Das Europa der Literatur: Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815–1945 9783110232073, 9783110232080

Europe? That is an invention of poets, Heinrich Mann said, referring to a relationship which has existed for centuries:

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Das Europa der Literatur: Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815–1945
 9783110232073, 9783110232080

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Wegbereiter: Ernst Robert Curtius
2. Insel: Victor Hugo und Miguel de Unamuno
3. Schiffbruch: José Ortega y Gasset
4. Garten: Eugeni d’Ors und René Schickele
5. Abschied: Heinrich Mann
6. Reise: André Gide und Klaus Mann
Rückblick und Ausblick
Backmatter

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mimesis Romanische Literaturen der Welt Band 50 herausgegeben von Ottmar Ette

Anne Kraume

Das Europa der Literatur Schriftsteller blicken auf den Kontinent (1815–1945)

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung der Kurt-Ringger-Stiftung, Mainz, und der Potsdam Graduate School, Potsdam.

ISBN 978-3-11-023207-3 e-ISBN 978-3-11-023208-0 ISSN 0178-7489 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Wegbereiter: Ernst Robert Curtius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Entwurzelung und Heimatlosigkeit: Das Exil als europäische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kultur und Politik: Der geistige Raum Europa . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Fluchtpunkte: Räumliche Konkretisierungen des geistigen Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Über Europa sprechen: Insel, Garten, Reise . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Insel: Victor Hugo und Miguel de Unamuno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Victor Hugo: Europa als Empire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Offener Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Miguel de Unamuno: Europa als das Andere Spaniens. . . . . . . . . 2.2.1 Europeizar a España . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Españolizar a Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Victor Hugo und Miguel de Unamuno: Europa als Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Victor Hugo: Frankreich als Zentrum der Zivilisation . . . 2.3.2 Miguel de Unamuno: Westliche Zivilisation versus germanische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Victor Hugo: Vereinigte Staaten von Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Guernesey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Miguel de Unamuno: Agonie des Christentums . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Fuerteventura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Paris – Hendaye . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Schiffbruch: José Ortega y Gasset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Von der Insel zum Schiffbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Spanien als Problem und Europa als Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Europa als Problem und die Einheit als Lösung . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Europa: Ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Garten: Eugeni d’Ors und René Schickele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Eugeni d’Ors: Europa als Ordnungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Anarchie und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Ein neues Reich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.2 René Schickele: Europa als Friedensprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Grenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Himmlische Landschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Eugeni d’Ors und René Schickele: Europa im Zweifel. . . . . . . . . 4.3.1 Eugeni d’Ors: Die Wiederkehr des Verdrängten . . . . . . . . 4.3.2 René Schickele: In mehr als einer Weise im Exil . . . . . . .

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5 Abschied: Heinrich Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Abschied vom Garten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Kaiserreich und Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Reich über den Reichen statt Industriefeudalismus . . . . . . . . . . . . 5.4 Verdeutschung Europas oder europäisches commonwealth? . . . . . 5.5 Die Erfahrungen eines abgereisten Europäers . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Reise: André Gide und Klaus Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 André Gide: Europa als Schule des Individualismus. . . . . . . . . . . 6.1.1 Das Ende einer Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Zukunft Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Klaus Mann: Europa als dialektischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Woher wir kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Wohin wir müssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 André Gide und Klaus Mann: Europa zwischen den Fronten. . . . 6.3.1 André Gide: Der Wert der kleinen Zahl . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

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Einleitung

«Européen: celui qui a la nostalgie de l’Europe.» (Milan Kundera: L’art du roman, 1986)

Anfang Juli 2003 veröffentlichte die Monatsschrift Literaturen ein Schwerpunktheft zum Thema Europa, das den Titel Europa. Schöne alte Welt trägt. Vor dem Hintergrund der Diskussionen, die zur selben Zeit um eine europäische Verfassung einerseits und um den Vorstoß von Jürgen Habermas für ein klar umgrenztes ‹Kerneuropa› andererseits geführt wurden,1 befragte die Redaktion eine Reihe von Schriftstellern zu ihrem persönlichen Bild von Europa – unter ihnen Peter Handke, der kurz und bündig schreibt: «Europa? Es war einmal.»2 Dieser Topos ‹Finis Europae› erscheint nun gerade angesichts der Lebendigkeit der parallel geführten Debatten paradox: Ein Kontinent, der zum ersten Mal in seiner Geschichte tatsächlich in vielfacher Weise geeinigt auftritt, ein Kontinent mit einem gemeinsamen Parlament, einer gemeinsamen Exekutive und einem gemeinsamen Gerichtshof, ein Kontinent, der zu allererst wirtschaftlich, aber darüber hinaus auch kulturell harmonisiert ist, und der deshalb solch lebhafte Debatten über seinen Charakter, sein Wesen, seine Grenzen und seine Identität fordert und fördert – ein solcher Kontinent sollte seine besten Zeiten schon hinter sich haben, wie Handkes Diktum das suggeriert? Man könnte jedoch auch anders argumentieren: Was, wenn Peter Handke recht hätte? Was, wenn Europa tatsächlich nur noch eine märchenhafte Erinnerung wäre, auch wenn es institutionell fest verankert und politisch weitgehend stabil ist? Wenn es vielleicht sogar gerade diese vermeintlich positiven europäischen Realitäten wären, die Handke zu seinem resignierten Fazit über den Kontinent veranlasst haben? Wenn selbst die Debatten in den Feuilletons nur zum Schein geführt würden und in Wirklichkeit gar nichts mehr zu verhandeln wäre? Dann spräche Peter Handke womöglich von einem anderen Europa als dem der institutionellen Verankerung und der politischen Stabilität, einem anderen auch als dem der Feuilletondebatten? Aber was für ein Europa könnte das sein? Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Entwürfen zu Europa, die verschiedene europäische Schriftsteller im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte

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Vgl. Jacques Derrida/Jürgen Habermas: Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg – Die Wiedergeburt Europas, in: FAZ, 31. Mai 2003, S. 33. Vgl. zu dieser Debatte um ein Kerneuropa Paul Michael Lützeler: «Seien wir eine Republik. Europas Intellektuelle setzen auf Kern-Europa. Doch was das ist, bleibt vage», in: Die Welt, 4. Juni 2003, S. 27–28. Peter Handke, in: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 7/8 (Juli/August 2003), S. 31.

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des 20. in ihren Werken formuliert haben. Die grundsätzliche Frage, die durch die kurze Auseinandersetzung mit Peter Handkes Urteil über Europa aufgeworfen wurde, steht auch am Anfang dieser Arbeit: Gibt es ein Europa jenseits der rein pragmatisch orientierten Realitäten? Ein Europa der Schriftsteller nämlich, ein Europa, das sich in der Literatur bezeugt – und wenn ja: Wie sieht dieses Europa aus, in welchen Kategorien kann man es beschreiben, welche Beziehung besteht zwischen dem Thema Europa und der Literatur, in der dieses Thema behandelt wird? Warum sollte für europäische Schriftsteller überhaupt Anlass dazu bestehen, sich mit Europa zu beschäftigen, und schließlich nicht zuletzt: In welchem Verhältnis steht dieses angenommene literarische Europa dann zu dem tatsächlich existierenden politisch-institutionellen? Allen diesen miteinander in Verbindung stehenden Fragen liegt eine Annahme zugrunde, die zugleich die Fragestellung selbst und die Vorgehensweise bei ihrer Beantwortung rechtfertigt – die Annahme nämlich, dass die Literatur gerade dank ihrer ästhetischen und nicht unmittelbar zweckorientierten Dimension eine Form des Wissens generieren und vermitteln kann, die auf andere Art und Weise eben nicht zugänglich wäre. Das Literarische, so verstanden, ist also nicht ästhetischer Selbstzweck, sondern ihm kommt das Vermögen zu, normative Formen von Lebenspraxis und Lebensvollzug nicht nur in Szene zu setzen, sondern auch performativ im ernsthaften Spiel zur Disposition zu stellen. Das Literarische enthält stets ein Wissen um die Grenzen der Gültigkeit von Wissensbeständen einer gegebenen Gesellschaft oder Kultur.3

Ottmar Ette möchte Literatur deshalb als «ein sich wandelndes und zugleich interaktives Speichermedium von Lebenswissen» verstanden wissen,4 und diese Funktionsbestimmung ist gerade auch für die hier verhandelte Frage nach der Beziehung zwischen Literatur und Europa relevant: Die Wissensbestände, die in diesem Kontext zur Debatte stehen, betreffen das Wissen der europäischen Kultur von sich selbst, von ihrer Geschichte und ihren Bedingungen.5 Vor diesem Hintergrund kann deshalb die Frage nach den Unterschieden zwischen einem literarischen Europa und demjenigen der politischen Realitäten beantwortet werden, die Peter Handke implizit aufgeworfen hatte: Ein von der Literatur und mit literarischen Mitteln entworfenes Europa muss sich von dem real existierenden insofern unterscheiden, als der Literatur im Sinne Ettes immer die Befähigung zukommt, Fragen zu stellen und Entwürfe zu modellieren, die in der Wirklichkeit noch nicht oder nicht mehr formulierbar sind – oder die es womöglich überhaupt niemals sein können. Der

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Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin: Kadmos 2004, S. 13. Ebd. Vgl. Paul Michael Lützeler: Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller, Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 14. Hier heißt es in Übereinstimmung mit Ettes These von der Literatur als Speichermedium von Lebenswissen: «Literatur […] ist auf eine denkbar umfassende Weise das Gedächtnis der lokalen, regionalen, nationalen oder kontinentalen Kultur, in der sie entsteht.»

Mehrwert der Literatur im Vergleich zu anderen Diskursformationen, den diese Vorstellung impliziert, liegt eben darin begründet, dass die Literatur (kulturelle ebenso wie politische und geographische) Grenzen nicht nur ausloten, sondern sie tatsächlich auch in Frage und zur Disposition stellen kann. Ein so verstandenes literarisches Europa der Denkmöglichkeiten wäre damit immer auch Utopie – es könnte aber zugleich auch ein Modell darstellen, durch das das real existierende Europa in unterschiedlicher Weise beeinflusst und geprägt würde. Gefragt wird also nach dem spezifischen Wissen der europäischen Literatur über Europa.6 Diese Frage ist dabei eher in einem philologischen als in einem kulturwissenschaftlichen Sinne zu verstehen, und an dieser philologischen Zielsetzung orientiert sich auch die Vorgehensweise dieser Arbeit: Wenn im Folgenden verschiedene literarische Konzeptualisierungen von Europa untersucht und miteinander in Beziehung gesetzt werden, dann soll dabei nicht so sehr eine methodische Auseinandersetzung mit diesen Konzeptualisierungen geleistet, als die besondere literarische Relevanz des Themas Europa diskutiert werden. Eine solche Relevanz nämlich scheint ganz offensichtlich gegeben – anders ließe sich die kaum zu überblickende Zahl von literarischen Texten über Europa nicht erklären, die besonders in den letzten beiden Jahrhunderten veröffentlicht wurde. Das Thema Europa und das Medium Literatur stehen in einem engen Austauschverhältnis: Immer wieder ist von der Literatur im Laufe der Geschichte des Kontinents die Frage nach dessen Identität, Geschichte und Grenzen aufgeworfen und verhandelt worden,7 und immer wieder hat sich deshalb vor allem in jüngerer Zeit auch die Literaturwissenschaft mit diesen literarischen Fragen nach Europa beschäftigt.

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Vgl. zu der Frage nach der Verortbarkeit von Wissensbeständen Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München: Sequenzia 2002, besonders S. 14. Vogl geht davon aus, dass die «Gegenstände des Wissens nicht in den Referenten der Aussagen, sondern in den [sie ermöglichenden] Aussageweisen zu lokalisieren» seien und schließt daraus, Literatur sei eben nicht nur «Gegenstand des Wissens» und «Funktionselement des Wissens», sondern sei auch selbst «eine spezifische Wissensform» (S. 15). Vgl. auch Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur, München: Fink 2007. Hörisch postuliert hier «ein Alternativ-Wissen» der Literatur, das es «wert ist, sachlich ernst genommen zu werden», und erklärt diese These damit, dass «der eigentümliche Leitcode der Literatur es ermöglicht, unwahrscheinliche Wirklichkeitsversionen mit einer gewissen und reizvollen Plausibilität zu versehen» (S. 10). Als prominente Beispiele aus den letzten 200 Jahren wären hier allein aus dem deutschsprachigen Raum (und stellvertretend für viele andere) etwa Novalis und seine Schrift Die Christenheit oder Europa; Friedrich Schlegel und seine Reise nach Frankreich; Ernst Moritz Arndts Germanien und Europa; Heinrich Heines Reisebilder; Ludwig Börnes Briefe aus Paris; Ernst von Wildenbruchs Deutschland und Frankreich; Annette Kolbs Briefe einer Deutsch-Französin; Robert Musils Europäertum, Krieg, Deutschtum; Hugo von Hofmannsthals Blick auf den geistigen Zustand Europas; Stefan Zweigs Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung; Hermann Graf Keyserlings Das Spektrum Europa; Thomas Manns Achtung, Europa!; Reinhold Schneiders Europa als Lebensform; Hans Magnus Enzensbergers Ach, Europa! und Peter Sloterdijks Falls Europa erwacht zu nennen.

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Besonders für den deutschsprachigen Raum sind hier die Arbeiten von Paul Michael Lützeler maßgeblich: Zum einen hat Lützeler die wesentlichen literarischen Texte zu Europa aus den letzten 200 Jahren in Anthologien zusammengestellt und kommentiert, zum anderen hat er die betreffenden Texte aber auch in zahlreichen Einzelstudien umfassend analysiert.8 Seine Studien sind vor allem insofern relevant, als er innerhalb des literarischen Diskurses über Europa Verbindungen auch über (teilweise räumliche, häufiger aber zeitliche) Grenzen hinweg nachweist und damit wichtige Traditionslinien aufzeigt, die diesen Diskurs überhaupt erst als solchen erkennbar werden lassen. So weist er etwa in seiner Studie Die Schriftsteller und Europa nach, wie Europa über die Jahrhunderte hinweg «sowohl als Kulturbegriff wie auch als politische Utopie» als ein alternatives Modell für die Zukunft funktionalisiert wurde, und das gerade auch an jenen Stellen, an denen in vermeintlich paradoxer Weise auf die Vergangenheit rekurriert wird.9 Bereits vor Lützeler hat Georges Bonneville in einem wesentlich kleineren Rahmen Ähnliches für den Bereich der französischen Literatur geleistet – seine Arbeit über die Prophètes et témoins de l’Europe datiert von 1961 und analysiert die literarischen Stimmen zu Europa aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.10 An diese Vorarbeiten knüpft in den letzten Jahren vor allem Pascal Dethurens mit umfangreichen und teilweise komparatistisch ausgerichteten Studien an. Wie Bonneville beschränkt er sich dabei aber auf die Zeit nach 1918, weil er davon ausgeht, dass die literarische Beschäftigung mit Europa im 20. Jahrhundert eine neue Ära der europäischen Literatur insgesamt eingeläutet habe, die sich von derjenigen vor 1914 wesentlich unterscheide.11 Dieser Bruch des Ersten Weltkriegs,

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Vgl. Paul Michael Lützeler: Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt am Main: Insel 1982; Heinrich Manns Europa-Ideen im Exil, in: Heinrich-MannJahrbuch 3 (1985), S. 79–92; Plädoyers für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915–1949, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1987; Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München: Piper 1992; Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt am Main: Fischer 1994; Europäische Identität und Multikultur. Fallstudien zur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik, Tübingen: Stauffenburg 1997; Der Schriftsteller als Politiker: Zur Europa-Essayistik in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart: Steiner 1997; Europaideen um 1900. Zu Romain Rollands ‹Jean-Christophe›, in: Karl Acham/Katharina Scherke (Hg.): Kontinuitäten und Brüche in der Mitte Europas. Lebenslagen und Situationsdeutungen um 1900 und um 2000, Wien: Passagen Verlag 2003, S. 357–382; Paris und Wien oder der kontinentale Grundkonflikt. Zur Konstruktion einer multikulturellen Identität in Europa, in: Monika Mokre/Gilbert Weiss/Rainer Bauböck (Hg.): Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2003, S. 36–54; Kontinentalisierung: Das Europa der Schriftsteller, Bielefeld: Aisthesis 2007. Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München: Piper 1992, S. 29. Vgl. Georges Bonneville: Prophètes et témoins de l’Europe. Essai sur l’idée d’Europe dans la littérature Française de 1914 à nos jours, Leyde: Sythoff 1961. Vgl. Pascal Dethurens: Gide et la question européenne, in: Bulletin des amis d’André Gide 85 (janvier 1990), S. 109–126; Ecriture et culture. Ecrivains et philosophes face à l’Europe 1918–1950, Paris: Champion 1997; Les frères Mann: une métaphysique de

den Dethurens so als Achse für seine Untersuchungen ansetzt, steht ausdrücklich auch im Zentrum eines Aufsatzes von Philippe Chardin, in dem dieser schon zu Anfang der neunziger Jahre die rückwärtsgerichteten Utopien aus der Literatur der Nachkriegszeit untersucht hat: Die Zeit vor 1914 wird laut Chardin nach dem Weltkrieg zu einer Art ‹paradiesischem Zeitalter› Europas stilisiert und der Weltkrieg entsprechend als Sündenfall interpretiert.12 Die Untersuchungen zu Europa in der spanischen Literatur zeichnen sich im Vergleich zu diesen französischen Arbeiten alle dadurch aus, dass sie sehr explizit von einem spanischen Standpunkt aus argumentieren, und deshalb vor allem die Frage nach dem besonderen Verhältnis zwischen Spanien und Europa thematisieren.13 Diese spezifisch spanische (und eben nicht komparatistische) Perspektive nehmen dabei auch diejenigen Arbeiten ein, die außerhalb Spaniens entstanden und erschienen sind.14 Im Gegensatz dazu schreibt sich eine Reihe von jüngeren Sammelbänden zu Europa in den europäischen Literaturen gerade wieder den vergleichenden Blick auf die Fahnen – Europa, als Einheit in der Vielfalt verstanden, müsse auch mittels entsprechend vielfältiger Zugänge erschlossen werden. Dieser Anspruch wird immerhin zumeist dadurch eingelöst, dass sich in der Zusammenschau aller Beiträge zu dem jeweils in Frage stehenden Sammelband tatsächlich im besten Falle eine Art komparatistische Synthese ergibt auch dort, wo dies dann nicht mehr ausdrücklich thematisiert wird.15 Die wichtigste Monographie der letzten Jahre zum Thema ‹Europa in der europäischen Literatur› hat Claude D. Conter vorgelegt; er untersucht in seiner Bamberger Dissertation aus dem Jahr 2004 die Geschichte der «Inszenierungen»

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l’Europe, in: Revue de littérature comparée 288 (octobre-décembre 1998), S. 555–566; De l’Europe en littérature: création littéraire et culture européenne au temps de la crise de l’esprit (1918 –1939), Genève: Droz 2002. Vgl. Philippe Chardin: Sentiment européen et nostalgie de l’Europe d’avant 1914, in: Colette Astier/Claude de Grève (Hg.): L’Europe. Reflets littéraires, Paris: Klinksieck 1993, S.135–141. Vgl. Jesús Torrecilla: El tiempo y los márgenes. Europa como utopía y amenaza en la literatura española, Chapel Hill: U.N.C. Department of Romance Languages 1996; und José María Beneyto: Tragedia y razón. Europa en el pensamiento español del siglo XX, Madrid: Taurus 1999. Vgl. Hans Hinterhäuser (Hg.): Spanien und Europa. Stimmen zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1979; Martin Franzbach: Die Hinwendung Spaniens zu Europa. Die generación del 98, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988; und Paul Aubert: Les Espagnols et l’Europe (1890–1939), Toulouse: Presses universitaires du Mirail 1992. Vgl. Peter Delvaux/Jan Papiór (Hg.): Eurovisionen. Vorstellungen von Europa in Literatur und Philosophie, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1996; Susanne Fendler/Ruth Wittlinger (Hg.): The Idea of Europe in Literature, Basingstoke: Macmillan 1999; Wulf Segebrecht (Hg.): Europavisionen im 19. Jahrhundert. Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte und Philosophie, Würzburg: Ergon 1999; Wulf Segebrecht/Claude D. Conter/Oliver Jahraus/Ulrich Simon (Hg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart, Frankfurt am Main: Lang 2003; und Silvio Vietta/Dirk Kemper/Eugenio Spedicato (Hg.): Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne, Tübingen: Niemeyer 2005.

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Europas und will diesen Begriff mit Blick auf eine bestimmte Rhetorik verstanden wissen, mittels derer innerhalb des literarischen Diskurses Vorstellungen von Europa entworfen und beschrieben würden. Dennoch beschränkt sich Conter nicht auf die Analyse dieser literarischen Inszenierungen selbst, sondern bezieht auch die jeweiligen Diskurse aus Geschichte und Politik mit ein, die nötig sind, um seine Befunde zu kontextualisieren.16 Das führt allerdings dazu, dass auch seine Untersuchung sich letztlich auf die bloße Feststellung des «Inszenierungscharakters von Literatur» beschränkt,17 und nicht weiter auf die Frage eingeht, ob eine genuine Beziehung zwischen der Literatur als Medium auf der einen und Europa als Thema auf der anderen Seite auszumachen sein könnte – ob also die in Frage stehenden literarischen Inszenierungen womöglich einen Hinweis auf eine spezifisch literarische Identität des Kontinents zu geben vermögen. Einen solchen umfassenderen Ansatz mit Blick auf die literarische Identität Europas verfolgt zum einen ein Sammelband aus dem Collège de France aus dem Jahr 2000, der sich dem Problem einer Festschreibung der beiden von dem Herausgeber Marc Fumaroli ausdrücklich als diffus gekennzeichneten Konzepte Literatur und Identität und damit einer Charakterisierung Europas aus seiner Literatur heraus stellen möchte.18 Von einem ähnlichen Ausgangspunkt geht Alain-Michel Boyer in einem Aufsatz von 1997 aus, in dem er die Frage nach den literarischen Grenzen Europas und der Möglichkeit einer literarischen Legitimation des Kontinents aufwirft.19 Weder dem breit angelegten Sammelband noch dem kurzen Aufsatz gelingt es allerdings, tatsächlich eine besondere Beziehung zwischen Literatur und Europa festzustellen und zu formulieren. So ist letztlich allen hier exemplarisch aufgeführten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu dem großen Themenkomplex ‹Europa in der Literatur› gemeinsam, dass sie diejenige Frage nicht beantworten und meistens nicht einmal stellen, die den Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit darstellt: Warum beschäftigt sich die europäische Literatur überhaupt mit Europa, in welchem Verhältnis stehen Thema und Medium, und was zeichnet gerade die literarischen Annäherungen an Europa vor allen anderen (etwa den historischen, soziologischen, politischen) aus? Diese Arbeit möchte sich von all denjenigen absetzen, die bisher angeführt worden sind, indem sie diese Frage zentral stellt. In ihrer Beantwortung soll nicht zuletzt das spezifisch literaturwissenschaftliche Interesse einer Auseinandersetzung mit Europa in der Literatur aufgewiesen werden.

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Vgl. Claude D. Conter: Jenseits der Nation – Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierugen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik, Bielefeld: Aisthesis 2004. Ebd., S. 21–22. Vgl. Marc Fumaroli/Yves Bonnefoy/Harald Weinrich/Michel Zink (Hg.): Identité littéraire de l’Europe, Paris: Presses universitaires de France 2000. Vgl. Alain-Michel Boyer: Y a-t-il une image littéraire de l’Europe?, in: Uwe Baumann/ Reinhard Klesczewski (Hg.): Penser l’Europe – Europa denken, Tübingen/Basel: Francke 1997, S. 153–166.

Um das zu leisten, wählt die Untersuchung eine Vorgehensweise jenseits von jener bloßen Reproduktion von Diskursen, auf die sich die Sekundärliteratur zu ‹Europa in der Literatur› häufig beschränkt: Auch wenn Karl Schlögel im Sinne des von ihm propagierten spatial turn in den Kulturwissenschaften ausdrücklich auf die räumliche Dimension des Kontinents hinweist und konstatiert, dieser sei eben «nicht nur eine Idee, eine Ansammlung von Werten, sondern ein Ort»,20 so ist doch festzuhalten, dass die Grenzen dieses Ortes seit jeher denkbar schlecht umrissen und definiert gewesen sind. Wo fängt Europa an und wo hört es auf – das sind Fragen, die sich eben nicht einfach mit Verweis auf die Geographie beantworten lassen.21 Die europäischen Schriftsteller, um deren Werke es in der Folge gehen wird, beschränken sich deshalb bei ihren Versuchen, eine Antwort auf diese Frage nach den Grenzen Europas zu finden, niemals nur auf eine einzelne Dimension der europäischen Wirklichkeit: Europa ist in der europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zwar tatsächlich ein Ort, aber es ist auch eine Idee und eine Ansammlung von Werten, und es ist darüber hinaus eine geistige Tradition und eine politische Vision, ein sozialer Raum und eine kulturelle Identität, eine Nostalgie und eine Utopie. Die Literatur ist der Raum, innerhalb dessen im Zusammenspiel all dieser Dimensionen tatsächlich ein Wissen über Europa ausgehandelt wird, wie es mit anderen als literarischen Mitteln nicht zu erlangen wäre. Ausgehend von der nur scheinbar banalen Feststellung, dass sich das Wissen der Literatur über Europa immer auch in bestimmten literarischen und insbesondere rhetorischen Mustern manifestiert, bedient sich die vorliegende Arbeit bei ihrer Analyse der Konstruktionsprinzipien eines literarischen Europas einer Vorgehensweise, die explizit auf diese rhetorischen Muster Bezug nimmt. In einem ersten wegweisenden Kapitel werden so die Ideen des Literaturwissenschaftlers Ernst Robert Curtius zu Europa vorgestellt. Für Curtius, der in seinem Hauptwerk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) die rhetorische Tradition des Kontinents und vor diesem Hintergrund vor allem seine geistesgeschichtliche Kontinuität analysiert, ist Europa selbst ein im weitesten Sinne rhetorisches Konstrukt. Aus diesem Grund skizziert er in seinem literaturwissenschaftlichen Werk immer wieder bestimmte Metaphern (die Insel, den Garten, die Reise), um mit ihrer Hilfe den Kontinent mit den unscharfen Grenzen schließlich doch diskursiv fassen zu können.

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Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Hanser 2003, S. 14. Werner Köster beschreibt diese «neuerliche[…] Konjunktur» der Rede vom Raum als ein «Projekt[…] der Resubstantialisierung», das sich gegen Theorieformen wie Medien- und Systemtheorie richte, «die soziale Realität vollständig in kommunikative Akte bzw. multimediale Textualität auflösen» (Werner Köster: Raum, in: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 274–292, hier S. 287). «Europa besitzt als Raum nicht die territoriale Griffigkeit und relative Abgeschlossenheit Amerikas, Afrikas oder Australiens.» (Ottmar Ette: Europa als Bewegung. Zur literarischen Konstruktion eines Faszinosum, in: Dieter Holtmann/Peter Riehmer (Hg.): Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, Münster/Hamburg u. a.: LIT 2001, S. 15–44, hier S. 31).

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Die vorliegende Arbeit entlehnt nun diese Metaphern von Curtius, um ihrerseits die literarischen Annäherungen von acht europäischen Schriftstellern an Europa zu analysieren. Das einleitende Kapitel zu Ernst Robert Curtius ist damit auf einer anderen Ebene zu verorten als die folgenden: Curtius dient mit seiner literaturwissenschaftlichen Reflexion über Europa und über die Literatur als ein Wegbereiter für die literarischen Reflexionen, die in der Folge verhandelt werden.22 Darüber hinaus fungiert er auch als Bindeglied zwischen den verschiedenen Autoren, um die es in der Arbeit gehen wird: Curtius hat einige von ihnen persönlich gekannt, mit anderen hat er sich in seinem wissenschaftlichen Werk auseinandergesetzt. Die von ihm übernommenen Metaphern haben deshalb für die Arbeit sowohl inhaltliche als auch strukturierende Funktion. Zum einen dienen sie auf der inhaltlichen Ebene dazu, die These von der rhetorischen Verfasstheit Europas plausibel zu machen, zum anderen organisieren sie aber auf einer strukturellen Ebene den Aufbau der ganzen Arbeit, indem sie die einzelnen Autoren miteinander in Beziehung setzen. Denn jedes der drei großen Kapitel dieser Arbeit beschäftigt sich mit einer der Curtiusschen Metaphern und mit ihren Repräsentationen im Werk von jeweils zwei europäischen Autoren. Dabei wird der Stellenwert herausgearbeitet, der der betreffenden Metapher bei den beiden Autoren zukommt, um vor diesem Hintergrund insbesondere ihre Bedeutung für deren Auseinandersetzung mit der Frage nach Europa klären zu können. So werden unter der Metapher von der Insel die Europaideen von Victor Hugo und Miguel de Unamuno untersucht: Beide Schriftsteller sind eine Zeit lang auf einer Insel im Exil gewesen, für beider Konzeptionen von Europa ist das Modell der Insel deshalb in unterschiedlicher Weise prägend gewesen. Der Garten ist das verbindende Moment zwischen dem Katalanen Eugeni d’Ors und dem Elsässer René Schickele – die Herkunft aus einer eng umgrenzten Region zwischen zwei großen Nationalstaaten, die man deshalb als einen europäischen Garten im übertragenen Sinne beschreiben könnte, prägt ihren Blick auf Europa selbst ganz wesentlich. Die Metapher von der Reise schließlich bezieht die Konzeptionen von André Gide und Klaus Mann aufeinander: Das Werk beider Autoren ist von ihrer entschiedenen Wurzellosigkeit und ihren daraus resultierenden ausführlichen Reisen innerhalb und außerhalb des europäischen Raumes gekennzeichnet, und ihre Wahrnehmung des Kontinents fußt in entscheidendem Maße auf diesem ständigem In-Bewegung-Sein. Verbunden werden diese drei großen Kapitel durch zwei weitere, kleinere Brückenkapitel, in denen jeweils ein einzelner Autor zentral steht und deren ebenfalls metaphorische Überschriften die drei räumlichen Metaphern von der Insel, dem

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Das kann er allerdings nur deshalb, weil sein Werk mit seiner literaturwissenschaftlichen Ausrichtung dieselben Fragen aufwirft wie die literarischen Werke der anderen Autoren – die Trennung zwischen Literatur und Literaturwissenschaft ist also hier nicht als eine absolute zu verstehen: «Im Zeichen der Moderne teilen Schriftsteller und Philologe die gleichen historischen, kulturellen, politischen und sozialen Bedingungen ihres Lebens und damit ihres Schreibens, sie partizipieren an denselben Grundproblemen, die weit mehr sind als reine Form- oder Darstellungsprobleme.» (Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, S. 65–66).

Garten und der Reise gewissermaßen in Bewegung versetzen: Im Werk von José Ortega y Gasset ist die Metapher vom Schiffbruch omnipräsent; diese Idee des Schiffbruchs verbindet das Inselkapitel (und insbesondere Miguel de Unamuno) mit demjenigen vom Garten (und Eugeni d’Ors). Heinrich Mann dagegen nimmt Abschied von dem Garten, den René Schickele gepflegt hatte und leitet so die Reise ein, auf die sich sein Neffe Klaus Mann begeben wird – das Motto vom Abschied ist es deshalb, das das entsprechende Kapitel über seine Europavorstellungen strukturiert. Auf diese Weise schaffen die beiden Brückenkapitel zusätzliche Verbindungen zwischen den einzelnen Autoren und den in den drei großen Kapiteln verhandelten Themen – und sie betonen außerdem die komparatistische Ausrichtung der Untersuchung. Denn dadurch, dass die Auseinandersetzungen der acht Autoren mit Europa hier unmittelbar miteinander in Verbindung gesetzt werden, kann nicht zuletzt der durch das Thema Europa implizit vorgegebenen Forderung nach einem vergleichenden Blick Rechnung getragen werden: Nicht zufällig beschreibt Hugo Dyserinck die Komparatistik schließlich als eine «an literarischem Material arbeitende Wissenschaft von Europas Multinationalität.»23 Diese Vergleiche zwischen den Überlegungen der einzelnen Autoren zu Europa erheben dennoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit: Weder können hier literarische Werke aus allen Ländern Europas berücksichtigt werden, noch kann der Untersuchungszeitraum von Anfang des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts umfassend im Sinne einer fortlaufenden Entwicklung dargestellt werden. Stattdessen werden bewusst einzelne Vertreter des literarischen Diskurses über Europa in ihrer Repräsentativität, aber eben auch in ihren jeweiligen Besonderheiten herausgegriffen, um auf diese Weise exemplarisch verschiedene Aspekte des literarischen Sprechens über Europa analysieren zu können. Die Einschränkung des Untersuchungsraums auf Deutschland, Frankreich und Spanien lässt sich damit begründen, dass der (immer auch konventionelle) Blick aus dem europäischen Zentrum rund um den Rhein durch den gegenläufigen (und oft subversiveren) Blick von der Peripherie jenseits der Pyrenäen her ergänzt werden sollte. Die zeitliche Eingrenzung auf das vermeintliche Zeitalter der Nationalstaaten dagegen erklärt sich aus dem Wunsch, einen diesem Denken in nationalstaatlichen Kategorien gerade entgegengesetzten, aber eben zeitgleich und parallel verlaufenden Diskurs ausfindig zu machen und zu untersuchen. Der leitende Gedanke ist hier einmal mehr, das Wissen der Literatur über Europa als eines kenntlich zu machen, das nicht demjenigen der Realpolitik entspricht und das nach anderen Maßgaben funktioniert als diese. Aus diesem Grund endet der Untersuchungszeitraum Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts genau zu dem Zeitpunkt, zu dem eine solche Realpolitik in europäischem Rahmen nicht nur theoretisch denkbar, sondern zum ersten Mal auch praktisch verankert wurde.

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Hugo Dyserinck: Komparatistik als Europaforschung, in: Ders./Karl Ulrich Syndram (Hg.): Komparatistik und Europaforschung. Perspektiven vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaft, Bonn/Berlin: Bouvier 1992, S. 31–62, hier S. 31.

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In seinem Aufsatz Europa als Bewegung entwickelt Ottmar Ette ein Bild des Kontinents, das dessen Besonderheit vor allem mit seiner «spezifischen Räumlichkeit und Dynamik» erklärt; diese wiederum gründe sich auf «die immer wieder von neuem unternommene Suche nach einer Faszination, in deren Spiegelungen vor allem das Bild des Betrachters erscheint.»24 Dabei ist es insbesondere das Bewusstsein für die Differenzen innerhalb des Kontinents und auch für diejenigen zwischen Europa und Außereuropa, das den Betrachter ebenso wie das von ihm Betrachtete in eine solch anhaltende Bewegung versetzt. Die Schriftsteller, deren Visionen zu Europa im Folgenden analysiert werden sollen, zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens im Exil gewesen sind. Das ‹Exil› ist hier in seinem weitesten Sinne als eine durch bestimmte biographische, politische oder auch kulturelle Umstände erzwungene Bewegung innerhalb zunächst des europäischen, später dann auch außereuropäischen Raumes zu verstehen. Diese Erfahrung des Exils kann vor dem Hintergrund der von Ottmar Ette konstatierten Dynamik des Kontinents nun als eine spezifisch europäische beschrieben werden: Ette liest den antiken Mythos von der schönen Europa, die von Zeus entführt und in den Raum verschleppt wird, der heute ihren Namen trägt, als die Geschichte einer erzwungenen und insofern exilähnlichen Bewegung in einem Raum, der tatsächlich erst durch diese Bewegung seine kulturellen Markierungen erhält.25 Das Exil der europäischen Schriftsteller ist so repräsentativ für den Kontinent selbst. Wenn sie sich in ihren diskursiven Annäherungen an diesen Kontinent immer auch ausdrücklich auf ihr Exil beziehen (und wenn das Exil diese Annäherungen in entscheidendem Maße prägt), dann handelt es sich dabei einmal mehr um eine jener Spiegelungen des Betrachters im Betrachteten, die Ette im Zusammenhang mit der Frage nach der Faszinationskraft Europas ausgemacht hatte. Die Feststellung der Dynamik Europas betrifft aber nicht allein seine räumliche Dimension. Diese Dynamik zeigt sich vielmehr auch in dem Umstand, dass das Europa der europäischen Schriftsteller stets auch als eine bewegliche Chiffre fungiert, deren Verwendung es erlaubt, die unterschiedlichsten Fragen, Themen und Probleme aufzuwerfen und zu verhandeln. Europa in der Literatur ist so immer mehr als ein bloßer Begriff.26 Hier soll es deshalb im Sinne von Ottmar Ette als eine Bewegung im räumlichen ebenso wie im kulturellen Sinne verstanden werden – und dieses Verständnis begründet nicht zuletzt die Vorgehensweise und die Struktur der vorliegenden Arbeit: Die folgenden Überlegungen wollen die Vorgaben von Ernst Robert Curtius auf der einen und Ottmar Ette auf der anderen Seite insofern fruchtbar miteinander in Verbindung setzen, als sie Europa jenseits eines rein begrifflichen (und damit notwendig statischen) Verständnisses in einem metaphorischen (und insofern essentiell beweglichen) Sinne lesen.27 Mit Verweis

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Ottmar Ette: Europa als Bewegung. Zur literarischen Konstruktion eines Faszinosum, S. 28–29. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. zu dieser Frage von ‹Europa als Begriff› ebd., S. 44. Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen rhetorischer Figur und Begriff gerade in Bezug auf Europa (und damit implizit auch zum Mehrwert einer literarischen Annäherung an

auf die grundsätzliche Dynamik, die jeder metaphorischen Rede eigen ist, lässt sich auch in den Metaphern von der Insel, dem Garten und der Reise, so wie sie die hier untersuchten Autoren im Zusammenhang mit ihrer Frage nach Europa ausbuchstabieren, die Hypothese von Europa als einer unabschließbaren Bewegung begründen. Die Literatur zeichnet sich vor allen anderen Wissensformationen nicht nur dadurch aus, dass sie die unterschiedlichsten Logiken zusammenzudenken und zu verdichten vermag, sondern darüber hinaus auch dadurch, dass sie währenddessen immer ihre eigenen diskursiven und formallogischen Bedingungen mitzureflektieren imstande ist. Auch die literarischen Wege nach Europa, die in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden, gehorchen nicht einer absoluten und ausschließenden, sondern vielmehr einer relationalen und integrierenden Logik: Am Ende soll deshalb nicht die Frage beantwortet sein, was Europa wirklich ist – wohl aber diejenige, was es unter bestimmten Bedingungen hätte sein können oder hätte werden mögen. Und damit schließlich nicht zuletzt auch die Frage, was Europa im Sinne Peter Handkes einmal gewesen ist.

Europa) auch Daniel Weidner: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München: Fink 2006, S. 7–19. Hier heißt es: «[Rhetorische] Figuren haben keine festen Verbindungen wie Begriffe, Konzepte oder Ideen, sie haben etwas Vorläufiges – Vorsichtiges –, aber gerade darin ist es ihnen auch möglich, Grenzen zu überschreiten und in dieser Überschreitung auch aufzuzeigen. Sie können neue Anschlüsse produzieren, verbinden Sichtbares mit Sinn und geben den Dingen einen Ort, sie übersetzen aber auch Phänomene in andere Register und sorgen dort für Prägnanz, wo diese nur durch Konzepte und durch Techniken nicht hergestellt werden können [sic].» (S. 8).

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Wegbereiter: Ernst Robert Curtius

Das bekannteste Buch des Literaturwissenschaftlers Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), verweist schon in seinem Titel implizit auf die Leitfrage, die sowohl für dieses Buch als auch für die vorliegende Arbeit maßgeblich ist: Curtius verbindet in diesem Titel nämlich das, was er die «historischen Complexe» Europa einerseits und Literatur andererseits nennt,1 mit einem sich auf das lateinische Mittelalter berufenden Verständnis von der Tradition dieser europäischen Literatur. Diesem Zusammenhang zwischen dem Raum Europa, seiner Literatur und deren Tradition liegt in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter eine explizit formulierte Absichtserklärung zugrunde: «Das vorliegende Buch ist dem Wunsch entsprossen, dem Verständnis der abendländischen Tradition zu dienen, soweit sie sich in der Literatur bezeugt»,2 schreibt Curtius im Vorwort zur ersten Auflage seines Buches. Im folgenden Kapitel soll sein Werk deshalb mit Blick auf die Frage gelesen werden, welche Weichen sich ausgehend von dieser literaturwissenschaftlichen Annäherung an die Frage nach der Beziehung zwischen der Literatur und Europa für die Untersuchung der literarischen Entwürfe von Europa im weiteren Verlauf dieser Arbeit stellen lassen. Auch wenn Curtius selbst den Unterschied zwischen Literatur und Literaturwissenschaft weniger absolut setzt,3 ist dieses Kapitel im Kontext der vorliegenden Arbeit auf einer anderen Ebene angesiedelt als die folgenden: Curtius’ Funktion ist diejenige eines ‹Ideengebers› oder, um es mit einer seiner eigenen Metaphern zu sagen, diejenige eines ‹Wegbereiters› in Bezug auf die anderen Schriftsteller. Deshalb gliedert sich das Kapitel in vier große Abschnitte: Die ersten drei beschäftigen sich jeweils mit einem wesentlichen Aspekt von Curtius’ Fragen nach Europa. Dabei handelt es sich zum einen um das Exil als zentrale europäische Erfahrung, zum zweiten um die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Politik in einem als geistiger Raum verstandenen Europa und schließlich

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Ernst Robert Curtius an Jean de Menasce, 22.12.1945, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I. Ernst Robert Curtius: Vorwort zur ersten Auflage (Dezember 1947), in: Ders.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel: Francke 111993, S. 10. So nennt er seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten beispielsweise ausdrücklich auch seine «literarische Produktion» (Ernst Robert Curtius an José Ortega y Gasset, 24.03.1925, in: K. A. Horst (Hg.): Ernst Robert Curtius – José Ortega y Gasset: Ein Briefwechsel, in: Merkur 200 (1964), S. 903–914, hier S. 908). Auch Frank Rutger Hausmann spricht mit Bezug auf Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter davon, das Buch sei eine «Versöhnung von Philologie und Belletristik» (Frank Rutger Hausmann: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Sechzig Jahre danach, in: Klaus Garber (Hg.): Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit, München: Fink 2002, S. 77–88, hier S. 77).

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zum dritten um diejenige nach den räumlichen Konkretisierungen dieses geistigen Europas – alle diese drei Punkte sind auch für die Analyse der literarischen Werke im Folgenden von grundlegender Bedeutung. In einem vierten Unterkapitel werden schließlich mit der Insel, dem Garten und der Reise drei Metaphern untersucht, die bei Ernst Robert Curtius stets in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Europa gedacht werden. Weil sich auch dieser Zusammenhang ebenfalls in den literarischen Werken aufweisen lässt, um die es in der Folge gehen wird, wird am Ende des Kapitels ausgehend von diesen Metaphern die Struktur dieser Arbeit entwickelt und erläutert.

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Entwurzelung und Heimatlosigkeit: Das Exil als europäische Erfahrung

Die Tatsache, dass sich der Romanist Ernst Robert Curtius zeit seines Lebens mit Europa beschäftigt hat, lässt sich nicht zuletzt mit seiner Herkunft aus dem deutschen Elsass aus der Zeit zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg erklären: Hier im Elsass, im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Frankreich, wird Curtius schon früh bewusst, wie sehr die beiden Länder und ihre Kulturen auf einander angewiesen und bezogen sind – und dieses deutschfranzösische Bewusstsein ist für ihn ausdrücklich zugleich ein Bewusstsein für Europa und die europäischen Realitäten: Für einen Deutschen, zumal für einen im Elsaß geborenen und aufgewachsenen wie mich, war Frankreich die notwendige Ergänzung. Es war zugleich eine Spannung, die man nirgends stärker fühlte als im Elsaß. […] In dieser Spannung erfuhr man zugleich Europa.4

In der Tatsache, dass Europa hier ausdrücklich aus dem Erlebnis einer Spannung heraus entworfen wird, deutet sich bereits ein wesentliches Merkmal von Curtius’ Beschäftigung mit diesem Thema an: Sein Bild von Europa ist niemals statisch, sondern es muss immer wieder neu verhandelt und neu umrissen werden. Dadurch sind die europäischen Grenzen ebenso wenig in einem geopolitischen wie in einem kulturellen Sinne endgültig definierbar, vielmehr entwickeln sie sich aus der Spannung und der Dynamik heraus immer wieder aufs Neue. Curtius’

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Ernst Robert Curtius: Vorwort zur ersten Auflage (Ostern 1950), in: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern: Francke 21954, S. 7–10, hier S. 7. Im Zusammenhang mit Curtius’ Beziehung zum Elsass spricht Christoph Dröge von einem «enracinement régional en Alsace»; Harald Weinrich von der «empreinte natale que Curtius a reçue de l’Alsace» (vgl. Christoph Dröge: L’image de l’Allemagne chez Curtius et Gide, in: Jeanne Bem/André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, Paris: Champion 1995, S. 199–215, hier S. 202; Harald Weinrich: La boussole européenne de Curtius, ebd., S. 307–317, hier S. 313). Vgl. allgemein zu Curtius’ Bezug zum Elsass auch Robert Picht: Historische Erfahrung und humanistische Utopie. E. R. Curtius und die deutsch-französischen Beziehungen, in: Walter Berschin/Arnold Rothe (Hg.): Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, Heidelberg: Winter 1989, S. 153–165, hier vor allem S. 154–155.

Fragen nach Europa, die im Grenzland zwischen Deutschland und Frankreich ihren Ausgangspunkt haben und die dieses Europa von Anfang an als eine Spannung zwischen unterschiedlichen Sphären erfahren, können niemals abschließend beantwortet werden, sondern sie leben gerade aus dieser immer wieder neu zu erfahrenden Spannung. Die elsässischen Grenz-Erfahrungen sind nun tatsächlich nicht allein geographischer oder geopolitischer Natur, sondern sie erstrecken sich vor allem auch auf den Bereich der Kultur. Aus diesem Grund versteht Curtius das Grenzland zwischen der deutschen und der französischen Kultur schon früh als einen Zwischenraum, in dem sich Einflüsse aus beiden Bereichen abzeichnen: Elsaß! Wunderbares, gesegnetes Land! Grenzscheide zweier Rassen und Schauplatz ihres Werbens umeinander. Hier haben die beiden großen Potenzen unserer Geschichte miteinander gerungen: Germanentum und Romanentum. Hier weitet sich die Seele durch die Spannung zweier Geisteswelten, hier entsteht das Pathos des Übergangs.5

Vor dem Hintergrund dieser Formulierungen sowohl von der fruchtbaren «Spannung zweier Geisteswelten» als auch vom dort zu erfahrenden «Pathos des Übergangs» wird nun deutlich, in welchem Maße der Erste Weltkrieg für Ernst Robert Curtius eine Unterbrechung dieses Austauschs bedeutet haben muss: Die Neuordnung Europas durch den Versailler Vertrag stellt nicht nur für ihn persönlich den Verlust seiner elsässischen Heimat dar, sondern auf einer größeren, europäischen Ebene auch die unfruchtbare Vereindeutigung eines Raumes, der durch seine ursprünglich gerade nicht eindeutige Zuordenbarkeit wie kein anderer für den Austausch zwischen den unterschiedlichen geistigen Sphären prädestiniert und geschaffen war. Wie schwer dieser mehr als persönliche Verlust für Ernst Robert Curtius wiegt, das zeigen seine kurzen Bemerkungen in einem Brief an René Schickele, in dem er diesem – seinem «elsässischen Generationsgenossen»6 – für die Zusendung seines autobiographischen Buches Le Retour dankt. In diesem Brief aus dem Jahr 1938 heißt es unmittelbar über Schickeles Buch und mittelbar über das Elsass: Ich bin mit dem elsässischen Schicksal so unlöslich verbunden, daß ich diese Wendung in Ihrem Schaffen miterlebe, als sei ich persönlich daran beteiligt, und vieles zwischen den Zeilen zu lesen glaube, was Sie nicht gesagt haben, aber vielleicht doch einmal sagen werden. Seit dem Krieg scheint das Elsass in beiden Sprachen verstummt zu sein […]. Nun ergreifen Sie wieder das Wort. Das ist eine bedeutsame Tat.7

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Ernst Robert Curtius: Elsaß!, in: Friedrich Lienhard/Hans Pfitzner/Carl Spindler (Hg.): Der elsässische Garten. Ein Buch von unsres Landes Art und Kunst, Straßburg: Trübner 1912, S. 4–5, hier S. 4. Ernst Robert Curtius: Vorwort zur ersten Auflage (Ostern 1950), in: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 7. Ernst Robert Curtius an René Schickele, 18. 04. 1938, in: DLA Marbach, zitiert nach Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, Bern/Berlin u. a.: Lang 1998, S. 30. Vgl. zu Schickele und Le Retour auch Kapitel 4.3.2 René Schickele: In mehr als einer Weise im Exil.

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Der Zwischenraum zwischen dem Einflussbereich der romanischen und dem der germanischen Kultur, den das Elsass für Curtius darstellt, bekommt dadurch zusätzliche Bedeutung, dass er von diesem immer wieder als Ort des fruchtbaren Austauschs zwischen den beiden Kulturen entworfen wird. Wenn nun, wie es der Brief an René Schickele andeutet, diesem kulturellen Austausch auf beiden Seiten ein «Verstummen» gefolgt ist, dann legt das die Vermutung nahe, dass Curtius’ Beziehung zum Elsass bereits früh im Zeichen des Verlustes gestanden hat. Deutschland und Frankreich, die sich im Elsass treffen, brauchen einander seiner Meinung nach wesentlich; ein Abbruch der Austauschbeziehungen zwischen ihnen, ein «Verstummen» des europäischen Gesprächs, das diese Beziehungen darstellen, muss deshalb notwendig eine gewisse Einseitigkeit und Unfruchtbarkeit zur Folge haben. Das Beispiel des Elsass, das geographisch in der ‹Mitte› von Europa liegt und das damit zum Mittler zwischen den verschiedenen kulturellen Sphären des europäischen Geistes wird,8 macht deutlich, dass in Curtius’ Argumentation die Geographie einerseits und die Kultur andererseits immer wieder aufeinander Bezug nehmen: Die Kultur wird stets als Folge von geographischen Verhältnissen beschrieben, die Geographie – und ihre Beschreibung – fungiert dagegen gewissermaßen als Abbildung oder Verräumlichung von kulturellen Bedingungen und Umständen. Beides bleibt bei Curtius immer aufeinander bezogen, und sein Nachdenken über die europäische Kultur ist in besonderer Weise von diesem räumlich-geographischen Ausgangspunkt geprägt.9 Das Beispiel des Elsass macht aber darüber hinaus auch deutlich, wie sehr in diesem Zusammenhang immer die Markierung von Grenzen zur Debatte steht – und auch hier sind Grenzen in einem doppelten Sinne gemeint: In einem geopolitischen Sinne geht es um Grenzen zwischen Ländern, und in einem geistigen um Grenzen

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Häufig beschreibt Curtius auch Deutschland insgesamt in ähnlichen Kategorien wie hier das Elsass: In seiner Wahrnehmung – und den zeitgenössischen Thesen von Josef Nadler folgend – teilt sich das Land in einen südwestlichen Teil einerseits und einen nordöstlichen andererseits. Wie beim Elsass, das zwischen Deutschland und Frankreich vermitteln soll, ist deshalb für Curtius auch in diesem Kontext der Gedanke der Vermittlung maßgeblich: Deutschland ist das Land der Mitte, dessen «unersetzliche Sendung in Europa» es sein müsse, sowohl in räumlicher wie in geistiger Hinsicht «nach Abendland und Morgenland offen» zu sein (Ernst Robert Curtius: Zivilisation und Germanismus, in: Ders.: Französischer Geist im neuen Europa, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1925, S. 217–288, hier S. 276–277). Vgl. dazu Josef Nadler: Die Berliner Romantik, Berlin: E. Reiss 1921; und vor allem auch Ernst Robert Curtius: Eine Deutung der deutschen Romantik, in: Ders.: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der ‹Luxemburger Zeitung› (1922–1925), Bonn: Bouvier 1988, S. 81–86. Vgl. auch Christine Jacquemardde Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 188–189. Etwas weniger deutlich markiert Bernd Blaschke diese gegenseitige Bedingtheit von Kultur und Geographie bei Curtius, wenn er schreibt: «Als Geistesraum und als historische Auffassung, nicht nur als geographische Bezeichnung, will Curtius Europa verstehen.» (Bernd Blaschke: Ernst Robert Curtius’ Frankreich-, Deutschland- und Europabilder, in: Regina Schleicher/Almut Wilske (Hg.): Konzepte der Nation: Eingrenzung, Ausgrenzung, Entgrenzung, Bonn: Romanistischer Verlag 2002, S. 190–206, hier S. 201).

zwischen Kulturen. Wenn Curtius das Ende des Ersten Weltkriegs als den Verlust seiner Heimat erlebt, und wenn er diesen Verlust im Laufe seines Lebens immer wieder auch ausdrücklich als solchen erwähnt,10 dann kann das letztlich nur in dem größeren Zusammenhang seiner Reflexion über Grenzen eine Erklärung finden: Für ihn verändert die sich verschiebende Grenze zwischen Deutschland und Frankreich eben tatsächlich nicht nur die geopolitischen Verhältnisse in Europa, sondern zugleich auch dessen ganze geistige Landschaft. Je unsicherer deshalb die geopolitischen Grenzen sind, desto wichtiger wird für ihn die Verständigung über kulturelle Begrenzungen – und über mögliche Grenzüberschreitungen. Auch Christine Jacquemard-de Gemeaux betont besonders diesen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Verlust der elsässischen Heimat und Curtius’ Reflexion über ein sich geographisch und geistig definierendes Europa, wenn sie schreibt: Dans le cheminement européen de Curtius, l’importance de l’expérience alsacienne a fourni une clé d’interprétation capitale. L’arrachement à l’Alsace, la perte du pays natal, permettent de comprendre son besoin d’Europe, un besoin et une réaction d’ordre existentiel.11

Der Verlust der Heimat, mit dem Jacquemard-de Gemeaux hier Curtius’ intensive Beschäftigung mit Europa und deren innere Notwendigkeit für sein Leben erklärt, wird von ihr darüber hinaus in einen Zusammenhang gestellt, der das «arrachement» aus dem Elsass der Kindheit als ein lebenslanges und durchaus nicht freiwillig gewähltes Exil beschreibt, das in der Folge in verschiedenen Bereichen von Curtius’ Leben seine Entsprechungen gefunden habe: L’exil est d’abord un sentiment concrètement fondé par certains événements de sa vie. […] [L]a plume de Curtius inscrit presque toujours le mot exil sur le papier lorsqu’il évoque ses départs d’Italie pour rentrer en Allemagne. […] Sur le plan politique, Curtius fait aussi l’expérience de l’exil intérieur au cours des années 1933 à 1945, années durant lesquelles il vit tel un étranger dans son propre pays. […] Mais, au-delà des données biographiques, c’est l’ensemble de la pensée de Curtius qui témoigne largement de la souffrance engendrée, sur le plan intellectuel et spirituel, par le sentiment de vivre, en exil, dans un monde désordonné, en déficit de sens.12

Auch hier findet also eine ursprünglich räumliche Idee – das Exil im Sinne einer Vertreibung aus dem Elsass der Kindheit – eine geistige Entsprechung in einer Interpretation der Dinge, die den Gedanken vom Exil auch auf die intellektuellen Belange ausdehnt. Unter diesem geistigen oder spirituellen Exil ist tatsächlich nicht allein das innere Exil der Jahre 1933–1945 zu verstehen (in denen sich Curtius vor allem auf dem Weg über seine Vorarbeiten zu Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter aus der deutschen Gegenwart des Nationalsozialismus in die lateinische Tradition des Mittelalters zurückzieht), sondern mehr noch eine intellektuelle Abkapselung, die weit über diejenige hinausgeht, die die politischen Verhält-

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Vgl. dazu Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 27–28. Ebd., S. 2. Ebd., S. 389–390.

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nisse in diesen Jahren erzwungen haben. So schreibt Curtius zwar beispielsweise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf die jüngste Vergangenheit von der «prison allemande», in die ihn der Nationalsozialismus gesperrt habe,13 aber häufiger noch beklagt er eine Form der Isolation, die eher seinen eigenen intellektuellen Lebensumständen als den politischen seines Landes geschuldet ist. So hebt er besonders in der Korrespondenz mit seinem Schüler Karl Eugen Gass immer wieder das Unverständnis hervor, auf das er bei seinen Kollegen vor allem mit seinen Mittelalterforschungen stoße – «denn was ich eigentlich erstrebe», heißt es da zum Beispiel, «verstehen weder die Mittellateiner noch die Romanisten – von den Germanisten ganz zu schweigen.»14 Will man nun diese Isolation innerhalb des Wissenschaftsbetriebes im Sinne von Jacquemard-de Gemeaux als eine Form des intellektuellen Exils auffassen, so fällt auch hier wieder besonders die Verbindung zu jenen Fragen ins Auge, die die Auseinandersetzung mit Europa bei Curtius generiert. Denn der Grund für die Ablehnung durch die Kollegen, so stellt es zumindest dieser selbst immer wieder dar, sei vor allem seine Offenheit für größere Zusammenhänge innerhalb der europäischen Literatur in einem Kontext, in dem die Kollegen nach wie vor daran festhielten, innerhalb der engen Grenzen von Nationalstaaten zu argumentieren: Aber auch bei den anderen Kollegen finde ich kaum ein Echo. Es ist ihnen begreiflicherweise unangenehm, dass ich das Mittellatein in die romanische Philologie einführe, denn Lateinisch lesen die Herren ja nicht. Der ganze Unsinn der modernen Arbeitsteilung nach Nationalsprachen, Nationalliteraturen und nationalen Philologien ist noch niemandem aufgegangen. Was würde man aber von einem mittelalterlichen Historiker denken, der nur deutsche Vorgänge berichtete und nur deutschsprachliche Quellen verfolgte?15

Nicht nur im Zusammenhang mit einem konkreten Verständnis von Exil und Europa ist daher eine enge Verbindung zwischen diesen beiden gedanklichen Komplexen auszumachen – in dem Sinne, dass das Exil von Ernst Robert Curtius außerhalb des Elsass (ebenso wie später das der anderen europäischen Schriftsteller in dieser Arbeit) als eine durch zumeist politische Umstände erzwungene Bewegung innerhalb des europäischen Raumes aufgefasst würde, deren Dynamik allerdings dann die räumliche und geistige Erschließung des Kontinents befördert. Darüber hinaus könnte man auch bei einem gewissermaßen metaphorischen Verständnis von Exil und Europa ansetzen, um den engen Bezug der beiden Komplexe noch deutlicher herauszuarbeiten: Wenn mit ‹Exil› nicht nur die Verbannung im räumlichen Sinne gemeint ist, sondern in einem übertragenen Sinne auch eine gewisse ‹intellektuelle

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Ernst Robert Curtius an Jean de Menasce, 31.12.1938, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I. Ernst Robert Curtius an Karl Eugen Gass, 12.11.1942, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I. Vgl. zu der Korrespondenz zwischen Curtius und Karl Eugen Gass auch Frank Rutger Hausmann: Diesen Winken muss man bescheiden und treu nachgehen, in: FAZ, 17. Oktober 2007, S. 40. Ernst Robert Curtius an Karl Eugen Gass, 18.05.1944, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I.

Heimatlosigkeit›, dann kann man tatsächlich mit Nietzsche davon sprechen, dass es sich dabei um eine spezifisch europäische Erfahrung handelt.16 Am Beispiel von Ernst Robert Curtius lässt sich so zunächst aufweisen, inwiefern sich beides, die tatsächliche Erfahrung des Exils in einem konkreten räumlichen Sinne und die individuelle Disposition zu einem Exil im übertragenen intellektuellen Sinne, gegenseitig beeinflussen und sogar bedingen kann. Diesem doppelten Verständnis des Exils entspricht bei ihm eine Sichtweise von Europa, die ebenfalls zweigleisig argumentiert, geographisch und intellektuell, und die Europa als einen Raum entwirft, dessen Geist sich immer wieder in seiner Geographie abbildet. Ausgehend von der konkreten Erfahrung der Grenzen innerhalb des Kontinents und ihrer Überschreitung, von der Veränderlichkeit dieser Grenzen und deren Konsequenzen kommt Curtius damit zu einem Verständnis von Europa, das von seinem Exil nicht zu trennen ist – und das diese Erfahrung des Exils zu einer spezifisch europäischen Erfahrung werden lässt: Die Heimatlosigkeit, die dieses Exil für ihn immer bedeutet, veranlasst ihn zu einer besonderen Offenheit für Europa und für seine Kultur, wie sie auch für die acht europäischen Autoren kennzeichnend sein wird, um deren Entwürfe von Europa es in der Folge gehen wird. Eine solche Offenheit ist dabei allerdings immer wieder auch darauf angewiesen, sich ihrer selbst und ihrer Prämissen durch starke Setzungen zu vergewissern – auch das lässt sich an dem Fall von Ernst Robert Curtius exemplarisch aufzeigen.

1.2

Kultur und Politik: Der geistige Raum Europa

1932 veröffentlicht Ernst Robert Curtius eine Schrift mit dem – durchaus polemischen – Titel Deutscher Geist in Gefahr, in der er diesen deutschen Geist dadurch gegen seine ideologische Infragestellung vor allem durch Faschismus und Bolschewismus verteidigt, dass er ihn in seinen europäischen und historisch gewachsenen Zusammenhängen beschreibt. Dem Bändchen vorangestellt ist das Hölderlinzitat «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch», und in diesem Sinne fordert Curtius einen europäischen Humanismus, von dem er schreibt, er sei «nichts, wenn er nicht Enthusiasmus der Liebe ist».17 Ein solcher universell verstandener Humanismus kann in allen historischen Epochen auftreten und muss

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Unter der Überschrift Wir Heimatlosen heißt es in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft: «Es fehlt unter den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen […]. Wir Kinder der Zukunft, wie v e r m ö c h t e n wir in diesem Heute zu Hause zu sein! […] Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europa’s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes.» (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.): KSA Bd. 3, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1999, S. 628–631). Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlagsanstalt 1932, S. 107.

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unabhängig von der Zeit verstanden werden;18 im Gegenzug ist er aber in räumlicher Hinsicht durchaus klar zu lokalisieren: Der Humanismus, der dem bedrohten deutschen Geist allein die Möglichkeit eines Auswegs aus seiner Krise bieten würde, ist in der Darstellung von Curtius «ein Wesensmerkmal der europäischen Geschichts- und Lebensgemeinschaft»; er ist insofern, wie er wörtlich schreibt, «standortgebunden».19 Curtius betont in Deutscher Geist in Gefahr, dass der in Frage stehende deutsche Geist «nur aus eigener Substanz» nicht lebensfähig sei.20 Er fordert in seiner Schrift deshalb zum einen einmal mehr ein Bekenntnis zu der «fruchtbare[n] Spannung zwischen deutschem und französischem Geist», zum anderen aber auch ein klares Eintreten für «die Verbindung mit der klassischen und christlichen Substanz des abendländischen Geisteserbes»,21 und macht damit umso deutlicher, was für ihn unter dem niemals eindeutig definierten Begriff ‹Humanismus› zu verstehen ist: der geistige Austausch innerhalb Europas unter bewusstem Rückgriff auf die gemeinsame Tradition.22 Wenn Curtius’ Verständnis dieses Humanismus daher dessen räumliche Begrenzung auf Europa voraussetzt, dann ist das vor allem aus einer Konzeption heraus zu erklären, die dieses Europa im Sinne einer gemeinsamen Geistesgeschichte einzugrenzen bemüht ist – und wenn sich später sowohl Heinrich und Klaus Mann als auch René Schickele in ihrer Opposition gegen den Nationalsozialismus ebenfalls auf einen solchen europäischen Humanismus berufen, dann stellen sie sich damit in dieselbe geistesgeschichtliche Kontinuität. Obwohl Deutscher Geist in Gefahr, dieses Buch, das «auf dem Höhepunkt der Krise der Weimarer Republik» erscheint,23 deshalb durchaus eine politische Dimension hat und in einem politischen Sinne wirken will, argumentiert Curtius

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«Wenn man den Humanismus wirksam verteidigen will, darf man ihn an keine seiner geschichtlichen Erscheinungen binden.» (Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, S. 105). Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, S. 110. Dirk Hoeges spricht in diesem Zusammenhang von Curtius’ «emphatische[m] Humanismus»; Kurt Sontheimer von einem «pathetisch artikulierten Humanismus» (Dirk Hoeges: Emphatischer Humanismus. Ernst Robert Curtius, Ernst Troeltsch und Karl Mannheim, in: Wolf-Dieter Lange (Hg.): «In Ihnen begegnet sich das Abendland». Bonner Vorträge zur Erinnerung an Ernst Robert Curtius, Bonn: Bouvier 1990, S. 31–52, hier S. 47; Kurt Sontheimer: Ernst Robert Curtius’ unpolitische Verteidigung des deutschen Geistes, ebd., S. 53–61, hier S. 57). Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, S. 50. Ebd., S. 47–48. Ernst Ulrich Grosse betont, das Wissen um die Notwendigkeit der gemeinsamen Tradition für ein europäisches Bewusstsein sei eine «idée directrice» von Curtius gewesen (Ernst Ulrich Grosse: Curtius et les topoi, in: Jeanne Bem/André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S. 91–106, hier S. 105). Vgl. zur Tradition bei Curtius auch Hans Ulrich Gumbrecht: Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit. Über E. R. Curtius’ unhistorisches Verhältnis zur Geschichte, in: Walter Berschin/Arnold Rothe (Hg.): Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, S. 227–241, hier S. 228. Kurt Sontheimer: Ernst Robert Curtius’ unpolitische Verteidigung des deutschen Geistes, S. 54.

doch nicht politisch im eigentlichen Sinne des Wortes. Seine Argumentation gründet sich vielmehr auf die Einbindung des deutschen Geistes in die «westeuropäische[…] und abendländische[…] Tradition und Überlieferung»,24 auf die Einbindung des rein nationalen in einen übergeordneten europäischen Geist also. Vor diesem Hintergrund geht es mehr um die kulturellen Hervorbringungen dieses europäischen Geistes als um die politischen Formen, innerhalb derer er womöglich Gestalt annimmt. Tatsächlich ist das Europa, das hier entworfen wird, eher von der Kontinuität als von der Aktualität her gedacht, und der geforderte Humanismus stellt auf diese Weise eine Art Bindeglied zwischen den einzelnen Realisierungen des europäischen Geistes dar.25 Dieses Ineinandergreifen von politischen und kulturellen Argumentationsmustern, das die gemeinsame Kultur ebenso als Basis wie als letzte Begründung für die Forderung nach einer politischen Einigung des Kontinents versteht, ist abermals exemplarisch: Genauso wie Ernst Robert Curtius berufen sich vor allem die deutschen und französischen Autoren, um die es in der Folge gehen wird, immer dann auch auf den gemeinsamen europäischen Geist und seine Tradition, wenn sie für eine Politik eintreten, die eben nicht mehr nur national, sondern europaweit wirksam sein will. Dieser vielbeschworene europäische Geist ist nun in der Tat ebenso wie seine jeweiligen Realisierungen in einzelnen Nationalkulturen in Curtius’ gesamtem Werk präsent – so verweist schon eine ganze Reihe von Buch- und Aufsatztiteln auf das, was man eine gewisse ‹Geistgläubigkeit› ihres Autors nennen könnte. Da gibt es neben dem Deutsche[n] Geist in Gefahr den Syndikalismus der Geistesarbeiter in Frankreich, da ist die Rede vom Französische[n] Geist im Neuen Europa, und innerhalb dieses Sammelbandes nimmt der Essay Europäischer Geist und französische Literatur eine prominente Stelle ein. Immer ist die Idee vom ‹Geist› dabei in einem emphatischen Sinne zu verstehen: Der Geist eines Landes ist ganz offensichtlich das, was sich immer wieder neu in den kulturellen Leistungen dieses Landes bezeugt; die Summe dieser einzelnen kulturellen Leistungen wiederum macht den europäischen Geist insgesamt aus. Dieses Verständnis des Geistes wird zum Beispiel in den kurzen Bemerkungen zur Einleitung in das Buch vom Französische[n] Geist im Neuen Europa deutlich, in denen Curtius das Ziel dieses Buches erklärt: Ich versuche, den Liebhaber der Literatur in das Werk einiger zeitgenössischer Franzosen einzuführen, die ich zu den wesentlichen künstlerischen Erscheinungen unserer Epoche zähle. Angeschlossen sind einige Aufsätze kulturpsychologischen Charakters, die in anderer Richtung die Funktion des französischen Geistes im heutigen Europa erörtern. Es

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Ebd., S. 60. Vgl. zu der Frage von Kontinuität und Aktualität Michel Stanesco: La notion de science générale du Moyen Age dans la phénoménologie littéraire de Curtius, in: Jeanne Bem/ André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S. 81–89, hier S. 89; und Ernst Robert Curtius: Vorwort zur ersten Auflage, in: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 8.

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sind einzelne Perspektiven, die sich teils ergänzen, teils überschneiden. Vielleicht ist gerade diese Form der Darstellung dem Gegenstande angemessen.26

Der französische Geist lässt sich also auf verschiedenen Ebenen fassen: Zum einen äußert er sich in der zeitgenössischen Literatur, zum anderen kann man sich ihm aber auch auf einer abstrakteren Ebene nähern, indem man versucht, ihn kulturpsychologisch zu erklären. Wesentlich ist aber in beiden Fällen, dass er ausdrücklich immer an Europa zurückgebunden wird; dass er erklärtermaßen eine «Funktion […] im heutigen Europa» auszufüllen hat, die es zu analysieren gilt. Wie später in der Schrift vom Deutsche[n] Geist in Gefahr findet auch hier eine nationale Ausprägung des Geistes vor allem in ihrer Bindung an den übergeordneten europäischen Geist ihre eigentliche Bestimmung. Erst in diesem Zusammenhang wird deshalb verständlich, warum Curtius in einem der Aufsätze aus Französischer Geist im Neuen Europa so ausdrücklich gegenseitigen Respekt von dem deutschen und dem französischen «Kulturbewußtsein» und einen «entschlossenen Willen zur europäischen Kulturgemeinschaft» fordert.27 Eine so verstandene Kulturgemeinschaft setzt den Fortbestand und die gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen nationalen Formen des Geistes voraus – der französische Geist leistet ebenso wie der deutsche einen Beitrag zum Zustandekommen dieser Kulturgemeinschaft, und keiner dieser je spezifischen Beiträge könnte durch den eines anderen Geistes ersetzt werden. Erst in der gemeinsamen Anstrengung der einzelnen nationalen Ausprägungen des Geistes entsteht die kulturelle Gemeinschaft, die Curtius’ Bild von Europa wesentlich ausmacht.28 An dieser Stelle wird auch nachvollziehbar, was genau Ernst Robert Curtius meint, wenn er seine Konzeption von Europa immer wieder in die Formel vom «Europäertum des Geistes» oder vom «Weltbürgertum des Geistes» kleidet.29 Vor allem in den frühen zwanziger Jahren gilt es für ihn nicht nur, sich von dem revanchistischen Nationalismus im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg abzugrenzen, sondern gleichermaßen auch von den seiner Meinung nach verwässerten Ansätzen des pazifistischen Internationalismus, wie ihn etwa die Clarté-Gruppe verkörperte. Auch diese Abgrenzung findet nun vor allem im Zeichen des Geistes statt. So wirft Curtius der Gruppe um Henri Barbusse vor, sie verleugne mit ihren

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Ernst Robert Curtius: Französischer Geist im Neuen Europa, S. 7–8. Ernst Robert Curtius: Zivilisation und Germanismus, in: Ders.: Französischer Geist im Neuen Europa, S. 217–288, hier S. 219–220. Das erklärt nicht zuletzt auch, warum Curtius vor allem in Bezug auf den deutschen Geist immer betont, dieser sei auf den Austausch mit dem Fremden angewiesen, um überhaupt lebensfähig zu sein. Vgl. Ernst Robert Curtius: Deutsch-französische Kulturprobleme, in: Der Neue Merkur 5 (1921/22), S. 145–155, hier S. 149. Vgl. etwa Ernst Robert Curtius an André Gide, 24. 08. 1921, in: Herbert und Jane M. Dieckmann (Hg.): Deutsch-französische Gespräche 1920–1950. La Correspondance de Ernst Robert Curtius avec André Gide, Charles Du Bos et Valéry Larbaud, Frankfurt am Main: Klostermann 1980, S. 37; und Ernst Robert Curtius an José Ortega y Gasset, 17.07.1924, in: K. A. Horst (Hg.): Ernst Robert Curtius – José Ortega y Gasset: Ein Briefwechsel, in: Merkur 200 (1964), S. 903–914, hier S. 905.

aufklärerischen Idealen alle «Tiefen und Höhen des Geistes», und erklärt, man dürfe die «Überwindung des Nationalismus nicht erkaufen mit einer Versklavung des Geistes».30 Stattdessen plädiert er gerade für eben jenes «Europäertum des Geistes», das die geistigen Unterschiede zwischen den Nationen nicht nivellieren, sondern im Gegenteil respektieren und sogar fördern soll: Wir müssen abwarten, ob der durch sieben Jahre offenen und latenten Krieges schwer geschädigte Sinn für die geistige Lebensgemeinschaft Europas wiedererwacht – eine geistige Lebensgemeinschaft, die sich nicht gegen die nationalen Kultursysteme richtet, sondern sie in ihrer Sonderung bejaht, um sie als Harmonie zu begreifen: als ein Drittes gegenüber den Einseitigkeiten des Nationalismus und des Internationalismus. Das ist die organische Art, das geistige Europa zu denken.31

Wenn Curtius hier gegen die Alternative von Nationalismus und Internationalismus sein Konzept von der «geistigen Lebensgemeinschaft Europa» setzt, und «die lebendige Bewahrung überzeitlicher Geisteswerte» ausdrücklich zu seinem Ziel erklärt,32 dann ist das vor allem vor dem Hintergrund der zersplitterten politischen Landschaft im Nachkriegseuropa jener zwanziger Jahre zu verstehen, in denen genau diese kulturelle Kontinuität bedroht scheint, und dann zeigt sich darin abermals das Ineinandergreifen von politischer und kultureller Argumentation, das seine Konzeption von Europa immer prägt. Mit seinem Ansatz, der sich explizit als «kosmopolitisch» verstehen will,33 kann Curtius in diesen Jahren für eine «Entspannung zwischen Deutschland & Frankreich» eintreten und dabei zugleich fordern, deutsche und französische Intellektuellen sollten sich «sur un pied de parfaite égalité intellectuelle et morale» begegnen.34 Die Tatsache, dass die Vorstellung von einem Europa des Geistes und der Kultur für Ernst Robert Curtius diejenige Konzeption von Europa ist, die am meisten Realität besitzt, darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade dieses geistige Europa Bedrohungen von außen ausgesetzt ist, die seinen Fortbestand

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Ernst Robert Curtius: Deutsch-französische Kulturprobleme, S. 152. Ähnlich argumentiert im selben Zusammenhang auch André Gide, der sich dabei wiederholt auch auf Curtius beruft. Vgl. dazu Kapitel 6.1 André Gide: Europa als Schule des Individualismus. Vgl. zur Clarté-Gruppe allgemein Vladimir Brett: Henri Barbusse, sa marche vers la clarté, son mouvement Clarté, Prag: Ed. de l’Académie tchécoslovaque des sciences 1963. Ernst Robert Curtius: Deutsch-französische Kulturprobleme, S. 153. Joseph Jurt bezeichnet diesen dritten Weg zwischen Nationalismus und Internationalismus als «aristocratisme culturel», und er identifiziert ihn ausdrücklich mit der «position du ‹Geist›» (Joseph Jurt: Curtius et la position de l’intellectuel dans la société allemande, in: Jeanne Bem/ André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S. 239–255, hier S. 251). Ernst Robert Curtius: Nationalismus und Kultur, in: Die Neue Rundschau 12 (1931), S. 736–748, hier S. 737. Dieser Aufsatz ist später leicht verändert unter dem Titel ‹Nation oder Revolution?› in Deutscher Geist in Gefahr übernommen worden. Vgl. Ernst Robert Curtius an André Gide, 12.07.1921, in: Herbert und Jane M. Dieckmann (Hg.): Deutsch-französische Gespräche 1920–1950, S. 30. Ernst Robert Curtius an André Gide, 24.07.1921, und Ernst Robert Curtius an André Gide, 01.04.1922, ebd., S. 34 und S. 57.

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immer wieder als prekär erscheinen lassen. Die Verwerfungen innerhalb der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg sind hier nur ein Beispiel; als ein weiteres könnte man die angespannte Situation in dem Deutschland aus den letzten Jahren der Weimarer Republik anführen, auf die sich Curtius mit seinen Essays aus Deutscher Geist in Gefahr bezieht. In solch krisenhaften Augenblicken bedarf Europa nun der bewussten Unterstützung von denjenigen, die sich wie er selbst als seine herausragenden Repräsentanten verstehen. Immer wieder hat Curtius deshalb die Rolle eines Vermittlers zwischen den europäischen Ländern, Kulturen, Literaturen übernommen. In einem Brief an André Gide Anfang der zwanziger Jahre schreibt er im Zusammenhang seiner Überlegungen zu Europa und der deutsch-französischen Verständigung: Je vous demande bien pardon de vous importuner de mes réflexions. Mais c’est que ces choses me tiennent à cœur. Ce sont des sujets et des méditations qui ne me quittent pas et qui, vous le comprenez, sont pour moi d’une grande importance, aussi longtemps que je tiens à garder le rôle – assez modeste, je le sais bien – d’intermédiaire intellectuel entre nos deux pays.35

Vor diesem Hintergrund der deutsch-französischen Verständigung ist der briefliche und der direkte Austausch mit André Gide besonders in den zwanziger Jahren so wichtig für Ernst Robert Curtius. Hier wird im Kleinen bereits vollzogen, woran im Großen noch gearbeitet werden muss – 1931 fasst Curtius das hoffnungsvoll zusammen, wenn er an Gide schreibt: Das, wofür Sie und ich immer gearbeitet haben, eine ehrliche prinzipielle Bemühung um gegenseitiges Verstehen und Zusammenarbeiten, scheint mir jetzt die größeren Chancen zu haben.36

Dabei umfasst diese «prinzipielle Bemühung», wie Curtius sie hier nennt, keineswegs nur diejenigen seiner (zumeist publizistischen) Interventionen, die sich mit Fragen der politischen Aktualität beschäftigen, sondern mehr noch müssen seine rein literaturwissenschaftlichen Werke vor diesem Horizont verstanden werden. Seit der Veröffentlichung von Literarische Wegbereiter des neuen Frankreich direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1919 hatte Curtius sich für eine bessere Kenntnis Frankreichs und für eine weitere Verbreitung der französischen Literatur in Deutschland eingesetzt, und auch hier ergänzen sich einmal mehr geistige und politische Intentionen: Ohne den idealistischen Glauben, der mich wie viele andere meiner Generation beseelte, wäre das Buch nicht geschrieben worden: den Glauben an die Möglichkeit und

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Ernst Robert Curtius an André Gide, 10.12.1921, ebd., S. 44. Diese Vermittlerrolle von Curtius betont zum Beispiel auch Mark Anderson, der ihn einen «grand médiateur de cultures» nennt (Mark Anderson: La restauration de la décadence: Curtius et T. S. Eliot, in: Jeanne Bem/André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S. 167–181, hier S. 167). Ernst Robert Curtius an André Gide, 20.08.1931, in: Herbert und Jane M. Dieckmann (Hg.): Deutsch-französische Gespräche 1920–1950, S. 117.

Notwendigkeit eines neuen Europa. Entstehen konnte es nur durch eine schöpferische Neugestaltung des deutsch-französischen Verhältnisses. Eine politische Forderung war es also, die zwischen den Zeilen der Wegbereiter stand. Der Europagedanke mußte geistig unterbaut werden. Dazu wollte mein Buch helfen.37

In dieser Passage, in der Curtius nach Jahrzehnten auf seine Wegbereiter zurückblickt, finden sich einige der grundlegenden Gedanken wieder, die seine Annäherung an Europa kennzeichnen: auf der einen Seite der Idealismus, der das deutsch-französische Verhältnis als Basis für ein neues Europa setzt; und auf der anderen der Bezug zwischen Politik und Kultur, der in der Forderung nach einem geistigen Fundament für alle politischen Demarchen seinen Ausdruck findet. Darüber hinaus ist der Text aber auch in anderer Hinsicht charakteristisch: Curtius betont hier ausdrücklich, er habe mit seinen Wegbereitern als Angehöriger einer bestimmten Generation und im Einklang mit ihren Überzeugungen gehandelt. Dieses Selbstverständnis als Teil einer Gruppe ist vor allem in einem Zusammenhang wesentlich, in dem immer der Gedanke des Austauschs und der Kommunikation im Vordergrund steht. Ernst Robert Curtius hat diesen Austausch zeit seines Lebens sehr bewusst gesucht und betrieben – davon zeugt seine europaweite, umfangreiche Korrespondenz. Seinem französischen Freund Jean de Menasce versichert er zum Beispiel über die Jahre hinweg immer wieder die Beständigkeit ihrer Beziehung, und er hebt hervor, dass ihm der Austausch mit dem Freund eine innere Notwendigkeit sei: Je garde l’essentiel pour la fin: le bonheur de posséder ton amitié. Elle m’est plus que jamais nécessaire. Cette guerre a fait disparaître bien des êtres qui me tenaient au cœur. Tu survis. Tu es le dépositaire de tout ce qui vivifiait ma jeunesse et mon âge mûr,38

schreibt Curtius beispielsweise wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wenn er den Freund hier mit einiger Emphase zum «Treuhänder» dessen erklärt, was sowohl seine Jugend als auch die Zeit seiner Reife beseelt habe, dann legt der Kontext dieser Äußerung die Interpretation nahe, das, was da zu treuen Händen überantwortet wird, sei der in Curtius’ ganzem Werk so sehr betonte europäische ‹Geist› und seine Hervorbringungen.39 Diese Inszenierung einer Freundschaft (und Jean de Menasce bleibt nicht der einzige Adressat von Curtius’ emotionalisierten Zuneigungsbekundungen) erinnert nun nicht von ungefähr an die überkommenen Muster der ‹romantischen Freundschaft›.40 In der individuellen Freundschaft (sei es mit Menasce, sei es

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Ernst Robert Curtius: Rückblick 1952, in: Ders.: Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert, Bern/München: Francke 31965, S. 513–527, hier S. 520. Ernst Robert Curtius an Jean de Menasce, 12.12.1945, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I. In demselben Brief äußert Curtius seine Sorge um die «tradition littéraire de cette Europe», der womöglich bald schon ein neuer, von Russland provozierter Krieg drohe (vgl. ebd.). Vgl. dazu Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 397–403.

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mit André Gide, Charles Du Bos, José Ortega y Gasset oder auch Aby Warburg) findet Curtius immer aufs Neue intellektuelle Anregungen für das die jeweilige Freundschaft transzendierende Allgemeine – das kann Europa sein, die deutschfranzösische Verständigung, die Philosophie oder die Literatur. In dem wissenschaftlichen und literarischen Austausch über Grenzen hinweg manifestiert sich für ihn genau die geistige Kooperation in Europa, der er sein Leben und sein Werk verschrieben hat: In demselben Jahre 1922 wurde ich durch einen Brief von T. S. Eliot überrascht. Sein Freund Hermann Hesse habe ihn auf mich aufmerksam gemacht. Ob ich am ‹Criterion› mitarbeiten wolle? In der ersten Nummer (Oktober 1922) erschien Eliots ‹Waste Land› – und ein Aufsatz von Hermann Hesse über ‹Neue Deutsche Dichtung›. In den Anmerkungen zu ‹The Waste Land› las man, daß einige Verse durch Hesses ‹Blick ins Chaos› angeregt waren. Einmalige Kreuzung der Wege. Aber wie viele Wege und Begegnungen gab es damals in dem seelisch aufgelockerten Europa. Rilke übertrug Verse von Valéry, der sie mir in der Handschrift zeigte. Bei Scheler sah ich die ersten Nummern von Ortegas ‹Revista de Occidente›. Valery Larbaud führte Joyce in Frankreich ein. Die Buchhandlung ‹Shakespeare and Company› von Sylvia Beach in der rue de l’Odéon war ein internationaler Treffpunkt wie die schräg gegenüberliegende ihrer Freundin Adrienne Monnier. Die ‹Dekaden› von Pontigny fanden seit 1922 wieder statt. Der Pen-Club wurde gegründet... Es gab ein höchst lebendiges Europa des Geistes – über alle Politik, aller Politik entgegen. Dieses Europa lebte nicht nur in Zeitschriften und Büchern, sondern in persönlichen Beziehungen,41

so beschreibt Curtius die europäische république des lettres der zwanziger Jahre.42 Wenn er selbst im Kontext dieser «einmalige[n] Kreuzung der Wege» nur zu oft die Rolle des Mittelpunktes ausgefüllt hat, an dem die verschiedenen europäischen Wege zusammenlaufen, dann macht das auch seine Funktion als Wegbereiter im Kontext der vorliegenden Arbeit plausibel. Beispielhaft für Curtius’ Rolle als eine Art Knotenpunkt der europäischen république des lettres mag auch die Festschrift stehen, die ihm 1956 von seinen Freunden zum 70. Geburtstag zugeeignet wurde und die bezeichnenderweise den Titel Freundesgabe trägt.43 Hier finden sich neben Gedichten von Gottfried Benn und Jorge Guillén Beiträge unter anderem von Max Rychner, Jean de Menasce, T. S. Eliot, William Goyen und José Ortega y Gasset; und vor allem der kurze Text von T. S. Eliot beschwört ausdrücklich die zeitenüberdauernde Freundschaft, die ihn mit dem Adressaten der Festschrift verbinde: Time is an important element in friendship – much more important, in my experience, than frequency of meeting. Is it twice, in the last thirty-five years, that I have met Ernst

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Ernst Robert Curtius: Hermann Hesse (1947), in: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 152–168, hier S. 153. Vgl. zu dieser Vorstellung von einer république des lettres Herbert Jaumann: Respublica litteraria/Republic of letters. Concept and Perspectives of Research, in: Ders. (Hg.): Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus, Wiesbaden: Harrassowitz 2001, S. 11–19. Vgl. Max Rychner (Hg.): Freundesgabe für Ernst Robert Curtius zum 14. April 1956, Bern: Francke 1956.

Curtius face to face? It need not have been more than once: I count him nevertheless among my old friends. In one sense, it is as if I always had known him.44

Nach der Aufzählung einer Reihe von europäischen Freundschaften, die wie diejenige zu Curtius in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – «a hopeful period in the world of letters»! – zurückreichen, betont Eliot, inwiefern sich die Freundschaft zu Curtius von allen anderen Freundschaften unterscheide: Obwohl er mit all seinen Freunden aus dieser Zeit wie mit Curtius frei habe kommunizieren können, zeichne sich dieser doch vor den anderen durch seine Repräsentativität als europäischer homme de lettres aus: But no name stands, in my memory, with more distinction in this international activity, no name is more representatively that of the European man of letters, than the name of Ernst Robert Curtius.45

Diese Installierung von Curtius als Figur des europäischen Intellektuellen schlechthin erinnert nicht von ungefähr an seine eigene Emphase in Sachen europäischer Humanismus: Implizit funktioniert die Freundesgabe tatsächlich nach dem humanistischen Modell der amicitia, wie es sich nicht zuletzt in der von den RenaissanceHumanisten kultivierten Technik der libri amicorum darstellt.46 Dabei wird in der Festschrift ebenso wie in Curtius’ umfangreicher Korrespondenz stets die Metapher von einem andauernden Gespräch bemüht, das die Freunde über Grenzen hinweg miteinander in Verbindung setze: «je me maintiens en contact constant avec toi», heißt es zum Beispiel ausdrücklich in einem Brief an Jean de Menasce.47 Humanistische Freundschaft, Vermittlung und Austausch – immer wieder manifestiert sich in den einzelnen konkreten Realisierungen dieser grenzüberschreitenden europäischen Gespräche Curtius’ Vorstellung von Europa im Sinne einer solchen république des lettres. Diese république des lettres ist es, für die sich Ernst Robert Curtius auch dann einsetzt, wenn er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg für die deutsch-französische Verständigung und, allgemeiner, für eine an den gemeinsamen Interessen des Kontinents orientierte europäische Politik plädiert. Nur ausgehend von seiner Konzeption eines Europas, das sich durch seine intellektuellen und kulturellen Leistungen und durch das Wissen um die Tradition dieser Leistungen definiert, kann Curtius seinen politischen Überzeugungen Ausdruck verleihen. Trotz dieser augenfälligen «Verbindung zwischen politischer und

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T. S. Eliot: Brief über Ernst Robert Curtius, in: Max Rychner (Hg.): Freundesgabe für Ernst Robert Curtius zum 14. April 1956, S. 25–27, hier S. 25. Ebd., S. 26 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu Marcel Lepper/MaryAnn Snyder-Körber: Konfigurationen der Kontinuität. Europäische Philologie bei Ernst Robert Curtius (Europa-Konzepte: Tagung der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Dezember 2004, unveröffentlicht). Ernst Robert Curtius an Jean de Menasce, 02.02.1948, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I. Vgl. zum Bezug zwischen humanistischer Tradition und der Metapher von der Konversation Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 7.

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geistiger Zielsetzung»48 lässt er aber niemals einen Zweifel darüber zu, wie er dabei die Prioritäten setzen möchte: «Die Zukunft des Geistes fordert ein befriedetes Europa.»49 Die Sicherung des prekären Friedens und die politische Stabilisierung Europas geschehen also nicht um ihrer selbst willen, sondern um die materiellen Grundlagen zu schaffen, auf denen sich der europäische Geist am besten entfalten kann. Auch der Wunsch, Deutschland möge nach dem Ersten Weltkrieg wieder in den Kreis der europäischen Kulturnationen aufgenommen werden, findet deshalb seine letzte Begründung in dieser Sorge um den europäischen Geist: Erst wenn man Deutschland wieder zu hören wünscht als unentbehrliches und unersetzliches Glied der europäischen Lebensgemeinschaft: erst dann können wir eine Hoffnung auf die Wiederherstellung des geistigen Europa erblicken.50

1.3

Fluchtpunkte: Räumliche Konkretisierungen des geistigen Europas

Ernst Robert Curtius verbindet die geistige Lebensgemeinschaft, die Europa für ihn darstellt, nicht nur immer wieder mit politischen Zielsetzungen. In seinen Werken finden sich vielmehr immer wieder auch ausführliche Beschreibungen von bestimmten europäischen Orten, an denen sich diese zunächst abstrakt bleibende Vorstellung von einem geistigen Europa auch in räumlicher Hinsicht konkretisieren lässt. Auch diese von Curtius häufig emphatisch beschworenen europäischen Räume sind repräsentativ für die literarischen Beziehungen zu Europa, um die es in der Folge in dieser Arbeit gehen soll: Sein Verständnis der burgundischen Abtei Pontigny als einem europäischen Mikrokosmos; die Schlüsse, die er aus der geographischen Randposition Spaniens zieht, und schließlich nicht zuletzt seine lebenslange Rombegeisterung sind beispielhaft für eine Reihe von räumlichen Fluchtpunkten innerhalb Europas, an denen die europäischen Schriftsteller immer wieder ihre Vorstellungen von dessen kulturellen Traditionen und Werten veranschaulichen. So werden im Sommer 1922 zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg die sogenannten Entretiens d’Été von Pontigny wieder aufgenommen – wie schon in den Jahren unmittelbar vor dem Krieg treffen sich europäische Schriftsteller, Intellektuelle und Politiker in der ehemaligen Abtei in Burgund, um sich auf Einladung des französischen Professors Paul Desjardins über zehn Tage hinweg in lockerer Atmosphäre auszutauschen: Die alten Mönche würden […] staunen, wenn sie ihr Haus wieder beträten, und würden es äußerlich verändert finden. […] Und dennoch! Der Grundton von Pontigny mit seiner vornehmen Spiritualität wahrt die Würde der Tradition. Denn was die Gäste hier zusammenführt, das ist eine freie Geistesgemeinschaft, die sich gebunden weiß nicht in irgendeinem politischen oder weltanschaulichen Bekenntnis, sondern in der lebendigen

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Robert Picht: Historische Erfahrung und humanistische Utopie. E. R. Curtius und die deutsch-französischen Beziehungen, in: Walter Berschin/Arnold Rothe (Hg.): Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, S. 153–165, hier S. 160. Ernst Robert Curtius: Zivilisation und Germanismus, S. 282. Ernst Robert Curtius: Deutsch-französische Kulturprobleme, S. 154.

Beziehung zu den Werten der europäischen Tradition, zu den geistigen Grundfragen unserer Epoche. […] Wie die wissenschaftlichen Kongresse wollen die ‹Entretiens d’Été› einen internationalen Treffpunkt schaffen, der Kennenlernen und Fühlungnahme für die Angehörigen verschiedener Nationen gestattet. Aber Organisation, Technik und Geist von Pontigny sind doch wieder ganz anders und sind etwas Eigentümliches. Nicht Fachmenschen treffen sich (seien es Gelehrte, Politiker oder Soziologen), sondern Menschen schlechthin. Die Lebensgemeinschaft, die Spaziergänge, die Einzelgespräche, die gemeinsamen Abendstunden, fern aller Großstadt-Unruhe, unmerklich durchwirkt von dem Eindruck großer Geschichte und friedvoll schöner Landschaft – das macht die Atmosphäre von Pontigny aus. Hier gibt es keine organisierte Belehrung, keine Kurse und Vorträge, kein Schema und keine Statuten. Ein geistiger Kosmopolitismus und eine freie und kritische Spiritualität bestimmen die Haltung der Teilnehmer. Es ist ein Austausch lebendiger Menschen, eine Freundschaft.51

Auf Vermittlung von André Gide ist Ernst Robert Curtius in diesem Sommer 1922 Gast in Pontigny, und er findet hier einen Rahmen vor, innerhalb dessen seine Vorstellung von einem freien Europa des Geistes tatsächlich schon Realität zu sein scheint: «Pontigny ist ja ein Europa im kleinen, ein europäischer Mikrokosmos.»52 Was Curtius an diesem Europa im kleinen besonders hervorhebt, betrifft nun wieder die Ebene der persönlichen Kontakte und Berührungen – auch von den Tagen in Pontigny bleiben ihm vor allem die «europäische[n] Gespräche» in Erinnerung, die dort geführt werden,53 auch hier betont er besonders, man erweitere in diesen Gesprächen beständig den Kreis seiner Freunde.54 Dabei spielt nun sein Text immer mit den gegenläufigen Mustern von Individualität und Gemeinsamkeit einerseits, von Fremdheit und Vertrautheit andererseits – ausgehend von deren Zusammenspiel, dem Aufgehen der Individualität in der Gemeinschaft und der allmählichen Ersetzung der Fremdheit durch eine innigere Vertrautheit arbeite man in Pontigny an «einer geistigen Lebensgemeinschaft unserer Zeit».55 An Curtius’ Beschreibung dieser immer nur auf die kurze Zeit von zehn Tagen realisierten internationalen Gemeinschaft fällt nun auf, dass sie bewusst auf die Unterstützung durch die Geschichte und die geographische Lage des Ortes Pontigny setzt. Der «Eindruck großer Geschichte und friedvoll schöner Landschaft», den er in der zitierten Passage betont, wird vor allem deshalb angeführt, weil er die Gemeinschaft von Pontigny zugleich in den ihr und dem geistigen Europa angemessenen Rahmen setzt. So betont Curtius besonders den historischen Charakter des Ortes Pontigny als Asyl und als Rückzugsort: «Das war seine Tradition: Pons exulis, hortus, asylum, sagt ein Wahlspruch von 1250.»56 Das ganze Mittelalter hindurch, so hebt er

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Ernst Robert Curtius: Pontigny, in: Ders.: Französischer Geist im Neuen Europa, S. 327– 344, hier S. 330–331. Vgl. zu den Entretiens von Pontigny allgemein Anne HeurgonDesjardins: Paul Desjardins et les décades de Pontigny, Paris: Presses universitaires de France 1964; und François Chaubet: Paul Desjardins et les décades de Pontigny, Villeneuve d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion 2000. Ernst Robert Curtius: Pontigny, S. 341. Ebd., S. 338. Vgl. ebd., S. 341. Ebd., S. 329. Ebd.

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hervor, habe das Kloster Bischöfen und Herrschern als Zuflucht gedient – und man kann daraus folgern, dass die Gastfreundschaft der früheren klösterlichen dabei der Offenheit der heutigen intellektuellen Gemeinschaft entspricht. Diese Funktion des Ortes ist gerade vor dem Hintergrund von Curtius’ eigenem Gefühl der Heimatlosigkeit bemerkenswert – hier in Pontigny, so suggerieren es sein Text und dessen historische Verweise, kann das Gefühl des lebenslangen Exils in den Erlebnissen der Freundschaft, der Gastlichkeit und des Austauschs zumindest auf eine bestimmte Zeit ausgesetzt werden. Die «klösterliche[…] Zurückgezogenheit» von Pontigny,57 die ihm in diesem Zusammenhang so wesentlich erscheint, ist dabei auch auf die konkreten räumlich-geographischen Umstände zurückzuführen, die diesen Ort kennzeichnen: Pontigny ist ein kleines Dorf in Burgund. Es liegt an dem umbuschten, murmelnden Serein in einer Landschaft, die mit ihren Wiesen, hohen Baumgruppen und Waldstücken manchmal an bukolische Dekors von Poussin erinnert. Eine alte Steinbrücke, die noch heute dem Verkehr dient, hat dem Ort seinen Namen gegeben. Reiches Korn- und Rebland dehnt sich bis zum wälderbegrenzten Horizont aus.58

Aus diesen Wiesen heraus, so zitiert Curtius in der Folge aus einem amerikanischen Buch über Frankreich, könne man den «Blick zurückwenden nach jener fernen Zeit, wo es keine Mauern zwischen den Nationen gab...».59 Und tatsächlich setzt auch er selbst schon mit seiner einleitenden Beschreibung des burgundischen Dorfes und vor allem mit ihren bukolischen Versatzstücken bewusst auf den Gedanken der Verbindung: Nicht umsonst wird in der kurzen Passage besonders die Brücke hervorgehoben, die dem Ort seinen Namen gegeben hat. Darüber hinaus erscheint Pontigny aber besonders im Zusammenhang mit seiner Funktion als Zufluchtsort als ein umgrenzter Raum, dessen innere Offenheit gerade durch seine Grenzen nach außen erst ganz realisiert werden kann. Vor allem der Garten des Klosters spielt dabei eine besondere Rolle – hier liest man vormittags zusammen Gedichte von George, hier tauscht man sich nachmittags auf gemeinsamen Spaziergängen aus. «Lebensformen und Geistigkeit waren zu vollkommener Einheit durchdrungen»60 – in diesem Satz findet sich der Kern dessen, was den Ort Pontigny für Ernst Robert Curtius so außergewöhnlich machen musste. Eine solche Einheit von Lebensformen und Geistigkeit sucht Curtius im Laufe seines Lebens immer wieder, und er findet sie tatsächlich an verschiedenen Orten in Europa realisiert. Er, der von sich selbst sagt: «Überhaupt empfinde ich immer

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Ebd., S. 331. Ebd., S. 327. Ebd., S. 328. Ebd., S. 336. Später äußert er sich allerdings teilweise auch sehr desillusioniert: «Je ne supporte plus les parlottes, ni le jeu de se mettre en commun pour penser, ni surtout de penser par ‹causeries›. – Je n’attends plus grand chose, pour moi, de Pontigny,» schreibt er schon Ende der zwanziger Jahre (Ernst Robert Curtius an Catherine Pozzi, 26.08.1929, in: Ders.: Lettres à Catherine Pozzi (1928–1934), présentées et annotées par Lawrence Joseph, in: Jeanne Bem/André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S.329–392, hier S. 351).

mehr, daß Raumeindrücke zu mir weitaus am stärksten sprechen»,61 versucht so, seine Vorstellung von Europa an bestimmten geographischen Fixpunkten oder in bestimmten räumlichen Fluchtlinien innerhalb des Kontinents nachvollziehbar zu machen. In diesem Zusammenhang ist Spanien das Land, dessen geographische Randposition in Bezug auf Europa es auf der einen Seite immer wieder gerade im Hinblick auf seine geistige Entwicklung von diesem trennt, dessen Bezug zu den abendländischen Traditionen und Überlieferungen aber auf der anderen Seite gerade durch diese räumliche und geistige Trennung intensiver ist, als in anderen, zentraleren europäischen Ländern. «Spanien ist geographisch und geistig das exzentrische Land»,62 schreibt Curtius einerseits; aber andererseits betont er in besonderer Weise das Fortleben der antiken römischen Tradition in Spanien und vor allem in der spanischen Literatur.63 Gerade ausgehend von dieser Wahrnehmung Spaniens als einem Raum, der außerhalb der zentraleuropäischen Zusammenhänge steht, entwickelt Curtius eine Vorstellung von der unabdingbaren Notwendigkeit des Landes für eine integral verstandene europäische Kultur – ein Aspekt, der auf ähnliche Weise auch die Auseinandersetzung von Miguel de Unamuno mit dem Verhältnis zwischen seinem Heimatland Spanien und Europa als übergeordneter Größe prägt.64 Die römisch-antike Fluchtlinie, die Curtius in Bezug auf Spanien so deutlich hervorhebt, hat nun ihrerseits eine besondere Bedeutung für sein Verständnis von den räumlichen Konstellationen in Europa: Im Wesentlichen beschränkt sich sein Bild von diesem Europa geographisch auf den Raum, der innerhalb der Grenzen des ehemaligen römischen Imperiums liegt, und es ist insofern kein Zufall, dass die Romania für ihn den Kern Europas bildet.65 Das Zentrum dieses römisch-

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Ernst Robert Curtius: Italienische Eindrücke II, in: Ders.: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der ‹Luxemburger Zeitung› (1922–1925), S. 104–108, hier S. 105. Ernst Robert Curtius: Einführung, in: José Ortega y Gasset: Die Aufgabe unserer Zeit, Stuttgart 1934, S. 7–21, hier S. 21. Vgl. Ernst Robert Curtius: Vorwort zu einem Buche über das Lateinische Mittelalter und die Europäische Literatur, in: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 438–443, hier vor allem S. 440. Vgl. zu Curtius’ Spanienbild im allgemeinen Rafael Gutiérrez Girardot: Ernst Robert Curtius als Hispanist, in: Wolf-Dieter Lange (Hg.): «In Ihnen begegnet sich das Abendland». Bonner Vorträge zur Erinnerung an Ernst Robert Curtius, S. 217–227; und Manuel C. Díaz y Díaz: Imagen de España en E. R. Curtius, in: Walter Berschin/Arnold Rothe (Hg.): Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, S. 195–205. Vgl. dazu Kapitel 2.2 Miguel de Unamuno: Europa als das Andere Spaniens. Auch Curtius’ Vorstellung von einer Zweiteilung Deutschlands in einem nördlichen und einen südlichen Teil findet hier ihre Erklärung: Der jenseits des Limes gelegene Norden wird im Vergleich immer als weniger europäisch als der entlang des Rheins sich erstreckende südliche Teil gekennzeichnet (vgl. etwa Ernst Robert Curtius: Eine Deutung der deutschen Romantik, in: Ders.: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der ‹Luxemburger Zeitung› (1922–1925), S. 81–86). Die osteuropäischen und slawischen Länder werden aus demselben Grund ausdrücklich aus Europa ausgeschlossen: Curtius stellt sie stattdessen immer wieder als gefährlichen Gegenpol zum europäischen Geist dar – etwa in Deutscher Geist in Gefahr, wo es ausdrücklich heißt: «Wer ihn [den

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romanischen Europas muss notwendig die Ewige Stadt selbst darstellen: Rom bleibt der eigentliche Fluchtpunkt von Curtius’ europäischen Überlegungen. Rom ist für ihn zugleich Sehnsuchtsort und geistige Heimat, es ist historischer Ausgangspunkt und mythisches Ziel Europas. «Rom war seit meinem ersten Besuch, 1912, die Stadt meiner Seele geworden»,66 schreibt er an Jean de Menasce, um vor diesem Hintergrund seine Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter als eine «Polarisierung um die Roma aeterna» zu beschreiben: Es war als wäre ein Riegel gesprengt, ein Tor durchgebrochen. Ich konnte das geliebte und heilige Rom als Leitstern meines Forschens und Sinnens wählen. Besser gesagt: es wählte mich, den Deutschrömer.67

Die Stadt und die Idee Rom stehen dabei immer für «die grösste historische Gestaltung des Universalen»,68 und sie sind insofern grundsätzlich zu unterscheiden von der modernen italienischen Kultur: «Ich empfinde Romanität (Rom & Römertum) und italianità als 2 ganz verschiedene Dinge.»69 In dieser Unterscheidung findet auch die Selbstcharakteristik als «Deutschrömer» ihre Erklärung: «[J]eder Deutsche, der durch Goethe und Ranke gebildet wurde», sei «auch ein Römer – aber beileibe kein Italiener.»70 Im Vordergrund dieser Idee von der Stadt Rom als Verkörperung der Universalität schlechthin stehen ihre überzeitlichen Werte, wie sie schon von Goethe, Ranke und Burckhardt nach Deutschland vermittelt wurden. Insofern geht es Curtius also weniger um moderne Nationalcharaktere als vielmehr um ideengeschichtliche Traditionen: S’il choisit en effet intellectuellement la citoyenneté romaine, la perspective romaine comme base de sa réflexion, c’est qu’il voit en Rome le lieu où l’héritage antique est le mieux conservé, celui où il trouve son plus grand accomplissement.71

Hier wie so oft bei Curtius lässt sich die Geographie nicht von der Kultur trennen – in der Stadt Rom wird zwar das Zentrum der europäischen Kultur geographisch lokalisiert, aber in der Idee Rom gleichzeitig nichts weniger als ihr Wesen definiert. Gerade weil Rom aber nicht allein ein geographischer Ort, sondern zugleich mythisch und spirituell aufgeladen ist, kann Curtius’ «pensée spatialisante»72 von Europa hier ihre Verankerung finden. In dem Umstand, dass Rom vor allem in der

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deutschen Geist] vom Westen und vom Süden löst, treibt ihn in den Osten und das heißt, in den Untergang.» (Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, S. 50). Ernst Robert Curtius an Jean de Menasce, 22.12.1945, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I (Hervorhebung im Original). Ebd. Ernst Robert Curtius an Karl Eugen Gass, 29.05.1942, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I. Ebd. Ebd. Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 227. Harald Weinrich: La boussole européenne d’Ernst Robert Curtius, in: Jeanne Bem/André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S. 307–317, hier S. 307.

zweiten Hälfte seines Lebens zur intellektuellen und geographischen ‹Wahlheimat› für Curtius wird, bestätigt sich deshalb die Diagnose von Christine Jacquemardde Gemeaux, die seine geographischen Repräsentationen von Europa als immer von Rom ausgehende und sich um Rom herum anordnende konzentrische Kreise beschreibt.73 Insofern sie sich so um die Stadt Rom herum organisieren, implizieren Curtius’ räumliche Vorstellungen von Europa eine gewisse Dynamik, wie sie sich auch schon in seiner Betonung der elsässischen Spannung gezeigt hatte – Curtius’ Europa und seine Grenzen sind beweglich, so wie auch die Romidee im Laufe der Jahrhunderte immer beweglich gewesen ist. An verschiedenen Stellen seines Werkes setzt er sich deshalb mit dem Gedanken der translatio imperii auseinander: So suggeriert er in seiner Einführung in Die französische Kultur, das moderne Frankreich habe die Romidee gleichsam annektiert, und infolgedessen setze sich auch in Frankreich «spätantike Lebenssubstanz» fort.74 Auch wenn auf diese Art und Weise die Substanz dessen, was Rom für ihn ausmacht, häufig nicht mehr unmittelbar an den konkreten Ort Rom gebunden sein muss, bleiben es zuletzt doch vor allem dieser Ort und seine spezifische Räumlichkeit, denen die quasimythische Bedeutung eines europäischen Zentrums und Ursprungs zugeschrieben wird. Diese Bedeutung findet vor allem in der sinnfälligen Verbindung von Raum und Zeit Ausdruck, wie Curtius sie beispielsweise einer Beschreibung seiner ersten Begegnung mit Romain Rolland 1912 in Rom zugrundelegt. Hier wird die Stadt zum einzig angemessenen Hintergrund für diesen Auftakt einer Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich einig wissen in ihren Bemühungen um ein «neues Europa».75 Dieser Gedanke von einem neuen Europa, den er mit Rolland teilt, fügt sich ausdrücklich «ein in die größere Harmonie von dreitausend Jahren abendländischer Geschichte»;76 und die Zeit materialisiert sich gewissermaßen im Anblick der Ewigen Stadt. Diese wird dadurch zum europäi-

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Vgl. Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 335. Hier heißt es ausdrücklich: «L’Italie, symbolisée par Rome, deviendra par la suite pour lui le cœur de l’Europe.» Ernst Robert Curtius: Die französische Kultur. Eine Einführung, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1930, S. 7. Vgl. zu dem Gedanken der translatio imperii Werner Goez: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen: Mohr 1958; Ulrike Krämer: Translatio imperii et studii: zum Geschichts- und Kulturverständnis in der französischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bonn: Romanistischer Verlag 1996, und Barbara Vinken: Du Bellay und Petrarca: das Rom der Renaissance, Tübingen: Niemeyer 2001. Der Gedanke der translatio imperii wird nicht zuletzt auch für die Vorstellungen prägend sein, die Victor Hugo von Europa entwickelt (vgl. Kapitel 2.3.1 Victor Hugo: Frankreich als Zentrum der Zivilisation). Vgl. Ernst Robert Curtius: Rückblick 1952, in: Ders.: Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert, S. 515. Vgl. zu Curtius’ Beziehung zu Romain Rolland Bernard Duchatelet: La correspondance Curtius – Romain Rolland, in: Jeanne Bem/André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S. 145–165. Ernst Robert Curtius: Rückblick 1952, S. 515.

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schen Erinnerungsort schlechthin.77 So zitiert Curtius aus einem Brief, den Rolland ihm nach dieser ersten Begegnung geschrieben hat: C’est de ces collines romaines qu’on embrasse le mieux le spectacle de notre Occident, et que nos nations divisées se fondent toutes en une harmonie pareille à celle qu’offre Rome, vue, le soir, du haut du Janicule.78

In dieser Parallelisierung der bereits bestehenden Harmonie der Stadt, auf die man von den Hügeln herabblickt, mit der noch zu schaffenden Harmonie der europäischen Nationen, die von beiden, von Curtius und Rolland, ebenfalls von einer erhöhten Warte aus betrachtet werden,79 wird auch Rom zu einem europäischen Mikrokosmos, in dessen Geschichte sich die ganze europäische Geschichte abbildet: «Hier möchte man Monate und Jahre verbringen, um im Mikrokosmos Roms den Makrokosmos der Weltgeschichte zu studieren.»80 Das, was Curtius selbst seine «grosse beglückende Rom-Bezauberung» nennt,81 ist also durchaus vielschichtig: In Rom findet der Nordländer die südliche Sonne,82 der Exilierte eine Heimat,83 der Historiker einen Ursprung, der Romanist die literarische Tradition und deshalb nicht zuletzt Europa einen Ankerpunkt: Avec Rome, Curtius a trouvé à la fois le point géographique et l’espace spirituel et temporel qui matérialisent cette représentation de l’Europe qu’il poursuit depuis toujours: Rome est tout simplement le ‹lieu› qui met un terme à son exil.84

Dennoch (und trotz dieser expliziten Festlegungen auf bestimmte räumliche Konkretisierungen von Europa) geraten Curtius’ Überlegungen in Bezug auf dieses Europa und sein Wesen doch immer wieder an einen Punkt, an dem sie allem Anschein nach nicht mehr auf der rein diskursiven Ebene formuliert werden können. An diesem Punkt beginnt er deshalb zusätzlich, seinen Vorstellungen von Europa in Form von einer Reihe von starken Metaphern Ausdruck zu verleihen und Europa dadurch als einen immer auch mit literarischen Mitteln einzugrenzenden Raum zu entwerfen.85

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Vgl. zum Konzept der Erinnerungsorte Pierre Nora: Les lieux de mémoire, Paris: Gallimard 1984. Ernst Robert Curtius: Rückblick 1952, S. 516. Nicht umsonst situiert sich Rolland während des Ersten Weltkrieges «au-dessus de la mêlée». Vgl. Romain Rolland: Au-dessus de la mêlée, Paris: Ollendorff 811917. Ernst Robert Curtius: Italienischer Herbst, in: Ders.: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der ‹Luxemburger Zeitung› (1922–1925), S. 121–124, hier S. 123. Ernst Robert Curtius an Gertrud Bing, 14.01.1935, in: Dieter Wuttke (Hg.): Kosmopolis der Wissenschaft. E. R. Curtius und das Warburg Institute. Briefe 1928–1953 und andere Dokumente, Baden-Baden: Koerner 1989, S. 63. So spricht Curtius vom «nördliche[n] Katzenjammer», der ihn auf der Rückreise von Rom befallen habe (Ernst Robert Curtius an Gertrud Bing, 14.01.1935, ebd., S. 63). Außerhalb Roms lebe er in der «Verbannung», schreibt Curtius an Gertrud Bing (ebd.). Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 380. Die Bedeutung dieser Metaphern im Werk von Ernst Robert Curtius ist zum ersten Mal von Christine Jacquemard-de Gemeaux hervorgehoben worden. Sie spricht von

1.4

Über Europa sprechen: Insel, Garten, Reise

In einem Zusammenhang, in dem es zwar immer um den geographisch definierten Raum Europa, mehr jedoch um ein kulturelles Verständnis desselben geht, ist auffällig, dass Ernst Robert Curtius trotzdem vor allem räumliche Metaphern verwendet, wenn er über Europa spricht: Die Insel, der Garten und die Reise – diese Motive kehren in seiner Auseinandersetzung mit Europa immer wieder,86 und wenn sie von ihm immer wieder in einem metaphorischen Sinne verwendet werden, dann ist das vor allem im Kontext seines lebenslangen europäischen Exils zu verstehen. Auch wenn Curtius in Rom einen geographischen Ort und eine kulturelle Idee findet, in denen sein Exil zu einem Abschluss zu kommen scheint, so zeigt doch die Insistenz, mit der er in demselben Zusammenhang immer wieder auf die metaphorischen Räume der Insel, des Gartens und der Reise zurückkommt, dass der Stillstand der Bewegung kein endgültiger sein kann. Erst auf der metaphorischen Ebene kann sein Exil schließlich wirklich aufgehoben werden. Die drei Metaphern von der Insel, dem Garten und der Reise stehen dabei jeweils für einen bestimmten Raum oder eine Bewegung innerhalb Europas, und in jeder Metapher drücken sich dadurch wesentliche Momente von Curtius’ Beziehung zu Europa aus. Den Anfang mag dabei diejenige vom Garten bilden – eine Metapher, die von Curtius häufig auch mit seinen eigenen elsässischen Anfängen in Verbindung gebracht wird. So ist eine seiner frühesten Veröffentlichungen ein Text über seine elsässische Heimat, der bezeichnenderweise in einem Sammelband mit dem Titel Der elsässische Garten (1912) in Straßburg erscheint. Im Geleitwort der Herausgeber zu diesem Band heißt es: Wir wollen der Welt in diesem Buch ein ruhiges Elsaß zeigen, ein Elsaß als Land der Schönheit und des Friedens, ein altes Kulturland, das in seinem Volkstum Schätze birgt, von denen wir hier nur eine kleine Andeutung geben können. ‹Hortus deliciarum›, Wonnegarten, war jenes Werk der Hohenstaufenzeit genannt, aus dem sich die Schülerinnen der Äbtissin Herrad von Landsberg in Wort und Bild belehrten. ‹Quel beau jardin› – Welch ein schöner Garten – rief Ludwig XIV., als er vom Gebirge her sein neu gewonnenes Land überschaute. So haben wir dieses Sammelbuch neu-elsässischer Art und Kunst in Anlehnung an jene berühmten Worte den ‹elsässischen Garten› genannt.87

Diesem Programm folgend blickt Ernst Robert Curtius in seinem Beitrag zu diesem elsässischen Garten von einer Burghöhe in den Vogesen herab in die Ebene, die

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einem «‹réseau› d’images qui se répondent constamment» und betont dessen Bedeutung für Curtius’ Auseinandersetzung mit Europa (Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 393). Auf die Bedeutung der Metaphern von der Insel und dem Garten für Curtius hat auch Christine Jacquemard-de Gemeaux hingewiesen; darüber hinaus erwähnt sie das «Paradies», das meiner Auffassung nach aber bereits in der Metapher vom Garten mit enthalten ist. Die Reise und die in diesem Bild implizierte Bewegung lässt Jacquemard-de Gemeaux dagegen außer acht (vgl. Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 6 und S. 393). Friedrich Lienhard/Hans Pfitzner/Carl Spindler (Hg.): Der elsässische Garten. Ein Buch von unsres Landes Art und Kunst, Straßburg 1912, S. 1.

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er als «ein buntes Muster von Äckern, Obstgärten, Dörfern und Wäldern» beschreibt, «in der duftigen Ferne begrenzt durch den silberschimmernden Rhein.»88 Der elsässische Garten, wie er hier erscheint, ist ein Garten im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Im wörtlichen, wenn man wie Curtius seine Schönheit, seine Fruchtbarkeit und den Reichtum seiner Felder und Weinberge hervorhebt; im übertragenen, wenn man wie Ludwig XIV. diesen landwirtschaftlichen Reichtum als Sinnbild für den kulturellen Reichtum der ganzen Gegend und diese dadurch als eine abgeschlossene Einheit innerhalb eines größeren Ganzen betrachtet. Der nach außen hin abgeschlossene Garten fordert, wenn man ihn so versteht, nicht zuletzt auch wieder deutliche Grenzziehungen, die ihn von dem Raum ‹außerhalb› trennen.89 Der metaphorisch verstandene Garten setzt aber nicht nur eine solche Abgeschlossenheit und klare Umgrenztheit voraus – ein Garten muss darüber hinaus immer und auch dann, wenn es sich um einen von der Natur so privilegierten Raum wie das Elsass handelt, gepflegt und fruchtbar gemacht werden. Der Metapher vom Garten ist also zugleich auch schon ein gewisser Gedanke von Nutzbarmachung und insofern von Kultur inhärent. Auch wenn Curtius’ Gartenbeschreibungen stets eine gewisse Nähe aufweisen zu dem ältesten Modell für den Garten, dem Paradiesgarten nämlich, so entbindet diese Begünstigung des Ortes seinen Bewohner oder Besitzer dennoch nicht von seinen gärtnerischen Pflichten. Immer wieder betont Ernst Robert Curtius in diesem Kontext die spezifisch romanische Form des Gartens, die sich im Unterschied zu den Gärten des Nordens durch ihre Verschränkung von Nützlichem und Schönem auszeichne – die Schönheit südlicher Landschaft und Gärten sei etwas Natürlicheres als diejenige der nördlichen Gärten, die immer mehr auf einer «Schöpfung des Willens oder des Traums» beruhen müsse.90 An diesem Beispiel wird deutlich, wie Curtius seine Metaphern für den europäischen Raum immer aus der konkreten Anschauung heraus gewinnt, um sie dann in einem übertragenen Sinne umzudeuten und für seine Thesen zu Europa fruchtbar zu machen: Hier wird der direkte Vergleich von südlichen mit nördlichen Gärten zum Anlass für Schlussfolgerungen, die die konkreten Gärten und Pflanzungen schnell hinter sich lassen, um zu allgemeinen Aussagen über die kulturellen Unterschiede innerhalb Europas zu kommen. «Denn wenn ich mich prüfe, ist ein schöner Garten unter allen menschlichen Werken doch das, was mir das reinste Glück gewährt»91

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Ernst Robert Curtius: Elsaß!, in: Friedrich Lienhard/Hans Pfitzner/ Carl Spindler (Hg.): Der elsässische Garten. Ein Buch von unsres Landes Art und Kunst, S. 4–5, hier S. 5. Der Garten, so wie Curtius ihn beschreibt und wie er der Metapher vom ‹elsässischen Garten› zugrunde liegt, hat immer auch Ähnlichkeit mit dem klassischen Topos vom ‹locus amoenus›, dem Curtius unter anderem in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter ein Kapitel widmet. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, besonders S. 199–206. Vgl. zu diesem Verständnis des Gartens auch die Bemerkungen zu Pontigny und seinem Klostergarten im Kapitel 1.3 Fluchtpunkte: Räumliche Konkretisierungen des geistigen Europas. Ernst Robert Curtius: Deutsch-romanische Glossen, in: Ders.: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der ‹Luxemburger Zeitung› (1922–1925), S. 62–66, hier S. 64. Ernst Robert Curtius: Italienische Eindrücke III, ebd., S. 109–112, hier S. 109.

– vor dem Hintergrund der ständigen Verschränkung von konkreter Anschauung und metaphorischem Mehrwert gewinnt auch diese Affirmation von Ernst Robert Curtius eine Bedeutung, die über die unmittelbare hinausreicht. Dass der Garten hier ausdrücklich unter Betonung seines gewissermaßen ‹künstlichen Charakters› als ein Werk des Menschen beschrieben wird, ist dabei nur umso auffälliger. Der Garten fungiert so nicht nur als immer neuer Anlass für Curtius’ Überlegungen zu Europa, sondern er ist auch Modell für dieses Europa selbst: Auch Europa ist in seinen Augen reich und fruchtbar und gegenüber einem als anders empfundenen ‹Außen› abgeschlossen, und auch Europa lässt sich nur durch bewusst eingesetzte Maßnahmen überhaupt erst kultivieren. Trotz dieser scheinbaren Klarheit ist dem Garten bei Curtius aber immer eine gewisse Ambivalenz eigen, die allen allzu eindeutigen Festschreibungen entgegenläuft. So taucht die Metapher beispielsweise auch immer wieder im Zusammenhang mit europäischen Teilregionen auf, die dadurch in Abgrenzung von anderen beschrieben werden – das Elsass kann hier als Beispiel dienen,92 aber auch über Italien wird gesagt, es sei «der lachende Garten Europas».93 Hier steht der Garten nicht für Europa als Ganzes, sondern immer nur für einen kleinen und begrenzten Teil des Kontinents. Dennoch wird die Bedeutung der Metapher vom Garten für Curtius’ Konzeptionen von Europa auch in diesem Kontext deutlich: Es lässt sich stets eine Verbindung herstellen zwischen der Metapher einerseits und einer Aussage über Europa andererseits – auch dann, wenn diese Aussage über Europa wie in dem Beispiel von Italien als lachender Garten Europas nur sehr vermittelt erscheint. Das metaphorische, uneigentliche Sprechen wird so zunehmend zu der Form, die Ernst Robert Curtius am besten dazu geeignet zu sein scheint, auch seinen direkteren Aussagen über Europa und seine Kultur Gewicht zu verleihen. Genauso lässt sich das für die Metapher von der Insel belegen, der innerhalb seines Werkes ein ähnlicher Stellenwert zukommt wie derjenigen vom Garten. Auch die Insel ist ein Modell der Abgeschlossenheit und der klaren Grenzen; und entsprechend werden auch mit dieser Metapher vor allem Räume beschrieben, die sich durch eine solch eindeutige Begrenztheit nach außen auszeichnen.94 Dass

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Das Beispiel des Elsass kann dabei zugleich selbst ambivalent sein – Curtius verbindet mit der Metapher vom elsässischen Garten nämlich nicht nur Fruchtbarkeit und Abgeschlossenheit, sondern auch eine Form der Hybridität, die er selbst zwar als positiv beschreibt, von der er aber weiß, dass sie keineswegs immer so empfunden wird. So schreibt er über die deutsche Haltung zum Elsass: «Man betrat den ‹elsässischen Garten› nicht, in dem eben auch allerhand fremdländisches Gewächs stand.» (Ernst Robert Curtius: Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Hildesheim: Olms 21962, S. IV). Ernst Robert Curtius: Italienischer Herbst, in: Ders.: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der ‹Luxemburger Zeitung› (1922–1925), S. 121–124, hier S. 121. Die Möglichkeit zur Einsamkeit, die die Insel auf diese Weise bietet, gewinnt insofern an Bedeutung, als Curtius immer wieder betont, wie wichtig ihm solche Rückzugsmöglichkeiten sind. So schreibt er an Catherine Pozzi explizit: «J’ai toujours rêvé d’un lieu inaccessible, propice au recueillement.» (Ernst Robert Curtius an Catherine Pozzi, gestempelt am 16.05.1929, in: Ders.: Lettres à Catherine Pozzi (1928–1934), S. 342).

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die Insel darüber hinaus aber mehr als der Garten immer auch das Modell für eine spezifische Kommunikationsleistung darstellt, lässt sich an Hand zahlreicher Beispiele belegen – beides, die Abgeschlossenheit und die Offenheit, bedingt sich dabei gegenseitig.95 Vor allem diese kommunikative Funktion der Insel ist es, die für Curtius’ Entwurf von einem Europa des intellektuellen Austauschs und des Gesprächs, für seine Vorstellung von einer europäischen république des lettres von besonderem Interesse ist. Es ist insofern kein Zufall, dass Ernst Robert Curtius besonders einen Ort als eine ‹Insel› in diesem übertragenen Sinne beschreibt: das luxemburgische Colpach, wo er häufig im Haus seiner Freundin Aline Mayrisch und ihrer Familie zu Gast war.96 «Luxemburg ist eine Insel, und Colpach ist eine zweite Insel in der ersten»,97 so schreibt er in einem Brief aus dem Jahr 1936, und betont auch hier die doppelte Rolle, die diese Insel für ihn spielt: Zum einen genieße er die Ruhe und Zurückgezogenheit, die sie ihm gewährt, zum anderen aber auch die Möglichkeiten des Gesprächs und des Austauschs. Das wird für Curtius nun vor allem in jenen Jahren wichtig, in denen die offene Kommunikation auf europäischer Ebene nicht mehr selbstverständlich sein konnte. So dienen ihm Luxemburg und das Haus der Mayrischs vor allem in den Jahren von 1933 bis 1945 immer wieder als Ziel seiner kleinen Fluchten aus Deutschland, denn hier ist nicht nur der persönliche Kontakt mit den Colpacher Freunden selbst möglich, sondern auch der briefliche mit all denjenigen Freunden in Europa, die von Deutschland aus wegen der Zensurbeschränkungen längst nicht mehr zu erreichen waren. Auch der Satz über die Inselhaftigkeit von Luxemburg steht insofern in einem bezeichnenden Zusammenhang: «Wie praktisch, daß Ihr Brief uns hier traf. Man antwortet leichter und unumwundener»,98 schreibt Curtius an Gertrud Bing in London. Mehr als um ihre Abgeschlossenheit geht es deshalb um die Offenheit der Insel, eine Offenheit, die das Festland (um im Bild zu bleiben) gerade in jenen Jahren des Nationalsozialismus nur allzu oft vermissen lässt. Vor allem während

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Christine Jacquemard-de Gemeaux dagegen sieht in diesem Zusammenhang keinen Unterschied zwischen Insel und Garten, sondern hebt vor allem die Gemeinsamkeiten der beiden Metaphern gerade im Zusammenhang mit Europa hervor: «L’Europe est donc pour lui indissociable du sentiment d’enracinement originel dans un espace particulier qui présente toujours de fortes similitudes, concrètes ou symboliques, sur le plan formel. Il s’agit à chaque fois d’un espace bien circonscrit, au relief mesuré, au découpage net et sans équivoque, de forme quasiment insulaire […]. Au-delà de la forme extérieure [c]e lieu est toujours un espace de culture qui, tout en entretenant une spécificité et une vitalité locale, se sait et se veut ouvert sur l’environnement immédiat: la perméabilité et la capacité de dialogue le caractérisent sans exception.» (Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 45). Vgl. zu Curtius’ Beziehungen zu Aline Mayrisch und ihrer Familie Cornel Meder: Curtius et les Mayrisch, in: Jeanne Bem/André Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, S. 21–38. Ernst Robert Curtius an Gertrud Bing, 24.03.1936, in: Dieter Wuttke (Hg.): Kosmopolis der Wissenschaft, S. 91–92. Ebd.

des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach gewinnen die europäischen Inseln deshalb für Curtius immer mehr an Bedeutung: So wird in seiner Korrespondenz aus dieser Zeit nicht nur Luxemburg, sondern auch die Schweiz als ein Raum beschrieben, dessen Inselhaftigkeit gerade in seiner Normalität im Vergleich zum Rest von Europa zum Ausdruck kommt.99 Curtius’ offensichtliche Vorliebe für die abgeschlossenen Räume des Gartens und der Insel lässt sich insofern nicht allein mit deren klar definiertem Charakter eines fest umgrenzten Territoriums erklären. Auch wenn diese Funktion der Insel und des Gartens als Rückzugsorte immer eine Rolle spielen mag – nicht umsonst hatte er ja im Falle von Pontigny betont, der Ort sei «Pons exulis, hortus, asylum»100 –, steht doch vor allem bei der Insel mehr auf dem Spiel: Car si l’île est d’abord l’espace clos de la totalité et, à ce titre, éminemment sécurisante, elle est aussi le lieu d’exploration, de la recherche, de l’aventure. Elle est surtout le lieu où l’imagination et l’utopie permettent d’annihiler ces ‹frontières› que Curtius a toujours cherché à dépasser.101

Dieses Verständnis von der Insel als utopischer Ort der Phantasie bindet den Gedanken von der von der Insel ausgehenden, grenzüberschreitenden Kommunikation wieder zurück an die Kultur und vor allem die Literatur, die im Zentrum von Curtius’ Vorstellung eines Europas des Geistes stehen. Beide Räume, die Insel und der Garten, sind deshalb für ihn nicht zuletzt auch immer spezifisch schöpferische Sphären, in denen sich dieses geistige Europa realisiert; und auch er selbst vollzieht mit seinen metaphorischen Annäherungen an diese Räume einen schöpferischen Akt, in dem Europa als ein vor allem literarisch zu erfahrender Raum kenntlich gemacht wird. Vor diesem Hintergrund ist deshalb auch die dritte der großen Metaphern zu verstehen, die im Zusammenhang mit Europa in Curtius’ Werk eine Rolle spielt: Etre libre, être indépendant, ne devoir ses comptes à personne – voilà ce que je voudrais. ‹Fuir! ah! Fuir plus au sud et vers un dépaysement plus total!› Vos livres me tiennent lieu des voyages que je ne puis pas accomplir,102

schreibt er zu Beginn eines Marburger Wintersemesters an André Gide – in einem Brief, in dem er Deutschland und seine eigenen akademischen Pflichten dort durchaus ein wenig kokett als uninspirierten Gegenpol zu all dem beschreibt, was

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«Wenn man aus dem heutigen Deutschland in die Schweiz kommt, dieses sonst so zahme Land, hat man das Gefühl, in ein tropisches Eldorado versetzt zu sein. Damit meine ich den bestürzenden und aufregenden Eindruck eines völlig normalen Landes», schreibt Curtius an Gertrud Bing (Ernst Robert Curtius an Gertrud Bing, 22.09.1947, ebd., S. 147). Ernst Robert Curtius: Pontigny, S. 329. Vgl. dazu auch Kapitel 1.3 Fluchtpunkte: Räumliche Konkretisierungen des geistigen Europas. Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 393. Ernst Robert Curtius an André Gide, 15.11.1922, in: Herbert und Jane M. Dieckmann (Hg.): Deutsch-französische Gespräche 1920–1950, S. 62.

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das Leben eigentlich ausmache. Die Reise, die bei Ernst Robert Curtius in den meisten Fällen eine Reise in den Süden ist, soll also diese im universitären Alltag fehlende Inspiration ausgleichen. Curtius’ lebenslanges Exil muss so immer auch als ein ‹Exil durch die Sesshaftigkeit› verstanden werden, und seine Sehnsucht nach dem Unterwegssein gewinnt vor allem dadurch an Gewicht, dass sie hier explizit in Beziehung zur Lektüre gesetzt wird. Die Reisen, die in der Wirklichkeit nicht stattfinden können, müssen in die Sphäre der Literatur verlegt werden. Aus der konkreten Sehnsucht nach dem Süden, mit der Curtius seinen Brief beginnt und in der er ein Gegenmodell zu seinem Alltag «dans ce pays froid et brumeux, sans amis, sans beauté» entwirft,103 wird so eine Sehnsucht im übertragenen Sinne. Die Reise, die den Reisenden nicht in eine reale, sondern nur in eine ausgedachte Fremde führt, die Reise mittels der Lektüre also, die als Ersatz für eine wirkliche Reise dienen soll, hat vor allem metaphorische Bedeutung: Dadurch, dass das ersehnte «dépaysement» hier zum eigentlichen Ziel der Lektüre wird, erhält diese eine zentrale Bedeutung im Zusammenhang mit der Frage nach der Bewegung und dem Raum – und auch mit derjenigen nach der Heimat bzw. dem Exil und der Heimatlosigkeit. Dadurch, dass die Lektüre, anders als die tatsächliche Bewegung im Raum, keinerlei Beschränkungen unterworfen ist, kann die lesend gewonnene Unabhängigkeit dauerhafter als diejenige sein, die auf einer wirklichen Reise erlangt wird. Das Motiv von der Reise, das sich hier in wenigen Zeilen von der konkreten auf die metaphorische Ebene verlagert, ist in Curtius’ literaturwissenschaftlichem Werk ebenso präsent wie in seinem tatsächlichen Leben. Häufig hat er zwar die Reisen, von denen er in dem Brief an André Gide nur träumen kann, tatsächlich vollzogen und war unterwegs nach Rom, nach Frankreich, in die Schweiz, nach Spanien. Noch häufiger aber hat er von solchen Reisen und allgemein von seiner Sehnsucht nach solchem Unterwegssein geschrieben. Anders als die Metaphern von der Insel und dem Garten, die sich jeweils auf bestimmte und begrenzte Räume innerhalb Europas oder auf dieses selbst beziehen, richtet sich diejenige von der Reise so auf eine Bewegung innerhalb dieses Raumes, die in weniger klaren Grenzen verläuft – hier findet tatsächlich jene Grenzüberschreitung statt, die Christine Jacquemard-de Gemeaux als eigentliches Ziel von Curtius’ Bemühungen ausgemacht hatte.104 Das moderne Reisen dient nicht dem Zweck des Sichunterrichtens über fremde Länder und Sitten, nicht der Kenntnisnahme von Merkwürdigkeiten, nicht dem Drang zu Abenteuern, nicht der Vollendung adliger Bildung – es dient einzig dem Bedürfnis, die Seele mit neuen Gefühlssubstanzen und Nervenschauern zu bereichern,105

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Ebd. Vgl. Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 393. Ernst Robert Curtius: Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, S. 63.

schreibt Ernst Robert Curtius in seinem Buch über Maurice Barrès, und vor diesem Hintergrund wird noch deutlicher, was die Metapher von der Reise im Zusammenhang mit Europa bedeuten kann: Es geht um ein «freiwilliges Sichentwurzeln»,106 wie Curtius wörtlich schreibt, also um eine grundsätzliche Offenheit für Eindrücke und um eine Beweglichkeit, die in der Tat nicht an konkrete Bewegungen im europäischen Raum gebunden sein muss – im Gegenteil: «Das Reisen ist die notwendige Lebensform des Analytikers», betont er, um unmittelbar im Anschluss anzufügen: «Auch wenn er niemals seine Zelle verließe, würde er der Reisende sein.»107 Als ein solcher Reisender im übertragenen Sinne hat Curtius sich selbst verstanden – das machen seine Bemerkungen aus dem Brief an André Gide sehr deutlich. Immer wieder fällt bei ihm in diesem Kontext auch das Wort vom «Pilger» oder der «Pilgerfahrt» – die Reise in diesem Sinne einer freiwilligen Entwurzelung ist bei ihm ausdrücklich immer auch «Heilssuche».108 Seine Beteuerung, die Bücher von André Gide ersetzten ihm das tatsächliche Reisen, gewinnt damit erneut an Bedeutung: Dadurch, dass die emphatische Heilssuche dessen, der sich selbst als «Analytiker» versteht, aus dem tatsächlichen Raum heraus in den metaphorischen Raum der Literatur verlagert werden kann, kommt dieser eine Schlüsselrolle bei den analytischen Erkundungsfahrten zu. Curtius selbst lässt an dieser Stelle offen, worin das so nachdrücklich gesuchte Heil denn bestehen mag – der Kontext, in dem seine Überlegungen stehen, legt es aber nahe, auch hier an Europa und dessen geistige Tradition zu denken. So erklärt Christine Jacquemard-de Gemeaux, die Beschäftigung mit der Literatur habe für Curtius immer den Charakter einer Suche nach einem «Geheimnis» gehabt, und sie betont: «Le mystère en question était celui de l’Europe.»109 Waren die Insel und der Garten zuvor als spezifisch schöpferische Sphären gekennzeichnet worden, so ist die Reise schließlich die uneingeschränkte Bewegung durch diese Gebiete der Kreativität und der Phantasie. Die räumlichen Metaphern von der Insel, dem Garten und der Reise gewinnen ihre eigentliche Bedeutung erst in diesem Zusammenhang mit der Erschließung eines Raumes, der nur als eine solche schöpferische Sphäre verstanden werden kann. In der Verwendung dieser Metaphern im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Europa realisiert Curtius

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Ebd., S. 64. Ebd., S. 63–64. Interessant ist hier, dass diese Überlegungen im Zusammenhang mit den Reisen von Maurice Barrès stattfinden – und dass in den Jahren um 1900 André Gide in demselben Kontext von Reise und Entwurzelung gerade Barrès zur Verkörperung eines Befürworters der Sesshaftigkeit und Gegners der Entwurzelung erklärt. Vgl. zu dieser Debatte zwischen Gide und Barrès Kapitel 6.1 André Gide: Europa als Schule des Individualismus. Vgl. etwa Ernst Robert Curtius: Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, S. 63–64; aber auch Ernst Robert Curtius an Gertrud Bing, wenige Tage vor Weihnachten 1936, in: Dieter Wuttke (Hg.): Kosmopolis der Wissenschaft, S. 109. Hier nennt Curtius sich selbst und seine Frau in Rom ausdrücklich «Pilger, die hier keine bleibende Statt haben». Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 206.

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seine Vorstellung von diesem Europa als einem sich immer geistig und vor allem literarisch definierenden Raum: Erst in seiner Literatur und im literarischen Sprechen wird Europa schließlich erfahrbar und mitteilbar; und erst dieses literarische Sprechen über Europa ermöglicht eine Aufhebung des konkreten ebenso wie des intellektuellen Exils, das seine Überlegungen zu Europa wesentlich bestimmt. Seine Versuche einer metaphorischen Annäherung an den Kontinent sind deshalb keineswegs einer Unfähigkeit geschuldet, diesen tatsächlich diskursiv ‹dingfest› zu machen – im Gegenteil: Die metaphorische und insofern auch literarische Annäherung ist diejenige, die einem Europa des Geistes und der Literatur am ehesten angemessen ist. Dabei ist zum Schluss neben der starken räumlichen auch die zeitliche Komponente zu erwähnen, die diese Annäherung an Europa auszeichnet: Ernst Robert Curtius, der sich in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter besonders auch mit der überlieferten Topik der Spätantike auseinandersetzt, verwendet seine räumlichen Metaphern nicht zuletzt auch im Sinne von mnemotechnischen Topoi zur europäischen Erinnerung: «Europa ist nur ein Name, ein ‹geographischer Ausdruck› (wie Metternich von Italien sagte), wenn es nicht eine historische Anschauung ist»,110 schreibt er, um daran anschließend eine «Europäisierung des Geschichtsbildes» zu fordern, die er auch auf die Literatur angewandt wissen möchte. Sein eigenes literaturwissenschaftliches Werk dient auf diese Art und Weise auch der Sicherung eines literarischen Gedächtnisses von Europa: Die ‹zeitlose Gegenwart›, die der Literatur wesensmäßig eignet, bedeutet, daß die Literatur der Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart stets mitwirksam sein kann.111

Wenn Curtius die Literatur in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter vor allem unter rhetorischen Gesichtspunkten untersucht, dann ist dieser Blick auf die europäische Topik in ihrer historischen Entwicklung besonders insofern interessant, als er eine Verbindung zwischen Raum und Zeit herstellt: L’art de la mémoire est […] un art de la spatialisation. Considéré sous cet angle, le grand ouvrage de Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, […] est une histoire plutôt spatiale que temporelle de la littérature européenne.112

Ernst Robert Curtius hat die Beziehung zwischen der Rhetorik und Europa, die sich in dieser Verschränkung von Raum und Zeit andeutet, nicht nur in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen der europäischen Literatur ausfindig gemacht, sondern er hat sie auch selbst in seinem eigenen Sprechen über Europa immer wieder aufs Neue realisiert: «Bien davantage qu’un simple outil, la rhétorique était

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Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 16. Vgl. zum Verhältnis von Metapher und Topos bei Curtius Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 268. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 25. Harald Weinrich: La boussole européenne d’Ernst Robert Curtius, S. 317.

[…] à ses yeux le moteur indispensable de la culture européenne.»113 Die Metaphern von der Insel, dem Garten und der Reise dienen ihm deshalb dazu, Europa seiner Existenz und seiner Einheit zu versichern – einer Einheit, die besonders in der gemeinsamen literarischen Tradition zum Ausdruck kommt: Die kulturelle Einheit eines politisch zerrissenen Europa aufzuzeigen, Europa als Einheit über der Vielfalt seiner Staaten und Sprachen, war für Curtius Aufgabe des Dichters wie des Kritikers. Als viele Philologen in den 1920er und 1930er Jahren den Rückzug in die Nationalphilologien antraten […], ging Curtius den entgegengesetzten Weg: von der Philologie Frankreichs in die Philologie des lateinischen Mittelalters als des gemeinsamen europäischen Erbes.114

In der Literatur (und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr) findet schließlich auf diese Weise die ideale Realisierung jenes europäischen Gesprächs über die Grenzen hinweg statt, das Ernst Robert Curtius immer gesucht hat. Vor diesem Hintergrund lässt sich deshalb auch die Vorgehensweise dieser Arbeit begründen: Wenn in der Folge die drei Curtiusschen Metaphern von der Insel, dem Garten und der Reise die grundsätzliche Struktur der Arbeit vorgeben, dann deshalb, weil sich im Rückgriff auf diese Metaphern die Konstruktionsprinzipien eines literarischen Europas aufzeigen lassen, wie es sich in den Werken der acht europäischen Schriftsteller Victor Hugo, Miguel de Unamuno, José Ortega y Gasset, Eugeni d’Ors, René Schickele, Heinrich Mann, André Gide und Klaus Mann manifestiert. Deren literarische Entwürfe von Europa stehen ebenso wie die literaturwissenschaftliche Metareflexion von Ernst Robert Curtius in einem Zusammenhang, in dem immer deutlich bleibt, dass Europa auch dann, wenn es in bestimmten geographischen Räumen exemplarisch dargestellt und mit konkreten politischen Zielsetzungen in Verbindung gesetzt wird, ein genuin literarischer Raum ist, der sich tatsächlich auch nur mit literarischen Mitteln beschreiben und erfassen lässt.115

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Christine Jacquemard-de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, S. 242. Rolf P. Lessenich: Der Philologie-Begriff bei Ernst Robert Curtius, in: Wolf-Dieter Lange (Hg.): «In Ihnen begegnet sich das Abendland». Bonner Vorträge zur Erinnerung an Ernst Robert Curtius, S. 85–97, hier S. 91. Vgl. allgemein zur Metapherntheorie Anselm Haverkamp: Einleitung in die Theorie der Metapher, in: Ders. (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 1–27.

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Insel: Victor Hugo und Miguel de Unamuno

Bereits im Vorwort zu seinem ersten Roman, Bug-Jargal (1826), entwirft Victor Hugo ein Muster, das sein gesamtes weiteres Werk, besonders aber die Texte aus seiner Exilzeit auf der Kanalinsel Guernesey, entscheidend prägen wird: dasjenige von der Komplementarität von Inseln und Kontinenten nämlich. Bug-Jargal handelt von der Revolte der schwarzen Sklaven gegen die Kolonialherren auf Haiti im Jahr 1791, und in seinem 1832 entstandenen Vorwort versucht Hugo, diesen Aufstand in räumlichen Kategorien zu fassen: trois mondes intéressés dans la question, l’Europe et l’Afrique pour combattants, l’Amérique pour champ de bataille.1

Tatsächlich spielt für Hugo die Frage nach den Kontinenten und ihren Begrenzungen schon in den Jahren unmittelbar nach der Veröffentlichung von Bug-Jargal insofern eine wichtige Rolle, als er damals beginnt, nach der idealen Verfasstheit des europäischen Kontinents zu fragen. Spätestens in den Texten aus seinen beinahe zwanzig Exiljahren aber gewinnt dann auch die Insel an Bedeutung: Sie ist nicht allein ein Zufluchtsort für den politisch Verfolgten, sondern immer mehr auch eine notwendige Ergänzung zur Ordnung der Kontinente. An Hand des Modells der Insel in Abgrenzung vom Kontinent gelingt es Victor Hugo so, seine Vorstellungen von Europa zu präzisieren: Seine Auseinandersetzung mit der Insel in ihrer doppelten Bedeutung von einer in sich geschlossenen Totalität einerseits und einem von einer anderen Größe abhängigen Fragment andererseits wird ihn in seiner Suche nach Antworten auf die Frage nach dem europäischen Kontinent und seiner Ordnung entscheidend beeinflussen. Die beiden Fassungen von Bug-Jargal (1820 und 1826) ebenso wie das später entstandene Vorwort stellen vor diesem Hintergrund sowohl einen Ausgangspunkt für Hugos Beschäftigung mit der Insel als auch für seine lebenslange Auseinandersetzung mit Europa dar,2 und seine Offenheit für Europa steht dabei in einem engen Zusammenhang mit einem grundsätzlichen Interesse an geopolitischen Fragen. Der Hugoforscher Franck Laurent nennt Victor Hugo deshalb einen «européen

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Victor Hugo: Bug-Jargal, in: Ders.: Œuvres Complètes Roman I, Paris: Laffont 1985, S. 275. Frauke Gewecke spricht in diesem Zusammenhang davon, Bug-Jargal sei in Bezug auf Hugos politische Entwicklung ein «texte-charnière». Vgl. Frauke Gewecke: Victor Hugo et la révolution haïtienne. Jacobins et jacobites, ou les ambiguïtés du discours négrophobe dans la perspective du roman historique, in: Mireille Calle-Gruber/Arnold Rothe (Hg.): Lectures de Victor Hugo, Paris: Nizet 1986, S. 53–65, hier S. 62.

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convaincu»,3 und diese Charakterisierung trifft in einem doppelten Sinne zu: Hugo beschäftigt sich nicht nur explizit in politischen Essays, Reden und Artikeln mit der europäischen Frage, sondern implizit weist auch sein rein literarisches Werk eine «grande diversité géographique» auf.4 Diese beiden Aspekte sind nun in einem Kontext relevant, in dem Europa immer zugleich als ein geographisch und als ein kulturell-politisch definierter Raum zu verstehen ist. Laurent betont deshalb zu Recht die enge Beziehung, die bei Hugo zwischen Geographie und Politik bestehe: La réflexion et l’imagination politiques de Victor Hugo ont entre autres caractéristiques celle de privilégier la géopolitique: chez lui […] toute analyse ou représentation des rapports du pouvoir […] rencontre, comme catégorie pertinente voire essentielle, la catégorie de l’espace dans toute sa déclinaison: nature et grandeur du territoire, état et signification des frontières, valeur et puissance historique du mouvement, qu’il s’agisse d’invasion ou de conquête, de circulation des biens, des personnes ou des idées.5

Hugos lebenslange Beschäftigung mit Europa setzt in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Zeitpunkt ein, zu dem die Ordnung des Kontinents nach den napoleonischen Kriegen eigentlich durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses hätte stabilisiert sein sollen. Dennoch nimmt Victor Hugo Europa als einen Raum wahr, dessen geopolitische Struktur durch den Wiener Kongress zwar politisch legitimiert sein mag, der aber gerade nicht geordnet, sondern im Gegenteil willkürlich organisiert und chaotisch ist. Noch Jahre später, 1842, schreibt er in der Conclusion seines Reiseberichtes vom Rhein, Le Rhin, knapp, aber deshalb nicht weniger explizit über den Zustand Europas in den Jahren nach dem Wiener Kongress: Le congrès de Vienne a posé des frontières sur les nations comme des harnais de hasard et de fantaisie, sans même les ajuster.6

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Franck Laurent: Le territoire et l’océan. Europe et Civilisation, espace et politique dans l’œuvre de Victor Hugo, Lille (Mikrofiche-Ausgabe) 1995, S. 6. Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 6. Franck Laurent: L’Europe dans l’œuvre de Victor Hugo avant l’exil: la politique des deux infinis, in: Revue des Sciences Humaines 231 (1993), S. 37–65, hier S. 37. Nicht zuletzt deshalb argumentieren viele literaturwissenschaftliche und historische Arbeiten zu einseitig, wenn sie Hugo zwar als einen frühen Vertreter des Europadiskurses im neunzehnten Jahrhundert zitieren, sich dabei aber ausschließlich auf diejenigen seiner Texte beziehen, die einen explizit politischen Anspruch formulieren. Zu einseitig sind diese Argumentationen nicht nur, weil sie Hugos literarisches Werk – seine Gedichte, Dramen und Romane – im Hinblick auf seine Lösungsvorschläge für die europäische Frage vernachlässigen, sondern auch, weil sie bei seinen politischen Absichtserklärungen – den Reden in der Académie Française und der Nationalversammlung beispielsweise – selten genug den jeweiligen institutionellen oder auch nur rhetorischen Kontext beachten, in dem eine bestimmte Äußerung erfolgt (vgl. zum Beispiel die kurzen Bemerkungen zu Victor Hugo in Ute Frevert: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 2003, S. 10 und S. 64). Victor Hugo: Le Rhin, Lettres à un ami, Conclusion, in: Ders.: Œuvres Complètes Voyages, Paris: Laffont 1987, S. 427. An anderer Stelle heißt es ausführlicher: «Dans le fatal remaniement de 1815 […] [l]e congrès a songé à désorganiser la France, non à

Angesichts dieser fehlenden Ordnung, angesichts der von ihm als willkürlich wahrgenommenen Übereinkünfte und der als zufällig empfundenen Grenzen zwischen den europäischen Nationen gilt es für Hugo deshalb, eine neue Ordnung zu entwerfen, die der Geschichte und Geographie Europas besser Rechnung tragen soll als diejenige des Kongresses. Mit dieser Suche nach neuen Organisationsformen für Europa, die eher die Gesamtarchitektur des Kontinents berücksichtigen anstatt einzelne seiner Nationen hervorzuheben, unterminiert Hugo so den auf das rein Nationale ausgerichteten Diskurs bereits zu einem Zeitpunkt, an dem in ganz Europa die Nationalstaaten im Entstehen begriffen sind – auch wenn er dabei immer von dem Eindruck ausgeht, gerade seiner eigenen Nation sei durch die Entscheidungen des Kongresses Unrecht getan worden. Im Laufe der Jahre entwickelt Victor Hugo ausgehend von seiner Diagnose einer fundamentalen Desorganisation Europas eine Reihe von Vorstellungen davon, wie der zerrissene Kontinent neu und besser zu organisieren sei. Seine Ideen passen sich dabei in dem Maße, in dem sich frühe Konzepte als nicht realisierbar erweisen, ebenso den politischen Gegebenheiten an wie seinen eigenen dadurch immer wieder veränderten biographischen Umständen. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht zielgerichtet und linear; die verschiedenen Vorstellungen von Europa lösen einander nicht in einer eindeutigen Folge ab, sondern sie werden zum Teil zeitgleich nebeneinander in unterschiedlichen Teilen von Hugos Werk fortgeschrieben.7 Trotz dieser Gleichzeitigkeiten ist jedoch der Einfluss von Hugos Exil auf Guernesey während des Second Empire auf die Entwicklung seines literarischen und politischen Werkes nicht zu unterschätzen – deutlich wird das nicht zuletzt daran, dass er selbst dieses Insel-Exil durch die Einteilung seines politischen Œuvres Actes et Paroles in die Teilbereiche ‹Avant l’exil›, ‹Pendant l’exil› und ‹Depuis l’exil› ins Zentrum seiner politischen Erfahrung gesetzt hat.8 Als ein halbes Jahrhundert nach Victor Hugo auch der spanische Schriftsteller Miguel de Unamuno auf eine Insel verbannt wird, versäumt er es nicht, auf diese Parallele zwischen sich selbst und Hugo hinzuweisen und die beiden Exil-Inseln, Hugos Guernesey und sein eigenes Fuerteventura, miteinander in Verbindung zu setzen. In einem kurzen Text, der nach seiner Flucht von Fuerteventura aus nach Paris dort in der französischen Hauptstadt entstanden ist, erwähnt Unamuno einen Besuch, den er der Place des Vosges abgestattet hat:

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organiser l’Allemagne. On a donné des peuples aux princes et des princes aux peuples, parfois sans regarder les voisinages, presque toujours sans consulter l’histoire […]. Les rois ne se sont dit qu’une chose: Partageons. – Voici la robe de Joseph, déchirons-la, et que chacun garde ce qui lui restera aux mains. – Ces pièces sont aujourd’hui cousues au bas de chaque état; on peut les voir; jamais loques plus bizarrement déchiquetées n’ont traîné sur une mappemonde.» (Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 409–411). Franck Laurent spricht deshalb von dem «système Hugo», das sich der Vorstellung von einer linearen Fortentwicklung immer wieder widersetze (Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 21). Vgl. dazu Jean-Claude Fizaine: Présentation, in: Victor Hugo: Œuvres Complètes Politique, Paris: Laffont 1985, S. I–IX, hier S. VI.

