestija „eine umfassende wissenschaftliche atheistische Propaganda forderte, deren Ziel die Befreiung des Menschen von der geistigen Versklavung durch religiöse Vorurteile sein müsse“328 Soviel zum Hintergrund des Briefes, eines Textes, der in mancherlei Brechung das Phänomen der Manipulation spiegelt! Doch jede Manipulation von und durch Sprache und Text hat ihre Grenzen in der kritischen Rezeption des Lesers. Manchmal erhält der kritische Leser, der mit offenen Augen Text und Kontext gegenübersteht, unerwartet daraus eine Unterstützung. Sein Erwartungshorizont wird vom Kontext in bestimmter Hinsicht geöffnet. In Bezug auf Petrow-Agatows Brief fällt die Komposition der Zeitungsseite auf, die den Brief beinhaltet. Drei großformatige Titelzeilen beherrschen sie. In der Mitte oben steht die ironische Titelzeile: „Diese freie, freie Welt ...“ Darunter links die Überschrift eines anderen Artikels: „Reise in ein Land, das im Dunkel versinkt“. Dazu kommt rechts von der Mitte im Großformat der beherrschende Titel der Seite, eben der Titel des Leserbriefes: „Lügner und Pharisäer“. Diese Titel zusammen bilden – und hier fragt man sich, ob dies Zufall ist – einen eigenen Text, der sich als ironischer Kommentar zum Text des Leserbriefes verstehen lässt, der vom Autor eines Liedes mit dem Titel Dunkle Nacht unterzeichnet ist. Hat da jemand im Hintergrund die Manipulation manipuliert? Diese Betrachtung, die das Ineinandergreifen von Texten illustriert, zeigt die Notwendigkeit einer kritischen und informierten Lektüre. Am Ende sollen Zeilen aus einem Gedicht der bekannten sowjetischen Lyrikerin Bella Achmadulina stehen, Zeilen die erstmals 1959 in einer von Alexander Ginzburg herausgegebenen Untergrundzeitschrift erschienen:

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Zit. nach Felix P. Ingold, Vorwort. In: Gedichte sind Gebete an Gott, hgg. F.P. Ingold u. Ilma Rakusa, Zürich 1972, S. 9.

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Ach, Weide, Weide, meine Weide, Verwelk nicht, Weide, du, verweile. Mein Glaube, wohin schwand er leise, Das Kreuzchen nur blieb mir zur Seite.

Glaube und Manipulation eines Menschen, der gezwungen wird, seinen Glauben zu verleugnen, bilden den düsteren Hintergrund zu den Geschehnissen aus einer dunklen Zeit. Dennoch ist dies nur eine Facette im Gang der Literatur dieser Zeit. Dass es auch eine andere Facette gab, die trotz offizieller Widerstände auf dem Buchmarkt erscheinen konnte, zeigen die folgenden Essays.

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3.

Jurij Trifonows Langer Abschied und die Prosa der 1960er Jahre

Zur Zeit der kommunistischen Herrschaft in Russland musste sich die Literatur den ideologischen Vorgaben der Partei fügen oder unliebsame Konsequenzen in Kauf nehmen. Es gab aber noch andere Möglichkeiten, von denen hier die Rede sein soll. Im Streben danach, sich aus den Zwängen eines ideologisch fixierten und vorgegebenen Normensystem zu lösen, kann ein Autor zwei Möglichkeiten wählen: Er kann auf das offizielle ästhetische Normensystem mit einem andersartigen Normensystem reagieren, das dem vorgegebenen widerspricht, es negiert oder modifiziert. Oder aber er kann sich aus dem Text zurückziehen, ohne dabei die Aufgabe einer auktorialen Wertung an einen Erzähler oder eine Figur zu übertragen. Die auktoriale Wertung entfällt. Als Folge dieser Entwicklung nimmt die Redundanz solcher Texte ab, die Unbestimmtheit zu, – ebenso der Informationsgehalt, aber auch – zum Leidwesen mancher Literaturkritiker – das Interpretationsspektrum! Denn es gibt dann nur noch die individuellen Wertungen der Personen der Handlung! Erzähltechnisch äußert sich diese Entwicklung, die mit den 60er Jahren verbunden ist, in „einem Bestreben zur maximalen Annäherung an die Person, einem Erzähler, der dem Autor gegenüber nicht verantwortlich ist.“329 Die Autorenperspektive kommt, wenn überhaupt, dann nur mehr im Rahmen des Textes oder eines Textsegmentes zur Geltung. Jurij Trifonows Moskauer Erzählungen sind dafür ein gutes Beispiel.330 Die 1969 entstandene erste Erzählung dieses Zyklus verwendet noch einen quasi neutralen Erzähler, der allerdings im Hintergrund bleibt und es vermeidet auktoriale Wertungen zu geben. Der überwiegende Teil dieser Erzählung ist aus der Perspektive der Hauptperson geschrieben. Die in den 70er Jahren entstandenen weiteren Erzählungen rea-

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A. Koževnikova in: Jazykovye processy sovremennoj russkoj chudožestvennoj literatury. Proza. Nauka, Moskau 1977, S. 7. Ju. Trifonov: Izbrannye proizvedenija, Bd. 2, Moskau 1978. Deutsch: Moskauer Novellen, Reclam, Leipzig, Bd. 660, 1976. Dazu gehören: Obmen (1969), D: Der Tausch; Predvaritel’nye itogi (1970), D: Zwischenbilanz (Luchterhand, 1977); Dolgoe proščanie (1971), D: Ein langer Abschied (Luchterhand 165, 1976); Drugaja žizn’ (1975), D: Das andere Leben (Bertelsmann, 1976). Es werden hier noch folgende weitere Texte herangezogen: V. Tendrjakov, Zatmenie, In: Družba narodov 5, 1977, D. Mondfinsternis, Suhrkamp Verlag, 1978; V. Rasputin, Den'gi dlja Marii, In: Sibirskie ogni 9, 1967, D: Geld für Maria, Goldmann, Sammlung Moderne Literatur, Bd. 7020, 1978. Von Trifonov ist ein Band Erinnerungen erschienen, den er als autobiographischen Roman verfasste, der aber erst nach seinem Tode erscheinen konnte: Vremja i mesto. AST, Moskau 2011.

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lisieren verschiedene Verfahren in der Anwendung der Personenperspektive. Die Erzählung Zwischenbilanz wird in der ersten Person erzählt. Der IchErzähler hält dabei konsequent die Origo des Jetzt-Hier-Ich Systems (K. Bühler) ein. In Ein langer Abschied erfolgt die Erzählung abwechselnd aus der Perspektive von vier Personen, der Schauspielerin Ljalja, ihrem „Ehemann“ Rebrow, ihrem Vater, und ihrem Geliebten Smoljanow. Wiederum gibt es keine die Leserrezeption steuernde Wertung durch den Autor. Noch komplexer ist der Kurzroman Das andere Leben, in dem die Darstellung aus der Personenperspektive in freie Assoziationen übergeht und der Leser mit einem Bewusstseinsstrom (stream of consciousness, potok soznanija) konfrontiert wird, in dem zusätzlich die Standpunkte anderer Personen mit hinein genommen werden und die Perspektive der Hauptfigur überlagern. Neben der meist konsequent eingehaltenen Personenperspektive solcher Texte steht ein weiteres Merkmal, das hervorgehoben zu werden verdient: Eine sorgfältig ausgearbeitete, oft recht komplexe Textstruktur, mittels der ein Verfremdungseffekt erzielt und die Handlung weniger scharf von der Wirklichkeit abgehoben wird. Hier soll von zwei Phänomenen die Rede sein, die auf der Gestaltung des Raum-Zeit Gefüges – des Chronotops nach M. Bachtin – in der Literatur der 60er Jahre, besonders der Erzählliteratur, beruhen.331 Wie auch die sowjetische Kritik damals wiederholt festgestellt hat, distanziert sich der Autor von seinen Figuren und den dargestellten Gegenständlichkeiten. Diese Distanzierung äußert sich unter anderem darin, dass der Text bewusst literarisch gestaltet wird, wodurch seine Natur als „sekundäres modellbildendes System“ (Lotman), bzw. als eine Art zweiter Wirklichkeit, die nur bedingt und unter Beachtung des spezifischen Charakters literarischer Texte zur Wirklichkeit in Bezug gesetzt, d. h. „umkodiert“ werden kann, besonders deutlich gemacht wird. Der Leser wird vom Autor gezwungen, die Verfahren der Textgestaltung als solche zu erkennen und sich damit auch des Modellcharakters mit seiner impliziten Mehrdeutigkeit, die jede einsinnige Deutung, etwa im Sinne einer ideologisch bestimmten Wertung verneint, bewusst zu werden. Die vorherrschende multiple Personenperspektive bedingt so eine besondere Gestaltung des Chronotops. Die Zeit kann ihre Verlaufsrichtung ändern, der Erzählstandpunkt kann unabhängig von den im Leben geltenden Gesetzlichkeiten beliebig von der Gegenwart in die Vergangenheit oder Zukunft verlegt werden, die Zeit wird psychologisiert und dynamisiert. Erzähltechnisch äußern sich diese Tendenzen in der häufigen Verwendung einer komplexen Rahmenstruktur und in vielfältigen Verschie-

331

Vgl. M. M. Bachtin: Formy vremeni i chronotopa v romane. In: M. Bachtin, Voprosy literatury i estetiki, Moskau 1975, S. 234-407.

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bungen und Überschneidungen im Handlungsablauf auf der Zeitebene. Beides beeinflusst die Segmentierung des Textes und lässt sich auch graphisch in schematischer Form darstellen. Nach Boris Uspenskij liegt die Bedeutung des Rahmens in literarischen Texten im „Prozess des Übergangs von der realen zur abgebildeten Welt“, von der Welt zum Weltmodell.332 Durch den Rahmen soll der Leser dazu geführt werden, seinen Standpunkt aus der ihm bekannten realen Welt in die fiktive Welt hinein zu verlegen, die von der Sicht der dort agierenden Figuren bestimmt wird. Ein Beispiel für einen relativ einfachen Rahmen bietet Wladimir Tendrjakows Kurzroman Mondfinsternis. Die Ereignisse dieser Erzählung spielen zwischen zwei genau datierten Mondfinsternissen am 4. Juni und 29. November 1974. Von beiden wird im Ton einer populärwissenschaftlichen Meldung berichtet. Die Handlung erstreckt sich demnach vom Frühsommer des Jahres 1974 über Sommer und Herbst bis in den beginnenden Winter. Der symbolhafte Charakter dieses Zeitablaufs wird durch einen inneren Rahmen noch betont. Die 15 Abschnitte der Novelle sind in 5 Kapitel zusammengefasst: Morgendämmerung, Morgen, Mittag, Abenddämmerung und Finsternis. Diesem inneren Rahmen eines Tagesablaufs vom erwachenden Morgen bis zum Dunkel der Nacht entspricht der Ereignisablauf im Leben zweier Menschen von der aufkeimenden Liebe bis zur Eheschließung und zum endgültigen Zerbrechen der Ehe. Die Mondfinsternis deutet symbolisch die Verfinsterung in den Seelen der beiden Menschen an. Zugleich betont der Kreislauf der Natur vom Frühsommer bis Winter, bzw. der Tageslauf von der Morgendämmerung bis zur Nacht, den naturhaften Ablauf der Ereignisse und hebt sie aus der Zufälligkeit subjektiver, zutiefst persönlicher Erlebnisse heraus, verleiht ihnen eine gewisse Universalität. In Valentin Rasputins Erzählung Geld für Maria ist der Rahmen im Vergleich zu Mondfinsternis stärker formalisiert. Die Erzählung beginnt mit einem Traum der Hauptfigur, des Kolchosbauern Kusma. Derselbe Traum wird fast wortwörtlich gegen Ende des Textes wiederholt. Die gesamte Handlung der Erzählung ist somit in einem Traum eingebettet, der sich verdoppelt und zweimal vor dem Leser abläuft. Schon dadurch werden die Ereignisse aus der realen Welt gelöst, gewinnen sie eine gewisse irreale Tönung. Das irreale Moment des Traums wird durch einen dritten Traum verstärkt, der kompositionell eine zentrale Stelle einnimmt und genau die Mitte der Erzählung markiert. Wie aus der im Anhang beigefügten Skizze ersicht-

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B. Uspenskij: Poetik der Komposition, Ed. Suhrkamp 673, 1975 (Kap. 7, Abschnitt: Der Rahmen des künstlerischen Textes).

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lich wird, ist dieser Traum wieder mittels eines inneren Rahmens vom Rest der Handlung abgesetzt. Die durch Rahmenstruktur bedingte achronologische Darbietung führt zu dem zweiten Phänomen, – Verschiebungen und Überschneidungen im Zeitgefüge. Dazu gehören neben dem rückerinnernden, bzw. rückschauenden Erzählen, das häufig anzutreffen ist, zahlreiche Rückblenden, die mitunter mehr Raum einnehmen, als die eigentliche Erzählgegenwart. In Rasputins Geld für Maria spielt die Handlung am 4. und 5. Tag nach einer Revision, die ein Manko von 1000 Rubel in der Kasse Marias ergab. Ihr Mann Kusma tritt eine Reise in die Stadt an, um beim Bruder das noch fehlende Geld aufzutreiben, sodass die Kassa wieder stimmt. Die Segmentierung der Erzählung folgt dem Wechsel der Zeitebenen. Es lässt sich unschwer zwischen Erzählgegenwart und Erinnerung unterscheiden. Die Rückblenden (Erinnerungen Kusmas) nehmen allerdings fast doppelt so viel Raum ein, wie die Textsegmente, die in der Erzählgegenwart spielen. Der Autor verlegt etwa zwei Drittel seiner Erzählung in die Erinnerung seiner Hauptfigur! In Trifonows Erzählung Ein langer Abschied fällt die Verschiebung der Zeitebenen nicht immer mit der Segmentierung der Erzählung zusammen. Der zeitliche Standpunkt kann mit einem neuen Absatz wechseln, mitunter aber auch mitten in einem Absatz. Allerdings wird auf diese Verschiebung mittels adverbieller Fügungen mehr oder weniger deutlich hingewiesen. Obgleich von den 86 Seiten der Erzählung nur 15 Seiten ausgedehnten Rückblenden gewidmet sind, kommen kurz dauernde, sozusagen „momentane“ Standpunktwechsel auf der Zeitebene ungemein häufig vor, sodass wiederum der weitaus größte Teil der Erzählung von der realen Wirklichkeitsebene weg in die Erinnerung verlegt wird.333 Dieselben plötzlichen Standpunktwechsel charakterisieren Trifonows Zwischenbilanz. Diese Wechsel werden dort auf dreierlei Weise durchgeführt: a) Adverbielle Fügungen markieren sie („als ich am 19. März auf die Straße trat …“, „irgendeinmal verdrehte ich einem Mädchen den Kopf …“). b) Der zeitliche Standpunkt wechselt zugleich mit einem neuen Erzählsegment, das durch einen größeren Zeilenabstand vom vorhergehenden getrennt ist. So endet ein Segment mit dem Satz: „Kirill saß dabei und las Zeitung.“ Das nächste Erzählsegment beginnt unvermittelt ohne weiterer Einleitung: „Am Morgen brachte mir Akabaly einen Topf Milch.“ (S. 89 der deutschen

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Eine Auszählung der Standortwechsel in 86 Zeilen Text (S. 173ff. der russ. Ausgabe) ergab, dass 13 Zeilen in der Erzählgegenwart, 73 Zeilen jedoch in der Erinnerung spielen.

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Fassung) An diesen Stellen zeigt der Text die Tendenz, in den inneren Monolog überzugehen. c) An einigen wenigen Stellen erfolgt ein zeitlicher Standpunktwechsel ohne jegliche formale Kennzeichnung unvermittelt von einem Satz zum anderen. So sind gegen Schluss der Erzählung folgende drei Sätze unmittelbar aneinandergefügt: „Sie strich mir über den Kopf. So gut war das, so seidig, so lieb. Das Gute hatte Lippen, einen Hals, man konnte es umarmen. Unmerklich war das Boot mit dem Bug auf sandiges Ufer aufgelaufen, die Strömung drohte es mitzureißen, doch ich konnte noch hinausspringen …“ (S. 109 der deutschen Fassung). Der zeitliche Standpunkt wechselt von einem Satz zum anderen. Dies ist in noch größerem Maße der Fall in Trifonows Kurzroman Das andere Leben, der einen noch häufigeren Standpunktwechsel auf der Zeitebene aufweist. Der äußere Rahmen wird durch zwei Zeitangaben festgelegt: 5.30 Uhr morgens und 7.00 Uhr morgens an einem März- oder Apriltag des Jahres 1973. Diesem Rahmen sind zu Beginn des Textes ein Absatz und am Ende des Textes zwei Absätze gewidmet. Innerhalb des Rahmens schweift das Bewusstsein der Hauptfigur Olga Wasiljewna frei in die Vergangenheit zurück. Man kann von keiner Erzählgegenwart mehr sprechen, es sei denn man zählt dazu die 1 ½ Stunden am Morgen jenes Tages, an dem sie von ihrer Vergangenheit träumt, die einen ständigen Bezugspunkt ihres Gedankenflusses darstellen, zu dem sie immer wieder zurückkehrt. Die Zeitebenen und die zeitlichen Standpunkte sind untereinander gleichwertig. Olgas Bewusstsein hält sich in ihren Erinnerungen an keine chronologisch geordnete Abfolge. Der Leser wird gezwungen, gleich einem Puzzlespiel die Chronologie selbst zu ordnen. Ein vages „jetzt“ verweist mitunter auf die unmittelbare Vergangenheit, d. h. die Zeit, die seit dem Tod ihres Ehemannes Serjoscha verflossen ist, der im November des vergangenen Jahres an einer Herzattacke gestorben war. Sein Tod bildet den zweiten wichtigen zeitlichen Bezugspunkt im Text. Die Abfolge der verschiedenen Standpunkte wird von den Assoziationen Olgas bestimmt. So erinnert sich Olga an das Verhalten ihrer Schwiegermutter nach dem Tode ihres Mannes. Als Beispiel dafür steigt in ihrer Erinnerung die „Geschichte mit den Brezeln“ auf, die sie wiederum an die „Geschichte mit dem neuen Fernsehapparat“ erinnert, die zu Lebzeiten Serjoschas begann, aber erst nach seinem Tod ihren Abschluss fand. Darin eingeblendet ist Alexandra Prokofjewnas (Schwiegermutter Olgas) frühere Vorliebe für touristische Wanderungen. Dies wiederum erinnert Olga an ihren verstorbenen Schwiegervater. Danach kehrt die Erinnerung zum Fernseher zurück. Innerhalb von zwei Seiten wechselt der zeitliche Standpunkt ein Dutzend Male. Zum Teil wird eine übergreifende Ordnung dadurch geschaffen, dass jeweils mehrere Standortwechsel durch ein Erinnerungsmotiv zusammengefasst werden. 199

Die Personenperspektive, die in diesem Kurzroman vielleicht am konsequentesten durchgehalten ist, erschwert die Rezeption auch insofern, als die Realien auf der Raum- und Zeitebene verfremdet sind und nur bruchstückhaft bekannt werden. Ein Beispiel dafür: Der Text endet mit einer Vision – Olga geht mit ihrem bereits verstorbenen Mann im Wald außerhalb Moskaus spazieren: „Sie fragte ihn damals: ,Und das Geld, das Du aus der Notkasse nahmst? Nach dem Tod ist jemand gekommen und hat es zurückverlangt. Wofür hast Du es ausgegeben?’ …“

Nur die wie zufällig eingeschobene Phrase „nach dem Tod“ gibt dem Leser zu verstehen, dass der Spaziergang im Walde nur der Phantasie Olgas entsprungen ist. Erinnerte Wirklichkeit und traumhafte Vision gehen ineinander über. Es folgt darauf eine Erinnerung an einen Spaziergang am Stadtrand von Moskau, als Olga und ihr Mann einen Kirchturm besteigen und von oben herab auf die Stadt blicken. Dazu lesen wir: „ …sie konnte die hoch aufragende, massige Wand des Kraftwerkbaues unfern ihres Hauses ausnehmen, und er konnte die nebelverhangene Haube des Wolkenkratzers am Platz der Revolution ausfindig machen, neben dem er wohnte.“ (S. 357)

