Geschichte der chinesischen Literatur. Band 9 Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller: Leben und Werke 9783598441387, 9783598245503

No other literature in the world has such a long and rich history as Chinese literature. This handbook is the first of i

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Geschichte der chinesischen Literatur. Band 9 Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller: Leben und Werke
 9783598441387, 9783598245503

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Biographien
Zeittafel der chinesischen Dynastien
Liste der Verfasser

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Geschichte der chinesischen Literatur Band 9

Geschichte der chinesischen Literatur Herausgegeben von Wolfgang Kubin Band 1 Wolfgang Kubin Die chinesische Dichtkunst Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit Band 2 Thomas Zimmer Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit Band 3 Monika Motsch Die chinesische Erzählung Vom Altertum bis zur Neuzeit Band 4 Marion Eggert, Wolfgang Kubin, Rolf Trauzettel, Thomas Zimmer Die klassische chinesische Prosa Essay, Reisebericht, Skizze, Brief Band 5 Karl-Heinz Pohl Ästhetik und Literaturtheorie in China Von der Tradition bis zur Moderne Band 6 Wolfgang Kubin Das traditionelle chinesische Theater Vom Mongolendrama bis zur Pekinger Oper Band 7 Wolfgang Kubin Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert Band 8 Lutz Bieg Bibliographie zur chinesischen Literatur in deutscher Sprache Band 9 Marc Hermann, Weiping Huang, Henriette Pleiger, Thomas Zimmer Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller Leben und Werke Band 10 Nicola Dischert Register

Geschichte der chinesischen Literatur Band 9

Marc Hermann, Weiping Huang, Henriette Pleiger, Thomas Zimmer

Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller Leben und Werke Unter Mitarbeit von Brigitta Diep, Wolfgang Kubin und Xiaobing Wang-Riese

De Gruyter Saur

ISBN 978-3-598-24550-3 e-ISBN 978-3-598-44138-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / New York Satz: Dipl.-Übers. Nicola Dischert, Bonn, und Dr. Rainer Ostermann, München Druck: Strauss GmbH, Mörlenbach ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Biographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zeittafel der chinesischen Dynastien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Liste der Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

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Vorwort

Während Chinas Aufstieg zur politischen und wirtschaftlichen Weltmacht im Fokus einer breiten Öffentlichkeit steht, fristet die Literatur des Landes eher ein Schattendasein – jedenfalls solange diese nicht, wie zuletzt auf der Frankfurter Buchmesse 2009 geschehen, weitgehend politisiert betrachtet wird. Ansonsten hat die chinesische Literatur nach wie vor einen schweren Stand auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Unterschiedliche kulturelle Hintergründe spielen dabei eine Rolle, aber auch der – meist unausgesprochen bleibende – Verdacht, die chinesische Literatur habe noch nicht wirklich zur Weltliteratur aufgeschlossen. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, daß uns in China eine der größten Literaturnationen der Welt begegnet. Die ungeheuren Schätze dieser jahrtausendealten Tradition warten vielfach noch darauf, von uns gehoben zu werden. Ziel dieses Bandes ist es, ein Fenster auf diesen Reichtum zu öffnen. Statt den Leser mit Informationen zu »erschlagen«, wollen wir Appetit machen auf mehr. Dabei richten wir uns nicht ausschließlich an ein sinologisches Fachpublikum. Die Einträge sind bewußt so gehalten, daß sie auch für den Laien verständlich bleiben. Trotzdem kann und will dieses Lexikon einen gewissen Kompromißcharakter nicht verleugnen: Einige Informationen sind dem Fachmann, der sich eben auch angesprochen fühlen soll, geschuldet. Dazu gehören in der jeweiligen Titelzeile die Angaben zumindest der gebräuchlichsten Großjährigkeitsnamen (zi) und Beinamen (hao), deren Kenntnis gerade bei vormodernen Autoren oft unerläßlich ist. (Bei den Namen selbst übrigens ist, wie im Chinesischen üblich, der Familienname stets dem Vornamen vorangestellt.) Dazu gehören natürlich auch die chinesischen Schriftzeichen, die wir zumindest neben dem »Hauptnamen« im jeweiligen Titel angegeben haben – in der Hoffnung, auch derjenige, der des Chinesischen nicht kundig ist, möge daraus einen ästhetischen Genuß ziehen. Dazu gehören im Textteil selbst die wenigen chinesischen Fachbegriffe, die wir für unverzichtbar gehalten, aber, wo irgend möglich, auch stets erläutert haben. Und dazu gehören schließlich – in den bibliographischen Angaben – die chinesischen Werkausgaben und die chinesischsprachige Sekundärliteratur. Andererseits – und hier kommt der Laie wieder ins Spiel – haben wir diese chinesischsprachigen Angaben gering gehalten. Im Zweifelsfall genießt immer die westliche Sekundärliteratur den Vorrang, namentlich die deutsch- und englischsprachige (und in Ausnahmefällen noch die französische). Nachschlagewerke bleiben in der Regel ungenannt, obwohl sie – das sei an dieser Stelle ausdrücklich betont – häufig einen exzellenten ersten Zugang bieten. Dies gilt sowohl für Nachschlagewerke zur Literatur – wie z.B. Kindlers Literatur-Lexikon (hg. von Heinz Ludwig Arnold) oder The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature

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Vorwort

(hg. von William H. Nienhauser, Jr.) – als auch für biographische Nachschlagewerke – z.B. die einschlägigen dynastienbezogenen Werke wie den Dictionary of Ming Biography, 1368 – 1644 (hg. von L. Carrington Goodrich und Chaoying Fang) oder A Biographical Dictionary of the Qin, Former Han & Xin Periods (221 BC – AD 24) (hg. von Michael Loewe). Entsprechend fehlen auch Verweise auf dasjenige Lexikon im deutschsprachigen Raum, das sich am ehesten mit dem vorliegenden Band vergleichen läßt: nämlich das Lexikon der Chinesischen Literatur (hg. von Volker Klöpsch und Eva Müller), das wir übrigens nicht ersetzen, sondern nur ergänzen wollen – im Bewußtsein, daß jedes Werk dieser Art seine eigenen Stärken und Schwächen hat. Als Teil des von Wolfgang Kubin organisierten Großprojekts einer Geschichte der chinesischen Literatur ist dieser Band natürlich von vielfachen Bezügen zu den vorherigen Bänden durchzogen, auch wenn wir darauf verzichtet haben, diese Bezüge explizit (mit Verweis auf Band und Seite) kenntlich zu machen. Die gesamte Geschichte bildet naturgemäß einen wichtigen und bei der Auswahl der Autoren sogar den entscheidenden Referenzrahmen. Alle Autoren, die in einem oder gar mehreren der übrigen Bände behandelt (und nicht nur flüchtig erwähnt) wurden, finden sich in diesem Buch wieder. Insofern versteht sich dieser Band als ein natürliches Komplement zu den anderen. Dabei sind wir uns bewußt, daß die Auswahl der Autoren im einzelnen immer – und zu Recht – strittig bleiben wird; im großen und ganzen aber sind wir zuversichtlich, eine repräsentative, umfassende Auswahl getroffen zu haben. Im Einklang mit den anderen Bänden verstehen auch wir – anders als z.B. Kindlers Literatur-Lexikon, anders auch als vielfach im alten China – den Begriff »Literatur« nur im engeren, schöngeistigen Sinne. Großzügig sind wir allein mit einigen Philosophen und Geschichtsschreibern der Antike verfahren, da diese nicht nur einen enormen gedanklichen Einfluß auf das chinesische Geistesleben und auch auf die Literatur entfaltet haben, sondern da sie vielfach auch selbst literarisch brillierten. (Das glänzendste Beispiel dafür ist das Buch Zhuangzi.) Zu den Grundprinzipien dieses Bandes gehören erstens der Verzicht auf eine (ohnehin illusorische) Vollständigkeit – sowohl in den Angaben zu den Autoren als auch in deren Auswahl – und zweitens ein Bekenntnis zur Vielfalt. Letzteres betrifft sowohl die innere Einheit dieses Bandes als auch dessen Verhältnis zu den übrigen Bänden der Literaturgeschichte. Die Beiträge sind einander zwar formal angeglichen, ansonsten aber konnte und sollte jeder Verfasser seinem eigenen Stil – verstanden nicht nur im engeren sprachlichen, sondern auch im gedanklichen Sinne – treu bleiben. Dieser Pluralismus der Stimmen bedingt, daß einzelne Beiträge in einem durchaus spannungsreichen, wenn nicht gar widersprüchlichen Verhältnis zu den Darstellungen in den anderen Bänden stehen können. Wir betrachten dies nicht als Mangel, sondern als Bereicherung. Es liegt wohl in der Natur eines solchen biographischen Bandes, daß er eine schwere Geburt darstellt, die sich über Jahre hinzieht. Daß dieses Unterfangen

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Vorwort

doch noch ein glückliches Ende gefunden hat, liegt wesentlich daran, daß wir die Arbeitslast auf viele Schultern verteilt haben. Dabei war die Aufgabenteilung innerhalb des Herausgeberteams von Anfang an relativ klar umrissen: Henriette Pleiger zeichnete für die frühe und mittlere Kaiserzeit verantwortlich, Thomas Zimmer für die späte Kaiserzeit (d.h. Ming- und Qing-Zeit), Weiping Huang für Moderne und Gegenwart. Marc Hermann hatte die redaktionelle Leitung inne. Hinzu kamen weitere Beiträger, die ebenfalls eine beträchtliche Artikellast geschultert haben: Brigitta Diep (mittlere Kaiserzeit), Xiaobing Wang-Riese (Gegenwart) und nicht zuletzt Wolfgang Kubin, der, seinen zahlreichen sonstigen Verpflichtungen zum Trotz, gleichsam als natürliche Fortsetzung seines vorangegangenen Theaterbandes viele Dramatiker v.a. der Kaiserzeit übernommen hat und der diesen Band überhaupt erst möglich gemacht hat. Ohne sie alle wäre dieses Buch nicht zustande gekommen; ihnen allen gilt unser nachdrücklicher Dank. Dank gebührt aber natürlich auch Nicola Dischert, die – unterstützt von Rainer Ostermann – einmal mehr das Layout erstellt hat, und dem Verlag De Gruyter Saur, namentlich Claudia Heyer, deren Geduld wir in den letzten Jahren auf eine schwere Probe gestellt haben. Möge das Ergebnis sie entschädigen. Bonn, im November 2010

Die Herausgeber

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Biographien

A Cheng 阿城 (eig. Zhong Acheng, 1949 ‒) geb. in Peking Nach dem Schulabschluß ging A Cheng 1969 zunächst nach Shanxi aufs Land, um sich wie alle anderen jungen Schüler und Studenten jener Zeit »erziehen« zu lassen, später führte sein Weg weiter in die Innere Mongolei und nach Yunnan. Nach zehn Jahren kehrte er nach Peking zurück und wurde Angestellter in einem staatlichen Handelsunternehmen für den Im- und Export von Büchern. 1984 veröffentlichte er den Roman Schachkönig (Qiwang), in dem er das Leben der aufs Land geschickten Jugendlichen und ihre Überlebensstrategien unter den schwierigen Bedingungen während der Kulturrevolution literarisch verarbeitete. Dieser Roman gewann den nationalen Preis für die beste Novelle 1983/1984 und machte A Cheng landesweit bekannt. Der Regisseur Chen Kaige verfilmte den Roman 1986. Zwei weitere Novellen folgten kurze Zeit später: Baumkönig (Shuwang, 1985) und Kinderkönig (Haiziwang, 1986). Stark beeinflußt durch die klassische Erzähltradition und den Daoismus, gestaltet A Cheng seine Protagonisten geheimnisvoll und außergewöhnlich weise, und die Handlungen in seinen Werken sind voller Überraschungsmomente. Heute lebt A Cheng in China. Er schreibt nur noch gelegentlich Artikel und Drehbücher. WERKAUSGABEN: Qiwang, Peking: Zuojia, 1985. ÜBERSETZUNGEN: Three Kings, übers. u. eingeleitet von Bonnie McDougall, London: Collins Harvill, 1990; Baumkönig, Kinderkönig, Schachkönig. Erzählungen aus China, übers. von Folke Peil, mit einem Nachwort von Helmut Martin, Dortmund: projekt verlag, 1996. SEKUNDÄRLITERATUR: Michael S. Duke: »Two Chess Masters, One Chinese Way: A Comparison of Chang Hsi-kuo’s and Chung Ah-cheng’s ›Chi Wang‹«, in: Asian Culture Quarterly Winter 1987, S. 41‒63; Kam Louie: »The Short Stories of Ah Cheng: Daoism, Confucianism and Life«, in: Australian Journal of Chinese Affairs 18, 1987, S. 1‒14; Theodore Huters: »Speaking of Many Things: Food, Kings, and the National Tradition in Ah Cheng’s ›The Chess King‹«, in: Modern China 14, 4 (1988), S. 388‒418; Bettina Knapp: »A Cheng’s ›The King of the Trees‹: Exile and the Chinese Re-education Process«, in: Literature and Exile, hg. von David Bevan, Amsterdam: Rodopi, 1990, S. 91‒106; Noël Dutrait: »Analyse d’un Succès: Ah Cheng et Son Oeuvre, Biographie et Thematique«, in: Etudes Chinoises 11, 2 (Autumn 1992), S. 32‒75; Gang Yue: »Postrevolutionary Leftovers: Zhang Xianliang and Ah Cheng«, in: ders.: The Mouth that Begs. Hunger, Cannibalism, and the Politics of Eating in Modern China, Durham: Duke University Press, 1999, S. 184‒221; Ban Wang: »Citation of Discourse and Ironic Debunking in Ah Cheng’s Work«, in: ders.: Narrative Perspective and Irony in Selected Chinese and American Fiction, Lewiston, New York: Edwin Mellen, 2002, S. 49–64. [WH]

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Ai Qing 艾青

Ai Qing 艾青 (eig. Jiang Haicheng, 1910 – 1996), geb. in Jinhua (Provinz Zhejiang) Ai Qing entstammte einer begüterten Gentryfamilie. Nach dem Schulabschluß besuchte er die Kunsthochschule in Hangzhou. Von 1929 bis 1932 studierte er als Werkstudent in Paris Malerei und kam dort mit verschiedenen europäischen geistigen Strömungen in Berührung. Besonders stark beeinflußt wurde er von der russischen Literatur und dem französischen Symbolismus. Nach seiner Rückkehr nach China trat er der Liga linker Schriftsteller bei. Wegen seiner politischen Haltung wurde er von der Guomindang verhaftet und verbrachte drei Jahre im Gefängnis. Danach war er in verschiedenen Positionen im Kultur- und Literaturbereich tätig: als Dozent an einer Hochschule in Shanxi, als Redakteur für die Rubrik Literatur der Zeitung Guangxi Daily und als Funktionär in der staatlichen Kulturbehörde. 1945 trat er der Kommunistischen Partei Chinas bei, nach der Gründung der Volksrepublik wurde er stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Volksliteratur (Renmin wenxue) und stellvertretender Vorsitzender des Allchinesischen Schriftstellerverbandes. Von 1957 bis 1978 wurde Ai Qing Opfer politischer Verfolgung. Er verbrachte lange Jahre in einem Arbeitslager in Xinjiang. Nach seiner politischen Rehabilitierung war er in der chinesischen Literaturszene zwar wieder aktiv, doch seine scharfe Kritik an den jungen hermetischen Dichtern machte ihn in der neuen Zeit schnell unbeliebt. Man sah in ihm die Verkörperung eines rückständigen linkskonservativen Geistes. Bereits während seines Aufenthalts in Paris hatte Ai Qing begonnen, Gedichte zu schreiben. Das in der Gefangenschaft in Shanghai entstandene Langgedicht »Meine Amme Dayanhe« (»Dayanhe, wo de baomu«, 1933) machte ihn als Dichter bekannt. Darin brachte er in einer schlichten lyrischen Sprache seine Empfindungen gegenüber seiner Heimat zum Ausdruck. Seine Gedichte werden als gefühlsbetont, heroisierend und pathetisch angesehen. Darüber hinaus trug Ai Qing maßgeblich zur Entstehung neuer Reimschemata und lyrischer Ausdrucksformen in der modernen chinesischen Lyrik bei. Zu seinen bekanntesten Lyriksammlungen gehören Dayanhe (1936), Der Norden (Beifang, 1939) und Weites Land (Kuangye, 1940). WERKAUSGABEN: Beifang, Shanghai: Wenhua Shenghuo, 1942; Zouxiang shengli, Shanghai: Chuangzuo Shushe, 1950; Ai Qing shixuan, Peking: Renmin Wenxue, 1955; Heiman, Peking: Zuojia, 1955; Ai Qing xuanji, Hongkong: Xianggang Wenxue Yanjiushe, 1980; Caise de shi, Nanjing: Jiangsu Renmin, 1980; Guilai de ge, Chengdu: Sichuan Renmin, 1980. ÜBERSETZUNGEN: Poems, übers. von Yan Hansheng u. Suzanne Bernard, Peking: Editions en Languages Etrangères, 1980; The Black Eel, übers. von Yang Xianyi u. Robert C. Friend, Peking: Panda, 1982; »Gedichte von Ai Qing«, hg. u. übers. von Wolfgang

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Ba Jin 巴金 Kubin, in: Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 155‒163; Auf der Waage der Zeit. Gedichte, hg. u. übers. von Manfred u. Shuxin Reinhardt, Berlin: Volk und Welt, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Ke-chia Ts’ang: »What Has Been Expressed in Ai Ch’ing’s Recent Work?«, in: Literature of the Hundred Flowers, Volume II: Poetry and Fiction, hg. u. [mit]übers. von Hualing Nieh, New York: Columbia University Press, 1981, 278‒282; Eugene Eoyang: »Editor’s Introduction«, in: Ai Qing: Selected Poems of Ai Qing, Bloomington: Indiana University Press, 1982, S. i‒x; Angela Jung Palandri: »The Poetic Theory and Practice of Ai Qing«, in: Perspectives in Contemporary Chinese Literature, hg. von Mason Y.H. Wang, Michigan: Green River Press, 1983, S. 61‒76; Peter Hoffmann: »Ein Leben im Feuer. Zum Tode des chinesischen Dichters Ai Qing«, in: Hefte für ostasiatische Literatur 21 (November 1996), S. 98‒109. [WH]

Ba Jin 巴金 (eig. Li Raotang, 1904 – 2005), geb. in Chengdu (Provinz Sichuan) Ba Jin wuchs in einer wohlhabenden, jedoch zu seiner Zeit bereits im Verfall begriffenen Großfamilie auf. Ab 1920 studierte er am Fremdspracheninstitut in Chengdu Französisch. Beeinflußt von den neuen Gedanken der Bewegung des 4. Mai (1919), gab er gemeinsam mit Freunden die Zeitschriften Halber Monat (Ban yue) und Die Stimme des Bürgers (Minzhu zhi sheng) heraus, in denen Artikel über Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung publiziert wurden. Von 1927 bis 1928 studierte er in Paris. Während dieser Zeit arbeitete er als Übersetzer und verfaßte seinen ersten Roman Miewang (Der Untergang, 1928). 1931 veröffentlichte er seinen autobiographischen Roman Die Familie (Jia). Dieser erschien zunächst als Fortsetzungsroman in der Zeitung Shibao. Der Roman wurde insbesondere von jungen Menschen mit Begeisterung aufgenommen. Der Mut und die Entschlossenheit des Hauptprotagonisten, mit seiner eigenen Familie und zugleich auch mit dem feudalen System Chinas zu brechen, hatte Vorbildcharakter für die Entwicklung eines neuen Bewußtseins unter der jungen Generation. Zwischen 1929 und 1937 veröffentlichte Ba Jin zahlreiche Romane und Sammelbände mit Erzählungen und Essays. Romantisierend, idealistisch und enthusiastisch beschwor Ba Jin in seinen Werken die ewige Schönheit der Jugend und das bedingungslose Streben nach Freiheit des Individuums. Als der antijapanische Krieg (1937 – 1945) ausbrach, beteiligte er sich erneut an der Herausgabe von Zeitschriften und Zeitungen und schrieb Artikel gegen die japanischen Aggressoren. Zur selben Zeit veröffentlichte er zwei weitere Romane: Frühling (Chun) und Herbst (Qiu), die er mit dem Roman Familie unter dem Titel Strömung (Jiliu) zu einer Trilogie zusammenfaßte. Während der Kulturrevolution (1966 – 1976) wurde Ba Jin Opfer der politischen Verfolgung, und seine Werke wurden für lange Zeit verboten. Erst 1978