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Sentado en un rincón de los soportales de la Plaza de los Vosgos, donde vivió y soñó Víctor Hugo, […] recordaba […] la tarde en que leí bajo los soportales de la Plaza Mayor de Salamanca el telegrama en que se anunciaba que se me habia deportado […]. Y por asociación de ideas, ya que Victor Hugo vivió y soñó en esta provinciana y recatada Plaza de los Vosgos, recordaba el destierro del poeta de los Castigos en la isla de Guernesey, de donde lanzó sus rayos contra la podredumbre del Segundo Imperio.9

Die implizite Parallelisierung, die Unamuno in dieser kurzen Passage zwischen sich selbst und Hugo vollzieht, funktioniert auf mehreren Ebenen: Zunächst kennzeichnet er die Place des Vosges als Lebensraum Hugos, um dann den Pariser Platz sofort im Anschluss – «por asociación de ideas» – in Verbindung bringen zu können mit der Plaza Mayor in Salamanca, die er wiederum sich selbst als Lebensraum zuordnet. Beide Plätze sind in seiner Wahrnehmung untrennbar mit dem Exil des jeweils dort ansässigen Dichters verbunden. Auf der Plaza Mayor in Salamanca will er selbst von seiner Verbannung erfahren haben; die Place des Vosges in Paris wird zum Ausgangspunkt nicht nur allgemein für Hugos Exil, sondern insbesondere auch für seinen politischen Widerstand gegen das Second Empire. Durch den ausdrücklichen Verweis auf Hugo als Dichter der Châtiments zieht Unamuno implizit auch eine direkte Linie von dessen Kampf gegen das Empire Louis Napoléons in Frankreich hin zu seinem eigenen gegen die Diktatur Primo de Riveras in Spanien.10 Wenn er die Erinnerung an Victor Hugo dann wenige Sätze später mit einer Bemerkung abschließt, die doch noch einen kleinen Unterschied zwischen dem französischen Dichter und ihm selbst markiert («nur dass Hugo jahrelang auf seiner Insel hat bleiben müssen», sagt Unamuno, der selbst nach einem halben Jahr Fuerteventura wieder verlassen hat),11 dann macht gerade dieser kleine Unterschied deutlich, wie groß ansonsten die Gemeinsamkeiten sind – und das, obwohl der Name der Insel Fuerteventura hier gar nicht ausdrücklich genannt wird. Die Abgeschlossenheit der Insel, die Entfernung von der spanischen Heimat, die er sonst selten und ungern verlassen hat, das Leiden an der politischen Entwicklung Spaniens, die eigene Einsamkeit weniger auf Fuerteventura als vielmehr später in Paris und Hendaye, die Erfahrung der Grenze zwischen Frankreich und Spanien dort – all das macht Unamunos Exil zu einer Erfahrung, die ähnlich wie im Falle Hugos sein Leben und sein Werk insbesondere im Zusammenhang mit der Frage

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Miguel de Unamuno: Aspectos de París, in: Ders.: Obras Completas VIII, Madrid: Escelicer 1966, S. 626–627. Und das nicht ohne Erfolg: Auch in der Sekundärliteratur ist seither immer wieder auf die Verbindungen zwischen den beiden Schriftstellern und ihrem Exil hingewiesen worden; dabei wurden insbesondere die inhaltlichen und stilistischen Ähnlichkeiten zwischen Hugos Châtiments und Unamunos Sonettsammlung De Fuerteventura a París hervorgehoben (vgl. etwa Ernst Robert Curtius: Miguel de Unamuno, ‹Excitator Hispaniae›, in: La Universidad 3–4 (1959), S. 309–327; und Titus Heydenreich: Miguel de Unamuno auf Fuerteventura, in: Thomas Bremer/Ulrike Brummert/Kathrin Glosch (Hg.): Inseln der Romania. Traumbilder und Wirklichkeit, Halle/Saale: Stekovics 2001, S. 211–225, hier besonders S. 217). «Sólo que Hugo tuvo que estarse años en esa isla, que vi al pasar, de lejos, acercándonos a Cherburgo.» (Miguel de Unamuno: Aspectos de París, S. 627).

nach Europa in wesentlichen Punkten beeinflussen wird. Wo bei Hugo der Wiener Kongress und das, was man als dessen Versäumnisse bezeichnen könnte, am Anfang seiner Frage nach Europa steht, da ist ein solcher Ursprungspunkt bei Unamuno in jenen Jahren um die Jahrhundertwende in Spanien anzusetzen, in denen sich die Dekadenz des Landes unter dem Restaurationssystem immer deutlicher zeigt – und das bereits vor dem offensichtlichen Einflussverlust, den die spanische Niederlage gegen die USA und der daraus folgende Verlust der letzten spanischen Kolonien im Jahr 1898 darstellen.12 In diesen Jahren dient Europa in der spanischen Debatte um die Dekadenz des Landes und um die Möglichkeiten seiner Erneuerung als Kontrastfolie: Europa ist alles das, was Spanien nicht ist; und unter den Intellektuellen des Landes entbrennen Diskussionen vor allem um die Frage, ob es wünschenswert sei, sich angesichts des eigenen Niedergangs enger an Europa und dessen Vision vom Fortschritt anzuschließen, oder ob es vorzuziehen sei, sich an der eigenen Tradition und den eigenen Werten zu auszurichten und damit gerade von Europa abzugrenzen. Innerhalb dieser Debatte kommt Miguel de Unamuno eine Schlüsselposition zu. Immer wieder ist er es, der sie mit seinen Essays oder Artikeln polemisch anheizt, immer wieder prägt er die Schlagworte, die dann die Diskussionen beherrschen. Das Wort, mit dem Ernst Robert Curtius Unamuno beschreibt, findet hier seine Berechtigung: Dieser ist tatsächlich der «Excitator Hispaniae».13 Das ist vor allem insofern erwähnenswert, als sich bereits in diesem Kontext ein wesentlicher Unterschied zwischen Unamunos erster Annäherung an Europa und derjenigen von Victor Hugo aufweisen lässt. Deutlicher als bei Hugo Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Frankreich geht es bei Unamuno in den Jahren um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Spanien um die Position des eigenen Landes innerhalb Europas: Nicht Europa selbst ist die Frage, sondern das Verhältnis Spaniens zu diesem Europa. Bereits 1909, also 15 Jahre vor seinem Exil auf Fuerteventura, beschreibt Miguel de Unamuno die kanarischen Inseln als eine Art Vorposten Europas im Atlantik: Estas islas […] no son, ante todo y sobre todo, sino una avanzada de Europa, de España sobre América, y una avanzada de América sobre Europa, sobre España y sobre Africa. Son un mesón colocado en una gran encrucijada de los caminos de los grandes pueblos.14

Dieser Vorposten stellt eine Verbindung zwischen Europa und allem her, was nicht Europa ist – Amerika ebenso wie Afrika. Auch in dieser Passage ist nicht ganz klar, ob Spanien nun eindeutig zu Europa gehört, oder ob es im Gegenteil gerade deshalb ausdrücklich angeführt wird, weil es sich eben doch wesentlich

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Vgl. zum historischen Hintergrund Walther L. Bernecker: Spanische Geschichte. Von der Reconquista bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 131–149. Vgl. Ernst Robert Curtius: Miguel de Unamuno, ‹Excitator Hispaniae›. Miguel de Unamuno: La Gran Canaria, in: Ders.: Obras Completas I, Madrid: Escelicer 1966, S. 315.

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von Europa unterscheidet. In jedem Falle allerdings, und das wird hier deutlich, kommt der Insel als tatsächlichem Ort wie als Denkmodell offensichtlich auch bei Unamunos Versuchen einer Beantwortung der Frage nach Europa eine wichtige Rolle zu. Die Insel seines Exils hat dabei allerdings allem Anschein nach andere Auswirkungen auf diese Versuche als bei Hugo: Während bei diesem im Laufe der Exiljahre eine Intensivierung gerade seiner europapolitischen Bemühungen zu konstatieren ist, scheint Unamunos Exil ihn zunächst allenfalls in seiner Sorge um Spanien und weniger in seinen Überlegungen zu Europa zu bestärken. Im Gegenteil: In den Texten aus der Inselzeit auf Fuerteventura wird Europa selten ausdrücklich erwähnt, stattdessen ist in diesen Texten eine gewisse Wendung Unamunos in die Innerlichkeit zu verzeichnen. In den Texten allerdings, die sich von Paris aus im Rückblick der Insel zuwenden, spielt Europa wieder eine wichtigere Rolle – und das in dem Maße, in dem die Insel gerade in Bezug auf ihre geographische Isolation zum Sehnsuchtsort desjenigen stilisiert wird, der unter der städtischen NichtIsolation von Paris leidet. Dadurch, dass Unamuno deshalb (in einem positiven Sinne) von dem «a-isla-miento» spricht,15 das man auf der Insel erfahre, und so die Isolierung seines Insel-Exils wörtlich nimmt, drückt er vielleicht am besten aus, was auch in diesem Insel-Kapitel verhandelt werden soll: Es geht nicht allein um die konkreten Inseln von Hugos und Unamunos Exil, sondern vielmehr auch in einem übertragenen Sinne um eine gewisse ‹Inselhaftigkeit› des Denkens, die sich gerade in der Beschäftigung der beiden Autoren mit Europa Bahn bricht. In diesem Kapitel werden die Europa-Ideen von Victor Hugo und Miguel de Unamuno nebeneinander betrachtet – zum einen, um die Verbindungslinien aufzeigen zu können, die zwischen den Konzeptionen dieser beiden Autoren auszumachen sind, zum anderen aber auch, weil sich auch die Unterschiede zwischen ihnen und ihre jeweils individuellen Schwerpunkte auf diese Weise leichter darstellen lassen. In einem ersten Schritt wird es um die frühen Vorstellungen von Victor Hugo gehen, die sich unter dem Stichwort ‹Europa als Empire› zusammenfassen lassen und die einen ersten Versuch zur Neuordnung des von Hugo als chaotisch empfundenen nach-napoleonischen Europas darstellen. In einem zweiten Schritt wird dieser Auftakt um die Ideen von Miguel de Unamuno ergänzt, die dieser in der großen spanischen Europadebatte um die Jahrhundertwende formuliert hat – hier geht es vor allem um die Alternative der Integration Spaniens in Europa oder seiner Abgrenzung davon. Das dritte Unterkapitel verbindet die Ansätze beider Autoren im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern man von einer essentiell europäischen Zivilisation ausgehen kann – ‹Europa als Zivilisation› lautet der Leitgedanke hier. Im vierten und im fünften Kapitel entwickeln sich die Konzeptionen Hugos und Unamunos wieder auseinander; die Verbindung zwischen den Entwicklungen stellt aber das Exil beider Autoren dar, das ihre Ideen zu Europa und zur Rolle ihres eigenen Landes in Europa beeinflusst. Dank ihres jeweiligen Insel-Exils können beide Autoren Vorstellungen von Europa entwickeln, in denen die immanenten

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Miguel de Unamuno: El caos, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 573.

Widersprüche weitgehend aufgelöst werden, die noch in den vorherigen Modellen angelegt waren.

2.1

Victor Hugo: Europa als Empire

Der Auseinandersetzung der beiden Kontinente Afrika und Europa in Hugos BugJargal kommt auch eine geschichtliche Dimension zu. Während der Titelheld BugJargal eine Vergangenheit als Sohn eines Fürsten in Afrika hat, verkörpert sein Gegenspieler Léopold d’Auverney die revolutionäre Geschichte Frankreichs – ein Aspekt, der besonders in der zweiten Fassung des Textes hervorgehoben wird.16 Der Schauplatz, an dem beide aufeinandertreffen, wird dagegen durch keinerlei derartige geschichtliche Markierungen gekennzeichnet: Die Geschichtslosigkeit Amerikas einerseits, die Fülle an Geschichte in Europa andererseits – diesen Gegensatz konstruiert Hugo ähnlich auch in dem kurz nach der zweiten Fassung von Bug-Jargal entstandenen Fragment d’histoire (1827). Hier bringt ihn das – aus der Sicht des Europäers – relativ geringe Alter Amerikas im Vergleich zu dem des eigenen Kontinents zu der Schlussfolgerung, die Zukunft der menschlichen Zivilisation müsse jenseits des Atlantiks liegen. Die Dekadenz Europas, die Hugo in diesem Text konstatiert, findet insbesondere in der Dezentrierung und der mangelnden Einheit des Kontinents ihre Begründung: Voilà vingt siècles que domine la civilisation européenne […]. Peut-être touchons-nous à sa fin. Notre édifice est bien vieux. Il se lézarde de toutes parts. Rome n’en est plus le centre. Chaque peuple tire de son côté. Plus d’unité, ni religieuse ni politique.17

Das hier entworfene Bild des zeitgenössischen Europas findet seine Entsprechung in zahlreichen anderen Texten aus derselben Zeit; noch in dem Reisebericht Le Rhin von 1842/45 ist es genau dieses Chaos, das die innere Organisation des Kontinents bedroht.18 Einen Ausweg aus dieser Konfusion aufzuzeigen, die den Kontinent seiner Meinung nach mehr als eine etwaige Bedrohung von außen in Frage stellt, ist deshalb das erste Anliegen von Hugos Europakonzeptionen aus dieser Zeit von etwa 1826 an bis in die vierziger Jahre hinein. Dass Victor Hugo Europa in dieser Periode vor allem als ein Empire unter einem entsprechend mächtigen Herrscher gedacht hat, lässt sich mit seinem Wunsch nach einer Institution erklären, die der von ihm diagnostizierten europäischen Unordnung eine klare Ordnung entgegen-

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Vgl. Pierre Laforgue: ‹Bug-Jargal› ou la difficulté d’écrire en ‹style blanc›, compte rendu de la communication au Groupe Hugo du 17 juin 1989, http://groupugo.div.jussieu.fr/ Groupugo/89-06-17Laforgue.htm (29.01.2005). Victor Hugo: Fragment d’histoire, in: Ders.: Œuvres Complètes Critique, Paris: Laffont 1985, S. 171. Vgl. Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 409–411. Ähnliche Diagnosen finden sich in dem Text Journal des idées et des opinions d’un révolutionnaire de 1830 oder in dem Drama Les Burgraves, in dem Kaiser Barbarossa Europa durch die Aufzählung unverbundener Teilregionen charakterisiert.

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zusetzen imstande ist.19 Diese Ordnung stellt er nun zunächst in dem Bild eines genau umrissenen, von der politischen Macht des Empires begrenzten Territoriums dar, dem jeweils eine besondere Architektur zugrunde liegt. 2.1.1

Territorium

Von den zwanziger Jahren an entwirft Victor Hugo in seinen Gedichten, Dramen und Reiseberichten ein Bild von einem imperial organisierten Europa, das sich vor allem auf eine Reihe von immer wiederkehrenden architektonischen Metaphern gründet. Mittels dieser Metaphern gelingt es ihm, seine Vorstellung von einer Harmonisierung Europas jenseits der Zersplitterung des Kontinents in viele einzelne Staaten plausibel zu machen: Die Metaphern beschreiben Europa nämlich als ein fest gefügtes Gebäude, das von einem starken Kaiser entworfen und geschaffen, und das unter seiner Herrschaft dann dauerhaft stabilisiert wird. In Hugos Drama Hernani rekurriert Don Carlos, der zukünftige Kaiser Karl V., auf seinen Vorgänger Karl den Großen, um seine Vorstellung von einem solchermaßen geordneten europäischen Gebäude zu formulieren: Ah! C’est un beau spectacle à ravir la pensée – Que l’Europe ainsi faite et comme il l’a laissée! – Un édifice, avec deux hommes au sommet, – Deux chefs élus auxquels tout roi né se soumet. – […] – Le monde au-dessous d’eux s’échelonne et se groupe.20

Während die unter der doppelten Herrschaft von Kaiser und Papst zu schaffende Ordnung des Kontinents hier durch das Wort vom europäischen «Gebäude» erst angedeutet wird, beschreibt Hugo in seiner Conclusion aus dem Reisebericht Le Rhin (1842/45) deutlicher, wie dieses Gebäude beschaffen sein muss, um schließlich die von ihm angestrebte Ordnung tatsächlich gewährleisten zu können: Il faut, pour que l’univers soit en équilibre, qu’il y ait en Europe, comme la double clef de voûte du continent, deux grands états du Rhin, tous deux fécondés et étroitement unis par ce fleuve régénérateur: l’un septentrional et oriental, l’Allemagne, s’appuyant à la Baltique, à l’Adriatique et à la mer Noire avec la Suède, le Danemarck, la Grèce et les principautés du Danube pour arcs-boutants; l’autre, méridional et occidental, la France, s’appuyant à la Méditerranée et à l’Océan, avec l’Italie et l’Espagne pour contreforts.21

In deutlichem Gegensatz zu der Passage aus dem Fragment d’histoire, die mit wenigen Worten die Baufälligkeit des europäischen Hauses evoziert hatte,22 wird der Kontinent hier als ein in sich geschlossenes und vollendetes Bauwerk gezeichnet, dessen Statik und Ästhetik auf einem sorgfältig austarierten System beruhen – und die Bilder, mit denen diese Statik beschrieben wird, verleihen dem Bauwerk dabei den Charakter einer gotischen Kathedrale: So bilden Frankreich und Deutschland

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Vgl. Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 28. Victor Hugo: Hernani, in: Ders.: Œuvres Complètes Théâtre I, Paris: Laffont 1985, S. 627. Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 405. Vgl. Victor Hugo: Fragment d’histoire, S. 171.

den «doppelten Schlussstein» eines Gewölbes, das sich über dem Bauwerk in den Himmel erhebt; die umliegenden Länder gruppieren sich ringsum als Strebebögen und Pfeiler, die den Druck ableiten und auf diese Weise stabilisierend wirken. Das Wort vom zu erreichenden «Gleichgewicht des Universums» macht von Anfang an deutlich, welches Ziel Hugo mit dieser Metaphorik von der europäischen Kathedrale verfolgt: So, wie in einer Kathedrale die einzelnen Bauelemente aufeinander Bezug nehmen, so sollen es innerhalb Europas auch die einzelnen Länder und insbesondere Deutschland und Frankreich tun. Denn das Bauwerk, das Hugo auf diese Art und Weise in der Conclusion von Le Rhin errichtet, ist in dieser Form ausdrücklich nur rund um den «fleuve régénérateur» möglich: Wenn er schreibt, der Rhein solle Deutschland und Frankreich nicht voneinander trennen, sondern sie verbinden, dann wird deutlich, wie sehr sich seine Vorstellung von dem zu ordnenden europäischen Territorium um die Achse dieses Flusses strukturiert.23 Nicht umsonst war der Rhein Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre Victor Hugos bevorzugtes Reiseziel: Gerade in diesen Jahren ging es zwischen Frankreich und Deutschland immer wieder um die Frage, welchem der beiden Länder das (nach dem Wiener Kongress deutsche) linke Rheinufer zuzusprechen sei, und der literarische Ertrag von Hugos Rheinreisen, der Reisebericht Le Rhin, ist in diesem Kontext als eine Bekräftigung der französischen Ansprüche auf das Gebiet links des Rheins zu lesen.24 Dennoch ist die Vorstellung von dem als Kathedrale geordneten europäischen Territorium bei Hugo insofern mehrdimensional, als sie sich ausdrücklich auch auf die Geschichte der in Frage stehenden Region beruft: So entspricht der europäische Raum, den sich Victor Hugo auf seinen Reisen zuerst praktisch erschließt und den er dann in seinen Texten beschreibt, demjenigen des alten Karolingerreiches und damit einem Imperium, das ein Modell für die von ihm angestrebte Ordnung und Einigung des Kontinents darstellen kann.25 Auch in Hernani wird dieses Karolingerreich für den Protagonisten Don Carlos zum Bezugspunkt für das Europa, dem er seine Herrschaft widmen möchte: Dadurch, dass der zukünftige Kaiser sich hier in eine direkte dynastische Linie mit seinem Vorgänger Karl dem Großen stellt, macht er das Karolingerreich zum Vorbild auch für seine eigene Vision von einem besser geordneten Europa. Unter der gemeinsamen Herrschaft von Kaiser und Papst, so hebt er in seinem entschei-

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«Bref ses lieux de prédilection […] sont à chercher à proximité du Rhin», schreibt Nicole Savy in diesem Kontext (Nicole Savy: L’Europe de Victor Hugo: Du gothique au géopolitique, in: Michèle Madonna Desbazeille (Hg.): L’Europe, naissance d’une utopie? Genèse de l’idée d’Europe du XVIe au XIXe siècles, Paris: L’Harmattan 1996, S. 173–187, hier S. 175). Vgl. zu dieser Kontroverse um den Rhein zwischen Deutschland und Frankreich Françoise Chenet-Faugeras: Victor Hugo, Le Rhin, et le problème du pouvoir (1841–1845), Paris (Mikrofiche-Ausgabe) 1989. Vgl. zu Hugos Beziehung zum Rhein allgemein auch Horst Jürgen Wiegand: Victor Hugo und der Rhein. ‹Le Rhin› (1842/45), ‹Les Burgraves› (1843), Bonn: Bouvier 1982. Vgl. Nicole Savy: L’Europe de Victor Hugo: Du gothique au géopolitique, besonders S. 175–176.

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denden Monolog hervor, habe in der Vergangenheit ein Europa existiert, das trotz der Vielzahl seiner Völker und Königreiche und trotz deren Differenzen durch eine einheitliche Verfassung gekennzeichnet war: Redonnant une forme, une âme au genre humain, – Faisant refondre en bloc peuples et pêle-mêle – Royaumes, pour en faire une Europe nouvelle. 26

Der Kaiser wird dabei ausdrücklich als derjenige dargestellt, der in der Verantwortung steht, das zersplitterte und ungeordnete Territorium Europas in einer neuen Einheit zusammenzuführen,27 und in diesem Kontext findet nun auch Hugos Vorstellung von Europa als einem stabilen Bauwerk ihre Erklärung: Das Empire wird von ihm immer wieder als das architektonische Meisterwerk eines kaiserlichen Bauherren dargestellt, dessen Wesen selbst sich in seinen Bauwerken Ausdruck verschafft: Il est aussi impossible aux Charlemagne et aux Napoléon de ne pas construire leur Europe d’une certaine façon qu’au castor de ne pas bâtir sa hutte selon un certaine forme et contre un certain vent.28

Wenn dieser Vergleich des kaiserlichen Architekten mit einem bauenden Biber aber nicht allein die Form der jeweiligen Bauwerke betont, sondern vor allem auch die Tatsache, dass sich diese Form jeweils an einer bestimmten Funktion zu orientieren habe, dann zeichnet sich darin eine leichte Verschiebung innerhalb von Hugos Vorstellung von dem zu schaffenden europäischen Gebäude ab. Es geht inzwischen nicht mehr allein um dessen Statik und Ästhetik (wie noch bei dem Bild von der europäischen Kathedrale), sondern auch um die Möglichkeiten der Verteidigung und Abgrenzung gegen Einflüsse von außen. Aus der Kathedrale Europa wird auf diese Weise eine Festung mit den entsprechenden militärischen Verteidigungsanlagen.29 Im Zuge dieser Akzentverschiebung ist es deshalb auch weniger die Achse des Rheines, die Hugos Bild des europäischen Territoriums als einer Festung kennzeichnet, als vielmehr das Zentrum der Stadt Paris, von der ausgehend sich die Verteidigungsanlagen in konzentrischen Kreisen ausbreiten. So beschreibt er in seiner Antrittsrede vor der Académie Française (1841) das napoleonische Empire ganz explizit als eine solche militärische Festung, die um den zentralen Kern einer französischen Zitadelle herum auch die Regionen an der europäischen Peripherie abzusichern imstande war: Sous cet homme, la France avait cent trente départements; d’un côté, elle touchait aux bouches de l’Elbe, de l’autre elle atteignait le Tibre. Il était le souverain de quarante-

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Victor Hugo: Hernani, S. 628. «Que fait un empereur! couvrez la terre entière – De bruit et de tumulte. Elevez, bâtissez – Votre empire, et jamais ne dites: C’est assez! – Taillez à larges pans un édifice immense!» (Victor Hugo: Hernani, S. 627). Ähnlich wird später beispielsweise auch Kaiser Barbarossa in Les Burgraves charakterisiert. Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 406. «Le registre est décidément architectural et paraît hésiter entre la cathédrale et la forteresse.» (Franck Laurent: L’Europe dans l’œuvre de Victor Hugo avant l’exil, S. 40).

quatre millions de Français et le protecteur de cent millions d’Européens. […] Il avait construit son état au centre de l’Europe comme une citadelle, lui donnant pour bastions et pour ouvrages avancés dix monarchies qu’il avait fait entrer à la fois dans son empire et dans sa famille.30

Die Funktion dieser Festung erklärt sich dabei aus einem Verständnis der europäischen Geschichte, das den Kontinent unter einer ständigen Bedrohung von außen sieht. So beschreibt Hugo Europa in der Conclusion aus Le Rhin als einen Raum, der sich immer wieder gegen Angriffe zur Wehr setzen musste. Waren es in der Vergangenheit noch die Türkei und Spanien, die den Kontinent bedroht haben, so sind es jetzt deren vermeintliche ‹Nachfolger› Russland und England – wobei die potentiellen Gegner in beiden Fällen als fremd und nichteuropäisch gekennzeichnet werden.31 Gegen diese Bedrohung von außen gilt es für Hugo deshalb, das europäische Empire zu befestigen; und vor allem das historische Reich unter Napoleon Bonaparte ist dabei in seinen Augen vorbildlich: Dieses Reich hat die imperiale Aufgabe von der Verteidigung Europas dadurch erfüllt, dass es als eine Ausdehnung Frankreichs über den ganzen Kontinent hinweg die französische Stabilität gewissermaßen exportiert hat.32 Besonders im Zusammenhang mit dieser Ausdehnung des napoleonischen Empires füllt Paris nun die Rolle als sein inneres Zentrum aus. In dem Gedicht Souvenir d’enfance (1830) ist es die Erinnerung an die Größe Napoleons, die zugleich den Rahmen für eine Evokation der Größe der Stadt Paris bildet. Diese wird stellvertretend für den Kaiser und für Frankreich von allen unterworfenen europäischen Völkern geehrt: Déjà peut-être en lui mille choses se font, Et tout l’avenir germe en son cerveau profond. Déjà, dans sa pensée immense et clairvoyante, L’Europe ne fait plus qu’une France géante, Berlin, Vienne, Madrid, Moscou, Londres, Milan, Viennent rendre à Paris hommage une fois par an.33

Nahezu unmerklich verschiebt sich dabei allerdings Hugos ursprüngliche Idee vom Empire als einer Festung zum Zwecke der Verteidigung Europas hin zu einer ganz anders gelagerten Vorstellung: Jetzt breitet sich die von Frankreich exemplarisch

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Victor Hugo: Discours de réception à l’académie française, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 89–90. «Aujourd’hui […] la Turquie est tombée, l’Espagne est tombée. […] L’Europe est-elle délivrée? Non. Comme au dix-septième siècle un double péril la menace.» (Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 387). Vgl. zu Hugos Napoleon-Verehrung auch Maurice Descotes: L’obsession de Napoléon dans le ‹Cromwell› de Victor Hugo, Paris: Lettres Modernes 1967. Victor Hugo: Souvenir d’enfance, Les Feuilles d’automne, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I, Paris: Laffont 1985. Vgl. auch Franck Laurent, Le territoire et l’océan, S. 56: «Un des motifs de la grandeur de Napoléon est d’avoir fait de Paris une Nouvelle Rome, et inversement la puissance du Grand Empereur est en raison directe de la puissance de Paris.»

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verkörperte Zivilisation aus eigenem Antrieb aus, und an die Stelle der bloßen Verteidigung tritt die Expansion.34 Der Kaiser (und insbesondere Napoleon) ist in diesen Jahren vor dem Exil bei Hugo stets dadurch gekennzeichnet, dass er keine nationalen Grenzen kennt, sondern vielmehr für das große Ganze des Empires agiert und Europa aus dem Chaos der Staaten heraus einheitlich ordnen soll. Dabei muss allerdings doch berücksichtigt werden, dass er diese Rolle jeweils nur ausgehend von einer Nation (nämlich im Falle Napoleons eben von Frankreich) ausfüllen kann. Dadurch gerät Hugos Vorstellung von einem als Empire geordneten Europa, die auf dem Nebeneinander von der strukturierenden Achse des Rheines einerseits und dem zentralisierenden Mittelpunkt der Stadt Paris andererseits aufbaute, in eine leichte Schieflage. Sowohl das Bild von Europa als einer Kathedrale, deren Statik darauf beruht, dass jedes Element darin seinen festen Platz innehat, als auch dasjenige von Europa als einer Festung, in der jeder einzelne Teil dazu beiträgt, dass sich die Konstruktion insgesamt verteidigen kann, werden durch das implizite Eingeständnis der imperialen Expansionsbestrebungen ad absurdum geführt. Erst Jahre später allerdings, im Exil, wird Hugo das auch tatsächlich ausdrücklich ansprechen: Le premier Bonaparte voulait réédifier l’empire de l’Occident, faire l’Europe vassale, dominer le continent de sa puissance et l’éblouir de sa grandeur,35

heißt es so an einer Stelle von Napoléon le Petit (1852) über das Projekt des napoleonischen Empires. Obwohl Hugo dieses Projekt in der Zeit vor seinem Exil noch wesentlich unkritischer betrachtet, stellt er schon damals seiner Vorstellung von einem architektonisch strukturierten imperialen Territorium eine andere Konzeption gegenüber. Diese unterläuft die Idee von dem europäischen Empire als einem fest gefügten Bauwerk dadurch, dass sie dessen hervorstechende Eigenschaft gerade in einer Grenzenlosigkeit und Offenheit sieht, wie sie sich sinnbildlich in den kaiserlichen Expansionen Bahn bricht und wie sie keinesfalls mehr in architektonischen Metaphern beschreibbar ist.

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Auch auf diese Ambivalenz hat Franck Laurent hingewiesen: Das Empire ist in Hugos Darstellung zwar einerseits immer auf eine Überwindung der nationalen Grenzen hin orientiert; es kann aber andererseits dadurch, dass es stets durch den bloßen Herrschaftsanspruch eines einzelnen Volkes über andere charakterisiert ist, jeweils nur in Form der Ausdehnung dieses einzelnen Volkes zu Ungunsten der anderen gedacht werden. Vgl. Franck Laurent: L’urbs et l’orbs [sic!] – L’Europe impériale et la question du centre dans l’œuvre de Victor Hugo de 1827 à 1848, Compte rendu de la communication au Groupe Hugo du 17 décembre 1994, http://groupugo.div.jussieu.fr/Groupugo/94-1217Laurent.htm, S. 4–5 (29.01.2005). Victor Hugo: Napoléon le Petit, in: Ders.: Œuvres Complètes Histoire, Paris: Laffont 1987, S. 15. Hugos Distanzierung von seiner früheren Begeisterung für die imperialen Pläne Napoleon Bonapartes ist hier natürlich im Kontext seiner Opposition gegen diejenigen von Napoleon III. zu verstehen.

2.1.2

Offener Raum

Auch wenn der Schlussstein des europäischen Gebäudes in Hugos Darstellung auf den ersten Blick fest gefügt zu sein scheint, entwirft dieser zur selben Zeit noch ein ganz anderes Bild von Europa unter imperialer Herrschaft, das den Kontinent nicht als ein klar eingrenzbares Territorium, sondern als einen offenen Raum beschreibt. Vor allem an der Figur des Kaisers, die in beiden Darstellungen im Mittelpunkt steht, lässt sich diese Verschiebung deutlich machen: Erscheint er in den Bildern von Europa als fest umgrenztem Territorium noch als derjenige, der für dessen Ordnung verantwortlich zeichnet, indem er als Architekt an der Stabilität des europäischen Gebäudes arbeitet, so entwerfen besonders die Gedichte aus den Sammlungen der Odes et Ballades und der Orientales, teilweise aber auch Dramen wie Hernani und Les Burgraves ein anderes Bild des Kaisers. Ganz im Gegensatz zu der eine gewisse Sesshaftigkeit implizierenden Tätigkeit als Bauherr bleibt dieser zuletzt doch immer in Bewegung und insofern heimatlos.36 Mit diesem Nomadentum des Kaisers geht nun eine Neubewertung des europäischen Raumes einher, die auch diesen Raum selbst in Bewegung versetzt und die seine Grenzen verschwimmen lässt. Beide Aspekte, die Bewegung des Kaisers und diejenige seines Empires, werden an erster Stelle in einer ebenfalls veränderten Bewertung der Rolle der Stadt Paris innerhalb des Reiches deutlich. So bleibt Paris zwar der Ausgangspunkt für die Expansion des Empires, aber die Stadt wird immer weniger eindeutig als dessen Mittelpunkt dargestellt, sondern vielmehr als Ort eines beständigen Kommens und Gehens des nomadischen Kaisers: C’était un beau spectacle! – Il parcourait la terre Avec ses vétérans, nation militaire […] Et puis, il revenait avec la grande armée, Encombrant de butin sa France bien-aimée, Son Louvre de granit, Et les Parisiens poussaient des cris de joie Comme font les aiglons, alors qu’avec sa proie L’aigle rentre à son nid!37

Paris bleibt hier zwar der Bezugspunkt der kaiserlichen Expeditionen, es ist aber nicht mehr das selbstverständliche Zentrum des Empires, sondern nur ein vorläufiger Ort, den man aufsucht, um ihn später wieder zu verlassen. Wenn Napoleon in dem Gedicht Souvenir d’enfance deshalb nicht mehr als Souverän mit einem festen Ort geschildert wird, sondern im Gegenteil als ein Kriegsherr, auf den das

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Vgl. Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 198 ff; L’Europe dans l’œuvre de Victor Hugo avant l’exil, S. 40–42; «Car nous t’avons pour Dieu sans t’avoir eu pour maître». Le Napoléon de Victor Hugo dans l’œuvre d’avant l’exil, compte rendu de la communication au Groupe Hugo le 16 septembre 2000, http://groupugo.div.jussieu.fr/ Groupugo/00-09-16Laurent.htm (29.01.2005). Victor Hugo: A la colonne, Les chants du crépuscule, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I.

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Volk allenfalls kurz im Vorübergehen noch einen Blick werfen kann,38 dann macht diese Charakterisierung die Heimatlosigkeit des Herrschers deutlich. Umgekehrt entspricht dem Bedeutungsverlust des Zentrums Paris, der sich in dieser neuen Konzeption des Empires abzeichnet, eine gewachsene Bedeutung der von den Armeen des Kaisers eroberten Peripherie. Das Empire dehnt sich aus, und der Kaiser allein ist derjenige, der dank seiner eigenen Ortlosigkeit diese Ausdehnung zwischen Okzident und Orient überblicken kann: Souvent Bounaberdi, sultan des Francs d’Europe, Que, comme un noir manteau, le semoun enveloppe, Monte, géant lui-même, au font d’un mont géant, D’où son regard, errant sur le sable et sur l’onde, Embrasse d’un coup d’œil les deux moitiés du monde, Gisantes à ses pieds dans l’abîme béant.39

Wie hier wird dieser Kaiser auch in zahlreichen anderen Gedichten aus Hugos Zeit vor dem Exil als ein rast- und ruheloser Nomade gezeichnet, zu dessen Eigenschaften das ständige Unterwegssein und die Schnelligkeit seiner Bewegungen zählen: Napoleon ist derjenige, der «dans sa course guerrière»40 die Welt erobert; er schlägt seine Schlachten «en courant»41 und seine Adler haben «toujours les ailes déployées»42. Folgerichtig kann der Ort dieses Nomaden auch keine festgemauerte Stadt mehr sein, sondern allenfalls ein Zelt, das man ebenso schnell wieder abbauen kann, wie man es errichtet hat: D’abord, troublant du Nil les hautes catacombes, Il vint, chef populaire, y combattre en courant, Comme pour insulter des tyrans dans leurs tombes, Sous sa tente de conquérant.43

Der Schnelligkeit der kaiserlichen Eroberungen, die hier impliziert wird, entspricht die geographische Weite seiner Bewegung. Immer wieder tauchen in den Gedichten über Napoleon und sein Empire lange Reihungen von Orten auf, die die Armee des Kaisers unterworfen hat; und teilweise wird in diesen Aufzählungen auch ganz ausdrücklich auf eine Art kaiserlicher Omnipräsenz angespielt. Der

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«Plus tard, une autre fois, je vis passer cet homme, – Plus grand dans son Paris que César dans sa Rome. – […] – Ses régiments marchaient, enseignes déployées; – Ses lourds canons, baissant leurs bouches essuyées, – Couraient, et traversant la foule aux pas confus, – Avec un bruit d’airain sautaient sur leurs affûts. – Mais bientôt, au soleil, cette tête admirée – Disparut dans un flot de poussière dorée, – Il passa. Cependant son nom sur la cité – Bondissait, des canons aux cloches rejeté; – Son cortège emplissait de tumulte les rues, – Et par mille clameurs de sa présence accrues, – Par mille cris de joie et d’amour furieux, – Le peuple saluait ce passant glorieux!» (Victor Hugo: Souvenir d’enfance, Les Feuilles d’automne, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I. Victor Hugo: Bounaberdi, Les Orientales, ebd. Victor Hugo: A la colonne, Les chants du crépuscule, ebd. Victor Hugo: Buonaparte, Odes et Ballades, ebd. Victor Hugo: Les deux îles, Odes et Ballades, ebd. Victor Hugo: Buonaparte, Odes et Ballades, ebd.

Kaiser ist nicht nur derjenige, der die gesamte Welt unterworfen hat und der sie überblickt, er ist auch derjenige, der in dieser Welt jederzeit überall sein kann: A Rome, où du sénat hérite le conclave, A l’Elbe, aux monts blanchis par la neige ou noirs de lave, Au menaçant Kremlin, à l’Alhambra riant, Il est partout! – Au Nil, je le retrouve encore. L’Egypte resplendit des feux de son aurore; Son astre impérial se lève à l’orient.44

Es handelt sich bei dieser Beweglichkeit des Kaisers in dem von ihm unterworfenen Raum in allen Fällen um eine ungeordnete, freie und mehr oder weniger chaotische Bewegung, die bisher Unverbundenes verbindet: Die Gemeinsamkeit von Rom und der Elbe, den schneebedeckten Berggipfeln und dem Nil, dem Kreml und der Alhambra kann immer nur in ihrer parallelen Beziehung dem nomadischen Kaiser gegenüber gefunden werden.45 Der unterworfene Raum dehnt sich auf diese Weise ins Unendliche aus, denn ebenso, wie sich die Distanzen zwischen zwei Orten innerhalb dieses Raumes verwischen, werden auch die bisher gültigen Grenzziehungen zunehmend unscharf. War es in Hugos Konzeption von Europa als einem architektonisch strukturierten Territorium immer um genau solche Grenzziehungen gegangen, mit deren Hilfe das Fremde außerhalb gehalten werden konnte, so lösen sich jetzt, in der Vorstellung von Europa als einem offenen Raum, die Unterschiede zwischen dem Fremden und dem Eigenen immer mehr auf.46 In diesem Kontext spielen deshalb die Beziehungen zwischen Orient und Okzident eine besondere Rolle, die Hugo immer wieder thematisiert. Im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung Orientales (1829) umreißt er ausführlich das Programm, nach dem diese Ausweitung des Raumes auf den Orient hin stattfinden soll: L’Orient, soit comme image, soit comme pensée, est devenu pour les intelligences autant que pour les imaginations une sorte de préoccupation générale à laquelle l’auteur de ce livre a obéi peut-être à son insu. Les couleurs orientales sont venues comme d’elles-mêmes empreindre toutes ses pensées, toutes ses rêveries; et ses rêveries et ses pensées se sont trouvées tour-à-tour […] hébraïques, turques, grecques, persanes, arabes, espagnoles même, car l’Espagne est encore l’Orient; l’Espagne est à demi africaine, l’Afrique est à demi asiatique.47

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Victor Hugo: Lui, Les Orientales, ebd. Vor diesem Hintergrund ist es auch bezeichnend, dass in Hugos Drama Hernani ausgerechnet der Kaiser die Forderung nach der Einheit des dramatischen Ortes missachtet und dass dort, nachdem drei Akte des Stückes in Spanien gespielt haben, im vierten plötzlich ein langer Monolog des zukünftigen Kaisers Karl V. vor dem Grab Karls des Großen in Aachen stattfindet (vgl. zum Ort des Kaisers in Hugos Dramen Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 237–239). Vgl. dazu ebd., S. 214. Interessant ist deshalb die Metaphorisierung des Raumes als grenzenloses Meer, wie sie vor allem in den Orientales immer wieder auftaucht. Vgl. zum Beispiel den Vers «contempler les déserts, sablonneux océans» aus dem Gedicht Lui. Victor Hugo: Les Orientales, Préface, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I, S. 413. Vgl. zu der Charakterisierung Spaniens als halb afrikanisch auch Kapitel 2.2 Miguel de Unamuno: Europa als das Andere Spaniens.

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An der gleichen Stelle skizziert Hugo auch die Vorstellung, die er von seinem eigenen Werk hat, indem er es mit einer alten spanischen Stadt vergleicht, in der man wörtlich «alles» finden könne – im Zentrum eine imposante gotische Kathedrale und am anderen Ende der Stadt, versteckt unter Palmen, la mosquée orientale, aux dômes de cuivre et d’étain, aux portes peintes, aux parois vernissées, avec son jour d’en haut, ses grêles arcades, ses cassolettes qui fument jour et nuit; ses versets du Koran sur chaque porte, ses sanctuaires éblouissants, et la mosaïque de son pavé et la mosaïque de ses murailles; épanouie au soleil comme une large fleur pleine de parfums.48

Die Orientales sollten nun in seinem Gesamtwerk die Rolle spielen, die die Moschee in der spanischen Stadt einnimmt – ein vielleicht eher ornamentaler, aber deshalb nicht weniger integraler Bestandteil des Ganzen. Ausdrücklich betont Hugo nämlich in der Folge, dass der Okzident seiner Ergänzung durch den Orient bedürfe, weil er nur so in seinem fragilen Gleichgewicht gehalten werden könne.49 Dabei fällt allerdings auf, dass er den Orient gerade in Bezug auf die Frage nach seiner Alterität seltsam ambivalent darstellt: Einerseits ist die Gedichtsammlung der Orientales ausdrücklich mit Blick auf diese Fremdheit des Orients im Vergleich zum vertraut Europäischen hin angelegt, und sie funktioniert vor allem dank der «prise de recul» in Bezug auf das vertraute Europa.50 Andererseits ist der Orient aber gerade nicht durch eine radikale Alterität gekennzeichnet – stattdessen umfasst der vermeintlich orientalische Raum der Gedichte vor allem Gebiete, die entweder auf der Grenze zwischen Orient und Okzident liegen oder im Grunde sogar genuin europäisch sind, wie etwa Griechenland oder die Landschaft entlang der Donau.51 Besonders Spanien ist so als eine Brücke zwischen der östlichen und der westlichen Hemisphäre dargestellt – das hatte sich bereits in der Passage aus dem Vorwort der Orientales angedeutet, der zufolge die spanischen Städte die Gegensätze des Ostens und des Westens harmonisch in sich vereinten. Spanien wird in den Orientales immer als ein Grenzgebiet beschrieben, in dem europäische und orientalische Traditionen aufeinandertreffen und eine fruchtbare Verbindung eingehen.52 Die Verbindung der beiden Hälften der Welt zu einer Einheit, die sich in den spanischen Städten schon in ihrer die historische Entwicklung reflektierenden

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Victor Hugo: Les Orientales, Préface, S. 412–413. Vgl. ebd., S. 414. Franck Laurent: ‹Les Orientales›: poétique de l’altérité, compte rendu de la communication au Groupe Hugo du 15 février 1992, http://groupugo.div.jussieu.fr/Groupugo/9202-15Laurent.htm (29. 01. 2005). Vgl. auch das Kapitel Orient/Occident: Au-delà du miroir aus Franck Laurent: Le territoire et l’océan. Franck Laurent spricht deshalb in diesem Zusammenhang von einer Geographie der «marches». Vgl. Franck Laurent: ‹Les Orientales›: poétique de l’altérité, S. 4. Vgl. Victor Hugo: Grenade, Les Orientales, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I. Vgl. zu Hugos Spanienbild allgemein: Wilfried Floeck: Victor Hugo et l’Espagne, in: Francofonia. Studi e ricerche sulle letterature di lingua francese 13 (1987), S. 87–102, zu den Orientales besonders S. 94.

Architektur abzeichnet, muss in der Realität des 19. Jahrhunderts erst wieder hergestellt werden. In den Gedichten Victor Hugos ist das ausdrücklich die Aufgabe des nomadischen Kaisers, in dessen Person die Öffnung des Okzidents auf den Orient hin vorangetrieben wird. So wird Napoleon in dem Gedicht Bounaberdi nicht nur als derjenige beschrieben, der mit einem Blick die beiden Hälften der Welt umfassen kann, sondern sein ins entfernt Orientalische übersetzter Name, Bounaberdi, verweist gleichzeitig darauf, dass seine Autorität hier wie dort anerkannt ist.53 Ähnlich verfährt das Gedicht Lui, das Napoleon als «Mahomet d’occident» bezeichnet und betont, der Name dieses abendländischen Propheten besitze im Orient wie im Okzident gleichermaßen Gültigkeit.54 Beide Gedichte lassen den Kaiser auf seinen Eroberungsfeldzügen die Grenzen zwischen den beiden Hälften der Welt aufheben – und die Tatsache, dass er zum «Mahomet d’occident» stilisiert wird, macht deutlich, dass es sich dabei nicht nur um geographische, sondern auch um religiöse Grenzen handelt. Das ist insofern hervorzuheben, als das friedliche Zusammenleben der Kulturen und Religionen, das die spanischen Gedichte der Orientales beschwören, zuletzt doch von dem Gedicht Le Danube en colère konterkariert und als utopisch gekennzeichnet wird. Die Donau nämlich, die sich hier in einem Monolog rühmt, vom Okzident zum Orient zu fließen, kann dennoch zuletzt keine Verbindung zwischen beiden Bereichen schaffen, sondern muss mit ansehen, wie sich die westlichen und die östlichen Städte an ihren Ufern gegenseitig bekriegen: Une croix, un croissant fragile Changent en enfer ce beau lieu. Vous échangez la bombe agile Pour le koran et l’évangile?55

Angesichts solcher handfester Antagonismen ist die verbindende und grenzenauflösende Funktion des Kaisers umso höher einzuschätzen – ein gewisser Zweifel an der Wirksamkeit dieser Funktion bleibt jedoch nach Diagnosen wie derjenigen der Donau nicht aus. Die Sammlung der Orientales endet deshalb keineswegs mit einem positiven Bild der Verbindung von Okzident und Orient, ja, nicht einmal mehr mit einem direkten Bild des Orients allein, sondern mit der Rückkehr in ein winterliches Paris, in dem alles, was der Gedichtzyklus vorher entworfen hatte, nur noch als ein blasser Abglanz erscheint.

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Vgl. Victor Hugo: Bounaberdi, Les Orientales, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I. Vgl. Victor Hugo: Lui, Les Orientales, ebd. Victor Hugo: Le Danube en colère, Les Orientales, ebd. Vgl. zum Antagonismus zwischen Islam und Christentum in Hugos Werk Georges Jacques: De Charlemagne à Charles-Quint: une vision de l’Europe dans ‹Hernani›, in: Françoise Chenet-Faugeras (Hg.): Victor Hugo et l’Europe de la pensée, Paris: Nizet 1995, S. 99–109, besonders S. 106–108.

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C’est Paris, c’est l’hiver. – A ta chanson confuse Odalisques, émirs, pachas, tout se refuse. […] Pleurant ton Orient, muse ingénue, Tu viens à moi, honteuse, et seule, et presque nue, – N’as-tu pas, me dis-tu, dans ton cœur jeune encor Quelque chose à chanter, ami? car je m’ennuie A voir ta blanche vitre où ruisselle la pluie, Moi qui dans mes vitraux avait un soleil d’or!56

Mit dem Ennui der Muse enden die Orientales, deren Vorwort so optimistisch begonnen hatte: Das abschließende Gedicht ist 1828 entstanden; nur kurz darauf wird Victor Hugo in seinem spanischen Drama Hernani (1830) zu einer sehr viel pessimistischeren Bewertung jener Dinge kommen, die noch in der Gedichtsammlung als fruchtbares Zusammenleben von Osten und Westen, von Orient und Okzident, von Islam und Christentum beschrieben werden: «Le danger arabe fait […] l’objet de plusieurs allusions transparentes», so fasst Georges Jacques diesen neuen Fokus des Dramas zusammen.57 Wie schon seine Konzeption des Empires als sich defensiv abschließendes Territorium endet also auch Hugos Vision von einem offenen Empire der Bewegung zwischen den Welten mit einem leisen Zweifel. In beiden Konzeptionen ist Europa um die starke Figur des Kaisers herum gruppiert – einmal ist er derjenige, der entgegen dem zeitgenössischen Chaos der Staaten versucht, das europäische Territorium zu ordnen und zu befestigen, es mithin nach außen abzuschließen; das andere Mal trägt er mittels seines eigenen Nomadentums dazu bei, dieses Europa sowohl räumlich als auch kulturell für einen Austausch mit dem Orient zu öffnen und so den Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden aufzuheben. Obwohl Hugo über Jahre hinweg seiner positiven Bewertung des Empires unter der Führung eines starken Kaisers treu bleiben und darin bis in die vierziger Jahre hinein eine ideale Organisationsform für Europa sehen wird, ist doch deutlich, dass den beiden unterschiedlichen Konzeptionen von Europa als Empire dennoch ein Widerspruch inhärent ist: Das europäische Territorium als stabile Einheit wird durch seine implizite Förderung des Nationalismus konterkariert,58 und die Vorstellung von einem offenen Raum Europa gerät im Hinblick auf dessen kulturelle Identität schließlich an ihre Grenzen. Je ausdrücklicher sich Victor Hugo deshalb von den späten dreißiger Jahren an um eine aktive Rolle in der Politik der Juli-

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Victor Hugo: Novembre, Les Orientales, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I. Georges Jacques: De Charlemagne à Charles-Quint: une vision de l’Europe dans ‹Hernani›, S. 106. Wenngleich Franck Laurent darauf hinweist, dass Hugo alles getan habe, um diese Gefahr zu umgehen: «Hugo […] minore systématiquement le rôle de Napoléon dans l’érection des nationalismes européens.» (Franck Laurent: «Car nous t’avons pour Dieu sans t’avoir eu pour maître» Le Napoléon de Victor Hugo dans l’œuvre d’avant l’exil, compte rendu de la communication au Groupe Hugo le 16 septembre 2000, http:// groupugo.div.jussieu.fr/Groupugo/00-09-16Laurent.htm, S. 13 (29.01.2005)).

monarchie bemühen wird, desto dezidierter formuliert er in diesen Jahren andere Konzeptionen von Europa.

2.2

Miguel de Unamuno: Europa als das Andere Spaniens

Victor Hugo hatte Spanien in seinen Orientales als eine Schwelle dargestellt – als Schwelle zwischen Okzident und Orient, als Schwelle zwischen Europa und dem, was nicht mehr Europa ist. Spanien ist der Ort, an dem sich die Gegensätze zwischen der westlichen und der östlichen Hemisphäre in einem harmonischen Ganzen auflösen. Das impliziert aber gleichzeitig, dass Spanien für Hugo anders als Frankreich oder Deutschland nicht zum Zentrum Europas gehört. Spanien ist die Schwelle, über die man Europa verlassen kann und liegt insofern notwendig am Rand. Von dieser Position vom Rand aus schreibt nun Miguel de Unamuno wenige Jahrzehnte nach Victor Hugo über Europa. Als er anfängt, sich mit der Frage nach Europa – und mit der Rolle Spaniens in Europa – zu beschäftigen, steht ein entscheidendes Datum der spanischen Geschichte unmittelbar bevor: 1895 veröffentlicht Unamuno seine fünf Artikel En torno al casticismo, in denen er zum ersten Mal ausdrücklich das Verhältnis zwischen Spanien und Europa thematisiert; 1898 verliert Spanien dann nach der Niederlage gegen die USA in den Seeschlachten von Cavite und Santiago de Cuba seine letzten Kolonien Kuba, Puerto Rico und die Philippinen. Nach vier Jahrhunderten als Kolonialmacht und Weltreich sieht man sich jetzt geographisch und politisch auf das bloße Mutterland auf der Iberischen Halbinsel reduziert. Die Niederlage, die in der Geschichtsschreibung wie in der Literatur schnell unter dem Signum ‹el desastre› firmiert, wird deshalb in der Folge zum Anlass einer intensiven Diskussion um die Rolle, die Spanien in der Welt – oder jetzt, nach dem Verlust der Kolonien, eben in Europa – noch zu spielen imstande sei.59 Die Verfallserscheinungen waren bereits in den Jahren unmittelbar vor dem Verlust der Kolonien immer deutlicher geworden – Paul Aubert schreibt über das Spanien am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, es sei ein «pays périphérique en voie de développement» gewesen,60 und die Fakten geben ihm recht: Spanien ist wenig industrialisiert, statt dessen überwiegend agrarisch geprägt; im Jahr 1877 sind drei Viertel, 13 Jahre später immerhin noch zwei Drittel der Bevölkerung Analphabeten – Auberts Wort «périphérique» scheint sich vor diesem Hintergrund kaum allein auf die geographische Position Spaniens in Europa zu beziehen.61

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Vgl. Mariano Esteban de Vega: Los conceptos de decadencia y regeneración en la España de fin de siglo, in: Jean-Claude Rabaté (Hg.): Crise intellectuelle et politique en Espagne à la fin du XIXe siècle, Paris: Ed. du Temps 1999, S. 75–87. Paul Aubert: Introduction, in: Ders.: Les Espagnols et l’Europe, Toulouse: Presses universitaires du Mirail 1992, S. XI. Vgl. Walther L. Bernecker: Spanische Geschichte. Von der Reconquista bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 131–149.

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Die Jahreszahl 1898 bekommt deshalb schnell Symbolkraft: Der auch nach außen deutlich sichtbare Kräfteverfall des ehemaligen Imperiums beschleunigt die Debatte um seine zukünftige Rolle unter den europäischen Großmächten umso mehr, als die spanische Orientierung auf die überseeischen Kolonien hin bisher immer auch Grund für eine zumindest partielle Abwendung des Landes von Europa gewesen war.62 Jetzt sieht sich Spanien dagegen gezwungen, sein Verhältnis zu Europa neu zu definieren. Diese Frage wird vor allem unter den spanischen Intellektuellen verhandelt. Deren Kritik an den innenpolitischen und gesellschaftlichen Zuständen Spaniens spielt bei der Debatte um seine außenpolitische und kulturelle Einbindung nicht zuletzt deshalb eine Rolle, weil die spanische Dekadenz in besonderer Weise immer auch als Rückständigkeit im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern empfunden wird. In der Diskussion geht es deshalb immer um die Möglichkeiten einer Erneuerung und Regeneration des eigenen Landes, vor allem gemessen an dem, was man als das europäische Maß der Dinge ansieht.63 Der Begriff der Regeneration wird dabei zum Leitmotiv: Es sind vor allem zwei Gruppen von Intellektuellen, die die Öffentlichkeit in dieser Zeit prägen, und deren Interventionen im Zusammenhang mit der Dekadenz von Interesse sind. Zum einen sind das die sogenannten regeneracionistas um Joaquín Costa, die durch ihre Kritik an der Korruptheit des politischen Restaurationssystems einen ersten Schritt zur Erneuerung und Reformierung des Landes leisten möchten.64 Diese eher an praktischen Lösungsvorschlägen für die Krise interessierte Gruppe tritt im Zuge ihrer Regenerationsbemühungen vor allem für verbesserte Bildungschancen auch für die Massen ein und ist dabei stark vom Fortschrittsoptimismus des Krausismus und von der in dessen Geist stehenden Institución libre de Enseñanza beeinflusst.65 Vor allem für diesen regeneracionismo hebt Joseph A. Agee explizit den europäischen Bezugspunkt hervor, wenn er über die Bewegung schreibt: «Su esencia estriba en la comparación ineludible entre el atraso de España con los adelantos continuos de Europa».66 Dasselbe könnte man aber, unter leicht veränderten Vorzeichen, auch von der zweiten Gruppe sagen, die wenig später im Zusammenhang

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Vgl. Hans Hinterhäuser (Hg.): Spanien und Europa. Stimmen zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München: DTV 1979, S. 25. Vgl. allgemein zum spanischen Rückstand gegenüber Europa Dardo Cúneo: Sarmiento y Unamuno, Buenos Aires: Ed. Pleamar 31963, S. 193–194. Als ein Beispiel für diese Kritik an den spanischen Zuständen sei hier – stellvertretend für viele – Costas Schrift Oligarquía y caciquismo von 1901 genannt. Vgl. allgemein zum regeneracionismo Carlos Seco Serrano: La renovación política: el regeneracionismo, in: Pedro Laín Entralgo/Ders. (Hg.): España en 1898. Las claves del desastre, Barcelona: Galaxia Gutenberg 1998, S. 235–260. Vgl. zu der in Spanien einflussreichen philosophischen Schule des Krausismus (die auf den sächsischen Spätkantianer Karl Christian Friedrich Krause zurückgeht): Juan López Morillas: El krausismo español. Perfil de una aventura intelectual, México: Fondo de cultura económica 21980. Joseph A. Agee: Unamuno y Ganivet ante el problema de España, Ann Arbor: Univ. Microfilms Internat. 1979, S. 16.

mit dem ‹spanischen Problem› öffentlich Stellung bezieht.67 Diese Gruppe von Autoren, die sogenannte 98er-Generation, zu der auch Miguel de Unamuno gezählt wird, nähert sich den virulenten Fragen nach der Zukunft Spaniens weniger von der praktischen Seite, als vielmehr unter ästhetisch-literarischen Gesichtspunkten. Auch wenn es strittig ist, ob es eine solche Generation im Sinne einer sich tatsächlich als einheitlich und verbunden wahrnehmenden literarischen Gruppierung tatsächlich gegeben hat, so lässt sich doch feststellen, dass den Schriftstellern um Unamuno zumindest das Interesse an der Auseinandersetzung mit Spanien und innerhalb dieser Auseinandersetzung auch der europäische Bezugspunkt gemeinsam ist.68 Die spanische Debatte um die eigene Dekadenz braucht diesen europäischen Bezugspunkt – man ist immer dekadent und rückständig im Vergleich zu etwas anderem, und zwar ausdrücklich im Vergleich zum Rest Europas. Die zwei einander entgegengesetzten Lager innerhalb dieser Diskussion unterscheiden sich vor allem in ihrer Bewertung dieses europäischen Bezugs. Dabei stehen, vereinfacht dargestellt, den modernen und progressiven Europa-Befürwortern die traditionsbewussten und eher konservativen Europa-Skeptiker gegenüber – den europeizantes oder europeístas also die antieuropeos.69 Während sich die einen von einem Einfluss

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Vgl. zu diesem Themenkomplex des ‹spanischen Problems› Pedro Laín Entralgo: España como problema, Madrid: Aguilar 1956; Joseph A. Agee: Unamuno y Ganivet ante el problema de España, und María Pilar Rodríguez: ¿Qué desastre? ¿Qué nación? ¿Qué problema? Revisiones del nacionalismo español y del nacionalismo vasco a la luz de Miguel de Unamuno, in: INTI (Revista de Literatura Hispánica) 51 (2000), S. 3–16, hier vor allem S. 5. Vgl. zur Debatte über die Berechtigung dieser Generationseinteilung stellvertretend aus der großen Zahl von Beiträgen einige neuere Stellungnahmen: José Luis Bernal Muñoz: ¿Invento o realidad? La generación española de 1898, Valencia: Pre-Textos 1996; Vicente Cacho Viu: Ortega y el espíritu del 98, in: Revista de Occidente 48–49 (1985), S. 9–53; Ders.: Repensar el noventa y ocho, Madrid: Ed. Biblioteca Nueva 1997; Miguel Àngel García: La ‹generación de los intelectuales› frente al noventayocho: el largo porvenir de España, in: Imprévue 1999–2, S. 119–145; Luis Iglesias Feijoo: Sobre la invención del 98, in: Víctor García Ruiz/Rosa Fernández Urtasun/David K. Herzberger (Hg.): Del 98 al 98, Pamplona: Rilce 1999, S. 3–11; Jochen Mecke: Una estética de la diferencia: el discurso literario del 98. ¿Efemérides para un fantasma?, in: Iberoamericana 22 (1998), S. 109–143; Gonzalo Navajas: Contrateoría del 98, in: Letras Peninsulares 1996, S. 85–92. Vgl. zu dem europäischen Bezugspunkt der Autoren beispielsweise (und stellvertretend für viele) Martin Franzbach: Die Hinwendung Spaniens zu Europa. Die generación del 98, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988. «Das Thema Europa wird zu einem Kapitel der Auseinandersetzung zwischen den ‹beiden Spanien›, dem konservativen und dem liberalen, dem absolutistischen und dem demokratischen», schreibt Hans Hinterhäuser über diese Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und macht damit deutlich, dass die Diskussion um Europa in Spanien zu der großen Debatte wird, die teilweise stellvertretend für eine Reihe von kleineren Debatten geführt wird (Hans Hinterhäuser: Spanien und Europa. Stimmen zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, S. 19). Interessant ist, dass sich die Trennung der Lager in Europa-Skeptiker einerseits und Europa-Befürworter andererseits in Teilen bis heute in Spanien erhalten hat: In einem Interview über Spaniens Entwicklung seit Francos Tod erklärt beispielsweise der Schriftsteller Rafael Chirbes,

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Europas Impulse für die Überwindung der deutlich empfundenen eigenen Dekadenz erhoffen, sehen die anderen in der teilweise schon vollzogenen Annäherung an Europa gerade die Ursache für diese Dekadenz. Auch im Werk von Miguel de Unamuno findet sich die europäische Referenz immer wieder – und zwar in beiden Formen, der proeuropäischen ebenso wie der europaskeptischen. Viele seiner Interventionen im Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer Erneuerung Spaniens lassen sich im Kontext der Diskussion um die problematische Beziehung zwischen Spanien und Europa verorten. Im Vergleich zu den Zeitgenossen zeichnet sich Unamuno allerdings durch die Positionswechsel aus, die er innerhalb dieser Debatte vollzieht. An seiner Person lassen sich exemplarisch die unterschiedlichen Standpunkte der europeizantes und der antieuropeos darstellen. Delia Villalobos de Piccone hebt deshalb im Zusammenhang mit dem schwierigen Verhältnis von Spanien zu Europa besonders diese sich wandelnden Positionen Unamunos hervor, und unterstreicht damit seine Beispielhaftigkeit für die Diskussion: Se ha visto a España como hija y hermana de Europa o como nación transpirenaica aislada y solitaria. España es y no es Europa. Las dos posturas, la de los europeizantes y la de los antieuropeos, se dan a veces en el mismo individuo como en el caso de Unamuno.70

Dass Unamuno in der spanischen Debatte um Europa letztlich beide Positionen vertreten hat, dass er deshalb entweder beide gültig repräsentiert oder aber keine von beiden, das ist immer wieder Anlass dazu gewesen, seine Stellungnahmen zu diesem Thema im Sinne einer allmählichen Abwendung von dem europäischen Vorbild für Spanien darzustellen: Während er zunächst, vor allem in den Jahren vor der Jahrhundertwende, noch klar für eine Öffnung Spaniens gegenüber Europa und seinen Werten eingetreten sei, entspreche dem im Gegenzug dann in den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende die Abwendung von Europa und statt dessen die Propagierung der ureigenen spanischen Werte.71 Häufig werden diese beiden einander scheinbar entgegengerichteten Bewegungen dabei mit den

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es seien in den Jahren der transición die «Europäisten» gewesen, die den offiziellen historischen Diskurs bestimmt hätten; inzwischen gelte es, dieser Erzählung vom gelungenen Anschluss Spaniens an Europa einen anderen – nicht-europäistischen – Diskurs entgegenzusetzen. Vgl. Katharina Deloglu: Die Literatur muss den Blick waschen. Ein Gespräch mit Rafael Chirbes zum 30. Todestag Francos, in: Süddeutsche Zeitung, 18.11.2005, S. 16. Delia Villalobos de Piccone: Soledad y esperanza en el mundo poético de Miguel de Unamuno, Buenos Aires: Corregidor 1998, S. 107–108. Vgl. zwei neuere Beispiele für diese Interpretation: Concha de Unamuno Pérez: Unamuno y Cournot. Ciencia y sabiduría, in: Nicole Delbecque/Christian De Paepe (Hg.): Estudios en honor del professor Josse de Kock, Leuven: Leuven University Press 1998, S. 769–781, hier S. 777, und Pedro Ribas: Para leer a Unamuno, Madrid: Alianza Ed. 2002, S. 156.

an Unamuno angelehnten Schlagworten von der Europäisierung Spaniens einerseits und der Hispanisierung Europas andererseits beschrieben.72 Im Folgenden sollen die beiden Positionen allerdings weniger in ihrer Gegensätzlichkeit skizziert werden als vielmehr im Sinne von sich ergänzenden Perspektiven, die gerade auch an jenen Stellen aufeinander bezogen bleiben, an denen sie am widersprüchlichsten zu sein scheinen. Deshalb gilt es in Bezug auf diese beiden unterschiedlichen Blickwinkel auf Europa besonders die gemeinsame Voraussetzung hervorzuheben, die ihnen zugrunde liegt: Beiden Positionen ist trotz ihrer augenfälligen Unterschiede gemeinsam, dass ein als anders empfundenes Europa für sie diejenige Referenz ist, die hilft, Auswege aus der spanischen Krise aufzuzeigen. Unamunos erste Auseinandersetzung mit Europa wird deshalb hier unter der Überschrift ‹Europa als das Andere Spaniens› verhandelt. Dabei soll deutlich werden, dass es ihm in diesen Jahren um die Jahrhundertwende anders als Victor Hugo in der Zeit nach dem Wiener Kongress nicht um Entwürfe geht, die Europa und seine Ordnung selbst in den Blick nehmen. Bei Unamuno wird vielmehr das Verhältnis diskutiert, das Spanien zu diesem Europa hat, haben kann oder haben soll. Es geht weniger um geopolitische Grenzen als vielmehr um kulturelle, und insofern wird Europa bei Unamuno in dieser Zeit nie ohne Spanien als seinen Gegenpol gedacht. 2.2.1

Europeizar a España

Para afrentarnos y rebajarnos se inventó aquella frase de que el Africa empieza en los Pirineos, y aquí nos hemos pasado los años procurando borrarla y citándola como un bochorno. Día llegará – tengo en ello fe y esperanza – en que repitamos con orgullo esa frase y digamos a nuestra vez mirando allende nuestros montes linderos: ‹Europa empieza en los Pirineos›.73

Es scheint alles eine Frage der Perspektive zu sein: Miguel de Unamuno vollzieht in dieser kurzen Textpassage eine Wendung, die symptomatisch für seinen Umgang mit der Frage nach der Rolle Spaniens in Europa ist. Hatte man nämlich über Jahrhunderte hinweg von europäischer Seite, aus der Perspektive des Nordens, immer wieder – durchaus polemisch – die Pyrenäen an Stelle des Mittelmeers als natürliche Grenze für Europa angenommen, und Spanien und Portugal auf diese Weise aus dem Verbund der europäischen Staaten und vor allem der europäischen Kultur ausgegrenzt,74 und hatte diese Ausgrenzung das spanische Selbstbewusstsein

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Vgl. etwa Christoph Rodiek: Europäisierung und Modernität im Werk Miguel de Unamunos, in: Willi Hirdt (Hg.): Europas Weg in die Moderne, Bonn: Bouvier 1991, S. 203–221. Miguel de Unamuno: Sobre la independencia patria, in: Ders.: Obras Completas III, Madrid: Escelicer 1968, S. 732. In einem anderen Text zitiert Unamuno in diesem Zusammenhang etwa einen englischen Zeitungsartikel – vgl. Miguel de Unamuno: La independencia de Iberoamerica, in: Ders.: Obras Completas IV, Madrid: Escelicer 1968, S. 638–640. Vgl. zu diesem Thema auch die Argumentation von Victor Hugo: Dieser erklärt Spanien in seinen Orientales explizit zum afrikanischen Land (vgl. Kapitel 2.1.2 Offener Raum). Vgl. auch Hans Hinterhäuser

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im Laufe der Zeit erheblich beeinträchtigt, so markiert Unamunos Text aus dem Jahr 1908 jetzt eine selbstbewusste – und nicht minder polemische – Neuinterpretation der These von den Pyrenäen als natürlicher Grenze Europas: Wenn aus europäischer Perspektive Afrika wirklich schon jenseits der Pyrenäen anfängt, dann ist es nur ein kleiner Schritt hin zu Unamunos spanischem Blickwinkel – dann fängt für Spanien umgekehrt auch Europa erst jenseits der Pyrenäen an. Die kurze Passage macht deutlich, worin die Besonderheit von Unamunos Annäherung an Europa liegt: Weil er zu keinem Zeitpunkt von einem europäischen Zentrum aus argumentiert, wie es Victor Hugo von Paris aus tut, geht es bei ihm zunächst ganz grundsätzlich um die Frage, ob Spanien überhaupt zu Europa gehört oder nicht – eine solche Frage in Bezug sein Land wäre bei Hugo undenkbar gewesen, der Frankreich ganz selbstverständlich zum Zentrum seiner Vorstellung von Europa gemacht hatte. Spanien aber liegt, von Europa aus betrachtet, an der Peripherie – und dieses Gefühl der Peripherie verstärkt sich innerhalb Spaniens in dem Maße, in dem das eigene Land als rückständig im Vergleich zu Europa wahrgenommen wird. Diese Annahme eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen Spanien einerseits und Europa andererseits findet auch in der Madrider Monatsschrift La España Moderna ihren Ausdruck. Diese 1889 gegründete liberale Zeitschrift zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie eine Art gekreuzten Blick fördert: «celui de l’Espagne intellectuelle sur l’Europe contemporaine et celui des étrangers sur l’Espagne actuelle et du passé.»75 In der zeitgenössischen Debatte um Möglichkeiten der spanischen Erneuerung und der Überwindung der Dekadenz ist die Zeitschrift vor allem ein Forum für Artikel, die in einem entschieden progressiven Sinne Stellung beziehen. Die España Moderna «traduit un profond désir de rénovation nationale, bien avant que 1898 ne mette le mot regeneración à la mode.»76 Hier erscheinen zwischen Februar und Juni 1895 nacheinander die fünf Artikel von Miguel de Unamuno, die er sieben Jahre später unter dem Titel En torno al casticismo zusammen veröffentlichen würde. En torno al casticismo – der nachträglich gefundene Titel, den die Artikel gemeinsam tragen, verrät bereits viel über die Methode, deren sich Unamuno darin bedient. Der Ausdruck «en torno» – wörtlich ins Deutsche übersetzt etwa «um etwas herum» – suggeriert eine gewisse Dynamik; eine Dynamik, die laut Rabaté dem Stil und dem Vorgehen desjenigen entspreche, «qui se complaît à ‹divaguer›, mais au sein d’associations d’idées extrêmement logiques.»77 Tatsächlich betont auch Unamuno selbst diese assoziative und letztlich wenig strukturierte Vorgehensweise. So schreibt er 1902, als die fünf Artikel zum ersten Mal gemeinsam unter dem Titel En torno al casticismo erscheinen, er habe es für diese Gesamtausgabe

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(Hg.): Spanien und Europa. Stimmen zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, S. 24–25. Jean-Claude Rabaté: Idéologie et politique dans ‹En torno al casticismo›, in: Ders.: (Hg.): Crise intellectuelle et politique en Espagne à la fin du XIXe siècle, Paris: Ed. du Temps 1999, S. 147–182, hier S. 154. Ebd. Ebd., S. 151.

vorgezogen, den Text in seinem Originalzustand zu belassen und keine Änderungen mehr vorzunehmen: Va, pues, como apareció en los números de La España Moderna, con todo lo que tiene de caótico, de digresivo, de fragmentario, de esbozado y de no concluido. No he querido quitarle frescura para darle cohesión.78

Die Tatsache, dass die fünf Artikel in der fortschrittlichen España Moderna erscheinen, lässt bereits vorab Rückschlüsse auf ihre Argumentationsweise zu. Der gekreuzte Blick zwischen Spanien und Europa, den Jean-Claude Rabaté als charakteristisch für die Zeitschrift hervorgehoben hatte, prägt auch Unamunos Text – Manuel Díaz Castillo etwa beschreibt dessen Vorgehen als Versuch, sich Europas als «contrapunto ejemplificador a la autoimagen española» zu bedienen.79 En torno al casticismo markiert insofern eine erste, wichtige Station in Unamunos Auseinandersetzung mit Europa: Zum ersten Mal ist Europa hier der Gegenpol Spaniens, der es in den Jahren rund um die Jahrhundertwende bleiben wird. Die fünf Essays bilden in diesem Kontext eine thematische Einheit – es geht um die Erneuerung Spaniens vor dem Hintergrund der aktuellen Krise. Rund um das eigentlich Spanische, das spanische Wesen betreffend, so könnte man den Titel En torno al casticismo ins Deutsche übersetzen; Marcel Bataillon überträgt ihn mit L’essence de l’Espagne ins Französische.80 Unamunos eigene Begriffsbestimmung zu Beginn des ersten Essays erklärt sein weites Verständnis des Adjektivs «castizo» und des davon abgeleiteten Substantivs «casticismo» als alles, was «rein und ohne Beimischung fremder Elemente» ist.81 Während das Adjektiv «castizo» sich in verschiedenen Bereichen darauf beziehen kann, was im eigentlichen Sinne spanisch ist und was dem spanischen Wesen, der spanischen Natur, dem spanischen Sprachgebrauch und also im weitesten Sinne der Tradition Spaniens entspricht, wird das Substantiv «casticismo» schnell zur Doktrin: Der casticismo steht nach Unamunos Auffassung im Zentrum der aktuellen Probleme Spaniens, und dies vor allem insofern, als sich der Konflikt zwischen spanischen Traditionalisten und Europäisten genau an der Frage entzündet, was das denn sein könne, was wirklich rein und ohne Beimischung fremder Elemente spanisch ist.82

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Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, in: Ders.: Obras Completas I, S. 778. Angesichts der Tatsache, dass Unamuno hier selbst den skizzenhaften Charakter seiner Essays betont, greift die Kritik von J. W. Butt ein wenig zu kurz, der En torno al casticismo «an ill-written collection of essays» nennt (vgl. J. W. Butt: Unamuno’s idea of ‹intrahistoria›; its origins and significance, in: Nigel Glendinning (Hg.): Studies in Modern Spanish Literature and Art, London: Tamesis Books 1972, S. 13–24, hier S. 13). Manuel Díaz Castillo: La imagen de Europa en Unamuno, Granada: Servicio de Publ. 1991, S. 209. Vgl. Jean-Claude Rabaté: Idéologie et politique dans ‹En torno al casticismo›, S. 151. Vgl. Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 783. Jean-Claude Rabaté sieht den Konflikt bereits in dem Wort «casticismo» selbst angelegt: «Puesto que el casticismo es la calidad intrínseca de lo que es auténtica y típicamente español, excluye elementos foráneos. El término acarrea, desde hace tiempo, conflictos entre tradicionalistas y los que encarnan el espíritu nuevo y europeo.» (Jean-Claude

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In seinen fünf Essays argumentiert Miguel de Unamuno gegen das enge und einseitige Verständnis des casticismo, wie es die spanischen Traditionalisten vertreten – und gegen die Folgen, die eine solch enge Interpretation des spanischen Wesens haben kann. So spricht er sich dagegen aus, diesen casticismo, den man gemeinhin als «cualidad excelente y ventajosa» betrachte,83 zu sehr in dem Sinne zu verstehen, dass jene Rassen überlegen seien, die unter der Prämisse ihres casticismo ‹reiner› und weniger fremden Einflüssen ausgesetzt zu sein scheinen als die anderen. Nicht zuletzt deshalb schildert er Spanien als ein vor allem geistig armes Land, in dem es keine Innovationen, keine aufstrebende Jugend und kein gemeinsames Programm für die Zukunft gebe. Dafür trage die Inquisition die Verantwortung, die Spanien vom europäischen Geistesleben isoliert habe und deren letzte Ausprägung die zeitgenössische Überbewertung des casticismo sei. Unamuno fragt hier – wie implizit in allen fünf Essays – nach der Verbindung des «estado mental de nuestra patria» zu den Einflüssen, die das Land von außen erfahren hat und weiter erfährt: Kommt es in Spanien angesichts dieser Einflüsse von außen wirklich zu einem Erlöschen der «personalidad nacional», wie die spanischen Traditionalisten und Befürworter des casticismo argumentieren? Oder sind diese Einflüsse von außen nicht vielmehr die Bedingung dafür, dass die spanische «personalidad nacional» überhaupt als solche existieren kann?84 Wenn er bei der Behandlung der spanischen Mystik den fruchtbaren Einfluss der europäischen Renaissance hervorhebt, zeigt das, in welche Richtung er bei der Beantwortung dieser Frage tendiert – er wendet sich mit seiner Kritik am casticismo gegen die Verfechter des unbeweglichen Traditionalismus und plädiert für eine Beeinflussung durch die geistigen Strömungen aus Europa.85 Dennoch ist seine Position in En torno al casticismo auch der entgegengesetzten Meinung gegenüber nicht unkritisch. So distanziert er sich ebenso deutlich wie von den starren Traditionalisten von jenen, die die spanischen Traditionen zugunsten der europäischen Beeinflussung ganz über Bord werfen wollen: Auch die Position dessen, der, wie Unamuno schreibt, nach der Maxime «¡Que nos

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Rabaté: Guerra de ideas en el primer Unamuno (1880–1900), Madrid: Biblioteca Nueva 2001, S. 89–90.) Vgl. dazu auch Joseph A. Agee: Unamuno y Ganivet ante el problema de España, S. 89–99. Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 783. Vgl. ebd., S. 785. Noch Jahre später, 1903, wird er den unfruchtbaren casticismo für die geistige Stagnation in Spanien verantwortlich machen: «Hay que volver a levantar voz y bandera enfrente y en contra del purismo casticista, de esta tendencia, que mostrándose a las claras cual mero empeño de conservar la castidad de la lengua castellana, es, en realidad, solapado instrumento de todo género de estancamiento espiritual y, lo que es peor aún, de reacción entera y verdadera.» (Miguel de Unamuno: Contra el purismo, in: Ders.: Obras Completas I, S. 1063). Manuel Díaz Castillo spricht im Zusammenhang mit dieser Gegenüberstellung von spanischem Traditionalismus und europäischer Kultur davon, Europa habe Unamuno als «arma de combate contra los reductos defensivos del tradicionalismo acérrimo» gedient (Manuel Díaz Castillo: La imagen de Europa en Unamuno, S. 311).

conquisten!» lebt, entspricht nicht seinem Verständnis davon, wie die Dekadenz Spaniens überwunden werden kann: Lo mismo los que piden que cerremos o poco menos las fronteras y pongamos puertas al campo, que los que piden más o menos explícitamente que nos conquisten, se salen de la verdadera realidad de las cosas.86

Die Position, die Unamuno in En torno al casticismo vertritt, lässt sich deshalb auf verschiedene Art und Weise beschreiben – so stellt Concha de Unamuno Pérez fest: Existen dos posiciones en conflicto: la de los europeizantes, […] y la de los casticistas o hispanizantes […] Unamuno va a enfrentarse a unos y a otros.87

Dagegen betont Mariano Álvarez Gómez weniger die Konfrontation als vielmehr den Wunsch nach Ausgleich, wenn er im selben Kontext über Unamuno schreibt: Por una parte critica el casticismo que consiste en defender lo que se considera como fiel legado de la tradición española frente al río ‹de la invasión europea›. Pero critica igualmente la actitud opuesta de quienes están a favor de que nos conquisten de fuera, de que nos invada simplemente lo extraño. […] Unamuno va buscando una posición de equilibrio.88

Trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte wird aber in beiden Interpretationen deutlich, dass Unamunos Intervention in En torno al casticismo einen wesentlichen Beitrag in der Debatte zwischen europeístas und antieuropeos darstellt – und zwar gerade dadurch, dass sie keine der beiden Positionen absolut setzt. Damit beschreitet Unamuno einen eigenen Weg, der vermeiden soll, was er im ersten seiner fünf Essays mit einer Metapher beschreibt: Es cierto que los que van de cara al sol están expuestos a que los ciegue éste; pero los que caminan de espaldas por no perder de vista su sombra, de miedo de perderse en el camino, […] están expuestos a tropezar y caer de bruces.89

Unamunos eigene Position, so könnte man sein Bild weiter entwickeln, entspricht dagegen der desjenigen Wanderers, der zwar sein Gesicht durchaus der europäischen Sonne zuwenden möchte, der dabei aber dennoch nicht darauf verzichtet, ab und an den Kopf zu wenden, um den spanischen Weg im Auge zu behalten, den er bereits zurückgelegt hat. Konkret bedeutet das, dass Miguel de Unamuno sich in En torno al casticismo für ein Gleichgewicht zwischen einer Beeinflussung durch Europa und einer Besinnung auf das Eigene ausspricht – das eine ist für ihn nicht ohne das andere denkbar. In diesem Kontext wird nun deutlich, inwiefern Europa in der Auseinandersetzung Spaniens mit sich selbst in diesen Jahren wirklich die

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Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 786. Concha de Unamuno Pérez: Unamuno y Cournot. Ciencia y sabiduría, S. 777. Mariano Álvarez Gómez: Unamuno y Ortega. La búsqueda azarosa de la verdad, Madrid: Biblioteca Nueva 2003, S. 61. Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 787.

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Funktion eines Referenzmodells übernehmen kann, das durch seine Andersartigkeit die Augen auch für die Mängel und Vorzüge des Eigenen öffnen hilft: Nur wer offen ist für Fremdes, kann sich in der Gegenbewegung dazu ernsthaft mit dem Eigenen auseinandersetzen; nur wer das Eigene gut kennt, kann vom Fremden positiv beeinflusst werden.90 Unamuno fasst diesen grundlegenden Gedanken am Ende von En torno al casticismo in die einprägsame Formel: «España está por descubrir, y sólo la descubrirán españoles europeizados.»91 Hier fällt schließlich ausdrücklich das Wort, das in der ganzen Diskussion um Spaniens Rückständigkeit und Europas Vorbildfunktion im Mittelpunkt steht: Es geht in diesen Jahren um die Europäisierung Spaniens, und dieses Wort von der Europäisierung impliziert dabei weniger die Beschreibung eines Zustandes als vielmehr ein dynamisches Moment: Eine solche Europäisierung kann nur an einer Stelle einsetzen, die nicht bereits europäisch ist. Diese Annahme einer nichteuropäischen Verfasstheit Spaniens ist damit die erste Voraussetzung für Unamunos Vorschläge hinsichtlich einer Erneuerung der spanischen Gesellschaft: Auf der einen Seite muss Spanien europäischer werden, um seine Dekadenz überwinden zu können. Auf der anderen Seite darf diese Europäisierung niemals nur um ihrer selbst willen geschehen: Spanien soll europäisiert werden, damit es sich selbst entdecken kann. Nicht um Eroberung und Übernahme von fremden Modellen geht es Unamuno also, sondern um das Erlernen eines bestimmten Interesses sowohl am Fremden als auch am Eigenen. Diese Forderung nach der Europäisierung eines noch nicht (oder nicht mehr) europäischen Landes und die nähere Beschreibung der Europäisierung als Mittel zum Zweck der Selbsterkenntnis legen allerdings die Frage nahe, worin denn diese Europäisierung eigentlich bestehen soll. Was bedeutet Europäisierung, wie europäisiert man ein Land, was genau hat Unamuno im Blick, wenn er davon spricht, Spanien müsse sich dem europäischen Einfluss öffnen? In den Jahren vor der Jahrhundertwende gibt er hinsichtlich dieser Frage wenig konkrete Erklärungen. Die Europäisierung ist ein Schlagwort, bei dem man davon ausgehen konnte, dass die mit der Diskussion vertrauten Zeitgenossen wissen würden, was damit gemeint war. Unamunos Umgang mit dem Wort ist deshalb unproblematisch – keine Definition, keine Abgrenzung und keine nähere Erläuterung.92 Das ändert sich, sobald für ihn das Konzept problematisch zu werden beginnt, das sich hinter dem Wort verbirgt. Die Notwendigkeit einer begrifflichen Klärung erschließt sich erst dann vollständig, wenn es um die Definition einer eigenen Position geht, die den in Frage stehenden Begriff in Zweifel zieht. Das ist bei Unamuno in den Jahren

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Auf diesen Kontext bezieht sich auch Manuel Díaz Castillo, wenn er allgemein über die Zeit um die Jahrhundertwende schreibt: «Es entonces cuando se hace un intento generoso y brillante de interpretación de la realidad española en relación con la cultura occidental.» (Manuel Díaz Castillo: La imagen de Europa en Unamuno, S. 78.) Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 866. In En torno al casticismo schreibt Unamuno, als er den Begriff der Europäisierung einführt, nur in einem allgemeinen Sinne über Übersetzungen von ausländischen Büchern und die Einflüsse fremder Sprachen, vgl. ebd., S. 785.

nach der Jahrhundertwende der Fall. Nachdem er in En torno al casticismo und in Texten aus derselben Epoche eher progressive Positionen vertreten und gegen die Isolierung Spaniens von Europa argumentiert hat, scheinen ihm in den Jahren um die spanische Niederlage 1898 gewisse Zweifel an der Möglichkeit einer positiven Beeinflussung Spaniens durch Europa zu kommen. Aus der Position desjenigen, der die europäistischen Thesen zunehmend kritisch betrachtet, schreibt er jetzt wesentlich klarer als zuvor darüber, was denn unter der Europäisierung überhaupt zu verstehen sei. Ein Text wie Sobre la tumba de Costa von 1911 ist dabei beispielhaft. Hier erklärt Unamuno trotz seiner deutlich formulierten Abneigung gegen allzu eindeutige Definitionen,93 was er unter der Europäisierung versteht. Zunächst trifft er in seinem Nachruf auf Costa nämlich eine Unterscheidung zwischen dem Akt der Propagierung eines Begriffes und der persönlichen Anhängerschaft an den Inhalt, der mit diesem Begriff transportiert wird. So argumentiert er, Joaquín Costa gelte zwar als der Urheber des Schlagworts von der Europäisierung, er sei aber selbst «uno de los españoles más antieuropeizantes» gewesen.94 Damit etabliert Unamuno eine grundsätzliche Differenzierung zwischen Begriff und Idee: Den Begriff ‹Europäisierung› mag Costa zwar in Spanien publik gemacht haben, der Idee dahinter habe er aber niemals angehangen.95 Diese Abgrenzung Costas von der Europäisierung und diese Unterscheidung zwischen Begriff und Idee sind notwendig, um in einem zweiten Schritt zu einer Erklärung des Begriffs ‹Europäisierung› selbst zu kommen. Zu dieser Frage der Europäisierung Spaniens heißt es dann nämlich: Claro está que no hay español inteligente y bien intencionado que desee ver su patria divorciada de la vida general de los pueblos cultos; pero hay más de un modo de participar de ella […] Todo menos esa actitud servil de papanatas, que no tiene en cuenta nuestro propio espíritu.96

Es geht um die Teilhabe Spaniens an dem, was Unamuno als «vida general de los pueblos cultos» bezeichnet. Unter der Überschrift ‹Europäisierung Spaniens› wird also darüber verhandelt, inwiefern das Land in der Lage ist, sich in die Gruppe der «gebildeten Völker» einzureihen – denn diese gebildeten Völker sind es offensichtlich, die für ihn Europa ausmachen. Hatte er dabei in seinem ersten Satz noch betont, dass es unter intelligenten Spaniern nicht ernsthaft zum Dissens über die Frage kommen könne, ob Spanien sich unter diese «pueblos cultos» einreihen solle oder nicht, dann deutet er aber bereits im nächsten Halbsatz eine vorsichtige Distanzierung an. Das Denkmuster gleicht dabei dem aus En torno al casticismo. Hier wie dort wird die Möglichkeit einer spanischen Beeinflussung

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Vgl. Miguel de Unamuno: Sobre la tumba de Costa, in: Ders.: Obras Completas III, S. 942. Ebd. «El fué quien popularizó eso de la europeización. Es decir, quien popularizó la palabra. Porque aquí se cobra más nombre popularizando una palabra o una frase que no una idea.» (Ebd., S. 941–942). Ebd., S. 942.

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durch Europa im Sinne eines mehr oder weniger enthusiastischen ‹ja, aber...› dargestellt. In den fünf Artikeln aus En torno al casticismo hatte Unamuno für die Europäisierung Spaniens als Ausweg aus der Krise gefochten, aber nicht für eine Europäisierung als Selbstzweck. Jetzt gilt es, sich für die Beteiligung am kulturellen Leben der gebildeten Völker auszusprechen, aber nur, wenn dabei das eigene Wesen berücksichtigt wird. Beide Positionen, die klarer proeuropäische in En torno al casticismo und die etwas europakritischere in Sobre la tumba de Costa, sind offensichtlich weniger weit voneinander entfernt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Im Zusammenhang mit Unamunos Ablehnung einer unreflektierten Angleichung Spaniens an Europa wird jetzt besonders klar, was Europa in dieser Diskussion um die spanische Rückständigkeit für ihn ausmacht: Europa kann nur in einem unauflöslichen Zusammenhang mit dem Begriff und der Idee der Bildung gesehen werden. Die Zugehörigkeit Spaniens zu diesem sich durch seine Bildung kennzeichnenden Europa ist dabei allerdings einmal mehr fraglich. Das wird insbesondere dadurch deutlich, dass Unamuno explizit die europäischen Methoden der Forschung von den spanischen unterscheidet, wenn er betont, diejenigen Joaquín Costas seien alles andere als europäisch gewesen: «Su método era de intuición, de adivinaciones parciales y sobre todo, de fantasía y de retórica».97 Ein solches Vorgehen kann eigentlich nicht wirklich wissenschaftlich sein. Damit ist es aber in der logischen Konsequenz auch nicht mehr europäisch. Dieses Verständnis von Europa als Ort der Wissenschaft wird nun zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass Unamuno auch seine eigene Position ins Spiel bringt. Obwohl er Philologie, Philosophie und Religionswissenschaften studiert habe, und obwohl er diese Fächer seit Jahren an der Universität lehre, habe er in seinem ganzen Leben noch nie ein Buch geschrieben, das den Anspruch habe, wissenschaftlich zu sein: «Todas mis obras, buenas o malas, pretenden ser literarias, de fantasía, de poesía, si queréis.»98 Ausdrücklich wird hier der Gegensatz zwischen Europa und Spanien beim Namen genannt: Überall dort, wo Europa Wissenschaft betreibe, schaffe Spanien Literatur. Mit dieser Feststellung definiert Unamuno den entscheidenden Unterschied zwischen Spanien und Europa als einen methodischen; die Frage der Europäisierung ist für ihn in letzter Konsequenz keine Inhalts-, sondern eine Methodenfrage. Europa ist also ein weniger räumlich als vielmehr ideell umgrenzter Ort, dessen wissenschaftliche Interessen Logik und Rationalität voraussetzen. In diesem Kontext ist deshalb auch Unamunos Entwurf einer idealen Beziehung zwischen Spanien und Europa zu verstehen, den er an seine Erläuterungen der methodischen Unterschiede zwischen beiden anschließt:

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Ebd., S. 942–943. Ebd., S. 943.

Alemania, verbigracia, nos da a Kant, y nosotros le damos a Cervantes. Harto hacemos con procurar enterarnos de lo suyo, que su ciencia y su metafísica fecundará nuestra literatura, y ojalá nuestra literatura llegue a ser tal que fecunde su ciencia y su metafísica.99

Es bleibt also nicht allein bei der Gegenüberstellung von Spanien und Europa, sondern es soll zu einer gegenseitigen Befruchtung des voneinander Verschiedenen kommen. Schon die fünf Artikel aus En torno al casticismo entwerfen ein solches ausbalanciertes Verhältnis zwischen Spanien und Europa – immer dann nämlich, wenn sie ebenfalls die Notwendigkeit des prekären Gleichgewichts zwischen der Öffnung nach Europa einerseits und der Besinnung auf die eigenen Traditionen andererseits beschwören. Vor allem gegen die einseitig traditionalistische Sicht des spanischen Wesens und der spanischen Vergangenheit entwirft Unamuno hier sein Konzept von der intrahistoria, von dem Jean-Claude Rabaté schreibt, es sei «la véritable clé de voûte de la pensée unamunienne» in diesen Jahren.100 Die intrahistoria stellt das notwendige Gegengewicht zur Europäisierung dar. Ebenso wie die konservativen Traditionalisten, gegen die sich seine Essays aus En torno al casticismo richten, beruft sich Unamuno mit diesem Konzept von der intrahistoria auf eine Vorstellung von der spanischen Tradition. Allerdings betont er dabei, und darauf kommt es an, diese Tradition müsse die «tradición eterna» der gelebten intrahistoria sein, und nicht die «tradición mentida», die man in Büchern und Denkmälern finde – mit dieser Unterscheidung grenzt er sich wieder von den Traditionalisten im engen Sinne des Wortes ab.101 Die intrahistoria, die innere Geschichte des einfachen Volkes, die nicht Eingang in die Bücher findet und der man keine Denkmäler setzt, ist nicht auf Spanien beschränkt – das ist der zweite Punkt, den es hier zu betonen gilt. Ausdrücklich hebt Unamuno hervor, dass eine solche intrahistoria sich jeden Tag aufs Neue in jedem Land der Erde ereigne. Dieser Gedanke unterscheidet sein Verständnis der Tradition grundsätzlich von demjenigen der Anhänger des casticismo, und deshalb kann er auch im gleichen Atemzug für eine Wiederentdeckung dieser tradición eterna und für eine Offenheit Spaniens gegenüber den geistigen Strömungen des modernen Europa plädieren. In diesem Sinne will Rabaté das Konzept der intrahistoria vor allem als «tentative ambiguë de synthèse idéologique»102 verstanden wissen: Unamuno erklärt nämlich in der Passage über die intrahistoria die Tradition selbst zur «sustancia del progreso» und relativiert damit die scharfe Abgrenzung

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Ebd., S. 945. Jean-Claude Rabaté: Idéologie et politique dans ‹En torno al casticismo›, S. 168. Vgl. zur intrahistoria vor allem die vielzitierte Passage aus En torno al casticismo, in der Unamuno das Konzept einführt: Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 793. Vgl. allgemein zum Begriff der Tradition bei Unamuno: Manuel Tuñón de Lara: Concepto de tradición en Costa y Unamuno, in: Ders.: Costa y Unamuno en la crisis de fin de siglo, Madrid: Edicusa 1974, S. 222–231. Vgl. zu Unamunos Opposition gegen die offizielle Geschichtsschreibung der Restaurationszeit Eduardo Pascual Mezquita: En torno a las lecturas historicistas del primer Unamuno, in: Cuadernos de la Cátedra Miguel de Unamuno 30 (1995), S. 13–49, hier vor allem S. 21. Jean-Claude Rabaté: Idéologie et politique dans ‹En torno al casticismo›, S. 180.

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zwischen den beiden bisher unvereinbaren Positionen in der Debatte um die spanische Erneuerung – die Abgrenzung zwischen progressiven Fortschrittsbefürwortern und konservativen Traditionalisten.103 Diese ideologische Synthese bildet den eigentlichen Kern der fünf Artikel aus En torno al casticismo. Die Synthese zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen dem Blick nach innen und dem Blick nach außen, zwischen Europa und Spanien wird deshalb auch ganz am Ende von En torno al casticismo noch einmal in einer Passage beschworen, in der Miguel de Unamuno seinen Ausgangspunkt, die spanische Krise, und seinen Lösungsvorschlag, die doppelte Beeinflussung durch Europa und die intrahistoria, zusammenfasst: ¿Está todo moribundo? No, el porvenir de la sociedad española espera dentro de nuestra sociedad histórica, en la intra-historia, en el pueblo desconocido, y no surgirá potente hasta que le despierten vientos y ventarrones del ambiente europeo.104

Mit Blick auf diesen Vorschlag einer Synthese zwischen Positionen, die eigentlich schwer vereinbar sind, müssen auch Unamunos spätere Aussagen zum Verhältnis zwischen Spanien und Europa beurteilt werden: Angesichts der Tatsache, dass er die Frage nach Europa und der Europäisierung in seinem Nachruf auf Joaquín Costa als eine Methodenfrage beschrieben hatte, sind dabei vor allem auch seine eigenen Methoden von Interesse. Miguel de Unamunos zunehmend kritische Äußerungen über das Projekt der Europäisierung aus den Jahren nach der Jahrhundertwende sind deshalb weniger im Sinne einer klaren Abwendung von früheren Überzeugungen zu verstehen als vielmehr als eine bewusste Inszenierung von Widersprüchen. In diesen Widersprüchen entwirft sich Unamuno selbst als lebendiges Beispiel zur Veranschaulichung seiner Thesen von der literarischen Grunddisposition Spaniens im Gegensatz zu der wissenschaftlich-rationalen Europas. Besonders angesichts der Tatsache, dass seine Texte auch weiterhin eine Synthese zwischen den unterschiedlichen spanischen Haltungen in Bezug auf Europa versuchen, ist dieser beständige Widerspruch von besonderem Interesse. 2.2.2

Españolizar a Europa

Anders als Victor Hugo, der bei seinen frühen Entwürfen zu Europa stets die Geopolitik im Blick hat, deren Irrtümer nach dem Wiener Kongress es seiner Meinung nach zu berichtigen gilt, steht bei Miguel de Unamunos ersten Annäherungen an das Thema Europa dessen kulturelle Rolle als Ort der Wissenschaft und Bildung im Vordergrund. Weil es bei Unamuno nicht wie bei Hugo um Ländergrenzen und geopolitische Ordnungen geht, sondern um Wissenschaft und die Teilhabe daran,

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Vgl. zu Unamunos Verständnis der Tradition als Grundlage des Fortschritts auch Mariano Alvarez Gómez: La tradición y el «hecho vivo» en el primer Unamuno, in: Dolores Gómez Molleda (Hg.): Actas del Congreso Internacional Cincuentenario de Unamuno, Salamanca: Ed. Universidad de Salamanca 1989, S. 219–233, und abermals Eduardo Pascual Mezquita: En torno a las lecturas historicistas del primer Unamuno, S. 23. Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 866.

ist seine Vorstellung von Europa in diesen Jahren weniger konkret und insofern schwerer dingfest zu machen als die von Hugo – und das trotz der Tatsache, dass Europa in der öffentlichen Debatte in Spanien eine größere Rolle spielt, als es das zur Zeit Hugos in Frankreich getan hatte. Die verschiedenen Möglichkeiten, Europa als geographischen Raum oder als kulturelle Einheit zu entwerfen oder zu beschreiben, sind Miguel de Unamuno dabei durchaus bewusst – ebenso wie die Schwierigkeit, überhaupt einen klaren Begriff von Europa zu formulieren. So spricht auch er bisweilen das Problem an, zwischen einem allgemein geographischen und einem spezifisch kulturellen Verständnis von Europa zu unterscheiden. Das ist vor allem in den Texten der Fall, in denen er versucht, die progressive Forderung nach einer Europäisierung Spaniens kritisch zu hinterfragen – vor allem also in Texten aus den Jahren nach der Jahrhundertwende. So schreibt er am Schluss seines religionsphilosophischen Essays Del sentimiento trágico de la vida en los hombres y en los pueblos (1913): ¡Europa! Esta noción primitiva e inmediatamente geográfica nos la han convertido, por arte mágica, en una categoría casi metafísica. ¿Quién sabe hoy ya, en España por lo menos, lo que es Europa? Yo sólo sé que es un chibolete. Y cuando me pongo a escudriñar lo que llaman Europa nuestros europeizantes, paréceme a las veces que queda fuera de ella mucho de lo periférico – España, desde luego, Inglaterra, Italia, Escandinavia, Rusia –, y que se reduce a lo central, a Franco-Alemania, con sus anejos y dependencias.105

Die richtige Aussprache des Wortes Schibolet, so erklärt Unamuno an anderer Stelle, habe in einer Episode des alten Testaments als Erkennungszeichen der Angehörigen eines Volksstammes untereinander gedient.106 Dadurch, dass er jetzt die Funktion des Wortes ‹Europa› in der spanischen Öffentlichkeit mit derjenigen des Wortes ‹Schibolet› in der alttestamentarischen Episode vergleicht, prangert er die Bedeutungslosigkeit und Inhaltsleere an, die das Wort ‹Europa› innerhalb der spanischen Diskussion mittlerweile kennzeichnet: Wenn es nur darauf ankommt, ob und wie man ein bestimmtes Wort ausspricht, dann ist dabei nicht mehr dessen Bedeutung wichtig, sondern nur noch, ob man durch seine richtige Verwendung die eigene Zugehörigkeit zu einer Gruppe markiert. Europa, so könnte man folgern, hat selbst keine andere Bedeutung mehr als diejenige, die ihm innerhalb der Debatte in Spanien zukommt – es ist ein Passwort, mehr nicht. Die Gruppe, die sich dieses Passworts bedient, wird von Unamuno ausdrücklich beim Namen genannt: es sind die europeizantes, die progressiven Europabefürworter, und dadurch, dass Unamuno in der dritten Person über diese Gruppe schreibt, macht er deutlich, dass er sich ihr nicht zugehörig fühlt. Stattdessen formuliert er deutlich das Unbehagen, das er angesichts des europäistischen Blicks auf Europa

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Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida en los hombres y en los pueblos, in: Ders.: Obras Completas VII, Madrid: Escelicer 1967, S. 285–286. Auf die Passage aus dem Alten Testament zurückgreifend erklärt Unamuno die metaphorische Bedeutung des Wortes: «y ha quedado la palabra schibolet […] en el sentido […] de santo y seña de un partido cualquiera o de una secta» (Miguel de Unamuno: La fe, in: Ders.: Obras Completas I, S. 967).

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empfindet, und verweist auch hier darauf, dass es bei dieser spanischen Orientierung an einem solchen metaphysisch überhöhten Europa vor allem um eines gehe: um die Wissenschaft. Die europäische Renaissance, die deutsche Reformation und die französische Revolution hätten in Europa das Ideal vom jenseitigen Leben durch das von Fortschritt, Vernunft und Wissenschaft ersetzt und dadurch eine neue Form der Inquisition eingeführt, «la de la ciencia o la cultura».107 Diese gehe nun gegen diejenigen vor, die sich dem verabsolutierten Modell der europäischen Wissenschaft nicht anpassen wollen – gegen diejenigen also, die wie er selbst von dem essentiellen Gegensatz zwischen den wissenschaftlichen Methoden Europas und den literarischen Spaniens ausgehen, und die diesen Gegensatz eben nicht um jeden Preis aufheben wollen. Unamunos Vorwurf richtet sich deshalb weniger gegen Europa als vielmehr gegen die überzeugten europeizantes in Spanien: Diese stehen seiner Meinung nach nicht nur für die neue Form der Inquisition, sondern sie bewirken dadurch auch, dass der Blick auf das verloren geht, was Europa tatsächlich ist. Auch in diesem Text führt Unamuno seine Diagnose eines Ungleichgewichts zwischen Spanien und Europa in letzter Konsequenz auf die Methodenfrage zurück, die sein Text über Costa ausführlich formuliert. Das einzige Mittel, sich gegen die Bevormundung durch die moderne Inquisition der europäischen Wissenschaft zur Wehr zu setzen, besteht für ihn darin, ausdrücklich und bewusst auf die (spanischen) nichtwissenschaftlichen Methoden zurückzugreifen: Y así yo, en estos ensayos, por temor también – ¿por qué no confesarlo? –, a la Inquisición, pero a la de hoy, a la científica, presento como poesía, ensueño, quimera o capricho místico lo que más de dentro me brota. Y digo con Galileo: Eppur si muove!108

Der Text entwirft sich bewusst als ein solcher nichtwissenschaftlicher Text, wenn er als «poesía, ensueño, quimera o capricho místico» auftritt.109 Seine textuellen Träume dienen Unamuno als Waffe im Kampf gegen die Vereinnahmung durch die Inquisition der modernen europäischen Wissenschaft. Wenn er darüber hinaus seine eigene Position vor dieser Inquisition des Wissenschaftsdenkens mit derjenigen von Galileo Galilei vor der Inquisition der katholischen Kirche vergleicht, dann erklärt das auch seinen Selbstentwurf als Denker in Widersprüchen.110 Denn diese Widersprüchlichkeiten vor allem in Bezug auf seine Aussagen zu Europa verweigern sich der modernen rationalen Logik, die dieses Europa für ihn ausmacht. Sie setzen dem europäischen Rationalitätsdenken die Subversion des nicht sofort Nachvollziehbaren entgegen. Durch die Inszenierung dieser Widersprüche ebenso wie durch die Betonung seiner literarischen Ausdrucksmittel führt Unamunos Text

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Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida, S. 286. Ebd. Ebd. Zu diesen Widersprüchen Unamunos in Bezug auf Europa formuliert Salvador de Madariaga knapp und polemisch: «En Unamuno se puede encontrar todo y su contrario» (Salvador de Madariaga: Prólogo, in: Anselmo Carretero y Jiménez: España y Europa, Valencia: Fomento de Cultura Ed. 1971, ohne Seitenzahlen).

so auf der performativen Ebene vor, was er auf der diskursiven Ebene beschreibt – den Unterschied zwischen der strengen Rationalität Europas und der intuitiven Phantasie Spaniens. Vor dem Hintergrund dieser bewussten Inszenierung von Widersprüchen als Merkmal eines spezifisch spanischen Schreibens verliert der scheinbare Widerspruch zwischen der Option des «Europeizar a España» und derjenigen des «Españolizar a Europa» an Radikalität. Unamunos vermeintliche Abwendung von Europa und Hinwendung zu Spanien stellt tatsächlich weniger einen wirklich unvereinbaren Gegensatz als eher zwei sich komplementär ergänzende Positionen dar.111 In seinen frühen Texten plädiert er zwar ausdrücklich für eine Befruchtung durch die intellektuellen Strömungen aus Europa, um die spanische Sterilität und Stagnation zu überwinden.112 Dennoch umkreisen gerade diese ‹proeuropäischen› Texte dort eine Leerstelle, wo eigentlich Europa stehen müsste: Miguel de Unamuno, der Spanien vor seiner Zeit im Exil nur äußerst selten verlassen hat, schreibt in diesen Texten von Spanien aus über Spanien. Europa ist dabei immer nur im Zusammenhang mit diesem Spanien von Bedeutung, und nur in der Gegenüberstellung der einander entgegengesetzten Modelle funktionieren seine Beschreibungen von Europa und Spanien überhaupt. Spanien braucht Europa – und sei es nur, um in Bezug auf das, was von keiner Krise betroffen ist, die eigene Krise klarer erkennen und auf diese Weise vielleicht lösen zu können. Auch in den Jahren am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bleibt Europa so das Andere, mit dessen Hilfe sich Spanien seiner selbst versichert – der Gegenpol, der für den Entwurf einer eigenen Identität notwendig ist. Wenn Unamuno Europa allerdings im Laufe dieser Jahre immer kritischer beurteilt, liegt das daran, dass die spanische Krise zunehmend aus seinem Blickfeld gerät. Die spanische Identität ist nicht mehr problematisch, sondern sie wird gerade im Vergleich zu Europa als besonders und als positiv dargestellt – auch wenn in den betreffenden Texten manchmal nur vage angedeutet wird, worauf sich diese Identität eigentlich gründet. So betont Unamuno beispielsweise in einer Replik auf einen Artikel von Luis Araquistain vom Mai 1914, in dem dieser den Vorschlag gemacht hatte, die Europäisierung Spaniens vor allem auf die Aufgabe zu beziehen, durch Literaturübersetzungen die europäische Kultur in Spanien und die spanische in Europa bekannter zu machen, das Problem liege seiner Auffassung nach nicht darin, dass man in Europa die spanische Kultur und die Literatur zu wenig kenne: «No es la lengua la que nos hace poco accesibles. Es otra cosa y otra cosa que debemos

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Vgl. zu dieser ‹Abwendung von Europa› etwa Albán Bonilla Sánchez: Miguel de Unamuno. Dos momentos de su pensamiento político, Panamá: Ed. Portobelo 1997, S. 32–33; und Julian Palley: Unamuno: The Critique of Progress, in: Revista de Estudios Hispánicos 10 (mayo 1976), S. 237–260, hier besonders S. 239. Vgl. Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, in: Ders.: Obras Completas I, S. 773– 869; El porvenir de España, in: Ders.: Obras Completas III, S. 635–677; La crisis del patriotismo, in: Ders.: Obras Completas I, S. 978–984; La crisis actual del patriotismo español, ebd., S. 1286–1298; La juventud ‹intelectual› española, ebd., S. 985–991; España y los españoles, in: Ders.: Obras Completas III, S. 718–729.

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conservar.»113 Diese diffus bleibende «otra cosa» ist das, was die spanische Identität im Vergleich zu Europa ausmacht. An die grundsätzliche Feststellung, es gebe diesen Unterschied zwischen Spanien und Europa, schließt Unamuno nun eine Prophezeiung über die Zukunft Europas und der spanischen Vorstellungen von Europa an: Eines Tages nämlich werde sich Europa selbst enteuropäisieren, und das kann an dieser Stelle nur bedeuten, dass es sich ‹entrationalisiert› und seine wissenschaftlichen Methoden in Frage stellt.114 Dann sei jedoch der Zeitpunkt gekommen, an dem das spanische Gegenmodell zu Europa und seiner Ratio wirksam werden kann, denn je weniger europäisch Europa sei, desto leichter sei es durch Spanien beeinflussbar. Der bekannteste Text, in dem sich Unamuno mit dieser Frage der Hispanisierung Europas als Gegenbewegung zur Europäisierung Spaniens beschäftigt, der Essay Sobre la europeización von 1906, führt diesen Gedanken einer möglichen Bereicherung Europas durch Spanien deutlicher aus. Er erklärt dabei nicht nur klarer, worin seiner Meinung nach der wesentliche Unterschied zwischen Spanien und Europa liegt, sondern auch, wie man sich die Beeinflussung Europas durch Spanien vorzustellen hat, die er in seiner Replik auf Araquistain ankündigt. Die Beschreibung des Unterschieds zwischen Spanien und Europa knüpft dabei abermals an die europäische Polemik an, hinter den Pyrenäen fange Afrika an, und abermals nimmt Unamuno selbstbewusst genau diese Position für sich und seine Landsleute in Anspruch. Am Beispiel dieses Essays lässt sich vor allem zeigen, dass Unamunos Widersprüche in der Frage der Europäisierung Methode haben, und dass die Europäisierung und die ihr scheinbar entgegengesetzte Hispanisierung in Wirklichkeit zwei Seiten derselben Medaille sind. In Sobre la europeización setzt sich Unamuno mit den beiden Adjektiven «europeo» und «moderno» auseinander, die für ihn in einem engen Zusammenhang stehen.115 Mit beiden Adjektiven würden allerdings nur vage Ideen ausgedrückt, und statt dass es ihnen gelinge, sich gegenseitig näher zu definieren, seien beide zusammen sogar noch unbestimmter als jedes einzelne von ihnen allein. In der Auseinandersetzung mit den beiden Begriffen ‹modern› und ‹europäisch› konstruiert Unamuno nun abermals einen scharfen Gegensatz, der sich aus einer ganzen Reihe von kleinen Gegenüberstellungen zusammensetzt. Auf die regenerationistische Forderung nach Europäisierung und Modernisierung Spaniens antwortet er nämlich mit dem Gegenvorschlag: «¿Por qué no hemos de decir: ‹Hay que africanizarse a la antigua› o ‹hay que antiguarse a la africana›?»116 So spricht er von dem inneren Widerstand, den er gegen das Leitprinzip des modernen europäischen Geistes verspüre, und er definiert dieses Prinzip als «la or-

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Miguel de Unamuno: También sobre Hispanoamericanismo. A propósito de un artículo de Luis Araquistain, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 618. Vgl. ebd., S. 618–619. Vgl. Miguel de Unamuno: Sobre la europeización, in: Ders.: Obras Completas III, S. 925. Ebd., S. 926.

todoxia científica de hoy».117 Der Vorwurf, den Unamuno in so vielen seiner Texte an das vermeintlich europäische Wissenschaftsdenken richtet,118 wird in Sobre la europeización zusätzlich präzisiert. Das Objekt der hypostasierten europäischen Wissenschaft sei in den meisten Fällen «la vida», das Leben, und dieses so betonte Leben sei ihm persönlich ebenso unsympathisch wie die Wissenschaft, die sich ausschließlich damit beschäftige. Gegen den Begriff der Wissenschaft und gegen die Beschäftigung dieser Wissenschaft mit dem Leben setzt Unamuno deshalb den Begriff der Weisheit und deren Wissen um den Tod. Der Gegensatz, der seine ganze Auseinandersetzung mit dem Problem von Spanien und Europa strukturiert hatte – Spanien auf der einen, Europa auf der anderen Seite – findet hier dadurch seinen gültigen Ausdruck, dass Unamuno ihn bis in die tiefste Schicht der Begriffe fortschreibt. Dem Wort ‹europäisch› steht bei ihm ‹afrikanisch› gegenüber, dem ‹modern› dann ‹altertümlich›, der ‹Wissenschaft› die ‹Weisheit› und dem ‹Leben› der ‹Tod›. In Sobre la europeización sind all diese Gegensätze letztlich unvereinbar, und diese Tatsache hat das Bild von der Wandlung Miguel de Unamunos vom progressiven Europäisten hin zum rückwärtsgewandten Traditionalisten entscheidend geprägt.119 Und in der Tat: Die Vorstellung einer radikalen Kehrtwendung scheint angesichts der folgenden Passage aus Sobre la europeización nicht abwegig: ¿No será cierto que, en efecto, somos los españoles, en lo espiritual, refractarios a eso que se llama la cultura europea moderna? Y si así fuera, ¿habríamos de acongojarnos por ello? ¿Es que no se puede vivir y morir, sobre todo morir, morir bien, fuera de esa dichosa cultura?120

Dennoch lenkt diese Reihe von Fragen den Blick auch auf die rhetorische Verfasstheit von Unamunos Text insgesamt. Dabei fällt nun dessen sorgfältige Ausarbeitung ins Auge, die Gegenüberstellung von starken Gegensätzen, die Durchstufung dieser Gegensätze bis hinab auf die unterste Ebene, die rhetorischen Fragen, die dem Leser die Antwort gleich in den Mund legen – und nicht zuletzt die Tatsache, dass der Text immer wieder ausdrücklich auf die Methode verweist, deren er sich bei seiner Argumentation bedient. Schon der Untertitel von Unamunos Essay nennt diese Methode beim Namen – dieser Untertitel heißt nämlich Arbitrariedades, also Willkürlichkeiten oder auch Eigenmächtigkeiten. Und genau darum geht es: Immer wieder fällt sich Miguel de Unamuno im Verlauf von Sobre la europeización gewissermaßen selbst ins Wort, um hervorzuheben, dass das, was er da vorbringt, nichts anderes als «afirmaciones arbitrarias, sin documentación, sin comprobación»121 seien, und dass alle seine Argumente

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Ebd. Vgl. zum Beispiel die bereits erwähnten Texte Sobre la tumba de Costa, Del sentimiento trágico de la vida en los hombres y en los pueblos und También sobre Hispanoamericanismo. Vgl. zum Beispiel Elias Díaz: El pensamiento político de Unamuno, in: Ders.: Unamuno. Pensamiento político, Madrid: Ed. Tecnos 1965, S. 11–88, hier S. 51. Miguel de Unamuno: Sobre la europeización, S. 929. Ebd., S. 925.

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natürlich bereits insofern der modernen europäischen Logik entgegenstünden. Ausdrücklich spricht er dabei auch von «mi método de arbitrariedad».122 Wenn die Willkürlichkeit aber eine Methode ist, dann eine spezifisch spanische – das hatte er bereits in seinem Nachruf auf Costa mit der Berufung auf die Intuition und die Phantasie gezeigt. Mittels seiner willkürlichen Vorgehensweise will Unamuno sich hier gegen die europäische Wissenschaftlichkeit zur Wehr setzen. Dass er also keine Belege für seine Thesen anführen möchte, ist nicht allein der vermeintlich spanischen Unfähigkeit zur modernen europäischen Wissenschaftlichkeit geschuldet, wie er sie in dem Costanachruf konstruiert hatte, sondern es geschieht aus Prinzip. Auf diese Weise veranschaulicht die Funktionsweise von Unamunos Text hier einmal mehr dessen argumentative Struktur. Dieser Text ist es nun, in dem Unamuno seiner vielzitierten Forderung nach einer Hispanisierung Europas als Bedingung einer Europäisierung Spaniens tatsächlich Ausdruck verleiht. Schon der rhetorischen Frage, ob Spanien nicht immun sei gegen die moderne europäische Kultur, hatte er eine leise Einschränkung hinzugefügt, die leicht unbemerkt bleiben mag: in spiritueller Hinsicht könne man eine solche Immunität annehmen. Auf diesen spirituellen Bereich bezieht er sich jetzt abermals ausdrücklich, wenn er von der Möglichkeit einer Hispanisierung Europas schreibt: Tengo la profunda convicción de que la verdadera y honda europeización de España, es decir, nuestra digestión de aquella parte de espíritu europeo que pueda hacerse espíritu nuestro, no empezará hasta que tratemos de imponernos en el orden espiritual de Europa, de hacerles tragar lo nuestro […] a cambio de lo suyo, hasta que no tratemos de españolizar a Europa.123

Die Hispanisierung Europas, die Unamuno hier einführt, bezieht sich also vor allem auf «el orden espiritual de Europa». Diese Einschränkung ist wichtig – nur so können sich Hispanisierung Europas und Europäisierung Spaniens aufeinander beziehen. In Sobre la europeización wird deshalb deutlich, worin der vorher vage gebliebene Mehrwert besteht, den Spanien vor Europa voraushat: genau in der hier so ausdrücklich hervorgehobenen Spiritualität nämlich. Diese Spiritualität, die das Wissen um den Tod einschließt, ist das Gegenmodell zu der Rationalität, der es vor allem um das Leben gehen muss.

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Ebd., S. 926. Ebd., S. 936. José Luis Abellán fasst die Beziehung zwischen Europäisierung und Hispanisierung folgendermaßen zusammen: «Unamuno abandonará el término europeización y empezará a hablar de españolización de Europa. En realidad, son dos medios para conseguir el mismo fin.» (José Luis Abellán: El tema de España en Ortega y Unamuno, in: Asomante 17 (octubre-diciembre 1961), S. 26–40, hier S. 36). Máximo González Marcos betont: «Lejos de derivar la europeización en un desespañolizarse, ha de ser, por el contrario, ulterior efecto de una españolización en la Península, primero, y después en Europa.» (Máximo González Marcos: La europeización de España en la cristianización unamunesca, in: La Torre 68 (abril-junio 1970), S. 115–123, hier S. 117).

Vor diesem Hintergrund ist nun auch Unamunos berühmte Invektive «¡Que inventen ellos!» zu verstehen.124 Die Wissenschaft allein, wie sie seiner Meinung nach in Europa praktiziert wird, kann für ihn nicht ausreichen – mögen die Europäer sich deshalb um diese Wissenschaft und um ihre Erfindungen bemühen. Vor allem Concha de Unamuno Pérez verweist in diesem Kontext darauf, dass die europäische Wissenschaft im Sinne einer praktisch anwendbaren Wissenschaft in Unamunos Augen das «problema humano» ausklammere,125 und dass sie aus diesem Grund notwendig einer spirituellen Ergänzung bedürfe. Nur wenn Spanien diese Aufgabe wahrnimmt, kann die Orientierung Europas allein an der Rationalität ausbalanciert werden – das ist die Idee, die hinter Unamunos Aufforderung zur Hispanisierung Europas steht. Diesen Gedanken führt er auch in seinem Text El pórtico del templo – Diálogo divagatorio entre Román y Sabino, dos amigos aus. Der Text ist eine Art Lehrdialog über die Frage nach der adäquaten Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft; wie der Essay über die Europäisierung ist auch er im Jahr 1906 entstanden. Die beiden Freunde Román und Sabino, die sich darin über das Verhältnis von Wissenschaft und Weisheit unterhalten, gelangen zu der Erkenntnis, dass die Wissenschaft nur der «zaguán para la sabiduría» sein könne, nicht mehr.126 Dieser Metapher vom Tempel der Weisheit mit seinem Vorhof der Wissenschaft, die deren Verhältnis gewissermaßen verräumlicht, steht allerdings ein anderes Bild gegenüber, das Unamuno noch in En torno al casticismo zur Beschreibung desselben Sachverhaltes verwendet hatte. Hier heißt es wesentlich positiver über die Wissenschaft und über ihre Funktion, sie sei «algo vivo, en vías de formación siempre, con su fondo formado y eterno y su proceso de cambio».127 Dem positiven Bild von der Wissenschaft, das Unamuno hier zeichnet, entspricht auch eine lebendige Beziehung zwischen dieser und der Weisheit: La ciencia se asienta y vive sobre la ignorancia viva. Sobre la ignorancia viva, porque el principio de la sabiduría es saber ignorar.128

Weit davon entfernt, so wenig miteinander vereinbar zu sein wie später, scheinen Weisheit und Wissenschaft für Unamuno an dieser Stelle noch dasselbe zu beabsichtigen. Auch in dem späteren Dialog deutet er zwar durch Anspielungen und

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Der Ausruf stammt aus einem Brief Unamunos an Azorín, den dieser im September 1909 in ABC veröffentlicht hat; dort heißt es: «Dicen que no tenemos espíritu científico. ¡Si tenemos otro...! Inventen ellos, y lo sabremos luego y lo aplicaremos». Vgl. dazu Ramón Carnicer: Acotaciones a una frase: «¡Que inventen ellos!», in: Insula 481 (1986), S. 1 und 12, hier S. 1. «El tema de la insuficiencia de la ciencia para resolver el problema humano es una constante a lo largo de la obra de Unamuno.» (Concha de Unamuno Pérez: Unamuno y Cournot. Ciencia y sabiduría, S. 775). Vgl. auch María de la Concepción de Unamuno Pérez: Miguel de Unamuno y la cultura francesa, Salamanca 1991, vor allem S. 205. Miguel de Unamuno: El pórtico del templo – Diálogo divagatorio entre Román y Sabino, dos amigos, in: Ders.: Obras Completas III, S. 341. Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 787. Ebd., S. 788.

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Metaphern noch auf das positiv bewertete Unwissen hin, das er in der Passage aus En torno al casticismo als Prinzip sowohl für die Wissenschaft als auch als Bedingung für die Weisheit angenommen hatte. Dennoch sind die Vorzeichen jetzt andere: In El pórtico del templo besitzt das lebendige Unwissen nur noch für die Weisheit, nicht mehr aber für die Wissenschaft Gültigkeit. Gerade die Tatsache, dass Unamuno in diesen beiden Texten, in En torno al casticismo und in El pórtico del templo, dieselben Begriffe – Weisheit und Wissenschaft – verwendet, dass er dies aber in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Absichten tut, erlaubt es, noch einmal die Verbindung zu seiner Methode der bewussten Widersprüche herzustellen. Denn Unamuno betont nicht nur in dem Text Sobre la europeización mit seinem expliziten Untertitel Arbitrariedades die willkürliche Vorgehensweise seiner Annäherungen an Europa. Schon am Anfang von En torno al casticismo heißt es ausdrücklich: Me conviene también prevenir a todo lector respecto a las afirmaciones cortantes y secas que aquí leerá y a las contradicciones que le parecerá hallar. Suele buscarse la verdad completa en el justo medio […] por exclusión de los extremos, que con su juego y acción mutua engendran el ritmo de la vida, y así sólo se llega a una sombra de verdad, fría y nebulosa. Es preferible, creo, seguir otro método: el de afirmación alternativa de los contradictorios; es preferible hacer resaltar la fuerza de los extremos en el alma del lector para que el medio tome en ella vida, que es resultante de lucha.129

Wenn man Unamuno also beim Wort nimmt und nicht versucht, aus seinen widersprüchlichen Aussagen zu Europa eine Wahrheit «en el justo medio» herauszudestillieren, sondern seine Methode der «afirmación alternativa de los contradictorios» zum Anlass nimmt, ihm tatsächlich «el inalienable derecho a contradecir[s]e» zuzugestehen,130 das er an anderer Stelle für sich fordert, dann bleibt auch das Bild von Europa, das diese Widersprüche entwerfen, zwar vage und diffus, aber auch schillernd und veränderlich. Was Unamunos Europa in diesen Jahren um die Jahrhundertwende eigentlich ist, das zeichnet sich zwischen den verschiedenen Aussagen zu Wissenschaft und Weisheit, Fortschritt und Tradition, den Pyrenäen und dem Mittelmeer, der Geschichte und der intrahistoria nur dann ab, wenn man von all diesen konkreten Punkten abstrahiert. Dann bleibt Europa zum einen ganz einfach das, was Spanien nicht ist – das Andere schlechthin.131 Die Auseinandersetzung mit diesem als anders

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Ebd., S. 784. Joseph A. Agee beschreibt Unamunos Methode hier als«dialektische Vorgehensweise», vgl. Joseph A. Agee: Unamuno y Ganivet ante el problema de España, S. 148. Miguel de Unamuno: La ideocracia, in: Ders.: Obras Completas I, S. 956. Vgl. dazu auch Aussagen aus späteren Werken, etwa La agonía del cristianismo: «Lo que más le une a cada uno consigo mismo, lo que hace la unidad íntima de nuestra vida, son nuestras discordias íntimas, las contradicciones interiores de nuestras discordias.» (Miguel de Unamuno: La agonía del cristianismo, in: Ders.: Obras Completas VII, Madrid: Escelicer 1967, S. 310). Vgl. zu dieser Interpretation Europas als ‹das Andere› Spaniens Paul Ilie: Autophagous Spain and the European Other, in: Hispania 67 (1984), S. 28–35. Ilie betont insbeson-

empfundenen Gegenüber schärft den Blick für das Eigene und für die problematische Identität dieses Eigenen. Weil dabei aber die moderne und fortschrittliche Ausrichtung Europas als der entscheidende Unterschied zwischen diesem und Spanien wahrgenommen wird, werden in der spanischen Auseinandersetzung mit Europa zugleich Fragen für die Zukunft verhandelt, die sich in der bloßen Alternative ‹Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu Europa› nur andeuten lassen: Eben jene Fragen nach Fortschritt und Wissenschaft zum Beispiel, um die es in diesem Kapitel gegangen ist – und also Fragen, die das ursprünglich rein geopolitische Problem ‹Wo verlaufen die Grenzen Europas?› weit in eine kulturelle Debatte um das richtige Verständnis von der Moderne hinein verlängern. Zum anderen gilt es aber, die Veränderungen, denen Unamunos Sicht auf Europa in diesen Jahren unterliegt, weniger als einen biographischen Bruch zu interpretieren als vielmehr als eine konsequente Veranschaulichung seiner eigenen Thesen zum Verhältnis zwischen Spanien und der europäischen Moderne. Dabei steht auf Seiten Spaniens die irrationale Methode der Literatur an der Stelle, an der auf Seiten Europas diejenige der rationalen Wissenschaft steht. Die Widersprüche zwischen beiden Modellen führt Unamuno in seinen eigenen Texten vor. Trotz oder gerade wegen dieser Widersprüche kann man deshalb von einer inneren Kontinuität von Unamunos Stellungnahmen zu dem problematischen Verhältnis zwischen Spanien und Europa sprechen – von einer Kontinuität des Diskontinuierlichen, wenn man es paradox formulieren will.

2.3

Victor Hugo und Miguel de Unamuno: Europa als Zivilisation

Die Methode der Widersprüche, deren sich Miguel de Unamuno vor allem zur Abgrenzung eines spanischen Denkens und Schreibens von einem europäischen bedient, lässt das Bild von Europa, das seine Texte in diesen Jahren um die Jahrhundertwende entwerfen, zugleich vielseitig und unscharf erscheinen. Europa als das Andere Spaniens kann nur ex negativo definiert werden. Victor Hugo hatte bei seinen ersten Entwürfen von Europa einen anderen Weg eingeschlagen: Sein Begriff von Europa ist insofern präziser, als er sich immer an der konkreten geopolitischen Ordnung dieses Europas orientiert. Dennoch bleiben gerade bei ihm Zweifel an der Wirksamkeit seiner Ideen zurück. Vor allem in Bezug auf die starke Figur des Kaisers hat Hugo diesen Zweifel zumindest an einer Stelle schon vor seinem Exil deutlich formuliert: Peut-être faut-il que l’œuvre de Charlemagne et de Napoléon se refasse sans Napoléon et sans Charlemagne. Ces grands hommes ont peut-être l’inconvénient de trop personnifier l’idée.132

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dere die ständige Bewegung von Anziehung und Abstoßung, die von diesem Anderen ausgehe und versteht Europa insofern «as the image of what Spain wishes or does not wish to be» (ebd., S. 28). Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 405.

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Wenn er hier davon spricht, dass die großen Männer ihrer eigenen Idee – in diesem Fall, so könnte man ergänzen, derjenigen von der Ordnung Europas unter einer starken Hand – nicht immer nur nützlich sind, dann bereitet er damit das Feld für einen neuen Ansatz seiner Überlegungen zu Europa vor, der ganz ohne große Männer auskommt. Schon die Konstruktion der Orientales bringt ja, so europäisch der Orient in dieser Gedichtsammlung letztlich auch sein mag, einen gewissen Zweifel an der Berechtigung von eurozentrischen Gewissheiten zum Ausdruck. In den Jahren um 1840, in denen sich Hugo der Julimonarchie für ein politisches Amt empfehlen möchte, modifiziert er nun seine Vorstellungen von Europa, indem er sich in den öffentlichen Diskurs über die Zivilisation einklinkt, der die Diskussion in Frankreich in dieser ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vielfach bestimmt hat. Dieser Zivilisationsdiskurs, den vor allem François Guizot in seiner Vorlesungsreihe Histoire de la civilisation en Europe von 1828, aber auch zeitgenössische Denker wie Théodore Jouffroy, Edgar Quinet und Victor Cousin bestimmt haben,133 kommt nun ganz ohne die großen Männer aus, die Hugos Vorstellung von Europa als Empire prägten, und an denen er jetzt zu zweifeln beginnt: Surtout, la civilisation […] a pu être l’une des principales justifications théoriques de cette désindividualisation de l’histoire qui est une des caractéristiques majeures de l’historiographie libérale française de la période romantique. Quand l’histoire devient histoire de la civilisation, elle tend à restreindre l’importance historique des grands hommes.134

Hugo versucht jetzt, die europäische Geschichte als eine Geschichte der voranschreitenden Zivilisation zu schreiben. Dabei ist vor allem wichtig, dass für ihn – und allgemein für den Zivilisationsdiskurs im Frankreich dieser Zeit – die Zivilisation etwas essentiell Europäisches ist. Franck Laurent unterscheidet deshalb zwischen der Zivilisation schlechthin, die er auch im französischen Text groß schreibt, und einer Zivilisation, bei deren Beschreibung es gelte, ihren jeweiligen Grad an Zivilisiertheit auszumachen.135 Die Zivilisation ist eine Idealvorstellung, in der es darum geht, ein Verständnis über gemeinsame Werte und Ziele zu definieren, die im historischen Prozess zunehmend universelle Bedeutung erlangen sollen. Wenn es in der Sicht des französischen Zivilisationsdiskurses deshalb gegenwärtig noch eine Aufsplitterung in verschiedene Zivilisationen gibt, die alle einen jeweils unterschiedlichen Grad an Zivilisiertheit erreicht haben, dann bedeutet das, dass das Voranschreiten der Zivilisation, das diese Vorstellung impliziert, noch nicht abgeschlossen ist und dass

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Vgl. Reuel Anson Lochore: History of the Idea of Civilization in France (1830–1870), Bonn: Röhrscheid 1935; und Franck Laurent: La civilisation: le discours impossible, in: Françoise Chenet-Faugeras (Hg.): Victor Hugo et l’Europe de la pensée, Paris: Nizet 1995, S. 151–168. Franck Laurent: Penser l’Europe avec l’histoire. Sur quelques aspects et usages de la notion de civilisation européenne sous la Restauration et la Monarchie de Juillet, in: Romantisme 104 (1999), S. 53–68, hier S. 54. Vgl. Franck Laurent: La civilisation: Le discours impossible, S. 56.

dieser Fortschritt weiter begünstigt werden muss.136 Victor Hugo entwickelt nun in den beginnenden vierziger Jahren in einem gewissermaßen ‹offiziellen› Diskurs eine eigene Vorstellung von der Zivilisation. Es ist aber angesichts seiner politischen Ambitionen in diesen Jahren kein Zufall, dass seine Vorstellungen denen sehr ähnlich sind, die zur selben Zeit von denjenigen Zeitgenossen propagiert werden, die diese Ämter bereits innehaben.137 Auch bei Miguel de Unamuno spielt der Begriff der Zivilisation über Jahre hinweg eine wichtige Rolle; auch bei ihm geht es dabei im Zusammenhang mit Europa um eine inhaltliche Präzisierung dessen, was dieses Europa ist und was es sein kann. Dennoch sind die Unterschiede zwischen Unamunos Äußerungen zur Zivilisation und denen Hugos beträchtlich: Die Zivilisation wird bei Unamuno niemals zum Synonym für Europa schlechthin, und der Diskurs, an dem er mit seinen Äußerungen über die Zivilisation partizipiert, lässt sich viel weniger klar eingrenzen als bei Hugo. Darüber hinaus ist das Zentrum der Zivilisation bei Unamuno nicht sein eigenes Herkunftsland: Nur zu oft hatte er dieses Land seiner Herkunft ja in den Jahren um die Jahrhundertwende als peripher erlebt und beschrieben. Die Zivilisation ist bei Unamuno vielmehr ein Konzept, dessen er sich vor allem in den Jahren des Ersten Weltkriegs und durchaus im Einklang mit anderen Kommentatoren bedient,138 um die Lage in Europa von dem neutralen, aber nach wie vor auch peripheren Spanien aus einzuschätzen. Wenn dieser Krieg schon von den Zeitgenossen immer wieder als ein europäischer Bürgerkrieg interpretiert wurde, als eine guerra civil, dann entwickelt Miguel de Unamuno in der Auseinandersetzung mit der Frage, ob ein solcher Bürgerkrieg nicht auch im Wortsinn zivile bzw. zivilisatorische Tugenden voraussetze, ein Konzept von der Zivilisation, das diese als einen Gegensatz zu dem entwickelt, was er auch im Spanischen Kultura schreibt, groß und mit K. In diesen Jahren des Ersten Weltkrieges existieren deshalb in Unamunos Werk zwei unterschiedliche Vorstellungen von Europa nebeneinander, die den beiden Begriffen Kultur und Zivilisation entsprechen und die sich auch geographisch voneinander abgrenzen lassen. In einem Text mit dem Titel La unidad moral de Europa erklärt er dazu: ¿Qué significa la unidad, la moral y qué es Europa en ese caso? Y, para empezar por la última pregunta: ¿qué significa Europa? Hace algunos años estuvo de moda aquí, en España, hablar de europeísmo […] De una categoría geográfica e histórica hicieron una categoría ideológica y casi metafísica. […] Europa para algunos de nuestros germanizantes es la técnica, la organización, la subordinación, la disciplina y la antidemocra-

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Vgl. Franck Laurent: La civilisation: Le discours impossible. Vgl. auch hier Reuel Anson Lochore: History of the idea of civilization in France (1830–1870); und Pierre Rosanvallon: Le Moment Guizot, Paris: Gallimard 1985. Hier wäre vor allem François Guizot zu nennen, der der Julimonarchie im Laufe der Jahre zuerst als Minister des öffentlichen Unterrichts, dann als Innenminister, als Gesandter in London und schließlich auch als Regierungschef dient. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (1936), S. 95.

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cia... germánicas. […] ¡La unidad moral de Europa! ¿Pero qué es Europa, llegaremos a preguntarnos, y quién ha roto su unidad? Porque Europa, para los que no ven en ella más que una categoría histórica – y no es poco – es la civilización cristiana de tradición greco-latina y no otra cosa.139

Unamunos Anspielungen auf ein germanisierendes Verständnis von Europa, die dieses als Technikhörigkeit, Unterordnung und Disziplin kennzeichnen, beziehen sich hier auf das, was er in anderen Texten aus derselben Zeit ausdrücklich die Kultur im Gegensatz zur Zivilisation nennt.140 Er bezieht damit in den Jahren des Ersten Weltkrieges ausdrücklich nicht nur gegen Deutschland Stellung, sondern vor allem gegen diejenigen in Spanien, die sich als Anhänger dieser deutschen Kultur zu erkennen geben – die sogenannten germanizantes, die er in seinem Text über die moralische Einheit Europas direkt anspricht und die er in eine Beziehung zu den Vertretern des europeísmo setzt, gegen die er sich schon früher gerichtet hatte. Bei beiden Autoren, bei Victor Hugo wie bei Miguel de Unamuno, dient also die Auseinandersetzung mit der Zivilisation dazu, präzisere Vorstellungen davon zu entwickeln, was Europa in seinem Wesen ausmacht. Beide stellen dabei unterschiedliche Schwerpunkte ins Zentrum ihrer Überlegungen – aber dennoch gibt es auch eine Reihe von Aspekten, die Hugos und Unamunos Interessen an der Zivilisation miteinander verbinden. So findet diese Beschäftigung mit der Frage nach der Zivilisation bei beiden in einem mehr oder weniger begrenzten Zeitraum statt – bei Hugo in den Jahren vor seinem Exil, in denen er versucht, sich politisch zu profilieren, bei Unamuno ebenfalls in den Jahren vor dem Exil, die in seinem Fall denen des Ersten Weltkriegs entsprechen. Bei beiden impliziert die Idee von der Zivilisation außerdem gewisse normative Vorstellungen davon, wie diese Zivilisation beschaffen sein sollte; und beide grenzen die Zivilisation jeweils von etwas anderem ab – bei Hugo ist dieses Andere allgemein die Barbarei, bei Unamuno dagegen eher konkreter die ‹Kultur›. Bei beiden stößt die Vorstellung von der europäischen Zivilisation allerdings schließlich nach einer gewissen Zeit auch an ihre Grenzen – welche das jeweils sind, soll im Folgenden dargestellt werden. 2.3.1

Victor Hugo: Frankreich als Zentrum der Zivilisation

Obwohl der Blick auf die Zivilisation insofern historisch ist, als er das Voranschreiten dieser Zivilisation auf das Ziel der schließlich universellen Zivilisierung hin betrachtet, hat er doch auch geographische oder sogar geopolitische Implikationen. In den Augen der zivilisatorischen Vordenker in Frankreich ist die Zivilisation in ihrem Kern europäisch – auch wenn man im Einzelnen noch von der jeweiligen

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Miguel de Unamuno: La unidad moral de Europa, in: Ders.: Obras Completas IX, Madrid: Escelicer 1971, S. 1602–1603. Vgl. etwa Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida en los hombres y en los pueblos, in: Ders.: Obras Completas VII, S. 297; oder Miguel de Unamuno: Comunidad de la lengua hispánica, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 654–655.

französischen oder deutschen Zivilisation sprechen kann. So beschäftigt sich zum Beispiel François Guizot im Jahr 1829 in einer Vorlesung an der Sorbonne mit der Geschichte der Zivilisation in Frankreich – nachdem er allerdings im Jahr zuvor bereits die Geschichte der europäischen Zivilisation behandelt hatte.141 In dieser Vorlesung über die Geschichte der Zivilisation in Europa geht er davon aus qu’il y a une civilisation européenne; qu’une certaine unité éclate dans la civilisation des divers Etats de l’Europe; que […] partout cette civilisation découle de faits à peu près semblables, se rattache aux mêmes principes et tend à amener à peu près partout des résultats analogues.142

Vor diesem Hintergrund ist nun die Entwicklung bezeichnend, die man in Hugos Annäherung an diese Frage nach der europäischen Zivilisation konstatieren kann: In seinem Fragment d’histoire von 1827 setzt er noch nicht voraus, dass die Zivilisation essentiell europäisch sei, sondern er beschreibt vielmehr den historischen Gang der Zivilisation durch die Kontinente, der in seiner Interpretation in Asien begonnen hat und der womöglich in Amerika zu seinem Abschluss kommen könnte. Europa spielt in dieser Konzeption zwar insofern eine hervorragende Rolle, als Hugo betont, die letzten 20 Jahrhunderte sei die Zivilisation vor allem europäisch geprägt gewesen – aber seine Vorstellung impliziert von Anfang an eine Bewegung, die eben nicht endgültig in Europa zum Stillstand kommt. Ce ne serait pas, à notre avis, un tableau sans grandeur et sans nouveauté que celui où l’on essaierait de dérouler sous nos yeux l’histoire entière de la civilisation. On pourrait la montrer se propageant par degrés de siècle en siècle sur le globe, et envahissant tour à tour toutes les parties du monde.143

Dieser Konzeption liegt eine Vorstellung zugrunde, die von einer Art ‹Kampf der Zivilisationen› ausgeht, bei dem die jeweils stärkere den Sieg davonträgt und für eine bestimmte Zeit beherrschend bleibt, bis wiederum eine andere, stärkere Zivilisation sich ihrerseits durchsetzt. Das Fragment d’histoire endet noch mit der Frage, ob nicht der Zeitpunkt gekommen sei, an dem sich die Zivilisation abermals von Europa aus auf einen neuen Kontinent aufmachen müsse;144 wenig später wird diese Frage in Hugos Werk aber nicht mehr in dieser Form auftauchen. Als er nämlich nach einer Unterbrechung von mehreren Jahren Anfang der vierziger Jahre erneut beginnt, sich in Texten wie seiner Antrittsrede vor der Académie Française oder seinem Reisebericht vom Rhein mit der Frage nach der Zivilisation auseinanderzusetzen, findet das unter veränderten Vorzeichen statt – wie der Kreis um François Guizot zweifelt auch er jetzt nicht mehr daran, dass die Zivilisation

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Vgl. François Guizot: Histoire de la civilisation en Europe, Paris: Hachette 1985. Ebd., S. 56. Victor Hugo: Fragment d’histoire, S. 167. «Le moment ne serait-il pas venu où la civilisation, que nous avons vue tour à tour déserter l’Asie pour l’Afrique, l’Afrique pour l’Europe, va se remettre en route, et continuer son majestueux voyage autour du monde? Ne semble-t-elle pas se pencher vers l’Amérique?», fragt Hugo am Ende seiner Überlegungen (vgl. Victor Hugo: Fragment d’histoire, S. 172).

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grundsätzlich europäisch ist. In der Conclusion aus Le Rhin spricht er ausdrücklich von Europa als «gardienne de la civilisation»,145 und es sind deshalb nicht zufällig gerade Russland und England, die in seinen Augen nicht an der europäischen Zivilisation teilhaben, ja, die sie sogar bedrohen: Beide sind auf ihre Weise gewissermaßen außerhalb Europas befindlich – Russland durch seine bloße Entfernung, die es mehr an Asien annähert als an Europa, England durch seinen Status als von Europa isolierte Insel, die sich in gewisser Hinsicht selbst genügt. Franck Laurent spricht deshalb von der «équation communément admise éloignement = barbarie», derer sich Hugo in seiner Argumentation bediene.146 Im Gegensatz zu dieser russischen und englischen «Barbarei», die auf die periphere Situation der beiden Länder in Europa zurückzuführen ist, stehen die zentraleren europäischen Staaten selbstverständlich für einen höheren Grad an Zivilisation.147 Nicht zuletzt deshalb entsteht das Bewusstsein, das die europäische Zivilisation von sich selbst gewinnt, immer auch in Abgrenzung von der barbarischen Peripherie; und das Sprechen über die europäische Zivilisation stellt insofern immer auch eine Methode dar, mittels der Abgrenzung dieser Zivilisation gegen die Barbarei eine Aussage darüber zu treffen, was Europa eigentlich ist: Europa, als Raum der Zivilisation gedacht, kann sich durch die Idealvorstellung von der europäischen Zivilisation als der Zivilisation schlechthin von allen anderen (weniger zivilisierten) Räumen unterscheiden.148 Dabei ist das Vorwort zu Hugos Stück Les Burgraves (1843) insofern von besonderer Bedeutung, als hier ganz ausdrücklich die Verbindung zwischen dem Raum Europa und dem Zivilisationsgedanken hergestellt wird. Victor Hugo spricht in diesem Vorwort davon, dass ihn nicht etwa seine Phantasie allein zur Wahl des Themas von den Burggrafen am Rhein gebracht habe, sondern vielmehr der Wunsch, ein Werk zu schaffen, das der gemeinsamen europäischen Zivilisation verpflichtet sei – ein, wie er wörtlich sagt, «nationales» Werk für ein Europa, in dem die Verbindungen durch die gemeinsame Zivilisation viel größer seien als die Trennungen durch die Grenzen der Nationalstaaten:

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Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 403. Franck Laurent: La civilisation: le discours impossible, S. 156–157. Dabei ist allerdings wichtig, dass es das erklärte Ziel Hugos ist, die Grenzen der Zivilisation immer weiter auszudehnen und die Barbarei gleichsam immer weiter zurückzudrängen. So heißt es im Vorwort zu den Burgraves: «Cette patrie n’a d’autre frontière que la ligne sombre et fatale où commence la barbarie. Un jour, espérons-le, le globe entier sera civilisé, tous les points de la demeure humaine seront éclairés, et alors sera accompli le magnifique rêve de l’intelligence: avoir pour patrie le monde et pour nation l’humanité.» (Victor Hugo: Les Burgraves, Préface, in: Ders.: Œuvres Complètes Théâtre II, Paris: Laffont 1985, S. 156). Pierre Michel weist auf diese Funktion der Unterscheidung Zivilisation und Barbarei hin, wenn er im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Vorstellung von der Barbarei konstatiert: «Correlatif, à l’origine, du Grec, puis du Romain, le Barbare devient la représentation de l’altérité absolue.» (Pierre Michel: Un mythe romantique. Les Barbares 1789–1848, Lyon: Presses universitaires 1981, S. 8).

Quelles que soient les antipathies momentanées et les jalousies de frontières, toutes les nations policées appartiennent au même centre et sont indissolublement liées entre elles par une secrète et profonde unité. La civilisation nous fait à tous les mêmes entrailles, le même esprit, le même but, le même avenir.149

In dem Vorwort zu diesem ‹europäischen Nationaldrama› kann nun auch ein Thema explizit angesprochen werden, das beim Sprechen über Europa, in welcher Form auch immer man es sich vorstellen mag, häufig problematisch bleibt: das Verhältnis von einem als großes Ganzes gedachten Europa einerseits, und den einzelnen Nationalstaaten andererseits. Im Zusammenhang mit einem als Zivilisation gedachten Europa ist diese Frage einfacher zu beantworten. Insofern die Zivilisation nämlich innerhalb Europas verschiedene Stadien der Realisierung erreicht haben kann, können durchaus auch einzelne Staaten innerhalb des Gesamtmodells von der europäischen Zivilisation jeweils mehr oder weniger zivilisiert sein. Bei Hugo liest sich das folgendermaßen: D’ailleurs, la France qui prête à la civilisation même sa langue universelle et son initiative souveraine; la France, lors même que nous nous unissons à l’Europe dans une sorte de grande nationalité, n’en est pas moins notre première patrie.150

Dem Gedanken von der zivilisatorischen Einheit in Europa, den er vorher betont hatte, steht diese Hervorhebung Frankreichs nicht entgegen – die Idee von der Zivilisation setzt eben nicht die vorherige Auflösung der einzelnen Nationen voraus, die an ihr teilhaben.151 Dadurch, dass Hugo hier Frankreich ins Zentrum der europäischen Zivilisation rückt, folgt er wieder den Vorstellungen von François Guizot, bei dem es ausdrücklich heißt: «la France a été le centre, le foyer de la civilisation de l’Europe.»152 Dennoch setzt Hugo in diesem Zusammenhang einen eigenen Schwerpunkt: Was Frankreich in seinen Augen für die zivilisatorische Führungsrolle qualifiziert, das sind vor allem seine Sprache und seine Literatur. Er spricht der französischen Sprache in dem Vorwort der Burgraves den Rang einer Universalsprache zu und verweist damit auch auf diejenigen, die sich dieser Sprache bedienen – die französischen Dichter und hommes de lettres. Deren herausgehobene Rolle im Zusammenhang mit der Verbreitung der Zivilisation betont er besonders in seiner Antrittsrede vor der Académie Française – hier fungieren die Dichter gerade im Zusammenhang mit der Verbreitung der Zivilisation als eine Art Korrektiv zu den kriegerischen Eroberern: Je suis de ceux qui pensent que la guerre est souvent bonne. […] Mais lorsque la guerre tend à dominer, lorsqu’elle devient l’état normal d’une nation, […] alors, Messieurs,

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Victor Hugo: Les Burgraves, Préface, S. 156. Ebd. «Penser l’unité de la Civilisation en Europe […], ce n’est pas pour autant dénoncer l’artificialité de la réalité nationale, ni même désirer la dissolution complète de cette réalité.» (Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 435–436). François Guizot: Histoire de la civilisation en Europe, S. 56.