Dies kann nur heißen, dass sich Olga und ihr Mann schon vor seinem Tod getrennt hatten, – dass er in eine andere Wohnung gezogen war, obwohl sie einander weiter ab und zu trafen. Die Trennung muss wohl unmittelbar vor dem Tod des Mannes stattgefunden haben und wird, wie anzunehmen ist, von Olgas wachem Bewusstsein aus einem Schuldgefühl heraus verdrängt. Eine halbe Seite vor der zitierten Stelle wird im Text bereits auf eine Trennung hingewiesen, allerdings in so vager Form, dass der Leser die angedeuteten Bezüge nicht unbedingt erfassen wird. Wir lesen dort: „Sie quälte sich, weil er in der Ferne krank lag.“ (Kursiv R. N.) Erst in der Zusammenschau beider zitierter Stellen lässt sich ihr Zusammenhang erahnen. Dieses Beispiel kann modellhaft für den ganzen Kurzroman gelten, der vom Leser ständig verlangt, dass er vage Andeutungen konkretisiert, wobei er die in der Erinnerung zerstückelte Chronologie rekonstruieren muss. Noch auf diesen letzten eineinhalb Seiten wechselt der zeitliche Standpunkt Olgas sechsmal, wobei die Chronologie in Form einer Zickzacklinie bald nach rückwärts bald nach vorne springt. Es ist verständlich, dass ein solch willkürlicher Umgang mit der Zeitebene dem Leser viel abverlangt. Da alle Erinnerungen der Perspektive Olgas untergeordnet sind und dazu noch einem Zustand emotionellen Ungleichgewichts entspringen, wuchert die Subjektivität aus. Der Autor macht keinen Versuch, aus seiner Sicht einzugreifen oder eine andere Perspektive zu bieten. Die Interferenz der Zeitebenen geht hier so weit, dass das Verständnis gehemmt und der Text weitgehend verfremdet wird. Die Ver200

legung der Handlung in Erinnerung und Traum wird hier am weitesten vorangetrieben, wodurch der Text individualisiert und verinnerlicht wird. Am Beispiel komplexer Rahmenkonstruktionen und der Komplizierung der Handlung auf der Ebene der Zeit zeigt sich, wie es dem Autor gelingt, auktoriale Wertungen zu umgehen. Es ist verständlich, dass dies im Kontext des sowjetischen Literaturbetriebs bemerkt und kritisiert wurde. Dafür einige konkrete Beispiele. So hat L. Jakimenko in Fragen der Literatur (Voprosy literatury 9/73) festgestellt: „Es gibt keine konsequente, unversöhnliche sittliche Beurteilung, nur eine oberflächliche Verurteilung.“ Oder im selben Heft als Teil eines redaktionellen Schlusswortes der Diskussion über moderne sowjetische Prosa: „Die erzieherische Funktion der Literatur löst sich in flache Alltagsbeschreibung auf.“ Solche Stellungnahmen finden sich in der Kritik immer wieder. Als Beispiel sei aus einem Interview mit Tendrjakow zitiert, das in Nr. 16. der Zeitung des Schriftstellerverbandes Literarische Gazette vom 18. April 1979 abgedruckt ist. Hier wird eine Frage von W. Dudinzew an Tendrjakow zitiert: „Schickt es sich für den Autor sich nicht festzulegen, seinen Standpunkt über das, worüber er schreibt, zu verbergen?“334 Bekanntlich forderte die Doktrin des sozialistischen Realismus vom Autor eine eindeutige Bewertung fiktiver Sachverhalte im Sinne der Erziehung des Lesers und der Schilderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Sicht ihrer revolutionären Umgestaltung. Seit dem Ende des politischen und gesellschaftlichen Tauwetters in den sechziger Jahren war es für den Schriftsteller zunehmend schwieriger geworden, sich den ideologischen Forderungen zu entziehen. Wo dies geschah, führte es dazu, dass sich der Autor sozusagen hinter seine Figuren zurückzog und sich darauf beschränkte, das Geschehen aus ihrer Perspektive kommentarlos wiederzugeben. Auch in Trifonows Moskauer Novellen dominiert die Personenperspektive, wobei es in der Regel zu Überlagerungen und Verschiebungen der Standpunkte und Perspektiven kommt. Diese komplexe Perspektiventechnik, die man die Technik der multiplen Personenperspektive nennen könnte, führte zu einer Komplizierung in Fragen der Wertung. Die auktoriale Wertung löst sich in eine Vielheit subjektiver, jeweils begrenzter Wertungen auf, die der Leser erst zueinander in Bezug setzen muss, um ihre relative Bedeutung zu erfassen. So stellte eine sowjetische Kritikerin 1977 fest, dass seit Ende der fünfziger Jahre in der Literatur ein „Bestreben zu maximaler Hinwendung zur literarischen Figur, zu einem Erzähler, der dem Autor nicht ver334

Die Bedeutung dieser Fragestellung wird immer wieder in der Literaturkritik herausgestellt. Siehe u. a. V. Percovskij: „ ,Avtorskaja pozicija‘ v literature i kritike.“ In: Voprosy literatury 7 (1981), S. 66-105, aber auch die Polemik in der Literaturnaja gazeta (Nr. 5, 7, 9-16, 1982): Sovremennyj geroj: Pozicija avtora i logika žizni.

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pflichtet ist“, beobachtet werden kann.335 Erst in dem „Zu-Ende-Lesen“, zu dem der Leser aufgerufen ist, kann sich so etwas wie ein übergreifender Sinn ergeben, hinter dem die – aus dem Text sorgfaltig ausgesparte – auktoriale Wertung steht. Die Verschiebung und Überlagerung der Erzählstandpunkte findet ihren Ausdruck in zwei charakteristischen Strukturmerkmalen – der Auflösung der Chronologie des erzählten Geschehens durch assoziatives Erzählen und die Segmentierung der Handlung durch eine oft komplizierte Rahmentechnik, die sich beide auch bei Trifonow finden. In den siebziger Jahren wurden Trifonows Erzählungen ausführlich von der Kritik diskutiert. Von ideologisch-orthodoxer Seite griff man den Autor heftig an. Seine Texte wurden als „soziologische“ Studien an trivialen Objekten wie dem Kleinbürger abgewertet, der Mangel an positiven Helden gerügt und das Fehlen einer auktorialen Bewertung bemängelt. Trifonow wandte sich gegen derartige simplifizierende Verzerrungen in den Kritiken und betonte dagegen die Komplexität des modernen Menschen – und damit auch der modernen Literatur: „Mich interessieren Charaktere. Und jeder Charakter ist etwas Unikales, Singuläres, eine unnachahmbare Vereinigung von Einzelzügen und Strichen.“336 Das so verstandene Individuum lässt sich nicht unter fertige Schlagworte und Wertungen subsumieren. Trifonows Novelle Ein Langer Abschied zählt zu den bedeutsamsten Werken der sogenannten Alltagsprosa337, die neben der Dorfprosa338 zum führenden Genre der sechziger und siebziger Jahre wurde. Sie soll deshalb hier detailliert analysiert werden. Der sowjetische Literaturkritiker W. Perzowskij stellte 1974 folgende Definition der Alltagsprosa auf: „In den Werken dieses Genre der Alltagsprosa stellen die Autoren das ,private Leben’ des zeitgenössischen Städters dar, wobei sie als Helden Menschen von betont gewöhnlichem, sich durch nichts auszeichnendem Habitus wählen, sie in Situationen versetzen, die durch und durch alltäglich sind und den äußeren Gang der Dinge nicht stören.“339 Jurij Trifonow selbst äußerte sich im selben Jahr in einem Interview: „Der Alltag (byt) ist eine große Prüfung (ispytanie;

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L. A. Koževnikova, Jazykovye processy sovremennoj russkoj chudožestvennoj literatury. Proza. Moskau 1977, S. 7. Voprosy literatury 16, Nr. 2, 1972, S. 63. Russ. bytovaja proza. Ein Langer Abschied (Dolgoe proščanie) nach: Ju. Trifonov (1925-1981): Izbrannye proizvedenija, hg. T. Sumarokova, 2 Bde., Moskau 1978, Bd. 2, S. 126-212. – Dt. Übers.: Ein Langer Abschied, übers. S. List, Darmstadt – Neuwied 1976. Russ. derevenskaja proza. V. Percovskij: Ispytanie bytom. Polemičeskie zametki. In: Novyj mir 50, Nr. 11, 1974, S. 236.

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Wortspiel mit byt : ispytanie). Ist doch das gewöhnliche Leben die Prüfung durch das Leben, worin sich eine neue, zeitgemäße Moral zeigt und einer Prüfung unterworfen wird.“340 Fabel und Handlung der Alltagsprosa sind auf den individuellen, den innersten Bereich des Menschen beschränkt. Die Novelle Ein Langer Abschied besticht durch ihren kunstvollen Aufbau, der allerdings hinter der subtilen Erzähltechnik des Autors verborgen bleibt und sich erst einer eingehenden Analyse eröffnet. Wir wollen diesem Aufbau auf den verschiedenen Strukturebenen nachgehen. Um die Intention seiner Texte zu verdeutlichen, führt Trifonow Zeilen aus dem Vorwort Lermontows zu seinem Roman Ein Held unserer Zeit an, in dem der Autor davon spricht, dass er „den zeitgenössischen Menschen schildern wollte, so wie er ihn versteht und wie er ihn, zu seinem Unglück, allzu oft getroffen hat.“341 Die Handlung spielt in der Zeit von Juli 1951 bis Mitte März 1953, doch etwas mehr als ein Drittel des Textes ist ausgedehnten Rückblenden gewidmet, in denen der Autor weit ausholt und die Biographie seiner Personen bis in die frühen vierziger Jahre verfolgt. Im Falle des Vaters der Heldin reicht die Rückblende sogar bis in die Zeit vor der Revolution zurück! Als weitere Besonderheit ist anzumerken, dass Trifonow seine Novelle mit einem Rahmen versehen hat, der im Jahr 1970 spielt. Das komplexe chronologische Gefüge lässt sich durch folgende Skizze veranschaulichen: B A C1

A: Erzählgegenwart B: Rahmen C: Rückblenden

340 341

C2

C3

1951-1953 1970 C1: Ljaljas Erinnerungen (1945-1951) C2: Rebrows Erinnerungen (1943-1951) C3: Erinnerungen von Ljaljas Vater (vor 1917–1951)

Voprosy literatury, 16, Nr. 2, 1972, S. 65. Ibid., S. 64.

203

Die Erzählung endet zu einem signifikanten Zeitpunkt. Am 5. März 1953 starb J. W. Stalin342. Dieses Ereignis wird ohne Namensnennung im Text erwähnt. (S. 209) Scheinbar ohne Bezug darauf stellt sich Rebrow, den wir als Hauptfigur der Novelle bezeichnen können, eine in diesem Kontext gewichtige Frage: „Wird es ein anderes Leben geben?“ Unmittelbar darauf wird berichtet, dass Rebrow vom Fenster seines Hotels mitansieht, wie ein Unbekannter erstochen und der Mörder von der Menge fast gelyncht wird. Rebrows Gedanken hierbei – „Wie leicht ist es, einen Menschen zu töten. Und wie unendlich schwierig ist es, den Menschen zu töten“ – lassen sich gleichsam, wie auch die vorangegangene Frage Rebrows, als Spiegelung der drei chronologischen Ebenen (Rückblenden, Erzählgegenwart, Rahmen) auf drei Kontexte beziehen: Rebrows eigene Lebenserfahrung (er beginnt gerade ein neues Leben), die Zeit der Stalinschen Herrschaft und die im äußeren Rahmen angedeutete Zeit der sechziger und siebziger Jahre (Rehabilitierung Stalins). Rebrows Gedanken zielen simultan auf alle drei Kontexte. Der Autor aber enthält sich einer jeden weiteren Konkretisierung der Reflexionen seines Helden. Der Leser wird aufgerufen, den Text selbst „zu Ende zu lesen“, um die Unbestimmtheit der angedeuteten Bezüge zu konkretisieren. Die Handlung selbst lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Die Schauspielerin Ljalja (= Ljudmila) Telepnewa lebt mit Grischa (= Grigorij) Rebrow, einem angehenden Bühnenautor, zusammen. Da sich Ljaljas Mutter heftig einer Ehe mit dem bislang erfolg- und mittellosen Schriftsteller widersetzt, haben die beiden vorderhand die Eheschließung verschoben. Ljalja, deren schauspielerisches Können auf schwachen Beinen steht, lässt sich vom erfolgreichen, obgleich wenig talentierten Dramatiker Smoljanow fördern und geht ein Verhältnis mit ihm ein. Dieses endet, als Smoljanow sie mit seinem hochgestellten Gönner Agabekow verkuppeln will. Rebrow erfährt erst nach dem Ende der Affäre von Ljaljas Untreue und bricht seinerseits mit ihr. Er beginnt ein neues Leben in Sibirien. In einer Nebenhandlung wird von Ljaljas Vater berichtet, der darum kämpft, dass sein Blumengarten erhalten bleibt, der mitsamt dem Häuschen der Telepnews am Rande Moskaus abgerissen werden soll, um neuen Wohnblöcken Platz zu machen. Die Aufregungen, die damit verbunden sind, führen zu drei Herzinfarkten. Dieser vordergründigen Armut an bedeutsamen inhaltlichen Handlungselementen steht eine Fülle von Details gegenüber, die teils aus dem Alltagsleben der Handlungsfiguren stammen und in minutiösen Mikroanalysen eine Straßenbahnfahrt, einen Abend und eine Nacht im Hause der Telepnews, einen Besuch 342

In der Novelle wird als Todeszeit 5 Uhr Lokalzeit angegeben (S. 209), – Stalin starb aber um 21 Uhr 51 Minuten. Die Differenz von 7 Stunden deutet darauf hin, dass sich Rebrow, der auf dem Weg nach Sibirien ist (von seinem Standpunkt aus wird erzählt), bereits in der Nähe von Chabarowsk befinden muss.

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im Café und ähnliches schildern, teils Detailaufnahmen aus der Kindheit und Jugend der Hauptpersonen sind. Hier wie dort geht der Autor assoziativ vor und schließt in seine Darstellung auch die gedanklichen Vorstellungen und Erinnerungen seiner Figuren ein. Ein Großteil des Textes besteht daher aus Rückblenden und Erzählberichten. Nur einige wenige Handlungselemente erscheinen in szenischer Darstellung und bilden das Gerüst des Handlungsablaufes. Insgesamt lassen sich vier solcher Segmente unterscheiden: Die Erzählhandlung beginnt mit der Schilderung eines Abendessens der Schauspieler bei Smoljanow im Juli 1951. Daran schließt sich die Premiere eines neuen Theaterstückes Smoljanows an, in dem Ljalja die Hauptrolle spielt. Die Premiere findet im März 1952 statt. Der dritte Handlungsblock beschreibt eine Party im Hause von Smoljanows Gönner Agabekow im Januar 1953. Der äußerst knapp gehaltene vierte Handlungsblock schließt chronologisch unmittelbar an die Ereignisse der Party an. Die Handlung beschleunigt sich und besteht nur mehr aus einzelnen Momentaufnahmen, die wie in der Erinnerung gespeicherte Schnappschüsse wirken: Ljalja wendet sich von Smoljanow ab; dieser versucht Rebrow zu fördern, um über ihn erneut Zugang zu Ljalja zu finden. Rebrow löst sich seinerseits von Ljalja und fährt in der transsibirischen Eisenbahn einem neuen Leben entgegen. Je ein Absatz am Beginn und Ende der Novelle bilden einen äußeren Rahmen, in dem vom Standpunkt Ljaljas aus das Schicksal der Moskauer Vorstadt geschildert wird, wobei dieses Schicksal symbolhaft für dasjenige der Menschen steht, die vor 18 Jahren dort gewohnt haben. In jedem der vier Handlungsblöcke sind ausführliche Rückblenden eingeschoben. Es kommt zu zeitlichen Überlappungen, da der Autor wiederholt ein und dieselbe Zeit aus jeweils anderer Perspektive schildert. Schon aus der Aufschlüsselung der Handlung nach Handlungsblöcken in szenischer Darstellung und Rückblenden ist zu erkennen, dass die Gliederung der Handlung von einem zweiten Prinzip der Textgestaltung überlagert wird – der Segmentierung des Textes nach Erzählstandpunkt und Erzählperspektive. Hierbei stoßen wir auf eine Erscheinung, die für die literarische Technik der sechziger und siebziger Jahre charakteristisch wurde und zu einer im Kontext der sowjetrussischen Literatur bedeutsamen Problematik führt: Die Wertung der fiktiven Geschehnisse und Personen und ihrer Beziehungen. Am Beginn der Novelle steht die schon erwähnte knappe Schilderung der Moskauer Vorstadt, die von einem quasi auktorialen Standpunkt aus erfolgt. Nur adverbielle Wendungen wie „an dieser Stelle“, „hier“, „jetzt“, „heute“ und ähnliche deuten an, dass es sich um einen innerhalb der fiktiven Welt angesiedelten Erzähler handelt. Aus der weiteren Erzählung und der Wiederaufnahme des Rahmens am Ende des Textes ergibt sich, dass der Rahmen aus der Perspektive Ljaljas erzählt wird. Dies gilt auch für die jeweils an den 205

äußeren Rahmen angrenzenden Textsegmente. Im weiteren Verlauf der Erzählung wechselt der Standpunkt mehrmals. Noch eine Besonderheit fällt auf. An zwei Stellen wird die Personenperspektive unterbrochen und durch einen quasi objektiven Autorenstandpunkt ersetzt. Diese beiden Stellen bilden sozusagen einen inneren Rahmen in der Novelle, der jenen zentralen Teil hervorhebt, der für das weitere Schicksal der beiden Hauptpersonen bestimmend ist und in dem der Autor seine bedeutsamsten Aussagen macht. Zwischen äußerem und innerem Rahmen stehen jeweils zwei Erzählsegmente, von denen das eine Ljalja, das andere Rebrow zugeordnet ist. Daraus ergibt sich folgende Segmentierung des Textes, die auch visuell kenntlich gemacht ist, insofern jeweils ein größerer Zeilenabstand die von verschiedenen Standpunkten aus erzählten Segmente voneinander trennt: DIE MOSKAUER VORSTADT 1970 1. I. Teil 2.

Ljalja: Sommer 1951 – März 1952 (Gastspiel in Saratow. Premiere in Moskau) Rebrow: Ljaljas Premiere im März 1952

LJALJAS VATER. Premiere im März 1952 und der folgende Morgen 1. II. Teil

2.

Ljalja: Besuch bei Agabekow im Januar 1953 Rebrow: Die Nacht des Besuchs und die drei folgenden Tage.

SMOLJANOW. Ende Januar bis Ende Februar 1953 (Smoljanow – Ljalja; Smoljanow – Rebrow) 1. III. Teil 2.