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Ba Jin 巴金

wurde er politisch rehabilitiert. Nach dieser Zeit verfaßte er überwiegend Essays, in denen er die Leiden während der Kulturrevolution beschrieb. Sein bekannter Essay »Erinnerung an Xiao Shan« (»Yi Xiao Shan«) verarbeitet die Erfahrung aus der traurigen Zeit vor und nach dem Tod seiner Frau Xiao Shan. Er wurde zum Zeitdokument über die menschenunwürdigen Verhältnisse während der Kulturrevolution. Seine Werke vor 1949 wurden in 14 Sammelbänden unter dem Titel Ba Jin wenji publiziert, die Werke ab 1986 wurden unter dem Titel Ba Jin quanji in 26 Bänden herausgegeben. Ba Jin gewann zu seinen Lebzeiten zahlreiche Literaturpreise und Ehrungen, zudem nahm er verschiedene wichtige Funktionen im Kulturbereich wahr. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. WERKAUSGABEN: Jia, Shanghai: Kaiming Shudian, 1949; Ba Jin wenji, Hongkong: Nankwok, 1970; Suixianglu, Hongkong: Joint Publishing, 1980; Tansuoji, Hongkong: Sanlian, 1981; Bingzhongji. Suixianglu 4 (1982), Hongkong: Joint Publishing, 1984; Wutiji, Hongkong: Joint Publishing, 1986, Liushi nian wenxuan, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1987. ÜBERSETZUNGEN: Die Familie, übers. von Florian Reissinger, mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Berlin: Oberbaum, 1980; Kalte Nächte, übers. von Sabine Peschel u. Barbara Spielmann, mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981; Shading, übers. von Helmut Forster-Latsch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981; Gedanken unter der Zeit, übers. von Sabine Peschel, Köln: Diederichs, 1985; Nacht über der Stadt, aus dem Engl. übers. von Peter Kleinhempel, Berlin: Volk und Welt, 1985. SEKUNDÄRLITERATUR: Olga Lang: Pa Chin and his Writings. Chinese Youth Between the Two Revolutions, Cambridge: Harvard University Press, 1967; C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 237‒256, 375‒388; Nathan Mao: Pa Chin, Boston: Twayne, 1978; Michael S. Duke: »Ba Jin (1904‒): From Personal Liberation to Party ›Liberation‹«, in: Perspectives in Contemporary Chinese Literature, hg. von Mason Y.H. Wang, Michigan: Green River Press, 1983, S. 49‒60; Marián Gálik: »Pa Chin’s Cold Night: the Interliterary Relations with Zola and Wilde«, in: ders. (Hg.): Milestones in Sino-Western Literary Confrontation (1898 ‒ 1979), Wiesbaden: Harrassowitz, 1986, S. 201‒224; Craig Shaw: »Changes in The Family: Reflections on Ba Jin’s Revisions of Jia«, in: Journal of the Chinese Language Teachers Association 34, 2 (1999), S. 21‒36; Nichola Kaldis: »Ba Jin’s Family: Fiction, Representation, and Relevance«, in: The Columbia Companion to Modern East Asian Literature, hg. von Joshua Mostow u. Kirk A. Denton (China section), New York: Columbia University Press, 2003, S. 411‒417; Jin Feng: »En/gendering the Bildungsroman of the Radical Male: Ba Jin’s Girl Students and Women Revolutionaries«, in: dies.: The New Woman in Early Twentieth-Century Chinese Fiction, West Lafayette: Purdue University Press, 2004, S. 83‒100. [WH]

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Bai Juyi 白居易

Bai Hua 白桦 (Chen Youhua, 1930 –) geb. in Xinyang (Provinz Henan) Bereits im Alter von 15 Jahren veröffentlichte Bai Hua seine ersten Gedichte. 1947 diente er in der Volksbefreiungsarmee und war im Kulturbereich tätig. 1958 wurde er als »Konterrevolutionär« verurteilt. In dieser Zeit brach er seine schriftstellerische Tätigkeit ab. Von 1961 bis 1964 durfte er als Redakteur und Filmregisseur im Shanghaier Filmstudio der chinesischen Armee arbeiten. Erst nach der Kulturrevolution konnte er seine schriftstellerische Tätigkeit wieder aufnehmen. Sein Drehbuch Bittere Liebe (Kulian, 1979) und das Theaterstück Morgenlicht (Shuguang, 1978) gewannen nationale Preise, und er wurde 1985 ständiges Mitglied des Schriftstellerverbandes Shanghai. Die öffentliche Debatte über sein Filmskript Bittere Liebe – einige extrem linksorientierte Literaturkritiker wollten darin eine Anklage gegenüber der Kommunistischen Partei sehen ‒ entflammte bald zu einer Grundsatzdiskussion der widerstreitenden Ideologien. WERKAUSGABEN: Bai Hua wenji, 4 Bde., Wuhan: Changjiang, 1999 ‒ 2001. ÜBERSETZUNGEN »Bittere Liebe. Filmskript«, [teil]übers. von Lutz Bieg, in: Das Gespenst des Humanismus, hg. von Eva Klapproth, Helmut Forster-Latsch u. Marie-Luise Latsch, Frankfurt a.M.: Sendler, 1987, S. 83‒98. SEKUNDÄRLITERATUR: Anna Dolezalova: »Two Waves of Criticism of the Film Script Bitter Love and the Writer Bai Hua in 1981«, in: Asian and African Studies 19 (1983), S. 27‒54; Michael S. Duke: »A Drop of Spring Rain: The Sense of Humanity in Pai Hua’s Bitter Love (K’u-lien)«, in: CLEAR 5 (1983), S. 67‒89; Richard Kraus: »Bai Hua: The Political Authority of a Writer«, in: China’s Establishment Intellectuals, hg. von Carol Lee Hamrin u. Timothy Cheek, Armonk, New York: M.E. Sharpe, 1986, S. 185‒211; Helmut Martin: »The Drama Tragic Song of Our Time (Shidai de beige): Functions of Literature in the Eighties and Their Socio-political Limitations«, in: Drama in the People’s Republic of China, hg. von Constantine Tung u. Colin Mackerras, Albany: SUNY Press, 1987, S. 254‒281; Jonathan Spence: »Film and Politics: Bai Hua’s Bitter Love«, in: ders.: Chinese Roundabout: Essays in History and Culture, New York: W.W. Norton, 1992, S. 277‒292. [WH]

Bai Juyi 白居易 (auch: Bo Juyi, zi: Letian, hao: Xiangshan, 772 – 846), geb. in Xinzheng (Provinz Henan) Bai Juyi war einer der bedeutendsten Dichter der späteren Tang-Zeit (618 – 907). Bis zu seinem zehnten Lebensjahr wohnte er mit seinen Eltern in Xinzheng (Provinz Henan). Im Jahr 782 erhielt sein Vater in Pengcheng (heute Xuzhou, Provinz Jiangsu) eine Anstellung als Magistrat. Von da an wurde Bai Juyi bei Verwandten in Xiagui nahe der Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan) untergebracht, vermutlich, um dem begabten Jungen eine bessere Ausbildung zukommen zu lassen. Trotz seiner überdurchschnittlichen Intelligenz gelang ihm erst mit 28 Jahren (im Jahr

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Bai Juyi 白居易

800) das staatliche jinshi-Doktorexamen. Nach einer weiteren Palastprüfung zur internen Postenvergabe im Jahr 802 wurden Bai Juyi und sein späterer Freund (→) Yuan Zhen als Archivare in der kaiserlichen Bibliothek angestellt. Gemeinsam bestanden sie 806 auch das höchste Palastexamen, durch das sie in der kaiserlichen Hanlin-Akademie Aufnahme fanden. Beide hatten große Pläne für soziale und politische Reformen (festgehalten in der gemeinsamen Essaysammlung Wald der Entwürfe [Celin]), die sie im späteren Amtsleben allerdings nicht zu realisieren vermochten – allenfalls in ihrem literarischen Schaffen konnten sie ihrem sozialen Gewissen einer breiten Öffentlichkeit gegenüber Ausdruck verleihen. Von 807 bis 815 bekleidete Bai Juyi verschiedene Ämter in Changʼan, u.a. ab 810 das hohe Amt eines Zensors (»Ermahners«) zur Linken (zuoshiyi). Wegen zu offenherzig geäußerter Kritik – insbesondere an der Verbannung seines Freundes Yuan Zhen – wurde er jedoch 815 von Kaiser Xianzong (reg. 806 – 820) in die Provinz strafversetzt. Bis 820 mußte er niederen Aufgaben in Jiangzhou (heute Xunyang, Provinz Jiangxi) und Zhongzhou (heute Provinz Sichuan) nachkommen. Im Jahr 822 übertrug man ihm das Amt des Präfekten von Hangzhou (Provinz Zhejiang), 825 wurde er Präfekt der Stadt Suzhou (Provinz Jiangsu). Eine berufliche Rückkehr in die Hauptstadt Changʼan blieb ihm verwehrt. In späteren Lebensjahren praktizierender Buddhist, zog sich Bai Juyi ab 829 langsam aus dem öffentlichen Leben zurück; 833 trat er, zuletzt als Berater des Kronprinzen (taizi binke) an dessen Hof in Luoyang tätig, offiziell in den Ruhestand. Er starb im achten Monat (d.i. September) des Jahres 846 ebendort. Bai Juyis lyrisches Werk umfaßt mehr als 2800 Gedichte. In einem seiner zahlreichen Briefe an Yuan Zhen (»Yu Yuan Jiu shu«) – geschrieben während der Zeit ihrer wechselnden Ämter im Exil – hat Bai seine programmatische Vorstellung einer sozial und politisch verantwortungsvollen Dichtung dargelegt. Vor diesem ideellen Hintergrund für eine ungekünstelte und leicht verständliche Sprache plädierend, pflegten beide Dichter die Gattungen des von ihnen initiierten Neuen Musikamtsliedes (xin yuefu), des Langgedichts (pailü) und auch der Parabel (fengyu shi). Beider Gedichte waren schnell in aller Munde, ein Straßenarbeiter soll sich Verse Bai Juyis gar auf den Leib tätowiert haben – nur eine von zahlreichen Anekdoten über seine Volksnähe. Besonders seine romantischen Langgedichte »Das Lied vom langen Leid« (»Changhen ge«) und »Die Lautenspielerin« (»Pipa xing«) – entstanden in der Ära Yuanhe (806 – 820) – erlangten bis heute anhaltenden Ruhm. Die erstgenannte Ballade hat mit der berührenden Beschreibung der tragischen Liebe Kaiser Xuanzongs (reg. 713 – 755) zu seiner Konkubine Yang Guifei einen literarischen Topos geschaffen, der sich durch alle Epochen und Gattungen der chinesischen Literaturgeschichte zieht. Eine erste Ausgabe von Bais Werken wurde bereits 825 von Yuan Zhen herausgegeben. Ab 815 sandte Bai Juyi dem Freund ein Kapitel nach dem anderen, nach Inhalt und Stilrichtung geordnet. In der zweiten Auflage von 844 waren seine Gesammelten Werke bereits auf 75 Kapitel angewachsen. Schon in der Tang-Zeit

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Bai Pu 白朴

zirkulierten Bai Juyis Gedichte weit über China hinaus auch in Japan und Korea. In westliche Sprachen wurden ebenfalls bemerkenswert viele seiner Gedichte übersetzt und (z.B. von Bertolt Brecht) literarisch verarbeitet. WERKAUSGABEN: Bai Juyi ji, hg. von Gu Xuejie, 4 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1979; Quan Tang shi suoyin: Bai Juyi juan, hg. von Luan Guiming et al., Qinhuangdao: Xiandai, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 290‒308, 329; Translations of Po Chü-i’s Collected Works, übers. von Howard S. Levy u. Henry W. Wells, 4 Bde., San Francisco: Chinese Materials Center, 1971 ‒ 1978; Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 201‒ 211; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 258‒276; Den Kranich fragen. 155 Gedichte von Bai Juyi, hg. von Fang Weigui, Göttingen: Cuvillier, 1999. SEKUNDÄRLITERATUR: Arthur Waley: The Life and Times of Po Chü-i, London: Allen & Unwin, 1949; Eugen Feifel: »Biography of Po Chü-i« [Übers. der offiziellen Biographie im Jiu Tangshu], in: Monumenta Serica 17 (1958), S. 255‒311; Paul Rakita Goldin: »Reading Po Chü-i«, in: T’ang Studies 12 (1994), S. 57‒96. [HP]

Bai Pu 白朴 (zi: Renfu, später geändert in Taixu, hao: Langu xiansheng, ca. 1226 ‒ 1306?), geb. im heutigen Hequ (Provinz Shanxi) Bai Pu wird zu den vier großen Dramatikern der Yuan-Zeit (1279 – 1368) gerechnet. Eine Büste von ihm findet sich im heutigen Kreis Zhengding der Provinz Hebei. Hierher ins damalige Zhending hatte es ihn 1236 mit dem Vater verschlagen, nachdem er nach der Eroberung des Geburtsortes durch die Mongolen 1233 zunächst mit dem väterlichen und später mit dem literarischen Mentor (→) Yuan Haowen (1190 ‒ 1257) nach Liaocheng in die Provinz Shandong umgezogen war. Der Ort sollte sich zur Yuan-Zeit zu einem Zentrum des Theaterspiels entwickeln. Hier ist daher der Beginn des Theaterschaffens und der Liedkomposition unseres Dramatikers anzusetzen. Als loyaler Anhänger der Jin-Dynastie (1115 ‒ 1234) verweigerte er mehrfach den Ruf an den Hof der Mongolen. 1280 zog er mit der gesamten Familie ins heutige Nanjing, wo er sich an der Natur erfreute. Von seinen 16 Stücken sind drei vollkommen und zwei fragmentarisch überliefert. Daneben gibt es auch noch eine Sammlung seiner Lieder. Unter den drei zur Gänze erhaltenen Stücken wird die Echtheit der Aufzeichnung von der Ostwand (Dongqiang ji) allgemein angezweifelt. Die anderen beiden Dramen spielen zur Tang-Zeit (618 – 907). Während Zu Pferde an der Gartenmauer (Qiangtou mashang) von der Handlung her wenig zu goutieren ist, da hier nach dem alten Schema »die Schöne und der junge Mann« Unglaubwürdiges zusammengesponnen wird, stellen die Lieder der beiden Protagonisten einen poetischen Höhepunkt dar.

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Bai Xianyong 白先勇

Die Einschätzung von Bai Pu als einem großen Dramatiker ist einzig und allein dem Stück Ein Wutong-Baum im Regen (Wutong yu, nach 1261) zu verdanken. Es behandelt einmal mehr die berühmte Liebesgeschichte des Kaisers Minghuang (reg. 712 ‒ 756) und seiner Konkubine Yang Guifei (719 ‒ 756). Die Geschichte mag zwar vor und nach Bai Pu viel erzählt worden sein, dennoch gelingt es dem Autor, sie neu zu erzählen. Nicht so sehr, weil er der Heldin eine Affäre mit dem Rebellen An Lushan (703 ‒ 757) andichtet, sondern weil er den Helden nach dem Tod der Protagonistin in eine tiefe Sehnsucht und Schwermut versinken läßt. Der Schmerz und die herbstliche Natur werden eins. Eine Handlung scheint nicht mehr möglich, und zwar im doppelten Sinne des Wortes. Weder ist Kaiser Minghuang imstande, irgend etwas zu unternehmen, geschweige denn die Regierung zu führen, noch vermag der Dramatiker das Stück auf der Bühne durch eine Handlung voranzutreiben. Was der Leser bzw. Zuschauer geboten bekommt, ist nichts anderes als ein lyrisches Stimmungsbild, dessen Wehmut die Tiefe des Theatralischen ausmacht. WERKAUSGABEN: Bai Pu xiqu ji jiaozhu, hg. von Wang Wencai, Peking: Renmin Wenxue, 1984. ÜBERSETZUNGEN: »Rain on the Wu-T’ung Tree«, in: Four Plays of the Yuan Drama, übers. von Richard F.S. Yang, Taipeh: The China Post, 1972, S. 97‒141; »Der Regen am Wu-t’ung-Baum,« in: Chinesische Dramen der Yüan-Dynastie. Zehn nachgelassene Übersetzungen von Alfred Forke, hg. von Martin Gimm, Wiesbaden: Steiner, 1978, S. 186‒242. SEKUNDÄRLITERATUR: Wu Qianhao: Bai Pu pingzhuan, Peking: Zhongguo Xiqu, 1987. [WK]

Bai Xianyong 白先勇 (1937 – ), geb. in Guilin (Provinz Guangxi) Bai Xianyong wurde als Sohn des Guomindang-Generals Bai Chongxi in Guilin geboren. Seine Kindheit fiel in die Zeit des Krieges gegen Japan (1937 – 1945). Mit seiner Familie war er von Chongqing zunächst nach Nanjing, Hongkong und anschließend nach Taipeh gezogen. In der Schulzeit wurde er von der klassischen Literatur Chinas und der Literatur der Bewegung des 4. Mai (1919) geprägt, dennoch studierte er nach der Schulausbildung zunächst an der Chenggong-Universität in Tainan Maschinenbau. Nach wenigen Semestern wechselte er an die TaiwanUniversität in Taipeh und studierte dort Englische Literatur. 1963 ging er in die USA und schloß sein Studium 1965 mit dem M.A. ab. Seitdem lebt und arbeitet er in den Vereinigten Staaten. 1958 publizierte Bai Xianyong seine erste Erzählung »Die Ehefrau von Jin« (»Jin da nainai«). Ab 1960 gab er gemeinsam mit Chen Ruoxi und Ouyang Zi die Zeitschrift Moderne Literatur (Xiandai wenxue) heraus, in der er Erzählungen wie