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quelque magnifiques que soient les résultats ultérieurs, il vient un moment où l’humanité souffre. […] Dans ces moments-là, messieurs, il sied qu’une imposante réclamation s’élève; il est moral que l’intelligence dise hardiment son fait à la force; il est bon qu’en présence même de leur victoire et de leur puissance, les penseurs fassent des remontrances aux héros, et que les poètes, ces civilisateurs sereins, patients et paisibles, protestent contre les conquérants, ces civilisateurs violents.153

Auch wenn die Dichter ebenso wie die Eroberer als «civilisateurs» bezeichnet werden, erscheint ihre Rolle hier derjenigen der Kriegsherren ausdrücklich übergeordnet – und damit leisten die Dichter schließlich auch einen größeren Beitrag zur Zivilisation als die Eroberer. Diese Wendung der Rede vor der Akademie bleibt auch dann bemerkenswert, wenn man den offiziellen Kontext dieser Rede und die Hoffnungen auf ein politisches Amt berücksichtigt, die Hugo mit seinem Eintritt in die Académie Française verband.154 Auch an anderer Stelle, in der Conclusion seines Reiseberichts vom Rhein, argumentiert er entsprechend, jetzt mit Bezug auf das eigentliche Ziel der Universalisierung der europäischen Zivilisation: La civilisation admet l’esprit militaire et l’esprit commercial; mais elle ne s’en compose pas uniquement. Elle les combine dans une juste proportion avec les autres éléments humains. […] S’enrichir n’est pas son objet exclusif; s’agrandir n’est pas son ambition suprême. Eclairer pour améliorer, voilà son but; et à travers les passions, les préjugés, les illusions, les erreurs et les folies des peuples et des hommes, elle fait le jour par le rayonnement calme et majestueux de la pensée.155

In der Rede vor der Académie Française führt Hugo aus, dass sich Frankreichs Führungsrolle in diesem Zusammenhang auf die Französische Revolution gründe – diese ist zwar der Anfangspunkt für eine Reihe von Transformationen und insofern für den historischen Fortschritt, aber Hugo versteht sie dennoch nicht weniger auch als Fortsetzung der Tradition. Seine Interpretation von Tradition und Revolution entspricht damit derjenigen Guizots und der Mitglieder seiner Partei – diese haben bereits in den zwanziger Jahren ihre Sicht von der Französischen Revolution nicht als Bruch mit der vorangegangenen historischen Entwicklung, sondern als deren logische Konsequenz entwickelt.156 Was allerdings Hugos Argumentation auch an dieser Stelle unterscheidet, ist das Gewicht, das er den Dichtern und Denkern zuspricht: Mais si la tradition historique importe à la France, l’expansion libérale ne lui importe pas moins. L’expansion des idées, c’est le mouvement qui lui est propre. Elle est par

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Victor Hugo: Discours de réception à l’Académie Française, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 93. Franck Laurent spricht von einer «démarche revendicatrice» bei Hugo und stellt eine Verbindung her zwischen seinem literarischen und seinem politischen Anspruch: «Ce que cherche Hugo, c’est à se faire reconnaître, et à travers lui à faire reconnaître la ‹jeune› littérature.» (Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 488). Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 406. Vgl. Luis Díez del Corral: Doktrinärer Liberalismus. Guizot und sein Kreis, Neuwied am Rhein/Berlin: Luchterhand 1964 (spanisches Original Madrid: Inst. de Estudios Políticos 1956).

la tradition et elle vit par l’expansion. […] Depuis cinquante années qu’en commençant sa propre transformation elle a commencé le rajeunissement de toutes les sociétés vieillies, la France semble avoir fait deux parts égales de sa tâche et de son temps. Pendant vingt-cinq ans elle a imposé ses armes à l’Europe; depuis vingt-cinq ans elle lui impose ses idées.157

Auch hier impliziert die Zweiteilung der französischen – und europäischen – Geschichte seit der Zeitenwende der Französischen Revolution die Aufgabenteilung zwischen Eroberern einerseits und Dichtern andererseits. Beide tragen ihr Teil zur Verbreitung der Zivilisation bei – die Wirkung der Dichter reicht allerdings wieder über die der Eroberer hinaus, weil sie sich nicht auf die materiellen Grenzen des Territoriums beschränkt: Si les coalitions, les réactions et les congrès ont bâti une France, les poètes et les écrivains en ont fait une autre. Outre ses frontières visibles, la grande nation a des frontières invisibles qui ne s’arrêtent que là où le genre humain cesse de parler sa langue, c’està-dire aux bornes mêmes du monde civilisé.158

Dadurch, dass die Grenzen der Zivilisation hier mit den Grenzen der französischsprachigen Welt identifiziert werden, scheint die Rolle Frankreichs als intellektuelles Zentrum der Zivilisation unumstritten – die französische Sprache als universelle Sprache der Zivilisation und die französische Literatur als die Literatur schlechthin qualifizieren das Land zu seiner Führungsrolle.159 Auch Hugos Reisebericht vom Rhein entwickelt auf ähnliche Art und Weise die gängige Vorstellung von Paris als der Stadt, von der aus die Zivilisation ihre Ausbreitung beginnt und vollendet.160 Hugo entwirft in Le Rhin aber noch ein zweites europäisches Zentrum der Zivilisation, das in Konkurrenz zu Paris tritt. Dem Programm des Reiseberichts entsprechend ist dieses zweite Zentrum der Zivilisation der Rhein selbst: Le Rhin, fleuve providentiel, semble être aussi un fleuve symbolique. Dans sa pente, dans son cours, dans les milieux qu’il traverse, il est, pour ainsi dire, l’image de la civilisation qu’il a déjà tant servie et qu’il servira tant encore. Il descend de Constance à Rotterdam, du pays des aigles à la ville des harengs, de la cité des papes, des conciles et des empereurs au comptoir des marchands et des bourgeois, des Alpes à l’Océan, comme l’humanité elle-même est descendue des idées hautes, immuables, inaccessibles, sereines, resplendissantes, aux idées larges, mobiles, orageuses, sombres, utiles, navigables, dangereuses, insondables, qui se chargent de tout, qui portent tout, qui fécondent tout, qui engloutissent tout.161

Natürlich spielen hier der Kontext, in dem der Reisebericht erschienen ist, und insbesondere die konkrete Zielsetzung eine wichtige Rolle, die Hugo mit seiner

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Victor Hugo: Discours de réception à l’Académie Française, S. 102. Ebd., S. 103. So heißt es in der Conclusion ausdrücklich: «La France a eu et la France a encore la première littérature du monde.» (Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 429). Vgl. Victor Hugo: Le Rhin, S. 263–264. Ebd., S. 109–110.

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Argumentation verband: Die Passage vom Rhein als Sinnbild der Zivilisation findet ihre Erklärung in Hugos Anspruch, das deutsche linke Rheinufer wieder für Frankreich zu reklamieren – dieser konkreten geopolitischen Forderung wird durch die Stilisierung des Rheins zum Zentrum der europäischen Zivilisation besonderer Nachdruck verliehen.162 Auf der anderen Seite bringt Hugo die Zivilisation in den Passagen, die sich mit der zivilisatorischen Funktion des Rheins beschäftigen, mit konkreten zivilisatorischen Errungenschaften in Verbindung. Das letztlich unbestimmt bleibende Verdienst französischer Intellektualität, auf das er bisher nur angespielt hatte, wird jetzt also ergänzt durch die Anspielungen auf die Entwicklung der Menschheit weg von den abstrakten Idealen hin zu den konkreten Fortschritten von Handel und technischer Entwicklung. Dabei wird nun das Bild von Frankreich als Zentrum der Zivilisation zumindest stellenweise relativiert,163 und zugleich wird die Vorstellung von der Ausbreitung der zivilisatorischen Ideen von diesem Zentrum aus durch die Vorstellung von einem gegenseitigen Austausch von Ideen zwischen verschiedenen Zentren der Zivilisation ersetzt.164 «Les fleuves charrient les idées aussi bien que les marchandises», so wird dieser Gedanke in Le Rhin in enger Bindung an diese herausgehobene Rolle des Rheines formuliert.165 In diesem Zusammenhang mit dem Transport von Ideen und Gütern ist nun vor allem ein Mittel zur Zivilisation und ihrer Verbreitung erwähnenswert: In der Conclusion aus Le Rhin hebt Hugo ausdrücklich die Erfindung der Eisenbahn hervor, und er stellt sie sogar als eine konkrete Realisierung der Utopie vom ewigen Frieden dar. Wie auch die französische Sprache hat die Eisenbahn die wesentliche Eigenschaft, dass sie keine nationalen Grenzen kennt, und sie kann auf diese Weise für die ganze europäische Zivilisation verbindend wirken: Ces deux véhicules, qui tendent à effacer les frontières des empires et des intelligences, l’univers les a aujourd’hui: le premier, c’est le chemin de fer; le second, c’est la langue française. Tels sont au dix-neuvième siècle, pour tous les peuples en voie de progrès, les deux moyens de communication, c’est-à-dire de civilisation, c’est-à-dire de paix.166

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Vgl. Françoise Chenet-Faugeras: Victor Hugo, le Rhin et le problème du pouvoir (1841– 1845. Vgl. zur Rolle von Paris und dem Rhein als europäische Zentren bei Victor Hugo auch Kapitel 2.1 Europa als Empire. An anderer Stelle wird diese Relativierung allerdings wieder zurückgenommen, etwa wenn Hugo schreibt: «Les plus hautes intelligences qui […] représentent pour l’univers entier la politique, la littérature, la science et l’art, c’est la France qui les a et qui les donne à la civilisation.» (Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 425). Vgl. im Gegensatz dazu die Interpretation von Françoise Chenet-Faugeras: «L’histoire, telle que le cours du Rhin la figure, ne constitue donc pas un progrès. […] L’itinéraire ‹exprime et résume› un certain sens de l’histoire: celui qui va vers un pouvoir spirituel laïcisé seul capable d’assumer l’héritage des empereurs et des papes et d’accomplir la république universelle, autrement dit la civilisation.» (Françoise Chenet-Faugeras: Victor Hugo, le Rhin et le problème du pouvoir (1841–1845), S. 585). Victor Hugo: Le Rhin, S. 99. Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 429.

Diese Parallelisierung von abstrakten und konkreten Bestandteilen der modernen Zivilisation ist vor allem insofern bemerkenswert, als sie ausdrücklich betont, was die Zivilisation in Hugos Augen schließlich ausmacht: ihre kommunikative und dadurch verbindende Funktion. Dabei definiert Hugo den zivilisatorischen Fortschritt vor allem im Hinblick auf die Sicherung des Friedens: Die Gleichung ‹Kommunikation = Zivilisation = Frieden› mag überraschend wirken nach Hugos Betonung der zivilisatorischen Macht des Krieges noch in seiner Antrittsrede vor der Académie Française, sie ist im Kontext vom grenzüberschreitenden Wesen der Zivilisation aber nur folgerichtig.167 Später, im Exil, wird Hugo diese pazifistische Argumentation in einem Text weiter entwickeln, der ausdrücklich den Titel La Civilisation trägt: Plus de frontières; ceci est presque obtenu; le va-et-vient des locomotives troue et disloque les limites de peuple à peuple, […] la vie en commun de l’humanité commence; les poètes, les écrivains et les philosophes ont prêché la croisade sublime de la paix; la guerre est déconsidérée; il y a trente ans, elle n’était qu’affreuse; aujourd’hui elle est bête. […] Les grands vainqueurs sont devenus enseignes d’auberges. La réalité n’est plus là. Cela a été, cela n’est plus.168

Ganz am Anfang seines Reiseberichts vom Rhein kündigt Hugo dessen Konzeption an: Die Conclusion soll die theoretischen Grundlagen des ganzen Buches liefern; die Briefe des eigentlichen Reiseberichts dienten dagegen, so heißt es, als «pièces justificatives» für die Thesen aus der Conclusion.169 Wenn Hugo in der Conclusion deshalb so ausdrücklich für die verbindende Funktion der europäischen Zivilisation eintritt, wenn er darin die Verbindung von Frankreich und Deutschland als Kernländer Europas und der Zivilisation beschwört,170 dann sollten die Briefe des Reiseberichts anschauliches Material für diese Sicht der Dinge liefern. Dennoch ziehen die Briefe vom Rhein die affirmative Rede von der europäischen Zivilisation zugleich immer wieder auch in Zweifel. Fast scheint es, als unterminiere Hugo seinen politisch motivierten Zivilisationsdiskurs selbst, und als arbeite sein im eigentlichen Sinne literarisches Werk darauf hin, den offiziellen Diskurs des potentiellen Repräsentanten der Julimonarchie zu konterkarieren. So argumentiert sein offizieller Diskurs über die Zivilisation – insbesondere das Vorwort zu den Burgraves, die Antrittsrede vor der Académie Française und der Reisebericht vom Rhein – über weite Strecken durchaus im Einklang mit der zeit-

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An anderer Stelle unterscheidet Hugo ausdrücklich zwischen Zivilisationen, die den Krieg noch nötig haben, und anderen, für die er längst kein adäquates Mittel mehr sein kann: «Quant à l’esprit de conquête, qui a la guerre pour instrument, il retrempe et ressuscite les civilisations mortes et tue les civilisations vivantes. […] L’Asie en a besoin, l’Europe non.» (ebd., S. 406). Victor Hugo: La Civilisation, in: Ders.: Œuvres Complètes Critique, S. 607–608. Victor Hugo: Le Rhin, S. 7. So heißt es zum Beispiel: «La France et l’Allemagne sont essentiellement l’Europe. L’Allemagne est le cœur; la France est la tête. L’Allemagne et la France sont essentiellement la civilisation. L’Allemagne sent; et la France pense. Le sentiment et la pensée, c’est tout l’homme civilisé.» (Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 403–404).

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genössischen Zivilisationsphilosophie, indem er die Zivilisation geographisch auf Europa eingrenzt.171 Diesem affirmativen Diskurs und seinem praktischen Nutzen zum Trotz existieren aber bei Hugo Texte aus derselben Zeit, in denen diese zivilisatorischen Überzeugungen unterschwellig gerade wieder in Frage gestellt werden. Im Verhältnis von der Conclusion aus Le Rhin zu den vorangegangenen Briefen des Reiseberichts ist dies besonders auffällig. Diese Briefe sind tatsächlich weit davon entfernt, die in der Conclusion geäußerten Überzeugungen durch ihr praktisches Anschauungsmaterial von der Rheinreise nur zu stützen – im Gegenteil, nur allzu oft widerlegen sie diese Überzeugungen. So steht Hugo in seinen Briefen, anders als später in der Conclusion, den Errungenschaften der modernen Zivilisation immer wieder sehr skeptisch gegenüber, und äußert sich beispielsweise gleichermaßen zurückhaltend über die wirtschaftliche Ausbeutung der Natur wie über die beginnenden Auswüchse des Massentourismus mit seinen Dampferfahrten auf dem Rhein und seinem Handel mit wohlfeilen Souvenirs. Immer wieder scheint es, als würde der Reisende Hugo ein weniger ‹zivilisiertes› Rheinland demjenigen vorziehen, das sich ihm unterwegs präsentiert; und er ist immer in den Momenten am ehesten im Einklang mit sich und seiner Reise, in denen die Zivilisation am weitesten entfernt scheint: C’est là le fameux trajet de Mayence à Cologne que presque tous les tourists font en quatorze heures dans les longues journées d’été. De cette manière on a l’éblouissement du Rhin, et rien de plus. Lorsqu’un fleuve est rapide, pour le bien voir il faut le remonter et non le descendre. Quant à moi, comme vous savez, j’ai fait le trajet de Cologne à Mayence, et j’y ai mis un mois.172

Hugos implizite Kritik an dem, was man den ‹Massentourismus› seiner Zeit nennen könnte, steht in seinem Text in einem Zusammenhang, in dem auch eine Reihe von anderen zivilisatorischen Fortschritten in Zweifel gezogen wird. So findet seine Kritik an der Schnelligkeit der modernen Fortbewegungsmittel ihre Entsprechung in einer oft zwiespältigen Darstellung der zeitgenössischen Industrialisierung. Der Rhein ist bei Hugo eben nicht nur der Ort mittelalterlicher Legenden, sondern auch derjenige einer beginnenden industriellen Revolution, die in seinen Briefen allerdings immer wieder ambivalent beschrieben wird. So lassen sich in dem Reisebericht zwar durchaus positive Schilderungen der neuen industriellen Entwicklungen finden – beispielsweise zeugt die Beschreibung der Fabriken, die Hugo auf seiner Reise bei Liége sieht, durchaus von einer gewissen Faszination.173 Auf der anderen Seite scheint ihm diese Ästhetik der modernen Industrie doch auch immer wieder unheimlich vorzukommen. Dabei erkennt er zwar an, dass diese Veränderungen in gewisser Weise unaufhaltsam und insofern schicksalhaft sind; dennoch – oder

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In Bezug auf die Abgrenzung der Zivilisation von der Barbarei schreibt Pierre Michel: «Le stéréotype barbare […] [met] en jeu chez Hugo bien moins […] le fait barbare que l’idéal de civilisation. Civilisation européenne, portée par la littérature française et le chemin de fer, […] civilisation avec son porte-parole, le Poète.» (Pierre Michel: Un Mythe Romantique. Les Barbares 1789–1848, S. 455). Victor Hugo: Le Rhin, S. 235. Vgl. ebd., S. 51–52.

gerade deshalb – äußert er angesichts der sichtbaren Veränderungen im Stadtbild ein gewisses Befremden.174 Aus diesem Unbehagen rühren nun Hugos Rückzüge in eine Art archaischer Ästhetik als Gegenmodell zu derjenigen der modernen Industrie. Auch für dieses Modell lassen sich in der Reisebeschreibung vom Rhein Beispiele finden – eines davon wäre etwa die Beschreibung der Schmiede, die sich im sagenumwobenen Mäuseturm auf einer Insel im Rhein befindet. Die beiden Schmiede werden hier als Handwerker beschrieben, die mit ihrer Tätigkeit eine über die Jahrhunderte unverändert gebliebene Tradition pflegen. Implizit wird so durch den Rückgriff auf die mittelalterliche Ästhetik der Schmiede auf der Rheininsel die vorherige Faszination durch die Fabriken relativiert. Durch die Gegenüberstellung der beiden Modelle erscheint der Glaube an das unaufhaltsame Voranschreiten als Sich-Verbessern der Zivilisation zwiespältig – solange die archaische Schmiede die gleiche ästhetische Gültigkeit für sich beanspruchen kann wie die modernen Fabriken, muss der zivilisatorische Fortschritt zweifelhaft bleiben. Auch in Bezug auf andere Gewissheiten der Zivilisation zeugen Hugos Briefe vom Rhein eher von einem leisen Unbehagen als von der Überzeugung, mit der er in der Conclusion argumentiert. So wird der kulturelle Einfluss Frankreichs im Rheinland in den Briefen zwar erwähnt, aber weit weniger positiv, als die Conclusion das vermuten ließe. Das sprechende Bild dafür findet Victor Hugo in einem Hotelzimmer, in dem eine Lithographie genau diesen französischen Einfluss zeigt – allerdings ganz anders, als er selbst das etwa in der Antrittsrede vor der Académie Française getan hatte. Die Lithographie, die den Titel L’Europe trägt, zeigt zwei leicht bekleidete Damen und einen Herrn neben einem Klavier stehend singen; ein Vierzeiler liefert dazu eine Erklärung der Szene: L’Europe enchanteresse où la France en jouant Donne partout les lois de sa mode éphémère. Les plaisirs, les beaux-arts et le sexe charmant Sont les cultes chéris de cette heureuse terre.175

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«Liége est une de ces vieilles villes qui sont en train de devenir villes neuves, – transformation déplorable, mais fatale! – une de ces villes où partout les antiques devantures peintes et ciselées s’écaillent et tombent et laissent voir en leur lieu des façades blanches enrichies de statues de plâtre; où les bons vieux grands toits d’ardoise chargés de lucarnes, de carillons, de clochetons et de girouettes, s’effondrent tristement, regardés avec horreur par quelque bourgeois hébété qui lit le Constitutionnel sur une terrasse plate pavée en zinc; où l’octroi, temple grec orné d’un douanier, succède à la porte-donjon flanquée de tours et hérissé de pertuisanes; où le long tuyau rouge des hauts-fourneaux remplace la flèche sonore des églises. Les anciennes villes jetaient du bruit, les villes modernes jettent de la fumée.» (ebd., S. 52–53). Vgl. auch die Feststellung von Suzanne Nash: «Quand il s’approche de la frontière de ce pays étranger […], les signes de la nouvelle classe industrielle, qui se développe sous Louis-Philippe, deviennent de plus en plus opprimants.» (Suzanne Nash: La bêtise politique et l’histoire bête du Rhin, in: Jacques Seebacher/Anne Ubersfeld (Hg.): Hugo le fabuleux, Paris: Seghers 1985, S. 347–358, hier S. 354). Victor Hugo: Le Rhin, S. 128.

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Das Bild von Europa unter dem kulturellen Einfluss Frankreichs – das hatte man sich nach Hugos Beschreibungen in seinem Zivilisationsdiskurs anders vorgestellt: Wenn Frankreich nur spielerisch agiert und dabei die Gesetze von bloß vergänglichen Moden vorgibt, dann kann das französische Vorbild für Europa schließlich nicht anders als problematisch sein, und vor allem kann der zivilisatorische Einfluss der französischen Dichter angesichts des dünnen Vierzeilers in Wirklichkeit kaum nennenswert sein – hier jedenfalls, und daran lässt Hugos Darstellung der Szene keinen Zweifel, herrscht der schlechte Geschmack. Die Zivilisation zu vollenden, bedeutet sie auszubreiten – zum einen in alle geographischen Zonen der Erde, zum anderen aber auch in alle sozialen Schichten der Gesellschaft. Beides ist jedoch nicht unproblematisch. Während Hugos Argumentation beispielsweise in Bezug auf die als Erweiterung der Zivilisation gedachten europäischen Kolonien aus der Conclusion von Le Rhin erkennen lässt, dass er durchaus um das barbarische Element weiß, das dem Kolonisierungsprozess innewohnt,176 stößt auch die soziale Ausdehnung in seinem Werk immer wieder auf Schwierigkeiten. Einerseits, und das stellt er in seinem Drama Ruy Blas (1838) dar, kann eine wirklich europäische Politik nicht gedeihen, so lange nicht die Frage der sozialen Unterschiede gelöst ist.177 Andererseits scheint Hugo aber selbst in den Jahren vor seinem Exil immer wieder – allerdings letztlich ohne Erfolg – zu versuchen, die soziale Frage auszuklammern. Besonders in den Werken aus der Zeit seines Eintretens für die europäische Zivilisation ist eine gewisse Ambivalenz in dieser Hinsicht auszumachen: Während er in seinen offiziellen Verlautbarungen aus dieser Zeit der Konsolidierung der Julimonarchie immer wieder betont, dass er keine Gefahr für eine neue Revolution sehe,178 tauchen in seinen literarischen Werken aus denselben Jahren immer wieder Bilder auf, die genau eine solche Gefahr beschwören. In Le Rhin ist es insbesondere das Motiv von der Rache des Volkes, das in diesem Zusammenhang wiederholt evoziert wird.179

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Vgl. etwa Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 432. Hier entwirft Hugo das Muster einer Arbeitsteilung in Sachen Kolonisierung: Während England und Russland die vermeintlich barbarischen Länder zunächst kolonisieren sollen, kommt Frankreich dann in einem zweiten Schritt die Aufgabe zu, die kolonisierten Länder zu zivilisieren. In dem Drama entwirft der Titelheld eine solche Politik von europäischer Dimension, und scheitert schließlich bei ihrer Umsetzung, weil sein sozialer Stand ihm die Realisierung seiner Ideen nicht erlaubt. Vgl. Victor Hugo: Ruy Blas, in: Ders.: Œuvres Complètes Théâtre II. Dieses Vertrauen darauf, dass nach der Zeit der Revolutionen nun eine des Friedens und des Wohlstands angebrochen sei, drückt Hugo zum Beispiel 1846 in einer Rede vor der Chambre des Pairs aus: «C’est un magnifique spectacle depuis trente ans que cette immense paix européenne, que cette union profonde des nations dans le travail universel de l’industrie, de la science et de la pensée. Ce travail, c’est la civilisation même. Je suis heureux de la part que mon pays prend à cette paix féconde; je suis heureux de sa situation libre et prospère sous le roi illustre qu’il s’est donné.» (Victor Hugo: Question Polonaise, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique). Vgl. auch Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 724–726. So verwandelt sich beispielsweise in der Legende vom Mäuseturm, die Hugo in seinem Reisebericht nacherzählt, das ausgebeutete und zum Hunger verdammte Volk in eine

Damit steht die Darstellung aus den Briefen von Le Rhin wieder in einem deutlichen Gegensatz zu der Behandlung der sozialen Frage in der Conclusion, denn hier spricht Hugo das Problem an verschiedenen Stellen ausdrücklich an. So führt er bei seiner Analyse der Dekadenz der türkischen und spanischen Imperien unter anderem die Verelendung des Volkes als Grund für den Niedergang des jeweiligen Reiches an: Voilà ce qui a perdu l’Espagne: […] Quant tout est en haut, rien n’est en bas. Le champ était aux seigneurs, par conséquent le blé, par conséquent le pain. Ils vendaient le pain au peuple, et le lui vendaient cher. […] Or, profonde misère, profonde rancune. La faim met un trou dans le cœur du peuple et y met la haine. Au jour venu, toutes les poitrines s’ouvrent, et une révolution en sort.180

Es sind Erkenntnisse wie diese, die Hugo zu dem Plädoyer bringen, mit dem er die Conclusion – und seinen ganzen Reisebericht – abschließt. Dabei erläutert er zunächst, dass die europäische Zivilisation vor allem dadurch gekennzeichnet sei, dass sie immer wieder durch Invasionen und Revolutionen in Frage gestellt wird: A de certains moments, les peuples mal situés dérangent l’ordre européen, les classes mal partagées dérangent l’ordre social. Tantôt l’Europe, tantôt l’état, sont brusquement et violemment attaqués, l’Europe par ceux qui ont froid, l’état par ceux qui ont faim; c’est-à-dire l’une par le nord, l’autre par le peuple.181

Aus dieser Feststellung von den wiederkehrenden Angriffen auf die Zivilisation und die soziale Ordnung zieht Hugo nun eine nach der eher negativen Darstellung des Volkes in den Briefen vom Rhein überraschende Schlussfolgerung. Hatte diese Darstellung eher vermuten lassen, dass er die Barbaren, die die Zivilisation bedrohen, auch im Inneren der Zivilisation selbst vermutet,182 so endet die Conclusion dennoch mit dem Appell, die Barbaren im geographischen ebenso wie diejenigen im sozialen Sinne zu integrieren: Cependant […] les classes moyennes et les nations intermédiaires ne peuvent garder le pouvoir qu’à la condition d’ouvrir leurs rangs. […] Le nord et le peuple sont les réservoirs de l’humanité. Aidons-les à s’écouler tranquillement vers les lieux, vers les choses et vers les idées qu’ils doivent féconder. […] le secret de la paix est peut-être dans un seul mot: donner au nord sa part de midi et au peuple sa part de pouvoir.183

Dabei fällt nicht allein die Forderung nach einer Beteiligung des Volkes an der Macht auf – diese Forderung könnte auch als eine Art Zugeständnis im Zusammenhang mit einer Strategie zur Vermeidung von Konflikten interpretiert werden. Was die Abschlusspassage der Conclusion noch überraschender macht, ist

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Horde von Ratten, die den geizigen Bischof zur Strafe für seine Habgier bei lebendigem Leib auffrisst (vgl. Victor Hugo: Le Rhin, S. 156–157). Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 393. Ebd., S. 433. Vgl. zu dieser Darstellung des Volkes als Barbaren im Inneren der Zivilisation Pierre Michel: Un Mythe Romantique. Les Barbares 1789–1848, S. 10. Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 434.

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vielmehr ein Nebensatz: der Norden und das Volk sollen Orte, Dinge und Ideen befruchten – und das bedeutet, dass die unzivilisierten ‹Barbaren› schließlich für den zivilisatorischen Fortschritt unabdingbar sind. Diese Verbindung der sozialen mit der geographischen Frage am Ende der Conclusion legt die Schlussfolgerung nahe, dass der Diskurs von der Zivilisation sein Ziel einer positiven Beschreibung Europas nicht erreichen kann, solange er diese Fragen vernachlässigt. In der Conclusion ist damit eine Einsicht vollzogen, die die Briefe mit ihren Anspielungen auf die Rache des Volkes erst andeuten. Nach wie vor sind es die Wechsel zwischen beiden Teilen des Textes und ihre gegenläufigen Argumentationsmuster, die Hugos profunden Zweifel an den positiven Überzeugungen seines eigenen Zivilisationsdiskurses eher unfreiwillig und unter der Hand zu enthüllen scheinen. In Hugos Spätwerk rücken in zunehmendem Maße weniger zivilisierte Figuren in den Mittelpunkt. Wenn er darüber hinaus in seiner letzten ausdrücklichen Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsgedanken, dem Text La Civilisation aus den sechziger Jahren, der Überzeugung Ausdruck verleiht, dass die gegenwärtige soziale Ordnung weit davon entfernt sei, die Vollendung der Zivilisation darzustellen, dass auch diese Ordnung wieder zugunsten einer besseren überschritten werden müsse, und dass also die Geschichte mitnichten an ihrem Ziel angekommen sei, sondern sich vielmehr nach wie vor in ständiger Entwicklung befinde, dann drückt er mit dieser dynamischeren Konzeption seine Distanz zu den konservativen Argumentationsmustern des Zivilisationsdiskurses aus, an dem er wenige Jahre vorher selbst partizipiert hatte.184 2.3.2

Miguel de Unamuno: Westliche Zivilisation versus germanische Kultur

In den Jahren um die Jahrhundertwende hatte Miguel de Unamuno seine Vorstellung von Europa mit Hilfe des Gegensatzes zwischen diesem Europa und Spanien präzisiert: Europa war das, was Spanien nicht war – und umgekehrt. Ein wesentlicher Punkt im Zusammenhang mit diesem Gegensatz war die unterschiedliche Befähigung Europas und Spaniens zur Wissenschaft gewesen: Wo Europa im eigentlichen Sinne wissenschaftlich arbeite, da schaffe Spanien Literatur. Das führt Unamuno nun nicht zuletzt in seinen eigenen Texten vor – diese funktionieren vor allem mittels der Methode des ständigen Selbstwiderspruchs, den Unamunos Rhetorik literarisch fruchtbar macht. In einem Text aus dem Jahr 1900 mit dem Titel La ideocracia wendet sich Unamuno gegen die Abhängigkeit von festgefügten Ideen, und plädiert stattdessen für ein Leben in Widersprüchen und Paradoxien. Auch die Wissenschaft dürfe ihre Ideen nicht absolut setzen – diese seien allenfalls Mittel zum Zweck. Von diesem Ausgangspunkt aus gelangt er zu einer wesentlichen Unterscheidung, die für sein Werk und insbesondere für seine Europakonzeptionen vor allem in der Zeit des Ersten Weltkriegs entscheidend sein wird: die Unterscheidung zwischen Zivilisation auf der einen und Kultur auf der anderen Seite.

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Vgl. Victor Hugo: La Civilisation.

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Tiene la ciencia dos salidas: una que va a la acción práctica, material, a hacer la civilización que nos envuelve y facilita la vida; otra que sube a la acción teórica, espiritual, a hacernos la cultura que nos llena y fomenta la vida interior, a hacer la filosofía que, en alas de la inteligencia, nos eleve al corazón y ahonde el sentimiento y la seriedad de la vida.185

Die Zivilisation als praktisches, die Kultur als theoretisches Ziel der Wissenschaft – diese Differenz entspringt zunächst Unamunos allgemeinem Interesse an der Frage nach der Bedeutung der Wissenschaft für den Menschen. In La ideocracia geht er noch nicht näher auf die Konsequenzen ein, die dieser Entwurf einer Differenz zwischen den beiden Auswegen aus der Wissenschaft haben kann. Der Unterschied zwischen Zivilisation und Kultur bleibt zunächst unbewertet, und beide werden nicht wie bei Hugos Konzeption von der europäischen Zivilisation mit bestimmten geographischen Räumen in Verbindung gebracht. Infolgedessen zieht Unamuno in diesem Text auch noch keine Verbindungen zwischen der Frage nach den Unterschieden zwischen Zivilisation und Kultur und derjenigen, ob Europa – mit oder ohne Spanien – nun der angemessene Raum für Zivilisation oder Kultur, also für das eine oder das andere Ziel der Wissenschaft sein kann. Das ändert sich wenige Jahre später in einem Zusammenhang, in dem sich die Frage nach Europa für Spanien neu und aus ganz anderen Gründen als in der Zeit des Verlustes der Kolonien stellt: In den Jahren des Ersten Weltkriegs bezieht auch die Öffentlichkeit im neutralen Spanien Stellung in der Konfrontation zwischen Alliierten und Mittelmächten, und in seinen Interventionen aus den Jahren zwischen 1914 und 1918 führt Miguel de Unamuno den Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich immer wieder auf den letztlich unversöhnlichen Gegensatz zwischen germanischer Kultur und westlicher Zivilisation zurück. In diesen Texten verändert sich sein Bild von Europa auf signifikante Art und Weise: Es geht jetzt nicht mehr um den – tatsächlichen oder gefühlten – Unterschied zwischen Spanien und dem Rest von Europa, sondern um denjenigen zwischen einem westlichen Europa der Zivilisation, dem auch das neutrale Spanien angehört, und einem germanisch geprägten Europa der Kultur, von dem sich Unamuno scharf abgrenzt. Die historische Entwicklung dieses Gegensatzpaares Kultur und Zivilisation und ihre Implikationen für das europäische Selbstbewusstsein hat Norbert Elias in seinem Buch Über den Prozeß der Zivilisation ausführlich beschrieben.186 Hier erklärt er, der vor allem in Frankreich und England gebräuchliche Zivilisationsbegriff lasse die «nationalen Differenzen zwischen den Völkern bis zu einem gewissen Grade zurücktreten; er akzentuiert, was allen Menschen gemeinsam ist».187 So geht bei Victor Hugo die Zivilisation zwar von Frankreich aus, sie wird aber dennoch als ein Prozess beschrieben, dessen Ziel eine universelle Zivilisierung sein sollte. Nach Elias hebt im Gegensatz dazu der Begriff der Kultur, der vor

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Miguel de Unamuno: La ideocracia, in: Ders.: Obras Completas I, S. 958. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Ebd., S. 91.

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allem in Deutschland gebräuchlich ist, «die nationalen Unterschiede, die Eigenart der Gruppen, besonders hervor».188 Elias erklärt diesen Unterschied zwischen den beiden Begriffen historisch: Länder wie Frankreich, die eher von Zivilisation als von Kultur sprechen, seien bereits früh politisch gefestigt gewesen und könnten deshalb mittels des Zivilisationsbegriffs ihre «Ausbreitungstendenz» formulieren; Deutschland dagegen stelle mit Hilfe seines Kulturbegriffs immer wieder die Frage, wie man überhaupt ein deutsches Selbstbewusstsein artikulieren könnte.189 Bei Victor Hugo hatte der Begriff ‹Kultur› im Zusammenhang mit der Zivilisation keine Rolle gespielt – zumindest insofern war seine Auseinandersetzung mit der Zivilisation unproblematisch, die er als eine europäische verstanden wissen wollte. Norbert Elias führt aber aus, dass der deutsche Begriff ‹Kultur› sich historisch ausdrücklich als ein Gegenmodell zur französischen Zivilisation entwickelt habe – wo in Deutschland unter Zivilisation bloß die «trügende, äußerliche ‹Höflichkeit›» verstanden wurde, da galt die Kultur als «die wahre ‹Tugend›».190 Dass Miguel de Unamuno nun seinerseits in La ideocracia dem Begriff der Zivilisation denjenigen der Kultur entgegensetzt, ist deshalb nicht ungewöhnlich – auch wenn er die beiden Begriffe an dieser Stelle noch nicht geographisch präzisiert. Tatsächlich strukturiert der Gegensatz zwischen Zivilisation und Kultur eine ganze Reihe seiner Texte bereits aus den letzten Jahren des neunzehnten und den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. In Civilización y cultura von 1896 entwickelt er eine Vorstellung von der Zivilisation, die das Voranschreiten einer Gesellschaft insgesamt bezeichne, im Gegensatz zur Kultur, die sich immer auf das Individuum und seine Entwicklung beziehen müsse und er schließt deshalb: «Todas las civilizaciones sólo sirven para producir culturas, y que las culturas produzcan hombres.»191 Genauso argumentiert noch der Artikel Contra el purismo aus dem Jahr 1903, in dem es heißt: Llamo aquí civilización al conjunto de instituciones públicas de que se nutre el pueblo oficialmente, a su religión, su gobierno, su ciencia y su arte dominantes; y llamo cultura al promedio del estado íntimo de conciencia de cada uno de los espíritus cultivados.192

Obwohl das Begriffspaar ‹Zivilisation-Kultur› also bei Unamuno durchaus eine längere Geschichte hat, bilden seine Stellungnahmen zu diesem Thema erst in den Jahren des Ersten Weltkriegs ein Verhältnis zwischen Zivilisation und Kultur ab, das durch seine geographische Präzisierung auch im Zusammenhang mit der Frage nach seiner Konzeption von Europa interessant ist – und das dadurch zudem auch deutlich problematischer wird als in den Jahren zuvor. Norbert Elias schreibt über den Ersten Weltkrieg, er habe dazu geführt, dass die ursprüngliche «Funktion des deutschen Begriffs ‹Kultur›, einen Gegensatz gegen die ‹Zivilisation› zu bedeuten,

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Ebd., S. 92. Vgl. ebd. Ebd., S. 98. Vgl. Miguel de Unamuno: Civilización y cultura, in: Ders.: Obras Completas I, S. 996. Miguel de Unamuno: Contra el purismo, ebd., S. 1064. Vgl. auch Manuel Díaz Castillo: La imagen de Europa en Unamuno, S. 242–243.

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[…] wieder auflebte».193 Dieses Wiederaufleben eines Gegensatzes lässt sich nun ebenso an der Kontroverse zwischen den beiden deutschen Brüdern Thomas und Heinrich Mann wie an Unamunos Stellungnahmen im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen den Mittelmächten und den Alliierten deutlich nachvollziehen. Thomas Mann prägt in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen mit Blick auf seinen Bruder Heinrich das Wort vom «Zivilisationsliteraten».194 In den Jahren des Ersten Weltkriegs versucht er, mittels des Gegensatzpaares ‹Kultur› und ‹Zivilisation› den Unterschied zu erklären zwischen der «deutschen Seele», die nach einer letztlich irrationalen, innerlichen Kultur strebe, und der westlichen Welt, deren Zivilisation sich dagegen in einer technokratischen Reflexion und einem rein formalen Verständnis von Demokratie erschöpfe. Zur selben Zeit erklärt auch Miguel de Unamuno sein Verständnis der westlichen Zivilisation in Abgrenzung von einer ausdrücklich als germanisch charakterisierten Kultur, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen als Thomas Mann. Der Artikel La unidad moral de Europa vom Anfang des Jahres 1916 ist in diesem Zusammenhang exemplarisch.195 Vor dem Hintergrund der spanischen Auseinandersetzung um den Ersten Weltkrieg in diesen Jahren – einmal mehr spaltet sich die Öffentlichkeit in zwei Lager, die entweder als sogenannte aliadófilos auf der Seite der Alliierten oder als germanófilos auf der der Mittelmächte sind – kennzeichnet Unamuno diese germanische Kultur als antidemokratische Unterordnung und Disziplin, während er die Zivilisation im Gegensatz dazu als historische Synthese aus griechischer, römischer und christlicher Tradition erklärt. Beides, die Zivilisation und die Kultur, setzt er explizit in Beziehung zu der Frage danach, was Europa eigentlich sei: Seiner Meinung nach kann diese Frage sowohl durch den Verweis auf die germanisch inspirierte Kultur als auch durch den auf die westliche Zivilisation beantwortet werden. Welche Antwort man wählt, hängt dabei von der Position ab, die man in Bezug auf den Ersten Weltkrieg einnimmt. Seiner Meinung nach befürworteten die Anhänger der Deutschen im neutralen Spanien ein Europaverständnis im Sinne der von ihm als negativ gekennzeichneten Kultur, während die Parteigänger der Alliierten selbstverständlich dem Konzept der demokratischen Zivilisation anhingen.196 Gegen diejenigen, die seiner Meinung nach einer falsch verstandenen «moralischen Einheit» Europas das Wort redeten, argumentiert Unamuno, allein Deutschland sei dafür verantwortlich, wenn diese Einheit eben nicht mehr gewährleistet sei.

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Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, S. 95. Vgl. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 22002, besonders S. 73–88. Vgl. zu der Auseinandersetzung zwischen Thomas und Heinrich Mann auch Kapitel 5.2 Kaiserreich und Republik. Vgl. zu diesem Artikel auch die einführenden Bemerkungen in dieses Kapitel. Vgl. Miguel de Unamuno: La unidad moral de Europa, in: Ders.: Obras Completas IX. Vgl. zur Aufspaltung der spanischen Öffentlichkeit im Ersten Weltkrieg in aliadófilos und germanófilos Paul Aubert: L’Espagne dans le concert des nations européennes (1890–1939), in: Ders. (Hg.): Les Espagnols et l’Europe, S. XI-XXIV, vor allem S. XV.

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Wer sich für die moralische Einheit Europas stark mache, unterstütze damit also letztlich Deutschland.197 In dieselbe Richtung tendiert er in einem Artikel, der seine eigene Position in Bezug auf die Frage schon im Titel deutlich macht: La inquisición germánica (1915) greift wieder auf die Kritik an dem zurück, was er bereits früher als Grundlage der germanischen Kultur bezeichnet hatte und was er nun in einen Zusammenhang mit der Frage der Zivilisation stellt: die vermeintliche Orthodoxie des Rationalismus nämlich. Aus dieser streng rationalistischen und an der wissenschaftlichen Logik orientierten Haltung, die vor allem in Deutschland herrsche, entstehe die sogenannte Inquisition der Wissenschaft, und die lehnt Unamuno entschieden ab. In La inquisición germánica wird auf diese Weise deutlich, was das deutsche bzw. germanische Verständnis der Kultur in Unamunos Augen kennzeichnet: Esa imposición de su kultur, de que los alemanes nos hablan, es la imposición de una ortodoxia. Y por eso he proclamado siempre frente a esa kultur ortodoxa e inquisitorial, nuestra cultura, algo anárquica tal vez, henchida de contradicciones […] y donde caben las herejías todas.198

Auffällig ist, dass Unamunos Verständnis der deutschen Kultur in diesem Text noch nicht, wie schon kurze Zeit später, dem klar davon abgrenzbaren Begriff der westlichen Zivilisation gegenübergestellt wird, sondern zunächst noch dem unschärferen und vageren der spanischen – oder auch allgemeiner romanischen – cultura, die auch hier wieder durch ihre Vorliebe für Widersprüche charakterisiert wird. Um den Unterschied zwischen den beiden Konzepten von Kultur, dem deutschen und dem romanischen, deutlicher herauszuarbeiten, erklärt Miguel de Unamuno bereits wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges 1914 in einem Brief an Romain Rolland: La vieille culture, d’origine gréco-latine, la culture avec un c minuscule, modeste, rond et de deux pointes seulement, est la culture d’un Luther, d’un Leibnitz, d’un Goethe, la noble culture de la Réforme et de la Sturm und Drang. La Kultur avec un K majuscule, rectiligne et de quatre pointes, comme un cheval de frise, la Kultur qui, selon les professeurs prussiens, a besoin de l’appui des canons, n’est que technicisme, statistique, quantitativisme, antispiritualité, pédanterie d’énergie et de brutalité voulues, – au fond, négation de l’esprit et de l’espoir éternel de l’âme humaine qui veut être immortelle.199

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198 199

Der Vorwurf richtet sich gegen eine Gruppe von spanischen Intellektuellen, die unter der Führung von Eugeni d’Ors ein Manifiesto de los amigos de la Unidad Moral de Europa veröffentlicht hatten, in dem sie die Meinung äußerten, der Krieg zwischen den verschiedenen europäischen Staaten sei ein Bürgerkrieg, gegen den es die Einheit Europas zu verteidigen gelte. Vgl. dazu auch Kapitel 4.1.2 Ein neues Reich, und Eugeni d’Ors: Manifest dels Amics de la Unitat Moral d’Europa, in: Ders.: Tina i la Guerra Gran, Barcelona: Ed. 62 1987, S. 157–158. Miguel de Unamuno: La inquisición germánica, in: Ders.: Obras Completas IX, S. 982. Miguel de Unamuno: Carta a Romain Rolland (Cahiers Vaudois No. 10, 9-X-1914), in: Christopher Cobb (Hg.): Miguel de Unamuno: Artículos olvidados sobre España y la Primera Guerra Mundial, London: Tamesis Books 1976, S. 5.

104

Die Abgrenzung zwischen den beiden Formen von Kultur funktioniert in diesem Brief noch nicht geographisch, sondern allein über die Inhalte, die der jeweilige Kulturbegriff angeblich transportiere: Während die culture – mit kleinem c – tatsächlich einem Bild von Kultur nahekommt, wie es dem positiven Verständnis des Begriffs entspricht, das zum Beispiel Norbert Elias beschreibt,200 setze die Kultur – mit großem K – auf eine verabsolutierte Technik, die sie zudem mit Hilfe von Kanonen glaube durchsetzen zu müssen. Manuel Díaz Castillo beschreibt den Unterschied zwischen beiden Konzepten von Kultur bei Unamuno in diesem Zusammenhang als eine «contaminación de la palabra ‹cultura› hasta convertirse en ‹Kultura›».201 Diese Ablehnung eines negativ aufgeladenen Begriffs von der (deutschen) Kultur entspricht dabei Unamunos schon in den ersten Jahren des Jahrhunderts immer wieder formulierter Abneigung gegen eine Überbewertung der Wissenschaft, die vor allem durch ihren Mangel an Spiritualität gekennzeichnet sei.202 Um seine scharfe Abgrenzung gegen diese antispirituelle Form der deutschen Kultur deutlicher hervorzuheben, wird Unamuno deshalb in den folgenden Jahren einen Entwurf der westeuropäischen Zivilisation entwickeln, der sich deutlicher als derjenige von der culture mit kleinem c bereits auf der begrifflichen Ebene von der Kultur unterscheidet. Dabei betont Manuel Díaz Castillo die Veränderungen, denen dieser Begriff der Zivilisation im Laufe der Zeit unterlegen sei: Während es Unamuno im Verlauf des Ersten Weltkriegs immer mehr um die schon erwähnte Vorstellung einer einheitlichen griechisch-römisch-christlich geprägten westeuropäischen Zivilisation in Abgrenzung von der deutschen Kultur geht, die er als Unterordnung und Technikhörigkeit beschreibt, machen seine Texte sowohl in den Jahren vor dem Krieg als auch in denen danach als Gegenmodell zur Zivilisation weniger die Kultur als vielmehr die Natur aus.203 So beschreibt er in seinem Text La civilización es civismo von 1907 den Gegensatz zwischen der Zivilisation – die er als eine städtische Tugend beschreibt – und dem in Spanien noch weit verbreiteten Ruralismus: Civilización viene de civil, y civil, de cives, ciudadano, hombre de ciudad. La civilización nació en las ciudades y es ciudadana.204

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Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, S. 119–120 – dort heißt es zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Begriff der Kultur und der Schicht, die sich dieses Begriffs bediene: «Der Geist und das Buch sind ihre Zuflucht und ihre Domäne.» Manuel Díaz Castillo: La imagen de Europa en Unamuno, S. 244. Vgl. zu Unamunos Kritik an der Überbewertung der Wissenschaft Kapitel 2.2 Europa als das Andere Spaniens. Vgl. Manuel Díaz Castillo: La imagen de Europa en Unamuno, S. 251–255. Vgl. zu diesem Verständnis der Zivilisation auch die Bemerkungen von Jean-Claude Rabaté zu Unamunos Beschäftigung mit Sarmiento und dessen berühmter Dichotomie civilización und barbarie (Jean-Claude Rabaté: Guerra de ideas en el primer Unamuno (1880–1900), S. 75–76). Miguel de Unamuno: La civilización es civismo, in: Ders.: Obras Completas III, S. 305.

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Auch in einigen Texten aus dem Ersten Weltkrieg verweist Unamuno auf die Etymologie des Wortes Zivilisation, wenn er die Vorstellung zurückweist, der Weltkrieg sei ein europäischer Bürgerkrieg: Los protagonistas de la unidad moral de Europa dicen que esta guerra es una guerra civil, y algunos llegan a asegurar que más que civil, plus quam civile bellum, como dijo nuestro Lucano a propósito de la de César y Pompeyo. Pero para que una guerra pueda llamarse civil, no basta con que se emprenda entre dos partidos o facciones de una misma nación, entre compatriotas: es además absolutamente indispensable que esos partidos sean civiles. […] Y en el caso de la presente guerra, al ejército austro-alemán le falta esta cualidad. Alemania no es civil. Los pueblos francés, inglés, belga, serbio y ruso combaten contra ejércitos.205

Auch hier funktioniert Unamunos Text wieder über den Gegensatz, den er bereits in dem Brief an Romain Rolland entworfen hatte: Der Weltkrieg könne kein Bürgerkrieg sein, denn dazu seien bei beiden beteiligten Parteien bestimmte «bürgerliche» Tugenden und Eigenschaften erforderlich. Diese Bedingung ist aber nur bei der einen Partei im Krieg erfüllt – der anderen, den Deutschen und ihren Verbündeten nämlich, fehlten diese zivilen Tugenden. An anderer Stelle formuliert er diesen Gegensatz noch ausdrücklicher, wenn er schreibt: «[L]a guerra civil se opone a la guerra militar, así como civilidad y civilización se oponen a militaridad y militarización.»206 So ist es letztlich tatsächlich der Unterschied zwischen der Zivilisation auf der einen Seite und seinem negativen Verständnis der vermeintlich militaristischen Kultur auf den anderen Seite, der Unamuno daran hindert, diesen Krieg tatsächlich wie viele seiner Zeitgenossen als einen Bürgerkrieg auf europäischer Ebene zu verstehen. Die klare Abgrenzung von Zivilisation und seinem Verständnis einer militaristischen Kultur verhilft Unamuno zur Begründung für einen Gedankengang, der sich deutlich von demjenigen unterscheidet, mit dem er zu Anfang des Jahrhunderts Spanien als außerhalb Europas befindlich beschrieben hatte: Jetzt soll Spanien, obwohl es im Krieg neutral ist, an der Seite der Alliierten Teil einer westeuropäischen Zivilisation sein, die mit einer sowohl historischen als auch etymologischen Argumentation als der deutschen Kultur überlegen dargestellt wird. Diese deutsche Kultur wiederum kann in Anbetracht ihrer antidemokratischen Verfasstheit eben nicht Teil eines in diesem Sinne von Zivilisation verstandenen Europas sein. Vor diesem Hintergrund sind deshalb auch Unamunos scharfe Plädoyers gegen die spanische Neutralität zu verstehen: Er bezeichnet den Krieg als «una nueva revolución francesa, mejor dicho, […] una anglo-latina-eslava, más bien europea»,207

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207

Miguel de Unamuno: La unidad moral de Europa, in: Ders.: Obras Completas IX, S. 1602–1603. Miguel de Unamuno: Más de la guerra civil (1916), in: Christopher Cobb (Hg.): Miguel de Unamuno: Artículos olvidados sobre España y la Primera Guerra Mundial, London 1976, S. 49. Miguel de Unamuno: La guerra europea y la neutralidad española, in: Ders.: Obras Completas IX, S. 355.

106

und macht damit deutlich, dass Spanien angesichts dieses europaweit verbindenden Charakters der Allianz gegen Deutschland nicht am Rand bleiben darf.208 Deutlicher noch als Hugos Entwurf von Europa im Sinne einer zunehmend universell gültigen Zivilisation verfährt derjenige von Miguel de Unamuno also abgrenzend. Zwar hatte auch Hugo zum Beispiel in seiner Conclusion von Le Rhin England und Russland als außerhalb der europäischen Zivilisation befindlich beschrieben, aber dennoch hatte diese Abgrenzung in seinem Fall weniger deutliche Konsequenzen für die Zivilisation selbst gehabt als bei Unamuno. Bei England und Russland war es vor allem ihre geographische Lage, die sie der Barbarei und nicht der Zivilisation zugehörig erscheinen ließ; die Zivilisation bei Unamuno wird dagegen erst durch den Gegensatz zur negativ gekennzeichneten Kultur wirklich positiv beschreibbar. Erst in der Abgrenzung gegen die Kultur vermag es Unamuno, auch das neutrale Spanien als naturgemäß auf der Seite der Zivilisation und also Europas stehend zu beschreiben.209 Dieses Konzept funktioniert umso besser, als Unamuno auch dabei wieder auf seine Vorliebe für Widersprüche und Paradoxien zurückgreifen kann – diese setzt er nämlich nicht nur mit dem spanischen Wesen im Gegensatz zum europäischen in Verbindung,210 sondern er hebt sie auch immer wieder im Zusammenhang mit dem von ihm als fruchtbar beschriebenen Charakter der guerra civil hervor. So schreibt Jean Bécarud: Existe también – estima Unamuno – una guerra civil fecunda. […] Es que, para Unamuno, la conciencia viva no puede salir más que del juego vivo de las contradicciones, y no puede mantenerse sino por medio de él.211

Diese Widersprüche, die für Unamunos positives Verständnis der guerra civil im Sinne einer fruchtbaren Auseinandersetzung kennzeichnend sind, werden dann später im Exil – durchaus überraschend – nicht mehr mit Spanien im Gegensatz zu Europa, sondern vielmehr mit Europa selbst in Verbindung gebracht. So heißt es in dem Artikel Impresiones de un viaje (1924): Y lo primero que se me presenta al juicio es si hay o no un espíritu europeo y si esta Europa […] no es un campo de batalla de los espíritus más discordes y aún contradictorios. Y si no es ésa su característica, la discordia íntima, la contradicción. […] Es en esto en lo que quiero insistir, en que la esencia de lo que llamaría la europeidad es la contradicción, íntima vida y fecunda, la guerra civil.212

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Vgl. zur spanischen Politik der Neutralität auch Christopher Cobb: Introducción, in: Ders. (Hg.): Miguel de Unamuno: Artículos olvidados sobre España y la Primera Guerra Mundial, London 1976. Vgl. Pedro Ribas: Para leer a Unamuno, Madrid: Alianza Ed. 2002, S. 168. Vgl. dazu Kapitel 2.2 Hispanizar a Europa. Jean Bécarud: Miguel de Unamuno y la Segunda Répública, Madrid: Taurus Ed. 1965, S. 61. Miguel de Unamuno: Impresiones de un viaje (1924), in: El País (25 enero 1992), S. 7, zitiert nach: Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), in: Cuadernos de la Cátedra Miguel de Unamuno 30 (1995), S. 61–90, hier S. 69.

107

Vor diesem Hintergrund wird umso deutlicher verständlich, warum Unamuno sich dagegen wehrt, den Ersten Weltkrieg als einen europäischen Bürgerkrieg zu interpretieren. So zieht er in Impresiones de un viaje eine Schlussfolgerung, die man leicht in Beziehung zu seinem Urteil über Deutschland im Krieg setzen kann: El mayor enemigo de la europeidad es el que cree haber nacido en posesión de la verdad absoluta, el dogmatista fanático e intransigente.213

Die Zivilisation ist also in diesen Jahren für Unamuno ein Konzept, das es ihm erlaubt, seine Vorstellung von Europa in einem positiven Sinne weiterzuentwickeln – und Spanien dabei anders als zuvor als einen essentiellen Teil dieses Europas zu verstehen. Dabei verbindet er seine Vorstellung von der europäischen Zivilisation im Gegensatz zu Victor Hugo weniger mit dem Gedanken des zu verbreitenden Fortschritts und der technischen und geistigen Errungenschaften dieser Zivilisation. Bei Unamuno steht vielmehr die Idee einer einerseits durch lebendige Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Meinungen, andererseits durch ihre griechisch-römisch-christliche Geschichte geprägten Ordnung im Vordergrund, wenn er von der Zivilisation spricht. Manuel Urrutia León weist darauf hin, dass diese Ordnung für ihn im Laufe der Zeit zunehmend auch im Sinne einer politisch-institutionell zu verstehenden Organisation von Bedeutung ist. So zitiert er einen Brief Unamunos aus dem Exil, in dem dieser die Veränderungen betont, denen seine Vorstellung von der Zivilisation seit dem Ersten Weltkrieg unterlegen sei: Respecto a lo de la civilización he cambiado mucho de criterio después de la guerra. Antes de ella […] estaba influido por cierta concepción germánica de la cultura, o mejor Kultur, como algo íntimo y más profundo que la civilización, pero hoy […] he adquirido otro sentimiento de la civilización, o mejor de la civilidad. Hoy doy mucho más valor a esas instituciones externas – ¿externas? – que protegen la libertad y la seguridad del ciudadano frente a todas las dictaduras, sean de quien fueren.214

Die Wendung von der Zivilisation oder Zivilität als Mittel zur Verteidigung des Bürgers gegen jedwede Form der Diktatur steht zu dem Zeitpunkt, zu dem Unamuno diesen Brief schreibt, natürlich vor allem in Verbindung mit seinem Widerstand gegen die Diktatur des Generals Miguel Primo de Rivera in Spanien. Im Verlauf seines Exils wird er sich an verschiedenen Stellen seines Werks weiter zur Frage der Zivilisation äußern – dabei steht diese aber nur noch selten in dem scharfen Gegensatz zur Kultur, auf den er hier anspielt und der ihm vor allem in den Jahren des Weltkriegs geholfen hatte, seine Vorstellung von Europa als westliche Zivilisation zu präzisieren. Sein Verständnis von der Zivilisation ist jetzt insofern politisch, als er die Errungenschaften dieser Zivilisation vor allem in den Institutionen verortet, deren Ziel die Sicherung der bürgerlichen Freiheiten ist.

213 214

Miguel de Unamuno: Impresiones de un viaje, zitiert nach: Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), S. 69. Miguel de Unamuno: Carta a J. Chevalier (20 febrero 1924), zitiert nach: Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), S. 68.

108

Deutlicher als Miguel de Unamuno war Victor Hugo an die Grenzen seiner Vorstellung von Europa als sich ausbreitender Zivilisation gestoßen – das wurde immer dann erkennbar, wenn er seinen eigenen pro-zivilisatorischen Diskurs durch Textpassagen konterkarierte, die die offiziell propagierte und niemals offen angezweifelte Zivilisation unter der Hand doch wieder in Zweifel zu ziehen schienen. Bei Unamuno ist die Vorstellung von der Zivilisation niemals so unzweifelhaft wie bei Hugo – dazu bleibt das Konzept bei ihm zu vielseitig und zu veränderlich. Einerseits beruft er sich in diesem Zusammenhang auf die europäische Geschichte, andererseits auf die Etymologie des Wortes, einerseits stellt der Begriff einen Gegensatz zur Natur dar, dann andererseits aber einen besonders deutlichen zur Kultur. Unamunos Denken bleibt auch hier in Bewegung, und die Zivilisation ist ein Konzept, das er im Verlauf seines Lebens immer wieder neu denken und neu formulieren wird. Die Widersprüche, die dabei auftauchen, sind deshalb weniger einem Fehler im System Zivilisation geschuldet wie im Falle Hugos, sondern sie liegen in der Natur der Sache – und vor allem in der Natur von Miguel de Unamuno selbst. Sein Verständnis von Europa als einem Ort, an dem alle diese Widersprüche ausgetragen werden können, wird im Laufe seiner Zeit im Exil immer deutlicher Bestätigung finden.

2.4

Victor Hugo: Vereinigte Staaten von Europa

Der Zivilisationsdiskurs, wie er Hugos Werke vor allem in jenen Jahren vor dem Exil geprägt hatte, in denen dieser seine literarischen Ambitionen gegenüber den politischen hintanstellte, gerät schon in denselben Werken immer wieder an seine Grenzen. Das letzte literarische Werk Hugos vor seinem Exil, das Drama Les Burgraves (1843), scheint mit seinem Vorwort, in dem die Vision einer von Europa ausgehenden universellen Zivilisation beschworen wird, zwar noch immer dem Gedanken von der positiven Identität von Europa und Zivilisation anzuhängen.215 Dennoch widersetzen sich die Lösungen, die das Drama selbst für das dort aufgeworfene Problem der Zerstückelung und Zerstreuung der Macht liefert, diesem Gedanken einer europäischen Einheit: Die Auseinandersetzung des Kaisers Barbarossa mit den Burggrafen vom Rhein endet mit der Wiederherstellung der nationalen Einheit, nicht mit einer die Nation transzendierenden Lösung. Und auch die Vorschläge dieses Dramas in Bezug auf die soziale Frage reichen nicht weit genug. Zwar können die Sklaven der Burggrafen befreit werden; die wichtigste Figur unter diesen Sklaven allerdings, Guanhumara nämlich, die gewissermaßen als Sinnbild für die Knechtschaft schlechthin gelesen werden kann, begeht schließlich Selbstmord.216 Die Gleichsetzung Europas mit der Zivilisation endet an diesem

215

216

«Un jour, espérons-le, le globe entier sera civilisé, tous les points de la demeure humaine seront éclairés, et alors sera accompli le magnifique rêve de l’intelligence: avoir pour patrie le monde et pour nation l’humanité.» (Victor Hugo: Les Burgraves, Préface, in: Ders.: Œuvres Complètes Théâtre II, Paris: Laffont 1985, S. 156). Vgl. Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 761–763.

109

Punkt, an dem weder eine angemessene Lösung für die soziale Frage noch eine wirkliche Möglichkeit zur Überschreitung der geographischen Grenzen gefunden werden kann – sowohl im sozialen wie im geographischen Sinn bleibt die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei bestehen. In seinem Roman Les Misérables (1862), dessen Konzeption bis in die vierziger Jahre zurückreicht, kommt Victor Hugo noch einmal auf den Gegensatz von Zivilisation und Barbarei zurück – in einer Passage –, die die revolutionäre Bewegung beschreibt, die 1793 vom Pariser Faubourg Saint-Antoine ausging: Ces hommes hérissés […] voulaient la fin des oppressions, la fin des tyrannies, la fin du glaive, le travail pour l’homme, l’instruction pour l’enfant, la douceur sociale pour la femme, la liberté, l’égalité, la fraternité, le pain pour tous, l’idée pour tous, l’édénisation du monde, le Progrès; et cette chose sainte, bonne et douce, le progrès, poussés à bout, hors d’eux-mêmes, ils la réclamaient terribles, demi-nus, la massue au poing, le rugissement à la bouche. C’étaient les sauvages, oui; mais les sauvages de la civilisation. […] En regard de ces hommes, farouches, nous en convenons, et effrayants, mais farouches et effrayants pour le bien, il y a d’autres hommes, souriants, brodés, dorés, enrubannés, constellés, en bas de soie, en plumes blanches, en gants jaunes, en souliers vernis, qui, accoudés à une table de velours au coin d’une cheminée de marbre, insistent doucement pour le maintien et la conservation du passé, du moyen âge, du droit divin, du fanatisme, de l’ignorance, de l’esclavage, de la peine de mort, de la guerre, glorifiant à demi-voix et avec politesse le sabre, le bûcher et l’échafaud. Quant à nous, si nous étions forcé à l’option entre les barbares de la civilisation et les civilisés de la barbarie, nous choisirions les barbares.217

Das Zitat macht deutlich, wie sich für Hugo inzwischen bei der Frage Zivilisation oder Barbarei der Schwerpunkt verschoben hat: Zum einen formuliert er abermals, und deutlicher als bisher, seine Zweifel an der gängigen bürgerlichen Vorstellung von der Zivilisation dadurch, dass er sie als rein äußerlich kennzeichnet. Zum anderen aber, und das ist hier wesentlicher, erkennt er damit auch ausdrücklich das an, was man die Dialektik des Zivilisationsgedankens nennen könnte: Zivilisation und Barbarei bedingen einander in dem Maße, in dem die Zivilisation ihre eigene Barbarei immer schon in sich trägt; was am barbarischsten scheint, ist oft zivilisierter als das, was am zivilisiertesten auftritt. In Hugos Plädoyer für diejenigen, die der Logik des Textes zufolge eigentlich die Barbaren sind, läuft die Rede von der Zivilisation schließlich ins Leere. In zunehmendem Maße sucht Hugo in den letzten Jahren vor seinem Exil, dann aber vor allem während dieses neunzehnjährigen Exils selbst, nach anderen Möglichkeiten, um Europa beschreiben zu können. Schon in den letzten Jahren vor dem Exil taucht dabei die Formel von den Etats-Unis d’Europe auf, die Vorstellung von einem europäischen Staatenbund also – zunächst in der Rede zur Eröffnung des Friedenskongresses in Paris 1849; dann aber auch in einer Rede vor der Assemblée

217

Victor Hugo: Les Misérables, in: Ders.: Œuvres Complètes Roman II, Paris: Laffont 1985, S. 675.

110

Législative 1851.218 Tatsächlich werden Hugos Europakonzeptionen inzwischen häufig auf dieses Schlagwort von den Vereinigten Staaten von Europa reduziert. So beschreibt auch in jüngster Zeit Claude D. Conter in seiner Geschichte der Inszenierungen und Visionen von Europa Hugos Entwürfe ausschließlich unter diesem Blickwinkel: Es ist vor allem der französische Dichter Victor Hugo, der […] den Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa popularisiert. Er betrachtet Europa als komplexes kulturelles und politisches Ganzes, wenngleich er die teleologische Idee seines konföderalistischen Staatenbundes in den Mittelpunkt stellt. […] Den Ausgangspunkt für die Vereinigten Staaten von Europa bildet für ihn die deutsch-französische Freundschaft. […] Auch wenn die europäischen Nationen ihre Eigenständigkeit in der Konföderation behielten, würde Europa – so Hugo – nach außen als eigenständige politische Macht auftreten. […] Im wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Austausch bilde Europa erst eine Einheit.219

Wenn Conter in der Folge auf die Voraussetzungen eingeht, die diese Vorstellung von einer europäischen Konföderation erst möglich gemacht hätten, betont er vor allem einen Zusammenhang zwischen der Konzeption von den Vereinigten Staaten und derjenigen von der Zivilisation: Diesen [europäischen Patriotismus] leitet er [Hugo] von den liberal-demokratischen Ideen her: Er begründet ihn […] mit einer auf die Zivilisation gründenden europäischen Nationalität. Dieses Europa ist sowohl Träger einer aufgeklärten und zivilisierten Mission als auch Garant des Friedens.220

Allerdings greift diese Erklärung zu kurz: Conter geht in seiner Interpretation zu wenig darauf ein, dass die Vorstellung von Europa als Staatenbund diejenige von Europa als dem Ort der Zivilisation in Hugos Werk erst allmählich ablöst, und dass sein Exil unter dem Second Empire Napoleons III. entscheidenden Einfluss auf seine Vorstellungen von der Ordnung Europas gehabt hat. Es gilt also, im Zusammenhang mit Hugos Vorstellung von Europa als Vereinigte Staaten zum einen den zeitlichen Horizont einzubeziehen, innerhalb dessen diese Vorstellung entwickelt wird; zum anderen aber auch den jeweils spezifischen Ort zu untersuchen, von dem ausgehend Hugo schreibt und sein Bild von Europa entwirft. In jedem Fall spielt dabei mehr als in den Jahren des Zivilisationsdiskurses auch die Frage nach den sozialen Grenzen dieses geeinten Europas eine Rolle.

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«Le discours sur les Etats-Unis d’Europe est en effet inséparable de la carrière et des engagements politiques de Victor Hugo durant la IIe République.» (André und Danielle Cabanis: L’Europe de Victor Hugo, Toulouse: Ed. Privat 2002, S. 32). Vgl. Victor Hugo: Discours d’ouverture au Congrès de la Paix, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 299–304, besonders S. 301. Vgl auch Hugos Rede zur Revision der Verfassung vom 17. Juli 1851, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 270–298, besonders S. 275. Claude D. Conter: Jenseits der Nation – Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik, Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 200–201. Ebd., S. 202.

111

2.4.1

Guernesey

Eh bien, si l’heure sombre est tout proche en effet, – Quand Dieu dans mon cercueil me criera: Qu’as-tu fait? – Je pourrai dire: Ô Dieu! l’onde a battu ma tête. – Quand je suis arrivé tout n’était que tempête. – L’esprit des temps nouveaux, l’esprit du temps ancien, – Luttaient. C’était terrible, et vous le savez bien. – Louis onze a livré la première bataille; – François premier, venu pour élargir l’entaille, – Est mort à l’œuvre avant que le géant tombât; – Richelieu n’a pas vu la fin du grand combat; – Tous ces hommes, suivant leur loi haute et profonde, – On fait la guerre – Moi, j’ai fait la paix du monde!221

Der Kampf, den Hugo in den Burgraves dargestellt hatte – derjenige von einzelnen feudalen Mächten gegen eine die Einigung anstrebende Zentralgewalt – spielt auch in seinem unvollendet gebliebenen Drama Les Jumeaux (1839) eine wichtige Rolle.222 Die zitierte Passage stammt aus dem langen Monolog Mazarins, der im Kern dieses Dramas steht und mit dem es schließlich abbricht; in ihr wird dieser Kampf als Auseinandersetzung zwischen dem «esprit des temps nouveaux» und dem «esprit du temps ancien» bezeichnet: Während die neuen Zeiten die Einigung vorsehen, widersetzen sich die alten dieser Einigung. In seinem Monolog entwickelt Mazarin, über eine Europakarte gebeugt, nun seine Vision von einem um Frankreich herum geeinten Europa. Nachdem er vorher im Einzelnen aufgezählt hat, wie der Kontinent geordnet sein soll – als «voûte énorme à la France appuyée»223 –, endet der Monolog mit einer Betonung des Friedens, der dieses neue geeinte Europa prägen soll. Nicht nur in der Einigung selbst sieht Mazarin also sein Lebenswerk vollendet, sondern vor allem in diesem Frieden, der die Einigung zunächst ebenso bedingt, wie er später wieder aus ihr hervorgeht. Diese in diesem Sinne veränderte Konzeption von Europa ist für Hugos politisches Denken in seiner zweiten Lebenshälfte charakteristisch. Zehn Jahre nach der Unterbrechung der Arbeit an den Jumeaux, 1849, hält Hugo die Eröffnungsrede zu dem in Paris stattfindenden Friedenskongress. In diesen Jahren zwischen 1839 und 1849 liegen nicht nur seine Aufnahme in die Académie Française und seine Ernennung zum Pair de France, sein wachsendes politisches Engagement und der persönliche Kontakt zum Bürgerkönig Louis Philippe, das Scheitern seines Dramas Les Burgraves und die Veröffentlichung des Reiseberichts vom Rhein, sondern auch, in einem größeren, nämlich europäischen Rahmen, die Revolution von 1848, die einen Wendepunkt in Hugos politischer Entwicklung darstellt und in deren Folge er als Abgeordneter in die Nationalversammlung ge-

221 222

223

Victor Hugo: Les Jumeaux, in: Ders.: Œuvres Complètes Théâtre II, S. 686. Vgl. Maurice Descotes: ‹Les Burgraves›, l’Empire, l’Europe, in: Mireille Calle-Gruber/ Arnold Rothe (Hg.): Lectures de Victor Hugo, Paris: Nizet 1986, S. 19–32; und Franck Laurent: Les trous du territoire – Figures de la centralisation monarchique dans l’œuvre romanesque et dramatique de Victor Hugo de ‹Marion de Lorme› (1829) aux ‹Burgraves› (1843), compte rendu de la communication au Groupe Hugo du 14 décembre 1996, http://groupugo.div.jussieu.fr/Groupugo/96-12-14Laurent.htm (29.01.2005). Victor Hugo: Les Jumeaux, S. 685.

112

wählt wird.224 Hatte er während der Revolution von 1848 selbst den Aufstand noch skeptisch beurteilt, und vor allem die Republik für verfrüht gehalten, so entwickelt sich sein politisches Denken in den Jahren danach immer deutlicher auf die Linke zu.225 In diesem großen Zusammenhang ist nun seine Rede vor dem Friedenskongress von Paris zu verstehen, in der er zum ersten Mal den Begriff der Etats-Unis d’Europe verwendet.226 Einige der Bilder, die Hugo in dieser Rede verwendet, lassen sich tatsächlich noch im Kontext mit dem Diskurs von der Zivilisation aus der ersten Hälfte des Jahrzehnts lesen. So hebt er auch in der Rede vor dem Friedenskongress die zivilisatorischen Errungenschaften von Eisenbahn, Dampfschiffen und Elektrizität hervor, die die Distanzen auf dem Kontinent verringerten; er spricht davon, dass in der Zukunft die Zivilisation den Krieg ablösen solle, und er betont, dass die finanziellen Mittel, mit denen man Kriege finanziere, besser verwendet wären, wenn man sie zur Verbreitung der Zivilisation einsetzte. Dennoch unterscheidet sich die Perspektive dieser Rede von der der Texte zur Zivilisation aus den Jahren zuvor: Einmal ist die rhetorische Verfasstheit der Friedenskongressrede bemerkenswert – die europäische Zivilisation wird mittels dieser Rhetorik als klares Gegenbild zum Krieg zwischen europäischen Staaten konstruiert, wenn Hugo in sich wiederholenden parallelen Satzbausteinen eine bessere Zukunft beschwört: «Un jour viendra...», so setzt er immer wieder neu ein, wenn es um diese bessere Zukunft Europas geht, und er macht mit dieser Wiederholung deutlich, dass es keine Alternative zu dieser Zukunft einer Zivilisation ohne Kriege gibt. Anders als in den Texten seines Zivilisationsdiskurses betont Hugo in der Friedenskongressrede aber auch Einzelheiten aus der konkreten politischen Ordnung des durch den zivilisatorischen Fortschritt zusammenwachsenden europäischen Kontinents. So setzt er beispielsweise für die Zukunft seines europäischen Staatenbundes ebenso auf das allgemeine Wahlrecht, wie er es für die Gegenwart der Nationalstaaten tut. Wenn außerdem dieser erste Entwurf eines europäischen Staatenbundes in besonderem Maße durch den Frieden zwischen den einzelnen Völkern geprägt ist, dann ist dieser Aspekt zwar einerseits schon durch den Rahmen des Friedenskongresses vorgegeben, bei dem die Rede gehalten wird; andererseits findet sich aber genau in dieser Voraussetzung auch eine wesentliche Neuerung: Die Vorstellung von einem als Staatenbund geordneten Europa beruht jetzt auf der

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225 226

Vgl. dazu René de Messières: Victor Hugo et les Etats-Unis d’Europe, in: The French Review 25 (1952), S. 413–429, und Angelo Metzidakis: Victor Hugo and the Idea of the United States of Europe, in: Nineteenth Century French Studies 23 (1994/95), S. 72–84. Vgl. Franck Laurent: Préface, in: Victor Hugo: Ecrits Politiques, Paris: Le livre de poche 2001, S. 11–43, hier vor allem S. 21–23. Victor Hugo: Discours d’ouverture au Congrès de la Paix, S. 299–304. Paul SaveyCasard weist darauf hin, dass Hugo zwar für sich in Anspruch genommen habe, diesen Begriff von den Vereinigten Staaten geprägt zu haben; dass ihn aber etwa Emile de Girardin tatsächlich schon vorher verwendet hat. Vgl. Paul Savey-Casard: Le pacifisme de Victor Hugo, in: Revue de Littérature Comparée 35 (1961), S. 421–432, hier S. 425.

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freiwilligen und friedlichen Übereinkunft der europäischen Völker – in Hugos Rede findet das in dem Stichwort von der «fraternité européenne» seinen Ausdruck.227 Vor diesem pazifistischen Hintergrund könnte man Hugos neuen Entwurf von Europa als Staatenbund als ein politisches Projekt beschreiben, dem zweifellos utopische Züge anhaften, das aber dennoch zielgerichtet bleibt. So schreibt er Jahre nach der Rückkehr aus dem Exil in seinem Text Ce que c’est que l’exil (1875) ironisch über die politischen Überzeugungen, die ihn seinerzeit zur Bedrohung für das Regime Louis Napoleons hatten werden lassen und die ihn deshalb ins Exil geführt haben: Il fallait bien sauver la société. De qui? de vous. De quoi ne la menaciez-vous? Plus de guerre, plus d’échafaud, l’abolition de la peine de mort, l’enseignement gratuit et obligatoire, tout le monde sachant lire! C’était affreux. Et que d’utopies abominables! […] plus de classes, plus de frontières, plus de ligatures, la république d’Europe, l’unité monétaire continentale […]; que de folies! il fallait bien se garer de tout cela!228

Zum einen fallen seine konkreten politischen Forderungen auf: Abschaffung des Krieges und der Todesstrafe, allgemeine Schulpflicht, Aufhebung der sozialen Klassen und geographischen Grenzen, stattdessen eine europäische Republik, in der zudem noch eine einheitliche Währung gelten soll. In der ironischen Brechung dieses Textes macht Hugo deutlich, wie unerhört diese Forderungen auf seine Zeitgenossen und vor allem seine politischen Gegner gewirkt haben müssen. Die Forderungen ergänzen einander hier – neben denen, die eine gerechtere soziale Ordnung und den Fortschritt der Gesellschaft betreffen, stehen diejenigen, die die Grenzen überschreiten und die die europäische Einheit angehen. Mehr jedoch als diese politischen Forderungen selbst, die sich so oder ähnlich an unterschiedlichen Stellen seines politischen Werkes aus den Jahren nach 1848 finden lassen,229 ist aber die Verbindung dieser Forderungen mit Hugos fast zwanzigjährigem Exil von Belang. Der Staatsstreich Napoleons III. im Jahr 1851 und das sich daran anschließende Exil Hugos zunächst in Brüssel und auf Jersey, später auf Guernesey, lassen ihn nämlich nicht nur die Unvereinbarkeit seiner früheren positiven Interpretation der Idee von einem europäischen Empire mit seiner Ablehnung des gegenwärtigen Empires Napoleons III. erkennen; wichtiger noch ist der Einfluss, den das Inselexil auf seine Vorstellungen von Europa gehabt hat. Dabei spielt zunächst die Tatsache

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Victor Hugo: Discours d’ouverture au Congrès de la Paix, S. 301. Diesen Zusammenhang zwischen Hugos veränderter Vorstellung von Europa einerseits und der Entwicklung seiner zunehmend pazifistischen Überzeugungen andererseits konstatiert auch Paul SaveyCasard: «Cette idée d’une Europe à construire a séduit le poète et elle a marqué pour lui une première étape dans la voie du pacifisme.» (Paul Savey-Casard: Le pacifisme de Victor Hugo, S. 423). Victor Hugo: Ce que c’est que l’exil, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 401. Etwa auch in der Eröffnungsrede des Friedenskongresses, vgl. Victor Hugo: Discours d’ouverture au Congrès de la Paix. Vgl. auch Nicole Savy: L’Europe de Victor Hugo, in: Michèle Madonna Desbazeille (Hg.): L’Europe, naissance d’une utopie?, S. 173–187, besonders S. 184–185.

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eine Rolle, dass Hugos persönliche geographische Zentren mit Guernesey jetzt um einen dritten Ort neben Paris und dem Rhein ergänzt werden.230 Dann ist aber auch die konkrete Beschaffenheit dieses Ortes von Bedeutung, dessen Inselcharakter entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Hugos Europakonzeptionen in diesen Jahren gehabt hat: Seine Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa gewinnt im Exil insofern an Brisanz, als sie von einem Ort aus propagiert wird, dessen geographische Isolierung ihn zwar auf der einen Seite gerade vom Rest Europas trennt, dessen kommunikative Offenheit ihn dann aber auf der anderen Seite doch wieder zum Austausch prädestiniert. Die Insel ist dabei vor allem ein vom Kontinent isolierter, selbständiger Raum: L’île se saisit dans son rapport avec ce qui n’est pas senti comme tel. On en arrive à cette définition négative: une île est le contraire d’un continent. C’est l’altérité qui fait l’île.231

Diese Alterität der Insel vor allem in Bezug zum Kontinent hat auch Victor Hugo an verschiedenen Stellen seines Werkes dargestellt. Bereits in der Conclusion aus Le Rhin, die Jahre vor seinem Exil auf den Kanalinseln entstanden ist, schreibt er mit Bezug auf England einmal in diesem Kontext von Insel und Kontinent: «Les îles sont faites pour servir les continents, non pour les dominer»,232 und macht damit deutlich, dass das Bewusstsein von der Insel immer schon das von einem Kontinent voraussetzt, von dem diese Insel getrennt ist. Auf der anderen Seite betont er aber auch immer wieder die entgegengesetzte Vorstellung, der zufolge die Insel zu einem Kreuzungspunkt der Wege wird, der eben dadurch in enger Verbindung nicht nur zu den anderen Inseln eines Archipels, sondern auch zum Kontinent steht. So heißt es in dem Text L’Archipel de la Manche, den Hugo als eine Art Vorwort zu seinem Roman Les Travailleurs de la Mer (1866) verfasst hat, über die Inseln im Ärmelkanal ausdrücklich, sie seien Bruchstücke der Küste der Normandie – und damit des europäischen Kontinents: Les îles de la Manche sont des morceaux de France tombés dans la mer et ramassés par l’Angleterre.233

Diese Fragmente des Festlands sind nun in gewisser Weise durch ihre Trennung von diesem Festland ebenso im Exil wie der Autor selbst.234 In seiner Parallelisierung der Inselsituation mit der allgemeinen Situation des Exils macht Hugo vor allem

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Vgl. Nicole Savy: L’Europe de Victor Hugo, S. 175. Eric Fougère: Les voyages et l’ancrage. Représentation de l’espace insulaire à l’Age classique et aux Lumières (1615–1797), Paris: L’Harmattan 1995, S. 9–10. Vgl. zum Gegensatz Insel–Kontinent auch Jean-Claude Marimoutou/Jean-Michel Racault (Hg.): L’insularité. Thématique et représentations, Paris: L’Harmattan 1995. Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 431. Victor Hugo: L’Archipel de la Manche, in: Ders.: Œuvres Complètes Roman III, Paris: Laffont 1985, S. 14. Vgl. auch Myriam Roman: Les îles anglonormandes: insularité et communauté dans Les Travailleurs de la Mer de Victor Hugo, http://groupugo.div. jussieu.fr/groupugo/textes et documents/roman insularité et communauté.doc (29. 01. 2005). Vgl. zu dieser Ambivalenz der Insel zwischen Ganzheit und Fragmentierung und zum

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deutlich, wie eng bei ihm beides miteinander verknüpft ist, die Insel und das Exil. Die Isolation der Insel – und auch auf diese Isolation weist er in L’Archipel de La Manche ausdrücklich hin235 – verstärkt dabei einerseits diejenige des Exils. Andererseits betont Hugo aber, wie sehr ihm die Insel nicht nur Exil, sondern auch Zufluchtsort und Asyl geworden sei: Ces îles, autrefois redoutables, se sont adoucies. Elles étaient écueils, elles sont refuges. Ces lieux de détresse sont devenus des points de sauvetage. Qui sort du désastre, émerge là. Tous les naufragés y viennent, celui-ci des tempêtes, celui-là des révolutions.236

Ihre Funktion als Zufluchtsort lässt die Insel deshalb trotz ihrer Abgeschlossenheit zum Bezugspunkt in einem größeren Ganzen und damit zum Kommunikationsraum schlechthin werden. Die Insel steht also einerseits für die Isolation einer in sich abgeschlossenen Welt, andererseits ganz im Gegensatz dazu für die Möglichkeit einer vielfältigen Offenheit und Kommunikation. Zu dieser doppelten Bedeutungsstruktur der Insel schreibt Ottmar Ette: Sie kann einerseits für eine vom Anderen isolierte Abgeschlossenheit, andererseits aber gerade auch für das Bewußtsein einer mit dem Anderen vielfach verbundenen Relationalität stehen. […] Die semantisch wie eine Kippfigur funktionierende Geschichte der Insel umfaßt in ihrer abendländischen Tradition folglich zum einen die Insel als Insel-Welt, in der sich eine Totalität in ihrer Abgeschlossenheit verräumlicht […]. Zum anderen zeigt sich die Insel aber auch als Teil einer Inselwelt, die das Fragmentarische, Zersplitterte, Mosaikhafte repräsentiert, das durch vielfältige innere Verbindungen und Konstellationen gekennzeichnet ist. […] Beide Deutungsmuster können sich […] auch wechselseitig überlagern und somit die Bedingungen für ein semantisches Oszillieren schaffen, dessen sich jegliche Beschäftigung mit Inseln bewußt sein sollte.237

Victor Hugo erlebt und beschreibt in seinem Exil auf den Kanalinseln beide Formen des Inseldaseins, und in seinen Inseltexten findet tatsächlich die beschriebene Überlagerung beider Deutungsmuster statt. Im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit Europa ist allerdings auffällig, dass die Insel hier immer weniger als abgeschlossene Insel-Welt figuriert und immer deutlicher zur kommunikativen Inselwelt im Sinne Ettes wird. Das die Insel umgebende Meer ist bei Hugo deshalb nicht nur Begrenzung und Abschluss des jeweiligen Inselraumes, sondern es stellt zugleich eine Verbindung nach außen dar – «la mer est un chemin», hatte er schon früher festgestellt.238 Die Insel seines Exils wird auf diese Weise zu einem Ort der Vermittlung, der ganz im Gegensatz zu seiner natürlichen Isolierung dazu geschaffen ist, in ein Netz aus Beziehungen einzutreten. In diesem Zusammenhang

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Bezug zwischen Insel und Exil Chris Bongie: Islands and Exiles. The Creole Identies of Post/Colonial Literature, Stanford: Stanford University Press 1998. So heißt es dort knapp: «Une île est un isolement.» (Victor Hugo: L’Archipel de la Manche, S. 19). Ebd., S. 33. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005, S. 124. Victor Hugo: Le Rhin, Conclusion, S. 431.

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gilt es hervorzuheben, dass diese insulären Beziehungen bei Hugo ebenso auf einer rein räumlichen Ebene stattfinden können wie auch in einem weiteren Sinne auf einer kulturellen: Figures, comme l’écrivain, d’un universel-singulier, les îles, en s’inscrivant dans l’immense réseau des échanges naturels (les vents, les courants) ou culturels, sont des lieux médiatiques qui permettent les rencontres, les métissages, toutes les transmutations.239

Dass die Insel zu einem solchen Ort der Vermittlung wird, ist nun gerade im Kontext von Exil und Verbannung von besonderer Bedeutung: In der internationalen Gemeinschaft derer, die wie Hugo in diesen Jahren auf den Kanalinseln im Exil sind, ist die europäische Gemeinschaft längst realisiert, die dieser anstrebt,240 und das bedeutet, dass die Insel trotz ihrer klar umrissenen Konturen schließlich keineswegs die Vorstellung von festen Grenzen zementiert. Auch Victor Hugo selbst unterwandert in seinen Texten aus dem Exil diese Vorstellung bewusst. In einem Gedicht aus den Châtiments, das 1853 auf Jersey entstanden ist, zählt er beispielsweise die Reihe der Verbannten auf, die durch ihr Exil die enge anglonormannische Eingrenzung der Kanalinseln immer wieder aufheben und die Inseln damit gewissermaßen zu europäischen Mikrokosmen werden lassen – und das, obwohl diese Verbannten alle ihrer jeweiligen Heimat verbunden bleiben: A quoi ce proscrit pense-t-il? A son champ d’orge ou de laitue, A sa charrue, à son outil, A la grande France abattue. Hélas! le souvenir le tue. […] Les exilés s’en vont pensifs, Leur âme, hélas! n’est plus entière. […] L’un songe à l’Allemagne altière, L’autre au beau pays transalpin, L’autre à sa Pologne chérie.241

Dadurch, dass sich Victor Hugo mit seinem eigenen Exil und mit den Werken aus dieser Zeit im Exil nun bewusst in diese insulären Austauschbeziehungen einschaltet, gewinnt auch die Vorstellung von Europa als einem Bund von freien Völkern eine besondere Bedeutung, die er in diesen Jahren des Exils weiter propagiert. Dass die europäischen Exilierten, die Hugo in seinem Gedicht aufzählt, die

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Françoise Chenet: ‹Les travailleurs de la mer› ou l’écriture en archipel, in: Jean-Claude Marimoutou/Jean-Michel Racault (Hg.): Insularité. Thématique et représentations, S. 365–374, hier S. 368. Vgl. Guy Rosa: ‹Ce que c’est que l’exil› de Victor Hugo, compte rendu de la communication au Groupe Hugo du 20 octobre 2001, http://groupugo.div.jussieu.fr/Groupugo/0110-20Rosa.htm, S. 5 (29.01.2005). Victor Hugo: Chanson, Châtiments, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie II, Paris: Laffont 1985.

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Deutschen, Italiener und Polen, jeweils Vorkämpfer der Nationalbewegung in ihren Ländern sind, tut seiner Überzeugung von der Verwirklichung der europäischen Idee auf den Inseln dabei keinen Abbruch: Hugo hat diese Nationalbewegungen in den Jahren seines Exils immer wieder unterstützt, weil sie in seinen Augen die Voraussetzung für ein geeintes Europa darstellen: In dem Aufruf A l’Italie (1856), den er auf Bitten von Giuseppe Mazzini hin aus Guernesey schreibt, fordert er etwa die italienische Nationalbewegung zur «fraternité des patries dans la suprême unité républicaine» und zur Beteiligung an den «Peuples-Unis d’Europe» auf.242 Bezüglich dieser konstitutiven Offenheit der Kanalinseln, die die Bedingung dafür ist, dass sich die Vorkämpfer für das republikanische Modell von Europa dort sammeln können, kann Myriam Roman insofern mit Hinweis auf die spezifische Räumlichkeit der Inseln in Hugos Roman Les Travailleurs de la Mer feststellen: Les lieux des Travailleurs de la Mer sont donc offerts au lecteur […] dans la rencontre d’allusions historiques, littéraires et mythiques qui dépassent le régionalisme anglonormand pour faire de l’insularité un lieu de passage et d’échanges, et proposer une utopie de la rencontre […]. L’île, lieu isolé, séparé, point en pleine mer, n’en constitue pas moins un support privilégié pour une réflexion sur les échanges […]; l’île interroge et remet en cause la notion de frontière.243

Für Hugo gewinnt die Insel damit einen besonderen Status – ihre Offenheit einerseits, aber andererseits auch ihre räumliche Außerhalbbefindlichkeit in Bezug auf Europa qualifizieren sie zum idealen Posten, von dem aus das grenzenlose Projekt der Vereinigten Staaten von Europa weiter verfolgt werden kann. Wenn er deshalb 1870, gegen Ende seines Exils auf Guernesey, dort die Eiche der Vereinigten Staaten von Europa pflanzt, dann ist das zwar zunächst ein symbolischer Akt, der nicht verhindert, dass ihm in der unmittelbaren Zukunft abermals ein europäischer Krieg folgt. Dennoch macht dieser Akt deutlich, dass die Inselwelt seines Exils für Hugo inzwischen für seine Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa zu einem zentralen Ort mit symbolischer Bedeutung geworden ist. 2.4.2

Paris

In den letzten Jahren vor seinem Exil entwickelt Victor Hugo die Vorstellung von einem Europa als Staatenbund, der sich dadurch auszeichnen soll, dass er im Gegensatz zu dem derzeitigen Europa der Allianzen von Königen auf der freiwilligen Übereinkunft von Völkern beruhen soll. Obwohl diese Vorstellung zunächst eine Utopie zu sein scheint und vor allem von Hugos politischen Gegnern auch als

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Vgl. Victor Hugo: A l’Italie, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 507–509, hier S. 508. Vgl. auch Franck Laurent: Victor Hugo, Le Rappel et la Commune, compte rendu de la communication au Groupe Hugo du 13 mars 2004, http://groupugo.div.jussieu.fr/ Groupugo/04-03-13Laurent.htm, S. 3 (29.01.2005). Myriam Roman: Les îles anglonormandes: insularité et communauté dans Les Travailleurs de la Mer de Victor Hugo, S. 6.

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solche verspottet wird,244 hält Hugo an ihr fest und verbindet sie mit konkreten politischen und sozialen Forderungen.245 Aus dem Exil, von den Kanalinseln Jersey und Guernesey aus, propagiert er weiter sein Modell eines konföderalistischen europäischen Staatenbundes. Dabei spielt die Erfahrung der besonderen räumlichen Situation auf den Inseln insofern eine Rolle, als diese Inseln sich in Hugos Darstellung immer auf der Schnittstelle zwischen Offenheit und Abgeschlossenheit bewegen und so seine Auseinandersetzung mit dem Thema Europa weiter begünstigen. In seiner nachträglichen Auseinandersetzung mit dem Exil Ce que c’est que l’exil (1875) schreibt Hugo über die tägliche Erfahrung der Insel und des Meeres während seines Exils: Car de quoi peut-on se plaindre quand on a eu vingt ans auprès de soi et avec soi, la justice, la raison, la conscience, la vérité, le droit et la mer aux bruits immenses.246

Die Tatsache, dass Hugo die konkrete Erfahrung des Meeres hier auf eine Ebene mit den abstrakten Werten von Gerechtigkeit, Vernunft, Gewissen, Wahrheit und Recht stellt, macht deutlich, welche Rolle sie in den Exiljahren für ihn spielt: Tatsächlich macht Hugo diese Erfahrung auf unterschiedlichen Ebenen für sein literarisches und politisches Werk fruchtbar.247 Vor allem eine Metapher, die bereits in seinem Werk vor dem Exil an unterschiedlichen Stellen in Erscheinung tritt, erfährt deshalb in diesen Jahren des Exils eine entscheidende Neubewertung: die Metapher vom peuple-océan.248 Beiden, dem Volk und dem Ozean, ist ihre Größe und scheinbare Unendlichkeit gemeinsam. Der Begriff der Größe ist für Hugo von besonderer Bedeutung – unter anderen Vorzeichen hatte er diese Größe auch schon im Zusammenhang mit seiner Konzeption von Europa als Empire in der Person des Kaisers beschworen. In den Jahren vor dem Exil war das ozeanische Bild von der Größe des Volkes nun vor allem als bedrohlich gekennzeichnet, weil Hugo dort die Unberechenbarkeit und die Gewalt des Meeres wie des Volkes in den Vordergrund gestellt hatte.249 Im

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Vgl. etwa den Aufruhr, der auf Hugos Äußerungen zu den Vereinigten Staaten von Europa in seiner Rede zur Revision der Verfassung im Parlament folgt: «M. de Montalembert. – ‹Les Etats-Unis d’Europe! C’est trop fort. Hugo est fou.› M. Molé. – ‹Les Etats-Unis d’Europe! Voilà une idée! Quelle extravagance!› M. Quentin Bauchard. – ‹Ces poètes!›» (Victor Hugo: Révision de la constitution, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 275). Unter diese politischen Forderungen fallen etwa diejenige nach dem allgemeinen Wahlrecht, die nach der Schulpflicht, der Abschaffung der Todesstrafe und vor allem der Kriege zwischen den europäischen Völkern. Vgl. dazu Nicole Savy: L’Europe de Victor Hugo, S. 185. Victor Hugo: Ce que c’est que l’exil, S. 416. Vgl. Myriam Roman: Les îles anglo-normandes: insularité et communauté dans Les Travailleurs de la Mer de Victor Hugo. Vgl. zu dieser Metapher besonders Franck Laurent: Le territoire et l’océan, S. 867–888; und Ders.: L’Europe dans l’œuvre de Victor Hugo avant l’exil: la politique des deux infinis. Vgl. Victor Hugo: Hernani, in: Ders.: Œuvres Complètes Théâtre I, Akt IV, Szene 2; und Conseil, Les chants du crépuscule, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie I. Diese

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Vergleich zu seiner Zurückhaltung in Bezug auf die soziale Frage vor dem Exil erfährt die Metapher vom Volk als Ozean im Exil dann aber eine entscheidende Umwertung ins Positive. So heißt es in einem Gedicht aus den Châtiments von 1853, das den Titel Au peuple und die Ortsangabe «Au bord de l’océan» trägt: Il te ressemble; il est terrible et pacifique. Il est sous l’infini le niveau magnifique; Il a le mouvement, il a l’immensité. Apaisé d’un rayon et d’un souffle agité. […] Sur son énormité le colosse chavire; Comme toi le despote, il brise le navire; Le fanal est sur lui comme l’esprit sur toi; Il foudroie, il caresse, et Dieu seul sait pourquoi; Sa vague, où l’on entend comme des chocs d’armures, Emplit la sombre nuit de monstrueux murmures, Et l’on sent que ce flot, comme toi, gouffre humain, Ayant rugi le soir, dévorera demain.250

Noch immer sind das Volk und der Ozean in diesem Gedicht vor allem durch ihre Größe gekennzeichnet; diejenige des Volkes erfährt aber jetzt eine nähere Bestimmung dadurch, dass sie klar auf ein Ziel hin orientiert ist: Das Volk, dessen schicksalhafte Bewegung in verschiedenen Einzelheiten mit der des Meeres verglichen wird, soll wie eine Sturmflut die Despoten verschlingen, die es unterdrücken. In diesem Gedicht wird also die früher als erschreckend empfundene Größe und Gewalt des Volkes zu einer positiven Macht umgedeutet, die nicht zuletzt Hugos eigenen Kampf gegen den Despoten Louis Napoléon unterstützen soll. In dem Umstand, dass das Volk und seine Revolutionen inzwischen ihren Schrecken für Hugo verloren haben, deutet sich auch eine neue Bewertung der bisher ungelösten sozialen Frage an.251 Es geht ihm, das macht das positiver gewendete Bild vom Volk als Ozean deutlich, im Zusammenhang mit seiner Sicht auf Europa inzwischen nicht mehr allein um die Öffnung der geographischen, sondern vor allem auch um die der sozialen Grenzen. Neben der Parallelisierung von Volk und Ozean ist die Bedeutung des Meeres in den Texten aus dem Exil aber noch in einem weiteren Punkt hervorzuheben. Immer wieder finden sich hier nämlich Passagen, die die Vision des Meeres mit einer Evokation der Stadt Paris verbinden, und die wie vorher das Volk jetzt auch die Stadt in Beziehung zu dem Bild des Ozeans setzen. Auch im Falle von Paris geht es dabei vor allem um dessen (historische) Größe. So endet die Reflexion über das Exil in Ce que c’est que l’exil damit, dass sich Hugo ausdrücklich dar-

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Bedrohung durch das Volk findet ihre Entsprechung in der negativen Darstellung des Volkes und seiner Rache etwa in Le Rhin (vgl. dazu Kapitel 2.3.1 Victor Hugo: Frankreich als Zentrum der Zivilisation). Victor Hugo: Au peuple, Les Châtiments, in: Ders.: Œuvres Complètes Poésie II. Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Hugos Text Paris in der Folge dieses Kapitels.

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an erinnert, Paris während seines neunzehnjährigen Exils niemals aus dem Blick verloren zu haben: Ceux qui, par les hasards quelconques de la vie, ont quitté la vision de Paris pour la vision de l’Océan, n’ont éprouvé, en changeant de spectacle, aucune hausse d’infini. […] Quelque orage que fasse la mer, Paris a 93. L’évocation se fait d’elle-même, les toits semblent surgir parmi les flots, la ville se recompose dans toute cette onde, et ce tremblement infini s’y ajoute. Dans la cohue des houles on croit entendre bruire la fourmilière des rues. Charme farouche. On regarde la mer et on voit Paris.252

Auch hier fällt ein Zusammenhang auf, den die Parallele von Paris und dem Ozean allerdings bislang nur andeutet: Dadurch, dass Hugo die Stürme des Meeres mit der Revolution von 1793 vergleicht, würdigt er einen Aufstand genau des Volkes, das er mit seiner Metapher vom peuple-océan inzwischen durchaus positiv beurteilt.253 Im Exil ist die Größe von Paris deshalb eines der wiederkehrenden Themen – und nicht nur in den Misérables, wo Hugo schreibt: «l’auteur de ce livre […] n’a pas besoin de dire qu’il aime Paris»,254 tritt deshalb seine Sehnsucht nach dieser Stadt offen zutage.255 Als im Jahr 1867 in Paris die Weltausstellung stattfindet, bietet sich für den exilierten Hugo eine Möglichkeit immerhin der geistigen Annäherung an seine Stadt, weil anlässlich der Weltausstellung ein Buch veröffentlicht werden soll, in dem verschiedene Autoren ihre Ansichten von Paris präsentieren. Die Reihe der Mitarbeiter geht von Michelet über Renan bis hin zu Hugo; alle beteiligten Autoren stehen dem Regime Napoleons III. wenn nicht klar feindlich, so doch immerhin kritisch gegenüber.256 Der Text, den Hugo für diesen Paris-Guide verfasst, trägt der Weltausstellung als dem besonderen Anlass der Publikation in gleichem Maße Rechnung wie der weltgeschichtlichen Rolle, die Paris seiner Meinung nach im allgemeinen ausfüllt. Unmittelbar im Anschluss an diese Gemeinschaftspublikation hat Hugo seinen eigenen Text noch einmal separat publiziert – auch das ein Hinweis auf die Bedeutung, die er ihm zumisst. Diese separate Publikation trägt nun den

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Victor Hugo: Ce que c’est que l’exil, S. 417–418. Auch die Parallelisierung der Stadt Paris mit dem Ozean hat in Hugos Werken eine Tradition, die bereits in die Zeit vor dem Exil zurückreicht. Schon in einem Brief von 1839, der in die Sammlung von Reiseberichten Alpes et Pyrénées aufgenommen wurde, findet sich ein Bild, das demjenigen aus der Argumentation aus Ce que c’est que l’exil sehr ähnlich ist. Hugo beschreibt hier den Fortgang einer Reise, die ihn vom Vierwaldstätter zum Genfer See und von dort zum Mittelmeer geführt habe, also voranschreitend zu immer größeren Gewässern, und er schließt seine Beschreibung mit den Worten: «Maintenant il me faut l’Océan, ou Paris.» Der Ozean oder Paris – das Zitat aus dem Brief macht mit dieser Alternative nach der Aufzählung all der kleineren Gewässer einmal mehr deutlich, dass die Gemeinsamkeit zwischen beiden in der Größe besteht, und zwar ebenso in einem räumlichen wie auch in einem übertragenen Sinne. (Victor Hugo: Alpes et Pyrénées, in: Ders.: Œuvres Complètes Voyages, Paris 1985, S. 694). Victor Hugo: Les Misérables, S. 353. Vgl. auch Yves Gohin: L’exil de Hugo en 1867, in: Europe 671 (1985), S. 151–169, hier S. 154. Vgl. ebd., S. 155.

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einfachen Titel Paris (1867), und genau das ist ihr Thema: «Paris tout entier, en son devenir, en son être, en son essence.»257 Aus der Distanz der Kanalinsel heraus entwirft Hugo das Bild einer Stadt, von der er schreibt, sie sei die bereits existierende Hauptstadt eines noch nicht existierenden Volkes – des europäischen Volkes nämlich. Dieses Bild von Paris als Hauptstadt eines künftigen demokratischen Europas erklärt er ausgehend von einer historischen Analyse, in der er die Stadt als einen Mikrokosmos beschreibt, in dem jedes noch so sehr auf das Lokale beschränkte Ereignis zuletzt weltgeschichtliche Bedeutung erlange: Le fait local y a un sens universel. […] Rien n’y manque de ce qui est ailleurs. [Paris] résume en soulignant. Tout s’y réfracte, mais tout s’y réfléchit. Tout s’y abrège et s’y exagère en même temps.258

Weil das so sei, weil sich in Paris auf einem eng umgrenzten Raum Weltgeschichte ereigne, sei die Stadt selbst aufgeladen mit Bedeutung und damit lesbar wie eine Art Palimpsest: «Tout dans cette ville […] a un sens. […] Sous le Paris actuel, l’ancien Paris est distinct, comme le vieux texte dans les interlignes du nouveau».259 Hugos eigene Lektüre der Stadt, sein Abstieg in die Tiefen der Geschichte, ist detailreich und sehr persönlich. Die Fakten und die Anekdoten, die er auswählt, um sein Bild von Paris zu präsentieren, kulminieren am Ende seines Kapitels über die Vergangenheit von Paris in der einfachen Zahl 1789. Mit dieser Zahl ist der Wendepunkt erreicht, mit ihr ist die Vergangenheit abgeschlossen. Diese Zahl macht den Titel des folgenden Kapitels, ‹Suprématie de Paris› nämlich, bereits im Voraus unanfechtbar. Réfléchissez, en effet. Rome a plus de majesté, Trèves a plus d’ancienneté, Venise a plus de beauté, Naples a plus de grâce, Londres a plus de richesse. Qu’a donc Paris? La révolution. Paris est la ville pivot sur laquelle, à un jour donné, l’histoire a tourné.260

Durch die Bedeutung, die er der Revolution beimisst, kann Hugo jetzt ausgehend von seiner Beschreibung von Paris als Scharnier der Geschichte sein Programm für die Zukunft entfalten – und zwar der Zukunft von Paris selbst ebenso wie der Zukunft von ganz Europa. Dieses Programm wird schon dadurch ins Zentrum des Interesses gerückt, dass der Text über Paris eben nicht, wie es naheliegend gewesen wäre, mit der Vergangenheit der Stadt einsetzt, um dann chronologisch zur Zukunft voranzuschreiten, sondern dass er die Zukunft ganz an den Anfang rückt und sie damit als das im Grunde unausweichliche Ziel der Geschichte präsentiert. Hugos Programm für diese Zukunft lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen: Öffnung der Grenzen und Abschaffung des Elends. Um diese Ziele nun ausgehend von seiner Beschreibung von Paris zu begründen, entwirft er ein Bild

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Ebd., S. 156. Victor Hugo: Paris, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 8. Ebd. Ebd., S. 19.

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von der Stadt als einem Ort, dem es allein durch seine intellektuelle Strahlkraft gegeben ist, Grenzen zu sprengen: Autour de cette ville, la monarchie a passé son temps à construire des enceintes, et la philosophie à les détruire.261

Vor diesem Hintergrund wird Paris ausdrücklich als die Verkörperung des Wahren, Schönen und vor allem des Großen dargestellt – und auch in diesem Zusammenhang gelingt es Hugo, sein positives Bild von der Größe von Paris durch einen Verweis auf die Kultur und den Intellekt der Stadt zu präzisieren: «La fonction de Paris, c’est la dispersion de l’idée»,262 dies zum einen; vor allem aber: «Ce qui complète et couronne Paris, c’est qu’il est littéraire.»263 Natürlich ist Hugo selbst einer derjenigen, die für die literarische Bedeutung von Paris maßgeblich verantwortlich sind – von dieser Voraussetzung geht sein Text unausgesprochen aus. Von der Insel seines Exils aus kann er das positive Bild von dem Paris der Vergangenheit und der Zukunft gegen dasjenige von dem gegenwärtigen Empire setzen, das ebenfalls in diesem Paris sein Machtzentrum hat. Das Paris des Second Empire, das Paris der Gegenwart also, ist für Hugo nicht von Bedeutung, ja sogar kaum existent: Ce Paris existe-t-il? S’il existe, il est au vrai Paris du passé et de l’avenir ce qu’est une feuille à un arbre. Moins encore. Ce qu’est une excroissance à un organisme. Jugerezvous le chêne sur le gui?264

Dieses Bild setzt implizit etwas wie eine ewige Idee Paris voraus – die jeweiligen Erscheinungszustände der Stadt sind dann nur mehr oder weniger vollkommene Realisierungen dieser Idee. Die tatsächlich vollkommene Realisierung der Idee Paris aber, das macht Victor Hugo bereits in seinem ersten Kapitel über die Zukunft der Stadt deutlich, ist die, in der sie sich als Hauptstadt seines zukünftigen demokratischen Europas präsentiert: Que l’Europe soit la bienvenue. Qu’elle entre chez elle. Qu’elle prenne possession de ce Paris qui lui appartient, et auquel elle appartient.265

Die aktuelle Weltausstellung, anlässlich derer Hugos Text im Paris-Guide veröffentlicht wird, ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Realisierung dieser Idee. Hugo beschwört deshalb am Ende die friedliche Zusammenkunft der Völker, die das Ereignis der Weltausstellung in seinen Augen darstellt: «Donc, ce qui vient, c’est tous les peuples.»266 Das Treffen der Völker wird dabei in einen deutlichen Gegensatz zu den bisherigen Zusammenkünften von Königen auf der europäischen Ebene gestellt: War es früher um die militärische Organisation gegangen, so steht

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S. S. S. S. S. S.

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jetzt der Austausch von Ideen im Mittelpunkt. Das utopische Bild, das Hugo am Anfang seines Textes über Paris entworfen hatte, erfährt also mit der Weltausstellung den ersten Schritt zu seiner Verwirklichung: Au vingtième siècle, il y aura une nation extraordinaire. Cette nation sera grande, ce qui ne l’empêchera pas d’être libre. Elle sera illustre, riche, pensante, pacifique, cordiale au reste de l’humanité. […] La circulation sera préférée à la stagnation. […] Aux fleuves frontières succéderont les fleuves artères. […] Sous son impulsion, la longue traînée des misérables envahira magnifiquement les grasses et riches solitudes inconnues […]; les meurt-de-faim et les va-nu-pieds, ces frères douloureux et vénérables de nos splendeurs myopes et de nos prospérités égoïstes, auront […] leur table servie sous le même soleil […]. Cette nation aura pour capitale Paris, et ne s’appellera point la France; elle s’appellera l’Europe.267

Mit Texten wie diesem konkretisiert Victor Hugo von der Insel seines Exils aus seine Vorstellung von einem europäischen Staatenbund. Dabei erfährt diese Vorstellung im Laufe der Jahre kaum noch Modifikationen – im Gegenteil: Ausgehend von der Erfahrung des Inselexils und der Entfernung von Paris insistiert Hugo auf seiner Idee von den Vereinigten Staaten von Europa, und diese Idee erfährt durch das Denkmodell der Insel und durch die Erfahrung der Insel als Europa im Kleinen nur Bestätigung. Nachdem er seine Vorstellungen von Europa als Empire und von Europa als Zivilisation aus den Jahren vor seinem Exil aufgegeben hat, entwickelt Victor Hugo in den Jahren unmittelbar vor dem Exil und währenddessen mit der Konzeption von einem Staatenbund Europa jenseits der geographischen Grenzen und sozialen Unterschiede eine Konzeption, deren endgültige Realisierung er zwar selbst erst für das zwanzigste Jahrhundert ansetzt, die aber weniger als seine früheren Vorstellungen der Belastung durch innere Widersprüche ausgesetzt zu sein scheint. Wenn allerdings der Eintritt Europas in Paris, den er in seinem Text Paris so enthusiastisch gefeiert hatte, zunächst auf sich warten lässt und im Deutsch-Französischen Krieg durch die Belagerung der Stadt durch die Deutschen dann abermals ad absurdum geführt wird, kann Hugo darüber nur irritiert sein. Er, der nach dem Sturz Napoleons III. auf dem schnellsten Wege nach Paris zurückgekehrt ist, wendet sich in einem Aufruf an diese Deutschen vor Paris: Vous venez prendre Paris de force! Mais nous vous l’avons toujours offert avec amour. Ne faites pas fermer les portes par un peuple qui de tout temps vous a tendu les bras. N’ayez pas d’illusions sur Paris. Paris vous aime; mais Paris vous combattra. Paris vous combattra avec toute la majesté formidable de sa gloire et de son deuil. Paris, menacé de ce viol brutal, peut devenir effrayant.268

Abermals stilisiert Hugo sein wiedergefundenes Paris in diesem Aufruf zum Zentrum Europas: «C’est à Paris que l’on sent vivre l’Europe»,269 schreibt er, und gründet seinen Appell an die Deutschen auf diese Feststellung:

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Ebd., S. 3–6. Victor Hugo: Aux Allemands, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 726. Ebd., S. 725.

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Deux nations ont fait l’Europe. Ces deux nations sont la France et l’Allemagne. […] Aujourd’hui, cette Europe, que l’Allemagne a construite par son expansion et la France par son rayonnement, l’Allemagne veut la défaire. Est-ce possible? L’Allemagne déferait l’Europe en mutilant la France. L’Allemagne déferait l’Europe en détruisant Paris.270

Hugo entwickelt hier eine neue Variante seiner alten Vorstellung aus Le Rhin, die in Frankreich und Deutschland die beiden sich ergänzenden Bausteine zu einem inneren unverbrüchlichen Kern Europas sehen wollte. In diesem Sinne ist auch eine Intervention von 1874 zu verstehen, in der er betont, der Deutsch-Französische Krieg sei keine Auseinandersetzung zwischen zwei Völkern gewesen, sondern eine zwischen zwei Prinzipien: Duel entre deux nations? non. La France et l’Allemagne sont sœurs; mais duel entre deux principes, la République et l’Empire. La question est posée: d’un côté la monarchie germanique, de l’autre, les Etats-Unis d’Europe; la rencontre des deux principes est inévitable; et dès à présent on distingue dans le profond avenir les deux fronts de bataille, d’un côté tous les royaumes, de l’autre toutes les patries.271

Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich hat also dem Empire auf der einen Seite die Demokratie der Vereinigten Staaten von Europa auf der anderen Seite gegenübergestellt; und er gewinnt auf diese Weise seine Bedeutung eher als symbolische Auseinandersetzung denn als tatsächlicher Waffengang. Hugo stellt das Voranschreiten Europas auf seine tatsächliche Realisierung als demokratisch konföderierter Staatenbund hin in diesem Sinne einer Konfrontation zwischen Empire und Republik dar, und veranschaulicht damit auch noch einmal die Entwicklung seiner eigenen Lösungsvorschläge in Bezug auf die europäische Frage: Weg von einem Europa, das als Empire geordnet ist, hin zu einem, das als Zusammenschluss von freien Völkern mit einer demokratischen Verfassung konzipiert ist. Sowohl in den Jahren seines Exils als auch in denen danach, in denen Hugo dank seiner aktiven Beteiligung an der politischen Organisation der Dritten Republik mehr denn je eine öffentliche Person mit der entsprechenden Autorität geworden ist, haben diejenigen seiner Texte, die sich mit Europa beschäftigen, meist einen weniger literarischen als eher proklamatorischen Charakter. Es sind zum großen Teil politische Reden, Aufrufe und Stellungnahmen, in denen Hugo seine politischen und gesellschaftlichen Ziele klar benennt. Zuvor war seine Beschäftigung mit dem Thema Europa besonders dadurch geprägt gewesen, dass sie sich ständig neuen Anforderungen ausgesetzt sah, die jeweils auch immer wieder neue Ideen und Lösungsvorschläge erforderten. Die Überzeugung, mit der er jetzt in seinen letzten Lebensjahren für die Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa eintritt, erweckt dagegen den Anschein, als könne dies die

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Ebd. Victor Hugo: La question de la paix remplacée par la question de la guerre, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S. 883.

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Lösung für all die Probleme sein, auf die seine Entwürfe von Europa immer wieder gestoßen waren. Trotzdem – und auch wenn Hugos lebenslange Beschäftigung mit Europa tatsächlich zuletzt in die nicht mehr weiter hinterfragte Konzeption von den Vereinigten Staaten von Europa mündet, ist diese utopische Konzeption doch nicht so unproblematisch, wie es seine sich wiederholende Formel von den Etats-Unis d’Europe suggerieren mag. Im Gegenteil – Victor Hugo deutet durchaus an, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema bis zuletzt auch für ihn selbst immer wieder Anlass ist, seine Ideen zu Europa in Frage zu stellen oder zumindest deren nach wie vor prekäre Position in der europäischen Öffentlichkeit anzuerkennen. So schreibt er in dem späten Text Mes fils (1874) im Zusammenhang mit der jüngsten französischen Niederlage gegen Deutschland: Et cependant la nuée monte […] la frontière redevient barrière; on recommence à être national, et le plus cosmopolite renonce à la neutralité; adieu la mansuétude des philosophes! entre l’humanité et l’homme la patrie se dresse, terrible. Elle regarde les sages, indignée. Qu’ils ne viennent plus parler d’union, d’harmonie et de paix! Pas de paix, que la tête haute! Voilà ce que veut la patrie. […] Oh! la misérable aventure! […] Le penseur, qui est toujours compliqué d’un prophète, a devant les yeux un tumulte, qui est l’avenir.272

2.5

Miguel de Unamuno: Agonie des Christentums

Der Diktator Miguel Primo de Rivera ist erst wenige Wochen an der Macht, als er Miguel de Unamuno in die Verbannung auf die Kanareninsel Fuerteventura schickt. Schon das Urteil der Zeitgenossen über die Entscheidung Primo de Riveras, sich seines Gegners Unamuno auf diese Weise zu entledigen, lässt an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig: «Eso ha sido peor que un crimen; ha sido una tontería», bemerkt zum Beispiel Ramón Pérez de Ayala.273 Und tatsächlich – die Strafmaßnahme Primo de Riveras gegen Unamuno erweist sich von Anfang an insofern als kontraproduktiv, als sie diesem europaweit gerade die Aufmerksamkeit verschafft, der sie ihn eigentlich hatte entziehen sollen. Schriftsteller und Intellektuelle aus ganz Europa – unter ihnen Ernst Robert Curtius und Heinrich Mann – wenden sich jetzt in Artikeln und Aufrufen gegen Unamunos Verbannung und bringen dadurch den spanischen Diktator wenn schon nicht auf der spanischen, so doch auf der europäischen Ebene in Erklärungsnot.274

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Victor Hugo: Mes fils, in: Ders.: Œuvres Complètes Politique, S: 47–59, hier S. 58. Zitiert nach Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), S. 61. Urrutia León selbst weist darauf hin, dass Unamuno sich diesen Umstand von Anfang seines Exils an bewusst zu Nutze gemacht habe. Vgl. allgemein zu Unamunos Auseinandersetzung mit Miguel Primo de Rivera auch Victor Ouimette: El destierro de Unamuno y el ataque a la inteligencia, in: Cuadernos de la Cátedra Miguel de Unamuno 25–26 (1978), S. 25–41. Vgl. Sebastian de la Nuez: Unamuno en Canarias. Las islas, el mar y el destierro, La Laguna: Universidad de La Laguna 1964, besonders S. 139. Vgl. auch Juan Marichal: Unamuno y su conquista de Europa, in: Cirilo Flórez Miguel (Hg.): Tu mano es mi

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Sein Exil macht Unamuno aber nicht nur zu einer in ganz Europa bekannten Symbolfigur des Widerstandes gegen die Diktatur Primo de Riveras – vor allem versetzt es ihn in die Lage, anders als in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts seine Überlegungen zu Spanien und zu Europa auf die persönliche Erfahrung der Bewegung innerhalb eines größeren europäischen Rahmens und auf seine eigene Außerhalbbefindlichkeit in Bezug auf Spanien zu gründen. Beides hat großen Einfluss auf seine Ideen in diesen Jahren, und besonders dem Aufenthalt auf der Insel Fuerteventura kommt dabei eine Sonderstellung zu: Auch wenn Unamuno Fuerteventura selbst nach einem knappen halben Jahr wieder verlassen hat, um von dort aus zunächst nach Paris, später an die französisch-spanische Grenze in Hendaye zu fliehen, bleibt das Bild der Insel doch in den ganzen sechs Exiljahren in seinen Texten präsent. Vor allem für seine Frage nach Europa und dem Ort, den er selbst innerhalb dieses Europas einnehmen möchte, ist der Gegensatz zwischen Fuerteventura und Paris entscheidend, den er in diesen Jahren deutlich empfindet. De Fuerteventura a París ist der Titel einer Sammlung von Sonetten, die Unamuno in den ersten Monaten seines Exils geschrieben hat; der Herausgeber seiner Gesammelten Werke, Manuel García Blanco, hat diesen Titel auch für eine Reihe von Artikeln aus derselben Zeit gewählt. Hier heißt es: ¡De Fuerteventura a París! Parece el salto muy grande, pero ¿lo es tanto? Y ¿dónde estaba más cerca de la civilización, de la civilidad, eternas e infinitas? ¿Allí, en la isla árida y sedienta, a la que briza el sueño el arrullo del Atlántico africano, o aquí, en la Ciudad Luz, a la que no deja dormir en paz el traqueteo de los autos?275

Die Frage nach dem Unterschied zwischen der Insel und der Stadt wird hier in Verbindung mit der Frage nach der Zivilisation gesetzt, wie Unamuno sie in den Jahren vor seinem Exil immer wieder aufgeworfen hatte. Dabei ist auffällig, dass sich für ihn die Perspektiven in dieser Beziehung verschoben zu haben scheinen: Sein vor allem während des Krieges formuliertes Verständnis von der positiven Einheit der westlichen Zivilisation wird jetzt aufgelöst in eine Interpretation der Dinge, die offensichtlich wieder von unterschiedlichen Graden des Zivilisiertseins im Rahmen dieser westlichen Zivilisation ausgeht. Der Gegensatz, den Unamuno zwischen Fuerteventura und Paris konstruiert, beruht dabei vor allem auf dem unterschiedlichen Grad an Zivilisation der beiden Orte – die «isla árida y sedienta» fungiert hier als bewusst konstruiertes Gegenmodell zu der «ciudad luz». Erstaunlich ist allerdings die Konsequenz, die Unamuno aus diesem zivilisatorischen Gegensatzmodell von der Insel einerseits und der Stadt andererseits zieht: ¡Fuerteventura! ¡Estoy casi nostálgico de Fuerteventura! ¡Inolvidable isla! ¡Para mí, Fuerteventura fué todo un oasis – un oasis donde mi espíritu bebió las aguas vivifican-

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destino. Congreso internacional Miguel de Unamuno, Salamanca: Ed. Universidad de Salamanca 2000, S. 319–325, vor allem S. 322. Marichal weist darauf hin, dass in den Jahren 1924 und 1925 nicht nur zahlreiche Artikel über Unamuno in der europäischen Presse erschienen seien, sondern dass in diesen Jahren auch die Übersetzungen seiner Bücher eine große Auflagensteigerung erfahren hätten. Miguel de Unamuno: De Fuerteventura a París, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 602.

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tes y salí refrescado y fortalecido – para continuar mi viaje a través del desierto de la civilización!276

Aus denselben Jahren wie dieser Text mit seinem Bild von der Wüste der Zivilisation stammen auch Unamunos Überlegungen zur Zivilisation als Oberbegriff für diejenigen Institutionen, die die bürgerlichen Freiheiten beschützen sollen.277 Diese beiden einander widersprechenden Seiten der westeuropäischen Zivilisation weisen auf die Ambivalenz hin, die dieser Zivilisation auch bei Unamuno nach wie vor eigen ist: Auch ihm gelingt es letztlich ebenso wenig wie Victor Hugo, aus der Auseinandersetzung mit der europäischen Zivilisation heraus ein widerspruchsfreies und positives Bild von Europa zu entwerfen. Es ist vor allem dieser Zusammenhang, für den die Insel Fuerteventura und Unamunos Aufenthalt auf dieser Insel entscheidend werden: Der Stadt Paris als Wüste der Zivilisation steht die Oase Fuerteventura gegenüber. Die leicht paradoxe Metapher – immerhin spricht Unamuno gleichzeitig von Fuerteventura als einer «isla árida y sedienta» – impliziert auf der Seite der Insel Fruchtbarkeit, auf der der Stadt dagegen ein Ausmaß an Unfruchtbarkeit und Ödnis, das nicht nur angesichts des positiven Parisbildes bei Victor Hugo gerade im Zusammenhang mit der Zivilisation, sondern mehr noch angesichts der bisher ebenfalls positiven Darstellung der europäischen Zivilisation bei Unamuno selbst überrascht. Jetzt wird Paris zu einem Ort der Ermüdung und Erschöpfung nicht nur durch die beständigen Geräusche und Bewegungen des zivilisatorischen Fortschritts, sondern auch in einem umfassenderen Sinne durch seine ‹Geschichtsträchtigkeit›: Aquí, en París, en la llamada Ciudad Lumbre […], ni desde el alto de la Torre Eiffel se ve ni la mar, ni el desierto – este otro mar de tierra, este mar petrificado o empedernido –, ni la montaña, inmensa oleada petrificada también. Ni la selva primitiva. Grandes perspectivas urbanas, sí; la que va desde el Arco de la Estrella a la Plaza de la Concordia, la de los Inválidos, la del Pantéon… Pero todo es histórico; todo esto nació por el hombre y con el hombre.278

Hatte Victor Hugo noch davon sprechen können, der Anblick des Ozeans stelle im Vergleich zu demjenigen von Paris «aucune hausse d’infini» dar,279 so vermisst Unamuno in Paris genau dieses Gefühl der Unendlichkeit des Meeres, wenn er feststellt, dort sei alles bloß historisch. Während Hugo Paris gerade in Verbindung zu dem Meer gesetzt hatte, das er auf seiner Exilinsel erlebte, ist es jetzt bei Unamuno der starke Gegensatz zwischen Paris und dem Meer von Fuerteventura, der für seine Vorstellung in diesen Jahren strukturbildend wird. Das Meer ist das übergeschichtliche Element, das die Ewigkeit repräsentiert – dem steht auf der anderen Seite in Paris die versteinerte Geschichte der Zivilisation gegenüber:

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Ebd. Dasselbe Bild findet sich auch in dem Zyklus von Sonetten De Fuerteventura a París, vgl. etwa das Sonett LXV, in: Ders.: Obras Completas VI, Madrid 1969. Vgl. dazu das Ende des Kapitels 2.3.2 Miguel de Unamuno: Westliche Zivilisation versus germanische Kultur. Miguel de Unamuno: El Père Lachaise, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 623. Victor Hugo: Ce que c’est que l’exil, S. 417–418. Vgl. dazu Kapitel 2.4.2 Paris.

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Allá en Fuerteventura, en mi entrañada Fuerteventura […] bañaba todos los días mi vista en la visión eterna de la mar, de la mar eterna, de la mar que vió nacer y verá morir la historia, de la mar que guarda la misma sonrisa con que acogió el alba del linaje humano, la misma sonrisa con que contemplará su ocaso. […] ¡Pero desde aquí, desde París, desde este París que está reventando historia, lo que pasa y mete ruido, ni se ve montaña, ni se ve desierto, ni se ve mar!280

Mit diesem Entwurf von Fuerteventura stellt Unamuno dem ambivalenten Bild von der Zivilisation ein anderes Modell gegenüber, das die Insel als einen Ort beschreibt, der seine Möglichkeiten der geistigen Erfrischung und Regeneration gerade seiner Zivilisationsferne verdankt. Der deutlich konturierte Gegensatz zwischen Unamunos beiden Exilorten unterstreicht auf diese Weise ebenso sein skeptisches Verhältnis zur europäischen Geschichte wie die Modifikationen, denen sein bisher positives Bild von der westeuropäischen Zivilisation in seiner Exilzeit in Frankreich unterworfen ist.281 Diesen Veränderungen liegt dabei vor allem die von ihm in seinen Monaten in der kanarischen Verbannung positiv erlebte Erfahrung der inselhaften Abgeschlossenheit von Fuerteventura zugrunde – das betont er in der Einleitung zu seiner religionsphilosophischen Schrift La agonía del cristianismo (1925/31): Hier schreibt er ausdrücklich von der «íntima experiencia religiosa y hasta mística,»282 die Fuerteventura für ihn bedeutet habe: Die Abgeschiedenheit der Insel wird also für Miguel de Unamuno zum Anlass für eine gewisse Wendung in die Innerlichkeit. Dennoch ist auffällig, dass die Wendung nach innen ergänzt wird durch eine Perspektive, die umgekehrt deutlich nach außen gerichtet ist. So formuliert Unamuno aus dem Exil heraus immer wieder auch seine Sorge um das Spanien unter der Diktatur Primo de Riveras – etwa in den Sonetten aus der Sammlung De Fuerteventura a París mit ihrer beständig wiederholten Frage nach dem Zustand und der Zukunft des Landes. Mehr denn je beherrscht diese Sorge um Spanien jetzt auch seine Beschäftigung mit Europa. Hatte sich diese Beschäftigung mit Europa schon immer durch einen sehr auf Spanien zentrierten Blick ausgezeichnet, so ist es jetzt umso folgerichtiger, dass Europa in manchen der Texte aus dem Exil angesichts des häufig formulierten Heimwehs des exilierten Schriftstellers vollends hinter Spanien in den Hintergrund zu treten scheint. Dennoch lässt sich zeigen, dass für Unamuno sowohl die Isolation auf der Insel Fuerteventura als auch die konkrete Erfahrung des europäischen Raumes und seiner Grenzen in Frankreich Anlass dazu waren, seine bisherigen Überlegungen zu Europa in einen neuen Rahmen zu stellen.

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Miguel de Unamuno: ¡Montaña, desierto, mar!, in: Ders.: Obras Completas I, S. 570– 571. Vgl. zu Unamunos Skepsis gegenüber der Geschichte auch die kurzen Bemerkungen zu seinem Konzept von der intrahistoria in Kapitel 2.2.1 Europeizar a España. Miguel de Unamuno: La agonía del cristianismo, in: Ders.: Obras Completas VII, S. 307.

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2.5.1

Fuerteventura

Bei Victor Hugo war der Ort seines Exils, Guernesey, dadurch gekennzeichnet gewesen, dass er elementarer Bestandteil eines in vielfältige Beziehungen eingesponnenen Netzes war – die Insel war ein Teil eines größeren Ganzen und insofern prädestiniert zur Kommunikation. Der Ort des Exils von Miguel de Unamuno, Fuerteventura, wird zwar an einigen wenigen Stellen von dessen Werk auf ähnliche Art und Weise dargestellt – etwa wenn er bereits Jahre vor seinem Exil über die Kanarischen Inseln insgesamt schreibt, sie seien «un mesón colocado en una gran encrucijada de los caminos de los grandes pueblos.»283 Dennoch zeichnet er bereits in demselben Text auch ein Bild von den Inseln, das eher ein anderes Merkmal der Inseln in den Mittelpunkt stellt – deren Isolation nämlich: El aplatanamiento, la soñarrera, se curaría merced a comunicaciones más rápidas, más frecuentes y más intensas, sobre todo más intensas, con España y con el resto de Europa y con América. A estas gentes les hace falta […] interesarse más por los grandes problemas nacionales, europeos, mundiales, lo cual les desinteresaría de sus pequeños problemas insulares, de sus rivalidades de isla a isla.284

Schon 1909 beschreibt Unamuno die Kanarischen Inseln also nicht nur als Gasthaus an der Kreuzung der Wege der großen Völker, sondern er erklärt zugleich die vermeintliche Trägheit und Indolenz der Inselbewohner durch ihre Isolation und den Mangel an Kommunikation mit Europa. In diesem frühen Zusammenhang wird die Isolation dabei als eine Bezogenheit auf sich selbst dargestellt, von der Unamuno sich entschieden abgrenzt und deren Überwindung zugunsten eines stärkeren Interesses für die größeren Probleme auf nationaler, europäischer und weltpolitischer Ebene er explizit fordert. In den Monaten, die Unamuno dann Jahre später, 1924, tatsächlich als Verbannter auf der Insel Fuerteventura erlebt, ist für ihn deren Isolation nach wie vor ihr hervorstechendes Merkmal – das betont er unter anderem dadurch, dass er das spanische Wort für diese Isolation, aislamiento, in seine Bestandteile zerlegt, um daraus den etymologischen Kern der Insel, isla, herauszudestillieren.285 Wenn er diese Isolation der Kanarischen Inseln außerdem während der Zeit seiner Verbannung auf Fuerteventura immer wieder dadurch hervorhebt, dass er diese unter den Vorzeichen der Ferne, der Abgeschiedenheit und Geschlossenheit schildert,286 dann stehen damit Merkmale der Insel im Vordergrund, die dem Hugoschen Verständnis von der Insel als Ort der Kommunikation gerade entgegenstehen. Obwohl die Betonung der Isolation der Kanarischen Inseln eine Konstante in Unamunos Beschäftigung mit diesen Inseln ist, verschiebt sich doch im Laufe der Zeit seine Beurteilung dieser Isolation. Nachdem er bei seinem ersten Aufenthalt auf den

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Miguel de Unamuno: La Gran Canaria, in: Ders.: Obras Completas I, S. 315. Ebd., S. 319–320. Vgl. Miguel de Unamuno: El caos, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 573. Etwa in Los reinos de Fuerteventura (in: Ders.: Obras Completas I, S. 549); oder in La Atlántida (ebd., S. 559).

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Kanarischen Inseln 1909 für die Inseln eine weiter reichende Kommunikation mit Europa gefordert und die Isolation insofern als die Ursache für die Probleme der Inseln ausgemacht hatte,287 wendet er sie später, in seiner Zeit im Exil, zu einem entscheidenden positiven Merkmal der Insel.288 So kann Unamuno zum einen aus der Entfernung der Insel heraus seine Opposition gegen die Diktatur Primo de Riveras intensivieren.289 Zum anderen gewinnt jedoch die Abgeschiedenheit, der er sich in den Monaten auf Fuerteventura ausgesetzt sieht, auch in einem übertragenen Sinne an Bedeutung – und zwar vor allem in Bezug auf seine Überlegungen zu dem europäischen Raum, in dem er sich bewegt: Hatte er die Inseln insgesamt bei seiner ersten Reise dorthin als einen «Vorposten» Europas auf dem Weg nach Amerika und Afrika beschrieben,290 und war damals bereits deutlich gewesen, dass dieser Vorposten vor allem durch seine Position zwischen den Kontinenten gekennzeichnet war, so wird der Insel Fuerteventura in Unamunos Exiltexten jetzt eine ähnliche Funktion zugeschrieben. Die Insel ist immer wieder ein eigenständiger Raum à part, der vor allem durch seine radikale Alterität gekennzeichnet ist. Fuerteventura ist nicht mehr ganz Spanien, und nicht mehr ganz Europa, aber auch noch nicht ganz Afrika und schon gar nicht ganz Amerika. Die Insel befindet sich so für Unamuno fraglos außerhalb der eigentlichen Grenzen Europas. Gerade diese Eigenständigkeit und der darin begründete Unterschied zwischen der Insel und den Kontinenten sind es auch, die sich in seinen Bemerkungen über die vermeintliche Zivilisationsferne der Insel andeuten: Die Oase in der Wüste der Zivilisation muss per definitionem immer das ganz Andere dieser Zivilisation sein und sich positiv von dieser unterscheiden. Dieser Zusammenhang zwischen der Zivilisationsferne Fuerteventuras und der Eigenständigkeit der Insel fällt insbesondere im Vergleich mit der Pariser Zivilisation ins Auge, aber es lassen sich auch schon in früheren Texten Überlegungen

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In der Rede, die er 1910 bei den Juegos Florales in Las Palmas hält, sagt Unamuno ausdrücklich: «Una palabra hay, que es una palabra terrible cuando se traslada su sentido geográfico al espiritual; es la palabra aislamiento. Puede hablar de espléndido aislamiento Inglaterra que es un pequeño continente con una civilización propia; pero no una pequeña isla.» (Miguel de Unamuno: Discurso de los Juegos Florales, in: Alfonso Armas Ayala (Hg.): Del aislamiento y otras cosas. Textos inéditos de Miguel de Unamuno, in: Anuario de Estudios Atlánticos 9 (1963), S. 391–397, hier S. 394). Das betont auch Alfonso Armas Ayala: «En todas las Islas, sigilosamente uncidas por su base, el Aislamiento: el atosigante, el orgulloso, el feroz aislamiento. En él cifró nuestro viajero buena parte de los pecados y de las virtudes isleñas; a través él […] fue capaz Unamuno de reencontrar a los hombres y las cosas.» (Alfonso Armas Ayala: Del aislamiento y otras cosas. Textos inéditos de Miguel de Unamuno, in: Anuario de Estudios Atlánticos 9 (1963), S. 335–438, hier S. 336). «Desde su destierro, don Miguel se convirtió en símbolo consciente de la intelectualidad española y se dedicó a poner en relieve el peligro que corría la patria si se permitía la continuación del Directorio y la Monarquía.» (Victor Ouimette: El destierro de Unamuno y el ataque a la inteligencia, S. 40–41). Vgl. die bereits zitierte Passage: «Estas islas […] no son, ante todo y sobre todo, sino una avanzada de Europa, de España sobre América, y una avanzada de América sobre Europa, sobre España y sobre Africa.» (Miguel de Unamuno: La Gran Canaria, S. 315).

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finden, die dem Für-sich-Stehen der Insel ebenso in einem geographischen wie in einem übertragenen Sinne Rechnung tragen. Solche Überlegungen prägen insbesondere diejenigen Texte, in denen sich Unamuno explizit mit der Geographie und der Geologie der Inseln im Atlantik auseinandersetzt. Vor allem wenn er dabei auf die Frage nach der Entstehung der Inselgruppe zu sprechen kommt, greift er zum einen auf Metaphern der Fragmentierung zurück.291 Zum anderen zitiert er verschiedene wissenschaftliche Publikationen, die trotz ihrer verwirrenden Widersprüchlichkeit eines gemeinsam haben: Sie alle gehen wieder von der Komplementarität von Inseln und Kontinenten aus.292 Dabei sind die namenlosen und unbestimmt bleibenden Kontinente, um die es hier als ursprüngliche Einheit im Gegensatz zur Fragmentierung der Inseln geht, mehr den sagenhaften Legenden zuzuordnen als der tatsächlichen Geographie. Unamunos Entwurf bezieht sich auf eine mythische Urgeschichte und verweist damit einerseits wieder auf die Unendlichkeit jenseits der Geschichte, die bei ihm das entscheidende Charakteristikum der Inseln ist. Andererseits wird aber dadurch auch deutlich, dass sich seine Beschäftigung mit der Entstehung der Inseln eher in einem literarischen als in einem wissenschaftlichen Rahmen bewegt.293 Diesem literarischen Charakter der Entstehungsgeschichten der Kanarischen Inseln entsprechend ist schließlich auch die Konsequenz zu verstehen, die Unamuno aus seiner legendenhaften Annäherung an diese Inseln zieht: Für ihn beziehen sich all die unterschiedlichen Geschichten ganz konkret auf die platonische Vorstellung von der Insel Atlantis, die jenseits der Säulen des Herakles, also jenseits von Gibraltar gelegen habe: «Y todo esto llega a cuenta de la famosa Atlántida de Platón.»294 Seine Exilinsel Fuerteventura wird für Unamuno auf diese Weise der Ort der konkreten Realisierung dieser Insel des Atlas, die bei Platon utopisch geblieben war; und ausgehend von dieser Vorstellung einer geographischen

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Vgl. Miguel de Unamuno: Los reinos de Fuerteventura, in: Ders.: Obras Completas I, S. 549. Hier findet sich zum Beispiel eine kurze Beschreibung Fuerteventuras als «este pedazo de Africa sahárica, lanzado en el Atlántico». Bei Hugo war von den Inseln im Ärmelkanal die Rede gewesen als «des morceaux de France tombés dans la mer et ramassés par l’Angleterre» (Victor Hugo: L’Archipel de la Manche, S. 14). Vgl. dazu auch Kapitel 2.4.1 Guernesey. Vgl. Miguel de Unamuno: La Atlántida, S. 559. Vgl. zu dieser Komplementarität Kapitel 2.4.1 Guernesey. Nicht umsonst beschreibt der karibische Nobelpreisträger Derek Walcott deshalb die Poesie (und damit mittelbar auch die Literatur) mit einer Metapher der Fragmentierung, die Hugos und Unamunos Entwürfe von der Insel als abgebrochene Stücke des Festlands aufzugreifen scheint: «Poetry is an island that breaks away from the main», heißt es bei Walcott (Derek Walcott: What the Twilight Says, New York: Farrar, Straus and Giroux 1998). Vgl. dazu auch Ottmar Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/ Günther Maihold (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen, Frankfurt am Main: Vervuert 2005, S. 135–180, besonders S. 151. Miguel de Unamuno: La Atlántida, S. 559. Vgl. zu Platons Entwurf der Insel Atlantis Wilhelm Brandenstein: Atlantis. Größe und Untergang eines geheimnisvollen Inselreiches, Wien: Gerold 1951.

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Präzisierung des Mythos von der versunkenen Insel kann er auch sein eigenes literarisch-philosophisches Programm in Bezug auf seine Insel skizzieren: Indem er Fuerteventura in eine Reihe mit Platons Atlantis und mit der Insula Barataria stellt, die bei Cervantes Don Quijote für Sancho Panza entwirft,295 und indem er sowohl Atlantis als auch die Insula Barataria ausdrücklich als literarische Entwürfe charakterisiert,296 inszeniert sich Unamuno als Schöpfer seiner Insel – und damit diese selbst als einen spezifisch literarischen Raum: Platón inventó, creó, no descubrió, la Atlántida, y Don Quijote inventó, creó, no descubrió, para Sancho, la Insula Barataria. Y yo espero por la intercesión de Platón y de Don Quijote, o con la ayuda de ambos, inventar, crear y no descubrir la isla de Fuerteventura. ¡Qué nombre tan sonoro, alto y significativo! ¿Fuerteventura? Es decir, ventura fuerte. Y si a estas islas Canarias se las llamó las Afortunadas, a ésta de Fuerteventura habrá que llamarla la fuertemente venturosa.297

Ebenso wie das glückhafte Fuerteventura also einen Endpunkt für die Reihe der mythischen Inseln bildet, die der Text mit Platon beginnen ließ, entwirft sich Unamuno selbst als das letzte Glied in der Reihe der literarischen Erfinder dieser mythischen Inseln. Nachdem er zu Beginn seines Textes all die vermeintlich wissenschaftlichen Erklärungen für die Entstehung seiner Kanareninsel zitiert und verworfen hatte, führt die abschließende Wendung diese wissenschaftlichen Erklärungen endgültig ad absurdum: In Unamunos Argumentation kann es keinen solchen wissenschaftlichen Nachweis für die Entstehung der Insel geben – diese kann nur immer wieder aufs Neue geschaffen werden dadurch, dass sie literarisch erschlossen wird. Die Inseln in Unamunos Vorstellung entstehen im Schreiben und im Erzählen immer wieder neu; außerhalb dieses Schreibens und Erzählens können weder Platons Atlantis, noch Don Quijotes Insula Barataria noch sein eigenes Fuerteventura eine Realität haben.298 Mehr denn je ist die Insel also auch in diesem Zusammenhang ein eigenständiger Raum – sie ist der utopische Raum der Literatur, dem seine Abgeschiedenheit

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Vgl. zur Insula Barataria bei Cervantes Antón Castro: La Insula Barataria. Cervantes y Sancho Panza, http://antoncastro.blogia.com/2004/081901-la-insula-barataria.-cervantesy-sancho-panza.php (27.11.2007). So schreibt er über Platon: «Platón descubrió la Atlántida como poeta, nada más que como poeta – es decir, nada menos que como poeta.» (Miguel de Unamuno: La Atlántida, S. 559). Ebd., S. 560. In einem anderen Zusammenhang spricht Unamuno schon in seiner Rede bei den Juegos Florales 1910 über den Mythos von Atlantis. Hier heißt es: «La leyenda de la Atlántida, si algo significa, es un enlace entre América, hija de España en su mayor parte, Europa y Africa. Vosotros sois, acaso sin saberlo, el lazo de unión del Viejo Continente al Continente Nuevo. Vosotros representáis simbólicamente la misión universal de España.» (Miguel de Unamuno: Discurso de los Juegos Florales, S. 394). Mit dieser frühen Interpretation der Kanarischen Inseln als Realisierung des Mythos von Atlantis bleibt Unamuno ganz im Gegensatz zu dem Fokus seiner späteren Deutung in den Bahnen einer konventionellen Vorstellung von Spanien als Kolonialmacht, für die die Inseln nur aus geostrategischen und nicht aus literarischen Gründen von Bedeutung sind.

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von jeder Realität außerhalb dieser Literatur das Bestehen sichert.299 Dennoch bleibt es für Unamuno auch hier nicht allein bei der literarischen Eingrenzung seines Inselraums, sondern er öffnet den literarischen Raum auf eine historischpolitische Vision hin: ¡Esta es mi Atlántida! ¡Esta es mi Insula Barataria! Aquí me visitan, en larga estantigua, en procesión de ánimas doloridas, todos los que en los largos siglos sufrieron la pasión trágica de mi España; aquí vienen, aves consoladoras a la par que agoreras, las almas de todos aquellos que sufrieron persecución por su justicia, por su espíritu de justicia y de verdad, las almas de todos aquellos que sucumbieron al poder infernal del Santo Oficio de la Inquisición, y esas almas me orean con su aleteo la frente enardecida de mi alma, esas almas me orean mi inteligencia.300

Im abgeschlossenen literarischen Raum der Insel kann sich Unamuno in eine Linie mit all denjenigen stellen, von denen er andeutet, sie seien im Laufe der Jahrhunderte Spanien zuliebe verfolgt worden: Fuerteventura wird zum Ort der imaginierten Begegnung mit all diesen über die Jahrhunderte hinweg Verfolgten stilisiert. Dabei sind es abermals der räumliche und der gedankliche Abstand von Spanien und die Außerhalbbefindlichkeit Fuerteventuras, die diesen letztlich utopischen Charakter der Insel bedingen: ¿Una utopía? Es decir, ¿algo que no es de ningún lugar, que no tiene lugar? Pero es que la utopía es de todos los lugares, es del infinito.301

Die solchermaßen als utopischer Raum à part entworfene Insel wird für Unamuno während seines Exils zum Fluchtpunkt seiner Überlegungen – so kommt es in seinen Texten, die sich mit der Insel Fuerteventura beschäftigen, zu einer «Verschmelzung von äußerlicher, realer und innerer, existentieller Insularität».302 Im Zusammenhang mit diesem Konnex zwischen Geographie der Insel und Psychologie des auf die Insel Verbannten verdient vor allem Unamunos Blick auf das die Insel umgebende Meer Erwähnung: Es en Fuerteventura donde he llegado a conocer a la mar, donde he llegado a una comunión mística con ella, donde he sorbido su alma y su doctrina. Y le llamo ‹la mar› y no ‹el mar› porque los mares son el Mediterráneo, el Adriático, el Rojo, el Indico, el Báltico etc,303

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Schon 1909 schreibt Unamuno in diesem Kontext über die Kanarischen Inseln: «La leyenda ciñó durante siglos a estas islas como las ciñe el mar, aislándolas de la realidad histórica.» (Miguel de Unamuno: La laguna de Tenerife, in: Ders.: Obras Completas I, S. 323). Miguel de Unamuno: La Atlántida, S. 560. Ebd., S. 559–560. Titus Heydenreich: Miguel de Unamuno auf Fuerteventura, in: Thomas Bremer/Ulrike Brummert/Kathrin Glosch (Hg.): Inseln der Romania. Traumbilder und Wirklichkeit, Halle/Saale: Stekovics 2001, S. 211–225, hier S. 217. Miguel de Unamuno: De Fuerteventura a París, S. 692.

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so beschreibt er in einem seiner kurzen Kommentare zu den Sonetten aus De Fuerteventura a París die Bedeutung, die der Atlantik in seinen Inselmonaten für ihn erlangt. Die Idee von der «comunión mística» mit dem Meer, die Unamuno hier nicht näher ausführt, findet ihre Bestätigung in der Tatsache, dass dieses Meer immer wieder ausdrücklich für eben jene Ewigkeit und Unendlichkeit steht, auf die er auch in seinem Wort über die vermeintliche Ortlosigkeit der Utopie schon angespielt hatte. Wie das Wort von der «comunión mística» bereits andeutet, bekommt die Ewigkeit des Meeres dabei durchaus auch religiöse Züge .304 Auch im Zusammenhang mit Unamunos Beschäftigung mit der eigenen Religiosität veranlasst ihn der Ort seines Exils, Fuerteventura, zu einer veränderten Sichtweise, die man mit dem Stichwort ‹neue Innerlichkeit› bezeichnen könnte. Immer wieder kommt er darauf zurück, dass die Insel für ihn eine Lösung für seine seit jeher problematische Auseinandersetzung mit dem Glauben bereitgehalten habe. Die Landschaft der kargen vulkanischen Insel Fuerteventura mit ihrer spärlichen Vegetation, ihrer immer wieder betonten geographischen Nähe zur Sahara und ihrer engen Beziehung zum Meer bildet für ihn in gewisser Weise eine innere Haltung ab, die derjenigen der «peregrinos del ideal ultraterrestre» und der «romeros de la inmortalidad» entspreche.305 In der Kargheit und Schlichtheit der Insel – immer wieder betont Unamuno deren skelettartigen Charakter306 – findet eine Beschränkung auf das Wesentliche statt, die für ihn zur Voraussetzung für seine intensivierte Beziehung zum Glauben und seine sich darauf gründende Heilserwartung wird: Desierto es esta solemne y querida tierra aislada de Fuerteventura, una de las islas llamadas antaño Afortunadas y que tiene la fortuna y la hermosura a la vez en su noble y robusta pobreza. Tierra desnuda, esquelética, enjuta, toda ella huesos, tierra que retempla el ánimo. ¡Cuán otra cosa que esos jardines ceñidos de mar donde el hombre se olvida de la tierra y del cielo! No, aquí tierra y cielo se funden en uno bajo el abrazo del mar. El mar los apuña juntos.307

Dieser Beschränkung auf das Wesentliche entspricht auch Unamunos Beschränkung, was seine Lektüre in den Monaten auf Fuerteventura angeht: Er habe nur drei Bücher mit auf die Insel gebracht, so betont er – ein Exemplar der Divina Commedia von Dante, einen Gedichtband von Leopardi und vor allem ein Neues Testament auf Griechisch. In diesen drei Büchern finde sich die Welt seiner Insel

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«Ya como a propia esposa al fin te abrazo – ¡oh mar desnuda, corazón del mundo, – y en tu eterna visión todo me hundo – y en ella esperaré mi último plazo!» (Miguel de Unamuno: Soneto XXXII, De Fuerteventura a París, in: Ders.: Obras Completas VI). José Luis Abellán spricht in diesem Zusammenhang von Unamunos «descubrimiento del mar como experiencia espiritual», vgl. José Luis Abellán: El uso mitológico del mar en Unamuno, in: Cuadernos Americanos 36 (1992), S. 185–195, hier S. 187. Miguel de Unamuno: La aulaga majorera, in: Ders.: Obras Completas I, S. 557. Etwa in Leche de Tabaiba oder in La aulaga majorera, in: Obras Completas I; oder in den Sonetten aus De Fuerteventura a París. Miguel de Unamuno: La aulaga majorera, S. 556.

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ideal repräsentiert – und auch hier wird die Beschränkung auf das Wesentliche zur Voraussetzung für die Erkenntnis: Tengo que rehacer lo que […] dije en mi Por tierras de Portugal y de España –, que este paisaje de Fuerteventura es un paisaje bíblico! Evangélico más bien. Este es un clima evangélico. Aquí se funden y se derriten en el lecho del alma las parábolas, las metáforas y las paradojas evangélicas. […] En estas mañanas, cuando el sol, al salir de la mar, me da, recién nacido, un beso en la frente, tomo mi Nuevo Testamento griego, lo abro al azar y leo. Y en este clima, las viejas parábolas, las parábolas eternas, me suenan a algo enteramente nuevo. Sí, éste es un paisaje evangélico. Y es, sobre todo, un celaje evangélico.308

Dass Unamuno sich in dieser Passage ausdrücklich darauf bezieht, dass die biblischen Parabeln, Metaphern und vor allem Paradoxa vor dem Hintergrund der Landschaft und des Klimas der Insel für ihn zum Teil seiner selbst, seiner Seele, geworden seien, das lässt nun zum einen abermals Rückschlüsse auf sein Bild von der Insel als literarischem Ort zu. Allerdings hat die «mönchische» Innerlichkeit und Zurückgezogenheit309 für Unamuno auch immer eine Kehrseite: den politischen Kampf gegen die Diktatur und für «una España justa» nämlich.310 Eine Möglichkeit der Synthese zwischen diesen beiden scheinbar entgegengesetzten Polen seines Wesens und seines Exils zeigt Miguel de Unamuno in einem kurzen Kommentar zu einem seiner Sonette aus De Fuerteventura a París auf. Hier bezieht er sich aus der Pariser Perspektive einmal mehr auf die Bedeutung, die das Meer auf Fuerteventura für ihn erlangt habe – und er führt sowohl seinen neuen Zugang zum Glauben als auch die Veränderungen seines Blicks auf Spanien und sein eigenes Spaniertum auf diese Erfahrung des Meeres zurück: Lo que más echo de menos aquí, en París, es la visión de la mar. De la mar que me ha enseñado otra cara de Dios y otra cara de España, de la mar que ha dado nuevas raíces a mi cristiandad y a mi españolidad.311

In der so durch das Meer vermittelten Synthese zwischen Spaniertum und Christentum löst sich der bisherige scheinbare Gegensatz zwischen der Wendung Unamunos ins Innerliche einerseits und seinem politischen Engagement andererseits auf: Tampoco todos aquellos sonetos son de circunstancias políticas, aunque todos ellos, hasta los que se podrían llamar religiosos, y aun místicos, están inspirados por la actualidad

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Miguel de Unamuno: Este nuestro clima, in: Ders.: Obras Completas I, S. 553. Vgl. Antonio Linage Conde: La fuertemente venturosa clausura insular de don Miguel, in: Cuadernos de la Cátedra Miguel de Unamuno 25–26 (1978), S. 5–21. Hier ist die Rede von «la celda de su nunca olvidada vocación monástica» (S. 17). Vgl. auch hier Antonio Linage Conde: La fuertemente venturosa clausura insular de don Miguel, S. 20. Linage Conde weist ausdrücklich auf den «doble polo de contemplativo y de agonista» hin, der Unamuno immer gekennzeichnet habe. Miguel de Unamuno: Kommentar zum Sonett LXXIII, De Fuerteventura a París, in: Ders.: Obras Completas VI, S. 719.

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de mi España. ¡Actualidad política! La actualidad política es eternidad histórica y, por lo tanto, poesía,312

schreibt Unamuno in der Einleitung zu seinem Gedichtband Romancero del Destierro rückblickend über die Sonette aus De Fuerteventura a París, in denen dieser scheinbare Gegensatz am deutlichsten ist. Der Dreiklang von politischer Aktualität, historischer Ewigkeit und Poesie bildet dabei zugleich noch einmal die Schwerpunkte von Unamunos Interesse in seinen Inselmonaten ab: Alle diese Interessen, das deuten seine häufigen Verweise auf die konkrete Beschaffenheit der Insel an, werden einmal durch deren Isolation und Abgeschlossenheit, dann aber auch durch die Unendlichkeit des sie umgebenden Meeres begünstigt. Anders als Victor Hugo sucht Miguel de Unamuno deshalb die Lösung für die Probleme, die ihn – und vor allem sein Heimatland – in diesen Jahren beschäftigen, nicht in der Auseinandersetzung mit Europa als für sich stehende politische oder kulturelle Einheit. Im Gegenteil: War es ihm zu Anfang des Jahrhunderts noch im weitesten Sinne um eine Definition dessen gegangen, was die Beziehung zwischen Spanien und diesem Europa ausmachen kann, und infolgedessen um eine Untersuchung des spanischen Wesens im Unterschied zum europäischen, so findet Europa in seiner Zeit auf Fuerteventura nur dann explizit Erwähnung, wenn es darum geht, die Insel als eigenständig und als unabhängig von den Kontinenten zu proklamieren. Der Insel kommt dabei ein Gewicht zu, das sie neben den großen Kontinenten als nahezu gleichberechtigt erscheinen lässt – sie ist ein Raum à part, der zu den Kontinenten allenfalls in eine prekäre oder fragwürdige Beziehung tritt: «es decir no sé si en rigor es desde Europa desde donde ahora escribo»,313 hatte Unamuno schon 1909 von Gran Canaria aus festgestellt. Entsprechend gilt sein Interesse politisch ebenfalls weniger als noch in den Jahren des Ersten Weltkriegs dem großen Ganzen des Kontinents – die Nachkriegssituation in Europa scheint in Unamunos Schriften aus Fuerteventura vollkommen ausgeblendet.314 Hatte seine Vorstellung von Europa als dem Anderen Spaniens zu Beginn des Jahrhunderts noch dazu gedient, dessen essentiellen Kern näher präzisieren zu können, und war vor diesem Hintergrund in den Jahren des Krieges vorübergehend eine Solidarisierung in einem größeren westeuropäischen Rahmen in Abgrenzung zu Deutschland möglich gewesen, so kreisen Unamunos Gedanken von Fuerteventura aus allein um Spanien unter der Diktatur, ohne dass sie Europa als Gegenpol zu diesem Spanien noch benötigen würden. Seine Texte aus dem Exil entwerfen jetzt stattdessen einen anderen Gegenpol zu dem Spanien Primo de Riveras, den man als eine Art ‹essentielles Spanien› oder als die ‹Idee Spanien› beschreiben könnte. Wie bei Victor Hugo, der in seinem Text Paris eine Idee von Paris formulieren konnte, die davon lebte, dass sie die aktuelle Form von Paris unter Louis Napoléon schlicht ignorierte, dient diese Idee von einem ewigen

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Miguel de Unamuno: Romancero del Destierro, in: Ders.: Obras Completas VI, S. 741. Miguel de Unamuno: La Gran Canaria, S. 321. Nicht allerdings in denjenigen aus der Exilzeit in Frankreich, vgl. Kapitel 2.5.2 ParisHendaye.