Rebrow: 1. März 1953 bis Mitte März 1953 Ljalja: 1970 (Begegnung mit Mascha)

DIE MOSKAUER VORSTADT 1970

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innerer Rahmen

äußerer Rahmen

Für Fragen der Wertung sind folgende Aspekte bedeutsam: Im ersten Teil dominiert Ljalja. Der Text beginnt mit ihrer Sicht. Ihrem Standpunkt ist fast dreimal soviel Raum gewidmet wie dem Rebrows, der jedoch im letzten Teil dominiert. Der dritte Teil beginnt mit seinem Bericht, der etwa neunmal so lang ist wie das kurze Ljalja gewidmete Segment. Rebrows Bedeutung wird weiter hervorgehoben, indem ihm im zentralen zweiten Teil dreimal so viel Raum eingeräumt wird wie Ljalja. Das heißt, etwa von der Mitte der Novelle an verlagert sich das Gewicht auf Rebrow. Er wird damit deutlich erkennbar zum eigentlichen Helden der Erzählung! Man könnte sagen, die Geschichte wird nicht Ljaljas, sondern Rebrows wegen erzählt. Die Personenperspektive wird nur hin und wieder durch die Verwendung der direkten Rede kenntlich gemacht. Auf lange Strecken scheint die Darbietung dem konventionellen auktorialen Erzählstil zu entsprechen. Die Textanalyse zeigt, dass Trifonow vor allem die vielfaltigen Erscheinungsformen der erlebten Rede bis hin zum inneren Monolog zur Markierung des Personenstandpunktes verwendet. Charakteristische lexikalische, grammatische, syntaktische und thematische Merkmale im Text verweisen dabei auf die Personen, von deren Standpunkt gerade erzählt wird. Formal ist diese Art der Darbietung dem quasi objektiven auktorialen Erzählbericht angeglichen. Inhaltlich repräsentiert der Text jedoch die Sicht des Helden, seine subjektive Wahrnehmung und Wertung des fiktiven Geschehens. Wenn beispielsweise ein und dieselbe Person (oder auch ein und dasselbe Ereignis) mehrmals in ganz unterschiedlicher Weise gesehen und gewertet wird, muss der Leser erschließen, was nicht immer leicht ist, wessen Standpunkt jeweils den Erzählbericht prägt. Wir erfahren z. B. von einer Randfigur, dem Poeten Lasik, aus der Perspektive Ljaljas: „Ein Dichter, er hinkte, das eine Bein hatte er bei Leningrad verloren, er verfasste Lieder und sang wundervoll zur Gitarre“ (S. 128). In der Perspektive Rebrows taucht derselbe Lasik als „hinkender Dichter“ und „Lahmfuß“ wieder auf, der „irgendwelche Liedchen für Invalide und Blinde verfasste, ein armseliges Geschöpf, ein Schwächling und Alkoholiker“ (S. 153). Noch komplexer und vielfältiger schillernd sind Beschreibung und Wertung Smoljanows! Erst wenn man Wertung und Erzählperspektive zueinander in Beziehung setzt, ergeben sich sinnvolle Einsichten, aus denen letztlich die auktoriale Wertung zumindest andeutungsweise erschlossen werden kann. Die Personen lassen sich nach ihrer Funktion in drei Kategorien einteilen. Als Hauptpersonen sind drei Figuren anzusehen: Die Schauspielerin Ljudmila Petrowna Telepnewa, geboren 1927. Sie lebt in wilder Ehe mit Grigorij Fedorowitsch Rebrow, der fünf Jahre älter ist als sie und sie seit dem zwölften Lebensjahr kennt, als sie in einer Klasse beisammen saßen. Beide sind in der Ära Stalins aufgewachsen. Dies und die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges prägten ihre Jugend. Nikolaj Demjanowitsch Smoljanow, ein sowje207

tischer self-made man der Stalinzeit, diente in den dreißiger Jahren in einer Polarstation, dann bei der Grenzwache und war einmal in seiner Jugend Boxer. Er ist ein nur mangelhaft gebildeter provinzieller Stückeschreiber, der mit Geschick die „richtigen“ Themen aufgreift und zu anspruchslosen, aber erfolgreichen Theaterstücken verarbeitet. Durch Vermittlung einflussreicher und hochgestellter Gönner, zu denen der Georgier Agabekow zählt, macht er Karriere. Zum zweiten Personenkreis gehören alle jene Personen, die handelnd auftreten und zu den drei Hauptpersonen in einer persönlichen, beruflichen oder familiären Beziehung stehen. Das sind Ljaljas Eltern, besonders ihr Vater, in dessen Erinnerungen das vorrevolutionäre Moskau in die Erzählung eingebunden ist, Theaterleute, darunter der Direktor Sergej Leonidowitsch, der Dramaturg Smurnyj, weiter einige Freunde und Bekannte Rebrows und Ljaljas. Im Hintergrund stehen zahlreiche weitere Figuren, die teils Statistenrollen spielen, teils nur in Gedanken und Berichten anderer erscheinen. Nicht zu vergessen sind die Personen aus dem zeitgeschichtlichen Kontext, die zwar sorgfältig aus der Erzählung ausgespart bleiben, aber wie z. B. Stalin zwischen den Zeilen präsent sind. In den Schicksalen der Personen aller drei Kategorien wird ein buntes, mosaikförmiges, zeitgeschichtliches Gemälde entworfen, das die Geschichte der Sowjetunion und ihrer Menschen in dem halben Jahrhundert des Bestehens dieses Staates resümiert. Trifonow gelingt es, in knappster Form, in zahlreichen Vignetten – manche Lebensgeschichten umfassen nicht mehr als ein oder zwei knappe Sätze – sowie in zahlreichen über den gesamten Text verteilten Rückblenden, das zu tun, was normalerweise nur in der großen epischen Erzählform des Romans möglich ist: eine ganze Epoche gesellschaftlicher Entwicklung darzustellen. Es ist verständlich, dass manche Bereiche ausgespart bleiben; dazu gehören der Terror der dreißiger Jahre, Schauprozesse, Verhaftungen und Lager und manches andere, was nur andeutungsweise zur Sprache kommt, bzw. von den Erinnerungen des sowjetischen Lesers, wie man annehmen kann, beigesteuert wird. Dazu gehören auch das System der Protektion und Förderung durch sogenannte solidnye (d. h. im Machtapparat verankerte, einflussreiche) Leute oder die Gängelung der Literatur, wie sie Sergej Leonidowitsch als Theaterdirektor erlebt und anprangert. Auch außenpolitische Ereignisse gehören zum zeitkritischen Hintergrund und erlauben dem Leser, die Handlung zu datieren. So wird bei Agabekow über Politik, den amerikanischen Präsidenten und Jugoslawien diskutiert (S. 170)343.

343

Am 13. Januar 1953 erhielt Jugoslawien eine neue Verfassung, mit der das Selbstverwaltungssystem eingeführt wurde. Marschall Tito wurde Staatspräsident und Vorsitzender des Exekutivrates. Am 20. Januar 1953 erfolgte die Inauguration von Gene-

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Die Frage nach der Wertigkeit der Hauptpersonen lässt sich dahingehend beantworten, dass Grischa Rebrow allein aufgrund struktureller Gegebenheiten als Held der Novelle anzusprechen ist. Doch heißt das nicht, dass er im Sinne des sozialistischen Realismus ein positiver Held ist. Wohl verkörpert er im Sumpf des Protektionismus, der das Theaterleben beherrscht, eine neue, zukunftsweisende Kraft. Er allein hat den Willen und die Energie, der Versuchung, die in Gestalt des ihm verhassten Smoljanow an ihn herantritt und ihm einen Posten mit fetten Pfründen bietet, zu widerstehen. Er beginnt ein neues Leben in Sibirien, das ihm in der Zeit der Liberalisierung den langersehnten Erfolg als Dramatiker bringt. Doch wird auch angedeutet, dass er sein Glück letztlich nicht in diesem Erfolg findet. Nach zwei in die Brüche gegangenen Ehen kommt er, trotz materiellen Wohlergehens, zum Schluss, dass das Glück woanders, nämlich in der Vergangenheit liegt, in den Jahren des Suchens an der Seite Ljaljas, als er litt und schwer zu kämpfen hatte, als er seine Lebenssituation als zutiefst unglücklich empfand. Rebrow/Trifonow meint am Ende der Novelle: „Um glücklich zu sein, braucht es ebensoviel...“ (S. 212). Die Fortsetzung dieses Satzes findet der Leser, wenn er zurückblättert: „Ebensoviel Glück wie Unglück: Mehr war nicht erforderlich“ (S. 197). Diese Erkenntnis, die dem utilitaristischen Streben materialistischer Ethik so gar nicht entspricht, wird von Rebrow im nächsten Absatz ergänzt: „Nicht cogito, ergo sum, sondern: ich liebe, ergo sum, das war alles.“ (S. 197) Diese an Dostojewskij erinnernden Worte über das Verhältnis von Glück, Unglück und Liebe entspringen einer christlichen Ethik und dienen als Gegenbild zum Hasten und Streben der Menschen, ihrer Jagd nach materiellen Gütern, hinter der sich eine innere Leere verbirgt. Auch Rebrow bleibt letztlich diesem leeren Leben verhaftet. Das unerfüllte Leben, die Frustrationen der Hauptpersonen lassen in der atmosphärisch dichten Schilderung Trifonows an Tschechows Erzählungen denken, die von ähnlichen Stimmungen beherrscht werden. Auch Tschechows impressionistischer Stil findet eine Fortsetzung bei Trifonow. In zahlreichen Vignetten wird die Zerstörung der Lebenshoffnung illustriert. So lesen wir von Ljaljas Tante Toma: „Diese stille, hochgewachsene, unschöne Alte hatte ein unglückliches Schicksal gehabt – alle ihre Nächsten, Mann und Kinder, waren irgendwie, irgendwo umgekommen“ (S. 174). Tante Toma wiederum erzählt von Ljaljas Mutter, die einst ihre Karriere als Ballettänzerin begonnen hatte und eine Schönheit gewesen war... Dann folgte der Krieg, schwere physische Arbeit und: „Ja, Irinas ganze Jugend, alle ihre Hoffnungen, ihre Begabung, die es doch gegeben hat – alles ist vom Erdbo-

ral Dwight D. Eisenhower als Präsident der USA. Diese Ereignisse wurden auch in der Sowjetunion lebhaft diskutiert.

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den verschwunden. So sieht das Glück aus.“ (S. 177) Man könnte eine Reihe weiterer solcher Kurzbiographien anführen, die von Leid und Frustration berichten. Für alle Charaktere der Novelle gilt im Grunde, was Smoljanow im Zustand leichter Betrunkenheit von sich selbst sagt: „Ich bin ein kleiner, unbedeutender Mensch... Aber auch die anderen sind nichtige, kleine Menschen“ (S. 138). Die Menschen werden als dran’ ljudischki gesehen, was in der deutschen Fassung ungenau als „dummes Pack“ wiedergegeben wird – gemeint sind Menschen, die sich hilflos der alles verändernden Macht der Zeit ausgesetzt sehen. Auch auf der Ebene des Personengefüges ist Rebrow, wenngleich mit Einschränkungen, als Hauptperson der Novelle anzusehen. Doch aus der Sicht des gesamten Handlungsgefüges unterliegt auch er einer stärkeren Macht, die als der eigentliche Held der Novelle angesprochen werden kann – der alles verändernden und verwandelnden Zeit. Die Zeit beherrscht auch die Thematik des äußeren Rahmens der Novelle, die damit eine weitere wichtige Funktion erhält. Wandel, Unbeständigkeit, der Fluss der Zeit werden vor allem indirekt in oppositionellen adverbiellen Fügungen wie damals : heute, dort, hier, vor 18 Jahren, jetzt zum Ausdruck gebracht. Verben, die eine dynamische Funktion haben, verstärken die Bewegung und Veränderung in der Zeit und durch die Zeit: breitet sich aus, reißt auf, rammt ein, schüttet zu, reißt ab, richtet auf, vernichtet spurlos, – Verben, die zugleich Veränderung und Untergang des Individuums in der Masse bedeuten. Der Idylle des erinnerten Vorstadtfrühlings am Beginn („die alte Stadt am Meer, im Süden“, „eine alte Stadt in der Dämmerung“) wird das Chaos einer verasphaltierten und verbetonierten Hochhauslandschaft in der neuen Vorstadt am Ende des Textes gegenübergestellt. Auch der Theaterdirektor Sergej Leonidowitsch erkennt die Bedeutung von Veränderung und Wandel: „Ach, könnte man den Strom der Zeit, der alle und alles trägt, auf die Bühne bringen!“ (S. 191) In Trifonows Technik der Abfolge von minutiösen, auf knappsten Raum reduzierten Momentaufnahmen wird der Fluss der Zeit für den Leser plastisch fühlbar. Im direkten Hinblick erscheint jedes Detail wie durch ein Mikroskop betrachtet und macht die stete Veränderung dem Menschen eindringlich bewusst. So sinniert Rebrow, „wie abstoßend musste doch das menschliche Gesicht sein, wenn man es unter der Lupe betrachtet, alle Poren, Härchen, Unebenheiten der Haut... Und wir tun ja nichts, als ständig durch die Lupe zu sehen. Jede Minute, jede Sekunde – tausendfache Vergrößerung.“ (S. 177) Von diesen Überlegungen aus kommt auch er auf den steten Wandel zu sprechen, dem alles in der Gegenwart unterworfen ist: „Genau genommen lebte jeder Mensch... nicht ein, sondern mehrere Leben. Er starb und wurde wiedergeboren, war bei seiner eigenen Beerdigung zugegen und sah bei der eigenen Geburt zu: wieder die gleiche Saumseligkeit, die gleichen Hoffnungen.“

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(S. 209) Der Einzelne ist so sehr in den steten Wandel der Dinge hineingestellt, dass er „ja nicht merkt, wenn er sich in etwas anderes verwandelt“. (S. 178)

Für Rebrow, der ein historisches Drama schreiben will, kristallisiert sich seine Aufgabe demgemäß darauf, zu erkennen, „in was er [= der jeweilige Gegenstand seiner historischen Forschungen] sich durch die Macht der Zeit verwandelt hatte“. (S. 210) Der stete Wandel, der auch die gesellschaftspolitischen Umstände einbezieht, findet in der Gegenwart eine Parallele in der „universellen Heuchelei“, deren sich die Menschen oft nicht mehr bewusst sind – wie etwa Ljalja, die ohne böse Absicht ihre Affäre mit Smoljanow vor Rebrow verbirgt.344 Die Affäre selbst, so vermutet Rebrow zutreffend, ist nicht zuletzt deshalb zustande gekommen, weil Ljalja „es sich irgendwie richten wollte“. (S. 207) Selbst Rebrow beugt sich der Notwendigkeit einer Anpassung an die herrschenden Umstände und richtet die Thematik seiner Theaterstücke nach den tagespolitischen Anforderungen aus. So schreibt er ein Stück über den Koreakrieg (1950–53) und ein weiteres über den Bau eines vielstöckigen Universitätsgebäudes, vermutlich im Stil der Stalinistischen Architektur! Der Theaterdirektor spricht in diesem Zusammenhang von Mythenbildung und Mythologem. (S. 189) Der stete Wandel wird somit als stete Anpassung zu einem zwiespältigen Begriff und erweist sich nicht nur als Ausdruck für den Fluss der Zeit, sondern figurativ als Metapher für eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Diesem Komplex negativer Erscheinungen stellt Trifonow in der Suche Rebrows nach der historischen Wahrheit des Ganzen ein positives Gegenbild gegenüber, das allerdings nur angedeutet wird. Wieder sind dabei gesellschaftspolitisch bedeutsame Erkenntnisse in scheinbar private, familiäre Gespräche verkleidet. Rebrow sagt sich, dass er seine ihm geradezu verhasste Schwiegermutter in spe eigentlich nicht hassen dürfe – schließlich hatte sie doch die Frau geboren, die er liebt: „Während man doch immer alle Jahre sehen müsste, das Ganze... Dann gäbe es keinen Hass... Wir sind ein geschlossenes Ganzes. Wie ein Baum mit seinen Ästen.“ (S. 178) Dieser Suche nach dem Ganzen im privaten Bereich entsprechen Rebrows Studien über die Dekabristen, den Aufstand der Polen in der sibirischen Verbannung, über Iwan Pryschow, den Dichter Michailow und den Beamten Nikolaj Wassiljewitsch Kletotschnikow, der zu einem Revolutionär wurde.345 Hier findet Rebrow zuletzt, so scheint es, das, was er in der Gegenwart vermisst: das

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So meint Sergej Leonidovič „Wir werden an der Heuchelei zugrunde gehen“ (S. 188). Ivan Gavrilovič Pryžov hatte auf Befehl des Revolutionärs Nečaev seinen eigenen Genossen, den unschuldigen Studenten Ivanov, ermordet, worauf Dostojewskij in dem Roman Die Dämonen anspielt. Trifonov hat dieses Thema ausführlicher in seinem Roman Ungeduld ausgeführt.

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Gewissen, das Kletotschnikow, die unscheinbare, todkranke „provinzielle Beamtenratte mit runder Brille“ (S. 190) zum Revolutionär machte – „eine gigantische Kraft, eine Kraft, die zu verschiedenen Zeiten mal zunimmt, mal schwindet“. (S. 190) Dieses Gewissen erwacht auch in Rebrow und lässt ihn schließlich mit seinem Moskauer Leben an der Seite Ljaljas brechen und den Sumpf, in dem er fast versunken wäre, verlassen. Damit sind wir in den innersten Bereich der Novelle vorgedrungen. Ein Langer Abschied kann metaphorisch als ein verzögertes Abschiednehmen von einer ganzen Epoche verstanden werden, einer Epoche, die wie keine andere den einzelnen Menschen vergewaltigt, frustriert und manipuliert hat. Eingangs wurden die von Trifonow zitierten Worte Lermontows angeführt – allerdings nicht vollständig. Der fehlende Teil des Zitats sei nun hier nachgetragen. Er erhält aus der Sicht unserer Interpretation des Langen Abschieds besonderes Gewicht: „Genug damit, auf die Krankheit ist hingewiesen, wie sie zu heilen ist – das weiß Gott!“ Daran schließt sich ein Zitat von A. Herzen an, das Trifonow in einem öffentlichen Brief an Martin Walser wiedergibt: „Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz.“346 Der Schriftsteller entzieht sich bewusst den Zwängen des ideologischen Normensystems – er will nicht Arzt sein – und lässt in einem formal komplex gestalteten Text allein seine Figuren selbst zu Wort kommen. Die auktoriale Wertung, der auktoriale Standpunkt, muss erst vom Leser aus der Gegenüberstellung verschiedener subjektiver, personaler Standpunkte erschlossen werden. Obgleich die Autoren es vermeiden, von sich aus Wertungen zu setzen, ist die Intention nichts destoweniger deutlich. In Trifonows Worten: „Was reissen wir uns Unglücklichen darum, die anderen zu verstehen, wo wir doch uns selbst nicht verstehen können! Uns selbst verstehen, oh Gott, für den Anfang wenigstens!“347 Wir sehen, es geht um eine zutiefst individualisierte, subjektive, verinnerlichte Problematik – um Selbstverständnis, Ich-Findung. Fabel und Handlung sind auf die individuellsten, innersten Bereiche des Menschen beschränkt. Selbst das Berufsleben der Figuren wird meist nur am Rande behandelt und spielt eine untergeordnete Rolle. Man könnte diese neue Prosa eine „Prosa der Verinnerlichung“ nennen (mit einem literarhistorischen Seitenblick könnte man vielleicht auch von einer „neuen Empfindsamkeit“ sprechen).348 Die Darstellungsmittel dieser neuen Prosa sind die Erzählung aus

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M. Walser, Ju. Trifonow. In: G. Lindemann (Hg.): Sowjetliteratur heute, München: C. H. Beck, 1979, S. 192. Ju. Trifonov, Izbrannye proizvedenija, Bd. 2, S. 353. Vgl. dazu Empfindsamkeit und Sentimentalismus in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts und das literarische Biedermeier (Realidealismus) in der Literatur der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts, etwa am Beispiel von Erzählungen Turgenevs aus dieser Zeit!

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der Personenperspektive, die sich der erlebten Rede, des inneren Monologs, des Bewusstseinsstromes und der direkten Rede in Dialogen bedient, sowie Verfremdungseffekte durch oft radikale Verschiebungen und Überschneidungen auf der Zeitebene und komplexe Rahmenkonstruktionen, die den Text von der Wirklichkeit abheben und seinen Modellcharakter verdeutlichen. Personenperspektive und die geschickte Handhabung der Zeitebene eignen sich nicht nur gut für diese Thematik, sondern ermöglichen es dem Autor, auch den Zwängen des ideologischen Normensystems zu entgehen. Trifonow hat dies in einem Brief an Martin Walser ja deutlich ausgesprochen. Die formalen Mittel, die in der zeitgenössischen sowjetischen Prosa zur Verwendung kommen, erinnern uns an die Literatur der frühen 20er Jahre. Damit knüpft die sowjetische Literatur der sechziger und siebziger Jahre, für die Ein Langer Abschied ein exemplarisches Beispiel ist, an Darstellungstechniken an, die seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts in den westlichen Literaturen im Vordergrund stehen. Diese neue Prosa schließt an die modernistische Prosa der zwanziger Jahre an. Nehmen wir dafür als Bezugspunkt das Jahr 1922, in dem Ulysses von James Joyce, den M. Broch eine Beschreibung des Weltalltags der Epoche nannte, weiters Waste Land von T. S. Eliot und Jacob's Room von Virginia Woolf erschienen. In Russland erschien 1922 der Roman Kotik Letajew von A. Belyj, der mit Ulysses von James Joyce verglichen wurde. Ebenfalls 1922 erschien der erste Almanach der Serapionsbrüder, in dem der junge Anführer dieser literarischen Gruppe, Lew Lunz, feststellte: „Wir Brüder sind fast alle Alltagsschilderer [bytowiki]... Wir schreiben nicht für Propaganda. Die Kunst ist real wie das Leben selbst...“ Wenn W. Dittmar von Virginia Woolf’s Roman Jacob’s Room meint, er zeige den Autor „auf der Suche nach neuen, einer veränderten Wirklichkeitserfahrung angemessenen Darstellungstechniken… die Ordnung der heterogenen Sinneseindrücke wird allein durch das sie empfangene Bewusstsein bestimmt“, so gilt dies nicht nur für die gleichfalls 1922 erschienenen Romane Ulysses, oder Kotik Letaev, dessen Leitsatz „Alles ist in mir… ich bin in allem“ [F. Tjutčev] dieselbe Hinwendung zum individuellen Erleben der Welt ausdrückt, sondern auch für viele Texte der sowjetrussischen Prosa der 1960er und 70er Jahre!349

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Dabei sollten aber nicht die vielfältigen Beziehungen zur klassischen Erzähltradition in Russland von Tolstoj und Dostoevskij bis Čechov übersehen werden. Vgl. dazu Hinweise in R. N.: Die zeitgenössische russische Novelle am Beispiel von Jurij Trifonovs Dolgoe proščanie. In: Slavistična revija, 1981, S. 561f.