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Bai Xianyong 白先勇

»Traum des Mondes« (»Yue meng«), »Die Schwägerin Yuqing« (»Yuqing sao«) und »Schulabschluß« (»Biye«) veröffentlichte. Später erschien der Roman Treffpunkt Lotossee (Nie zi, eigentlich: »Der verlorene Sohn«), der Essayband Zurückblicken (Moran huishou) sowie mehrere Sammelbände mit Erzählungen: Einsam mit siebzehn (Jimo shiqi sui), Menschen in Taipeh (Taibeiren) und Als Fremder in New York (Niuyue ke). In seinen literarischen Werken beschreibt Bai Xianyong das Leben der Menschen in einer Zeit großer historischer Umwälzungen. Vor dem Hintergrund des Übergangs von einer feudalen Gesellschaft hin zur neuen Zeit und inmitten der Kriegswirren richtet er sein Augenmerk stets auf die menschliche Natur. Motive wie Liebe und andere Emotionen, Konventionen der Gesellschaft und der Stellenwert der Familie werden aus neuen Perspektiven wahrgenommen und interpretiert. In »Schwägerin Yuqing« wird eine Liebe beschrieben, die nicht mehr allein durch Treue und Standhaftigkeit im traditionellen Sinne gekennzeichnet ist, sondern durchmischt ist von krankhafter Besessenheit und zerstörerischem Machtstreben. Menschen in Taipeh beschreibt die Verlorenheit und den Identitätsverlust der Menschen, die Festlandchina verlassen mußten. Der Roman Treffpunkt Lotossee thematisiert die Tabuisierung von Homosexualität in der taiwanesischen Gesellschaft und die daraus resultierende Verfolgung. Dieser Roman erregte große Aufmerksamkeit unter den chinesischen Lesern. Stilistisch sind die Werke Bai Xianyongs stark von der klassischen chinesischen Literatur beeinflußt. Seine Sprache ist subtil und melancholisch. WERKAUSGABEN: Bai Xianyong xiaoshuo xuan, Guangzhou: Guangdong Renmin, 1980; Bai Xianyong zixuan ji, Hongkong: Huahan, 1986; Bai Xianyong wenji, Guangzhou: Huacheng, 2000. ÜBERSETZUNGEN: Einsam mit siebzehn, aus dem Chines. von Wolf Baus u. Susanne Ettl, Köln: Diederichs, 1987; Treffpunkt Lotossee, übers. von Astrid Ehlert, Berlin: Bruno Gmünder, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: Susan McFadden: »Tradition and Talent: Western Influence in the Works of Pai Hsien-yung«, in: Tamkang Review 9, 3 (1979), S. 315‒344; Tzu Ou-yang: »The Fictional World of Pai Hsien-yung«, in: Chinese Fiction from Taiwan. Critical Perspectives, hg. von Jeannette L. Faurot, Bloomington: Indiana University Press, 1980, S. 166‒178; Winston L.Y. Yang: »Pai Hsien-yung and Other Emigre Writers«, in: Modern Chinese Fiction: A Guide to Its Study and Appreciation. Essays and Bibliographies, hg. von Winston L.Y. Yang u. Nathan K. Mao, Boston: G.K. Hall and Co., 1981, S. 67‒78; Joseph S.M. Lau: »Celestials and Commoners: Exiles in Pai Hsienyung’s Stories«, in: Monumenta Serica 36 (1984‒85), S. 409‒423; Wolf Baus: »Zum Fatalismus in den Erzählungen von Bai Xianyong«, in: minima sinica 1/1991, S. 21‒46; Ik-sang Eom: »The Death of Three Men: Characters in Pai Hsien-yung’s Love Stories«, in: Chinese Culture 32, 1 (1991), S. 83‒98; Christopher Lupke: »(En)gendering the Nation in Pai Hsien-yung’s ›Wandering in the Garden Waking from a Dream‹«, in: Modern Chinese Literature 6, 1/2 (1992), S. 157‒178; Rey Chow: »›Love Me, Master,

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Ban Gu 班固 Love Me, Son‹: A Cultural Other Pornographically Constructed in Time«, in: Boundaries in China, hg. von John Hay, London: Reaktion Books, 1994, S. 243‒256. [WH]

Ban Gu 班固 (zi: Mengjian, 32 – 92), geb. in Anling im Kreis Fufeng (nordöstlich der Stadt Xianyang, Provinz Shaanxi) Ban Gu war ein herausragender Historiker und Dichter von Prosagedichten (fu) der Späteren Han-Dynastie (25 – 220 n.Chr.). Sein Vater Ban Biao (3 – 54) hatte ihm das Material für die Geschichte der Früheren Han-Dynastie (Qian Hanshu) hinterlassen und ihn in seinem letzten Willen mit der Fertigstellung des Werkes betraut. Ban Gu, der über eine höchst profunde klassische Bildung verfügte, widmete sich dieser Aufgabe mit großer Hingabe, doch auch er starb noch während der Arbeit daran. Er wurde aufgrund seiner Verbindung zur Familie der Kaiserin, dem mit unlauteren Mitteln nach der Macht strebenden Dou-Clan, von Kaiser Hedi (reg. 89 – 105) inhaftiert und kam im Gefängnis zu Tode. Der Kaiser beauftragte Ban Gus jung verwitwete Schwester Ban Zhao (45 – ca. 115) mit der Fertigstellung der Chronik und gewährte ihr, wie schon zuvor die Kaiser Mingdi und Zhangdi (reg. 48 – 88) ihrem Bruder, Zugang zu den kaiserlichen Archiven. Ban Zhao gelang daraufhin die Vollendung der Dynastiegeschichte. Im Unterschied zu den Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian, die durch ihren individuellen, narrativen Stil bestechen, ist das Hanshu in der strengen, archaischen Sprache der antiken Dokumente verfaßt. Während das Shiji der chinesischen Tradition nach als die erste und stilistisch beste Dynastiegeschichte gilt, wurde das Qian Hanshu der Familie Ban insbesondere in formaler Hinsicht für die nachfolgenden Geschichtswerke prägend. Der darin behandelte Zeitraum umfaßt die ersten 229 Jahre der Han-Dynastie (von 206 v.Chr. bis 23 n.Chr.). Die insgesamt 100 Kapitel sind in folgende Abschnitte gegliedert: zwölf Kaiserannalen (diji), acht Tabellen (biao), zehn Abhandlungen zu verschiedenen Wissensgebieten wie Riten, Musik, Astronomie, Verwaltung, Geographie, Heer, Kanäle, Wirtschaft, Recht etc. (zhi) und 70 Biographien (liezhuan). Von literaturhistorischer Bedeutung ist insbesondere der enthaltene Bestandskatalog der damaligen kaiserlichen Bibliothek: die »Aufzeichnungen zur Literatur« (»Yiwenzhi«). Unter den literarischen Werken Ban Gus sind die später häufig nachgeahmte »Poetische Beschreibung beider Hauptstädte« (»Liangdufu«) und sein Bericht über die »Debatte in der Halle des Weißen Tigers« (»Baihutong«) hervorzuheben. Dieser Bericht behandelt ein im Jahre 79 n.Chr. vom Kaiser einberufenes Gelehrtentreffen (das zweite seiner Art in der chinesischen Geschichte), das der Überprüfung und Interpretation des klassischen Schriftenkanons diente.

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Bao Zhao 鲍照 WERKAUSGABEN: Qian Hanshu yiwen zhi, hg. u. komm. von Yan Shigu u. Qian Dazhou, Shanghai: Shangwu Yinshuguan, 1936; Hanshu shihuo zhi ji shi, hg. von Li Qingshan, komm. von Jin Shaoying, Peking: Zhonghua Shuju, 1986; Hanshu xinzhu, hg. von Shi Ting, Xi’an: San Qin, 1994. ÜBERSETZUNGEN: The History of the Former Han Dynasty by Pan Ku, übers. von Homer H. Dubs, 3 Bde., Baltimore: Waverly, 1938 ‒ 1955; Po Hu T’ung. The Comprehensive Discussions in White Tiger Hall, übers. von Tjoe Som Tjan, 2 Bde., Leiden: Brill, 1949/1952; Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 211‒216; Xiao Tong: Wen xuan or Selections of Refined Literature, übers. von David R. Knechtges, Bd. 1, Princeton: Princeton University Press, 1982, S. 93‒180. SEKUNDÄRLITERATUR: Ernest R. Hughes: Two Chinese Poets: Vignettes of Han Life and Thought, Princeton: Princeton University Press, 1960; Otto B. van der Sprenkel: Pan Piao, Pan Ku, and the Han History, Canberra: Australian National University, 1964; An Zuozhang: Ban Gu yu Hanshu, Jinan: Shandong Renmin, 1979. [HP]

Bao Zhao 鲍照 (zi: Mingyuan, ca. 414 – 466), geb. in Donghai (heute Changshu, nördlich des Kreises Lianshui, Provinz Jiangsu) Bao Zhao ist als der bedeutendste Dichter von Musikamtsliedern (yuefu) der Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420 – 581) in die Literaturgeschichte eingegangen. Er stammte aus einer zwar angesehenen, aber in bescheidenen Verhältnissen lebenden Familie aus der Provinz Jiangsu. Während der Regierungsperiode Yuanjia (424 – 453) des Kaisers Wendi der Frühen Song-Dynastie (LiuSong-Dynastie, 420 – 479) begann (vermutlich um das Jahr 439) seine offizielle Laufbahn, die er offensichtlich vor allem seinem literarischen Talent zu verdanken hatte. Sie führte ihn zunächst in die Dienste (→) Liu Yiqings (Prinz von Linchuan), des Auftraggebers der Anekdotensammlung Neuer Bericht von Reden aus aller Welt (Shishuo xinyu) und Mäzens vieler damaliger Literaten. Später war Bao u.a. als Magistrat des alten Landkreises Moling (heute Nanjing) tätig. In der Ära des Kaisers Mingdi (reg. 465 – 472) leitete er in der Garnisonsstadt Jingzhou das Verwaltungsbüro der Armee des Liu Zixu (Prinz von Linhai). Dort am Nordufer des Yangtse, an der Grenze zum damals noch unwegsamen Süden, starb er im Jahr 466 während einer Revolte desertierender Soldaten. Sein nur zum Teil überliefertes, aber immer noch umfangreiches Werk umfaßt 88 Gedichte (shi), 44 Musikamtslieder (yuefu), zehn Poetische Beschreibungen (fu) sowie 26 Essays (lun). Es ist in der Sammlung Gesammelte Werke des Soldaten Bao (Bao Canjun ji) überliefert, die noch vor der Wende zum 6. Jahrhundert von Yu Yan kompiliert wurde. Formal brachte es Bao Zhao im fünf- und siebensilbigen Vers zu wahrer Meisterschaft. Seine Poesie ist oft melancholisch gestimmt und appelliert in zu jener Zeit seltener konfuzianischer Manier an die moralischen

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Bei Dao 北岛

Werte des Altertums. Bao Zhao wurde – wie auch (→) Xie Lingyun und Yan Yanzhi – in der Tang-Zeit (618 – 907) sehr geschätzt und von Dichtern wie (→) Li Bai und (→) Du Fu rezipiert. Tatsächlich scheinen Werke wie das Prosagedicht »Die Ruinenstadt« (»Wuchengfu«), das die 459 während eines Aufstands zerstörte Stadt Guangling (das heutige Yangzhou) aus eigener Anschauung beschreibt, z.B. in der berührenden Kriegslyrik Du Fus nachzuklingen. WERKAUSGABEN: Bao Canjun jizhu, hg. u. komm. von Qian Zhonglian, Shanghai: Shanghai Guji, 1958. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 162‒164 et passim; An Anthology of Chinese Verses. Han Wei Chin and the Northern and Southern Dynasties, übers. von J.D. Frodsham, Oxford: Clarendon, 1967, S. 142‒156. SEKUNDÄRLITERATUR: Heike Kotzenberg: Der Dichter Pao Chao. Untersuchungen zu Leben und Werk, Diss., Universität Bonn, 1971; Kang-i Sun Chang: Six Dynasties Poetry, Princeton: Princeton University Press, 1986, S. 79‒111. [HP]

Bei Dao 北岛 (eig. Zhao Zhenkai, auch: Shi Mo, 1949 – ), geb. in Peking Bei Daos Schulzeit fiel in die Zeit der Kulturrevolution (1966 – 1976). Mit 17 wurde er Bauarbeiter und später Angestellter eines Unternehmens. Durch seine zahlreichen lyrischen Beiträge in den 80er Jahren wurde er einer der wichtigsten Vertreter der chinesischen Lyrik. 1989 ging Bei Dao für eine Reihe von Dichtertreffen ins Ausland und kehrte aufgrund des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht mehr nach China zurück. Seine Verszeile »Ich glaube nicht« (»Wo bu xiangxin«) kurz nach der Öffnung Chinas Ende der 70er Jahre hatte in der chinesischen Öffentlichkeit den Effekt eines Donnerschlags. Die Menschen, die sich nach den Schrecken der Kulturrevolution noch in einem Zustand der Lähmung befanden und der nun notwendigen Suche nach einer neuen Identität verwirrt und hilflos gegenüberstanden, fingen an, über das Vergangene und die Zukunft nachzudenken. Zeitgleich traten einige andere junge Dichter, wie zum Beispiel (→) Shu Ting, (→) Gu Cheng und (→) Yang Lian, mit ihrer Lyrik an die Öffentlichkeit. Gemeinsam mit Bei Dao bildeten sie die sogenannte Hermetische Schule (auch: obskure Lyrik, Menglong Shipai). Ihre Gedichte sind durch eigenwillige Bildlichkeit und obskure Motive sowie durch eine starke Verschwommenheit in der sprachlichen und poetisch-bildlichen Umsetzung gekennzeichnet. Die wichtigsten lyrischen Werke Bei Daos aus dieser Zeit sind: Die Sonnenstadt (Taiyang cheng zhaji), Gesammelte Gedichte Bei Daos (Bei Dao shiji) und

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Bei Dao 北岛

Gedichte von Bei Dao und Gu Cheng (Bei Dao Gu Cheng shiji). In seiner Lyrik vermag er durch seine dichterische Intuition und Wahrnehmung immer neue poetische Bilder und Metaphern zu erschaffen. Inhaltlich setzt er sich mit der Frage nach der menschlichen Natur und der Menschlichkeit auseinander und definiert dabei den Stellenwert des Individuums völlig neu. Bei Dao lebt seit der Niederschlagung des Studentenprotestes 1989 im Exil in den USA und in Hongkong. Er verfaßt Gedichte, in denen er nach immer neuen Ausdrucksformen und nach den Grenzen des poetisch Ausdrückbaren sucht. Bei Dao ist Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Heute (Jintian), einer Zeitschrift insbesondere für chinesische Exilliteratur. Er erhielt zahlreiche internationale Preise und Ehrungen (z.B. 2005 den Jeanette Schocken Preis der Stadt Bremerhaven) und wurde seit den 90er Jahren fünfmal für den Nobelpreis in Literatur nominiert. Seine Gedichte wurden vielfach übersetzt, unter anderem ins Deutsche. WERKAUSGABEN: Bei Dao shixuan, o.O.: Xin Shiji, 1986; Kaisuo, Taipeh: Jiuge, 1999. ÜBERSETZUNGEN: Notes from the City of the Sun. Poems by Bei Dao, übers. von Bonnie S. McDougall, Ithaca: Cornell University East Asia Papers, 1983; Gezeiten, übers. von Irmgard E.A. Wiesel u. mit einem Nachwort von Helmut Martin, Frankfurt a.M.: Fischer, 1990; Tagtraum. Gedichte, übers. von Wolfgang Kubin, München: Hanser, 1990; Notizen vom Sonnenstaat, übers. von Wolfgang Kubin, München: Hanser, 1998; Post bellum. Gedichte, übers. von Wolfgang Kubin, München: Hanser, 2001; Das Buch der Niederlage, hg. u. übers. von Wolfgang Kubin, München: Hanser, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Bonnie S. McDougall: »Bei Dao’s Poetry: Revelation and Communication«, in: Modern Chinese Literature 1, 2 (1985), S. 225‒252; Min Lin: »The Search for the ›Unknowable‹ and the Quest for Modernity in Contemporary Chinese Intellectual Discourse: A Philosophical Interpretation of Bei Dao’s Short Story ›13 Happiness Street‹«, in: Journal of the Oriental Society of Australia 22‒23 (1990‒91), S. 57‒70; Anne Wedell-Wedellsborg: »Secrecy and Truth ‒ an interview with Bei Dao«, in: Cultural Encounters: China, Japan and the West, hg. von Soren Clausen, Roy Starrs u. Anne Wedell-Wedellsborg, Aarhus: Aarhus University Press, 1995, S. 227‒240; Min Lin u. Maria Galikowski: »Bei Dao’s ›13 Happiness Street‹ and the Young Generation’s Quest for the ›Unknowable‹«, in: Min Lin u. Maria Galikowski: The Search for Modernity. Chinese Intellectuals and Cultural Discourse in the Post-Mao Era, New York: St. Martin’s Press, 1999, S. 89‒102; Ronald R. Janssen: »What History Cannot Write: Bei Dao and Recent Chinese Poetry«, in: Critical Asian Studies 34, 2 (2002), S. 259‒77; Li Dian: The Chinese Poetry of Bei Dao, 1978 ‒ 2000. Resistance and Exile, Lewiston, Queenston & Lampeter: Edwin Mellen Press, 2006; Chee-Lay Tan: Constructing a System of Irregularities. The Poetry of Bei Dao, Duoduo and Yang Lian, Diss., Cambridge University, 2007. [WH]

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Bi Feiyu 毕飞宇

Bi Feiyu 毕飞宇 (1964 ‒), geb. in Xinghua (Provinz Jiangsu) Bi Feiyu kam in einer Familie zur Welt, in der der Vater aufgrund politischer Verfolgung zur Arbeit aufs Land geschickt worden war. Bereits als Schüler war er ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler und begann auch schon früh zu schreiben, trotz anfänglichen Verbots durch seinen Vater, der das literarische Schreiben als sehr gefährlich ansah. 1983 bestand Bi Feiyu die Aufnahmeprüfung für ein Universitätsstudium und studierte Chinesisch auf Lehramt an der Pädagogischen Hochschule in Yangzhou. Er arbeitete im Anschluß daran bis 1992 als Dozent an einer Pädagogischen Hochschule für Sonderschullehrer. Danach wurde er Redakteur einer Tageszeitung. Gegenwärtig arbeitet er als Redakteur für den Zeitschriftenverlag Yuhua in Nanjing und ist stellvertretender Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der Provinz Jiangsu. Bi Feiyu hat bislang knapp 100 kurze Erzählungen, Novellen und Romane veröffentlicht, darunter bekannte Werke wie »Frauen in der Stillzeit« (»Buruqi de nüren«), Die Mondgöttin (Qingyi), Yumi (Yumi [Eigenname]), Die Ebene (Pingyuan) und Massage (Tuina). In seinem literarischen Schaffen spielen Frauen im China der 70er Jahre und deren Schicksale eine zentrale Rolle. Kaum ein chinesischer Schriftsteller der Gegenwart hat so treffend und überzeugend die weibliche Psyche und ihre emotionale Befindlichkeit beschrieben wie Bi Feiyu. Für ihn sind die weiblichen Figuren bezüglich der Wahrnehmung ihres Lebens und ihrer Umwelt wesentlich sensibler und komplexer als die männlichen, daher auch geeigneter für die literarische Verarbeitung. In der lebensnahen und feinfühligen Darstellung in seinen Werken entstehen neue literarische Bilder von Frauen in ihren Rollen als Bäuerin, Schauspielerin oder Angestellte, die trotz ihrer menschlichen Schwächen liebenswürdig sind. Sein Interesse gilt stets den Menschen und ihrer Würde unter der Last der Zeit. Bi Feiyu hat bereits viele nationale Literaturpreise gewonnen, die wichtigsten unter ihnen sind der Lu-Xun-Literaturpreis 2003 und der Literaturpreis der Zeitschrift Renmin Wenxue 2008. WERKAUSGABEN: Bi Feiyu wenji, 4 Bde., Nanjing: Jiangsu Wenyi, 2004; Pingyuan, Nanjing: Jiangsu Wenyi, 2005; Bi Feiyu xiaoshuo, Peking: Zhongguo Shehui, 2006; Shi shei zai shenye shuohua, Peking: Chunfeng Wenyi, 2007; Tuina, Peking: Renmin Wenxue, 2008. ÜBERSETZUNGEN: »Fernsteuerung«, in: Das Leben ist jetzt. Neue Erzählungen aus China, hg. von Frank Meinshausen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 52‒64; »Was den Männern übrig blieb«, übers. von Huang Weiping, in: minima sinica 1/2005, S. 92‒103; »Die Neujahrsnacht«, übers. von Marc Hermann, in: ders. (Hg.): Stumme Städte. Neue Großstadtliteratur aus China, Orientierungen Themenheft 2006, S. 122‒133; Die Mondgöttin, übers. von Marc Hermann, München: Blessing, 2006. [WH]