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Spanien bei Unamuno explizit der Entlarvung des derzeitigen Spaniens unter der Herrschaft Primo de Riveras. José Luis Abellán spricht in diesem Kontext von einem «reencuentro con España»,315 das Unamuno im Laufe seines Exils erlebt habe. Das Gedicht Mi patria (1929) aus dem Exil in Hendaye verbindet in diesem Zusammenhang verschiedene Elemente, die Unamunos Auseinandersetzung mit der Heimat in der Zeit auf der Insel geprägt hatten: Es mi patria la España universal y eterna, la que en todos los pueblos del mundo tiene estada, no es la nave en que surco la mar huracanada, es la selva de que hizo la nave su cuaderna. Es la isla Barataria hundida en el abismo de la mar soñará el hidalgo del Tajo, mar de que Dios, su mano, me dió, sin mi trabajo sal de españolería dándome su bautismo. Es el labio de la tierra espiritual que hiende Europa acongojada entre Africa y América, es el fanal de vida donde mi raza ibérica en las columnas de Hércules luz de la cruz enciende. Es el ensueño místico que le encumbró a Loyola, vasco cual yo, Quijote de la universalidad; sobre mi patria el Padre de la única verdad, que con su sol anima la mar de que soy ola.316

Die verschiedenen, einander ergänzenden Bilder von seiner Heimat, die Unamuno hier aneinanderreiht, zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu einem großen Teil Ideen aus seiner Zeit auf Fuerteventura fortführen – oder dass sie diese Ideen in einem anderen Kontext fruchtbar machen. So ist es auch hier die Metapher vom Meer, die das Gedicht strukturiert – zunächst in dem Bild von der Heimat als dem Ursprung schlechthin, das am Anfang steht und das den Aufbruch des Schiffes über das Meer mit demjenigen der Verwurzelung des Holzes verbindet, aus dem dieses Schiff gebaut ist. Daneben taucht das Meer aber auch in der von Unamuno auch in anderen Zusammenhängen häufig benutzten Metapher von den Wellen wieder auf, mit der das Gedicht schließlich endet.317 Entsprechend zu diesen maritimen

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José Luis Abellán: Historia e intrahistoria en la poesía de Unamuno (Euzkadi, Castilla, España), in: José Angel Ascunce Arrieta (Hg.): La poesía de Miguel de Unamuno, San Sebastián: Universidad de Deusto 1987, S. 305–324, hier S. 320. Miguel de Unamuno: Mi patria, Cancionero. Diario poético 1928–1936, in: Ders.: Obras Completas VI, S. 1160. Vgl. zu Unamunos Verwendung dieser Metapher José Luis Abellán: El uso mitológico del mar en Unamuno, in: Cuadernos Americanos 36 (1992), S. 185–195. Einer dieser Zusammenhänge ist zum Beispiel die intrahistoria, deren Unterschiede zur offiziellen Geschichte von Unamuno mit der Metapher des Meeres beschrieben werden, dessen Grund auch dann ruhig bleibt, wenn die Oberfläche von Wellen bewegt ist. Vgl. dazu Kapitel 2.2 Europa als das Andere Spaniens.

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Annäherungen ist es auch in diesem Gedicht eine Insel – die Insula Barataria von Sancho Panza –, die Unamuno einen weiteren Zugang zu Spanien gewährt: Ausdrücklich wird diese Insel hier mit Spanien selbst in Verbindung gebracht – Spanien ist die versunkene Insel, heißt es in der zweiten Strophe. Dadurch steht hier eine Vorstellung von der Heimat im Vordergrund, die sie als einen Traum liest, aber zugleich als ein Versprechen, das durchaus nicht unerfüllbar sein muss. In der dritten Strophe sind es dann die Säulen des Herkules, die implizit auf den gesamten Kontext von Unamunos Auseinandersetzung mit der Insel im Sinne des platonischen Atlantis verweisen: Das Bild von den Säulen des Herkules, die in der Antike das Ende der bekannten Welt – und so das Ende Europas – markierten, bleibt hier insofern ambivalent, als nicht ganz deutlich wird, ob die Grenze, die diese Säulen markieren, tatsächlich einen geographischen Abschluss darstellt, oder ob sie nicht vielmehr ihre eigene Überschreitung schon impliziert. Unamuno spricht hier von dem Leuchtfeuer, das Spanien dort entzündet habe, und bezieht sich damit auf die Rolle Spaniens als Verbindungsglied zwischen Europa, Afrika und Amerika – hier wäre also ein ‹jenseits der Säulen des Herkules› bereits mitgedacht, und Spanien stünde in diesem Kontext, in dem Afrika und Amerika gleichberechtigt neben Europa stehen, für die Öffnung Europas auf die neuen Welten hin. Die letzte Strophe des Gedichts verweist dann wieder auf die Möglichkeit einer religiös-mystischen Annäherung an Spanien, wie Unamuno sie in seiner Zeit auf Fuerteventura intensiviert hatte. Auffällig ist hier jedoch der ausdrückliche Hinweis auf das Baskentum des heiligen Ignatius von Loyola, das Unamuno zu seiner eigenen baskischen Herkunft in Verbindung setzt: Wenn die Idee von Spanien, die Unamuno in diesem Gedicht mittels seiner verschiedenen Metaphern entwirft, ausdrücklich eine universelle ist, wenn dieses Spanien tatsächlich «en todos los pueblos del mundo tiene estada», dann wird diese Hoffnung auf Universalität durch den Bezug auf die baskische Herkunft des Dichters und des Ordensgründers ergänzt.318 Die Universalität und die lokale Verwurzelung als ihr Gegenpol finden ihre Formulierung nun vor allem in der dritten Strophe des Gedichts, in der die Rolle Spaniens zwischen Europa, Afrika und Amerika als eine Öffnung beschrieben wird – Spanien ist hier ausdrücklich als «tierra espiritual» gekennzeichnet, und die Öffnung, die diese «tierra espiritual» für Europa vollzieht, impliziert im Sinne des Verbs hender eine Orientierung auf etwas anderes hin, ohne dass damit eine abrupte Spaltung oder Trennung verbunden wäre. Unamunos Wiederentdeckung Spaniens in seinem Exil auf Fuerteventura findet in diesem Gedicht aus der Zeit in Hendaye also nicht zuletzt dank dieser Betonung des Idealbildes der spanischen Universalität einen Ausdruck, der in deutlichem Kontrast zu der Isolierung der Insel selbst steht. Das Bild von einem spirituellen, ewigen und universellen Spanien,

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José Luis Abellán verweist darauf, dass Unamuno in den Jahren, die er im Exil an der französisch-spanischen Grenze verbracht hat und aus denen auch dieses Gedicht stammt, im Zusammenhang mit seiner Wiederentdeckung Spaniens auch seine Beziehung zu seiner baskischen Herkunft intensiviert habe, vgl. José Luis Abellán: Historia e intrahistoria en la poesía de Unamuno (Euzkadi, Castilla, España), besonders S. 321.

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das das Gedicht entwirft, fungiert dabei bewusst als Gegenmodell zu dem Spanien Primo de Riveras, dessen Isolierung innerhalb Europas es durch seine Metaphern der Öffnung, der Offenheit und der Allgemeingültigkeit ebenfalls konterkariert. Die Insel selbst taucht in diesem Gedicht ausdrücklich nur noch in Form der Insula Barataria von Sancho auf; ihre zentralen Merkmale sind dafür aber auf das universelle Spanien übertragen worden. Fuerteventura als ideales Spanien im Kleinen – auch so kann man die Insel lesen, auf der Unamunos Exil begonnen hat. In den darauffolgenden Jahren in Frankreich wird er diese Insel immer wieder sehnsüchtig evozieren – als Gegenmodell zur Zivilisation, als Ruhepol, als spirituellen Rückzugsort und als schicksalhaften Wendepunkt. Die beiden anderen Orte von Unamunos Exil, Paris und Hendaye, sind deshalb auch nur in ihrer Beziehung zu Fuerteventura wirklich zu verstehen. 2.5.2

Paris – Hendaye

¿Quién conoce que es isla la Cité, que es isla la de San Luis? En Palencia hay dos islas así, que forman un 8; pero son islas, son verdaderas islas; son trozos de tierra rodeados de agua, mientras que aquí es agua rodeada de tierra,319

schreibt Miguel de Unamuno, nachdem er von der Insel Fuerteventura in die französische Hauptstadt geflohen ist – und betont damit einmal mehr den Gegensatz zwischen den beiden Orten seines Exils: Paris, obwohl eigentlich um zwei Inseln herum gebaut, hat seine Inselhaftigkeit längst verloren, wenn es sie jemals wirklich besessen haben sollte. Seine Darstellung von Paris stellt hier wie so oft dessen künstlichen Charakter als etwas vom Menschen Hergestelltes in den Vordergrund – und kontrastiert diese Künstlichkeit ausdrücklich mit der Natürlichkeit der Insel. Der Kontrast zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit schreibt sich dabei wieder in den größeren Gegensatz zwischen der Zivilisation von Paris und der Zivilisationsferne der Insel ein, wie Unamuno ihn in seinen Pariser Monaten ausführlich entwickelt.320 Bei seiner Beurteilung der beiden Pole dieses Gegensatzes bleibt nun kein Raum für Zweifel: «Intento figurarme parisiense y no me encuentro.»321 Die von Unamuno zunehmend positiv erlebte Isolation der Insel Fuerteventura wird in den Pariser Monaten nicht nur durch die explizite Ablehnung der europäischen Zivilisation abgelöst, für die Paris stellvertretend steht, sondern auch durch eine Art der Isolation innerhalb dieser Zivilisation, die keineswegs mehr als positiv erfahren wird: So spricht er immer wieder von seinem Hotel in Paris als von seiner «jaula del destierro»,322 und weist ausdrücklich auf die Einsamkeit hin, in der er

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Miguel de Unamuno: ¡Montaña, desierto, mar!, in: Ders.: Obras Completas I, S. 571. Vgl. dazu Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), vor allem S. 69. Miguel de Unamuno: Soñadero feliz de mi costumbre, in: Ders.: Obras Completas I, S. 574. Miguel de Unamuno: Salamanca en París, ebd., S. 567.

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dort lebe und die nichts mit der positiv empfundenen inneren Einsamkeit zu tun hat, die seine Zeit auf Fuerteventura geprägt hatte. 323 Statt der Distanz zu den Zentren der europäischen Zivilisation, die seine Monate auf der Kanareninsel bestimmt hatte, erlebt Unamuno in seiner Zeit in Paris jetzt bewusst eine Beschleunigung und eine Verkürzung der Distanzen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Pero el hombre del vapor y de la electricidad, el hombre del telégrafo y ahora del auto y del cine, prefiere saber pronto a saber bien, prefiere tragar a rumiar, como rumia el camello. Y así […] no tenemos más idea de la historia en que vivimos y de que vivimos que tendría de un cuadro […] quien lo mirase a un palmo de distancia y con lupa. Porque el telégrafo al suprimir la distancia suprime la perspectiva.324

Es ist gerade die Geschichtsträchtigkeit der Stadt, die Unamuno in einer Reihe von anderen Texten aus den Pariser Monaten immer wieder als ihr entscheidendes Charakteristikum hervorhebt. Wenn er deshalb jetzt hier eine unzulässige Verkürzung der Perspektiven beim Blick auf diese Geschichte beklagt, dann wird deutlich, worin für ihn dabei das Problem besteht: Aus dem Zentrum der europäischen Zivilisation heraus lässt sich diese Zivilisation nicht mehr erkennen und beurteilen – um das tun zu können, bräuchte man den Abstand und die Distanz der Insel. In Unamunos Pariser Zivilisationskritik ist also die Dialektik von Peripherie und Zentrum grundlegend, die schon der Titel seiner Sammlung von Sonetten, De Fuerteventura a París, mit seiner Bewegung von der außerhalb gelegenen Insel mitten ins Herz der europäischen Zivilisation hinein anzudeuten scheint. Dialektisch ist das Verhältnis der beiden so unterschiedlichen Orte dabei deshalb, weil immer wieder auch die Peripherie zentral wird in ihrer Bedeutung für die Erkenntnis des Zentrums: «este París que está reventando historia»,325 kann von Unamuno nur deshalb in diesem Sinne erkannt und beschrieben werden, weil er vorher den «austero sosiego de Fuerteventura»326 erlebt hat, und weil er dort aus der Distanz und Abgeschiedenheit der Insel heraus auch die Schattenseiten der europäischen Geschichte und Zivilisation sehen gelernt hat: Lejos del tumulto de las últimas noticias, del barrullo de la actualidad, recibiendo correo cada cinco o siete días, oyendo la canción brizadora de la mar, la leyenda del Atlántico, al pie de las recortadas colinas peladas, he entrevisto con toda netitud el esqueleto de nuestra historia, la osamenta de nuestra civilización. Desde la augusta sequedad de Fuerteventura he comprendido el veneno de la sombra del follaje de nuestras instituciones.327

Vor diesem Hintergrund muss Unamunos Kritik an Paris und seiner Zivilisation verstanden werden: Jenseits der Aktualität und außerhalb der Institutionen der

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Ebd. Hier ist zum Beispiel ausdrücklich von «mi soledad parisiense» die Rede. Miguel de Unamuno: De Fuerteventura a París, S. 603. Miguel de Unamuno: ¡Montaña, desierto, mar!, S. 571. Miguel de Unamuno: En el suave tumulto, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 599. Ebd., S. 600–601.

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Zivilisation kann Geschichte womöglich begriffen werden; nicht aber, wenn man sich mitten in ihrem Zentrum befindet. Insofern gilt es, trotz seiner distanzierten Haltung zur Pariser Geschichte und Zivilisation zu relativieren: Nicht um eine Kritik an der Geschichte schlechthin kann es Unamuno in jener Zeit in Frankreich gehen – vielmehr kritisieren seine Texte das Übermaß an sinnlos-musealer, institutioneller und insofern leerer Geschichte, auf das er in Paris zu stoßen glaubt: ¡Y por todas partes historia, historia, historia! ¡Y luego, almacenada en museos, arqueología! ‹Aquí decapitaron a Luis XVI.› ‹Desde esta torre se tocó a rebato en lo de San Bartolomé.› ‹Esta columna la derribaron los de la Comuna.› ‹Aquí están las cenizas de Napoleón.› ‹Aquí...›[…] ¡Ay! ¡Este empacho de civilización! ¡Y pisar siempre en losa, en encachado! ¡Pisar siempre en historia!328

Der Begriff, den Unamuno diesem Verständnis von Geschichte entgegensetzt, ist derjenige der Ewigkeit: «Y siento la morriña de la eternidad, de lo que dura por debajo de la historia, de lo que no vive, sino que vivifica»,329 schreibt er über das Verhältnis zwischen Geschichte und Ewigkeit. Dieses Verhältnis lässt sich also nicht auf einen einfachen Gegensatz reduzieren. Manuel Urrutia León geht nicht einmal davon aus, dass die Geschichte und die Ewigkeit für Unamuno grundsätzlich voneinander verschieden seien, sondern nimmt an, dass die Ewigkeit etwas ist, das der Geschichte selbst innewohnt: «La verdadera eternidad no es algo exterior a la historia, o que tenga que ver con la naturaleza pre-histórica, sino que es la sustancia de la historia, la sustancia del tiempo presente.»330 Vor allem der Verweis auch auf «el tiempo presente» ist in diesem Kontext wichtig: Zwischen den Polen der Ewigkeit und der Aktualität bewegt sich für Unamuno die Geschichte, wenn sie positiv verstanden sein will.331 Deshalb richtet sich seine Skepsis gegenüber der Form von Geschichte, die er in Paris anzutreffen glaubt, nicht gegen die Geschichte schlechthin, sondern vielmehr gegen eine seiner Meinung nach kurzsichtige Überbewertung einer äußerlichen Geschichte, die ihren Kern – das, was er die Ewigkeit nennt – außer acht lässt. Von einer solchen Distanz gegenüber der bloßen Geschichte der Daten und Fakten zeugt auch Unamunos Drama Sombras de sueño (1930), das in den Jahren unmittelbar nach seinen Monaten auf Fuerteventura entstanden und deutlich von diesem Inselaufenthalt beeinflusst ist. Die Handlung des gesamten Stückes spielt in der Isolation einer namenlosen Insel; der Protagonist tritt unter dem Namen Julio Macedo auf und kommt als Fremder von außen in die kleine Gemeinschaft der Inselbewohner. Tatsächlich handelt es sich bei Julio Macedo jedoch um Tu-

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Miguel de Unamuno: ¡Montaña, desierto, mar!, S. 571–572. Ebd., S. 571. Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), S. 66 (Hervorhebung im Original). Vgl. zu diesem Verständnis von der Geschichte im Sinne von Ewigkeit einerseits und (politischer) Aktualität andererseits etwa Miguel de Unamuno: Cómo se hace una novela, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 768–769. Hier wird die Aktualität ausdrücklich als Bedingung für die Ewigkeit genannt, wenn es allgemein über den Autor eines Romans und seinen Leser heißt: «En cuanto se hacen uno se actualizan y actualizándose se eternizan.»

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lio Montalbán, einen historischen Befreier und Volkshelden, der seinem Ruhm entfliehen und sich deshalb wiederum von der Geschichte frei machen möchte. Als er sich auf der Insel in Elvira Solórzano verliebt, die seit langem für den historischen Tulio Montalbán schwärmt, müssen die beiden feststellen, dass ihr Geschichtsverständnis unvereinbar bleibt: Während Elvira in dem Meer, das die Insel umgibt, aufgrund seiner bewegten Oberfläche Bewegung, Erlebnisse, Abenteuer und insofern die Geschichte zu erkennen glaubt, blickt Julio tiefer in seinem Wunsch, der eigenen Geschichte zu entkommen, und sucht im Meer das, was er die «contrahistoria» nennt: Para mi es como si hubiéramos nacido ahora y sin historia. El pasado no cuenta. No tengo pasado; no quiero tenerlo; ahora no quiero tener sino porvenir.332

An diesem Wunsch ist nun zweierlei bemerkenswert: einmal die Tatsache, dass der geschichtsvergessene Protagonist des Dramas ausdrücklich die Bedeutung betont, die die namenlose Insel für sein Projekt der «contrahistoria» hat – nur dort glaubt er seiner Vergangenheit tatsächlich entfliehen zu können. Dann hebt er aber auch hervor, dass die Geschichtslosigkeit, die er sich wünscht, mit einem Verlust der Heimat und Sesshaftigkeit und stattdessen mit einem Dasein als dauerhaft Exilierter einhergehen würde: Creí haber dado muerte a Tulio Montalbán, al de la historia, para poder vivir fuera de ella, sin patria alguna, desterrado de todas partes, peregrino y vagabundo, como un hombre oscuro, sin nombre y sin pasado.333

Diese Verbindung von der Geschichtslosigkeit zur Heimatlosigkeit, von der Vergangenheitslosigkeit zur Namenlosigkeit ist nun in einem Zusammenhang auffällig, der auch von Unamunos eigener Heimatlosigkeit in den Jahren seines Exils ausgehen muss. Auch wenn Julio Macedo alias Tulio Montalbán schließlich bei seinem Versuch scheitert, sich seiner Geschichte zu entledigen, und auch wenn sich das als ein Hinweis darauf lesen lässt, dass selbst der scheinbar geschichtsfreie Raum der Insel dies zuletzt nicht in dem Maße sein kann, in dem sich der Protagonist von Unamunos Drama das wünschen mag – dann bleibt doch die Beziehung zwischen Exil und Geschichte interessant, die dieses Drama konstruiert. Im weitesten Sinne fügen sich die Ideen von Julio Macedo damit in den Kontext von Unamunos eigenen Überlegungen zu seinem Exil und zu seinem eigenen Status als Exilierter ein, wie er sie in seinen Jahren in Frankreich immer wieder anstellt. Auch an dieser Stelle ist der Unterschied zwischen Fuerteventura und Paris auffällig: Hatte sich Unamuno auf Fuerteventura noch wenig Gedanken über die Implikationen seiner Rolle als Verbannter gemacht, so thematisiert er genau diese

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Miguel de Unamuno: Sombras de sueño, Akt II, Szene 2, in: Ders.: Obras Completas V, Madrid: Escelicer 1968. Vgl. dazu auch José Luis Abellán: El uso mitológico del mar en Unamuno, S. 191. Deutlich sind in diesem Zusammenhang die Parallelen zu Unamunos Verständnis von der intrahistoria, vgl. dazu Kapitel 2.2 Spanien als das Andere Europas. Miguel de Unamuno: Sombras de sueño, Akt IV, Szene 3.

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Rolle später im Exil in Frankreich ausdrücklich. In den Texten und Gedichten aus Fuerteventura findet die Situation des Exils zwar insofern Erwähnung, als Unamuno darauf verweist, dass sein Aufenthalt auf der Insel kein freiwilliger ist.334 Es findet aber keine Reflexion des Exils im eigentlichen Sinne statt, und auch die Beziehung zwischen Insel und Exil wird bei Unamuno kaum in der Weise angesprochen wie bei Victor Hugo.335 Mit der Flucht von Fuerteventura nach Paris wird aus dem unfreiwillig Verbannten ein freiwillig Exilierter – jetzt ist er es selbst, der sich weigert, nach Spanien zurückzukehren, und unter diesen veränderten Umständen beginnt er nun auch ein Bewusstsein von seiner Rolle als Exilant zu entwickeln.336 Dass es sich dabei tatsächlich um eine Rolle handelt, das formuliert Unamuno ausdrücklich in seinem autobiographisch gefärbten Text Cómo se hace una novela (1925/27), den Heinz-Peter Endress als «une sorte de journal entre guillemets» beschreibt.337 Hier heißt es: Ahora hago el papel de proscrito. Hasta el descuidado desaliño de mi persona, hasta mi terquedad en no cambiar de traje, en no hacérmelo nuevo, dependen en parte […] del papel que represento.338

Die Tatsache, dass Unamuno hier ausdrücklich von der Rolle des Verbannten schreibt, die er ausfülle und auch kultiviere, ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass er in dieser Rolle zum bloßen Darsteller eines Exilanten geworden wäre: «¿Es que represento una comedia […]? ¡Pero no!, es que mi vida y mi verdad son mi papel»,339 so fährt er unmittelbar im Anschluss fort und fasst damit das Wort von der ‹Rolle› deutlich enger: Die Rolle des Exilanten kann man nicht ablehnen, sondern man bekommt sie vom Schicksal übertragen. Entsprechend wenig Gestaltungsspielraum bietet sie dann aber letztlich demjenigen, der sie ausfüllt. In Cómo se hace una novela findet Unamunos Reflexion über diese Lebensrolle als Exilierter nun auf unterschiedliche Art und Weise ihren Ausdruck. Wenn er in diesem schwer zu klassifizierenden Werk einerseits versucht,340 den Plan zu einem Roman zu entwerfen und auszuloten, wie die Handlung dieses Romans voranschreiten könnte, und wenn er andererseits auf einer sehr viel abstrakteren Ebene grundsätzliche Überlegungen dazu anstellt, was einen Roman überhaupt

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Etwa in El caos, wo es kurz heißt: «En cuanto llegué a esta tierra o, mejor, en cuanto me dejaron en esta tierra, a la que la Policía me ha traído» (Miguel de Unamuno: El caos, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 579). Vgl. Kapitel 2.4.1 Guernesey. Vgl. dazu auch Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), vor allem S. 62. Heinz-Peter Endress: Un genre littéraire unique, produit par l’exil: Comment on fait un roman (1925–27) de Miguel de Unamuno, in: Jacques Mounier (Hg.): Exil et littérature, Grenoble: ELLUG 1986, S. 229–240, hier S. 231–232. Miguel de Unamuno: Cómo se hace una novela, S. 746. Ebd. Heinz-Peter Endress schreibt, es vereinige in sich Elemente«de l’autobiographie, de la narration et de la réflexion métaphysique», vgl. Heinz-Peter Endress: Un genre littéraire unique, produit par l’exil, S. 231.

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ausmacht, dann werden diese Aspekte doch immer wieder überlagert von den Ideen und Gedanken, die seine aktuelle Situation im Exil hervorruft. Dabei mischen sich Beschreibungen seines konkreten und alltäglichen Lebens in diesem Exil einerseits mit Hinweisen auf die Vorbilder anderer großer Exilierter wie Moses, Paulus, Dante, Mazzini und Victor Hugo andererseits; und vor allem die Korrespondenz von Mazzini mit seiner Geliebten Judit Sidoli wird in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert und reflektiert.341 Auf einer abstrakteren Ebene wird die Reflexion über das Exil aber auch im Zusammenhang mit dem Romanprojekt selbst fortgesetzt, das Unamuno in Cómo se hace una novela entwickelt. Die ausweglose Situation des Protagonisten dieses Romans, der in der Lektüre eines Romans gefangen ist, der ihn fasziniert und zugleich bedroht, wird dabei implizit mit der Exilsituation des Autors Unamuno parallelisiert. Wenn dieser deshalb zugestehen muss, für sein in dem Roman skizziertes Romanprojekt keinen Schluss finden zu können, dann entspricht dieses offene Ende des Projekts nicht nur dem offenen Ende seines Textes Cómo se hace una novela selbst, sondern auch dem zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes noch offenen Ende von Unamunos Exil: Die Lektüre des Protagonisten bleibt unabschließbar, und auch die Lektüre von Unamunos (Lebens-)Text, der das Exil zum Thema hat, kann – zumindest einstweilen – nicht beendet werden.342 Auf diese Art und Weise setzt Unamuno in Cómo se hace una novela die Lektüre eines Romans mit dem Vollzug des Lebens selbst in eins – so schreibt er in einem der Kommentare, mit denen er den ursprünglich in Paris verfassten Text später in Hendaye noch ergänzt hat: Así acababa el relato de cómo se hace una novela, […] relato escrito hace cerca de dos años. Y después ha continuado mi novela, historia, comedia, tragedia o como se quiera, y ha continuado la novela, historia, comedia o tragedia de mi España, y la de toda Europa y la de la humanidad entera.343

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, inwiefern Unamunos Reflexion über seine eigene Situation im Exil in Cómo se hace una novela in einem Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu dem (geographischen, politischen und kulturellen) Raum steht, in dem er sich in den Jahren dieses Exils bewegt: Sein eigenes Exil scheint in der zitierten Passage das Symptom eines allgemeinen Zustands zu sein, der weit über die persönliche Situation des Autors Unamuno hinausgeht – der vielmehr Europa und die ganze Menschheit betrifft und der unmittelbar in dem folgenden Abschnitt des Textes klar als krisenhaft beschrieben wird: Y sobre la congoja del posible acabamiento de mi novela, sobre y bajo ella, sigue acongojándome la congoja del posible acabamiento de la novela de la humanidad. En

341 342 343

Vgl. Miguel de Unamuno: Cómo se hace una novela, S. 739. Vgl. auch hier Heinz-Peter Endress: Un genre littéraire unique, produit par l’exil, S. 235–238. Miguel de Unamuno: Cómo se hace una novela, S. 755.

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lo que se incluye, como episodio, eso que llaman el ocaso del Occidente y el fin de nuestra civilización.344

Unamuno relativiert hier die Spenglersche Formel vom Untergang des Abendlandes: Wenn er denn stattfindet, dann ist dieser Untergang des Abendlandes für ihn nur eine Episode im großen Kontext der Vollendung des Romans der Menschheit. Auch hier wird also die Metapher vom Roman des Lebens weitergedacht – auf einer höheren Ebene ist die gesamte Menschheitsgeschichte ein solcher Roman. Seine Vollendung ist dabei aber weniger in einem positiven Sinne als das zu erreichende Ziel der Geschichte zu verstehen, als vielmehr im Sinne eines Zu-EndeGehens mangels Alternativen. Während Unamuno in dem vorherigen Abschnitt noch beschrieben hatte, dass der Roman seines eigenen Lebens ebenso wie in einem immer größer werdenden Rahmen auch derjenige Spaniens, Europas und der Menschheit in der Zeit seit der ursprünglichen Fertigstellung von Cómo se hace una novela weitergegangen sei, denkt er hier alle diese Romane von ihrem bevorstehenden, zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch offenen Ende her. Die Fragen, mit denen sich Unamuno hier im Zusammenhang mit seinem Exil beschäftigt, sind anders als noch auf Fuerteventura Fragen, die die Grenzen der eigenen Person und die des eigenen Landes überschreiten. Die eigene Person – und der Roman ihres Lebens und Exils – bildet zwar noch den Ausgangspunkt für die Überlegungen, aber diese bleiben dabei nicht stehen, sondern versuchen vielmehr, aus dem Persönlichen das Allgemeine herauszufiltern. Wenn dabei die eigene Exilsituation als paradigmatisch für die politische und kulturelle Situation der ganzen europäischen Zivilisation beschrieben wird, dann hat das nichts mehr mit der (positiven) Erfahrung der Inselisolation zu tun. Im Gegenteil: Von Isolation in diesem Sinne kann jetzt, wo die eigene Erfahrung als exemplarisch beschrieben wird, keine Rede mehr sein. Wesentlich mehr als seine früheren Überlegungen von der Insel aus betrifft Unamunos Verallgemeinerung in diesem Kontext die politische Situation des Kontinents in diesen Jahren. Auch wenn er Spenglers These vom Untergang des Abendlandes gegenüber eher skeptisch bleibt, so deuten doch seine Texte aus den Jahren in Frankreich darauf hin, dass auch er in dieser Zeit ein Bewusstsein nicht mehr nur für die problematische Situation Spaniens unter der Diktatur Primo de Riveras entwickelt hat, sondern auch für diejenige Europas nach dem Ersten Weltkrieg – «esta Europa de la trasguerra», wie er den Kontinent ausdrücklich nennt.345 Unamuno diagnostiziert dabei wie Spengler und andere Intellektuelle in diesen Jahren eine Krise Europas, allerdings zieht er aus dieser Diagnose seine eigenen Schlüsse. So versteht er das Wort von der Krise zunächst wörtlich im Sinne von einem Prozess des Wandels, und insofern in seinem übertragenen Sinne von Kampf und Widerspruch – beides Phänomene, die für ihn essentiell zum Wesen Europas

344 345

Ebd. Miguel de Unamuno: Viajar por Europa, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 664.

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gehören müssen.346 In dem Vorwort zu seinem Gedichtband Cancionero (1928) zitiert er deshalb abermals implizit Spengler und schreibt ausdrücklich: ¡La puesta del Occidente! Pero el Occidente es el ocaso; es la puesta constante que vive poniéndose, como la vida del cristianismo que – lo he mostrado en otro libro – es una agonía inacabable.347

Der Begriff der Agonie, mit dem Unamuno hier auf sein Buch von der Agonie des Christentums anspielt, ist dabei wieder nicht in seinem umgangssprachlichen, rein negativen Sinne von Todeskampf zu verstehen – ebenso wie die Krise ist die Agonie für Unamuno zunächst ganz allgemein eine Auseinandersetzung oder ein Kampf. Mit dieser Interpretation der griechischen Lehnwörter ebenso wie mit seinem spielerischen Ausdeuten der Metapher vom ‹Untergang des Okzidents› setzt er hier auf ein wörtliches Verständnis der Begriffe, das sich nicht zuletzt gegen den Alarmismus zur Wehr zu setzen scheint, den die Frage nach dem Untergang des Abendlandes leicht zu provozieren vermag. Dennoch wird die Ironie, die in diesem Zusammenhang aus dem Vorwort des Cancionero spricht, immer dann gebrochen, wenn Unamuno die Verhältnisse in Europa nach dem Ersten Weltkrieg zu seiner eigenen Situation im Exil in Bezug setzt. Immer wieder steht dann nämlich das Bild vom Exil und der Verbannung sinnbildlich für die problematische Situation in diesem Nachkriegseuropa überhaupt. So heißt es etwa in einem Text mit dem Titel Las noches del destierro aus Hendaye: Y si se piensa que la vida es sueño, la historia es pesadilla. Sí, la actual historia, la de mi España, la de Europa, la de mi Europa, es pesadilla. […] De noche, a solas y a oscuras, es como puede uno llegar a darse entera cuenta de cómo la vida es sueño; la historia pesadilla, y el mundo destierro.348

Unamuno bezieht sich hier einmal mehr eher vage auf die «Geschichte», anstatt konkret die Verhältnisse in Europa nach dem Ersten Weltkrieg anzusprechen, und er setzt damit wieder ein Verständnis von dieser Geschichte voraus, das die politische Aktualität einschließt – deshalb spricht er ausdrücklich von «la actual historia». Im Zusammenhang mit dieser aktuellen Geschichte Europas verfährt Unamuno auch hier – wie schon in Cómo se hace una novela – zunächst ausgehend vom kleinen hin zum größeren Rahmen: Er spricht zuerst von seinem eigenen Leben, dann von dem Spaniens, dann von dem Europas. Ähnlich verfährt dann auch die andere Reihe, die er im Anschluss aufmacht – diejenige von «sueño», «pesadilla» und «destierro» nämlich. Das Exil am Ende dieser Reihe

346

347 348

Vgl. etwa Manuel Urrutia León: El destierro (1924–1931), vor allem S. 71. Ähnlich verstehen auch José Ortega y Gasset und André Gide historische Krisen als Chance für Europa, vgl. Kapitel 3.3 Europa als Problem und die Einheit als Lösung und Kapitel 6.1 André Gide: Europa als Schule des Individualismus. Miguel de Unamuno: Prólogo al Cancionero, in: Ders.: Obras Completas VI, S. 940. Miguel de Unamuno: Las noches del destierro, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 666 und 668.

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ist dadurch nicht allein der Anfang, von dem Unamunos Überlegungen zur aktuellen Situation Europas ausgegangen waren, sondern es ist vor allem auch der Fluchtpunkt, auf den sie immer wieder zulaufen. Als ein solcher Fluchtpunkt fungiert das Exil schließlich auch in La agonía de cristianismo: An den Anfang des letzten Kapitels, mit dem Unamuno hier seine religionsphilosophischen Überlegungen zum agonalen Wesen des Christentums zusammenfasst, das sich stets im Widerstreit mit sich selbst und den eigenen Prämissen befinden müsse, stellt er eine kurze Beschreibung seiner eigenen Situation. Diese soll die Schlussfolgerungen erklären und legitimieren, zu denen er dann in seiner Zusammenfassung kommen wird: Escribo esta conclusión fuera de mi patria, España, desgarrada por la más vergonzosa y estúpida tiranía, por la tiranía de la imbecilidad militarista; fuera de mi hogar, de mi familia […] y sintiendo en mí con la lucha civil la religiosa. La agonía de mi patria, que se muere, ha removido en mi alma la agonía del cristianismo.349

Die enge Verbindung zwischen dem eigenen Exil, den Verhältnissen, die dieses Exil notwendig machen, und den grundsätzlich widersprüchlichen Tendenzen sowohl im Bekenntnis zum Christentum als auch in dem zur Verantwortung als Bürger eines Staates (denn darauf spielt Unamunos Formulierung von der «lucha civil» an) ist hier unverkennbar. Die Agonie im Sinne dieses beständigen Widerspruchs und Widerstreits kann insofern als Schlüsselwort für Unamunos Exil fungieren. Das Exil veranschaulicht seine Rolle als Denker in Widersprüchen, wie sie zwar schon sein Leben lang für ihn charakteristisch gewesen war, wie sie aber erst in den Überlegungen aus La agonía del cristianismo wirklich in einen größeren Zusammenhang eingeordnet wird: Dieser Text verbindet nämlich im Zusammenhang mit dem unauflösbaren Widerspruch der Agonie das, was Unamuno «mis antiguas, o mejor dicho, mis eternas congojas religiosas» nennt,350 mit seinem politischen Engagement – dem «ardor de mis pregones políticos».351 Unamuno stellt sich hier in eine Reihe mit Blaise Pascal, von dem er schreibt: Y su lógica no era una dialéctica, sino una polémica. No buscaba una síntesis entre la tesis y la antítesis; se quedaba […] en la contradicción.352

Vor diesem Hintergrund müssen deshalb auch die Ideen verstanden werden, die Unamuno in der abschließenden Zusammenfassung seines Textes über die Beziehung zwischen der Agonie des Christentums und derjenigen seines Exils und Spaniens und Europas formuliert. Auch hier kann es ihm nicht darum gehen, seine Vorstellungen von Europa endgültig und widerspruchsfrei zu fixieren; vielmehr wird auch hier gerade der Widerspruch als Kern der europäischen Zivilisation beschrieben:

349 350 351 352

Miguel de Unamuno: La agonía del cristianismo, in: Obras Completas VII, S. 359. Ebd., S. 306. Ebd. Ebd., S. 347.

148

Siento la agonía del Cristo español, del Cristo agonizante. Y siento la agonía de Europa, de la civilización que llamamos cristiana, de la civilización grecolatina u occidental. Y las dos agonías son una misma. El cristianismo mata a la civilización occidental, a la vez que ésta a aquél. Y así viven, matándose.353

So lange die Agonie andauert, ist das Ende der Geschichte nicht erreicht, das Unamuno in Cómo se hace una novela prognostiziert hatte – aber dennoch sieht er dieses Ende auch hier in La agonía del cristianismo näher kommen, wenn er von dem «huracán de locura que está barriendo la civilización en una gran parte de Europa» spricht.354 Konkreter als in Cómo se hace una novela führt Unamuno aus, worin er die Gefahr für Europa sieht: Ausdrücklich spricht er von «los agitadores, […] los dictadores, […] los que arrastran a los pueblos»,355 und er bezieht sich damit nicht nur auf Spanien und seinen Diktator, sondern auch in einem allgemeineren Sinne auf die Bedrohung ganz Europas durch Bolschewismus einerseits und Faschismus andererseits.356 La agonía del cristianismo ist Ende 1924 in Paris geschrieben und 1930 zunächst auf französisch veröffentlicht worden; die erste spanische Publikation datiert von 1931 aus der Zeit nach Unamunos Exil und ist eine Rückübersetzung des französischen Textes, die dieser nach seiner Rückkehr nach Spanien vorgenommen hat. In der Einleitung zu dieser ersten spanischen Fassung seines Essays schreibt er, obwohl vieles darin den konkreten Umständen seines Exils und denen der politischen Verhältnisse sowohl in Frankreich als auch in Spanien in diesen Jahren geschuldet sei, habe er es vorgezogen, den Text unverändert zu belassen – als ein Zeugnis dieser Zeit im Exil, und gewissermaßen auch als eine Veranschaulichung der Widersprüche, von denen er spricht. In Cómo se hace una novela hatte Miguel de Unamuno den grundsätzlichen Antagonismus, den diese Widersprüche voraussetzen, als Bedingung nicht nur für das politische Engagement, sondern für das Leben überhaupt beschrieben: Er sei überzeugt davon, dass er, Miguel de Unamuno, in vielerlei Hinsicht Einfluss auf den spanischen König und den Diktator Primo de Rivera ausgeübt habe: Estoy penetrado de que yo […] les he hecho pensar y decir no pocas cosas y entre ellas muchas tonterías. Si ellos me hacen pensar y hacerme en mi pensamiento – que es mi obra y mi acción –, yo les hago obrar y acaso pensar. Y entre tanto ellos y yo vivimos.357

In den letzten Jahren seines Exils, die er an der französisch-spanischen Grenze in Hendaye verbringt, ändert sich an diesem Zustand wenig: Von jenseits der Grenze intensiviert er seine Opposition gegen das Regime von Primo de Rivera.358 Dennoch finden seine Überlegungen zur aktuellen Politik Spaniens in der Zeit in

353 354 355 356 357 358

Ebd., S. 360. Ebd., S. 361. Ebd. Vgl. ebd., S. 342. Miguel de Unamuno: Cómo se hace una novela, S. 762. Ana Urrutia Jordana spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die agonale Seite Unamunos in dieser Zeit deutlich ausgeprägter gewesen sei als die kontemplative. (Vgl.

149

Hendaye nicht zuletzt dadurch ein Gegengewicht, dass er von Hendaye aus die Grenze zwischen diesem Spanien und dem Frankreich seines Exils sehr bewusst erlebt – und sie auch immer wieder in Frage stellt. So weist er wiederholt darauf hin, dass beide Seiten der Grenze gleichermaßen baskisch seien – was für ihn, den gebürtigen Basken, von besonderer Bedeutung sein muss. Die Grenze zwischen den beiden Nationen ist damit für ihn zugleich sehr real und irreal: Einerseits ist er ganz konkret in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt dadurch, dass er sie nicht überqueren kann, obwohl er sie ständig vor Augen hat; andererseits erweist sie sich gerade für ihn als Basken immer wieder insofern als willkürlich, als sie keine Rücksicht nimmt auf die kulturelle Einheit des Landes beiderseits des Grenzflusses: El Bidasoa es, como sabéis, el río lindero entre España y Francia en esta parte de la frontera, en los Pirineos occidentales. Es un río y no una cresta montañosa lo que aquí separa y a la vez une a ambas naciones vecinas y contiguas,359

so beschreibt Miguel de Unamuno die Ambivalenz dieser Grenze zwischen seiner Heimat und seinem Exil – und er empfindet diese doppelte Funktion der Grenze als Trennung einerseits und als Verbindung andererseits zugleich immer wieder auch dadurch, dass er dem Verlauf des Flusses in all seinen Kurven und Windungen bis hin zu seiner Mündung ins Meer folgt: Esta tarde […] trataba yo de seguir con la vista el errabundo curso del Bidasoa en las arenas de la baja mar. Y pensaba en la indecisa frontera espiritual que en el lindero de la mar de la civilización divide a España de Francia.360

Die Zivilisation reicht an dieser Stelle über die Grenze hinweg; die politische Grenze zwischen den Nationen mag klar definiert sein, aber die spirituelle Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Formen derselben europäischen Zivilisation ist es nicht und kann es nicht sein. Auf der Insel Fuerteventura war deren Isolation für Unamuno zum Anlass für eine Wendung nach innen und zugleich für einen neuen Entwurf eines gewissermaßen ewigen Bildes von Spanien geworden. Die intensive Exilerfahrung in Paris hatte dann ebenso wie die von ihm als starr empfundene Geschichtlichkeit und Zivilisation dieser Stadt nicht nur ein Gegenbild zu dieser idealen Insel dargestellt, sondern auch seine Bemühungen um ein sowohl der politischen Aktualität als auch der langen Dauer verpflichtetes Geschichtsbild beeinflusst. Jetzt in Hendaye findet er dagegen zu einer Auffassung, die in gewisser Weise beides miteinander zu verbinden vermag – die Innerlichkeit mit der politischen Aktualität. So bringt Miguel de Unamuno zuletzt die Erfahrung der Grenze nicht nur mit der Politik seiner Zeit, sondern eben auch mit der christlichen Perspektive auf ein ewiges Leben jenseits der Geschichte in einen Zusammenhang:

359 360

Ana Urrutia Jordana: Hacia una lectura más ecuánime de ‹Romancero del destierro›, in: Revista Hispánica Moderna 52,2 (1999), S. 411–433, hier S. 413–414). Miguel de Unamuno: El Bidasoa, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 649. Ebd., S. 650–651.

150

Fuimos faldeando la montaña fronteriza francesa, subiendo por su vertiente. Pisábamos alfombra de hojas secas, amarillas, doradas, de roble, y a ratos oíamos el canto de los regatos que bajaban ocultos entre los matorrales. Los robles, ya desnudos, en madera […] mostraban la columnata de sus troncos, alguna ver [sic] verdecidos por la yedra, y entre ellos el verdor perenne de la argoma, con las perlas gualdas de sus flores invernizas y el verdor del boj. Y yo sentí que se me enverdecía la soledad íntima y que a las puertas del invierno de mi vida, en las postrimerías de su otoño, me brotaban en el fondo del ánimo verdores de follaje roblizo. E iba meditando en esta mi vida entre dos Estados, entre dos naciones, uno república y otro reino, y en mi otra vida, la eterna, la íntima, entre dos reinos, el de este mundo y el del otro.361

361

Miguel de Unamuno: En la linde fronteriza, in: Ders.: Obras Completas VIII, S. 705.

151

3

Schiffbruch: José Ortega y Gasset

Der Blick von der Insel aus auf Europa implizierte bei Victor Hugo und bei Miguel de Unamuno eine Perspektive, die der doppelten Prägung der Insel als introvertiertem Ort der Kreativität ebenso wie als extrovertiertem Ort der Kommunikation Rechnung trug; bei beiden konnte die Insel nicht zuletzt dadurch als ein Modell für Europa selbst verstanden werden. José Ortega y Gasset nähert sich Europa nun aus einer Perspektive, die den Kontinent vor allem aus einer anderen Relationalität als der der Insel heraus entwirft – einer Relationalität, die er nicht nur in den vielfältigen Beziehungen der europäischen Länder untereinander und in denjenigen der einzelnen Länder zum großen europäischen Ganzen verwirklicht sieht, sondern die auch er selbst in seinen diskursiven Annäherungen an diese europäische Problematik immer wieder bewusst ins Werk setzt. Ortega ist eine knappe Generation jünger als Miguel de Unamuno, und er ist in den großen spanischen Debatten um die Dekadenz des Landes zu Anfang des 20. Jahrhunderts dessen prominentester Diskussionspartner. Wie Unamuno versteht auch er Europa zunächst vor allem als einen Raum, dessen Wesen sich am besten in seiner besonderen Befähigung zur Wissenschaft ausdrückt; und auch für ihn sind in diesem Zusammenhang die Beziehungen zwischen Spanien und dem Rest des Kontinents von besonderer Bedeutung. Allerdings stellen sich diese Beziehungen jetzt unproblematischer dar als noch bei Unamuno – für Ortega ist Spanien auf eine selbstverständliche Art und Weise integraler Teil von Europa, und insofern sind die spanischen Probleme in seinen Augen immer auch repräsentativ für den ganzen Kontinent. Der Pendelbewegung zwischen Spanien und Europa, die Ortegas Texte auf der inhaltlichen Ebene nachzeichnen, entspricht auf der performativen Ebene dieser Texte eine ähnliche Dynamik: Seine Essays zeichnen sich immer dadurch aus, dass sie zwischen einer rein begrifflichen und einer eher figurativen Annäherung an ihr Thema zu schwanken scheinen. In diesem Kontext eignet sich nun die Metapher vom Schiffbruch, die in Ortegas gesamtem Werk präsent ist, in besonderer Weise dazu, die Bedeutung und die Produktivität dieses Pendelns zwischen Begriff und Figur im Zusammenhang mit der Frage nach Europa aufzuzeigen. So kann der Schiffbruch, als produktive Krise verstanden, in ein Verhältnis zu Ortegas Verständnis von Europa als einer kulturellen Größe gesetzt werden, die sich gerade in solchen Krisenmomenten ihrer Kreativität und damit der Möglichkeiten ihres Überlebens versichert. Sowohl in der ersten Phase seiner Auseinandersetzung mit Europa (in der er eine engere Verbindung von Spanien und Europa als Lösung für die spanischen Probleme propagiert), als auch in der zweiten (in der er die europäische Einheit als Lösung für die gemeinsamen Probleme des Kontinents fordert) ist es diese Metapher, die seinen Vorschlägen zugrunde liegt und die sie schließlich plausibel macht. In der Folge sollen des153

halb zunächst die Implikationen des metaphorischen Sprechens vom Schiffbruch in Ortegas philosophischem Diskurs analysiert werden, um dann vor diesem Hintergrund seine beiden einander ablösenden Interpretationsansätze in Bezug auf die europäische Problematik zu untersuchen. Abschließend gilt es, die Frage nach dem Essay als derjenigen Gattung aufzuwerfen, die mehr als alle anderen zur Erörterung der Frage nach Europa geeignet zu sein scheint – der gemeinsame Nenner zwischen der Form Essay und dem Inhalt Europa ist hier eine gewisse Beweglichkeit und Flexibilität, wie sie ebenfalls in der Metapher vom Schiffbruch zum Ausdruck kommt.

3.1

Von der Insel zum Schiffbruch

Unter der Überschrift Im Horizont des Unendlichen schreibt Friedrich Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft: Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit.1

Die unausgesprochene Gefahr, in die sich Nietzsches «Schifflein» hier begibt, ist diejenige des Schiffbruchs – im Horizont des Unendlichen kann selbst die scheinbare oder auch tatsächliche Ruhe des Ozeans keine Garantie mehr für eine sicher verlaufende Seefahrt sein. Vor diesem Hintergrund muss deshalb auch die Aufforderung «Auf die Schiffe, ihr Philosophen!» aus einem anderen Stück der Fröhlichen Wissenschaft mit Vorsicht genossen werden: Selbst wenn die den Philosophen dort in Aussicht gestellte Entdeckung «anderer Welten» verlockend erscheinen mag,2 so lässt sich trotzdem die Gefahr nicht leugnen, auf dem Weg hin zu diesen anderen Welten Schiffbruch zu erleiden. Der Horizont mag zwar bis ins Unendliche erweitert werden können, aber dennoch ist auch die Möglichkeit eines völligen Horizontverlustes im Schiffbruch immer gegeben. Deshalb sind gerade «für Philosophen […] Seefahrten riskant», wie Hans Blumenberg mit explizitem Bezug auf deren «berufstypische[…] Schiffbrüche» betont.3

1 2 3

Friedrich Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.): KSA Bd. 3, München: Deutscher Taschenbuchverlag 21988, S. 480. Ebd., S. 530. Hans Blumenberg: Seenöte, in: Ders.: Die Sorge geht über den Fluss, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 7–41, hier S. 10. Auf der anderen Seite heißt es auch bei Blumenberg ausdrücklich: «Der Schiffbruch, als überstandener betrachtet, ist die Figur einer philosophischen Ausgangserfahrung.» (Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 31988, S. 14). Vgl. dazu auch Michael Makropoulos: Meer, in: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 237–248.

154

Eine Beziehung zwischen dem Schiffbruch und dem Modell der Insel hat in jüngster Zeit Rodolphe Gasché hergestellt, indem er die Insel als Teil eines Archipels und diesen als die «Figur des Europäischen» schlechthin gelesen hat.4 Der Schiffbruch stellt sich dabei als die oft unvermeidliche Folge jener Versuchung dar, der jede Insel immer unterliegen kann: der Versuchung nämlich, sich radikal aus den ursprünglichen Zusammenhängen ihres Archipels zu entfernen und damit «unbedingte und grenzenlose Absolutheit zu erreichen».5 Der Schiffbruch ist in Gaschés Argumentation die notwendige Konsequenz aus einer solchen Tendenz zur Vereinzelung – er ist also weniger im Sinne eines Orientierungsverlustes zu verstehen (wie im Falle von Nietzsches «Schifflein» angesichts der Unendlichkeit) als vielmehr im Sinne eines vollständigen Selbstverlustes.6 Gerade ausgehend von der Tatsache, dass dem Archipel und den Inseln als seinen Bestandteilen die Gefahr eines solchen Selbstverlustes im Schiffbruch stets innewohnt, entwickelt Gasché nun sein Verständnis des Archipels als Figur des Europäischen. Der Archipel sei eine «Gemeinschaft, die auf Differenz gründet (und nicht auf ein gemeinsames Substrat)»,7 und die einigende Idee, die dieser Gemeinschaft zugrunde liege, könne immer nur in der Akzeptanz der Risiken gefunden werden, die das ständige «‹sich von sich selbst Entfernen› eines jeden Mitglieds hin zu einem anderen» notwendig birgt.8 Dadurch, dass Rodolphe Gasché bei seiner Interpretation des Archipels als «Figur des Europäischen» diese figurative Annäherung an die Frage nach Europa deshalb zunächst ausdrücklich als eine plurale Alternative zu einem festen und statischen ‹Begriff› von Europa konstruiert, betont er die Beweglichkeit, die das figürliche Verständnis von Europa – anders als das rein begriffliche – kennzeichnet. Dennoch ist der Gegensatz zwischen Begriff und Figur bei ihm nicht als ein radikaler zu denken, sondern eher im Sinne einer Ergänzung: Ich möchte in der Tat die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es gerade im Fall dessen, was europäisch ist, nicht möglich ist, das Begriffliche und das Figurative klar voneinander abzugrenzen. Während es unmöglich sein mag, die Figuren Europas näher zu bestimmen […] ohne einen wie auch immer gearteten Begriff […] von Europa, so kann dennoch ein vereinheitlichender Begriff von Europa […] strukturelle Eigenschaften beinhalten, die notwendigerweise zu einer Mannigfaltigkeit von Figuren führen.9

4

5 6 7 8 9

Vgl. Rodolphe Gasché: Zur Figur des Archipels, in: Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München: Fink 2006, S. 235–245. Gasché greift bei seiner Interpretation des Archipels als Figur des Europäischen auf Massimo Cacciaris Der Archipel Europa zurück; dieser wiederum verweist in seinem Text ausdrücklich auf Ernst Robert Curtius und dessen «Erinnern Europas» (vgl. deshalb auch Massimo Cacciari: Der Archipel Europa, Köln: DuMont 1998, vor allem S. 18). Rodolphe Gasché: Zur Figur des Archipels, S. 243. Vgl. ebd., S. 242. Ebd., S. 243. Ebd. Ebd., S. 235.

155

Der Archipel ist nun diejenige Figur, die diese gegenseitige Bedingtheit von einem figurativen Verständnis von Europa einerseits und einem begrifflichen andererseits am deutlichsten zum Ausdruck bringt – insofern ist der Archipel die «Mutter aller Figuren».10 Die doppelte Bewegung von Begrifflichkeit einerseits und Figürlichkeit andererseits wird in den einzelnen Inseln eines Archipels augenfällig: Diese repräsentieren dadurch, dass sie zwar für sich stehen, aber doch stets über sich selbst hinausweisen, eine Beziehung zwischen Einheit und Vielheit, wie sie für Europa immer kennzeichnend ist und wie sie auch Gaschés Unterscheidung zwischen dem Begriff (als dem Einen) und der Figur (als dem Vielen) zugrunde liegt. Wie beweglich diese Grenze zwischen Begriff und Figur sein kann, das zeigt sich im Werk von José Ortega y Gasset – und vor allem in denjenigen seiner Texte, in denen er sich mit Europa auseinandersetzt. Bei ihm ist es vor allem die Metapher vom Schiffbruch, die in diesem Kontext der Frage nach dem einen festen Begriff von Europa und den vielen beweglichen Figuren des Europäischen immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Über die Jahrzehnte hinweg taucht die Schiffbruchsmetapher in Ortegas Werk in unterschiedlichen Variationen auf, und sie bezieht sich dabei stets auf einen Kern seiner Philosophie: auf die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umgebung nämlich.11 Die Bedeutung, die dieser Metapher in Ortegas Werk zukommt, ist zwar in diesem Zusammenhang in der Sekundärliteratur durchaus wahrgenommen worden. Eine Reihe von Arbeiten greift die Schiffbruchsmetapher auf – vor allem Arbeiten aus den letzten Jahren, in denen das Interesse an den ästhetischen Zusammenhängen im philosophischen Werk von Ortega y Gasset gewachsen ist.12 Dennoch kommen die meisten dieser Untersuchungen über bloße Anspielungen auf Ortegas Metapher nicht hinaus. So wird die Metapher vom Schiffbruch häufig in Beziehung mit bestimmten Teilen der Biographie Ortegas gestellt – zum Beispiel werden die Jahre des Bürgerkriegs in Spanien als ein «Schiffbruch» interpretiert, den er mit seinen politischen Überzeugungen erlitten habe.13 Nur selten wird aber die Metapher selbst auf ihren rhetorischen Gehalt und auf ihre Funktion in Ortegas philosophischem Werk hin befragt. Bislang hat nur Ricardo Tejada die Schiffbruchsmetapher und ihre Implikationen in Ortegas Werk einer eingehenden rhetorischen – und philosophischen – Analyse unterzogen. Allerdings geht auch er dabei nicht auf den unmittelbaren

10 11

12

13

Ebd., S. 236. Vgl. dazu Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega: Naufrage ou victoire ironique de la métaphore?, in: Les langues néo-latines 329 (2004), S. 25–62, hier S. 26. Bei Tejada findet sich auch eine genaue Auflistung aller Textstellen in Ortegas Gesamtwerk, in denen die Metapher vom Schiffbruch eine Rolle spielt. Vgl. Rafael García Alonso: El náufrago ilusionado. La estética de José Ortega y Gasset, Madrid: Siglo Veintiuno de España 1997; und José Luis Molinuevo: Para leer a Ortega, Madrid: Ed. Alianza 2002. Vgl. etwa José Luis Molinuevo: Para leer a Ortega, S. 12.

156

Zusammenhang ein, den man zwischen der Metapher und Ortegas lebenslanger Frage nach Europa konstruieren kann.14 «Vivir es sentirse perdido»15 – diese Diagnose steht nicht nur immer wieder im Mittelpunkt von Ortegas Denken, sondern auch am Anfang seiner Beschäftigung mit der Metapher vom Schiffbruch. Dieses Gefühl der Verlorenheit im Leben ist es, das er mit der Schiffbruchsmetapher darzustellen versucht: El que lo acepta ya ha empezado a encontrarse, ya ha comenzado a descubrir su auténtica realidad, ya está en lo firme. Instintivamente, lo mismo que el náufrago, buscará algo a qué agarrarse, y esa mirada trágica […] le hará ordenar el caos de su vida. Estas son las ideas únicas: las ideas de los náufragos.16

Ortegas Schiffbrüche zeichnen sich dabei durch ihren grundsätzlichen und unausweichlichen Charakter aus: Nicht etwa bestimmte Situationen im menschlichen Leben werden mit Schiffbrüchen verglichen, sondern das Leben selbst – der Schiffbruch (und eben nicht die möglicherweise auch glücklich endende Seefahrt) ist der Ausgangspunkt, von dem aus jedes Leben seinen Anfang nimmt.17 In der zitierten Passage geht Ortega allerdings bereits über seine ursprüngliche Feststellung von der Verlorenheit des Menschen im Leben hinaus – und somit auch über die reine Beziehung zwischen diesem Leben und dem Schiffbruch. Nicht allein um das Gefühl der Verlorenheit des Menschen im Schiffbruch seines Lebens kann es gehen, sondern vor allem um das, was aus diesem Schiffbruch dann entsteht. Und diese Hervorhebung der Konsequenzen, die aus dem Schiffbruch des Lebens gezogen werden müssen, unterscheidet Ortegas Vorstellung vom Schiffbruch grundsätzlich von denjenigen, die bisher angeführt worden sind: War der Schiffbruch im Eingangszitat von Nietzsche als ein radikaler Orientierungsverlust angesichts der Unendlichkeit entworfen worden, und hatte Rodolphe Gasché ihn im Zusammenhang mit seiner Interpretation des Archipels als Figur des Europäischen als einen Selbstverlust beschrieben, so ist er bei Ortega letztlich weder das eine noch das andere. Im Gegenteil: Gerade im Schiffbruch kann der Mensch sowohl

14

15 16 17

Vgl. abermals Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega: Naufrage ou victoire ironique de la métaphore? und ders.: La metáfora del naufragio en Ortega y su pregnancia en algunos orteguianos, in: Revista de estudios orteguianos 7 (2003), S. 139–172. José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, in: Ders.: Obras Completas IV, Madrid: Revista de Occidente 41957, S. 254. Ebd., S. 254. Vgl. auch dazu Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega, S. 31 und ders.: La metáfora del naufragio en Ortega y su pregnancia en algunos orteguianos, S. 143. Aus diesem Grund unterscheidet sich Ortegas Konzeption vom Schiffbruch auch von derjenigen, die Hans Blumenberg in Schiffbruch mit Zuschauer skizziert: Blumenberg zeichnet die Entwicklung der Schiffbruchsmetapher von der Antike bis in die Gegenwart vor allem unter Berücksichtigung der häufig auftretenden Figur eines unbeteiligten Zuschauers nach; eine solche unbeteiligte Zuschauerfigur kann es bei Ortega jedoch nicht geben. Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 31988.

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einen neuen Horizont als auch sich selbst finden; der Schiffbruch ist deshalb nicht allein Katastrophe, sondern immer wieder auch Chance: La vida es un caos, una selva salvaje, una confusión. El hombre se pierde en ella. Pero su mente reacciona ante esa sensación de naufragio y perdimiento: trabaja por encontrar en la selva ‹vías›, ‹caminos›; es decir: ideas claras y firmes sobre el Universo […]. El conjunto, el sistema de ellas, es la cultura en el sentido verdadero de la palabra; todo lo contrario, pues, que ornamento. Cultura es lo que salva del naufragio vital, lo que permite al hombre vivir sin que su vida sea tragedia sin sentido o radical envilecimiento.18

Nur der Schiffbruch seines Lebens veranlasst den Menschen überhaupt dazu, sich Gedanken über dieses Leben und den Raum zu machen, innerhalb dessen es sich abspielt. An dieser Vorstellung ist nun vor allem interessant, dass Ortega sie dadurch in einen größeren Rahmen rückt, dass er die Gesamtheit dieser aus dem Schiffbruch heraus entstehenden Ideen zu systematisieren versucht. Diese Gesamtheit der Ideen sei Kultur im Wortsinn – und nur eine solche aus der existentiellen Situation des Schiffbruchs heraus geborene Kultur verdiene diesen Namen wirklich. Anders als Miguel de Unamuno mit seiner strikten Ablehnung einer Kultur, die bei ihm in Abgrenzung von der Zivilisation immer als germanisch geprägt und technisiert gekennzeichnet war, betont Ortega hier also gerade den unmittelbaren und organischen Charakter, der die Kultur in seinem Verständnis auszeichnet. Bei Ortega ist die Kultur überlebensnotwendig und insofern existentiell für den Menschen; sie ist unmittelbar an seinen Begriff vom Leben gekoppelt: «Cultura es el sistema vital de las ideas en cada tiempo.»19 In diesem Zusammenhang wird deshalb auch die weitreichende Bedeutung der Metapher vom Schiffbruch deutlicher. Dadurch, dass Ortega betont, Schiffbruch zu erleiden sei eben nicht dasselbe wie zu ertrinken, drückt er dezidiert aus, wie sehr sein Verständnis des Schiffbruchs im Zusammenhang mit der Kultur in letzter Instanz ein positives ist. Der Schiffbruch mag eine existentielle Bedrohung für den Menschen darstellen, aber zugleich beinhaltet er eben immer auch die Möglichkeit einer produktiven Steigerung: La vida misma es en sí misma y siempre un naufragio. Naufragar no es ahogarse. El pobre humano, sintiendo que se sumerge en el abismo, agita los brazos para mantenerse a flote. Esa agitación de los brazos con que reacciona ante su propia perdición, es la cultura – un movimiento natatorio.20

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20

José Ortega y Gasset: Misión de la universidad, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 321. Diese doppelte Bedeutung des Schiffbruchs – Katastrophe und Chance – betont auch Hans Blumenberg, bei dem ausdrücklich von der «Identität von Katastrophe und Produktivität» die Rede ist (Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 29). José Ortega y Gasset: Misión de la universidad, S. 322 (die Hervorhebung ist von Ortega selbst). Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen dem Bild vom Schiffbruch und Ortegas Verständnis der Kultur auch Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega, S. 39. José Ortega y Gasset: Pidiendo un Goethe desde dentro, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 397.

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Gerade diese positive Wendung in der Interpretation des Bildes vom Schiffbruch ist es nun, die es erlaubt, eine Verbindung zwischen diesem metaphorischen Kern von Ortegas Philosophie auf der einen Seite und seinen Überlegungen zu Europa auf der anderen herzustellen. Ausdrücklich verweist Ortega nämlich selbst auf sein positives Verständnis des Schiffbruchs in dem postum erschienenen Text De Europa meditatio quaedam. Dieser Text geht auf eine Rede zurück, die er 1949 vor Studenten der Freien Universität in Berlin gehalten hat, und es heißt hier: Esta sensación de naufragio es el gran estimulante del hombre. Al sentir que se sumerge reaccionan sus más profundas energías, sus brazos se agitan para ascender a la superficie. El náufrago se convierte en nadador. La situación negativa se convierte en positiva. Toda civilización ha nacido o ha renacido como un movimiento natatorio de salvación.21

Vor diesem allgemein menschlichen und kulturgeschichtlichen Hintergrund könne deshalb auch die gegenwärtige Situation des nach dem Zweiten Weltkrieg daniederliegenden Europas allenfalls als eine vorübergehende Krise verstanden werden, die in sich selbst schon die Chance auf eine Erneuerung oder Wiedergeburt berge: El que nuestra civilización se nos haya vuelto problemática, el sernos cuestionables todos sus principios sin excepción no es, por fuerza, nada triste, ni lamentable, ni trance de agonía, sino acaso, por el contrario, significa que en nosotros una nueva forma de civilización está germinando […]. La civilización europea duda a fondo de sí misma. ¡Enhorabuena que sea así! Yo no recuerdo que ninguna civilización haya muerto de un ataque de duda.22

An dem Beispiel vom Zweifel als produktiver Kraft wird deshalb besonders deutlich, was Ortegas Verständnis von Krisen überhaupt kennzeichnet: Der Zweifel, der jede Krise begleitet oder der sie sogar ausmacht, mag zwar alle vermeintlich festen Gewissheiten des Menschen auflösen, aber gerade dadurch ermöglicht er diesem auch andere Initiativen als bisher. Vor diesem Hintergrund kann für Ortega deshalb auch die Feststellung, dass die bisher gültigen Prinzipien des Zusammenlebens in Europa nach dem Krieg ihre Gültigkeit verloren haben, keine Bedrohung für den Kontinent bedeuten. Im Gegenteil: Gerade in der Auseinandersetzung mit dieser Situation werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, die alten Prinzipien zu überdenken, sie zu verändern, zu erneuern oder eben auch gegen neue auszutauschen. Eine historische Krise – wie die, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt – ist bei Ortega insofern keine unvorhersehbare Katastrophe, sondern ein regelmäßig immer wieder auftretendes Phänomen im Zusammenleben der Menschen, das diese zu einer kritischen Reflexion dieses Zusammenlebens und zur persönlichen Weiterentwicklung anregen sollte.23

21 22 23

José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, in: Ders.: Obras Completas IX, Madrid: Revista de Occidente 1962, S. 251–252. Ebd., S. 250–251. Interessant ist die Beziehung zwischen Kultur und europäischer Zivilisation, die sich aus diesen Überlegungen ableiten lässt. Vgl. zu Ortegas Verständnis von historischen Krisen Antonio Gutiérrez Pozo: Ortega ante la crisis de la vida y cultura europeas, in: Diálogos 73 (1999), S. 161–191.

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Wenn Ortega hier seine Metapher vom Schiffbruch, die er sonst in einem allgemeinen Sinne auf das menschliche Leben insgesamt bezieht, ausdrücklich zur Beschreibung der besonderen Situation Europas nach dem Zweiten Weltkrieg heranzieht, dann lässt sich aus dieser Tatsache aber nicht zuletzt auch ablesen, was dieses Europa in seinen Augen in besonderer Weise ausmacht. Der Mensch sieht sich in Ortegas Metapher durch seinen grundsätzlichen Status als Schiffbrüchiger immer wieder dazu veranlasst, gerade dadurch ‹Kultur› hervorzubringen, dass er sich mit der Situation seines Schiffbruchs auseinandersetzt. Wenn diese Beziehung zwischen dem Schiffbruch und der Kultur aber so natürlich ist, wie Ortega das andeutet, dann muss auch diejenige zwischen dem Schiffbruch und Europa, das einen solchen Schiffbruch erleidet, insbesondere im Zusammenhang mit dem Charakter Europas als kulturelle Größe interpretiert werden. Gerade deshalb kann Europa aber auch in den krisenhaften Momenten nach dem Weltkrieg nicht als im eigentlichen Sinne bedroht oder gar dekadent gelten. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ortega auf eine ähnliche Art und Weise im Sinne der Erneuerungsmöglichkeiten argumentiert, die jedem Schiffbruch innewohnen: No vale hablar de decadencia sin precisar qué es lo que decae. ¿Se refiere el pesimista vocablo a la cultura? ¿Hay una decadencia de la cultura europea? ¿Hay más bien sólo una decadencia de las organizaciones nacionales europeas? Supongamos que sí. ¿Bastaría esa para hablar de la decadencia occidental? En modo alguno.24

Die Schiffbruchsmetapher stellt auf diese Weise eine Anschlussstelle innerhalb von Ortegas Werk dar, an der sich dessen zentrale historische, kulturelle, anthropologische, soziologische und philosophische Problemstellungen formulieren und diskutieren lassen. Gerade weil der Ausgangspunkt dabei eine Metapher (und also eine rhetorische Figur) ist, lässt sich ausgehend von diesen Fragen zum Schluss auch eine Verbindungslinie zu derjenigen nach der rhetorischen Verfasstheit von Ortegas Texten herstellen. Dadurch soll nicht zuletzt auch die immer wieder an dieses Werk gerichtete Frage: ‹Philosophie oder Literatur?› durch eine fruchtbarere Herangehensweise ersetzt werden, die gerade nicht mit einander ausschließenden Konzepten operiert, sondern vielmehr einen integrativen Ansatz verfolgt. Vor allem im Essay, Ortegas bevorzugter Gattung für seine Auseinandersetzung mit Europa, bedingen philosophische und rhetorisch-literarische Formen und Fragestellungen einander eher, als dass sie sich ausschlössen.25 Dabei kommt besonders der Metapher eine wichtige Rolle zu, insofern sich diese immer «à mi-chemin entre le concept et la vision» befindet.26 Rodolphe Gasché hatte am Beispiel des Archipels das Ineinandergreifen von einem figurativen und einem begrifflichen Verständnis von Europa gezeigt. Im Falle

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José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 167. Vgl. zu dieser Frage Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega, S. 25, aber auch Patrick H. Dust: Ortega y Gasset y la destrucción del libro (Hacia una hermenéutica del discurso orteguiano), in: Revista de Occidente 120 (1991), S. 83–95. Dust spricht von der «naturaleza insólita del discurso de Ortega» (S. 83). Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega, S. 50.

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des Bildes vom Schiffbruch kann man in der Tat ähnlich argumentieren: Wenn das metaphorische Sprechen wirklich, wie Ortega schreibt, zu den fruchtbarsten Fertigkeiten des Menschen gehört,27 dann deshalb, weil sich hier die gegenseitige Bedingtheit von klarem Begriff auf der einen Seite und bildlichem Ausdruck auf der anderen aufweisen lässt. Gerade im Zusammenhang mit einem Verständnis von Europa zwischen Figur und Begriff kann die Metapher vom Schiffbruch so ihre eigentliche Produktivität auch für den philosophischen Diskurs entfalten.

3.2

Spanien als Problem und Europa als Lösung

He sido y soy enemigo irreconciliable de este idealismo que al poner el espacio y el tiempo en la mente del hombre pone al hombre como siendo fuera del espacio y del tiempo. Me encontré, pues, desde luego, con esta doble averiguación fundamental: que la vida personal es la realidad radical y que la vida es circunstancia. Cada cual existe náufrago en su circunstancia. En ella tiene, quiera o no, que bracear para mantenerse a flote.28

Ortegas Verweis auf die «circunstancia» lässt sich mit Blick auf sein philosophisches System im Ganzen lesen.29 Mit «circunstancia» wäre dann in einem globalen Sinne so etwas wie die Umstände des menschlichen Lebens im allgemeinen gemeint. Der Verweis auf die «circunstancia» lässt sich in der zitierten Passage aber auch unmittelbarer verstehen. Gerade im Zusammenhang mit den einleitenden Bemerkungen, die den Menschen in seinem je besonderen Raum und seiner Zeit verorten wollen, kann die Betonung der «circunstancia» auch im ganz konkreten Sinne der jeweils spezifischen Umgebung eines bestimmten Lebens verstanden werden. Der Kontext, in dem Ortegas Bemerkung über das Leben als «circunstancia» hier steht, legt eine solche Interpretation sogar nahe: Der 1958 postum veröffentlichte Prólogo para alemanes, der eigentlich aus den 30er Jahren datiert, hat seinen Herausgebern zufolge ausdrücklich den Anspruch, Ortegas Lesern eine Reihe von «precisiones de carácter autobiográfico» zu liefern.30 Schon in seinen Meditaciones del Quijote aus dem Jahr 1914 erklärt Ortega: «La reabsorción de la circunstancia es el destino concreto del hombre.»31 Im Zusammenhang mit seinen autobiographischen Ausführungen aus dem Prólogo para alemanes wird jetzt deutlich, was damit genau gemeint ist – und welche Folgen Ortegas Verständnis vom Leben als ein immer von den Umständen Abhängiges für seinen Blick auf sein eigenes Leben hat: «El primer término de mi circunstancia

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Vgl. José Ortega y Gasset: El «tabú» y la metáfora, in: Ders.: Obras Completas III, Madrid: Revista de Occidente 41957, S. 372. José Ortega y Gasset: Prólogo para alemanes, in: Ders.: Obras Completas VIII, Madrid: Revista de Occidente 1962, S. 44. So betont etwa Julián Marías, man müsse Ortegas Denken insgesamt als «una progresiva toma de posesión de la circunstancia» deuten. (Julián Marías: Ortega. Las trayectorias, Madrid: Revista de Occidente 1983, S. 209). Nota preliminar (1958), in: José Ortega y Gasset: Obras Completas VIII, o. S. José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, in: Ders.: Obras Completas I, Madrid: Revista de Occidente 41957, S. 322.

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era y es España,»32 so betont er explizit die spezifisch spanischen Umstände, die dieses Leben geprägt haben. Das bedeutet umgekehrt, dass es auch diese spanischen Umstände sind, auf die er mit seinem Leben reagiert und in seinem Verständnis sogar unweigerlich reagieren muss: El concepto mismo de circunstancia lleva en sí desde luego una intención polémica contra el utopismo y la actio in distans. La circunstancia es, por lo pronto, lo más próximo, la mano que el universo tiende a cada cual y a que hay que agarrarse, que es preciso estrechar entusiastamente si se quiere vivir con autenticidad.33

Auch im Prólogo para alemanes mit seiner lapidaren Feststellung «Cada cual existe náufrago en su circunstancia» deutet das Bild vom Schiffbruch zunächst auf das menschliche Leben schlechthin – jedes Leben ist notwendigerweise ein Schiffbruch in seiner jeweiligen «circunstancia». Dennoch ist der konkrete Bezug auf Spanien und die spanische Umgebung auffällig, den dieser Text im Unterschied zu den bisher zitierten herstellt. Ausgehend von der Vorstellung vom Schiffbruch, den jeder Mensch in seiner konkreten Umgebung erleidet, kann Ortega vor allem in seinen Bemühungen und seiner Sorge um Spanien ein Bindeglied zwischen seinem eigenen Leben und seinem Werk finden – und nicht zuletzt auch zwischen einzelnen Bestandteilen dieses Werkes: Mi destino individual se me aparecía y sigue apareciéndome como inseparable del destino de mi pueblo. […] Por eso mi producción durante muchos años padece la obsesión de España como problema.34

José Ortega y Gasset wächst Ende des 19. Jahrhunderts in ein Spanien hinein, dessen Zustand ihm – vor allem in kultureller Hinsicht – als defizient erscheinen muss. Das spanische Problem ist für seine Generation noch genauso virulent, wie es das für diejenige Unamunos gewesen war, und wie für diesen zeichnet sich der prekäre Zustand Spaniens auch für Ortega vor allem im Vergleich mit dem europäischen Ausland ab: «Ortega, como Unamuno y Manuel Azaña, definen la referencia española con relación al exterior,»35 betont Gonzalo Navajas. Für den jungen Ortega wird vor allem Deutschland diesbezüglich zum Maßstab. In seinem Prólogo para alemanes betont er die Bedeutung, die das Land – und in besonderem Maße seine Wissenschaft und Kultur – während seiner Studienzeit für ihn gehabt habe.36 Gerade durch diesen Kontakt mit dem Fremden und Anderen aber wird ihm die problematische Verfassung umso bewusster, in der sich Spanien

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José Ortega y Gasset: Prólogo para alemanes, S. 54. Ebd. Ortegas berühmtes Diktum: «Yo soy yo y mi circunstancia, y si no la salvo a ella, no me salvo yo» lässt sich in demselben Kontext verstehen (José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, S. 322). José Ortega y Gasset: Prólogo para alemanes, S. 57–58. Gonzalo Navajas: Ortega y Gasset y la nueva Europa, in: Letras Peninsulares 13,2 (Winter 2000–2001), S. 695–706, hier S. 700. Vgl. dazu auch Kapitel 2.2 Europa als das Andere Spaniens. Vgl. José Ortega y Gasset: Prólogo para alemanes, S. 24. Vgl. zu Ortegas Beziehung zu Deutschland und zu dem Einfluss, den seine Studienjahre dort auf ihn gehabt ha-

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befindet. Ortegas Sorge um Spanien und sein Wissen um die kulturellen Defizite des Landes ist deshalb von Anfang an im europäischen Kontext zu interpretieren: Im Vergleich mit Europa zeichnet sich die Krise Spaniens ab, und auch Ortegas Eintreten für einen stärkeren Einfluss Europas in Spanien ist vor allem in diesem Zusammenhang zu verstehen: Ortega es europeísta a fuerza de españolismo, de su patriotismo español. La solución Europa está en función de España, de la recuperación de su historia y de su identidad, del intento de querer volver a dotar de sentido a la realidad España.37

Der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Europa ist also auch bei Ortega (wie schon bei Miguel de Unamuno) ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass das zeitgenössische Spanien sich nicht auf der Höhe der Zeit und seiner eigenen Möglichkeiten bewegt.38 Allerdings votiert Ortega in diesem Zusammenhang klarer und eindeutiger als Unamuno für eine geistige Öffnung des Landes im Sinne der ‹Europäisierung›.39 Das Wort von der europäischen Lösung für das spanische Problem, das José María Beneyto in diesem Zusammenhang anführt,40 geht dabei auf Ortega y Gasset selbst zurück. Dieser setzt beides in einem Text aus dem Jahr 1910 unmittelbar miteinander in Verbindung: Regeneración es el deseo; europeización es el medio de satisfacerlo. Verdaderamente se vió claro desde un principio que España era el problema y Europa la solución.41

Für Ortega spielt dabei die von Unamuno so deutlich empfundene Grenze der Pyrenäen keine Rolle – für ihn kann es keinen Zweifel daran geben, dass Spanien essentiell zu Europa gehört.42 Im Gegenteil – gerade dadurch, dass es sich in vielen Details vom Rest Europas unterscheidet, ist Spanien für ihn nur umso europäischer:

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ben, Alain Guy: Ortega y Gasset et la pensée germanique, in: Iberoromania 3 (1970), S. 197–215. José María Beneyto: Tragedia y razón. Europa en el pensamiento español del siglo XX, Madrid: Taurus 1999, S. 125. Ähnlich argumentiert auch Jesús Herrero, bei dem es bündig heißt: «Con todo, su españolismo exigía Europa.» (Jesús Herrero: Europa: punto de vista y razón convivencial según Ortega, in: Arbor 111 (1982), S. 83–97, hier S. 84). Vgl. José María Beneyto: Tragedia y razón, S. 127. So schreibt José María Beneyto ausdrücklich: «Ortega recupera plenamente el lema costista de la europeización de España como medio para alcanzar un punto de vista español que sea capaz de proyectarse hacia Europa.» (José María Beneyto: Tragedia y razón, S. 128). Vgl. José María Beneyto: Tragedia y razón, S. 128. José Ortega y Gasset: La pedagogía social como programa político, in: Ders.: Obras Completas I, S. 521. Vgl. Gonzalo Navajas: Ortega y Gasset y la nueva Europa. Hier wird dieser Punkt ausdrücklich zur Charakterisierung von Ortegas Sicht von Spanien und Europa angeführt: «Lo que es característico de Ortega es que transforma a Europa no en un referente remoto y externo al país sino que incluye a España dentro de ese referente más comprensivo.» (S. 697).

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«Spain was to become one of the many nations, quite different from the rest, to be sure, but ‹European› because of, not in spite of, its differences.»43 Wenn Spanien dennoch ‹europäisiert› werden muss, dann kann das vor diesem Hintergrund seiner elementaren Zugehörigkeit zu Europa nur heißen, dass das Land Mittel und Methoden braucht, um seine spezifisch spanischen Eigenheiten überhaupt erst erkennen und dann leben zu können. Die Unterschiede zwischen Spanien auf der einen und Europa auf der anderen Seite, die auch Ortega immer wieder anspricht, veranlassen ihn deshalb nicht dazu, eine vermeintlich nicht zu überwindende Grenze zwischen Spanien und Europa zu proklamieren. Er fordert allenfalls eine deutlichere Markierung der jeweiligen Eigenheiten oder auch der jeweiligen Stärken und Schwächen, und betont auch dann, wenn er ausdrücklich von dem «desnivel» spricht,44 das zwischen Spanien und Europa bestehe, die Möglichkeit, diesen «Höhenunterschied» im gegenseitigen Austausch zu überwinden. Europa ist also für Spanien das, was die «circunstancia» für das Leben des einzelnen Menschen ist. Europa ist die Umgebung, die das spanische Leben prägt; es ist unmittelbares Umfeld und Aufforderung zum Handeln.45 Die Entwürfe von Europa, die José Ortega y Gasset vor allem in der ersten Phase seines Nachdenkens über den Kontinent skizziert – derjenigen also, in der Europa für ihn die Lösung für das spanische Problem darstellt – müssen deshalb immer in diesem Kontext der gegenseitigen Bedingtheit von Spanien und Europa interpretiert werden. Gerade wenn Ortega versucht, seine Vorstellung von Europa durch klare Eingrenzungen zu präzisieren, tut er das mit Blick auf Spanien und dessen Angewiesensein auf einen intensiven Kontakt mit Europa. «Europa = ciencia; todo lo demás le es común con el resto del planeta.»46 Mit dieser durchaus kämpferisch gemeinten Ansage beantwortet Ortega im Jahr 1908 die Frage, was denn das in diesen ersten Jahren des Jahrhunderts so vielbeschworene Europa im Unterschied zu Spanien – und eben auch zum Rest der Welt – eigentlich auszeichne. Allein durch seine Wissenschaft unterscheide sich Europa von den anderen Gegenden der Erde, allein diese Wissenschaft mache es auch für Spanien erstrebenswert, sich zu ‹europäisieren›. In diesem Zusammenhang geht Ortega von der Notwendigkeit einer klaren Definition aus: Er habe kein Problem damit, die Notwendigkeit der Europäisierung einzugestehen, so hatte er seinen Text begonnen – ihm fehle nur eine unzweifelhafte Definition dessen, was Europa eigentlich sei. Genau dieses Zurückschrecken davor, die Dinge wirklich beim Namen zu nennen, sei nun aber ein spezifisch spanischer Charakterzug und ein wesentlicher Grund für den spanischen Niedergang:

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Harold Raley: José Ortega y Gasset: Philosopher of European Unity, Alabama: University of Alabama Press 1971, S. 198. José Ortega y Gasset: Asamblea para el progreso de las ciencias, in: Ders.: Obras Completas I, S. 101. Vgl. dazu auch Victor Ouimette: Ortega y Gasset y el liberalismo imperativo, in: Ders.: Los intelectuales españoles y el naufragio del liberalismo (1923–1936), vol. 2, Valencia: Pre-Textos 1998, S. 103–287, hier vor allem S. 112. José Ortega y Gasset: Asamblea para el progreso de las ciencias, S. 102.

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Sólo un defecto hallo en los programas de europeísmo hasta ahora predicados, un olvido, probablemente involuntario, impuesto tal vez por la falta de precisión y de método, única herencia que nos han dejado nuestros mayores. ¿Cómo es posible si no que en un programa de europeización se olvide definir Europa? ¿Es que, por ventura, no cabe vacilación respecto a lo que es Europa? ¿No es esta vacilación secular, este no saber un siglo y otro qué cosa sea exactamente Europa, lo que ha mantenido a España en perenne decadencia?47

Gegen dieses fehlende Bewusstsein will Ortega angehen – zum einen dadurch, dass er die bisher ausgebliebene Definition nachholt, zum anderen aber auch durch den inhaltlichen Kern dieser Definition selbst. Die Wissenschaft, die er als Mittelpunkt des europäischen Wesens anführt, wird in seinem Text in einen expliziten Gegensatz zu dem gestellt, was er wörtlich als die spanische «inconciencia» bezeichnet.48 Das Wortspiel ciencia – inconciencia funktioniert dabei weniger spielerisch, als es zunächst den Anschein hat. Genau diese spanische Unbewusstheit bildet ja insofern den Ausgangspunkt von Ortegas Text, als dieser mit der Kritik an der ausbleibenden Definition von Europa einsetzt. Dadurch, dass er die Definition jetzt nachliefert und damit selbst gerade nicht in der inconciencia verharrt, überwindet Ortega in seinem Text eben jene Zögerlichkeit, die er in Spanien sonst allgemein am Werk sieht. Seine eigene Definition von Europa als Raum der Wissenschaft ist also bereits ein erster Schritt hin zu dieser Wissenschaft. Ortega beruft sich auf Aristoteles, wenn er die induktive Methode auf der einen Seite und klare Definitionen auf der anderen als Wesensmerkmale der Wissenschaft beschreibt. Auch hier funktioniert seine Argumentation auf einer doppelten Ebene: Wenn Europa Wissenschaft bedeutet, dann bedeutet das Wort von der Europäisierung Spaniens eine Beeinflussung des Landes durch die europäische Wissenschaft. Dadurch, dass Ortega nun so deutlich beschreibt, was für ihn diese europäische Wissenschaft ausmacht, charakterisiert er implizit zugleich seinen eigenen Text als eine erste Initiative in Richtung auf diese Europäisierung Spaniens hin. Sein Text verfährt genau nach den Methoden, die er selbst ausdrücklich als wissenschaftlich – und insofern europäisch – beschreibt: Er verfährt induktiv, und vor allem schreckt er nicht davor zurück, sich durch klare Definitionen womöglich auch angreifbar zu machen. In diesem Kontext verweist Ortega deshalb auch diejenigen Zeitgenossen in ihre Schranken, deren Annäherung an Europa seiner Meinung nach dadurch zu oberflächlich bleibt, dass sie die Relevanz von eindeutigen und in die Tiefe gehenden Definitionen verkennen und statt dessen bei der Aufzählung von einzelnen Elementen der europäischen Wirklichkeit verharren: Para unos Europa es el ferrocarril y la buena policía; para otros es la parte del mundo donde hay mejores hoteles; para aquéllos el Estado que goza de empleados más leales y expertos; para otros el conjunto de pueblos que exportan más e importan menos. Todas estas imágenes de Europa coinciden en un error de perspectiva; toman lo que se ve en

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Ebd., S. 99. Ebd., S. 104.

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un viaje rápido, lo que salta a los ojos y, sobre todo, la apariencia externa de la Europa de hoy, por la Europa verdadera y perenne.49

Ortegas eigene Interpretation von Europa unterscheidet sich damit essentiell von derjenigen all jener Schriftsteller und Denker, die die europäische Zivilisation ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, so wie Victor Hugo das in seiner mittleren Periode getan hatte. Nicht diese zivilisatorischen Errungenschaften sind für Ortega im Zusammenhang einer Eingrenzung von Europa wichtig. Diese dienten nur dazu, einen Beitrag zu einem «mejoramiento físico de la vida» zu leisten,50 und sind insofern allenfalls ein Produkt der europäischen Wissenschaft. Ortegas Verständnis von Europa stellt dagegen dessen Befähigung zur Wissenschaft ins Zentrum, und macht damit deutlich, dass diese Wissenschaft dabei als essentieller Bestandteil der Kultur zu verstehen und den einzelnen zivilisatorischen Realisierungen insofern vorgeschaltet ist. Damit bewegt sich die europäische Kultur für Ortega insgesamt auf einer anderen Ebene als die Zivilisation: «No se pueden presentar juntas la demanda de cultura y la demanda de la civilización.»51 Die Zivilisation, so wichtig ihre Errungenschaften im Einzelnen sein mögen, bleibt immer ein zwar angenehmes, aber doch sekundäres Nebenprodukt von Wissenschaft und der ihr übergeordneten Kultur: Claro está que Europa es también la civilización europea, los adelantos técnicos, las comodidades urbanas, la potencia económica. Pero si China viaja, existe y vegeta hoy como hace diez siglos o veinte, si llegó pronto a un grado de civilización superior al de Grecia y en él se detuvo, fué porque le faltó la ciencia, la cultura europea.52

Vor dem Hintergrund dieses Entwurfs von Europa als kultureller Größe kann Ortega nun insbesondere deshalb über Spanien sagen: «La decadencia española consiste pura y simplemente en falta de ciencia, en privación de teoría»,53 weil er von Europa weiß: «Europa no es una expresión geográfica.»54 Nicht seine Geographie macht Europa zu dem, was es ist, sondern die wissenschaftlichen Methoden und Theorien, die der Kontinent im Unterschied zu allen anderen im Laufe der Zeit erworben hat. Es geht also um den Blickwinkel, den man in Europa und von Europa aus dank dessen wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Welt hat. Europäisierung im Sinne Ortegas muss insofern letztlich immer eine Frage der Perspektive sein. Diese Perspektive sollte möglichst weit gefasst sein, aber dennoch niemals zu Ungunsten von anderen Perspektiven verabsolutiert werden: Una secular tradición y ejercicio de lo humano ha ido sedimentando densas secreciones espirituales: Filosofía, Física, Filología. La enorme acumulación se eleva como un monte

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Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 107. Ebd., S. 107–108. José Ortega y Gasset: Una respuesta a una pregunta, in: Ders.: Obras Completas I, S. 214. José Ortega y Gasset: España como posibilidad, ebd., S. 138.

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asiático; desde lo alto se dominan espacios ilimitados. Esa altura ideal es Europa: un punto de vista. No solicitemos más que esto: clávese sobre España el punto de vista europeo.55

Wenn Europa eine solche besondere Perspektive ist, und wenn diese Perspektive tatsächlich maßgeblich von der Wissenschaft geprägt ist, dann wird auch deutlich, warum für Ortega die Europäisierung eindeutig von einer bloßen ‹Beeinflussung durch das Ausland› zu unterscheiden ist. Nicht um eine solche Beeinflussung durch fremde Sitten und Gebräuche kann es für ihn gehen, sondern allein um das Erlernen von Methoden, die es dann wieder ermöglichen sollen, die je eigenen Fähigkeiten als Teil der europäischen Vielfalt zu aktivieren.56 ¿Qué nos importa el extranjero, la serie de formas étnicas, históricas que pueda tomar la cultura en otras partes? Precisamente, cuando postulamos la europeización de España, no queremos otra cosa que la obtención de una nueva forma de cultura distinta de la francesa, la alemana... Queremos la interpretación española del mundo. Mas, para esto, nos hace falta la sustancia, […] nos hace falta la cultura.57

Die Europäisierung ist für Ortega ein Prozess, der auf Wechselseitigkeit angelegt ist. Gerade weil er die Zugehörigkeit Spaniens zu Europa niemals ernsthaft in Frage stellt, kann er darlegen, wie sehr nicht nur Spanien auf Europa, sondern eben auch Europa auf Spanien angewiesen ist. Wenn es gelingen könnte, das Land mittels der europäischen Methoden zu einer bewussteren Haltung gegenüber den eigenen Traditionen, Errungenschaften und Realitäten zu bewegen, dann könnte es im Gegenzug genau mit diesen eigenen Schwerpunkten das restliche Europa inspirieren: «España es una posibilidad europea,»58 schreibt Ortega und lässt keinen Zweifel daran, dass die Realisierung dieser europäischen Möglichkeit unabdingbar dafür ist, dass auch Europa als Ganzes erneuert werden kann. Vor dem Hintergrund dieses gegenseitigen Aufeinander-Angewiesenseins von Spanien und Europa ist deshalb nicht nur Ortegas Eintreten für die Europäisierung Spaniens im allgemeinen zu verstehen, sondern auch die Heftigkeit der Auseinandersetzung, die er in den Jahren um 1910 mit Miguel de Unamuno über diese Europäisierung führt. Dessen Polemik gegen die europäische Wissenschaft und für die vermeintliche spanische Weisheit muss Ortega umso fragwürdiger erscheinen, je deutlicher er selbst sich für eine Beeinflussung Spaniens durch die wissenschaftlichen Methoden Europas ausspricht. Unamunos Haltung erscheint Ortega deshalb als ein hervorragendes Beispiel für jenes bewusste Verharren im Unbewussten, das

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Ebd. Ähnlich argumentiert Ortega in seinem kurzen Artikel Nueva revista von 1910, in dem er den Namen der Zeitschrift Europa erklärt. Hier beschreibt er diesen Namen als ein Symbol, das dafür stehe, dass man nicht nur gegen die spanische Dekadenz vorgehen wolle, sondern dass man dies im Namen von etwas tun wolle – nämlich im Namen von gemeinsamen Perspektiven, Blickwinkeln und neuen Methoden. Vgl. José Ortega y Gasset: Nueva revista, in: Ders.: Obras Completas I, S. 143–144. José Ortega y Gasset: España como posibilidad, S. 138. Ebd.

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er als Ursache der spanischen Dekadenz ausfindig gemacht hatte. Dass ihm dies im Falle Unamunos noch unverzeihlicher zu sein scheint als bei jedem anderen, das macht er mit einem auf Unamuno gemünzten Zitat aus dem Cid nur zu deutlich: «¡Dios, que buen vassallo si oviese buen señor!»59 Unamuno hatte in diesem Kontext eine polemische Gegenüberstellung von Descartes auf der einen Seite und San Juan de la Cruz auf der anderen entworfen, die Ortega hier ebenso polemisch aufgreift. In Unamunos Modell steht Descartes für die europäische Wissenschaft und San Juan de la Cruz für die spanische Weisheit. Er selbst hatte bei dieser vermeintlichen Alternative eindeutig für San Juan de la Cruz plädiert: «Si fuera imposible que un pueblo dé a Descartes y a San Juan de la Cruz, yo me quedaría con éste.»60 Ebenso polemisch antwortet jetzt Ortega: Lo único triste del caso es que a D. Miguel, el energúmeno, le consta que sin Descartes nos quedaríamos a oscuras y nada veríamos, y menos que nada el pardo sayal de Juan de Yepes.61

Anders als für Unamuno, von dem er hier andeutet, dass er in der Frage der Europäisierung wider besseres Wissen argumentiere, stellt sich für Ortega die Frage nicht in Form einer Alternative. Es geht ihm nicht darum, ob Descartes oder San Juan de la Cruz, sondern allein darum, ob und auf welche Weise San Juan de la Cruz auch außerhalb Spaniens sinnvoll gelesen und vermittelt werden kann. Damit dies überhaupt geschehen kann, ist aber auch Descartes seiner Meinung nach unabdingbar. Auch in der Debatte zwischen Ortega und Unamuno ist also die Rolle der Wissenschaft und der Vernunft der strittige Punkt. Ortega argumentiert rationalistisch im Sinne seines Verständnisses von Europa als Raum der Wissenschaft, Unamuno betont dagegen seine subjektive und zuweilen paradoxe Sicht und lehnt die rationalistische Argumentation ab.62 Dabei ist nun aber vor allem auffällig, dass beide im Grunde in ihrer Sicht auf Europa übereinstimmen: Sowohl für Ortega als auch für Unamuno ist Europa wesentlich von seiner Wissenschaft bestimmt. Die Differenzen entstehen erst, wenn es darum geht, inwiefern ein Einfluss dieser europäischen Wissenschaftlichkeit in Spanien wünschenswert wäre.63

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José Ortega y Gasset: Unamuno y Europa, fábula, in: Ders.: Obras Completas I, S. 132. Vgl. dazu auch Julián Marías: Ortega. Circunstancia y vocación, Madrid: Revista de Occidente 1960. Marías ist der Meinung, die ganze Auseinandersetzung zwischen Unamuno und Ortega sei vor allem auf dessen Enttäuschung darüber zurückzuführen, dass Unamuno im Zusammenhang mit der Frage der Europäisierung seine Rolle als kritischer Intellektueller nicht ausgefüllt habe: «La raíz última del descontento que Ortega sintió pronto frente a Unamuno fue la creencia en que éste faltaba a lo que era su papel, su misión, su deber.» (S. 159). Zitiert nach José Ortega y Gasset: Unamuno y Europa, fábula, S. 129. Ebd. Nach José Luis Abellán ist Unamuno «un aspirante a místico» im Gegensatz zu Ortega, der ausdrücklich als Rationalist beschrieben wird (José Luis Abellán: El tema de España en Ortega y Unamuno, in: Asomante 17 (1961), S. 26–40, hier S. 32). Vgl. dazu auch Laureano Robles: Unamuno-Ortega: dos formas de ‹hacer España›, in: Insula 496 (Marzo 1988), S. 1 und S. 3–4. Vgl. dazu auch Vicente Cacho Viu: Unamuno y Ortega, in: Revista de Occidente 65

168

Vor allem in Ortegas Meditaciones del Quijote aus dem Jahr 1914 wird dessen Position in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich. Der Ausgangspunkt dieser neuerlichen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen Europas und der Rolle Spaniens darin ist dabei ein vermeintlicher Gegensatz, mit dem man laut Ortega immer wieder versucht habe, die europäische Wirklichkeit zu strukturieren: derjenige zwischen den «nieblas germánicas» auf der einen Seite und der «claridad latina» auf der anderen. Ortega zeigt dagegen, dass dieser angebliche Gegensatz keine Entsprechung in der europäischen Realität hat.64 Er ersetzt den Topos von den germanischen Nebeln und der romanisch-lateinischen Klarheit deshalb in der Folge durch den seiner Meinung nach tatsächlich existierenden Kontrast zwischen Tiefe und Oberfläche: Existe, efectivamente, una diferencia esencial entre la cultura germánica y la latina; aquélla es la cultura de las realidades profundas, y ésta es la cultura de las superficies.65

Beides, die Tiefe und die Oberfläche, sind nun für Ortega verschiedene Dimensionen der europäischen Kultur – einen Unterschied zwischen verschiedenen Bereichen in Bezug auf ihren jeweiligen Grad an «claridad» gebe es dagegen nicht. Statt von der vermeintlich klaren lateinischen Kultur spricht er deshalb von einer allgemeiner gefassten mittelmeerischen Kultur und begründet das damit, dass es für die europäische Geschichte keinen wesentlichen Unterschied gemacht hätte, wenn Karthago statt Rom den Sieg in den Punischen Kriegen davon getragen hätte: «La unidad del mar funda la identidad de las costas fronteras.»66 Dem Unterschied zwischen Tiefe und Oberfläche, den Ortega als den einzigen wirklichen Unterschied zwischen der germanischen und dieser mittelmeerischen Kultur gelten lassen möchte, entsprechen nun zwei unterschiedliche Typen von Menschen: «los meditatores y los sensuales».67 Die einen leben der tieferen Dimension der Dinge zugewandt, die anderen deren Oberfläche. Entsprechend erfassen beide ihre Wirklichkeit auf unterschiedliche Art und Weise, nämlich die einen mittels des «concepto», also des Begriffs, die anderen aber mittels der «impresión», des Eindrucks oder der Anschauung also.68 Mit Hilfe dieser einander immer

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(1986), S. 79–98, besonders S. 83. Cacho Viu spricht im Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle der Wissenschaft von der «cuestión de fondo», die Ortega und Unamuno auf unterschiedliche Art und Weise beantwortet hätten. Ähnlich argumentiert Ciriaco Morón Arroyo, der betont, es sei in der Debatte vor allem um die «dualidad razón y vida» gegangen (Ciriaco Morón Arroyo: Unamuno y Ortega y Gasset: las variedades de la razón, in: Cirilo Flórez Miguel (Hg.): Tu mano es mi destino. Actas del Congreso Internacional Miguel de Unamuno, Salamanca: Ed. Universidad de Salamanca 2000, S. 353–366, hier S. 354). José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, in: Ders.: Obras Completas I, S. 341. Ebd. Ebd., S. 343. Ebd., S. 349. Ebd., S. 353. Vgl. zu diesem Modell auch Ortegas Text Kant. Reflexiones de centenario 1724–1924, in dem er den Unterschied zwischen germanischem und mittelmeerischem Geist am Beispiel von Kant veranschaulicht (in: Obras Completas IV).

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entsprechenden Gegenüberstellungen, die das in seinen Augen unfruchtbare Bild von der lateinischen Klarheit und den germanischen Nebeln ersetzen sollen, gelangt Ortega zu dem Schluss, dass beide Seiten seines Schemas immer aufeinander angewiesen sind. Nur so könne eine vollständige Verwirklichung der europäischen Realität erreicht werden: Jamás nos dará el concepto lo que nos da la impresión, a saber: la carne de las cosas. […] Jamás nos dará la impresión lo que nos da el concepto, a saber: la forma, el sentido físico y moral de las cosas.69

In Bezug auf seine Vorstellung von Europa und Spanien bedeutet das einmal mehr, dass beide ohne einander nicht auskommen können. Ortegas binär strukturiertes Schema ist zunächst tatsächlich nur dies: ein Schema zur Veranschaulichung seiner Ideen. In der Praxis lässt sich die Trennung zwischen den jeweiligen Seiten dieses Schemas nicht so klar vollziehen, wie es Ortega in seinem gedanklichen Experiment für die Theorie vorführt. Das ist der Grund dafür, dass er, der sich seiner spanischen Herkunft wegen eigentlich der mittelmeerischen Kultur zugehörig fühlen sollte, dennoch von sich selbst erklären kann: Yo no soy sólo mediterráneo. No estoy dispuesto a confinarme en el rincón íbero de mí mismo. Necesito toda la herencia para que mi corazón no se sienta miserable. Toda la herencia y no sólo el haz de áureos reflejos que vierte el sol sobre la larga turquesa marina. […] ¿Quién ha puesto en mi pecho estas reminiscencias sonoras, donde […] perviven las voces íntimas que da el viento en los senos de las selvas germánicas?70

Tatsächlich ist das Gegensatzmodell also gar keines: Europa besteht zwar aus den zwei Seiten, aus den Sonnenreflexen über dem Meer und dem Wind in den nördlichen Wäldern, aus Oberfläche und Tiefe, Eindruck und Begriff. Nirgends ist jedoch eines dieser Elemente tatsächlich in Reinkultur verwirklicht – im Gegenteil: Europa ist gerade da, wo sich die verschiedenen Schichten am deutlichsten überlagern. Deshalb kann Ortega zum einen eine neue Annäherung an Europa versuchen, in der er dieses als eine Mischung aus mittelmeerischer und germanischer Kultur definiert: Europa comienza cuando los germanos entran plenamente en el organismo unitario del mundo histórico. […] Germanizadas Italia, Francia y España, la cultura mediterránea deja de ser una realidad pura y queda reducida a un más o menos de germanismo. Las rutas comerciales van desviándose del mar interior y transmigran lentamente hacia la tierra firme de Europa: los pensamientos nacidos en Grecia toman la vuelta de Germania.71

Zum anderen kann er aber aus demselben Grund für Spanien eine vollständigere Integration von beiden Bestandteilen der europäischen Kultur fordern:

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José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, S. 353. Interessant sind hier die Parallelen zwischen Ortegas Vorstellung von Begriff und Eindruck und der Argumentation von Rodolphe Gasché im Zusammenhang mit einem begrifflichen und einem figürlichen Verständnis von Europa. Ebd., S. 356. Ebd., S. 343.

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Representamos en el mapa moral de Europa el extremo predominio de la impresión. El concepto no ha sido nunca nuestro elemento. No hay duda que seríamos infieles a nuestro destino si abandonáramos la enérgica afirmación de impresionismo yacente en nuestro pasado. Yo no propongo ningún abandono, sino todo lo contrario: una integración.72

Nur dadurch, dass Spanien sich von einem starren Verständnis seiner eigenen Tradition löst, kann es also seine Dekadenz in Bezug auf Europa überwinden und zu einem integralen Bestandteil von diesem Europa werden: «Entonces, si hay entre nosotros coraje y genio, cabría hacer con toda pureza el nuevo ensayo español.»73 Die Meditaciones del Quijote stellen damit so etwas wie die Summe von Ortegas frühen Überlegungen zu Spaniens Rolle in Europa dar. Vor allem in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts knüpfen diese Überlegungen an diejenigen von Miguel de Unamuno an; sie überschreiten dessen Ideen aber insofern, als sie Europa von Anfang an bewusster als eine Gesamtheit wahrnehmen, zu der auch Spanien gehört. Für José Ortega y Gasset ist Europa niemals nur das ‹Andere›; es ist vielmehr die übergeordnete Größe, derer Spanien bedarf, um zu seiner eigentlichen Bestimmung zu finden. Umgekehrt braucht auch Europa Spanien und seine spezifische Form des Europäisch-Seins. So fasst Arturo Ardao zusammen: Por la europeización, una nueva España, y por la nueva España, una nueva Europa, revitalizada y rejuvenecida a su vez.74

Das spanische Problem, dessen Lösung Europa nach Ortega darstellen soll, ist deshalb kein rein spanisches Problem. Es ist ein Problem, das auf unterschiedliche Art und Weise alle europäischen Nationen betrifft – das Problem der Integration des jeweils Eigenen in die ihm übergeordnete Umgebung nämlich. In Spanien stellt sich dieses Problem nur akuter als in den anderen europäischen Ländern. Gerade in dieser Dringlichkeit liegt aber auch wieder die Chance begründet, die bei Ortega jedes Problem und jeder Schiffbruch bergen kann: Somos náufragos, somos náufragos, cada español es un náufrago por partida doble: todos los europeos somos náufragos, pero náufragos que nadan y los náufragos que nadan empiezan a moverse y empiezan a actuar, empiezan a nadar y empiezan a hacer cosas.75

3.3

Europa als Problem und die Einheit als Lösung

1921 veröffentlicht José Ortega y Gasset seinen Essay España invertebrada. Darin erörtert er aufs Neue das spanische Problem – allerdings mit einem anderen Fokus als in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Inzwischen steht weniger die Europäisierung Spaniens im Sinne einer Beeinflussung des Landes durch die europäische Wissenschaft im Vordergrund. Ortegas Anliegen ist zwar noch immer, wie er 1922

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Ebd., S. 359. Ebd., S. 363. Arturo Ardao: Los dos europeísmos de Ortega, in: Cuadernos Hispanoamericanos 135 (1984), S. 493–510, hier S. 498. José Ortega y Gasset, zitiert nach José María Beneyto: Tragedia y razón, S. 138.

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in seinem Vorwort zur zweiten Auflage des Buches hervorhebt, eine Analyse der «grave enfermedad que España sufre»,76 aber anders als bisher geht er davon aus, dass diese spanische Krankheit Symptome aufweise, wie sie eben nicht nur für Spanien kennzeichnend seien, sondern auch für alle anderen Nationen in Europa: Al analizar el estado de disolución a que ha venido la sociedad española, encontramos algunos síntomas e ingredientes que no son exclusivos de nuestro país, sino tendencias generales hoy en todas las naciones europeas.77

Das, was sich in einem europäischen Land zutrage, geschehe mit geringfügigen Modifikationen in aller Regel auch in den anderen Ländern, argumentiert Ortega. Das Prinzip, das er aus dieser Feststellung ableitet, wird deshalb in Zukunft seine Überlegungen zu Spanien und Europa insgesamt prägen: «Eadem sed aliter: las mismas cosas, sólo que de otra manera.»78 Entsprechend geht es in España invertebrada um mehr als nur um Spanien, auch wenn noch immer hauptsächlich von Spanien die Rede ist. Spanien ist das Beispiel, an Hand dessen Ortega seine Überlegungen ausführt – aber wenn man seinem Vorwort von 1922 Glauben schenken will, dann hätten diese Überlegungen ebenso gut auch an einem anderen Beispiel veranschaulicht werden können. Ortegas Argumentationsweise hat in der Zeit zwischen den Meditaciones del Quijote und España invertebrada deshalb eine Veränderung erfahren: Der Gegensatz von europäischer ciencia und spanischer inconciencia, der sein Werk in den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende geprägt hatte, scheint jetzt zugunsten einer integrativeren Sicht aufgelöst – Spanien ist wie der Rest von Europa ein Ort, an dem die europäische Kultur in ihrer Vielseitigkeit verwirklicht wird; wie der Rest von Europa befindet sich Spanien aber in einer Krise, die es zu analysieren und zu überwinden gilt. Das Konzept von der Integration Europas, das Ortega in seinen Meditaciones del Quijote entworfen hatte, bleibt zwar auch hier zentral, aber Europa selbst wird nicht mehr so unproblematisch beurteilt wie noch vor dem Krieg.79 Nachdem er sich in der ersten Phase seiner Auseinandersetzung mit Europa vor allem mit der Frage beschäftigt hatte, inwiefern Europa eine Lösung für die spanische Krise darstellen könne, konstatiert Ortega jetzt in einer zweiten Phase eine umfassendere Krise, die ganz Europa erfasst hat. Auch wenn dabei die Zäsur

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José Ortega y Gasset: España invertebrada, in: Ders.: Obras Completas III, S. 38. Ebd., S. 39. Ebd. Vgl. José María Beneyto: Tragedia y razón, S. 130. Vgl. zu dieser veränderten Wahrnehmung von Europa und der Beziehung Spaniens zu Europa auch den Prólogo para franceses zu La rebelión de las masas. Hier schreibt Ortega im Jahr 1937 über die Vergleichbarkeit der Situationen in ganz Europa: «Podía antes ventilarse la atmósfera confinada de un país abriendo las ventanas que dan sobre otro. Pero ahora no sirve de nada este expediente, porque en el otro país es la atmósfera tan irrespirable como en el propio.» (José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 116).

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des Ersten Weltkriegs sicher eine Rolle spielt,80 macht Ortega jedoch anders als andere zeitgenössische Denker (wie etwa Oswald Spengler) schnell deutlich, dass diese europaweite Verunsicherung nach dem Krieg für ihn kein Anlass dazu sein könne, sich die Rede vom ‹Untergang des Abendlandes› oder der europäischen Dekadenz zu eigen zu machen: «Europa puede padecer una crisis, pero no una decadencia.»81 Die Krise, in die der Kontinent in diesen Jahren geraten ist, mag zwar verunsichernd sein – aber sie bringt Europa auch voran. Wenn man deshalb in Analogie zu Ortegas Wort vom spanischen Problem und seiner europäischen Lösung aus den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende das Problem jetzt, in dieser zweiten Phase seines Denkens, in Europa selbst erkennen möchte, dann stellt sich die Frage, wie in diesem Fall die Lösung für das europäische Problem aussehen könnte. España invertebrada skizziert nun den Rahmen, innerhalb dessen das Problem erörtert werden kann. Dass Ortega sich dabei zwar einerseits noch auf eine Analyse von Spanien und der spanischen Gesellschaft beschränkt, dass er aber andererseits dennoch im Nachhinein betont, was er für Spanien sage, gelte auch für den Rest des Kontinents, kennzeichnet diesen Text als einen Übergang von der ersten, spanisch geprägten Phase seiner Überlegungen zu Europa hin zu jener zweiten, in der es um Europa als Ganzes geht. Mit La rebelión de las masas aus dem Jahr 1930 wird dieser Übergang dann vollständig vollzogen sein: Hier, in seinem vielleicht bekanntesten Werk, stellt Ortega die Fragen, die in España invertebrada noch auf der nationalen Ebene abgehandelt werden, auf einer übernationalen, europäischen Ebene.82 Schon España invertebrada macht aber deutlich genug, was für ihn in diesen Jahren zur Diskussion steht: Es geht vor allem um die Beziehung zwischen der Masse und den Minderheiten innerhalb einer Gesellschaft, und diese Beziehung dient Ortega als Indikator für den Zustand eines Volkes – oder später eben auch einer Einheit, die wie die europäische Gesellschaft die nationale Ebene überschreitet. Die Auflösung der spanischen Gesellschaft, die er konstatiert, ist

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«La Guerra Europea significó la escisión de Europa,» so beschreibt Julián Marías die Wirkung, die dieser Krieg auf Ortega gehabt habe (Julián Marías: Ortega. Las trayectorias, Madrid: Revista de Occidente 1983, S. 59). José María de Alejandro: Un ensayo filosófico sobre Europa, in: Letras de Deusto 13,26 (1983), S. 19–34, hier S. 23. Vgl. auch Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München: Deutscher Taschenbuchverlag 172006. Ortega betont immer, dass Spenglers Analyse zwar nicht falsch, aber auch nicht neu gewesen sei: «Las ideas de este autor, casi sin excepción, preexistían en el ambiente, aunque él haya sabido darles una expresión original, prominente y hasta un poco frenética.» (José Ortega y Gasset: Las Atlántidas, in: Ders.: Obras Completas III, S. 299). Vgl. auch Gian Paolo Prandstraller: Ortega y Gasset e il problema della decadenza dell’Occidente, in: Lorenzo Infantino/Luciano Pellicani (Hg.): Attualità di Ortega y Gasset, Firenze: Le Mounier 1984, S. 267–276. «Lo que es España invertebrada a escala nacional, lo es La rebelión de las masas para el continente europeo.» (Julián Marías: Ortega. Las trayectorias, S. 226).

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darauf zurückzuführen, dass in Spanien ein «imperio de las masas» verhindere, dass die Minderheit ihrer Führungsrolle gerecht werde.83 Cuando en una nación la masa se niega a ser masa – esto es, a seguir a la minoría directora –, la nación se deshace, la sociedad se desmembra, y sobreviene el caos social, la invertebración histórica.84

Die Führungspersönlichkeiten, an denen es Spanien gebricht, müssten von der Masse legitimiert werden; ihre Abwesenheit sei also ein Defekt dieser Masse. Das Beispiel der Minderheit könne nur dort wirksam werden, wo die Masse bereit sei, sich durch ein solches Beispiel auch tatsächlich beeinflussen zu lassen. Wenn dieser Zusammenhang gestört sei, dann komme es zu der Entwicklung, die Ortega im Titel seines Buches mit dem Bild von der «invertebración» bezeichnet hatte: Dann fehlt es dem sozialen Ganzen an Rückgrat.85 Ortegas Diagnose beschränkt sich nun keineswegs allein auf die spanische Gegenwart – im Gegenteil: Seiner Meinung nach könne man in Spanien vor allem deshalb nicht von Dekadenz sprechen, weil die Rede von der Dekadenz einen Zustand idealer Gesundheit voraussetzt, den es in Spanien überhaupt niemals gegeben habe: «Venimos, pues, a la conclusión de que la historia de España entera […] ha sido la historia de una decadencia.»86 Interessant sind in diesem Kontext deshalb besonders die zeitlichen Implikationen, die Ortegas gesellschaftstheoretischer Entwurf haben muss. So analysiert er mit Hilfe seines Konzepts von der Masse auf der einen und den Minderheiten auf der anderen Seite die spanische Entwicklung der letzten Jahrhunderte immer ausdrücklich mit Blick auf die Zukunft. Die Gegenwart stellt sich dabei als der Moment dar, in dem die Krise der Gesellschaft so augenfällig geworden ist, dass daraus nicht nur eine Interpretation der bisherigen, sondern auch ein Modell für die zukünftige Entwicklung abgeleitet werden kann. Dieser Blick auf die Zukunft bezieht nun außerdem explizit den europäischen Kontext Spaniens mit ein: In ganz Europa sei die Moderne an ein Ende gekommen, und die bisher gültigen intellektuellen und moralischen Prinzipien müssten deshalb überdacht und erneuert werden. Todo anuncia que la llamada ‹Edad Moderna› toca a su fin. Pronto un nuevo clima histórico comenzará a nutrir los destinos humanos. Por dondequiera aparecen ya las avanzadas del tiempo nuevo. Otros principios intelectuales […] inician su imperio sobre la vida humana, por lo menos sobre la vida europea.87

Dass Spanien aufgrund seiner spezifischen Geschichte diese Prinzipien modernen Lebens – Ortega führt als Beispiele Rationalismus, Industrialismus, Kapitalismus und Demokratie an – überhaupt niemals vollständig aufgegriffen und angenommen habe, sei nicht unbedingt ein Nachteil. Gerade weil der Umbruch, von dem

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José Ortega y Gasset: España invertebrada, S. 95. Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 107. Ebd., S. 118. Ebd., S. 123.

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hier die Rede ist, in ganz Europa stattfindet, ist der Zeitpunkt für Veränderungen in Spanien günstig. Für Ortega liegt hier einmal mehr in der Krisensituation auch eine Chance – in diesem Falle die Chance, fehlgehende oder fehlgegangene Entwicklungen auf der nationalen im Einklang mit einer übernationalen Ebene zu korrigieren. Zuallererst müsse das in Spanien in Bezug auf die Übermacht der Massen und das Fehlen von fähigen Minderheiten geschehen: Si España quiere resucitar es preciso que se apodere de ella un formidable apetito de todas las perfecciones. La gran desdicha de la historia española ha sido la carencia de minorias egregias y el imperio imperturbado de las masas. Por lo mismo, de hoy en adelante, un imperativo debiera gobernar los espíritus y orientar las voluntades: el imperativo de selección.88

Wie diese Selektion vonstatten gehen soll, lässt Ortega offen. In seinem ein Jahr später entstandenen Vorwort zur zweiten Auflage von España invertebrada deutet er jedoch mit dem Hinweis auf den krisenhaften Zustand von ganz Europa bereits die Richtung an, in der sich seine Ideen in den kommenden Jahren entwickeln werden. Er schreibt hier, er sei davon überzeugt, dass die einzelnen Länder Europas gegenwärtig den schwierigsten Augenblick ihrer ganzen bisherigen Geschichte durchlebten,89 und bezieht sich damit ausdrücklich nicht allein auf die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs: La crisis de la vida europea labora en tan hondas capas del alma continental, que no puede llegar a ellas guerra ninguna, y la más gigantesca o frenética se limita a resbalar tangenteando la profunda víscera enferma. La crisis a que aludo se había iniciado con anterioridad a la guerra, no pocas cabezas claras del continente tenían ya noticia de ella. La conflagración no ha hecho más que acelerar el crítico proceso y ponerlo de manifiesto ante los menos avizores.90

Der Krieg hat die Krise nicht heraufbeschworen, er hat sie allenfalls sichtbar gemacht. Auch wenn es in der Folge vor allem um die überfällige Erneuerung des Kontinents in der Nachkriegszeit geht, so argumentiert Ortega doch weiter im Sinne dieser These von der tiefergehenden Verunsicherung Europas: Nicht an der Reorganisation nach dem Krieg scheitere Europa, sondern daran, dass es sich eine solche Reorganisation nicht einmal vornehme. In ganz Europa fehle die Hoffnung auf die Zukunft: «En Europa hoy no se desea.»91 Die Analyse der spanischen Realität, die Ortega in España invertebrada unternimmt, kann also durchaus auch in ihrer zeitlichen Dimension als beispielhaft für ganz Europa gelesen werden. Es geht ihm immer darum, dass eine Gemeinschaft – ob auf der nationalen oder der übernationalen Ebene – ein auf die Zukunft gerichtetes Projekt sein muss. Wenn diese Orientierung an der gemeinsamen Zukunft fehlt, dann gerät die ganze Gemeinschaft in die Krise. Der Aufforderung zu

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Ebd., S. 128. Vgl. ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 41.

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einer bewussteren Selektion zwischen Masse und Minderheit, mit der Ortega seine Analyse der spanischen Realität beschließt, entspricht daher auf der europäischen Ebene die Aufforderung, an der Einheit des Kontinents zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund erweist sich das, was er später als den «Aufstand der Massen» bezeichnen wird, als notwendige Etappe auf dem Weg hin zur europäischen Einheit: La exaltación de las masas nacionales y de las masas obreras […] era la vuelta que ineludiblemente tenía que tomar la realidad histórica para hacer posible el auténtico futuro, que es, en una u otra forma, la unidad de Europa.92

Diese Aufgabe der europäischen Einheit ist, ausgehend von España invertebrada, das Ziel aller Überlegungen Ortegas zu Europa aus der zweiten Hälfte seines Lebens. Die Arbeit an der europäischen Einheit stellt dabei für den Kontinent eines jener gemeinsamen und auf die Zukunft hin gerichteten Projekte dar, von denen er zuvor gesagt hatte, dass jede Gemeinschaft ihrer essentiell bedürfe. Auch hier funktioniert seine Argumentation also entsprechend dem Modell von der positiven Kraft des Schiffbruchs, das all seinen Untersuchungen von historischen Krisen letztlich zugrunde liegt: Aus der krisenhaften Schiffbruchssituation erwächst überhaupt erst die Notwendigkeit von Bewegung und insofern die Möglichkeit einer Fortentwicklung. Übertragen auf die Situation der europäischen Nationen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg besagt dieses Modell, dass der Schiffbruch der einzelnen Nationen im Aufstand der Massen der gemeinsamen Rettung durch die Selektion von Masse und Minderheit und durch den engeren Zusammenschluss zur europäischen Einheit vorausgehen muss. Dennoch birgt die Situation Gefahren, deren sich auch Ortega selbst bewusst ist. Zwei Jahre nach España invertebrada beschreibt er in Las Atlántidas eine Entwicklung der europäischen Befindlichkeit, die er sich selbst nur als ein Ausweichen vor der Auseinandersetzung mit der problematischen Gegenwart des Kontinents erklären kann. So stellt er ein exponentiell gestiegenes Interesse der Europäer an längst vergangenen Epochen und untergegangenen Kulturen fest, das ihre Bereitschaft, sich mit den aktuellen Problemen Europas zu beschäftigen, bei weitem übersteige. Diese Flucht in die Vergangenheit – in die Tiefen des untergegangenen Atlantis, wie Ortega es bildhaft beschreibt – kommt seiner Meinung nach einer Realitätsverweigerung gleich. So wie Miguel de Unamuno auf Fuerteventura die Spuren von Atlantis gefunden und die Insel so zum literarischen Raum schlechthin entworfen hatte, so wird die untergegangene Inselgruppe bei Ortega zum Modell für jenen Raum, der seinen Zeitgenossen als mythischer Gegenpol zur Aktualität dient. In Ortegas Argumentation wäre Atlantis dabei allerdings der falsche Ausweg aus dem Schiffbruch, den die Aktualität darstellt: Me interesa sobre todo, como síntoma de la actual sensibilidad europea, que mientras en la superficie parece muy preocupada por la liquidación de la guerra, en su fondo secreto se dispone a aparejar hacia Atlántidas, a huir del presente y refugiarse no se sabe bien donde – en lejanías, en profundidades, en ausencias. Vivimos una hora muy característica

92

Ebd., S. 44.

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de transición espiritual, y aún son pocos los que han llegado a tierra nueva y estadiza. Los demás viven en fuga sentimental, dispuestos a ausentarse de lo que constituye la forma ya caduca, pero aún vigente, de la existencia europea.93

Hier überlagern sich die Bilder: Auf der einen Seite das mythische Atlantis, auf der anderen der Schiffbruch und die sich daran anschließende Suche nach einem festem Boden unter den Füßen. Atlantis kann für Ortega kein solcher fester Boden sein – diesen kann nur erreichen, wer sich auf die konkrete Auseinandersetzung mit der in zahlreichen Veränderungen begriffenen europäischen Wirklichkeit einlässt. Das ist allerdings auch in der Beschäftigung mit dem Fremden und dem Außerhalbliegenden möglich, sofern sie bewusst geschieht. So räumt Ortega ein, dass die neue Orientierung an ethnologischen und frühgeschichtlichen Fragestellungen den europäischen Horizont auch entscheidend erweitert habe. Sie habe die in Europa bisher ausschließlich auf Europa beschränkte und insofern normative Vorstellung von Kultur durch ein offeneres und pluraleres Verständnis ersetzt. Europäer ist für Ortega in diesem Zusammenhang, wer neben seiner eigenen auch fremde Kulturen anerkennt. Es ist an dieser Stelle also wieder die Kultur, die Europa definieren hilft und die es erst zu dem macht, was es ist – auch wenn sich im Vergleich zu Ortegas früheren Annäherungen an das Thema der Schwerpunkt ein wenig verschoben hat: Die Kultur erscheint jetzt vor allem an das historische Bewusstsein gebunden und gerade dadurch beweglich. Von Leo Frobenius übernimmt Ortega in diesem Zusammenhang das Prinzip von den ‹Kulturkreisen›, in dem Kulturen als selbständige und eben nicht vom Menschen geschaffene Organismen fungieren. Ausgehend von diesem Modell kann er erklären, dass und inwiefern jede Kultur jeweils in ihren einzelnen historischen Realisierungen zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise begründet Ortega seine These von der neuen pluralisierten Wahrnehmung von Kultur in Europa: El objeto, el individuo histórico, sería, pues, la cultura. Usos, trebejos, formas jurídicas, nociones religiosas son articulaciones de esa cultura. […] Las culturas aparecen así como organismos, esto es, como unidades suficientes.94

Hatte die europäische Geschichtswissenschaft jahrhundertelang nur europäische Geschichte betrieben, so sieht Ortega jetzt den Augenblick für eine Erweiterung der Fragestellungen über Europa hinaus gekommen.95 Mit seinem ausdrücklichen Hinweis auf den umfassenden Charakter der Geschichte geht es ihm im Einklang

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José Ortega y Gasset: Las Atlántidas, in: Ders.: Obras Completas III, S. 289. Ebd., S. 299. Ortega betont allerdings auch seine Bedenken gegenüber dem Absolutheitsanspruch des Modells von Frobenius, vgl. S. 302. Vgl. auch Leo Frobenius: Paideuma. Umrisse einer Kultur und Seelenlehre, Düsseldorf: Diederichs 31953. Vgl. José Ortega y Gasset: Las Atlántidas, S. 306. Hier heißt es ausdrücklich: «Tal vez uno de los hechos más característicos de la época que ahora vivimos es el despertar de la sensibilidad europea, hasta ahora reclusa en su sueño ‹provincial›, a un horizonte de radio mucho más vasto y más ‹universal›.»

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mit seiner Vorstellung von der das menschliche Leben bestimmenden «circunstancia» auch darum, den Gedanken der kulturellen Einheit Europas zu betonen: La historia, en cuanto intención, es siempre universal. […] El acto más nimio, el que se refiere al objeto más próximo nace ya localizado en una perspectiva universal. De modo que la configuración de nuestro horizonte viene a ser como un molde cuya forma se imprime en todos nuestros movimientos, pasiones e ideas. Y viceversa el síntoma más hondo de una grave transformación histórica será el cambio de la configuración del horizonte étnico, su contracción o su dilatación.96

In Spanien, das führt Ortega als Beispiel für seine These an, habe sich seit dem 18. Jahrhundert dieser kulturelle Horizont beständig verengt und erst seit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zumindest für «bestimmte Minderheiten»– gemeint sind die proeuropäischen Intellektuellen – wieder erweitert. Wenn sich nun gegenwärtig das historische Interesse Europas auf das Fernliegende und Fremde verlagert, dann muss in seiner Argumentation auch diese Ausdehnung der Perspektive mit einer solch schwerwiegenden «transformación histórica» einhergehen, wie sie die spanische Entwicklung bereits vorgezeichnet hat. Vor diesem Hintergrund erscheint das anfänglich mit gewisser Irritation wahrgenommene Interesse der Europäer für abgelegene Kulturen und längst vergangene Epochen in einem anderen Licht – als eine gigantische Entfaltung des historischen Horizontes nämlich, die die bislang rein europäische Perspektive auf die Dinge in eine Vielzahl von Perspektiven aufzusplittern imstande ist.97 Diese Akzeptanz auch von Diskontinuitäten im Verlauf der Geschichte erscheint bei Ortega als wesentliche Voraussetzung für das Verständnis der Gegenwart, und sie wird von ihm insofern als ein Fortschritt im historischen Bewusstsein Europas bewertet. Die intellektuelle Krise Europas, die zunächst scheinbar nur Fluchtbewegungen hervorzubringen schien, avanciert so zum Ursprung einer neuen Denkweise, die gerade in der Beschäftigung mit der Geschichte eine Möglichkeit findet, sich von historischen Beschränkungen freizumachen: Verosímilmente hallaremos que cada cultura ha gozado de una genialidad sobresaliente para algún tema vital. Y entonces, de esa gigantesca inducción histórica que estas páginas postulan y anuncian, nacerá un nuevo clasicismo, muy diverso del que se arrastra estéril sobre el pensamiento moderno, un clasicismo verdaderamente ecuménico de radio planetario.98

Die geschichtsphilosophische Perspektive von Las Atlántidas geht in ihrem universalen Anspruch über Europa hinaus. Dennoch ist diese Europa transzendierende Sicht der Dinge unabdingbar gerade auch für ein Verständnis des Kontinents selbst. Ortega entwirft in Las Atlántidas ein Modell zur Erklärung von historischen Prozessen, das ausgehend von einer konkreten Beobachtung – der Verlagerung

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Ebd., S. 305. Vgl. ebd., S. 307. Interessant mag hier der Verweis auf den bereits zitierten Text von Ortega erscheinen, in dem es heißt, Europa sei «un punto de vista» (vgl. José Ortega y Gasset: España como posibilidad, S. 138). José Ortega y Gasset: Las Atlántidas, S. 312.

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des Interesses vieler Europäer auf die ferne Vergangenheit – bestimmte Gesetzmäßigkeiten im Verlauf der Geschichte aufzeigen und einordnen hilft. So ist es ausgerechnet diese Bewegung der europäischen Geschichtswissenschaft weg von Europa, die die europäischen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit aufdeckt und in einen größeren Zusammenhang stellt.99 Ortegas Bewusstsein für die problematische Verfassung Europas kann auf diese Art und Weise nur geschärft werden, und sein Plädoyer für die Pluralität der Kulturen entbindet ihn nicht von seiner Sorge um die europäische Kultur. Zentral ist dabei immer seine Wahrnehmung des ganzen Kontinents als ein Raum, der denselben Gesetzmäßigkeiten und insofern auch denselben Schwierigkeiten unterworfen ist. Der Zustand und die Besonderheiten Spaniens spielen bei der Untersuchung dieser Gesetzmäßigkeiten immer weniger eine Rolle, immer mehr sind es gesamteuropäische Phänomene, die in den Fokus von Ortegas Interesse rücken. Exemplarisch ist hier neben La rebelión de las masas aus dem Jahr 1930 auch die Berliner Rede De Europa meditatio quaedam von 1949. Der gemeinsame Ausgangspunkt beider Texte ist die Annahme, dass Europa schon immer – und auch im Zeitalter der Nationalismen – einen kollektiven historischen und sozialen Bezugsrahmen für alle europäischen Nationen dargestellt habe, und dass eine europäische Wirklichkeit insofern nicht geschaffen, sondern allenfalls bewusst gemacht und institutionalisiert werden müsse. La unidad de Europa no es una fantasía, sino que es la realidad misma, y la fantasía es precisamente lo otro: la creencia de que Francia, Alemania, Italia o España son realidades sustantivas e independientes.100

Europa wird in La rebelión de las masas als eine natürliche Einheit beschrieben, deren Existenz allerdings durch die gegenwärtige Krise des Kontinents insofern bedroht ist, als diese Krise den Reichtum und die Vielfalt der europäischen Kultur in Frage stellt. Ortegas soziokulturelle Analyse aus España invertebrada wird hier auf den europäischen Rahmen übertragen: Nicht nur Spanien, sondern ganz Europa ist von dem Aufstand der Massen bedroht, auf den Ortega mit dem Titel seines Buches anspielt. Dieser Aufstand manifestiert sich dadurch, dass der moderne Massenmensch sich selbst an die Stelle der ausgewählten Minderheit setzt und damit in jeder Beziehung eine Nivellierung der Kultur erreicht: «A él se debe el triste aspecto de asfixiante monotonía que va tomando la vida en todo el continente.»101 Aus der Psychologie dieses «hombre-masa» erklärt Ortega die Gefahren, denen die europäische Gesellschaft ausgesetzt ist: Soziale Phänomene wie die Unfähigkeit

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Zu Ortegas Interesse an der Geschichtsphilosophie vgl. Arturo Ardao: Los dos europeísmos de Ortega, in: Cuadernos Hispanoamericanos 135 (1984), S. 493–510, hier vor allem S. 500. José Ortega y Gasset: Prólogo para franceses, in: Ders:. La rebelión de las masas, S. 120. In De Europa meditatio quaedam zitiert sich Ortega selbst, indem er diesen Passus beinahe wörtlich übernimmt. Vgl. José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 295. José Ortega y Gasset: Prólogo para franceses, S. 121.

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der Massen, sich führen zu lassen;102 kulturelle Phänomene wie die Stagnation der europäischen Zivilisation durch die zunehmende Spezialisierung der Wissenschaft und den dadurch bedingten Verlust der «interpretación integral del universo»;103 aber auch politische Phänomene wie das Aufkommen von Bolschewismus und Faschismus, die Ortega als «dos claros ejemplos de regresión sustancial» bezeichnet.104 Ortega stellt einen Autoritätsverlust Europas in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fest, der sich durch all diese Beobachtungen zwar erklären lässt, der aber dadurch nicht weniger virulent wird: Wenn Europa für die Ausübung von Autorität nicht mehr zur Verfügung steht, dann muss es zu einem Machtvakuum in der Welt kommen. Die «mandamientos europeos» haben an Einfluss verloren, aber noch ist nicht absehbar, dass sie durch andere ersetzt werden könnten.105 Die Institutionalisierung der europäischen Einheit ist für Ortega deshalb die einzige Möglichkeit, diese Entwicklung aufzuhalten – nur eine solche auch formal gewährleistete Gemeinschaft könnte die Vielfalt in der Einheit erhalten, die Ortega am Anfang seines Textes als charakteristisch für Europa beschworen hatte. «Europa es, en efecto, enjambre: muchas abejas y un solo vuelo», hatte es da geheißen,106 und Ortega plädiert nicht zuletzt um dieses Bildes und seiner Botschaft willen ausdrücklich für eine auch politische Einigung Europas. Gerade aus der sozialen, kulturellen und politischen Krise heraus erwächst die Möglichkeit, eine solche gemeinschaftliche Entwicklung Europas voranzutreiben: ¿Es tan cierto como se dice que Europa esté en decadencia y resigne el mando, abdique? ¿No será esta aparente decadencia la crisis bienhechora que permita a Europa ser literalmente Europa? La evidente decadencia de las naciones europeas, ¿no era a priori necesaria si algún día habían de ser posibles los Estados Unidos de Europa, la pluralidad europea sustituída por su formal unidad?107

Jahre später, nach dem Spanischen Bürgerkrieg, nach Ortegas Exil während dieses Bürgerkriegs und dem Zweiten Weltkrieg, wird seine Argumentation noch dieselbe sein: Auch 1949, in seiner Rede im zerstörten Berlin, wird die Diagnose einer europäischen Krise und das Gefühl des Schiffbruchs, das aus dieser Krise resultiert, zum Anlass für die Forderung, die de facto bereits seit Jahrhunderten existierende europäische Gemeinschaft endlich zu institutionalisieren. Zukunft und Vergangenheit des Kontinents greifen ineinander, wenn Ortega sagt: «Lejos de ser

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Vgl. José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 184. Ebd., S. 217–219. Ebd., S. 204. Genauso argumentiert Ortega in seinem Text Intimidades, in dem er in der Geschichtsvergessenheit eine der größten Gefahren für Europa sieht: Bolschewismus und Faschismus seien Beispiele für solche politischen Primitivismen. Vgl. José Ortega y Gasset: Intimidades, in: Ders.: Obras Completas II, Madrid: Revista de Occidente 41957, S. 647–649. José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 239. José Ortega y Gasset: Prólogo para franceses, S. 120. Im Wortlaut findet sich die Formulierung auch in De Europa meditatio quaedam, vgl. José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 296. José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 241–242.

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la unidad europea mero programa político para el inmediato porvenir, es el único principio metódico para entender el pasado de Occidente.»108 Die Idee, die Ortega zu Anfang des Jahrhunderts von Europa hatte und die sich in der knappen Definition «Europa = ciencia» ausdrückte, ist in der Zwischenzeit komplexer geworden. Die Wissenschaft spielt zwar noch immer eine wichtige Rolle,109 aber Ortegas Bild von einem sich kulturell definierenden Europa ist inzwischen durch die Orientierung auf eine institutionell verankerte gemeinsame Zukunft hin entscheidend erweitert worden. Die Vorstellung, dass das als Ausweg aus der Krise sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg entworfene Projekt von der europäischen Gemeinschaft auf eine schon existierende (wenn auch oft unbewusste) Einheit zurückgreifen kann, ist dabei von besonderem Interesse. Ortegas Bild von Europa ist in diesem Zusammenhang ein doppeltes: Das Europa, das auf den ersten Blick in einzelne sehr unterschiedliche Nationen aufgespalten zu sein scheint, erweist sich auf den zweiten Blick als einheitlich gerade im Zusammenleben dieser Nationen. In der Pendelbewegung zwischen der Enge des täglichen Lebens in seinen nationalen Kontexten und der Weite der daneben immer gültig gebliebenen europäischen Techniken, Normen, Ideen und Geschichten stellt sich Europa als ebenso beweglich wie letztlich unaufkündbar dar. Diese Vorstellung von einer gewissermaßen ‹dualen› Lebenswirklichkeit in Europa, einer nationalen und einer übernationalen, findet ihre Entsprechung abermals in Ortegas Philosophie von der «circunstancia», also der Umgebung, die jedes Leben unmittelbar mit bestimmt: Para estos pueblos llamados europeos vivir ha sido siempre […] moverse y actuar en un espacio o ámbito común. Es decir, que para cada uno vivir era convivir con los demás.110

Im Zusammenhang mit der Frage, wie dieses Zusammenleben mit den anderen nun organisiert sein soll, wendet sich Ortega in der Zwischenkriegszeit ausdrücklich gegen den zeitgenössischen Internationalismus, weil er eine Auflösung der einzelnen europäischen Nationen in einem nur diffusen größeren Ganzen befürchtet. Eine solche Auflösung würde aber seiner eigenen Vorstellung von der Einheit in der historisch gewachsenen Vielfalt radikal entgegenstehen: Esta idea europea es de signo inverso a aquel abstruso internacionalismo. Europa no es, no será, la inter-nación, porque eso significa, en claras nociones de historia, un hueco, un vacío y nada. Europa será la ultra-nación.111

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José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 258. Das wird nicht zuletzt in dem Text Misión de la universidad von 1930 deutlich, in dem Ortega der europäischen Universität die Aufgabe zuspricht, aus der Zerstückelung der sich immer weiter ausdifferenzierenden einzelnen Disziplinen heraus wieder für die «unidad vital del hombre europeo» zu sorgen. Vgl. José Ortega y Gasset: Misión de la universidad, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 325. José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 256. José Ortega y Gasset: En cuanto al pacifismo, in: Ders.: Obras Completas IV, S. 309.

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Dem politischen Internationalismus zieht Ortega deshalb den intellektuellen Kosmopolitismus vor. Diesem sei die Gefahr der ahistorischen Auflösung der europäischen Nationen in einem nur verschwommenen Zusammenschluss bewusst, und er wisse sie gerade deshalb zu vermeiden. Vor allem auf der Ebene des Austauschs zwischen europäischen – und auch amerikanischen – Intellektuellen existiere eine solche sich geistig definierende Gemeinschaft bereits.112 Auch wenn Ortega für den Fortbestand der einzelnen europäischen Nationen plädiert und ihr Zusammenleben durch eine «nueva técnica de trato entre los pueblos» geregelt wissen will,113 so erklärt er doch an keiner Stelle wirklich, wie er sich die konkrete Ausgestaltung dieses europäischen Zusammenlebens in politischer Hinsicht vorstellt. Seine Äußerungen im Zusammenhang mit der Frage nach Kosmopolitismus oder Internationalismus sind insofern bezeichnend. Sie machen deutlich, wie sehr Europa für Ortega letztlich auch in seinen politischen Forderungen ein kulturell definierter Raum bleibt: Trotz der optimistischen Grundannahme von der unhintergehbaren Realität einer immer schon existierenden europäischen Gesellschaft finden seine Ideen ja bislang ausdrücklich nur auf der intellektuellen und kulturellen Ebene Verwirklichung. Die politische erscheint dagegen vor allem in ihrer Form des zeitgenössischen Internationalismus weniger erfolgreich und zweitrangig: «El cosmopolitismo intelectual se afirma sobre la tierra, en significativo contraste con el fracaso del internacionalismo político.»114 Aus diesem Grund spielt für Ortegas Konzeption von Europa auch die Figur des europäischen Intellektuellen eine Schlüsselrolle. Der Intellektuelle ist innerhalb Europas dadurch für das Bewusstsein des Kontinents von sich selbst verantwortlich, dass er dessen historische Entwicklungen definiert und einordnet. Ortega räumt zwar ein, dass die Intellektuellen den Gang der Dinge auf diese Weise nicht unbedingt beeinflussen können; aber dennoch sei ihre Reflexion unabdingbar für die Gemeinschaft: «Es una función, como la vitamínica, de escaso valor cuantitativo, pero sin la cual el organismo no puede vivir.»115 Wenn die Intellektuellen ihrer Aufgabe in bestimmten Krisensituationen nicht nachkämen, dann würde die Krise durch die entstehende Unklarheit noch verschärft. Die Aufgabe der europäischen Intellektuellen ist es, Licht in das Dunkel der Geschichte und der Geschehnisse des Lebens zu bringen – Ortega spricht tatsächlich wörtlich von der Dunkelheit, die entstehe, wenn die Intellektuellen bei dieser Aufgabe versagten.116 An anderer Stelle setzt er die Metapher vom Licht und der

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Vgl. José Ortega y Gasset: Cosmopolitismo, in: Ders.: Obras Completas IV. Diese gegen den zeitgenössischen Internationalismus gerichtete Vorstellung von einer in der intellektuellen Gemeinschaft bereits realisierten Einheit Europas deckt sich nicht umsonst mit den Überlegungen von Ernst Robert Curtius in Bezug auf Europa als eine république des lettres (vgl. Kapitel 1.2 Kultur und Politik: Der geistige Raum Europa). José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 313. José Ortega y Gasset: Cosmopolitismo, S. 487. José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 248. Vgl. ebd.

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Dunkelheit noch ausdrücklicher in Verbindung zu seinem Verständnis von Kultur, wenn er schreibt: Toda labor de cultura es interpretación – esclarecimiento, explicación o exégesis – de la vida. […] El hombre tiene una misión de claridad sobre la tierra.117

Diese Interpretation der Kultur im wörtlichen Sinne von Aufklärung steht immer im Einklang mit Ortegas Bild von Europa als sich kulturell definierendem Raum. Europa ist der Ort, an dem diese Aufklärung stattzufinden hat, und nur so ist auch sein Appell zur europäischen Einheit zu verstehen: Eine europäische Einigung auch auf politischer Ebene würde insbesondere die aufklärerische Mission des europäischen Intellektuellen begünstigen – denn diese Mission kann für Ortega eben nicht vor den Grenzen eines Nationalstaates haltmachen.118 In ihrer Betonung der Kultur als entscheidendes Merkmal für Europa und das europäische Zusammenleben treffen die beiden einander ablösenden Annäherungen Ortegas an den Kontinent zusammen. Hatte er in seiner ersten Phase die Kultur in Form der europäischen Wissenschaft als Heilmittel gegen die spanische Krise empfohlen, so gilt seine Aufmerksamkeit in der zweiten Phase den möglichen Formen der Verwirklichung dieser europäischen Kultur selbst. Die institutionalisierte Einheit Europas, die Ortega ausgehend von seiner Vorstellung einer in kultureller Hinsicht immer schon vorhandenen Einheit fordert, soll auf einer eher pragmatischen Ebene die Voraussetzungen für ein Fortleben dieser Kultur schaffen. Dass diese Kultur immer auch in Relation zu Ortegas Begriff vom menschlichen Leben zu sehen ist – Kultur ist Reflexion auf das Leben, das sie zu erhellen versucht – stellt dabei wieder eine Verbindung zu der Metapher vom Schiffbruch her. Nicht umsonst trägt Ortegas letzter großer Text, der sich ausdrücklich mit der Frage nach Europa beschäftigt, den Titel De Europa meditatio quaedam. Die Meditation, die Ortega bereits in seinen Meditaciones del Quijote als eine Form der geistigen Annäherung an die Wirklichkeit in Ergänzung zu ihrer sinnlichen Anschauung beschrieben hatte,119 ist dabei diejenige intellektuelle Bewegung, die dem Gegenstand vielleicht am ehesten angemessen ist: La meditación es el movimiento en que abandonamos las superficies, como costas de tierra firme, y nos sentimos lanzados a un elemento más tenue, donde no hay puntos materiales de apoyo.120

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José Ortega y Gasset: Prólogo para alemanes, S. 45. Vgl. dazu José Ortega y Gasset: En cuanto al pacifismo, S. 300. Vgl. José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, S. 349. Vgl. dazu auch Kapitel 3.2 Spanien als Problem und Europa als Lösung. José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, S. 340.

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3.4

Europa: Ein Versuch

Die Vorstellung von der Meditation als einer Bewegung hinaus aufs offene Meer, hin zu einem Zustand, der demjenigen des Schiffbruchs nicht unähnlich ist, verweist auf das schöpferische Potential dieser Form des Denkens und Schreibens. Gerade auch in seinen Meditationen, die er ausdrücklich als «salvaciones» bezeichnet,121 gilt es für Ortega, kreativ auf eine vorgegebene Situation zu reagieren. Eine solche «meditación-salvación» sollte in seinem Verständnis bestrebt sein, den Dingen des Lebens, die sie zufällig und immer ungeordnet vorfindet, doch einen festen Platz zuzuweisen und ihnen dadurch überhaupt erst Bedeutung zuzuschreiben: Se busca en ellos [in den Essays aus den Meditaciones del Quijote] lo siguiente: […] Colocar las materias de todo orden, que la vida, en su resaca perenne, arroja a nuestros pies como restos inhábiles de un naufragio, en postura tal que dé en ellos el sol innumerables reverberaciones.122

Dass Ortegas Meditationen – die Meditaciones del Quijote ebenso wie die meisten anderen Texte, in denen er sich mit Europa beschäftigt – nun formal in der Gestalt von Essays auftreten, lenkt den Blick auf die Frage nach der Beziehung zwischen dieser Gattung und dem Thema Europa: Immer wieder – und nicht nur bei Ortega, sondern auch etwa bei Ernst Robert Curtius, Miguel de Unamuno oder auch Heinrich Mann – scheint der Essay die diesem Thema am besten entsprechende Gattung zu sein; immer wieder wird die Frage nach Europa in der europäischen Literatur in Essays verhandelt. In seinen Meditaciones del Quijote hatte Ortega eine deutliche Unterscheidung zwischen den «meditadores» mit ihrer Vorliebe für klare Begriffe auf der einen und den «sensuales» und ihrer Neigung zum weniger trennscharfen Eindruck auf der anderen Seite eingeführt.123 Dennoch ist in denselben Essays – und auch in der zitierten Passage über die Brandung des Lebens und die von ihr angeschwemmten Reste des Schiffbruchs – vor allem die bildhafte Sprache auffällig, deren sich Ortega für seine eigenen Meditationen bedient: Diese Meditationen zeichnen sich, anders als es die Unterscheidung von «meditadores» und «sensuales» vermuten lässt, gerade nicht durch eine klar begriffliche Annäherung an ihr Thema aus. Diese Auflösung der Grenzen zwischen Begriff und Eindruck, mit der so am Anfang der Meditaciones del Quijote gerade diejenigen Thesen unterlaufen zu werden scheinen, deren Untermauerung sich derselbe Text in der Folge doch verschrieben hat, funktioniert vor allem über das metaphorische Sprechen. Die Metapher vom Schiffbruch selbst ist es, die Ortegas Modell von der eindeutigen Unterscheidung zwischen einem Denken in Begriffen auf der einen und einem in Eindrücken auf der anderen Seite in Frage stellt. Die Metapher bewegt sich beständig zwischen beiden

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Ebd., S. 311. Ebd. Vgl. auch dazu Kapitel 3.2 Spanien als Problem und Europa als Lösung.

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Bereichen und macht eine endgültige Trennung damit unmöglich: «La metáfora se situaría a caballo entre el concepto y la visión,»124 stellt Ricardo Tejada fest. Diese Position der Metapher auf halbem Weg zwischen einem klar begrifflichen und einem eher figurativen Denken mag zwar in einem Diskurs mit philosophischem Anspruch immer auch prekär erscheinen – aber dennoch ermöglicht sie es gerade im Falle von Ortegas Auseinandersetzung mit Europa, die besondere Relevanz seiner Schiffbruchsmetapher für ein Verständnis des Europäischen als Pendelbewegung zwischen Begriff und Figur im Sinne von Rodolphe Gasché zu verstehen.125 Die fehlende Stabilität der Metapher im allgemeinen wird in der besonderen Metapher vom Schiffbruch exemplarisch vor Augen geführt: Im Schiffbruch verliert der Schiffbrüchige nicht zuletzt auch den festen Boden des klar vom figurativen geschiedenen begrifflichen Denkens unter den Füßen. Dafür gewinnt er aber durch die aus dem metaphorischen Schiffbruch resultierenden Schwimmbewegungen schließlich auch neue Möglichkeiten des Denkens – und Schreibens – hinzu: La valeur de la métaphore du naufrage tient à toute sa richesse formelle et productive: non seulement elle est un agencement cohérent d’images et de concepts associés, mais elle apporte un germe narratif et un levier pour l’action.126

Ortegas Annäherungen an Europa funktionieren nun in diesem Sinne nicht allein auf einer abstrakten Ebene, sondern sie greifen immer wieder auch auf ein Bezugssystem tiefer liegender bildhafter Modelle zurück. Das deutet darauf hin, dass seine Vorstellung von Europa letztlich überhaupt erst im Akt des Schreibens selbst realisiert werden kann. Der narrative Kern der Metapher vom Schiffbruch, auf den Ricardo Tejada angespielt hatte, entfaltet sich bei Ortega in ihren unterschiedlichen Realisierungen; seine Metaphern sind deshalb nicht einfach ornamental, sondern dienen auch dazu, bestimmte Dinge überhaupt erst fassbar zu machen: «La metáfora es un procedimiento intelectual por cuyo medio conseguimos aprehender lo que se halla más lejos de nuestra potencia conceptual», so erklärt Ortega selbst die Verwendung von Metaphern auch in einem philosophischen Diskurs.127 Dadurch bewegt

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Ricardo Tejada: La metáfora del naufragio en Ortega, S. 157. Vgl. zum Verständnis der Pendelbewegung als Verstehensprozess im allgemeinen Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist: Velbrück Wiss. 2001, S. 71. Ette entwickelt hier ausgehend von einer Typologie der hermeneutischen Bewegungen in der Reiseliteratur die These, das Oszillieren zwischen zwei Punkten sei eine «Verstehensbewegung», die von großer Bedeutung für die Theoriebildung des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega, S. 53. José Ortega y Gasset: Las dos grandes metáforas, in: Ders.: Obras Completas II, S. 391. Ortega stimmt hier nicht zuletzt mit Hans Blumenbergs Metapherntheorie überein: Für diesen sind Metaphern Eckard Rolf zufolge «weniger Restbestände auf dem Weg vom Mythos zum Logos als vielmehr (unverzichtbare) Grundbestände philosophischer und wissenschaftlicher Sprache» (Eckard Rolf: Metapherntheorien. Typologien, Darstellung, Bibliographie, Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 245). Vgl. allgemein zur Metapherntheorie auch Anselm Haverkamp: Einleitung in die Theorie der Metapher, in:

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sich aber nicht nur die Metapher selbst auf einer Grenze – derjenigen zwischen Begriff und Eindruck –, sondern ebenso auch die Gattung, innerhalb derer Ortega sie am häufigsten verwendet. Auf der Ebene der literarischen Genres scheint der Essay deshalb dem zu entsprechen, was die Metapher auf der Ebene der sprachlichen Figuren leistet: Wie die Metapher ist auch der Essay in einem Zwischenraum anzusiedeln, insofern er sich immer zwischen Erklärung und Erzählung, zwischen Abstraktion und Konkretheit, und letztlich zwischen Begriff und Bild bewegt.128 Die Meditaciones del Quijote sind Ortega zufolge ausdrücklich kein philosophisches Werk. Sie gründeten sich zwar auf bestimmte «filosóficos deseos»,129 aber da die Philosophie immer Wissenschaft sei, die Meditationen aber bewusst auf wissenschaftliche Methoden verzichteten, seien sie «simplemente unos ensayos».130 Die Definition dessen, was das ist – un ensayo –, wird nun ex negativo vollzogen: «El ensayo es la ciencia menos la prueba explícita.»131 Nur scheinbar funktioniert diese Abgrenzung zwischen dem essayistischen und dem wissenschaftlichen Schreiben auf einer rein äußerlichen und formalen Ebene. So führt Ortega zwar aus, dass er mit dem Verzicht auf wissenschaftliche Beweise und Fußnoten auch vermeiden wolle, seinen Text zu überfrachten; er macht jedoch in der Folge schnell deutlich, dass es ihm dabei nicht unbedingt allein um eine bessere Lesbarkeit geht, sondern vor allem darum, seinem Leser genug Freiraum zum eigenständigen Denken zu lassen: Yo sólo ofrezco modi res considerandi, posibles maneras nuevas de mirar las cosas. […] En mi intención llevan estas ideas un oficio menos grave que el científico: no han de obstinarse a que otros las adopten, sino meramente quisieran despertar en almas hermanas otros pensamientos hermanos, aun cuando fueron hermanos enemigos.132

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Ders. (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 1–27. Haverkamp spricht hier mit Verweis auf Blumenbergs Metaphorologie davon, in der Metapher werde «die ‹Substruktur des Denkens› [symptomatisch], die der Logik der Begriffe wie auch ihrer ‹logischen Verlegenheit› zugrunde liegt» (S. 20). Für Wolfgang Müller-Funk bedeutet ‹essayistisch› ausdrücklich «zwischen Erzählung und Abstraktion hin- und herpendelnd»; Christian Schärf zieht daraus den Schluss, der Essay könne eigentlich keiner der beiden Sphären, der Kunst oder der Wissenschaft, wirklich zugeschrieben werden: «das Zwitterhafte […] [lässt] […] ihn weder in den Wissenschaften noch in der Poesie heimisch werden.» (Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin: Akademie-Verlag 1995, S. 15 und Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 42). Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses des Essays als ‹Grenzgenre› ist auffällig, dass in Ortegas Essays (anders als bei Unamuno) die Frage nach physischen bzw. geopolitischen Grenzen so gut wie keine Rolle spielt. José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, S. 318. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. dazu auch René Pfammatter: Essay – Anspruch und Möglichkeit. Plädoyer für die Erkenntniskraft einer unwissenschaftlichen Darstellungsform, Hamburg: Kovaç 2002, S. 118. Pfammatter spricht hier davon, der Essay lasse sich als «potentielle Offerte zur aktiven Partizipation an einer in der Tendenz diskursiven Gedankenführung» beschreiben.