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Anhang V. Rasputin: Geld für Maria Realer chronologischer Ablauf Vorgeschichte Revison: „1. Tag“: „2. Tag“: „3. Tag“: Reise: Ankunft:

Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag Sonntag

Erzählhandlung TRAUM (Reiseantritt) Revision Reise „1. TAG“ Reise VORGESCHICHTE Reise (Traum) „1. TAG“ Reise „2. Tag“ Reise „3. Tag“ TRAUM (Reiseantritt) Ankunft

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innerer Rahmen

äußerer Rahmen

4.

Alexander Wampilow: Die Entenjagd

Alexander Wampilow wurde 1937 in der Nähe von Irkutsk geboren, wo er auch aufwuchs und die Universität besuchte, an der er im Jahre 1960 ein Philologiestudium beendete. Bereits ab 1958 erschienen von ihm kurze humorvolle Erzählungen und Einakter. Mitte der sechziger Jahre beendete er das Gorkij-Literaturinstitut in Moskau. Gefördert von den etablierten Dramatikern Rosow und Arbusow kam das erste große Drama Wampilows, Abschied im Juni, in zehn Theatern der Sowjetunion zur Aufführung. Ein Jahr später gab es bereits über fünfhundert Aufführungen in vierzehn verschiedenen Theatern. Wampilows zweites Stück, Der ältere Sohn, das zwischen 1965 und 1968 entstand, hatte einen noch größeren Erfolg. Im Jahre 1962 gab es allein von diesem Stück über eintausendsechshundert Aufführungen in vierundvierzig Theatern der Sowjetunion! Zwei Tage vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, im August 1972, ertrank Wampilow bei einem Bootsunfall am Baikalsee. Wampilows schmales Werk schließt noch zwei weitere abendfüllende Stücke ein, die Entenjagd (1970) und den Letzten Sommer in Tschulimsk (1972). Dazu kommen noch zwei Einakter, die den gemeinsamen Titel Provinzanekdoten tragen: Die Geschichte mit dem Metteur und Zwanzig Minuten mit einem Engel (1971).350 Der Dramatiker Rosow hat die Entenjagd als das bedeutendste Stück Wampilows bezeichnet. Noch 1983 lief es gleichzeitig in zwei Moskauer Theatern. Der Kritiker A. Kasanzew nannte es ein epochemachendes Werk in der Dramatik der letzten Jahre.351 Die Namen der handelnden Personen sind im Personenverzeichnis auf unterschiedliche Art angegeben. Silow, seine beiden Freunde Kussakow und Sajapin wie auch der Chef Silows Kuschak sind nur mit Zunamen genannt. Ihnen stehen ebenso viele weibliche Figuren gegenüber, die nur mit Vornamen angeführt werden: Galina (Silows Frau), Vera (Silows ehemalige Geliebte), Irina (Silows neue Geliebte) und Walerija (Sajapins Frau). Zwei weitere Personen werden nur generisch als Kellner (Silows Freund Dima) und Knabe (Witja) bezeichnet. Schon damit gibt Wampilow inhaltlich bedeutsa-

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Zu Vampilovs dramatischem Werk gehören weiters die beiden frühen Einakter Das Glück der Katja Kozlova (1959) und Die stille Bucht (1960), sowie das unvollendete Vaudevillestück Der unvergleichliche Nakonečnikov aus dem Nachlass des Autors. Die Entenjagd (Utinaja ochota) erschien in: A.Vampilov, Proščanie v iune. P‘esy, hrsg. v.N. I. Sarafannikov, Moskau 1977, S. 139-224. Dt. Übers.: Die Entenjagd, übers. H. Burck. In: Alexander Wampilow. Stücke. Berlin (Ost) 1976. A. Kazancev, V stile „Retro“? Net, v stile „Segodnja!“ In: Literaturnaja gazeta vom 11.5.1983, S. 3.

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me Hinweise. Die Benennung mit Zunamen deutet wohl darauf hin, dass ihre Träger als selbständig handelnde Personen auftreten. Der Gebrauch der Vornamen deutet hingegen die Rolle ihrer Träger als Objekt in der Welt der Männer an. Der Kellner und der Knabe sind an der Handlung nicht eigenverantwortlich beteiligt, sie sind eher Katalysatoren, denen im Stück vor allem eine funktionelle Bedeutung zukommt. Sie sind Glieder einer Handlungskette, die nicht von ihnen bestimmt wird.352 Sajapin, Kussakow und der Kellner Dima sind Schulkollegen Silows. Sie sind alle etwa dreißig Jahre alt, was bedeutet, sie gehören zu der Generation, die 1939/40 zur Welt kam, den Krieg kaum mehr bewusst miterlebt hat und ihre prägenden Eindrücke zur Zeit der Liberalisierung, d. h. des Tauwetters, in der Mitte der fünfziger Jahre erhielt. Ihre Arbeitsmoral ist eher locker, ihre weltanschauliche Einstellung von Zynismus, Skepsis und materialistischen Vorstellungen bestimmt. Sie streben nach Lebensgenuss, symbolisiert durch Alkohol, Mädchen und materielle Güter, wie eine Wohnung, ein Auto oder eine Jagdausrüstung. Allein Kuschak gehört einer älteren Generation an. Er ist 1923/24 geboren und hat noch bewusst den Stalinschen Terror und den Zweiten Weltkrieg miterlebt. In der Arbeit ist er streng, sachlich kompetent, im Privatleben jedoch unsicher. Augenscheinlich möchte er sich als Liberaler geben (S. 209), fühlt sich in dieser Rolle aber nicht sehr wohl. Auch er fröhnt dem Alkohol. Einer Affäre mit Vera ist er nicht abgeneigt. Auf sein neues Auto ist er überaus stolz. Sympathischer gezeichnet sind die Vertreter der jüngsten Generation. Walerija ist die energische und tüchtige Frau Sajapins, die ihren Mann vor beruflichem Unheil bewahrt. Die naive Studentin Irina verliebt sich in Silow und fällt bei der Aufnahmeprüfung in das Fremdspracheninstitut durch. Dass sie Englisch studieren will, kann als Zeichen der Zeit verstanden werden. Walerija, wie auch Irina, sind zu Beginn der fünfziger Jahre geboren und haben keine persönliche Erinnerung an Stalinismus und Krieg. Vera gehört derselben Generation an, zeigt aber die Schattenseiten des liberalisierten Lebens. Dazu gehört eine Promiskuität, die nur auf den Genuss des Augenblicks abzielt. Auch sie ist einer Affäre mit Kuschak nicht abgeneigt, schließt sich aber dann Kussakow an. Zur Namenssymbolik gehört, dass die wenigen positiven Figuren des Stücks mit dem Namen Nikolaj verbunden sind.353 Der Vorname des ernsten Kussakow ist Nikolaj. Galina und Irina tragen denselben Vatersnamen, Niko-

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So bezeichnet Silov seinen Freund als Lakai (S. 214), d. h. als Menschen, der nicht eigenverantwortlich handeln kann! Der heilige Nikolaj gilt in der russisch-orthodoxen Kirche als „Überheiliger" (hyperhagios) und zweiter Erlöser! Der Name bedeutet „Volkssieger“ (griech.). Vgl. den Vornamen Silovs, der Viktor heißt (Deutsch „Sieger“.) Auch Vitja oder Vitka gerufen.

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lajewna. Der kleine Knabe, Überbringer des Kranzes an Silow, hat denselben Rufnamen wie Silow – Witja, bzw. Witka. Versteht man auch diese Koinzidenz als symbolhaft, so kann man darin einen ironischen Verweis auf die Tatsache sehen, dass die großen Hoffnungen, die einst im jungen Silow gesteckt haben mögen, nunmehr endgültig zu Grabe getragen werden. Wampilow stellt in der Entenjagd einen Zeitraum von eineinhalb Monaten dar, der von Mitte Juli bis Anfang September reicht. Er beginnt und endet mit dem ersten Urlaubstag der Hauptfigur. Es ist dies der Tag, an dem Silow mit seinem Freund Dima zur Entenjagd aufbrechen möchte. Der chronologische Ablauf ist allerdings im Drama gestört. Der Autor stellt der Handlungsgegenwart, dem ersten Urlaubstag Silows, die Erinnerungshandlung gegenüber, die den gesamten vorangehenden Zeitraum umfasst. Sie wird als die im Traum Silows aufs neue erlebte Vergangenheit gestaltet. Die Erinnerungsvisionen Silows umfassen sechs markante zeitliche Abschnitte, die allerdings nicht mehr als jeweils ein Bruchstück eines Tages ausmachen und in chronologischer Folge geordnet ablaufen. Der Bühnenscheinwerfer hebt dabei, vergleichbar dem Strahl des Bewusstseins in der Erinnerung, jeweils einen begrenzten Teil der Bühne ins Licht, auf dem dann die Erinnerungshandlung abläuft. Jedem der sechs Abschnitte ist eine als Bild bezeichnete Szene gewidmet. Die sechs Bilder werden zu drei Akten zusammengefasst. Die Erinnerungsvisionen sind am Beginn und Ende eines jeden Bildes von kurzen Einblendungen aus der Handlungsgegenwart – dem ersten Urlaubstag Silows – umrahmt. Auf diese Weise bewegt sich der Zuschauer, bzw. Leser, stets auf zwei zeitlichen Ebenen, wobei die Erinnerungsvisionen zur Motivation der Handlungsgegenwart dienen. Zur Struktur dieses Theaterstücks in drei Akten, so der Untertitel, gehört neben Erinnerungshandlung und Handlungsgegenwart als drittes wesentliches Element eine Abfolge von sechs kurzen Szenen, die wir als Traumvisionen Silows bezeichnen können. Diese Szenen wiederholen sich am Ende in nahezu identischer Form und mit weitgehend identischem Inhalt. Sie bilden sozusagen einen inneren Rahmen, der den ernsten, ans Tragische grenzenden Teil der Gegenwartshandlung, der zum Selbstmordversuch Silows führt, vom Hauptteil des Dramas abgrenzt. Zugleich führen die Visionen eine dritte, irrationale Ebene ein, da es sich hier weder um Vergangenes noch um Gegenwärtiges, sondern um Potentielles und Zukünftiges handelt. Die ersten fünf Visionen sind formal und inhaltlich identisch. In einem ersten Dialog diskutieren Silows Freunde Sajapin und Kussakow die Frage, ob es sich um ein Gerücht handle oder um Ernst. Der Gegenstand des Gesprächs bleibt offen. Ein zweiter Kurzdialog zwischen Walerija, Vera und Kuschak deutet an, worum es geht: um Silows Selbstmord. Ein dritter Kurzdialog zwischen Galina und Irina bestätigt dies. Ehefrau und Geliebte schließen Freundschaft im Gedenken an Silow. In der vierten Vision trösten Kuschak und Dima die ver217

zweifelte und in Tränen aufgelöste Irina. Die fünfte Vision besteht aus nur einem, im Stück aber leitmotivartig wiederholten Satz Kussakows: „Wer weiß..., wenn man sich's so überlegt, ist das Leben im Grunde schon verspielt...“ Die sechste und letzte Vision ist zwar formal am Beginn und Ende des Stücks identisch gestaltet, unterscheidet sich jedoch im Inhalt. Die Freunde Silows schreiten im Rhythmus eines Trauermarsches nacheinander über die Bühne. Am Beginn werfen sie Münzen auf ein Tablett, das der Kellner Dima hält. Das Geld ist für einen Kranz bestimmt. Am Ende schreiten sie wieder zur selben Musik über die Bühne, diesmal aber gefolgt von dem Knaben Witja, der den Kranz trägt. In dieser rasch wechselnden Abfolge kurzer Traumszenen erlebt Silow visionär die Ereignisse, die seinem Selbstmord folgen würden. Kussakows stereotyp wiederholter Satz weist Silow darauf hin, dass er seine Chancen im Leben vertan und im Leben nichts mehr zu erwarten habe. Man kann die Handlung des Dramas der chronologischen Abfolge gemäß wie folgt nachzeichnen. Die Erinnerungshandlung. Silow und Galina haben durch Vermittlung Kuschaks eine neue achtzehn Quadratmeter große Zweizimmerwohnung im fünften Stock eines Wohnhauses in der Majakowskij Straße Nr. 37 erhalten.354 Es ist Mitte Juli, und Silow lädt zur Feier der Übersiedlung seine Freunde Kussakow und Sajapin, dessen Frau Walerija, seinen Chef Kuschak und seine Geliebte Vera ein. Seiner Frau stellt er Vera als „Schulfreundin“ und neuen Flirt seines Chefs vor. Von Vera bekommt Silow als Geschenk einen Stoffkater, von den Sajapins eine Jagdausrüstung. Allein Kussakow bringt ein Geschenk, das beide Ehepartner ansprechen soll, eine Gartenbank, die als Beitrag zur Möblierung der Wohnung gedacht ist. Galina sieht den Einzug in die Wohnung als Chance für ihre Ehe. Ihr gemeinsames Leben soll nun „wie am Anfang“ sein: „Am Abend werden wir lesen, plaudern...“ (S. 155). Der Abend endet mit Galinas Wunsch nach einem Kind. Es zeigt sich, dass Silow diesem Wunsch skeptisch gegenübersteht, doch er fügt sich: „Das ist kein Problem. Gesagt, getan.“ (S. 167) Das zweite Bild spielt etwa zwei Wochen später an der Arbeitsstätte Silows, im Zentralen Büro für technische Information. Kuschak verlangt einen Bericht mit einem konkreten Beispiel für die Modernisierung und Produktionssteigerung eines Betriebs. Da nichts vorhanden ist, nimmt Silow das ausgearbeitete Projekt für die Renovierung einer Porzellanfabrik und stellt es in seinem Bericht als bereits durchgeführt hin. Sajapin unterschreibt als Mitarbeiter Silows diesen Bericht. Durch Zufall gerät die Studentin Irina in das Büro. Silow beginnt sofort mit ihr zu flirten und vereinbart ein Rendezvous

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Straßenbezeichnung und Hausnummer dürften nicht zufällig gewählt sein. Majakowskij beging in seinem 37. Lebensjahr Selbstmord.

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im Restaurant Vergissmeinnicht, seinem Stammlokal, in dem der Kellner Dima arbeitet. Silow erhält zur gleichen Zeit einen Brief, in dem ihn sein Vater ersucht, auf Besuch zu kommen, denn er fühlt, dass sein Leben zu Ende geht. Silow nimmt das Schreiben nicht ernst, obwohl er seine Eltern vor vier Jahren zum letzten Mal gesehen hat. Ein Besuch würde seinen Jagdurlaub stören, der unmittelbar vor der Tür steht. Noch vor Arbeitsschluss ruft Galina an und teilt ihrem Mann mit, dass sie ein Kind erwartet. Silow möge doch gleich nach Hause kommen. Dieser lehnt ab, hat er doch eben ein Rendezvous mit Irina arrangiert. Mit dem doppelten Betrug an Ehefrau und Chef endet der erste Akt. Das erste Bild des zweiten Akts spielt etwa ein bis zwei Wochen später. Es ist Mitte August. Silow kommt nach einer auswärts – mit Irina? – verbrachten Nacht frühmorgens nach Hause. Er gibt vor, dienstlich nach Swirsk in die Porzellanfabrik gereist zu sein. Eine Nachbarin hat ihn jedoch in der Nacht gesehen, und Galina wirft ihm dies vor. Sie teilt ihm auch mit, sie hätte das Kind abtreiben lassen. Als er nach anfänglichen Vorwürfen zärtlich werden will, verweigert sie sich ihm. Silow versucht sie nun mit einem „Spiel im Spiel“ zu besänftigen, indem er sie überredet, die entscheidende Szene vor sechs Jahren nachzuspielen, als er ihr seine Liebe erklärte und beide zu heiraten beschlossen. Der Versuch schlägt jedoch fehl, als Silow die entscheidenden Worte nicht mehr einfallen. Im zweiten Bild, achtzehn Tage vor dem Urlaub, wird Silows doppelter Betrug enthüllt. Kuschak hat erfahren, dass die in der bereits gedruckten Broschüre beschriebenen Modernisierungsmaßnahmen nur als Projekt existieren. Damit sind er und das Büro bloßgestellt. Ein Telegramm berichtet Silow vom Tod des Vaters. Er möchte daraufhin mit dem nächsten Flugzeug in seine Heimat fliegen. Als er im Restaurant Vergissmeinnicht von Irina Abschied nimmt, kommt Galina, um ihm Regenmantel und Reisetasche zu bringen. Sie sieht Silow in vertraulicher Pose mit Irina. Silow erklärt Irina, dass er und Galina „einander schon lange fremd geworden seien“. Um Irinas willen verschiebt er seinen Flug. Das dritte Bild des zweiten Akts spielt kurz darauf. Es ist bereits Ende August. Galina möchte für einen Monat zu ihrem Onkel reisen. Als sie die Wohnung verlassen hat, ruft Silow sofort Irina zu sich. Galina kehrt jedoch noch einmal zurück, um Silow mitzuteilen, dass sie ihn in Wahrheit endgültig verlässt, um zu einem Jugendfreund zu ziehen. Als Silow daraufhin aggressiv wird, sperrt sie sich in ein Zimmer ein. Da kommt Irina. Noch vor der Wohnungstür hört sie Silow und meint, seine zärtlichen Worte an Galina wären an sie gerichtet. Als Silow sie sieht, schaltet er schnell und bestätigt ihr, dass seine Liebeserklärungen tatsächlich ihr zugedacht gewesen seien. Mit dieser komödienhaften Szene, die Silows neuerlichen Treuebruch und den endgültigen Zerfall seiner Ehe darstellt, schließt der zweite Akt. 219