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Bing Xin 冰心

Bing Xin 冰心 (eig. Xie Wanying, 1900 ‒ 1999), geb. in Changle (Provinz Fujian) Bereits in ihrer Kindheit kam Bing Xin durch ihre Familie mit der klassischen chinesischen Literatur und Übersetzungen ausländischer Literatur in Berührung. Von diesem Vorteil profitierten viele junge Frauen einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. Nach dem Umzug ihrer Familie 1918 nach Peking besuchte sie dort in einer Mädchenschule den Vorbereitungskurs für ein Studium. Sie wählte zunächst das Fach Medizin, wechselte jedoch kurze Zeit später in das Fach Literaturwissenschaft. Nach ihrem Abschluß studierte sie ab 1923 in den USA Englische Literatur. 1926 erlangte sie ihren M.A.-Titel und kehrte nach Peking zurück, wo sie an der Universität Peking und an der Tsinghua-Universität unterrichtete. 1946 wurde sie für eine Lehrtätigkeit an der Universität Tokio nach Japan berufen, wo sie bis 1951 blieb. Ab 1951 nahm sie in Peking verschiedene Redaktionstätigkeiten und Funktionen im chinesischen Verlagswesen und im Schriftstellerverband wahr. Bereits 1920 veröffentlichte Bing Xin Erzählungen wie »Zwei Familien« (»Liangge jiating«) und »Vergangenheit« (»Wangshi«). Darin kommen ihre Auseinandersetzung mit dem Sinn und der Sinnhaftigkeit des Lebens und ihre Kindheitserfahrungen zum Ausdruck. Zur gleichen Zeit publizierte sie zahlreiche kurze Gedichte, die sprachlich schlicht und elegant und von der poetischen Bildlichkeit her präzise und prägnant sind. Ihre lyrischen Beiträge legten den Grundstein für eine neue Stilrichtung, den »Bing-Xin-Stil«. Ihr Stil verbindet die Schönheit der klassischen chinesischen Dichtkunst sowie europäische Einflüsse mit den Gegebenheiten der modernen chinesischen Sprache und schafft dadurch ein poetisches Konstrukt der neuen Zeit. Neben ihren lyrischen und erzählerischen Produkten verfaßte Bing Xin auch Essays. Sie besitzen keinen geringeren Stellenwert in ihrem literarischen Schaffen als ihre Gedichte. Später widmete sie sich zunehmend der Kinderliteratur und schrieb Texte wie Das Mädchen Dong’er (Dong’er guniang), An die kleinen Leser (Zhi xiao duzhe), Wir haben den Frühling geweckt (Women ba chuntian chaoxing le) und Die kleine Orangenlaterne (Xiao ju deng). Bing Xins Werke wurden in verschiedene Fremdsprachen übersetzt. WERKAUSGABEN: Bing Xin xiaoshuo sanwen xuanji, Peking: Renmin Wenxue, 1954; Jishi zhu, Peking: Renmin Wenxue, 1980; Bing Xin wenji, 8 Bde., Shanghai: Shanghai Wenyi, 1982. ÜBERSETZUNGEN: The Photograph, übers. von Jeff Book, Peking: Panda Books, 1992; »Der Übermensch«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2002, S. 143‒151; »Sterne. Gedichte«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2003, S. 111–115; »Gugu«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 1/2004, S. 128–137; »Letzte Ruhe«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 1/2004, S. 114–127; »Drei Jahre«,

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Can Xue 残雪 übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2004, S. 127–132; »Die Mutter meines Freundes«, übers. von Marc Hermann und Monika Beißert, in: minima sinica 1/2006, S. 75–89. SEKUNDÄRLITERATUR: Colena M. Anderson: A Study of Two Modern Chinese Women: Ping Hsin and Ting Ling, Diss., Pomona, Claremont Graduate School and University Center, 1954; Marcela Bouskova: »The Stories of Ping Hsin«, in: Studies in Modern Chinese Literature, hg. von Jaroslav Prusek, Berlin: Akademie-Verlag, 1964, S. 114‒ 129; Werner Bartels: Xie Bingxin. Leben und Werk in der Volksrepublik China, Bochum: Brockmeyer, 1982; Gloria Bien: »Frauenbilder in Bing Xins Erzählungen«, in: Moderne chinesische Literatur, hg. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 246‒ 261; Wendy Larson: »Female Subjectivity and Gender Relations: The Early Stories of Lu Yin and Bing Xin«, in: Politics, Ideology, and Literary Discourse in Modern China. Theoretical Interventions and Cultural Critique, hg. von Liu Kang u. Xiaobing Tang, Durham: Duke University Press, 1993, S. 278‒299; Birgit Häse: Einzug in die Ambivalenz. Erzählungen chinesischer Schriftstellerinnen in der Zeitschrift Shouhuo zwischen 1979 und 1989, Wiesbaden: Harrassowitz, 2001, S. 84‒145; Bonnie S. McDougall: »Disappearing Women and Disappearing Men in May Fourth Narrative: A PostFeminist Survey of Short Stories by Mao Dun, Bing Xin, Ling Shuhua and Shen Congwen«, in: Fictional Authors, Imaginary Audiences. Modern Chinese Literature in the Twentieth Century, hg. von Bonnie S. McDougall, Hongkong: Chinese University Press, 2003, S. 133‒170. [WH]

Bo Juyi (→) Bai Juyi Can Xue 残雪 (eig. Deng Xiaohua, 1953 – ), geb. in Changsha (Provinz Hunan) Can Xues Eltern waren bereits in den 30er Jahren in die Kommunistische Partei eingetreten. Nachdem ihre Eltern 1957 als »politische Abweichler« diffamiert und ins Arbeitslager geschickt worden waren, mußte Can Xue bei ihrer Großmutter untergebracht werden. Die eigenwillige Lebensart ihrer Großmutter, die schaurigmonströsen Geschichten, die sie zu erzählen wußte, und ihre durch Aberglauben bestimmten Verhaltensweisen prägten Can Xue tief. In der Schule war sie für ihre sensible, nervöse und gleichzeitig sture Art bekannt. Da während ihrer Grundschulzeit die Kulturrevolution (1966 – 1976) bereits begonnen hatte, verließ sie die Schule und wurde Arbeiterin in einer kleinen Fabrik. 1978 heiratete sie und eröffnete 1980 gemeinsam mit ihrem Mann eine Schneiderei. Can Xue hatte bereits seit ihrer Kindheit eine große Ambition zu schreiben. Sie begann ihr literarisches Schaffen im Jahre 1985. Nach eigener Aussage wurde ihr Schreiben stark von ihren Kindheitserfahrungen und den phantastischen Zügen der Geschichten ihrer Großmutter geprägt. Als ihr bekanntestes Werk gilt Dialoge

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Cao Cao 曹操

im Paradies (Tiantang de duihua). In der westlichen Literaturkritik wurde sie mit Kafka verglichen und als eine der besten Erzählerinnen in der Gegenwartsliteratur Chinas bezeichnet. WERKAUSGABEN: Can Xue zixuan ji, Hainan: Hainan Chubanshe, 2005; Zuihou de qingren, Guangdong: Huacheng, 2005; Can Xue wenxue guan, o.O.: Guangxi Shifan Daxue, 2008. ÜBERSETZUNGEN: Dialogues in Paradise, übers. von Ronald R. Janssen u. Jian Zhang, Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 1989; Old Floating Clouds. Two Novellas, übers. von Ronald R. Janssen u. Jian Zhang, mit einem Vorwort von Charlotte Innes, Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 1991; Dialoge im Paradies, übers. u. mit einem Vorwort von Wolf Baus, Dortmund: projekt verlag, 1996; The Embroidered Shoes. Stories, übers. von Ronald R. Janssen u. Jian Zhang, New York: Henry Holt, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Jon Solomon: »Taking Tiger Mountain: Can Xue’s Resistance and Cultural Critique«, in: Modern Chinese Literature 4, 1/2 (1988), S. 235‒262; Tonglin Lu: »Can Xue: What is so Paranoid in Her Writing«, in: dies.: Gender and Sexuality in Twentieth Century Chinese Literature and Society, Albany: SUNY Press, 1993, S. 175‒ 204; Susanne Posborg: »Can Xue: Tracing Madness«, in: Inside Out: Modernism and Postmodernism in Chinese Literary Culture, hg. von Wendy Larson u. Anne WedellWedellsborg, Aarhus: Aarhus University Press, 1993, S. 91‒98; Jiangguo Chen: »The Aesthetics of the Transposition of Reality, Dream, and Mirror: A Comparative Perspective on Can Xue«, in: Comparative Literature Studies 34, 4 (1997), S. 348‒375; Xiaobin Yang: The Chinese Postmodern. Trauma and Irony in Chinese Avantgarde-Fiction, Ann Arbor: University of Michigan Press, 2002, S. 74‒92, 129‒149. [WH]

Cao Cao 曹操 (zi: Mengde, posthumer Ehrentitel [shi]: Wei Wudi, 155 – 220), geb. in Peiguoqiao im Kreis Boxian (heute Provinz Anhui) Der Politiker, Feldherr und Literat Cao Cao bereitete aktiv den Untergang der Han-Dynastie (220 n.Chr.) vor sowie den darauf folgenden Zerfall des Landes in die »Drei Reiche« Wei (220 – 265), Shu (221 – 263) und Wu (222 – 280). Durch den Roman Die Drei Reiche (Sanguo yanyi) von (→) Luo Guanzhong aus dem 14. Jahrhundert und zahllose weitere literarische und dramatische Bearbeitungen seiner Biographie ist er – als Sinnbild des machthungrigen Strategen – zu einer unsterblichen Figur der Historie geworden. Die wichtigste Quelle über das Leben Cao Caos und seiner Nachkommen ist die Chronik der Drei Reiche (Sanguozhi) des Chen Shou (233 – 297). Demnach war Cao Caos Vater Adoptivsohn des obersten Eunuchen am Han-Kaiserhof. Trotz seiner ungewissen Herkunft hatte er so Zugang zu einer Beamtenlaufbahn. Er verdiente sich seine Meriten u.a. in der Niederschlagung des Aufstands der »Gelben Turbane« im Jahre 185 und kämpfte, nachdem er sich selbst zum Gouverneur über das Gebiet der heutigen Provinz Shandong erklärt hatte, ab dem Jahr 192 mit einer Reihe anderer Militärmachthaber um die Vorherrschaft über das riesige

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Cao Cao 曹操

Han-Territorium. Bald eroberte er Nordchina – den späteren Staat Wei und damals wirtschaftlich florierendsten Teil Chinas – und brachte den machtlosen und vermutlich debilen Kaiser Xiandi (reg. 189 – 220) unter seine Kontrolle. Nachdem er unter dem selbstverliehenen Titel eines »Oberbefehlshabers« (dajiangjun) die kaiserlichen Regierungsgeschäfte geführt hatte, ernannte er sich 213 zunächst zum »Herzog von Wei« (Weiguo gong) und schon im Jahr darauf zum »König von Wei« (Wei wang) mit dem Ziel, sich hernach selbst zum Kaiser auszurufen. Doch Cao Cao starb 220, und erst sein Sohn (→) Cao Pi konnte den usurpatorischen Weg des Vaters zu Ende gehen. Er rief 220 nach Kaiser Xiandis Tod das Ende der Han-Dynastie aus und firmierte ab da unter dem Titel »Kaiser Wen von Wei« (Wei Wendi). Seinem Vater Cao Cao verlieh er posthum den Ehrentitel »Kaiser Wu von Wei« (Wei Wudi). Daß Cao Cao ein Mann mit zwei Gesichtern war, spiegelt sich auch in seinem literarischen Schaffen wider: So schrieb der »Machtmensch« Cao Cao einen Kommentar zum strategischen Werk Sunzi, gleichzeitig prägte er als führender Kopf der Literatenszene der Jianʼan-Periode (196 – 220), jener Epoche des schleichenden Untergangs der Han-Dynastie, die Poesie des frühen chinesischen Mittelalters. Cao Caos Hof hatte dabei vermutlich die Funktion eines Dichtersalons, den nicht nur seine gleichfalls als Literaten berühmten Söhne Cao Pi und (→) Cao Zhi, sondern auch die »Sieben Meister der Jianʼan-Periode« (Jianʼan qi zi, [→] Wang Can) frequentierten. 24 seiner eigenen sowohl stilistisch als auch thematisch einflußreichen Musikamtslieder (yuefu) sind heute noch erhalten. Sie stehen an der Schwelle von den frühen höfischen Liedern in der Tradition des Buches der Lieder (Shijing) und der Lieder des Südens (Chuci) hin zum individuellen Gelehrtengedicht (shi). Cao Caos Werk markiert zudem den Beginn der Landschaftslyrik. WERKAUSGABEN: Cao Cao ji yizhu, Peking: Zhonghua Shuju, 1979; Cao Wei fuzi shixuan, hg. von Chao Futan, Hongkong: Sanlian Shudian, 1982 [u. Chengdu: Bashu Shushe, 1989]; San Cao shi yishi, übers. u. komm. von Qiu Yingsheng u. Gao Shuang, Harbin: Heilongjiang Renmin Wenxue, 1982; San Cao shi xuanyi, hg. von Yin Yixiang, Chengdu: Bashu Shushe, 1989. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Diether von den Steinen: »Poems of Ts’ao Ts’ao«, in: Monumenta Serica 4 (1939/40), S. 125‒181; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 111‒114; Paul William Kroll: Portraits of Ts’ao Ts’ao: Literary Studies on the Man and the Myth, Diss., University of Michigan, 1976; Zang Keli: San Cao nianpu, Jinan: Qi Lu Shushe, 1983; Sung-sheng Yvonne Chang: Generic Transformation from Yuefu to Gushi. Poetry of Cao Cao, Cao Pi, and Cao Zhi, Diss., Stanford University, 1985; Wang Lizhong u. Tang Lingyi: Cao Cao, Peking: Zhonghua Shuju, 1985; Zang Keli: Jian’an wenxue lungao, Jinan: Shandong Jiaoyu, 1986; Rafe de Crespigny: Man from the Margin: Cao Cao and the Three Kingdoms, Canberra: Australian National University, 1990; Jean Pierre Diény: Les Poèmes de Cao Cao (155 ‒ 220), Paris: Collège de France, Institut des Hautes Études Chinoises, 2000. [HP]

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Cao Pi 曹丕

Cao Pi 曹丕 (zi: Zihuan, posthumer Ehrentitel (shi): Wei Wendi, 187 – 226), geb. in Peiguoqiao im Kreis Boxian (heute Provinz Anhui) Cao Pi war der zweite Sohn (→) Cao Caos und der ältere Bruder (→) Cao Zhis. Von seinem Vater erbte er den Adelstitel »König von Wei« (Wei wang); 220 n.Chr., nach dem Ableben des letzten Han-Kaisers Xiandi, ernannte er sich selbst zum Kaiser der Wei-Dynastie (220 – 265). Damit hatte er das vom Vater begonnene Werk vollendet, die Han-Dynastie zu Fall zu bringen. In den historischen und literarischen Quellen zu seiner Biographie wird Cao Pi durchweg als boshafter und krankhaft ehrgeiziger Gegenspieler seines kunstsinnigen Bruders Cao Zhi charakterisiert, doch diese Bewertung ist wohl – wie Siu-kit Wong überzeugend dargelegt hat – mit Vorsicht zu genießen. Cao Pi hat sowohl in Lyrik als auch Prosa ein ansehnliches Werk hinterlassen. Sein dichterischer Nachlaß umfaßt 40 fünfsilbige Gedichte (wuyan gushi), eines der frühesten siebensilbigen Gedichte mit dem Titel »Lied des Staates Yan« (»Yanʼgexing«) und ca. 30 Prosagedichte (fu). Zu besonderem Ruhm gelangte sein literaturkritischer Essay »Über die Literatur« (»Lunwen«). Der Text war ursprünglich Teil eines umfangreichen Werkes mit dem Titel Ausgewählte Abhandlungen (Dianlun). Das Buch selbst existiert seit der Song-Zeit (960 – 1279) nicht mehr, doch durch die Aufnahme in die Anthologie Wenxuan des (→) Xiao Tong im 6. Jahrhundert blieb zumindest sein Essay »Über die Literatur« (unter dem Titel »Dianlun lunwen«) erhalten. In der Geschichte der chinesischen Literaturtheorie gilt dieser Essay als zentraler – wenn auch noch rudimentärer – Text: War die Literatur bis in die Han-Zeit hinein vordringlich als ein bloß erzieherisches (und politisches) Instrument begriffen worden, so erhebt Cao Pi sie nun in seiner Erörterung des »Ingeniums« (Richard Trappl), d.h. des die Begabung des Dichters definierenden Lebensodems qi, zum ersten Mal zu einer eigenständigen Kunstform. WERKAUSGABEN: Wei Wudi Wei Wendi shizhu, hg. u. komm. von Huang Jie, Peking: Renmin Wenxue, 1958; Cao Pi ji jiaozhu, hg. u. komm. von Xia Chuancai u. Tang Shaozhong, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 115‒117; »On Literature«, übers. von Siu-kit Wong, in: ders. (Hg. u. Übers.): Early Chinese Literary Criticism, Hongkong: Joint Publishing Company, 1983, S. 19‒25. SEKUNDÄRLITERATUR: Wilfried Schulte: Ts’ao P’i (187‒226). Leben und Dichtungen, Diss., Universität Bonn, 1973; Lois M. Fusek: The Poetry of Ts’ao P’i (187 ‒ 226), Diss., Yale University, 1975. [HP]

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Cao Xueqin 曹雪芹

Cao Xueqin 曹雪芹 (eig. Cao Zhan, zi: Mengruan, hao: Qinpu, Qinxi jushi etc., ca. 1715 – 1763) Über den Geburtsort Cao Xueqins sind trotz jahrzehntelanger intensiver Forschungen bislang ebensowenig Angaben zu machen wie über das genaue Jahr seiner Geburt und seines Todes. Dies mag erstaunlich anmuten angesichts der literarischen Bedeutung, die Caos Roman Der Traum der Roten Kammer (Hongloumeng) in der chinesischen Literaturgeschichte einnimmt. Zu tun hat dieses konturlos bleibende Bild von Cao Xueqin mit dem Schicksal seiner Familie. Aufstieg und Niedergang des in der Mandschurei angesiedelten Han-chinesischen Clans der Cao waren seit dem frühen 17. Jahrhundert eng mit den Geschicken des mandschurischen Herrscherhauses verknüpft. Von den mandschurischen Eroberern versklavt, gelangten die Vorfahren Caos als Leibeigene später in den kaiserlichen Haushalt der mandschurischen Qing-Dynastie (1644 – 1911), wo sie sich auf Dauer bewähren konnten. So erhielt Cao Xueqins Großvater Cao Xi 1663 das Amt des Kaiserlichen Textilkämmerers von Nanjing, ein Posten, der in der Folge auch auf seine Nachfahren und angeheirateten Familienangehörigen überging. Unter ihnen ragt Cao Yin (1658 – 1712), ein Großvater von Cao Xueqin, heraus, der sich als Textilkämmerer von Nanjing und Salzkämmerer von Yangzhou nicht nur eines immensen Wohlstands erfreute, sondern auch die Gunst des Kangxi-Kaisers (reg. 1661 – 1722) genoß und diesem bei mehreren Reisen in den Süden Unterkunft gab. Zwei Töchter Cao Yins wurden Gemahlinnen mandschurischer Prinzen, im Roman sind diese Ereignisse in der Beschreibung der prächtigen Hochzeit von Jia Baos Schwester verarbeitet. Auch als Gelehrter, Dichter und Kunstmäzen genoß Cao Yin erhebliches Ansehen. Als Cao Xueqin um 1715 geboren wurde, hatten die Caos ihre besten Zeiten fraglos bereits hinter sich. Die Gestalt des Vaters bleibt obskur, nach der einen Theorie soll Xueqin der Sohn des nachkommenlos geglaubten Cao Yong sein, nach der anderen Auffassung war er der Sproß von Cao Fu, einem Neffen, der aufgrund von Erbfragen adoptiert worden war. Unter Cao Fu jedenfalls setzte in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts der Niedergang der Familie ein, festzumachen an der Amtsenthebung des Familienvorstands und der Konfiszierung des gesamten Besitzes. Eine Folge dieser Entwicklung war der Umzug von Cao Fu und einer geringen Zahl von Familienangehörigen nach Peking. Die Lebensumstände des Clans verbesserten sich in den 30er Jahren nur für kurze Zeit, Cao Xueqin jedenfalls traf in der zweiten Hälfte seines Lebens der Niedergang mit voller Wucht. Etwa um 1740 dürfte er sich an die Abfassung des Romans gemacht und in den folgenden zehn Jahren große Teile des Werks vollendet haben. Finanziell war er zu dieser Zeit einigermaßen abgesichert dank einer Stelle an der Kaiserlichen Schule für Kinder des Adels. In der Schule freundete er sich mit zwei jungen Angehörigen der Kaiserfamilie an, den Brüdern Dunmin (ca. 1729 – 1796) und Duncheng (1734 – 1791). Ihre Gedichte an und über Cao Xueqin sind die wichtigsten