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Ortega spricht außerdem explizit davon, der Leser solle «experimentieren» mit den Ideen und Gedanken, die ihm im Essay vorgeschlagen werden.133 Direkter noch als der aus dem Französischen übernommene Begriff ‹Essay› im Deutschen verweist das spanische Wort ‹ensayo› auf diesen experimentellen Charakter der Gattung: So betont Ortega durchaus bewusst die Tatsache, dass un ensayo eben nicht nur ein Essay, sondern immer auch ein Versuch im Wortsinne ist, wenn er im Vorwort zu España invertebrada schreibt, es handele sich bei dem Text um «un ensayo de ensayo»,134 um den Versuch eines Essays also. Dass solch essayistische Versuche sich vor allem im Zusammenhang mit einem Thema anbieten, das wie die Frage nach den krisenhaften Beziehungen zwischen Spanien und Europa oder diejenige nach der immer wieder problematischen Verfassung von Europa selbst niemals endgültig festgeschrieben werden kann, das deutet Paul Michael Lützeler an, wenn er in der Beweglichkeit das tertium comparationis zwischen Essay und Europa, zwischen Form und Inhalt also, erkennen möchte: Europa als Thema und der Essay als Form mußten sich als Wahlverwandte finden, denn beiden war als gemeinsames Drittes das Flexible, nicht Festlegbare, das Proteushafte eingeschrieben.135

Diese Beweglichkeit, die die Form des Essays laut Lützeler mit dem Thema Europa gemeinsam hat, und die er mit dem Verweis die Figur Proteus aus der griechischen Mythologie klarer zu fassen versucht, manifestiert sich für ihn nun in verschiedener Hinsicht: Zum einen in der Wandelbarkeit und Variationsbreite der Formen, die die Gattung annehmen kann; zum anderen und daran anschließend aber auch in der Schwierigkeit, eine bündige Definition dessen zu leisten, was ein Essay eigentlich ist – ebenso, wie der mythische Meergreis Proteus immer versucht, seinen Gesprächspartnern auszuweichen, entziehe sich auch der Essay allen Versuchen, ihn mittels einer klaren Definition dingfest zu machen.136 Darüber hinaus ist für

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Vgl. José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote, S. 318. José Ortega y Gasset: España invertebrada, S. 37. Vgl. zur Begriffsgeschichte René Pfammatter: Essay – Anspruch und Möglichkeit, S. 7. Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München: Piper 1992, S. 29–30. Implizit verweist auch José María Beneyto auf eine Beziehung zwischen Form und Inhalt, wenn er über den spanischen Essay des 20. Jahrhunderts schreibt: «Como creación originaria y propia los autores españoles del siglo inventan una nueva forma de relacionarse con el mundo de las ideas y del pensamiento. Una fórmula literaria que no quiere ser mera filosofía erudita, sino ante todo expresar, además, vida, sentimientos, pasiones. Los pensadores españoles del siglo XX descubren el ensayo español, esa peculiar forma de meditar que importan de Francia pero que saben dotar de una comunidad de temas y preocupaciones propias, sobre todo la gran obsesión patriótica y europeizadora.» (José María Beneyto: Tragedia y razón, S. 18). Dieselbe Parallele zwischen der Unfassbarkeit des Essays und derjenigen von Proteus entwirft O. B. Hardison, Jr.. (Vgl. O. B. Hardison, Jr.: Binding Proteus. An Essay on the Essay, in: Alexander J. Butrym (Hg.): Essays on the Essay. Redefining the Genre, Athens: University of Georgia Press 1989, S. 11–28). Diese Schwierigkeit einer Definition betonen auch nahezu alle gattungstheoretischen Untersuchungen zum Essay. Vgl. zwei jüngere Beispiele: Graham Good: Preface, in: Tracy Chevalier (Hg.): Encyclopedia

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Lützeler aber auch der Umstand von besonderer Bedeutung, dass der Essay ebenso wie Proteus berufen sei, «auf drängende Fragen Antworten zu erteilen, in denen die Vergangenheit enträtselt und die Zukunft vorausgesagt wird».137 Diese Tatsache mache den Essay zu einer Gattung, die der Untersuchung von Fragen zu Europa besonders entgegenkommen könne: Auch hier geht es schließlich um eine Beurteilung der Vergangenheit des Kontinents und um neue Entwürfe für seine Zukunft. Die Beweglichkeit von Ortegas Annäherungen an Europa im Essay wird zum einen durch Metaphern wie die vom Schiffbruch gewährleistet. Darüber hinaus scheint dieses metaphorische Sprechen – und seine Flexibilität – aber einer fundamentalen Skepsis den Dingen und der Möglichkeit ihrer Festschreibung gegenüber zu entspringen. Den Bezug zwischen diesem grundsätzlichen Zweifel und der Metapher vom Schiffbruch stellt Ortega in diesem Zusammenhang dadurch her, dass er an die ebenfalls metaphorische Redewendung «caer en un mar de dudas» im Spanischen erinnert.138 In ein solches Meer von Zweifeln sei Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gestürzt, so konstatiert er in seiner Berliner Rede von 1949, um allerdings sofort auf die letztlich produktive Kraft dieses Zweifels zu verweisen.139 Ortega stellt in leichter Abwandlung des berühmten Diktums von Descartes fest: «Dudo, luego existo»,140 und zielt damit auf die Relation, die in seinen Augen zwischen dem Leben schlechthin und dieser skeptischen Grundhaltung besteht: Erst sein profunder Zweifel an den Dingen verhilft dem Menschen bei Ortega überhaupt zur Existenz. Entsprechend kann er, der laut Ricardo Tejada zeit seines Lebens «hanté par le doute» gewesen ist,141 auch unterstreichen, der Zweifel sei «el elemento creador y el estrato más profundo y sustancial del hombre».142 Der Verweis auf Descartes erfolgt an dieser Stelle nicht zufällig: Schon Jahre vorher hatte Ortega schließlich in seiner Auseinandersetzung mit Miguel de Unamuno um die Frage der Europäisierung für Descartes als wesentliche Voraussetzung einer gemeinsamen europäischen Kultur plädiert. Der Zweifel, den er jetzt durch das abgewandelte Descartes-Zitat mit diesem in Verbindung setzt, spielt im Zusammenhang mit dieser gemeinsamen europäischen Kultur insofern eine Rolle, als Ortega deren Gültigkeit an anderer Stelle an die existentielle Fähigkeit bindet, sich selbst in Frage zu stellen: Solamente griegos y europeos han creído que no eran cultos mientras no pusiesen en duda su propia cultura y elaborasen serios fundamentos para ella. De donde resulta que nuestra cultura sólo será, en efecto, la única auténtica en la medida en que crea que no lo es y se vuelve problemática.143

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of the Essay, London/Chicago: Dearborn 1997, S. XIX und Christian Schärf: Geschichte des Essays, S. 7. Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, S. 30. Vgl. José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 251. Vgl. ebd., S. 250–251. Ebd., S. 251. Ricardo Tejada: La métaphore du naufrage chez Ortega, S. 60. José Ortega y Gasset: De Europa meditatio quaedam, S. 251. José Ortega y Gasset: El sentido histórico, in: Ders.: Obras Completas III, S. 263.

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Dieses Problematisch-Werden von vermeintlichen kulturellen Gewissheiten ist nun genau das, was Ortega in seinen Essays immer wieder neu inszeniert: Diese Essays sind tatsächlich in einem ganz ursprünglichen Sinne Versuche über Europa – wenn sie in der frühen Phase der spanischen Diskussion um die Europäisierung des Landes eine klare Definition von Europa fordern und sich selbst um eine solche Definition bemühen ebenso, wie wenn sie später die gängige Vorstellung von den germanischen Nebeln und der lateinischen Klarheit einer kritischen Analyse und Revision unterziehen oder noch später die Rede von der europäischen Dekadenz dekonstruieren und den Beweis dafür antreten, dass Europa schon seit Jahrhunderten eine zweite Realität neben derjenigen der europäischen Nationalstaaten gewesen sei. In allen diesen Fragen zeichnet sich Ortegas Reflexion dadurch aus, dass sie den Blick hinter die scheinbar offensichtlichen und eingängigen Gegebenheiten versucht, dass sie diese kritisch beleuchtet und ihre Gültigkeit eben auch in Zweifel zieht. Seine eigenen Essays setzen damit immer wieder das ins Werk, was er als das entscheidende Charakteristikum Europas im Gegensatz zu allen anderen Kulturen beschreibt: die Fähigkeit, den eigenen Prämissen mit Skepsis zu begegnen. Das Verhalten auf See liefert uns immer wieder die tiefsinnigsten Metaphern für ein Dasein, dessen Boden nie fest genug sein kann, um die Beziehungen zum nautischen Risiko vergessen zu machen.144

Was Hans Blumenberg in diesem kurzen Aperçu beschreibt – die Skepsis dem Leben gegenüber und die aus dieser Skepsis heraus entstehenden Seefahrtsmetaphern, mit denen der schwankende Boden des Lebens beschrieben werden soll –, das findet seine Bestätigung nicht nur in den Essays von José Ortega y Gasset, sondern auch schon in denen seines vielleicht berühmtesten essayistischen Vorläufers: Seine eigenen Essais beschreibt Michel de Montaigne schon 1580/88 als «un registre des essais de ma vie»,145 als die Wiedergabe der Versuche seines Lebens also, und die tiefe Skepsis, die sich in dieser Formulierung ausdrückt, findet in den Essais selbst nicht zufällig immer wieder Ausdruck in dem Bild von der immer durch den Schiffbruch gefährdeten Seefahrt. Auch die offene Form seiner Essais wird von Montaigne so mit einem Catullzitat ausdrücklich in einen Zusammenhang mit den Gefahren der Seefahrt und dem Scheitern im Schiffbruch gebracht: En mes escris mesmes je ne retrouve pas tousjours l’air de ma première imagination: je ne sçay ce que j’ay voulu dire: et m’eschaude souvent à corriger, et y mettre un nouveau sens, pour avoir perdu le premier qui valloit mieux. Je ne fay qu’aller et venir: mon jugement ne tire pas tousjours avant; il flotte, il vague,

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Hans Blumenberg: Seenöte, in: Ders.: Die Sorge geht über den Fluss, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 7–41, hier S. 23. Michel de Montaigne: De l’Expérience (Essais III, 13), in: Ders.: Les Essais. Edition établie par Jean Balsamo, Michel Magnien et Catherine Magnien-Simonin, Paris: Gallimard 2007, S. 1126. Der vollständige Satz klingt bei Montaigne noch distanzierter – er lautet: «En fin, toute ceste fricassée que je barbouille ici, n’est qu’un registre des essais de ma vie.»

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uelut minuta magno Deprensa nauis in mari uesaniente uento.146

Diese Verbindung zwischen der beweglichen Form des Essays und dem Bild von dem Schiff, das den Launen des Meeres und den Winden ausgesetzt und insofern stets gefährdet ist, kann im Verlauf der Essais immer wieder auch in der Metapher von der tatsächlich im Schiffbruch scheiternden Seefahrt Ausdruck finden. So spricht Montaigne beispielsweise davon, dass es gelte, sich «en cet universel naufrage du monde, parmy tant de mutations et de diversitez» zurechtzufinden,147 und dieser Schiffbruch in der Veränderlichkeit und Vielseitigkeit des Lebens kann, das deutet er in seinen Äußerungen zur Form der Essais an, tatsächlich allenfalls in der entsprechenden formalen Veränderlichkeit und Vielseitigkeit der Essais kompensiert werden. Montaigne reiht sich mit seinen Essais in eine Traditionslinie des Skeptizismus ein, die bis in die Antike zurückverfolgt werden kann.148 Sein berühmter Wahlspruch «Que sçay-je?» bringt diese Skepsis gerade auch in Bezug auf die Möglichkeiten des eigenen Wissens zum Ausdruck. Die Essais führen nun in ihrer stilistischen und thematischen Offenheit exemplarisch jenes Wissen vom NichtWissen vor, das in dem vielzitierten Wahlspruch pointiert formuliert wird. Die Skepsis ist damit – ausgehend von Montaigne und bis hin zu Ortega – diejenige Haltung, die den Essay inhaltlich und formal wesentlich bestimmt: «Die literarische Form des Essays hat eine philosophische Wurzel, die Skepsis.»149 Ortega selbst unterscheidet dabei allerdings zwischen der antiken philosophischen Schule des Skeptizismus auf der einen und dem, was er den modernen Kritizismus auf der anderen Seite nennt. Beiden gemeinsam ist zwar der profunde Zweifel an den Dingen; im Falle des antiken Skeptikers sei dieser aber das Ziel der Überlegungen, während er bei den modernen Denkern umgekehrt deren Ausgangspunkt darstelle: «La duda, que en el moderno es un punto de partida y un sentimiento precientífico, es en Gorgias o en Agripa un resultado y una doctrina.»150 Auch hier führt Ortega

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Michel de Montaigne: Apologie de Raymond Sebond (Essais II, 12), ebd., S. 599–600. Vgl. zu der Frage, inwiefern tatsächlich von einer offenen Form des Essays im allgemeinen die Rede sein kann, auch René Pfammatter: Essay – Anspruch und Möglichkeit, S. 59–62. Michel de Montaigne: De l’utile et de l’honeste (Essais III, 1), in: Ders.: Les Essais, S. 832. Er selbst führt in seinen Essais den Skeptiker Pyrrhon als Referenz an – und zitiert dabei bemerkenswerterweise eine Anekdote, in der dieser sich in Seenot befunden habe. Vgl. Michel de Montaigne: Que le goust des biens et des maux despend en bonne partie de l’opinion que nous en avons (Essais, I, 40), ebd., S. 263. Vgl. zur Skepsis und zum Pyrrhonismus auch Karin Westerwelle: Montaigne. Die Imagination und die Kunst des Essays, München: Fink 2002, S. 215–216. Christian Schärf: Geschichte des Essays, S. 61. Schärf spricht auch von der «Skepsis, die […] die Basis des Essays ist.» (S. 17). O. B. Hardison, Jr. nennt den Zweifel im allgemeinen als Auslöser für den Essay: «the essay was born from a moment of profound, even terrifying, doubt» (O. B. Hardison, Jr.: Binding Proteus, An Essay on the Essay, S. 23). José Ortega y Gasset: Kant. Reflexiones de centenario 1724–1924, S. 29.

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wieder Descartes an: Dieser «primer gran dubitador moderno» sei es gewesen, der mit seinem kritischen Zweifel den antiken Skeptizismus überwunden habe.151 Der feinen Unterscheidung zwischen Zweiflern und Skeptikern zum Trotz ist es aber auch bei Ortega das Wissen vom eigenen Nicht-Wissen, das in seinen Essays vor allem im Zusammenhang mit der Metapher vom Schiffbruch immer wieder verhandelt wird. So schreibt er etwa über Goethe, dieser müsse er den Zeitgenossen präsentiert werden als «naúfrago en su propia existencia, perdido en ella y que en cada instante ignora lo que va a ser de él».152 Wenn das Bekenntnis zum Nichtwissen um das Leben und die Zukunft, das Ortega hier für eine zeitgemäße Darstellung des Klassikers Goethe fordert, damit einmal mehr in der Metapher vom Schiffbruch Ausdruck findet, dann wird der genuine Zusammenhang deutlich zwischen der Skepsis, dem Bild vom Schiffbruch, in dem sich diese skeptische Haltung ausdrückt, und der Form des Essays, die in ihrer Abneigung gegen eine endgültige Fixierung von Gedanken und Ideen ebenfalls dieser Skepsis Rechnung trägt: «Forma y fondo, estilo y contenido son inseparables en la filosofía de Ortega.»153 Dass Ortegas philosophisches Werk selbst deshalb trotz seiner Betonung der wichtigen Rolle der Wissenschaft gerade für eine Erneuerung Spaniens niemals im eigentlichen Sinne wissenschaftlich verfährt, ist vor diesem Hintergrund bezeichnend: Er habe immer nur Essays geschrieben, und keine wirklichen Bücher, argumentiert Patrick H. Dust – und auch Ortega selbst stellt fest: «Lo primero que necesito decir de mis libros es que propiamente no son libros.»154 Der Essay ist dagegen die Form, in der Ortega das, was Julián Marías seine «instalación en lo movedizo» nennt,155 am besten vermitteln kann. Die paradoxe Formulierung von der Installierung im Beweglichen bringt dabei Ortegas Position besonders im Zusammenhang mit seiner Frage nach Europa beispielhaft zum Ausdruck: Auch seine Annäherungen an Europa, und die Versuche, diese Annäherungen in seinen Essays immer wieder neu zu formulieren, gelangen niemals an ein endgültiges Ziel und sind deshalb niemals statisch; und insofern kann man also gerade in Bezug auf Ortegas Verhältnis zu Europa von einer solchen «instalación en lo movedizo» sprechen. In einem Brief an Ernst Robert Curtius beschreibt José Ortega y Gasset selbst die unbeständige Position, die er nicht nur allgemein in intellektueller, sondern insbesondere in seinen Jahren des Exils und der Unsicherheit der äußeren Lebensumstände auch in existentieller Hinsicht einzunehmen gezwungen war. In dem Brief fasst er die Situation und seine aus dieser Situation hervorgehende Einstellung schließlich mit einem Zitat von Chateaubriand zusammen, das nicht nur das Paradox der Installierung im Beweglichen vorwegzunehmen scheint, sondern das auch einmal mehr und nicht von ungefähr das Bild von der

151 152 153 154 155

Ebd., S. 30. José Ortega y Gasset: Pidiendo un Goethe desde dentro, S. 402. Patrick H. Dust: Ortega y Gasset y la destrucción del libro (Hacia una hermenéutica del discurso orteguiano), in: Revista de Occidente 120 (1991), S. 83–95, hier S. 83. José Ortega y Gasset: Prólogo para alemanes, S. 20. Julián Marías: Ortega. Las trayectorias, S. 35.

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stets durch den Schiffbruch gefährdeten Seefahrt evoziert, das in Ortegas ganzem Werk so präsent ist: «Navigateur, j’ai suivi l’inconstance de ma voile; alcyon, j’ai fait mon nid sur les flots.»156

156

José Ortega y Gasset an Ernst Robert Curtius, 26.09.1937, in: UB Bonn, Nachlass Curtius, E. R. I. Ortega gibt Chateaubriand nicht ganz korrekt wieder – in dessen Préface testamentaire zu den Mémoires d’outre-tombe heißt es eigentlich: «navigateur, mes destinées ont eu l’inconstance de ma voile; alcyon, j’ai fait mon nid sur les flots». Interessant ist allerdings, dass Chateaubriand im weiteren Verlauf seines Textes ausdrücklich auch die Metapher vom Schiffbruch in einem Zusammenhang mit seiner eigenen Schreibtätigkeit verwendet: «Je ne dis point ceci pour me louer, car je ne sais si cela est bon, je dis ce qui est, ce qui est arrivé, sans que j’y songeasse, par l’inconstance même des tempêtes déchaînées contre ma barque, et qui souvent ne m’ont laissé pour écrire tel on tel fragment de ma vie que l’écueil de mon naufrage.» (Vgl. René de Chateaubriand: Mémoires d’outre-tombe 1, Paris: Flammarion 1947, S. 4).

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Garten: Eugeni d’Ors und René Schickele

«Le jardin, c’est la plus petite parcelle du monde et puis c’est la totalité du monde.»1 Diese Ambivalenz – nämlich zugleich die kleinste Einheit der Welt und ihre Gesamtheit darzustellen – macht den Garten für Michel Foucault zu einem der prominenten Beispiele für das, was er als «des espaces autres» bezeichnet: Der Garten ist einer von jenen «anderen Räumen», für die Foucault in Abgrenzung von demjenigen der Utopie seinen Begriff der Heterotopie entwickelt. Heterotopien haben ebenso wie Utopien la curieuse propriété d’être en rapport avec tous les autres emplacements, mais sur un mode tel qu’ils suspendent, neutralisent ou inversent l’ensemble des rapports qui se trouvent, par eux, désignés, reflétés ou réfléchis.2

Anders als Utopien sind sie aber tatsächlich in Raum und Zeit zu verorten – während Utopien Umkehrungen oder Perfektionierungen der bestehenden Gesellschaft darstellen (und als solche essentiell irreale Orte bleiben müssen), sind Heterotopien des lieux réels, des lieux effectifs, des lieux qui sont dessinés dans l’institution même de la société, et qui sont des sortes de contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés.3

Mit dem Begriff der Heterotopie werden also Räume in ihrer Wirkung beschrieben – in einer Wirkung allerdings, die sich einstellt, ohne dass die Räume speziell auf sie hin konstruiert worden wären. So ist es auch im Falle des Gartens seine ‹universalisierende› Funktion, die Foucault besonders hervorhebt. Der Garten ist für ihn das älteste Beispiel dafür, dass Heterotopien eigentlich widersprüchliche und inkompatible Platzierungsmuster in sich vereinen können – er ist eben nicht nur «la plus petite parcelle du monde», sondern zugleich auch «la totalité du monde». Der Garten ist so exemplarisch für die Heterotopie schlechthin: Er stellt eine grundsätzliche Form der realisierten Utopie dar, insofern er in seiner tatsächlichen Anlage das ideale (und eben deshalb utopische) Muster der Welt reflektiert: Le jardin traditionnel des Persans était un espace sacré qui devait réunir à l’intérieur de son rectangle quatre parties représentant les quatre parties du monde, avec un espace

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Michel Foucault: Des espaces autres, in: Ders.: Dits et écrits 1954–1988, vol. IV, Paris: Gallimard 1994, S. 752–762, hier S. 759. Ebd., S. 755. Ebd.

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plus sacré encore que les autres qui était comme l’ombilic, le nombril du monde en son milieu […]; et toute la végétation du jardin devait se repartir dans cet espace, dans cette sorte de microcosme.4

Der Garten als ein Mikrokosmos, der auf begrenztem Raum den Aufriss der Welt nicht nur reflektiert, sondern zugleich auch perfektioniert: Diese zunächst rein abstrakte Vorstellung findet ihre literarische und philosophische Konkretisierung in den Werken des Katalanen Eugeni d’Ors ebenso wie in denen des Elsässers René Schickele, und in beiden Fällen steht sie in engem Zusammenhang mit den Konzeptionen von Europa, die diese Werke entwerfen. «Quel beau jardin!», so soll Ludwig XIV. ausgerufen haben, als er das Elsass zum ersten Mal vom Gebirge aus erblickte,5 und sowohl Eugeni d’Ors als auch René Schickele folgen diesem Muster der Metaphorisierung eines Landstrichs zum Garten, wenn sie über ihre jeweiligen Herkunftsräume schreiben. Katalonien bei d’Ors und das Elsass bei Schickele sind Gärten in genau dem Sinne, den der Ausruf von Ludwig XIV. vorgibt – und in beiden Fällen ist auffällig, dass im Zentrum der Metaphorisierung nicht nur die enge Umgrenztheit der jeweiligen Landschaft zum abgeschlossenen Natur- und Kulturraum steht, sondern im Gegenteil gerade auch eine Aufhebung und Verwischung von Grenzen. René Schickele veröffentlicht Anfang der dreißiger Jahre zwei Essaybände, die diese Bewegung von Grenzziehung und Entgrenzung schon in ihren Titeln exemplarisch vollziehen: Die beiden Bände Die Grenze (1932) und Himmlische Landschaft (1933) sind nahezu parallel entstanden, und in beiden Bänden bezieht sich Schickele auf seine Heimat. Diese Heimat ist aber für ihn, der auf beiden Seiten der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich am Oberrhein gelebt hat, nicht allein das Elsass, sondern auch dessen Ergänzung auf der anderen Seite des Rheines, das Markgräfler Land südlich von Freiburg. Während nun der Titel des ersten Bandes, Die Grenze, gerade das Problem markiert, das die Zerschneidung dieses von Schickele als einheitlich empfundenen und dargestellten Raumes zwischen Vogesen und Schwarzwald in zwei Teile bedeutet, verweist der Titel des zweiten Bandes, Himmlische Landschaft, bereits auf eine Lösung für dieses Problem: Die Grenze zwischen Nationalstaaten wird zugunsten der Vorstellung eines einheitlichen Kulturraums, eben eines gemeinsamen Gartens zwischen Deutschland und Frankreich, aufgehoben.6 Ähnlich verfährt Eugeni d’Ors in einer seiner katalanischen Glosas aus dem Jahr 1909, in der er unter der Überschrift Jardins ein Bild von seiner mediterranen Heimat im Zeichen des Gartens entwirft, das Schickeles entgrenzter Vorstellung von einer «himmlischen Landschaft» sehr nahe kommt. D’Ors’ Vorgehensweise in dieser Glosa ist dabei exemplarisch für die Form der Glosas überhaupt, wie er sie über Jahrzehnte hinweg nahezu täglich zunächst in der katalanischen, später

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Ebd., S. 759. Vgl. Friedrich Lienhard/Hans Pfitzner/Carl Spindler (Hg.): Der elsässische Garten. Ein Buch von unsres Landes Art und Kunst, Straßburg: Trübner 1912, S. 1. Vgl. Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten von René Schickele (1899–1932), Bern/Berlin u. a.: Lang 2000, S. 268.

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dann in der kastilischen Presse gepflegt hat: Wie viele dieser kurzen und pointierten Essays geht auch derjenige über die Gärten von einem aktuellen kulturellen Ereignis aus, um daran anknüpfend allgemeinere Überlegungen zu dem in Frage stehenden Thema zu entwickeln. In Jardins ist es die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel Sicily, the garden of the Mediterranean, die d’Ors dazu veranlasst, sich Gedanken über die Verbindung zwischen der Vorstellung vom Garten und derjenigen vom Mittelmeer als einem in sich geschlossenen Kulturraum zu machen: D’aquest títol jo n’he quedat molt descontent. Hi ha al Mediterrani altres jardins que els de Sicília, si no és que tot el Mediterrani sigui jardí. En nom dels de la meva costa, i dels de l’illa d’or, i també dels de la València germana […], en nom dels jardins del nostre llevant, dic, jo protesto contra l’antonomàsia.7

Auch dieser Passage liegt schließlich die Vorstellung von der Grenzenlosigkeit des Gartens zugrunde, auf die René Schickele mit der leichten Akzentverschiebung zwischen den Titeln seiner beiden Essaybände angespielt hatte. Einerseits bleibt Eugeni d’Ors noch ganz der konkreten Vorstellung von den tatsächlich existierenden Gärten rund um das Mittelmeer verhaftet, wenn er etwa auf den besonderen Duft in den Gärten von Valencia hinweist. Andererseits vollzieht aber sein Nebensatz «si no és que tot el Mediterrani sigui jardí» zugleich schon den Schritt von dieser Ebene der konkreten Anschauung hin zur Metapher – das Mittelmeer bietet nicht nur Raum für all die Gärten, die es zwischen Sizilien und Katalonien tatsächlich geben mag, sondern die Landschaft rund um das Mittelmeer selbst ist ein Garten, dessen einzelne Teile durch ihre Fülle und Fruchtbarkeit miteinander in Verbindung stehen, und der dadurch zu einem einheitlichen in sich geschlossenen Raum wird. Die Gartenvorstellungen von Eugeni d’Ors und René Schickele entsprechen so gerade in ihrer doppelten Bewegung von Eingrenzung und Entgrenzung dem Modell, an Hand dessen Michel Foucault das Funktionieren seiner Heterotopien erläutert hatte. Ebenso wie die Insel immer durch ihre Ambivalenz zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen Fragmentarisierung und Totalität gekennzeichnet war,8 bedeutet der Garten immer zugleich Umgrenztheit und Grenzenlosigkeit, Einheit und Vielfalt, Ganzheit und Parzellisierung. Die Tatsache, dass der Mikrokosmos des Gartens zudem immer in einem sehr wörtlichen Sinne ein Kulturraum ist, der erst bewusst geschaffen und dann erhalten werden muss, und dass diesem Gedanken des «cultiver son jardin» insofern immer schon das Moment einer zivilisatorischen Leistung eigen ist, macht nicht zuletzt deutlich, warum die

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8

Eugeni d’Ors: Jardins, in: Ders.: Obra Catalana Completa. Glosari 1906–1910, Barcelona: Ed. Selecta 1950, S. 1154–1155. Das katalanische Werk von Eugeni d’Ors wird derzeit jahrgangsweise von den Quaderns Crema in Barcelona herausgegeben; hier liegen allerdings noch nicht alle Bände vor. Weder im Falle von d’Ors noch in dem von Schickele existiert bis jetzt eine vollständige Gesamtausgabe, so dass bei beiden Autoren auf unvollständige Ausgaben (oder, wo das möglich war, auf die Erstveröffentlichungen in einzelnen Bänden) zurückgegriffen werden musste. Vgl. dazu Kapitel 2 Insel – Victor Hugo und Miguel de Unamuno.

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Heterotopie des Gartens in beiden Fällen, bei Schickele ebenso wie bei d’Ors, zum Ausgangspunkt ihrer Frage nach Europa werden kann.9 Beide Autoren strukturieren die Vorstellungen von Europa, die sie in ihren Texten entwickeln, ausgehend von ihrer Herkunft aus einem solchen europäischen Garten, indem sie die bereits realisierten Gärten am Oberrhein und am Mittelmeer zur Keimzelle für die noch ausstehende Realisierung einer größeren kulturellen Einheit stilisieren. Vor diesem Hintergrund möchte das folgende Kapitel die Konzeptionen von Eugeni d’Ors und René Schickele verstanden wissen. Zunächst werden deshalb die Ideen analysiert, die d’Ors ausgehend von seiner katalanischen Heimat bezüglich der europäischen Ordnung formuliert: Wenn er die europäische Geschichte als ein beständiges Pendeln zwischen anarchischen und geordneten Bewegungen versteht, dann sind seine Interventionen für eine Übertragung des katalanischen Klassizismus auf Europa immer als ein Plädoyer gegen die Anarchie und für die Ordnung zu verstehen. Ebenso entwickelt René Schickele, dessen Vorstellungen in einem zweiten Schritt untersucht werden, ausgehend von seiner Wahrnehmung der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich ein Modell von einem grenzüberschreitenden Europa des Friedens, das sich gegen die von ihm als geopolitische Willkürlichkeit und insofern als Verlängerung des Krieges mit anderen Mitteln verstandene Nachkriegsordnung richtet. Abschließend wird jedoch in einem dritten Unterkapitel zu zeigen sein, wie beider Konzeptionen, diejenigen von d’Ors ebenso wie die von Schickele, zuletzt durch interne und externe Widersprüche in Zweifel gezogen werden: Bei d’Ors zeigt sich das in einer Wiederkehr des verdrängten anarchischen Potentials gerade des vermeintlich geordneten katalanischen Gartens; bei Schickele dagegen in der fundamentalen Infragestellung seiner pazifistischen Konzeption durch den Zweiten Weltkrieg.

4.1

Eugeni d’Ors: Europa als Ordnungsmacht

Tres formas de vida humana colectiva han influido, o siguen influyendo, sobre la existencia catalana: la hispánica, la europea y la mediterránea. […] Cataluña ha sido considerada hispánica por los hispanos, europea por los europeos y mediterránea por los habitantes cuando menos de algunas de las más sonadas zonas litorales de ese mar que es costumbre, aunque no siempre buena, llamar ‹nuestro›. […] Nada de extraño, por lo tanto, que en ciertos momentos decisivos de su existencia histórica los catalanes se hayan sentido como ‹desgarrados› a la vez que ‹solicitados›: España, Europa y el ‹Mediterráneo› se los han disputado.10

José Ferrater Mora spricht hier die Schwierigkeit der Einordnung des Mikrokosmos in einen größeren Rahmen an: Will man in Katalonien nun spanisch,

9

10

Auch Eugeni d’Ors zitiert Voltaire in einer seiner Glossen, allerdings verweist er nur auf die Bedeutungsebene der Limitierung und Eingrenzung, die dem Gedanken des «cultiver son jardin» innewohne. Vgl. Eugeni d’Ors: Cultivar sus jardines, in: Ders.: Nuevo Glosario I, Madrid: Aguilar 1947, S. 436–437. José Ferrater Mora: Las formas de la vida catalana, in: Ders.: Tres mundos: Cataluña, España, Europa, Barcelona/Buenos Aires: E.D.H.A.S.A. 1963, S. 75–142, hier S. 84–85.

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mediterran oder europäisch sein – und schließt eine Entscheidung für das eine tatsächlich das andere aus, wie es der Autor zu suggerieren scheint? Für Eugeni d’Ors ist es diese katalanische Frage, die am Anfang seiner Beschäftigung mit Europa steht. Seinem Bewusstsein von der Andersartigkeit Kataloniens im Vergleich zu dem restlichen spanischen Staatsgebiet steht ebenso ausgeprägt ein Bewusstsein von der Homogenität des gesamten Mittelmeerraumes gegenüber, in den sich Katalonien einfügt. Dass dieser Mittelmeerraum von d’Ors zugleich immer wieder ausdrücklich als Ursprung der europäischen Zivilisation beschrieben wird, stellt seine Auseinandersetzung mit der Problematik in einen ähnlichen Bezugsrahmen, wie ihn Ferrater Mora skizziert hatte: Spanien, das Mittelmeer oder Europa – welcher der drei Räume soll das katalanische Leben vor allen anderen bestimmen? Die Beantwortung dieser Frage ist für Eugeni d’Ors dabei vor allem insofern prekär, als er sich zeit seines Lebens mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass die Ordnung des katalanischen Gartens in seiner Wahrnehmung immer wieder durch eine fundamentale Desorganisation der jeweils größeren Einheiten bedroht wird. Dieser Befund eines essentiellen und beständigen Antagonismus zwischen ordnenden und zerstreuenden Kräften innerhalb Europas – und innerhalb der europäischen Geschichte – ist der Ausgangspunkt von d’Ors’ Frage nach Europa. Die gegenläufigen Bewegungen von bedrohlicher Anarchie und idealer Einheit stellen diese Frage dabei immer in einen Bezugsrahmen, in dem es im wesentlichen darum gehen muss, der Gefahr, die von dem Chaos und der Zerstreuung in Europa ausgeht, eine klare Ordnung entgegenzusetzen – eine Ordnung, wie sie das Bild vom Garten bereits vorzeichnet. So, wie sich die bewusst geschaffene Kultur eines Gartens gegen den unkontrollierten Wildwuchs der Natur richtet, so soll sich die geordnete Harmonie des katalanischen Mikrokosmos in der Vorstellung von Eugeni d’Ors gegen die anarchischen Bewegungen der europäischen Geschichte wenden. Auf diese Weise entwickelt er ein Bild von Europa, das in seinem beständigen Rückgriff auf die Wechselwirkung zwischen Natur und Kultur, zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Anarchie und Harmonie eine Spannung entfaltet, wie sie auch für Foucaults Heterotopien – und insbesondere für diejenige vom Garten – kennzeichnend sein wird. 4.1.1

Anarchie und Ordnung

Seine Vorstellung, Europa sei einem dauerhaften Widerstreit von ordnenden Kräften auf der einen und eher anarchischen auf der anderen Seite unterworfen, veranlasst Eugeni d’Ors nun dazu, sein Denken über den Kontinent insgesamt einem solchen binären Muster folgend zu strukturieren. So entwirft er in La civilización en la historia (1953) ein breites Panorama der europäischen Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, dessen Struktur wesentlich auf dem Gedanken aufbaut, die angeführten historischen Ereignisse ließen sich alle auf das Grundmuster eines beständigen Gegensatzes zwischen Ordnung und Anarchie in Europa zurückführen:

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Desde los orígenes, rivalizan, pues, en la conducta colectiva de la especie humana, dos grandes fuerzas constantes: una centrífuga, empujándola a la dispersión; otra, centrípeta, que domina los peores momentos de dispersión con un espíritu de unidad.11

Dieser Antagonismus von zentrifugalen und zentripetalen Kräften ist es in den Augen von Eugeni d’Ors, der die europäische Geschichte bisher motiviert hat und der den Kontinent bis in die Gegenwart hinein prägt. Von diesem grundsätzlichen Antagonismus geht er deshalb aus, wenn er einzelne Erscheinungen oder Vorkommnisse innerhalb dieser europäischen Geschichte interpretiert: Dann steht jedes historische Ereignis entweder auf der Seite der Einheit oder auf der der Zerstreuung, und kann entsprechend eingeordnet und beurteilt werden. Den Ausgangspunkt für diese Bewegung zwischen Ordnung und Anarchie stellt für d’Ors der Zerfall des Römischen Reiches dar. Von diesem Augenblick an können die zentrifugalen Kräfte überhaupt wirksam werden, die bisher von der Einheit des Imperiums kontrolliert wurden, und von diesem Augenblick an müssen deshalb die zentripetalen Kräfte darauf ausgerichtet sein, dem Zerfall entgegenzuwirken. Die europäische Geschichte vom Mittelalter über die Renaissance bis in die Neuzeit hinein ist für d’Ors von den entsprechenden Pendelbewegungen geprägt: Waren die Kreuzzüge dadurch, dass sie Europa gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschlossen, durch ein starkes einigendes Moment geprägt, so ist es spätestens die Reformation, die diese immer auch konfessionell begründete Einheit wieder unterwandert. Hatte Dante in seinem Traktat De Monarchia das Modell eines Staates entworfen, der auf einen starken und göttlich legitimierten Herrscher zugeschnitten ist, so zeichnet Macchiavelli in seinem Principe das Gegenbild einer Vielzahl von vor allem sich selbst verpflichteten absoluten Herrschern. War das Heilige Römische Reich Deutscher Nation eindeutig ein starker Bezugspunkt der Ordnung und Einheit, so steht der Nationalismus nach dessen Zerfall ebenso eindeutig für die Zersplitterung und den Verfall.12 Auf diese Art und Weise entwirft Eugeni d’Ors ein Bild von der europäischen Geschichte, das gerade durch seinen ständigen Bezug auf das Prinzip zweier einander immer entgegengesetzter Kräfte nahezu selbsterklärend zu sein scheint. Dank ihrer gewissermaßen strukturalistischen Vorgehensweise verortet sich seine Interpretation der europäischen Geschichte selbst immer schon auf der Seite der Ordnung, und ihr binäres Strukturprinzip wird dadurch zum Plädoyer für die Einheit und gegen die Anarchie.13 Entsprechend funktionieren deshalb auch die Bilder, mit denen Eugeni d’Ors sein Modell der europäischen Gegensätze immer wieder erklärt und zusammenfasst: Auf dieser metaphorischen Ebene steht die Stadt Rom

11 12 13

Eugeni d’Ors: La civilización en la historia, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1953, S. 25. Vgl. zu all diesen Beispielen: Eugeni d’Ors: La civilización en la historia, sowie Enric Jardi: Eugenio d’Ors. Obra y vida, Barcelona: Aymá 1967, S. 50–51. Núria Masramon Oliver spricht tatsächlich von einem «structuralisme avant la lettre» bei d’Ors, der «une lutte pour la structure» habe führen wollen. Vgl. Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors. Etudes autour de ‹Gualba, la de mil veus›, Paris (Mikrofiche-Ausgabe) 2000, S. 376.

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für die Ordnung und die Einheit; die entgegengesetzte Seite der Zerstreuung und des Chaos wird dagegen durch Babel symbolisiert: Si el espíritu de unidad y de jerarquía, cuyo símbolo es Roma, la Roma del Imperio y del Catolicismo […] constituye una constante de la historia, no lo es menos su antagonista Babel, símbolo de la tendencia a la dispersión y la anarquía.14

Für das, was er hier einfach «Konstanten der Geschichte» nennt, findet d’Ors an anderer Stelle den Begriff «Äon»: Ein Äon ist eine feststehende Kategorie, die aber trotzdem dem Verlauf und insofern auch den Entwicklungen der Geschichte unterworfen ist: «Un eón, si se quiere, es una idea que tiene una biografía.»15 Wenn d’Ors also immer wieder auf die Symbole Rom und Babel rekurriert, um sein Verständnis von geordneter Einheit und anarchischer Zerstreuung zu verdeutlichen, dann handelt es sich für ihn tatsächlich darum, mittels dieser Bilder zugleich Dauer und Veränderlichkeit seiner Kategorien ausdrücken zu können. Rom und Babel sind Konstanten, die in der ganzen europäischen Geschichte wirksam gewesen sind; dass dies jedoch auf durchaus unterschiedliche Art und Weise geschehen ist und auch weiter geschehen kann, das verdeutlicht er mit einer Reihe von Beispielen, mit denen er seine These untermauert.16 Die Tatsache, dass er dabei ausdrücklich darauf verweist, das Rom, auf das er sich beziehe, sei nicht nur dasjenige des Römischen Imperiums, sondern auch das der katholischen Kirche, deutet zum einen darauf hin, dass die Ordnung, die d’Ors für Europa propagiert, immer auf klar gegliederten Hierarchien und einer deutlich markierten Autorität aufbaut. Der Bezug auf den Katholizismus (der für ihn immer synonym für das Christentum insgesamt steht) ist aber auch insofern interessant, als er immer wieder betont, das Christentum sei der essentielle Bestandteil der europäischen Zivilisation schlechthin: «Cristianismo y Civilización entran en fundirse en una sola realidad.»17 Auch bei der grundsätzlichen Frage nach Ordnung oder Anarchie innerhalb Europas geht es also in letzter Instanz um die bereits von Victor Hugo, Miguel de Unamuno und José Ortega y Gasset

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Eugeni d’Ors: La civilización en la historia, S. 138. Vgl. ähnlich auch ders.: Las Españas, in: Nuevo Glosario III, Madrid: Aguilar 1949, S. 1073; La cultura como unidad, in: Nuevo Glosario II, Madrid: Aguilar 1947, S. 509; Esencia del fascio, in: ebd., S. 983; Barrès y la Anarquía, in: Nuevo Glosario I, S. 787–788. Zum Teil reduziert d’Ors seine Bilder von Rom und Babel noch weiter, indem er von den einander entgegengesetzten Modellen der «cúpula» und des «campanario» spricht, vgl. Eugeni d’Ors: La ciencia de la cultura, Madrid: Rialp 1964, S. 285. Ebd., S. 39. Vgl. zu dem Begriff auch ders.: La Querella de lo Barroco en Pontigny, in: Ders.: Lo Barroco, Madrid: Aguilar 1964, S. 63–133, hier S. 72–73. Vgl. Mercè Rius: La filosofia d’Eugeni d’Ors, Barcelona: Curial 1991, S. 344. Rius betont bei ihrer Erklärung des Begriffs Äon ausdrücklich dessen scheinbar paradoxe Positionierung zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit: «Un eó és un repertori d’elements constants, que es repeteixen al llarg de la història. Tenen l’eternitat de la cultura d’on provenen, però es realitzen en el temps.» Eugeni d’Ors: La defensa de la civilización, in: Ders.: Nuevo Glosario II, S. 1052.

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aufgeworfene Frage nach den Grenzen der europäischen Zivilisation.18 Eugeni d’Ors nähert sich dieser Frage zwar insofern von einem anderen Gesichtspunkt her, als er sie vor dem Hintergrund der Alternative ‹Einheit oder Zerstreuung› in den großen Kontext von den Antagonismen einordnet, die seiner Meinung nach die europäische Geschichte strukturieren. Dennoch handelt es sich auch bei ihm darum, gerade mittels der eindeutigen Zuordnungen, mit denen er historische Ereignisse entweder auf die Seite der Ordnung oder auf die des Chaos setzt, klare Grenzen zwischen den Bereichen von geordneter Zivilisation und anarchischer Nicht-Zivilisation zu ziehen. In der Reihe von Glosas aus den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs, die später als Briefroman unter dem Titel Tina i la Guerra Gran erschienen sind, entwirft d’Ors deshalb ein Bild von der europäischen Zivilisation im Zeichen der Einheit, das sich auf diese Weise ausdrücklich gegen chaotische Kräfte von außen wendet. Die Briefe an Tina gehen von einer fiktiven Kommunikationssituation aus: Eugeni d’Ors schreibt in den Monaten von August bis Dezember 1914 seine täglichen Glosas in Form von Briefen an ein siebenjähriges deutsches Mädchen, das er im Jahr zuvor in den Ferien kennengelernt haben will und als deren «Únic Amic» er sich bezeichnet. In diesen Briefen setzt er sich mit der Realität des Krieges auseinander, von der er im neutralen Spanien zwar nur mittelbar betroffen ist, die für ihn aber dennoch einen Schock bedeutet. Anknüpfend an diesen Einschnitt des Kriegsbeginns stellt d’Ors in seinen Briefen deshalb allgemeine Überlegungen über die Einheit der europäischen Kultur an; diese finden schließlich ihren Abschluss in einem Manifest dels Amics de la Unitat Moral d’Europa am Ende der kurzen Erzählung. Dem Manifest und den Briefen an Tina insgesamt liegt die Annahme zugrunde, dass der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich das Wesen (und das heißt bei d’Ors eben immer: die Einheit) der europäischen Kultur grundsätzlich bedrohe: L’Únic Amic […] ja sap allò que ell ha de pensar. El que ell, el que tot home servidor dels interessos de la Cultura i que tingui prou llibertat d’esperit per fer-ho han de pensar sobre l’actual conflicte, és això: La guerra entre França i Alemanya és una Guerra Civil.19

Anders als viele seiner spanischen Zeitgenossen spricht d’Ors sich in den Briefen an Tina weder eindeutig für die Sache der Alliierten noch für diejenige der Deutschen aus – ihm geht es von Anfang an vielmehr um die Gemeinsamkeit dessen, was er abschließend dann als «moralische Einheit Europas» bezeichnen wird. Vor diesem Hintergrund ist seine Diagnose zu verstehen, der Krieg sei ein Bürgerkrieg, bei dem sich Gegner gegenüberstehen, denen es eigentlich um die Bewahrung ihrer kulturellen Gemeinschaft zu tun sein müsste.20 Im Verlauf der Briefe wird allerdings immer deutlicher, wodurch d’Ors die Einheit tatsächlich bedroht sieht – nämlich

18 19 20

Vgl. dazu besonders Kapitel 2.3 Victor Hugo und Miguel de Unamuno: Europa als Zivilisation. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, Barcelona: Ed. 62 1987, S. 28. Vgl. dazu auch Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 95.

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nicht so sehr durch die europäischen Parteien innerhalb dieses Bürgerkriegs selbst, als vielmehr durch deren Allianzen mit nichteuropäischen Kräften, die von ihm ausdrücklich als «Wilde» beschrieben werden. Deren Mangel an Zivilisation ist es, der Europa und seine Kultur wesentlich mehr als der Krieg selbst in Frage stellt: Asseguren que ja arriben a França els senegalesos que s’ha pensat d’utilitzar en la guerra contra Alemanya. Sembla que aquests són soldats que, en començar una batalla, es posen tots nus. A aquests negres salvatges es confiarà en la lluita, representació d’aquell sentit espiritual a què devem Nancy i les reixes de Jean Lamour. I ja no podrem desitjar la victòria de les reixes de Jean Lamour sense desitjar la victòria dels negres salvatges.21

Implizit liegt auch dieser Invektive gegen die vermeintlichen Wilden eine klare Vorstellung von der Ordnung zugrunde, die durch sie bedroht wird: In Frankreich fehle es derzeit an dem nötigen Bewusstsein für Autorität – und das, obwohl d’Ors diese Autorität eigentlich als ein genuin französisches Konzept im Vergleich zu der deutschen Idee von Freiheit charakterisiert.22 Aber gerade weil die klar gegliederte Autorität seiner Meinung nach für Frankreich essentiell sein müsste, fürchtet er, dass ein Verzicht darauf das Land insgesamt in die Barbarei zurückfallen lassen könnte: «Es tracta […] d’evitar que pobles com el de França retrogradin a la barbàrie.»23 Der Gegensatz, den d’Ors mit seinen Befürchtungen aufmacht, ist hier ein doppelter: Auf der einen Seite handelt es sich um das bekannte Muster von der europäischen Zivilisation und der sie bedrohenden Barbarei.24 Auf der anderen Seite steht jedoch mit der Alternative von Autorität und Freiheit noch ein anderer Antagonismus zur Debatte, der sich wiederum in dieses größere Muster von Zivilisation und Barbarei einfügt. Ist die Bedrohung, die für d’Ors von der nicht-europäischen Barbarei für die europäische Einheit ausgeht, vor allem auf das anarchische Poten-

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Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 36–37. Jean Lamour war im 18. Jahrhundert Kunstschmied des französischen Königs; er hat auf der Place Stanislas in Nancy die berühmten Grilles de Lamour hergestellt – eben jene «reixes», die d’Ors erwähnt. D’Ors spricht in diesem Kontext auch ausdrücklich nicht nur von außereuropäischen, sondern sogar von «gegeneuropäischen» Elementen. Vgl. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 96. Leicht euphemistisch mag deshalb folgende Feststellung von Helmuth Rothert erscheinen: «Nicht-europäischen Völkern gegenüber hat d’Ors zeit seines Lebens ein gewisses Unbehagen, wenn nicht gar Misstrauen an den Tag gelegt.» (Helmuth Rothert: Eugenio d’Ors. Gestalt und Werk, Köln 1977 (Dissertation), S. 96). Vgl. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 91. Dieser Gegenüberstellung entspricht d’Ors’ Vorgehensweise in den Briefen an Tina insgesamt: Er untersucht darin die Unterschiede zwischen der französischen und der deutschen Kultur – dies aber immer vor dem Hintergrund der europäischen Einheit, für die diese Unterschiede unabdingbar sind. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 103–104. In der Glosse Africa y Europa wird deutlich, dass d’Ors die Zivilisation in diesem Zusammenhang immer als eine bewusste und künstliche Überwindung einer Art von Urzustand betrachtet: «Por dentro, por dentro, todos somos africanos. […] Pero, así como la Historia no excluye a la Prehistoria, sino que se inserta en ella, Europa – en ciertos países y gracias siempre a un esfuerzo de bendita artificialidad – se coloca sobre Africa y la somete.» (in: Nuevo Glosario II, S. 206–207).

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tial dieser Barbarei zurückzuführen, so sind umgekehrt die Konzepte von Autorität und Freiheit beide innerhalb der europäischen Ordnung zu verorten. In der historischen Verbindung der germanischen Barbaren mit dem Römischen Reich ist es nach d’Ors nämlich auch zum Zusammenschluss der ursprünglich germanischen Idee von Freiheit mit der lateinischen Idee von Autorität gekommen; die eigentlich barbarische und anarchische Freiheit hat für ihn damit ihr anarchisches Potential verloren und ist zu einem elementaren Bestandteil der europäischen Ordnung selbst geworden.25 Solange Autorität und Freiheit sich deshalb die Waage halten, geht von der Freiheit allein nicht mehr die Gefahr von Anarchie und Unordnung aus. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass d’Ors in seinen Briefen an Tina der außereuropäischen Bedrohung des Kontinents durch die vermeintlichen ‹Wilden› ein zweites Konzept von Barbarei zur Seite stellt, das wesentlich weniger negativ aufgeladen ist, als das üblicherweise der Fall ist: Jo als germànics els deia també ‹bàrbars›... Pero no confonguem, per Déu, les coses. Quan el mot, en ocasions aixì, era traçat per la meva ploma, tenia un sentit limitat, especial, tècnic […]. Era un mot sinònim, per exemple, a ‹romàntic› […]. En el vulgar llenguatge, ‹bàrbar› té un valor radicalment pejoratiu; ‹romàntic›, un valor melioratiu. Dins la renovació de valors, per nosaltres intentada, ambdues es feien iguals. Es tractava només de designar, amb mots de bella història dins el vocabulari de la cultura, una posició de no continuïtat respecte al central d’ella.26

Dieser Verweis auf die Parallelität der beiden Begriffe ‹barbarisch› und ‹romantisch› ist nun in einem Kontext bezeichnend, in dem immer auch ein weiterer Gegensatz innerhalb der europäischen Kultur eine wichtige Rolle spielt: derjenige zwischen Klassizismus und Barock. Diese beiden historischen Konstanten sind zentral im Werk von Eugeni d’Ors; sie werden von ihm ebenfalls als Äonen beschrieben und fungieren daher niemals im Sinne von bloßen kunstgeschichtlichen Epochenbezeichnungen, sondern immer als variable Grundmuster, die die europäische Kultur in ihrem ständigen Widerstreit zwischen Ordnung und Anarchie im Laufe der Jahrhunderte entscheidend geprägt haben.27 Wie vor ihm schon Ernst Robert Curtius, André Gide und Heinrich Mann hat auch Eugeni d’Ors im Jahr 1931 an einer der sommerlichen Dekaden von Pontigny teilgenommen,28 und die europäischen Gespräche, die er dort in Burgund geführt hat, widmeten sich, wie er später schreibt, einem «ensayo de elucidación de la teoría, la historia y la crítica de los conceptos de Barroco y barroquismo.»29 In d’Ors’ Verständnis des Barock stellt nun die Romantik, die er in den Briefen an

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Vgl. zu dieser Vorstellung von den einander gegenüberstehenden Konzepten von Autorität und Freiheit auch Enric Jardi: Eugenio d’Ors. Obra y vida, S. 155. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 44. Vgl. allgemein zu den Äonen Klassizismus und Barock Eugeni d’Ors: La ciencia de la cultura, S. 145–189. Vgl. zu Pontigny und dem europäischen Austausch, der dort in der Zwischenkriegszeit stattgefunden hat, Kapitel 1.3 Fluchtpunkte: Räumliche Konkretisierungen des geistigen Europas. Eugeni d’Ors: La Querella de lo Barroco en Pontigny, S. 82.

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Tina den Deutschen zuschreibt, ausdrücklich nichts weiter als eine Spielart dieser historischen Konstante im Gegensatz zu derjenigen des Klassizismus dar. Der Begriff ‹Barock›, so erklärt er, sei für ihn ein Modell jüngeren Datums, dessen Stelle zuvor von dem systematisch weniger präzisen Begriff der Romantik ausgefüllt worden sei.30 Dieser Lesart folgend müssen deshalb seine in den Briefen an Tina parallel verwendeten Begriffe ‹barbarisch› und ‹romantisch› noch um das dritte Synonym ‹barock› ergänzt werden. Wenn d’Ors diese drei Begriffe nun wie in der zitierten Passage dazu verwendet, eine Position der fehlenden Kontinuität innerhalb der Kultur zu kennzeichnen, dann ist das vor dem Hintergrund seiner Abgrenzung des Barock von dessen klassizistischem Gegenmodell zu verstehen. Barock und Klassizismus sind für d’Ors «die beiden fundamentalen Gestaltungskräfte im Entwicklungsgang der Kulturgeschichte»,31 und auch sie fügen sich in das grundsätzliche antagonistische Verhältnis von Ordnung und Zerstreuung ein, das er in der europäischen Geschichte am Werk sieht: Se llama ‹clasicismo› a todo el esfuerzo hacia el Orden y la Unidad, y ‹barroquismo›, a la inclusión del movimiento y la Multipolaridad, o mejor, Multiplicidad como principales motores y fines de la obra salida de las manos del hombre.32

Entscheidend ist an dieser Stelle nun, dass Eugeni d’Ors Klassizismus und Barock explizit an bestimmte Räume innerhalb Europas bindet: Wo in Griechenland der Klassizismus in der Kunst – und letztlich auch im Leben – zu seiner reinsten Entfaltung gekommen ist, da steht Portugal für das entgegengesetzte Modell eines barocken Kunst- und Lebensstils. Beide Länder sind damit jeweils an einem Ende einer kulturellen Skala anzusiedeln, mittels derer die abstrakten Gegensatzpaare verräumlicht werden. Jenseits der beiden geographischen und kulturellen Extrempunkte Griechenland und Portugal finden sich weder Klassizismus noch Barock in Reinform – alle anderen Räume in Europa sind durch graduelle Abstufungen der beiden Konzepte geprägt: La aplicación de una especie de análisis químico al conglomerado que llamamos ‹Europa›, revelaría como resultado la presencia de dos únicos cuerpos simples: Grecia y Portugal. El simple de lo clásico y el simple de lo barroco. […]. Sí, dos únicos cuerpos simples en Europa; el resto, cuestión de dosis.33

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Vgl. Eugeni d’Ors: La ciencia de la cultura, S. 149. Hier heißt es: «Sólo muy recientemente se concede a las fórmulas ‹barroco›, ‹barroquismo›, una atención un poco ahincada. Ha acontecido también que […] se designaran con las expresiones ‹romántico›, ‹romanticismo›, conceptos bastante análogos, aunque desprovistos todavía de sistemática precisión.» Helmuth Rothert: Eugenio d’Ors. Gestalt und Werk, S. 229. Vgl. auch Loretta Frattale: Volontà di classicismo e nostalgia del barocco in ‹La vall de Josafat› di Eugeni d’Ors, in: Carlos Romero/Rossend Arqués (Hg.): La cultura catalana tra l’umanesimo e il barocco, Padova: Ed. Programma 1994, S. 385–398. Carlos d’Ors Führer: Para un diccionario filosófico de Eugenio d’Ors, in: Cuadernos Hispanoamericanos 589–590 (1999), S. 7–48, hier S. 29. Eugeni d’Ors: Glosas a Portugal III, in: Ders.: Nuevo Glosario III, S. 504.

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Die Idee von einem eher atlantischen Barock und einem eher mediterranen Klassizismus, die sich hier implizit abzeichnet, findet ihre Erklärung in der Vorstellung von der mythischen, im Meer versunkenen Zivilisation Atlantis, auf die d’Ors in diesem Zusammenhang häufig rekurriert – wie es bereits Miguel de Unamuno und José Ortega y Gasset in jeweils anderen Kontexten getan hatten. Anders als bei Unamuno, der Atlantis in seiner Exilinsel Fuerteventura aufs Neue verwirklicht gesehen und diese dadurch zur schöpferischen Sphäre à part stilisiert hatte,34 fungiert Atlantis bei Eugeni d’Ors aber immer ausdrücklich als ein klar konturiertes Gegenmodell zu Europa. Atlantis wird mit einer Bewegung weg von Europa identifiziert – zum Teil verweist d’Ors deshalb auf die transatlantischen ehemaligen Kolonien in Amerika, meist jedoch belässt er es bei dem etwas unscharfen Hinweis auf den Atlantik selbst, der die äußerste Grenze Europas darstelle.35 Atlantis kann, metaphorisch gewendet, in bestimmten Fällen aber auch für die europäische Zivilisation selbst stehen, und zwar dann, wenn dieser das Bewusstsein für sich selbst und für ihre Geschlossenheit verloren geht, wenn also die zentrifugalen Kräfte in Europa Oberhand über die zentripetalen gewinnen. So schreibt d’Ors 1923, nach dem Einschnitt des Ersten Weltkriegs: ¡Ay! Si toda una generación, la que conoció profundamente el sabor de Europa entre los comienzos del siglo y el año de 1914, debiera morir, sin gustarlo otra vez! ¡Si Europa, moralmente, se nos convirtiera en una Atlántida, en un continente sumergido por una catástrofe!36

Die Gefahr, die hier evoziert wird, ist einmal mehr diejenige der Anarchie: Der atlantischen Gefahr des Untergangs kann der Kontinent nur begegnen, indem er sich auf die Einheit seiner Kultur besinnt – und die sieht eben die Ergänzung des Barock durch den Klassizismus und diejenige des Atlantiks durch das Mittelmeer vor. Vor diesem Hintergrund kommt nun Spanien insofern eine Schlüsselrolle zu, als d’Ors sein Heimatland wegen seines Zugangs sowohl zum Mittelmeer als auch zum Atlantik und der daraus resultierenden sowohl klassizistischen als auch barocken Prägung ausdrücklich zum «Torwächter» zwischen den Zonen bestimmt.37 Seine Position des Übergangs qualifiziere das Land dazu, zwischen der idealen Ordnung von Europa und der drohenden Zerstreuung von Atlantis zu vermitteln: «He aquí un gran secreto esencial de toda la cultura española.»38 Obwohl dieses Modell von Spanien als Mittler zwischen Mittelmeer und Atlantik dabei scheinbar eine Gleichberechtigung zwischen den beiden unterschiedlichen

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Vgl. Kapitel 2.5.1 Fuerteventura. Vgl. dazu ebenfalls etwas unscharf Jaime Ferrán: Eugenio d’Ors entre Europa y Atlántida, in: Atlántida. Revista de Pensamiento Actual 15 (1965), S. 277–284. Vgl. auch Eugeni d’Ors: Europa y Atlántida, in: Ders.: Glosari 1916, Barcelona: Quaderns Crema 1992, S. 104. Eugeni d’Ors: El momento de Francia – Alerta, in: Ders.: Nuevo Glosario I, S. 655. Vgl. Eugeni d’Ors: La marina, in: Ders.: Nuevo Glosario II, S. 741. Eugeni d’Ors: Atlántida y el Imperio de Carlomagno, ebd., S. 298.

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kulturell-geographischen Konzepten impliziert, macht d’Ors allerdings deutlich, dass seine eigene Präferenz angesichts der Alternative immer dem klassizistisch geordneten, mediterranen Europa und nicht dem latent anarchischen, barocken Atlantis gilt: «La cuestión fundamental está en el problema de escoger […] entre ser rabo del león de Europa o cabeza del ratón de Atlántida.»39 Dieses im weitesten Sinne auf die Geographie rekurrierende Verständnis von Europa bleibt bei Eugeni d’Ors aber immer darauf angewiesen, kulturell präzisiert zu werden – das betont er beispielsweise, wenn er sich mit dem Begriff ‹Kontinent› auseinandersetzt. So habe der Fall von Konstantinopel keineswegs den geographischen Umriss Europas beeinflusst, argumentiert er, wohl aber durchaus seine kulturelle Ausdehnung gebremst.40 Der Punkt, um den es ihm bei dieser Unterscheidung zwischen den geographischen und den kulturellen Grenzen eines Kontinents eigentlich geht, ist jedoch ein anderer: Das Mittelmeer, das gemeinhin als Grenze zwischen Kontinenten gilt, kann für Eugeni d’Ors keinesfalls eine solche Grenze darstellen, weil das Meer in seiner Wahrnehmung nichts Trennendes, sondern vielmehr etwas Verbindendes hat. Die beiden Kontinente Afrika und Europa seien nicht in einem schlichten geographischen Sinne voneinander zu scheiden; vielmehr sei der Norden Afrikas, kulturell gesehen, eindeutig Europa und eben nicht Afrika zuzuschlagen: «Entendida así, parece indudable que Europa lleva su ámbito territorial hasta el Sáhara mismo.»41 Das Mittelmeer wird für Eugeni d’Ors so nicht allein dadurch zum zentralen Raum in Europa, dass er hier den Ursprung der europäischen Zivilisation verortet, sondern auch dadurch, dass sich dabei deutlich zeigt, worauf seine wiederkehrende Frage nach dem Antagonismus von Anarchie und Ordnung in der europäischen Geschichte schließlich abzielt: Wenn er den mediterranen Einflussbereich vor allem mittels kultureller und eben nicht allein mittels geographischer Markierungen einzugrenzen bemüht ist, dann geht es dabei immer auch um die Möglichkeiten einer Realisierung von jener idealen Form von Harmonie, die in der Vorstellung eines kulturell einheitlichen Mittelmeerraums bereits vorgezeichnet ist.42

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Eugeni d’Ors: El ‹espíritu de Salamanca›, ebd., S. 481. Vgl. auch den Vorwurf, den d’Ors Miguel de Unamuno während des Ersten Weltkriegs macht: Dieser wolle aus Spanien ein gegen Europa gerichtetes Atlantis machen (Eugeni d’Ors an Miguel de Unamuno, 11. April 1916, in: Vicente Cacho Viu: Revisión de Eugenio d’Ors (1902–1930), Barcelona: Quaderns Crema 1997, S. 346). Vgl. Eugeni d’Ors: El ‹continente› como entidad de cultura, in: Nuevo Glosario III, S. 629. Ebd., S. 630. Vgl. zu diesem Verständnis des Mittelmeers als einheitlichem Kultur- und Zivilisationsraum auch Fernand Braudel (Hg.): La Méditerranée. L’espace et l’histoire, Paris: Flammarion 1993, und Fernand Braudel/Georges Duby (Hg.): La Méditerranée. Les hommes et l’héritage, Paris: Flammarion 1992. Hier heißt es zum Beispiel: «Dans son paysage physique comme dans son paysage humain, la Méditerranée carrefour, la Méditerranée hétéroclite se présente dans nos souvenirs comme une image cohérente, comme un système où tout se mélange et se récompose en une unité originale.» (Fernand Braudel:

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4.1.2

Ein neues Reich

Anspielungen auf diese kulturelle Einheit des Mittelmeerraumes hatten sich an verschiedenen Stellen in d’Ors’ Auseinandersetzung mit den Konzepten von Klassizismus und Barock gefunden. Während der Atlantik mit dem Barock in Verbindung gebracht wurde, war das Mittelmeer der dem Klassizismus entsprechende Raum gewesen.43 Diese Kombination der beiden Konzepte von Mediterranismus und Klassizismus entspricht nun genau dem Programm der Bewegung des katalanischen Noucentisme, wie es vor allem Enric Prat de la Riba in seinem Buch La Nacionalitat Catalana von 1906 skizziert hat.44 Den Noucentistes geht es zu Anfang des 20. Jahrhunderts um eine Erneuerung Kataloniens aus diesem Geist eines geordneten Klassizismus heraus; die Bewegung ist dabei ebenso literarisch wie politisch orientiert und findet ihre Anhänger vor allem im Milieu der 1901 gegründeten katalanistischen und konservativen Partei Lliga Regionalista. In deren Zeitung La Veu de Catalunya veröffentlicht der junge Eugeni d’Ors ab 1906 seine täglichen Glossen – und er nutzt dieses Forum vor allem auch zur Verbreitung der neuen Ideologie von Prat de la Riba und seinen Anhängern.45 Im Unterschied zu dem allgemeineren Mediterranismus, wie ihn etwa in Frankreich die neoklassizistische Bewegung der Ecole Romane um Jean Moréas propagiert hat, zeichnet sich dabei deutlich die besondere katalanische Stoßrichtung der Bewegung des Noucentisme ab: Den Noucentistes ist es um die Formulierung und Begründung einer spezifisch katalanischen Identität zu tun; dazu berufen sie sich auf die Ordnung des mediterranen Klassizismus und grenzen sich nicht zuletzt dadurch von der literarischen Vorgängergeneration der unter romantischem Einfluss stehenden Modernisten ab.46 Vor allem in den fortlaufenden Glosas aus dem Sommer 1911, die später als kurze Erzählung unter dem Titel La Ben Plantada erscheinen, entwirft Eugeni d’Ors Katalonien im Einklang mit dieser Ideologie als einen Ort, an dem Einheit und Ordnung im Sinne des mediterranen Klassizismus in idealer Weise realisiert

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La Méditerranée, in: Ders. (Hg.): La Méditerranée. L’espace et l’histoire, S. 7–11, hier S. 10). Vicente Cacho Viu betont deshalb die «connotaciones mediterraneizantes del clasicismo orsiano», vgl. Vicente Cacho Viu: Revisión de Eugenio d’Ors, S. 52. Vgl. dazu auch Enric Jardi: Eugenio d’Ors. Obra y vida, S. 59–61. Vgl. Enric Prat de la Riba: La nacionalidad catalana (= La Nacionalitat Catalana), edición bilingüe, Madrid: Biblioteca Nueva 1998. Vgl. auch Vicente Cacho Viu: Revisión de Eugenio d’Ors, S. 98–100. Vgl. dazu Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors, vor allem S. 313 und S. 388. Masramon Oliver spricht ausdrücklich von der «volonté de diriger la conscience et la formation culturelle d’un pays en état de renaissance ou de construction», die sich in d’Ors’ Glossen ausdrücke (ebd., S. 196). Vgl. allgemein dazu Isidor Marí i Mayans: Die katalanischen Länder. Geschichte und Gegenwart einer europäischen Kultur, Berlin: Ed. Tranvía, Verl. Frey 2003, S. 135 ff; zu den Unterschieden zwischen Modernisme und Noucentisme vor allem auch Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors.

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sind, und der deshalb seine besondere Identität aus diesem Klassizismus heraus und in Abgrenzung zu einem vermeintlichen kastilischen Mystizismus entwickelt: La Bien Plantada fue ofrecida por su autor como símbolo de la catalanidad. […] Frente al supuesto misticismo castellano, frente a la sed de horizontes infinitos y nostalgias de mares sin orillas, frente a la tentación de la aventura por vastísimos, inexplorados continentes y frente al ‹sentimiento trágico de la vida›, se predicaban el límite, la proporción, los ‹detalles exactos›, el orden, la armonía, el sentido clásico de la existencia.47

Dennoch geht es in La Ben Plantada nicht um Katalonien allein: Wenn die Region sich hier vor allem durch ihren Klassizismus auszeichnet, dann ist dabei besonders die Idee von der diesem Klassizismus zugrunde liegenden Harmonie und inneren Ordnung von Bedeutung. Dieses Verständnis von der Ordnung einer eng umgrenzten Region ist es nun, das d’Ors in La Ben Plantada dazu veranlasst, Katalonien zur Keimzelle für ein größeres Reich neuer Ordnung zu stilisieren, das ebenfalls auf einer solchen idealen Harmonie aufbauen soll. La Ben Plantada ist eine Sommergeschichte: In einem namenlosen Ferienort an der katalanischen Küste taucht eines Tages überraschend für alle Sommergäste eine unbekannte junge Frau auf – Teresa, die von dem Ich-Erzähler La Ben Plantada genannt wird und deren Auftauchen die kleine sommerliche Kolonie revolutioniert.48 Schon in ihrer äußeren Erscheinung – schön, hochgewachsen, weiß gekleidet – ist Teresa ein Symbol für den mediterranen Klassizismus, wie ihn d’Ors und die Noucentistes propagieren; sie ist es aber mehr noch dadurch, dass ihre bloße und zumeist wortlose Anwesenheit einen Grad an Ordnung und Harmonie herstellt, der jede diesem klaren Klassizismus zuwiderlaufende Zerstreuung unmöglich macht und der sich insofern positiv auf ihre gesamte Umgebung auswirkt: Així – i no d’altra faisó que un xic d’oli aquieta una extensió d’ones agitades –, la presència de la Ben Plantada ho quieta i asserena i ordena tot, fins a moltes passes de la rodalia i fins a moltes, moltes ànimes de la rodalia.49

Teresa wird so als Verkörperung des idealen Maßes beschrieben, und die Tatsache, dass ihre Person immer wieder auch ausdrücklich mit dem Mittelmeer in Verbindung gebracht wird, an dessen Küste man sich befindet, macht aus dem katalanischen Ferienort und seiner Umgebung einen Raum, innerhalb dessen die von ihr repräsentierte Kultur der klassischen Ordnung eindeutig zu verorten ist – Teresa wird so zur emblematischen Verkörperung des mediterranen Klassizismus, der das Ziel der noucentistischen Erneuerungsbestrebungen für Katalonien darstellt.50 Tatsächlich verweist d’Ors auch explizit auf die einander ergänzenden Elemente dieser Ideologie, wenn er schreibt, er habe mit seiner kleinen Erzählung

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José Luis Aranguren: La filosofía de Eugenio d’Ors, Madrid: Espasa Calpe 1981, S. 121. Die Bezeichnung ‹ben plantat› bedeutet eigentlich ‹gutaussehend› – aber in einem sehr weiten Sinne zugleich schön, gut gebaut, gesund, kräftig, ansehnlich etc. Eugeni d’Ors: La Ben Plantada, in: Ders.: La Ben Plantada – Gualba, la de mil veus, Barcelona: Ed. Selecta 1980, S. 34. Vgl. Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors, S. 205.

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«una lliçó de catalanitat eterna, de tradició, de patriotisme mediterrani, d’esperit clàssic» geben wollen.51 Im Blick auf die europäische Kultur insgesamt werden diese Elemente nun insofern bedeutsam, als die Harmonie, die Teresas Anwesenheit in der Ferienkolonie bewirkt, diese zu einem einerseits in sich abgeschlossenen, andererseits aber auch nach außen ausstrahlenden Raum werden lässt. Hier in dem katalanischen Ferienort findet d’Ors auf diese Weise eine Art Ursprung für eine neue Ordnung, wie sie sich idealerweise in ganz Europa verbreiten soll. Über die Grenzen Kataloniens hinaus soll Teresas mediterran-klassische Erscheinung den klassischen Geist des Einklangs und der Einheit wirksam werden lassen und so der Unordnung und Desorganisation Einhalt gebieten, die Europa insgesamt immer wieder bedroht.52 Nicht umsonst wird der katalanische Raum, innerhalb dessen die neue Ordnung zuerst verwirklicht wird, deshalb immer wieder ausdrücklich als «Garten» beschrieben: Tot el poble s’ha tornat horta seva. I sembla de vegades – tant la Ben Plantada és perfecta i tant és ‹nostra› la mena de la seva perfecció –, que tota la nostra terra s’ha tornat també horta seva. I que el mar és horta seva també.53

Teresa wird in einer traumhaften Sequenz zum Schluss der Erzählung gewissermaßen endgültig zum Symbol für die mediterrane Harmonie transfiguriert (oder sie wird, wie d’Ors es beschreibt, von einer bloßen Anekdote zur umfassenderen Kategorie). Auch hier bleibt der enge Bezug zu dem Bild des Gartens gewahrt: Die Apotheose, in der Teresa vor den Augen des Erzählers zum Himmel empor fährt, findet zwar nicht mehr in dem metaphorischen katalanischen Garten statt, dafür aber in den tatsächlichen Gärten von Este in Tivoli – von denen es ausdrücklich heißt, sie seien «els mes meravellosos jardins del món».54 Der enge Bezug zum Mittelmeer bleibt durch die Verlagerung der Handlung nach Italien gewahrt; darüber hinaus wird der italienische Garten aber durch seine räumliche Nähe zu Rom noch deutlicher als der katalanische zum Modell für die Einheit und Ordnung, für die diese Stadt bei Eugeni d’Ors immer steht. Das Muster von korrespondierenden und miteinander in Verbindung stehenden Gärten, das La Ben Plantada so entwirft, findet in diesem Einheitsgedanken seine eigentliche Bestimmung: Nicht zuletzt durch die implizite Erinnerung an das Römische Reich geht es hier tatsächlich um eine Form der auch imperial verwirklichten Einheit. Dies hatte sich insofern bereits vorher angedeutet, als die

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Eugeni d’Ors: La Ben Plantada, S. 78. Vgl. zu den Konzepten von Katalanismus und Mediterranismus bei d’Ors allgemein auch Ada Suárez: El género biográfico en la obra de Eugenio d’Ors, Barcelona: Anthropos 1988, S. 23. Vgl. zu dieser Beziehung zwischen Mediterranismus und Europäismus bei d’Ors auch M. Riera Clavillé: El europeísmo de Eugenio d’Ors, in: Academia del Faro de San Cristóbal (Hg.): Homenaje a Eugenio d’Ors, Madrid: Ed. Nacional 1968, S. 173–177. Eugeni d’Ors: La Ben Plantada, S. 27. Núria Masramon Oliver betont die Bedeutung, die der Garten in allen Werken von d’Ors besonders unter dem Gesichtspunkt der Verbindung von Schönem und Nützlichem habe (vgl. Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors, S. 208). Eugeni d’Ors: La Ben Plantada, S. 107.

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von Teresa hervorgerufene Harmonie immer wieder auch Anlass gewesen war, den kleinen Ferienort – ihren Garten – auch als ihr «Reich» zu bezeichnen, und zwar auch hier in dem durchaus wörtlichen Sinne vom Imperium: Un cop acollida, ella, sense esforç ni solsament voler, se’n coĒloca, en quatre jorns, a la presidencia; i ara, com el poble, també la colònia que estiueja al poble és imperi de la Ben Plantada i el seu hort.55

Die Natürlichkeit dieser Machtübernahme spricht für sich – und wenn Teresa am Schluss, unmittelbar vor ihrer Apotheose, dem Erzähler der Glosas ihr ideologisches und dabei durchaus auch politisch zu verstehendes Programm in die Feder diktiert, dann stellt dieses Programm tatsächlich ein Modell in nuce eben derjenigen Vorstellungen von der Ordnung in Europa dar, die Eugeni d’Ors zeit seines Lebens immer wieder propagiert hat. Nicht umsonst gründet sich dieses Programm für Europa dabei in zahlreichen Entsprechungen auf das politische Programm, das der Noucentisme für Katalonien entwickelt hat. Gegen die zersetzenden Kräfte der Desorganisation, so erklärt Teresa, solle ein neues Reich entstehen, das von den Gesetzen des Klassizismus beherrscht wird und das aus diesen Gesetzen selbst seine Legitimation erhält. Mit der Aufgabe der Verbreitung dieser Ideen wird der Erzähler selbst betraut. Dadurch, dass er Teresas Geschichte – die Geschichte der harmonischen Ordnung Kataloniens – aufschreibt und damit ihren Geist weiterverbreitet, werden eben jene überkommenen Gesetze des Klassizismus erneuert, für die sie sinnbildlich steht und die in ihrem Reich am Mittelmeer bereits verwirklicht sind. Nicht um die Einführung einer völlig neuen Ordnung geht es d’Ors und seiner Figur Teresa also, sondern um die Restaurierung einer alten, die schon einmal bestanden hat und die eben in der Idee des Reiches oder Imperiums mit seiner klaren Ordnung und Hierarchie zum Ausdruck kommt. Dieser Vorstellung liegt so ein Gedanke von Tradition und Kontinuität zugrunde, der auch in einem ausdrücklichen Verweis Teresas auf das antike geistesgeschichtliche Erbe formuliert wird, das dazu beitragen solle, der modernen Zerstreuung Europas Einhalt zu gebieten.56 Die essentielle Bedeutung dieses klassischen Erbes für die neue europäische Ordnung, die d’Ors anstrebt und die er in dem Mikrokosmos des Gartens rund um das Mittelmeer verankert, wird in La Ben Plantada nun insbesondere durch die Schilderung der Folgen vermittelt, die ein Nachlassen von Teresas positivem Einfluss auf die Ferienkolonie haben müsste: Wenn ihre auf Ordnung und Harmonie gründende Herrschaft tatsächlich eines Tages enden würde, wie der Erzähler es zeitweise befürchtet, dann müsste es erst recht zu jener Anarchie und zu jenem Chaos kommen, die d’Ors in ihrer Unberechenbarkeit seit jeher so bedrohlich erschienen sind. Dann müsste aus dem blühenden Garten von Teresas Herrschaft eine unfruchtbare Wüste werden, wie es in der Erzählung wörtlich heißt.57 Da-

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Ebd., S. 45. Vgl. zu Teresas kulturell-politischem Programm ebd., S. 106–112. Vgl. ebd., S. 101.

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durch wäre aber auch jeder positive Bezug des mediterranen Gartens zu Europa als Einheit insgesamt gekappt: Tornem a ésser els íbers furiosos, perdent el nostre guany de civils mediterranis. Tornem a ésser africans, perquè allò europeu, allò clàssic que hi ha en nosaltres, només el culte a la Ben Plantada ho pot mantenir i acréixer i restaurar.58

Das zivilisatorische Modell von der Harmonie des Gartens, das auch dieser Vorstellung vom Umkippen der Zivilisation in die Anarchie zugrunde liegt, wird hier ausdrücklich zu einer Vorstellung von Europa in Bezug gesetzt, die die Begriffe ‹europäisch›, ‹klassisch› und ‹mediterran› synonym setzt. Teresas – ideelle – Herrschaft ist der Ursprung all dieser positiv besetzten Momente und wird deshalb durch die Metapher vom ‹Kult der Ben Plantada› auch religiös konnotiert. In seinen Briefen an Tina, die drei Jahre nach der Erzählung La Ben Plantada entstehen, präzisiert Eugeni d’Ors diese Vorstellung von der Verbindung zwischen Klassizismus, Mediterranismus und Europäismus vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs insofern, als er sie hier ausdrücklicher noch in einen Kontext stellt, der auch einen europapolitischen Anspruch hat. Bei dem Versuch, in den ersten Tagen des Weltkriegs seine Gedanken zu ordnen, findet der Verfasser der Briefe eine weitere Verwirklichung seines Modells vom Garten an der katalanischen Küste außerhalb der Stadt Barcelona: Der Aufenthalt in einer kleinen Eremitage, von der aus eine Bucht und weite Teile des mediterranen Gartens zu überblicken sind, soll ihm dabei helfen, seine seit Beginn des Krieges verlorene Ruhe wiederzufinden. Ausdrücklich wird hier das älteste Modell des Gartens überhaupt zitiert, wenn d’Ors den Rückzugsort seines Glosadors als ein «Paradies» in der mittelmeerischen Tradition beschreibt, und dieses Paradies des Friedens explizit in Kontrast setzt zu der Hölle des Krieges im Zentrum Europas.59 Hier im Paradies kommt es nun zu einer Art Vision, die ihm eine Lösung für die unmittelbaren, durch den Krieg bedingten europäischen Probleme ebenso wie für die Zukunft Europas überhaupt zu bieten scheint. An der weißen Wand der Kirche glaubt der Briefschreiber plötzlich die Buchstaben S, I, R und G zu erkennen, und er liest aus diesen scheinbar unzusammenhängenden Lettern folgerichtig (und dem griechisch-antiken Vorbild folgend) die Prophezeiung eines Orakels heraus: Mit der Abkürzung muss das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gemeint sein – denn das heißt auf katalanisch Sacre Imperi Romà Germànic. Dieses Heilige Römische Reich ist nun das Vorbild, an dem sich die Vorstellungen von Eugeni d’Ors zu Europa wesentlich orientieren; ein solches übernationales Imperium gilt es für ihn wieder herzustellen, und er beruft sich dabei ebenso auf die antike Tradition des Imperiums wie auf die entscheidende Prägung, die der Reichsgedanke später durch Karl den Großen und sein Karolingerreich erfahren

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Ebd. Vgl. zu dem hier angesprochenen europäischen Bezug auch Vicente Cacho Viu: Revisión de Eugenio d’Ors, S. 69–70. Vgl. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 58–59.

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hat.60 Allein dadurch, dass das klassische Reich der Ordnung und der Harmonie am Mittelmeer (wie er es drei Jahre zuvor in La Ben Plantada beschrieben hatte) jetzt nach dem Vorbild dieser historischen Imperien auf ganz Europa ausgedehnt werde, könne das durch den Krieg ganz unmittelbar bedrohte Europa lebendig bleiben: El meu vot és per Europa!, el meu, d’anhel, és per la reconstitució mística de l’imperi de Carlemany. […] Venci qui venci, caigui qui caigui, el victoriós serà l’imperi de Carlemany, la vivent Europa.61

Der Imperialismus, der dieser europäischen Vision von Eugeni d’Ors zugrunde liegt, wendet sich aus dem Gedanken der Einheit heraus ausdrücklich gegen jede Form des Nationalismus: «Inteligencia y nacionalismo son términos que se excluyen»,62 konstatiert er. Während der Nationalismus egozentrisch und insofern unverantwortlich sei, präge den Imperialismus das starke Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung. Für d’Ors arbeitet der Nationalismus wegen seiner Selbstbezogenheit für die Seite der Zerstreuung und Zersplitterung in Europa; im Gegensatz dazu wirke der Imperialismus durch das lebendige Bewusstsein seiner Verantwortung ordnend und vereinheitlichend: Nacionalismo es doctrina de irresponsabilidad de cada país por la suerte de los otros […]. Imperialismo, al contrario, conciencia de una responsabilidad de ultrafronteras.63

Nicht nur in den Briefen an Tina orientieren sich die Europavorstellungen von Eugeni d’Ors auch in diesem Zusammenhang mit der Idee eines verantwortlichen Imperiums dabei an dem Modell des karolingischen Reiches. Immer wieder fungiert der Name Karls des Großen als Chiffre, mit der er seine Vorstellung von einem neuen europäischen Reich der Ordnung eher knapp benennt, als dass er sie ausführlich kommentieren würde. So argumentiert er, die zersetzenden Kräfte hätten in Europa in dem Augenblick an Macht gewonnen, in dem das Karolingerreich zerfallen sei;64 dieses stehe deshalb im Gegensatz zu dieser Anarchie für die Einheit und Ordnung des Kontinents, und Karl der Große selbst wird dadurch in seiner Vorstellung zur Verkörperung des großen Europäers schlechthin.65 Die Vorstellung vom Imperialismus, die d’Ors mittels dieser Referenzen auf Karl den Großen propagiert, weiß sich damit tatsächlich einer gewissen «europeidad nostálgica» verpflichtet, wie d’Ors sie ausdrücklich für sich in Anspruch

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Vgl. zu diesem Gedanken vom Heiligen Römischen Reich als Vorbild für Europa auch Notker Hammerstein: Heiliges Römisches Reich deutscher Nation und Europa: Übereinstimmung oder Entgegensetzung, in: August Buck (Hg.): Der Europa-Gedanke, Tübingen: Niemeyer 1992, S. 132–146. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 30–31. Eugeni d’Ors: Valéry Larbaud, in: Nuevo Glosario I, S. 798–799. Eugeni d’Ors: Naçao portuguesa, ebd., S. 1141–1142. Vgl. etwa die Glossen No hay más que una guerra, ebd., S. 27–28, und Atlántida y el Imperio de Carlomagno, in: Nuevo Glosario II, S. 297–298. Vgl. die Glossen En Dinamarca – Brandes, in: Nuevo Glosario I, S. 593–594, Por la unidad moral de Europa, ebd., S. 915–916 und El Imperio de Carlomagno, ebd., S. 656–657.

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nimmt.66 Das europäische Reich, das er mit seinen Vorstellungen von einer klaren Ordnung und Harmonie anstrebt, hat bereits einmal existiert – eben in Form des Karolingerreiches oder auch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, wie es die ‹Vision› aus den Briefen an Tina suggeriert hatte. Für Eugeni d’Ors gilt es deshalb vor allem, an diese alten Strukturen anzuknüpfen, sie freizulegen oder ein Bewusstsein für sie zu schaffen – und insofern ist seine Zielsetzung gerade im Zusammenhang mit seiner politischen Auseinandersetzung mit dem Imperialismus als Gegenmodell zum modernen Nationalismus in demselben Sinne restaurativ, wie es auch Teresas politisches Programm einer Erneuerung durch Bewahrung gewesen war. Eugeni d’Ors begründet sein Modell eines europäischen Imperiums aber mit der Notwendigkeit der Verantwortung der einzelnen europäischen Länder auch für die jeweils anderen, und er versucht, es aus dem Mikrokosmos seines katalanischen Gartens heraus auf Europa auszudehnen. Damit verwirklicht er trotz der restaurativen und autoritären Tendenzen dieser imperialen Idee zuletzt ein Konzept der Überschreitung und Aufhebung von Grenzen, wie es bereits in der Heterotopie des Gartens angelegt ist. Als das deutsche Reich im Jahr 1910 seiner Provinz ElsassLothringen eine gewisse Autonomie zugesteht, sieht d’Ors darin einen Sieg seines positiv verstandenen Imperialismus über den kleingeistigen Nationalismus sowohl Deutschlands als auch Frankreichs, und er beschwört seine europäischen Zeitgenossen, weiter von der Einheit Europas zu träumen und die Hoffnung nicht aufzugeben, der Mikrokosmos der Grenzregion zwischen Deutschland und Frankreich könne einmal zur Keimzelle für eine Erneuerung des karolingischen Reiches werden.67 Mit dieser Argumentation greift er in vielen Punkten auf die Vorstellung voraus, die der Elsässer René Schickele nur wenige Jahre später von dem elsässischen Garten seiner Herkunft und dessen europäischer Bestimmung entwickeln wird.

4.2

René Schickele: Europa als Friedensprojekt

Hatte Eugeni d’Ors die elsässisch-lothringische Frage noch aus der katalanischen Distanz beschrieben und beurteilt, so ist René Schickele von den Entwicklungen dort viel unmittelbarer betroffen: «Meine Herkunft ist mein Schicksal»,68 so betont er, und bezieht sich dabei ausdrücklich auf die stets prekäre Situation des Elsass zwischen Deutschland und Frankreich. Diese schicksalhafte Herkunft aus einer Grenzregion, die im Laufe der Zeit – gezwungenermaßen – immer wieder die nationale Zugehörigkeit gewechselt hat, prägt nicht nur Schickeles Leben, das immer zwischen dem Elsass und Baden, Paris und Berlin, Frankreich und Deutschland pendelt, sondern ebenso auch sein literarisches Werk. So erklärt Thomas Mann in

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Eugeni d’Ors: Síntesis, ebd., S. 547. Vgl. Eugeni d’Ors: L’autonomia de l’Alsacia-Lorena, in: Ders.: Obra Catalana Completa. Glosari 1906–1910, S. 1300–1301. René Schickele: Autobiographische Notizen, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, Köln/ Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1959, S. 837.

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einem erstmals 1953 erschienenen Text über Schickeles Roman Die Witwe Bosca (1933) die Besonderheiten dieses Buches und seines Autors ausdrücklich mit Verweis auf dessen Herkunft aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet: Nicht die gesicherte, selbstverständliche und fraglose Existenz, – die zusammengesetzte, übergängliche und fragwürdige, des Fragens würdige Natur, der geistige Grenzfall macht das literarische Genie. Schickele ist Elsässer, er stammt aus dem Grenzlande, wo zwischen Deutschland und Frankreich die europäischen Geschicke immer hin und her schwankten: das bestimmt seine geistige Erscheinung, die Haltung und Stimmung seines reichen, reizvollen Lebenswerkes, es bestimmt selbst seine persönliche Wirkung, in der seine Deutschsprachigkeit mit dem körperlichen Typus eines französischen Intellektuellen kontrastiert.69

Von beiden Seiten, der deutschen und der französischen, sei Schickeles Prosa beeinflusst – während Frankreich zum Wesen dieser Prosa «Geist und Grazie» beigesteuert habe, könne man den deutschen Anteil nicht zuletzt in einer «gewisse[n] Naturhaftigkeit» erkennen. Auch wenn diese völkerpsychologischen Zuschreibungen ein wenig vereinfachend erscheinen mögen, so ist Manns Beschreibung doch vor allem im Hinblick auf ihre Betonung der «Fragwürdigkeit» einer solchen Grenzexistenz aufschlussreich – und das vor allem dadurch, dass sie ausdrücklich auf deren spezifisch «europäischen» Charakter verweist. Aus seiner persönlichen Wahrnehmung der Grenze heraus entwickelt René Schickele ein Bewusstsein dafür, dass an der sich immer wieder verschiebenden Grenze zwischen Deutschland und Frankreich tatsächlich nichts weniger als «die europäischen Geschicke» entschieden würden, wie Thomas Mann das formuliert. Diese Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, von der er hervorhebt, dass sie immer auch innerhalb der elsässischen Familien verlaufe,70 ist der Ausgangspunkt für Schickeles Beschäftigung mit Europa. Das Bild von seiner Heimat als fruchtbarer Garten zwischen den Vogesen und dem Schwarzwald, das viele seiner Texte zeichnen, kann vor diesem Hintergrund im Sinne einer Auflösung der als willkürlich empfundenen politischen Grenzen zugunsten eines einheitlichen Naturund Kulturraums verstanden werden. 4.2.1

Die Grenze

1932 veröffentlicht René Schickele einen Band mit Essays, der den Titel Die Grenze trägt.71 Auf dem Einband des Buches findet sich eine Fotographie des Autors, auf der er auf einer hölzernen Brücke über einen breiten Fluss steht, im Hintergrund

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Thomas Mann: Zur französischen Ausgabe von René Schickeles ‹Witwe Bosca›, in: Ders./René Schickele: Jahre des Unmuts (Briefwechsel 1920–1940), hrsg. von Hans Wysling und Cornelia Bernini, Frankfurt am Main: Klostermann 1992, S. 194. «Unsere Brüder dienten bei den Deutschen, unsere Vettern bei den Franzosen.» (René Schickele: August (1937), in: Ders.: Überwindung der Grenze. Essays zur deutschfranzösischen Verständigung, hrsg. von Adrien Finck, Kehl/Strasbourg/Basel: Morstadt 1987, S. 104–114, hier S. 110). René Schickele: Die Grenze, Berlin: Rowohlt 1932.

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sind die verschwommenen Umrisse der Stahlträger einer weiteren Brücke erkennbar. Der verbindende Charakter der beiden Brücken wird allerdings durch einen deutlich markierten Grenzpfahl unterlaufen, der sich hinter Schickele erhebt und der das Bild in zwei gleiche Teile zerschneidet. Ein Schild verweist darauf, man befinde sich hier, in der Mitte des Flusses, an einer «Hoheitsgrenze» – nämlich derjenigen zwischen dem Deutschen Reich und der République Française. Der Fluss, den die beiden Brücken überspannen, ist demnach der Rhein, und René Schickele steht genau an der Stelle, an der die durch den Pfahl hinter ihm bezeichnete Grenze verlaufen muss. Er hat den rechten Arm auf das Brückengeländer gestützt und ist dadurch ein wenig nach dieser rechten, deutschen Seite der Grenze hin geneigt; zugleich hält er aber die Beine überkreuzt und verlagert deshalb das Gewicht auf den Fuß, der auf der anderen, der französischen Seite steht. Die Symbolkraft, die dieser Fotographie innewohnt, zeigt sich in der Tatsache, dass sie seit ihrer ersten Veröffentlichung immer wieder reproduziert (und kommentiert) worden ist.72 So betont etwa Stefan Woltersdorff besonders, dass sich die Schreibhand des Autors auf der deutschen, sein Standbein dagegen auf der französischen Seite der Grenze befinde,73 und bestätigt damit die Selbstcharakteristik des Autors, der sich nach 1918 als «citoyen français und deutsche[n] Dichter» beschrieben hat.74 Die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, von der das Foto trotz der Brückenverbindungen so deutlich in zwei Hälften geteilt wird, verläuft insofern unmittelbar auch durch das Leben von René Schickele selbst: Als Sohn eines deutsch-elsässischen Vaters und einer französischen Mutter im deutschen Elsass nach 1871 geboren und aufgewachsen, ist Französisch im Wortsinn seine Muttersprache, das Deutsche lernt er erst auf der Schule. Dennoch wird er zeit seines Lebens auf Deutsch schreiben, und trotz seiner französischen Staatsangehörigkeit nach dem Ersten Weltkrieg die Jahre der Weimarer Republik hindurch ausschließlich in Deutschland leben, bis ihn 1932 der Nationalsozialismus in ein Exil nach Frankreich treibt, das man wegen der deutsch-französischen Herkunft des Exilanten und vor allem wegen seines französischen Passes eigentlich im engeren Sinne nicht als solches bezeichnen kann. Mit Blick auf diese Biographie erscheint es nicht verwunderlich, dass Schickele in seinen Werken immer wieder auf die Problematik der Grenze zurückkommt und dabei besonders deren letztlich paradoxen Charakter als vermeintlich unverrückbare und tatsächlich doch immer wieder Veränderungen unterworfene Markierung betont: «In der Tat waren wir durch die Jahrhunderte eine fließende Grenze»,75 schreibt er über das Elsass und verweist damit auf eine den Wechselfällen der Geschichte geschuldete Beweglichkeit dieser Grenzregion, die allerdings für ihre Bewohner in den meisten Fällen keineswegs positive Auswirkungen gehabt hat:

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Vgl. zum Beispiel das Cover des Buches von Adrien Finck: René Schickele, Strasbourg: Ed. Salde 1999. Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten von René Schickele 1899–1932, Bern/Berlin u. a.: Lang 2000, S. 1. René Schickele an Paul Block, 30.05.1928, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1149. René Schickele: Erlebnis der Grenze (1928), ebd., S. 1003.

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Solange wir denken können […] haben sich an unsrer Grenze der Deutsche und der Franzose gemessen, immer auf unsre Kosten. Wir mußten die Schiedsrichter abgeben auf dem Jahrmarkt der nationalen Eitelkeit, und wie wir auch ‹entschieden›, immer bekamen wir Prügel.76

An Schickeles Formulierung ist hier vor allem die Kollektivbezeichnung «wir» auffällig, mit der er sich und die Elsässer zu einer Einheit zusammenfasst: Wenn er nämlich schreibt, wir seien die Grenze gewesen, dann assimiliert er mit dieser Bemerkung den Grenzcharakter des Landes ausdrücklich auch für dessen Bewohner, denen er sich zugehörig fühlt. Dadurch, dass er die Grenzlandbewohner in der Folge weiter mit diesem kollektiven «wir» bezeichnet und entsprechend von «unsrer» Grenze spricht, schreibt er außerdem eine Abgrenzung dieser Grenzlandbewohner gegenüber den größeren nationalen Einheiten fest, zwischen denen die Grenze verläuft: «der Deutsche» und «der Franzose» gehören beide ausdrücklich zu Gruppierungen, die von dem gemeinsamen «wir» der Elsässer unterschieden werden müssen. Diese Markierung einer Differenz zwischen dem Land um die Grenze und den beiden Polen jenseits dieser Grenze prägt alle Texte Schickeles über das Elsass. Anders als Schriftsteller wie etwa Maurice Barrès mit seiner Trilogie Les Bastions de l’Est (1905–13) oder auf der anderen Seite Friedrich Lienhard mit seinem Oberlin (1910) geht es ihm niemals darum, das Elsass für die eine oder die andere Seite zu reklamieren und damit die Grenze zu zementieren,77 sondern es ist ihm vielmehr um die Besonderheit des Grenzlandes selbst zu tun. So schreibt er, es habe «von Anbeginn ein eigenartiges, niemals ganz französisches, niemals ganz deutsches Elsaß bestanden», und fügt hinzu, diese Eigenart des Elsass sei in einem «viel höheren, als provinziellen Sinne» zu verstehen.78 Die Grenze markiert so mehr als bloß eine schmale Trennungslinie zwischen zwei Ländern: Sie schafft darüber hinaus einen von diesen zwar beeinflussten, aber dennoch letztlich eigenständigen Zwischenbereich, innerhalb dessen sich bestimmte Probleme und Fragen stellen, der sich aber auch durch seine jeweils spezifischen Antworten auf diese Fragen auszeichnet. Für Schickele ist es dabei immer wieder die Frage nach der eigentlichen Identität des Grenz-Anrainers, die ihn umtreibt, und eine seiner Antworten auf diese Frage besteht in der Betonung der Besonderheiten der elsässischen Kultur: «Sie konnte sich von je nur mit geistigen Waffen helfen, die kleine Landschaft voll Menschen zwischen zwei großmächtigen Völkern.»79 Die

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Ebd. Vgl. Maurice Barrès: Les Bastions de l’Est, in: Ders.: Romans et voyages, Paris: Laffont 1994; und Friedrich Lienhard: Oberlin. Roman aus dem Elsaß während der Revolution, Straßburg: Neues-Elsaß-Lothringen-Verlag 2003. Vgl. zu Barrès auch Wiebke Bendrath: Ich, Region, Nation. Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Frankreich, Tübingen: Niemeyer 2003; zu Lienhard Michel Ertz: Friedrich Lienhard und René Schickele. Elsässische Literaten zwischen Deutschland und Frankreich, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1990. René Schickele: Das ewige Elsaß, in: Ders.: Die Grenze, S. 5–62, hier S. 10. René Schickele: Ebd., S. 9.

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Grenze zwischen Nationalstaaten wird auf diese Weise auch zur Demarkationslinie für das eigene Selbstbewusstsein – dass dieses Selbstbewusstsein dabei immer ein fragwürdiges und prekäres bleibt («Wo gehöre ich hin?»,80 fragt Schickele beispielsweise wörtlich in seinem Tagebuch), lässt die Grenze auch in diesem Falle abermals selbst problematisch werden. Denn die Grenze muss ihren Anrainern vor dem Hintergrund ihrer eigener ‹Grenzhaftigkeit› dauerhaft und auch schmerzhaft bewusst sein gerade dort, wo sich die politischen Grenzen an ‹natürlichen› Markierungen zu orientieren versuchen, wie sie die Vogesen oder eben vor allem der Rhein darstellen: Ein Mensch, ein armer Mensch schleppt sich über die Schloßtreppe. […] Von seinen Hunden umheult blickt er auf die Ebene, die der Rhein trennt, mit demselben messerfeinen Schnitt, womit er sein eigenes Leben entzweischneidet. Und wie der Elsässer Belchen auf einmal aus dem Dunst vorstößt, als wolle der große Büffel von einem Berg der funkelnden Schleife des Rheins in das Netz gehen, und die Ebene unter heftigen Windstößen sich immer mehr aufhellt, sinkt der Mensch auf der Treppe mit einem Ruck in sich zusammen.81

Der Blick vom Schwarzwald aus auf die Vogesen, der hier beschrieben wird, gibt dem zweiten Teil von Schickeles Romantrilogie Das Erbe am Rhein seinen Namen: Blick auf die Vogesen heißt dieser zweite Roman der Trilogie, und der Blick über die Rheinebene ist naturgemäß immer auch ein Blick auf die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich und über diese Grenze hinweg. Dennoch kann der grenzüberschreitende Blick den Einschnitt der Grenze in die Landschaft und in das Leben derer nicht vergessen machen, die da über sie hinwegschauen – ebenso wenig wie die zahlreichen Grenzübertritte, die Claus von Breuschheim, der zeitweilig in Südbaden lebende elsässische Protagonist der Romane, im Verlauf der Trilogie vollzieht. So beginnt Blick auf die Vogesen zwar optimistisch mit einer frühlingshaften Überquerung des Rheins durch Breuschheim, während der dieser die Vorstellung hat, sein Herz klopfe genau «in der Schwebe zwischen Deutschland und Frankreich, mitten auf dem Rhein, der ein heiliger Strom war»,82 aber die kühne Idee von einer «Überrumpelung der Grenzen durch einen schönen Tag», die er aus diesem Balanceakt entlang der Grenze entwickelt, wird unmittelbar darauf durch die sehr banalen Realitäten der Zollabfertigung ad absurdum geführt. Im dritten Teil der Trilogie kommt es deshalb der elsässischen Dichterin Aggie Ruf zu, für sich die bittere Erkenntnis desjenigen zu formulieren, der große Teile seines Lebens darauf verwandt hat, gegen Grenzen anzuschreiben und der sich zum Schluss doch eines starken Gefühls von der Sinnlosigkeit des eigenen Tuns nicht erwehren kann:

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René Schickele: Tagebuch, 28.04.1934, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1096. René Schickele: Blick auf die Vogesen, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1983, S. 163. Ebd., S. 7.

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Sollten Rheinbrücken, die gleichzeitig Grenzen waren, der geeignete Ort sein, Bruderküsse zu tauschen? Solche Brücken standen selbst im Frieden unter Geschützfeuer.83

Wie auf der Fotographie, die René Schickele auf einer solchen Rheinbrücke zeigt, ist es in dieser Passage der Widerspruch von verbindender Brücke einerseits und trennender Grenze andererseits, der die ganze Paradoxie dieser letzteren veranschaulicht: Einmal mehr erweist sich die politische Grenze gerade dort als besonders konstruiert und künstlich, wo sie sich an den natürlichen Gegebenheiten der Landschaft zu orientieren scheint. Denn nicht allein die Tatsache, dass sich die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder verschoben hat, macht deren Beziehung zu vermeintlich natürlichen Begrenzungen für Schickele fragwürdig, sondern er betont auch immer wieder die Doppeldeutigkeit, die der Vorstellung von natürlichen Grenzen überhaupt eigen ist. So ist es im Falle des Rheines schließlich keineswegs evident, dass der Grenzfluss einen so klaren Schnitt zwischen zwei voneinander getrennten Bereichen vollziehen muss, wie es der schmerzerfüllte Blick über die Rheinebene aus Blick auf die Vogesen suggeriert hatte: Das Land der Vogesen und das Land des Schwarzwaldes waren wie die zwei Seiten eines aufgeschlagenen Buches; ich sah deutlich vor mir, wie der Rhein sie nicht trennte, sondern vereinte, indem er sie mit seinem festen Falz zusammenhielt. Die eine der beiden Seiten wies nach Osten, die andre nach Westen, auf jeder stand der Anfang eines verschiedenen und doch verwandten Lieds, und so war es Europa, das offen vor mir lag.84

Diese Metaphorisierung der ausgebreitet daliegenden Landschaft zum offenliegenden Buch, das derjenige sofort zu lesen versteht, der sich auf diese Art der Lektüre einzulassen bereit ist, schreibt dem Rhein eine besondere Symbolkraft zu. Die Umwidmung, die den Fluss nicht länger als die natürliche Grenze zwischen zwei einzelnen und voneinander geschiedenen Ländern versteht, sondern stattdessen die Verbindung zwischen zwei zusammengehörigen Teilen eines Ganzen aus ihm macht, lässt zugleich die Ambivalenz deutlich werden, die in der Grenze immer angelegt ist: «Wer den Willen und die Ausdauer hat, die Grenze zu erleben, wird sie in sich überwinden wollen»,85 so beschreibt Schickele selbst die Wirkung dieser doppelten Bewegung von Abschluss und Offenheit der Grenze. Seine Metapher von der Rheinebene als offenes Buch setzt diese Überschreitung der Grenze nun explizit in Bezug zu der Vorstellung von einem ebenso offen vor den Augen des Betrachters liegenden Europa. Die Art und Weise, wie Schickele dieses Bild von Europa aus der Wahrnehmung des Rheines als Verbindungslinie statt als Grenze zwischen Osten und Westen entwickelt, zeigt dabei, wie unmittelbar

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René Schickele: Der Wolf in der Hürde, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1983, S. 145. René Schickele: Blick vom Hartmannsweilerkopf, in: Ders.: Wir wollen nicht sterben!, München: Wolff 1922, S. 230. Die Passage wird beinahe wörtlich zitiert im dritten Teil der Rheintrilogie, vgl. René Schickele: Der Wolf in der Hürde, S. 373. René Schickele: Erlebnis der Grenze, S. 1005.

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der Zusammenhang zwischen diesem Europa und der Grenze und ihrer Problematik zu verstehen ist: Europa ist bei Schickele dort, wo Grenzen überschritten werden zugunsten einer Verwandtschaft in der Verschiedenheit, wie sie die Metapher von den einander entsprechenden Liedern auf den Seiten des offenen Buches andeutet. Nicht zufällig ist der Schauplatz für den Blick auf das offen liegende Buch Europa der Gipfel des Hartmannsweilerkopfes im Elsass, um den im Ersten Weltkrieg blutige Schlachten zwischen Deutschen und Franzosen geschlagen wurden. Gerade an dieser Stelle, an der so erbittert um den Verlauf der Grenze gekämpft worden ist, kann jetzt das Bewusstsein für Europa aus dem Wunsch heraus entstehen, diese Grenze endgültig zu überwinden. Die Erfahrung der Grenze stellt insofern den Ausgangspunkt für René Schickeles Auseinandersetzung mit Europa dar, und dem Rhein als Verkörperung dieser Grenze kommt dabei immer eine besondere Rolle zu. Anlässlich einer rheinischen Dichtertagung im Jahr 1928 betont Schickele so die Bedeutung, die der Rhein gerade in seiner Eigenschaft als europäischer Strom für ihn hat: Für uns war das Stück Rhein zwischen Basel und Straßburg heroischer als alle Mississippis, der Ganges, sagten wir, konnte nicht erhabener sein. Und als richtig der Tag kam, da ich am Ganges stand, habe ich nur bedauert, daß die Völker Europas nicht auch wie die Inder in endlosen Scharen und aus allen Himmelsrichtungen kamen, um das Wasser ihres Stromes in kleine Messinggefäße zu schöpfen und es fromm nach Hause zu tragen – ihres heiligen Stroms, des Rheins.86

Auch diesem Bild liegt wieder die Vorstellung zugrunde, aus der vermeintlich abschließenden Grenze könne im Gegenteil eine zu teilende Erfahrung gemacht werden. Vor diesem Hintergrund ist es deshalb auch zu verstehen, dass Schickele in derselben Rede den Rhein als «das Stück Zuversicht» bezeichnet, das seit jeher in seinem Leben geglänzt habe,87 und dass er erklären kann, aus seinem ganz unmittelbaren Erleben des Stromes zwischen Deutschland und Frankreich heraus sei dieser für ihn ein Symbol geworden: «Der Spielplatz einer Kindheit wurde zur Straße der Völker und ihrer Geschichte, unversehens trabten auf ihr unsere Hoffnungen und Wünsche einem kulturpolitischen Ziele zu...»88 Die Formulierung dieses kulturpolitischen Zieles hat Schickele wiederholt unternommen, und dies insbesondere in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, in denen er mit dem Blick auf die Vogesen auf der deutschen Seite des Rheines lebt. Sowohl die Trilogie vom Erbe am Rhein als auch die Essays aus derselben Zeit, die in den Bänden Wir wollen nicht sterben! (1922) und Die Grenze (1932) und Himmlische Landschaft (1933) versammelt sind, widmen sich der Überwindung der Grenze aus einem europäischen Geist heraus, der sich ebenso auf die gemeinsame Geschichte der beiden Länder diesseits und jenseits dieser Grenze wie auf ihre kulturelle und natürliche Einheitlichkeit beruft:

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René Schickele: Rheinische Dichtertagung 1928, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 863. Ebd. Ebd., S. 864.

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Die beiden Länder tranken in gleichen Zügen den Abend, der Rhein wälzte den gleichen Himmel in seinen Wogen, alle Glut, alle Milde fuhr in einem einzigen Treiben, und darüber tanzten die gemischten Reigen der Strudel. Auf beiden Ufern warfen die Pappeln denselben Schatten... Und ich sprach mein ‹Grenzgebet›, worin ich den Tag herbeiwünschte, den Sonntag Europas, der Deutsche und Franzosen in einer gemeinsamen Aufwallung von Großmut und gläubigem Leichtsinn zu diesen Ufern triebe, damit sie sich als Geschwister bekennten, wie das Schicksal ihnen befahl. Quand-même! Trotz allem!89

4.2.2

Himmlische Landschaft

In dem Vorwort zu seinem Essayband Himmlische Landschaft beschreibt René Schickele die Schwierigkeiten, vor die er sich nach dem Ersten Weltkrieg als deutschsprachiger Elsässer durch die Rheingrenze gestellt sieht: Immer wieder sei ihm «hüben oder drüben des Rheins» das Aufenthaltsrecht abgestritten worden,90 weil er angeblich zu enge Beziehungen zu der jeweils anderen Seite gepflegt habe, und immer wieder wurde dadurch sein trotziges «Quand-même!» in Frage gestellt: Ich wußte dann nie, sollte ich weinen oder lachen über die Leichtfertigkeit eines zufällig in diese Gegend gewehten oder als Ladenhüter hier zurückgelassenen Zeitgenossen, der sich beschwerte, daß ich denselben Boden mit ihm trete: den Boden, mit dem alle meine Vorfahren ins Grab gegangen sind und worin sie treu liegen, dort, wohin sie gehören, in der großen alemannischen Familiengruft. Und auf dem ich nicht als Gewerbetreibender oder Verwaltungsbeamter stehe […], sondern als lebendiges Gewissen und lebendiges Lied dieser Landschaft.91

Die Gegenüberstellung ist hier deutlich genug: Der Zufall, der die Vollzugsorgane der Verwaltung an jene Stelle gesetzt hat, an der sie nun glauben, die Grenze verteidigen zu müssen, wird kontrastiert mit der Lebendigkeit der Beziehung desjenigen zu seiner Heimat, der dort seit Generationen verwurzelt ist. Wenn Schickele diesen Ortsansässigen als das «lebendige Lied dieser Landschaft» beschreibt, dann deutet er damit nicht nur auf das Bild von der oberrheinischen Landschaft als aufgeschlagenes Liederbuch zurück, wie er es in Blick vom Hartmannsweilerkopf gezeichnet hatte, sondern macht auch einmal mehr die Verbindungen deutlich, die innerhalb dieser Landschaft am Oberrhein über die politischen Grenzen hinweg bestehen. Dem ‹Weder-noch›, mit dem der Elsässer Schickele hier beiderseits der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich seine Zugehörigkeit in Frage gestellt sieht, setzt er deshalb immer wieder das ‹Sowohl-als auch› desjenigen entgegen, der in dieser problematischen Zugehörigkeit auch einen Mehrwert zu sehen bereit ist. Die deutsch-französische «Doppelkultur des Elsässers»92 zeigt sich für ihn im Bild der Landschaft längs der Grenze, wo man allein aufgrund des äußeren Anscheins

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René Schickele: Der Wolf in der Hürde, S. 408. René Schickele: Erlebnis der Landschaft, in: Ders.: Himmlische Landschaft, Berlin: Fischer 1933, S. 15. Ebd. René Schickele: Das ewige Elsaß, S. 59.

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der Dörfer nicht entscheiden könne, auf welcher Seite der Grenze man sich nun befindet. Diese Doppelkultur ist es aber auch, die die Elsässer seiner Meinung nach besonders dazu qualifiziert, zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln – und damit letztlich die klare politische Grenze zwischen den beiden Ländern zugunsten einer höheren kulturellen Einheit aufzulösen: Der Elsässer enthält die Vorbedingungen für einen ‹ehrlichen Makler› zwischen Frankreich und Deutschland von Geburt in höherem Grad als ein geborener Deutscher oder Franzose. Aber auch nur die Vorbedingung. Er muß sie entwickeln. Er muß sie sogar hoch entwickeln, wenn er seine geistige Ausnahmestellung als Stamm, die er beansprucht, rechtfertigen soll. Wenigstens ein gewisser Durchschnitt sollte, wenn auch in bescheidenem Format, das sein, was die […] Vertreter eines geistigen Reiches darstellen, wie es, zu unserem Unheil, politisch seit tausend und etlichen Jahren leider nicht mehr besteht, und das wir heute gemeinhin Europa nennen.93

Der Zusammenhang zwischen der Verpflichtung, die die elsässische Doppelkultur darstellt, und der Vorstellung von einem «geistigen Reich Europa», wie Schickele ihn hier formuliert, ist in seinen Augen ein genuiner: Wenn er mit Bedauern feststellt, dass diesem geistigen Reich schon lange keine politische Wirklichkeit mehr entspreche, dann bezieht er sich damit einmal mehr auf die schmerzhafte Realität der Grenzen zwischen Nationalstaaten, wie sie gerade für die Geschichte des Elsass so prägend gewesen ist. Diese Realität wird von ihm implizit (aber dennoch deutlich) historisch verortet: «seit tausend und etlichen Jahren» existiere das ideale Europa nicht mehr, dessen Wiederherstellung als geistiges Reich sich besonders die Elsässer nun verschreiben sollen. Schickele bezieht sich hier also unausgesprochen auf die Teilung des karolingischen Reiches, die er auch an anderen Stellen seines Werkes immer wieder als eine Art deutsch-französischen und damit europäischen ‹Sündenfall› beschreibt: «C’est dans l’accord conclu à Strasbourg en 842 que se manifesta pour la première fois la différence fondamentale entre les deux parties de l’ancien Empire, la différence de langue,»94 so betont Charles Fichter. Und tatsächlich beschreibt René Schickele in einem knappen geschichtlichen Abriss das Elsass vor dieser Teilung als im Zeichen einer höheren Einheit stehend, die sich auf das gemeinsame römische Substrat der alemannisch-fränkischen Geschichte und vor allem auf die einigende Kraft des Christentums gegründet habe. Gerade der christliche Glauben und seine Institutionen hätten es verstanden, sich

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René Schickele an den Pfarrer René Schickele [sic!], 03.01.1931, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1156. Vgl. zu der elsässischen Aufgabe, zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln, auch Joachim W. Storck: Der späte Schickele. Ein Sonderfall der deutschen Exilliteratur, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 435–461, hier vor allem S. 441; und ders.: René Schickele: Eine europäische Existenz, in: Frankfurter Hefte 25 (1970), S. 577–588, hier vor allem S. 581. Vgl. auch die Überlegungen von Ernst Robert Curtius zu diesem Thema, wie sie in Kapitel 1.1 Entwurzelung und Heimatlosigkeit: Das Exil als europäische Erfahrung untersucht werden. Charles Fichter: Le terroir, la religion et l’Europe dans l’œuvre ‹alsacienne› de René Schickele: Das Erbe am Rhein, in: Saisons d’Alsace 90 (1985), S. 124–131, hier S. 128. Vgl. dazu auch Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten von René Schickele (1899–1932), S. 214–215.

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in die schon bestehenden Strukturen des untergegangenen Römischen Reiches einzufügen: Unsere Alemannen nehmen die Taufe an. Dieser Tropfen Wasser macht erst einmal und für lange Zeit alle, die er berührt, zu Brüdern, schafft eine Kulturgemeinschaft, angesichts deren die Stammesunterschiede auf den Wert unbeträchtlicher Sonderheiten herabsinken. Man denke an das schöne Fragment von Novalis: ‹Europa›. Damals gab es das: einen lebendigen Organismus Europa.95

Nicht nur die einigende Kraft des Christentums ist es aber, die Schickele hervorhebt – eine besondere Rolle spielt für ihn tatsächlich auch die Frage der sprachlichen Einheit. Diese geht erst mit den Straßburger Eiden auf augenfällige Art und Weise verloren; zu dem Zeitpunkt jedoch, den er hier im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Christentums beschreibt, ist sie noch unhinterfragt gegeben: Der Weißenburger Katechismus, die Murbacher Hymnen und auch die Glanzleistung deutscher Sprache in jener Zeit, das Evangelienbuch des Mönches Otfried von Weißenburg müssen als das hingenommen werden, was sie waren: Propagandaschriften Roms in der Sprache der geistlichen Untertanen, und diese Sprache war eben die deutsche.96

Erst mit der sprachlichen Trennung sei dann auch die «völkische Teilung» eingetreten.97 Schickele begründet seine Forderung nach einer Wiederherstellung eines geistigen Reiches Europa deshalb auf doppelte Art und Weise – eben nicht nur aus der verbindenden Kraft des christlichen Glaubens, sondern auch aus der gemeinsamen sprachlich-kulturellen Tradition des Landes zwischen Deutschland und Frankreich (und damit nicht zuletzt auch Deutschlands und Frankreichs insgesamt) heraus. Die Referenzfigur, die er ebenso wie Victor Hugo und vor allem Eugeni d’Ors in diesem Zusammenhang immer wieder anführt, ist dabei Karl der Große selbst. Dieser steht sinnbildlich für eine ideale Verwirklichung dieser Vorstellung von Europa als geistigem Reich. So erklärt Schickele in Das Erbe am Rhein die Besonderheit der Familie seines Protagonisten Breuschheim aus der direkten Beziehung, die zwischen deren familiärer, im Elsass verwurzelter Tradition und dem karolingischen Europa bestehe: Das waren die Breuschheim, das war Straßburg, das war das Elsaß. Das Reich Karls des Großen, hier lebte seine Seele weiter, während die Trümmer seiner Gestalt über Europa verstreut lagen – o du kleine, an der Grenze zweier großer Nationen, zwischen den beiden unermüdlichen Ringern um die verlorengegangene Krone in wieviel Karnevalen und Ostern ausharrende Provinz der einigen Christenheit: Elsaß!...98

Die historische Verbindung zwischen dem Karolingerreich und dem Elsass, die Schickele damit konstruiert – das Elsass als lebendiger Überrest des ehemaligen Karolingerreiches, in dem dessen «Seele» über sein eigentliches Ende hinaus wei-

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René Schickele: Das ewige Elsaß, S. 11. Ebd., S. 12. Ebd. René Schickele: Maria Capponi, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1983, S. 292.

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terlebt –, findet nun ihre Entsprechung in einer ausdrücklicher auch auf die Zukunft hin gerichteten Vorstellung vom Elsass, die aus diesem die Keimzelle für ein künftig zu schaffendes Europa machen möchte. Am Ende seines Essays über Das ewige Elsaß findet Schickele zu einer Formulierung, in der sich diese Vorstellung von der zukünftigen Rolle des Elsass für den Aufbau des geistiges Reiches Europa bildlich ausdrückt. Hier spricht er wörtlich davon, das «Herzstück» eines geeinigten Europas müsse der auf die Vermittlung des Elsass gründende Deutsch-Französische Bund werden.99 Er selbst wolle dazu dann «wie ein kleiner elsässischer Messbub» hinter den europäischen «Genies» wie Victor Hugo und Jean Jaurès «herlaufen und von Zeit zu Zeit ein wenig die Klingel rühren.»100 Dieser Vergleich des elsässischen Vermittlers mit einem Messdiener ist bezeichnend: Zum einen suggeriert das Bild, die gemeinsame deutsch-französische Arbeit an der Einigung Europas habe den weihevollen Charakter einer (katholischen) Messe; zum anderen betont es dabei aber auch in besonderer Weise die Rolle des Messdieners – und das trotz seiner scheinbaren Bedeutungslosigkeit: Ohne diesen Messdiener und seine Klingel wäre der Ablauf der Messe gestört oder letztlich gar unmöglich. Tatsächlich hebt Schickele an verschiedenen Stellen seines Werkes immer wieder die besondere Bedeutung hervor, die er dem Katholizismus im Kontext mit seiner Vorstellung von Europa beimisst, und zwar sowohl mit Blick auf die Zukunft wie hier, als auch an anderer Stelle mit Blick auf die Vergangenheit. Ausdrücklicher noch als in dem Essay über Das ewige Elsaß, wo nur allgemein vom «Christentum» die Rede gewesen war, unterscheidet er zum Beispiel in seinem Drama Hans im Schnakenloch (1914) Katholizismus und Protestantismus voneinander. So spricht er hier die vermeintlich zersetzende Kraft des Protestantismus an und grenzt diese von der einigenden Kraft des Katholizismus ab. Für diese nimmt er in Anspruch, sie habe Europa überhaupt erst «aus den Trümmern des römischen Reiches aufgebaut».101 Dass Schickele sein Modell von einem (wieder) zu errichtenden geistigen Reich Europa auch in diesem Zusammenhang eines zuletzt immer im Katholizismus gründenden Einheitsgedankens in Beziehung zu Karl dem Großen als maßgeblichem Leitbild stellt, zeigt sich in einer Tagebuchnotiz von 1934, in der er sich mit seinem eigenen Gefühl der Nichtzugehörigkeit zu den verschiedenen Gruppen von Gegnern des Nationalsozialismus auseinandersetzt. Diese fehlende Übereinstimmung begründet er damit, dass es diesen oppositionellen Gruppierungen allein um die Stärke Deutschlands zu tun sei, während es ihm selbst um eine übergeordnete Einheit in einem vor allem ästhetischen Sinne gehe. Von den zumeist sozialdemokratischen und kommunistischen Oppositionellen konstatiert er:

99 100 101

René Schickele: Das ewige Elsaß, S. 51. Ebd. René Schickele: Hans im Schnakenloch (I, 15), Hamburg: Hermes 1949. Interessant ist auch hier die Parallele zu Eugeni d’Ors’ Verständnis des Katholizismus als grundlegend für die Einheit Europas.

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Sie hassen das Römische Recht, weil es Recht ist. Sie hassen Karl den Großen, weil er […] für die Gesittung Europas kämpfte. Sie hassen aus demselben Grund die Kirche. […] Sie sind und bleiben die Horden des Teutoburger Waldes, die darauf lauern, die Legionen des Varus abzumurksen.102

Für seine eigene, dem Einheitsgedanken verpflichtete Konzeption dagegen sind diese Elemente unabdingbar – und dies gerade, weil es sich eben um geistige Referenzpunkte handelt, die in letzter Instanz alle auf die Idee einer römisch geprägten Zivilisation mit ihren rechtlichen, sittlichen und im weitesten Sinne kulturellen Instanzen zurückverweisen. In seiner Glosse über den Autonomiestatus für Elsass-Lothringen hatte Eugeni d’Ors seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, diese elsässische Autonomie könne die erste Stufe der von ihm angestrebten Wiederherstellung des karolingischen Reiches sein – dieses Reich Karls des Großen diente dabei also als Modell für ein künftiges Kerneuropa um Deutschland und Frankreich.103 Ähnlich argumentiert René Schickele in demselben Zusammenhang. Auch ihm geht es um Deutschland und Frankreich und um ihr Verhältnis zueinander, wenn er über Karl den Großen schreibt; auch für ihn ist die Überwindung des deutschen und französischen Nationalismus im Sinne dieses karolingischen Modells ein erster Schritt in Richtung auf ein geeintes Europa hin. Anders als d’Ors geht es ihm aber nicht um eine moderne Form des Imperialismus (als Gegensatz zum Nationalismus), wenn er den karolingischen Reichsgedanken zitiert. Seine Konzeption erscheint tatsächlich auch dort wenig politisch, wo sie sich explizit politischer Argumentationsmuster bedient – also etwa im Zusammenhang mit dem Einsatz für mehr Demokratie zum Zwecke der Überwindung von Grenzen. Zwar ist auch in der Romantrilogie vom Erbe am Rhein die Rede von der «moderne[n] Irrlehre des Nationalismus»,104 die gerade in Grenzregionen viele Anhänger finde, aber die Idee von der Wiederherstellung des Reiches Karls des Großen im Elsass, die Claus von Breuschheim dieser Irrlehre immer wieder entgegensetzt, bleibt in politischer Hinsicht unpräzise. So wird zwar der Pazifismus erwähnt, der diese Idee präge, und auch ihre völkerverbindende Kraft – aber dennoch bleibt unklar, ob und wie das alles tatsächlich umgesetzt werden könnte. Die Ironie, mit der Claus’ Jugendfreundin Viviane deshalb ihn und seine «Idee» betrachtet, zeugt davon, dass sie, die elsässische Pragmatikerin, den Gedanken von einem aus dem Elsass hervorgehenden «geistigen Reich Europa» letztlich für weltfremd hält: ‹Und der Mann behauptete seinerzeit, dem Elsaß eine erlösende ‹Idee› zu bringen. Das geistige Reich Karls des Großen, eine mächtige Drehscheibe mit dem Straßbur-

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René Schickele: Tagebuch, Pfingstmontag 1934, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1117–1118. Vgl. Eugeni d’Ors: L’autonomia de l’Alsacia-Lorena, in: Ders.: Obra Catalana Completa. Glosari 1906–1910, S. 1300–1301, und Kapitel 4.1.2 Ein neues Reich. René Schickele: Blick auf die Vogesen, S. 136. Vgl. auch ebd., S. 200. Hier spricht Claus von Breuschheim ironisch vom «Hochaltar der nationalen Religion», den die Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg im Elsass errichten wollten.

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ger Münsterturm als Zapfen der Achse! Kennt nicht die wichtigsten Ereignisse im Land...›105

Auch wenn die Trilogie sich ausführlich mit der Geschichte des Elsass vor allem der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzt, und dabei durchaus auch auf den größeren, nämlich europäischen Kontext eingeht, in dem sich diese Geschichte abspielt (etwa in den Szenen beim Völkerbund in Genf), wird die pazifistische, sich auf Karl den Großen berufende Europaidee von Claus von Breuschheim doch an keiner Stelle tatsächlich mit den komplizierten realpolitischen Bedingungen in diesem Europa nach dem Krieg in Relation gesetzt: Sie dient nicht als konkrete Handlungsanweisung, sondern fungiert allenfalls als utopisches Gegenmodell zu den politischen Verwerfungen – und dies vor allem, weil sie immer ausdrücklich als Idee präsentiert wird, die sich auf eine gemeinsame europäische Geschichte und Tradition gründet und die deshalb vor allem kulturell zu verorten ist. Erst ganz am Schluss des dritten Romans kommt es schließlich noch einmal zu einer Art Glaubensbekenntnis Breuschheims in Sachen Europa, bei dem deutlich wird, dass auch er zumindest um die Probleme weiß, mit denen seine Idee im wirklichen – und das heißt: im politischen – Leben konfrontiert wäre. Seinem Freund, dem Arzt Savarin gegenüber formuliert Claus von Breuschheim hier seine Überzeugung, dass das Elsass nur dann bestehen könne, wenn auch Europa wirklich eine gemeinsame und vor allem gemeinschaftliche Zukunft hat: ‹Entweder Europa wird sein. Und dann, Doktor, spielt auch das kleine Trauer- und Satyrspiel zwischen Rhein und Vogesen nicht mehr. Oder Europa wird nicht sein. Dann ist das Elsaß so nebensächlich wie eine Zündholzschachtel in einem brennenden Haus... Aber dazu kommt es nicht!›106

Es ist nicht nur die Abhängigkeit des Elsass von Europa, der Claus von Breuschheim hier Ausdruck verleiht, sondern vor allem auch die Gefährdung, die es sowohl für das Elsass als auch für Europa insgesamt bedeuten würde, sollte das Projekt der europäischen Einigung misslingen, dem er sich verschrieben hat. Auf die skeptische Frage des Doktors, ob er denn wirklich an eine solche europäische Gemeinschaft glaube, antwortet Breuschheim dann trotz seines Optimismus ambivalent: ‹Doktor, wie an das Leben! Ich weiß nur noch nicht, wer sie verwirklichen wird, Paris und Berlin oder Moskau. Wollen Paris und Berlin es sein, so müssen sie sich freilich beeilen... Doktor, uns fehlt ja nur eins: Mut!›107

Auch hier, und obwohl sich die Passage zunächst tatsächlich an den politischen Gegebenheiten zu orientieren scheint, ist es letztlich seine Besorgnis vor der radikal

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Ebd., S. 60. René Schickele: Der Wolf in der Hürde, S. 411. Ebd., S. 412.

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politisierten Realität, die ein kommunistisches Europa unter Moskaus Führung darstellen würde, die Breuschheim zu dem erneuten Bekenntnis zu der Achse Paris-Berlin bewegt: Moskau stellt dabei unausgesprochen eine Bedrohung dar, der man sich eben nur durch die Beschwörung der gemeinsamen geistigen und kulturellen Tradition der europäischen Kernländer Deutschland und Frankreich erwehren kann.108 Entsprechend ist Breuschheims eigene Lösung des Problems schließlich auch eine, die der reinen Politik aus dem Wege geht und sich stattdessen für die immer wieder neu vollzogene Grenzüberschreitung zwischen Deutschland und Frankreich entscheidet. Am Ende der Romantrilogie entschließt er sich, das Elsass wieder (wie bereits in einer früheren Phase seines Lebens) zu verlassen, um in Zukunft auf der anderen, der deutschen, Rheinseite zu leben.109 Auf den ersten Blick mag dieser Schritt einer gewissen Resignation gegenüber den elsässischen Verhältnissen entspringen: Schließlich war es im Verlauf der drei Romane immer wieder explizit der engste Umkreis der familiären Besitzung in Breuschheim gewesen, von dem ausgehend Claus seine europäische Einheitsidee hatte verwirklichen wollen. So hatte er seine eigene Familie nicht nur auf einer zeitlichen Argumentationsebene als direkt in der Nachfolge des von ihm propagierten karlistisch-römischen Reiches stehend beschrieben,110 sondern er hatte sie auch auf der räumlichen Ebene zur bereits realisierten deutsch-französischen Einheit stilisiert (tatsächlich verfügt die Familie über einen deutschen und einen französischen Zweig). Aber auch wenn das Gut Breuschheim damit gewissermaßen zum positiv konnotierten Elsassmodell im Kleinen geworden war,111 so fehlte dabei letztlich doch der tatsächlich vollzogene Schritt über die Grenze, um dieses Elsassmodell auch als Europamodell wirksam werden zu lassen. Am Ende ist es deshalb weniger Resignation als vielmehr die Einsicht in die tiefe Verbindung des Elsass mit der Region auf der anderen Rheinseite, die Claus zu

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Auch Günter Holtz betont die Tatsache, dass Breuschheims ‹Idee› maßgeblich von ihrer Distanz zur Tagespolitik bestimmt sei: «Claus Breuschheims Traum von einem Europa friedlicher Nachbarn ist durch keine sogenannte Realpolitik zu verwirklichen; er lebt aus der Kraft des Glaubens.» (Günter Holtz: Das Erbe am Rhein. Mythos, Glaube und europäische Vision im Werk René Schickeles, in: Recherches Germaniques 21 (1991), S. 161–176, hier S. 174). Ebenso entschließt sich auch René Schickele selbst, nach dem Ersten Weltkrieg seinen Wohnsitz nicht im Elsass, sondern im badischen Badenweiler zu wählen. Claus von Breuschheim ist «Reichsfreiherr» und betont schon als Jugendlicher ausdrücklich die Herkunft dieses Titels aus dem «alte[n] römische[n] Reich […] [dem] Reich Karls des Großen». (René Schickele: Maria Capponi, S. 80). Vgl. dazu auch Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten von René Schickele (1899–1932), S. 357. In dem bereits zitierten Brief an den Pfarrer Schickele heißt es in diesem Zusammenhang ausdrücklich: «Ich wollte in der Familie Breuschheim […] gleichsam die Potenz des Elsässertums [verkörpern], mit den freien Wegen in die Welt, ohne die ich mir ein ‹europäisches› Elsass freilich nicht vorstellen kann.» (René Schickele an den Pfarrer René Schickele, 03.01.1931, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1154).

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dieser Grenzüberschreitung veranlasst: «Hier ist ebenso Heimat wie dort»,112 so sagt ihm seine Freundin über die deutsche Seite des Rheines. Dieses Land gehörte nicht mir, ich gehörte ihm. Es war eine große Person von mütterlicher Zauberkraft, ja, stärker noch als die leibliche Mutter, weil sie mit der Gewalt auch jener Mütter zu mir sprach, deren Kinder mir Freunde und Verwandte waren – in dieses Tal, auf diese Berge fiel der Widerschein all jener Menschen, die ich verehrte und liebte. In dieses Tal, auf diese Berge mußte ich zurückwandern aus aller Welt, hier stand die Scheune, in die ich jede Ernte fuhr.113

Diese Vorstellung von einer einheitlichen Heimat auf beiden Seiten des Grenzflusses ist es deshalb schließlich, die René Schickele ins Zentrum seiner Überlegungen zu Europa stellt und deren Harmonie auch er dabei immer wieder mit dem Bild des fruchtbaren und blühenden Gartens beschreibt: «Hier ist der warme, der gehütetste Winkel des alemannischen Gartens...»114 Claus von Breuschheim vollzieht zwar mit der Übersiedlung in sein stilles Haus am Fuß des Schwarzwaldes tatsächlich eine Art Rückzug – einen Rückzug, wie ihn bereits das Bild von dem gehüteten Garten anzudeuten scheint. Dennoch ist diesem Rückzug aber auch ein gewisses subversives Potential nicht fremd, das ebenfalls auf scheinbar paradoxe Weise in dem Bild vom gehüteten Garten Ausdruck findet – dann nämlich, wenn dieser Garten explizit zum Muster für eine Aufhebung jeglicher trennender Grenzen avanciert: Wie wär’s, ihr Narren, wenn ihr euch zum Bessern kehrtet […], wenn ihr erklärtet: das Land zwischen Schwarzwald und Vogesen ist der gemeinsame Garten, worin deutscher und französischer Geist ungehindert verkehren, sich einer am andern prüfen und die gemeinsamen Werke errichten, die neuen Denkmäler Europas – dies ist der Tempel unseres ewigen Friedens?115

Vor diesem Hintergrund gilt es, Schickeles konkrete Beschreibungen dieses deutsch-französischen Gartens zu lesen: Hinter jeder einzelnen der zahlreichen Schilderungen des badisch-elsässischen Paradiesgartens steht zuletzt diese grenzüberschreitende Vorstellung – und zwar gerade dann, wenn dieser Garten ausdrücklich als «eingehegte Heimat» im Gegensatz zur Weite der Welt beschrieben wird.116 Die – zunächst politischen, dadurch aber auch kulturellen – Schwierigkeiten, auf die Claus von Breuschheim bei der Frage nach der Realisierung seiner europäischen ‹Idee› gestoßen war, werden in dem Bild einer Landschaft aufgehoben, deren Übereinstimmung beiderseits der Grenze sich immer vor allem in der Natur aufweisen lässt. So zeichnet sich diese Landschaft nicht nur durch die Symmetrie aus, mit der sie auf beiden Seiten des Rheins strukturiert ist (die offene Ebene geht an beiden Ufern zuerst in mit Reben bewachsene Hügel und diese schließ-

112 113 114 115 116

René Schickele: Ebd., S. 373. René Schickele: René Schickele: René Schickele:

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Der Wolf in der Hürde, S. 372. Maria Capponi, S. 25. Blick auf die Vogesen, S. 304. Maria Capponi, S. 173.

lich in bewaldete Berge über), sondern daran anschließend vor allem auch durch eine Vegetation, deren Fruchtbarkeit und Fülle diesseits und jenseits der Grenze vergleichbar sind. Auf beiden Seiten erlebt Breuschheim den Überschwang dieser Vegetation insbesondere in seinem eigenen Garten – hier wie dort, im Elsass wie in Baden, lassen sich lange Listen derjenigen Blumen aufstellen, die er dort den Jahreszeiten entsprechend anpflanzt und pflegt. So blühen neben- und nacheinander Dahlien, Phlox, Gladiolen, Schleierkraut, Chrysanthemen, Rittersporn, Anemonen und zum Schluss Astern und Herbstzeitlosen,117 und die Aufzählung all dieser Pflanzen suggeriert neben dem schieren Reichtum vor allem auch die Harmonie und die innere Ordnung, nach denen diese Gärten angelegt sind. In enger Anlehnung an dieses Ordnungsprinzip seines eigenen Gartens erkennt Breuschheim deshalb auch die Ordnung, nach der die ganze Landschaft strukturiert und organisiert ist, und er kann so eine Analogie zwischen dem Schöpfer dieses großen Gartens zwischen Schwarzwald und Vogesen und sich selbst als Schöpfer der beiden kleinen Gärten an den Hängen dieser Berge herstellen: «Der kleine Gärtner in mir erkennt den großen und spricht ihm Dank.»118 Die Harmonie des oberrheinischen Gartens wird dadurch ausdrücklich als eine göttliche Schöpfung dargestellt, die sowohl schicksalhaft als auch bewusst inszeniert erscheint. Dass dieser Garten darüber hinaus auch so, wie es Michel Foucault im Zusammenhang mit seinem Konzept von den Heterotopien beschrieben hatte, ein Bild der gesamten Welt im Kleinen darstellt, das formuliert Schickeles Icherzähler Breuschheim in der direkten Anrufung des Gartens seiner Heimat: O Heimat! Westen Europas! Dieser Garten bist du, so bist du, wenn du zeigen darfst, wie du bist. Du zeigst dich jedem so, der das Herz hat, dich zu sehn. Jede Linie, alle Nerven der Erde beben in dir, du trägst alle ihre Farben, und über deinem kleinen Garten schwebt der Geist, weither geweht und so klar, wie auf den alten Tafeln die Taube der Verkündigung in der winzigen Kammer Mariä!119

Die Komplexität dieser Abbildung der Welt im Garten findet ihren Ausdruck in der impliziten Annahme, es erfordere durchaus eine gewisse Bereitschaft, um sie überhaupt wahrzunehmen. Was dank einer solchen Empfänglichkeit dann wahrgenommen werden kann, ist der durch den Vergleich mit den christlichen Verkündigungsbildern religiös konnotierte Geist Europas – dieser manifestiert sich aber ausdrücklich nur an den Stellen, an denen dem westeuropäischen Garten die Freiheit gewährt wird, sich so zu ‹zeigen›, wie er tatsächlich ist. Unausgesprochen liegt dieser Forderung nach der Möglichkeit zur freien Entfaltung des Gartens deshalb abermals der Wunsch zugrunde, er möge durch keine künstlichen Einschnitte begrenzt werden. In dem Essayband Himmlische Landschaft beschreibt ein Ich-Erzähler, der mit dem Autor Schickele die meisten Charakterzüge und viele biographische Daten teilt, die Abfolge der Jahreszeiten in seinem blühenden badischen Garten

117 118 119

Vgl. zum Beispiel René Schickele: Der Wolf in der Hürde, S. 312. René Schickele: Maria Capponi, S. 310. Ebd.

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mit Blick auf die Vogesen. Er streicht dabei besonders die Tatsache hervor, dass ihn sein gärtnerisches Dasein in völligem Einklang mit der Natur leben lässt, und dass ihm das nicht zuletzt auch eine gesunde Distanz zu allen historischen oder vor allem politischen Verwerfungen ermöglicht. So kann er schon ganz zu Beginn des Bandes konstatieren, er sei aufgewachsen «im großen geründeten Garten zwischen Schwarzwald und Vogesen, der so eins und unteilbar ist, daß die politischen Grenzen deutlich als eine Fiktion erscheinen.»120 In demselben Kontext beschreibt er die Dreiländerecke zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz als eine Art geographischen ‹Mittelpunkt der Welt›, wenn er ihre ideale Position zwischen Norden und Süden betont: «Nach Avignon ist es nicht weiter als nach München, nach Marseille nicht weiter als nach Berlin.»121 Auch die Möglichkeit dieser Bewegungen zwischen Norden und Süden wird dabei durch keinerlei Grenzen eingeschränkt. Nicht zuletzt deshalb ist der oberrheinische Garten auch der bestmögliche Ausgangspunkt für die imaginierte Rundreise des fröhlichen Christenmenschen, die René Schickele in seinem Essay Blick vom Hartmannsweilerkopf unternimmt. Diese Rundreise wird in einem von den drei Kapiteln dieses Essays beschrieben, und sie beginnt auf dem Hartmannsweilerkopf selbst, den der in Deutschland lebende elsässische Ich-Erzähler bei seinem ersten Besuch im Elsass nach dem Ende des Ersten Weltkriegs besteigt. Im ersten Kapitel des Essays hatte er seine neuerliche Annäherung an das Elsass und an seine dort lebende Familie beschrieben – bei der Überquerung des Rheins scheint die Grenze zwischen den beiden Ländern fast ausgewischt zu sein, weil der Fluss so wenig Wasser führt, «daß die Kähne alle auf Kies standen».122 Das zweite Kapitel enthält daran anschließend eine Auseinandersetzung mit Dostojewski als «Inkarnator einer bestimmten Zeit, die für viele von uns noch Schicksal ist».123 Hier beschäftigt sich der Erzähler mit dem, was er «Dostojewskis Idee» nennt – er beschreibt diese Idee als eine umfassende Einheitsvorstellung im Sinne einer «neue[n] evangelische[n] Katholizität».124 Im Wissen um die jüngste Vergangenheit des Hartmannsweilerkopfes als Schauplatz des Krieges und vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Vorausdeutungen auf die Frage nach der Möglichkeit von Grenzüberschreitungen ist es dann das dritte Kapitel mit der Rundreise, das ausdrücklich einen Bezug zu Europa und dem Gedanken von dessen innerer Einheit herstellt. Auf dem Hartmannsweilerkopf sitzend unternimmt der Erzähler in diesem Kapitel imaginierte Reisen durch Europa – eine führt ihn in Richtung Süden, nämlich über das Elsass nach Baden und die Schweiz und von dort aus nach Südfrank-

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René Schickele: Erlebnis der Landschaft, in: Ders.: Himmlische Landschaft, S. 13. Ebd., S. 12. René Schickele: Blick vom Hartmannsweilerkopf, S. 183. Ebd., S. 207. Ebd., S. 214. Stefan Woltersdorff spricht von einem «säkularisierte[n] (d. h. auf die Erde verlegte[n] biblische[n] Paradies», das der Icherzähler in dieser Idee Dostojewskis zu erkennen glaube (Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten von René Schickele (1899–1932), S. 264).

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reich und Spanien. Die andere führt dann nach Norden über Belgien und Holland, Großbritannien und Norddeutschland bis nach Skandinavien und Russland. Das Europa, das der Erzähler auf diese Weise mit allen seinen Sinnen wahrnimmt (er betont, man könne es sehen, spüren und riechen), zeichnet sich trotz dieser eben sinnlich wahrnehmbaren Unterschiede dabei ausdrücklich durch die Homogenität einer gemeinsam erlebten Vergangenheit aus: Fand ich nicht auf meiner Reise […] überall und reichlich, was ich suchte: die Gleichheit Europas in der Geschichte seiner Völker und seiner großen Gestalten? […] Wir Europäer hatten alle das gleiche Schicksal, nur wechselten wir einander ab in seiner Gestaltung; es war wirklich immer dieselbe ‹Geschichte›...125

Dieser Gedanke der Gleichheit und der Periodizität der europäischen Geschichte zeigt sich in den landschaftlichen Korrespondenzen, auf die der Erzähler bei seiner Reise aufmerksam wird: Der Rhein verbindet das Elsass und Baden miteinander, die Loire und die Rhône stehen durch verschiedene gemeinsame Seitenflüsse miteinander in Verbindung, die Provence, der Bodensee und Tirol dagegen durch eine gemeinsame Literatur.126 Trotz dieser für ganz Europa charakteristischen Fülle an Bezügen ist es aber auch hier wieder der engere Garten zwischen Deutschland und Frankreich, dessen Beziehungen und Verbindungslinien in beide Richtungen die natürlichsten zu sein scheinen: Deutschland und Frankreich werden als Länder der Mitte beschrieben, die jeweils eine unterschiedliche Ausrichtung haben – Frankreich nach Südwesten, Deutschland nach Nordosten. Gerade durch diese jeweils verschiedene Neigung stellt sich aber schließlich das Gleichgewicht ein, das für dieses um den Oberrhein herum geordnete Europa kennzeichnend ist. Die Gewissheit, mit der der Erzähler bei der Rückkehr von seinen erträumten Reisen ein Bekenntnis zu der Unausweichlichkeit einer Gemeinschaft aller «Träger einer neuen, geistigeren Welt» formulieren kann,127 ergänzt dabei zwar den Gedanken von diesem geographisch um den Naturraum des Gartens am Rhein zentrierten Europa durch die Vorstellung eines letztlich doch «dezentrierten Kultur-Europas»,128 wie Stefan Woltersdorff hervorhebt. Wenn der Text jedoch mit der Beschwörung des inneren Friedens endet, den der Ich-Erzähler beim nächtlichen Blick vom Elsass aus über das Rheintal zu dem Schwarzwaldberg empfindet, auf den sein Haus gebaut ist, dann wird trotzdem wieder deutlich, wie sehr zumindest bei ihm selbst auch die grenzüberschreitende Vision von einem geistigen Europa an das Bewusstsein gebunden bleibt, ein «Bewohner umhegter Gärten und parkähnlicher Gebirge» zu sein.129

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René Schickele: Blick vom Hartmannsweilerkopf, S. 240–241. Vgl. dazu besonders Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten von René Schickele (1899–1932), S. 265. René Schickele: Blick vom Hartmannsweilerkopf, S. 243. Vgl. auch dazu Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten von René Schickele (1899–1932), S. 266. René Schickele: Blick vom Hartmannsweilerkopf, S. 253.

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4.3

Eugeni d’Ors und René Schickele: Europa im Zweifel

Beide Autoren, der Katalane Eugeni d’Ors und der Elsässer René Schickele, entwickeln ihre Europaideen ausgehend von ihrer eigenen Herkunft aus einer von unterschiedlichen kulturellen Einflüssen geprägten Grenzregion zwischen zwei großen Nationalstaaten. In beiden Fällen ist es dabei die spezifische Problematik der jeweiligen Herkunftsregion, die die Auseinandersetzung der Schriftsteller mit der Frage nach einer einheitlichen Verfassung für Europa motiviert: War René Schickeles Annäherung an ein um die deutsch-französische Grenzregion herum geeintes geistiges Europa des Friedens und des Austauschs vor allem durch seine Wahrnehmung der Grenze zwischen den beiden Nationalstaaten als Einschnitt in eine kulturell untrennbare Landschaft motiviert, so lässt sich auch Eugeni d’Ors’ Konzeption von einem von der Zivilisation des Mittelmeers ausgehenden Imperium der Ordnung und der autoritären Verantwortung unmittelbar aus den Eindrücken erklären, die er in seiner katalanischen Heimat empfangen hat. Sein Blick auf die europäische Geschichte, der diese stets dem Wechselspiel zwischen ordnenden und zerstreuenden Bewegungen unterworfen sieht, steht so in einem engen Zusammenhang mit den katalanischen Verhältnissen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen sich die ordnungspolitischen Versuche vor allem der bürgerlichen Lliga Regionalista in einem scharfen Gegensatz zu den Zielen der explizit anarchistischen Arbeiterbewegungen sahen. Eugeni d’Ors kann als eine der prominenten Stimmen der Lliga gelten, für deren Zentralorgan La Veu de Catalunya er seine täglichen Glossen schrieb, und er teilt mit der katalanischregionalistischen Partei um Prat de la Riba nicht nur das Ziel, Katalonien zu einer seinem wirtschaftlichen Gewicht innerhalb Spaniens angemessenen Autonomie von der restaurativen Madrider Zentralregierung zu verhelfen, sondern war auch entscheidend an der kulturellen Umsetzung dieses Ziels beteiligt. Vor allem in Barcelona selbst sah sich dieses nicht nur von d’Ors stets auch zivilisatorisch verstandene Modell allerdings immer wieder durch die sozialen Spannungen in Frage gestellt, die bereits 1902, dann aber vor allem in der Semana Trágica von 1909 in Generalstreiks kulminierten – in diesem zweiten Fall von 1909 trug der Aufstand bürgerkriegsähnliche Züge und stellte mehr als nur die öffentliche Ordnung in Frage. In der unmittelbar erlebten Bedrohung durch das, was aus seiner Sicht global als ‹Anarchismus› verstanden werden konnte, mag daher tatsächlich einer der Gründe auch für Eugeni d’Ors’ Interpretation der europäischen Geschichte als Bewegung zwischen Ordnung und Anarchie und für seine eigenen Bemühungen um eine endgültige Überwindung der Anarchie zugunsten der Ordnung liegen: Barcelona fitted Manuel Castells’ model of the ‹wild city›, a chaotic and ‹raw› freemarket model for urban growth, a space in which social tensions were naked and explosive. As the local elite became conscious of this, utopian visions of a civilised, unified polis were eclipsed by dystopian nightmares of an uncontrollable and violent city.130

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Chris Ealham: Class, Culture and Conflict in Barcelona 1898–1937, New York: Routledge 2005, S. 10–11. Enric Jardi verweist in seiner d’Ors-Biographie allerdings darauf, dass dieser in den Jahren unmittelbar vor seiner Übersiedlung nach Madrid 1923 die

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Was Chris Ealham hier am Beispiel der Stadt Barcelona beschreibt, das kann analog für das ganze politische Katalonienprojekt der Lliga Regionalista gelten: Immer wieder haben sich deren zivilisatorische Bestrebungen durch die unkontrollierbaren Kräfte innerhalb der Gesellschaft in Frage gestellt gesehen, immer wieder war die Ausrichtung dieser Bestrebungen deshalb explizit ordnungspolitisch geprägt – so erklärt Ealham tatsächlich die Entstehung der katalanistischen Bewegung der Lliga selbst aus diesem bürgerlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung heraus.131 So wie bei René Schickele, der die Lösung für das Problem der Grenze in einer immer wieder vollzogenen Überschreitung derselben und in der Beschwörung der oberrheinischen Landschaft als einheitlichem Natur- und Kulturraum findet, kann auch die Lösung für das Problem der die Ordnung in Frage stellenden Anarchie im Falle von Eugeni d’Ors in seinen kulturell-politischen Überlegungen zu Katalonien gefunden werden. Der Entwurf vom Mittelmeer als Wiege des Klassizismus kann tatsächlich aus der explizit ordnenden Funktion erklärt werden, die bei d’Ors diesem Klassizismus im Gegensatz zum Barock (oder der Romantik) immer zukommt. Beide Autoren scheinen deshalb ihre primären Ziele – der Frieden bei Schickele, die Ordnung bei d’Ors – ebenso wie die sich daran anschließenden Modelle von Europa auf dem Wege derjenigen Konzeptionen plausibel machen zu können, die sie zu ihren Herkunftsräumen formulieren. Beide berufen sich dabei – trotz unterschiedlicher Schwerpunkte und unterschiedlicher politischer Orientierung – auf dieselben Modelle: So wird in beiden Fällen der eng umgrenzte Raum der eigenen Herkunft als ein kultivierter Garten beschrieben, dessen Fruchtbarkeit den Ausgangspunkt für die blühende Entwicklung eines sich um diesen Mikrokosmos herum entwickelnden größeren Raumes darstellt; so werden bei beiden mit dem Katholizismus, mit Karl dem Großen und dem Heiligen Römischen Reich dieselben Referenzen für die konkrete Ausgestaltung dieses europäischen Raumes vor dem Hintergrund des Reichsgedankens angeführt. Auch wenn die Ausrichtung der beiden Ideen zu einem europäischen Imperium denkbar verschieden ist – das autoritäre Modell von d’Ors steht in einem deutlichen Gegensatz zu dem pazifistischen von Schickele –, weist auch die weitere Entwicklung der Biographien der beiden Schriftsteller und im Anschluss daran auch ihrer Konzeptionen zu Europa gewisse Parallelen auf. Weder die Überlegungen von René Schickele noch diejenigen von Eugeni d’Ors kommen nämlich mit dem harmonischen Modell vom Garten zum Abschluss, und in beiden Fällen aus ähnlichen Gründen: So sehen sich beide Autoren zu einem bestimmten Zeitpunkt gezwungen, ins Exil zu gehen; beide führt dieses Exil zwar nicht wirklich in die Fremde (d’Ors geht von Barcelona nach Madrid, Schickele vom Oberrhein in die Provence), aber dennoch stellt es bei beiden eine Vertreibung aus dem mit so klar formulierten Hoffnungen besetzten Heimat-Garten dar. Sowohl

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Arbeiterbewegung in Katalonien mit Sympathie betrachtet habe – nicht zuletzt, weil er sich damals zunehmend von den Zielen der Lliga Regionalista distanziert habe. Vgl. Enric Jardi: Eugenio d’Ors. Obra y vida, Barcelona: Aymá 1967, S. 202. Vgl. Chris Ealham: Class, Culture and Conflict in Barcelona 1898–1937, S. 19.