Der dritte Akt ist nicht mehr in Bilder gegliedert. Silow, der bereits allein lebt und von Irina als seiner neuen Braut spricht, hat am Vorabend des Jagdurlaubs seine Freunde, seinen Chef und Irina ins Restaurant Vergissmeinnicht eingeladen. Im Alkoholdusel überträgt er seine eigene Doppelmoral auf seine Freunde und beleidigt sie nacheinander. „Eure Konventionen sind mir zuwider“, ruft er aus, „ich will auf eure Konventionen spucken. Ihr braucht bloß ein Mädchen – das ist’s, warum ihr hierher gekommen seid... Nun was denn? Wählt aus!“ (S. 212) Und er bietet ihnen selbst seine neue Freundin Irina an: „Ich empfehle sie! Achtzehn Jahre! Ein reizendes Geschöpf!“ (S. 213). Als die Freunde nach dem Skandal Silow stockbetrunken und wie tot nach Hause bringen, kommt Sajapin der Gedanke zu einem makabren Scherz. Die Freunde wollen Silow als Toten ehren. Dima sammelt Kranzspenden. Ein kleiner Junge soll den Kranz zu Silow tragen. Auch ein Beileidstelegramm wird an ihn abgeschickt. Zurück zur Handlungsgegenwart. Am Morgen des ersten Urlaubstages regnet es. Silow erhält den Kranz. Noch benommen vom Alkohol, versucht er per Telefon nacheinander Vera, Kussakow, Sajapin, Dima und Irina zu erreichen. Alle Kommunikationsversuche scheitern aber. Selbst als er das meteorologische Büro anruft und mit der Sprecherin ein persönliches Gespräch beginnen will, wird er unterbrochen. Als er das Beileidstelegramm erhält, ist er innerlich tief betroffen. Er sagt Dima telefonisch ab und lädt ihn und seine Freunde in Fortführung des Scherzes zu einem Leichenschmaus ein. Der makabre Scherz droht Wirklichkeit zu werden, als Silow nun Vorbereitungen zum Selbstmord trifft. Ein kurzer Telefonanruf, dessen Inhalt unbekannt bleibt, verzögert die Vorbereitungen. Kussakow und Sajapin treffen gerade noch rechtzeitig ein und entreissen Silow das Gewehr. Da kommt Dima, lädt das Gewehr aufs neue und gibt es Silow zurück. Dieser vertreibt damit seine Freunde und erleidet danach einen hysterischen Anfall, in dem sich seine inneren Spannungen lösen. Wieder ruhig geworden, teilt er Dima per Telefon mit, dass er nun zur Abreise bereit sei. Es hat inzwischen zu regnen aufgehört, und dem Antritt der Urlaubsreise steht nichts mehr im Wege. Das Sujet ist durch die Verflechtung von Handlungsgegenwart und Erinnerungshandlung als Zirkel konstruiert. Das Drama beginnt mit dem Einsetzen des Regens am ersten Urlaubstag, dem makabren Scherz der Freunde (Silow erhält den Kranz) und den Traumvisionen. Und es endet auf ähnliche Weise. Nur der Regen hat inzwischen aufgehört, und die Jagd kann beginnen. Dazwischen liegen die wie bei Tennessee Williams als memory play gestalteten Erinnerungsvisionen Silows. Es wird damit suggeriert, dass sich im Grunde in Silows Leben nichts geändert hat. Er bleibt der Mensch, der er ist, ein innerlich toter Mensch, „ohne Herz“, wie es Galina formuliert. Die wesentlichen dramatischen Komponenten werden bereits im ersten Bild des ersten Akts deutlich: Silow wacht am Morgen des ersten Urlaubsta220

ges auf, noch benommen vom Zechgelage des Vortags. Es regnet, und der Antritt der Urlaubsreise muss verschoben werden. Das Syndrom Schlaf/Traum/Erinnerung, dass das ganze Ambiente des Stücks bestimmt, charakterisiert schon den Beginn des ersten Bildes. Dazu kommt das Motiv der gestörten Kommunikation. Zweimal läutet das Telefon, ohne dass sich jemand meldet. Der Alkohol erscheint als ständiger Begleiter Silows. Silow macht seine Morgengymnastik mit der Bierflasche in der Hand. Der dritte Anruf klappt. Silow spricht mit Dima. Es entspinnt sich ein groteskes Gespräch, dessen Motivation vorerst im Dunkeln bleibt. Die Frage ist, ob Silow noch am Leben ist. Dies klärt sich bald als makabrer Scherz der Freunde auf. Dennoch liegt ein tieferer Sinn in dieser Frage, geht es doch um das innerliche Absterben des Menschen, den Tod seines Herzens, seiner Seele. Das Motiv wiederholt sich unmittelbar darauf, als der Knabe Witja den Kranz der Freunde bei Silow abliefert. Auch Witja drückt Zweifel an der „Lebendigkeit“ Silows aus: „Ich wusste nicht, dass Sie leben.“ (S. 144) Es folgt eine weitere groteske Szene, als sich Silow den Beileidskranz um den Hals hängt und in Siegespose ausruft: „Witja Silow! UdSSR. Erster Platz... Aber wofür?“ Die selbstgestellte Frage bleibt unbeantwortet. Auf diese Szenen folgen die sechs Traumvisionen Silows. Dann beginnt die Erinnerungshandlung. Sinn und Intention des Ganzen lassen sich aus zwei kurzen Szenen am Ende des Dramas ableiten, deren Bedeutung nicht unmittelbar einsichtig ist, sich aber aus dem Kontext erschließen lässt. Als Kussakow und Sajapin zu Silow kommen, um ihn vor dem Selbstmord zu bewahren, finden sie ihn mit dem Gewehr in der Hand am Telefon. Der Zuschauer hört nur Silows Repliken, aus denen weder der Anrufer noch der Inhalt des Gesprächs erkenntlich sind. Silows Reaktion zeigt allerdings an, dass es sich um eine unerwartete, ihn erschütternde Nachricht handeln muss. Dies kann seine Frau Galina betreffen oder aber seine Freundin, die Studentin Irina, die er am Vortag mit dem Vorwurf, auch ihre Liebe sei käuflich, gekränkt hat, und die darauf spurlos aus dem Studentenheim verschwunden war. Möglicherweise ist sie in einen Unfall geraten oder hat gar versucht, Selbstmord zu begehen. Dies könnte ein starkes Gefühl der Betroffenheit bei Silow auslösen und seine emotionelle Reaktion erklären. Es könnte auch seinen erneuten Selbstmordversuch motivieren. Wäre dies allerdings klar ausgesprochen worden, dann hätte es das „Theaterstück“ endgültig ins Tragische gewendet. Das Verfahren des Autors, sowohl den Gesprächspartner wie auch den Inhalt des Gesprächs im Ungewissen zu belassen, deutet aber auch darauf hin, dass es im Grunde für unser Verständnis der Hauptfigur belanglos ist, ob dem Anruf ein zufälliger oder eher bedeutsamer Charakter zukommt. Silow ist bereits in einem Stadium, in dem er zwar noch reagiert, aber nicht mehr Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden kann. Beides hat für ihn den gleichen Stellenwert. Die zweite Szene steht unmittelbar vor dem Ende des Stücks. Silow 221

wirft sich auf das Sofa; ein hysterisches Zittern erfasst seinen ganzen Körper. Da er mit dem Gesicht nach unten liegt, bleibt es unklar, ob er weint oder lacht. Der Zuschauer sieht nur, wie eine heftige Gefühlserregung seinen Körper mit Krämpfen erfasst. Die zweite Szene zeigt ein letztes irrationales Aufbäumen, dass man, gleichgültig, ob es sich um einen Weinkrampf oder um einen hysterischen Lachanfall handelt, als Hinweis auf die Irrelevanz jeglichen Tuns verstehen kann. Nach diesem Anfall kommt es zu absoluter Gleichgültigkeit und innerlicher Ruhe. Es folgt das abschließende Telefongespräch mit Dima, in dem Silow seine Bereitschaft mitteilt, zur Entenjagd aufzubrechen. Silow betont, er sei nun „vollkommen ruhig“. (S. 224) Seine gleichmäßige und sachliche Stimme beweist dies auch. Er hat nun endlich den Zustand erreicht, der im Drama in der Figur Dimas modellhaft vorgegeben ist: Die völlige Indifferenz dem Leben gegenüber, die allerdings Voraussetzung für eine ruhige Hand und den Schuss ins Schwarze ist. Dima erklärt dies, als er meint, für ihn gebe es keinen Unterschied zwischen lebenden und toten Enten: „Für den, der trifft, für den sind sie bereits tot“. (S. 207) Galina wie auch Irina mögen deshalb Dima nicht, da sie instinktiv seine Amoral fürchten. Sie ist aber Voraussetzung dafür, dass er trotz allem ein ausgeglichenes Leben führt und auch seinen Dienst buchstabengetreu versieht. Er trifft eben überall ins Schwarze. Silow hat ihn am Ende eingeholt. Auch er ist nun reif für den Rückzug in die Idylle der Jagd, eine Idylle, die für ihn nur um den Preis der Aufgabe seiner Identität möglich ist. Er flieht aus der Verantwortung vor dem Du. Der Ort der Jagd wird als Idylle geschildert: „ ...der Nebel dort – wir schwimmen, wie im Traum, ins Ungewisse. Und wenn sich die Sonne hebt? Oh. Das ist wie in der Kirche und sogar noch klarer als in der Kirche... Und die Nacht? Mein Gott! Weiß du, was für eine Stille das ist? Dort gibt es dich nicht, verstehst du... Und nichts gibt es dort. Und gab es auch nicht. Und wird es nicht geben.“ (S. 202)

Vor allem die Stille und der Nebel sind die hervorstechenden Charakteristika dieser Idylle eines idealen Nirwanas – als komplementäre Eigenschaften zur innerlichen Ruhe Silows (und Dimas) und seiner Gleichgültigkeit dem Leben und der Verantwortung gegenüber. So spricht Silow auch zu Galina: „Du hast recht, mir ist alles gleichgültig, alles auf der Welt. Was mit mir los ist, weiß ich nicht..., weiß ich nicht... Habe ich wirklich kein Herz? Ja, ja, ich habe nichts.“ (S. 201)

Silow ist eben der Mensch, der an einem generellen Werteverlust leidet, dessen „Herz“ gestorben ist. Auch sein Selbstmordversuch ist im Grunde belanglos, da er damit nur bestätigt, was bereits deutlich geworden ist: Die Desintegration seiner Persönlichkeit. Die Vernichtung seiner physischen Identität wäre nur eine logische Konsequenz. Doch letztlich ist auch das irrelevant, da es an seinem Zustand nichts mehr ändern kann. 222

In einem Gespräch zwischen Nikolajew und dem Autor Wampilow kam einst die Rede auf astronomische Entdeckungen, unter anderem auf die sogenannten „schwarzen Löcher“, die entstehen, wenn ein Stern in sich zusammenfällt. Nikolajew berichtet weiter: „Wampilow hatte offenbar ein sehr tiefes Empfinden für diese Dinge entwickelt; denn er sagte ungefähr folgendes: Es gibt einen medizinischen Kollaps und einen astronomischen, aber offenbar gibt es auch einen Kollaps der menschlichen Seele, und zwar dann, wenn plötzlich, scheinbar aus heiterem Himmel, der Mensch zum Tier wird.“

Als Beispiel sollen in dieser Diskussion die Namen literarischer Figuren von Raskolnikow und den Brüdern Karamasow hin zu Silow und dem Kellner Dima gefallen sein.355 Silow sei nach Wampilow der Mensch auf dem Weg zum Kollaps, Dima der Mensch, der diesen Kollaps der Seele bereits durchlebt hat. Wampilows Drama enthält auch kritische Verweise auf negative gesellschaftliche Zustände. Ehe- und Sexualmoral werden mehr als locker dargestellt. Vera meint, ein guter Ehemann sei heutzutage eine „museale Seltenheit“. Zu Kuschak, der die Abwesenheit seiner Frau zu einem Seitensprung nützen möchte, meint sie, dass „treue Ehemänner“ ihre „Schwäche“ seien. (S. 152) In der Skandalszene am Ende des Stücks beschuldigt Silow alle Freunde, dass sie nur auf Mädchen aus seien. Er selbst hat seine Frau wiederholt betrogen. Es sind dies soziale Kommentare, wie sie in vielen Texten der sechziger und siebziger Jahre zu finden sind, die sich mit der Stellung der Frau und dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern in der damaligen sowjetischen Gesellschaft befassen. Die Wohnungssituation ist eine weitere Schwäche des gesellschaftlichen Systems. Das Drama verdeutlicht, dass der durchschnittliche Bürger nur durch Protektion rasch zu einer Wohnung kommen kann. (S. 149 u. 158) Neubauwohnungen, wie die der Silows, weisen dabei zahlreiche Baumängel auf. (S. 220) Ein ebenso folgenschweres Problem in der Sowjetunion ist der Alkoholmissbrauch, auf den gleichfalls mehrfach angespielt wird. Für Vera sind alle Freunde Silows aliki (= Alkoholiker). Nicht nur Silow und seine Freunde trinken, auch von Kuschak heißt es, er trinke heimlich. Ein nicht weniger typisches Motiv ist die Fälschung eines Berichts durch Silow und Sajapin. Potemkinsche Dörfer haben bekanntlich eine Tradition in Russland. Unter dem Zwang des Plansolls wird eine Fabrik auf dem Papier renoviert und modernisiert. Auch dies dürfte kein Einzelfall im Land des realen Sozialismus gewesen sein.

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G. Nikolaev: Erinnerungen an Alexander Wampilow. In: Kunst und Literatur 28, 1981, S. 874.

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Wampilows Theaterstücke haben trotz der Tendenz zu Komik und Groteske stets einen ernsten bis tragischen Hintergrund. Dies gilt für die beiden als Komödien bezeichneten Dramen Abschied im Juni und Der ältere Sohn ebenso wie für die Entenjagd und die als Tragikomödie in zwei Teilen bezeichnete Geschichte mit dem Metteur. Die Komik ist vor allem eine vordergründige Situationskomik, die mitunter zu klamaukhaften Szenen führt. Sie lockert nicht nur die Handlung auf, sondern dient auch dazu, den Charakter einer Figur bloßzustellen. So sieht Kuschak alle zwei, drei Minuten aus dem Fenster, ob sein neues Auto noch unversehrt vorhanden ist. Dies kann natürlich zugleich als Hinweis auf die kritische Lage des Ersatzteilmarkts für Autos verstanden werden, weist aber auch auf den selbst bei Kuschak vorhandenen Hang zu materiellen Gütern hin. Als Kuschak spätabends Silows Wohnung verlässt, bittet er Silow in einer komödiantischen Szene, ihm zu sagen, wie er sich Vera am besten annähern könne. Veras Auftreten führt immer wieder zu komischen Situationen. Ihr unernstes Gehabe, ihre Leichtfertigkeit und ihre provokanten Äußerungen sollen sie als Typ der sechziger Jahre charakterisieren. Irinas Naivität kommt darin zum Ausdruck, dass sie eine Reisebekanntschaft per Inserat wiederfinden möchte, und naiv die Bezeichnung des Büros Silows missversteht und meint, sie wäre in einem Inseratenbüro. Als sich Galina im Zimmer einschließt und Silow sie durch neuerliche Liebesbeteuerungen besänftigen möchte, missversteht dies Irina. Silow bestärkt sie darin. Die Szene ist nur für den Zuschauer komisch. Aus der Perspektive Galinas ist sie letztlich von tiefem Ernst; denn in ihr enthüllt sich Silows absoluter Mangel an Moral, der beiden Frauen am Ende nur Leid verursacht. Der makabre Scherz der Freunde schließlich ist das auslösende Moment für den Prozess, der beinahe zu einem tragischen Ende führt, als sich Silow in Fortführung des Scherzes entschließt, Selbstmord zu begehen. Wir sehen aus den angeführten Stellen, dass Wampilows Welt im Grunde eine tragische Note hat, worüber auch die oberflächliche Situationskomik nicht hinwegtäuschen kann. Die Literatur der sechziger Jahre und die Neue Welle Nach formalen wie inhaltlichen Aspekten lässt sich Wampilows Drama der Jungen Prosa der sechziger Jahre zuordnen, die aus der Zeit des Tauwetters nach Stalins Tod hervorgegangen ist. Ihre Vertreter versuchten, den ideologischen Zwängen der Stalinzeit zu entkommen, indem sie in ihrer Erzähltechnik auf eine personal geprägte Darbietungsform übergingen. Die sowjetische Kritik stellte in der Literatur der sechziger Jahre ein Bestreben zur maximalen Annäherung an die Figur bzw. den Erzähler fest, wodurch die auktoriale Wertung entfällt, da bei konsequenter Einhaltung der Personenperspektive nur subjektive Wertungen möglich sind. Demselben Zweck dient 224

ein weiteres Verfahren, die Komplizierung des Textaufbaus, die zu Verfremdungseffekten führt. Die chronologisch geordnete Handlung wird so nach modernistischer Manier verwirrt. Es kommt zu Verschiebungen und Überschneidungen im Zeitgefüge. Dazu gehören auch das bereits erwähnte rückschauende Erzählen, die Rückblende und der häufige Standpunktwechsel auf der zeitlichen Ebene. Ein manchmal komplexer Rahmen hebt das Geschehen über die Alltagswirklichkeit hinaus. Ganze Erzählsegmente, die mitunter mehr als die Hälfte eines Textes ausmachen, spielen in der Vergangenheit, im Traum oder in der Phantasie. Der Bereich der Erzählgegenwart schrumpft zusehends. Im Gegensatz zur Literatur der Stalinzeit mit ihren positiven Helden aus dem öffentlichen Leben erscheint jetzt der negative Held. Er ist meist jung, hat oft ein adoleszentes Gehabe und wird in seiner privaten Lebenssphäre dargestellt. Wir finden alle diese Aspekte auch bei Wampilow. Nur ein kleiner Bruchteil des Geschehens – die Ereignisse eines einzigen Tages – spielt in der Handlungsgegenwart. Alles Übrige wird als traumhafte Erinnerung Silows, also aus der subjektiven Sicht der Hauptperson dargeboten. Der chronologische Ablauf ist durch die Verschränkung von Handlungsgegenwart und Erinnerung gestört. Ein Rahmen, der auf der irrationalen Ebene eines visionären Traumes spielt, hebt das Geschehen über die Alltagswelt hinaus. Die Hauptfigur Silow kann als Prototyp eines negativen Helden gelten. Wir finden bei Wampilow auch die Verwendung des Jargons und des Slang, der der älteren Generation nicht mehr verständlich ist. So nennt Silow das plötzliche Verschwinden Veras einen „Dynamo“ und erklärt dem erstaunten Kuschak, Vera hätte den „Dynamo überdreht“ – eine Wendung, der Kuschak verständnislos gegenübersteht. Gemeint ist damit, dass Vera ihren neuen Verehrer Kuschak sitzen gelassen hat. Damit wird der Unterschied zwischen den Generationen auch sprachlich verdeutlicht. Die sowjetische Kritik bemängelte das Fehlen einer klaren Stellungnahme des Autors zu seinem Helden. In der Zeitung des Schriftstellerverbandes Literaturnaja gazeta vom 21. Februar 1979 hieß es anlässlich der Aufführung des Stücks im Moskauer Künstlertheater: „Die Absicht der Entenjagd war den Theatern unklar... Unklar war auch der Charakter des zentralen Helden, genauer gesagt die Beziehung des Autors zu seinem zentralen Helden.“

Nikolajew schreibt in seinen Erinnerungen an Wampilow: „Man verstand anfangs die Entenjagd nicht; der Letzte Sommer in Tschulimsk wurde später noch viel weniger verstanden“.356

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G. Nikolajev: Erinnerungen an Alexander Wampilow. In: Kunst und Literatur 28, 1981, S. 865.

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Wampilows Dramen stehen nicht nur der jungen Literatur der sechziger Jahre nahe; sie sind auch im Kontext des sowjetischen Theaters dieser Zeit zu sehen. In ihnen zeichnet sich besonders die Tradition des VaudevilleTheaters ab, das sich während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in der Sowjetunion herausbildete und damals reichlich Material im kommerziellen Leben der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP, russ. NEP) vorfand. Dieses Genre mit seiner Tendenz zur Groteske und zum Absurden finden wir wieder bei späteren Autoren wie Sofronow, Rosow und Arbusow. Wampilows unvollendetes nachgelassenes Stück Der unvergleichliche Nakonetschnikow ist im Untertitel als Vaudeville bezeichnet. Aber auch die avantgardistischen und modernistischen Bestrebungen der Revolutionsepoche, etwa die Theatralisierung des Theaters bei einem Regisseur wie Wachtangow, wirken noch bei Wampilow nach. Der Hang zu einer neuen Theatralität ist in der Dramaturgie der sechziger Jahre unverkennbar. Gegenüber dem operativen Drama auch als publizistisches Drama bekannt, mit seinen aktiven Helden, zeigt das Drama Wampilows Gestalten, die von den Umständen des Lebens beherrscht sind, die sich wehren, aber zuletzt ein Opfer dieser Umstände werden, die sie allerdings mitverschuldet haben. Der Kritiker Demidow hat dies deutlich formuliert.357 Der Gang der äußeren Ereignisse entziehe sich der Kontrolle des Helden, der gezwungen sei, ständig gegen die Sujetentwicklung anzukämpfen. Dies erinnert an das absurde Theater, das in der Sowjetunion anfangs der dreißiger Jahre durch die Gruppe Oberiu vertreten war. Die Oberiuten, die dem Surrealismus nahestanden, zeigten, wie der Held mit paradoxen Situationen konfrontiert und von ihnen vereinnahmt wird. Es lässt sich aber noch eine Parallele zum existentialistischen Theater eines Camus ziehen. Wie Sisyphos muss der Mensch ständig mit der Absurdität des Lebens kämpfen, um nicht plötzlich im Selbstmord zu enden. Denn absolute Werte wie Transzendenz und Glaube sind verlorengegangen. Nach W. F. Schwarz liegt bei Wampilow eine Konvergenz zu diesem Typ des absurden Dramas vor, „der auf dem Theorem der Fremdbestimmung durch Strukturen der diesseitigen Welt basiert“.358 In Studien zu Wampilows Dramen fällt aber auch immer wieder der Name Tschechow. Wie dieser ist Wampilow um die Auslotung der Konflikte der menschlichen Seele bemüht. Er thematisiert den „seelischen und moralischen Zusammenbruch eines Menschen“. Auch der offene Schluss des Dramas und das Motiv der Reise (bei Silow die Urlaubsreise zur Jagd) erinnern an Tschechow. Unpassende Repliken, ungewollte Missverständnisse, die 357 358

A. Demidov: Zur Dramatik Alexander Wampilows. In: Kunst und Literatur 23, 1976, S. 42. W. F. Schwarz: Alexander Wampilow. Testfall der Kritik. In: Literatur- und Sprachentwicklung in Osteuropa im 20. Jahrhundert, hg. E. Reißner, Berlin 1982, S. 177.