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Cao Zhi 曹植

Quellen, die wir über Caos Leben und seine Persönlichkeit haben. Der Verlust des Schulpostens zwang Cao Xueqin zu einem mehrmaligen Umzug innerhalb Pekings, bis er schließlich in den Westbergen eine bescheidene Bleibe fand und sein Leben mit dem Verkauf von Bildern und Einkünften aus Abzügen des Romans fristete. Man muß davon ausgehen, daß Schicksalsschläge wie das frühe Ableben seiner Frau und der Tod des Sohnes im Herbst 1762 dazu beitrugen, daß Cao selbst vermutlich schon zu Beginn des Jahres 1763 den Tod fand. WERKAUSGABEN: Hongloumeng, 3 Bde., Peking: Renmin Wenxue, 1985. ÜBERSETZUNGEN: The Story of the Stone, 5 Bde., übers. von David Hawkes (Kap. 1–80) u. John Minford (Kap. 81–120), Harmondsworth (England): Penguin, 1973 – 1986; Der Traum der Roten Kammer. Ein Roman aus der frühen Tsing-Zeit, übers. von Franz Kuhn, Frankfurt a.M.: Insel, 1981 [stark gekürzt]; A Dream of Red Mansions, 3 Bde., übers. von Yang Xianyi u. Gladys Yang, Peking: Foreign Languages Press, 21992; Die Geschichte vom Stein – Der Traum der roten Kammer, 3 Bde., übers. von Rainer Schwarz u. Martin Woesler, Bochum: Europäischer Universitätsverlag, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Andrew H. Plaks: Archetype and Allegory in the »Dream of the Red Chamber«, Princeton: Princeton University Press, 1976; Hongloumeng yanjiu wenxuan, hg. von Guo Yushi, Shanghai: Huadong Shifan Daxue, 1988; Zhou Ruchang: Cao Xueqin xin zhuan, Peking: Waiwen, 1995; Anthony C. Yu: Rereading the Stone: Desire and the Making of Fiction in »Dream of the Red Chamber«, Princeton: Princeton University Press, 1997; Hongloumeng. Studien zum »Traum der Roten Kammer«, hg. von Wolfgang Kubin, Bern et al.: Peter Lang, 1999. [TZ]

Cao Zhi 曹植 (zi: Zijian, posthumer Ehrentitel [shi]: Chen Siwang, 192 – 232), geb. in Peiguoqiao im Kreis Boxian (heute Provinz Anhui) Cao Zhi war der dritte Sohn des Staatsmannes (→) Cao Cao. Der begnadete Poet stand politisch zeitlebens im Schatten seines älteren Bruders (→) Cao Pi. Obwohl der Vater eigentlich lieber Cao Zhi auf dem Thron gesehen hätte, übergab er traditionsgemäß die Macht an Cao Pi. Letzterer dürfte sich darüber im klaren gewesen sein, daß er – nicht nur von seinem Vater – für intellektuell unterlegen gehalten wurde, und suchte nach Kräften seinen hochtalentierten Bruder vom Zentrum der Macht fernzuhalten. Auch Cao Pis Sohn und Nachfolger Cao Rui ließ seinen Onkel nicht zum Zuge kommen. Cao Zhi – der sich selbst zurecht als Opfer fühlte, aber auch als solches stilisierte – hatte sich so auf ein vermutlich durchaus eitles Künstlerleben zu beschränken. Cao Zhi hat, wie sein Bruder Cao Pi, literaturkritische Äußerungen hinterlassen, darunter den »Brief an Yang Dezu« (»Yu Yang Dezu shu«). Der unüberhörbar gekränkte und zuweilen überhebliche Ton des Briefes erschwert allerdings die Rezeption. Cao Zhi betrachtet dort das literarische Schaffen als unbedeutend im Vergleich zu den politischen und militärischen Aufgaben, die er sich eigentlich

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Cen Shen 岑参

für sein Leben erhofft hatte. Nichtsdestotrotz hat Cao Zhi – vielleicht tatsächlich zum Teil unfreiwillig – ein glanzvolles und umfangreiches Œuvre geschaffen, das ihn zum unbestritten wichtigsten Dichter seiner Zeit, der Jianʼan-Periode (196 – 220), erhebt. In der Übergangsphase zwischen fu (Poetischer Beschreibung) und shi (Gedicht) schrieb er höchst phantasievolle Balladen wie »Die Göttin des LuoFlusses« (»Luoshenfu«) und perfektionierte den fünfsilbigen Vers. Sein Werk, brillant in allen Gattungen (fu, shi und yuefu), zeigt – vielleicht auch wegen seiner Nähe zur daoistischen Tradition – erste Ansätze einer Individualisierung. Die Authentizität nicht weniger Texte ist allerdings umstritten. WERKAUSGABEN: Cao ji quanping, hg. u. komm. von Ding Yan, Nachdruck: Peking: Wenxue Guji, 1957; Cao Zhi ji jiaozhu, hg. u. komm. von Zhao Yuwen, Peking: Renmin Wenxue, 1984. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 265‒268 et passim; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 118‒122; Worlds of Dust and Jade. 47 Poems and Ballads of the Third Century Chinese Poet Ts’ao Chih, übers. von George W. Kent, New York: Philosophical Library, 1969; »A Letter to Yang Dezu«, übers. von Siu-kit Wong, in: Early Chinese Literary Criticism, Hongkong: Joint Publishing, 1983, S. 27‒37. SEKUNDÄRLITERATUR: Robert Joe Cutter: Cao Zhi (192 ‒ 232) and His Poetry, Diss., University of Washington, 1983; Hughes A. Dunn: Cao Zhi. The Life of a Princely Poet, Peking: New World Press, 1983; Robert Joe Cutter: »The Incident at the Gate: Cao Zhi, the Succession, and Literary Fame«, in: T’oung Pao 71 (1985), S. 228‒262; Donald Holzman: »Ts’ao Chih and the Immortals«, in: Asia Major, T’ang Studies 1 (1988), S. 15‒57. [HP]

Cen Shen 岑参 (715 – 770), geb. in Xianzhou (Kreis Ye, heute Provinz Henan) Cen Shen, geboren im 3. Regierungsjahr des Kaisers Xuanzong (reg. 713 – 755), war ein namhafter Dichter der Tang-Blütezeit und enger Freund (→) Du Fus. Seine Familie stammte ursprünglich aus Nanyang (Provinz Henan), er selbst wuchs jedoch früh verwaist nahe Luoyang auf. Im Jahre 744 bestand er das jinshi-Doktorexamen und erhielt einen Posten im Büro der Leibgarde des Kronprinzen. In den folgenden Jahren (749 – 757) diente er auf zwei Feldzügen in Zentralasien unter den Generälen Gao Xianzhi und Feng Changqing. Nachdem der erste Feldzug in Kutscha 751 mit einer Niederlage geendet hatte, lebte Cen Shen für kurze Zeit in der Hauptstadt Changʼan. Dort traf er Dichterkollegen wie Du Fu und (→) Gao Shi, bevor er ab 754 erneut nach Zentralasien entsandt wurde. Besonders der zweite Westfeldzug gegen die Tibeter war vermutlich eine seiner intensivsten

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Cen Shen 岑参

Schaffensperioden. Im Jahr 757, inmitten des Bürgerkrieges nach der Rebellion des An Lushan, fand er auf Empfehlung Du Fus am nach Fengxiang verlegten Hof des Kaisers Suzong (reg. 756 – 762) Anstellung. Doch nach der Konsolidierung des Reiches und der Rückführung des Hofes nach Changʼan wurde Cen Shen, wie viele seiner Kollegen, mit Provinzposten vertröstet und von der Hauptstadt ferngehalten. Er diente für eine Weile in Guozhou (Provinz Henan) und durfte erst 762 nach Changʼan zurückkehren. 765 wurde er zum Präfekten von Jiazhou (Provinz Sichuan) ernannt. In den letzten fünf Jahren seines Lebens war er dort mit einer Reihe von lokalen Aufständen konfrontiert. Die harten Kriegserfahrungen der Westfeldzüge prägten Cen Shens Gedichte, besonders jene im Stil der »Front-« oder »Grenzlyrik« (biansaiti), die oft mit den Frontgedichten seines Zeitgenossen Gao Shi verglichen wurden. Cen Shen steht am Ende dieses Genres, das im 7. Jahrhundert mit Dichtern wie Luo Binwang (ca. 640 – 684) eine Blüte erlebt hatte, und führte es vermutlich zu seinem Höhepunkt. Während Gao Shi für seine intellektuelle Schärfe und realistische Darstellung der Feldzüge gelobt wurde, die das zwar territorial geeinte, aber dennoch in den Grenzregionen instabile chinesische Kaiserreich zusammenzuhalten versuchten, so zeigen Cen Shens Gedichte neben ihrer formalen Meisterschaft vor allem eine bemerkenswerte emotionale Tiefe. Beide Dichter kannten den Kriegsalltag und die fremden Regionen Zentralasiens aus eigener Anschauung, ein Umstand, der sie über die zahllosen »Studiopoeten« erhebt, die sich dieses Genres anzunehmen versuchten. Von Cen Shens mehr als 400 erhaltenen Gedichte ist jedoch nur eine geringer Teil mit dem Thema des Krieges befaßt – wenn auch vielleicht der eindringlichste Teil seines Werkes. WERKAUSGABEN: Gao Shi, Cen Shen shi yishi, hg. von Gao Guangfu, Harbin: Heilongjiang Renmin, 1984; Quan Tang shi suoyin: Cen Shen juan, hg. von Chen Kang et al., Peking: Zhonghua Shuju, 1992. ÜBERSETZUNGEN: Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 197‒205. SEKUNDÄRLITERATUR: Marie Chan: »The Frontier Poems of Ts’en Shen«, in: Journal of the American Oriental Society 97 (1979), S. 420‒437; Stephen Owen: The Great Age of Chinese Poetry: The High T’ang, New Haven u. London: Yale University Press, 1981, S. 169‒182; Marie Chan: Cen Shen, Boston: Twayne, 1983; Sun Yingda: Cen Shen shi zhuan, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1989; Zhou Xunchu u. Yao Song: Gao Shi he Cen Shen, Shanghai: Shanghai Guji, 1991. [HP]

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Chen Chen 陈忱

Chang, Eileen (→) Zhang Ailing Chen Chen 陈忱 (zi: Xiaxin, Jingfu, hao: Yandang shanqiao, 1613 – ca. 1666/1696), geb. in Wucheng (heute Provinz Zhejiang) Die Lebensumstände Chen Chens lassen sich nur noch aus seinen Schriften erschließen, viele Angaben bleiben widersprüchlich. Den Verfasserhinweisen in seinem dichterischen Werk ist aber zu entnehmen, daß das Geburtsjahr 1613 sein muß und daß er 1661 zu Zeiten des Kangxi-Kaisers (reg. 1661 – 1722) noch lebte. Chen war ein gebildeter Mann, der zahlreiche Aufzeichnungen anfertigte, die unter dem Titel Vermischte Schriften vom Yandang-Berg (Yandang zazhu) bekannt sind, doch gilt dieses Werk heute ebenso als verloren wie seine Sammlung der Gedichte vom Yandang-Berg (Yandang shiji) und der Dramentext Törichte Welt (Chi shijie). Gemeinsam mit gleichgesinnten Literaten, zu denen u.a. (→) Gu Yanwu gehörte, gründete Chen in der Zeit des Dynastiewechsels Mitte des 17. Jahrhunderts die einflußreiche »Jingyin«-Dichtergemeinschaft, die im geheimen den Widerstand gegen die mandschurischen Qing (1644 – 1911) organisierte. Chen Chens wichtigstes erhaltenes Werk ist sein Folgeroman zu den Räubern vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) mit dem Titel Spätere Erzählung der Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihu hou zhuan). WERKAUSGABEN: Shuihu hou zhuan, Taipeh: Tianyi, 1975.

[TZ]

Chen Danyan 陈丹燕 (1958 – ), geb. in Shanghai In ihrer Kindheit hatte Chen Danyan aufgrund ihres Stotterns kaum Freunde und wuchs daher als ein einsames und eigensinniges Kind heran. 1972 begann sie zu schreiben und veröffentlichte Aufsätze in der Shanghaier Jugend (Shanghai shaonian). Ab 1978 studierte sie Chinesische Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Ostchinas in Shanghai und schloß ihr Studium mit dem Bachelor ab. Danach wurde sie Redakteurin der Zeitschrift Kindheit (Ertong shidai). Zeitgleich intensivierte Chen Danyan ihr literarisches Schaffen und plublizierte kurze Erzählungen und Essays in verschiedenen literarischen Zeitschriften. 1988 kam ihr erster Roman Trilogie einer Mittelschülerin (Nü zhongxuesheng sanbuqu) heraus, dessen Leserschaft in erster Linie Jugendliche waren. 1990 folgte der Roman Ein schöner Tag im tiefen Winter (Handong liri), der eher an ein erwachsenes Publikum gerichtet war. 1997 erschien der Roman Das Manifest des Einzelkindes (Dusheng zinü xuanyan), ab 1998 eine Reihe von Romanen, die das alte Shanghai zum literarischen Schauplatz machten: Eine Liebe in Shanghai (Shanghai de fenghua xueye), Ein Mädchen aus gutem Haus in Shanghai (Shanghai de

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Chen Jingrong 陈敬容

jinzhi yuyue), Die verlorengegangene Geschichte der Schönen in Shanghai (Shanghai de hongyan yishi) und Shanghaier Salat (Shanghai shala). Chen Danyans Werke thematisieren in erster Linie die Gefühlswelten der modernen Menschen und ihre Konflikte mit ihrer Umwelt. Diese Konflikte sind nicht nur durch die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen bedingt, sondern auch durch die Verschiebung von Wertvorstellungen in Rückblick auf das Vergangene. Die Menschen begleitet ein nostalgisches Gefühl, das sich nach einer vergangenen, nur noch verschwommen erinnerten Welt sehnt, die aber für immer verloren ist. Die melancholische Atmosphäre in Chen Danyans Texten erinnert stark an die Werke von (→) Zhang Ailing. WERKAUSGABEN: Yi ge nühai, o.O.: Jiangsu Shaonian Ertong, 1992; Dusheng zinü xuanyan, Shanghai: Nanyang, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Neun Leben. Eine Kindheit in Shanghai, übers. von Barbara Wang, Zürich: Nagel & Kimche, 1995; »Ich dachte, ich würde in meine Heimat zurückkehren«, übers. von Beate Geist, in: minima sinica 1/2003, S. 127‒139. [WH]

Chen Jingrong 陈敬容 (Pseudonyme: Lanbing, Chenghui und Wengu, 1917 – 1989), geb. in Leshan (Provinz Sichuan) Bereits 1932 begann Chen Jingrong, Gedichte zu schreiben. Mit 17 Jahren ging sie – für die damalige Zeit höchst ungewöhnlich – allein nach Peking. Neben dem Selbststudium der chinesischen und ausländischen Literatur besuchte sie auch als Gasthörerin Vorlesungen an der Universität Peking und an der Tsinghua-Universität. Während des Krieges gegen Japan (1937 – 1945) wurde sie Mitglied einer Literaturvereinigung in Chengdu. Ab 1945 war sie zeitweise als Grundschullehrerin in Chongqing tätig. 1948 wurde sie Mitherausgeberin der Monatszeitschrift Neue chinesische Lyrik (Zhongguo xinshi) und der Zeitschrift Lyrik aus dem Urwald (Senlin shicong). Zugleich war sie auch Mitglied des Dichterkreises der »Neun Blätter« (Jiu ye ji). Nach der Gründung der Volksrepublik China zog sie erneut nach Peking und arbeitete ab 1956 als Redakteurin für die Zeitschrift Weltliteratur (Shijie wenxue). Neben ihrer literarischen Arbeit übersetzte sie zahlreiche Werke der ausländischen Literatur. Ihr erstes Gedicht »Oktober« (»Shiyue«), geschrieben 1935, veröffentlichte sie 1946 in der Zeitschrift Abendblatt der Vereinigung (Lianhe ribao wankan). Es folgten zahlreiche Gedichte und der Essayband Sternregen (Xingyu ji). Danach hatte sie eine lange Schaffenspause, bedingt durch die politischen Unruhen und die extrem schlechten Bedingungen für die Literatur während der Kulturrevolution (1966 – 1976). Erst nach ihrer Pensionierung 1973 widmete sie sich wieder ihrem eigenen literarischen Schaffen und verfaßte in ihren letzten Lebensjahren noch über 200 Gedichte.

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Chen Lang 陈郎

Chen Jingrongs Lyrik ist gekennzeichnet durch eine subtile und empfindsame Wahrnehmungsgabe und ihre schlichten, aber dennoch kraftvollen poetischen Bilder. Ihr lyrischer Sprachstil schlägt sich auch in ihren Übersetzungen nieder und macht diese sehr beliebt. Ihr Gedichtband Es ist die Zeit, die altert gewann 1986 den nationalen Lyrikpreis. WERKAUSGABEN: Xingyu ji, Shanghai: Shanghai Wenhua, 1947; Jiu ye ji, mit Yuan Kejia et al., Nanjing: Jiangsu Renmin, 1981. SEKUNDÄRLITERATUR: Shui-Pang Almberg: The Poetry of Chen Jingrong. A Modern Chinese Woman Poet, Stockholm: Foringen for Orientaliska Studier, 1988. [WH]

Chen Lang 陈郎 (zi: Cangming, hao: Xiaoshan, Jinghu yisou, ca. 1721/24 – ?), geb. in Wuhu (heute Provinz Anhui) oder Shaoxing (heute Provinz Zhejiang) Die Angaben zum Leben Chen Langs sind widersprüchlich und sehr spärlich, das meiste muß man sich aus Hinweisen in seinem Werk erschließen. An Schriften ist der Nachwelt nur sein Roman Erzählung von Xue, Yue und Mei (Xue Yue Mei zhuan) überliefert, der 1775 nach dem Rückzug Chens aus dem Amts- und Geschäftsleben erschien. Darin klagt der Verfasser die korrupten Praktiken der Beamten an und tritt für Aufrichtigkeit und Korrektheit ein. WERKAUSGABEN: Xue Yue Mei zhuan, Jinan: Qilu Shushe, 1986.

[TZ]

Chen Ruoxi 陈若曦 (eig. Chen Xiumei, 1938 – ), geb. in Taipeh (Taiwan) Chen Ruoxi begann ihr literarisches Schaffen 1957, während sie am Fremdspracheninstitut der Nationalen Universität in Taiwan studierte. Sie war zu dieser Zeit in der Literaturszene Taiwans sehr engagiert und gab 1958 die Literaturzeitschrift Moderne Literatur (Xiandai wenxue) heraus. 1961 begann sie an einem Sprachtrainingszentrum für Englisch in Taipeh zu unterrichten. Ein Jahr später besuchte sie in den USA eine Fortbildung in Englischer Literatur. 1966 zog sie als überzeugte Maoistin nach Shanghai und arbeitete im Fachbereich Wasserbau an der dortigen Pädagogischen Hochschule für Ostchina. Nachdem sie die Kulturrevolution (1966 – 1976) mit ihren systematischen politischen Verfolgungen erlebt hatte und von der Praxis der kommunistischen Ideologie völlig enttäuscht war, entschied sie sich 1973 für die Ausreise. Sie hielt sich zunächst in Hongkong auf, ein Jahr später reiste sie weiter nach Kanada. 1979 ging sie in die USA und arbeitete dort als Forscherin und Beraterin im Bereich der Chinawissenschaften.