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bei d’Ors als auch bei Schickele führt die Erfahrung des Exils dadurch schließlich dazu, dass ihre Entwürfe von einem als Keimzelle für ein europäisches Reich (der Ordnung oder des Friedens) fungierenden Mikrokosmos an ihre Grenzen geraten und schließlich zweifelhaft erscheinen müssen. 4.3.1

Eugeni d’Ors: Die Wiederkehr des Verdrängten

1935 veröffentlicht Eugeni d’Ors seine Erzählung Gualba, la de mil veus als zusammenhängendes Buch – genau zwanzig Jahre, nachdem sie im Sommer 1915 zunächst in Form von einzelnen, täglich aufeinanderfolgenden Glossen in La Veu de Catalunya erschienen war. In einem Vorwort zu dieser ersten Buchausgabe von 1935 nimmt er Bezug auf die Situation, in der die Glosas im Sommer 1915 erstmals erschienen sind und beschreibt den Ersten Weltkrieg in Begriffen, die nicht zufällig denjenigen der Psychoanalyse entlehnt sind: Der Erste Weltkrieg könne als ein abruptes Eindringen der Geschichte in die Kultur definiert werden – wie im übrigen jeder Krieg einen solchen Einbruch von tiefer liegenden historischen Schichten in das diesen übergeordnete kollektive kulturelle Bewusstsein darstelle.132 Interessant ist nun die Metaphorik, mittels derer d’Ors seiner im Nachhinein entwickelten These über den Krieg und dessen Schockwirkung Gewicht verleiht: La Guerra Gran sobtà, en declarar-se, tota una generació instaĒlada, amb iĒlusió de redós, en un dels més deliciosos jardins de Cultura que mai la humanitat hagi conegut. Així el foc central de la terra, vessant-se, calcinador, sobre els mosaics elegantíssims de Pompei, així a nosaltres un riu de lava històrica, anàrquica i nacionalista, cuidà submergir-nos.133

Wenn d’Ors den Krieg in seiner Unberechenbarkeit so als ein gewissermaßen naturhaftes Ereignis darstellt, dann zeigt besonders das Bild von dem Vulkanausbruch, dessen Lavaströme nicht nur Illusionen zu zerstören drohen, welche Bedrohung diese unkontrollierbaren Naturgewalten für die Zivilisation darstellen müssen. Die Metapher vom Garten der Kultur, mit der d’Ors wiederum diese Zivilisation beschreibt, verortet den Garten zwar geographisch nicht genau und grenzt ihn nicht präzise ein – aber dennoch wird deutlich, dass d’Ors sich hier nicht nur auf das engere Katalonien bezieht, sondern vielmehr auf die europäische Vorkriegszivilisation in ihrer Gesamtheit. Dieses sich kulturell definierende Europa ist es, das jetzt durch das Eindringen von Geschichte, Anarchie und Nationalismus in seinem Frieden bedroht ist – und diese drei Größen stehen einander dabei in Bezug auf ihre Zersetzungs- und Zerstörungskraft in nichts nach. Wie so oft wird das Bild vom Garten von Eugeni d’Ors hier also ausdrücklich in Bezug zur europäischen Kultur gesetzt, und wie so oft ist es die Einheitlichkeit dieser Kultur, die diese erst zu dem macht, was sie für ihn ist: ein Modell, das sich jeglichen partikularen Einzelinteressen durch seine Geschlossenheit widersetzt,

132 133

Vgl. Eugeni d’Ors: Pròleg, in: Ders.: La Ben Plantada – Gualba, la de mil veus, Barcelona: Ed. Selecta 1980, S. 117. Ebd.

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dessen Bestand aber dennoch immer wieder gerade durch solche Partikularismen bedroht wird. D’Ors’ Metapher vom Garten der Kultur ist deshalb vor allem in einem Zusammenhang interessant, in dem die unmittelbaren Auswirkungen analysiert werden sollen, die diese Bedrohungen durch den Ersten Weltkrieg für ihn selbst und für seine Konzeption von Europa gehabt haben. In seinem Vorwort zu Gualba, la de mil veus geht es ihm nämlich darum, im Nachhinein eine Erklärung für diese Erzählung zu liefern, die von Anfang an ohne rechten Erfolg geblieben ist, und die dann in den zwanzig Jahren seit ihrem ersten Erscheinen nahezu vergessen wurde. Aus diesem Grund verweist er jetzt auf den Krieg, der die Niederschrift von Gualba, la de mil veus dadurch motiviert habe, dass er eben eine solche ‹Vertreibung aus dem Garten der Kultur› für ihn dargestellt habe. Während die Briefe an Tina vom Sommer 1914 noch ganz unmittelbar auf die historische Realität des Kriegsausbruchs reagiert hätten, sei der Einfluss in Gualba subtiler. Nicht die història wie im Falle der Briefe an Tina habe hier den Ausgangspunkt gebildet, sondern die subhistòria, also die zuunterst liegende Schicht des kulturellen Bewusstseins. In Gualba erzählt Eugeni d’Ors die unerhörte Geschichte eines Inzests. Aber in Gualba, das geht aus dieser nachträglichen historischen Verortung der Erzählung in den Kontext des Ersten Weltkriegs hervor, erzählt er implizit auch die Geschichte eines Schocks, durch den bisher Verdecktes oder auch bewusst Verdrängtes an die Oberfläche befördert wird. D’Ors erklärt Gualba deshalb ausdrücklich und wörtlich zur Kehrseite jener Medaille, deren Vorderseite das Bild von Teresa, der Ben Plantada trägt.134 Die durch den Kriegsausbruch zum Vorschein kommenden Bewusstseinsschichten sind allem Anschein nach die, die bisher unter der glatten Oberfläche des von Teresa verkörperten Klassizismus verborgen lagen – und aus diesem Grund liegt die Folgerung nahe, dass die Ordnung dieses Klassizismus schließlich doch nicht so harmonisierend zu wirken vermag, wie es die Erzählung von Teresas Herrschaft am Mittelmeer und deren Ausdehnung auf ganz Europa noch suggeriert hatte: «El classicisme és precari sempre»,135 so formuliert d’Ors jetzt wörtlich die Zweifel an seinem eigenen Konzept und dessen Durchsetzbarkeit. Entsprechend könnte sich das Bild von Katalonien, das in Gualba, la de mil veus gezeichnet wird, auch nicht deutlicher von dem auf das Mittelmeer und dessen klassizistische Kultur bezogenen und nicht zuletzt dadurch zentrierten Garten der Ben Plantada unterscheiden. Katalonien – das ist in Gualba eben nicht die geordnete und offene Küstenregion des Mittelmeers, sondern vielmehr eine undurchdringliche und in sich abgeschlossene Bergwelt. Im Gegensatz zu der sonnig-südlichen und taghellen Landschaft in La Ben Plantada beginnt die Geschichte von Gualba in der Dunkelheit der Nacht und setzt sich auch in einer solchen Atmosphäre der Undurchdringlichkeit und Finsternis fort. Die üppig wuchernde Landschaft des Montseny scheint hier ebenso unheimlich wie die «tausend Stimmen» der unterirdisch murmelnden Bäche, die den Berg aushöhlen und die der Erzählung

134 135

Vgl. ebd., S. 118. Ebd.

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ihren Namen gegeben haben. Gualba sei ein «llibre romàntic»,136 schreibt d’Ors 1935 und bringt damit den Unterschied zwischen dieser Geschichte und derjenigen von der Ben Plantada auf den Punkt: Während er in der ersten Erzählung in der Figur von Teresa ein Emblem für das klassizistische Ideal der Noucentisten geschaffen hatte, wird in Gualba mit der Romantik jetzt tatsächlich die Kehrseite dieses Klassizismus verhandelt. Der Klassizismus habe seinen Siegeszug zu Beginn der menschlichen Zivilisation mit drei Dingen begonnen, so argumentiert d’Ors in seinem Vorwort – nämlich dem Inzestverbot, dem Verzehr von zuvor gekochten Speisen und den Anfängen der Bildenden Kunst in der Höhlenmalerei.137 Dadurch, dass er in Gualba nun die Geschichte eines Übertritts über dieses Inzestverbot erzählt, wird auch auf der Handlungsebene die Gültigkeit des von ihm so oft propagierten Klassizismus in Frage gestellt. Die nachträgliche Kontextualisierung des Inzests in den großen Zusammenhang von der Zivilisation und deren Beziehung zum Klassizismus charakterisiert dabei die Kräfte, die diesen Inzest ins Werk setzen, nicht nur als antiklassizistisch, sondern entsprechend auch als anarchisch und gewissermaßen vorzivilisatorisch. Auf diese Tatsache bezieht sich d’Ors, wenn er selbst in seinem Vorwort eine Lesart von Gualba im Sinne einer ‹Wiederkehr des Verdrängten› vorschlägt. Das klassizistische Katalonienprojekt der Noucentisten wird in Gualba durch die grundsätzlich andere Konzeption eines romantischen Kataloniens radikal in Frage gestellt, und nicht von ungefähr hat dieses Bild von Katalonien im Zeichen der Romantik starke Ähnlichkeiten mit demjenigen, das die katalanischen Modernisten im Gefolge der Renaixença zu Ende des 19. Jahrhunderts entworfen hatten. Von diesem romantischen Katalonienbild der literarischen Vorgängergeneration hatte sich d’Ors bisher bewusst und im Einklang mit den anderen Noucentisten abgegrenzt; die Tatsache, dass es nun in Gualba wieder so deutlich markiert auftaucht, ist vor diesem Hintergrund gewissermaßen als ein ideologischer Rückschritt zu verstehen. So betont Núria Masramon Oliver: De même que La Ben Plantada est une métaphore de la Catalogne, un emblème d’une Catalogne porteuse d’un projet, celui du Noucentisme, du Méditerranisme, de la Mancomunitat dirigée par Prat de la Riba, Gualba serait aussi la métaphore d’une autre Catalogne, négative et régressive celle-là, sur laquelle pèsent les valeurs ‹décadentes› du Romantisme, et aussi du Modernisme.138

Masramon Oliver interpretiert Gualba, la de mil veus als einen Wendepunkt im Werk von d’Ors – sie spricht von einer «brisure fondamentale»,139 die diesen dazu veranlasst habe, sich von den spezifisch katalanistischen Interessen der Noucentisten und der Lliga Regionalista zu entfernen, das Katalanische als Literatursprache

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Ebd. Vgl. ebd. Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors, S. 252. Ebd., S. 18.

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aufzugeben und Barcelona schließlich zu verlassen.140 Und in der Tat betont d’Ors in seinem Vorwort zu Gualba nicht umsonst so deutlich den Einschnitt, den der Erste Weltkrieg für ihn bedeutet hat: Auch wenn er sich ein Jahr vor der Niederschrift von Gualba, in den Briefen an Tina, noch für eine Wiedererrichtung des karolingischen Imperiums zugunsten einer Überwindung des Antagonismus von Ordnung und Anarchie in Europa eingesetzt hatte, so deuten sich doch bereits in seiner Formulierung von dem «europäischen Bürgerkrieg», den der Krieg darstelle, gewisse Zweifel hinsichtlich der Umsetzbarkeit seiner eigenen zivilisatorischen Bemühungen im Sinne des reinen Klassizismus an. Schon die Briefe an Tina waren durch die Unterscheidung zwischen dem ‹klassischen› Geist der romanischen und dem ‹romantischen› Geist der germanischen Länder geprägt gewesen, die einander hier allerdings noch positiv ergänzt hatten.141 In Gualba wird jetzt deutlich, dass der Gegensatz tatsächlich im Inneren des vermeintlich rein klassischen Katalonien selbst fortbesteht, und dass die Romantik den Klassizismus nicht allein ergänzt, sondern vor allem in Frage stellt – und mit ihm die katalanische Zivilisation in ihrer Gesamtheit, wie sie die Noucentisten um das Konzept des Klassizismus herum entwickelt hatten. In Gualba, la de mil veus ist Katalonien eine unzivilisierte und rückwärtsgewandte Region. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Erzählung spielt, gibt es in dem Dorf noch keine Elektrizität (nicht zuletzt darin liegt die Ursache für die Katastrophe des Brandes, mit der die Geschichte endet), Gualba und seine Umgebung sind zudem einsam gelegen und von jeder Kommunikation nach außen abgeschnitten. Nicht nur durch diese Rückständigkeit und Isolation erscheint das Land in der Erzählung aber bedrohlich, sondern besonders auch durch die Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit seiner Natur. Die Wälder und Berge rings um Gualba scheinen sich dem Zugriff der Zivilisation zu widersetzen, in dieser Welt der unsichtbaren Flussläufe lösen sich die Grenzen zwischen Wasser und Land auf, alle Geräusche und Stimmen werden von dem Lärm des sickernden Wassers geschluckt, und in den sommerlich-feuchten Wäldern verwischen sich die Strukturen der einzelnen Pflanzen in den Wucherungen einer undifferenzierten Laubmasse. Weiter könnte tatsächlich keine Landschaft von dem Bild des kultivierten Gartens entfernt sein, das d’Ors in La Ben Plantada gezeichnet hatte – die Umgebung von Gualba in der Erzählung von 1915 ist kein Garten mehr, sondern ein Urwald in seinem elementarsten Sinne. Im Kontext von d’Ors’ Konzeption von Ordnung und Anarchie steht dieser Urwald klar auf der Seite des Chaos, und die Geschichte über den antizivilisatorischen inzestuösen Tabubruch ist dadurch auch als ein deutlicher Hinweis auf die verborgenen destruktiven Kräfte zu lesen, die der vermeintlich kohärenten und geordneten Ideologie des katalanischen Klassizismus innewohnen – und zwar umso stärker, je mehr diese Ideologie versucht, sich von ihnen zu distanzieren:

140 141

Vgl. ebd., S. 44. Vgl. Eugeni d’Ors: Tina i la Guerra Gran, S. 57–58. Vgl. dazu auch Kapitel 4.1 Europa als Ordnungsmacht.

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Il semblerait que Gualba corresponde, non à l’abandon des doctrines noucentistes de la part d’Ors, mais plutôt à la constatation de certaines fissures, de certaines failles, dans cet univers qui lui a paru, pendant quelques années, si cohérent et positif. […] D’Ors dit, avec Gualba, que le chaos existe au sein même des systèmes les plus ordonnés. […] En Catalogne, le danger, plus que le Romantisme, serait, selon lui, le déni du fond romantique sur lequel s’est construit, comme une réaction, le Noucentisme.142

Das Konzept von Katalonien im Zeichen des Gartens, das Eugeni d’Ors in den Jahren vor dem Krieg entwickelt hatte, und auf das sich seine Vorstellung von einem geordneten imperialen Europa gründete, erweist sich durch die Schilderung einer bedrohlichen Natur und durch den Zivilisationsbruch in Gualba als brüchig und prekär – allem Anschein nach gibt es für ihn keine Möglichkeit, die Antagonismen der europäischen Geschichte endgültig zu überwinden und Katalonien und mit ihm Europa dauerhaft auf der Seite der Ordnung zu etablieren. Vor diesem Hintergrund muss auch die Rolle des Erzählers in Gualba interpretiert werden. In La Ben Plantada war der Verfasser der Glossen ausdrücklich von Teresa aufgefordert worden, ihre Geschichte weiter zu erzählen und dadurch im Sinne des neuen klassizistischen Imperiums zu wirken, das sich ausgehend von dem kleinen katalanischen Garten in ganz Europa verbreiten sollte. In Gualba kann der Glosador auf keine vergleichbare Verantwortung mehr hoffen – seine Erzählerstimme löst sich vielmehr in den «tausend Stimmen» des Wassers am Montseny auf und wird dadurch diffus und ununterscheidbar: Les més variades caixes i conques fan a aquestes líquides cordes de ressonador o recullen el buf d’aquesta aspiració en tubs de planyívola o serena música, o triomfal. Ara llencen un mugit formidable, ara canten, ara parlen, ara parlotegen, ara ploren en lent degotall, ara, ascondides, eleven un tenuíssim sospir. Mil veus, mil i una veus sola.143

Hier gilt es keine positive ideologische Botschaft mehr zu vermitteln – hier bleibt nur noch die Warnung vor den anarchischen und gegenzivilisatorischen Kräften der Romantik, eine Warnung, die allerdings in der Erzählung von 1915 selbst nur implizit ausgesprochen wird und die erst in dem Vorwort von 1935 mit seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen auch zu einer abstrakteren Formulierung findet. Das Programm von der Ausbreitung des Imperialismus und der aktiven Mitwirkung des Glosadors bei dieser Aufgabe, das d’Ors in La Ben Plantada entwickelt hatte, scheitert in Gualba, la de mil veus an einer Form der Selbstbezogenheit Kataloniens, die bereits in der Isolation des Dorfes Gualba ihren Ausdruck findet, aber mehr noch in der Metapher vom Inzest selbst, die die Erzählung entwickelt. Diese Art der inzestuösen Selbstbezogenheit ist in den Augen von d’Ors stets ein Merkmal des Nationalismus im Gegensatz zum Imperialismus gewesen, den er gerade als

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Ebd., S. 279 (Hervorhebung im Original). Eugeni d’Ors: Gualba, la de mil veus, in: Ders.: La Ben Plantada – Gualba, la de mil veus, S. 122. Vgl. auch Núria Masramon Oliver, die von der «abdication partielle de la fonction du narrateur» spricht (Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors, S. 44).

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eine sich nach außen wendende Bewegung versteht – und diese Selbstbezogenheit ist es, die die Romantik für Katalonien so gefährlich macht. Ein Katalonien, das wie das Dorf Gualba in der gleichnamigen Erzählung keinen Kontakt nach außen hat, muss zuletzt an sich selbst scheitern, so könnte man folgern – hier sieht d’Ors die Gefahr, die den klassizistischen Erneuerungsbestrebungen der Noucentisten innewohnt, und hier zeigt sich für ihn noch einmal deutlich die Notwendigkeit einer Öffnung des katalanischen Gartens auf Europa hin. Vor diesem Hintergrund ist deshalb auch die Tatsache erklärbar, dass es ein europäisches Ereignis ist – nämlich der Erste Weltkrieg –, das sein Bild von Katalonien so nachhaltig verändert, dass er sich schließlich ganz von den zunächst von ihm hoffnungsvoll begleiteten Erneuerungsprojekten für die Region und zuletzt auch von dieser selbst abwendet. Sein Bruch mit Katalonien im Jahr 1923 zeichnet sich tatsächlich nicht erst in der Zeit nach dem Tod von Enric Prat de la Riba 1917 ab, in der seine Differenzen mit dessen Nachfolgern im Umfeld der Lliga Regionalista immer offener zu Tage treten, sondern dieser Bruch ist das Ergebnis eines Prozesses, der bereits in den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs begonnen hatte und den man als fortschreitende Desillusionierung in Bezug auf das ehrgeizige katalanische Zivilisationsprojekt der Noucentisten beschreiben kann.144 Auch in seinem Madrider ‹Exil›145 schreibt Eugeni d’Ors seine täglichen Glosas und vervollständigt damit kontinuierlich das fragmentarische, aus unzähligen Einzelteilen zusammengesetzte Hauptwerk, das diese Sammlungen von Glossen letztlich darstellen. Allerdings schreibt er jetzt ausschließlich auf Spanisch; dem katalanischen Glosari, wie er es über 14 Jahre hinweg in La Veu de Catalunya publiziert hatte, folgt ab 1923 die spanische Version eines Glosario, das zunächst in der zu diesem Zeitpunkt klar antikatalanischen Zeitung ABC, ab 1937 dann in Arriba España erscheint – also dem Organ der Anhänger Francos im Spanischen Bürgerkrieg.146 Auch wenn Marta Torregrosa und Jaime Nubiola ausdrücklich betonen, der Sprachwechsel der Glossen habe deren inhaltliche (philosophische) Ausrichtung nicht beeinflusst, wohl aber ihre Reichweite entscheidend erweitert,147 ist doch die Entwicklung weg von Katalonien, für die dieser Sprachwechsel sinnbildlich stehen mag, gerade im Zusammenhang mit d’Ors’ Auseinandersetzung mit Europa von größter Bedeutung. Obwohl er auch in den Madrider Jahren dem Projekt von einem Imperialismus der Ordnung treu bleibt, verschiebt sich jetzt doch der Fokus seines Interesses: Das Imperium, das Eugeni d’Ors anstrebt, kann

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146 147

Vgl. auch dazu Núria Masramon Oliver: Un point d’inflexion dans l’œuvre d’Eugeni d’Ors, S. 406. Vicente Cacho Viu spricht tatsächlich davon, d’Ors habe in Madrid in «una especie de incómodo exilio político» gelebt, auch wenn es ein Exil im eigenen Land gewesen ist. Vgl. Vicente Cacho Viu: Revisión de Eugenio d’Ors (1902–1930), S. 145. Vgl. Enric Jardi: Eugenio d’Ors. Obra y vida, S. 228–229 und S. 268. Vgl. Marta Torregrosa/Jaime Nubiola: Un exilio voluntario de Cataluña, in: Dies.: Eugenio d’Ors. El hombre y su obra (1998), http://www.ensayistas.org/filosofos/spain/ Ors/introd.htm (27.11.2007). Vgl. auch Jaime Nubiola: La revolución de la filosofía en Eugenio d’Ors, in: Anuario Filosófico 30 (1997), S. 609–625.

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aus der Madrider Perspektive und mit Blick auf die politischen Entwicklungen dort keines mehr sein, das aus einem bereits geordneten und kulturell einheitlichen Mikrokosmos hervorgeht, wie Katalonien in seinen Augen lange einer gewesen war. Stattdessen betont er jetzt zunehmend den autoritären Charakter, den sein Imperium besonders dann haben müsse, wenn es sich erfolgreich gegen die zerstreuenden Tendenzen der Anarchie durchsetzen wolle – und er findet erste Ansätze einer Verwirklichung dieser Idee zunächst in dem Regime von Oliveira Salazar in Portugal, später dann in dem von Franco in Spanien selbst, unter dem er den einflussreichen Posten eines Jefe Nacional de Bellas Artes innehaben wird. Beide Regime seien keine Diktaturen im landläufigen Sinne, sondern vielmehr gelungene Versuche dessen, was er als «política de misión» bezeichnet. Diese Vorstellung von der «política de misión» betont immer den zielgerichteten, quasi-missionarischen und autoritären Charakter des betreffenden Regimes – und besonders im Falle von Portugal, dessen besonderen Hang zum Barock d’Ors nach wie vor unterstreicht, muss sich diese Autorität seiner Meinung nach vor allem der Eindämmung der diesem Barock innewohnenden gefährlichen Neigung zur Unordnung verschreiben. So bemerkt er über das Regime von Salazar: La naturaleza vota siempre, con espontáneo impulso, por las barbas hirsutas, y quien procura la policía del afeite es la civilización. Quiere decir que, para lograr el decoro de lo civilizado, un pueblo barroco, un pueblo con propensión a abandonarse al desorden de la naturaleza, ha de contrariarse a sí mismo. Esto dará inevitablemente, al régimen de autoridad que en este país sobrevenga, carácter especial.148

Die leicht euphemistische Formulierung von dem «carácter especial» des autoritären Regimes ist dabei eben aus d’Ors’ neuerlicher Bezugnahme auf den Barock erklärlich – der Text über Salazar stammt aus demselben Jahr 1935 wie das Vorwort zu Gualba, la de mil veus, in dem er nachträglich die Wiederkehr der verdrängten katalanischen Romantik (der bei ihm ja stets eine Spielart des Barock darstellt) aus dem Bruch des Ersten Weltkriegs heraus erklärt. In seiner zunächst auf Französisch, dann auf Spanisch erschienenen theoretischen Auseinandersetzung mit dem Barock, Lo Barroco, entwickelt Eugeni d’Ors verschiedene Begriffe für die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Barock und bringt sie mit einer quasi-wissenschaftlichen Nomenklatur in ein chronologisch und geographisch geordnetes System. Eine dieser historischen Formen ist dabei die des Barocchus posteabellicus, also eines durch den Krieg hervorgerufenen und nach dem Krieg auftretenden Barock.149 D’Ors’ eigene Entwicklung nach dem Krieg, die ihn von seiner Vorstellung von einem geordneten katalanischen Klassizismus und dessen Verbreitung in ganz Europa wegführt und stattdessen seine Beschäftigung mit dem barocken Gegenmodell zum Klassizismus und der «política de misión» anregt, ist vor diesem Hintergrund wirklich im Sinne der Vertreibung

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Eugeni d’Ors: Prólogo, in: Antonio Ferro: Oliveira Salazar. El hombre y su obra, Madrid: Ed. Fax 1935, S. XI. Vgl. Eugeni d’Ors: La querella de lo Barroco en Pontigny, in: Ders.: Lo Barroco, Madrid: Aguilar 1964, S. 65–133, hier S. 119.

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aus dem Garten der europäischen Kultur zu verstehen, als die er den Beginn des Weltkrieges in dem Vorwort zu Gualba beschrieben hatte. Der Krieg hat d’Ors die Grenzen seines Modells vom Garten aufgezeigt – und wenn Michel Foucault in seinem Heterotopie-Aufsatz für die europäische Moderne die Diagnose eines «entre-croisement fatal du temps avec l’espace» stellt,150 dann kann d’Ors’ Flucht aus dem katalanisch-europäischen Paradiesgarten vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges tatsächlich als konkreter Niederschlag einer solchen schicksalhaften Überschneidung von Raum und Zeit interpretiert werden. 4.3.2

René Schickele: In mehr als einer Weise im Exil

René Schickele setzt auch seine Vorstellung von einem geistigen Europa ausdrücklich mit dem Bild vom Garten am Oberrhein in Verbindung, wenn er dessen intellektuelle Beeinflussung durch herausragende Vertreter dieses geistigen Europas im Laufe der Geschichte beschreibt: Während aber, nach 1700, in Zürich Bodmer und Breitinger wirkten, wuchsen in Straßburg Obrecht und Schoepflin zu europäischer Bedeutung. Zu jenen kamen Klopstock und Wieland, zu diesen Herder und Goethe, und wieder war es, wie um 1500, der große alemannische Garten, der über alle Grenzen hin gemeinsam blühte.151

Es ist deshalb nicht allein in einem wörtlichen Sinne seine überreiche Vegetation, die Schickeles Garten am Rhein immer wieder in die Nähe des Paradieses rückt,152 sondern in einem übertragenen auch seine blühende Kultur. Der Rückzugsort, als den Schickele diesen eingehegten paradiesischen Natur- und Kulturraum beschreibt, wird dabei immer wieder auch zu einem – positiv konnotierten! – Exil von der Welt und dem politischen Leben stilisiert: «Lebte ich hier in der Verbannung, es wäre das schönste Exil der Welt»,153 so lässt er seinen Claus von Breuschheim in der Trilogie vom Rhein ausrufen. Dieser positiven Vorstellung von einem ‹Exil im Garten› steht bei Schickele allerdings schon früh die Ahnung entgegen, dass ihn womöglich eines Tages die Notwendigkeit eines wirklichen Exils zum Verlassen seines Gartens zwingen könnte: «Wie schlimm, wenn ich wegmüßte! Mein Leben lang würde ich mich zurücksehnen, und wenn ich im Traum das Paradies sähe, wäre es hier,»154 schreibt er in seinem Tagebuch nur wenige Monate, bevor ihn die bevorstehende Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland tatsächlich zum Verlassen seines Paradieses veranlasst und ins südfranzösische Exil treibt. Auch wenn die

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Michel Foucault: Des espaces autres, S. 753. René Schickele: Ach! Euer Schweizerland, in: Ders.: Die Grenze, S. 168. «Und als wir das heiße, staubflimmernde Straßburg durchquert hatten, breitete sich unverdorben, unverändert das Paradies, mein reinstes Herz, mein Land, sommerlich bunt und fruchtbeladen, von seinen blitzblanken, blumenfrohen Dörfern durchtanzt.» (René Schickele: Maria Capponi, S. 34). Ebd., S. 25. René Schickele: Tagebuch, 29.07.1932, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1040.

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Landschaft der Provence ihn in mancherlei Hinsicht für den Verlust seines badischelsässischen Gartens entschädigen mag, hat dieses Exil für Schickele doch immer den Charakter einer wirklichen Vertreibung aus dem Paradies: «Ach, Annette – ‹ich bin des Treibens müde›! An unsern Waldrand denke ich wie an das verlorene Paradies»,155 schreibt er aus der Provence an seine Freundin Annette Kolb in Paris, die in Badenweiler seine Nachbarin gewesen war. «Manchmal kommt es mir vor, als hätten wir Grenzmenschen schon immer in der Emigration gelebt»156 – auch das ist allerdings eine Formulierung Schickeles aus seiner Zeit im Exil, mit der er jetzt, gegen Ende seines Lebens, noch einmal auf seinen Ursprung aus dem Land an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich zurückverweist. Aber obwohl man angesichts dieser Vermutung einer genuinen Verbindung zwischen dem Leben an der Grenze und der Emigration auch eine besondere ‹Befähigung› des Grenzmenschen zum Leben im Exil annehmen könnte, spricht im Falle Schickeles wenig dafür, dass es so gewesen ist. Sein vielzitiertes Wort, er lebe dort in der Provence «in mehr als einer Weise im Exil»,157 findet seine Berechtigung vielmehr tatsächlich in dem Gefühl einer profunden Differenz zu jeglicher politischen, konfessionellen, intellektuellen oder eben nationalen Gruppierung – und diese Tatsache spricht dafür, dass Schickele durch seinen Wegzug aus dem Garten am Oberrhein in gewisser Weise auch aus dem Paradies einer zumindest vorübergehenden Zugehörigkeit vertrieben worden ist.158 Das erscheint umso bedeutungsvoller, als es dabei keineswegs allein um Schickeles persönliche Befindlichkeit in Bezug auf sein Exil geht: Dieses Exil musste für ihn vielmehr auch das Scheitern seiner Idee von der deutschfranzösischen Partnerschaft und von einem geeinigten Europa bedeuten. Schon die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, spätestens aber der Beginn des Krieges verweisen auch auf einer Ebene jenseits der persönlichen Lebensumstände Schickeles auf die Unmöglichkeit seines Modells von einem friedlichen Garten zwischen Deutschland und Frankreich, und mehr noch auf diejenige seiner Idee von einem aus diesem Garten hervorgehenden pazifistischen und der gemeinsamen geistigen Tradition verpflichteten Europa.159

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René Schickele an Annette Kolb, 08.07.1935, in: Hans Bender (Hg.): René Schickele – Annette Kolb. Briefe im Exil 1933–1940, Mainz: von Hase & Koehler 1987, S. 234. Ganz ähnliche Formulierungen finden sich in den Briefen vom 24.11.1937 und vom 29.06.1938, vgl. ebd., S. 310 und S. 328. René Schickele: August (1937), in: Ders.: Überwindung der Grenze. Essays zur deutschfranzösischen Verständigung, hrsg. von Adrien Finck, Kehl/Strasbourg/Basel: Morstadt 1987, S. 104–114, hier S. 111. René Schickele an Svend Borberg, 01.10.1936, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1237. Vgl. zu dem Zusammenhang von Garten und Exil allgemein auch Hélène L’Heuillet: Le jardin et l’exil, in: Cahiers philosophiques 42 (1990), S. 65–107. Vgl. zu Schickeles gescheiterten Hoffnungen in diesem Zusammenhang vor allem Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), Strasbourg 1988 (Thèse de doctorat), S. 26. Hier heißt es: «Sa situation était au fond plus douloureuse […] que celle de ses

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Dass Schickele sich dieser Tatsache bewusst gewesen ist, das zeigt sich unter anderem in einem seiner letzten Bücher – dem ersten und einzigen, das er auf französisch verfasst hat. Die kleine Erzählung Le Retour, die über die Jahreswende 1935/36 geschrieben und 1938 veröffentlicht wurde, verweist schon in ihrem Titel darauf, dass ihr Blick einer ist, der sich erinnernd zurückwendet. Schickele lässt darin sowohl Episoden aus seiner Kindheit im Elsass als auch erneut die Jahre in seinem Paradies am Waldrand an den Hängen des Schwarzwalds aufleben; die unmittelbare Gegenwart der Provence wird in kurzen Abschnitten eingeblendet. Die Rückkehr, auf die der Titel anspielt, ist damit nicht nur eine Rückkehr zu Schickeles Muttersprache, dem Französischen, sondern einmal mehr auch eine in den Garten zunächst seiner elsässischen Kindheit und später seiner vielleicht produktivsten Jahre als deutscher Schriftsteller. Die Erzählung berichtet nun von dem Zwiegespräch eines Schickele selbst in vielen Charakterzügen und biographischen Daten ähnlichen Ichs mit zwei einander widersprechenden inneren Stimmen – nämlich Langue-de-feu auf der einen und dem Pompier auf der anderen Seite. Diese leise ironischen Namen verweisen nun nur zu deutlich auf die Funktion, die den beiden Figuren in der Erzählung zukommt: Während Langue-de-feu so etwas wie ein Advocatus diaboli ist, der mit seiner Feuerzunge mehr als einmal als geistiger Brandstifter wirkt, kommt dem Pompier eben die Aufgabe zu, diese rasch entfachten Brandherde durch seine Beschwichtigungen wieder zu löschen. Im Zusammenhang mit der Resignation des Autors – und des Ichs der Erzählung – gegenüber seiner Idee von einem geistigen Reich Europa, das aus der deutsch-französischen Keimzelle des Oberrheins hätte entstehen sollen, ist es nun entsprechend Langue-de-feu, der das Scheitern dieser Idee direkt und brutal formuliert, indem er es ironisch mit den aktuellen politischen Verhältnissen in Deutschland und dem diesen entgegenstehenden Individualismus des zweisprachigen Ichs in Beziehung setzt: Te voilà, pauvre animal bilingue? s’écria Langue-de-Feu. Tu as la mine refrognée des jours de fête! Ah! ces individualistes qui ne savent pas partager la joie du peuple! C’est-il parce que la tribu voisine a trouvé son messie?… Hein? leur nouvel Évangile te paraît un peu corsé? Ils y vont un peu fort avec leurs psaumes et leurs chants? Guère aimables, les braves gens!… Alors Orphée perdu dans la forêt vierge a foutu le camp?… Finie, l’entente franco-allemande? Au diable, l’Empire de Charlemagne que nous devions reconstituer pour que le monde connût enfin la paix… Comme si le monde, mon gars, en voulait de ta paix!… Donc, cette fois, on ne t’a pas invité à monter sur le Sinaï pour s’enquérir de ton avis?… Console-toi, ils le payeront, les bougres!… En attendant il a un dada à vendre, la gentille petite entente franco-allemande, la mignonne paix européenne.160

Vor diesem Hintergrund des Scheiterns sowohl der «entente franco-allemande» als auch der «paix européenne» muss deshalb auch Schickeles ‹Rückkehr› zum Fran-

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amis allemands de l’exil anti-fasciste: c’est l’option de sa vie (celle d’être un écrivain de langue allemande) qui était détruite, c’est sa mission alsacienne (la médiation francoallemande) qui aboutissait à l’échec.» René Schickele: Le Retour, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 783.

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zösischen interpretiert werden: «S’il tente de revenir maintenant au français, c’est parce que l’Allemagne a mal tourné.»161 Dennoch kann gerade der Sprachwechsel nicht die Lösung des Problems darstellen – wenn Langue-de-Feu das Ich der Erzählung als «Orphée indébochable» anspricht,162dann deutet er damit genau auf die Unmöglichkeit, jemals wirklich einen Teil der eigenen Identität hinter sich lassen zu können. In Le Retour ist es deshalb immer wieder diese Frage nach der Sprache, die zwischen den drei Gesprächspartnern verhandelt wird. Während Langue-de-Feu die Haltung vertritt, für den Icherzähler wäre es besser, überhaupt kein Französisch zu können anstatt eines, das eben doch vom Deutschen nicht loskommt, gibt sich der Pompier versöhnlicher: Immerhin sei die Mutter des Erzählers eine richtige Französin gewesen, die das Deutsche nie verstanden habe und mit der er deshalb Französisch habe sprechen müssen. Auf die Forderung von Langue-de-Feu, bloß veränderte (Sprach-)Gewohnheiten genügten nicht, der Erzähler müsse schon eine wirkliche Wiedergeburt als ein neuer Mensch mit einer neuen Sprache anstreben, kann der Pompier deshalb gelassen antworten: «Admirons la prévoyance maternelle […]. Il s’appelle René.»163 Dennoch weiß dieser namentlich wiedergeborene Erzähler selbst um die Unmöglichkeit einer sprachlichen Wiedergeburt gerade in seinem besonderen Fall als Schriftsteller zwischen Deutschland und Frankreich: Il me semblait que le bilingue était favorisé… partout ailleurs qu’en littérature; qu’il pouvait faire un bon journaliste, mais difficilement un bon écrivain; que pour ce dernier la langue n’était pas seulement la matière à pétrir […], mais un tout cohérent, un monde complet… et presque fermé.164

Der einzige Ausweg aus dem Dilemma der Sprache, den Le Retour andeutet, bewegt sich deshalb auf einer anderen, nämlich metaphysischen Ebene: Ganz zum Schluss seiner Erzählung berichtet das erzählende Ich vom Tod seiner französischen Mutter, der er auf dem Sterbebett versprochen habe: «Là-bas, tous parlent la même langue, maman... Nous ne regretterons plus...», worauf die Sterbende geantwortet habe: «Il n’est jamais trop tard...»165 Dennoch bleibt die Verlegung der Lösung des Sprachproblems in ein besseres Jenseits nur eine Notlösung: Auch wenn Schickele mit seinem auf französisch verfassten Buch selbst zeigt, dass die Zweisprachigkeit praktisch gesehen auch für den Schriftsteller möglich ist, und auch wenn er damit eine solche Lösung bereits im Diesseits vollzieht, weist die explizite Problematisierung dieser Zweisprachigkeit in dem Buch einmal mehr auch auf die Frage nach der Überwindbarkeit von Grenzen. In diesem Falle sind diese Grenzen eben die Sprachbarrieren, die sich dem Ich in den Weg stellen, und von denen ihm immer bewusster wird, dass sie trotz aller im Einzelfall glücken-

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Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 180. René Schickele: Le Retour, S. 786. Ebd. Ebd., S. 789. Ebd., S. 832.

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den Grenzüberschreitungen niemals tatsächlich und vor allem niemals endgültig abgeschafft werden können.166 Vor diesem Hintergrund ist es deshalb auch erklärbar, dass sich das Bild von der Natur, das Schickele in seinem Retour zeichnet, von der Idylle seiner bisherigen Gartendarstellungen in einem wesentlichen Punkt unterscheidet: Zwar zitieren diejenigen Passagen, in denen sich der Erzähler an seine Heimat am Oberrhein erinnert, noch immer dieselben Versatzstücke, mit denen Schickele das Bild seines Gartens schon vor dem Exil gezeichnet hatte – die Gebirgszüge des Schwarzwaldes und der Vogesen, die Grenze des Rheines, die Fruchtbarkeit der Ebene dazwischen, ihre ideale Position zwischen Norden und Süden: Entre les deux chaînes de montagnes parallèles et de même hauteur, la vallée ressemblait à un immense jardin, tellement elle était fertile et bien tenue, protégée par ses deux murs gigantesques et ventilée par le courant d’air qui circulait librement entre la Bourgogne et la mer du Nord.167

Dennoch wird dieser Blick auf die zurückgelassene badisch-elsässische Landschaft jetzt ergänzt durch den auf die gegenwärtige provençalische – und obwohl sich auch die Natur der Provence durch ihre Fülle und ihre Harmonie auszeichnet, wird dieses Bild doch nuanciert durch eine Reihe von Elementen, die eine gewisse Beunruhigung oder sogar Störung dieser Harmonie andeuten. Immer wieder sind Einbrüche einer leisen Gewalt zu verzeichnen, einer Unberechenbarkeit der Landschaft, die bei dem Erzähler unweigerlich eine Art «terreur panique» hervorrufen.168 Seine Sehnsucht nach dem zurückgelassenen alemannischen Garten und das daraus resultierende Gefühl der Heimatlosigkeit finden ihre Entsprechung in seiner Angst angesichts der unkontrollierbaren Kräfte, die er jetzt in der Natur wahrnimmt: Si ‹entre hommes› il y a toujours une possibilité de négocier et de s’arranger grâce à la parole, force civilisatrice, cette nature païenne est implacable dans son immensité et son silence.169

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Jean-Jacques Schumacher interpretiert die Unmöglichkeit einer wirklichen Wiedergeburt positiver im Sinne einer Bestätigung der doppelten Identität des Elsässers Schickele, vgl. Jean-Jacques Schumacher: «Te voilà, pauvre animal bilingue?...». A propos de la destinée littéraire de René Schickele, in: Germanica 17 (1995), S. 137–145, hier vor allem S. 142. René Schickele: Le Retour, S. 799. Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 194. Ebd. Positiver interpretiert Joachim W. Storck diese Akzentverschiebung zwischen dem alemannischen Garten und der Landschaft der Provence – Schickeles Werk löse sich in der Provence aus «einer äußeren Heimatbezogenheit» und werde «überregionaleuropäisch» durch die Beschäftigung mit einer «der geschichtlich-mythischen Urlandschaften dieses Kontinents» (Joachim W. Storck: Der späte Schickele. Ein Sonderfall der deutschen Exilliteratur, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 435–461, hier S. 447).

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Obwohl die mediterrane Landschaft der Provence dabei immer wieder auch ausdrücklich zum mythischen Ursprungsort erklärt wird,170 bleibt dieses Moment einer gewissen vorzivilisatorischen, ‹heidnischen› Unberechenbarkeit dieser Landschaft und ihrer Natur doch beherrschend: Anders es als bei Eugeni d’Ors lange der Fall gewesen war, kann die Mittelmeerküste bei René Schickele nicht mehr zweifelsfrei der harmonische Garten einer klassischen Ordnung sein.171 Der Garten insgesamt wird auf diese Weise für Schickele fragwürdig. In seinem Roman Die Flaschenpost (1937) kommt es entsprechend zu einer impliziten, aber dennoch deutlichen Verabschiedung dieses Modells von einem harmonischen Mikrokosmos. Der Roman erzählt aus dessen eigener Perspektive die Geschichte von Richard Wolke, einem jungen Amerikaner aus reicher Familie, der zur Erholung an die Côte d’Azur geschickt wird und sich dort allerdings vielmehr in eine Art Verfolgungswahn hineinsteigert, der damit endet, dass er seinen Nachbarn erschießt. Wolke wird in eine Irrenanstalt eingewiesen, schreibt dort zunächst weiter an seinen Aufzeichnungen und beendet diese dann in dem Augenblick, in dem er die Gewissheit formuliert hat, nicht er, sondern im Gegenteil die anderen Menschen seien die Verrückten: «Unsere Zivilisation beruht auf dem Verschweigen der Tatsache, daß die Gesunden unter dem Knüppel eines Häufleins besonders begabter Irrsinniger leben.»172 Die Flaschenpost aus dem Titel des Romans – das sind nun Wolkes Aufzeichnungen, gewissermaßen sein Testament, mit dem er jegliche Verbindung aus dem Irrenhaus nach draußen abbricht und sich für die Zukunft zum Schweigen entschließt. Mit seiner Figur Richard Wolke zeichnet Schickele die Figur eines radikal einsamen Menschen, der paradoxerweise gerade durch seine Randständigkeit und seinen vermeintlichen Wahnsinn so etwas wie der letzte Klarsichtige ist, der noch imstande wäre, die Verhältnisse einzuordnen und sie zu beurteilen. Obwohl der Roman nicht explizit einen Zusammenhang zwischen Wolkes existentieller Einsamkeit auf der einen und den politischen Entwicklungen Europas zum Zeitpunkt der Publikation des Romans auf der anderen Seite herstellt, wird doch deutlich, dass mit der Frage, wo in einer Gesellschaft der Wahnsinn zu verorten ist, genau dieser Zusammenhang angesprochen ist. Vor diesem Hintergrund ist deshalb auch der abgründige schwarze Humor zu verstehen, der die Geschichte von Richard Wolke kennzeichnet, und der angesichts der profunden Verwirrung (entweder Wolkes oder

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«C’est au bord de cette mer-ci que les dieux ont accepté le baptême. Ici, même par la plus grande chaleur, partout où une ombre touche la terre, l’on croit entendre le murmure d’une source.» (René Schickele: Le Retour, S. 814). Dagegen sieht Frédéric Kniffke das Bild der Provence, das Schickele in Le Retour zeichnet, deutlicher in der Kontinuität seiner Vorstellung von einem himmlischen Garten: «Eine Antithetik, auf der das Werk bis dahin aufgebaut war, scheint aufgehoben. […] Der himmlische Garten ist die Landschaft zwischen Schwarzwald und Vogesen, aber auch die Provence. Eigentlich aber eine Lebenskunst oder ein Gleichgewicht, zu dem man gelangt ist an dem Ort.» (Frédéric Kniffke: Über René Schickeles Sprache in ‹Le Retour›, in: Adrien Finck/Maryse Staiber (Hg.): Elsässer, Europäer, Pazifist. Studien zu René Schickele, Kehl/Strasbourg/Basel: Morstadt 1984, S. 183–205, hier S. 195). René Schickele: Die Flaschenpost, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 790.

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eben der Welt, die ihn umgibt) der einzige Ausweg zu sein scheint: «Cet humour noir apparaît comme la seule attitude capable d’affronter encore l’absurdité de la situation de l’individu isolé, impuissant face à la catastrophe.»173 Dieser Ausweg in den Humor hat nun immer wieder dazu geführt, dass Die Flaschenpost als eskapistische Spielerei missverstanden wurde – so schreibt etwa Klaus Mann in einer Rezension ausdrücklich von «Fahnenflucht» und fordert von Schickele ein radikaleres Engagement und ein klareres Bekenntnis in politischer Hinsicht.174 Dennoch bleibt Die Flaschenpost die Stellungnahme nicht schuldig, die Klaus Mann vermisst – auch wenn sie sich vielleicht nicht auf den ersten Blick erschließen mag. Der Rückzug ins Irrenhaus ist die Konsequenz, die Schickele aus seiner Analyse der politischen und gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit zieht: Es ist etwas wie mein ‹Candide› geworden, zumindest, was den Galgenhumor und die zeitliche Untermalung betrifft – selbstverständlich weder in der Fabel, noch im Stil. Ich konnte auch nicht den erfreulichen Ruhesitz meines Vorgängers erwählen, ein Gemüsegarten, selbst in der Nähe Konstantinopels, wäre heute kein Unterpfand des Friedens, und so musste ich dorthin gehen, wo es verhältnismässig am sichersten ist: in ein Irrenhaus.175

Der Vergleich mit Voltaire und seinem Candide ist nun insofern bezeichnend, als Schickele damit gerade dessen ironische Lösung des «cultiver son jardin» radikal in Zweifel zieht: Für ihn ist mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und seinem eigenen Exil klargeworden, dass der Garten seine Funktion als Rückzugsort von der Welt nicht länger ausfüllen kann. So ist schließlich auch die resignative Haltung zu erklären, mit der Richard Wolke am Ende des Romans seine Aufzeichnungen abbricht: Ihm kann es anders als Voltaires Candide nicht mehr darum gehen, irgendetwas ‹anzubauen› – im Gegenteil. Die einzige Lösung für Richard Wolke besteht in der Festschreibung seiner immer schon existierenden Einsamkeit angesichts der Unordnung der Welt: «Ich will endlich allein sein.»176 Das Beispiel der Flaschenpost macht so nicht nur deutlich, wie problematisch für Schickele das harmonische Modell vom Garten als Abbild der künftigen Ordnung Europas geworden ist, sondern es zeigt auch, dass er trotz seiner Zweifel auch in den Jahren des Exils Stellung zu politischen Fragen bezogen hat – und bei aller Zurückhaltung deutlicher als zuvor in den Jahren der Weimarer Republik. Obwohl Maryse Staiber deshalb von Schickeles «renoncement à la politique» in den Exiljahren spricht,177 bedeutet das nicht, dass er sich jeden Kommentars

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Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 219. Vgl. dazu auch Hans Wagener: René Schickele. Europäer in neun Monaten, Gerlingen: Bleicher 2000, S. 270. Klaus Mann: René Schickeles neuer Roman. «Der Fall Richard Wolke», in: Thomas Mann/René Schickele: Jahre des Unmuts (Briefwechsel 1920–1940), hrsg. von Hans Wysling und Cornelia Bernini, Frankfurt am Main: Klostermann 1992, S. 191. René Schickele an Thomas Mann, 29.09.36, in: Thomas Mann/René Schickele: Jahre des Unmuts, S. 98–99. René Schickele: Die Flaschenpost, S. 816. Vgl. dazu auch Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 229. Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 142.

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zur politischen Situation enthalten hätte. Vielmehr drückt sich in seiner Scheu gegenüber allzu kämpferischen Stellungnahmen (wie sie wohl Klaus Mann von ihm erwartet hätte) eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Form von Ideologie aus: Wie andre sich in der Jugend die Syphilis ‹holen›, so habe ich mir, fast noch ein Kind, die Politik ‹geholt›, ich habe sie im Blut und kann sie nicht ausscheiden. Das einzige Mittel, sie loszuwerden, nämlich sie in eine aktive politische Tätigkeit umzusetzen, habe ich mir […] bewusst versagt. Das rächt sich jetzt, da die politischen Dinge sich zur Apokalypse verdichten – von deren Zeichen ich oft, viel zu oft körperlich besessen bin...178

Die Bedrohung Europas durch den Nationalsozialismus ist für Schickele umso evidenter, als er hinter den jeweils besonderen Ausprägungen dieser einen totalitären Ideologie immer auch deren Parallelen mit allen anderen Totalitarismen erkennt. Wenn er deshalb in einem Brief von 1936 von seiner eigenen irreduziblen «Unfähigkeit zum ‹Kollektiv›» spricht, dann wird deutlich, dass auch der Kommunismus keine Option für ihn sein kann – auch wenn er nach dem Ersten Weltkrieg noch alle seine Hoffnungen in einen pazifistischen Sozialismus gesetzt hatte (und von den tatsächlichen Ergebnissen der deutschen Novemberrevolution rasch enttäuscht gewesen war).179 Kommunismus und Faschismus sind für Schickele tatsächlich nur zwei Seiten derselben Medaille: Was ich über die ‹Lage› denke? Das Schlimmste – aussenpolitisch. Sieh Dir an, wie die Deutschen und Italiener die Russen provozieren – sowas […] hörte man früher erst nach der Kriegserklärung. […] Alles drängt mit Gewalt auf den europäischen (und Welt-) Bürgerkrieg zu. Und der Versuch Russlands, sich an die westlichen Demokratien anzugleichen, kommt 1.) etwas spät und 2.) in wenig überzeugenden Formen. Was ist das alles für ein Schwindel!180

Seine eigenen Stellungnahmen aus diesen Jahren im Exil betonen deshalb die Notwendigkeit der Unabhängigkeit vor allem für den Schriftsteller und dessen geistige Welt – und insbesondere sein Essay Liebe und Ärgernis des D. H. Lawrence (1935) zeigt dabei, dass diese Haltung eben nicht eskapistisch ist, sondern im Gegenteil sehr dezidiert in ihrer Gegnerschaft gegenüber ideologischen Handlungsmustern. Am Beispiel der Person D. H. Lawrences weist Schickele nach, wie problematisch es ist, wenn ein Schriftsteller die Welt mit politischen Mitteln verändern will und dazu auf Irrationalismen rekurriert, die spätestens dann unkontrollierbar werden müssen, wenn sie sich in Form von Massenbewegungen Bahn brechen: «Da jeder seiner Romane neben dem menschlichen Abenteuer ein ideologisches enthält,

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René Schickele an Thomas Mann, 24.11.37, in: Thomas Mann/René Schickele: Jahre des Unmuts, S. 121. René Schickele an Svend Borberg, 01.10.1936, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 1238. Vgl. Adrien Finck: René Schickele und das ‹Geistige Elsässertum›, in: Ders./ Maryse Staiber (Hg.): Elsässer, Europäer, Pazifist. Studien zu René Schickele, S. 15–35, hier S. 20. Diese Verweigerung gegenüber jeglichem Kollektivismus teilt Schickele mit André Gide, vgl. Kapitel 6.1 André Gide: Europa als Schule des Individualismus. René Schickele an Annette Kolb, 12.10.36, in: Hans Bender (Hg.): René Schickele – Annette Kolb. Briefe im Exil 1933–1940, S. 297.

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und zwar immer das gleiche, klappert die ganze Front seines Werkes entlang ein ‹Hornberger Schießen›.»181 Das immergleiche ideologische Abenteuer in Lawrences Werken ist der Kult des Eros, den dieser darin propagiert, und dieser Kult ist nun nicht allein irrationalistisch, sondern er ist für Schickele tatsächlich «eine totalitaristische Ideologie, wie sie sich in der Gegenwart von 1934 sowohl […] im Marxismus als auch im Nationalsozialismus zeigte».182 In dem Essay über D. H. Lawrence geht es damit um weit mehr als nur um diesen selbst: «Plus qu’une critique de la pensée de Lawrence, l’essai est une critique de l’époque.»183 Der Irrationalismus, vor dem Schickele am Beispiel Lawrences warnt, wurzelt in demselben Mystizismus, der ihn Faschismus und Kommunismus als wesensverwandt und gleichermaßen gefährlich erleben lässt.184 Seine eigene Haltung setzt dieser Tendenz zur Ideologie deshalb die utopische Vorstellung einer Heilung durch ‹Einkehr in sich selbst› entgegen,185 und betont statt der politischen Heilsversprechen, die er im Europa seiner Gegenwart am Werk sieht, die Werte eines christlichen Humanismus, wie er ihn – trotz allem – aus der Geschichte des Kontinents ableiten zu können glaubt. So propagiert er vor allem in seinem Essay Spartacus und das Kreuz (1933) eine Art ideales Christentum, das sich auf eine Doktrin der Friedfertigkeit und Nächstenliebe beruft. In dem Lawrence-Essay ist es dann (wie schon in manchen seiner Texte aus der Zeit vor dem Exil) abermals ausdrücklich der Katholizismus, dem im Gegensatz zum Protestantismus die Rolle zukommt, die wahren Werte des christlichen Abendlandes gegen die falschen messianischen Vorstellungen der politischen Ideologien zu verteidigen.186 «La Vie sans Dieu» – so nennt Schickele in Le Retour die Krankheit, an der das zeitgenössische Europa leide.187 Dieses Leben ohne Gott sei der Ursprung allen Übels, wie es sich in den politischen Ideologien Ausdruck verschaffe, und wenn man dieser Entwicklung nicht bewusst zumindest «le souvenir de Dieu» entgegensetze, dann sei der Niedergang nicht mehr aufzuhalten. Dieser immerhin bewahrenden, wo nicht restaurativen Aufgabe verschreibt sich Schickele im Exil, und wenn er dabei zeitweilig mit dem Gedanken spielt, eine Zeitschrift zu

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René Schickele: Liebe und Ärgernis des D. H. Lawrence, in: Ders.: Werke in drei Bänden III, S. 776. Vgl. zu Schickeles Argumentation im Zusammenhang mit den Massenbewegungen auch S. 742. Hans Wagener: René Schickele. Europäer in neun Monaten, S. 256. Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 141. «Fascisme et communisme sont dénoncés finalement comme des ‹frères jumeaux›, le dénominateur commun étant un ‹méssianisme politique›.» (Adrien Finck: René Schickele, Strasbourg: Ed. Salde 1999, S. 211–212). René Schickele: Liebe und Ärgernis des D. H. Lawrence, S. 776. Vgl. Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 143. In einem Brief an Annette Kolb betont Schickele tatsächlich ausdrücklich, die «Wahrheiten» aus dem Essay über Lawrence seien «nicht aus einem polemischen, sondern aus einem religiösen Gefühl» heraus formuliert worden (René Schickele an Annette Kolb, 10.04.1935, in: Hans Bender (Hg.): René Schickele – Annette Kolb. Briefe im Exil 1933–1940, S. 209–210). René Schickele: Le Retour, S. 823.

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gründen, die den Titel Verteidigung des Westens tragen sollte,188 dann mag dieser Titel tatsächlich symbolisch für die Haltung stehen, die seine letzten Lebensjahre geprägt hat. Der Westen taucht nun nicht mehr explizit unter dem Namen ‹Europa› auf; in der Tat spricht Schickele immer öfter davon, dem alten Kontinent ganz den Rücken zu kehren.189 Der Westen, den der Titel der geplanten Zeitschrift zitiert, ist so nicht mehr durch nationale oder in einem allgemeineren Sinne räumliche Grenzen markiert, sondern allein durch geistige: Die Welt teilt sich in zwei Lager, und das ist gut. Sie werden immer deutlicher, immer kräftiger hervortreten, und da es nicht mehr zu leben lohnte, wenn der Ungeist siegte, so mag es denn der furchtbare Kampf auf Tod und Leben werden über alle Begriffe hinaus, die wir uns bisher von derartigen historischen Entscheidungskämpfen zu machen pflegten. Der Kampf wird extra muros et intra auszufechten sein. Es ist der Welt-Bürgerkrieg. Ich will lieber völlig unterliegen, als nur mit halbem Herzen bei einer Partei zu sein […]. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich Konformist und fühle mich ganz und gar auf der rechten Seite.190

Der Ungeist, dem Schickele hier den Kampf ansagt, ist geographisch nicht mehr klar lokalisierbar; der Kampf gegen ihn ist entsprechend einer, der allein mit den Waffen des Geistes geschlagen werden kann. In seinem kurzen Essay August (1937) stellt René Schickele noch einmal die drei wichtigen Landschaften seines Lebens – das Elsass, Baden und die Provence – nebeneinander. Das Elsass und Baden werden dabei wie stets mit dem nostalgischen Blick des aus dem dortigen Paradies Vertriebenen betrachtet, und noch immer erscheint das Exil der Provence im Vergleich dazu fremd und bedrohlich.191 Dennoch kann Schickele ausgehend von dem Blick auf diese provençalische Landschaft schließlich das Programm für seinen Kampf gegen den geographisch nicht gebundenen Ungeist formulieren. Inspiriert von einer Art mittäglicher Vision, in der er unter einem alten Ölbaum den schlafenden Pan erkennen zu können glaubt, erschließt sich ihm zuletzt doch auch hier im Exil die «klare[…] Ordnung der Landschaft», und daran anschließend «Maß und Wert der Dinge». Maß und Wert – das ist der Titel der von Thomas Mann gegründeten Exilzeitschrift, in der Schickeles Essay erstmals erschienen ist. Am Ende seines Textes präzisiert dieser implizit, wie er die Vorgaben dieses Titels verstehen möchte, und auf welche Art und Weise er den Erwartungen begegnen kann, die damit verbunden sind. Er geht dazu auch hier auf seine Vorstellung von einem weltweiten Kampf

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Vgl. Maryse Staiber: L’exil de René Schickele (1932–1940), S. 35. Etwa in dem Brief an Annette Kolb vom 07.06.1935, in: Hans Bender (Hg.): René Schickele – Annette Kolb. Briefe im Exil 1933–1940, S. 225. René Schickele an Thomas Mann, 18.01.1940, in: Thomas Mann/René Schickele: Jahre des Unmuts, S. 137. «Nun lebe ich an der Küste des Mittelmeeres. Es gibt keine Laubwälder, und von den goldschattigen Pinien gehn jährlich Tausende in Flammen auf. […] Wie heiter, mit Licht behangen über und über sind die rheinischen Pappeln! In den Zypressen nisten schwarze Gedanken, die krächzen ganz anders noch als die Raben.» (René Schickele: August, S. 113).

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gegen den Ungeist ein, auch wenn er diesen Kampf nicht direkt beim Namen nennt und statt dessen im Vagen lässt, worauf er sich bezieht. Allerdings spricht er explizit von einem zu erringenden Sieg, zu dem jeder einzelne das Seine beitragen könne, auch wenn es nur ein «winzige[s] Gewicht» sein mag,192 das er dabei in die Waagschale werfen kann. Seinen eigenen – bescheidenen – Beitrag bei dieser ‹Verteidigung des Westens› jedenfalls sieht René Schickele darin, seine Nostalgie in Bezug auf dessen humanistische Werte und dessen eingehegte Orte zu pflegen und ihr in der Kunst Ausdruck zu verleihen. Das letzte Projekt, das er vor seinem Tod noch vollendet hat, ist deshalb eine Anthologie mit deutschen Gedichten von Walther von der Vogelweide bis hin zu Nietzsche, die den sprechenden Titel Das Vermächtnis trägt.193 Diese Sammlung ist nicht nur ein Versuch, sich durch den Rückgriff auf die deutsche Literatur aus mehreren Jahrhunderten der überzeitlichen Geltung des klassisch-humanistischen kulturellen Erbes zu versichern, das über diese Literatur transportiert wird, sondern es geht für Schickele darin insbesondere auch darum, seine eigene Verbindung zu dieser Kultur zu bestätigen – und damit zuletzt auch diejenige zu Deutschland selbst. Wir wollen das Heimweh pflegen, das kleine, das die Schalmei bläst und das für manchen von uns in den Ferienmonaten aufleben mag, wie sonst nie, und das große, das uns in den Gewittern der Zeit befällt. Das eine Gefühl birgt das andre wie die Blüte die Frucht. Die Welt wird nie vollkommen sein. Vollkommenheit lebt nur im Glauben, wovon die Kunst der schönste irdische Teil ist. Was aber würde aus der Welt ohne die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach Vollkommenheit!194

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Ebd., S. 114. Das Buch konnte erst nach dem Krieg 1948 erscheinen und ist dadurch tatsächlich auch eine Art persönliches ‹Vermächtnis› Schickeles geworden (vgl. René Schickele: Das Vermächtnis, Freiburg: Alber 1948). René Schickele: August, S. 114.

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Abschied: Heinrich Mann

Eugeni d’Ors und René Schickele hatten Europa ausgehend von ihrer Herkunft aus Regionen entworfen, die jeweils in doppelter Weise kulturell geprägt waren: Katalonien bei d’Ors und das Elsass bei Schickele sind nicht zuletzt deshalb eingehegte Gärten der Kultur, weil beide die kulturellen Unterschiede zwischen zwei großen Nationalstaaten in der Harmonie einer grenzüberschreitenden Kultur fruchtbar machen. Bei beiden Autoren sieht sich die Konzeption von einem solchermaßen eminent europäischen Mikrokosmos aber zuletzt entweder durch interne Antagonismen oder durch externe Bedrohungen in Frage gestellt. Heinrich Mann, der derselben Generation angehört wie d’Ors und Schickele, greift deshalb bei seinen Überlegungen zu Europa nicht mehr auf die Vorstellung von einem bereits existierenden europäischen Mikrokosmos als Modell für dieses Europa zurück; sondern seine Überlegungen stehen von Anfang an in eindeutiger realpolitischen Zusammenhängen als diejenigen von Schickele und d’Ors.1 In den Jahren des Ersten Weltkriegs entwickelt er so ausgehend von seiner Opposition gegen das wilhelminische Kaiserreich eine Idee von Europa, die das demokratische Frankreich in der Tradition der Aufklärung als ein Gegenbild (und als ein Vorbild) für dieses Kaiserreich entwirft. Der Antagonismus, der diese Vorstellung prägt, löst sich in den Jahren nach dem Krieg auf – hier geht es Mann wie vielen seiner Zeitgenossen um die deutsch-französische Aussöhnung als Bedingung für die europäische Einigung; diese soll dann vor allem die junge Demokratie der Weimarer Republik stabilisieren helfen. Das Scheitern der Republik zwingt Heinrich Mann 1933 ins Exil; und auch sein Kampf gegen den Nationalsozialismus in den Exiljahren lässt sich dabei auf das Bild von Europa zurückführen, das er zeit seines Lebens propagiert hat: Seinem politischen Engagement liegt nämlich immer die Vorstellung zugrunde, Europa sei ein Raum, der wesentlich durch seinen Geist und insbesondere durch seine Vernunft geprägt ist; dem intellektuellen Schriftsteller kommt deshalb die Aufgabe zu, diesen europäischen Geist vor seiner Infragestellung durch alle Formen des Ungeistes in Schutz zu nehmen, gerade dort, wo dieser politisch motiviert ist. Wenn Heinrich Mann Europa so als permanente Aufforderung zur Auseinandersetzung erlebt, dann hat das seinen Grund in diesem emphatischen Verständnis von der eigenen Rolle als Intellektueller. Die Tatsache, dass er sich schließlich dazu gezwungen sieht, Europa zu verlassen, um ins amerikanische Exil zu gehen, muss deshalb als Abschied in einem fundamentalen Sinne verstanden werden. Unter dem Motto dieses Abschieds sollen im folgenden Kapitel die Annäherungen Heinrich Manns an Europa verhandelt werden. Dabei wird weitgehend chronologisch verfah-

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Auch wenn natürlich auch deren Konzeptionen durchaus politische Implikationen haben.

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ren; allerdings wird auch in diesem Kapitel (wie schon bei José Ortega y Gasset) die Chronologie zum Schluss aufgelöst, wenn es in dem letzten Unterkapitel um die Frage geht, ob und inwiefern man vor dem Hintergrund von Heinrich Manns Engagement für ein sich über seinen Geist definierendes, aber eben gerade aus diesem Geistverständnis heraus auch politisch stabiles Europa von einer genuinen Beziehung zwischen der Literatur und Europa als ihrem Thema und ihrem Rahmen ausgehen kann.

5.1

Abschied vom Garten

Die beiden Schriftsteller hatten die Jahre ihres französischen Exils in Sanarysur-Mer und Nizza in unmittelbarer Nachbarschaft verbracht. 1940 stirbt René Schickele, und im selben Jahr flieht Heinrich Mann aus dem besetzten Frankreich zunächst nach Spanien, von dort aus dann weiter an den äußersten Rand Europas in Portugal. Hier, im Garten des Grand Hotels in einem kleinen Seebad vor den Toren Lissabons wartet er – während sich seine Frau um eine Schiffspassage für sie beide in die USA bemüht. In seiner Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt erinnert er sich später an diese letzten Tage auf europäischem Boden: Der Garten vereinsamte oft. Die wenig zahlreichen Gäste schienen sich am Strande zu erlustigen oder in der Stadt ihrem Vergnügen nachzugehen. Was sie wirklich taten, behielt jeder für sich. Vielleicht dasselbe Schiff begehren wie wir. Oder ganz heimlich einen Platz im Flugzeug den anderen wegschnappen. Zuletzt blieb immer nur der griechische Dampfer. […] Wir warten. Das Schiff wird kommen, es säumt nur einige Wochen – vielleicht eine gütig bewilligte Frist, da es ebenso wohl untergehen kann wie andere, bisher neutrale Schiffe. […] Indessen sind dies nicht die Sorgen eines Jx, auf seinem äußersten Strohhalm europäischen Bodens. Er empfindet viel mehr die Vereinsamung, der leere Garten gibt ihr Gleichnis, gewissermaßen tut es wohl.2

Jx – das ist die Chiffre, mit der Heinrich Mann in manchen Passagen seiner Erinnerungen seine eigene (erinnerte) Person bezeichnet. Dass und wie er diese Chiffre an dieser Stelle verwendet (denn in anderen Passagen spricht er durchaus konventionell in der Ich-Form über sich selbst und seine Vergangenheit), betont deren gewissermaßen objektivierende, zugleich aber vor allem distanzierende Funktion: Der Zustand, an den er sich erinnert, mag zwar individuell erlebt worden sein, es kommt ihm aber dennoch eine überindividuelle Gültigkeit und Bedeutung zu: «Wer abreist und nichts zurückläßt als nur Unheil […] – sucht einige Tröstung, Rechtfertigung sogar, bei seiner Anonymität.»3

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Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Erinnerungen, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 32001, S. 486. Ebd. Brigitte Abold nennt die Chiffre Jx eine «Distanzformel», die die erinnerte Individualität relativiere (Brigitte Abold: Heinrich Mann – Zwischen Dichtung und Leben. Studien zur Autobiographik, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1992, S. 267). Ähnlich argumentiert Wei Hu, die die Distanzierung als spezifisch literarische Vorgehensweise der Autobiographie interpretiert: «Weil die Jx-Formel eine fiktionale Distanzierung zur subjektiven Form Ich darstellt, ist die Jx-Formel ein Mittel für die Literarizität der

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Die Vereinsamung, die Mann in dem leeren portugiesischen Garten ins Bild gesetzt sieht, steht dieser Anonymität dabei nicht entgegen, sondern sie verdeutlicht sie sogar: Jx tritt hier ausdrücklich als eine Zeugenfigur auf, die im Blick zurück auf ihre eigene Vergangenheit niemals nur diese, sondern damit zugleich immer auch ein ganzes «Zeitalter» besichtigt. Der Garten erfüllt zwar noch seine Funktion als geordneter Raum des Rückzugs; aber dabei steht nun weniger seine Harmonie im Vordergrund als vielmehr allein seine Abgeschiedenheit. Diese Abgeschiedenheit ist es, die ihn als besonders geeignet für die weitgehend neutrale Beobachtung von Zusammenhängen erscheinen lässt, die sich außerhalb seiner eigenen engen Umgrenzung abspielen oder abgespielt haben. Heinrich Mann vollzieht in seinen Memoiren deshalb an dieser Stelle eine Bewegung der doppelten Erinnerung: Er erinnert sich in diesen Memoiren an die Erinnerungen, denen Jx damals in seinem Hotelgarten nachgehangen hat. Diese erinnerten Erinnerungen mögen dabei zwar durchaus sehr persönlich sein – der Tod der Schwester, die Geburt der Tochter, der Schluss einer «lustigen Affäre»4 –, sie stehen aber in dem großen Reflexionszusammenhang des Gartens dennoch immer in einem Kontext, in dem es ausdrücklich um das «Lebensgefühl» einer ganzen Epoche und nur insofern um das einer einzelnen Person geht, als diese repräsentativ für die Epoche stehen kann: Die Betrachtungen eines letzten Gartens gelangen notwendig dahin, daß alles richtig war und sich pünktlich entscheidet. Sonst wäre Jx am Wesen der Dinge vorbeigegangen, immer falsch aufgebrochen und angekommen, wo er sich nicht versah. Wer will das. Mit seinem Zeitalter gelebt haben möchte jeder. Bleibt nur, das abgelaufene zu besichtigen.5

Der Garten wird auf diese Weise zu einer Art Zwischenreich zwischen den Welten und Zeiten: Noch nicht wirklich unterwegs in die USA, aber in dem vom Nationalsozialismus bedrohten Europa trotzdem schon nicht mehr zu Hause, nimmt Heinrich Mann in der Gestalt von Jx hier Abschied – von seinem abgelaufenen Zeitalter und insbesondere von Europa als dem Raum, der für ihn immer mehr als nur der äußere Rahmen für dieses Zeitalter gewesen ist.6 ‹Abschied von Europa›, so ist das große Kapitel von Manns Erinnerungen überschrieben, das der Beschreibung der Gartenszene von Lissabon unmittelbar vorausgeht. Dass dieser Abschied tatsächlich endgültig sein würde, das hat Heinrich Mann dort in Lissabon noch ebenso wenig gewusst wie später, als er im kaliforni-

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Selbstdarstellung.» (Wei Hu: Auf der Suche nach der verlorenen Welt. Die kulturelle und die poetische Konstruktion autobiographischer Texte im Exil, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2006, S. 132). Vgl. schließlich auch Ute Welscher: Sprechen – Spielen – Erinnern. Formen poetologischer Selbstreflexion im Spätwerk Heinrich Manns, Bonn: Bouvier 2002, vor allem S. 170. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 488. Ebd., S. 491. Vgl. zu Heinrich Manns Begriff vom Lebensgefühl vor allem das erste Kapitel seiner Erinnerungen, ebd., S. 13–39. Nicht umsonst wird dieser Abschied dabei in der – etymologisch nahe liegenden – Abgeschiedenheit des Gartens vorbereitet. Vgl. zur Etymologie Kluge Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, Berlin/New York: de Gruyter 231999.

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schen Exil seine Memoiren verfasste. Dennoch verweist er in dem Abschiedskapitel ausdrücklich auf die Entdeckungsfahrt von Vasco da Gama, die wie seine eigene bevorstehende Reise hier am Westrand Europas ihren Ausgang genommen hat, und hebt dabei besonders hervor, immerhin sei «der berühmte Reisende» da Gama von seiner Fahrt über den Atlantik wieder zurückgekehrt.7 Wenn deshalb in der vielzitierten Passage, mit der das Kapitel endet, besonders Manns starke Betonung des Schmerzes ins Auge fällt, den der bevorstehende Abschied von Europa für ihn bedeutet, dann liegt das darin begründet, dass er doch bereits eine Ahnung von dessen Endgültigkeit gehabt haben mag: Deutschland war so lange entbehrlich gewesen: das nunmehr geraubte Europa war es nicht. Der Blick auf Lissabon zeigte mir den Hafen. Es wird der letzte gewesen sein, wenn Europa zurückbleibt. Er erschien mir unbegreiflich schön. Eine verlorene Geliebte ist nicht schöner. Alles, was mir gegeben war, hatte ich an Europa erlebt, Lust und Schmerz eines seiner Zeitalter, das meines war […]. Überaus leidvoll war dieser Abschied.8

Die Formulierung von dem «nunmehr geraubte[n] Europa» und der Vergleich des zu verlassenden Kontinents mit einer verlorenen Geliebten verweisen an dieser Stelle auf den Mythos von der phönizischen Königstochter Europa, die von Zeus in Gestalt eines Stieres aus ihrer Heimat entführt und verschleppt wird – auf die Insel Kreta und damit also nach Europa, das von ihr seinen Namen erhält.9 Wichtiger als dieses implizite Zitat des antiken Mythos scheint in Heinrich Manns Zusammenhang des Abschieds von Europa jedoch tatsächlich die stark emotionale ‹Grundierung› der Passage zu sein – eine Emotionalität, wie sie gerade in dem Vergleich des Kontinents mit einer Geliebten aufscheint, und deren letztlich paradoxe Struktur sich darin erweist, dass das ganze Ausmaß von beider Schönheit, des Kontinents ebenso wie der Geliebten, überhaupt erst erkennbar wird durch die unabwendbare Tatsache von bevorstehendem Abschied und Verlust. Dass Manns Verhältnis zu Europa im Laufe seines zunächst französischen, später amerikanischen Exils zunehmend von einer solchen stark emotionalen Komponente geprägt gewesen ist, das betont Elsbeth Wolffheim, wenn sie schreibt, «daß das Europa-Bild des späten Heinrich Mann überwiegend affektbestimmt war».10 Dieser selbst spricht schon 1933 in einem Brief an seinen französischen

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Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 485. Ebd. Vgl. zu dem Motiv des Abschieds von Europa auch Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist: Velbrück Wiss. 2001, S. 49–53. Vgl. auch zum Mythos von Europa Ottmar Ette: Literatur in Bewegung, S. 557–560. Ette betont in diesem Zusammenhang, der Name Europa stehe «für eine Bewegung und Außerhalbbefindlichkeit, die von (freilich göttlich erzwungener) Deportation und Deterritorialisierung geprägt wird» (ebd., S. 560). Vgl. außerdem auch Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin: Kadmos 2004, S. 229–230. Elsbeth Wolffheim: Abschied von Europa, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 1 (1983), S. 103–119, hier S. 107.

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Freund Félix Bertaux ausdrücklich von der «sensation du vide»,11 die ihn ohne jeden Zweifel befallen müsste, sollte er eines Tages gezwungen sein, Europa zu verlassen. Aus dieser Prognose für den Fall des Abschieds von Europa lässt sich nun umgekehrt schließen, dass Heinrich Mann Europa – und das Leben in Europa – ganz ausdrücklich in Form einer (eben in emotionalen Kategorien erlebbaren) Fülle gedacht hat. Die Formulierung von der «sensation du vide» aus dem Brief an Bertaux verweist dabei zusätzlich darauf, wie sehr dieses Gefühl für und von Europa von ihm als regelrecht körperlich erfahrbar empfunden wurde, und sie bestätigt damit Wolffheims Befund einer «sich immer stärker konturierenden Liebe [Heinrich Manns] zu Europa, die diesem Erdteil gleichsam eine sinnlich-konkrete Körperhaftigkeit zugesteht».12 Dennoch steht neben diesem emotionalen Blick Heinrich Manns auf Europa, der zeitweise nahezu «erotisch grundiert» zu sein scheint,13 auch ein intellektueller und klar rational strukturierter Zugang zu dem Kontinent, der immer wieder neu den Versuch unternimmt, diesen auf der Basis einer Analyse seiner Geschichte und Kultur als wesentlich durch seine geistigen Fähigkeiten und Errungenschaften geprägt zu begreifen. Beide Formen der Annäherung an Europa, die emotionale und die rationale, überlagern sich in Manns Werk über weite Strecken und sind oft genug nicht klar voneinander zu trennen. Dennoch ist festzustellen, dass in den Exiljahren tatsächlich die emotionale Seite immer mehr an Gewicht gewinnt: Der bevorstehende oder dann auch der tatsächlich vollzogene Abschied von Europa lässt die zwar intensiv erlebten, aber weniger zielgerichteten Gefühle in dieser Zeit wichtiger werden als die zuvor oft wiederholten Versuche, einen klaren Begriff von diesem Europa zu entwickeln. Gerade aus den Erfahrungen von Emigration, Exil und Heimatlosigkeit, von Krieg und Zerstörung heraus scheint Heinrich Mann dabei immer deutlicher zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die Entwicklung eines solch ‹klaren Begriffs› von Europa in letzter Konsequenz womöglich immer zum Scheitern verurteilt sein muss. So zumindest lässt sich der Anfang seines postum erschienenen Kriegstagebuchs Zur Zeit von Winston Churchill lesen, wo er konstatiert: Europa ist ein sehr grosser Gegenstand, ein unvergleichlich grösserer als seine Kriege, mitsamt diesem letzten. Wer eigene Erfahrungen mit diesem gefährlichen, zuerst sich selbst gefährlichen Teil der Erde niederlegt, muss ihn insgesamt geliebt haben. Ich sage nicht: gekannt. Ein Wesen, das nie stillhält, täuscht in jeder seiner Haltungen.14

Dieser das eigentliche Tagebuch einleitende Text ist zwischen März und Mai 1941 geschrieben; der Abschied von Europa ist zu diesem Zeitpunkt also bereits vollzo-

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Heinrich Mann an Félix Bertaux, Nice, 21 novembre 1933, in: Heinrich Mann/Félix Bertaux: Briefwechsel 1922–1948, hrsg. von Peter-Paul Schneider, Frankfurt am Main: Fischer 2002, S. 340. Elsbeth Wolffheim: Abschied von Europa, S. 106. Ebd., S. 107. Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, Frankfurt am Main: Fischer 22004, S. 11.

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gen. Deutlich benennt Mann an dieser Stelle selbst die beiden unterschiedlichen Formen seines Zugangs zu Europa: Auch hier wird die reine und ganz ursprüngliche Liebe zu dem Kontinent durch die Bemühungen ergänzt, ihn zu kennen und das heißt: auf rationale Weise zu einem Wissen von ihm zu gelangen. Wenn Heinrich Mann jedoch ausdrücklich auf den Anspruch verzichtet, eine solche Kenntnis von Europa jemals wirklich erreichen zu können, dann ist das kennzeichnend für jene Jahre nach seinem Abschied von Europa, in denen der Einleitungstext zu seinem Tagebuch entstanden ist. Gerade der erzwungene Abschied hat ihm, so deutet er es in der Folge an, besonders schmerzhaft die Beweglichkeit Europas vor Augen geführt, die sich in jeder einzelnen von dessen historischen Realisierungen und insofern auch in seiner Bedrohung durch den Nationalsozialismus zeigt. Diese Beweglichkeit muss jedem Versuch einer allzu klaren Definition und jeder Festschreibung immer entgegenstehen – aber gerade sie ist es, die das einzige auf rationalem Wege wirklich dingfest zu machende Kennzeichen des Kontinents und insofern sein eigentliches Wesen ausmacht. Das Paradoxe an dieser Erkenntnis Heinrich Manns ist nun aber, dass die Notwendigkeit des schmerzhaften Abschieds von Europa, den seine Emigration in die USA für ihn darstellt, gerade in dieser Beweglichkeit Europas selbst begründet liegt: Das europäische Niemals-Stillhalten, das Manns Text so betont, schließt eben gerade auch die ständige Gefährdung mit ein, die Europa für sich selbst und für seine Bewohner bedeutet. Es ist insofern kein Zufall, dass dieser bewegliche Kontinent seit jeher auch auf die Beweglichkeit seiner Bewohner gebaut hat – und zwar insbesondere auf diejenige der Bewohner, denen Mann selbst sich zugehörig fühlt: der Intellektuellen und Schriftsteller nämlich: «Die europäische Literatur wurde schon längst getragen von Weltreisenden, die jetzt heimatlos heißen würden.»15 Das Moment des Abschieds, so könnte man folgern, ist jeder engeren Beziehung zu Europa immer schon eigen – und zwar im positiven wie im negativen. Diese Feststellung deckt sich mit Wolffheims These, die ebenfalls schon Heinrich Manns frühere Annäherungen an Europa unter dem Motto des Abschieds verstanden wissen will: Bereits der Einschnitt des Ersten Weltkriegs habe einen solchen Abschied von dem bisher bekannten Europa erzwungen auch dort, wo man vielleicht erst im Nachhinein wirklich alle Auswirkungen dieses Abschieds hat wahrnehmen können.16 Und tatsächlich: Heinrich Mann betont gerade in den Texten, in denen er seinen Abschied von Europa im Jahr 1940 beschreibt, immer wieder auch diesen Einschnitt von 1914. Wenn er ihn dabei stets auch an der Tatsache zu veranschaulichen sucht, dass man sich vor dem Ersten Weltkrieg anders als in den Jahren danach (und vor allem anders als in der Gegenwart des Nationalsozialismus!) völlig frei in Europa habe bewegen können, dann konstruiert er damit eine Kontinuität, die den Zweiten Weltkrieg als logische Konsequenz des Ersten versteht und die insbesondere die negativ erlebte Heimatlosigkeit des Exilierten mit dem positiven

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Ebd., S. 17. Vgl. Elsbeth Wolffheim: Abschied von Europa, S. 103.

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Gefühl dessen kontrastiert, für den ganz Europa früher eine auf Reisen immer neu zu erschließende grenzenlose Heimat dargestellt hat: Als Heimat empfand ich das europäische Festland, je mehr ich von ihm in meine Bildung – und in meine Gebilde – aufnahm. Vor 1914 reiste man ohne Pass von der atlantischen Küste bis an das Schwarze Meer, von Skandinavien bis nach Sizilien. […] ‹Ausland› war eine Sache der Übereinkunft, und eigentlich Redensart. […] Überall war man etwas mehr als ein Zugelassener; sich in ein Volk zu mischen, stand jedem frei, und den jeweiligen Staat konnte er übersehen. Eine Vorbedingung des geeinten Europa war erfüllt, unsere private Unabhängigkeit von Landesgrenzen.17

Mann formuliert hier einen wesentlichen Punkt seiner Beziehung zu Europa: Es geht ihm nicht allein um die Bewegungsfreiheit innerhalb Europas vor dem Ersten Weltkrieg, obwohl diese Unabhängigkeit von politischen Grenzen eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass er auf seinen Reisen Europa als kulturelle Einheit erleben kann. Wichtiger sind aber dennoch die Auswirkungen dieser Bewegungsfreiheit für den einzelnen: Dadurch, dass sie dem Reisenden diese kulturelle Einheit Europas überhaupt erst zugänglich macht, schafft sie ihm nämlich nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung. Das «europäische Festland» kann für Heinrich Mann so vor allem deshalb zur eigentlichen Heimat werden, weil seine durch nichts eingeschränkte Bereitschaft, sich innerhalb dieses europäischen Raumes frei zu bewegen, ihm einen inneren Raum der Bildung eröffnet – einen Bildungsraum, der von außen eben durch die Grenzen Europas markiert und definiert wird. Wenn Mann ganz ausdrücklich schreibt, er habe das europäische Festland in seine Bildung «aufgenommen», dann wird Europa dadurch nicht nur ein fester Bestandteil dieser Bildung unter anderen, sondern es macht diese Bildung ganz wesentlich aus. Nur so lässt sich auch der kleine Einschub verstehen, der den Begriff der Bildung noch ergänzt um denjenigen der «Gebilde»: Diese «Gebilde» sind die literarischen Erzeugnisse des europäischen Bildungsreisenden Heinrich Mann, und die Tatsache, dass er ihren Entstehungsprozess – und, so könnte man ergänzen, ihre inhaltliche und gedankliche Ausrichtung – so explizit an den Raum Europa bindet, macht diesen tatsächlich zur eigentlichen Voraussetzung von Manns schriftstellerischer Existenz. Vor diesem Hintergrund wird auch erklärlich, warum Heinrich Mann den großen Abschied von Europa aus dem Jahr 1940 (anders als die kleinen Abschiede innerhalb Europas in den Jahren vor und auch noch nach dem Ersten Weltkrieg) als so schmerzhaft empfinden musste: In dem Augenblick, in dem er gezwungen war, sich von Europa zu verabschieden, musste er sich auch von einer Bedingung seines Lebens als Schriftsteller verabschieden – oder vielmehr: von der Bedingung dieses Lebens schlechthin. Europa und die Literatur stehen in seinen Augen in einem Verhältnis des gegenseitigen Austauschs; Europa ist nicht nur der Raum, innerhalb dessen die Literatur spielt und der deshalb ihren Rahmen darstellt, sondern beide Größen stehen in engen Austauschbeziehungen miteinander, sie beeinflussen sich gegenseitig und sind aufeinander angewiesen. Nicht zuletzt aus diesem

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Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 11–12.

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Verständnis der Literatur und des Kontinents heraus lassen sich auch die beiden unterschiedlichen Möglichkeiten der Annäherung an Europa verstehen, die Heinrich Mann immer wieder praktiziert hat – die emotionale und die rationale: Seine enge gefühlsmäßige Bindung an Europa resultiert ebenso aus dem Bewusstsein für dessen ganz unmittelbare Notwendigkeit für die eigene Existenz wie seine eher vernunftgeleiteten Definitions- und Erklärungsversuche von Europas Wesen und Eigenschaften. Dass Europa im ganzen Werk Heinrich Manns eine Konstante ist, die immer wieder explizit thematisiert wird und die immer neue Fragen aufwirft, findet aus diesem Grund in dem Gedanken des Abschieds und seiner Notwendigkeit für ein wirkliches Verständnis des Kontinents seine letzte Bestätigung. Theo Stammen betont deshalb, die Formulierung vom ‹Abschied von Europa‹, die ja in Manns Memoiren lediglich eine Kapitelüberschrift darstellt, könne auch das Motto für dieses Memoirenwerk in seiner Gänze darstellen.18 Diese Forderung nach einem erweiterten Verständnis des Abschieds von Europa lässt sich durchaus auch noch weiter ausdehnen: Nicht nur Heinrich Manns Memoiren, sondern sein ganzes Werk, insofern es sich mit Europa befasst, lässt sich im Zusammenhang mit der Idee des Abschieds denken. Diese These setzt allerdings ein Verständnis des Abschieds voraus, das diesen nicht allein im Sinne eines endgültigen – und insofern negativ konnotierten – Schlussstrichs verstehen möchte, sondern das daneben auch die Dynamik im Auge behält, die jedem Abschied immer innewohnt. Heinrich Manns Beschäftigung mit Europa findet unter diesem Gesichtspunkt in unterschiedlicher Weise Ausdruck in seinen Werken. Wie so oft ist es auch bei ihm die Sorge um den Kontinent und dessen Rolle in der Welt, die diese Beschäftigung mit Europa überhaupt erst motiviert – und wie so oft sind es die immer wieder radikal veränderten politischen Umstände in Europa, die ihn mehrmals dazu veranlassen, seine Ideen hinsichtlich dessen innerer Ordnung und Verfasstheit zu modifizieren. So konstatiert auch Stammen mit Blick auf Heinrich Manns Gesamtwerk und seine Auseinandersetzung mit der Frage nach Europa, daß diese umfassenden und differenzierten Reflexionen über Gestalt und Problematik Europas vor allem aus der zeitkritischen Erfahrung einer tiefgreifenden Krise Europas resultieren, die praktisch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umfaßt.19

Angefangen mit Fragen nach der politischen Verfasstheit der einzelnen europäischen Länder, wie sie Heinrich Mann vor allem in den Jahren unmittelbar vor und während dem Ersten Weltkrieg am Beispiel des wilhelminischen Deutschlands und des republikanischen Frankreichs diskutiert, über seinen beständigen Einsatz für eine Aussöhnung gerade dieser beiden Länder nach dem Ende des Krieges und sein Eintreten für die demokratische Verfassung der Weimarer Republik bis

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Vgl. Theo Stammen: Abschied von Europa. Zeitkritik und politische Ordnungsreflexion bei Heinrich Mann, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 18 (2000), S. 211–240, hier S. 211. Ebd., S. 236. Vgl. zu Manns Sorge um Europa auch Gerhard Fritz Eugen Keim: Der Europagedanke Heinrich Manns. Eine Untersuchung seines essayistischen Werks zur Zeit der Weimarer Republik, St. Louis (Manuskript) 1989, S. 4.

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hin zu der radikalen Infragestellung all dieser positiven Impulse für Europa durch das Aufkommen des Nationalsozialismus ist Manns Zugang dabei immer wieder politisch motiviert. Dennoch beschränken sich seine Interventionen niemals ausschließlich auf politische Fragen. Gerade weil Heinrich Mann Europa immer vor allem als einen geistigen und insbesondere literarischen Raum verstanden hat, greifen auch seine politischen Überlegungen hinsichtlich der idealen Ordnung des Kontinents stets auf dieses ursprüngliche Verständnis von Europa als Raum des Geistes und der Kultur zurück. So geht es auch im Zusammenhang mit seinem erzwungenen Abschied von Europa für ihn letztlich darum, dass in seiner Person dieses geistige und kulturelle Europa insgesamt bedroht ist – das wird auch immer dann augenfällig, wenn Mann den Nationalsozialismus als den Ungeist und die Unkultur schlechthin und sich selbst als Gegenpol dazu beschreibt.20 Dieser scharfe Gegensatz zwischen europäischem Geist und nationalsozialistischem Ungeist liegt auch den Abschiedsbetrachtungen von Heinrich Manns Figur Jx in ihrem portugiesischen Garten zugrunde: Die Erinnerungen, denen Jx sich hier hingibt, sind immer auch Erinnerungen an Erlebnisse der Inspiration durch einzelne Werke aus der jahrhundertealten Kulturgeschichte Europas und an Augenblicke großer Produktivität im eigenen literarischen Schaffen. Diese Erinnerungen werden von Mann nun bewusst dadurch konterkariert, dass er unmittelbar im Anschluss ausführlich aus Berichten über die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion zitiert.21 Der Abschied von einem Europa, das unter solchen Bedrohungen zu leiden hat, ist unabwendbar geworden – daran kann für Heinrich Mann und seinen Jx kaum noch ein Zweifel bestehen: «Verloren, das heimatliche Europa. Wofür man sich wünschte, in Europa zu bleiben? Was man wirklich bekommen hätte?»22 Dennoch ist trotz der Resignation, die aus diesen Zeilen spricht, auf der anderen Seite ebenso klar, was dieser Abschied bedeutet: «Partir, c’est un peu mourir»,23 nicht umsonst ist ein Kapitel aus den einleitenden Überlegungen zu Manns Kriegstagebuch mit dieser sprichwörtlichen Weisheit überschrieben.

5.2

Kaiserreich und Republik

Im Ernst, meine Auflehnung ist sehr merkwürdig! […] Merkwürdig, – denn die Tatsache besteht, daß mein eigenes Sein und Wesen sich zu dem des Zivilisationsliteraten viel weniger fremd und entgegengesetzt verhält, als die kalt objektive Kritik, die ich dem seinen zuteil werden ließ, glauben machen könnte. Was will er? […] Er fördert mit Peitsche und Sporn einen Fortschritt, – der mir, nicht selten wenigstens, als unaufhaltsam und schicksalsgegeben erscheint […], dem ich aber trotzdem aus dunklen Gründen eine gewisse konservative Opposition bereite… […] Es handelt sich um die

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Etwa in dem Aufruf Studenten!, in dem Mann die «nichtswürdige Leidenschaft für die Austreibung des Wissens, die Stillegung der Erkenntnis, den Tod der Vernunft» beklagt (Heinrich Mann: Studenten!, in: Ders.: Es kommt der Tag. Deutsches Lesebuch, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1992, S. 103–106, hier S. 105). Vgl. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 488–492. Heinrich Mann: Paralipomena aus Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 570. Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 34.

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Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands, es gilt seine ‹Vermenschlichung› im lateinisch-politischen Sinne und seine Enthumanisierung im deutschen… es gilt, um das Lieblingswort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles zusammenzufassen […]: es gilt seine Entdeutschung... Und an all dem Unfug sollte ich teilhaben?24

Thomas Manns Polemik richtet sich nicht zuletzt gegen seinen Bruder Heinrich: In seinen Betrachtungen eines Unpolitischen aus den Jahren des Ersten Weltkriegs zeichnet der jüngere Bruder (ohne dabei Namen zu nennen) ein dem Anspruch nach sachliches, aber im Ton deutlich ironisches Porträt des älteren als eines exemplarischen Vertreters desjenigen «literarisch-politischen Typus»,25 der hier (und im ganzen Text) als der «Zivilisationsliterat» angesprochen wird. Das jahrelang andauernde Zerwürfnis zwischen den Brüdern, das in dieser Zeit des Krieges und nicht zuletzt dank der Betrachtungen eines Unpolitischen seinen Ausgang nimmt, geht auf ihre damals klar gegensätzlichen politischen Haltungen zurück: Thomas Mann ist in diesen Jahren wesentlich konservativer orientiert – konservativer als später, vor allem aber: konservativer als der Bruder mit seinen pazifistischen und sozialistischen Neigungen.26 Der strittige Punkt zwischen beiden, das geht bereits aus der zitierten Passage deutlich hervor, ist Deutschland, seine politische Verfasstheit und nicht zuletzt seine Rolle im Krieg und daran anschließend die Frage nach dem zu erhoffenden Ausgang dieses Krieges: Während Heinrich Mann auf die Niederlage und die sich in seinen Augen zwingend daraus ergebende Demokratisierung Deutschlands hofft, vertritt Thomas die entgegengesetzte Position desjenigen, der keinen Zweifel an einem Sieg Deutschlands über die Alliierten haben mag. Der «Zivilisationsliterat» auf der einen Seite, der «Unpolitische» auf der anderen – in diesen beiden Figuren sind so auf nahezu symbolische Weise zwei Pole einer Auseinandersetzung verkörpert, von der Thomas Mann selbst annimmt, dass sie das innere Wesen Deutschlands ausmacht: Die inneren geistigen Gegensätze Deutschlands sind kaum nationale, es sind fast rein europäische Gegensätze, die beinahe ohne gemeinsame nationale Färbung, ohne nationale Synthese einander gegenüberstehen. In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen […]. Dies ist seine eigentliche nationale Bestimmung. Nicht physisch mehr […], aber geistig ist Deutschland noch immer das Schlachtfeld Europas.27

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Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 22002, S. 86–87. Ebd., S. 81–82. Vgl. dazu (und zu dem Konflikt zwischen den Brüdern insgesamt) Hanno Helbling: Vorwort, in: Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 7–25, vor allem S. 9–10; Helmut Koopmann: Thomas Mann – Heinrich Mann: die ungleichen Brüder, München: Beck 2005, S. 270–313; und Eckhard Heftrich: Der Bruderzwist und die Revolution, in: Helmut Koopmann/Peter-Paul Schneider (Hg.): Heinrich Mann, die Französische Revolution und Europa, Lübeck: Senat der Hansestadt Lübeck: Amt für Kultur 1989, S. 235–251. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 74.

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Entsprechend ist die Charakterskizze, die Thomas Mann in diesem Zusammenhang von seinem Bruder Heinrich entwirft, um die Unterschiede zwischen seinem eigenen Deutschlandbild und dem seines Bruders herum zentriert. Weil der Zivilisationsliterat, so wie ihn die Betrachtungen eines Unpolitischen darstellen, dank seines Bekenntnisses zum demokratischen Geist der Französischen Revolution selbst «beinahe schon Franzose» ist,28 ist auch sein Verhältnis zu dem wilhelminischen Deutschland seiner Zeit mindestens ambivalent. Seine Forderung nach einer Demokratisierung Deutschlands aus dem aufklärerischen Geist der Revolution heraus ist es, die sein unpolitischer Bruder als «Entdeutschung» kritisiert und vor deren Folgen er nachdrücklich warnt. Thomas Mann sucht diese von Heinrich geforderte Demokratisierung Deutschlands unter den Stichwörtern ‹Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung› des Landes zu erklären, und macht damit deutlich, worum es in der Auseinandersetzung der beiden Brüder immer auch geht: nämlich um ihr unterschiedliches Verständnis von ihrer eigenen Rolle als deutsche Schriftsteller.29 Insofern mag das Bild des Zivilisationsliteraten aus den Betrachtungen zwar polemisch zugespitzt und ironisch überzeichnet sein – aber die Diagnose, die diesem Bild zugrunde liegt, ist deshalb aber nicht weniger treffend. In den Jahren unmittelbar vor dem Krieg hatte Heinrich Mann immer expliziter zu einer an Frankreich und seiner demokratischen Tradition orientierten Position gefunden, die zeit seines Lebens prägend für ihn bleiben würde und die sich mit den Schlagworten seines Bruders von ‹Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung› tatsächlich knapp, aber zutreffend charakterisieren lässt. Politik und Literatur sind vor diesem Hintergrund des französischen aufklärerischen Denkens für Heinrich Mann untrennbar miteinander verbunden; für Thomas gilt es dagegen in seinen Betrachtungen ausdrücklich, eine vom Politischen getrennte Sphäre des Geistigen für sich zu reklamieren.30 Bezeichnend ist nun in diesem Zusammenhang, dass Thomas Mann die aufklärerische und prowestliche Haltung seines Bruders ausdrücklich im Sinne einer Fortschrittsgläubigkeit verstanden wissen will – einer Fortschrittsgläubigkeit, die in der Tradition von derjenigen der französischen Anhänger des Zivilisationsgedankens im neunzehnten Jahrhundert zu verorten ist und die er selbst nicht zuletzt deshalb sehr kritisch betrachtet.31 Wie zur selben Zeit bei Miguel de Unamuno ist es auch bei Thomas Mann der deutsche Begriff von Kultur, der dieser Idee von der westlichen Zivilisation entgegengesetzt wird, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen als bei diesem: Hatte Unamuno noch gegen die deutsche Kultur polemisiert und sie als militaristisch und technikgläubig charakterisiert, beruft sich Thomas Manns Abwehrhaltung gegen die

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Ebd., S. 76. Helmut Koopmann beschreibt den Konflikt als «[e]ine brüderliche Auseinandersetzung, mit Nationalstereotypen ausgefochten» (Helmut Koopmann: Thomas Mann – Heinrich Mann: die ungleichen Brüder, S. 279). Vgl. dazu Karin Verena Gunnemann: Heinrich Mann’s Novels and Essays. The Artist as Political Educator, Rochester/New York: Camden House 2002, S. 6. Vgl. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 125ff. Vgl. dazu auch Kapitel 2.3.1 Victor Hugo: Frankreich als Zentrum der Zivilisation.

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westliche Zivilisation auf eine Vorstellung von der Kultur, die diese ausdrücklich unter den Vorzeichen einer von Bildung und Humanität geprägten Bürgerlichkeit verstanden wissen will und die sie insofern in der von ihm propagierten Sphäre des von der Politik getrennten Geistes ansiedeln möchte.32 Aus diesem Verständnis von Kultur heraus kann er dem Fortschrittsglauben der Zivilisationsanhänger grundsätzlich entgegnen: «[M]an kann auch sagen: Solange noch für eine Sache gut geschrieben wird, hat sie auch Wert und Berechtigung, selbst wenn sie nicht der Fortschritt ist…»33 Der viel kommentierte Bruderzwist zwischen Heinrich und Thomas Mann in diesen Jahren des Ersten Weltkriegs ist repräsentativ für eine Debatte, die damals nicht nur überall in Europa geführt wird, sondern bei der zuletzt auch immer die Frage nach Europa und seiner Verfasstheit im Hintergrund steht. Wenn Thomas Mann eine «Entdeutschung» Deutschlands befürchtet für den Fall, dass im Krieg tatsächlich die Alliierten und insofern in der Debatte die Befürworter der Zivilisation siegen sollten, dann würde das seiner Meinung nach zu gravierenden Veränderungen auf europaweiter Ebene führen. Die Entdeutschung, vor der er warnt, kann in diesem Zusammenhang nur verstanden werden als eine Einebnung der Gegensätze, wie sie für ihn beispielhaft in der deutschen Seele verkörpert sind. Das aber müsste für ganz Europa eine unfruchtbare Homogenisierung bedeuten: Aus dem Kontinent würde «ein Europa der Tango- und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa à la Edward the Seventh, ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie eine Pariser Kokotte».34 Nicht umsonst zitiert Thomas Mann mit diesem polemischen Zerrbild einer europäischen Zivilisation, die sich in bloßen Oberflächlichkeiten erschöpft, so ausführlich die Gemeinplätze einer im weitesten Sinne ‹westlichen› Gesinnung: Für ihn steht tatsächlich die Existenz des Kontinents insgesamt in Frage. Aber auch den Interventionen Heinrich Manns aus diesen Jahren des Weltkriegs liegt die Sorge um den Fortbestand Europas zugrunde – eines Europas, das er paradoxerweise ebenso wie sein Bruder aus einem emphatischen Verständnis des Geistes heraus interpretiert wissen will. Im Gegensatz zu dessen Konzeption liegt derjenigen von Heinrich Mann dabei aber eben gerade keine Trennung der Sphären von Geist und Politik zugrunde: «Geist ist Tat, die für den Menschen geschieht; – und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handle!»35 Der Essay über Zola aus dem Jahr 1915, aus dem diese Forderung stammt, ist immer wieder als eine Art verdecktes Selbstporträt Manns interpretiert worden: In der Figur des engagierten Literaten Émile Zola habe Mann sich selbst, in

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Vgl. etwa Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 125ff. Hier wird der deutsche Bürger explizit als «Träger der deutschen Kultur und Geistigkeit» angesprochen (S. 134). Vgl. zu Unamunos Position in dieser Frage Kapitel 2.3.2 Miguel de Unamuno: Westliche Zivilisation versus germanische Kultur. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 87. Ebd., S. 86. Heinrich Mann: Zola, in: Ders.: Macht und Mensch, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1989, S. 43–128, hier S. 99.

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dessen Eintreten gegen die Willkür von Justiz und Politik in der Dreyfus-Affäre seinen eigenen Kampf gegen das wilhelminische Kaiserreich und für Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie dargestellt.36 Der Leitgedanke von der Notwendigkeit eines Ineinandergreifens von Geist und Tat, der Manns Konzeption in diesem Text strukturiert, hatte schon vorher in Essays wie beispielsweise dem programmatischen Geist und Tat oder auch Voltaire-Goethe (beide 1910) Ausdruck gefunden, in denen Mann in den Jahren unmittelbar vor dem Krieg seine Vorstellung von einem sich im Kampf für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit engagierenden und dadurch überhaupt erst realisierenden Geist formuliert hatte.37 In Voltaire-Goethe wird dieser Gedanke vom notwendigen Engagement des Geistes dabei an Voltaire (im Gegensatz zu Goethe) veranschaulicht; in Geist und Tat ist es Rousseau, von dem Heinrich Mann feststellt, er habe dadurch, dass seine Schriften den Weg zur Französischen Revolution geebnet hätten, «[v]on allen die je schrieben […] den größten, greifbarsten Erfolg» gehabt.38 Die beiden Beispiele machen nun zum einen deutlich, wie sehr gerade Manns Geist-Verständnis von den Ideen des französischen 18. Jahrhunderts oder, weniger allgemein gesprochen, von seiner Interpretation der Französischen Revolution als Tat gewordenem Geist beeinflusst ist.39 Zum anderen jedoch ist in den beiden frühen Essays – und ebenso auch in dem etwas später entstandenen über Zola – auffällig, wie der abstrakte Begriff des Geistes, der bei Heinrich Mann tatsächlich meist auch in einer denkbar abstrakten Art und Weise verwendet wird, zuletzt doch in seiner unmittelbaren Verankerung in der Sphäre der Literatur konkrete Gestalt gewinnt: Es sind eben Rousseau, Voltaire und Zola, die die idealen Verkörperungen dessen darstellen, was für Mann den Geist ausmacht; und es sind ihre (literarischen und publizistischen) Werke, die die von ihm immer wieder geforderte Verbindung von Geist und Tat realisieren. Im Zentrum dieser an den Beispielen von Voltaire, Rousseau und Zola dargestellten Idee einer fruchtbaren Synthese von Geist und Tat steht für Heinrich Mann die Überzeugung, dass der Schriftsteller als Intellektueller eine gesellschaftliche

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Vgl. André Banuls: Heinrich Mann und Frankreich, in: Klaus Matthias (Hg.): Heinrich Mann 1871/1971, München: Fink 1973, S. 221–234, vor allem S. 229; und als Beispiel jüngeren Datums etwa Manfred Flügge: Heinrich Mann. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 170. Vgl. Heinrich Mann: Geist und Tat, in: Ders.: Macht und Mensch, S. 11–18; und ders.: Voltaire-Goethe, ebd., S. 19–25. Heinrich Mann: Geist und Tat, S. 11. Vgl. dazu Ekkehard Blattmann: Frankreich, Geist, Heil: Über einige Züge von Heinrich Manns Frankreichverehrung, in: J. Bariéty/A. Guth/J. M. Valentin (Hg.): La France et l’Allemagne entre les deux Guerres Mondiales, Nancy: Presses universitaires de Nancy 1987, S. 125–145; und Jürgen Haupt: ‹Französischer Geist› und der Mythos des ‹Volkes›. Über Emotionalität und Politikverständnis des frühen Heinrich Mann, in: Helmut Koopmann/Peter-Paul Schneider (Hg.): Heinrich Mann, die Französische Revolution und Europa, S. 3–19. Für Heinrich Mann ist die Französische Revolution ausdrücklich «übernationales Geschehen im Angesicht der Ewigkeit» (Heinrich Mann: Kaiserreich und Republik, in: Ders.: Macht und Mensch, S. 173–230, hier S. 225).

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und politische Verantwortung zu erfüllen habe: «Bestand hat einzig, was der Geist erobert. Über allem ist die Literatur, ihr Werk ist der Mensch»,40 konstatiert er in seinem Zola-Essay, um über diese enge Beziehung zwischen Literatur und Humanität zugleich die von ihm geforderte Verbindung zwischen Literatur und Politik zu begründen: «Literatur und Politik, die beide zum Gegenstand den Menschen haben, sind nicht zu trennen.»41 Aus dem gemeinsamen Gegenstand von Literatur und Politik erwächst nun seiner Meinung nach die Verantwortung des Schriftstellers als Repräsentant des geistigen Prinzips: Intellektuelle sind weder Liebhaber noch Handwerker des Geistes. Man wird es nicht, indem man bestimmte Berufe inne hat. […] Keineswegs die selbstgenügsame Erkenntnis macht den geistigen Menschen aus, sondern die Leidenschaft: die Leidenschaft des Geistes, die das Leben rein und den Menschen ganz menschlich will. Der Intellektuelle erkennt Vergeistigung nur an, wo Versittlichung erreicht ward.42

Damit ist nun das wesentliche Merkmal benannt, mit dem Heinrich Mann sein Politikverständnis immer wieder an den Geist zurückbindet: Für ihn muss die eigentliche Aufgabe der Politik immer in der «Versittlichung» (des Menschen oder der Gesellschaft) liegen, und in dem moralischen Impetus, der dieser Forderung zugrunde liegt, findet deshalb sein Wunsch nach einem Ineinandergreifen von Geist und Tat seine letzte Begründung. So konstatiert Waltraud Berle: Die gedankliche Synthese […] ist ‹Geist und Tat› – ein ethisches Manifest, das die Einheit von Geist als der Wahrnehmung sittlicher Werte und Tat als der Umsetzung in praktisches Handeln apriorisch setzt und kategorisch fordert.43

Heinrich Manns Wunsch nach einer Verwirklichung des Geistes in politischem Handeln ist tatsächlich nur vor diesem Hintergrund seines ethisch-moralisch begründeten Anspruchs an die Vertreter dieses Geistes verständlich,44 und auch seine in denselben Jahren vor und während dem Krieg häufig formulierte Opposition gegen das wilhelminische Kaiserreich bewegt sich vor diesem Hintergrund. Wenn Mann in einem Essay, der kurz nach Kriegsende erscheint, aber schon während des Krieges entstanden ist, «die vollkommene Geistwidrigkeit eines Zeitalters wie des abgetanen Kaiserreiches» konstatieren kann,45 dann wird deutlich, worauf seine Kritik dabei zielt: Seine moralisch-ethisch begründete Konzeption vom Geist wendet sich gegen die Absolutsetzung der reinen Macht unter der Herrschaft Wil-

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Heinrich Mann: Zola, S. 125. Ebd., S. 58. Ebd., S. 95–96. Waltraud Berle: Heinrich Mann und die Weimarer Republik: zur Entwicklung eines politischen Schriftstellers in Deutschland, Bonn: Bouvier 1983, S. 24. Vgl. dazu auch Elke Segelcke: Kant revisited: Zur Wirkung der Aufklärung auf Heinrich Manns frühen Europadiskurs im Kontext aktueller Eurovisionen, in: Heinrich-MannJahrbuch 20 (2002), S. 49–62. Hier ist ausdrücklich die Rede einerseits von Manns «Verständnis der Politik als eines Problems der Moral» (S. 53), andererseits auch von seiner «normativ-ethische[n] Idee vom Geistigen» (S. 59). Heinrich Mann: Kaiserreich und Republik, S. 229.

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helms II., die seinem auf den Gedanken von Freiheit und Gleichheit aufbauenden Menschenbild grundsätzlich entgegenstehen muss.46 Es sind diese letztlich humanistisch geprägten Vorstellungen, die im Zentrum von Heinrich Manns immer wieder emphatisch formulierter Geist-Konzeption stehen: Ideen eben wie die von Freiheit und Gleichheit oder auch wie die von Gerechtigkeit und Menschenwürde lassen sich für ihn aus dem Gedanken der menschlichen Vernunft ableiten, wie ihn die französische Aufklärung maßgeblich formuliert hat. Das bloße Beharren auf Macht dagegen widerspricht dieser Vernunft grundsätzlich. Diese Opposition von vernunftgeleitetem Geist und vernunftwidriger Macht erklärt deshalb das Verständnis, das Heinrich Mann von seiner eigenen Rolle als Schriftsteller hat: Karin Verena Gunnemann nennt ihn einen «political educator»,47 allgemeiner könnte man auch formulieren: Es geht Mann in seinen politisch orientierten Interventionen zur Zeit des Kaiserreichs – aber auch noch danach während der Weimarer Republik und vor allem im französischen Exil – stets um eine nachdrücklich betriebene Aufklärung.48 Auch dabei ist es nun vor allem das republikanische Frankreich der Geschichte und der Gegenwart, das Mann diesem Ansatz entsprechend zum Gegenspieler des seiner Meinung nach eben geistfernen deutschen Kaiserreichs stilisiert. So beruft er sich immer wieder auf die aufklärerische Tradition, in der das Geistesleben jenseits des Rheins zu verorten sei, und begründet seinen Wunsch nach einer Demokratisierung Deutschlands mit den in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht positiven Ergebnissen, die die revolutionäre Energie des Nachbarlandes gezeitigt habe. Es ist nicht allein der Essay Geist und Tat, der auf diese Art und Weise ein Bild von Deutschland und Frankreich zeichnet, das beide Länder vor dem utopischen Hintergrund des in der revolutionären Tat realisierten Geistes als klare Antipoden zueinander entwirft;49 vielmehr wird Heinrich Mann zeit seines Lebens immer wieder Gelegenheit haben, auf diese dichotomische Konzeption zurückzukommen: Frankreich bleibt für ihn dasjenige Land, in dem er seinen emphatischen Geist-Begriff am ehesten realisiert sieht, Deutschland dagegen leistet sich nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Anachronismus eines Kaiserreichs, sondern mit Hitler unterwirft es sich auch im weiteren Verlauf dieses Jahrhunderts einer Führergestalt, von der Mann immer betont, sie stehe in derselben Tradition der geistfernen Macht wie Wilhelm II.50

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Vgl. zu dieser Opposition von Geist und Macht auch Elke Emrich: Macht und Geist im Werk Heinrich Manns. Eine Überwindung Nietzsches aus dem Geist Voltaires, Berlin/ New York: de Gruyter 1981, hier vor allem S. 212. Vgl. den Titel ihrer Studie: Karin Verena Gunnemann: Heinrich Mann’s Novels and Essays. The Artist as Political Educator, Rochester/New York: Camden House 2002. Vgl. auch dazu Waltraud Berle: Heinrich Mann und die Weimarer Republik, S. 290; und Elke Emrich: Macht und Geist im Werk Heinrich Manns. Eine Überwindung Nietzsches aus dem Geist Voltaires, S. 210. Vgl. Heinrich Mann: Geist und Tat. Hier heißt es zum Beispiel ausdrücklich: «Die Geistesführer Frankreichs […] hatten es leicht, sie hatten Soldaten. In Deutschland hätten sie es schwerer.» (ebd., S. 14). Vgl. zu dieser Kontinuität zwischen Wilhelm und Hitler zum Beispiel den Artikel Die Deutschen wiederholen sich, in: Heinrich Mann: Es kommt der Tag, S. 31–38. Hier

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Heinrich Mann bezeichnet deshalb in seiner Autobiographie Frankreich als das «zweite Geburtsland des Europäers». Auch das erklärt sich aus seiner Vorstellung von dem Geist, der seit jeher das wesentliche Charakteristikum des Nachbarlandes gewesen sei. Über den preußischen König Friedrich II. schreibt er so: Ein König, der Intellekt und Tat gleich hochhielt, kannte sein Leben lang nur französische Schriftsteller und französische Feldherren. […] Der Thron von Frankreich war ihm nicht der Sitz der Macht allein: an ihr hätte er seine gemessen. Unvergleichlich fand er die Gesittung auf allen Stufen zum Thron, in dem von ferne miterlebten Versailles, dem nie betretenen Paris. Die erleuchteten Geister des anderen Königreiches saßen um seinen Tisch in Potsdam – nicht gerade freiwillig, aber das störte ihn nicht. Er verehrte an Frankreich die europäische Geltung seiner – wenngleich verbannten – Philosophen. Er bestaunte an Frankreich die so militärische, bürgerliche Leitung des Staates: sie hätte er sich so wenig erlauben dürfen wie den Vorrang der Denker. […] Der König starb überaltert, wunderlich, in dem Glauben, daß Europa, moralisch verstanden, Frankreich sei.51

In dieser Passage ergänzen sich Geist und Macht zu einem Ganzen, dessen moralisch verfasste «Gesittung» zuletzt für seine europaweite Geltung verantwortlich ist. Ein Europa unter dem positiven Einfluss Frankreichs, so wie es hier skizziert wird, muss ein Europa des Geistes sein – nur darauf bezieht sich Heinrich Mann, wenn er in der Folge feststellt: Wir sind jeder da und dort, aber alle auch in Frankreich geboren. Wir führen lang Vorstellungen und Begriffe mit, die nicht wären, wenn nicht Frankreich wäre […]. Unmittelbar oder aus zweiter Hand sind wir mit dem Worte Frankreichs genährt.52

Theo Stammen schließt aus dieser Haltung, Manns Selbstverständnis als Europäer insgesamt habe sich überwiegend auf die «Identifikation mit der französischen Literatur und Philosophie von Voltaire […] bis Zola» gegründet, und er verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch auf den Bruderzwist «im Hause Mann».53 Und tatsächlich: Die unterschiedlichen Vorstellungen von Thomas und Heinrich Mann im Zusammenhang mit Deutschlands Rolle in Europa und mit dessen Rolle in der Welt finden ihre Erklärung eben in ihren unterschiedlichen Auffassungen darüber, was der von beiden so emphatisch propagierte Geist letztlich leisten sollte: Engagement oder Innerlichkeit?

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schreibt Mann: «Wahrhaftig, über untergegangene Geschlechter hinweg verstehen die Beiden einander – Messiasse à la manque, oberste Kriegsherren, Erwecker des ‹Deutschtums›, Helden ungezählter Witze. Seitdem es zwei sind, beleuchtet einer umso besser den anderen, wobei viel Licht auf Deutschland fällt.» (ebd., S. 36). Vgl. zu Manns dichotomischer Konzeption von Deutschland und Frankreich auch Ekkehard Blattmann: Frankreich, Geist, Heil. Über einige Züge von Heinrich Manns Frankreichverehrung. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 403–404. Ebd., S. 404–405. Vgl. allgemein zu Heinrich Manns Beeinflussung durch Frankreich und seine Kultur Chantal Simonin: Heinrich Mann et la France. Une biographie intellectuelle, Villeneuve d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion 2005, in Bezug auf Manns Geistverständnis vor allem S. 216. Theo Stammen: Abschied von Europa. Zeitkritik und politische Ordnungsreflexion bei Heinrich Mann, S. 221.

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Heinrich Mann leitet aus seinen Überlegungen zu Frankreich und der von ihm dort vermuteten Unmittelbarkeit des Geistes ein Konzept von einem geistig zu bestimmenden Europa und dessen moralischer Verantwortung für die Welt ab, das er umso vehementer vertritt, je stärker in den Jahren des Krieges die Existenz des Kontinents unter solchen Prämissen zweifelhaft zu werden beginnt. Sein Essay Der Europäer aus dem Jahr 1916 ist in diesem Zusammenhang beispielhaft. Mann entwirft hier ein Bild des europäischen Menschen, das diesen aus seiner Verpflichtung zur sittlich-moralischen Vervollkommnung der ganzen Welt heraus versteht, und das diese Verpflichtung wiederum mit dem Geist begründet, den Europa allen anderen Erdteilen voraushabe: Der Nutzen der meisten ist die Seele unseres Tuns und Trachtens, selbst wenn er vorerst nur bei wenigen wäre. Denn wir haben Gewissen füreinander. Die Mitverantwortung eines am anderen ist in uns gelegt. Niemand verleugnet sie ganz, und wir begreifen, sie wird uns einst zur gleichen Begünstigung aller führen. Arbeit, europäisch verstanden, ist der Weg der Veredlung und schafft erst den Begriff der Gerechtigkeit. Ohne den Begriff der Verbesserung des Menschenschicksals würden wir es nicht wagen, vor die fremden Rassen hinzutreten, noch weniger, die Hand auf sie zu legen.54

Von dieser letztlich stark eurozentrischen und imperialistisch gefärbten Konzeption ausgehend (die sich darauf beruft, in Europa sei immer der Gedanke maßgebend gewesen, «doch irgendein sittliches Mehr [zu] bewirken»55) entwickelt Mann hier gerade vor dem Hintergrund der Bedrohung Europas durch den Krieg die Vorstellung von einer «europäische[n] Gemeinbürgschaft»,56 die jetzt mehr denn je auch im Inneren des Kontinents wirksam werden müsse. Das letzte Ziel muss für ihn deshalb die politische Vereinigung Europas darstellen, und folgerichtig endet der Essay mit der Beschwörung der Gemeinsamkeiten zwischen denjenigen, die sich augenblicklich noch als Soldaten von feindlichen Mächten gegenüberstehen. Jegliche Form von Gewalt wird dabei als zutiefst uneuropäisch charakterisiert – als etwas, das «draußen, fern von Europa» Geltung haben mag,57 nicht aber im Inneren des Kontinents selbst. Hier ist es dagegen die Vorstellung von einem im Geist sich realisierenden gemeinsamen Wesen Europas,58 die Mann zu der Schlussfolgerung veranlasst, der Europäer könne seine eigentliche Bestimmung nur in einem tatsächlich als geistige Gemeinschaft erlebten Europa finden: «Denn wir sind Idee

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Heinrich Mann: Der Europäer, in: Ders.: Macht und Mensch, S. 129–135, hier S. 129. Ebd., S. 130. Paul Michael Lützeler spricht in diesem Zusammenhang von einem «europäischen Nationalismus» Manns (Paul Michael Lützeler: Heinrich Manns Europa-Ideen im Exil, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 3 (1985), S. 79–92, hier S. 82). Vgl. dazu auch Hilaire Mbakops – stark vereinfachende – Kritik an Manns Eurozentrismus, den er als eine lebenslange Verteidigung des europäischen Kolonialismus verstanden wissen will (Hilaire Mbakop: Normen und Grenzen der Kritik und des Engagements in den politischen Schriften von Heinrich Mann und André Gide zwischen 1923 und 1945, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2003). Heinrich Mann: Der Europäer, S. 133. Ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 132.

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und vollkommen nur im Sinne Europas, sonst aber wechselndes Stückwerk mit unsicherer Geltung, einer in den Augen des anderen.»59 Vor diesem Hintergrund erscheint der Krieg Heinrich Mann zwar als Krise, die Europa in seinem Innersten bedroht, aber als eine Krise, in der dennoch auch die Chance auf einen Neuanfang im Sinne der von ihm beschworenen geistigen Einheit des Kontinents liegen mag.60 Wenn er deshalb 1917 konstatiert, zwischen 1870 und 1914 seien in Deutschland «[d]ie Demokratie, die Humanität, der freie literarische Geist und das Bewußtsein der Einheit mit unserem Erdteil» beständig zurückgegangen,61 dann ist der Grund für diese Entwicklung in der Korrumpiertheit der Intellektuellen und Schriftsteller unter dem Kaiserreich zu suchen: «Von Jahr zu Jahr vollständiger […] erschöpfte sich die literarische Denkarbeit […] im Rechtfertigen des Falschen.»62 Die Katastrophe des europäischen Krieges könnte nun immerhin die Möglichkeit einer Neuorientierung insbesondere der Literatur bergen, die zu einem neuen Bewusstsein der Intellektuellen für ihre Verantwortung führen müsste. Heinrich Mann fordert deshalb eine «Partei des Geistes»,63 deren vordringliche Aufgabe die Schaffung eines demokratisch legitimierten Staates und dessen Aussöhnung mit den europäischen Völkern sein soll: Euer Volk liebend, könnt ihr die Menschheit nicht hassen. Seinem eigenen Volk in wahrer Liebe zugeneigt ist Der allein, der auch zwischen den Völkern von Liebe weiß. Ein Volk, das alle seine Rechte hat, verletzt in unserem Erdteil nicht die der anderen.64

5.3

Reich über den Reichen statt Industriefeudalismus

Der Europäer ist der erste Text von Heinrich Mann, in dem sich dieser explizit die Frage nach Europa, seinem Wesen und davon ausgehend nach seiner idealen Verfasstheit stellt. Mitten im Krieg konstatiert er darin Europas Einheit in der Vielfalt, wenn er etwa über die verschiedenen europäischen Sprachen schreibt, sie seien nur der Umriß eines einzigen vielgestaltigen Wesens, verwandt […] nicht allein im Stamm, in Haltung und Gebärde, sondern so abhängig voneinander durch Redensarten, Vergleiche, Wortspiele, daß wir oft glauben können, nicht die Sprache wandele sich von Land zu Land, sondern nur die Aussprache.65

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Ebd., S. 133. Diese Einschätzung der Lage wird von vielen europäischen Intellektuellen und Schriftstellern geteilt, so auch von José Ortega y Gasset und André Gide (vgl. Kapitel 3.2 Europa als Problem und die Einheit als Lösung und Kapitel 6.1 André Gide: Europa als Schule des Individualismus). Heinrich Mann: Das junge Geschlecht, in: Ders.: Macht und Mensch, S. 136–141, hier S. 138. Ebd. Ebd, S. 139. Ebd., S. 141. Heinrich Mann: Der Europäer, S. 132.

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Ähnlich argumentiert Mann in seinem langen Essay über Kaiserreich und Republik (1919), in dem er zum Ende des Krieges dessen Ursachen und Konsequenzen im Zusammenhang mit der Frage untersucht, inwiefern man von einem Sonderweg des deutschen Reichs ausgehen könne: Gerade in Bezug auf diese Frage nach der Besonderheit der deutschen Geschichte betont er, diese sei keineswegs aus einer wie auch immer gearteten deutschen Eigenart im Vergleich zu den anderen europäischen Nationen zu erklären – man müsse im Gegenteil davon ausgehen, dass die «Charaktere der Völker Europas […] überall aus den Bestandteilen derselben vielfältigen Rasse zusammengesetzt» seien.66 Beide Formulierungen, diejenige vom «vielgestaltigen Wesen» Europas ebenso wie die von seiner «vielfältigen Rasse» verweisen darauf, dass Heinrich Mann die einzelnen nationalen oder auch regionalen Unterschiede innerhalb des Kontinents sehr bewusst gewesen sind. Dennoch sind für ihn die diese Differenzen überbrückenden europäischen Gemeinsamkeiten zuletzt wirksamer als die Unterschiede, weil er von einer Untrennbarkeit der historischen Schicksale der einzelnen Nationen in Europa ausgeht, die diese gerade über ihre jeweiligen Auseinandersetzungen hinweg miteinander in Beziehung setzen muss.67 Diese Untrennbarkeit der Schicksale in Europa und die daraus resultierende nicht aufkündbare Verbindung der einzelnen europäischen Nationen untereinander fällt nun in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg insofern besonders ins Gewicht, als dieser für Sieger und Verlierer durchaus vergleichbare Konsequenzen auf politischer, gesellschaftlicher und teilweise auch wirtschaftlicher Ebene gezeitigt hat. Heinrich Manns frühe Entwürfe von einem Europa des Geistes, das sich über die letztlich unter diesem Begriff des Geistes zu subsumierenden positiven ethischmoralischen Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Vernunft, Wahrheit und Bildung definiert, wird durch die Konfrontation der europäischen Nationen im Krieg einerseits radikal in Frage gestellt. Andererseits lassen ihm aber gerade die Folgen dieses Krieg insbesondere im besiegten Deutschland die Hoffnung berechtigt erscheinen, die von ihm propagierten europäischen Werte könnten jetzt erst ihre volle Wirksamkeit innerhalb des ganzen Kontinents entfalten: Das Ende des Kaiserreichs in Deutschland stellt für Heinrich Mann den Beginn eines neuen Zeitalters dar, in dem er Frankreich und Deutschland und ihre politisch-gesellschaftlichen Systeme einander nicht mehr in demselben Maße kontrastiv gegenüberstellt wie in den Jahren zuvor, sondern in dem es für ihn vielmehr gilt, über die Unterschiede zwischen beiden Ländern hinweg ihre Verbindungen und ihre Verbundenheit zu betonen. Nachdem sich nicht mehr eine Republik auf der einen Seite und ein Kaiserreich auf der anderen voneinander abgrenzen, sondern zwei demokratisch verfasste Länder teilweise ähnliche Ziele verfolgen, sieht Mann die Voraussetzun-

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Heinrich Mann: Kaiserreich und Republik, S. 180. Vgl. zum Beispiel Heinrich Mann: Anfänge Europas, Mai 1923, in: Ders.: Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1994, S. 109–117, besonders S. 111. Hier heißt es: «Als ob die Schicksale nicht aneinander gebunden, als ob es nicht viel zu spät wäre, um noch einer auf Kosten des anderen zu leben!»

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gen für eine deutsch-französische Versöhnung gegeben, wie sie seiner Meinung nach die grundlegende Bedingung einer europaweiten Einigung darstellen muss. Diesem Ziel einer deutsch-französischen Aussöhnung verschreibt er sich deshalb ähnlich wie Ernst Robert Curtius und René Schickele in den folgenden Jahren der Weimarer Republik – an deren Verfassung er deshalb immer wieder den in ihr ausdrücklich formulierten Gedanken der Völkerversöhnung besonders hervorhebt.68 Dabei verändert er in der Sache wenig an seinen Vorstellungen über das Wesen des aus diesem deutsch-französischen Kern hervorgehenden Europa: Noch immer geht er von einem Antagonismus zwischen Geist und Macht aus, noch immer verbindet er diesen Gedanken mit dem dringenden Appell an die Vertreter der Geistes, sich im Bewusstsein ihrer moralischen Verpflichtung innerhalb Europas gegen die bloße Macht zu verbinden und für die Durchsetzung der humanistischen Werte des gemeinsamen europäischen Geistes zu engagieren. Dennoch sind jetzt auch leichte Verschiebungen innerhalb dieser Konzeption festzustellen: Wenn Heinrich Mann den vorherigen Antagonismus zwischen Deutschland und Frankreich zugunsten der harmonisierenden Vorstellung von einem um die beiden Länder herum zentrierten Kerneuropa auflöst,69 dann deshalb, weil er ein deutliches Bewusstsein dafür hat, dass die Schwierigkeiten und Probleme in diesen Nachkriegsjahren nicht nur Deutschland betreffen, sondern ganz Europa. Obwohl er schon während des Krieges in seinem Zola-Essay von der Demokratie als «Geschenk der Niederlage» sprechen konnte,70 und obwohl er dann 1918 das Ende des deutschen Kaiserreichs tatsächlich in genau diesem Sinne erlebt hat, ist die Wirklichkeit der Weimarer Republik in den Jahren danach vor allem von Krisen gekennzeichnet, die den Bestand dieser Republik immer wieder prekär erscheinen lassen. So konstatiert Mann im Verlauf der zwanziger Jahre eine Krise der Demokratie in Deutschland, die er zwar zum einen darauf zurückführt, dass die Deutschen wenig erprobte Demokraten seien, von der er aber zum anderen stets auch betont, die anderen europäischen Länder erlebten sie in vergleichbarer Weise: Man erlaube uns auch ein gewisses nachsichtiges Verständnis unserer eigenen Verirrungen. Es sind nämlich, die Übertreibungen abgerechnet, die aus besonderer Not entstehen, nur dieselben Verirrungen, die das ganze Europa jetzt durchmacht. Jeder der europäischen Staaten hat das innere Gleichgewicht verloren. […] Erlebt wird eine allgemeine Krise der Demokratie.71

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Vgl. Heinrich Mann: Wir feiern die Verfassung, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 128–139. Vgl. auch Heinrich Mann: Das Bekenntnis zum Übernationalen, in: Ders.: Der Haß, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1987, S. 13–47, vor allem S. 21–22. Vgl. dazu Elke Segelcke: Kant revisited: Zur Wirkung der Aufklärung auf Heinrich Manns frühen Europadiskurs im Kontext aktueller Eurovisionen, vor allem S. 52–53. Heinrich Mann: Zola, S. 86. Heinrich Mann: Noch ein Krieg mit Frankreich. Antwort nach Frankreich, Juni 1923, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 117–127, hier S. 122. Vgl. auch: Sie gehen bis zum Verrat, Oktober 1923, ebd., S. 139–150. Hier heißt es: «Die neuen Probleme des Kontinents sind wirksam überall.» (S. 145).

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José Ortega y Gasset hatte in denselben Jahren mit dem Diktum «Eadem sed aliter» seine Vorstellung formuliert, dass die einzelnen europäischen Länder zur selben Zeit auch jeweils dieselben Entwicklungen in allenfalls geringfügigen Variationen durchlaufen müssten.72 Heinrich Mann kommt mit seinem Gedanken von einer Parallelität der Entwicklung in allen europäischen Ländern hier zu einem ähnlichen Schluss. Selbst da, wo er sich ausdrücklich mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten der jungen Weimarer Republik und deren Bedrohung durch die von ihm konstatierte Krise der Demokratie beschäftigt, verliert er deshalb das große europäische Ganze nicht aus dem Blick. Entsprechend richten sich seine Interventionen auch niemals allein auf die innerdeutschen Probleme, sondern sie überschreiten immer die Grenzen hin zu den anderen europäischen Ländern: Auch dort hat die Demokratie mit immer wieder neu aufkommendem Nationalismus, mit Revanchismus und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Wenn die Krise der Demokratie aus diesem Grund tatsächlich in ganz Europa virulent ist, dann kann sie auch nur auf europäischer Ebene gelöst werden.73 Heinrich Mann formuliert deshalb im Verlauf der zwanziger Jahre unterschiedliche Überlegungen dazu, wie ein Bewusstsein der Europäer füreinander, für ihren Kontinent und für dessen geistige Traditionen geschaffen werden und wie Europa ausgehend von diesem neuen Bewusstsein zum ersten Mal auch eine (politische) Form erhalten könnte, die der Einsicht in seine innere Einheit trotz der äußeren Vielfalt gerecht wird. Dabei geht er von den Gefahren aus, von denen er weiß, dass ihnen der Kontinent immer – und in diesen Jahren nach dem Krieg in besonderem Maße – ausgesetzt ist: So birgt die Zerrissenheit Europas in seinen Augen die Gefahr, der Kontinent könne schließlich zur bloßen «Wirtschaftskolonie Amerikas oder Militärkolonie Asiens» herabgestuft werden,74 und er begründet diese Befürchtung dabei einmal mehr mit dem Verweis auf die einstige Größe Europas. Gerade die uneingeschränkte Geltung der europäischen Zivilisation nahezu überall in der Welt habe die Europäer zum Hochmut und zur Verkennung der Realitäten veranlasst: Ursache des nahezu unfaßbaren Geisteszustands? Es könnte sein, daß sie gerade in der vorigen Größe Europas liegt. Jedes der europäischen Länder hat noch die Großmacht im Blut – und ist doch keine wirkliche Großmacht mehr vor der veränderten außereuro-

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Vgl. Kapitel 3.3 Europa als Problem und die Einheit als Lösung. Die Übereinstimmungen mit José Ortega y Gasset sind nicht nur in der allgemeinen Feststellung einer Parallelität der Entwicklungen in den einzelnen europäischen Ländern zu suchen; sie erstrecken sich vielmehr auch auf die Analyse dieser Entwicklungen im Einzelnen. So konstatiert Heinrich Mann beispielsweise ebenso wie Ortega die Tendenz der europäischen Gesellschaften zu Massenbewegungen. Vgl. Heinrich Mann: Briefe ins ferne Ausland, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 200–227. Hier heißt es: «Der Einzelne gilt schon heute gar nichts mehr. […] Nur Masse steht noch gegen Masse.» (S. 220). Heinrich Mann: V. S. E., ebd., S. 174–185, hier S. 176. Vgl. auch Heinrich Mann: Anfänge Europas, Mai 1923. Hier heißt es zum selben Problem: «Dieser Weltteil, der einst Weltherrschaft beanspruchte, wird nicht einmal mehr eine selbständige Geschichte haben. Abhängig vom Willen der angelsächsischen Reiche und des russischen, erdrückt von der Masse aller dieser dichten Körper, wird das zerrissene Europa ein Spott selbst der vierten sich schließenden Größe, des mongolischen Reiches, sein.» (S. 114).

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päischen Welt. […] Ganz Europa hat sich noch nicht des Glaubens entwöhnt, die Welt bestehe seinetwegen […]. Unser Gefühl hält nicht Schritt mit den Tatsachen. Wir haben das Gefühl, die Höchstentwickelten zu sein und zu bleiben trotz innerem Zerwürfnis, offenkundigem Zerfall.75

Wenn Heinrich Mann die Gründe für den Verfall des europäischen Ansehens in der Welt und für den Niedergang des Kontinents in dem «europäischen Drang zur Selbstzerfleischung» erkennen zu können glaubt, der die Länder Europas immer wieder zu «einzelstaatliche[m] Gezänk» veranlasse,76 dann richtet sich seine Kritik dabei gegen den Nationalismus der europäischen Nationen, den er schon vor und während dem Krieg angeprangert hatte und dessen Existenz auch noch in den Jahren nach Kriegsende ihm deshalb umso anachronistischer erscheinen muss. Dieser «abgehauste[…] Nationalismus» stellt für Mann die größte Bedrohung des Kontinents dar, 77 und die Forderung nach einer europäischen Einigung ist deshalb ein bloßes Gebot der Vernunft angesichts der Tatsache, dass sein Fortbestehen in den einzelnen europäischen Nationen notwendig deren Unterlegenheit gegenüber größeren Mächten wie Amerika oder Asien bedeuten muss. Der Nationalismus ist für Heinrich Mann dabei einmal mehr ein Beispiel für die negativen Wirkungen bloßen Machtstrebens – so vergleicht er die «nationale[…] Ausschließlichkeit» der Moderne mit der religiösen Ausschließlichkeit früherer Jahrhunderte und stellt dabei fest, beide seien nur der Ausdruck einer reinen «Gier nach Macht».78 Gegen diese machtpolitischen Bestrebungen des Nationalismus setzt er sein Konzept von der «natürliche[n] Vaterlandsliebe»,79 die im Gegensatz zu diesem einem inneren Bedürfnis und der Liebe des Einzelnen zu vielen Einzelheiten (wie etwa Landschaften oder Sprache) entspringe. Diese Vaterlandsliebe schließt nun im Gegensatz zum Nationalismus ein Überschreiten der Grenzen des eigentlichen Vaterlands auf ein größeres Ganzes hin nicht aus – im Gegenteil, sie befördert es sogar: «Wer einen ganzen Weltteil liebt, ist wohl endlich weise genug, die paar anderen nicht unnützer Weise zu hassen.»80 So, wie sich diese Vorstellung einer natürlichen Vaterlandsliebe gegen die Gefahren wendet, die die innereuropäische Zerrissenheit für den Kontinent birgt, so richtet sich Heinrich Manns Gedanke von der Notwendigkeit einer Vorherrschaft des Geistes über die Wirtschaft in Europa gegen diejenigen, die seiner Meinung nach aus einer allein am kapitalistischen Gewinnstreben orientierten Wirtschaftsordnung erwachsen würden. Dieser übertriebene Kapitalismus und seine Akteure in den nationalen und internationalen Konzernen und in der Industrie sind neben der Zerrissenheit die zweite große Gefahr, die Europa in den Augen von Heinrich

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Heinrich Mann: V. S. E., S. 175. Ebd. Heinrich Mann: Das Sterben der geistigen Schicht, April 1923, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 88–92, hier S. 88. Heinrich Mann: «Wirtschaft» 1923, Mai 1923, ebd., S. 92–109, hier S. 95. Ebd. Ebd.

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Mann bedroht und vor der er im Verlauf der zwanziger Jahre immer eindringlicher warnt. Der entfesselte Kapitalismus ist für ihn nicht nur deshalb so gefährlich, weil er sich des Nationalismus als Mittel zu seinen Zwecken bedient, sondern vor allem auch, weil er den von Mann stets so emphatisch propagierten ‹Grundwerten› des Kontinents radikal entgegensteht: «Es behindert fühlbar das Erwerbsleben, wenn man in einemfort an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit denken soll.»81 Dieser Dichotomie von bloßem Profitdenken und europäischen Werten versucht Heinrich Mann mit seinen Vorschlägen zu einer europäischen Einigung zu begegnen: Diese kann für ihn eben niemals allein auf wirtschaftlicher Ebene stattfinden, sondern muss immer begleitet werden von einer tieferen Einigung, die auch den kulturellen und geistigen Belangen Europas Rechnung trägt. In diesem Zusammenhang ist auch Manns Antwort nach Frankreich (1923) zu verstehen, mit der er auf einen Vorschlag von Jacques Rivière reagiert, den dieser im Mai 1923 in der Nouvelle Revue Française publiziert hatte. Rivière plädiert dort für eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich vor allem in den Belangen der Wirtschaft; davon solle dann eine allmähliche Annäherung zwischen beiden Ländern auch in anderen Bereichen ausgehen. Für Heinrich Mann ist dieser Vorschlag nun insofern gefährlich, als er seiner Meinung nach den von ihm stets mit Argwohn betrachteten Industriellen die Möglichkeit böte, sich weitgehend von einer wirklichen europäischen Verständigungspolitik abzukoppeln, indem zwar tatsächlich über die Nationalgrenzen in Europa hinweg agiert würde, dies aber mit dem einzigen Ziel der beständigen Steigerung des persönlichen Profits. Er schlägt deshalb eine Ergänzung zu Rivières Initiative vor: Die wirtschaftliche Annäherung müsse von einer menschlichen und vor allem geistigen eingeleitet werden: Es wäre unvermeidlich, dass die beiden Länder sich gegenseitig zerstören, wenn ihre Industriekämpfe fortdauerten. Damit diese aber aufhören, muß zuerst das gedankenlos gierige Geschlecht der Industrieherren seines Einflusses entledigt werden. Die Wirtschaft stehe unter der Aufsicht einer geistigen Auslese beider Demokratien. […] Anstatt der Interessenvertreter, die jetzt in beiden Ländern an der Macht sind, Denkende!82

So, wie der Geist in den Jahren vor und während dem Weltkrieg auf die Demokratisierung Deutschlands hinwirken sollte, so soll er jetzt den Bestand der europäischen Demokratien sichern, indem er sich der «Diktatur der ‹Wirtschaft›» widersetzt,83 die Mann in ganz Europa am Werk sieht. Er sieht diese Aufgabe sogar als vordringlicher an, als es damals diejenige der Überwindung des Kaiserreichs gewesen ist – denn die Gefahr, die jetzt von den Industriellen für Europa ausgeht, ist weitaus größer als diejenige, die vor dem Krieg von dem Militarismus und Nationalismus unter Wilhelm II. ausging:

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Ebd., S. 96. Heinrich Mann: Noch ein Krieg mit Frankreich. Antwort nach Frankreich, Juni 1923, S. 126. Heinrich Mann: «Wirtschaft» 1923, Mai 1923, S. 108.

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Sie haben das Raffen zum Maß der Dinge erhoben, ja, auch Menschen haben für sie nur dies Maß. Ihnen entgehen sämtliche menschlichen und politischen Wahrheiten oder gar Keime zu Wahrheiten. Gegen sie waren Monarch und Generalstab humanistische Genies.84

Auch hier richtet sich Heinrich Mann direkt an diejenigen, die er als die «geistige[…] Schicht» bezeichnet und deren weitgehende Bedeutungslosigkeit in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik er mehr als alles andere für ein bedrohliches Symptom für den Geisteszustand dieser Republik hält.85 Wenn er immer wieder den Vorrang des Geistes vor der Wirtschaft und deshalb deren Ordnung nach den Prämissen fordert, die dieser Geist vorgibt, dann gründet auch das auf seiner Überzeugung von der moralischen Verantwortung der Vertreter des Geistes: Diese, «deren Wesen Zergliederung und geistiges Wagnis ist»,86 sollen sich bewusst dem «Industriefeudalismus» entgegenstellen,87 und sie können das nach Mann nur tun, indem sie ihren Willen, «weiter, höher zu dringen» auf einen Internationalismus hin orientieren, der nicht nur politisch wirken soll, indem er Nationalgrenzen überschreitet, sondern der dadurch auch den transzendenten Werten wie Gerechtigkeit und Wahrheit weitere Geltung verschaffen muss: «Europa: der Gedanke enthält neue Ziele, neue Mittel, vielleicht ein ganzes neues Menschentum und sicher neue Kämpfe.»88 In dieser Argumentation verknüpft Heinrich Mann die einzelnen Elemente seines Weltbildes zu einer Abfolge von einander notwendig bedingenden Ursachen und Wirkungen: Die größten Gefahren drohen Europa und seinen einzelnen Staaten durch die Zersplitterung im Nationalismus und durch den seiner Meinung nach entfesselten Kapitalismus, der sich dieser Entwicklung für seine Zwecke zu bedienen weiß. Die einzige Kraft, die sich dem widersetzen könnte, sind die Intellektuellen in ganz Europa, weil deren Erkenntnisinteresse immer schon grenzüberschreitend und insofern international wirkt, und weil deren Streben nach der moralischen Vervollkommnung der Gesellschaft, in der sie leben, sie zu einer Gegnerschaft gegen den reinen Materialismus der Industriellen prädestiniert. Wenn die Intellektuellen daher ihrer Aufgabe der Vergeistigung und Versittlichung über Grenzen hinweg nachkommen, dann, weil es genuin zum Wesen Europas gehört, Geist und Tat auf diese Weise miteinander in Verbindung zu setzen.89 Und in diesem Fall ist die europäische Einigung dann tatsächlich ein Akt der Vernunft, der im Wesen Europas selbst angelegt und damit so unabdingbar ist, wie Heinrich Mann es annimmt: Heute schwankt das Bild uns nicht mehr vor Augen, es verdunkelt sich nicht wieder. Wir erblicken es scharf umrissen, nahe, zwingend. Keine atavistische Versuchung, die

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Ebd., S. 106. Heinrich Mann: Das Sterben der geistigen Schicht, April 1923, S. 88. Heinrich Mann: Anfänge Europas, Mai 1923, S. 111. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111. «Geist und Tat, voneinander durchdrungen und bewegt, sind europäisch.» (Ebd., S. 113).

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uns zurückhielte. Die Idee Europa ist in den Zustand des wissenschaftlich Erwiesenen getreten.90

Ausgehend von einer Analyse der Gefahren, denen der Kontinent ausgesetzt ist, gelangt Heinrich Mann auf diese Weise zu einer Begründung seiner in diesen Jahren immer wieder formulierten Forderung nach einer europäischen Einigung. Auch jetzt stützt er diese Forderung mit weiteren Versuchen der näheren Bestimmung von dessen Charakter und Wesen, wie er sie schon früher unternommen hatte; auch jetzt münden diese Versuche immer wieder in die Betonung der Bedeutung der humanistischen Werte für Europa – und in die des Geistes, der diesen Werten zugrunde liegt.91 Aus seinen Versuchen einer Bestimmung dessen, was europäisch ist, entwickelt Heinrich Mann jetzt aber expliziter als in den Jahren zuvor klar umrissene Modelle, wie ein geeintes Europa tatsächlich aussehen oder was diesen geeinten Kontinent wirklich ausmachen könnte. Zum einen schließt er sich daher zu Beginn der zwanziger Jahre der neu gegründeten Paneuropa-Bewegung des österreichischen Grafen Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi an, die ihm – zumindest in den ersten Jahren ihres Bestehens – schlüssige Ansätze und Strategien auch zu einer politischen Einigung Europa aufzuzeigen scheint.92 In seinem Essay V. S. E., dessen Titel-Initialen für die Vereinigten Staaten von Europa stehen, unterstützt Mann seine Forderung nach einem solchen europäischen Bund mit einem Verweis auf Coudenhove, dessen

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Ebd., S. 116. So erklärt Mann Europa beispielsweise aus der Tatsache, man habe dort immer «[d] as Recht des Einzelmenschen» hochgehalten (Heinrich Mann: Arm oder reich?, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 217–222, hier S. 220); das Selbstbewußtsein Europas beruhe auf der Idee der «Humanität, [der] Pflege des Menschentums» (Heinrich Mann: Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung, ebd., S. 301–319, hier S. 318); er proklamiert immer wieder die Einheit von Geist und Tat als Wesensmerkmal des Kontinents, etwa wenn er schreibt: «der Menschentyp, in dem Erkennen und Handeln einander nicht im Wege sondern förderlich sind, ist nun einmal das wahre historische Ideal Europas» (Heinrich Mann: Unser Einfluß und diese Zeit, ebd., S. 320–325, hier S. 324); und er betont schließlich, dass sich eine europäische Gesinnung immer auch in dem Wunsch nach «politischer Freiheitlichkeit» ausdrücken müsse (Heinrich Mann: Ein geistiges Locarno, ebd., S. 385–394, hier S. 387). Auch in diesen Beispielen sind es also Humanität und Menschenrechte, die gegenseitige Durchdringung von Geist und Tat und schließlich die Freiheit, die als Merkmale zur Wesensbestimmung Europas aufgeführt werden. Vgl. zu Manns persönlichen Beziehungen zu Coudenhove-Kalergi auch seine Briefe an Félix Bertaux vom 2. Dezember 1923 und vom 23. August 1924, in denen er auf die Bewegung und seine Bekanntschaft mit dem Grafen hinweist (Heinrich Mann/Félix Bertaux: Briefwechsel 1922–1948, S. 72–73 und S. 85–86). Vgl. zu Manns Beziehungen zu Coudenhoves Bewegung Siegfried Sudhof: Heinrich Mann und der europäische Gedanke, in: Klaus Matthias (Hg.): Heinrich Mann 1871/1971, München: Fink 1973, S. 147–162. Vgl. zur Paneuropa-Bewegung insgesamt Verena Schöberl: «Es gibt ein großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt... Es heißt Europa.» Die Diskussion über die Paneuropaidee in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1922–1933, Münster u.a.: LIT 2008.

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Organisation als einzige in Europa den Gedanken eines solchen Bundes vertrete, und zwar nicht als weltfremde Träumerei, sondern unter Berücksichtigung aller praktischen Interessen: Er berechnet, Pan-Europa, der einzige Schutz gegen übermächtige außereuropäische Staatenkonzerne, liege im Interesse vieler starker und sogar entgegengesetzter Faktoren. Die Industrie werde sich überzeugen lassen, ihr Geschäft sei dort. Die Sozialdemokratie werde dafür zu haben sein, die Freimaurer könnten dabei zu gewinnen hoffen, noch mehr die katholische Kirche. Coudenhove wirbt in allen Lagern. […] [D]ie Krönung der Entwicklung wäre die Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa.93

Allerdings hält Heinrich Manns Enthusiasmus für Paneuropa nicht sehr lange an – schon wenig nach seinem dezidierten Eintreten für Coudenhoves Bewegung begegnet er ihr mit sehr viel mehr Distanz, weil er ihre Korrumpierung durch die Macht befürchtet: Paneuropa war zuerst der Traum einiger Geister, ist aber jetzt nicht mehr weit davon, das praktische Ziel von Geschäftsleuten und Machtpolitikern zu werden. […] Paneuropa wird eine Machtorganisation werden – möglichenfalls zur Bekämpfung gerade derer, die es als erste ersehnt hatten. Es wird, wie alles Menschliche, schuldig werden.94

Auch wenn Heinrich Mann den Ideen der Paneuropa-Bewegung gegenüber trotz dieser Entwicklung aufgeschlossen bleibt, sehen seine eigenen Ansätze in der Folge doch davon ab, sich allzu sehr auf die realpolitischen Gegebenheiten festlegen zu lassen: Die deutsch-französische Verständigung bleibt das einzige wirklich konkret benannte und konkret betriebene Ziel seiner Überlegungen zu Europa – alle anderen Vorstellungen, die er in den zwanziger Jahren (zum Teil allerdings durchaus auch in Verbindung mit dieser konkreten Idee der deutschfranzösischen Verständigung) formuliert, bewegen sich dagegen eher auf der Ebene von Utopien und Träumen, die nicht unbedingt oder nur teilweise in der politischen Wirklichkeit verankert werden. Die Modelle, die Heinrich Mann in diesem Kontext propagiert, haben dabei immer einen gewissermaßen sakralen Charakter, wie er in der Formulierung von Europa als «Reich über den Reichen» implizit mitzuschwingen scheint,95 mit der einer der Europa-Essays aus den zwanziger Jahren überschrieben ist. Dieser sakrale Charakter von Manns Europa-Vorstellungen aus dieser Zeit wird in dem Text

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Heinrich Mann: V. S. E., S. 180–181. Heinrich Mann: Paneuropa, Traum und Wirklichkeit, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 347–348, hier S. 347. Heinrich Mann: Europa, Reich über den Reichen, in: Die Neue Rundschau 34 (1923.2), S. 577–602. Hier wird das Reich über den Reichen ausdrücklich als Ziel der deutschfranzösischen Verständigung beschrieben: «Will Europa denn eins werden: zuerst wir beide! Wir sind die Wurzel. Aus uns der geeinte Kontinent, die anderen können nicht anders als uns folgen. […] Durch uns wird ein Reich sein über den Reichen, und das Reich wird dauern.» (S. 594). Dieselbe Argumentation und teilweise dieselben Formulierungen finden sich auch in Anfänge Europas, Mai 1923. Vgl. zu dem teilweise sakralen Charakter von Heinrich Manns Ideen zu Europa auch Siegfried Sudhof: Heinrich Mann und der europäische Gedanke, S.153.