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Unfähigkeit, mit der Wirklichkeit zurechtzukommen, das alles sind Komponenten, die wir bei Tschechow, wie auch bei Wampilow vorfinden. Die Thematisierung des Betrugs wiederum lässt an die klassischen Betrügerfiguren bei Gogol, so an Chlestakow im Revisor und Tschitschikow in den Toten Seelen, denken. Wampilows Erfolg auf der Bühne führte dazu, dass sich junge russische Theaterautoren zunehmend an ihm orientierten. 1979 schrieb ein Kritiker, in der neuen Theaterliteratur begänne sich eine Wampilow-Schule abzuzeichnen. Maljagins Stück UFO, das gleichzeitig mit der Entenjagd in Moskau zur Aufführung gelangte, setzt dort an, wo Wampilows Stück endet. Die beiden Einakter der damals jungen Dramatikerin Petruschewskaja, Cinzano und Smirnowas Geburtstag, zeigen Varianten des Charaktertyps eines Silow, bzw. stellen das Schicksal der Frauen in den Mittelpunkt, die von Männern wie Silow betrogen und im Stich gelassen werden. Stücke wie Seht, wer gekommen ist von Arro, Retro von Galin, Fünf Ecken von Kokowkin und Tschtscherbakowas Roman und Julka, eine Romeo- und Julia-Version, die bei der Leningrader Jugend viel Anklang fand, stehen ebenso in der Nachfolge Wampilows wie andere Stücke, die zu Beginn der achtziger Jahre als Neue Welle in der dramatischen Literatur bezeichnet wurden359. Die viel versprechende Entwicklung des sowjetischen Theaters erlitt einen Rückschlag, als unter dem Einfluss des Parteisekretärs Andropow im Februar 1983 eine neue Parteidirektive herauskam, die zur Leninschen Parteilichkeit, zu Volksnähe und zu mehr Beachtung der didaktischen Aufgaben der dramatischen Literatur und des Theaters aufrief.360 Der Weg zurück zu den Prinzipien des sozialistischen Realismus und des positiven Helden war damit verbindlich vorgezeichnet. In der Literaturnaja gazeta erschien mehrere Wochen lang eine Rubrik zum positiven Helden. Doch die Perestrojka kündigte sich bereits an und damit nahte das Ende der gelenkten Literatur!

359 360

Vgl. Kazancev, op. cit. (s. Anm. 351, S. 215), und A. H. Law: Sowjetisches Theater. Spielzeit 1982/83. In: Osteuropa 34, 1984, S. 243f. Law, op. cit., S. 244f.

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IV. Russland – Quo vadis? 1.

Der Beginn des 21. Jahrhunderts

Der spätromantische Dichter und Diplomat Fedor Tjutschew charakterisierte das Wesen Russlands in unsterblich gewordenen Versen: „Verstand wird Russland nie verstehen, Kein Maßstock sein Geheimnis rauben; So wie es ist, so lasst es gehen – An Russland kann man nichts als glauben.“

Dostojewskij präzisierte „Was kann fantastischer und unerwarteter sein als die [russische] Wirklichkeit? Eine russische Kuh, die anfangs 1997 einen japanischen Fischkutter versenkte, – eine wahre Geschichte! – illustriert dies. Die geretteten japanischen Matrosen berichteten, eine vom Himmel gefallene Kuh hätte ihr Schiff versenkt! Sie kamen umgehend unter Betrugsverdacht hinter Gitter.361 Monate danach gab das russische Militär widerwillig zu, dass die Mannschaft eines ihrer Transportflugzeuge eine gestohlene Kuh mitgenommen und das nicht zu bändigende Tier über japanische Gewässer aus 10.000 m Höhe ins Freie befördert hätte. Russland ist eben auf rätselhafte Weise anders, die Wahrheit manchmal grotesk! Es fällt immer wieder einmal eine Kuh vom Himmel, wobei die Opfer noch zusätzlich als Lügner und Betrüger erscheinen! Werfen wir jedoch vorerst kurz einen Blick zurück. Michael Gorbatschow wurde 1985 Generalsekretär der KPdSU. Mit ihm begann die Perestrojka, d. h. der Umbau der Gesellschaft, der 1991 zur Auflösung der Sowjetunion führte. Die Russische Föderation, wie Russland nun offiziell heißt, besteht aus 83 Föderationssubjekten, die in sieben Föderationskreisen gegliedert sind. Sie bestehen aus 21 Republiken, 4 autonomen Kreisen (okrug), 1 autonomen Kreis, 9 Regionen (kraj), 46 Gebieten (oblast’) und zwei Städten föderalen Ranges (Moskau u. St. Petersburg). Es folgten die wilden Jahre unter Präsident Jelzin, als junge Ökonomen einen Kapitalismus nach amerikanischem Vorbild einzuführen versuchten und das Land in weniger als einem Jahrzehnt in die Pleite trieben. Die Folgen des Raubtierkapitalismus waren dramatisch und führten zu chaotischen Zuständen. Schon 1994 kontrollierte die Unterwelt nach einer CIA Studie 40% der russischen Wirtschaft. Das russische Bruttosozialprodukt lag 1997 um 40% unter dem von 1989! Das Weltwirtschaftsforum setzte Russlands Konkurrenzfähigkeit auf

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Berichtet in: Profil, 17 vom 21. April 1997.

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Platz 52 von 53 Industrieländern. Was Korruption, Steuerhinterziehung und organisiertes Verbrechen betrifft, lag das Land allerdings auf dem 1. Platz.362 Auch Präsident Jelzin wurden unlautere Geldgeschäfte vorgeworfen. Der Generalstaatsanwalt Skuratow wollte ihn deshalb und wegen Korruption zur Verantwortung ziehen. Jelzin suchte Hilfe beim neuen Chef des Geheimdienstes FSB, vormals KGB, Wladimir Putin, der ihn vor dem drohenden Gerichtsverfahren rettete. Wohl als Dank wurde Putin zum Ministerpräsident und Kandidaten für die Präsidentschaft bestellt, die er nach gewonnener Wahl im Jahr 2000 antrat. Er garantierte danach Jelzin und seiner Familie per Gesetz Straffreiheit auf Lebenszeit. Am Vorabend der Präsidentschaftswahlen explodierten mehrere Bomben in Wohnhäusern in Moskau und zwei anderen Städten. Über 300 Menschen fanden dabei den Tod. Die Attentate wurden Tschetschenen zugeschrieben. Hier gibt es eine Parallele zu den USA, wo 2001 die Zwillingstürme in New York nach einem Flugzeugattentat einstürzten und Tausende Todesopfer forderten. In beiden Ländern ergab sich als Folge der Attentate eine Welle des Patriotismus, was der Regierung bei der Durchsetzung harter Maßnahmen half. In Russland begann Präsident Putin den zweiten Tschetschenenkrieg, in den USA begann Präsident Bush den zweiten Krieg gegen den Irak. Die Präsidentschaft Putins brachte bis Ende der zweiten Amtszeit 2008 Russland auch Erfolge. Das Budget konnte konsolidiert werden, die Notenbank verfügte 2008 über 500-600 Milliarden Dollar an Devisenreserven. Die Reallöhne stiegen massiv um etwa 17% pro Jahr, die Zahl der Milliardäre (Oligarchen) wuchs. Moskau hatte 2008 weltweit die größte Dichte an Millionären. Es entstand eine neue städtische Mittelklasse. Gari Kasparow, Schachikone und oppositioneller Politiker, wies allerdings in einem Interview von 2008 auf die großen sozialen Unterschiede hin: „Es wird ein Keil durch die Gesellschaft getrieben. Auf der einen Seite stehen etwa 20 bis 23 Millionen Menschen, denen es besser geht: das eine Prozent der Superreichen und vielleicht zehn bis fünfzehn Prozent, die vom Aufschwung mitgenommen werden. Aber wo bleiben die anderen 120 Millionen Menschen, denen es nicht gut geht? Die Unterschiede werden täglich schlimmer.“363

Nicht nur die Landbevölkerung, auch Rentner und Invalide blieben weit zurück, die Infrastruktur wurde vernachlässigt, ebenso die Landwirtschaft. Die Bevölkerung schrumpfte, die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung lag unter 60 Jahren. Der Alkoholismus blieb und bleibt ein Problem: Laut

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Die Woche (Hamburg) vom 24.07.1998. Der russische Kriminalsoziologe Yacov Gilinskij sagte in einem Vortrag: „Russland ist ein krimineller Staat mit einer kriminalisierten Gesellschaft.“ In: Die Presse vom 13.10.2000. Aus einem Interview mit Gari Kasparow, Profil 15, vom 7, 04. 2008, S. 83.

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Statistik konsumierten die 145 Millionen Russen vom Säugling bis zum Greis pro Jahr im Schnitt 17 l reinen Alkohol!364 Putin baute nach seinem Amtsantritt Russland um. Schon 2005 waren zwei Drittel seiner engen Mitarbeiter, zwei Minister und vier Vizeminister aktive oder ehemalige Geheimdienst-Offiziere. Knapp die Hälfte der politischen Elite kam aus dem FSB. Der Menschenrechtsanwalt Robert R. Amsterdam stellte 2006 fest: „Sieben Männer um Putin kontrollieren ein Vermögen von 300 Milliarden Dollar.“365 Die Staatsökonomie und Staatsbürokratie waren nach acht Jahren Putinscher Präsidentschaft angeschwollen, nicht nur Korruption, auch Bestechlichkeit und Kriminalität nahmen zu. Das in New York ansässige Komitee für den Schutz von Journalisten (CPJ) stellte fest, unter Putin sei ein „erschreckender Rekord“ von mindestens einem Dutzend nicht aufgeklärter Morde an Journalisten aufgestellt worden! Erschreckend war aber die Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Allein in den Monaten Dezember 2008 und Januar 2009 gab es 50 Überfälle, davon 23 mit Todesfolge.366 Das Volumen der korrupten Geschäfte war 2008 laut Boris Nemzow, 1997-98 erster Vize-Premier und einst ein Hoffnungsträger der Demokraten, auf 300 Milliarden Dollar gestiegen! Die Vertikale der Macht, d. h. die Möglichkeit eines Durchgriffs seitens der Regierungsbehörden auf allen Ebenen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens einschließlich Rechtssprechung und Wahlen führte dazu, dass die in der Konstitution festgelegten Grundsätze nicht immer beachtet wurden. Die Pressefreiheit war und ist eingeschränkt, die landesweiten Medien sind unter Regierungskontrolle. Boris Nemzow hat 2008 zusammen mit Wladimir Milow, einst stellvertretender Minister für Energetik, die Situation so zusammengefasst: „Vor allem ist Russland weder ein demokratischer, noch föderativer Staat, noch ein Rechtsstaat… Wer die Machthaber kritisiert, kann nach dem neuen Polizeigesetz über Extremismus zum Extremist erklärt und hinter Gitter gesetzt werden… Das Parlament hat sich in eine ‚Filiale der Präsidenten-Administration zur gesetzgeberischen Arbeit’

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Wodkahersteller in Russland steigern die Produktion. In: Die Presse vom 29.01.2008, S. 27. Auch: Russland: Fataler Griff zur Wodkaflasche. In: Die Zeit vom 04.01.1985. Korruption ist völlig außer Kontrolle. Chodorkowski-Anwalt zur Lage in Russland. In: Der Standard, 11.05.2006. Amsterdam sagte u. a. „Die Korruption in Russland steigt in einem kaum vorstellbaren Ausmaß.“ Sie wäre „völlig außer Kontrolle geraten“. Vgl. dazu Spiegel Online vom 30.07.2007: Menschenrechte. Leuchtturm der Hoffnung; s. auch: Die Menschenrechtsorganisation IGFM: Welttag der Pressefreiheit in Russland 2009 (www.Igfm.de/Welttag-der-Pressefreiheit-inRussland-2009 [28.10.2009]).

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verwandelt, wo Abgeordnete vom Kreml ernannt werden und nach Auftrag des Kreml abstimmen.“367

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Lewada von 2007 wünschten sich 94% der Russen einen autoritären Herrscher. Dagegen hielten nur 18% ein starkes Parlament für nötig. Dem entspricht auch die seit einiger Zeit laufende Rehabilitation Stalins, die einen Höhepunkt in der 40teiligen Seifenoper Stalin live im staatlichen Fernsehkanal NTW fand, wo der Tyrann als gütiges Familienväterchen gezeigt wurde. Regisseur Grigorij Ljubimow dazu: „Er war mutig, weise und hat den Krieg gewonnen. Er war ein echter Führer.“368 Wie kommt es zu solcher Umbewertung der Geschichte? Der Historiker Jurij Afanassjew gibt einen Hinweis, wenn er von Russland als „einem Land mit einer unvorhersehbaren Vergangenheit“ (!) spricht. Er meint damit die Tradition des Geschichtsmythos in Russland, die hochgradig emotionalisiert eher eine Frage des Glaubens als der rationalen Geschichtsforschung sei. Die Folge wäre eine „erfundene Geschichte“, in der rationale Elemente keinen Platz hätten.369 Entsprechend dem aktuellen Geschichtsverständnis der politischen Elite wird die Geschichte immer wieder uminterpretiert, was sich beispielsweise auch in dem von Putin lancierten Staatsprogramm zur Verbreitung der patriotischen Geschichte und in neuen Lehrbüchern für den Unterricht zeigte. Bereits 2005 sprach der Perestroika Denker Alexander Jakowljew von einer „Resowjetisierung in Russland, einer Rückwärtsbewegung, die nichts Gutes verspricht.“370 Da erstaunt auch nicht, dass sich in der erwähnten Lewada-Umfrage 71% der Russen nicht als Europäer betrachten, sondern als Eurasier, die eben „anders“ seien. Da wundert es auch nicht, dass ein gutes Drittel der Russen sich von „Feinden“ bedroht fühlt. Der Philosoph Wladimir Kantor hat schon 1994 in der Zeitschrift Probleme der Philosophie (Voprosy filosofii) davor gewarnt: „Russland verliert sich, sie [?] zwingen Russland ein fremdes Wertesystem auf, Russland befindet sich auf der Schwelle zu Unruhen, böse Kräfte wollen Russland westlich

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Boris Nemcov, pervyj viceprem’er Pravitel’stva RF 1997-1998 und Vladimir Milov, zamministra energetiki Pravitel’stva Rossii 2002 g., Nezavisimyj ekspertnyj doklad „PUTIN. ITOGI“. Novaja gazeta, Moskva 2008, S. 41-45, u. S. 65-66. Siehe: Profil 20, 09.05.2008. Bericht der Kronen Zeitung (Wien) vom 24.02.2007: 40-teilige Seifenoper zeigt Russlands größten Verbrecher als ein gütiges Familienväterchen. Russland: Stalin als TVHeld. S. 4f. Der russische Mythos: Fortsetzung folgt. In: Der Standard (Wien) vom 10./11.03.2001. Profil 12, vom 21.03.2005.

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umgestalten, doch unterdessen will das russische Volk auf seine eigene Weise leben.“371

Solschenizyn hat dies 2006 in einem Interview präzise formuliert: „All das lässt keinen Zweifel daran, dass eine völlige Umzingelung Russlands vorbereitet wird – mit dem anschließenden Verlust der Souveränität Russlands.“372

Wer bietet davor Schutz? In einer Umfrage von 1992 antworteten die Russen auf die Frage „Welcher Institution vertrauen sie am meisten“: 1. Der Orthodoxen Kirche, 2. Der russischen Armee. Die Mehrheit der russischen Gesellschaft vertraut eben wie im 19. und 20. Jh. dem autoritären Führer, – einst Zar, dann Generalsekretär der KPdSU, jetzt Präsident –, einer starke Armee und der rechtgläubigen Kirche.373 Die Orthodoxe Kirche hat in der Tat seit der Perestrojka eine Wiedergeburt erlebt. Die Intensität und Tiefe des Glaubens hatte einst schon Rainer Maria Rilke gerührt, der selbst Russisch gelernt und nicht nur Russland bereist, sondern auch Gedichte in russischer Sprache geschrieben hat! Auch 70 Jahre Kommunismus konnten diese innige Gläubigkeit nicht ganz auslöschen. Selbst in der Armee bezeichnen sich nach Umfragen zwischen 40 bis 50% der Soldaten als gläubig. Präsident Putin stellte 2001 bei einem Besuch des Klosters Solowki fest: „Ohne den orthodoxen Glauben, ohne die auf diesen Glauben gegründete Kultur könnte Russland nicht existieren.“374

Kirchen und Klöster wurden renoviert oder neu gebaut. Die Pracht des sakralen Raums, die mystisch anmutende Feierlichkeit orthodoxer Liturgie und Kirchengesänge ergreift jeden, der daran teilnimmt. Doch auch hier ist ein gewisser Zwiespalt unübersehbar. Die chaotische Wirtschaft der Jelzin Jahre hatte auch vor der Kirche nicht Halt gemacht. So trägt der unlängst gewählte russische Patriarch Kirill von Smolensk den Spitznamen „Tabatschnyj“ da er von Jelzin 1996 das Privileg erhielt, 50.000 Tonnen Tabak zollfrei einzuführen, deklariert als „humanitäre Hilfe“ für die Kirche. Kirill stand dem damals entstehenden kirchlichen Wirtschaftsimperium vor, soll damals auch laut Novaja gazeta in „Wodka- und Auto-Skandale“ verwickelt gewesen sein und

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Voprosy filosofii 1, 1994, S. 39. Der Standard, 11.05.2006. G. Seide: Die russisch orthodoxe Kirche in Russland. In: Osteuropa 11, 1993, S. 1045. R. N.: F. M. Dostojewskij: Eine Studie zur russischen Mentalität einst und heute. In: H.-J. Gerigk u. R. N.: Dostojewskij im Kreuzverhör. Heidelberg 2008. S. 89. Putin sprach bei seinem Besuch vom Heiligen Russland, das sich „freiwillig als Hüterin der wahren christlichen Werte“ verstehe!