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Chen Sen 陈森

Chen Ruoxis frühe Werke sind stark von der westlichen Literatur beeinflußt. In Romanen wie Die Reise des Bali (Bali lücheng) und Qinzhis Onkel (Qinzhi jiujiu) stellt sie die grotesken Züge der Menschen und ihre krankhaften Phantasien heraus. Nachdem sie China verlassen hatte, widmete sie sich zunehmend politischen Themen. Die Novelle Die Exekution des Landrats Yin (Yin xianzhang) zum Beispiel reflektiert die Zeit der Kulturrevolution. WERKAUSGABEN: Chen Ruoxi zixuan ji, Taipeh: Lianjing, 1976; Yin xianzhang, Taipeh: Yuanjing, 1976; Yuanjian, Taipeh: Yuanjing, 1984; Chen Ruoxi zhongpian xiaoshuo xuan, Fuzhou: Haixia Wenyi, 1985. ÜBERSETZUNGEN: Die Exekution des Landrats Yin und andere Stories aus der Kulturrevolution, übers. von Melina Yam, Hamburg: Knaur, 1979; »Ein Gast aus der Heimat«, übers. von Lutz Bieg, in: Hefte für ostasiatische Literatur 7 (Juni 1988), S. 52–86; Heimkehr in die Fremde, übers. von u. R. Chen Chai-hsin u. Diethelm Hofstra, Unkel: Horlemann, 1991; »Die letzte Abendvorstellung«, übers. von Charlotte Dunsing, in: Blick übers Meer. Chinesische Erzählungen aus Taiwan, hg. von Helmut Martin, Charlotte Dunsing u. Wolf Baus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 203–217. SEKUNDÄRLITERATUR: Joseph S.M. Lau: »The Stories of Ch’en Juo-hsi«, in: Chinese Arts and Literature: A Survey of Recent Trends, hg. von Wai-lim Yip, Baltimore: School of Law, University of Maryland, 1977, S. 5‒16; Simon Leys: »Who is Chen Jo-hsi?«, in: Chen Jo-hsi: The Execution of Mayor Yin and Other Stories from the Great Proletarian Cultural Revolution, Bloomington: Indiana University Press, 1978, S. xxii‒xxviii; Richard M. McCarthy: »Chen Jo-hsi: Memoirs and Notes«, in: Renditions 10 (Autumn 1978), S. 90‒92; Kai-Yu Hsu: »A Sense of History: Reading Chen Jo Hsi’s Stories«, Chinese Fiction from Taiwan. Critical Perspectives, hg. von Jeannette L. Faurot, Bloomington: Indiana University Press, 1980, S. 206‒233; Two Writers and the Cultural Revolution: Lao She and Chen Jo-hsi, hg. von George Kao, Hongkong: Chinese University Press, 1980; Michael S. Duke: »Personae: Individual and Society in Three Novels by Chen Ruoxi«, in: Modern Chinese Women Writers. Critical Appraisals, hg. von Michael S. Duke, New York: M.E. Sharpe Inc., 1989, S. 53‒77. [WH]

Chen Sen 陈森 (zi: Xiaoyi, hao: Shihan, Cai yu shanren, ca. 1796 – ca. 1870), geb. in Changzhou (heute Provinz Jiangsu) Dem aus dem heutigen Changzhou stammenden Chen blieb in jungen Jahren der Erfolg bei den Beamtenprüfungen verwehrt. Daraufhin führte er nach eigenen Worten »ein Leben als nutzloser Herumtreiber«. Auf ausgedehnten Reisen besuchte er die Sehenswürdigkeiten des Landes. Sein bescheidener gesellschaftlicher Hintergrund machte ihm offenbar zu schaffen, denn er suchte nach eigener Auskunft häufig Zerstreuung in den Freudenhäusern. Die zahlreichen Besuche von Schauspielhäusern bilden den Hintergrund für den Roman Spiegel des Schauspielerlebens (Pinhua baojian). Nach der Abfassung der ersten 30 Romankapitel bis etwa zum

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Chen Shidao 陈师道

Jahr 1837 übte Chen eine Tätigkeit als Berater im südchinesischen Guangxi aus. In dieser Zeit arbeitete er zwar weiter am Roman, doch blieb das Werk nach wie vor unvollendet. Um 1847 verließ er Guangxi und machte sich auf den Weg nach Peking, um erneut an der Beamtenprüfung teilzunehmen. Er scheiterte allerdings ein weiteres Mal und vertiefte sich in den beiden folgenden Jahren in die Fertigstellung des Buches. Daneben ist von Chen noch ein Drama in 18 Szenen mit dem Titel Traum von Pflaumenblüten (Meihuameng) überliefert, in dem es um die Liebesgeschichte zwischen dem adligen Zhang Ruoshui und der Kurtisane Mei Xiaoyu geht. WERKAUSGABEN: Pinhua baojian, Shanghai: Shanghai Guji, 1990.

[TZ]

Chen Shidao 陈师道 (zi: Lüchang, Wuji, hao: Houshan, 1052 – 1102), geb. in Xuzhou (Provinz Jiangsu) Der mehr als Kritiker denn als Dichter einflußreiche Literat Chen Shidao war ein Zeitgenosse und Schüler (→) Huang Tingjians. Auf Empfehlung des Dichters (→) Su Shi konnte Chen Shidao, ohne je eines der staatlichen Beamtenexamina abgelegt zu haben, eine akademische Tätigkeit in Xuzhou aufnehmen. Es folgte jedoch eine unstete Laufbahn, während derer er mehrfach degradiert wurde. 1095 mußte er gar völlig mittellos in einem Kloster Xuzhous Zuflucht suchen. Im Jahre 1100 erinnerte man sich seiner bei Hofe und gab ihm zuletzt eine Anstellung als Korrektor in der kaiserlichen Bibliothek der Hauptstadt Kaifeng. Gemeinsam mit Huang Tingjian begründete Chen Shidao die Jiangxi-Gruppe (benannt nach Huang Tingjians Heimatprovinz), der man später einen »Hang zum Gelehrsam-Artifiziellen« (Günther Debon) bescheinigte. Die Dichter dieser Gruppe zelebrierten die Nachahmung der alten Meister – nach deren Verinnerlichung durch Einübung – und schufen aus Zitaten von und Anspielungen auf so große Vorbilder wie (→) Tao Yuanming, (→) Du Fu und (→) Li Bai im doppelten Wortsinn »gebildete« Gedichte, die nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern aufgrund ihrer Qualität und Originalität auch stilprägend waren. Ziel dieses gelehrten Stils war es, eine ideale Balance zwischen Imitation und Spontaneität zu erreichen. Die natürlichen Effekte der Vorbilder (etwa Tao Yuanmings puristische Schlichtheit) wurden dabei häufig mit einer durchaus gewollten und als reizvoll empfundenen Künstlichkeit erzeugt. In seinem poetologischen Werk Houshans Gespräche über die Dichtung (Houshan shihua) hat Chen Shidao die Thesen der Jiangxi-Gruppe theoretisch dargelegt. Zudem hinterließ er 140 Prosaschriften verschiedenster Art. In seiner eigenen Lyrik (überliefert sind 683 shi-Gedichte und 50 ci-Lieder) bevorzugte er das achtzeilige Regelgedicht (lüshi). Da ihm dabei die strenge Einhaltung der Form (hierbei nahm er sich besonders Du Fu zum Vorbild) wichtiger gewesen zu

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Chen Yingzhen 陈映真

sein scheint als der Inhalt, mußte er sich den Vorwurf mangelnder Authentizität gefallen lassen. WERKAUSGABEN: Houshan shihua, hg. von He Wenhuan, in: Lidai shihua, Bd. 1, Peking: Zhonghua Shuju, 1981; Houshan jushi wenji, Shanghai: Shanghai Guji, 1982; Houshan shi zhu bu jian, hg. von Mao Guangsheng u. Mao Huaixin, komm. von Ren Yuan, 2 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1995. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 355f.; Yoshikawa Kojiro: An Introduction to Sung Poetry, übers. von Burton Watson, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1967, S. 130‒132. [HP]

Chen Yingzhen 陈映真 (eig. Chen Yongshan, Pseudonym: Xu Nanshan, 1937 – ), geb. in Taipeh (Taiwan) Chen Yingzhen wuchs in Taipeh auf und studierte ab 1957 Anglistik an der Tamkang-Universität. Von 1959 an veröffentlichte er Erzählungen, so zum Beispiel »Mein jüngerer Bruder Kangxiong« (»Wo de didi Kangxiong«), »Der Dorflehrer« (»Xiangchun de jiaoshi«) und »Heimat« (Guxiang«). Später wirkte er als Mitherausgeber der Zeitschriften Theater (Juchang) und Literatur-Quartal (Wenxue jikan). 1968 wurde er von der taiwanesischen Regierung wegen des Lesens »illegaler Literatur« inhaftiert und erst 1975 entlassen. 1977 verfaßte er Artikel über den Stellenwert der Nationalliteratur und die sogenannte »Heimatliteratur« (xiangtu wenxue) in Taiwan und setzte so die Entwicklung dieses Genres in Taiwan in Gang. Die frühen Werke Chen Yingzhens haben das Leben der Intellektuellen in Taiwan und ihre Identitätskrise zum zentralen Thema. Sie durchzieht eine melancholische und destruktive Atmosphäre. Später konzentrierte er sich auf die präzise und realitätsnahe Beschreibung des Alltags und der Lebensbedingungen der Bevölkerung Taiwans. Werke wie Bergstraße (Shanlu) und Glockenblume (Lingdanhua) stehen für diese Tendenz. WERKAUSGABEN: Diyijian chaishi, Taipeh: Yuanjing, 1975; Jiangjun zu, Taipeh: Yuanjing, 1975; Yexing huoche, Taipeh: Yuanjing, 1976; Chen Yingzhen xiaoshuo xuan, Fuzhou: Fujian Renmin, 1983; Shanlu, Taipeh: Yuanjing, 1983. ÜBERSETZUNGEN: Exiles at Home. Stories by Ch’en Ying-chen, übers. von Lucien Miller, Ann Arbor: University of Michigan, 1986. SEKUNDÄRLITERATUR: Lucien Miller: »A Break in the Chain: The Short Stories of Ch’en Ying-chen«, in: Chinese Fiction from Taiwan. Critical Perspectives, hg. von Jeannette L. Faurot, Bloomington: Indiana University Press, 1980, S. 86‒109; Joseph S.M. Lau: »Ch’en Ying-chen and Other Native Writers«, in: Modern Chinese Fiction. A Guide to Its Study and Appreciation. Essays and Bibliographies, hg. von Winston L.Y. Yang u. Nathan K. Mao, Boston: G.K. Hall and Co., 1981, S. 79‒94; Joseph S.M. Lau: »Death

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Chen Yujiao 陈与郊 in the Void: Three Tales of Spiritual Atrophy in Ch’en Ying-chen’s Post-Incarceration Fiction«, in: Modern Chinese Literature 2 (1986), S. 21‒28; Anke Pieper: Der taiwanesische Autor Chen Yingzhen ‒ mit einer Übersetzung der Erzählung »Wolken«, Bochum: Brockmeyer, 1987; Lewis S. Robinson: »The Treatment of Christianity in the Fiction of Chen Yingchen«, in: Ching Feng: Quarterly Notes on Christianity and Chinese Religion and Culture 32, 1 (1989), S. 41‒81; Jeffrey Kinkley: »From Oppression to Dependency: Two Stages in the Fiction of Chen Yingzhen«, in: Modern China 16 (1990), S. 243‒ 268; Xiaobin Yang: »Telling (Hi)story: Illusory Truth or True Illusion«, in: Tamkang Review 21, 2 (1990), S. 127‒147; David Der-wei Wang: »Three Hungry Women«, in: Boundary 2, Special Issue, hg. von Rey Chow, 25, 2 (Fall 1998), S. 47‒76; Li-fen Chen: Fictionality and Reality in Narrative Discourse. A Reading of Four Contemporary Taiwanese Writers, Diss., University of Washington, 2000; Wen-shan Shieh: »Ideology, Sublimation, Violence: The Transformation of Heroines in Chen Ying-chen’s Suicidal Narratives«, in: Tamkang Review 32, 2 (Winter 2001), S. 153‒174. [WH]

Chen Yujiao 陈与郊 (zi: Guangye, hao: Yuyuan, Yuyang xianshi etc., Pseudonym: Gao Manqing, 1544 ‒ 1611), geb. in Haining (Provinz Zhejiang) Der Dramatiker entstammt einer begüterten Familie, die durch den Salzhandel zu Reichtum gekommen war. Aus ihr gingen später viele hohe Beamte hervor. Nach dem Bakkalaureus (xiucai) erwarb er 1567 den Magistertitel (juren) und 1574 das Doktorat (jinshi). Auch wenn es Chen Yujiao während seiner Beamtenlaufbahn u.a. zum Vizeminister des Amtes für die Opfer in Peking brachte, ist seine Karriere bis zu seinem Rückzug 1590 eher bescheiden zu nennen. Der Rückzug hat zum einen mit dem Tod der Mutter zu tun, nahm aber vor allem die Entlassung aus seinen Ämtern vorweg, die Chen 1592 wegen möglicher Bestechung bei Prüfungen in Peking hinnehmen mußte. Der Dramatiker nutzte die Muße, die er für seine schriftstellerische und editorische Karriere gewonnen hatte, zunächst für die Renovierung eines Landhauses in Haining, das Teil eines alten Gartens namens Yuyuan (so auch Chens Beiname) war. Seinen großen Reichtum hatte er nach 1605 jedoch dafür einzusetzen, um seinen Sohn aus dem Gefängnis freizubekommen. Dieser war in Tätlichkeiten zwischen Salzhändlern und der Kontrollbehörde verwickelt gewesen, wobei es zu einem Todesfall gekommen war. Der Sohn wurde dennoch erst 1615 aus der Haft entlassen. Chen Yujiao hat ein literarisches Werk hinterlassen, das aus Gelegenheitsliteratur (Lieder u.a. für bestimmte Anlässe) und Theaterstücken besteht. Es ist bislang nur schlecht zugänglich ediert und kommentiert worden. Der Autor hat vielleicht insgesamt vier – auch überlieferte – Romanzen (chuanqi) und fünf Mongolendramen (zaju) verfaßt. Von letzteren sind nur drei auf die Nachwelt gekommen. Alle seine Stücke behandeln bereits von Geschichte und Literatur tradierte Themen oder Begebenheiten. Man hat es in allen Fällen also mit einem Remake bzw.

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Chen Zi’ang 陈子昂

rewrite zu tun. Auffällig ist, daß die chinesische Sekundärliteratur den Mongolendramen den Vorzug vor den Romanzen gibt. WERKAUSGABEN: Zhaojun chusai, komm. von Shen Tai, Shanghai: Shanghai Guji, 2002; Wenji rusai, komm. von Zhang Yilin, Shanghai: Shanghai Guji, 2002. SEKUNDÄRLITERATUR: Katherine Carlitz: »Desire and Writing in the Late Ming Play ›Parrot Island‹«, in: Writing Women in Late Imperial China, hg. von Ellen Widmer u. Kang-I Sun-Chang, Stanford: Stanford University Press, 1997, S. 101‒130; Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 346‒350. [WK]

Chen Zi’ang 陈子昂 (zi: Boyu, 661 – 702), geb. in Xiehong (heute Provinz Sichuan) Der junge Dichter Chen Ziʼang hatte große Pläne, als er mit knapp 21 Jahren im Jahr 681, aus der westlichen Provinz Sichuan kommend, in der Hauptstadt Luoyang ankam. Eine Anekdote weiß zu berichten, daß er mit der Ankündigung eines Lautenkonzerts eine Menschenschar auf einen Marktplatz Luoyangs gelockt haben soll, nur um dann vor aller Augen das kostbare Instrument zu zertrümmern und zu verkünden, daß die Laute im Vergleich zu seiner Lyrik nichts wert sei. Dieser beeindruckende, an das Gebaren heutiger Rockstars erinnernde Auftakt brachte ihm zwar in der Folge ein Amt bei Hofe ein, garantierte jedoch noch keine steile Karriere. Zunächst war er ab 682 als Lektor in der Palastbibliothek angestellt, im selben Jahr versagte er im zentralen jinshi-Doktorexamen, bestand die Prüfung jedoch 684 im zweiten Anlauf. Wenige Jahre später wußte er die streng buddhistische, aber kunstsinnige Kaiserin Wu Zetian (reg. 690 – 705) für sich einzunehmen, doch dieses Verhältnis schlug seinerseits bald in Ablehnung um. Im Jahr 691 kehrte er in seinen Geburtsort Xiehong in der Provinz Sichuan zurück, um den Tod seiner Mutter zu betrauern. 693 wurde er als Zensor zur Rechten an den Hof zurückberufen. Fünf Jahre später verstarb sein Vater, und er kehrte wiederum nach Sichuan zurück, um dort die dreijährige Trauerzeit zu verbringen. Doch noch im Jahr 702 wurde er auf Geheiß des Cousins der Kaiserin, Wu Sansi, verhaftet und nach Changʼan gebracht, da er zu offen Kritik am grausamen Regierungsstil des WuClans geübt hatte. Chen Ziʼang verstarb mit nur 42 Jahren im Gefängnis, er wurde jedoch in seinem Heimatort Xiehong bestattet. Chens Zivilcourage und soziales Gewissen brachten ihm die Bewunderung späterer Dichterkollegen wie (→) Li Bai, (→) Du Fu, (→) Bai Juyi und noch in der Song-Zeit (→) Yuan Haowen ein. Mutiger als sein Vorläufer (→) Wang Bo, erteilte Chen der längst zum Stereotyp verkommenen, selbstverliebten »Lyrik im Palaststil« (gongtishi) eine Absage und propagierte die Rückkehr zur Ernsthaftigkeit der Han- (206 v.Chr. – 220 n.Chr.) und Wei-zeitlichen (220 – 265) Dichtung.