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mit dem entsprechenden Titel tatsächlich auch explizit gemacht: Hier wird die europäische Einigung als das Ziel einer Art Geist-Religion beschrieben, zu dessen Umsetzung und Verwirklichung nicht allein ein fester Glauben, sondern auch die entsprechende Institutionalisierung dieser Religion gehören muss: Die katholische Kirche war lange Inhaberin, Dach und Turm des Europa einenden Geistes. Der erweiterte Inhalt sprengte sie, nie aber fand er wieder sein Dach, noch weniger seinen Turm. […] In solcher Lage gedenken manche, die ihr nicht angehören, der Kirche. Man fragt sich, ob sie selbst noch ihrer Größe gedenke. Man zählt und mißt die Anzeichen, daß der Verfall des Weltteils sie beunruhigt. […] Ihr Wille und Wort gegen den Nationalismus, für Völkerfrieden: – Massen würden aufblicken und Licht ahnen. […] Wir könnten daran denken, aus eigener Kraft die große alte Organisation zu erneuern und uns nutzbar zu machen. […] Nur, daß der Weltteil nicht warten kann. Wer hilft? Einzig wir selbst. Wir müssen unsere eigene Kirche gründen. […] Alles kommt für unsere Kirche darauf an, daß wir im Glauben unerschütterlich sind. Der Glaube ist Europa, die Heilslehre seine Einheit.96

Die Vorstellungen, die Heinrich Mann hier formuliert, sind jenseits der Zeit der politischen Realitäten anzusiedeln; die Zeit selbst, ihre Prozessualität und ihr historischer Verlauf scheinen ausgeblendet zugunsten einer Vision, von der Doerte Bischoff konstatiert, sie sei «sowohl Vergangenheit wie Zukunft».97 Anders als diese gewissermaßen eschatologischen Fernziele, die in ihrer Abkoppelung von der Aktualität häufig etwas privatistisch wirken, entsprechen Heinrich Manns Ideen zu seinem politischen Nahziel einer deutsch-französischen Aussöhnung dagegen durchaus denjenigen, denen zur selben Zeit auch andere Intellektuelle in Deutschland wie etwa Ernst Robert Curtius oder René Schickele anhängen. Diese Überlegungen stehen (ganz anders als die visionären Kirchengründungsmodelle) tatsächlich auch im Einklang mit den Initiativen, die zur selben Zeit in der Realpolitik zwischen den beiden Ländern unternommen werden – etwa den gemeinsamen Bestrebungen von Briand und Stresemann, sich ebenfalls um die deutsch-französische Verständigung zu bemühen.98 In diesem realpolitischen deutsch-französischen Zusammenhang kann Heinrich Mann immer wieder die enge

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Heinrich Mann: Europa, Reich über den Reichen, S. 597–598. Doerte Bischoff: Repräsentanten für Europa? Thomas und Heinrich Mann als GrenzGänger eines Europa-Diskurses in ihren Essays 1914–1933, in: Jürgen Wertheimer (Hg.): Suchbild Europa – künstlerische Konzepte der Moderne, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1995, S. 18–37, hier S. 33. Sehr kritisch beurteilt Paul Michael Lützeler Manns Aufgehen in der «Rolle des Glaubens- und Kirchengründers» (Paul Michael Lützeler: Heinrich Mann 1923: Die Europa-Idee zwischen Pragmatik und Religionsersatz, in: Helmut Koopmann/Peter-Paul Schneider (Hg.): Heinrich Mann, die Französische Idee und Europa, S. 85–103, hier S. 97). Vgl. etwa Heinrich Manns Erinnerung an seine Begegnung mit Briand in Ein Zeitalter wird besichtigt. Hier schreibt er über diesen und seinen deutschen Partner Stresemann ausdrücklich, sie hätten «dem armen Europa für eine nicht verdiente Ruhe gebürgt» (Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 324). Vgl. zu Briand und Stresemann allgemein auch Edgar Stern-Rubarth: Drei Männer suchen Europa: Briand, Chamberlain, Stresemann, München: Weismann 1947.

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kulturelle Bindung der beiden Länder betonen, die für ihn die Voraussetzung für ihre auch politische Versöhnung darstellen muss: Deutschland und Frankreich mit ihren ähnlichen und ineinander verschlungenen Schicksalen haben zu allen Zeiten gemeinsame Organe gehabt; sie glichen gewissermaßen dem Kaiser Karl dem Großen, den jedes der beiden Völker für den seinen hält. Bei dem heutigen Franzosen André Suarès las ich: ‹Unser Goethe.› Ich las es nie bei einem Engländer, Italiener oder Russen.99

Auch die kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrhunderte können für Mann an dem essentiellen Aufeinanderangewiesensein von Deutschland und Frankreich deshalb nichts ändern – in einer gewissermaßen dialektischen Bewegung spricht er vielmehr davon, die beiden Länder seien «feindlich verbrüdert» und leitet damit die Nähe selbst direkt aus der Feindschaft ab.100 Beide Modelle, die Heinrich Mann für sein Projekt der europäischen Einigung entwirft, das eschatologische ebenso wie das realpolitische, bleiben dabei grundsätzlich auf seine Vorstellung zurückzuführen, das hauptsächliche Wesensmerkmal Europas sei seine enge Beziehung zum Geist. Dieser Geist soll sich in der Europa-Religion ebenso wie in der Idee der deutsch-französischen Verständigung Bahn brechen; und nur durch die fortwährende Betonung dieses Geistes kann es in Manns Augen gelingen, dem unheilvollen Wirken des «Industriefeudalismus» und der Zersplitterung Europas Einhalt zu gebieten. Vor diesem Hintergrund ist es deshalb nur konsequent, dass er die Verwirklichung seiner Ideen einmal mehr ganz ausdrücklich in die Hände der Intellektuellen und in besonderem Maße in die der Schriftsteller legt. Zwar schreibt er in diesem Kontext vermeintlich distanziert, das «übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer» insgesamt sei allein eine Erfindung der Dichter,101 aber seine Argumentation zeigt deutlich, dass es ihm bei dieser Feststellung nicht um eine ironische Distanznahme zu tun ist. Im Gegenteil: Wenn er seine These damit begründet, nur die Dichter, die sich immer mit «unverwirklichten Ideen» beschäftigten, seien auch in der Lage, diese Ideen «in der Welt der Tatsachen überhaupt [zu] denken»,102 dann macht er damit klar genug, dass diese Funktion der Literatur (und ihrer Vertreter) in seinen Augen tatsächlich unabdingbar ist für jede Form menschlichen Zusammenlebens. Eine Initiative wie diejenige von Paul Desjardins mit seinen Dekaden von Pontigny (an denen Heinrich Mann im Jahr 1923 als erster Deutscher nach Ernst Robert Curtius teilgenommen hat), muss deshalb seine volle Unterstützung haben:

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Heinrich Mann: Anfänge Europas, Mai 1923, S. 113. Vgl. zu den deutsch-französischen Beziehungen auch: Heinrich Mann: Unser gemeinsames Problem. Bericht nach Frankreich, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 228–233; und ders.: Die Literatur und die deutschfranzösische Verständigung, ebd., S. 301–319. Heinrich Mann: Anfänge Europas, Mai 1923, S. 114. Heinrich Mann: Unser Einfluß und diese Zeit, in: Ders.: Sieben Jahre, S. 320–325, hier S. 320. Heinrich Mann: Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung, S. 301.

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Man verstand sich nicht immer. […] Gleichwohl ist beachtenswert, daß dies einer der ersten Versuche war, sich ohne Unterschied der nationalen Herkunft zu verständigen, sogar mit eben noch Verfeindeten; und daß dies lauter Intellektuelle waren. Über Geschäfte reden auch andere. Das ist schwer zu vermeiden. Aber wer zwingt uns, rein geistige Interessen mit Gegnern zu verhandeln? Dazu gehört viel guter Wille und innere Umkehr.103

Heinrich Mann bezeichnet die Schriftsteller deshalb gerade auf europäischer Ebene auch als «Vordiplomaten»,104 deren Aufgabe es sei, den Weg für die Realpolitiker zu ebnen – und er verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Briand und Stresemann und deren deutsch-französische Versöhnungspolitik. Die Minister, so betont er, hätten nur deshalb Erfolg haben können, «weil wir Schriftsteller vorgearbeitet und eine besser zu atmende Luft geschaffen hatten.»105 Seine eigenen Europa-Essays aus diesen Jahren der Weimarer Republik verstehen sich aus diesem Grund als Fortsetzung einer Traditionslinie, die er immer wieder ausdrücklich mit Victor Hugo und insbesondere mit dessen Wort von den Vereinigten Staaten von Europa beginnen lässt.106 Auch diese schriftstellerische Selbstverortung wird von Heinrich Mann dadurch moralisch-ethisch begründet, dass er betont, der Literatur komme gerade in politischen Fragen immer die Aufgabe zu, aktuelle Ereignisse zu reflektieren – und gegebenenfalls auf sie zu reagieren: Literatur ist niemals nur Kunst, eine bei ihrem Entstehen schon überzeitliche Dichtung gibt es nicht. Sie kann so kindlich nicht geliebt werden wie Musik. Denn sie ist Gewissen – das aus der Welt hervorgehobene und vor sie hingestellte Gewissen. Es wirkt und handelt immer. Wer es verfolgt, kann eine Zeit lang die Welt den Unbedenklichen allein überliefern. Dann kommt für das Gewissen ein um so größerer Tag.107

5.4

Verdeutschung Europas oder europäisches commonwealth?

Heinrich Manns moralischer Anspruch an die Literatur im Allgemeinen und an die eigenen Werke im Besonderen wächst in den zwanziger Jahren in dem Maße, in dem ihm der Fortbestand der Weimarer Republik gefährdet erscheinen muss. 1933, als diese erste deutsche Republik tatsächlich scheitert, verlässt er Deutschland und geht nach Frankreich in ein Exil, das angesichts seiner engen Beziehungen zu diesem Land kaum mehr als im Falle von René Schickele ein Exil im eigentlichen Sinne ist: Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzt Heinrich Mann nämlich wieder sein altes Modell von der antagonistischen Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ein, das dem in gefährlichen, weil autoritären und anachronistischen Strukturen gefangenen Deutschland das leuchtende Vorbild eines

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Ebd., S. 314. Vgl. zu Heinrich Mann und Pontigny auch Ekkehard Blattmann: Heinrich Mann und Paul Desjardins: Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923, Frankfurt am Main: Lang 1985. Heinrich Mann: Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung, S. 318. Ebd. Vgl. zum Beispiel ebd., S. 301. Heinrich Mann: Unser Einfluß und diese Zeit, S. 321.

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vom Geist der Vernunft und des Humanismus geleiteten Frankreich gegenüberstellt. Das französische Exil wird von ihm nicht als ein solches empfunden – im Gegenteil: Im Sinne seiner Vorstellung von Frankreich als «zweite[m] Geburtsland des Europäers»108 stilisiert er das Land seines Exils immer wieder zu dem Ort, an dem Europa in idealer Weise verwirklicht ist und der insofern für ihn, den Europäer, die eigentliche Heimat darstellt.109 Der Abschied im eigentlichen Sinne findet deshalb erst statt, als Heinrich Mann auch diese eigentliche europäische Heimat im Jahr 1940 verlassen muss, weil sie durch die deutsche Besetzung in ihrer Existenz bedroht ist. Erst im Nachhinein, erst vor dem Hintergrund dieser zweiten Vertreibung bekommt schließlich auch der Gang ins erste Exil von 1933 seine wahre Bedeutung. So kann Mann beide Wege, den ersten von Deutschland nach Frankreich und den zweiten von Europa nach Amerika miteinander in Verbindung setzen, wenn er über den Abschied von Frankreich schreibt: Sieben und ein halbes Jahr früher hatte ich es weniger abenteuerlich gefunden, unsere Berliner Wohnung zu verlassen, als ginge ich in das nächste Café. Das erste Exil enthüllte viel später, was es war. Dem Lande, das ich damals aufgab, hatte ich einiges vorzuwerfen. Diesem hier – nichts. Als dieses Land mich nicht mehr schützen konnte, bekam mein alter Gang durch Berliner Straßen, Februar 33, endlich sein wahres Gesicht. Die Verbannung aus Europa war es, sie hatte ich damals angetreten.110

Das eigene Exil steht so sinnbildlich für die Entwicklung Europas im Ganzen. Dadurch, dass er seinen Abschied von Europa als eine von außen auferlegte und deshalb passiv erlebte Verbannung beschreibt, kann Heinrich Mann auf die Bedrohung verweisen, der der gesamte Kontinent in diesen Jahren ausgesetzt ist: Auch Europa selbst ist im Laufe der Zeit immer weniger imstande, aktiv auf die Gefährdung zu reagieren, die von Deutschland ausgeht. Manns Entwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik, die eine europaweite Einigung auf dem Wege der deutsch-französischen Verständigung erreichen wollten und die die Tragweite dieser Einigungspläne durch die enthusiastische Metapher von der Kirchengründung veranschaulicht hatten, werden jetzt durch eine wesentlich pessimistischere Sicht der Dinge ersetzt: Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland (und vor allem mit Blick auf deren hegemoniale Pläne, den ganzen Kontinent zu unterwerfen) muss das Projekt der europäischen Einigung zunächst vor allem der Schadensvermeidung oder immerhin -begrenzung dienen.111

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Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 403. In Heinrich Manns einführenden Gedanken zu seinem Kriegstagebuch ist so von Frankreich als dem «kontinentale[n] Musterland» die Rede (Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 32). Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 474. Als ein Symptom für Heinrich Manns klares Bewusstsein für die veränderten Bedingungen im durch den Nationalsozialismus bedrohten Europa mögen deshalb die Metaphern dienen, die er für den Kontinent findet: War zuvor die Rede von dem «Reich über den Reichen», von der zu gründenden Religion oder auch dem «gemeinsame[n] Haus» Europa gewesen (vgl. zu dieser letzten Metapher Heinrich Mann: Der Europäer, S. 134),

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Mehr denn je ist Europa bedroht – und Heinrich Mann empfindet angesichts dieser Bedrohung deutlich, dass dem Kontinent nur noch eine einzige Alternative bleibt: Entweder er schließt sich gegen die deutschen Hegemoniepläne zusammen, um diese gemeinsam zu bekämpfen – oder aber das nationalsozialistische Projekt einer «Verdeutschung Europas» wird früher oder später an sein Ziel gelangen und alle positiven Entwürfe eines geeinten Kontinents ad absurdum führen.112 Wieder ist es dabei die Frage nach den Werten, die die beiden Optionen voneinander unterscheidet und die Heinrich Manns Urteil im Zusammenhang mit dieser Alternative begründet. Während sich der Zusammenschluss der europäischen Länder gegen die Bedrohung durch Deutschland vor allem auf die Tradition der gemeinsamen freiheitlichen und humanistischen Werte stützen soll, ist der nationalsozialistische Ansatz eben gerade durch seine vollständige Negation dieser Werte zugunsten eines rein machtpolitischen Ansatzes gekennzeichnet: «Aber Herrenvolk, Lebensraum, Geopolitik und jeder andere Schwindel sind verspätete Antworten auf das eine machtvolle Wort, das Europa einst wirklich erobert hat: Freiheit.»113 Wie schon bei René Schickele teilt sich die Welt auch in der Vorstellung von Heinrich Mann in zwei Lager, und wie dieser beschreibt er den Kampf gegen den Nationalsozialismus immer wieder als einen Kampf gegen den Ungeist schlechthin. Dieser Zusammenhang seines Engagements mit der Frage nach dem Geist macht so auch die Vehemenz erklärlich, mit der er selbst diesen Kampf (zumindest in seinen Jahren im französischen Exil) ausficht. Die Entwürfe für Europa aus den Jahren von 1933 bis 1945, mit denen sich Heinrich Mann den deutschen Hegemoniebestrebungen zu widersetzen versucht, reagieren damit einmal mehr auf eine tiefe Krise des Kontinents – eine Krise, von der er allerdings immer wieder auch betont, dass sie vor allem deshalb so gravierend hat werden können, weil man ihr nicht früh genug und nicht offensiv genug entgegengetreten ist: Das arme Europa ist in einer Verfassung, daß es von den wirklichen Tatsachen am liebsten garnichts wüßte. Das Geständnis, ein voll gerüsteter Militärstaat zu sein, hätte das Dritte Reich sich in schonender Weise versagen sollen. Für das arme Europa sind nicht die deutsche Aufrüstung und Wehrpflicht das Peinlichste, sondern daß es davon jetzt Kenntnis haben soll. […] Das wäre ja Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates, befürchtet[…] das arme Europa.114

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so taucht der Kontinent jetzt als «geeinter Eisschrank» (Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 81) und als «blutiges Brett» einer «Spielbank der Unterwelt» auf (Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 279). Heinrich Mann: Größe und Elend Europas, in: Ders.: Das Führerprinzip/Arnold Zweig: Der Typus Hitler. Texte zur Kritik der NS-Diktatur, S. 39–43, hier 41. Interessant ist im übrigen die Parallele zwischen dieser Formulierung Heinrich Manns von der «Verdeutschung Europas» im Zweiten Weltkrieg und derjenigen Thomas Manns von der «Entdeutschung Deutschlands» im Ersten. Vgl. dazu auch Kapitel 5.2 Kaiserreich und Republik. Ähnlich wie das Wort von der «Verdeutschung Europas» verwendet Heinrich Mann teilweise auch die Formulierung «Deutsch-Europa», vgl. etwa Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 69. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 39. Heinrich Mann: Menschenraub, in: Ders.: Es kommt der Tag, S. 87–92, hier S. 87.

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Besonders die Appeasement-Politik, mit der die westlichen Mächte in den Jahren unmittelbar vor dem Krieg versuchen, Hitler durch Zugeständnisse von seinem Krieg abzuhalten, wird von Heinrich Mann scharf verurteilt: «In München bekam er Böhmen geschenkt»,115 mit diesen Worten beginnt ein Text, in dem er den europäischen Vertretern dieser Politik vorwirft, sie seien durch ihre Zugeständnisse zuletzt für die grundsätzliche Infragestellung Europas durch Hitler mitverantwortlich. Solche Geschenke von Seiten der friedlichen und freiheitlichen europäischen Mächte an diejenigen, die letztlich an der Abschaffung gerade dieses an seinem Frieden interessierten Europas arbeiten, müssen in seinen Augen kontraproduktiv sein: Friede – aber was in München ausgehandelt wurde, ist kein Friede. Der wahre Friede ist nur um den Preis des Mutes zu haben. […] Das Europa, wo man noch in Ehren sein Leben verbringen kann, wird enger, wird ganz schmal. Wenn es so weiter geht, fehlt nur wenig und aus Europa schwindet der letzte Raum, um glücklich zu sein und Frieden zu haben.116

Heinrich Mann beklagt in diesen Jahren der Bedrohung des Kontinents durch die Expansionspolitik des Dritten Reiches immer wieder eine solche unheilvolle Verengung Europas, und das nicht nur, weil ihm selbst dadurch die Möglichkeiten genommen werden, sich innerhalb des Kontinents noch frei bewegen zu können. Schwerer wiegt für ihn vielmehr die ideelle und geistige Verengung, die hinter der räumlichen steht – die Tatsache eben, dass die von ihm zeit seines Lebens propagierten humanistischen Werte an immer weniger Orten in Europa noch Geltung haben, und dass dadurch dessen Existenz als geistige Einheit in Frage gestellt ist: «Sie wollen nicht ihr Gebiet vergrößern auf Kosten schwächerer Nachbarn, was nichts Neues wäre. Sie träumen den Erdteil […] als deutsche Kolonie[…].»117 Heinrich Mann versucht in den Jahren zwischen 1933 und 1945 immer wieder, vor dem Hintergrund dieser von ihm befürchteten «Verdeutschung Europas» die deutschen Verirrungen und die von Deutschland ausgehenden Gefahren für Europa auf eine schlüssige und rational nachvollziehbare Art und Weise zu erklären. So konstatiert er beispielsweise die Tatsache, dass Deutschland schon in früheren Epochen durch seine permanente Störung der europäischen Einigungsbewegung aufgefallen sei und schließt daraus auf eine historische Kontinuität dieses verspäteten deutschen Nationalismus, die zuletzt eben auch die Entwicklung des Landes hin zum Nationalsozialismus begründen mag.118 Daneben verweist er abermals auch auf das unheilvolle Wirken des Kapitalismus, der Hitler überhaupt erst die Möglichkeiten des Aufstiegs geschaffen habe,119 und er leitet den Nationalsozialismus

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Heinrich Mann: München, in: Ders.: Mut, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1991, S. 55–59, hier S. 55. Ebd., S. 58. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 73. Vgl. etwa Heinrich Mann: Die Deutschen und ihr Reich, in: Es kommt der Tag, S. 22–30; oder auch: Die Deutschen wiederholen sich, ebd., S. 31–38. Vgl. etwa Heinrich Mann: Rüstung, ebd., S. 94–98.

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aus der gefährlichen Tendenz des Zeitalters zu Massenbewegungen ab: Hitler mache den «internationalen Massen» weis, er sei «der Erwählte der Massen»,120 und daraus erkläre sich der Erfolg seines Vorgehens gegen die demokratischen Freiheiten. Schließlich zeichnet Mann in dem Artikel Die Schicht Pachulke ein ironisches Porträt des deutschen NS-Anhängers als eines selbstgerechten, unfruchtbaren und infantilen Kleinbürgers, dessen charakterliche Defizite sich aus dem historisch zu begründenden Minderwertigkeitskomplex der Deutschen gegenüber den anderen europäischen Nationen herleiten lassen.121 Dieser Minderwertigkeitskomplex wird damit zum eigentlichen Unterscheidungsmerkmal zwischen Deutschland und den demokratischen westlichen Mächten – und er ist schließlich der Grund dafür, dass der von Mann immer wieder als anachronistisch beschriebene Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert überhaupt noch möglich sein kann. Trotz der Schlüssigkeit seiner Argumentation gerät Heinrich Mann jedoch gerade mit diesen Rationalisierungsversuchen immer wieder an einen Punkt, an dem ihm zuletzt nichts anderes übrigzubleiben scheint, als auf den Irrationalismus des ganzen Zeitalters zu rekurrieren, um das Wiederaufleben des unfruchtbaren deutschen Nationalismus schon in den Jahren unmittelbar vor dem Machtantritt Hitlers erklären zu können. So beschreibt er in seinem Essay Das Bekenntnis zum Übernationalen aus dem Jahr 1932 das ausgehende 19. Jahrhundert als eine Epoche, die «eine gute Gelegenheit der reinen Geistigkeit» geboten hätte.122 Die Gelegenheit sei allerdings zu Anfang des 20. Jahrhunderts dadurch versäumt worden, dass das Denken und die Vernunft durch eine «Wiedereinführung des Irrationalen» abgelöst worden seien.123 Dieses Zeitalter des Irrationalismus dauere nun zwar bis in die Gegenwart noch an – es sei aber abzusehen, dass es sich bis zum Jahr 1940 überlebt haben werde: «Die Vernunft darf sich vorbereiten, wieder einzuziehen.»124 Heinrich Manns Prognose erscheint hier zwar ein wenig optimistisch (und das umso mehr, als sie betont, ein Krieg in Europa sei gerade wegen des unmittelbar bevorstehenden Endes des Irrationalismus keine ernsthafte Gefahr mehr), aber dennoch verweist er selbst Jahre später noch einmal auf seine eigene Datierung und bestätigt sie aus dem Rückblick. So zitiert er seine einstige Prognose in seiner Autobiographie: Hitlers Aufstieg stelle nur den letzten Beweis dafür dar, wie abgelebt das Zeitalter des Irrationalismus letztlich sei: Die Voraussage, gegen 1940 werde es enden, erweist sich nach den Ereignissen als haltbar. 1939 fing der leibhaftige Irrationale, Hitler, seinen unmöglichen Krieg an. Er selbst hat die Niederlage heraufbeschworen, nicht nur seine und nicht nur die deutsche allein. Großartig widerlegt ist seither der Fanatismus der Widervernunft. Nichts anderes bedeutet dieser Krieg, insofern er als ein geistiger Vorgang verstanden ist.125

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Heinrich Mann: Massenbetrug, ebd., S. 112–118, hier S. 112. Vgl. Heinrich Mann: Die Schicht Pachulke, ebd., S. 56–64. Heinrich Mann: Das Bekenntnis zum Übernationalen, in: Ders.: Der Haß, S. 13–47, hier S. 16. Ebd. Ebd., S. 20. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 212.

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Der Rationalisierungsversuch, den Mann hier im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg unternimmt, um diesen abstrahierend von seinen unmittelbaren Auswirkungen als einen notwendigen Prozess der geistigen Entwicklung Europas zu erklären, steht in einer Linie mit seinen früheren Theorien, auf die er sich dabei explizit bezieht: Schon der Text von 1932 hatte das System der europäischen Nationalstaaten und umso mehr deren Nationalismus zum überkommenen Modell erklärt, dem zuletzt nur «das unaufhaltsame, unbegrenzte Versinken» bleiben könne.126 Er hatte in einem emphatischen Bekenntnis zum Übernationalen geendet, das sich aus der Polarisierung von dem gerade noch andauernden Irrationalismus in Europa und der Unabdingbarkeit einer neuen Ära der Vernunft herleitete, und das damit die europäische Einigung einmal mehr als ein Gebot der Vernunft darstellte, dem sich der Kontinent schließlich nicht widersetzen könne: Ein geistiges System soll ersetzt werden. Das alte […] war der Irrationalismus; er fällt zusammen mit den letzten Zuständen der nationalen Idee. Die Idee des Übernationalen, die allein lebensfähige, hat zur Voraussetzung die wiedereingesetzte, die verjüngte Vernunft, ein ganzes System des Lebens in Vernunft und Wahrheit. Ja, das Bekenntnis zu der Idee des Übernationalen eröffnet selbst schon das neue Zeitalter.127

Die Vernunft ist deshalb das Mittel, auf das Mann immer wieder setzt, wenn er zum Widerstand gegen das Dritte Reich aufruft. Diese Vernunft ist die letzte Begründung auch dafür, dass sich die durch die drohende «Verdeutschung» des Kontinents gefährdeten geistigen Werte Europas ihrer tatsächlichen Aufhebung durch den Nationalsozialismus zuletzt doch widersetzen müssen; die Vernunft liegt schließlich auch der Definition zugrunde, die Mann in diesen Jahren für Europa und sein eigenes Europäertum findet. Europa bedeutet für ihn immer Kampf – und zwar Kampf gegen den Irrationalismus, Kampf für die Durchsetzung der Vernunft und die Ausbreitung des Geistes: «Ein guter Europäer wird man nicht in guter Ruh, sondern durch Kampf», schreibt Mann, um direkt im Anschluss festzustellen: «Wenn etwas in diesem Erdteil nicht aufhört, ist es der Kampf.»128 Vor diesem Hintergrund kann deshalb sogar der Kampf gegen den Nationalsozialismus noch eine positive Deutung erfahren: In diesem Kampf realisiert Europa nämlich die wesentliche Prämisse seiner Existenz als Ort der beständigen Auseinandersetzung; der Kampf gegen das Dritte Reich kann insofern auch im Sinne eines Bewusstwerdens des Kontinents über sein Wesen verstanden werden. Der europäische Kampf gegen Hitlers Expansionspläne ist in den Augen von Heinrich Mann deshalb nicht allein eine Notwendigkeit im Sinne einer bloßen Selbstverteidigung gegen die drohende «Zersetzung Europas».129 Er stellt vielmehr darüber

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Heinrich Mann: Das Bekenntnis zum Übernationalen, S. 31. Ebd., S. 44. Heinrich Mann: An der Bahre T. G. Masaryks, in: Ders.: Mut, S. 217–218, hier S. 217– 218. Heinrich Mann: Der Friede, ebd., S. 209–214, hier S. 211. In diesem Text beschreibt Heinrich Mann die Folgen, die ein Sieg Hitlers für Europa haben müsste, im Sinne einer vollständigen Auslöschung des Kontinents, die vor allem deshalb so vollständig

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hinaus die grundsätzliche geistige Voraussetzung dafür dar, dass die Einigung des Kontinents, die Mann bereits seit Jahren ohne Erfolg propagiert hatte, womöglich gerade aus dieser kämpferischen Betonung der gemeinsamen europäischen Werte vor dem Hintergrund ihrer Gefährdung doch noch möglich werden kann. In seinem zweibändigen Roman über den französischen König Henri IV., der in den Jahren seines französischen Exils entsteht, beschreibt Heinrich Mann den lebenslangen Kampf dieses Königs gegen Personen, Mächte und Prinzipien, die seinen Bemühungen um Religionsfreiheit, Frieden und nationale Einheit in Frankreich aus Gründen des eigenen Machterhalts beständig zuwiderhandeln. Während der Roman diese Gegenspieler dabei kaum verschleiert als gleichnishafte Wiedergänger der Hauptakteure des Nationalsozialismus auftreten lässt,130 ist der König Henri IV. selbst eine in ihrer unideologischen Handlungsweise, ihrer geistigen Unabhängigkeit, ihrer Güte und Menschlichkeit und nicht zuletzt ihrer Volksnähe und Einfachheit ausschließlich positiv besetzte Herrscherfigur.131 Vor dem Hintergrund der Bedrohung Europas durch den Nationalsozialismus entwirft Heinrich Mann in seinem Henri Quatre das Modell einer friedlichen humanistisch geprägten Herrschaft, die sich allerdings gerade um dieses Friedens willen in jahrzehntelangen Kämpfen bewähren muss.132 Seiner Vorstellung von der Vernunft entsprechend, die sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus schließlich doch durchsetzen wird, stellt Heinrich Mann auch diese Auseinandersetzungen des Königs Henri IV. im Roman immer wieder als einen solchen Kampf der Vernunft gegen die zersetzende Macht des Irrationalismus dar.133 Dabei ist das Ziel von Henris Bemühungen zunächst die nationale Einheit Frankreichs.134 Erst in einem zweiten Schritt, zum Ende seines Lebens hin, entwirft

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sein kann, weil der Kontinent auch seine Erinnerung einbüßen müsste: «Europa wäre nicht mehr vorhanden, es hätte keine Funktionen mehr, kein eigenes Leben mehr und verlöre endlich sogar die Erinnerung an seine einstige Kraft.» (S. 209). In Boucher, dem fanatischen Prediger der katholischen Liga, porträtiert Heinrich Mann beispielsweise Goebbels, in dem ebenfalls der katholischen Partei zugehörigen genusssüchtigen Bruder des Herzogs von Guise, Mayenne, dagegen Göring. Vgl. Peter Stein: Heinrich Mann, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 132. Vgl. auch Manns eigene Aussagen über sein Buch: «Es ist weder verklärte Historie noch freundliche Fabel: nur ein wahres Gleichnis.» (Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 493). Vgl. zu der Figur Henris als solch ‹guter König› Andreas Brüning: Die Utopie des ‹guten Menschen› in Heinrich Manns Roman ‹Henri Quatre›, Marburg: Tectum 1999; und Thomas Koebner: Henri Quatre – Die Fiktion vom guten Herrscher, in: HeinrichMann-Jahrbuch 3 (1985), S. 107–120. Der Kampf für die gute Sache wird dabei immer wieder als Notwendigkeit beschrieben: «Es ist geboten, daß Humanisten streitbar sind und zuschlagen, sooft feindliche Gewalten die Bestimmung des Menschen aufhalten wollen.» (Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 202002, S. 706). Vgl. zu Manns Vernunftbegriff in Henri Quatre Wolf Jöckel: Heinrich Manns ‹Henri Quatre› als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland, Worms: Heintz 1977, S. 212–213. «Ich weiß: ich werde dies Königreich einigen», sagt der junge Henri im Roman (Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 252001,

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der König das Projekt einer die nationalen Grenzen überschreitenden Einigung des ganzen Kontinents, die vor allem der Eindämmung der habsburgischen Machtansprüche und der Sicherung des Friedens in Europa dienen soll. Auch dabei ist es immer wieder vor allem das Konzept des von Henri verkörperten «kämpferischen Humanismus»,135 das diesen zum Entwurf seines «Großen Plans» und zum Festhalten an diesem Plan auch gegen alle Widerstände qualifiziert: Die Gewissensfreiheit des ganzen Europa wird letztens mit den Waffen verteidigt werden müssen, sonst wär es um dies Königreich geschehen; es lebt im Geist und in der Wahrheit oder gar nicht.136

Die Umsetzung des Großen Plans scheitert letztlich daran, dass der König am Schluss doch vor seiner Zeit den mörderischen Verschwörungen seiner Gegner zum Opfer fällt, aber sein Plan kann dennoch über seine Lebenszeit hinaus wirksam bleiben – nicht umsonst spricht Heinrich Mann in seiner Autobiographie ausgerechnet im Kontext seines Abschieds von Europa in einer scheinbar paradoxen Wendung von seinem Roman als einem «Buch der siegreichen und ermordeten Güte».137 Henris Großer Plan einer Konföderation der europäischen Länder zur Sicherung des Friedens und der Freiheit auf dem Kontinent ist das Modell, dem auch Mann selbst in den Jahren seines Exils anhängt: Eine solche friedliche Konföderation, die sich der europäischen Tradition des Geistes und der Vernunft verpflichtet weiß, ist sein bewusst gestalteter Gegenentwurf zu den hegemonialen und rein machtpolitisch ausgerichteten Europaentwürfen der Nationalsozialisten, und sollte zuletzt doch seine Durchsetzung gelingen, dann wäre Henri IV. tatsächlich seiner Ermordung zum Trotz siegreich gewesen.138

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S. 449). Peter Stein: Heinrich Mann, S. 133. Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre, S. 716. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 491. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass sich auch René Schickele zur selben Zeit – und ebenfalls im französischen Exil – intensiv mit der Figur von Henri IV. beschäftigt hat. Ursprünglich plante auch er, einen historischen Roman zu schreiben; er nimmt von diesem Projekt jedoch Abstand – wahrscheinlich, weil er über Heinrich Manns Auseinandersetzung mit dem Thema informiert war. Stattdessen hat Henri IV. dann einen kurzen Auftritt als Bezugspunkt des Notars Burguburu in Schickeles Roman Die Witwe Bosca. Ausdrücklich wird auch hier auf den friedliebenden Humanismus und nicht zuletzt auch auf Großen Plan des Königs verwiesen, wenn Burguburu ihn direkt anspricht: «Du hast niemand gefoltert, du, nicht die Spur warst du grausam in einem grausamen Jahrhundert, du konntest verzeihen, als niemand, nicht einmal die Kirche, vergab. Du hattest den Großen Plan, ganz Europa unter deinen Zylinderschlapphut zu bringen, du großer Schlecker und Lecker – und dann Friede mit euch!» (René Schickele: Die Witwe Bosca, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1985, S. 109). Vgl. zu Schickeles Beschäftigung mit dem Thema auch die Anmerkungen, die er in einem Brief an Thomas Mann über seine Lektüre von Heinrich Manns Roman macht (René Schickele an Thomas Mann, 17.10.1935, in: Thomas Mann/René Schickele: Jahre des Unmuts, S. 85–86). Vgl. schließlich auch Annemarie Post-Martens: PAN-Logismus. René Schickeles Poetik im Jahr der ‹Wende› 1932, Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld 2002, S. 164 und S. 177–180.

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Heinrich Mann entwirft die Konföderation europäischer Staaten, die ihm wie seiner Romanfigur vorschwebt, nach dem Modell des britischen Commonwealth of Nations,139 und sein Entwurf versteht sich diesem Vorbild entsprechend als freiwilliger Zusammenschluss von souveränen Staaten zum Zweck der Wahrung des Gemeinwohls dieser Staaten. Nicht umsonst orientiert sich seine Vorstellung an dem konföderativen Nachfolgemodell des britischen Empires: Vor allem in den Jahren nach der französischen Niederlage gegen die Deutschen, die von ihm als der Anfang vom Ende des Kontinents empfunden wird,140 gerät das freie Großbritannien mit seine freiheitlichen Verfassung immer mehr in den Blick Manns. So bindet er seine Idee von einem europäischen Commonwealth explizit zurück an ihr britisches Vorbild, wenn er schreibt: Nur Großbritannien beabsichtigt eine neue europäische Ordnung, die wirklich Ordnung wäre. Sie wollen ein europäisches commonwealth, das Freiwilligkeit voraussetzt und die Freiheit allen zur schönen Pflicht macht.141

Großbritannien wird so zum Garanten dafür, dass die sinnbildlich für ein sich geistig definierendes Europa stehenden Werte von Humanismus und Rationalismus immerhin in Teilen des Kontinents noch immer ihre Gültigkeit besitzen. Ausdrücklich fordert Mann das Land deshalb auf, sich zu seiner europäischen Verantwortung zu bekennen: Sich splendid isolieren, das kommt nicht wieder. Sondern Abhängigkeit ist verordnet. Sondern Verantwortung auferlegt. Aus diesem Europa etwas Besseres machen als jener Unglückliche und Sieger ins Leere hinein vermöchte, – heisst der Auftrag. Dem Weltteil die Freiheit retten, heisst das Gesetz.142

Heinrich Mann selbst fasst seine Aufzeichnungen aus den ersten Monaten des Krieges und die später verfasste Einführung dazu unter dem Titel Zur Zeit von Winston Churchill zusammen, weil die Figur Churchills in diesen Jahren für ihn zum Repräsentanten all dessen wird, was er von England für Europa erhofft. Zur Zeit von Winston Churchill – dieser hoffnungsvolle Titel macht aus dem britischen Premierminister diejenige Figur, die das ganze Zeitalter weit mehr prägt, als es ihr deutscher Gegenspieler jemals vermöchte. Und tatsächlich bezieht sich Heinrich Mann immer wieder in diesem Sinne auf Churchill – etwa, wenn ihn in seinem kurzen Essay Größe und Elend Europas als einen Politiker darstellt, der sich vor allem durch seine Volksverbundenheit und dadurch nicht von ungefähr durch jene Eigenschaft auszeichnet, die schon aus Henri IV. einen ‹guten Herrscher› gemacht hatte. In Churchill ist in Manns Augen außerdem die Idealvorstellung von dem Intellektuellen an der Macht verwirklicht, die er immer wieder propagiert hatte

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Vgl. Heinrich Mann: Größe und Elend Europas, S. 42. Vgl. Heinrich Mann: Der kommende Mann, in: Ders.: Mut, S. 86–93, hier S. 87. Heinrich Mann: Größe und Elend Europas, S. 42. Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 77–78. Ganz ähnlich auch in der Autobiographie, vgl. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 99.

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– und gerade durch diese ihm von Mann zugeschriebene Intellektualität wird er zum perfekten Gegenspieler Hitlers, dem eben diese Intellektualität fehlt: Das hohle Triumphgeschrei, ‹Wir haben schon gesiegt›, ist weniger bedeutenden Erscheinungen vorbehalten, als diesem höchst merkwürdigen Prime Minister Seiner Majestät. Er wurde es spät im Leben, war vordem manches Andere, Soldat und Schriftsteller, unverstandener Kämpfer und Schwimmer gegen den Strom. Aufgehalten wie er zu lange gewesen ist von der menschlichen Trägheit, trug allein die eigene Erkenntniss [sic] ihn und sein Glück. Er weiss zu viel; Krieg und Sieg sind ihm besten Falles ein tragisches Verfahren um ein altes Volk zu verjüngen: welche moralische Kraft und neue Tüchtigkeit schuldet England dem einen Erzieher.143

Manns Festhalten an dieser Idee des Intellektuellen an der Macht ermöglicht es ihm so, den europäischen Konflikt in den beiden Antagonisten Hitler und Churchill zu personifizieren. Dabei repräsentieren beide Figuren jeweils einen Entwurf für Europa, der dem des anderen diametral entgegengesetzt ist: Verdeutschung Europas oder europäisches commonwealth?, so lautet die Frage, auf die sich der Zweite Weltkrieg in Bezug auf die künftige Verfasstheit des Kontinents immer klarer zuspitzen lässt. Heinrich Mann geht dabei von der Vorstellung aus, dass die Idee einer europäischen Einigung für beide Seiten maßgeblich ist, trotz der sehr unterschiedlichen Interessen, die sie mit dieser Idee verfolgen, und trotz der sehr unterschiedlichen Bedeutung, die sie ihr beimessen: «Dies fällt auf: ein Gedanke von unbegrenzter Potenz, die Einigung Europas, erfasst auch seine Feinde, – die ihn schänden, was vermöchten sie anders.»144 Der Kontinent als «grosse[s] Straflager»,145 darauf reduzierten sich die Europavorstellungen von Hitler und seinen Anhängern. Heinrich Manns eigene Idee einer europäischen Konföderation, die er autosuggestiv immer wieder als «Kriegsziel Englands» beschreibt,146 richtet sich explizit gegen die Pervertierung, die diese deutsche Variante des europäischen Gedankens für ihn bedeuten muss. Angesichts dieser Alternative von Straflager oder Gemeinwohl konstatiert Mann eine «Ungleichzeitigkeit» Europas,147 die durch die unterschiedlichen politischen Systeme der einzelnen europäischen Länder hervorgerufen werde: «Die Länder dieses Erdteiles leben in mehr oder weniger verschiedenen Epochen»,148 schreibt er, um als wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung seiner europäischen Konföderation zunächst die Synchronisierung der Regime zu fordern. Hier sind nun vor allem Manns Sympathien für den Sozialismus auch sowjetischer Prägung maßgeblich für die Vorstellungen, die er in diesen Jahren von Europa entwickelt: Eine Synchronisierung der politischen Systeme, das muss vor diesem Hintergrund immer die weitere Verbreitung der Ideen des von ihm propagierten

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Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 88. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 89. Heinrich Mann: Das Friedenstreffen, in: Ders: Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays, Berlin/Weimar: Aufbau 1971, S. 197–202, hier S. 200. Ebd.

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humanistisch ausgerichteten Sozialismus bedeuten.149 «Der neue Humanismus wird sozialistisch sein»,150 betont Mann und fordert deshalb den Zusammenschluss all jener Parteien, die sich seiner Meinung nach von ähnlichen humanistisch-sozialistischen Ideen leiten lassen: Christen, Marxisten und Humanisten sollen sich zu einer gemeinsamen Volksfront gegen den Nationalsozialismus zusammenschließen.151 Seine sozialistischen Überzeugungen bringen Heinrich Mann schließlich auch zu einer räumlichen Erweiterung seines Bildes von Europa. Hatte er den Kontinent in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren noch ausgehend von einem Kerneuropa um Deutschland und Frankreich entworfen, so ergänzt er diese Konzeption jetzt immer dezidierter um die Sowjetunion: Frankreich und das künftige Deutschland nach unserem Herzen sind bestimmt, einander vorwärts zu helfen, im Bund mit der Sowjetunion. Europa wird zum ersten Mal wahrhaft gesichert sein, wenn diese Drei einander gefunden haben. Dafür wollen wir arbeiten.152

Vor allem in seiner Autobiographie fällt dabei der unkritische Gestus auf, mit dem Heinrich Mann die politische Ordnung der Sowjetunion betrachtet: Wenn es um die Zukunft Europas geht, steht die Sowjetunion für ihn gleichberechtigt neben Frankreich und Großbritannien;153 die europäische Wesensart und Gesinnung, die Mann ihr in diesem Kontext zubilligt, zeigt sich dabei in der Tatsache, dass er die russische Oktoberrevolution von 1917 als notwendige Fortsetzung der Französischen Revolution von 1789 betrachtet und hervorhebt, beide Bewegungen seien von derselben «Menschenpflicht» und «Wahrheitsliebe» geleitet gewesen.154 Auch hier ist es die vermeintlich außergewöhnliche Orientierung der Sowjetunion am ‹Geist› und insbesondere an seiner Realisierung in der Literatur, die diese Annahme für Heinrich Mann plausibel macht: «Die Oktoberrevolution ist, wie jede echte, tiefe Revolution, die Verwirklichung einer hundertjährigen Literatur.»155 In völliger Verkennung der Tatsachen kann er vor diesem Hintergrund selbst die Moskauer

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Nicht umsonst ist der Text Das Friedenstreffen, in dem Mann die erwähnte Synchronisierung der Systeme fordert, nicht in den Essay-Bänden der Frankfurter Gesamtausgabe veröffentlicht, sondern ausschließlich in einer Anthologie des Aufbau-Verlags von Anfang der siebziger Jahre, die bewusst Texte versammelt, die die Herausgeber als «antifaschistische Streitschriften» verstanden wissen wollen. Heinrich Mann: Rettung der Zivilisation, in: Ders.: Mut, S. 219–224, hier S. 223. Vgl. Heinrich Mann: Christenverfolgung, ebd., S. 171–179, hier S. 176. Vgl. zu Manns Engagement für eine antifaschistische Volksfront auch Brigitte Bulitta/Christiane Wanzeck: «Genug, es steht nicht so, daß andere handelten, während wir große Worte machten». Zu Heinrich und Klaus Manns Bemühungen um eine antifaschistische Volksfront im Exil, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 13 (1995), S. 31–55. Heinrich Mann: Antwort an Viele, in: Ders.: Mut, S. 299–302, hier S. 301–302. «Großbritannien und die Sowjetunion, nur sie enthalten alle Kräfte, deren Europa bedarf, gesetzt, es sollte nochmals leben. Verantwortet wird das neue Europa von ihnen allein.» (Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 90). Ebd., S. 43. Ebd., S. 61.

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Prozesse von 1937 rechtfertigen: «Da ist der große Dialog zwischen dem Staatsanwalt und dem Journalisten Radek: wörtlich könnte er bei Dostojewski stehen.»156 Auch Josef Stalin selbst muss in diesem Kontext der von Mann angenommenen genuinen Geistnähe und der daraus erwachsenden europäischen Verpflichtung der Sowjetunion notwendigerweise seinem Idealbild eines intellektuellen Politikers entsprechen, und als ein solcher steht er in einer Reihe mit Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt. Von diesen dreien erwartet Mann – durchaus zu Recht – dass sie es sein werden, die dem Hegemoniestreben Hitlers schließlich Einhalt gebieten werden; zweifelhaft mag dabei lediglich die Emphase erscheinen, mit der er im selben Atemzug die Intellektualität der drei Staatsmänner und ihre Ebenbürtigkeit in geistiger Hinsicht betont.157 Schließlich enden also auch Heinrich Manns Entwürfe für ein Europa jenseits des nationalsozialistischen Hegemoniestrebens wieder – wie schon so oft – an jenem Punkt, an dem es zuletzt der Geist ist, der entscheidet: Ob deutsch-französische Verständigung, ob europäische Konföderation unter englischer Führung, ob Sozialismus nach sowjetischem Vorbild – immer geht es für Heinrich Mann vor allem anderen um Intellektualität, um Geist, um Literatur. Schließlich enden jedoch alle diese Entwürfe mit dem eigenen Abschied von Europa und dem Aufbruch in ein zweites, ein außereuropäisches Exil. Auch wenn der durch den Nationalsozialismus in Frage gestellte Kontinent zuletzt unmittelbar nur noch als «ungastliche[s] Europa» der Emigration erfahren werden konnte,158 und auch wenn es eine «aufgelöste Welt» war,159 durch die man als Emigrant von einem Land ins andere zu flüchten hatte – immerhin hatte diese Welt Bestand, solange man selbst noch die Möglichkeit hatte, zu schreiben und zu publizieren und schreibend und publizierend am Kampf für die Zukunft dieser Welt teilzuhaben. Nach dem Abschied von Europa wird ein anderer Kampf zu kämpfen sein: «Drüben, wie man es nennt, als gäbe es noch ein Diesseits, wird darum gekämpft werden, zu bleiben, der man war.»160

5.5

Die Erfahrungen eines abgereisten Europäers

Das Ende von Heinrich Manns Roman über Henri IV. ist in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts verlegt: In einer Art apotheotischer Szene erscheint der ermordete Henri noch einmal auf einer Wolke, um die Menschheit an sein Vermächtnis zu erinnern und sie aufzufordern, seinem Beispiel zu folgen: Seht mir in die Augen. Ich bin ein Mensch wie ihr; der Tod tut dabei nichts zur Sache, noch auch die Jahrhunderte, die uns trennen. […] Bewahrt euch all euren Mut, mitten im fürchterlichen Handgemenge, in dem so viele mächtige Feinde euch bedrohen. Es gibt immer Unterdrücker des Volkes, die habe ich schon zu meiner Zeit nicht geliebt;

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Ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 173. Heinrich Mann: Huldigung an die österreichische Seele, in: Ders.: Mut, S. 39–44, hier S. 42. Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 18. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 487.

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kaum, daß sie ihr Kleid gewechselt haben, keineswegs aber ihr Gesicht. Ich habe den König von Spanien gehaßt, der euch unter anderem Namen bekannt ist. Er denkt noch lange nicht daran, zu verzichten auf seine Anmaßung, Europa zu verführen, und zu allererst mein Königreich Frankreich. Nun, dieses Frankreich, das das meine war […] ist immer noch der Vorposten der menschlichen Freiheiten […]. Es ist einzig in seiner Art, dieses Volk, das seiner Natur nach ebenso gut zu sprechen wie zu kämpfen weiß. Es ist, alles in allem, das Land, in dem die meiste Güte lebt.161

Die historische Analogie zwischen seiner Zeit und der Gegenwart Heinrich Manns, die Henri hier bewusst herstellt, setzt einmal mehr auch beider Kämpfe miteinander in Verbindung: Ebenso wie Henri den Machtansprüchen Philipps II. von Spanien mit Härte begegnen musste, um den Frieden für Europa zu sichern, so gilt es, aus demselben Grund jetzt auch diejenigen Hitlers einzudämmen. Einmal mehr wird dabei die besondere Rolle Frankreichs unterstrichen, und einmal mehr wird diese Rolle durch die Betonung der angeblich spezifisch französischen Befähigungen sowohl zum Sprechen als auch zum Kämpfen aus der Synthese von Geist und Tat hergeleitet, die für Mann die Grundbedingung für die ‹menschlichen Freiheiten› ist, wie er sie immer wieder gefordert hat. Der Kontext ist bekannt – aber die Formulierung, mit der Henri seine Passage beschließt und in der er Frankreich als dasjenige Land bezeichnet, in dem «die meiste Güte lebt» – diese Formulierung ist neu in dem alten Zusammenhang von Geist und Tat. Sie ist ein Zitat, das Heinrich Mann hier zwar nicht als solches kenntlich macht, auf das er aber an anderer Stelle noch einmal und dann tatsächlich unter Angabe seiner Quelle verweist: «La France est, en somme, la pays [sic!] où il y a le plus de bonté, et où tout arrive cent ans plus tôt qu’ailleurs.» – der Satz stammt von Jules Lemaître und wird in der Autobiographie mit Hinweis auf die in Europa zurückgelassene Bibliothek aus dem Kopf zitiert.162 Interessant ist nun der Zusammenhang, in dem das geschieht: Das LemaîtreZitat beschließt in den Memoiren einen Abschnitt desjenigen Kapitels, das ‹Fortsetzung der Autobiographie› überschrieben ist und in dem Mann sich mit den Bedingungen und Erfahrungen seines Lebens beschäftigt, von denen er glaubt, sie seien für bestimmte besondere Ausprägungen seines Wesens und Geistes verantwortlich. Der Abschnitt des Kapitels, der mit dem Lemaître-Zitat endet, heißt Skepsis, und er erscheint im Kontext des ganzen Kapitels insofern in besonderer Weise herausgehoben, als er der einzige der Abschnitte darin ist, der eine solche direkt auf die darin verhandelte Geisteshaltung verweisende Überschrift hat: Alle anderen bleiben eher im Allgemeinen. Unter der Überschrift Skepsis entwickelt Heinrich Mann nun eine Vorstellung von dieser Haltung der Skepsis, die diese direkt aus der menschlichen Vernunft ableitet und die sie schließlich zur «kultivierteste[n] Form» des «geistigen – und politischen – Verkehr[s] mit Menschen» erklärt.163

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Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre, S. 901 und 903. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 216. Ebd.

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Dass er hier ausdrücklich auf die Politik verweist, ist dabei für Manns Verständnis der Skepsis bezeichnend. Für ihn ist die Skepsis eine Position der überlegten Reife – so beschreibt er ausführlich, dass ihn als jungen Mann keinerlei Zweifel daran gehindert hätten, durch die Anlage seiner Romane und durch ihre Gestaltung durchaus auch im Politischen bewusst Position zu beziehen. Zweifel seien erst dort geboten gewesen, wo es darum ging, direkt und in eigener Person zu sprechen: Schnell, sogar vorzeitig kam ich mit Romanen, die Wahrheiten abhandeln, nicht erörtern. Ich war ein Gestalter; Zweifel blieben mir hinsichtlich meines Rechtes zu reden. Die innere Nötigung, seine Gedanken zu äußern, fehlt einem Autor, dessen Geschöpfe sie schon verkörpert haben. Die Not der Zeit hat mich dennoch reden lassen.164

Die Unterscheidung zwischen «abhandeln» und «erörtern», die Mann hier vornimmt, ist in seinem Zusammenhang von der Skepsis essentiell. Der Skeptiker ist derjenige, der die Wahrheit erörtert – nicht derjenige, der sie schon kennt und nur noch darzustellen oder abzuhandeln hat. Während man als «Gestalter» von Romanen also agiert, als sei man bereits im Besitz der Wahrheiten, um die es geht, ist für den Redner in der Öffentlichkeit mehr Skepsis geboten. So, wie Mann hier seinen eigenen Weg zur Skepsis beschreibt, ist diese Grundhaltung des Infragestellens eine Haltung, die schließlich gerade aus dem Zweifel heraus jenen Mut erforderlich macht, den Henri IV. in seiner postumen Ansprache von der Wolke herab von Manns Zeitgenossen fordert: Den Mut nämlich, auch in Zeiten, in denen vermeintlich keine Fragen mehr offen sind, dennoch welche zu stellen und sie öffentlich zu formulieren. So, wie José Ortega y Gasset seiner essentiellen Skepsis insbesondere in denjenigen seiner Texte Ausdruck verleiht, die er selbst als «ensayos» bezeichnet, als Versuche oder eben als Essays,165 so sind es nun auch bei Heinrich Mann immer wieder vor allem die Essays, deren Funktion darin besteht, die vermeintlichen Gewissheiten der Romane immer wieder neu in Zweifel zu ziehen. Auch bei Mann sind sie der Ort, um zu reflektieren und zu erörtern, und es ist insofern kein Zufall, dass das Thema Europa seinen Platz auch bei ihm eher in den Essays und weniger in den Romanen gefunden hat. In seiner Autobiographie lässt Heinrich Mann nun die verschiedenen Etappen Revue passieren, in denen diese (zumeist politischen) Essays entstanden sind, angefangen mit jenen, die vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben wurden, «als das Kaiserreich in voller Macht und Blüte stand»,166 über diejenigen aus der Zeit der Weimarer Republik, in der immerhin «das freie Wort […] von der Verfassung gewährleistet» war,167 bis schließlich in die Gegenwart der Autobiographie. Die skeptische Grundhaltung, die am Anfang dieser Essays steht, begleitet sie umso mehr bis zum Schluss, als Mann im Laufe der Zeit immer deutlicher ein Gefühl für die Sinnlosigkeit seines Tuns bekommt:

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Ebd., S. 206. Vgl. Kapitel 3.4 Europa: Ein Versuch. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 207. Ebd.

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Eingestanden sei, daß ich mich nicht wirklich als einen Kämpfer fühlte. Dafür durchschaute ich zu deutlich die Vergeblichkeit des Kampfes – und begleitete meine eigenen moralistischen Übungen mit dem Lächeln des Zweifels, das allein sie mir selbst erträglich machte.168

Die Relativierung des eigenen moralischen Impetus, die Mann hier vornimmt, überrascht angesichts der Emphase, mit der er immer wieder gerade die moralischethische Zielsetzung seines Handelns und Schreibens betont hatte; sie ist jedoch in seinem Zusammenhang von der Skepsis nur konsequent: Wenn Mann in der Folge ausdrücklich auf Michel de Montaigne als maßgebliche Leitfigur des Skeptizismus hinweist, dann, weil sich dessen Skepsis zwar auf «Welt und Überwelt», aber eben gerade nicht auf «unser sittliches Bewußtsein» erstreckt habe.169 Die scheinbare Zwiespältigkeit von Manns Argumentation an dieser Stelle ist in Wirklichkeit selbst ein wesentliches Merkmal der Skepsis, die er als Grundeinstellung seines schriftstellerischen und politischen Wirkens reklamiert: So unterstreicht er zwar einerseits seine Zweifel an der Durchsetzbarkeit seiner eigenen moralisch begründeten Ziele, betont aber andererseits mit Montaigne die Tatsache, dass diese Moral über jeden Zweifel erhaben sein müsse. Wenn er allerdings Montaigne mit dem Satz zitiert, es gebe «verlorene Schlachten, die zu triumphieren mehr Anlaß geben als Siege»,170 dann wird deutlich, warum der vermeintliche Widerspruch schließlich doch keiner ist: Der Kampf für die gerechte Sache muss für Heinrich Mann immer allein deshalb nützlich und lohnend sein, weil er Kampf ist, auch und gerade aus der Skepsis heraus – und allen Niederlagen zum Trotz. Als einen solchen Kampf für die gerechte Sache versteht Heinrich Mann die Literatur im allgemeinen und seine eigene im besonderen – seine Romane, in denen er wie in der Autobiographie «das Zeitalter besichtigt[…]»,171 wie er später eben in dieser Autobiographie schreibt, aber mehr noch seine Essays, in denen er die Bedingungen dieses Zeitalters analysiert und die Möglichkeiten für seine Zukunft erörtert. Die Grundhaltung des Kampfes und der Auseinandersetzung, die Mann als das wesentliche Charaktermerkmal Europas versteht,172 ist auf diese Weise das tertium comparationis zwischen dem Kontinent und seiner Literatur, und die von Mann reklamierte Skepsis ist dabei diejenige Einstellung,

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Ebd., S. 207–208. Ebd., S. 215. Ebd. Ebd., S. 206. Vgl. Heinrich Mann: An der Bahre T. G. Masaryks, S. 217–218. Interessant ist hier der Bezug zu Miguel de Unamunos Überlegungen zum grundsätzlich agonalen, d. h. ebenfalls kämpferischen, Wesen Europas – und umso mehr, als Heinrich Mann sich unmittelbar vor seinen Ausführungen zu Skepsis und Kampf direkt auf Unamuno bezieht, den er bei der Jahrhundertfeier für Victor Hugo in Paris erlebt hat und den er ausdrücklich wegen seiner republikanischen Gesinnung hervorhebt. Dass Manns eigene Rede bei dieser Jahrhundertfeier vor allem Hugos Wort von den «Vereinigten Staaten von Europa» kommentiert, versteht sich in diesem Zusammenhang dann beinahe von selbst.

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die den europäischen Kampf überhaupt erst ermöglicht. Heinrich Mann bezeichnet deshalb Michel de Montaigne ausdrücklich als den «Vater des Zweifels», und er hält ihn gerade wegen dieses Zweifels für die Vollendung des europäischen Geistes schlechthin. Ausgehend von der von ihm angenommenen genuinen Verbindung zwischen der europäischen Literatur und Europa selbst wird deutlich, worum es ihm in diesem Zusammenhang geht. So schreibt er explizit über Montaigne – und damit implizit auch über Europa: «Sein Que sais-je bezeichnet in Wahrheit die Höhe des europäischen Wissens.»173 Montaigne tritt deshalb auch in dem Henri-Quatre-Roman an verschiedenen Stellen als Gesprächspartner und väterlicher Freund Henris in Erscheinung, und auch hier ist es die Skepsis seines ‹Que sais-je›, die den König für ihn einnimmt und die dessen eigene politische und philosophische Überzeugungen maßgeblich prägt. Als der junge Henri den älteren Edelmann fragt, welche Religion denn nun die rechte sei, antwortet der mit dem berühmten Satz: «Was weiß ich?»,174 und weist den König mit diesem knappen Satz deutlicher auf die Widersinnigkeit der Religionskriege hin, als er es mit jeder ausführlichen Lehre vermocht hätte. Im Verlauf des Romans kommt Henri deshalb wieder auf dieses «Was weiß ich?» zurück,175 und zeigt damit, dass er Montaignes Lektion der Skepsis verinnerlicht hat. Sie ist es, die aus dem jungen Henri schließlich den humanistisch orientierten guten König macht, als den Heinrich Mann ihn beschreibt: denjenigen nämlich, der in seinem Großen Plan eines Zusammenschlusses der europäischen Völker die Konsequenzen aus seiner frühen Erkenntnis von der Absurdität des Krieges um Grenzen und Gesinnungen zu ziehen weiß.176 Trotz dieser Erkenntnis weiß Henri wie Heinrich Mann um die Unabdingbarkeit des Kampfes für den Großen Plan und für Europa. Dieses Wissen geht so weit, dass er sogar in diesem einen Punkt seine eigene skeptische Maxime in Abrede stellt, wenn er feststellt: «Unser klarer Gedanke eines Bundes freier Völker wird früher oder später den Sieg haben. Was weiß ich, gilt hier nicht. Dies wissen wir.»177 Und tatsächlich: Der Umstand, dass Henri bei seiner Lektüre von Cervantes’ Don Quijote nicht dieselbe Zerstreuung und Belustigung findet, wie sie angeblich der spanische König beim Lesen desselben Buches erlebt habe, findet seine Erklärung vor diesem Hintergrund in Henris ausgeprägtem Bewusstsein für die Notwendigkeit, bisweilen auch gegen vermeintliche Windmühlen zu

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Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 214. Vgl. zu Manns autobiographischem Selbstentwurf als skeptischer Betrachter seines Zeitalters Wei Hu: Auf der Suche nach der verlorenen Welt, S. 133. Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre, S. 372. Vgl. etwa ebd., S. 483. Vgl. zur Darstellung von Montaigne in den Henri-Quatre-Romanen auch Ekkehard Blattmann: Studien zu Montaigne und zu Heinrich Mann. Zur Textkonstitution von Montaignes Essay II,6; zu Montaigne in Heinrich Manns Henri-Quatre-Roman, Frankfurt am Main: Lang 1992; und Chantal Simonin: Heinrich Mann et la France. Une biographie intellectuelle, S. 330 und S. 342. Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre, S. 818.

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Feld zu ziehen: «Warum lachen alle? Jemand glaubt zu kämpfen, in Wahrheit wird er gefoppt.»178 Die Literatur als Darstellung – und als Mittel! – auch des vermeintlich aussichtslosen Kampfes kommt erst in Henris Cervantes-Lektüre zu ihrem eigentlichen Recht, und bezeichnend ist, dass ausgerechnet sein Gegenspieler in der Auseinandersetzung um Europas Zukunft, Philipp II. von Spanien, diese tiefere Bedeutung der Literatur ganz offensichtlich dadurch verkennt, dass er sie allein zu seiner Unterhaltung heranzieht. Heinrich Manns eigener Anspruch an die Literatur, so wie er ihn im Laufe der Jahre immer wieder formuliert, deckt sich dagegen mit demjenigen Henris: Die Literatur kann bei ihm niemals losgelöst von ihrem politischen und gesellschaftlichen Kontext gelesen werden; und gerade in der Frage nach Europa und seiner Verfasstheit ist immer wieder sie es, die die Richtung vorzugeben hat – gemäß der grundsätzlichen Überstimmung, die Mann zwischen dem Medium Literatur und Europa als seinem Rahmen einerseits und seinem Thema andererseits immer wieder betont. Die Literatur ist für ihn «ein Mittel dieses um sein Leben kämpfenden Erdteils»,179 und wenn er dabei immer neu vor allem ihre Verbindung zum Leben betont, dann fällt auch in diesem Zusammenhang besonders auf, dass Manns Beschreibungen der Literatur sich in ihren maßgeblichen Punkten stets mit seinen Beschreibungen von Europa decken: «Da die Literatur in allem das Leben wiederholt, ist sie eine Einheit. Ihre Vielfalt, ihre Widersprüche, ihre Vergeßlichkeit ergeben etwas Ganzes.»180 Diese Einheit aus der Vielfalt heraus ist das Merkmal, das auch Europa immer wieder auszeichnet – Europa, das für Heinrich Mann in seinen vielfältigen Bewegungen immer schon auf den Moment des Abschieds vorauszudeuten scheint, den er schließlich tatsächlich zu nehmen gezwungen ist. 1941 schreibt Mann in der Einführung zu seinem Kriegstagebuch, dieses enthalte die «Erfahrungen eines abgereisten Europäers mit seinem Europa».181 Die Formulierung von der Abreise scheint hier zwar die Endgültigkeit des Abschieds zu relativieren – aber der Rückblick, den Mann in dieser Einführung anstellt, ist dennoch der eines Menschen, dessen Abreise vollendete Tatsachen geschaffen hat. Wenn er deshalb in der Folge besonders hervorhebt, er habe auch diejenigen Passagen für die Publikation seines Tagebuchs darin belassen, die sich inzwischen offensichtlich als Fehleinschätzungen erwiesen hätten, dann, weil er seinen Irrtümern gerade in Bezug auf Europa einen besonderen Wert beimisst: «Die Irrtümer sind wörtlich stehen geblieben, ich bereue sie nicht. Die Irrtümer sind, was am Reichlichsten lohnt. Gegen die augenfällige Wirklichkeit gehalten, zeigen sie, wer wir waren und warum.»182

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Ebd., S. 817. Heinrich Mann: Philippe Soupault oder Der junge Franco-Europäer, in: Ders.: Geist und Tat. Franzosen 1780–1930, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1997, S. 212–232, hier S. 229. Heinrich Mann: Das geistige Erbe, in: Ders.: Mut, S. 185–192, hier S. 187. Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. 22. Ebd.

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Die Irrtümer sind das Privileg der Literatur. Sie sind es, die jede Skepsis rechtfertigen, begründen und notwendig machen. Und sie sind es, die zuletzt keinen Abschied von Europa so endgültig sein lassen, wie er auf den ersten Blick scheinen mag, weil das letzte Wort niemals gesprochen ist in Bezug auf Europa, dieses «Wesen, das nie stillhält».183

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Ebd., S. 11.

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Reise: André Gide und Klaus Mann

Zusammen mit seiner Schwester Erika unternimmt Klaus Mann 1927/28 eine Weltreise, von der die Geschwister hinterher in dem Buch Rundherum. Abenteuer einer Weltreise (1929) erzählen. Nachdem sie mehrere Monate in den USA verbracht haben und dann über Hawaii nach Japan gereist sind, berichten die beiden von ihrem Aufenthalt dort in Kyoto: In Kyoto war es auch, wo wir’s einrichteten, daß André Gide und Annette Kolb selbander den Buddhatempel besuchten; wir trugen uns, mit ihren Namen, säuberlich ins Gästebuch ein. Einerseits, um den französischen Konsul zu schrecken, von dem wir, daß er uns auf dem Fuße folgte, wußten (welche Vorwürfe er sich machen mußte, von Gides Anwesenheit in Japan nichts gewußt zu haben!) –, andererseits aber, weil wir fanden, daß die beiden miteinander reisen sollten und daß wir sie auch gern hier träfen.1

Die Tatsache, dass Klaus Mann hier in der Maske von André Gide auftritt, ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen zeugt die japanische Episode trotz ihrer Ironie von der tiefen Bewunderung, mit der Mann dem um eine Generation älteren französischen Schriftsteller zeit seines Lebens begegnet ist und der er in zahlreichen Essays und Aufsätzen über Gides Werk und besonders in seiner großen Studie André Gide und die Krise des modernen Denkens Ausdruck verliehen hat.2 Zum anderen aber ist auch der Rahmen bezeichnend, in dem der von Klaus und Erika Mann inszenierte (vermeintliche) Auftritt André Gides stattfindet: unterwegs nämlich, auf Reisen, in der Fremde und fern von einem Europa, das allenfalls noch in der schattenhaften Gestalt des den Geschwistern folgenden französischen Konsuls in Erscheinung tritt. Sowohl Klaus Mann als auch André Gide sind ihr Leben lang gereist; beide haben immer wieder über das Reisen und das Unterwegssein geschrieben, und beider Reisen und Bewegungen haben ihre literarischen Werke maßgeblich beeinflusst. Wenn Klaus Mann aus diesem Grund in seiner Monographie über André Gide insbesondere dessen Reiselust hervorhebt, und sie als eine bereits in Gides Charakter angelegte Form des Nomadismus beschreibt,3 dann vor allem auch deshalb, weil er sich seinem Vorbild Gide in genau dieser charakterlichen Ei-

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Erika und Klaus Mann: Rundherum. Abenteuer einer Weltreise, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 124. Die Studie ist zuerst auf Englisch unter dem Titel André Gide and the Crisis of Modern Thought (1943) in New York erschienen und später von Klaus Mann selbst ins Deutsche übersetzt worden. Die erste deutsche Veröffentlichung aus dem Jahr 1948 trägt den Titel André Gide. Die Geschichte eines Europäers. Vgl. Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, S. 31.

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genschaft ähnlich weiß.4 Gides rastloses, vagabundenhaftes Umherschweifen, das die meisten Interpreten seines Werkes betonen,5 wird für den jungen Klaus Mann vor allem insofern beispielhaft, als er sich selbst schon früh als Vertreter einer Generation beschreibt, deren wesentliches Merkmal eine durch den Einschnitt des Ersten Weltkriegs bedingte Ungebundenheit sei. Das Bild der Reise und des Unterwegsseins, das er im Leben und im Werk von André Gide so repräsentativ dargestellt und verwirklicht sieht und auf das er in diesem Zusammenhang immer wieder zurückgreift, dient ihm dazu, diese essentielle Erfahrung der Wurzellosigkeit auch für sich selbst und seine eigene Arbeit produktiv zu machen: Wohin wir uns wenden? Wir haben die eine Ummauerung verlassen, jetzt nur keine neue. Die Wege sind frei. Wovon die Bücher handeln müßten, ist sicher: von der Bewegtheit des Lebens und daß man nicht weiß, wohin sie uns führt. Vielleicht müßten sie viel auf Reisen spielen, in den fernen Ländern, nach denen unsere Sehnsucht geht und deren Weisheit, die uralte und die allerneueste, wir in uns aufnehmen wollen. In Afrika, dessen harte Luft uns heute mehr verlockt als Italien, dessen Schönheit uns wie ein ausgeträumter Traum erscheint, in Indien und China, in Amerika, dann –6

Die Sehnsucht nach der Fremde, die Klaus Mann hier als Merkmal seiner (literarischen) Generation und als epochenspezifische Eigenart beschreibt, hat er selbst allerdings nicht allein auf tatsächlichen Reisen wie der eingangs erwähnten Weltreise, sondern sehr viel allgemeiner auch in seinem Lebensstil insgesamt kultiviert – und zuletzt vielleicht auch kultivieren müssen. Er, der niemals eine eigene Wohnung oder eine feste Anschrift gehabt, sondern sein Leben lang entweder als Gast bei den Eltern oder aber in wechselnden Hotelzimmern gelebt hat,7 verliert die Bindung an die deutsche Heimat spätestens mit dem Beginn seines Exils im Jahr 1933 endgültig – der «Engel der Heimatlosen», den er in seinem Emigrationsroman Der Vulkan (1939) auftreten lässt, dürfte auch ihm selbst nur allzu gut bekannt gewesen sein.8 Mit seinem Gang ins Exil wird das

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Vgl. Axel Plathe: Klaus Mann und André Gide. Zur Wirkungsgeschichte französischer Literatur in Deutschland, Bonn: Bouvier 1987, S. 153–169. Plathe behandelt die Reiselust und den Nomadismus beider Schriftsteller vor dem Hintergrund dessen, was er als ihr «Außenseitertum» beschreibt und betont ausdrücklich «die Wirkung von Gides Reisen und deren literarische [sic] Darstellung auf Klaus Mann» (S. 154). Vgl. stellvertretend für viele Pierre Masson: André Gide. Voyage et écriture, Lyon: Presses universitaires 1983. Masson schreibt über Gide, dieser habe den Nomadismus als eine Art «Lebenskunst» gepredigt (vgl. S. 7), und stellt zugleich eine Beziehung zwischen Gides Leben und seinem Werk unter diesem Vorzeichen her: «une vie consacrée au nomadisme et une œuvre sous-tendue par ce thème» (S. 32). Klaus Mann: Fragment von der Jugend, in: Ders.: Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–1933, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 60–71, hier S. 70. Und der diesen Umstand durchaus auch bewusst ins Szene gesetzt hat: Vgl. dazu etwa das Gedicht Gruß an das Zwölfhundertste Hotelzimmer, in: Der Querschnitt 1 (1931), S. 552–553. Vgl. Klaus Mann: Der Vulkan. Roman unter Emigranten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 42006, besonders S. 517. Tatsächlich hat der Roman deutlich autobiographische Züge und das vor allem in Bezug auf die Frage der Heimatlosigkeit. Vgl. dazu das Nachwort zu dem Roman von Michael Töteberg, in dem es heißt: «Wer sonst hätte diesen ‹Roman

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Auf-der-Reise-Sein tatsächlich zu Klaus Manns eigentlicher Lebensform: Fortan führen ihn seine Exkursionen nicht mehr nur vom festen Zentrum seines Elternhauses in München aus auf zeitlich mehr oder weniger begrenzte Bildungs-, Vergnügungs- oder Recherchereisen wie zuvor, sondern er pendelt dauerhaft und dabei zunehmend rastlos zwischen den Ländern und Kontinenten. Der «Engel der Heimatlosen» in seinem Emigrantenroman agiert deshalb auch unter dem Namen «Engel der Entwurzelungs-Neurose».9 Mit dieser ironischen Anspielung verweist Mann auch auf die Schattenseiten des ansonsten stets von ihm gepriesenen Ungebundenseins: Das Reisen als Lebensform mag sich in der Tat dann zur Neurose auswachsen, wenn es so alternativlos stattfindet wie im Falle der Exilanten, von denen Der Vulkan erzählt. Dennoch ist der Begriff der Entwurzelung, der im Zusammenhang des Exilromans ironisch aufgeladen und negativ konnotiert verwendet wird, bei beiden Schriftstellern, bei Klaus Mann und in besonderem Maße bei André Gide, auch in einem deutlich positiveren Sinne relevant – und das gerade im Zusammenhang mit ihren Überlegungen zu Europa. In einer Rezension zu Maurice Barrès’ Roman Les Déracinés (1897), in dem dieser eine kritische Analyse der französischen Gesellschaft mit Blick auf die durch deren Zentralismus immer wieder notwendige «Entwurzelung» der jungen Leute aus der Provinz unternimmt,10 stellt André Gide Barrès’ Plädoyer gegen die Entwurzelung seine eigene These von deren Notwendigkeit und Nützlichkeit entgegen. In der berühmt gewordenen Eingangspassage dieser Rezension heißt es gewollt autobiographisch: «Né à Paris, d’un père Uzétien et d’une mère normande, où voulez-vous, Monsieur Barrès, que je m’enracine? J’ai donc pris le parti de voyager.»11 Indem er Barrès und dessen dezidiertem Lothringertum auf diese Weise seine eigene doppelte Prägung durch den südfranzösischen Vater und die Mutter aus dem Norden entgegensetzt, führt Gide schon in den ersten Sätzen seines Textes die barrèssche Konzeption von der Notwendigkeit einer Verwurzelung in einer eng umgrenzten Region ad absurdum. Statt dessen versteht er die eigenen Reisen mit Blick auf die ihnen zugrunde liegende Wurzellosigkeit als Ausdruck eines Kosmopolitismus, von dem er

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unter Emigranten› schreiben können: Klaus Mann […] kannte die provisorische Existenz der Heimatlosen in der Fremde, hatte die Nöte, Ängste und Hoffnungen selbst erlebt, wußte von den Krisen und der Verzweiflung, die ihn und seinesgleichen überfielen.» (Michael Töteberg: Nachwort, in: Der Vulkan, S. 559–571, hier S. 559). Klaus Mann: Der Vulkan, S. 519. Vgl. dazu Wiebke Bendrath: Ich, Region, Nation. Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland, Tübingen: Niemeyer 2003, besonders S. 66–81. Bendrath betont, Barrès habe mit Les Déracinés insofern «ein Gegenstück zum herkömmlichen Bildungsroman» geschaffen, als seine Kritik auf das «republikanische Bildungssystem als Ursache für die Auflösung der traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhänge» ziele (S. 66); dieser Linie folgend interpretiert sie den Roman als Plädoyer für eine Dezentralisierung Frankreichs (vgl. S. 81). Vgl. auch Peter Schnyder: Gide face à Barrès, in: Orbis litterarum 40 (1985), S. 33–43. André Gide: A propos des Déracinés, in: Ders.: Œuvres Complètes II, Paris: Nouvelle Revue Française 1933, S. 435–444, hier S. 437.

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betont, er sei für all diejenigen unabdingbar, deren Charakter immer wieder auf die Herausforderung durch das Neue und Außergewöhnliche angewiesen sei.12 Die Reise fungiert in diesem Kontext als Metapher für das Ungebundensein und für die daraus resultierende grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber fremden Einflüssen.13 Vor diesem Hintergrund kann die Entwurzelung für Gide ganz ausdrücklich «une école de vertu» sein,14 die die Grundlagen für die Weiterentwicklung und die Bildung starker Persönlichkeiten zu schaffen hat: Aux faibles l’enracinement, l’encroûtement dans les habitudes héréditaires qui les empêcheront d’avoir froid. Mais à ceux qui, non plus faibles, ne cherchent pas, avant tout, leur confort, à ceux-ci, le déracinement, proportionné autant qu’il se peut à leur force, à leur vertu – la recherche du dépaysement qui exigera d’eux la plus grande vertu possible. Et peut-être pourrait-on mesurer la valeur d’un homme au degré de dépaysement (physique ou intellectuel) qu’il est capable de maîtriser.15

Gerade diejenigen also, die man als die intellektuelle Elite verstehen könnte, sollen sich zu ihrer Wurzellosigkeit bekennen – und es ist bezeichnend, dass Gide in diesem Zusammenhang selbst die Unterscheidung zwischen dem tatsächlichen, dem physischen, und dem allein intellektuellen Fremdsein oder Fremdwerden einebnet: Damit wird deutlich, wie sehr die Rede von der Ver- oder der Entwurzelung und auch diejenige von der Reise bei ihm tatsächlich auf ein Verständnis dieser Begriffe zurückgreift, das immer auch metaphorisch gefärbt ist. Ein solches metaphorisches Verständnis der Reise und des Unterwegsseins soll auch der Untersuchung von André Gides und Klaus Manns Überlegungen zu Europa zugrunde liegen, die im folgenden Kapitel unternommen wird. Dabei steht die Reise – ganz im Sinne von Gides Verständnis des déracinement – nicht nur für die grundsätzliche Bereitschaft, immer wieder neue Anfänge zu suchen und neue Eindrücke zu sammeln, sondern auch für diejenige, einen immer wieder neuen Blick auf das vermeintlich bereits Bekannte und Vertraute der eigenen Herkunft zu wagen.16 Sowohl das Werk von André Gide als auch dasjenige von Klaus Mann zeugen von dieser Bereitschaft; und beider Konzeptionen von Europa sind entsprechend deutlich von ihren Bewegungen inner- und insbesondere auch außerhalb dieses Europas gekennzeichnet. Der scherzhafte Eintrag Klaus Manns im Gästebuch des Buddhatempels in Kyoto bekommt vor diesem Hintergrund eine beinahe ernsthafte Begründung: Dadurch, dass sie den vermeintlichen André Gide hier in Gesellschaft der engagierten Europäerin Annette Kolb reisen lassen,17 legen die Geschwister Mann schließlich selbst eine Fährte hin zu der Frage nach

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Vgl. ebd., S. 440–441. Vgl. auch dazu Wiebke Bendrath: Ich, Region, Nation. Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland, besonders S. 91. André Gide: A propos des Déracinés, S. 440. Ebd., S. 442. Vgl. allgemein zum metaphorischen Gehalt der Reise Christiane Schildknecht: Reisen, in: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 301–311. Vgl. Anne-Marie Saint-Gille: Les idées politiques d’Annette Kolb: la France, l’Allemagne

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Europa – und das, obwohl es zunächst so ausgesehen hatte, als sei Europa in diesem fernöstlichen Kontext nur von geringer Bedeutung. Wie Klaus Mann selbst hat tatsächlich auch André Gide immer wieder die Konfrontation seines eigenen Europäertums mit fremden Zivilisationen gesucht, und wie Klaus Mann selbst hat er dieses Europäertum überhaupt erst aus der beständigen Konfrontation mit dem Fremden heraus definiert. Ausgehend von dieser Feststellung sollen deshalb im folgenden Kapitel die Europakonzeptionen von André Gide und Klaus Mann unter dem Vorzeichen der Reise untersucht werden: Zunächst gilt es in einem ersten Schritt, André Gides Verständnis von Europa als dem Ort zu analysieren, der sich vor allem durch seinen Individualismus auszeichnet. Dieser Individualismus zeigt sich dabei gerade in der Konfrontation mit dem Fremden, dem Außereuropäischen: Das Fremde wird bei Gide häufig durch den von ihm dort vermuteten und dem europäischen Individualismus entgegengesetzten Konformismus charakterisiert. Klaus Mann nimmt auf diese Ideen André Gides Bezug, wenn er seinerseits den Individualismus als Grundlage für sein Verständnis von Europa als Ort einer beständigen dialektischen Bewegung setzt. In diesem Zusammenhang ist es die Dynamik dieser dialektischen Bewegung, die in den ähnlich ruhelosen Bewegungen des europäischen Intellektuellen ihren sinnfälligen Ausdruck findet – das soll in einem zweiten Unterkapitel dargestellt werden. Die Überlegungen von André Gide und Klaus Mann gelangen aber an dieser Stelle noch nicht zum Abschluss: Bei beiden ist es die fundamentale Infragestellung ihrer Konzeptionen einerseits durch den Nationalsozialismus, andererseits aber auch durch den Kommunismus, die sie zu neuen Überlegungen veranlasst. Während es Gide allerdings gelingt, sein Verständnis von Europa als Schule des Individualismus dieser Infragestellung zum Trotz weiterzuentwickeln, enden die Überlegungen von Klaus Mann bezüglich der europäischen Dialektik an einem Punkt, an dem in seinen Augen deren Dynamik durch die verhärteten Positionen des Kalten Krieges zum Stillstand kommt. Diese gegenläufigen Entwicklungen innerhalb der Positionen von Gide und Mann sollen in dem letzten der drei Abschnitte dieses Kapitels beleuchtet werden.

6.1

André Gide: Europa als Schule des Individualismus

Für Orhan Pamuk, den türkischen Nobelpreisträger des Jahres 2006, verkörpert André Gide, der französische Nobelpreisträger des Jahres 1947, den europäischen Intellektuellen schlechthin und mithin ein Bild von Europa, von dem Pamuk schreibt, es sei in der Türkei immer als Mittel zum Zweck verwendet worden: Im Land meiner Herkunft war die europäische Idee kein Begriff, den man unter Berücksichtigung der Geschichte und der großen Ideale, die seine Entstehung förderten, untersuchen, analysieren oder auch entwickeln mußte: Sie war vielmehr immer ein

et l’Europe, Bern u. a.: Lang 1993; und Richard Lemp: Annette Kolb. Leben und Werk einer Europäerin, Mainz: von Hase & Koehler 1970.

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Instrument. Wenn wir ihn als Vehikel verwenden, nehmen wir mit diesem Begriff – mit der Idee von Europa – an einer Art ‹Zivilisierungsprozeß› teil.18

Um jedoch genau diesen Mechanismus zu unterlaufen, versucht Orhan Pamuk selbst in seinem Essay Eine private Lektüre von André Gides öffentlichem Tagebuch eine Analyse der europäischen Idee, die diese eben nicht dem alten Muster folgend funktionalisiert, sondern die sich ihr vielmehr auf einer sachlichen Ebene nähert: Ausgehend von einer Lektüre von Gides Reisetagebuch La Marche Turque, in dem dieser eine Türkeireise im Frühjahr 1914 beschreibt, untersucht Pamuk die Bedingungen, unter denen dieser Reisebericht entstanden ist – und daran anschließend insbesondere diejenigen seiner Rezeption in der Türkei. Aus dieser Lektüre von Gides Tagebuch leitet er dann seine eingangs zitierten Schlussfolgerungen über die europäische Idee und ihre Instrumentalisierung in der Türkei ab. André Gides Reisebericht ist das Dokument einer Desillusionierung: Anders als auf seinen Reisen nach Nordafrika findet Gide auf derjenigen in die Türkei keinerlei exotischen Zauber; zunehmend missgelaunt beschreibt er in seinen Aufzeichnungen ein Land, das ihm von Tag zu Tag hässlicher, abstoßender und fremder vorkommt. Die Türkeireise bringt ihn schließlich dazu, den Sinn und Zweck des von ihm bis dahin stets lustvoll praktizierten Reisens überhaupt in Zweifel zu ziehen,19 und folgerichtig steht am Schluss, als die Fahrt schließlich in Griechenland endet, jene Erkenntnis, die später den Ausgangspunkt für Orhan Pamuks Überlegungen darstellen wird: Trop longtemps j’ai pensé, par amour de l’exotisme, par méfiance de l’infatuation chauvine et peut-être par modestie, trop longtemps j’ai cru qu’il y avait plus d’une civilisation, plus d’une culture qui pût prétendre à notre amour et méritât qu’on s’en éprît… A présent je sais que notre civilisation occidentale (j’allais dire: française) est non seulement la plus belle; je crois, je sais qu’elle est la seule – oui, celle même de la Grèce, dont nous sommes les seuls héritiers.20

Die Überheblichkeit, mit der André Gide hier – nur wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs – die europäische (und besonders die französische) Zivi-

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Orhan Pamuk: Eine private Lektüre von André Gides öffentlichem Tagebuch, in: Ders.: Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen, München/Wien: Hanser 2006, S. 70–84, hier S. 79. «Fallait-il aller plus loin? Jusqu’à l’Euphrate? Jusqu’à Bagdad? – Non; je n’en ai plus le désir. L’obsession de ces pays, qui me tourmentait depuis si longtemps, est vaincue; cette atroce curiosité. Quel repos d’avoir élargi sur la carte les espaces où l’on a plus souci d’aller voir!» (André Gide: La Marche Turque, in: Ders.: Œuvres Complètes VII, Paris: Nouvelle Revue Française 1934, S. 487–488). André Gide: La Marche Turque, S. 488. Vgl. dazu auch Michel Lioure: La Marche Turque ou le renoncement au voyage, in: Jean-Yves Debreuille/Pierre Masson (Hg.): Lectures d’André Gide. Hommage à Claude Martin, Lyon: Presses universitaires 1994, S. 109–121, besonders S. 118. Hier heißt es ausdrücklich: «Tout le périple en Turquie n’aura finalement été qu’une marche initiatique et métaphoriquement labyrinthique, un purgatoire ou un préambule du paradis grec.»

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lisation als Maßstab aller Dinge setzt, und die Selbstverständlichkeit, mit der er die Türkei als außerhalb dieser Zivilisation stehend beschreibt, hat unter den türkischen Intellektuellen seither für umso größere Aufregung gesorgt, als sie über weite Strecken mit den innertürkischen, kemalistischen Bemühungen um eine Verwestlichung des Landes im Einklang stand, wie Orhan Pamuk betont. In seinem Essay untersucht er deshalb am Beispiel von André Gide das prekäre Verhältnis zwischen der Bewunderung der türkischen Intellektuellen für den europäischen Geist und der Ablehnung, mit der dieser europäische Geist seinerseits fremden Zivilisationen gegenübertritt, und er erkennt in dieser wenig ausbalancierten Beziehung die Basis für die von ihm konstatierte äußerst erfolgreiche Funktionalisierung Europas in der Türkei. Eines jedoch lässt Orhan Pamuk bei seinen Ausführungen unerwähnt: Dass der Chauvinismus, mit dem Gide in seinem Tagebuch über die vermeintliche Hässlichkeit der angeblich außereuropäischen Türkei urteilt, ebenfalls einen reduzierten Begriff von Europa voraussetzt – dadurch nämlich, dass er den von ihm anderswo immer wieder beschworenen Kosmopolitismus hier seinem Wunsch opfert, die Grenzen der europäischen Zivilisation klar zu definieren und abzustecken. Die Selbstverständlichkeit, mit der Gide in Griechenland schließlich schreiben kann, er fühle sich endlich wieder «comme chez [s]oi»,21 scheint dem Gedanken der europäischen Universalität von Grund auf zu widersprechen, den sein Werk sonst so häufig formuliert. Wenn Henning Ritter deshalb betont, diese «Absage an die Pluralität der Kulturen» von Seiten Gides sei «nicht mehr und nicht weniger als eine Vorahnung des Weltkriegs, der unmittelbar vor der Tür stand»,22 dann weist diese Interpretation in die richtige Richtung: In La Marche Turque endet André Gides mit solcher Überzeugung vorgetragene und dadurch vermeintlich so unhinterfragt eurozentrische Position in der Aporie, auch wenn der Text selbst diese Tatsache nur zu bewusst verschleiern mag. Mit dem Beginn der Krieges wird Gides bereits vorher empfundenes Unbehagen dadurch augenfällig, dass Europa und seine Zivilisation durch diesen Konflikt ganz grundsätzlich in Frage gestellt werden; zugleich birgt die Krise jedoch gerade dadurch auch die Chance auf einen Neubeginn. Der Weltkrieg zwingt Gide insofern zu einer expliziteren und kritischeren Auseinandersetzung mit der von ihm bisher nur implizit gestellten Frage nach der problematischen Gegenwart und nach Möglichkeiten der Zukunft der europäischen Zivilisation. Erst durch das einschneidende Erlebnis dieses Krieges wird er auch seine Überlegungen zur Reise und zur Notwendigkeit der Entwurzelung, die ja bereits aus den Jahren um die Jahrhundertwende datieren, in einen ausdrücklichen Zusammenhang mit dieser Frage nach Europa stellen. Der europäische Geist ist für ihn dabei vor allem durch seine Betonung des Wertes jedes einzelnen Individuums gekennzeichnet. Auf seinen Reisen und Exkursionen und bei allen Begegnungen mit dem Fremden und Anderen betont

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André Gide: La Marche Turque, S. 488. Henning Ritter: Gides Reise in die Türkei. Ein Desaster, in: FAZ, 10. Januar 2007, Nr. 8, S. N3.

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André Gide stets den Unterschied zwischen diesem europäischen Individualismus und dem von ihm immer wieder festgeschriebenen nicht-europäischen Konformismus. Und selbst wenn auch diese Setzung noch von einem nicht geringen Eurozentrismus zeugen mag, so verfährt Gide dabei in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg doch deutlich differenzierter als noch bei seiner pauschalen Ablehnung der türkischen Zivilisation in La Marche Turque unmittelbar davor. 6.1.1

Das Ende einer Zivilisation

Wenige Monate nach seinem uneingeschränkten Bekenntnis zu der vermeintlich unangefochtenen und unanfechtbaren Überlegenheit der europäischen Zivilisation in La Marche Turque sieht André Gide diese Überzeugung durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf eine harte Probe gestellt. Seine Tagebuchaufzeichnungen aus diesen Jahren zeigen dabei allerdings, dass in Wirklichkeit schon die Uneingeschränktheit des durch die Türkeireise provozierten Bekenntnisses zu Europa in Zweifel gezogen werden kann: Ausgerechnet mit Verweis auf die Gespräche, die er unterwegs in der Türkei mit seinen Mitreisenden geführt habe, betont André Gide nämlich im Nachhinein in diesen persönlichen, aber dennoch von Anfang an mit Blick auf eine Veröffentlichung konzipierten Notizen,23 wie prekär ihm die Situation schon vor dem Krieg erschienen sei: Oui, je me souviens de ces conversations, avec elle [i. e. Aline Mayrisch] et [Henri] Ghéon, en Asie Mineure […], sur la lente décomposition de la France, sur ses vertus inemployées ou dilapidées, sur l’imminence de la guerre – à quoi Mme Mayrisch se refusait de croire, et que, quelques mois avant la déclaration, Ghéon et moi prévoyions, prédisions, souhaitions presque, tant il nous paraissait que la guerre même était un moindre mal que l’abominable déchéance où reculait peu à peu notre pays – et d’où la guerre seule pouvait peut-être encore nous sauver…24

Auf der einen Seite ist der Krieg in diesem Kontext das augenfällige Symbol für die zuvor schon existierende Dekadenz Europas, die Gide hier am Beispiel Frankreichs evoziert – auf der anderen Seite aber wird nur zu deutlich, wie sehr dieser Krieg von ihm trotzdem auch als eine Art kathartisches Moment interpretiert wird, das als solches eine klare Hoffnung auf eine Besserung der Lage beinhaltet: Wenn die Dekadenz der europäischen Nationen tatsächlich andere Ursachen hat als allein den Ausbruch des Krieges, und wenn sie älter ist als dieser, dann kann der Krieg, so Gides Argumentation an dieser Stelle, in einer gewissermaßen dialektischen Bewegung womöglich auf lange Sicht sogar das Ende dieser Dekadenz bedeuten. Ausdrücklich formuliert er diese Hoffnung in

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Vgl. zu Gides Tagebüchern und der Frage ihrer schwierigen Balance zwischen Privatheit und Öffentlichkeit Daniel Moutote: Le Journal de Gide et les problèmes du Moi (1889–1925), Montpellier: Impr. univ. 1968. André Gide: Journal I (1887–1925), édition établie, présentée et annotée par Eric Marty, Paris: Gallimard 1996, S. 953–954, (dimanche, septembre 1916).

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einer Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1917, in der er die Entwicklung seiner eigenen Haltung in dieser Frage reflektiert: … Il est vrai que depuis longtemps, et bien avant la guerre, j’étais obsédé par l’idée abominable que notre pays se mourait. Tout montrait son épuisement, sa décadence; je les voyais partout; il me semblait qu’il fallait être aveugle pour ne pas les voir. Si quelque chose peut nous sauver, pensais-je, ce ne peut être qu’une crise immense, comme en a déjà traversé notre histoire, un grand danger, la guerre… Et, dans le début de celle-ci je me suis laissé joyeusement envahir par l’espoir. La Patrie sembla se ressaisir. Nous eussions tous donné notre sang pour la sauver. Puis cette guerre nous fit toucher du doigt toutes nos insuffisances, tous nos désordres, que payait une immense débauche de vertus… Aujourd’hui l’on accuse la guerre; mais le mal venait de plus loin.25

Auch diese Passage konstruiert ein Gleichgewicht zwischen den bedrohlichen Seiten des Krieges auf der einen Seite (nämlich der Tatsache, dass die schon vorher existierenden Unzulänglichkeiten jetzt auf einmal mit Händen zu greifen sind) und den klar positiv beurteilten Auswirkungen der Krise auf der anderen. Hier ist dabei zwar ebenso wie in der zuvor zitierten Passage nur von Frankreich die Rede und nicht von Europa als Ganzem – es ist das «Vaterland», dessen Dekadenz Gide feststellt und dessen Möglichkeiten einer Erneuerung durch die Krise des Krieges er kritisch diskutiert. Allerdings finden sich in seinen Tagebüchern eine Reihe von Einträgen aus denselben Jahren, die es erlauben, die Diagnose in Bezug auf das dekadente Frankreich und die Hoffnung auf ein Ende dieser Dekadenz auch auf den ganzen Kontinent und seine Zivilisation zu beziehen. Wie schon in La Marche Turque, wo Gide Frankreich zu der repräsentativen Nation für die europäische Zivilisation schlechthin erklärt hatte,26 sind auch seine Äußerungen in den Tagebüchern immer in diesem Kontext zu verstehen – beispielsweise wenn er sich bereits im Herbst 1914 ausdrücklich fragt, ob das, was er gerade erlebt, «[l]a fin d’une civilisation» sei.27 Diese Vorstellung vom Ende einer Zivilisation, die in dem Tagebucheintrag nach einem knappen Bericht über einen trostlosen Besuch im Louvre und insofern in einem eindeutig kulturellen Kontext heraufbeschworen wird,28 zeugt dabei von derselben Dialektik wie Gides Beurteilung des Krieges insgesamt: Zum einen verdeutlicht er durch den Hinweis auf die Trostlosigkeit seines Museumsbesuchs, dass er dieses von ihm vermutete Ende

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Ebd., S. 1051–1052, (18 décembre 1917). Dieselbe Diagnose einer grundsätzlichen Dekadenz findet sich schon in einem Tagebucheintrag von 1915, wo es heißt: «Le mal vient de plus loin, hélas! On s’aperçoit, à l’heure du danger, que l’édifice entier, du haut en bas, est vermoulu…» (André Gide: Journal I (1887–1925), S. 905–906 (16 novembre 1915)). Vgl. auch hier noch einmal: «A présent je sais que notre civilisation occidentale (j’allais dire: française) est non seulement la plus belle; je crois, je sais qu’elle est la seule – oui, celle même de la Grèce, dont nous sommes les seuls héritiers.» (André Gide: La Marche Turque, S. 488). André Gide: Journal I (1887–1925), S. 883, (15 novembre 1914). Ähnlich und in demselben kulturellen Zusammenhang: «Carte de Copeau hier soir, étrangement out of time. Il parle de Florence, de l’Angelico… Tout cela existe donc encore?» (Ebd., S. 890–891, (27 septembre 1915)).

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der europäischen Zivilisation und Kultur als bedrohlich empfinden muss. Zum anderen spricht aus seinen Überlegungen aber auch die Hoffnung darauf, dass dem Ende der ja ausdrücklich als abgelebt charakterisierten bisherigen Ordnung eine Wiedergeburt oder eine Neuorientierung folgen könnte: Je ne me suis un peu ressaisi qu’au piano, où je poursuis l’étude des pièces d’Albeniz. […] Mais ici, autant et plus peut-être que pour les autres arts, ne me quitte pas le sentiment de l’archaïque, du périmé. Cette guerre achève de ruiner dans mon esprit toutes les formes du passé avec quoi nous avons vécu jusqu’à ce jour […]. La musique également réclame aujourd’hui une langue nouvelle, des intonations inouïes, une gamme encore inconnue.29

Der Wunsch nach neuen und unverbrauchten musikalischen Ausdrucksformen steht hier symbolisch für Gides Zweifel auch an der Sprache im eigentlichen Sinne: Während der Jahre des Krieges setzt er seine literarische Produktion nahezu vollständig aus; das Tagebuch bleibt das einzige Werk, an dem er auch in dieser Zeit kontinuierlich weiterschreibt. Die Sprachlosigkeit des Schriftstellers erweist sich so als ein weiteres Symptom für die Dekadenz der bislang mit Nachdruck von ihm vertretenen Zivilisation und ihrer Werte; und seine beinahe verzweifelte Hoffnung auf eine neue Sprache zeugt dabei nicht zuletzt davon, wie sehr die Annahme des bevorstehenden Endes dieser europäischen Zivilisation und ihrer Kultur für ihn auch eine Infragestellung der eigenen Position und seiner Verantwortung als Schriftsteller bedeutet haben muss. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass Gide nahezu sofort nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mit der Veröffentlichung von La Symphonie pastorale (1919) auch seine literarische Produktion wieder aufnimmt. Die Bedrohung für die Kultur, die der Krieg trotz aller mit ihm verbundenen Hoffnungen auf eine kathartische Reinigung des dekadenten Europas und seiner Institutionen doch immer auch dargestellt hatte, scheint jetzt gebannt zu sein; die wiedergefundene literarische Sprache beweist auch das Überleben (oder eben tatsächlich die erhoffte Erneuerung) dieser spezifisch europäischen Formen der Kultur. Die neuen Möglichkeiten einer Kultur, die im Tagebuch aus den Kriegsjahren immer gewissermaßen pars pro toto für Europa insgesamt gestanden hatte,30 zeugen von dessen wieder einsetzender Vitalität, und insofern kann die Auseinandersetzung mit der Frage nach diesem Europa nun tatsächlich auch expliziter und direkter in der Öffentlichkeit erfolgen als zwischen 1914 und 1918. Pascal Dethurens unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der diachronen Herangehensweise des Tagebuchs aus der Zeit des Krieges und der mehr punktuellen Analyse in den Nachkriegsjahren,31 und er trägt mit dieser Unterscheidung auch dem spezifischen Charakter des Gideschen Tagebuchs Rechnung, von

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Ebd., S. 889–890, (25 septembre 1915). Vgl. etwa den Eintrag vom 9. Oktober 1916, in dem sich Gide mit der Frage einer «européanisation de la culture» beschäftigt (André Gide: Journal I (1887–1925), S. 965). Vgl. Pascal Dethurens: Gide et la question européenne, in: Bulletin des amis d’André Gide 85 (janvier 1990), S. 109–126, hier S. 110.

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dem Klaus Mann feststellt, es sei «ein Selbstporträt in Bewegung».32 Wenn Mann dabei vor allem den repräsentativen Charakter dieses Selbstporträts hervorhebt, dann entspricht das der Grundannahme seiner Gide-Monographie, die diesen als die Verkörperung des europäischen Intellektuellen schlechthin interpretiert: Indem der Schreibende von Tag zu Tag die Probleme und Kämpfe, die Aufschwünge und Enttäuschungen des eigenen Lebens sorgfältig registriert, schreibt er gleichzeitig auch […] ein Kapitel europäischer Kulturgeschichte. Seine persönlichen Stimmungen und Konflikte spiegeln – oder antizipieren – die intellektuellen Tendenzen einer Nation, eines Kontinents. Was immer im Europa der letzten fünfzig Jahre sich geistig zutrug oder vorbereitete – in diesen Notizen finden wir seine Spur.33

Die Beweglichkeit, die für Klaus Mann das entscheidende Merkmal von Gides Tagebuch darstellt, steht dabei im Einklang mit dessen Überzeugung von der Fruchtbarkeit der (nicht nur physischen, sondern eben auch geistigen) Ruhelosigkeit: Ihn interessieren vor allem die Übergänge und weniger die statischen Zustände, und das gilt nun nicht allein für seine Tagebuchaufzeichnungen, sondern ebenso auch für diejenigen seiner Werke, die sich Dethurens zufolge eher auf eine synchrone Art und Weise mit der Frage nach Europa beschäftigen. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg ist das vor allem eine Reihe von großen Essays, deren wichtigster, L’Avenir de l’Europe (1923), die Frage nach der Zukunft Europas ganz explizit schon in seinem Titel formuliert. Dennoch kann man (anders als Dethurens das tut) den Beginn dieser Auseinandersetzung Gides mit Europa implizit schon in Werken verorten, die vor dem Krieg entstanden sind – diese Interpretation der Dinge steht dabei durchaus in Übereinstimmung mit Gides Diagnose einer europäischen Dekadenz schon in den Jahren vor 1914, wie er sie ex post in seinen Tagebüchern aus den Kriegsjahren formuliert. Durch den Krieg erweist es sich als unabdingbar, die Konsequenzen aus dieser Diagnose zu ziehen und den Blick in die Zukunft zu richten – es finden sich aber bereits in den Jahren zuvor schon Hinweise auf die in Frage stehende Problematik der europäischen Zivilisation, selbst wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch weniger direkt formuliert sind. So kann zum Beispiel bereits Gides anhaltende Begeisterung für Nordafrika und insbesondere deren literarische Verarbeitung in dem Roman L’Immoraliste (1902) als das Symptom eines Ungenügens an der europäischen Kultur gelesen werden, wie es deren Absolutsetzung in La Marche Turque einmal mehr radikal widerspricht. Die Emphase, mit der André Gide vor allem in den Jahren rund um die Jahrhundertwende immer wieder nach Nordafrika reist und mit der er diese Reisen beschreibt, entspricht dabei derjenigen, mit der der Protagonist und Ich-Erzähler Michel aus L’Immoraliste diesen nordafrikanischen Raum zum Ort einer Geburt zum eigentlichen Leben stilisiert:

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Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens, S. 151 (Hervorhebung im Original). Ebd.

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Etait-ce enfin ce matin-là que j’allais naître? […] La conscience que je prenais à nouveau de mes sens m’en permettait l’inquiète reconnaissance. Oui, mes sens, réveillés désormais, se retrouvaient toute une histoire, se recomposaient un passé. Ils vivaient! ils vivaient!34

Der emphatische Begriff von einem neuen, weil endlich auch sinnlich erlebten Leben, mit dem Michel seine nordafrikanische Erfahrung hier in Verbindung bringt, stellt den Gegenpol zu der Desillusionierung dar, mit der er auf der anderen Seite sein bisheriges Leben als europäischer Intellektueller betrachtet: L’histoire du passé prenait maintenant à mes yeux cette immobilité, cette fixité […], l’immobilité de la mort. Avant je me plaisais à cette fixité même qui permettait la précision de mon esprit; tous les faits de l’histoire m’apparaissaient comme les pièces d’un musée, ou mieux les plantes d’un herbier, dont la sécheresse définitive m’aidât à oublier qu’un jour, riches de sève, elles avaient vécu sous le soleil. A présent, si je pouvais me plaire encore dans l’histoire, c’était en l’imaginant au présent.35

Das Gegensatzpaar ‹Gegenwart – Vergangenheit›, das diese Passage strukturiert, findet sich in dem Roman in dem Abstand zwischen Afrika und Europa verräumlicht: Wo Afrika Sinnlichkeit, Leben und unmittelbare Präsenz bedeutet, da steht Europa für Geschichte und Vergangenheit und die daraus sich ableitende Kultur; und dieses Modell von beweglicher afrikanischer Gegenwart und bewegungsloser europäischer Vergangenheit läuft für den Ich-Erzähler schließlich auf die Unterscheidung (und auf die Entscheidung) zwischen Leben und Tod hinaus. So suggeriert Michels Metapher von den Pflanzen im Herbarium nur zu deutlich, dass die bisher von ihm betriebene Wissenschaft – und damit die europäische Kultur insgesamt – in seinen Augen inzwischen für einen Tod durch Austrocknung steht, dem das neue, sinnlich-körperlich erfahrene Leben in Afrika in jedem Fall vorzuziehen sein muss. Michels neue wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte der Goten erklärt sich vor diesem Hintergrund als eine konsequente theoretische Umsetzung seiner neuen Lebenspraxis: Während er zwar vordergründig daran arbeitet, sein bürgerliches Leben zu ordnen und dazu beispielsweise auf seinem Landgut La Morinière eine ganze Reihe von ‹zivilisatorischen› Maßnahmen einleitet,36 geht sein eigentliches Interesse gerade in die entgegengesetzte Richtung, nämlich in diejenige der antizivilisatorischen «éthique fruste des Goths».37 Auch hier funktioniert die Gegenüberstellung wieder über den Kontrast zwischen Leben und Tod, und expliziter als zuvor kann Michel jetzt sein Unbehagen

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André Gide: L’Immoraliste, in: Ders.: Œuvres Complètes IV, Paris: Nouvelle Revue Française 1933, S. 42–43. Ebd., S. 53–54. Vgl. dazu auch Thomas Cazentre: La légende cachée. Lecture et intertextualité virgilienne dans ‹L’Immoraliste›, in: Bulletin des amis d’André Gide 139 (juillet 2003), S. 311–332, besonders S. 323. Cazentre beschreibt Michels zivilisatorische Bemühungen in La Morinière vor dem Hintergrund der These von einem vergilschen Intertext in Gides Roman als eine Art Aktualisierung der Georgica. André Gide: L’Immoraliste, S. 87.

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an der römisch-lateinischen Zivilisation formulieren, von der im Kontext seiner Reisen in Europa und Nordafrika immer deutlich wird, dass sie nicht nur am Anfang der europäischen Kultur steht, sondern diese bereits symbolisch vorwegnimmt: Mon cours commença aussitôt après; le sujet m’y portant, je gonflai ma première leçon de toute ma passion nouvelle. A propos de l’extrême civilisation latine, je peignais la culture artistique, montant à fleur de peuple, à la manière d’une sécrétion, qui d’abord indique pléthore, surabondance de santé, puis aussitôt se fige, se durcit, s’oppose à tout parfait contact de l’esprit avec la nature, cache sous l’apparence persistante de la vie la diminution de la vie, forme gaine où l’esprit gêné languit et bientôt s’étiole, puis meurt. Enfin, poussant à bout ma pensée, je disais la Culture, née de la vie, tuant la vie.38

Die angebliche ‹Unkultur› der Goten, die explizit auch als Barbarei beschrieben wird, entspricht dabei derjenigen, die Michel in Nordafrika kennengelernt hat – und das Verbindungsglied zwischen diesen beiden Formen der Barbarei ist die ihnen innewohnende Beziehung zu einem emphatisch gelebten und beschriebenen Leben, das der Kultur eben gerade entgegengesetzt ist. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass sich der Protagonist im Laufe der Zeit auch zu Hause in Frankreich deutlicher von den Repräsentanten einer solchen Barbarei angezogen fühlt als von den Vertretern der Zivilisation und der Kultur, deren Geradlinigkeit in seinen Augen vor allem Langeweile bedeutet.39 Auch im Falle Michels sind es die Erfahrungen einer Reise, die diese konsequente Infragestellung seines bisherigen Lebens als europäischer Intellektueller – und damit der europäischen Kultur überhaupt – bedingen. Der Kontakt mit der barbarischen Kehrseite der Kultur, die von ihm als das eigentliche, das wahre Leben beschrieben wird,40 ermöglicht ihm Erkenntnisse über die Kultur selbst, wie sie ohne die Reise und die damit verbundene Entfremdung oder Entwurzelung nicht möglich gewesen wären.41 Dadurch, dass Michel selbst als Erzähler seiner Geschichte auftritt, gibt es in dem Roman keine Instanz, die imstande wäre,

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Ebd., S. 96–97. Vgl. dazu beispielsweise die Anziehung, die die durch ihr Äußeres und ihr Verhalten eindeutig als ‹barbarisch› charakterisierten Söhne Heurtevent auf Michel ausüben – eine Anziehung, die explizit mit seinen afrikanischen Erlebnissen in Verbindung gebracht wird: «La première fois que j’avais rencontré le plus jeune des fils, c’était, il m’en souvient, sous la pluie; il était seul, assis sur une très haute charrette au plus haut d’un entassement de fagots; et là, tout renversé parmi les branches, il chantait ou plutôt gueulait une espèce de chant bizarre et tel que je n’en avais jamais ouï dans le pays. […] Je ne puis dire l’effet que ce chant produisit sur moi; car je n’en avais entendu de pareil qu’en Afrique.» (André Gide: L’Immoraliste, S. 127–128). Vgl. dazu auch Michels Feststellung: «Il me semblait quitter l’abstraction pour la vie.» (André Gide: L’Immoraliste, S. 150). So betont Michel am Anfang seiner Erzählung, er sei in seinem alten Leben als Forscher und Wissenschaftler eigentlich niemals wirklich und im eigentlichen Sinne gereist, sondern habe allenfalls lesend Forschungsreisen absolviert, die ihn aber nicht mit dem Fremden und Unbekannten in Kontakt gebracht hätten. Vgl. dazu André Gide: L’Immoraliste, S. 19–20.

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diese seine Erkenntnisse zu differenzieren oder gar zu relativieren. Allenfalls die Rahmenhandlung von den alten Freunden, die den Protagonisten in seinem neuen Leben in Nordafrika besuchen und denen er seine Geschichte erzählt, schafft noch einen gewissen Abstand zu seiner eigenen Emphase über die radikale Abkehr von Europa und seiner Kultur – diese Freunde immerhin bleiben skeptisch angesichts der Befreiungsgeschichte, die ihnen da präsentiert wird. Aus diesem Grund muss auch eine bloß autobiographische Lektüre des Romans in die Irre führen: Auch wenn André Gide mit seiner Figur Michel die befreiende Erfahrung eines anderen, sinnlicheren Lebens in Nordafrika teilt,42 so entscheidet er sich auf lange Sicht eben doch für Europa, und ausdrücklich auch für dessen Kultur. Thomas Cazentre zieht daraus den Schluss, es handele sich bei dem Roman um eine Art Autofiktion, die veranschauliche, «ce que la vie de Gide aurait pu devenir s’il n’avait su trouver, notamment dans son rapport à la culture, les instruments d’une libération».43 Dennoch bleibt Gides Infragestellung dieser europäischen Kultur und seiner eigenen Beziehung zu ihr insofern wirksam, als auch seine nicht-fiktionalen Texte über Nordafrika immer wieder auf dieselbe Problematik des Gegensatzes von Leben und Kultur zurückkommen, die er in L’Immoraliste entwickelt.44 Eric Marty gelangt deshalb zu der Auffassung, die wesentliche Erfahrung seiner maghrebinischen Reisen aus der Zeit um die Jahrhundertwende sei für Gide die Befreiung von seinem abendländischen Europäertum gewesen.45 Diese Interpretation fügt sich einmal mehr in den Rahmen von dessen nur auf den ersten Blick eindeutiger, in Wirklichkeit aber durchaus ambivalenter Beziehung zu Europa und seiner Kultur in diesen Jahren. Erst die Erfahrung des Weltkriegs wird diese Ambivalenz reduzieren: Hatte Gide sich zuvor auf die bloße Infragestellung der überkommenen Muster und Traditionen beschränkt,46 so beginnt er nach 1918 tatsächlich, eigene Visionen und Vorstellungen für eine Zukunft Europas zu entwickeln, und diese in kultureller und in politischer Hinsicht zu präzisieren.

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Vgl. die Bemerkungen von Klaus Mann dazu: «[W]as Gide […] in Biskra und Touggourt, in Blidah und Kairouan erfahren durfte, war die Wonne echter Neugeburt. Wie mit einem Zauberschlag ging es ihm plötzlich auf, was das eigentlich ist, wie das schmeckt, wie sich das anfaßt – Leben.» (Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens, S. 80). Thomas Cazentre: La légende cachée. Lecture et intertextualité virgilienne dans ‹L’Immoraliste›, S. 331. Vgl. etwa André Gide: Le renoncement au voyage, in: Ders.: Œuvres Complètes IV. Hier beschreibt Gide beispielsweise seine Versuche, unterwegs in Algerien zu lesen und stellt dabei fest: «J’ai tâché de lire, mais en vain. Ce pays captive mon regard. […] Il ne s’agit même plus de culture, mais d’existence simplement.» (S. 257). Vgl. Eric Marty: Le poète sans livre, in: Bulletin des amis d’André Gide 102 (avril 1994), S. 219–226, hier S. 225. Bei Marty heißt es wörtlich: «il se libère de son occidentalité». Vgl. dazu Daniel Moutote: André Gide: L’engagement (1926–1939), Paris: Sedes 1991. Hier ist die Rede von den «remises en question perpétuelles de toutes les valeurs» in den Jahren vor 1914, auf die erst nach dem Krieg ein wirkliches spirituelles, soziales und politisches Engagement gerade auch in Bezug auf Europa gefolgt sei (vgl. vor allem S. 14).

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6.1.2

Die Zukunft Europas

Auf Gides noch nicht klar ausformuliertes Unbehagen an der Überlebtheit der europäischen Kultur vor dem Ersten Weltkrieg folgt seine eindeutige Diagnose dieser europäischen Dekadenz währenddessen; auf seine begeisterte Stilisierung des Krieges zur Chance für einen europäischen Neubeginn folgt die Ernüchterung darüber, dass diese Chance nicht als solche wahrgenommen und genutzt wird. Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als der Zweite schon begonnen hat, blickt André Gide zurück auf diese verpasste Chance für Europa: Et tant de ruineuses chimères! Nous voyons ce que cela coûte aujourd’hui. Il nous faudra payer toutes les absurdités de l’intangible traité de Versailles, les humiliations du vaincu d’alors, les vexations inutiles, qui me soulevaient le cœur en 1919, mais contre lesquelles il était vain de protester; l’indigne abus de la victoire. C’est à présent leur tour d’abuser. […] Comme si le plus sage n’eût pas été de tendre la main au vaincu, de l’aider à se relever, au lieu de s’ingénier à le prosterner davantage, absurdement et sans se rendre compte que, ce faisant, l’on bandait sa rancœur et raidissait ses énergies. Mais qui persuader, dès qu’il s’agit de politique, que la générosité ne soit pas toujours et forcément un sentiment de dupe?47

Wenn Gide hier die versäumte Großzügigkeit des Siegers gegenüber dem Besiegten beklagt, dann tut er das mit zwanzig Jahren Abstand und in Kenntnis der fatalen Entwicklungen Europas in der Zwischenzeit. Dennoch unterscheidet sich seine Haltung im Jahr 1940 nicht wesentlich von derjenigen, die er schon 1919 – und sogar schon während des Krieges – formuliert hatte: Auch wenn er zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch angelegentlich die Möglichkeit eines «écrasement […] de l’Allemagne» in Erwägung gezogen hatte,48 so waren doch auch diese Überlegungen schon in einen größeren Rahmen eingebettet, der auf die dauerhafte Sicherung des Friedens und das Gleichgewicht der europäischen Mächte hin ausgerichtet war: «On entrevoit le commencement d’une ère nouvelle: Les Etats-Unis d’Europe liés par un traité limitant leurs armements.»49 Mit dieser Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa artikuliert Gide ein politisches Ziel: Durch Verträge zwischen den einzelnen Staaten soll eine geopolitische Bereinigung der europäischen Karte erreicht werden, die als Voraussetzung für den künftigen Frieden dienen kann. Trotz dieser realpolitischen Zielvorgaben gehen aber auch seine Überlegungen zu Europa zunächst immer von einem geistig-kulturellen Ausgangspunkt aus, der der Politik übergeordnet ist und der überhaupt erst die Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung auch der politischen Ideen in die Praxis schaffen kann. Vor allem aus diesem kulturellen Kontext nährt sich seine Hoffnung auf die Möglichkeit einer Zukunft Europas auch jenseits der politischen Verwerfungen der Nachkriegszeit. Pascal Dethurens konstatiert deshalb für die in Frage stehenden Jahre vor und nach 1918 die

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André Gide: Journal II (1926–1950), édition établie, présentée et annotée par Martine Sagaert, Paris: Gallimard 1997, S. 704, (14 juin 1940). André Gide: Journal I (1887–1925), S. 830, (6 août 1914). Ebd.

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Gleichzeitigkeit eines «discours catastrophiste» und eines «discours utopiste» über Europa bei Gide,50 und er erklärt das mit der Dialektik der Gideschen Vorstellung von den vitalen geistigen Kräften Europas, die gerade durch ihre Energie und ihre Kraft zu einem allmählichen Niedergang durch Erschöpfung (und damit auch zu der im weitesten Sinne politischen Katastrophe des Krieges) geführt hätten. Der Versuch einer Neubestimmung der «Zukunft Europas», wie Gide ihn sich in der Nachkriegszeit auf die Fahnen schreibt, muss deshalb genau an dieser Stelle ansetzen und versuchen, diesen geistigen Vitalismus Europas auf neue Ziele hin auszurichten und ihn dadurch zu beleben. In diesen Zusammenhang schreibt sich nun die Verbindung seiner politischen Ziele mit kulturellen Überlegungen ein, denn in beiden Bereichen geht es um den Fortbestand Europas unter neuen Vorzeichen und um die Fortsetzung der europäischen Geschichte und ihrer Traditionen: La question se posait avant la guerre: une civilisation, une culture peut-elle prétendre à se prolonger indéfiniment et selon une trajectoire ininterrompue? Et comme la réponse est nécessairement négative, cette seconde question vient aussitôt en corollaire de la première: notre civilisation, notre culture est-elle encore prolongeable? Ce monde neuf où nous entrons fait-il suite au précédent? Est-ce que nous continuons le passé? […] Tout ce qui représente la tradition est appelé à être bousculé et ce n’est que longtemps après que l’on pourra reconnaître, à travers les bouleversements, la continuité malgré tout de notre tempérament, de notre histoire.51

Aus diesem Grund betont Gide, wie sehr die einzelnen europäischen Nationen aufeinander angewiesen sind – nur wer auch die Eigenarten der anderen zu respektieren bereit ist, wird im Gegenzug seine eigenen zur Geltung bringen können. Um die Unverzichtbarkeit jedes einzelnen Elements in diesem großen europäischen Ganzen zum Ausdruck zu bringen, greift André Gide dabei immer wieder auf das Bild vom «concert européen» zurück,52 in dem das gemeinsame Ziel des Wohlklangs nur durch die Berücksichtigung jeder einzelnen Stimme und durch das Zusammenwirken aller erreicht werden kann. Vor allem seine schon unmittelbar nach dem Krieg explizit formulierte Forderung nach einer deutsch-französischen Aussöhnung lässt sich im Kontext dieser Vorstellung von einem vielstimmigen europäischen Konzert verstehen. In Gides Augen sind Deutschland und Frankreich insofern aufeinander angewiesen, als sich ihre Charaktere, ihre Eigenschaften, ihre Begabungen und Fehler ergänzen; ohne die Mitwirkung des anderen könnte deshalb keines der beiden Länder wirklich existieren. George Pistorius hat in diesem Zusammenhang auf Gides Formulierung von der «complémentarité» der beiden Nationen hingewiesen;53 und diese Kom-

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Pascal Dethurens: Gide et la question européenne, S. 113. André Gide: Réflexions sur l’Allemagne, in: Ders.: Œuvres Complètes IX, Paris: Nouvelle Revue Française 1935, S. 112. Ebd., S. 113. Vgl. George Pistorius: André Gide, l’image de l’Allemagne et l’idée de la complémentarité, in: Ulrich Döring (Hg.): Ouverture et dialogue: mélanges offerts à Wolfgang Leiner à l’occasion de son 60. anniversaire, Tübingen: Narr 1988, S. 721–738. Vgl. auch Claude Foucart: André Gide et l’Allemagne. A la recherche de la complémentarité

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plementarität betrifft zum einen das Verständnis, das man in den beiden Ländern von der Kultur hat, zum anderen aber auch ihre jeweiligen Realisierungen: Sur le terrain de la culture, aussi bien dans les sciences que dans les lettres et les arts, les défauts et qualités de part et d’autre sont à ce point complémentaires qu’il ne peut y avoir que profit dans une entente, que préjudice dans un conflit.54

Wenn Gide die einzelnen europäischen Länder (und insbesondere eben Deutschland und Frankreich) darauf einschwört, sich gegenseitig zu ergänzen und zu befruchten, dann steht diese Konzeption in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Überzeugung, dass sowohl Menschen als auch Nationen ihre individuellen Fähigkeiten und Begabungen nur dadurch wirklich zur Blüte bringen können, dass sie auf deren Besonderheit beharren und nicht versuchen, sich in irgendeiner Form als Teil einer homogenen Gruppe zu entwerfen und an eine solche anzupassen. Der Individualismus, den Gide hier predigt, steht im Zentrum seines ganzen Schaffens und strukturiert seine Überlegungen zu seinem eigenen literarischen Werk und dessen Spezifik ebenso wie diejenigen, die er zu der Vorstellung einer europäischen Literatur insgesamt und daran anschließend zu einer möglichen Zukunft Europas anstellt. Tatsächlich ist es diese Frage des Individualismus, in deren Kontext sich bei André Gide immer wieder erweist, wie eng beide Bereiche, die Literatur und Europa, miteinander in Beziehung stehen: Nous avons soutenu […] que l’œuvre d’art la plus accomplie sera tout aussi bien la plus personnelle, et qu’il n’est d’aucun profit pour l’artiste de chercher à se résorber dans le flot; nous avons toujours soutenu que ce n’est pas en se nivelant, mais en s’individualisant, si l’on peut dire, que l’individu sert l’Etat; et de même c’est en se nationalisant qu’une littérature prend place dans l’humanité et signification dans le concert.55

Wenn man den Individualismus mit François Dubois ausgehend von der wörtlichen Übersetzung des Wortes ‹Individuum› ganz allgemein als diejenige – vor allem in der nachaufklärerischen Moderne anzusiedelnde – Theorie, Doktrin oder Tendenz versteht, die das Individuum und seinen persönlichen Wert ins Zentrum ihres Denkens stellt, und die deshalb immer dessen Vorrang vor jeglicher Form von Kollektivität betont,56 dann wird deutlich, warum sich Gides Individualismus ebenso auf einzelne Personen wie auf größere Gruppierungen und sogar auf Nationen beziehen kann: Eine Nation ist zwar nicht im wörtlichen Sinne ‹unteilbar›, für Gide ist sie es jedoch gerade in den Fragen, auf die er sich vor allen anderen bezieht – denjenigen nämlich, die den Beitrag der jeweiligen Nationen zu einem gemeinsamen kulturellen Ganzen Europa untersuchen.

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(1889–1932), Bonn: Romanistischer Verlag 1997. Hier heißt es ausdrücklich: «Le terme de complémentarité ne devra pas être oublié. Il est le fil rouge qui passe à travers toutes les déclarations de Gide au sujet des rapports franco-allemands.» (S. 160). André Gide: France et Allemagne, in: Ders.: Œuvres Complètes IX, S. 361. André Gide: Réflexions sur l’Allemagne, S. 114. Vgl. François Dubois: L’église des individus. Un parcours théologique à travers l’individualisme contemporain, Genève: Ed. Labor et fides 2003, S. 39.

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C’est une profonde erreur de croire que l’on travaille à la culture européenne avec des œuvres dénationalisées; tout au contraire, plus particulière est l’œuvre, plus utile elle devient dans le concert. […] De même que l’écrivain le plus individualisé est aussi celui qui présente l’intérêt le plus humainement général, l’œuvre la plus digne d’occuper la culture européenne est d’abord celle qui représente le plus spécialement son pays d’origine.57

Der in Frage stehende Individualismus zielt also auf die volle Verwirklichung der im einzelnen Menschen oder in der einzelnen Nation angelegten Möglichkeiten; dabei gilt es jedoch zu betonen, dass Gide keineswegs dem Egoismus (in Bezug auf den einzelnen Menschen) oder dem Nationalismus (in Bezug auf die einzelne Nation) das Wort redet, denn das Ziel ist ja ausdrücklich immer als ein gemeinsames und den Einzelinteressen übergeordnetes definiert. Sein Individualismus ist so eine auf den anderen hin ausgerichtete Bewegung, die sogar erklärtermaßen in dem scheinbaren Paradox der Auflösung des Einzelnen in dem angestrebten größeren Ganzen enden kann. Nicht umsonst zitiert Gide deshalb, um den Kern seines Gedankens vom Individualismus zusammenzufassen, immer wieder das Bibelwort von demjenigen, der sein Leben erst dadurch erhalten oder gar erlangen kann, dass er es verschenkt.58 Dadurch, dass Gide aber die einzelnen europäischen Nationen zuallererst zur vollen Realisierung ihrer persönlichen Eigenheiten und Besonderheiten auffordert, durch die sie sich von ihren Nachbarn unterscheiden, wird auf der anderen Seite auch deutlich, warum er trotz seines Ziels einer Aussöhnung zwischen den einstigen Kriegsgegnern ebenso wie Ernst Robert Curtius den Internationalismus eines Henri Barbusse stets vehement abgelehnt hat: Ein solcher Internationalismus würde genau die individuellen Fähigkeiten, Interessen und Begabungen der einzelnen Nationen verwässern, um die es Gide ja gerade zu tun ist. Wenn der Nationalismus deshalb in seinen Augen auf zu viel Abgrenzung setzt, dann der Internationalismus auf zu wenig – in dieser Doktrin ist kein Raum für seine Vorstellung vom Individualismus als Grundlage für ein Europa, das sich als Einheit in der Vielfalt seiner einzelnen Elemente realisiert.59 Dass der Individualismus nun nicht nur der Gedanke ist, dessen Förderung die Möglichkeiten für ein zukünftiges, in der Vielfalt geeintes Europa schaffen könnte, sondern dass er umgekehrt auch die Charaktereigenschaft dieses Europas selbst ist, die es in geistig-kultureller Hinsicht überhaupt erst zu dem gemacht hat,

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André Gide: Réflexions sur l’Allemagne, S. 115–116. «Qui veut sauver sa vie la perdra, mais celui qui la donnera la rendra vraiment vivante.» (André Gide: France et Allemagne, S. 362). Dieselbe Argumentation findet sich auch in Réflexions sur l’Allemagne (vgl. André Gide: Réflexions sur l’Allemagne, S. 115). Vgl. zu der Frage Nationalismus und Internationalismus André Gide: Les rapports intellectuels entre la France et l’Allemagne, in: La Nouvelle Revue Française 98 (novembre 1921), S. 513–521. Gide zitiert hier lange Passagen von Ernst Robert Curtius, in denen sich dieser gegen die seiner Meinung nach fatale Alternative ‹Nationalismus oder Internationalismus› richtet und gelangt mit ihm zu dem Schluss, dass der Internationalismus eine unzulässige Entnationalisierung der Kultur bedeute (vgl. vor allem S. 520).

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was es ist – diese Idee formuliert André Gide in seinem programmatischen Essay L’Avenir de l’Europe (1923). Die Rahmenhandlung, in die er seine Reflexionen in diesem Text einbettet, evoziert dabei wieder einen unvoreingenommenen Blick von außen, wie er auf Reisen und durch den unterwegs erreichten Abstand zum Alltag möglich wird. Diesmal ist es jedoch nicht André Gide selbst, der sich auf Reisen begibt; stattdessen rekonstruiert er eine Unterhaltung, die er mit einem chinesischen Exminister geführt haben will und blickt dadurch gewissermaßen mit den Augen dieses weitgereisten fernöstlichen Gesprächspartners auf Europa.60 Was er dabei sieht, ist durchaus zwiespältig: Auch hier setzen die Überlegungen wieder mit der Diagnose der Müdigkeit ein, die der Chinese in den Gesichtern der Europäer zu erkennen glaubt und aus der er ableitet, diese beherrschten wohl alle nur denkbaren Künste der Welt – außer der einen, glücklich zu sein.61 Dieser Umstand erklärt sich seiner Meinung nach aus der Alternative ‹Fortschritt um den Preis der Ermüdung› oder ‹Verhinderung der Ermüdung dadurch, dass man sich dem Fortschritt verweigert›. Nachdem die Europäer seit jeher auf den Fortschritt gesetzt hätten, sei ihre derzeitige Erschöpfung nicht weiter verwunderlich, stellt der Reisende fest. Bereits an dieser Stelle kommt nun unausgesprochen die Frage des Individualismus ins Spiel, weil der Chinese als ein Gegenbeispiel sein eigenes Land anführt: In China sei die Frage des Fortschritts deshalb nie virulent gewesen, weil man dort seit jeher das persönliche Glück in der Anpassung an eine Norm und in einem möglichst normgerechten und eben nicht in einem individuell jeweils unterschiedlichen Verhalten gesucht habe, wie es der Fortschritt implizit voraussetzt. Der Beobachter von außen ist nun weniger durch diesen Unterschied zwischen Asien und Europa als solchen erstaunt – ausdrücklich betont er, er könne gut verstehen, dass man sich angesichts der Wahl zwischen dem Fortschritt in der individuellen Verwirklichung und der Stagnation im Aufgehen in der Masse für den Fortschritt entscheide, so wie Europa das getan habe. Was ihn allerdings dann doch erstaunt, ist die Unvereinbarkeit dieses europäischen Fortschrittsglaubens mit der Doktrin des Christentums, die ja über Jahrhunderte hinweg und bis in die Gegenwart der prägende Einfluss in Europa schlechthin gewesen sei und deren Kernaussage in der Aufforderung zum Verzicht bestehe.62 Aus diesem Verzicht auch auf die individuelle Verwirklichung müsse sich nun eigentlich eine

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Gide reflektiert in seinem Essay diesen Kunstgriff des Blicks von außen auf das Eigene ausdrücklich, wenn er erklärend hinzufügt: «On ne peut bien juger sans quelque recul; et c’est aussi là ce qui fait qu’il faut se quitter pour se connaître.» (André Gide: L’avenir de l’Europe, in: Ders.: Œuvres Complètes XI, Paris: Nouvelle Revue Française 1936, S. 125). Die Tradition dieses unvoreingenommenen Blicks von außen geht zurück auf Montesquieus Lettres Persanes: Hier ist es ein persischer Reisender, der in Briefen nach Hause das Leben in Frankreich beschreibt. Vgl. Charles Louis de Secondat de Montesquieu: Lettres Persanes, in: Ders.: Œuvres Complètes 1, Oxford: Voltaire Foundation 2004. Vgl. auch Winfried Weisshaupt: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der ‹Lettres Persanes›, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1979. Vgl. André Gide: L’avenir de l’Europe, S. 129. Vgl. ebd.

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Lebenshaltung ergeben, die der Chinese als «état d’enfance» oder als «délectation immédiate et constante» beschreibt,63 die er aber gerade in Europa eben nicht verwirklicht sieht. Die Problematik Europas ergibt sich seiner Meinung nach genau aus dieser fehlenden Übereinstimmung zwischen der europäischen Zivilisation und ihrem Glauben an den Fortschritt auf der einen Seite und der christlichen Lehre und ihrem Verzichtgebot auf der anderen: Ne croyez-vous pas […] que tout ce dont souffre aujourd’hui l’Europe vient de ce qu’ayant opté pour la civilisation, elle se rallie à une religion qui la nie? Par quelle tricherie arrivez-vous à concilier l’un et l’autre? Mais à vrai dire vous ne conciliez rien. Vous vivez dans un compromis.64

Des Chinesen wortreich geäußertes Befremden darüber, dass ausgerechnet die Religion, die ihren Anhängern das Sich-Bescheiden in jeglicher Hinsicht predige, zugleich diejenige sei, die dazu beigetragen habe, «les peuples les plus inquiets, les plus riches, les plus instruits, les plus civilisés […], les plus ingénieux, industrieux, inventifs, les plus rusés, les plus remuants et turbulents» zu formen,65 bietet André Gide dabei zum einen die Gelegenheit, en passant eine Definition dessen zu geben, was für ihn den Kern des europäischen Wesens ausmacht: genau diese von seiner chinesischen Kunstfigur beschriebene produktive Unruhe und Rastlosigkeit nämlich. Zum anderen kann er auf die Diagnose seiner Figur dann aber auch mit einer Erklärung reagieren, die den diese europäische Unruhe begründenden Individualismus zuletzt doch wieder auf die christliche Lehre zurückführt: Das Christentum sei eben doch «une école d’individualisme» und vielleicht sogar «la meilleure école d’individualisme que l’homme ait jusqu’à ce jour inventé»,66 auch wenn der Gesprächspartner in seiner Gegenüberstellung von Christentum und Zivilisation anderes zu vermuten scheint. Einmal mehr ist es an dieser Stelle das von Gide in diesem Zusammenhang so häufig zitierte vermeintliche Paradox des Evangeliums, das den Schlüssel für seine Argumentation liefert: Allein in der Selbstaufgabe, wie sie das Christentum predigt, ist die Selbstverwirklichung möglich; im Verzicht liegt zuletzt der größte Individualismus.67 Dennoch ist sich Gide sehr bewusst, dass es gerade Europas exzessiver Individualismus gewesen ist, der den Kontinent in die schwierige Lage gebracht hat, in der er selbst und der chinesische Reisende ihn wissen: Das Christentum als Schule des Individualismus, die Zivilisation als seine Realisierung – und dennoch

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 131–132. Ebd., S. 132. Anders interpretiert Pascal Dethurens Gides Definition des Christentums als Schule des Individualismus: Seiner Meinung nach wird die europäische Zivilisation ausgerechnet in ihrer Prägung durch das Christentum zur «puissance de fractionnement et de dissémination» (Pascal Dethurens: Gide et la question européenne, S. 118). Vgl. auch hier noch einmal: «Qui veut sauver sa vie la perdra, mais celui qui la donnera la rendra vraiment vivante.» (André Gide: France et Allemagne, S. 362). Auch in L’avenir de l’Europe findet sich dieses Zitat in abgewandelter Form wieder: «C’est en se renonçant qu’on se trouve.» (André Gide: L’avenir de l’Europe, S. 135).

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bleiben beider Ziele einander entgegengesetzt, weil die Zivilisation mit ihrem Fortschrittsglauben zu dem letzten Verzicht nicht bereit ist, zu demjenigen auf den Fortschritt selbst nämlich. Wenn die Geschichte Europas wirklich als eine «traurige Komödie» beschrieben werden kann, so wie Gide sich das vorstellt, dann müsste diese Komödie den knappen Titel «La recherche de l’individuel ou le sacrifice du bonheur» tragen – so fasst er das von ihm konstatierte europäische Dilemma zuletzt zusammen.68 In diesem nicht aufgelösten und tatsächlich wohl unauflösbaren Dilemma, so erklärt André Gide ausdrücklich, sei der Grund für die europäischen Kriege (einschließlich des jüngst zu Ende gegangenen) und für das sich vollziehende oder bevorstehende Ende der europäischen Zivilisation zu suchen. Trotzdem beschließt er seinen Essay über die Zukunft Europas mit einem optimistischen Bekenntnis zu genau dieser Zukunft: Eine solche Zukunft wäre für ihn dann möglich, wenn es gelingen könnte, den Individualismus Europas statt auf partikulare Einzelinteressen auf gemeinsame Ziele hin auszurichten, die außerdem durch eine gemeinsame und allgemein gültige Moral legitimiert sein sollen.69 Die verhaltene Emphase, mit der der Aufsatz endet, hat ihre Entsprechung in dem optimistischen Relativismus, mit dem er angefangen hat. Um sich seiner Frage nach Europa zu nähern, beginnt Gide mit einem Gedankenspiel: Wie würde er ein Kind in Geographie unterrichten, was würde er vermitteln und worauf käme es dabei an? Seine Methode verfährt sukzessive in kleinen Schritten, beginnend bei der kleinsten Einheit hin zu der größten – also vom Garten des zu unterrichtenden Kindes aus über Frankreich, Europa, bis hin zur Erde und dem Weltall. Bei dieser Vorgehensweise steht immer das Ziel im Vordergrund, die Aufmerksamkeit des Kindes zum einen auf die privilegierte Position zu lenken, die Frankreich und Europa in diesem großen Ganzen haben; zum anderen aber trotzdem deren doch nur relative Bedeutung innerhalb des großen Ganzen hervorzuheben. Der Relativismus, der so am Ende von Gides Geographiestunde steht, soll dem Kind die Augen auch für das Fremde, das Andere, das Unbekannte öffnen, um dadurch sein Urteil über das Eigene ausgewogener werden zu lassen. In dieser Frage setzt Gide, der schon in seiner Replik auf Maurice Barrès betont hatte, er habe sich nicht nur selbst für das Reisen entschieden, sondern auch andere dazu verleitet,70 seine Hoffnung ganz auf die Generation des von ihm unterrichteten Kindes: La génération dont je fais partie était casanière; elle ignorait beaucoup l’étranger, et, loin de souffrir de cette ignorance, était prête à s’en glorifier. […] Il me semble que la génération qui nous succède est plus curieuse; elle ne méconnait point le plaisir et le profit de l’aventure; elle ne se sent plus, comme la nôtre, revenue de tout sans être allée nulle part.71

Auch Gides Bekenntnis zur Reise, wie er es hier einmal mehr formuliert, steht in einem engen Zusammenhang mit seinem Verständnis des Individualismus,

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André Gide: L’avenir de l’Europe, S. 133. Vgl. ebd., S. 134–135. Vgl. André Gide: A propos des Déracinés, S. 437. André Gide: L’avenir de l’Europe, S. 124–125.

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insofern die Entwurzelung durch die Reise die wesentliche Bedingung für die volle Entfaltung des Individuums darstellt. Implizit entwickelt André Gide diesen Gedanken schon in Le retour de l’enfant prodigue (1909), wo der zurückgekehrte verlorene Sohn seinen Aufbruch damit begründet, er habe gespürt, dass das Universum größer sein müsse als das väterliche Haus, und er habe die Reise in die Fremde nicht nur unternommen, um dieses Universum kennenzulernen, sondern mehr noch, um sich selbst und seinen Platz darin zu finden.72 Vor diesem Hintergrund können auch Gides eigene Reisen (und nicht zuletzt seine Berichte von diesen Reisen) als Verwirklichungen seines persönlichen Individualismus verstanden werden – und sie werden dabei umso relevanter, als sie ihm nur zu oft die Gelegenheit bieten, über diesen eigenen Individualismus als eine spezifisch europäische Eigenschaft nachzudenken. So steht auch die beinahe einjährige Reise, die André Gide 1925/26 nach Westafrika unternimmt, unter dem Vorzeichen seiner lebenslangen Frage nach dem Individualismus, und nicht von ungefähr ist es hier im Kongo, in der größtmöglichen Entfernung von Europa, dass er sein Bild von Europa abermals im Kontext seiner Reflexion über den Individualismus und den Konformismus präzisiert. Dabei ist diese Reflexion vor allem durch das Erlebnis des Kontrasts zwischen Afrika und Europa geleitet – und dies vor allem insofern, als das Afrika, das sich ihm auf dieser Kongoreise präsentiert, nichts mehr mit dem von ihm so emphatisch bereisten Maghreb zu tun hat, der bei aller Differenz doch immer noch direkter im europäischen Einflussbereich angesiedelt war. Der Kongo ist nun das Andere Europas schlechthin, und das umso deutlicher, als Gide bei den Naturbeschreibungen in seinem Reisetagebuch immer wieder von europäischen Vergleichspunkten ausgeht und dabei jedes Mal enttäuscht zu sein scheint, wenn ihm in Afrika etwas begegnet, das noch Ähnlichkeit mit Europa hat und das deshalb nicht fremd genug ist.73 Einmal mehr sucht André Gide im Kongo die Entwurzelung und die durch diese Entwurzelung bewirkte Distanz zum Vertrauten und Eigenen – aber dennoch bleibt Europa für ihn die Referenz, und das nicht nur, wenn es um Naturbeschreibungen geht. Denn bei aller Entfremdung: Gide reist innerhalb des französischen Kolonialsystems und als Vertreter desselben. Der europäische Kolonialismus, wie er sich ihm unterwegs darstellt, ist für ihn zwar Anlass, nach seiner Rückkehr nach Europa seine Stimme gegen die Ausbeutung Afrikas durch die großen europäischen

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Vgl. André Gide: Le retour de l’enfant prodigue, in: Ders.: Œuvres Complètes V, Paris: Nouvelle Revue Française 1933, S. 12–13. Im Gespräch mit der Mutter nennt der zurückgekehrte Sohn das Ziel seiner Reise ganz ausdrücklich beim Namen: Es habe gegolten, seine Unterschiedlichkeit, seine Besonderheit (im Vergleich zu seinen Brüdern) zu leben (im Französischen heißt es «réaliser sa dissemblance»; S. 16). Vgl. zum Beispiel «Forêt des plus monotones, et très peu exotique d’aspect. Elle ressemblerait à telle forêt italienne, celle d’Albano par exemple, ou de Némi, n’était parfois quelque arbre gigantesque, deux fois plus haut qu’aucun de nos arbres d’Europe, dont la cime s’étale loin au-dessus des autres arbres.» (André Gide: Voyage au Congo, in: Ders.: Œuvres Complètes XIII, Paris: Nouvelle Revue Française 1937, S. 190–191).

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Handelsgesellschaften zu erheben – aber dennoch zieht er dabei nicht das System des Kolonialismus als solches in Zweifel, sondern allenfalls das, was er als dessen Pervertierung empfindet.74 In seiner Auseinandersetzung mit Europa stellt die Frage des Kolonialismus dagegen nur den blassen Hintergrund für Überlegungen dar, die zumeist auf einer intellektuell-abstrakten Ebene und insofern fern von der Frage nach einem politischen oder sozialen Engagement angesiedelt sind.75 Nicht das Erlebnis der kolonialen Realität im Kongo motiviert Gide, sich mit der Beziehung zwischen Afrika und Europa zu beschäftigen, sondern seine alte Frage nach dem Individualismus als europäischem Wesensmerkmal. Denn diese Frage stellt sich ihm im Kongo immer dann, wenn er sich angesichts der Weite der afrikanischen Landschaft vor das Problem gestellt sieht, wie dieser vermeintlichen Unstrukturiertheit begegnet und wie sie beschrieben werden kann: L’absence d’individualité, d’individualisation, l’impossibilité d’arriver à une différenciation, qui m’assombrissaient tant au début de mon voyage […], c’est ce dont on souffre également dans le paysage. A Bosoum, où l’on domine le pays, je me tiens sur cette esplanade de la latérite rouge-ocreux, contemplant l’admirable qualité de la lumière épandue. La contrée est mouvementée, larges plis de terrain, etc., – mais pourquoi chercherais-je à atteindre ce point plutôt que tout autre? Tout est uniforme – pas un site, pas une prédilection possible. Je suis resté tout le jour d’hier sans aucun désir de bouger. D’un bout à l’autre de l’horizon, et où que mon regard puisse porter, il n’est pas un point particulier, et où je me sente désir d’aller. […] Cette notion de la différenciation, que j’acquiers ici, d’où dépend à la fois l’exquis et le rare, est si importante qu’elle me paraît le principal enseignement à remporter de ce pays.76

Immer wieder beschwört Gide so die Gleichförmigkeit, die Monotonie, die fehlende Differenziertheit der Landschaft, der Dörfer und vor allem auch der Menschen, die ihm begegnen; und er notiert nach einem halben Jahr unterwegs in seinem Tagebuch, er werde in Zukunft seine Einträge nicht mehr datieren, weil die Tage ohnehin alle gleich vergingen.77 Damit ergänzt und steigert er die zuvor schon festgestellte Uniformität des Raumes noch durch die Unstrukturiertheit der Zeit: Die Vorstellung von einer Entwicklung oder einem Fortschritt ist mit diesem Zeiterleben unvereinbar – der Kongo ist geprägt durch dieselbe ruhige Stagnation,

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Vgl. Daniel Durosay: L’Afrique des mystères et des misères, in: Magazine littéraire (janvier 1993), S. 44–48, besonders S. 47. Vgl. zu dieser gesellschaftspolitischen Dimension von Gides Kongoreise und insbesondere zu seiner Intervention in der Frage des Kolonialismus seinen eigenen Text La détresse de notre Afrique Equatoriale, in: La Revue de Paris (15 octobre 1927), S. 722–723; Le Dossier de presse de ‹Voyage au Congo›, in: Bulletin des amis d’André Gide 58 (avril 1983), S. 239–249; und Ieme van der Poel: Gide’s Africa/Africa’s Gide, in: Theo D’haen (Hg.): (Un)writing Empire, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1998, S. 229–244. André Gide: Voyage au Congo, S. 277–278. Vgl. auch Gides Bemerkungen gegen Ende seiner Reise: «de nouveau cette énormité, cette informité, cette indécision, cette absence de parti pris, de dessin, d’organisation qui m’affectait à l’excès dans la première partie de notre voyage et qui est bien la caractéristique majeure de ce pays» (S. 326). Vgl. ebd., S. 307.

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die Gides chinesischer Gesprächspartner in L’avenir de l’Europe schon für seine Heimat konstatiert hatte. In dem Essay von 1923 hatte Gide die europäische Zivilisation im Gegensatz zu dieser chinesischen Stagnation als ruhelos und fortschrittsgläubig dargestellt, und er hatte diese Ruhelosigkeit als Folge des Individualismus in Europa beschrieben. In ihr war seiner Meinung nach der Grund dafür zu suchen, dass die europäische Zivilisation im Laufe ihrer Geschichte so fruchtbar und erfolgreich hat werden können. Seine Wahrnehmung der afrikanischen Monotonie und ihr Vergleich mit der europäischen Differenziertheit bringt ihn nun zu ähnlichen Schlüssen: Noch ausdrücklicher als zuvor betont er nach der Rückkehr aus dem Kongo diesen grundlegenden Zusammenhang zwischen Individualismus und Zivilisation: Ohne Differenzierung, ohne Individualismus ist für ihn schlicht keine Zivilisation möglich; Monotonie und Undifferenziertheit sind deshalb immer schon gleichbedeutend mit Barbarei: C’est au sein de la sauvagerie africaine que j’apprends à connaître mieux la civilisation européenne […]. Un des caractères les plus particuliers, les plus difficiles à admettre pour nos cerveaux européens civilisés, c’est l’extrême difficulté des indigènes de l’Afrique Centrale […] de se séparer individuellement de leurs clans, de leurs tribus, de leurs races. Chacun ne dit pas ‹je› mais ‹nous›. […] Il nous force à comprendre que l’individu n’a été qu’une lente conquête sur l’informe, sur l’indistinct. C’est à partir de cette différenciation que commence la civilisation. Rien de tel qu’une plongée dans la sauvagerie pour vous faire apprécier la culture, qu’une plongée dans le collectif pour vous rendre individualiste.78

Die Differenzierung als Beginn der Zivilisation: Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich auch eine Eigenheit von Gides Aufzeichnungen aus dem Kongo erklären, die seit der Veröffentlichung seiner Reisetagebücher immer wieder für leichte Irritation gesorgt hat – die Tatsache nämlich, dass der Reisende den Kongo versunken in die großen Werke der europäischen Literatur durchquert, und dass seine Notizen von unterwegs sich keineswegs allein der afrikanischen Wirklichkeit widmen, sondern dass er die Beschreibungen dieser Wirklichkeit immer wieder unterbricht durch ausführliche Kommentare zu seiner Goethe-, Molière- oder Shakespeare-Lektüre.79 Das Befremden über die tags in der Sänfte gelesenen und

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André Gide: Voyage au Congo (= einführende Bemerkungen zu Marc Allégrets Film über die Kongoreise, Brüssel 1928), erstmals publiziert in Bulletin des amis d’André Gide 133 (janvier 2002), S. 25–29, hier S. 28. Vgl. zum Beispiel «Ravissement à relire Cinna, dont je réapprends le début. Quelle prodigieuse précipitation de notre littérature vers l’artificiel! […] C’est le triomphe de l’art sur le naturel. Le plus abstrus sonnet de Mallarmé n’est pas plus difficile à comprendre que, pour le spectateur non prévenu, non apprivoisé par avance, l’enchevêtrement de cet amphigouri sublime. Sitôt après je relis Iphigénie.» (André Gide: Voyage au Congo, S. 312–313). Vgl. die zeitgenössischen Rezensionen in Le Dossier de presse de ‹Voyage au Congo›, und hier insbesondere den Artikel von Paul Souday aus Le Temps (19 avril 1928). Souday schreibt: «Pour se désennuyer, il lisait. […] Il y a plus de confort à Auteuil ou à Cuverville-en-Caux. Mais on conçoit que le milieu nègre fit valoir ses lectures par contraste.» (S. 242).

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abends im Zelt kommentierten Wahlverwandtschaften lässt sich indes auflösen, wenn man Gides Lektüregewohnheiten in einen Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von Differenziertheit und Unförmigkeit, von individueller Unterscheidbarkeit und monotoner Einförmigkeit stellt. Dann sind die Wahlverwandtschaften nämlich nicht nur Teil eines europäischen Literaturoder Kulturkanons, der dem Reisenden die Widrigkeiten der afrikanischen Realität leichter erträglich machen soll; sondern dann sind sie sehr viel präziser als Mittel zur persönlichen Individualisierung des Europäers in der afrikanischen Monotonie und Gleichförmigkeit beschreibbar. «Als Medium seiner Subjektivität hält der europäische Reisende der übermächtig erscheinenden afrikanischen Wildnis die abendländischen Bildungsgüter entgegen»,80 so beschreibt Peter Ihring diesen Mechanismus. Hinter Gides Geste steht aber tatsächlich mehr als nur das: In Afrika ist es nicht allein die persönliche Subjektivität des Reisenden, die zunächst durch die fehlende Differenzierung in Frage gestellt und dann durch die Lektüre wiederhergestellt wird – sondern es geht dabei um das Selbstbewusstsein dieses Reisenden als Europäer und damit zuletzt um Europa selbst. Im Zusammenhang mit der Frage nach den Wahlverwandtschaften im Kongo wird so deutlich, worauf André Gide mit seinem Beharren auf dem Individualismus und der Differenzierung als Basis der europäischen Zivilisation schließlich zielt: Nur dieser Individualismus, so seine implizite Argumentation, hat die europäische Kultur möglich gemacht; nur durch diesen Individualismus sind die großen Werke dieser Kultur erklärbar und verständlich; und nur dadurch, dass der europäische Schriftsteller sich sowohl durch seine Lektüre als auch durch seine Produktion in diese individualistische Tradition einfügt, kann es ihm gelingen, der Geschichte der europäischen Zivilisation ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Nach seiner Rückkehr aus Afrika fasst André Gide deshalb die Erkenntnisse der Reise in Bezug auf diese für ihn essentielle Frage der Differenzierung als Basis der Zivilisation zusammen, und er schließt seine Ausführungen dabei mit der Warnung vor einem Rückfall in die Barbarei der Undifferenziertheit und der Konformität: Nur wenige Jahre später wird die europäische Kultur ihren ganzen Individualismus aufwenden müssen, um sich genau gegen einen solchen Rückfall in die Barbarei zur Wehr zu setzen: Et que la notion de l’individu soit la première création et invention de la civilisation, il est d’autant plus intéressant de le constater et de le comprendre, aujourd’hui, que cette notion de l’individu tend à se perdre et à se dissoudre. Le retour à la barbarie reste toujours à craindre. Le barbare, point n’est besoin d’aller jusqu’au Congo pour le trouver. Il est en chacun de nous, qui sommeille; plus ou moins apprivoisé ou dompté;

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Peter Ihring: «Comme si je n’étais pas…» Preisgabe und Restituierung der Subjektivität in André Gides afrikanischen Reisetagebüchern ‹Voyage au Congo› und ‹Le retour du Tchad›, in: Lendemains 81 (1996), S. 19–31, hier S. 27. Vgl. auch Hans-Jürgen Lüsebrink: Gide l’Africain. Réception franco-allemande et signification de ‹Voyage au Congo› et du ‹Retour du Tchad› dans la littérature mondiale, in: Bulletin des amis d’André Gide 112 (octobre 1996), S. 363–378, besonders S. 376.