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sich die Reputation des reichsten Menschen in der Orthodoxen Kirche erworben haben. Man muss sich letztlich die Frage stellen, was sich hinter Russland und der mitunter schwer verständlichen Mentalität verbirgt. Am Beginn stand eine Utopie, die sich im Verlauf der Romantik entwickelte, aber ihre Wurzeln im 16. Jh. hat, als Moskau nach dem Fall Konstantinopels als einziges orthodoxes Land übrig geblieben war, das nicht unter Fremdherrschaft stand. Es hieß, Rom verträte nun nicht mehr den „wahren Glauben“, Konstantinopel, das zweite Rom, sei gefallen und Moskau wäre jetzt das dritte Rom. Ein Viertes würde es aber nicht geben!375 Im 19. Jh. führte diese Utopie, die eine religiöse, aber auch eine politische Dimension aufweist, zur Russischen Idee, deren Grundlagen Fjodor M. Dostojewskij einst formulierte. Das russische Volk hätte von der Vorsehung die Fähigkeit und die Aufgabe erhalten, alle „europäischen Ideen“ in sich aufzunehmen, weiter zu entwickeln und damit „einen allgemeinen, allmenschlichen Zusammenschluss mit allen Stämmen der großen arischen Völkerfamilie“ herbeizuführen. Dies war verbunden mit der Überzeugung, dass die orthodoxe Kirche allein das wahre Bild Christi bewahrt und dies der Welt zu vermitteln hätte, – nach Dostojewskij, wenn erforderlich, auch mit militärischen Mitteln. Die utopischen Träume des 19. Jh. sind immer noch da.376 So gab es in der Literaturnaja gazeta 2007 eine Diskussion am Runden Tisch zur Frage „Wird die Orthodoxie die christliche Zivilisation retten?“ Der auch in Deutschland bekannte Philosoph A. Gulyga, Autor eines Buches über die Russische Idee, betonte: „Die nationale russische Idee ist schließlich bloß die universale allmenschliche Vereinigung.“377 Alexander Dugin, Philosoph und Berater von Parlamentariern mit Zugang zum Kreml, konkretisierte dies: „Heute gehört uns Eurasien, morgen die ganze Welt. Die neue Nation wird eine Nation des russischen Allmenschen sein, was schon Dostojewskij prophetisch vermutet hat.“378

Dies sei der Sonderweg, den Russland gehen soll. Dem dient auch die wiederholte Anpassung der Geschichte an eine Gegenwart, die dem Wunschbild nicht entspricht. Schon der französische Historiker Jean Michelet schrieb 1863 in La Pologne Martyr: „Von oben bis unten lügt und betrügt Russland, es ist eine Phantasmagorie, eine Täuschung – ein illusionäres Reich.“379

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R. N., op. cit., S. 54. Ibid., S. 70-73. Ibid., S. 98. Loc. cit.

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Der russische Journalist Andrej Lipski urteilt in der Novaja gazeta vom Mai 2005 ähnlich: „Der Kreml, das Außenministerium, der gesamte Apparat betreiben eine organisierte Kampagne zur Falsifizierung der Fakten.“380

Der Pariser Historiker Alain Besançon fasste in Le Figaro vom 19. 08. 2008, als der Georgien Krieg eben zu Ende ging, zusammen: „Die russische Lüge ist so angeschwollen, dass sie immer zur Hälfte geglaubt wird.“ Halbwahrheiten, nach George Nivat (Slawist in Genf) „le menti-vrai“, ersetzen nicht selten die Wahrheit. 381 W. S. Churchill sagte einst: “Russland ist ein Rätsel, verpackt in etwas Mysteriösem, inmitten eines Geheimnisses. Aber vielleicht gibt es dazu einen Schlüssel.“ (Radioansprache vom Oktober 1939)

Alain Besançon meint, den Schlüssel gefunden zu haben. Russland hätte sich in seiner Geschichte immer wieder mit einem Zurückbleiben hinter Europa konfrontiert gesehen und hätte dies nach dem Motto einholen und überholen wettzumachen versucht, was zu wiederholten Überkompensationen geführt hätte, die „letztlich stets den Schein über das Sein hätten triumphieren lassen.“ Dazu gehört nach Besançon auch die Institutionalisierung „der universellen, metaphysischen, schizophrenen Lüge“. Jurij Ljubimow, eine russische Theaterlegende, dessen Namen mit dem berühmten, 1964 von ihm mit Bert Brechts Der gute Mensch von Sezuan eröffneten Taganka Theater verbunden ist, hat die Sowjetzeit überlebt. Er trat zur Zeit des politischen Tauwetters der Partei bei. Er dachte „wie die anderen Dummköpfe: Wir treten in die KP ein und verändern das System von innen!“ Das gelang nicht. 1982 schob man ihn in die Emigration ab. 1989 kam er mit einem israelischen Pass nach Moskau zurück. 2008 hat er, bereits 90 Jahre alt, zum 125. Geburtstag Kafkas eine dramatisierte Fassung des Romans Das Schloss aufgeführt, die Kafkas beklemmenden Geist atmet. „Herr K. bewegt sich durch eine Welt, in der die Verteilung von Dokumenten eigentlich die wichtigste Arbeit ist.“ Die Zeitschrift Profil kommentierte, „Russland, wie es leibt und lebt.“ Zu seiner Arbeit als Regisseur meinte er: „Das Theater hat gegenwärtig wieder die Aufgabe, politischen Widerstand zu leisten. Das

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Jean Michelet: La Pologne Martyr. Paris 1863, S. 191. Profil 20, vom 13. 05. 2005. Georges Nivat: Le menti-vrai. In: Jean-Philippe Jaccard (Hg.): Un mensonge déconcertant ? La Russie au XXe siècle. Paris 2003. Jaccard ist der Meinung, dass das Russland des 20. Jh. ein Laboratorium für das Studium der totalitären Lüge sei.

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Fernsehen wurde bereits gleichgeschaltet, uns bleiben noch die Theaterbühnen.“382 Als Folge der Finanzkrise drohten wiederum Staatsbankrott und soziale Unruhen. Boris Nemzow stellte fest, dass Arbeitslosigkeit und Inflation dramatisch anstiegen und das Staatsbudget defizitär würde. Das heutige Russland nannte er eine Bananenrepublik. Der Ökonom Igor Jurgens, Leiter des von Medwedew 2008 gegründeten Instituts für Zukunftsentwicklung forderte dringend Reformen. Die vertikale Machtstruktur führe sonst unweigerlich zu einer Thrombose. War auch das Verhältnis zwischen Präsident und Regierungschef brüchig geworden? Am 13. Januar 2009 kritisierte Medwedew vor laufender Kamera Ministerpräsident Putin und teilte ihm über TV mit, dass die Regierung die von ihm geforderten Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise nur zu einem Drittel umgesetzt hätte! Putin wiederum ignorierte den für den 17. Januar von Medwedew einberufenen abendlichen Gasgipfel und handelte zur selben Zeit mit der ukrainischen Premierministerin Timoschenko in einem tête à tête ein neues Abkommen aus! Im Herbst 2009 hatte auch Gorbatschow genug von der Situation in Russland. In den Regionalwahlen am 11. Oktober hatte die Kreml-Partei Geeintes Russland Traumresultate im ganzen Land erzielt. In Moskau waren es fast 70% der Stimmen. „Diese Wahlen sind eine Verspottung des Volkes“, rügte er die Verantwortlichen. In der kremlkritischen unabhängigen Novaja gazeta, deren Teilhaber Gorbatschow ist, stellte er fest, „Die Partei und die politischen Institutionen sind politisch diskreditiert.“ „Die Meinungsfreiheit werde immer mehr eingeschränkt und der Kreml handle nach dem Motto es ist nicht wichtig, wer wählt, sondern wichtig wer zählt!“ Die Novaja gazeta urteilte „Solche Fälschungen hat es seit der Sowjetzeit nicht mehr gegeben.“ Wie das Nachrichtenmagazin Vlast’ berichtete, wurden Wahlleiter angehalten, gefälschte Auszählungsprotokolle abzugeben.383 Wie gehen Schriftsteller mit einer solchen Situation um? Wenden wir uns nun der Literatur zu. Die Zensur, die in Russland an die 200 Jahre lang bestanden hat, wurde 1990 per Gesetz abgeschafft, eine neue, postsowjetische Generation konnte sich frei in literarischen Texten verwirklichen. Larissa Lissjutkina berichtete 2005 aus Moskau von den sichtbaren Veränderungen.

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Schloss-Strich. In: Profil 18, vom 28.04.2008, S. 140. Gorbatschow kritisiert Putins autoritären Kurs. In: Rheinische Post, 20.10.2009. Siehe zu dem Thema auch den umfassenden Beitrag von Amy Knight Forever Putin? In: The New York Review vom 11. Februar 2010. Als weiterführende Lektüre seien zwei Bücher empfohlen: Boris Reitschuster: Putins Demokratur. Aktualisierte und wesentlich erweiterte Ausgabe. Berlin 2007 (Ullstein TB 36971).

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„Der Büchermarkt passt nicht in die Regale der zahlreichen Buchhandlungen, er wuchert darüber hinaus und erobert die ganze Stadt. Die Kioske und Verkaufsstände mit Büchern schmücken das Straßenbild im Zentrum von Moskau in einer Dichte, wie Gemüseläden und Bäckereien die Geschäftszeilen einer deutschen Innenstadt… An Wochenenden verwandelt sich ein ehemaliges Moskauer Olympiastadion in eine echte Gutenberg-Galaxis, wird zum Reich der Druckpressen.“384

Die Folgen waren einerseits eine Kommerzialisierung des Buchangebots verbunden mit einem Niveauverlust, andererseits ein Schrumpfen der Leserzahlen. Was für Moskau galt, galt aber nicht für das Umland. Laut einer Umfrage von 2001 las etwa ein Drittel der Russen keine Bücher! „In einer russischen Provinzstadt,“ berichtet Lissjutkina, „mit einer halben Million Einwohner waren in allen Buchhandlungen insgesamt etwa 5000 Buchtitel im Angebot – das ist nur ein Zehntel des Angebots in einer einzigen Moskauer Buchhandlung.“ Sie berichtet, dass die Auflagen verglichen mit der Sowjetzeit beträchtlich sanken. Der Soziologe Boris Dubin urteilte, „Heute kann man über die extreme Zersplitterung und Zermürbung der Bildungsschicht sprechen.“385 Kommerzialisierung und ein Absinken der Qualität waren spürbare Konsequenzen. Etablierte Autoren der Sowjetzeit traten in den Hintergrund oder verschwanden, junge, bisher wenig oder unbekannte Autoren veröffentlichten avantgardistische, oft provokante Texte. Damit kam es zugleich zu einer Veränderung der Sprache. Früher tabuisierte Ausdrücke, Jugend- und Gefängnisjargon, bis hin zur Fäkalsprache wurden freizügig verwendet. Nichtsdestoweniger wurde aber auch die Bibel kurzzeitig zu einem der meistgefragten Titel! Der folgende kursorische Überblick möge dem Leser einen kleinen Einblick in die Vielfalt literarischer Texte von den 90er Jahren bis in das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts geben. Allerdings muss gesagt sein, dass sich ein Autor, der alle anderen überragt, bisher nicht gefunden hat. Die Moskauer Oligarchenwitwe Oksana Robski – ihr Mann wurde wegen vermutlich dubioser Geschäfte erschossen – schrieb den Bestseller Casual über ihr Leben. Danach folgte Frauen von der Rublowskoe-Chaussee, eine Villenstraße in Moskau, wo die Superreichen zu Hause sind. Frau Robski moderierte im TV ab September 2005 eine Nachmittagsshow Für Dich, wo sie erklärte, „wie man an die Rublowskoje-Chaussee kommt, sprich: sich einen reichen Mann angelt.“386 Ihre Sprache ist hart und emotionslos, wie auch ihre Lebenseinstellung. In einem Interview 2005 mit der Zeitschrift Profil erklärte sie: „Die russische Frau muss klug sein, schön sein und einen 384 385 386

Larissa Lissjutkina: Gorkijs radikale Erben. www.oeko-net/kommune05-03/Alissjut. htm [27.06.2005], S. 1. Ibid., S. 2. Tessa Szyszkowitz: Seid umschlungen Millionen! In: Profil 40, vom 03.10.2005.

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reichen Mann haben.“387 Im Vordergrund steht nicht die Liebe, sondern eine sorgenfreie Existenz! Von den wilden 90er Jahren in Russland meinte sie, es hätte keine Gesetze gegeben, „alle waren irgendwie kriminell.“ Robskijs Bücher sind, wie die in Russland weiterhin populäre Literatur von Frauen über Frauen, beim Lesepublikum gefragt. Polina Daschkowas Kriminalromane sind auch in Deutschland beliebt. Ludmila Ulizkaja und Tatjana Tolstaja sind überaus erfolgreiche Schriftstellerinnen, die gleichfalls in Deutschland gut bekannt sind. Aber auch Autoren einer älteren Generation, wie Anatolij Pristawkin (geb. 1931), Wladimir Makanin (geb. 1937) und Wassilij Aksjonow (geb. 1932) veröffentlichten lesenswerte Bücher, die für die Epoche des Übergangs von der UdSSR bis zu den stürmischen Jahren der Administration Jelzins charakteristisch sind. Pristawkin leitete von 1992 bis 2001 eine von Jelzin 1992 eingerichtete Begnadigungskommission, die Gnadengesuche von Häftlingen prüfen – damals saßen über eine Million Häftlinge, das sind zehnmal mehr als in Deutschland (!) im Gefängnis – und dem Präsidenten Vorschläge zur Amnestie vorlegen sollte. Unter Pristawkins Kollegen befanden sich der bekannte Menschenrechtler Sergej Kowaljow und der beliebte Liedermacher und Romanautor Bulat Okudschawa. Pristawkin las in dieser Zeit unzählige Gnadengesuche, in denen die Geschichte und die düstere Existenz von Millionen Russen lebendig wurde. In seinem Buch Ich flehe um Hinrichtung (dt. 2003), das eine Auszeichnung für „die beste Prosa des Jahres“ bekam, zeichnet Pristawkin ein erschütterndes Bild. Der Titel fußt auf dem Gesuch eines 31-jährigen Mörders, der schrieb: „Ich bitte Sie nicht, mich zu begnadigen. Ich bitte von Herzen darum, dass Sie mich erschießen lassen. Man darf einen Menschen nicht endlos erniedrigen, was immer er auch sein mag.“

Hier ist ein anderer Fall, den Pristawkin als typisch ansieht: „Zwei tranken, ein gewisser Gerassimow, 50, und sein Kumpel. Als dieser nicht mehr trinken wollte, stand er auf und ging. Gerassimow war beleidigt, stieß ihm ein Messer in den Rücken und verletzte ihn schwer, worauf er sein Glas austrank und den Kumpel ins Krankenhaus brachte.“ „Das ist sie also, die geheimnisvolle Seele des Russen“, bemerkt Pristwakin zu diesem Fall bitter.388

Laut offizieller Statistik von 2002 wurden in Russland im Jahr 30.000 Morde begangen, inoffiziell sogar 45.000, und zwar, wie Pristawkin anmerkt, von

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Loc. cit. Dorothee Sippell: Genosse Wolf. In: Profil 11, vom 10.03.2003. S. 124f.

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ganz normalen Menschen!389 In seinem Interview nennt er dafür einen Grund: „Die Kommunisten haben nur die dunkelsten Seiten des Charakters gefördert und die niedersten Instinkte im Menschen angesprochen.“390 Es ist verständlich, dass die Bevölkerung mehrheitlich harte Strafen, einschließlich Todesstrafe bevorzugt. Als letztere 1996 in Russland ausgesetzt wurde, rief das Proteste hervor. Im Februar 2002 wurde sie wieder eingeführt. Pristawkins Kommission wurde im Februar 2002 von Putin aufgelöst. Makanins Roman Underground oder Ein Held unserer Zeit (1998, dt. 2003), der Titel spielt auf Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund und Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit (1840) an, kann als ein Schlüsseltext für das Verständnis der Perestrojka und der frühen Jahre der Jelzin Administration gelten. Der Held, ein Schriftsteller, der unter den Kommunisten litt und das Schreiben aufgegeben hat, findet in der unruhigen Zeit des Übergangs zur postsowjetischen Gesellschaft keinen Halt. Er begeht aus nichtigen Gründen zwei Morde, die in ihm letztlich keine Spuren hinterlassen! Makanin setzt sich mit Dostojewskijs Verständnis des Gewissens in Schuld und Sühne auseinander. Im Gegensatz zu Raskolnikow kennt Makanins Mörder weder Reue noch Gewissen. Das Gewissen ist nicht mehr die Stimme Gottes im Menschen, sondern eine Art Tabu, das für ihn seine Gültigkeit verloren hat. Makanin liefert ein erschütterndes Sittenbild, in dem auch die Justiz, unterstützt von einer korrumpierten Medizin, in einem düsteren Licht erscheint.391 Drei seiner Erzählungen in einem Band mit dem Titel Der kaukasische Gefangene behandeln aktuelle Themen der Zeit des Übergangs vom Sowjetregime zur Perestrojka.392 Die gewohnte Ordnung zerfällt, die Menschen sind verunsichert und finden sich nicht zurecht. Moral und Gewissen spielen kaum mehr eine Rolle. Die Titelgeschichte spielt im Kaukasus, seit dem frühen 19. Jh. ein Krisenherd. Zwei russische Soldaten im Tschetschenienkrieg erleben den Soldatenalltag, der von Makanin schonungslos geschildert wird. Als sie eines Tages einen jungen und äußerst attraktiven Tschetschenen festnehmen, erwachen in einem der beiden sexuelle Phantasien, mit denen er nicht zu Rande kommt. Als allerdings die Situation plötzlich Handeln erfordert, erwürgt er den jungen Tschetschenen ohne zu zögern. Die zweite Erzählung Der Buchstabe A schildert den Alltag in einem Straflager, in dem Häftlinge rebellieren und verzweifelt, aber mit einigem Erfolg, um ihre Rechte kämpfen. Am Ende gerät die Situation allerdings

389 390 391 392

Ibid., S. 124. Ibid., S. 125. Siehe Mord in Moskau in dem gleichzeitig im Böhlau Verlag erscheinenden Band über F. M. Dostojewskij. Der kaukasische Gefangene. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke, Luchterhand 2005, 240 Seiten.

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außer Kontrolle und es brechen chaotische Zustände aus. Auch die dritte Erzählung mit dem ironischen Titel Eine geglückte Liebesgeschichte spielt unmittelbar vor der Perestrojka. Der Held war Schriftsteller, seine frühere Geliebte Zensor. Er moderiert nun im Fernsehen, sie betreibt nun ein Freudenhaus. Aus der Vergangenheit beider ergeben sich neue Konflikte. Der Rezensent Felix Grabuschnig fasst zusammen: „Wladimir Makanin beschreibt als tiefgründig menschlicher, respektvoller, mitunter ironischer Beobachter in gestraffter Form und kühlem Stil, der stets sozusagen mit beiden Füßen auf der Erde bleibt, soziale Verhältnisse und Veränderungen sowie psychische Vorgänge…, wobei der Autor ein Faible für offene Enden erkennen lässt… Der Frage nach individueller Freiheit im Spannungsfeld zwischen Macht und Unterdrückung kommt durchgehend zentrale Bedeutung zu.“393

Die Kritikerin N. Iwanowa charakterisierte Makanins Prosa noch deutlicher wie folgt: Die Freiheit, genauer ihr Surrogat Willkür, entpuppte sich in Russland als totale Scheisse. Die Abtragung von Stacheldraht (und des Eisernen Vorhangs) führte zur Entfesselung von Verbrechen. Kein Licht am Ende des Tunnels, nicht die geringste Perspektive, weder für das Volk (Sträflinge), noch für das Land (Straflager nach der Befreiung).“394

Wassilij Aksjonow, schon in den 60er Jahren ein bekannter Autor, trat 1979 aus dem Schriftstellerverband aus und emigrierte 1980 in die USA, wo er an Universitäten russische Literatur lehrte. Seit 1999 lebte er hauptsächlich in Biarritz. Sein Roman Die Voltairianer und die Voltairianerinnen (2004) fordert im Gegensatz zu Putins gelenkter Demokratie eine neue liberale Politik für Russland. Was die Intelligenz im 19. und 20. Jh. an Vorstellungen hervorgebracht hat, betrachtet er als Fehlentwicklung. In seinem Ideenroman stehen im Zentrum der Handlung Voltaire und die russische Zarin Katharina die Große, geborene Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, die Voltaire verehrte. Die beiden treffen einander zu einem Gedankenaustausch auf einer Ostsee Insel. Katharina und ihre beiden Zofen erscheinen dabei in männlicher Verkleidung. Voltaire, dargestellt als „Herrscher über Europas Gedanken“ und das „wahre Gewissen Europas“ (so Katharina), hat die ganze Sympathie des Autors. Er legt seine Ansichten über eine Reform Russlands im Sinne der Aufklärung dar. Der Roman möchte so die Richtung vorgeben, in der sich Russland entwickeln soll – zu einem liberalen, europäischen Staat auf der Basis eines aufgeklärten Denkens! Der Roman erhielt 2004 den renommierten Booker Preis! 393 394

Felix Grabuschnig: Sandammeer – die virtuelle Literturzeitschrift. 03/2005. www.sandammeer.at/rezensionen/makanin-gefangene.htm [11.12.2006]. N. Ivanova: Žizn’ i smert’ simuljakra v Rossii. In: Družba narodov 8, 2000.