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Chen Zilong 陈子龙

Sein literaturkritisches Vermächtnis jener »Rückbesinnung auf das Altertum« (fugu), das zu Beginn des 9. Jahrhunderts die guwen-Bewegung der Dichter und Essayisten (→) Han Yu und (→) Liu Zongyuan inspirieren sollte, ist in der in pianwen-Prosa gehaltenen Vorrede zu seinem Gedicht »Hoher Bambus« (»Xiuzhupian«) enthalten. Unter den rund 120 überlieferten Gedichten erlangte sein Gedichtzyklus »Bewegt von meinen Erfahrungen« (»Ganyu«) besondere Berühmtheit, denn mit ihrer versteckten Kritik an Kaiserin Wu Zetian stehen diese 38 Gedichte beispielhaft für Chen Ziʼangs aufrechte Haltung. WERKAUSGABEN: Chen Ziʼang ji, hg. u. komm. von Xu Peng, Peking: Zhonghua Shuju, 1980; Quan Tang shi suoyin: Chen Ziʼang, Zhang Yue juan, hg. von Luan Guiming et al., Qinhuangdao: Xiandai, 1994. ÜBERSETZUNGEN: The Poetry of the Early T’ang, übers. von Stephen Owen, New Haven u. London: Yale University Press, 1977, S. 153‒223; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 7. SEKUNDÄRLITERATUR: Richard Man-Wui Ho: Ch’en Tzu-ang (661 ‒ 792): Innovator in T’ang Poetry, Diss., University of London, 1975; Chen Zi’ang yanjiu lunji, Peking: Zhongguo Wenlian, 1989; Wu Mingxian: Chen Zi’ang lunkao, Chengdu: Bashu Shushe, 1995. [HP]

Chen Zilong 陈子龙 (zi: Renzhong, Wozi, hao: Yifu, Dazun, 1608 – 1647), geb. in Songjiang (Shanghai) Der Literat und Dichter Chen Zilong führte kein zurückgezogenes Leben im Privaten, sondern hatte immer wieder große vor allem berufliche Herausforderungen zu bestehen. In seinem Handeln war schon in jungen Jahren ein gutes Maß an Widerstand gegen die überkommenen Sitten und die Gängelung durch die Obrigkeit zu erkennen, ein Wesenszug, der Chen in späteren Jahren zum Widerstandskämpfer gegen die mandschurischen Qing-Eroberer werden ließ. Die von Chen Zilong in jungen Jahren gegründete »Jishe«-Gesellschaft bestand auf moralischem Verhalten und ermutigte zur Kritik an der Regierung. Ungewöhnlich war auch seine Beziehung zu Liu Rushi (1618 – 1664), einer ambitionierten Frau, mit der er zunächst einen dichterischen Dialog pflegte und dann eine Zeitlang in »wilder Ehe« zusammenlebte, bis seine Familie auf der Trennung bestand. Die meisten Schriften in der Sammlung von der Halle des verbreiteten Taus (Pinglu tang ji) sind Liu Rushi gewidmet. Schon kurz, nachdem Chen 1637 erfolgreich die Prüfung zum Doktor (jinshi) abgelegt hatte, übertrug man ihm ein militärisches Amt. In den Kämpfen gegen die mandschurischen Eroberer jedoch unterlag er mit seinen Truppen immer wieder und versuchte schließlich noch von Südchina aus den Widerstand gegen die Qing zu organisieren. Nach seiner Gefangennahme ertränkte er sich in einem Fluß.

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Chi Li 池莉

Literarisch gilt Chen, der ein umfangreiches Werk hinterlassen hat, als einer der letzten Vertreter des klassischen Stils, der zur Mitte der Ming-Zeit (1368 – 1644) blühte. Hervorzuheben sind seine Prosagedichte (fu), in denen er immer wieder auf die großen Veränderungen während der letzten Jahre der MingDynastie eingeht und die Leiden und Unsicherheiten zur Zeit des Herrschaftsniedergangs beschreibt. Daneben verdienen die Zusammengefaßten Berichte ausgedehnter Reisen (Manyou jilüe) Beachtung. WERKAUSGABEN: Chen Zilong shiji, Shanghai: Shanghai Guji, 1983; Chen Zhongyu quanji, 2 Bde., Shanghai: Huadong Shifan Daxue, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Zhu Dongrun: Chen Zilong ji qi shidai, Shanghai: Shanghai Guji, 1984; Sun Kangyi: Chen Zilong Liu Rushi shici qingyuan (The late-Ming poet Chʼen Tzu-lung: Crisis of love and loyalism), Taipeh: Yunchen Wenhua Shiye, 1992. [TZ]

Chi Li 池莉 (1957 – ), geb. in Wuhan (Provinz Hubei) Chi Li war Grundschullehrerin auf dem Land, bevor sie in Wuhan Medizin und später Chinesische Sprache und Literatur studierte. Während sie in einer Fabrik als Betriebsärztin arbeitete, begann sie zu schreiben. Zunächst beschrieb sie das Leben der jungen Menschen, die aufs Land geschickt wurden, um dort körperliche Arbeit verrichten. Mit der Novelle Du bist ein Fluß (Ni shi yi tiao he) machte sie zum ersten Mal auf sich aufmerksam. Der endgültige Durchbruch gelang ihr dann mit der Novelle Das sorgenvolle Leben (Fannao rensheng). Chi Li wurde Berufsschriftstellerin in Wuhan und veröffentlichte Werke wie Kommen und Gehen (Lailai wangwang) und Guten Tag, Fräulein (Xiaojie, ni hao). Chi Lis Augenmerk richtete sich auf die junge Generation, die gerade die Kulturrevolution (1966 – 1976) und somit eine leidvolle Zeit hinter sich hatte und nun einer Zeit voller Veränderungen und Neuerungen begegnete. Diese Folgezeit war nicht weniger schmerzvoll als die Zeit davor. Die Positionierung in der Gesellschaft wurde für die Jugendlichen zu einem Kampf mit den sozialistischen Wertvorstellungen und nicht zuletzt auch mit sich selbst. Chi Li hat mit ihrem literarischen Schaffen die Richtung des neuen Realismus maßgeblich mitbestimmt. WERKAUSGABEN: Chi Li wenji, 6 Bde., Nanjing: Jiangsu Wenyi, 1995 ‒ 1998. ÜBERSETZUNGEN: Apart from Love, Peking: Panda, 1994. SEKUNDÄRLITERATUR: Eva Müller: »Postmoderne Entwicklung in der chinesischen Literatur und das Werk chinesischer Erzählerinnen der Gegenwart«, in: Chinesisches Selbstverständnis und kulturelle Identität, hg. von Christiane Hammer u. Bernhard Führer, Dortmund: projekt verlag, 1996, S. 157‒170; Lily Xiao-hong Lee: »Localization and Globalization: Dichotomy and Convergence in Chi Liʼs Fiction«, in: Canadian Review of Comparative Literature Dec. 1997, S. 913‒926. [WH]

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Dai Mingshi 戴名世

Dai Mingshi 戴名世 (zi: Tianyou, Hefu, hao: Yueshen, Youʼan, 1653 – 1713), geb. in Tongcheng (heute Provinz Anhui) In bescheidenen Verhältnissen schon zu Qing-Zeiten (1644 – 1911) geboren, hing Dai mit seinem Herzen noch an den Ming und hegte lange den Wunsch, die Geschichte der untergegangenen Dynastie zu verfassen. Im Jahre 1709 ging er erfolgreich aus der jinshi-Prüfung zum Doktor hervor und erhielt ein Amt in der HanlinAkademie. Er fiel jedoch bei Hofe in Ungnade, als man in seiner Sammlung vom Südberg (Nanshan ji) aufrührerische Schriften ausmachte. Er wurde 1711 verhaftet und zwei Jahre darauf auf Befehl des Kangxi-Kaisers (reg. 1661 – 1722) hingerichtet. Der Vorfall zog weite Kreise und führte zur ersten literarischen Inquisition während der frühen Jahre der Qing-Dynastie, der mehr als dreihundert Menschen zum Opfer fielen, darunter viele Mitglieder der Tongcheng-Schule, der auch Dai Mingshi als prominentes Mitglied angehörte. Es ist dem Mut eines Clan-Angehörigen Dais zu verdanken, daß seine Schriften auch nach der Inquisition erhalten blieben und in der Vollständigen Sammlung des Herrn Dai vom Südberg (Dai Nanshan xiansheng quanji) wieder herausgegeben wurden. Berühmtheit erlangte Dai Mingshi vor allem mit seiner Prosa, die in einer klaren, unprätentiösen Sprache verfaßt ist und sich durch gedankliche Tiefe auszeichnet. Viele von Dais Texten sind kunstvolle Klagen über die Zeit, wobei er stets die Vergangenheit aufleben läßt. Erwähnenswert sind auch seine Reiseschriften, in denen er im Gegensatz zu vielen anderen Gelehrten nicht vorrangig die Schönheit der Landschaft und der besuchten Sehenswürdigkeiten preist, sondern die Mühsal des Reisens schildert. WERKAUSGABEN: Dai Mingshi ji, hg. von Wang Shumin, Peking: Zhonghua Shuju, 2000. SEKUNDÄRLITERATUR: Xu Wenbo u. Shi Zhongyang: Dai Mingshi lungao, Hefei: Huangshan Shushe, 1985. [TZ]

Dai Wangshu 戴望舒 (eig. Dai Chaolai, Dai Meng’ou, 1905 – 1950), geb. in Hangxian (Provinz Zhejiang) Bereits als Schüler beteiligte sich Dai Wangshu an der Initiierung und Organisation eines Literaturkreises und verfaßte eigene Gedichte. Ab 1923 studierte er zunächst an der Universität Shanghai Literaturwissenschaft, später an der Zhendan-Universität in Shanghai Romanistik. 1926 begann er seine Gedichte zu veröffentlichen. 1928 gab er gemeinsam mit (→) Shi Zhecun, Du Heng und Feng Xuefeng die Zeitschrift Literarische Werkstatt (Wenxue gongchang) heraus. 1929 erschien sein erster Gedichtband Meine Erinnerungen (Wo de jiyi), das Gedicht »Regengasse« (»Yuxiang«) erlangte Berühmtheit. Dai Wangshu wirkte in der Folge an verschiedenen Literaturzeitschriften mit. Während des Krieges gegen Japan (1937 – 1945)

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Deng Youmei 邓友梅

war er als Redakteur in Hongkong tätig und wurde während der Besatzung zeitweise inhaftiert. Aus dieser Zeit stammen Gedichte wie »Aufschrift an der Wand im Gefängnis« (»Yuzhong tibi«) und »Wille« (»Xinyuan«). Nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1950 war Dai Wangshu in der Zentrale für Nachrichten als Übersetzer tätig. Dai Wangshus Gedichte kann man in verschiedene Phasen einteilen. In der Anfangszeit war sein Schaffen geprägt vom französischen Symbolismus. Die poetische Stimmung ist gekennzeichnet von Gefühlen der Orientierungslosigkeit und Sehnsucht. In den Gedichten »Sorge« (»Youfan«), »Der geschlossene Garten« (»Shenbi de yuanzi«), »Traumsucher« (»Xunmengzhe«) und »Paradiesvogel« (»Leyuan niao«) ist dies deutlich zu erkennen. In den späteren Gedichten nach dem Ausbruch des Krieges verarbeitete er seine Trauer um die im Krieg gefallenen Freunde und sein Gefühl der Heimatlosigkeit. Neben seinem eigenen Schaffen übersetzte Dai Wangshu auch zahlreiche literarische Werke ausländischer Autoren. WERKAUSGABEN: Dai Wangshu yishi ji, Changsha: Hunan Renmin, 1983; Dai Wangshu shi quanbian, Hangzhou: Zhejiang Wenyi, 1989. ÜBERSETZUNGEN: »13 Gedichte in dt. Übers.«, in: Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919 ‒ 1984, hg. u. übers. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. SEKUNDÄRLITERATUR: Gregory Lee: »Western Influences in the Poetry of Dai Wangshu«, in: Modern Chinese Literature 3, 1/2 (1987), S. 7‒32; Gregory Lee: Dai Wangshu. The Life and Poetry of a Chinese Modernist, Hongkong: The Chinese University Press, 1989; Ingrid Krüßmann-Ren: Literarischer Symbolismus in China. Theoretische Rezeption und lyrische Gestaltung bei Dai Wangshu (1905 ‒ 1950), Bochum: Brockmeyer, 1990 [mit Übers.]; Erol Güz: »Dai Wangshu in Spain«, in: minima sinica 1/2001, S. 100‒ 138; Jiayan Mi: Self-Fashioning and Reflexive Modernity in Modern Chinese Poetry, Lewiston, New York: Edwin Mellen, 2004. [WH]

Deng Youmei 邓友梅 (Pseudonyme: You Mei, Fang Wen, Jin Zhi, 1931 – ), geb. in Pingyuan (Provinz Shandong) Mit nur elf Jahren trat Deng Youmei 1942 der Achten Armee bei. Als kurze Zeit später sein tatsächliches Alter entdeckt wurde, wurde er wieder nach Hause geschickt. Dort geriet er in die Hände von Menschenhändlern, wurde nach Japan verschleppt und mußte dort Zwangsarbeit verrichten. Nach Kriegsende kam er erneut in die chinesische Armee und arbeitete für das dortige Nachrichtensystem sowie als Journalist. Das Lesen und Schreiben hatte er sich durch Selbststudium beigebracht. In der Armee wurde er in der Literaturakademie des Zentralkomitees für die Aktion zur Beseitigung des Analphabetismus weiter geschult. 1949 verließ

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Ding Ling 丁玲

er die Armee, schrieb für das Volkstheater und wurde Mitglied der Schriftstellervereinigung in Peking. 1956 kam sein Erstlingswerk Unter der Klippe (Zai xuanya xia) heraus, durch das er bekannt wurde. Nur ein Jahr später wurde er als »Konterrevolutionär« in die Verbannung geschickt. Erst ab 1976 konnte er sich wieder seiner literarischen Arbeit widmen. Werke wie Über den Taoran-Pavillon (Huashuo Taoranting), Der Mond über dem Liang-Berg (Liangshan yue) und Das Schnupftabakfläschchen (Yanhu) sind in dieser Zeit entstanden. Deng Youmeis Stärke liegt in der treffsicheren Charakterisierung der Figuren in ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld. Seine Sprache ist schlicht, aber dennoch klangvoll und voller Dynamik. Seine Werke begründeten eine besondere Stilrichtung, die sich der Suche nach Identität und den kulturellen Wurzeln widmete. WERKAUSGABEN: Deng Youmei duanpian xiaoshuo xuan, Peking: Beijing Chubanshe, 1981; Zaoshi de ai, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1982; Jingcheng neiwai, Beijing: Renmin Wenxue, 1985; Yanhu, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1985; Deng Youmei xiaoshuo xuan, Chengdu: Sichuan Wenyi, 1987; Deng Youmei zixuan ji, Peking: Xinhua Shudian, 1995. ÜBERSETZUNGEN: Snuff-Bottles and Other Stories, übers. von Gladys Yang, Peking: China Books, 1987; Das Schnupftabakfläschchen, übers. von Günther Appoldt, Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur, 1990; Phönixkinder und Drachenenkel. Bilder aus dem alten Peking, übers. von Ulrich Kautz, Berlin: Aufbau, 1990, S. 5‒221. SEKUNDÄRLITERATUR: Gladys Yang: »Deng Youmei and His Fiction«, in: The Time is Not Ripe. Contemporary China’s Best Writers and Their Stories, hg. von Yang Bian, Peking: Foreign Languages Press, 1991, S. 41‒47; Klaus G. Müller: Eine Prise China. Schnupftabakflaschen, Spiegel der chinesischen Seele, Wien u.a.: Böhlau, 1999. [WH]

Ding Ling 丁玲 (eig. Jiang Bingzhi, Pseudonyme: Bing Zhi, Cong Xuan, Jiang Wei, Meng Ke etc., 1904 – 1986), geb. in Linfeng (Provinz Hunan) Ding Ling kam in einer verarmten Grundbesitzerfamilie zur Welt und verlor mit vier Jahren ihren Vater. Ihre Mutter mußte daher arbeiten, was in der damaligen Zeit eine Seltenheit war. Bereits in der Schulzeit kam Ding Ling mit den Ideen und Idealen der Bewegung des 4. Mai (1919) in Berührung und war davon stark beeinflußt. 1922 zog sie mit ihrer Mutter nach Shanghai und besuchte dort eine Mädchenschule. Später studierte sie an der Universität Shanghai Chinesische Sprache und Literatur. 1927 erschien ihre erste Erzählung »Meng Ke« (»Meng Ke« [Eigenname]) in der Monatsschrift für Erzählkunst (Xiaoshuo yuebao). Die Novelle Das Tagebuch der Sophia (Shafei nüshi de riji) machte sie bekannt. 1930 wurde sie Mitglied der Liga linker Schriftsteller und trat 1932 der Kommunistischen Partei bei, nachdem ihr Lebensgefährte Hu Yepin von der Guomindang

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Ding Ling 丁玲

hingerichtet worden war. Werke wie Wasser (Shui) und Mutter (Muqin) entstanden in dieser Zeit. 1933 wurde sie von der Guomindang verschleppt und in Nanjing in Gefangenschaft gehalten. 1936 floh sie mit Hilfe der Kommunistischen Partei nach Yanʼan in Nord-Shaanxi, in die Region der Kommunisten. Dort engagierte sie sich in verschiedenen literarischen und künstlerischen Projekten. Später ging sie aufs Land, um literarische Stoffe für ihre Werke zu sammeln. Hieraus entstanden Werke wie Die Nacht (Ye), Während ich im Dorf der Morgendämmerung war (Wo zai xiacun de shihou) und Sonne über dem Sanggan (Taiyang zhao zai Sangganhe shang). Nachdem Ding Ling bereits 1955 und 1957 wiederholt als »politische Abweichlerin« kritisiert worden war, wurde sie 1958 schließlich für zwölf Jahre in einem Arbeitslager in Nordchina inhaftiert. Danach wurde sie zu weiteren fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt und nach Peking gebracht. Erst 1979 wurde sie politisch rehabilitiert und bekleidete verschiedene Positionen in den staatlichen Behörden für Literatur und Kunst. Ding Lings literarisches Schaffen durchlief drei wichtige Phasen: In Werken wie Das Tagebuch der Sophia beschreibt sie den Kummer und die Ausweglosigkeit der gebildeten Jugend im China der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts und insbesondere die emanzipatorische Entwicklung der weiblichen Hauptfigur. Danach widmete sie sich der Literatur im Sinne der politischen Linken und machte das Leben des größten Teils der chinesischen Bevölkerung in Armut, sozialer Ungerechtigkeit und der Ausbeutung durch korrupte Beamte zum Thema; ihre späteren Werke sind geprägt von ihren sowohl enthustiastischen als auch bitteren Erfahrungen als überzeugter Kommunistin. Die Wandlung von einer nostalgischen und melancholischen Schriftstellerin zu einer hartnäckig durch die kommunistische Ideologie geprägten Autorin ist enorm. Noch während ihrer Aufenthalte im Arbeitslager und im Gefängnis verfaßte sie Artikel, in denen sie ihre Erinnerungen an die Kulturrevolution und die verschiedenen politischen Ereignisse literarisch verarbeitete. Ding Ling ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Chinas seit der Bewegung des 4. Mai. Durch ihre Werke wurden zum ersten Mal Selbstbewußtsein, Freiheit und Individualität der Frau Thema der literarischen Reflexion. WERKAUSGABEN: Dingling wenji, 6 Bde., Changsha: Hunan Renmin, 1982 ‒ 1984; Ding Ling quanji, Shijiazhuang: Hebei Renmin, 2001. ÜBERSETZUNGEN: Sonne über dem Sanggan, aus dem Russischen übers. von Arthur Nestmann, Berlin: Dies, 1952; Das Tagebuch der Sophia, übers. vom Arbeitskreis Moderne Chinesische Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, Neuauflage 1987, erweitert durch ein Nachwort von Wolfgang Kubin; Miss Sophia’s Dairy and Other Stories, übers. von W.J.F. Jenner, Peking: Panda Books, 1985; Hirsekorn im blauen Meer. Erzählungen, übers. von Yang Enlin u. Konrad Herrmann, Köln: Pahl-Rugenstein, 1987; Jahreszeiten einer Frau, übers. von Michaela Herrmann, mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Freiburg u.a.: Herder, 1991.