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plus ou moins enfoui sous les sédiments patiemment apportés par la culture. Rien de plus intéressant que de le retrouver à l’état natif…81

6.2

Klaus Mann: Europa als dialektischer Prozess

Die Warnung vor dem Rückfall der europäischen Zivilisation in die Barbarei, die André Gide 1928 mit Blick auf seine Erfahrungen aus dem Kongo ausspricht, findet Jahre später ihre Entsprechung im Werk von Klaus Mann: Während des Kampfes gegen den Faschismus, den auch er über Jahre hinweg mit allen literarischen und publizistischen Mitteln geführt hat, stilisiert er diesen Faschismus immer wieder zum Inbegriff einer Barbarei, die die zivilisatorischen Errungenschaften Europas in ihrem Kern bedroht. Wie schon bei André Gides ist auch bei Klaus Mann auffällig, wie sehr auch er betont, dass der Ursprung dieser Barbarei im Herzen der Zivilisation selbst zu suchen sei. Es ist eben keine Bedrohung von außen, der die Zivilisation ausgesetzt ist, sondern eine, die von innen heraus wirkt und die dadurch nur umso gefährlicher ist. Die Erwähnung der Schlacht bei Salamis, in der die Griechen ihre Zivilisation gegen die herandrängenden Perser verteidigt haben, dient Mann in diesem Zusammenhang immer wieder dazu, sein Bild von der Geschichte als fortwährender Variation von konstanten Themen zu verdeutlichen: Die Perser kommen… Der Angst- und Kampfesruf der Hellenen hat nichts von seiner schicksalhaften Aktualität verloren. Aber Geschichte ist Variation und Entwicklung des mythischen Modells – nicht seine Wiederholung. Die Bedrohung, der die griechischen Staaten sich ausgesetzt fanden, erscheint beinahe harmlos im Vergleich mit jener, die wir nun zu ermessen und zu bestehen hatten. Denn diesmal war es kein äußerer Feind, der den Sturm auf die Akropolis wagte: Die Gefahr kam von innen.82

Beide Autoren rufen mit ihren Warnungen vor dem Faschismus (oder, allgemeiner, vor jeglichem dogmatischen Konformismus) hier ein gewissermaßen dialektisches Modell auf, das die These von der europäischen Zivilisation durch die Antithese von der dieser Zivilisation selbst innewohnenden Barbarei ergänzt. Und tatsächlich greift besonders Klaus Mann in seiner Auseinandersetzung mit Europa immer wieder auf solche dialektischen Denkfiguren zurück, um das Wesen des Kontinents zu beschreiben. Europa ist bei Mann derjenige Kontinent, der sich eben nicht allein durch seine auf die griechische Antike und die christliche Überlieferung zurückgehende Tradition charakterisiert,83 sondern der aus dieser

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André Gide: Voyage au Congo (= einführende Bemerkungen zu Marc Allégrets Film über die Kongoreise, Brüssel 1928), S. 28–29. Vgl. dazu auch Daniel Durosay: Images et imaginaire dans ‹Le Voyage au Congo›: un film et deux ‹auteurs›, in: Bulletin des amis d’André Gide 16 (octobre 1988), S. 9–30. Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 162004, S. 344. «Dieser doppelte Genius – die zweifache Offenbarung von Athen und Jerusalem – ist immer der moralische Kern und die Grundlage unserer Zivilisation gewesen und muß es bleiben.» (Klaus Mann: Hommage an Griechenland, in: Ders.: Zweimal Deutschland.

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doppelten Tradition vor allem den Gedanken von einer Entwicklung in solch dialektischen Kategorien übernommen und perfektioniert hat: Das europäische Drama nimmt seinen Lauf nach höchst komplizierten, dialektischen Gesetzmäßigkeiten. Seine entscheidenden Entwicklungen haben häufig, wenn nicht gar immer eine doppelte Wirkung: Enthalten sie doch gleichzeitig den Keim des Fortschritts und den des Unheils, den der Befreiung und den der Katastrophe.84

Die Tatsache, dass dieses Muster dabei immer eine gewisse Beweglichkeit im Denken voraussetzt, die der Unabschließbarkeit der dialektischen Dynamik von These und Gegenthese Rechnung trägt, ist im Kontext der immer auch geistig zu verstehenden, prononcierten Wurzellosigkeit Klaus Manns dabei nur konsequent. Die produktive Unruhe, die schon André Gide in seinem Essay L’Avenir de l’Europe als wesentliches Kennzeichen des europäischen Geistes beschrieben hatte, findet so nicht nur konkret in der rastlosen Bewegung beider Autoren innerhalb und außerhalb Europas ihren räumlichen Ausdruck, sondern sie ist in einem übertragenen Sinne auch den dialektischen Denkfiguren eigen, wie sie Klaus Mann als spezifisch europäisch kennzeichnet und wie sie seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema zugrunde liegen. Diese Auseinandersetzung ist dabei auf eine andere Art und Weise als im Falle André Gides um den Ersten Weltkrieg herum strukturiert: Klaus Mann, der den Krieg als Kind erlebt hat, betont zwar stets die wesentliche Prägung, die er selbst und seine Generation durch den Krieg erfahren hätten; er kann dabei aber kaum auf Erinnerungen an ein Europa vor dem Krieg zurückgreifen, wie es für die Generation seines Vaters, seines Onkels oder eben auch André Gides ganz selbstverständlich ist. Seine eigene Generation ist für ihn deshalb die Nachkriegsgeneration im eigentlichen Sinne, für die der Krieg weniger einen Sündenfall als vielmehr einen Ursprung darstellt. In den zwanziger Jahren, als Mann seine literarische und publizistische Karriere beginnt, stehen so vor allem Fragen nach dem Wesen und den Merkmalen dieser jungen europäischen Nachkriegsgeneration im Vordergrund. Gegen Ende der zwanziger Jahre fängt er dann an, diese Fragen auch in politischer Hinsicht zu präzisieren, und diese Entwicklung findet mit Beginn seines Exils 1933 ihr eigentliches Ziel. Von Anfang an erlebt Klaus Mann sein Exil als eine Verpflichtung zum Engagement, und von Anfang an ist dieses Engagement gegen den Faschismus dabei insbesondere von seinem Kosmopolitismus und seiner Bereitschaft zur (geistigen und körperlichen) Entwurzelung getragen: Auch hier wird wieder deutlich, wie sehr die Unrast Klaus Manns in seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus derjenigen entspricht, die er im Einklang mit André Gide als das wesentliche Merkmal des europäischen Geistes beschreibt. Nicht umsonst schreibt sich so auch sein Versuch, der These

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Aufsätze, Reden, Kritiken 1938–1942, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 367–373, hier S. 371). Vgl. auch Klaus Mann: Das Herz Europas, in: Ders.: Auf verlorenem Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken 1942–1949, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 50–64, hier S. 50. Klaus Mann: Das Herz Europas, S. 53.

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des Nationalsozialismus die Antithese eines sozialistisch geprägten Humanismus entgegenzusetzen, in das dialektische Grundmuster ein, das er in der europäischen Geschichte immer wieder am Werk sieht. 6.2.1

Woher wir kommen

Was für eine Geschichte ist es denn, die ich zu erzählen habe? Die Geschichte eines Intellektuellen zwischen zwei Weltkriegen, eines Mannes also, der die entscheidenden Lebensjahre in einem sozialen und geistigen Vakuum verbringen mußte: innig – aber erfolglos – darum bemüht, den Anschluß an irgendeine Gemeinschaft zu finden, sich irgendeiner Ordnung einzufügen: immer schweifend, immer ruhelos, beunruhigt, umgetrieben, immer auf der Suche…; die Geschichte eines Deutschen, der zum Europäer, eines Europäers, der zum Weltbürger werden wollte.85

Dadurch, dass Klaus Mann die Eckpunkte seiner eigenen Biographie hier bewusst kursorisch und skizzenhaft andeutet, wird deutlich, in welchem Maße ihm diese seine Lebensgeschichte als repräsentativ für die Epoche erscheint, innerhalb derer sie sich abspielt: Die Geschichte desjenigen, der den Radius seiner Bewegungen immer weiter ausdehnt, um überhaupt Luft zum Atmen finden zu können, ist die des europäischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit im allgemeinen; und wenn Klaus Mann die Geschichte seines Lebens auf diese Weise objektiviert, dann fällt dabei einmal mehr seine besondere Betonung der geistigen Unruhe ins Auge, die für dieses repräsentative Leben kennzeichnend ist. Der europäische Intellektuelle seiner Zeit ist für Mann der Getriebene, der Ruhelose, der Nomade oder der Wanderer zwischen den Welten schlechthin, und insofern erstaunt es nicht, dass schon die Sammlung von Aufsätzen, die er kurz vor seinem Gang ins Exil veröffentlicht, den Titel Auf der Suche nach einem Weg trägt.86 Die Suche nach einem Weg beginnt mit der Positionsbestimmung, und so unternimmt es Mann vor allem in den zwanziger Jahren immer wieder, auf der einen Seite seine eigene, ganz persönliche Position und auf der anderen damit zugleich auch diejenige seiner Generation im allgemeinen zu definieren.87 Die eigene Position, durch die er sich trotz aller Gemeinsamkeiten von den Altersgenossen unterscheiden will, lässt sich ihm zufolge dabei vor allem aus den geistigen Einflüssen und Prägungen seiner Kindheits- und Jugendjahre herleiten. Für Mann stellen Schriftsteller wie Goethe und Nietzsche, Stendhal und Novalis Einflüsse dar, die allen europäischen Intellektuellen gemeinsam sind, und die insofern nicht mehr zur Differenzierung der je eigenen und individuellen Position herangezogen werden können. Die eigene Position vor dem gemeinsamen Hintergrund der europäischen Geistesgeschichte kann vielmehr nur durch die Untersuchung der

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Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 591. Klaus Mann: Auf der Suche nach einem Weg, Berlin: Transmare 1931. «Frühzeitig versuchte Klaus Mann den Ort zu bestimmen, an dem er als Angehöriger und Repräsentant einer fragmentarischen Zwischenkriegs-Generation stand.» (Martin Gregor-Dellin: Nachwort, in: Klaus Mann: Heute und morgen. Schriften zur Zeit, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1969, S. 339–349, hier S. 340).

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«Begegnungen im Geiste» bestimmt werden,88 wie sie in der individuellen Lektüre von zeitgenössischen und aktuellen Autoren verwirklicht werden: Aus diesen Begegnungen im Geiste lässt sich eine Art persönlicher Kanon zusammenstellen, der den eigenen Charakter geprägt und dadurch den eigenen Werdegang beeinflusst hat. In einem kurzen Aufsatz mit dem Titel Woher wir kommen – und wohin wir müssen (1930) unternimmt Klaus Mann eine knappe Beschreibung dieses seines persönlichen Kanons, und der zweiteilige Titel dieses Aufsatzes ist dabei Programm: Neben dem Einfluss seines Vaters und seines Onkels betont Mann hier vor allem denjenigen, den Frankreich für seine intellektuelle Entwicklung gehabt hat, und dabei steht neben dem deutsch-französischen Vermittler Ernst Robert Curtius einmal mehr auch André Gide an prominenter Stelle.89 Insofern Gide für Klaus Mann ein intellektuelles Europa verkörpert, wie es gerade im Verlauf der zwanziger Jahre immer deutlicher zum Zielpunkt seiner Suche nach einem Weg wird,90 fallen in seiner Person gewissermaßen die beiden Hälften des Aufsatztitels zusammen: Wir kommen, so suggeriert Klaus Mann in seinem Aufsatz, aus einer gemeinsamen Tradition des europäischen Geistes, innerhalb derer jeder von uns durch die Auswahl seiner Lektüren individuelle Schwerpunkte setzen kann; wir müssen, so schließt er implizit an, uns am Beispiel Gides orientieren und «[i]n Bewegung bleiben, auch wenn wir noch nicht genau wissen, wohin es geht.»91 Auch wenn Klaus Mann zugesteht, dass das Ziel einer Bewegung nicht unbedingt feststehen muss, um sie dennoch zu unternehmen, so schwingt doch auch hier unausgesprochen die Frage mit, die der Titel der Essaysammlung Auf der Suche nach einem Weg formuliert: Selbst wenn das Ziel noch nicht klar sein mag, so muss doch eine Entscheidung für die Richtung getroffen werden. An dieser Stelle fügt sich Manns persönliche intellektuelle Positionsbestimmung aus Woher wir kommen – und wohin wir müssen in den größeren Zusammenhang seiner Fragen nach der Haltung und dem Wesen der europäischen Jugend nach dem Ersten Weltkrieg im allgemeinen. Hier ist es nämlich zunächst immer wieder und sehr explizit eine fundamentale Orientierungslosigkeit, die er als das wesentliche Kennzeichen dieser Jugend hervorhebt. Während die Generation zuvor noch mit festen Werten und klaren Zielen aufwachsen konnte, haben die Erschütterungen des Krieges diese Werte und Ziele für die junge Generation grundsätzlich fragwürdig werden lassen: Unsere Jugend, hineingeboren in den Aufbruch des Weltkrieges, aufgewacht und aufgewachsen in Jahren des Chaos, der Unordnung, da ein Altes sich auflöste und ein Neues

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Klaus Mann: Woher wir kommen – und wohin wir müssen, in: Ders.: Die neuen Eltern, S. 324–327, hier S. 325. Vgl. ebd., S. 325–326. Vgl. zu dem Einfluss Ernst Robert Curtius’ auf Klaus Mann Axel Plathe: Klaus Mann und André Gide. Zur Wirkungsgeschichte französischer Literatur in Deutschland, Bonn: Bouvier 1987, S. 42. «Er war es mit seiner Unruhe, seiner Neugierde, seiner stolzen Unerbittlichkeit der Selbstanalyse, der mir den höchsten Begriff vom europäischen Schriftsteller gab.» (Klaus Mann: Woher wir kommen – und wohin wir müssen, S. 325–326). Ebd., S. 327.

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sich versuchte und tastete und nicht fand, […] steht verwirrt, ganz entgleist zwischen allen Extremen, verlockt von so vielen Wegweisern und falschen Propheten – ahnt vielleicht irgendwo schon ein Licht, träumt davon, kann es aber niemals ganz fassen.92

Wenn hier die Suche nach dem Weg durch die Fülle von in unterschiedliche Richtungen weisenden Wegweisern erschwert wird, dann zeigt diese Metapher nicht nur erneut, wie sehr Klaus Mann auch in diesem Kontext einer Charakterisierung seiner Generation in Begriffen der Bewegung und des Unterwegsseins gedacht hat. Darüber hinaus verweist das Bild auch auf einen Zwiespalt, der dem Unterwegssein als Lebensform immer innewohnt: Zum einen mag diese Lebensform durch ihre immer neuen Herausforderungen und Angebote tatsächlich von großem Reiz sein – schließlich kennzeichnet Mann die Jugend ja als «verlockt» von den unterschiedlichen Richtungen, die die Wegweiser ihr zeigen. Zum anderen aber droht durch das ständige Unterwegssein und das Niemals-Ankommen auch die Entgleisung – das heißt also der Verlust der eigenen Mitte und der eigenen Ziele; und womöglich ist es zuletzt gerade diese Gefahr der Entgleisung, die die Verlockungen so reizvoll erscheinen lässt. Orientierungslosigkeit auf der einen Seite also – auf der anderen aber durchaus auch ein gewisser Zugewinn an Lust, der durch die Orientierungslosigkeit hervorgerufen wird: Das sind die wesentlichen Bedingungen, unter denen Klaus Mann sich selbst und seine Generation nach dem Ersten Weltkrieg erwachsen werden sieht, und diese Bedingungen stellen dabei nur scheinbar einen Gegensatz dar. So reflektiert Mann in seinem Essay Fragment von der Jugend (1926) abermals die Verlorenheit der jungen Generation in den Jahren nach dem Krieg, und den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt dabei wieder die Annahme dar, dieser Krieg habe das Ende der europäischen Zivilisation eingeläutet, so wie sie vorher existiert hat. Die Ratlosigkeit gerade unter den jungen Künstlern und Intellektuellen, die Klaus Mann deshalb konstatiert, wird von ihm allerdings keineswegs nur in einem negativen Licht dargestellt. Am Beispiel des dänischen Dichters Herman Bang zeigt Mann deutlich auch die andere, produktivere Seite der Suche nach einem Weg: So glaubt er in den Büchern Bangs nicht allein die eigene Orientierungslosigkeit mit ihrer Frage nach dem Wohin wiedererkennen zu können, sondern zugleich auch eine intensivierte Beziehung zum Leben, eine, wie er wörtlich schreibt, «Lebensgläubigkeit»,93 wie sie auch er selbst und seine Altersgenossen nur zu gut kennten. «Das Leben lieben, aber fremd sein in ihm: dies Schicksal […], wir fanden es in jedem seiner Bücher wieder.»94 Diese ambivalente Liebe zum Leben findet nun sowohl bei Herman Bang als auch bei Klaus Mann selbst ihren Ausdruck in einem gesteigerten Körperbewusstsein, in einer bewussten Hinwendung zum Physiologischen und Erotischen:

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Klaus Mann: Mein Vater. Zu seinem 50. Geburtstag, in: Ders.: Die neuen Eltern, S. 48– 50, hier S. 49. Klaus Mann: Fragment von der Jugend, ebd., S. 60–71, hier S. 68. Ebd.

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Vielleicht liebten wir ihn so, weil in seiner Liebe zum Körper seine Liebe zum Leben war – und daß Körperliebe und Lebensliebe eins sein mußten, gleich hoffnungslos und gleich wundervoll beide, begriffen wir damals schon.95

Zu diesem Zeitpunkt stellt Mann die Exaltation des Lebens im Körper, die er hier am Beispiel Bangs aufweist und die er als diejenige Eigenschaft beschreibt, mit der seine Generation auf ihre Verlorenheit in einer Welt ohne festen Rahmen reagiere, noch in ausschließlich positiven Kategorien dar. Jahre später, in seiner Autobiographie, wird sein Urteil sehr viel distanzierter ausfallen: Dort beschreibt er seinen frühen Körperkult als «Überbetonung des Somatischen» und als «puerile[…] Sexualmystik».96 Trotz dieser nachträglichen Distanzierung bleibt jedoch auch hier deutlich, dass für Klaus Mann die eigene, inzwischen mit Skepsis betrachtete Haltung keineswegs eine individuelle Verirrung gewesen sein kann, sondern dass sie vielmehr als Symptom für die Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation zu verstehen ist. Insofern, und auch wenn ihm nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus inzwischen jegliche Form des Körperkults suspekt erscheinen muss, erkennt Klaus Mann auch im Rückblick durchaus noch die Berechtigung seiner damaligen Haltung an: Wir konnten nicht von einer sittlichen Norm abweichen. Es gab keine solche Norm. Die moralischen Clichés der bourgeoisen Ära, diese atavistischen Tabus einer zugleich selbstgefällig satten und neurotisch inhibierten Gesellschaft, hatten in den Kriegs- und Revolutionsjahren ihre Autorität und Überzeugungskraft verloren, endgültig, wie wir damals glauben wollten. So gründlich erledigt, so durchaus ‹passé› erschien uns diese puritanisch-bürgerliche Sittlichkeit, daß es uns nicht einmal der Mühe wert erschien, uns polemisch mit ihr abzugeben.97

Allerdings, und darauf weist Klaus Mann mit dem Hinweis auf seinen Verzicht auf eine polemische Auseinandersetzung mit den überholten Normen implizit hin, fehlt der zwischen Orientierungslosigkeit und Lebensemphase schwankenden europäischen Jugend dabei die Bereitschaft zur Kritik und insofern eine gewisse Intellektualität. Mann bezieht sich in seiner nachträglichen Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie immer wieder auf diesen Mangel an kritischer Reflexion, und warnt auf diese Weise vor allem vor dessen gefährlicher Nähe zum Irrationalismus. Schon in den zwanziger Jahren selbst sieht er diesen Irrationalismus in einem ausdrücklichen «Mißtrauen gegen den Geist» verwirklicht, das sich innerhalb der jungen Generation entweder in einer «bösartige[n] Geistfeindschaft» oder aber in einer «Übersättigung an Geist» Bahn breche;98 und obwohl er ausdrücklich feststellt, auch er selbst habe diese Haltung geteilt, so spricht doch spätestens Ende der zwanziger Jahre aus seinen Diagnosen und Analysen eine profunde Skepsis:

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Ebd., S. 68. Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 167. Ebd. Klaus Mann: Heute und morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas, in: Ders.: Die neuen Eltern. S. 131–152, hier S. 133.

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So war das einzige, was wir hassen mußten, Rationalismus. Hier allein empfanden wir das Lebensfremde, Böse. […] Wir liebten das Leben, das alles Geheimnis war, alle Lustigkeit, alle Verzweiflung, wir liebten den atmenden Körper als die göttlichste Form, in der das geheimnisvolle Leben sich darstellt. […] Anbetungswürdig war alles Leben, böse nur die Kritik.99

Der Aufsatz Heute und morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas (1927), in dem Klaus Mann dieser Skepsis zum ersten Mal explizit Ausdruck verleiht, markiert deshalb eine Art Wendepunkt in seiner Beschäftigung mit der Frage nach den Merkmalen oder den Zielen seiner Generation. Zum ersten Mal formuliert er ein Programm, das sich nicht nur auf die Beschreibung eines mehr oder weniger orientierungslosen und exaltierten Zustands beschränkt, sondern das diesem Zustand ein klares politisches und soziales Ziel entgegensetzt.100 Unter Berufung auf Heinrich Mann, Ernst Bloch und Richard Coudenhove-Kalergi fordert Klaus Mann in Heute und morgen das eindeutige Bekenntnis der jungen europäischen Intellektuellen zu Europa. Nur in diesem Bekenntnis sowohl zu den gemeinsamen Traditionen als auch zu der gemeinsamen Zukunft des Kontinents könnten die bislang ziellos verstreuten Energien des europäischen Geistes gebündelt und fruchtbar gemacht werden: So haben wir über unseren einsamen Abenteuern gar zu sehr das andere vergessen, das uns zusteht. Wir sind Mitglied einer höchst gefährdeten Gemeinschaft, wir sind Europäer – wehe uns, vernachlässigen wir hier unsere Pflicht! Dann bleiben unsere Träumereien ohne Bedeutung, unsere munteren und verzweifelten Selbstgespräche werden uninteressant, wenn wir auf dieser anderen Seite versagen. Die andere Seite ist unsere soziale Verpflichtung, unsere streng geforderte, notwendig zu erfüllende Aufgabe, als geistiger Nachwuchs Europas. Wir sind verloren, vergessen wir sie.101

Anders als die Essays und Artikel aus den Jahren zuvor geht es in Heute und morgen um die Pflicht und die Verantwortung der jungen Generation; anders als zuvor sind der Weg und auch sein Ziel jetzt klar definiert: Es gilt, sich als junger Europäer tatsächlich auch für dieses Europa einzusetzen und dem durch den Ersten Weltkrieg ins Wanken geratenen Kontinent dadurch überhaupt erst die Existenz zu ermöglichen. Diese Wendung hin zur Verantwortung wird von Klaus Mann schon in Heute und morgen selbst dadurch reflektiert, dass er seine

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Ebd., S. 142. Vgl. dazu Michel Grunewald: Klaus Mann 1906–1949, Frankfurt/Bern u. a.: Lang 1984, S. 60. Grunewald betont ausdrücklich die Scharnierfunktion, die der Essay in Klaus Manns Werk an der Schwelle hin zum Engagement einnehme, wenn er schreibt: «Heute und morgen constitue un tournant dans l’évolution de Klaus Mann. L’un des buts les plus importants qu’il se fixe dans son essai est d’inviter la jeunesse à se préoccuper activement du progrès. Ceci le conduit à adopter des positions et un ton différents de Fragment von der Jugend.» Vgl. auch Elke Kerker: Weltbürgertum – Exil – Heimatlosigkeit. Die Entwicklung der politischen Dimension im Werk Klaus Manns von 1924–1936, Meisenheim am Glan: Hain 1977, S. 73. Klaus Mann: Heute und morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas, S. 142.

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neue Haltung bewusst abgrenzt von der bisherigen Gedankenlosigkeit der jungen europäischen Intellektuellen, die er hier als «einsame[…] Abenteuer» beschreibt. Spätestens im Rückblick seiner Autobiographie stilisiert Mann diesen Wendepunkt seiner Entwicklung dann aber ganz ausdrücklich zum Ziel seiner jahrelangen Suche nach einem Weg. Hier schreibt er über die Jahre unmittelbar nach der Veröffentlichung von Heute und morgen: Immer noch keine Richtung? Immer noch kein Programm? Nach so vielen Fahrten immer noch kein Ziel? Doch: Ich versuchte, meiner Sehnsucht einen Namen zu geben, mein Erbe und meine Verpflichtung zu benennen. Europa! Diese drei Silben wurden mir zum Inbegriff des Schönen, Erstrebenswerten, zum inspirierenden Auftrieb, zum politischen Glaubenbekenntnis und moralisch-geistigen Postulat.102

Es ist indes kein Zufall, dass Klaus Mann seinen europäischen Weg ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt Ende der zwanziger Jahre entdeckt – 1928 reist er mit seiner Schwester um die Welt, und es sind ganz ausdrücklich die Erlebnisse und Erkenntnisse dieser Weltreise, die ihn schon unterwegs und mehr noch nach seiner Rückkehr zur Reflexion über den Ausgangspunkt der Reise veranlassen: Wie winzig und verwundbar es sich ausnimmt, unser liebes altes Europa, von Kansas oder von Korea aus betrachtet! Die gerührte Zärtlichkeit, mit der ich unterwegs an die ferne Heimat dachte, war nicht frei von Sorge. Solange ich Europa nicht verlassen hatte […], blieb mein Denken auf rein europäische Begriffe und Vorstellungen beschränkt. Die Begegnung mit den enormen Weiten Amerikas und Asiens brachte mir zum Bewußtsein, daß Europa nicht die Welt ist und daß Europa seine Stellung in der Welt verlieren muß, wenn es fortfährt, sich in selbstmörderischem Bruderzwist zu erschöpfen und zu zerfleischen.103

Der Blick von unterwegs zurück auf Europa fördert im Falle Klaus Manns ähnlich relativierende Erkenntnisse zutage, wie sie schon der chinesische Reisende in André Gides Essay L’avenir de l’Europe formuliert hatte: Von außen betrachtet ist Europa nicht nur klein und eng, sondern vor allem auch dadurch sehr gefährdet, dass es sich zu lange über seine vermeintlich unanfechtbare Vormachtstellung in der Welt definiert und darüber versäumt hat, die eigenen Probleme im Innern zu lösen. Die überraschende Erkenntnis des Europäers Klaus Mann, dass «Europa nicht die Welt ist», stellt so die Basis für die nur vermeintlich banale Frage dar, was dieses Europa denn dann sein kann. Die Antworten, die Mann auf diese Frage findet, haben dabei einmal mehr eine zugleich kulturelle und politische Dimension, und beide sind von Anfang an klar auf einander bezogen. In dem Essay Die Jugend und Paneuropa (1930) betont Mann so die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Einigung Europas, um dem Kontinent das Überleben zwischen Asien und Amerika zu sichern; er fordert jedoch im selben Atemzug, es sei für das Gelingen dieser wirtschaftspolitischen Einigung

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Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 281. Ebd., S. 285.

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unabdingbar, dass sie auf geistigen Grundlagen aufbaue.104 Er konstatiert eine fundamentale Krise Europas, die er als «Glaubenskrise des Abendlandes» beschreibt und von der er betont, sie betreffe seit 1914 ausnahmslos alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens. Unter Bezug auf Henri Massis und sein Buch Die Verteidigung des Abendlandes (deutsche Erstausgabe 1930) macht Mann aber in der Folge sehr deutlich, dass es trotz der umfassenden Krise Europas nicht darum gehen könne, vermeintlich einfache Lösungen als Ausweg aus dieser Krise aufzuzeigen. So operiere Massis mit einem verengten Begriff von Europa, wenn er dieses allein aus der griechisch-lateinischen Kultur und dem Katholizismus erklärt, und wenn er davon ausgehend die Probleme des Kontinents allein in dessen Bedrohung durch einen diffus beschriebenen «Orient» und in der zu befürchtenden Allianz Deutschlands mit diesem Osten sieht.105 Klaus Mann betont, Massis’ Diagnosen seien in vielen Punkten zutreffend. Er wendet sich jedoch klar gegen den ausgrenzenden Gestus, der ihm zufolge dessen Buch zugrunde liegt.106 Sein eigener Begriff von Europa, den er in der Auseinandersetzung mit Henri Massis entwickelt, ist dagegen einer, der bewusst auf Austausch und Offenheit setzt: «Wahrhaft europäisch ist nur, was sich zugleich öffnet und bewahrt, was in sich aufnimmt, ohne sich zu verlieren.»107 Diese Feststellung erinnert nun nicht von ungefähr an André Gides Äußerungen im selben Zusammenhang: Sowohl in der Formulierung Klaus Manns als auch in der Essenz dessen, was er sagt, scheinen deutlich Gides Vorstellungen vom europäischen Individualismus durch, wie er sie etwa immer dann formuliert, wenn er das Evangelium zitiert: «Qui veut sauver sa vie la perdra, mais celui qui la donnera la rendra vraiment vivante.»108 Tatsächlich verweist Mann unmittelbar in der Folge ausdrücklich auf Gide und beschreibt ihn in Begriffen, die Gides eigene Ideen von der beweglichen kulturellen Identität Europas als Einheit in der Vielfalt aufzugreifen scheinen: Der repräsentative Name für das Frankreich, das ich meine und liebe, war und ist André Gide, der sehr französisch blieb, indem er mit einer geistigen Abenteuerlust ohne Grenzen sich an der Essenz fremden Wesens bereicherte.109

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Vgl. Klaus Mann: Die Jugend und Paneuropa, in: Ders.: Die neuen Eltern, S. 256–273, hier S. 256. Vgl. ebd., S. 258–259. Die französische Ausgabe von Massis’ Buch datiert von 1927, vgl. Henri Massis: La Défense de l’Occident, Paris: Plon 1927. «Ich sagte, dieses Buch sei wichtig und stärkend zu lesen. […] Weniger schön ist, daß hier aus dem Betonen der eigenen Art Haß gegen das Andere und Fremde folgt. Wollen wir in diesem Sinne Europäer sein, daß wir uns mit Groll und Angst vor allem Nichteuropäischen abschließen? Lieber nicht; denn sonst stünde es bedenklich um diese eigene Stärke.» (Klaus Mann: Die Jugend und Paneuropa, S. 260). Ebd., S. 262. André Gide: France et Allemagne, S. 362. Vgl. dazu auch Kapitel 6.1.2 Die Zukunft Europas. Klaus Mann: Die Jugend und Paneuropa, S. 262. Vgl. zu Klaus Manns Stilisierung von André Gides essentieller Neugier zum Wesensmerkmal des Europäers schlechthin Axel Plathe: Klaus Mann und André Gide, S. 63.

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Klaus Mann entwirft André Gide mit seiner geistigen Offenheit damit als Gegenspieler von Henri Massis, der es seiner Meinung nach genau an dieser Offenheit fehlen lässt. Seine eigene Auseinandersetzung mit der Frage nach Europa gründet ganz wesentlich auf dieser Forderung nach einer vor allem auch geistig zu verstehenden Beweglichkeit, und er selbst stellt diese Offenheit auch dadurch unter Beweis, dass er ausdrücklich die Notwendigkeit auch von Thesen betont, die wie diejenigen von Massis seiner eigenen Konzeption eigentlich entgegenlaufen. Nur in der kritischen Auseinandersetzung mit allen Stimmen, die sich zu Europa und seinen Problemen äußern, können diese Probleme tatsächlich definiert und gelöst werden.110 Auch hier greifen in Manns Argumentation wieder politische, kulturelle und gesellschaftliche Erwägungen ineinander. Die europäische Dekadenz macht sich ihm zufolge in allen diesen Bereichen bemerkbar und kann entsprechend nur mit einem umfassenden Konzept analysiert werden. In kulturell-literarischer Hinsicht ebenso wie in politischen Belangen beruft sich Klaus Mann in diesen Jahren deshalb immer wieder auf Heinrich Mann, André Gide und Ernst Robert Curtius und deren Konzeptionen von einem sich geistig definierenden Europa, das in politisch-geographischer Hinsicht um Deutschland und Frankreich herum entwickelt werden soll.111 Im Zusammenhang mit den sozial-gesellschaftlichen Fragen ist dagegen José Ortega y Gasset eine Referenzfigur, mit deren Überlegungen vor allem zu dem Verhältnis von Massen und Eliten in Europa er sich intensiv auseinandersetzt. In dem Aufsatz Die Dauerkrise (1933), dem letzten, den Klaus Mann vor Hitlers Machtübernahme publiziert, diagnostiziert er genau das, was der Titel des Textes bereits ankündigt: die Dauerhaftigkeit der europäischen Krise nämlich, deren gravierendste Konsequenzen sich für ihn jetzt in der Aufspaltung der europäischen Öffentlichkeit in radikale Nationalisten und ebenso radikale Marxisten zeigen. Zwischen diesen beiden extremen Parteien, die beide gleichermaßen dogmatisch und unerbittlich auftreten, scheint es keinen Mittelweg zu geben: Ach, daß alle Begriffe immer von denen in Pacht genommen werden, die sie zu Tode hetzen! – der Begriff der Nation von den dynamischen Schwätzern der Rechten, der Begriff der sozialen Verpflichtung von den eingetragenen Materialisten. Wer sich aber um die Synthese bemüht, wer will, daß Europa Europa bleibe und sich doch nach dem Gebote der Zukunft verändere, der wird als ‹lau› und ‹liberal› und ‹großväterlich› denunziert.112

Klaus Mann beschreibt sich selbst in diesem Dilemma als einen «Revolutionär, der Europäer bleiben möchte»,113 und als solcher nimmt er schließlich die Unter-

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«Aber in der Diskussion über das neue Europa ist die Stimme dessen unentbehrlich, der das alte Europa verteidigt und preist, das doch die innerste Zelle […] zu sein hätte des vereinigten Erdteils, der entstehen wird und entstehen muß.» (Klaus Mann: Die Jugend und Paneuropa, S. 262). Beispielsweise in Woher wir kommen – und wohin wir müssen, vgl. S. 325. Klaus Mann: Die Dauerkrise, in: Ders.: Die neuen Eltern, S. 438–449, hier S. 443. Ebd., S. 444.

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stützung Ortegas in Anspruch: In dessen Buch La Rebelión de las masas (deutsche Erstausgabe 1931) findet Mann zum einen eine klare Analyse der europäischen Situation, so wie sie sich auch ihm selbst darstellt – einer Situation nämlich, die vor allem deshalb prekär ist, weil es dem Kontinent an Führung fehlt in einem Augenblick, in dem die geistigen Eliten zugunsten der Massen abgedankt haben. Zum anderen aber hebt er besonders Ortegas Liberalismus hervor, der diesen trotz seiner Überzeugung von der Notwendigkeit von Eliten demokratisch bleiben lasse – und der Klaus Mann deshalb genau als der Mittelweg zwischen den beiden bedrohlichen Extremen des Faschismus und des Bolschewismus erscheint, den er selbst sucht. Dabei geht es Mann vor allem um die konsequent individualistische Haltung, die diesem Ortegaschen Liberalismus zugrunde liege: Durch seinen Individualismus unterscheidet sich dieser Liberalismus von den Massenbewegungen des Faschismus und des Bolschewismus. Dieser Individualismus ist es nicht nur, der die Notwendigkeit von Führungseliten rechtfertigt, sondern er ist es auch, der ganz im Sinne André Gides den Fortbestand der europäischen Zivilisation trotz ihrer noch andauernden Krise sichern könnte.114 Ausdrücklich betont Klaus Mann deshalb am Ende seiner Auseinandersetzung mit José Ortega y Gasset: «Die gebieterische Forderung nach Paneuropa ist das Direkteste, gleichsam: Realste, was dieses Buch uns zum Abschied mitgibt.»115 Diese Forderung wird bei Mann selbst nun in einem Zusammenhang aufgegriffen, in dem es ihm angesichts der Bedrohung Europas durch die totalitären Ideologien mehr denn je nicht allein darum geht, gegen diese Bedrohung den von Gide und Ortega proklamierten europäischen Individualismus zu mobilisieren,116 sondern auch und vor allem darum, mittels dieses Individualismus zu einer fruchtbaren Synthese zwischen den beiden unfruchtbaren Extremen zu finden. Es ist also schon zu diesem Zeitpunkt, kurz bevor Mann Deutschland verlassen und ins zuerst europäische, später amerikanische Exil gehen wird, eine dialektische Denkbewegung, die seiner besorgten Auseinandersetzung mit Europa zugrunde liegt – auch wenn er das noch nicht explizit ausspricht. In den folgenden Jahren im Exil wird es dann ganz ausdrücklich dieser Gedanke von einer grundsätzlich

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Vgl. ebd., S. 445–446. Vgl. zu Klaus Manns Ortega-Interpretation auch Michel Grunewald: Klaus Mann 1906–1949, S. 464–465. Grunewald betont hier ausdrücklich die Identifikation Manns mit den Positionen Ortegas, wenn er schreibt: «Lorsque Klaus Mann rend compte des positions d’Ortega y Gasset face au communisme et au fascisme, c’est, en fait, sa propre attitude sur le plan politique qu’il décrit.» Klaus Mann: Die Dauerkrise, S. 447. Vgl. zu Ortega und La rebelión de las masas auch Kapitel 3.3 Europa als Problem und die Einheit als Lösung. Vgl. zu dieser Frage des Individualismus etwa auch Klaus Mann: R. N. CoudenhoveKalergi: Los vom Materialismus, in: Ders.: Die neuen Eltern, S. 336–337. Hier heißt es ausdrücklich: «[D]er Europäer entäußert sich seines eigentlichsten Gutes, wenn er sich seines Individualismus entäußert.» (S. 337). Vgl. zu Klaus Manns Verständnis von Gides Individualismus Michel Grunewald: Einleitung, in: Ders. (Hg.): André Gide – Klaus Mann: Ein Briefwechsel, in: Revue d’Allemagne 14 (octobre-décembre 1982), S. 581–603, hier besonders S. 600–601.

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dialektischen Verfasstheit Europas sein, der Manns Überlegungen strukturieren und der sein Engagement gegen den Faschismus argumentativ untermauern wird. 6.2.2

Wohin wir müssen

Klaus Manns Entwicklung hin zum politischen Engagement, wie sie sich im Verlauf der zwanziger Jahre abzeichnet, endet mit seinem Gang ins Exil unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Schon zuvor hatte er eine klare Vorstellung von der Verantwortung des Schriftstellers und Intellektuellen in der Gesellschaft formuliert, die in weiten Teilen mit Heinrich Manns Ideen von der Notwendigkeit des intellektuellen Engagements gegen die bloße und geistfreie Macht übereinstimmte: Die Frage: ‹Kann der Dichter die Welt ändern?› beantworte ich mit: Ja, ja, ja. Niemand kann sie ändern, wenn nicht er. In seine Hand ist die Macht und die Herrlichkeit des Wortes gegeben, das Wort hat noch immer den Sieg davongetragen über die Macht.117

Manns Eintreten gegen den Nationalsozialismus ist von Anfang an von dieser Überzeugung von der Notwendigkeit und Wirksamkeit des schriftstellerischen Engagements getragen. Wilfried Dirschauer konstatiert deshalb, die Emigration habe als «die zentrale Erfahrung seines Lebens [Klaus Manns] Schaffen Richtung und Ziel» gegeben,118 und auch das ist in diesem Kontext der moralischen Verpflichtung des Schriftstellers vor der Gesellschaft zu verstehen: Im Zusammenhang mit seinem Selbstverständnis als «Beobachter und Erzieher» kann Mann sein Exil weniger als Schicksalsschlag denn vielmehr als Herausforderung verstehen,119 und das umso mehr, als auch er sich ausdrücklich als Repräsentant der durch den Nationalsozialismus bedrohten deutschen Kultur versteht, der in seiner eigenen Person immer zugleich auch diese Kultur insgesamt verteidigt: Versucht die Emigration als das zu verstehen, was sie für den geistigen Menschen vor allem ist: als ein geistiges Schicksal; […] als eine harte Schule, aus der jeder, der sie besteht, härter, erfahrener, vielleicht besser hervorgehen wird, als er vorher gewesen ist. Diese harte Schule […] haben wir uns selber auferlegt – nicht aus Leichtsinn, auch nicht aus dünkelhaftem Trotz, sondern […] weil unsere Liebe zu Deutschland die Erniedrigung Deutschlands nicht erträgt; weil unsere Liebe zu Europa uns empfindlich macht für die Gefahr, die ein solches Deutschland für den Frieden der Völker bedeutet.120

Es ist dieser Zusammenhang zwischen der Liebe zu einem anderen, besseren Deutschland und der erweiterten Perspektive mit Blick auf Europa, den Klaus Mann immer wieder anführt, um seine Position als Schriftsteller im Exil zu be-

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Klaus Mann: Wie wollen wir unsere Zukunft?, in: Ders.: Die neuen Eltern, S. 304–317, hier S. 316. Wilfried Dirschauer: Klaus Mann und das Exil, Worms: Heintz 1972, S. 34. Klaus Mann: Die Aufgabe des Schriftstellers in der gegenwärtigen Krise, in: Ders.: Zweimal Deutschland, S. 263–271, hier S. 267. Klaus Mann: Appell an die Freunde, in: Ders.: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–1936, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 322–327, hier S. 326.

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schreiben. Immer wieder schreibt er in seinen Essays aus der Exilzeit, es gebe tatsächlich zweierlei Deutschland – nämlich neben dem nationalistischen, egoistischen, aggressiven, europafeindlichen ein anderes, «ein europäisches, das zur Welt gehört und der Welt viel geschenkt hat».121 Seine eigene Rolle definiert Mann ausgehend von diesem Befund: Er ist der Botschafter dieses anderen, besseren, sich durch seine Kultur definierenden und europäischen Deutschlands in der Welt, und wenn er in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der individuellen Freiheit für die Kultur und den Geist hinweist,122 dann betont er dabei stets die Tatsache, dass diese Freiheit ein genuin europäischer Wert sei.123 Die Reflexion über die Freiheit prägt deshalb die meisten Texte Klaus Manns aus der Zeit seines Exils. Dabei finden sich auf der einen Seite ausführliche Überlegungen, die im Kontext mit der Frage nach der durch das Exil forcierten Heimatlosigkeit stehen, und die die aus dieser Entwurzelung resultierende Freiheit zur Bedingung einer universal verstandenen Kultur machen.124 Auf der anderen Seite steht die Freiheit bei Mann aber auch in einem engen Zusammenhang mit der Frage des europäischen Individualismus, und zwar insofern, als er – vor allem am Beispiel André Gides – aufweist, dass die Problematik dieses Individualismus immer wieder genau in der prekären Balance zwischen Freiheit auf der einen und Bindung auf der anderen Seite besteht.125 In einer Rezension von Gides Tagebüchern aus den Jahren 1889–1939 zeigt Mann, dass dessen Individualismusbegriff eben nicht in einem weltabgewandten Narzissmus kulminiert, sondern dass er immer schon auf seine eigene Überschreitung hin ausgerichtet ist, insofern die Vollendung der eigenen Persönlichkeit erst im asketischen Verzicht auf genau diese Persönlichkeit erreicht werden kann.126 Die spezifisch zeitgenössische Problematik dieser Spannung zwischen Selbstverwirklichung und Selbstaufgabe untersucht Klaus Mann im Zusammenhang mit Gides kurzzeitigem Engagement für den Kommunismus. Hier habe dieser versucht, seinen individuellen und individualistischen Geist zugleich aufzugeben und endgültig zu verwirklichen, indem er ihn in den Dienst eines kollektiven Anliegens stellte: «Die Annäherung an die

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Klaus Mann: Deutschland und die Welt, in: Ders.: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936–1938, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 265–272, hier S. 265. Vgl. Klaus Mann: Kultur und Freiheit, ebd., S. 297–309, besonders S. 297–298. Vgl. Klaus Mann: Die Jugend und Paneuropa, S. 273. Hier heißt es über den Begriff der Freiheit, er sei «wie sehr auch gewandelt durch die Härte der Zeit, der europäische Begriff, die europäische Formel» schlechthin. Vgl. etwa Klaus Mann: In eigener Sache, in: Ders.: Zweimal Deutschland, S. 374–380, besonders S. 377; und Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 356–357. «Das zentrale, alles beherrschende, vielfach variierte moralische Problem für André Gide ist das von Freiheit und Bindung; oder, um die mehr zeitgemäße Formel zu gebrauchen: das Problem der Spannung zwischen Individuum und Kollektiv.» (Klaus Mann: André Gides ‹Journal 1889–1939›, in: Ders.: Zweimal Deutschland, S. 189–201, hier S. 197). Vgl. ebd., S. 198. Vgl. zu Gides Individualismus auch Kapitel 6.1.2 Die Zukunft Europas.

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Dritte Internationale bedeutete für Gide einen Versuch, das ‹Problem von Freiheit und Bindung› gleichsam mit einem Gewaltstreich zu lösen.»127 In Klaus Manns eigener Auseinandersetzung mit diesem Problem von Freiheit und Bindung ist dabei jedoch immer noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung, der zuletzt den Schwerpunkt in eine andere Richtung verschiebt. Anders als André Gide geht es Mann im Zusammenhang mit der Frage nach dem individualistischen Wesen Europas vor allem anderen um die unauflösbare Spannung, die diesem Gedanken von der Verwirklichung des Individualismus in der Überwindung des Individuellen innewohnt und die durch ihn gefördert wird. Die Frage nach der Beziehung von Freiheit und Bindung, wie er sie durch das Leben und das Werk André Gides aufgeworfen sieht, ist für ihn die europäische Frage schlechthin – in der Spannung zwischen den beiden Extremen erkennt er das eigentliche Movens der Geschichte Europas. Dass diese Spannung zuletzt tatsächlich unauflösbar bleiben muss, das zeigt eine kurze Notiz aus Manns Tagebuch aus dem Jahr 1939, in der er abermals Gides Sehnsucht nach dem Triumph des Individuums im Verzicht auf das Individuelle kommentiert und seine Überlegungen zum Schluss knapp und stichwortartig zusammenfasst: «Der grosse europäische Prozess (Bindung/ Freiheit.)»128 Vor allem das Wort vom «Prozess» ist hier bezeichnend, weil damit ausdrücklich eine Bewegung impliziert ist, die noch nicht zum Ende gekommen ist – und von der zu vermuten ist, dass sie überhaupt niemals zu einem solchen Ende finden wird. Für die Prozesshaftigkeit und Unabschließbarkeit der europäischen Entwicklung, so wie Mann sie hier andeutet, ist nun die Frage nach der Spannung von Freiheit und Bindung vor allem deshalb so repräsentativ, weil es bei dieser Frage (ähnlich wie schon im Zusammenhang der Bedrohung Europas durch den Kommunismus einerseits und den Faschismus andererseits) immer darum gehen muss, ob sich aus der Spannung zwischen zwei Polen die Möglichkeit einer dritten, harmonischen Option ergeben kann. Auch das Verhältnis zwischen Freiheit und Bindung und die sich daraus ergebende Frage nach den Möglichkeiten des Individualismus auch und gerade in der Verantwortung folgt also der dialektischen Logik, von der Mann so häufig betont, in ihr manifestiere sich Europas bewegliches Wesen am deutlichsten. Man darf sich Europa nicht als etwas Abgeschlossenes und Fertiges, als ein Denkmal seiner eigenen, ruhmreichen Vergangenheit vorstellen – es ist im Gegenteil […] ein Kontinent, der sich in ständiger Entwicklung befindet.129

Diese Vorstellung von der Beweglichkeit und ständigen Veränderlichkeit Europas deckt sich in vielerlei Hinsicht mit André Gides Überlegungen bezüglich der geistigen Unruhe des Kontinents als Bedingung für sein Voranschreiten. Dennoch

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Klaus Mann: André Gides ‹Journal 1889–1939›, S. 197–198. Klaus Mann: Tagebücher 1938–1939, München: Ed. Spangenberg 1990, S. 125, (12. 8. 1939). Klaus Mann: Das Herz Europas, S. 62.

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sind Klaus Manns Schlussfolgerungen radikaler als diejenigen von Gide, weil sich für ihn in dem unabgeschlossenen Charakter des Kontinents zuletzt eben immer dessen wesentlich dialektisch ausgerichtete Grundstruktur erweist. Die Bewegung, die er konstatiert, muss insofern perpetuiert werden, als jeder europäischen These immer eine Antithese zugeordnet werden kann, und auch die Suche nach der Synthese zwischen den beiden Polen kann niemals endgültig für beendet erklärt werden, weil sich der Kontinent unabhängig von einer solchen Synthese weiterentwickeln würde. Es ist vor allem das große Europakapitel seiner Autobiographie, in dem Mann diesen Gedanken ausführt: Wenn er hier seine eigene Entwicklung vom orientierungslosen jungen Intellektuellen zum überzeugten Repräsentanten des europäischen Geistes beschreibt, dann liegt dem Kapitel dabei die Struktur einer gewissen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zugrunde. So liegen die darin behandelten Jahre 1928–1930 zwar noch vor Beginn von Manns Exilzeit, aber dennoch können die Erfahrungen des Exils aus dem autobiographischen Bericht nicht völlig ausgeblendet bleiben. Die eigenen rastlosen Bewegungen innerhalb Europas während seiner Exilzeit beeinflussen Klaus Manns Überlegungen notwendigerweise gerade dort, wo es um seine Frage nach den unabschließbaren Bewegungen auch von Europa selbst geht. Ausgehend von einem kurzen Blick auf die lange Geschichte der Pervertierungen der europäischen Aufklärungsmission formuliert Mann deshalb im Kontext seiner Überlegungen zu dieser unabschließbaren europäischen Entwicklung die These von Europa als dialektischem Prozess: Das europäische Drama vollzieht sich in dialektischer Form: Jede Energie und Tendenz provoziert die eigene Opposition, auf jede These folgt die Antithese, und sogar die scheinbare Synthese der Gegensätze ist nichts als ein neues Experiment, eine vorübergehende Konjunktion im Spiel der rivalisierenden Kräfte.130

Mittels dieser Theorie von der grundsätzlich dialektischen Verfasstheit Europas und seiner Entwicklung kann Mann nun auch sein eigenes antifaschistisches Engagement in einen größeren Argumentationszusammenhang stellen: Sein Kampf gegen den Nationalsozialismus ist für ihn die notwendige Antithese zu der ihm aufgezwungenen These des Faschismus; die Opposition der Intellektuellen gegen Hitler ist deshalb unabdingbar für die Entwicklung Deutschlands und Europas hin zu einem Zustand jenseits der Konfrontation der Geisteshaltungen. Der geschichtsphilosophische Optimismus, der dieser Theorie allen leidvollen Exilerfahrungen zum Trotz letztlich zugrunde liegt, führt zu einer Vorstellung von Europa, die dessen «Kraft und Widerstandsfähigkeit» ganz wesentlich auf dieses dialektische Spiel von Spannung und Versöhnung und die darin freiwerdenden Energien zurückführt.131 Entsprechend eindeutig ist Klaus Manns Formulierung einer Antithese zu der These des Nationalsozialismus an Europa als Ganzem ausgerichtet: «Da der

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Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 283. Ebd., S. 284.

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Faschismus der Zerstörer der echten europäischen Werte ist, muß die Revolution kommen als ihre Bewahrerin; das verlangt ein dialektisches Gesetz.»132 Die konservative Revolution, die Mann hier propagiert, wird an anderer Stelle eindeutiger beim Namen genannt. Es geht ihm ausdrücklich um einen «sozialistischen Humanismus», von dem er immer wieder betont, er sei in Zielen und Mitteln das komplette Gegenteil seines Gegners, des Faschismus.133 Dass dieser humanistische Sozialismus auf diese Art und Weise die dialektische Antwort auf den Faschismus ist, das erweist sich nun vor allem in seiner Beziehung zu Europa als moralischer Verpflichtung und geistigem Raum: Er wird alle Kräfte unseres Herzens und unseres Geistes beschäftigen. Er ist komplex, reich an Eigenschaften und an Möglichkeiten. Er schließt nichts aus […]. Er begünstigt und fördert das Wachstum des einzelnen. Er kommt nicht als der Zerstörer, sondern als der Erhalter des besten europäischen Erbes, das er vorm Zugriff des wirklich zerstörenden Faschismus bewahrt. […] Er ist übernational, er hebt die europäischen Grenzen auf, aber er respektiert die Unterschiede der Nationen, wie er die Unterschiede der einzelnen respektiert. […] Im freien Wechselspiel der Kräfte, im Agon der Tüchtigen entfaltet jeder seine schönsten Möglichkeiten.134

Die Formulierung dieser Utopie stammt aus dem Jahr 1935 und mithin aus der Phase, in der sich Mann mit der größten Überzeugung für die Bildung einer antifaschistischen Volksfront im Exil einsetzte.135 Dennoch sind hier weniger diese klar politischen Zielsetzungen seines Engagements für den sozialistischen Humanismus von Bedeutung als die Betonung, mit der Klaus Mann ihn durchgängig zum geistigen Gegenpol des Faschismus stilisiert. Einmal mehr ist dabei die Frage der Einordnung des Individuums in das Kollektiv entscheidend, wenn Mann darauf hinweist, es gehe in seiner Vorstellung von diesem Humanismus darum, jeden einzelnen Menschen und jede einzelne Nation zu fördern und dennoch an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten. In einem anderen Text aus demselben Jahr 1935 kann er deshalb sogar zu der Schlussfolgerung kommen, seine utopische Vision vom sozialistischen Humanismus könne tatsächlich soweit harmonisierend wirken, dass sich zuletzt auch die ständige Spannung von Individualismus und Kollektivismus reduzieren lasse: «Die Antithese […] hat bis zu einem gewissen Grad ihre Schärfe verloren.»136 Dennoch betont Mann, es könne zunächst noch nicht davon die Rede sein, dass in dieser wesentlichen Frage tatsächlich eine Synthese erreicht sei – das werde erst dann der Fall sein, wenn der Freiheit

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Klaus Mann: Die Vision Heinrich Heines, in: Ders.: Zahnärzte und Künstler, S. 228–234, hier S. 234. Vgl. Klaus Mann: Der Kampf um den jungen Menschen, ebd., S. 299–307, hier S. 305. Ebd., S. 304–305. Vgl. dazu Brigitte Bulitta/Christiane Wanzeck: «Genug, es steht nicht so, daß andere handelten, während wir grosse Worte machten». Zu Heinrich und Klaus Manns Bemühungen um eine antifaschistische Volksfront im Exil, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 13 (1995), S. 31–55. Klaus Mann: Woran glaubt die europäische Jugend?, in: Ders.: Zahnärzte und Künstler, S. 348–369, hier S. 362.

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zu ihrem vollen Recht verholfen ist, die als Gegenthese zu der faschistischen Freiheitsberaubung im Zentrum seines sozialistischen Humanismus steht, und wenn dadurch die Wahl zwischen Freiheit und Unterordnung der freien Entscheidung jedes einzelnen überlassen bleiben kann: Ebenso, wie die Synthese in der dialektischen Beziehung zwischen Krieg und Frieden manchmal darin bestehen müsse, für den Frieden zu kämpfen, könne es auch notwendig sein, sich zeitweise der eigenen Freiheit zu entäußern, um sie zum Schluss tatsächlich erhalten zu können.137 Auch die Formulierung vom «freie[n] Wechselspiel der Kräfte», mit der Klaus Mann in seinem utopischen Entwurf den Zeitpunkt charakterisiert, zu dem sein sozialistischer Humanismus sich endlich durchgesetzt habe würde, orientiert sich in ihrer Metaphorik an der Vorstellung von der dialektischen Verfasstheit Europas. Seine Überlegungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Dynamik des Kontinents und seiner Bewohner und dieser Dialektik sind auf diese Weise tatsächlich der wesentliche Beitrag, den Klaus Mann in seinem jahrzehntelangen – teilweise impliziten, teilweise auch direkten – Gespräch mit André Gide über Europa leistet. Während er hinsichtlich der dieser dialektischen Problematik zugrunde liegenden Frage des Individualismus als der europäischen Grundeigenschaft im wesentlichen an den Positionen Gides festhält, sind seine Gedanken über die dialektische Struktur der europäischen Entwicklung selbst dann eine konsequente Weiterentwicklung dieser Positionen – und sie reproduzieren insofern auch in ihrer eigenen Struktur eine gewisse dialektische Dynamik. Ausgehend von diesem Befund wird nun auch deutlich, worauf sich die Überzeugung gründet, mit der Klaus Mann André Gide zeit seines Lebens zum repräsentativen Vertreter Europas oder sogar zu dessen allegorischer Verkörperung erklären konnte: In Gides Person findet Mann all die gegensätzlichen Positionen und Erfahrungen verkörpert, die er auch in der europäischen Geschichte am Werk sieht; Gides Nomadismus und seine Rastlosigkeit bilden die Unruhe ab, die aus diesen Gegensätzen resultiert, und zum Schluss ist es die zwar immer mögliche, aber dennoch heikel bleibende Übereinstimmung zwischen den Gegensätzen in Gides Charakter, die es auch für Europa zu erlangen gilt: Diese immer wieder gefährdete, immer wieder neu erkämpfte Harmonie, die ich an Gide bewunderte – entsprach sie nicht dem prekären Equilibrium europäischer Geistigkeit, wie es sich durch die Jahrhunderte entwickelte und, trotz allen Bedrohungen, […] immer wieder bewährt und behauptet hat? […] Die Spannung zwischen Hellas und Christentum, zwischen romantischem Gefühl und klassischer Form, zwischen Vernunft und Glauben, Individualismus und sozialer Verpflichtung, Freiheit und Disziplin: alle großen Antithesen des Abendlandes waren Teil seines persönlichen Dramas […]. Die Werte und Probleme, auf denen unsere Zivilisation beruht, bildeten das Thema der Auseinandersetzung, unter deren Zeichen sein ganzes Schaffen stand und die in seinem Inneren nie zur Ruhe kam.138

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Vgl. ebd., S. 363. Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 314–315. Vgl. dazu auch Axel Plathe: Klaus Mann und André Gide. Zur Wirkungsgeschichte französischer Literatur in Deutschland, S. 72–73.

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Diese Hoffnung auf die Möglichkeit des Ausgleichs und der Vermittlung zwischen den Extremen, die Klaus Manns Vorstellung von der europäischen Dialektik trotz deren grundsätzlich agonaler Verfasstheit zugrunde liegt, ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass Mann Europa schließlich zu einem Zeitpunkt verlässt, an dem ihm genau dieser Ausgleich unmöglich geworden zu sein scheint: «Europa wird eng – für unsereinen»,139 schreibt er 1938 in einem Brief. In der zweiten Phase seines Exils, die er schließlich als amerikanischer Staatsbürger in den USA verbringt, hält Klaus Mann zwar an dem Bild fest, das er zuvor von Europa entworfen hatte; er betrachtet es jedoch mit wachsendem Pessimismus. So beschwört er in seiner Autobiographie, deren englische Originalfassung 1942 erscheint, den dialektischen Geist Europas noch einmal dadurch, dass er ausdrücklich darauf hinweist, die europäische Harmonie beruhe auf den unauflösbaren Dissonanzen innerhalb des Kontinents.140 Wenn er in der Folge jedoch unterstreicht, dass sich aus diesem Grund jeder Versuch einer Uniformierung des Kontinents verbiete, dann spricht daraus schon eine gewisse Desillusionierung angesichts der Versuche seitens der Deutschen, genau eine solche Gleichschaltung Europas im Geiste des Nationalsozialismus zu erreichen. Vor diesem Hintergrund ist auch Thomas Höhles Interpretation von Klaus Manns Wendung nach Amerika zu verstehen: Höhle möchte diese als eine bewusste und entschiedene Abkehr von Europa verstanden wissen und geht in diesem Zusammenhang sogar davon aus, Mann habe mit seinem Schritt in die USA aufgehört, Europäer zu sein.141 Mit Blick auf die auch in den USA nicht nachlassende Beschäftigung Manns mit europäischen Fragen und vor allem auf seine intensiven Bemühungen, dort als Vermittler der europäischen Kultur aufzutreten, mag dieses Fazit zwar ein wenig übertrieben erscheinen; aber es geht zumindest insofern nicht fehl, als Manns Überlegungen vom Zeitpunkt seiner Übersiedlung in die USA an weniger ausschließlich um die internen Belange Europas als vielmehr um dessen Position in der Welt kreisen. 1927 noch hatte er den Gegensatz zwischen der unbesorgten jugendlichen Vitalität der USA und der gedankenschweren, vergeistigen Dekadenz des alten Europas in einer Komödie über den – wenig erfolgreichen – Aufenthalt einer europäischen Studentin in einem amerikanischen College dargestellt.142 Inzwischen ist er sich dieses Gegen-

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Plathe betont besonders die Bewunderung Klaus Manns für die innere Balance der Gegensätze in Gides Denken und Charakter. Klaus Mann an Kurt Hiller, 1.4.1938, in: Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, München: Ed. Spangenberg 1987, S. 340. «Europa, der kostbar-schwierige Akkord, in dem die Dissonanzen zueinanderfinden, ohne sich je zu lösen.» (Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 285). Vgl. Thomas Höhle: Gedanken über Europa in den Autobiographien von Klaus Mann und Heinrich Mann, in: Marita Gilli (Hg.): Le cheminement de l’idée européenne dans les idéologies de la paix et de la guerre, Paris: Les Belles Lettres 1991, S. 431–443, hier S. 436. Vgl. Klaus Mann: Gegenüber von China. Komödie in sechs Bildern, in: Ders.: Der siebente Engel. Die Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989.

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satzes zwar durchaus noch immer bewusst,143 er unterstreicht aber trotzdem eher die Möglichkeiten eines Austauschs jenseits der Kontraste, und seine Hoffnung auf dessen Fruchtbarkeit im Hinblick auf eine neue Ordnung der Welt. Wenn er deshalb schreibt: «Ich denke, es sollte möglich sein, ein guter Amerikaner zu werden und dabei die europäischen Traditionen weder zu verleugnen noch überzubetonen»,144 dann steht dabei dieser Gedanke der Vermittlung im Hintergrund, um den es ihm in diesen Jahren des Exils immer zu tun ist: Wir sind Europäer. Dies sei ohne Stolz gesagt und ohne Bedauern; es sei einfach festgestellt. […] Trotzdem lieben wir Amerika und sind ihm dankbar, wie man eine zweite Heimat liebt und ihr dankbar ist. Vielleicht lieben wir das große Land gerade als Europäer: weil nämlich dort bestimmte Werte und Ideale besser aufgehoben und lebendiger geblieben sind als in dem alten Erdteil.145

6.3

André Gide und Klaus Mann: Europa zwischen den Fronten

Sowohl André Gide als auch Klaus Mann entwickeln in der Folge des Ersten Weltkriegs eine Vorstellung von Europa, die dieses nicht allein als gemeinsamen kulturellen Hintergrund der einzelnen europäischen Nationen, sondern vor allem auch als eine politische Notwendigkeit beschreibt. In beiden Fällen gründet das Bild von Europa, das auf diese Art und Weise entworfen wird, ganz wesentlich auf der Vorstellung der beiden Autoren, ihre eigene Ruhelosigkeit und ihr eigener Bewegungsdrang seien nicht nur typisch für die Zeit, in der sie leben, sondern insbesondere ein Kennzeichen auch des europäischen Raumes, innerhalb dessen sie sich bewegen. Sowohl Gides Konzeptionen von Europa als auch diejenigen Manns entwickeln sich ausgehend von ihrer Wahrnehmung des Kontinents als einem dynamischen Raum in Bewegung; in beiden Fällen ist es deshalb – im Unterschied zu René Schickele und Eugeni d’Ors mit ihren von ihrer jeweiligen Heimat ausgehenden Europakonzeptionen – gerade eine profunde Heimatlosigkeit im konkreten wie im geistigen Sinne, die sie dazu bringt, sich mit der Frage nach Europa zu beschäftigen. Bei beiden Autoren, und auch das steht mit ihrem jeweils ähnlichen Ausgangspunkt in Verbindung, ist die Auseinandersetzung mit Europa dadurch gekennzeichnet, dass sie insbesondere den hohen Stellenwert betonen, den man dort ihrer Meinung nach dem Individualismus beimisst. Hatte André Gide Europa insgesamt als eine Schule des Individualismus beschrieben, die sich abhebe

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So schreibt er etwa 1935: «Wir spüren […], daß jene große Übergangs-Krise, jener welthistorische Umbruch, an dem das mürbe Europa verbluten könnte, sich in den Vereinigten Staaten in hoffnungsvolleren, frischeren Formen vollzieht.» (Klaus Mann: Robert de Saint-Jean: ‹La vraie révolution de Roosevelt›, in: Ders: Zahnärzte und Künstler, S. 261–264, hier S. 263–264). Klaus Mann: Die Pflichten eines neuen Bürgers, in: Ders.: Zweimal Deutschland, S. 187– 189, hier S. 188. Erika und Klaus Mann: Escape to Life. Deutsche Kultur im Exil, München: Ed. Spangenberg 1991, S. 363.

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von all den außereuropäischen Versuchen, auf unterschiedliche Art und Weise eine möglichst weitreichende Konformität und Gleichförmigkeit zu erzielen, und hatte er in diesem Individualismus sowohl die Bedingung für den Fortschritt Europas als auch den Grund für seine zeitgenössischen Probleme erkannt, so komplettiert Klaus Mann Gides Überlegungen hinsichtlich der Vollendung des Individualismus in der Überwindung des Individuellen. Er sieht in dieser Frage eine Bestätigung seiner These von der grundsätzlich dialektischen Verfasstheit Europas, die er in den unterschiedlichen Epochen der europäischen Geschichte an zahlreichen Beispielen aufweist, und die ihm vor allem für seine Gegenwart und für sein eigenes Engagement gegen den Faschismus maßgeblich erscheint. Die Suche nach einer – zumindest vorübergehenden – Synthese, die Europa im Innern befrieden und die ihm nach Außen einen seiner Kultur und seinem Geist angemessenen Platz in der Welt verschaffen könnte, ist deshalb die Aufgabe, der sich Klaus Mann in den ganzen Jahren seines Exils verschreibt und die er zuletzt vor allem in seinen Bemühungen zu verwirklichen sucht, zwischen den USA und dem alten Europa einen Ausgleich zu schaffen. Dennoch endet Klaus Manns Beschäftigung mit Europa gerade nicht damit, dass er seine Suche nach einem solchen Ausgleich zwischen den Kontinenten zu einem glücklichen Ende hätte bringen können. Schon früh – tatsächlich schon vor 1933 – war ihm die Gefahr bewusst gewesen, dass sich Europa aus der eigenen Schwäche heraus zwischen zwei großen Machtblöcken eingekeilt sehen und auf diese Weise zum Spielball zwischen den Systemen werden könnte. Bereits in der Erzählung Kindernovelle aus dem Jahr 1926 formuliert einer der Protagonisten, ein junger Intellektueller, diese Sorge Klaus Manns, die sich in den folgenden Jahren als nur allzu berechtigt erweisen würde: Er sprach viel von Sowjetrußland und von Amerika, und seine Augen wurden grüblerisch, während er sprach. ‹Zwischen einem von beiden muß sich doch heute jeder im Grunde entscheiden›, er redete heftig und gequält – und sie wußte nicht, was er meinte. – ‹Das sind doch die beiden Mächte, auf die es heut ankommt. Und Europa dazwischen, welch gefährliche Lage. Und das arme Europa dazwischen!›146

In der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg eben nicht mit einer Synthese zwischen den Kontinenten und Systemen endet, sondern dass die Nachkriegszeit im Gegenteil immer deutlicher auf eine Konfrontation dieser Systeme zuläuft, liegt deshalb Klaus Manns wachsende Resignation in Bezug auf Europa und seine Zukunft in diesen Jahren begründet. Im Gegensatz dazu gelingt es André Gide auch vor dem veränderten weltpolitischen Hintergrund und angesichts der sich daraus ergebenden neuen Herausforderungen an den europäischen Geist, seine bisherigen Konzeptionen nicht nur beizubehalten, sondern sie weiterzuentwickeln und fruchtbarer zu machen. In seinem Falle findet eine gewisse Desillusionierung schon früher statt, nämlich

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Klaus Mann: Kindernovelle, in: Ders.: Maskenscherz. Die frühen Erzählungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 128–176, hier S. 152.

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Mitte der dreißiger Jahre, nach seinem kurzen Engagement für den Kommunismus: Die Erkenntnis, dass dieser Kommunismus nicht anders als der Faschismus an einer Entindividualisierung des einzelnen arbeitet, wie sie Gides Konzeption von Europa diametral entgegengesetzt ist, bringt diesen bereits zu diesem Zeitpunkt dazu, seine Überlegungen auszuweiten, in Zukunft für das Modell eines gewissermaßen individuell gelebten Humanismus mit kommunistisch inspirierten Zügen einzutreten und dieses Modell tatsächlich auch der historischen Entwicklung Europas anzupassen. Der Nobelpreis im Jahr 1947 erleichtert es ihm dabei, seine Ideen zu verbreiten – und er schafft nicht zuletzt die Bedingungen dafür, dass diese Ideen anders als diejenigen Manns in den späten vierziger Jahren auf große Resonanz vor allem auch bei der jungen Generation stoßen. André Gide verkörpert so auch in der Nachkriegszeit noch das Bild des europäischen Intellektuellen, das Klaus Mann 1941 in seinem Artikel Die Aufgabe des Schriftstellers in der gegenwärtigen Krise gezeichnet hatte: Er ist der verantwortliche Beobachter, der «die gefährlichsten und verheißungsvollsten Tendenzen unserer Zeit» wahrzunehmen und in Worte zu fassen bereit ist.147 Klaus Mann selbst dagegen entscheidet sich gegen diese Aufgabe in dem Augenblick, als er seiner eigenen Forderung, der Schriftsteller müsse «Zuversicht nicht nur haben, sondern auch erwecken» nicht mehr genügen zu können glaubt.148 6.3.1

André Gide: Der Wert der kleinen Zahl

Ausgehend von der Begegnung mit einem arabischen Gelehrten auf einer seiner Algerienreisen beschreibt André Gide den Unterschied zwischen dessen Gelehrsamkeit und dem Verständnis, das man in Europa von der Wissenschaft hat: Während der arabische Gelehrte seine Kenntnisse in einem bestimmten Gebiet dadurch erlange, dass er einfach die jahrhundertealte Tradition von Texten aufarbeite, die sich bereits mit der betreffenden Frage beschäftigt haben, bestehe die Methode des modernen europäischen Intellektuellen darin, eher seine eigenen Fragen zu präzisieren, anstatt sich einfach nur mit den Antworten anderer Leute zu bescheiden.149 Auch der kleine Unterschied, den Gide hier konstruiert, lässt sich in letzter Konsequenz also wieder auf die Frage des Individualismus reduzieren: Während es dem arabischen Gelehrten ausreicht, ein weiteres Glied in der langen Kette von Antworten auf seine jeweilige Frage zu sein, ist der Europäer weniger um beruhigende Antworten als vielmehr um neue Beunruhigungen durch die Verfeinerung der Fragen bemüht – und insofern eben um seine eigene Individualität, wie sie sich in der je persönlichen Präzisierung der Fragen herausbildet.

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Klaus Mann: Die Aufgabe des Schriftstellers in der gegenwärtigen Krise, S. 267. Ebd., S. 271. Vgl. dazu auch Michel Grunewald: Klaus Mann 1906–1949, S. 521. Grunewald betont, die Entwicklungen nach dem Krieg hätten Klaus Mann davon überzeugt, dass die «Ära der Intellektuellen als Vermittler» endgültig vorbei sei, und dass er deshalb in der Welt nach dem Krieg keine Aufgabe mehr auszufüllen habe. Vgl. André Gide: Le renoncement au voyage, in: Ders.: Œuvres Complètes IV, S. 316.

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Diese implizite Definition des europäischen Geistes über die Techniken, deren er sich bedient, lässt sich unmittelbar mit dem Anspruch in Beziehung setzen, den Gide im Kontext seiner Beschäftigung mit dem Individualismus an die europäische Fähigkeit zur Kritik und zum Zweifel richtet. Wenn er in seiner Anekdote aus Algerien die Präzisierung der Fragen als die wissenschaftliche Methode der Wahl anführt, dann lässt das darauf schließen, dass es ihm hier vor allem um das hohe Maß an Selbstreflexion zu tun ist, das dieser Vorgehensweise eigen ist. In demselben Kontext streift er in einem im Jahr 1950 in Neapel gehaltenen, aber erst postum veröffentlichten Vortrag die Geschichte seines eigenen Enthusiasmus für den Kommunismus in den dreißiger Jahren. Diese Geschichte einer Verführung dient ihm als praktisches Beispiel dafür, welche Konsequenzen ein Nachlassen der individuellen kritischen Reflexion gerade im Kontext der großen Ideologien für Europa haben kann – in seinen Augen würde der Kontinent im Falle eines solchen Mangels an Kritik das Risiko eingehen, seiner Traditionen und insofern seiner Identität verlustig zu gehen. Gide fasst deshalb die Geschichte seiner eigenen Verführung durch den Kommunismus mit den Worten zusammen: «par naïveté, je me suis durant un assez long temps laissé séduire»,150 und untermauert damit seine Schlussfolgerung, der «esprit de doute et de libre examen» sei die wesentliche Eigenschaft, die den europäischen Menschen auszeichne, und die es aus diesem Grund vor allen anderen zu bewahren und zu fördern gelte. Bereits in den zwanziger Jahren hatte André Gide sich ausführlich mit den Essais von Michel de Montaigne beschäftigt und seine Überlegungen dazu seinerseits in zwei Essays zusammengefasst: Montaigne (1928) und Suivant Montaigne (1929).151 Anders jedoch als es sein Lob des Zweifels aus dem Jahr 1950 vermuten lässt, ist es vordergründig gerade nicht Montaignes Skeptizismus, den er in diesen Essays hervorhebt: «[C]e scepticisme n’est point ce qui me plaît dans les Essais, ni la leçon que surtout j’y puise.»152 Vielmehr geht es ihm auch hier wieder um die Frage nach dem individuellen Wesen Montaignes, so wie dieser es in den Essais ausbreitet; und er behandelt diese Frage weniger auf einer konkreten als eher auf einer abstrahierenden Ebene. So ist es nicht unmittelbar und in einem anekdotischen Sinne das Interesse Montaignes an seiner eigenen Person, das das Interesse seines Lesers Gide an den Essais rechtfertigt, sondern es geht diesem eher um die übergeordnete Frage nach der Absicht, die Montaigne mit dieser so deutlichen Zentrierung seines Textes um das eigene Ich verfolgt haben könnte: C’est la particularité de chaque figure, à commencer par la sienne propre, qui lui importe; et ce n’est point tant matérialiste que je le sens, et cynique et épicurien, qu’individualiste,

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André Gide: A Naples, in: Ders.: Souvenirs et voyages, Paris: Gallimard 2001, S. 988. Vgl. dazu allgemein Marie A. Wégimont: Gide et les Essais de Montaigne: deux lectures divergentes, in: Bulletin des amis d’André Gide 93 (janvier 1992), S. 9–17. André Gide: Montaigne, in: Ders.: Essais critiques, Paris: Gallimard 1999, S. 665. Vgl. zum Skeptizismus auch Kapitel 3.4 Europa: Ein Versuch und 5.5 Die Erfahrungen eines abgereisten Europäers.

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et particulariste si j’ose dire, cherchant une sorte d’instruction dans chaque être, si tant est qu’il soit authentique.153

Auch wenn Gide Montaignes Text deshalb vor allem als Zeugnis des Individualismus liest und dem Skeptizismus dabei wenig Platz einräumt, gilt es jedoch mit Blick auf sein späteres Lob des Zweifels die innere Verbindung hervorzuheben, die sich zwischen den beiden Geisteshaltungen herstellen lässt. André Gide betont in Neapel, die Bereitschaft und Fähigkeit zum Zweifel seien es, die den modernen Europäer vor der Verführbarkeit durch totalitäre Ideologien bewahrten, und tatsächlich lässt sich auch dieser Gedanke auf sein Verständnis des Individualismus als grundlegendes Merkmal des europäischen Geistes zurückführen: Im Zweifel, in der Skepsis und in der Kritik bringt der Kritisierende immer sein je eigenes, individuelles Wesen zum Ausdruck, die Formulierung einer kritischen Position entspricht dabei der Präzisierung der Fragen, die Gide anstelle der Suche nach einfachen Antworten von dem modernen europäischen Intellektuellen gefordert hatte. Insofern ist die Skepsis sogar eine unverzichtbare Bedingung für den Individualismus. Diese Verbindungslinie lässt sich auch im Falle Montaignes aufweisen: Il semble qu’en face de l’atroce question de Pilate, dont l’écho retentit à travers les âges: ‹Qu’est-ce que la vérité?›, Montaigne reprenne à son compte, encore que tout humainement, d’une manière toute profane et dans un sens très différent, la divine réponse du Christ: ‹JE suis la vérité.› C’est-à-dire qu’il estime ne pouvoir véritablement connaître rien, que lui-même. De là cette extraordinaire défiance, dès qu’il raisonne; de là cette confiance, cette assurance, dès qu’il s’abandonne à lui-même et qu’il résigne à lui ses visées.154

Derjenige, der weiß, dass er in Wahrheit nichts kennen kann außer sich selbst, der muss der Realität außerhalb seiner selbst skeptisch gegenübertreten – das ist die implizite Annahme, von der Gide ausgeht. Die Tatsache, dass er den Skeptiker Montaigne hier als europäischen Individualisten avant la lettre liest, erklärt dabei auch seine eigene Identifikation mit dessen Person. Gides Feststellung aus dem Folgetext Suivant Montaigne, «il me semble que c’est moi-même»,155 findet ihre Erklärung vor allem in Montaignes zwiespältigem Verhältnis zur Religion. Wenn dessen Skeptizismus nämlich tatsächlich Ausdruck seines profunden Individualismus ist, dann muss sich für ihn jede Form unbedingten und bedingungslosen Glaubens verbieten; dann ist allenfalls eine Art lockerer Anhängerschaft vorstellbar, die sich ihrer eigenen Bedingungen und Prämissen stets bewusst bleibt: «Le

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André Gide: Montaigne, S. 674. Ebd., S. 665. André Gide: Suivant Montaigne, in: Ders.: Essais critiques, Paris: Gallimard 1999, S. 691. Daniel Moutote spricht in diesem Zusammenhang von Gides Identifikation mit seinem Gegenstand Montaigne von einer «réinvention dialectique de soi dans le dialogue intime avec un grand écrivain» (Daniel Moutote: André Gide: L’engagement (1926–1939), Paris: Sedes 1991, S. 35).

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parfait scepticisme de Montaigne ne peut s’accommoder de devoirs envers Dieu qui impliquent évidemment une croyance en Dieu.»156 Vor dem Hintergrund dieser Frage ‹unbedingter Glauben oder bedingte Anhängerschaft› lässt sich nun auch Gides kommunistisches Intermezzo aus den dreißiger Jahren lesen, das mit der Veröffentlichung des desillusionierten Textes Retour de l’U.R.S.S. 1936 abrupt endet. Sein Engagement für den Kommunismus war bis zu seiner Reise in die Sowjetunion im Jahr 1935 von der Überzeugung getragen, dort werde auf ein universelles soziales und humanitäres Ziel hin gearbeitet: «Ce qui m’importe c’est l’homme, les hommes, et ce qu’on en peut faire, et ce qu’on en a fait,»157 so fasst Gide dieses Interesse am Kommunismus und zugleich seine Vorstellung von dessen Zielen zusammen. Zunächst scheint es für ihn sogar vorstellbar, zugunsten dieser gemeinsamen Ziele den eigenen Individualismus zurückzustellen und sich der Gemeinschaft und der Partei unterzuordnen: «Er, der stets der Evasive, Schwankende gewesen war, […] schien plötzlich zum aggressiven Parteigänger einer politischen Doktrin geworden»,158 so beschreibt Klaus Mann diese vermeintliche Konversion. Anlässlich der Reise in die Sowjetunion wird dann aber nur zu rasch deutlich, wie wenig Gides Interpretation des Kommunismus mit der offiziellen sowjetischen Linie übereinstimmt. Während für André Gide die kommunistische Doktrin nämlich immer ein Mittel zum Zweck des sozialen Fortschritts bleibt, konfrontiert ihn die sowjetische Realität damit, dass die Doktrin längst zum Selbstzweck geworden ist. In der Frage ‹unbedingter Glaube oder Anhängerschaft unter bestimmten Bedingungen› votiert Gide klar für letztere. Ce n’est pas elle, la ligne, que l’on discute. Ce que l’on discute, c’est de savoir si telle œuvre, telle geste ou telle théorie est conforme à cette ligne sacrée. Et malheur à celui qui chercherait à pousser plus loin! Critique en deçà, tant qu’on voudra. La critique au-delà n’est pas permise.159

Wenn Gide selbst in Retour de l’U.R.S.S. diese Gleichschaltung der öffentlichen Meinung zugunsten der Parteidoktrin kritisiert, dann handelt es sich dabei genau um eine solche «critique au-delà», wie sie in der Sowjetunion unerwünscht ist. Er betont zwar ausdrücklich, seine Kritik richte sich nicht gegen den Kommunismus als solchen, sondern allenfalls gegen einzelne Verfehlungen, die dessen Idee kompromittierten.160 Dennoch ist seine Kritik insofern fundamental, als er in dem Mangel an Möglichkeiten zur individuellen Reflexion und zum Zweifel

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André Gide: Suivant Montaigne, S. 689. Klaus Mann notiert in diesem Kontext, Gides Montaigne-Aufsätze seien in einer Zeit entstanden, in der auch dessen eigene Produktion von einer «antimystische[n], antiromantische[n], fast antireligiöse[n] Stimmung» gekennzeichnet gewesen sei (Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens, S. 199). André Gide: Retour de l’U.R.S.S., in: Ders.: Souvenirs et voyages, S. 759. Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens, S. 208. André Gide: Retour de l’U.R.S.S., S. 767. Vgl. ebd., S. 752.

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die Ursache für einen Konformismus ausmacht, der die ganze sowjetische Gesellschaft erfasst habe und der vor allem für die Kultur eine Bedrohung darstelle: Du moment que la révolution triomphe, et s’instaure, et s’établit, l’art court un terrible danger, un danger presque aussi grand que celui que lui font courir les pires oppressions des fascismes: celui d’une orthodoxie. L’art qui se soumet à une orthodoxie, fût-elle la plus saine des doctrines, est perdu. Il sombre dans le conformisme.161

An dieser Stelle schließt sich nun der Kreis, den die Neapolitaner Rede mit ihrem Lob des Zweifels eröffnet hatte: Das Lob des Zweifels gründet darauf, dass sich in der Fähigkeit und Bereitschaft des Individuums zur Kritik dessen Freiheit manifestiert. Die Verunmöglichung der Kritik in den totalitären Ideologien wie Kommunismus oder Faschismus stellt deshalb eine essentielle Bedrohung der Freiheit, und dadurch auch des Individuums und des Individualismus selbst dar. Die kritiklose Unterwerfung unter eine Doktrin führt zu einem Konformismus, wie ihn Gide seit jeher als uneuropäisch gekennzeichnet hatte – und damit bedroht die erzwungene Orthodoxie des Kommunismus sowjetischer Prägung das Wesen Europas schließlich ebenso sehr, wie es die Unterdrückungsmechanismen des Faschismus tun.162 Noch expliziter als in den Jahren des Ersten Weltkriegs formuliert Gide in denjenigen vor und während des Zweiten seine brennende Sorge um Europa und seine Kultur. So schreibt er schon Anfang 1933 (und insofern noch vor seiner Reise in die UdSSR und entsprechend optimistisch, was den Kommunismus angeht) in seinem Tagebuch: Le ciel, au-dessus de l’Europe […] est si chargé d’orage; les cœurs sont si pleins de haine, – que parfois on en vient à penser que seul un conflit de classes pourrait aujourd’hui prévenir le conflit mortel des nations.163

In der Folge verwendet Gide in diesem Zusammenhang der zunehmenden Infragestellung Europas immer wieder dieselben Bilder: die Metapher von dem drohenden Gewitter; diejenige von den dichten Wolken, die am europäischen Himmel aufziehen, und schließlich diejenige von der körperlich erfahrbaren Angst, durch die der Kontinent erdrückt zu werden droht.164 Nachdem er sich so angesichts der politischen und sozialen Entwicklung Europas immer dringlicher mit der Notwendigkeit von neuen Überlegungen bezüglich der Zukunft Europas konfrontiert sieht, wiegt seine Erkenntnis umso schwerer, dass der orthodoxe sowjetische Kommunismus im Zuge dieser Überlegungen keine ernsthafte Option mehr darstellen kann. In dieser bedrohlichen Situation gilt es deshalb, durch größtmögliche Präzision und Klarheit Auswege aus der Krise aufzuzeigen.

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Ebd., S. 784. Vgl. dazu Claude Foucart: Le temps de la ‹gadouille› ou le dernier rendez-vous d’André Gide avec l’Allemagne (1933–1951), Bern/Berlin u. a.: Lang 1997, S. 1. André Gide: Journal II (1926–1950), S. 401, (8 février 1933). Vgl. beispielsweise ebd., S. 621, (16 septembre 1938) und S. 627–628, (21 novembre 1938).

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Schon vor seiner Desillusionierung durch die sowjetische Realität hatte André Gide so die für ihn essentielle Frage nach dem Verhältnis von Kommunismus und Individualismus erörtert – dabei war er allerdings zunächst zu dem Schluss gelangt, dass beide Begriffe, so wie er sie verstanden wissen will, keineswegs einen Widerspruch darstellen müssten: [L]orsque j’écris que je ne reconnais point pour essentiellement inconciliables un communisme ‹bien compris› et un individualisme ‹bien compris›, j’entends: tels que je les comprends moi-même. Il faut donc que j’explique comment je les comprends. Il est certain que je ne vois point un communisme égalitaire, ou du moins que je ne vois l’égalité des conditions que pour le départ; qu’il n’impliquerait pour chacun que des chances égales, mais nullement une uniformité des qualités, une uniformisation – que j’estime à la fois impossible et fort peu souhaitable […]. La diversité même des exécutants fait la richesse et la beauté de la symphonie.165

Als aber dieser Optimismus in Bezug auf die Vereinbarkeit von Kommunismus und Individualismus zwei Jahre später auf der UdSSR-Reise so nachhaltig erschüttert wird, stellt sich die europäische Situation für Gide zunehmend perspektivlos dar. Nach der Enttäuschung durch den Kommunismus gibt es nichts mehr, was er der Bedrohung durch den Faschismus wirklich entgegensetzen könnte, und so schweigt er vor allem in den Kriegsjahren zwischen 1939 und 1945, wie er auch schon zwischen 1914 und 1918 geschwiegen hatte. Dennoch hält André Gide auch in dieser Zeit, die er im nordafrikanischen Exil verbringt, an seiner Vorstellung von einem Europa fest, das sich in seiner besonderen Beziehung zum Individualismus realisiert, und er macht diese Vorstellung zuletzt noch einmal in einer neuen Gewichtung seiner alten Fragen fruchtbar. In seiner ersten Veröffentlichung nach dem Krieg, in der kurzen Erzählung Thésée (1946) skizziert er vor dem Hintergrund seiner alten Idee vom Individualismus das neue Projekt eines demokratischen und humanistisch inspirierten Kommunismus, der sich gerade durch diese humanistische Ausrichtung eben zuletzt doch als mit dem Individualismus vereinbar erweist.166 Nachdem im ersten Teil der Erzählung die Jugendjahre des Protagonisten Theseus und vor allem sein Sieg über den Minotaurus auf Kreta im Mittelpunkt gestanden hatten, widmet sich der kürzere zweite Teil der Gründung Athens durch Theseus und seiner ausgeglichenen, demokratischen Herrschaft in der Folge. Die Figur des Minotaurus im ersten Teil lässt sich dabei als eine allegorische Darstellung des Nationalsozialismus interpretieren – so besticht das Labyrinth durch die Verführungskraft nicht nur seiner Architektur, sondern auch einer Reihe von die Sinne benebelnden Substanzen, die den Eintretenden binnen kürzester Zeit vergessen lassen, dass sein selbstbestimmtes Leben eigentlich außerhalb der labyrinthischen Anlage stattfin-

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Ebd., S. 425–426, (12 août 1933). Vgl. dazu allgemein Helen Watson-Williams: André Gide and the Greek Myth, Oxford: Clarendon Press 1967, S. 125–144; Yaffa Wolfman: Engagement et écriture chez André Gide, Paris: Nizet 1996, S. 373; und Jocelyn van Tuyl: André Gide and the Second World War. A Novelist’s Occupation, Albany/New York: State University of New York Press 2006, S. 124.

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det. Die Gefahr, die vor diesem Hintergrund von dem Minotaurus selbst ausgeht, ist entsprechend diffus – das bei Theseus’ Eintreten schlafende Monster scheint sich zunächst sogar durch eine vordergründige Schönheit auszuzeichnen, bis es dann im Augenblick des Erwachens seine fundamentale Dummheit entlarvt.167 Implizit macht Gide deutlich, dass Theseus’ Sieg über den Minotaurus nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass jener dank Ariadnes Faden nicht die Orientierung in dem Labyrinth verliert, sondern auch darauf, dass er sich eben nicht von der vermeintlichen Schönheit des Monsters blenden lässt, sondern rasch die sich dahinter verbergende Dummheit erkennt. Wenn der Kampf gegen den Minotaurus so eher auf intellektueller als auf körperlicher Ebene auszufechten zu sein scheint, versteht es sich in der Folge nahezu von selbst, dass auch Theseus’ spätere Herrschaft über Athen nicht von seiner physischen Durchsetzungskraft und Präsenz, sondern eher von seiner Klugheit und Reflexion geprägt ist. So wird die Gründung Athens deutlich als Einigungsprojekt gekennzeichnet, das bisher verstreute und verfeindete kleinere Gemeinden in ein gemeinsames größeres Ganzes überführt – und entsprechend der vorherigen Analogie zwischen dem Kampf gegen den Minotaurus und demjenigen gegen den Nationalsozialismus ist in diesem athenischen Einigungsprojekt leicht das Vorbild für die nach dem Ende des Krieges zu schaffende europäische Einigung zu erkennen. Gides Theseus wird so nicht allein zu einem Repräsentanten der Demokratie, sondern zum Wegweiser für Europa in diesen Jahren nach dem Krieg, in denen sich der Kontinent vor die Frage gestellt sieht, unter welchen Prämissen er diese Demokratie wieder etablieren können würde: La liquidation du nazisme, la refondation d’une Europe nouvelle amènent à interroger sur quelles bases. Renouer avec la mythologie, c’est rappeler l’héritage culturel de l’Europe, et notamment renouer avec la démocratie, surtout à travers la figure de Thésée, présenté […] comme fondateur de la démocratie dans Athènes. 168

Die Athener Demokratie, die Theseus einführt, zeichnet sich dabei dadurch aus, dass sie zugleich auf dessen neuen Ideen über eine gleichmäßige Verteilung der Güter und der dazu notwendigen Umverteilung und auf den überlieferten Traditionen des kulturellen Erbes aufbaut. Auf diese Weise gelingt es André Gide in Thésée schließlich, seine Utopie von einer fruchtbaren Verbindung zwischen Humanismus, Kommunismus und nicht zuletzt auch Individualismus ins Bild zu setzen: Hatte sein Protagonist sich in den Abenteuern seiner Jugend vor allem um seine eigene Person gekümmert, so ist die Zeit seiner Reife dem gemeinsamen Projekt einer gerechten Demokratie mit klar definierten Werten gewidmet – und insofern einer individuellen Aufgabe zum Wohle des Kollektivs, wie sie Gides

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Vgl. André Gide: Thésée, in: Ders.: Romans, récits et soties, œuvres lyriques, Paris: Gallimard 1958, S. 1439–1440. Daniel Durosay: Thésée roi. Essai sur le discours politique dans le ‹Thésée› de Gide, in: Bulletin des amis d’André Gide 106 (avril 1995), S. 201–221, hier S. 204. Vgl. zur Überlieferung des antiken Mythos auch Pierre Renauld: Gide, Plutarque et la légende de Thésée, ebd., S. 245–267.

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Vorstellung von der idealen Realisierung des Individualismus im Aufgehen des Individuellen in einem größeren Ganzen entspricht. Die Athener Gesellschaft zeichnet sich nicht allein durch ihren einigenden Charakter aus, sondern auch dadurch, dass in ihr geistige Führungseliten zu ihrem Recht kommen, dass dem Geist insgesamt ein besonderer Stellenwert zugeschrieben wird, dass sie offen ist für Fremde und für Fremdes von außen, und dass sie stets in Bewegung und insofern dem Fortschritt unterworfen ist.169 Diese Eigenschaften lassen sich alle mit dem utopischen Bild von einem geeinigten Europa in Beziehung setzen, wie Gide es seit Jahrzehnten propagiert hatte. Die Vision, die er in seiner späten Erzählung von diesem Europa entwirft, ist auf diese Weise nach den desillusionierenden Erfahrungen mit dem sowjetischen Kommunismus und der Bedrohung durch den deutschen Faschismus eine in die Zukunft weisende Synthese seiner Ideen bezüglich des sich im Individualismus manifestierenden europäischen Geistes. In einem Vorwort zur französischen Ausgabe von Hermann Hesses Morgenlandfahrt aus dem Jahr 1947 evoziert Gide noch einmal die Bedrohung, der die europäische Kultur in den dreißiger und vierziger Jahren durch die Totalitarismen von links und rechts ausgesetzt war, und betont dabei noch einmal ausdrücklich, dass die Gefahr dabei vor allem in den entindividualisierenden Tendenzen dieser totalitären Doktrinen bestanden habe.170 In der Folge beschreibt er deshalb Hesses Eigensinn, den er auch im französischen Text auf deutsch zitiert, als die adäquate Reaktion auf diese Bedrohung Europas, und entwirft damit dieses Wort vom Eigensinn als eine vereinfachte Zusammenfassung dessen, was er selbst im Laufe der Zeit unter seinem Begriff des Individualismus zu subsumieren gelernt hat: Seine Übersetzung des Wortes betont dessen doppelte Bedeutung: «à la fois confiance en soi-même et conscience de soi».171 Die Synthese der Ideen, die Gide in seinem Thésée entwickelt, stellt vor diesem Hintergrund die ideale Realisierung seines eigenen Eigensinns dar: Kurz vor dem Ende des Krieges hatte er in seinem Tagebuch sein Rollenverständnis skizziert – er wolle derjenige sein, der auch gegen alle Widerstände unbequeme Wahrheiten aussprechen und insofern gegen jegliche Form des Totalitarismus immer die Vorherrschaft des Geistes geltend machen werde.172 Diese Rolle ist es, die Gide bereits ein Jahr nach Kriegsende übernimmt, als er sich bei einer Konferenz im österreichischen Pertisau an die europäische Jugend wendet und sie auffordert, allen Umwälzungen zum Trotz der Welt dadurch einen Sinn zu geben, dass man als Einzelner nicht aufhöre, in Bewegung zu bleiben und Fragen zu stellen – und dadurch zu sich selbst, zu dem eigenen individuellen Ich zu finden. Der Glauben an den «Wert der kleinen Zahl», den André Gide auf diese Weise nachdrücklich bekräftigt, stellt dabei eine

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Vgl. Daniel Durosay: Thésée roi. Essai sur le discours politique dans le Thésée de Gide, S. 220–221; und André Gide: Thésée, S. 1444–1448. Vgl. André Gide: Préface au ‹Voyage en Orient› de Hermann Hesse, in: Ders.: Essais critiques, S. 797. Ebd., S. 800. Vgl. André Gide: Journal II (1926–1950), S. 995–996, (16 juillet 1944).

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letzte zugespitzte Realisierung des Individualismus dar, der für ihn immer das wesentliche Kennzeichen des europäischen Geistes gewesen ist: In einer Zeit, wo ich den Wert des Menschen, seine Würde und seine Ehre: alles wofür wir leben und was unserm Leben Sinn gibt, […] so von allen Seiten umstellt fühle – in solcher Zeit ist es gerade dieses Bewußtsein: daß es unter den jungen Menschen noch einige gibt […], die sich nicht beruhigen, […] gerade dies und nur dies Bewußtsein hält uns Alte aufrecht und unsere Zuversicht. […] Die Welt wird gerettet werden durch einige Einzelne.173

6.3.2

Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes

Am Ende seiner Monographie über André Gide lässt Klaus Mann diesen in der Maske seiner Figur Theseus auftreten: «J’ai vécu»,174 sagt Theseus am Ende von Gides Erzählung ganz einfach, und in diesem knappen Schlusssatz schwingt alles mit, was der Begriff vom ‹Leben› an Fülle und Reichtum impliziert.175 Diesen abschließenden Satz zitiert Klaus Mann, und er zieht durch die Parallelisierung der Figur Theseus und des Autors Gide eine entsprechend positive Bilanz auch für dessen eigenes Leben: Seht doch Theseus, den umgetriebenen Helden und Abenteurer […] – wie schlank und stolz er daherkommt, der Ewigjunge, der Alterslose! Er hat sich die Unruhe des Herzens bewahrt, samt der Hoffnung. Er hat viel genossen, viel gekämpft, viel geliebt, wohl auch viel gelitten – immer gehorsam dem eigenen, früh erkannten Dämon und Gesetz. Indem er die eigene Persönlichkeit voll entfaltete, diente er auch dem Ganzen. Er kennt die Labyrinthe und er liebt das Licht. Er hat die Welt etwas heller gemacht.176

An dieser Charakterisierung fällt außer den bekannten Elementen der Unruhe und des Abenteurertums, der Beweglichkeit und des Getriebenseins und auch des Individualismus zum Wohle des Kollektivs vor allem eine Zuschreibung ins Auge, die im Kontext von Gides Optimismus in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von besonderer Bedeutung ist: Wenn Klaus Mann den fast Achtzigjährigen

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André Gide: Literarische Erinnerungen und Aktuelle Probleme, in: Die Umschau. Internationale Revue (3), November/Dezember 1946, S. 281–294, hier S. 294 (zuerst veröffentlicht in L’Arche Nr. 18/19). Vgl. dazu auch Claude Foucart: Le temps de la ‹gadouille› ou le dernier rendez-vous d’André Gide avec l’Allemagne (1933–1951), S. 147. Foucart betont im Zusammenhang mit der Pertisauer Rede noch einmal ausdrücklich Gides Individualismus als Voraussetzung für seinen humanistischen Entwurf eines zukünftigen Europas: «Ainsi se dégage lentement une vision de l’humanité qui ne repose plus sur un antagonisme des peuples […]. A Pertisau, Gide met […] en valeur l’individu comme seul capable d’échapper aux divisions nationales […]. L’exception devient la valeur suprême, l’insoumission devient culte de la particularité à un moment où le totalitarisme fait appel à la masse.» André Gide: Thésée, S. 1453. Vgl. zur Beziehung zwischen dem Leben und der Literatur, die dieses Leben mit narrativen Mitteln erschließt, Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, besonders S. 9–22. Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens, S. 276.

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hier als «ewigjung» und «alterslos» beschreibt, dann verweist er damit auch auf dessen Rolle als Leitfigur für die junge Generation: Ein solches Vorbild war er für Mann selbst und seine Generation in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gewesen, ein solches Vorbild ist er jetzt für die Jugend nach dem Zweiten – und in beiden Fällen gründet sich diese Vorbildfunktion auf Gides persönlichen Individualismus, den Klaus Mann als repräsentativ für den europäischen Geist und insofern als richtungweisend für die europäische Zukunft wahrnimmt.177 Der Optimismus, mit dem sich André Gide deshalb im Jahr 1946 in Pertisau an die jungen Europäer wendet und sie zur Verwirklichung ihres eigenen individuellen Schicksals auffordert, um dasjenige Europas in positiver Weise prägen zu können, ist in diesem Zusammenhang maßgeblich: Auch in der von neuem bedrohlichen Situation, in die Europa durch die sich rasch zuspitzende Konfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen USA und UdSSR in diesen Jahren nach dem Krieg geraten ist, hält Gide an seiner Überzeugung von der Möglichkeit einer Zukunft des Kontinents in der Individualisierung des einzelnen und in der Einigung der Nationen fest. Klaus Mann dagegen hatte die europäische Situation schon unmittelbar vor Beginn des Krieges mit großer Skepsis beurteilt – und sich dann in dessen Verlauf immer mehr in dieser Skepsis bestätigt gesehen. In seinem Roman Der Vulkan (1939), in dem Mann ein breites Panorama von deutschen Emigrantenschicksalen entwickelt, sind es zunächst einzelne Figuren, die beginnen, diese Skepsis in Worte zu fassen und ausdrücklich an der Zukunft Europas zu zweifeln: Während der Literaturwissenschaftler Benjamin Abel auch zu einem Zeitpunkt, zu dem er schon in den USA lebt, noch an Europa und vor allem an dessen kultureller Identität festhalten und sich als «hoffnungslos europäisch» bezeichnen kann,178 verlässt seine spätere Frau, die Schauspielerin Marion von Kammer den alten Kontinent schon mit dem Gefühl, ihn «nicht mehr ertragen zu können».179 Die österreichischen Pensionsgäste von Marions Mutter in Zürich schließlich sind nach dem Anschluss ihres Heimatlandes an das Deutsche Reich bereits so resigniert, dass sie zu wissen glauben: «Es gibt Europa nicht mehr…»180 In allen drei Fällen ist Europa dabei deutlich als eine kulturelle Größe gekennzeichnet, die bislang von den je persönlichen Erinnerungen und Geschichten des einzelnen und von den gemeinsamen Traditionen und Überlieferungen aller gelebt hat; diese zugleich individuelle und gemeinschaftliche kulturelle Identität des Kontinents ist es, die jetzt durch den Nationalsozialismus in Frage gestellt wird.

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Vgl. Claude Foucart: Le temps de la ‹gadouille› ou le dernier rendez-vous d’André Gide avec l’Allemagne (1933–1951), S. 132. Foucart setzt Gides Vorbildfunktion ausdrücklich mit seinem Individualismus in Verbindung, wenn er schreibt: «L’image de Gide devient celle de l’homme ayant vécu le dur combat de l’individualisme, de ses contradictions, face à l’unicité des doctrines.» Klaus Mann: Der Vulkan. Roman unter Emigranten, S. 399. Ebd., S. 373. Ebd., S. 503.

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Diese kulturelle Identität Europas ist es aber auch, die Klaus Mann selbst vor allem in den Jahren des Krieges dadurch zu bewahren versucht, dass er sie in die USA exportiert. Immer deutlicher versteht er seine Rolle in diesen Jahren als diejenige eines Vermittlers zwischen der alten und der neuen Welt,181 und er wirbt in Vorträgen, Büchern und Artikeln dafür, sich für die gemeinsamen Werte und gegen deren Infragestellung durch den Faschismus einzusetzen. In dem ersten Editorial zu der englischsprachigen Zeitschrift Decision, die er 1941 in New York gründet, fasst er diesen Anspruch ausdrücklich in Worte. Hier heißt es: Diese Zeitschrift soll kein ‹Sprachrohr› für europäische Emigranten sein; sie soll dazu dienen, die Beziehungen zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Geist zu intensivieren – eine Solidarität unter fortschrittlichen Geistern zu beweisen und zu stärken, die über alle nationalen Grenzen hinausgeht. Wir glauben nicht an den Isolationismus. Die moderne Kultur ist, wie der Frieden, ein unteilbares Ganzes.182

Gerade diese Überzeugung Klaus Manns wird jedoch in den folgenden Jahren immer nachhaltiger in Zweifel gezogen: Das Projekt der Zeitschrift Decision scheitert schon nach einem Jahr an chronischer Unterfinanzierung; seine Bücher, die er inzwischen für ein englischsprachiges Publikum auf englisch schreibt, finden in den USA nur wenige Leser, und schließlich muss er feststellen, dass sich das Interesse der Amerikaner für die europäische und insbesondere die deutsche Kultur in engen Grenzen hält. Während des Krieges gelingt es Mann immerhin, seine Rolle als Vermittler zwischen den Kontinenten als Soldat der US Army wahrzunehmen: Als solcher kehrt er nach Europa zurück und nimmt an dem Feldzug in Italien teil; hier schreibt er Flugblätter zur Aufklärung der amerikanischen Soldaten, der italienischen Bevölkerung und der deutschen Besatzer – aber nachdem der Krieg dann tatsächlich zu Ende ist, nimmt auch der Bedarf an derartigen Vermittlungstätigkeiten ab. Noch 1949 antwortet Klaus Mann auf die Frage nach seiner persönlichen Situation in den USA mit einem überzeugten Bekenntnis zu seiner Funktion als kultureller Mittler zwischen den Welten, indem er betont, es gelte in beiden Sphären zu Hause zu sein und auf diese Weise dem europäischen «kulturellen Erbe die Treue zu halten und doch den amerikanischen Einfluß […] aufzunehmen».183 Im selben Atemzug weist er aber darauf hin, diese gleichwertige Verwurzelung in zwei Kulturen sei unabdingbar, um die endgültige Entwurzelung zu vermeiden, und das Wort von der Entwurzelung hat dabei mit einem Mal wesentlich weniger positive Konnotationen, als das bisher in Manns Werken im allgemeinen und in seinen Selbstbeschreibungen im besonderen der Fall gewesen war: «Wer zwischen zwei kulturellen Sphären zu vermitteln wünscht, sollte in beiden zu-

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Vgl. Michel Grunewald: Klaus Mann 1906–1949, S. 153. Grunewald spricht hier von Klaus Manns Wunsch «de s’intégrer à la vie intellectuelle des Etats-Unis, tout en sauvegardant son originalité d’Européen». Klaus Mann: Decision, in: Ders.: Zweimal Deutschland, S. 235–239, hier S. 238. Klaus Mann: An die Redaktion der ‹Welt am Sonntag›, in: Ders.: Auf verlorenem Posten, S. 493–495, hier S. 493.

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hause, in beiden verwurzelt sein – oder er wäre ein Entwurzelter, der verdorren müßte.»184 War die Entwurzelung für Klaus Mann bisher die Bedingung für die volle Realisierung des europäischen Individualismus und für eine ausgewogene Beurteilung der politischen und kulturellen Realität Europas gewesen, und hatte er das durch diese positiv verstandene Entwurzelung bewirkte In-BewegungSein stets als seine eigentliche Lebensform gepriesen, so scheint die jetzt von ihm metaphorisch evozierte Gefahr des Verdorrens umso evidenter, als ihm seine Pendelbewegungen zwischen den Kontinenten nur zu deutlich die prekäre Situation vor Augen führen, in der sich Europa nach dem Krieg befindet. Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung aus Manns Autobiographie zu verstehen, das Exil sei zwar bitter – aber noch bitterer sei die Heimkehr danach.185 Er, der sich nach der Verbannung aus Deutschland immer über sein Europäertum definiert hatte, muss angesichts der Entwicklung Europas in diesen Jahren nach dem Krieg feststellen, dass sein weiter, europäischer Begriff von ‹Heimat› sich vor allem deshalb als unscharf erweist, weil diese europäische Heimat selbst an ihrer Identität zu zweifeln beginnt. Diese europäische Identität hatte sich Klaus Mann zufolge vor allem auf die dialektischen Pendelbewegungen der Geschichte des Kontinents gegründet. Seine Hoffnung darauf, dass diese Bewegungen nach dem Krieg in eine zumindest zeitweilige Synthese münden könnten, die die politische und kulturelle Einigung des Kontinents möglich und so seine Zukunft sicherer machen würde, erweist sich aber vor dem Hintergrund der zunehmend konfrontativen Polarisierung zwischen den USA und der UdSSR als immer fragwürdiger. Ein letztes Mal formuliert Klaus Mann seine Utopie von einer synthetischen Zivilisation, die dennoch die bestehenden Unterschiede nicht nivellieren würde, im Jahr 1947 in der Ankündigung eines neuen, viersprachigen Zeitschriftenprojekts, das bezeichnenderweise den Titel Synthesis tragen sollte. Hier betont er abermals seinen Glauben an die Unteilbarkeit der westlichen Kultur: Die Herausgeber von ‹Synthesis› sind der Überzeugung, daß die moderne Zivilisation eine untrennbare Einheit bildet, die nur als Ganzes gerettet werden kann – oder untergehen wird. Es ist das Anliegen dieses Magazins, die Sache der universalen Zivilisation zu fördern; modernes Denken in seiner ganzen Komplexität darzulegen; ein Forum verschiedener Philosophien und Meinungen zu werden, gleichsam eine Brücke zwischen Nationen und Kontinenten, zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Demokratie.186

In dieser Projektbeschreibung wird sehr deutlich, dass für Klaus Mann die von ihm angestrebte Synthese nicht in einem Stillstand oder einem endgültigen ZurRuhe-Kommen der dialektischen Bewegungen bestehen kann, sondern dass es ihm vielmehr um ein Ausagieren der Differenzen zu tun ist, innerhalb dessen jede Position ihre Berechtigung behalten und in dem dennoch ein gemeinsames

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Ebd. Vgl. Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 659. Klaus Mann: Synthesis, in: Ders.: Auf verlorenem Posten, S. 415–419, hier S. 415.

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Ziel verfolgt werden würde: Zur Debatte steht eben ausdrücklich «die Sache der universalen Zivilisation» und insofern definiert sich das Ziel ebenso in kultureller wie in politischer Hinsicht als ein offenes Forum für Ideen, Meinungen und Diskussionen.187 Auffällig ist hier aber vor allem, wie deutlich Mann bei der Formulierung dieses nach wie vor dialektisch organisierten Ziels über den engen, sich geographisch definierenden Raum Europa hinausgreift: Stattdessen ist er bemüht, die Grenzen seines Verständnisses der Zivilisation auf einer rein geistigen Ebene zu ziehen und insofern die Vereinigten Staaten als eine Art Verlängerung oder Erweiterung Europas zu begreifen. In der Tatsache allerdings, dass die Zeitschrift Synthesis in der Folge noch schneller scheitert als Manns bisherige Zeitschriftenprojekte, deutet sich schon das Scheitern seiner synthetischen Vorstellungen im allgemeinen an. In den Jahren zwischen dem Kriegsende 1945 und Klaus Manns Tod 1949 glaubt dieser immer klarer zu sehen, dass inzwischen weder seine Vorstellungen von seiner eigenen Rolle als vermittelnder europäischer Intellektueller noch diejenigen vom europäischen Geist als grundsätzlich dialektisch verfasster Bewegung einen Ausweg aus der zunehmend festgefahrenen Situation Europas zwischen den Systemen zu weisen vermögen. Seine alte Befürchtung, der Kontinent könne wirklich zwischen den Großmächten und den Ideologien aufgerieben werden, erscheint vor diesem Hintergrund immer plausibler, und er verleiht ihr immer nachdrücklicher in seinen Artikeln und Essays Ausdruck. Während er in den Jahren zuvor – und trotz der massiven Infragestellung seiner Konzeptionen durch den Nationalsozialismus – auch in politischer Hinsicht an der Idee von einer demokratischen europäischen Föderation als Gegenmodell zu den totalitären Systemen von Kommunismus und Faschismus ebenso wie zum amerikanischen Kapitalismus festgehalten hatte,188 scheint ihm dieses Ziel schon bald nach dem Krieg zumindest in näherer Zukunft unrealisierbar zu sein: Ausdrücklich erklärt er zwar nach wie vor die «Vereinigten Staaten von Europa» zu seinem langfristigen Ziel, er hält jedoch den sich abzeichnenden Konflikt zwischen Ost und West für zu gravierend, als dass man ernsthaft an eine Zusammenarbeit denken könnte, die sich der Realisierung dieses Ziels schon in der unmittelbaren Gegenwart oder in der nahen Zukunft verschreiben würde:

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Vgl. dazu auch Karina von Lindeiner: Sammlung zur heiligsten Aufgabe. Politische Künstler und Intellektuelle in Klaus Manns Exilwerk, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, besonders S. 123. Lindeiner interpretiert besonders Klaus Manns Exilwerk vor dem Hintergrund des formalen Prinzips der «Sammlung», wie es in seiner ersten Exilzeitschrift Die Sammlung exemplarisch formuliert sei: Manns Konzept (vor allem in Bezug auf seinen antifaschistischen Kampf) sei es gewesen, unterschiedliche Konzeptionen und Ideologien nebeneinander zu versammeln und sie gewissermaßen miteinander in einen Dialog treten zu lassen. Ziel sei dabei ausdrücklich aber eine Kultur der Synthese gewesen (vgl. besonders auch S. 45). Vgl. etwa Klaus Mann: Nach dem Sturze Hitlers, in: Ders.: Zweimal Deutschland, S. 88–91, besonders S. 90; und Klaus Mann: Die deutsche Opposition und der Krieg, ebd., S. 172–178, besonders S. 178.

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[D]as beste, was gute Europäer meiner Ansicht nach im Augenblick tun können, ist warten und Geduld haben… Ihr Staatenbund wird entstehen – unvermeidlich, nahezu automatisch –, sobald die derzeitige Spannung zwischen Russen und Anglo-Amerikanern beseitigt ist. Solange diese Spannung besteht, wird es keinen echten Frieden geben, nur eine ‹konstituierte Anarchie›; es wird keine internationale Zusammenarbeit, keinen vereinten europäischen Kontinent geben.189

Dieser Appell an die Geduld der Europäer aus dem Jahr 1946 scheint noch verhalten optimistisch – wenig später jedoch wird die Spannung zwischen den Systemen, die Mann hier zunächst nur als Grund für die Verzögerung der europäischen Einigung anführt, diesen Optimismus Lügen strafen: Klaus Mann, dessen dialektische Vorstellung von Europa zwar seit jeher wesentlich auf dem Begriff einer gewissen Spannung zwischen einander entgegengesetzten Tendenzen beruht hatte, sieht sich jetzt mit der Tatsache konfrontiert, dass diese Spannung dann unfruchtbar zu werden droht, wenn sie sich verfestigt oder erstarrt und die dialektische Bewegung in dieser Erstarrung dauerhaft zum Stillstand kommt, anstatt sich vorübergehend in einer fruchtbaren Synthese aufzulösen. Die Tatsache wird schließlich nicht zuletzt in dem Namen augenfällig, unter dem die sich Ende der vierziger Jahre immer deutlicher abzeichnende Konfrontation der Systeme allgemein firmiert: Der Begriff vom Kalten Krieg verweist nur zu deutlich auf die Verfestigung der Strukturen und die Bewegungslosigkeit, die in diesen Jahren den Anlass für Klaus Manns Resignation bezüglich der Möglichkeit einer in politischer und kultureller Hinsicht harmonischen Zukunft Europas darstellt. Die beiden Werke, an denen Mann unmittelbar vor seinem Tod gearbeitet hat, sprechen in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache: Sowohl der letzte unvollendete (und erst 2006 in Fragmenten veröffentlichte) Roman The Last Day als auch der Essay Die Heimsuchung des europäischen Geistes, der im Juni 1949 (und insofern einen Monat nach Manns Tod) zunächst auf englisch unter dem Titel Europe’s Search for a New Credo erschienen ist,190 zeugen davon, dass Klaus Mann zu diesem Zeitpunkt nicht allein seine eigene Situation, sondern vor allem auch diejenige Europas zwischen dem östlichen Kommunismus und dem westlichen Kapitalismus als zunehmend ausweglos empfunden haben muss. So sollte The Last Day den letzten Tag im Leben zweier Intellektueller schildern, die Handlung hätte sich innerhalb von 24 Stunden in zwei verschiedenen Städten abgespielt – in New York auf der einen Seite und in Ostberlin auf der anderen. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges steht die wachsende Verzweiflung des Amerikaners Julian in enger Beziehung zu derjenigen des Deutschen Albert; während sich der eine zuletzt mit einem Sprung aus dem Fenster das Leben

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Klaus Mann: Paneuropa – jetzt?, in: Ders.: Auf verlorenem Posten, S. 314–324, hier S. 323. Einen weiteren Monat später, im Juli 1949, erscheint die deutsche Übersetzung des Textes von Erika Mann in der Neuen Schweizer Rundschau. Vgl. Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes. The Ordeal of the European Intellectuals, mit einer editorischen Notiz und einem Nachwort von Hans Stempel, Berlin: Transit Buchverlag 1993.

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nimmt, stirbt der andere bei einem Unfall. Beide sind jedoch, das macht Mann nur zu deutlich, Opfer der Verhältnisse, in denen sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu leben gezwungen sind –Verhältnisse, die ihnen angesichts der Konfrontation der Systeme ein Leben als engagierte Intellektuelle als immer auswegloser erscheinen lassen: Kein Weg aus dieser Krise… Es ist nichts mehr da, wofür man sterben könnte: Deshalb lohnt es sich nicht mehr, zu leben. Wir müssen sterben, um die Abwesenheit der Ideale, die tödliche Leere unserer Epoche zu demonstrieren. […] Hier stehen wir, zwischen zwei Riesenmächten – und wer auch gewinnen mag, wir sind geschlagen. Wir sind von vornherein geschlagen – wir Idealisten, wir Narren, wir Betrogene… Wir sind die Verlierer!191

Es ist der New Yorker Julian, der dieses desillusionierte Fazit zieht – kurz bevor er sich tatsächlich das Leben nimmt. Die Überlegungen, die er vor seinem Tod noch anstellt, kreisen dabei immer wieder um die Frage, ob dieser Freitod als ein Sich-der-Verantwortung-Entziehen verstanden werden müsse, oder ob er nicht vielmehr die einzige Möglichkeit überhaupt darstellen könne, angesichts der verfahrenen Situation des Kalten Krieges ein Zeichen zu setzen und gerade Verantwortung zu übernehmen. So denkt Julian kurz darüber nach, ob er sich denn zum Weiterleben entschließen könnte für den Fall, dass die USA und die Sowjetunion unverhofft zu einer Aussöhnung gelangen würden – hält es dann aber doch für wahrscheinlicher, dass diese Versöhnung wenn überhaupt, dann erst nach seinem Tod und womöglich als seine Konsequenz eintreten wird. Er stellt sich in eine Reihe mit all den europäischen Intellektuellen, die sich schon während des Zweiten Weltkriegs umgebracht haben und schließt aus dieser Reihe von Selbstmorden auf die Notwendigkeit, die intellektuellen Verzweiflungstaten zu synchronisieren: Man müßte eine Bewegung in Gang bringen – die Liga der Verzweifelten, die Gesellschaft der Hoffnungslosen, den Selbstmörderverein. Die intellektuelle Elite der ganzen Welt würde sich der Organisation anschließen – ich weiß nicht, wie man auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs empfindet, aber im Westen wäre die Teilnahme beträchtlich…192

Der Essay Die Heimsuchung des europäischen Geistes liefert nun gewissermaßen den theoretischen Unterbau für die praktisch orientierten Erwägungen, die Klaus Mann seine Romanfigur Julian anstellen lässt. Auch der Essay sieht schließlich im Selbstmord der Intellektuellen nicht nur deren einzigen Ausweg, sondern auch ihre einzige Möglichkeit, ein letztes Mal Einfluss auf den Gang der Dinge zu nehmen und damit ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Der Essay liefert zunächst «ei-

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Klaus Mann: The Last Day. Der letzte Tag. Erstabdruck der letzten sechs Kapitel aus dem unveröffentlichten Fragment, ins Deutsche übersetzt von Fredric Kroll, in: Literaturblatt für Baden und Württemberg 6/2006, S. 6–9, hier S. 7. Vgl. auch Michel Grunewald: Klaus Mann 1906–1949, S. 188. Grunewald betont ausdrücklich die Tatsache, dass beide Intellektuelle der Spannung zwischen Ost und West zum Opfer fielen. Klaus Mann: The Last Day. Der letzte Tag, S. 6.

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ne Bestandsaufnahme der literarischen und philosophischen Strömungen Europas in den ersten Nachkriegsjahren».193 Dabei ist allerdings auffällig, als wie wenig fruchtbar alle diese Strömungen gekennzeichnet sind – so sind die unterschiedlichen Ideen und Einflüsse keineswegs mehr auf eine gegenseitige Inspiration hin ausgerichtet. Stattdessen ist das Bild des intellektuellen Nachkriegseuropas, das Klaus Mann zeichnet, das eines unüberschaubaren und chaotischen Nebeneinanders von Stimmen, die nur noch daran arbeiten, sich gegenseitig zu übertönen und die letztlich in einer großartigen Kakophonie enden, aus der heraus niemand mehr einen klaren Gedanken fassen kann: Die europäische Luft widerhallt von falschen Glaubensbekenntnissen, trunkener Rhetorik, sich gegenseitig aufhebenden Argumenten, wütenden Anklagen. Es fehlt nicht an Stimmen; sie sind scharf und streitsüchtig, pedantisch und ölig; aber es kommt zu keiner geordneten Diskussion. Monologe erklingen, isolierte Aufschreie, verzweifelte Proteste. Die Stimmen hören, sie verstehen einander nicht.194

Klaus Mann greift in der Folge einzelne Stimmen aus diesem Durcheinander heraus und zitiert sie ohne weiteren Kommentar. Darin wird seine eigene Distanz sehr deutlich: Das Stimmengewirr unter den europäischen Intellektuellen (denn allein von ihnen und ihren Ideen spricht Mann in seinem Essay) muss ihm vor allem deshalb so unfruchtbar und ziellos erscheinen, weil es erstmals in der europäischen Geschichte jeden Dialog unmöglich macht. Klaus Manns alte Vorstellung davon, wie in Europa jede These ihre Antithese finde und wie der europäische Fortschritt so auf eine – wenn auch immer nur zeitweilige – Synthese hin arbeite, wird in dem Durcheinander von Thesen in den Jahren nach dem Krieg nachhaltig ad absurdum geführt: Wenn niemand den anderen mehr versteht, wenn niemand den Thesen dieses anderen überhaupt noch Gehör schenkt, dann kann auch niemand diese Thesen weiterentwickeln, vorantreiben, entkräften oder produktiv diskutieren. Mehr denn je ist in dem Europa nach dem Krieg also die Synthese im Sinne eines fruchtbaren Austauschs zwischen unterschiedlichen Positionen gerade in intellektueller und kultureller Hinsicht fragwürdig geworden, und mehr denn je macht das zuletzt auch eine politische Verständigung unmöglich: Sie reden über Kafka und über Picasso und über die Tabaklage – die Zigaretten sind zu teuer und so schwer zu bekommen! Sie reden über Geschlechtliches, über dialektischen Materialismus, Schnaps, Proust, Schostakowitsch und die Atombombe. Sie reden vom Kriege. Sie haben Angst.195

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Alexa-Désirée Casaretto: Heimatsuche, Todessehnsucht und Narzißmus im Werk Klaus Manns, Frankfurt am Main: Lang 2002, S. 218. Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes, in: Ders.: Auf verlorenem Posten, S. 523–542, hier S. 524. Ebd., S. 524–525. Marlis Thiel spricht in diesem Zusammenhang von dem «Bild einer trostlosen Unordnung und Verblendung», das Klaus Mann in seinem letzten Essay zeichne (vgl. Marlis Thiel: Klaus Mann: Die Sucht, die Kunst und die Politik, Pfaffenweiler: Centaurus Verlag 1998, S. 292–293).

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Mann beschreibt die europäischen Intellektuellen in seinem Essay als legitime Nachfolger der Priester: das Interesse der Intellektuellen gelte ebenso wie das der Priester «allein geistigen Werten und nicht materiellem Erfolg».196 Gerade deshalb aber sieht er diejenige Ära an ein Ende gekommen, in der die Intellektuellen noch etwas haben bewirken können. Wie André Gide sieht auch Klaus Mann die wesentliche Aufgabe des geistigen Europäers in dessen Bereitschaft zum Zweifel und zur Kritik, und in der Bereitschaft, um dieses Zweifels willen gewisse Risiken zugunsten der inneren Ungebundenheit einzugehen. Um das jedoch tun zu können, müssen seiner Meinung nach auf der anderen Seite bestimmte «Grundwahrheiten und Prinzipien» über jeden Zweifel erhaben sein,197 und so weist er am Beispiel großer europäischer Intellektueller wie Erasmus und Montaigne, Victor Hugo und Heinrich Heine nach, dass für sie die «Würde, die moralische Sendung der Menschheit, […] die offenbare Überlegenheit der Kultur über die Barbarei» unantastbar gewesen seien.198 Diese feste und rational verfasste Basis, auf der die europäische Fähigkeit zum Zweifel überhaupt erst fruchtbar hat werden können, sieht Mann in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts jedoch nachhaltig in Frage gestellt; das zwanzigste Jahrhundert habe dann schließlich diese intellektuellen Erschütterungen des westlichen Rationalismus in jenen Irrationalismus münden lassen, der die Ursache für die totalitären Ideologien, für die Kriege und für die derzeitige geistige Verwirrung Europas darstelle.199 Der Intellektuelle selbst sieht Mann zufolge seine eigene Existenzberechtigung vor diesem Hintergrund in Zweifel gezogen: Wenn ohnehin alles zweifelhaft geworden ist, was soll dieser säkulare Priester in seiner Bereitschaft zur geistigen Ungebundenheit dann noch bewirken wollen? Während die Zivilisation zusammenkracht unter dem Ansturm einer aufs modernste ausstaffierten Barbarei, was bleibt dem Intellektuellen, dem Künstler zu tun, als der allgemeinen Verstörtheit und Qual Ausdruck zu geben?200

Die Konfrontation von Kommunismus und Kapitalismus im Kalten Krieg stellt dabei nur die logische Konsequenz aus der allgemeinen Orientierungslosigkeit dar, wie Klaus Mann sie hier skizziert: Die unbedingte Anhängerschaft an eine Ideologie kann in seinen Augen nur unter Umständen verlockend erscheinen, in denen sonst keinerlei Halt mehr zu finden zu sein scheint. Wie die unterschiedlichen philosophischen und literarischen Lehrmeinungen und Ideen in dieser Zeit einander unvereinbar gegenüberstehen, so tun es auch die politischen und gesellschaftlichen Ideologien; ebensowenig wie man einander in kulturellen Fragen noch Gehör zu schenken bereit ist, lässt man sich noch auf ernsthafte Gespräche mit

196 197 198 199

200

Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes, S. 526. Ebd. Ebd., S. 527. Vgl. dazu Michel Grunewald: Klaus Mann 1906–1949, S. 412. Grunewald interpretiert das Scheitern von Manns Hoffnungen auf eine geistige Synthese in Europa ebenfalls vor dem Hintergrund dieser Konkurrenz zwischen Rationalismus und irrationalen Tendenzen. Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes, S. 528.

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politischen Gegnern ein. Klaus Mann spricht von der «Schlacht der Ideologien» und der «Kluft zwischen zwei Weltanschauungen»,201 und er betont, dass diese Kluft auch insofern unüberwindbar ist, als jede Form von Neutralität unter den Intellektuellen mittlerweile als ein Zeichen von Schwäche interpretiert wird.202 Ein schwacher, dissonanter Chor, begleiten die Stimmen der europäischen Intellektuellen das ungeheure Drama. Ich höre viele Stimmen, manche frech und aggressiv; andere sanft und spöttisch, leidenschaftlich oder sentimental; aber ich höre nicht den Wohllaut koordinierter Klänge, das Konzert harmonierender oder friedlich wetteifernder Kräfte.203

Das Bild vom europäischen Konzert, das inzwischen nur noch in seiner vermeintlich endgültigen Nichtrealisierbarkeit hinter den Dissonanzen hervorscheint, weist hier zwar ein letztes Mal auf die grundsätzliche Berechtigung der unterschiedlichen Stimmen hin; aber wenn aus Klaus Manns letztem Essay dennoch die Resignation und Enttäuschung spricht, dann gründet sich das darauf, dass er in der Verhärtung der Fronten im Kalten Krieg nicht nur den mehrstimmigen Individualismus in Frage gestellt sieht, den ein solches Konzert voraussetzen würde; sondern vor allem auch seine eigene Rolle als Impulsgeber oder Konzertmeister für dieses Zusammenspiel. Einem (vermutlich fiktiven) schwedischen Studenten legt er deshalb am Ende seines Aufsatzes sein desillusioniertes Fazit in Bezug auf Europa in den Mund – den Kontinent, von dem er sein Leben lang gehofft hatte, er könne in der dialektischen Bewegung von je individuellen Thesen und Gegenthesen schließlich doch zu einer Harmonie in geistiger und in politischer Hinsicht finden: Der Kampf zwischen den beiden antigeistigen Riesenmächten – dem amerikanischen Geld und dem russischen Fanatismus – läßt keinen Raum mehr für intellektuelle Unabhängigkeit und Integrität. […] Sogar die Existentialisten gehen nicht weit genug. Was soll uns das Gerede von der Wichtigkeit individueller Entscheidungen? Es ist zu spät für individuelle Entscheidungen. Les jeux sont faits.204

Der Student formuliert in der Folge eine Aufforderung zum kollektiven Selbstmord der europäischen Intellektuellen, wie sie auch Klaus Manns Romanfigur Julian in The Last Day skizziert. Nachdem aus Europa ein Raum geworden zu sein scheint, der keine Verwendung mehr für die Schriftsteller hat, die ihre Aufgabe bisher in der Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Positionen und Stimmen innerhalb des Kontinents gesehen hatten, endet Manns Suche nach einem Weg in einer schließlich doch unfruchtbar bleibenden Heimatlosigkeit. Die ganze Welt wird meine Heimat sein: gesetzt, es gibt noch eine ganze Welt nach diesem Kriege… Heimkehr oder Exil? Falsche Problemstellung! Überholte Alternative! Die einzig aktuelle, einzig relevante Frage ist: Wird aus diesem Kriege eine Welt entstehen, in der Menschen meiner Art leben und wirken können? Menschen meiner Art, Kosmo-

201 202 203 204

Ebd., S. 540. Vgl. ebd., S. 535. Ebd., S. 540–541. Ebd., S. 541.

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politen aus Instinkt und Notwendigkeit, geistige Mittler, Vorläufer und Wegbereiter einer universalen Zivilisation werden entweder überall zu Hause sein oder nirgends. In einer Welt des gesicherten Friedens und der internationalen Zusammenarbeit wird man uns brauchen; in einer Welt des Chauvinismus, der Dummheit, der Gewalt gäbe es keinen Platz, keine Funktion für uns.205

205

Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 604–605. Vgl. auch Alexa-Désirée Casaretto: Heimatsuche, Todessehnsucht und Narzißmus im Werk Klaus Manns, S. 230. Casaretto schließt ihre Überlegungen mit dem Fazit, «[d]em Europäer und Weltbürger» Klaus Mann sei zum Ende seines Lebens hin «kein geistiger Freiraum mehr gegeben [gewesen], in dem er hätte wirken können.»

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Rückblick und Ausblick

1986 veröffentlichte der spätere portugiesische Nobelpreisträger José Saramago einen Roman, der im Original A Jangada de Pedra, auf deutsch wörtlich übersetzt Das steinerne Floß heißt. Und genau um ein solches geht es in dem Buch: Unvermittelt reißen nämlich die Pyrenäen entzwei, die Iberische Halbinsel treibt, vom europäischen Festland losgelöst, als steinernes Floß dem offenen Meer entgegen und ist deshalb fortan keine Halbinsel mehr, sondern tatsächlich eine richtige Insel. Auf ihrer Reise quer über diese ehemalige Halbinsel treffen die Protagonisten des Romans schließlich auf den andalusischen Bauern Roque Lozano, der dem Gerede von der Trennung Spaniens und Portugals von Europa misstraut und der deshalb auf seinem Esel Platero unterwegs ist, die Bruchstelle in den Pyrenäen selbst in Augenschein zu nehmen. Auf den Einwand, bis er auf dem Esel die Pyrenäen erreicht habe, sei von Europa wahrscheinlich schon nichts mehr zu sehen, entgegnet Roque Lozano: «Se eu a não vir, é porque ela nunca existiu»,1 und der Erzähler des Romans gibt ihm zunächst recht, indem er betont, damit die Dinge existierten, werde zweierlei vorausgesetzt, einmal, dass der Mensch sie sehe, und zum anderen, dass er ihnen einen Namen gebe. Der Stoizismus, mit dem der andalusische Bauer auch die Nichtexistenz des Kontinents hinnehmen würde, steht nur scheinbar in einem Gegensatz zu Peter Handkes resignierter Nostalgie anlässlich des von ihm vermuteten Ende Europas. Denn wenn man sich das Erscheinungsdatum von Saramagos Roman näher ansieht, dann wird rasch deutlich, dass auch das Europa, das die Iberische Insel auf ihrer Fahrt nach Westen hinter sich lässt, kaum dasjenige sein kann, dessen Verschwinden Handke bedauert und das eingangs als ein geistiges Europa jenseits der Realpolitik charakterisiert worden ist: 1986 war das Jahr, in dem Spanien und Portugal nach langen Verhandlungen der damaligen EG beitraten. Das Szenario von der Halbinsel, die sich vom Festland löst, stellt vor diesem Hintergrund einen kühnen Gegenentwurf zu den vor allem ökonomisch begründeten Hoffnungen dar, die man mit dem Beitritt verband.2 Auch in Saramagos Roman ist das sich

1

2

José Saramago: A Jangada de Pedra, Lisboa: Ed. Caminho 1986, S. 71. Vgl. zu dem Roman auch Mary Lou Daniel: Symbolism and Synchronicity: José Saramago’s ‹Jangada de Pedra›, in: Hispania 74 (1991), S. 536–541; Daniel-Henri Pageaux: La péninsule ibérique quitte l’Europe: ‹A Jangada de Pedra/Le Radeau de Pierre› de José Saramago, in: Colette Astier/Claude de Grève (Hg.): L’Europe. Reflets littéraires, Paris: Klinksieck 1993, S. 199–205; und David G. Frier: José Saramago’s Stone Boat: Celtic Analogues and Popular Mythology, in: Portuguese Studies 15 (1999) S. 194–206. «Pourtant le paradoxe est cruel: au moment où l’Europe accepte enfin les deux pays ibériques […], ces deux pays, enfin amarrrés à l’Europe, s’en écartent.» (Daniel-Henri Pageaux: La péninsule ibérique quitte l’Europe, S. 200).

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politisch und wirtschaftlich definierende Europa der Europäischen Gemeinschaft also suspekt – wenn auch vermutlich aus anderen Gründen als im Falle Peter Handkes. Während sich dessen knappes Diktum in einem allgemeinen Sinne kritisch gegen die Institutionalisierung Europas richtet, die seiner Meinung das geistige (und damit das eigentliche) Leben des Kontinents zum Erliegen gebracht hat, argumentiert José Saramago nämlich einmal mehr von einem spezifisch iberischen Standpunkt aus, indem er dieser Institutionalisierung den Eigensinn der Länder an der Peripherie entgegensetzt. Bei ihm könnte Europa (anders als bei Handke) durchaus noch Überlebenschancen haben – gesetzt den Fall, es besinnt sich auf diese Formen des Eigensinns: Porém, se há desses europeus, também há europeus destes. A raça dos inquietos, fermento do diabo, não se extingue facilmente, por mais que se afadiguem os áugures em prognósticos. […] Foi portanto uma dessas inconformes e desassossegadas pessoas que pela primeira vez ousou escrever as palavras escandalosas, sinal duma perversão evidente, Nous aussi, nous sommes ibériques, escreveu-as num recanto de parede, a medo, como quem, não podendo ainda proclamar o seu desejo, não aguenta mais escondê-lo. […] Esta declaração inauguradora alastrou rapidamente, apareceu nas fachadas dos grandes edificios, nos frontões, no asfalto das ruas, nos corredores do metropolitano, nas pontes e viadutos, os europeus fiéis conservadores protestavam, Estes anarquistas são doidos, é sempre assim, leva-se tudo à conta de anarquismo.3

Dieser angebliche Anarchismus, der hier Menschen in ganz Europa dazu bringt, sich solidarisch mit den abtrünnigen Iberern zu erklären, wäre in Saramagos Augen wohl tatsächlich ein Modell, mittels dessen sich Europa der offensichtlich von ihm wie von Handke befürchteten Brüsseler Homogenisierung widersetzen könnte. Im Kontext dieser Arbeit ist Saramagos Szenario nun in verschiedener Hinsicht von Bedeutung. Dem Lob des europäischen Eigensinns, das sein Roman auf der inhaltlichen Ebene durch das wörtlich verstandene Sich-Entfernen der beiden iberischen Länder aus den europäischen Zusammenhängen in Szene setzt, entspricht auf der stilistischen eine betont distanzierte und ironische Erzählweise.4 Damit sind es einmal mehr spezifisch literarische Methoden, die Europa zu dem verhelfen, was für Saramago sein eigentliches Wesen ausmacht: die Eigenständigkeit nämlich, die Besonderheiten und der Individualismus nicht allein der einzelnen Länder und Regionen, sondern auch der einzelnen Menschen, die sich eben nicht homogenisieren oder gar gleichschalten lassen. Saramagos literarischer Entwurf eines sich der Institutionalisierung widersetzenden Europas führt zwar die lange Tradition der Ausgliederung der Iberischen Halbinsel aus dem europäischen Verbund fort; seine Vision von den sich europaweit den Iberern anschließenden vermeintlichen Anarchisten zeigt aber, dass es ihm dabei nicht um eine bloße Fortschreibung der alten Muster geht, sondern darum, diese für

3 4

José Saramago: A Jangada de Pedra, S. 162–163. Vgl. dazu Daniel-Henri Pageaux: La péninsule ibérique quitte l’Europe, S. 204.

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neue Vorstellungen fruchtbar zu machen – für Vorstellungen, die nicht nur für die Iberische Halbinsel, sondern für ganz Europa relevant sind. In kleinen Variationen tauchen so auch in diesem Roman vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zum einen mit dem Bild von der Insel und mit der Reise der Protagonisten quer über diese Insel, zum anderen aber auch mit der Neuinterpretation des iberischen Sonderwegs und der Forderung nach einem europaweiten Individualismus Elemente auf, die bereits in den Auseinandersetzungen derjenigen Autoren mit Europa von Bedeutung gewesen sind, mit denen sich die vorliegende Arbeit beschäftigt hat. Auch wenn auf den ersten Blick die Bedingungen in Europa (und für Europa) Ende des zwanzigsten Jahrhunderts positiver und einfacher zu sein scheinen als zu Lebzeiten dieser Autoren, zeigt sich dabei, dass die Existenz des Kontinents trotz seiner politischen Institutionalisierung nicht unproblematisch sein kann: Als der andalusische Bauer Roque Lozano von seiner Expedition in die Pyrenäen zurückkehrt, kann er eben nicht bestätigen, dass es diesen sagenhaften Kontinent Europa tatsächlich gibt oder auch nur gegeben hat. Auf die Frage, was er dort in den Pyrenäen gesehen habe, antwortet er: «Nada, cheguei aos Pirenéus e só vi o mar, […] Não havia França, não havia Europa, ora, na minha opinião, uma coisa que não há é o mesmo que não ter havido.»5 Vor dem Hintergrund dieser auch für die Gegenwart erneuerten Feststellung der stets prekären Existenz und Identität des Kontinents soll deshalb abschließend versucht werden, auf der einen Seite in einem kurzen Überblick diejenigen Themen zu bündeln, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung gewesen sind. Auf der anderen soll aber auch die These von der Existenz eines sich von dem realpolitischen und institutionell verankerten Europa grundsätzlich unterscheidenden geistigen Europas untermauert werden, das sich vor allem in der europäischen Literatur manifestiert. Ausgehend von diesem Befund kann schließlich tatsächlich die eingangs formulierte Vermutung einer besonderen Beziehung zwischen Europa und der Literatur bestätigt werden – denn auch wenn Roque Lozano auf seiner Reise in die Pyrenäen nichts gesehen hat, so hat doch José Saramago in seinem Roman Europa nicht nur sichtbar gemacht, sondern ihm auch, im übertragenen Sinne, einen Namen gegeben und damit trotz aller Zweifel erneut zur Existenz verholfen. Diese literarische Existenz Europas steht nun trotz aller Differenzen insofern in einem engen Zusammenhang mit der realpolitischen, als es in der Vergangenheit letztlich die Europaentwürfe der europäischen Schriftsteller waren, die den Weg für die Einigung des Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg gebahnt haben. In der Gegenwart können die Auseinandersetzungen der europäischen Schriftsteller mit dem schließlich geeinigten Kontinent dagegen als Versuche gelesen werden, diese immer auch subversive Tradition eines literarischen Gegenmodells zur realpolitischen Wirklichkeit unter anderen Vorzeichen fortzuschreiben.

5

José Saramago: A Jangada de Pedra, S. 307.

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Anhand der Werke der neun Autoren, deren Fragen nach Europa hier verhandelt worden sind, können so die Konstruktionsprinzipien eines literarischen Europas aufgezeigt werden, das sich dadurch auszeichnet, dass ausgehend von den immer wieder neu unternommenen Versuchen einer literarischen Festschreibung des Kontinents die unterschiedlichsten Diskurse miteinander in Verbindung gesetzt werden können. Während die gegenwärtige (und von Peter Handke und José Saramago mit Skepsis betrachtete) Europapolitik sich vor allem an ihrer Effizienz messen lassen muss, kann die Europaliteratur zum einen als ein geistiges Spielfeld gelten, innerhalb dessen alle Überlegungen zu Europa immer auch Experimente, Fantasien oder Utopien waren und sind. Zum anderen fungiert die Europaliteratur auf diese Weise aber auch als ein Speicher für das vielfältige und vielseitige Wissen um diese je spezifischen Experimente, Fragen und Diskurse. Hier kann vor dem Hintergrund eines sich vor allem als politische und wirtschaftliche Einheit definierenden Europas tatsächlich das subversive Potential der Europaliteratur vermutet werden: Die Literatur ist immer auch das Medium der Möglichkeiten und der Alternativen, und zwar umso mehr, als sie sich keineswegs nur literarischer oder im weiteren Sinne kultureller Zugänge zu Europa bedient, sondern eben immer wieder auch politische und wirtschaftliche Diskussionen aufgreift, um sie mit literarischen Mitteln weiterzuschreiben. In der Auseinandersetzung mit den europapolitischen Konzeptionen der neun hier untersuchten Schriftsteller (die zumindest im Falle Heinrich Manns auch wirtschaftliche Erwägungen einschließen) konnten so unterschiedliche Modelle für ein zu einigendes und harmonisiertes Europa aufgezeigt werden. Auf der einen Seite standen Vorstellungen, die ausgehend von dem Befund einer fundamentalen Desorganisation des Kontinents auf eher autoritär verfasste, imperialistische Konzeptionen zurückgriffen – hier sind der frühe Victor Hugo mit seiner Figur eines starken Kaisers und Eugeni d’Ors mit seinem Modell des Imperialismus als dem Nationalismus entgegengesetzte ordnende Kraft beispielhaft. Auffällig ist dabei, dass in diesem Zusammenhang immer wieder dieselben Vorbilder zitiert werden: Das Karolingerreich, das Heilige Römische deutscher Nation und zuletzt das napoleonische Empire sind Referenzen, die bei den verschiedenen Autoren gleichermaßen zu finden sind. Neben diesen deshalb immer auch nostalgisch motivierten und oft genug mit Verweis auf das Christentum präzisierten Reichsideen stehen auf der anderen Seite Vorstellungen, die auf einen humanistisch akzentuierten Sozialismus setzen. Diese expliziter politische Zielsetzung findet sich bereits bei dem späten Victor Hugo, sie wird aber von René Schickele ebenso wie von Heinrich und Klaus Mann und von André Gide weiterentwickelt. Bei den Autoren aus dem zwanzigsten Jahrhundert wird dieses (teilweise kommunistisch inspirierte, teilweise sich gegen den Kommunismus gerade abgrenzende) Modell vor allem als ein Gegenbild zu der Bedrohung des Faschismus konzipiert. Und tatsächlich werden alle politisch motivierten Auseinandersetzungen mit Europa als eine solche positive Utopie entworfen, die sich gegen eine als defizitär erlebte politische Gegenwart richten soll: Das (durch den Imperialismus oder den Sozialismus) geeinigte Europa wird der Realität der Nationalstaaten entgegengestellt, um deren Mängel kritisieren und kompensieren zu können. Ähnlich 364

funktionieren diejenigen Annäherungen an Europa, deren Stoßrichtung eher soziologisch motiviert ist. Besonders José Ortega y Gasset, aber auch Heinrich und Klaus Mann sowie André Gide können als Vertreter dieses Diskurses angeführt werden. Ortegas Analyse der europäischen Gesellschaft und seine Diagnosen zum Verhältnis von Eliten und Massen legen nicht zuletzt auch den Grundstein für eine intensive Auseinandersetzung der betreffenden Schriftsteller mit den Vorstellungen, die sie von ihrer eigenen Rolle in der Gesellschaft entwickeln. In diesem Zusammenhang wird deshalb von allen immer wieder das Bild des Intellektuellen beschworen, der seiner europäischen Verantwortung dadurch gerecht wird, dass er der bloß politischen und wirtschaftlichen Macht diejenige des Geistes entgegensetzt – eine Vorstellung, die schon Ernst Robert Curtius formuliert hat und die in Variationen für alle hier untersuchten Autoren kennzeichnend ist. An dieser Stelle überlagern sich bereits die Ebenen: Ausgehend von einer eigentlich soziologischen Fragestellung werden Debatten initiiert, die Europa als einen sich vor allem kulturell und geistig definierenden Raum markieren. In ihrer Betonung dieses Punktes finden sich tatsächlich alle hier diskutierten Konzeptionen vereint: Auch wenn sie dabei jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen, so teilen doch alle neun Autoren ein immer auch emphatisch formuliertes Verständnis von Europa als Raum der Vernunft, des Geistes, des Humanismus, der Aufklärung und der Intellektualität. Diesem geistigen Raum kommt selbst in denjenigen Fällen großes Gewicht zu, in denen explizit auch nach dem geographischen Raum Europa und nach seinen Grenzen gefragt wird – denn gerade mittels der Konzeption eines sich mit geistigen Mitteln abgrenzenden Raumes kann hier versucht werden, die Willkür von geopolitischen Grenzziehungen zu belegen. Dass die Schriftsteller diese Vorstellung von einem sich über seinen Geist und dessen Tradition charakterisierenden Europa nun auf dem Umweg über die Diskussion ihres eigenen Rollenverständnisses immer wieder auch zu einer spezifisch literarischen machen, liegt dabei in der Natur der Sache: Ein sich geistig definierendes Europa muss in den Augen der literarischen Vertreter dieses Geistes selbstverständlich vor allem in seiner Literatur Ausdruck finden. So kann zwar für alle hier untersuchten Auseinandersetzungen mit Europa grundsätzlich eine permanente Überlagerung von politischen, soziologischen, geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragestellungen konstatiert werden – zuletzt sind es jedoch immer die Kultur und insbesondere die Literatur, die einerseits zur besonderen Charakterisierung des Kontinents, andererseits aber auch zur Begründung der jeweiligen (geo-)politischen und wirtschaftlich-sozialen Ansprüche herangezogen werden. Wenn diese Argumentation von einer solchen besonderen Bedeutung der Literatur ausgeht, dann ist darin das verbindende Moment zwischen der Vielzahl von sehr verschiedenen Themen zu sehen, die die vorliegende Arbeit zur Beantwortung ihrer Frage nach einem literarisch konzipierten Europa angeschnitten hat. Der kleinste gemeinsame Nenner all der unterschiedlichen Konzeptionen von Europa ist ihre genuine Beziehung zur Literatur – ob sie nun bestimmte politische Einigungsmuster entwerfen, die Frage nach den Grenzen der europäischen Zivilisation stellen, die eigene spanische Identität in der Abgrenzung gegen ein 365

als anders empfundenes Europa skizzieren, nach Ordnung oder nach Frieden suchen, an ihren eigenen Prämissen zu zweifeln beginnen, den Individualismus als hervorragendes Merkmal des Kontinents preisen oder die Entwicklung Europas als dialektische Bewegung zu fassen versuchen. Vor diesem Hintergrund sind nun gerade diejenigen Autoren von besonderer Bedeutung, deren Ideen in dieser Arbeit in den kleineren Brückenkapiteln analysiert worden sind. Sowohl Ernst Robert Curtius als auch José Ortega y Gasset und Heinrich Mann zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Werke die Beziehung zwischen der Literatur und Europa entweder besonders klar formulieren oder aber besonders intensiv reflektieren. So hat die Auseinandersetzung mit dem literaturwissenschaftlichen Werk von Ernst Robert Curtius den inhaltlichen und strukturellen Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen die vorliegende Arbeit ihrer Frage nach Europa in der Literatur nachgehen wollte. Die Metaphern von der Insel, dem Garten und der Reise, die er in seiner Beschäftigung mit Europa entwickelt und mittels derer er sich den Kontinent als einen literarischen Raum erschließt, haben sich für diese Arbeit insofern als fruchtbare Leitgedanken erwiesen, als mit ihrer Hilfe eine spezifisch literarische Form des Sprechens über Europa ausfindig gemacht werden konnte, die sich von den politischen, historischen oder soziologischen Diskursen maßgeblich unterscheidet. Die metaphorische Annäherung der Autoren an Europa ist dabei immer wieder auch in einer engen Beziehung zu ihrer Reflexion über das Exil als eine spezifisch europäische Erfahrung zu verstehen, und das macht die Fruchtbarkeit dieser Herangehensweise umso deutlicher: Die räumlichen Metaphern von der Insel, dem Garten und der Reise sind vor allem in einem Kontext relevant, der Europa nicht als einen statischen Begriff, sondern als eine kontinuierliche Bewegung verstanden wissen möchte. Vor diesem Hintergrund sind nun sowohl die Überlegungen von José Ortega y Gasset als auch diejenigen von Heinrich Mann zu verstehen. Während Ortegas philosophische Schriften in ihrer betont nicht-begrifflichen Herangehensweise als eine konsequente Entwicklung von Curtius’ Modell des metaphorischen Sprechens über Europa verstanden werden können, und während sich seine Vorstellung von Europa auf diese Weise einmal mehr nicht als absolut, sondern vielmehr als relational strukturiert erweist, scheint Heinrich Mann mit seinem Entwurf von der europäischen Literatur als Mittel auch des politischen Kampfes einen weniger selbstreflexiven Ansatz zu bevorzugen. Dennoch ist auch dieser Zugang weniger eindeutig und direkt, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag: Auch Manns Konzeption ist nämlich zuletzt nicht so sehr polemisch als vielmehr literarisch, weil sie implizit von einer Parallelität der beiden großen Komplexe Literatur auf der einen und Europa auf der anderen Seite ausgeht. Beide, die Literatur und Europa haben gemeinsam, dass sich ihre Einheit gerade aus der Vielzahl der unterschiedlichsten Zugänge und Annäherungen heraus realisiert. Auch Heinrich Mann beschreibt deshalb sowohl die Literatur als auch Europa als eine Bewegung, die immer neu vollzogen werden muss und die dennoch niemals zu einem Abschluss kommt. Das Wissen der europäischen Literatur von Europa ist aus diesem Grund immer auch ein Wissen der Literatur von sich selbst und von ihren eigenen Prä366

missen und Bedingungen. Konziser findet sich diese selbstreflexive Beziehung zwischen der Literatur als Medium und Europa als ihrem Thema bei José Saramago formuliert. Bei ihm heißt es ganz einfach (und allgemein): «O conteúdo póde ser maior que o continente.»6

6

José Saramago: A Jangada de Pedra, S. 18. Vgl. auch Mary Lou Daniel: Symbolism and Synchronicity: José Saramago’s ‹Jangada de Pedra›, S. 541.

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