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Der Vater des 1947 geborene Viktor Jerofejew war ein hochrangiger Diplomat, sowjetischer Botschafter im Westen und mehrfach persönlich im Kontakt mit dem Diktator Stalin, den auch noch sein Sohn Viktor als Knabe erlebte. 1979 gab dieser zusammen mit anderen Dissidenten den Almanach Metropol (Untertitel: Almanach verschmähter Literatur) als Manuskriptbuch in nur 12 Exemplaren heraus, davon gelangte ein Exemplar in die USA und erschien dort. Jerofejew wurde daraufhin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Sein erster Roman Die Moskauer Schönheit erschien 1989 (dt. 1993) und machte ihn berühmt. Darin lässt er die Welt der Schönen und Reichen in Moskau von seiner ebenso schönen wie auch lasziven Ich-Erzählerin Irina schildern, einem Mädchen aus der Provinz, das ihre weiblichen Reize für den gesellschaftlichen Aufstieg nutzt. Situationskomik, Sprachwitz, Situationskomik und fast schon surreale Plots verschafften dem Buch einen großen Erfolg. Der Roman endet mit Irinas freiwilligen Tod. Er wurde in 27 Sprachen übersetzt! Jerofejew wurde damit zu einem der führenden Autoren des Landes. Seine Essays erscheinen ebenso im New Yorker, wie in Die Zeit, die ihn „einen der wichtigen Chronisten dieser turbulenten und erschreckend faszinierenden vergangenen Jahrzehnte Russlands“ nannte, oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Von größerem Interesse ist Jerofejews autobiographischer Roman Der gute Stalin (2004), in dem er den Mythos Stalin analysiert. Dass Jerofejew im Zentrum der Macht aufwuchs, verleiht dem Buch stellenweise einen dokumentarischen Charakter. Es ist ein wahrhaftes Sittengemälde der stalinistischen Geselschaft, und zugleich eine Familiengeschichte. Als Folge des Skandals von 1979 hatte sein Vater den Posten verloren. Es war, wie Jerofejew sagt, sein „politischer Mord“ am Vater. Jerofejew über den Russen: „Der russische Volkscharakter wirft sich vor Stalin zu Boden. Er vergöttert Stalins Humor. Er vergöttert Stalins Heimtücke. Er vergöttert Stalins Grausamkeit. Der russische Volkscharakter wartet auf die Strafe für seine Unordnung. Stalin wird kommen und ihn bestrafen… Jeder Vorgesetzte in Russland arbeitet à la Stalin. Er hat keine stalinschen Maßstäbe, aber er hat stalinsche Prinzipien.“ 395

Worte, die nicht nur für den Vater gelten. Es entsteht „… ein enttabuisiertes Bild von Russland, mit seiner religiösen Suche, seinen sexuellen Katastrophen, betrunkenen Prügeleien, nationalen Konflikten, seinem verrückten Humor, seinem heterogenen Potential, seiner wie ein Reifen qualmenden Mentalität, mit neuer art risqué und traditionell rigoroser Ästhetik,“

395

Gisela Reller: Rezension, stalin.htm [04.02.2009]

in:

www.reller-rezensionen.de/belletristik/jerofejew-

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wie Jerofejew selbst schon im Almanach Metropol formulierte. Lesenswert ist auch seine Russische Apokalypse (2006, dt. 2009), in der Jerofejew in vier Teilen kurze Essays zu unterschiedlichen Themen zusammengestellt hat.396 Die folgende Auswahl möge eine Vorstellung vom Inhalt vermitteln: „Das Verhaltensmuster der modernen jungen Russin besteht aus sich gegenseitig ausschließenden Vorstellungen. Sie ist romantisch und pragmatisch, archaisch und kybernetisch, naiv und berechnend keusch und lüstern. Der Mann weiß nicht mehr, wen in ihr er lieben soll.“ (Warum russische Schönheiten billiger werden, S. 117). „Liebt Russland uns? Die meisten von uns… leben unter ungeheuerlichen Bedingungen, aus denen sie sich auf keine Weise befreien können. Elende Wohnungen, halb verfallene Häuser – da hat uns unsere Heimat einquartiert. Die Bürokraten verhöhnen die Bevölkerung. Die Miliz ist gemeingefährlich. Die Gehälter sind lächerlich. Guck selbst, wie du zurechtkommst.“ (Liebt uns unsere Heimat? S. 138) „Der Venushügel bleibt nur optisch bedeckt. Am Venushügel arbeitet sie [= die russische Schönheit] unermüdlich: Im Unterschied zum Orient, wo alles abrasiert wird, und zum Westen, wo man pragmatische Rasur bevorzugt, haben wir bei uns keine einfache Schambehaarung, sondern Meisterwerke der Parkarchitektur. Venushügel à la Versaille.“ (Venushügel à la Versaille, S. 153) „Was für ein Vogel wohnt im Kreml? ... Haben wir Freiheit? Wir haben die Freiheit zu reisen (wenn man ein ausländisches Visum und Geld hat), Geschäfte zu machen (aber bitte ohne Einmischung in die große Politik), an Gott zu glauben (vorzugsweise an den orthodoxen), zu lesen, was wir wollen, und zu schimpfen, worauf wir wollen (sogar auf unseren rätselhaften Vogel, aber nur an bestimmten Orten, die sind wie Raucherecken verpönt: bei einigen Radiosendern, in einigen Zeitungsredaktionen). Was ist uns verlustig gegangen? Die Garantie für die Zukunft.“ (Der Zar der russischen Träume, S. 235) „Der Westen sollte sich damit abfinden, dass der Flug des doppelköpfigen Adlers nicht den Regeln der internationalen Luftfahrt entspricht.“ (Der Zar der russischen Träume, S. 238)

Der 1955 geborene Wladimir Sorokin, das enfant terrible der zeitgenössischen Literatur in Russland – er wurde 2003 von der Putintreuen Jugendorganisation Naschi (= Die Unsrigen) der Pornographie beschuldigt – charakterisierte 1997 sein Bemühen so: „Die Bolschewiki haben den Leichnam [der russischen Literatur] eingefroren, damit er nicht verwest. Als die Sowjetmacht starb, gab auch der Kühlschrank seinen Geist

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Viktor Jerofejew: Russische Apokalypse. Berlin, 2009.

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auf, und der Leichnam taute auf. Jetzt ist er im Zustand der Verwesung, stinkt vor sich hin. Das einzige, was man mit ihm tun kann, ist, ihn in die Erde zu vergraben. Womit ich seit 15 Jahren beschäftigt bin.“

In seinem Erstlingsroman Norma (dt. die Norm) beschrieb er das, was die russische Gesellschaft zusammenhält, eben die „Norm“, definiert bei Sorokin als „Kaka“ („Kacke“), die jeder Russe täglich zu sich nehme. Sorokin hat einige koprophile Erzählungen verfasst. Ins Deutsche übersetzt sind u. a. seine Romane Der himmelblaue Speck (dt. 2000), eine Parodie auf die in Russland einst beliebten science fiction Romane. Er spielt teils in der sowjetischen Vergangenheit, teils in der Zukunft. In einem sibirischen Geheimlabor werden Klassiker der russischen Literatur geklont. Beim Schreiben scheiden sie eine rätselhafte Substanz aus – den himmelblauen Speck. Kannibalismus, Sodomie und Gewalt im Roman führten zu der gerichtlichen Klage wegen Verbreitung von Pornographie, die aber 2003 eingestellt wurde. Der Roman Eis (dt. 2003), ist ein „Roman über die ewige Suche nach dem verlorenen seelischen Paradies. Im modernen Moskau jagt eine mysteriöse Sekte Menschen, die ein ‚lebendes Herz’ besitzen. Doch diese Erfahrung verändert auf gravierende Weise das Leben und führt alle zu einer Gemeinschaft zusammen, die ihre spirituelle Kraft benutzt, um die von Macht und Sex bestimmte Welt zu zerstören und zur ewigen Existenz zurückzukehren.“397 Viktor Pelevin (geb. 1962), dessen Sprache der Sorokins um nichts nachsteht, ist einer der populärsten Autoren der jüngeren Generation und Autor des Romans Generation P (1999, dt. 2000). P steht für Pepsi, der Held ist ein Werbetexter, nimmt psychodelische Drogen und macht rasch Karriere. Pelevin interessieren psychische Phänomene und Esoterik, in einigen seiner Texte tendiert er auch zu fernöstlichem, buddhistischen Gedankengut. So mischen sich in dem Roman Buddhas kleiner Finger (dt. 1999) „Philosophien und Mythen, Ying-Yang und Kosakenromantik, Seifenoper und Cyberspuk, Komisches und Tragisches, Geschichte (1919) und Gegenwart (1991)“.398

Der Autor wirft in seinen Texten, wie Larissa Lissjutkina schreibt, „einen grotesken Panoramablick auf verschiedene historische Bewusstseinsschichten, mit typischen sowjetischen und post-sowjetischen Neurosen, Klischees, Feindbildern.“399

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Christiane Uhlig: Wladimir Sorokin: Verehrtes Hassobjekt. In: Russland-Aktuell. Die Netzeitung von .RUFO. Mit „Eis“ ist „kosmisches Eis gemeint, das angeblich mit dem Tunguska Meteoriten in Sibirien zu Boden fiel und von der Sekte benutzt wird. www.aktuell.ru/russland/special/leipzig_neue_autoren/wladimir_sorokin_verehr... [06.02.2009] G. Reller, op. cit. www.reller-rezensionen.de/belletristik/pelewin-buddhas-kleiner _finger.htm [06.02.2009]

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Karlheinz Kasper hat sich eingehend mit Pelevin, besonders seinen Romanen Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin oder DPP(NN) (2003) und Das heilige Buch des Wandlings befasst.400 Von letzterem Text schreibt Kasper und zitiert den Kritiker Lew Danilkin: Auch der neue Text Pelevins warf die Frage auf, wie man in einem Land, das auf dem Weg vom Nirgendwoher ins Nirgenwohin ist, leben soll, wenn die liberale Problemlösung sich diskreditiert hat oder den Bedingungen vor Ort nicht entspricht… Sein Russlandbild weise zum ersten Mal klare Konturen der „Putinzeit“ auf und die apologetische Darstellung der „Liebe“, die den Einzelnen zur „Erleuchtung führt, lasse endlich auch einen „Weg“ („Tao“) erkennen.401

Michail Schischkins (geb.1961) „intellektualer Roman“ Das Venushaar hat trotz seiner anspruchsvollen Struktur und seines komplexen Gehalts, er umfasst 479 Seiten, nicht nur in Russland viele Leser gefunden und wurde in 6 Sprachen übersetzt. Schischkin, verheiratet mit einer Schweizerin, lebt hauptsächlich in der Schweiz. Sein Roman erhielt in Russland 2005 den Literaturpreis Nationaler Bestseller, nachdem Schischkin bereits davor den renommierten Booker Preis 2000 für seinen Roman Die Eroberung von Izmail (1999) erhalten hatte, der in vier Sprachen übersetzt wurde! Kasper fasst zusammen: „Šiškin hinterfragt nahezu alles, was jemals in russischer Sprache geschrieben wurde, ruft Russland-Texte von Avvakum bis Andrej Platonov auf, lässt Russlandreisende und -kritiker zu Wort kommen und zitiert authentische Gerichtsakten, bis hin zu den Todesurteilen des NKVD. Darüber hinaus thematisiert er die von der Postmoderne empfundene Krise des Erzählens… Auf der Grundlage einer üppigen Intertextualität ist Vzjatie Izmaila ein polyphoner Roman mit einer Vielzahl an Figuren und Themen sowie einer deutlich erkennbaren autobiographischen Linie.“402

Den strukturellen Rahmen in Venushaar bilden Befragungen von „Gesuchstellern“ im Züricher Einwanderungsamt und die Geschichten des Dolmetschers. Daraus ergibt sich eine Art Matroschka Struktur, ein Ineinander einer Vielzahl von fremden Texten unterschiedlichster Art. Im Blickfeld des Autors ist „die Welt als Ganzes. In ihr halten sich Tod und Leben, Gut und

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Larissa Lissjutkina, op. cit., S. 9. Russ. Dialektika Perechodnogo Perioda iz Niotkuda v Nikuda. Die Anfangsbuchstaben ergeben DPP(NN), und Svjaščennaja kniga oborotnja. Karlheinz Kasper: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Russland und seine Schriftsteller zwischen West und Ost. In: Osteuropa 11, 2005, S. 121. Von Pelevin ist 2011 ein Auswahlband mit Texten „zum Wesen der sozialen Prozesse“ (so der Autor) in der postsowjetischen Gesellschaft erschienen: Princ Gosplana. Eksmo, Moskau 2011. Karlheinz Kasper: Das Venushaar. Osteuropa, 5, 2006, S. 125.

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Böse, Glück und Unglück die Balance, hat der Mensch Anspruch darauf, zu lieben und geliebt zu werden,…“ (Kasper) wenn auch die Umstände dies immer wieder behindern. Kasper fasst die Philosophie von Šiškins Roman zusammen: Sein Roman verteidigt das Recht des Individuums auf Leben, Liebe, Glück, Genuss und Schönheit in einer Welt, die von Tod, Krieg, Gewalt, Unrecht, Rache, Vergeltung, Hass und Kälte bedroht ist. Für ihn besitzen das Leben und die Liebe eine unverwüstliche Kraft, die das Venushaar – mit seiner doppelten Konnotation – als ‚Gott des Lebens’ symbolisiert und speist.“403

Die postsowjetische Literatur ist, wie diese Übersicht zeigt, vielfältig. Den Abschluss soll jedoch ein Gedicht des russisch-jüdischen Autors Wenjamin Blaschennych (= Ajzenschtadt, 1921-1999) bilden, der bis zur Perestrojka unter dem Zwang der Zensur nicht veröffentlichen konnte. Erst ab 1983 erschienen Gedichte von ihm in Zeitschriften. In der Sowjetzeit war er als Geschichtslehrer tätig und übte aber auch andere Berufe aus. Als Dichter war er verfemt. Man warf ihm einen Hang zur Mystik und religiösen Thematik vor („zagrobnaja mistika“). Erst 1990 konnte sein erster Gedichtband Gehör des Herzens erscheinen, 1998 kam ein Band Gedichte heraus und 2005 Gedichte Mit eigenen Augen: Gedichte der letzten Jahre. (Moimi očami: Stichi poslednich let). Seine Verse drücken den tiefen Glauben vieler Menschen in Russland aus, die trotz 70 Jahre währender Unterdrückung, Krieg und Tod in den Stalinistischen Lagern ihren Glauben bewahrt haben und uns darauf vertrauen lassen, dass dieses andere Russland sich letztlich durchsetzen wird.404

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Karlheinz Kasper, op. cit., S. 128-143. Die Titelmetapher verweist auf den Krullfarn (Aduantum capillus veneris) und das Schamhaar der Frau. Kasper: „Beide Vorstellungsinhalte verdichten sich im Text zu einer Bilderkette mit leitmotivischer Funktion, bis sich ihr Symbolgehalt sinnstiftend offenbart.“ Ibid., S. 128. Das unbetitelte Gedicht erschien in: Novyj mir 7, 1987, S. 5. Übersetzung von R. N. Weitere Publikationen können über das Internet abgerufen werden. Blažennych korrespondierte mit Pasternak und anderen Autoren der 20er und 30er Jahre, worüber er selbst in dem Dokumentarfilm Blažennyj Venjamin berichtet.

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„Wieviel Jahre zählen wir, Herr? ...alt sind wir geworden im Lauf der Jahrhunderte… Ich erinnere mich, wie ich im Morgengrauen beim Einzug nach Jerusalem Mit einem wandernden Juden sprach. Und dann stellte sich heraus – ich sprach mit Gott selbst. Das ist lange her – ich war damals ein bartloser Jüngling, War ein einfacher Hirte, hütete Schafe auf den Hügeln Und so schön erschien mir das Antlitz Jesu, Dass ich nicht abwenden konnte die entzückten Augen Aber dann erreichte mich aufregende Nachricht, Dass gekreuzigt sei mein Herr, der der Welt nur Gutes gelehrt, Doch auferstanden ist er von den Toten – und wieder sind wir im All beisammen, Die Steine und Pfade und Schafe auf den Hügeln sind noch immer dieselben. Da sind wir nun beide, mein Herr, alt schon geworden, Haben erkannt das Schicksal, waren mehr als einmal im Grab Und müde sitzen wir auf demselben Steine des Hirten, Und wie einst kann ich die entzückten Augen nicht von Dir wenden.“

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Drucknachweise und Quellenangaben I

1 Die russische Literatur von Karamzin bis Puškin. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hg. Klaus von See, Bd. 15: Europäische Romantik II. Hg. Klaus Heitmann. Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Wiesbaden 1981, S. 323-354. Histoire de la littérature russe, 5 Bde. Fayard, Paris 1987-1996 : R. N. : Le Romantisme Russe. In: Le XIXe siècle. L’époque de Pouchkine et de Gogol. 2 Puschkin. Boris Godunow. In : Das russische Drama. Hg. Bodo Zelinsky. Bagel, Düsseldorf 1986, S. 51-68 u. 365-369. 3 Karamsin und Puschkin: Von der „Verzweiflung über etwas“ zur „Verzweiflung über sich selbst.“ In: Verzweiflung als kreative Herausforderung. Hgg. Hermes A. Kick, Günter Dietz. LIT Verlag, Berlin 2008, S. 143-160. (Affekt – Emotion – Ethik. Veröffentlichungen des Instituts für medizinische Ethik, Grundlagen und Methoden der Psychotherapie und Gesundheitskultur Mannheim, Bd. 6).

II 1 Čechov und das Kierkegaard’sche Paradigma. In: Anton P. Čechov – Philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und Werk. Hg. Vladimir B. Kataev, Rolf-Dieter Kluge, Regine Nohejl. Otto Sagner, München 1997. Das Kierkegaardsche Paradigma in der Geschichte der Literatur (Dargestellt am Beispiel der russischen Literatur). In: Razprave II. razreda SAZU XVI, Ljubljana 1997, S. 127-148. (SAZU = Slowenische Akademie der Wissenschaften und Künste). 2 Zur Frage des literarischen Biedermeier in Russland (Die Literatur der Fünfziger Jahre). In: Wiener Slawistischer Almanach Bd. 10, 1982, S. 111- 136 (= Festschrift für Günther Wytrzens zum sechzigsten Geburtstag). 3 Das „Biedermeier“ (Realidealismus) in der russischen Lyrik der Fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts. In: Wiener Slawistischer Almanach Bd. 15, 1985, S. 35–66. 4 Gončarovs Roman Obryv und der russische Roman des Realismus. In: I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. Peter Thiergen. Böhlau, Köln, Wien 1989, S. 85-106.

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III 1 „Avantgarde“ und „Avantgardismus“ in der russischen Literatur. In: Zeitschrift für Slavische Philologie XLV, 1, 1985, S. 130-152. „Avantgarde“ und „Avantgardismus“. Zur Problematik von Epochenschwellen und Epochenstrukturen. In: Europäische Avantgarde. Hgg. Peter V. Zima, Johann Strutz. Peter Lang, Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1987, S. 21-35. 2 Lust am Text. In: Kleine Zeitung, Graz-Klagenfurt, 13. März 1977. 3 Trifonow. Langer Abschied. In: Die russische Novelle. Hg. Bodo Zelinsky. Bagel, Düsseldorf 1982, S. 252-263 u. 328-329. Wertung und Erzählperspektive in der zeitgenössischen sowjetischen Erzählung (bytovaja proza). In: Slavistična Revija XXVII, 3-4, 1979, S. 417429. Anmerkungen zum Verhältnis von Erzählperspektive, Wertung und Erzähltechnik in der zeitgenössischen sowjetrussischen Literatur. In: Wiener Slawistischer Almanach 9, 1982, S. 187-203. 4 Wampilow. „Die Entenjagd“. In: Das russische Drama. Hg. Bodo Zelinsky. Bagel, Düsseldorf 1986, S. 331-343 u. 405-407. IV 1 „Verstand wird Russland nie verstehen“ Was verbirgt sich hinter der mitunter schwer zu begreifenden russischen Mentalität? In: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 10. Jg., April 2009, S. 26-29. (s. auch S. 5 u. 24f.)

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