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Ding Xilin 丁西林 SEKUNDÄRLITERATUR: Gary J. Bjorge: Ting Ling’s Early Years: Her Life and Literature through 1942, Diss., University of Wisconsin, 1977; Wolfgang Kubin: »Ding Ling’s Yan’an Short Story ›The Night‹ (1940)«, in: La litterature Chinoise au Temps de la Guerre de Resistance contre le Japon, Paris: Editions de la Fondation Singer-Polignac, 1982, S. 147‒153; Wolfgang Kubin: »Sexuality and Literature in the People’s Republic of China. Problems of the Chinese Woman before and after 1949 as seen in Ding Ling’s ›Diary of Sophia‹ (1928) and Xi Rong’s story ›An Unexceptional Post‹ (1962)«, in: Essays in Modern Chinese Literature and Literary Criticism, hg. von Wolfgang Kubin u. Rudolf G. Wagner, Bochum: Brockmeyer, 1982, S. 168‒191; Yi-tsi Mei Feuerwerker: Ding Ling’s Fiction. Ideology and Narrative in Modern Chinese Literature, Cambridge: Harvard University Press, 1982; Xincun Huang: »Politics, Gender and Literary Writings: A Study of Ding Ling in the Early 1940s«, in: Journal of Asian Culture 14 (1990), S. 33‒54; Liangpei Zhou: Ding Ling zhuan, Peking: Beijing Shiyue Wenyi, 1993; Ying-ying Chien: »Women Crossing the Wild Zone: Sexual/Textual Politics in the Fiction of Ding Ling and Li Ang«, in: Fu Jen Studies 28 (1995), S. 1‒17; Man Wa Lo: »Female Selfhood and Initiation in Shen Congwen’s The Border Town and Ding Ling’s The Girl Ah Mao«, in: Chinese/International Comparative Literature Bulletin 1/1996, S. 20‒33; Shunzhu Wang: »The Double-Voiced Feminine Discourses in Ding Ling’s ›Miss Sophie’s Diary‹ and Zora Neale Hurston’s Their Eyes Were Watching God«, in: Tamkang Review 27, 1 (1997), S. 133‒158; Amy Tak-yee Lai: »Liberation, Confusion, Imprisonment: The Female Self in Ding Ling’s ›Diary of Miss Sophie‹ and Zhang Jie’s ›Love Must Not Be Forgotten‹«, in: Comparative Literature and Culture 3 (September 1998), S. 88‒103; Jin Feng: »The ›Bold Modern Girl‹: Ding Ling’s Early Fiction«, in: dies.: The New Woman in Early Twentieth-Century Chinese Fiction, West Lafayette: Purdue University Press, 2001, S. 149‒170; Charles J. Alber: Embracing the Life. Ding Ling and the Politics of Literature in the PRC, Westport, CT: Praeger, 2004. [WH]

Ding Xilin 丁西林 (eig: Ding Xielin, zi: Xunfu, Pseudonym: Xilin, 1893 ‒ 1974), geb. in Huangqiao (Kreis Taixing, Provinz Jiangsu) Ding Xilin war als Komödienschreiber wie als Akademiker gleichermaßen erfolgreich. Von 1914 bis 1920 studierte er an der Universität Birmingham Physik und Mathematik und begann nach seiner Rückkehr nach China an der Universität Peking eine Karriere als Dozent und dann Professor für Physik. Später war er zeitweilig Direktor des Instituts für Physik der Academia Sinica. Während des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) floh er in das von den Nationalisten kontrollierte Gebiet Südchinas und lebte abwechselnd in verschiedenen Städten (u.a. Kunming, Guilin, Hongkong und Guangzhou). Nach der Gründung der Volksrepublik China bekleidete er diverse hohe kulturelle Ämter, u.a. als stellvertretender Kulturminister (1949 – 1958), und reiste als Leiter kultureller Delegationen wiederholt ins Ausland.

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Seine Leidenschaft für das Theater entwickelte Ding während des Studiums in England, wo er u.a. die Stücke von Ibsen, Shaw und Wilde kennenlernte. Mit seinen sieben kurzen, sehr erfolgreichen Einaktern – allesamt Komödien – aus den Jahren 1923 bis 1941 etablierte er sich dann als Meister des leichten, humorvollen Konversationsstücks, das sich gerade durch den Verzicht auf ideologische Botschaften wohltuend von anderen zeitgenössischen Stücken abhob. Erst während des Chinesisch-Japanischen Krieges stellte er sich mit zwei abendfüllenden Stücken (1961 folgte noch ein drittes) stärker in den Dienst der Politik, ohne auf seinen komischen Grundton zu verzichten. So verbindet er in Der Miaofeng-Berg (Miaofengshan, 1941), einer Komödie in vier Akten, Romanze und antijapanischen Widerstand, angesiedelt in einem heroischen Räuberumfeld, das an den klassischen Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) erinnert. Das Stück entfaltet durchaus einigen Charme; dennoch gelang Ding die Synthese von Komik und Politik nicht in den Mehraktern am besten, sondern in seinem letzten Einakter Drei chinesische Yuan (San kuai qian guobi, geschrieben 1939, überarbeitet und veröffentlicht 1941). Viel typischer für sein Werk indes ist das sehr erfolgreiche Debüt Die Wespe (Yizhi mafeng, 1923), und das in mehrfacher Hinsicht: Sparsam in der Handlung und in der Zahl seiner Figuren, konzentriert es sich auf einen lebendigen, witzigen Dialog, der zielsicher zur finalen Pointe führt; es wirft ein mildes satirisches Licht auf das zeitgenössische chinesische Bürgertum, vor allem auf die Beziehung zwischen Mann und Frau; und es verrät des Autors Vorliebe für die englische Sittenkomödie, zumal für den Wortwitz Oscar Wildes. Eine der Hauptfiguren, der junge Herr Ji, wirkt denn auch wie ein Geistesbruder von Lord Goring, dem sensiblen Dandy in Wildes Komödie An Ideal Husband. Mit Lord Goring teilt der junge Ji auch das eingefleischte Junggesellentum: Unter der Ehe stumpfe nur der Sinn fürs Schöne ab. Als seine resignierte Mutter ausgerechnet die Ehe zwischen dem ebenso hübschen wie patenten Fräulein Yu, in das sich ihr Sohn verliebt hat, und ihrem heiratsbegierigen Neffen anzubahnen versucht, läßt sich Ji zur komischen Umkehrung eines Heiratsantrags hinreißen: »Leisten Sie mir Gesellschaft beim Nicht-heiraten-Wollen!« Gerührt willigt Fräulein Yu ein. Auf eine bemerkenswert leichte, spielerische Weise behandelt das Stück zeitgenössische Fragen wie Frauenemanzipation, Heirat und Ehe und schlägt sich dabei weder auf die Seite der gemäßigt-konservativen Mutter noch auf die Seite des Sohnes, der sich bei allem sonstigen Freidenkertum mit seinem dogmatischen Junggesellentum nur selbst im Weg steht. Auch in seinem bekanntesten Stück, Unterdrückung (Yapo, geschrieben 1925, erschienen 1926), das zu Recht als sein bestes gilt, spielt Ding Xilin mit ideologischen Versatzstücken: Der Schlachtruf wider die »Unterdrückung« durch die »besitzende Klasse« erschallt ausgerechnet aus dem Mund des (Klein-)Bürgertums, nicht des Proletariats. Und auch hier behandelt der Autor ein soziales Problem – in diesem Fall die Wohnungsnot –, ohne das Theater zur moralischen Anstalt zu

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erheben. Ein Mann und eine Frau, beide auf Wohnungssuche, verfallen darauf, sich als Ehepaar auszugeben, weil die Vermieterin nur an einen verheirateten Mann vermieten will. Das Stück ist reich an dramatischer Ironie, Verwechslungen, Doppelbödigkeiten und erotischen Untertönen. Am weitesten treibt Ding Xilin sein Spiel mit Rollen, Ideologien und Identitäten in Mein geliebter Mann (Qinʼaide zhangfu, 1924). Herr Ren, ein gutsituierter Dichter, lebt seit zwei Monaten glücklich mit seiner neuen Frau zusammen. Daß diese sich jede Nacht in ihr Zimmer einschließt, stört ihn nicht weiter. Erst als ein Warlord für eine private Opernaufführung sämtliche namhaften Pekinger Opernsänger zwangsrekrutiert, kommt zutage, wer »Frau Ren« wirklich ist: ein auf weibliche Rollen spezialisierter Opernsänger (was damals nichts Ungewöhnliches war). Nur im ersten Moment schockiert, dann von Trauer überwältigt, bittet der Ehemann seine »Frau« inständig, bei ihm zu bleiben. »Sie« jedoch blickt – wehmütig, aber gefaßt – der Tatsache ins Auge, daß ihnen nun, da »ihre« Identität ans Licht gekommen ist, nur die Trennung bleibt. Die soziale Ordnung ist damit äußerlich wiederhergestellt, der Tabubruch aber bleibt bestehen: Der männliche Sänger hat nicht nur auf der Theaterbühne, sondern auch auf der Bühne des wirklichen (Ehe-) Lebens die bessere, ja »ideale Frau« abgegeben. Der Autor beläßt es nicht bei der Satire auf den lebensfremden Literaten, der sich bis zuletzt an das häusliche Glück mit seiner liebenden »Frau« klammert, sondern er hebelt zugleich auch sozial fixierte Geschlechterrollen aus – eine Provokation, die nur im komischen Gewand durchgehen konnte. Dabei gibt er seine Figuren nie der Lächerlichkeit preis, und so mischt sich in die Komik Tragik. Bei allen aufklärerischen Absichten, die man in seinem Werk finden mag, wollte der Autor doch vor allem eins: unterhalten. Als einem Meister des natürlichen, lebendigen, pointenreichen Dialogs ist ihm dies glänzend gelungen. Ding Xilin darf deshalb für sich beanspruchen, der erste und einzige Komödienschreiber von Rang in der modernen chinesischen Literatur zu sein. WERKAUSGABEN: Ding Xilin juzuo quanji, 2 Bde., Peking: Zhongguo Xiju, 1985; Ding Xilin daibiao zuo, Peking: Huaxia, 1999. ÜBERSETZUNGEN: »The Oppressed«, übers. von Ku Tsong-nee, in: ders. (Hg.): Modern Chinese Plays, Shanghai: Commercial Press, 1941, S. 55–74; »Oppression«, übers. von Joseph S.M. Lau, in: Renditions 3 (Autumn 1974), S. 117–124 [auch in: TwentiethCentury Chinese Drama. An Anthology, hg. von Edward Gunn, Bloomington: Indiana University Press, 1983, S. 41–51]; »Flushed with Wine«, übers. von John B. Weinstein u. Carsey Yee, MCLC Resource Center Publication, 2004, http://mclc.osu.edu/rc/pubs/ ding.htm [mit Einleitung u. Video einer Aufführung]; »Unterdrückung. Ein Einakter«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2005, S. 96–115; »Die Wespe. Ein Einakter«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2006, S. 125–146; »Trunken. Ein Einakter«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 1/2007, S. 88–98; »Dear Husband«, übers. von Bonnie S. McDougall u. Flora Lam, in: Renditions 69 (Spring 2008), S. 62–75; »Drei chinesische Yuan. Ein Einakter«, übers. von Marc Hermann, in:

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Ding Yaokang 丁耀亢 minima sinica 1/2008, S. 78–91; »Mein geliebter Mann. Ein Einakter«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2008, S. 67–89; »Three Dollars in National Currency: A One-Act Comedy by Ding Xilin«, übers. von Christopher G. Rea, in: Asian Theatre Journal 25, 2 (Fall 2008), S. 173–192 [mit Einleitung, S. 173–182]; »Auf einem Auge blind. Eine Komödie in einem Akt«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 1/2010, S. 126–139; »Pekinger Luft. Eine Komödie in einem Akt«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2010, S. 99–110; »Oppression«, übers. von John B. Weinstein u. Carsey Yee, in: The Columbia Anthology of Modern Chinese Drama, hg. von Xiaomei Chen, New York: Columbia University Press, 2010, S. 152–164; »A Wasp«, übers. von John B. Weinstein u. Carsey Yee, in: ebd., S. 137–151. SEKUNDÄRLITERATUR: Chen Shouzhu: Lun Ding Xilin de xiju, Hongkong: Huaju Yanjiushe, 1976; Joseph S.M. Lau: »›Oppression‹ as a Situational Comedy«, in: Critical Essays on Chinese Literature, hg. von William H. Nienhauser, Hongkong: Chinese University of Hong Kong, 1976, S. 113–134; Ding Xilin yanjiu ziliao, hg. von Sun Qingsheng, Peking: Zhongguo Xiju, 1986; Li Xue: Ding Xilin, Peking: Huaxia, 2000; Shen Huiying: Ding Xilin xiju zuopin xinshang, Hongkong: Kehua Tushu, 2001; John B. Weinstein: »Ding Xilin and Chen Baichen. Building a Modern Theater through Comedy«, in: Modern Chinese Literature and Culture 20, 2 (Fall 2008), S. 92–130; Ruth Herd u. Jian Zhang: »Wildean Echoes in the Plays of Ding Xilin«, in: Modern Chinese Literature and Culture 22, 1 (Spring 2010), S. 162–196. [MH]

Ding Yaokang 丁耀亢 (zi: Xisheng, hao: Yehe, 1599 – ca. 1669/1671), geb. in Zhucheng (Provinz Shandong) Ding entstammte einer Beamtenfamilie, doch erhielt er aufgrund der unsicheren Zeitumstände zu Ende der Ming-Dynastie erst in späteren Jahren einen Beamtenposten. Für Männer aus der Generation Dings war es zudem erforderlich, daß sie nach dem Sturz der Ming 1644 die neue Herrschaft der Mandschuren anerkannten. Ding bewies seine Loyalität gegenüber den Qing, indem er 1647 nach Peking kam und sich als Tutor in das Weiße Mandschu-Banner aufnehmen ließ. Gemeinsam mit hohen Beamten und Adligen fand er bald auch Aufnahme in die örtlichen Dichterzirkel. Im Jahre 1654 übertrug man ihm eine amtliche Stelle als Lehrer, 1659 ernannte man ihn zum Präfekten von Huiʼan, von wo er sich im Jahr darauf in den Ruhestand zurückzog. Ding Yaokang war literarisch überaus produktiv und verfaßte vor dem Hintergrund des Dynastiewechsels ein Buch mit dem Titel Geschichte des Himmels (Tianshi), in dem es um die Darstellung guter und schlechter Erscheinungen in der Geschichte geht. Wann Ding seine Arbeit an der Fortsetzung zum Jin Ping Mei (Xu Jin Ping Mei) aufnahm, ist unklar, doch wie aus Vorwortdatierungen hervorgeht, muß das Buch spätestens 1660 fertig vorgelegen haben. Unter dem Vorwurf, darin anzügliche Bemerkungen gemacht zu haben, wurde Ding 1665 festgenommen und mußte einen viermonatigen Gefängnisaufenthalt über sich er-

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Dong Jieyuan 董解元

gehen lassen. Das Buch wurde auf den Index gesetzt, ebenso erging es später seiner Anthologie mit dem Titel Unbeschwerte Reisen (Xiaoyaoyou). Möglicherweise hat Ding seine Lage beschönigt, doch manche Schilderungen in seinen Gedichten erwecken den Eindruck, als habe er eine recht unbeschwerte Haft durchlebt und sich gemeinsam mit den Wärtern am Wein und an der Dichtkunst erfreut. WERKAUSGABEN: Xu Jin Ping Mei, in: Jin Ping Mei xushu san zhong, Jinan: Qilu Shushe, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Ding Yaokang yanjiu: Haixia liang an Ding Yaokang xueshu yantaohui lunwenji, hg. von Li Zengpo, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1998. [TZ]

Dong Jieyuan 董解元 (fl. 1200) Über den Verfasser der Ballade vom Westzimmer (Xixiang ji zhugongdiao) ist nur bekannt, daß er während der Herrschaft des Jin-Kaisers Zhangzong (reg. 1190 ‒ 1208) gelebt und gewirkt haben soll. Wir kennen lediglich seinen Familiennamen, denn Jieyuan ist ein akademischer Titel (Bakkalaureus) bzw. eine höfliche Anrede (Meister). Die Ballade stellt ein Bindeglied zwischen der Tang-Novelle »Goldamsel« (»Yingying zhuan«) von (→) Yuan Zhen (799 ‒ 831) und dem Mongolendrama (zaju) Das Westzimmer (Xixiang ji) von (→) Wang Shifu (13. Jahrhundert) insofern dar, als sie den Plot vom Problem einer scheiternden Liebe zu einem Happyend verlagert. WERKAUSGABEN: Xixiang ji zhugongdiao; Shanghai: Shanghai Guji, 1984. ÜBERSETZUNGEN: Master Tung’s Western Chamber Romance, übers. von Li-li Ch’en: Cambridge et al.: Cambridge University Press, 1976. SEKUNDÄRLITERATUR: Kin Bunkyō: »Elapse of Time and Seasons in Dongjieyuan Xixiangji«, in: Love, Hatred, and Other Passions. Questions and Themes on Emotions in Chinese Civilization, hg. von Paolo Santangelo u. Donatella Guida, Leiden, Boston: Brill, 2006, S. 229‒240. [WK]

Dong Yue 董说 (zi: Ruoyu, hao: Xiʼan, Zheguzi, 1620 – 1686), geb. in Nanxun (heute Provinz Zhejiang) Es hat wohl mit dem unsteten Leben Dong Yues zu tun, daß er mehrmals seinen Namen wechselte. So wählte er nach dem Niedergang der Ming den Namen Lin Qin (Beinamen: Yuanyou, Nancun, Lin Huzi, Gao Mulin). In mittleren Jahren, nachdem er sich entschieden hatte, Mönch zu werden, legte er sich den Glaubensnamen Nanqian zu (Beinamen: Yuehan, Baoyun, Fengyan etc.). Seine Vorfahren

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Dong Zhongshu 董仲舒

waren ursprünglich wohlhabend, es fanden sich darunter angesehene Gelehrte und Beamte. In Dongs Generation jedoch war die Familie schon im Niedergang begriffen. Seine Tätigkeit an der Seite des Leiters der »Fushe«-Gesellschaft, Zhang Pu (1602 – 1641), vor allem aber sein literarisches Schaffen gibt einen Hinweis darauf, daß Dong trotz der schwierigen Zeitumstände eine gute Ausbildung erhalten haben muß. So war er nachweislich schon früh mit dem in Sanskrit verfaßten buddhistischen Schriftgut vertraut. Da ihm der weltliche Erfolg versagt blieb, wandte er sich im Laufe der Zeit immer mehr dem buddhistischen Glauben zu und trat in das Lingyan-Kloster von Suzhou ein, dessen Abt er später wurde. Obwohl große Teile von Dongs literarischem Werk seinen exzentrischen Anfällen zum Opfer fielen, ist das, was erhalten blieb, immer noch beachtlich. Unter seinen Arbeiten finden sich Werke zu historischen, religiösen und philosophischen ebenso wie zu sprachwissenschaftlichen und medizinischen Themen. Ein besonderes Interesse Dongs galt den Träumen, über die er mehrere Essays verfaßte. Literarisch verarbeitet hat Dong Yue seine Vorstellungen vom Traum vor allem in seinem kurzen Roman Ergänzung zur Reise in den Westen (Xiyoubu), der sich an psychologischer Tiefe bemerkenswert von den meisten übrigen Vertretern seiner Gattung abhebt. WERKAUSGABEN: Xiyoubu, Shanghai: Shanghai Guji, 1983. ÜBERSETZUNGEN: The Tower of Myriad Mirrors. A Supplement to Journey to the West, übers. von Shuen-Fu Lin u. Larry Schulz, Berkeley, Cal.: Asian Humanities Press, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Frederick P. Brandauer: Tung Yüeh, Boston: Twayne, 1978; Liu Fu: »Xiyoubu zuozhe Dong Ruoyu zhuan«, in: Xiyoubu, Shanghai: Shanghai Guji, 1983, S. 77–129; Gao Xinyong: »›Xiyoubu‹ yu xushu lilun«, in: Zhongwai Wenxue 12, 8 (1984), S. 5–23; Zhao Hongjuan: Ming yimin Dong Yue yanjiu, Shanghai: Shanghai Guji, 2006. [TZ]

Dong Zhongshu 董仲舒 (179 – um 104 v.Chr.), geb. in Guangchuan (heute Provinz Hebei) Der frühhanzeitliche Gelehrte Dong Zhongshu diente unter Kaiser Wudi (reg. 140 – 87 v.Chr.) als Berater und propagierte die Erhebung des Konfuzianismus zur Staatsideologie. In dieser Hinsicht jedoch nur mäßig erfolgreich, da Kaiser Wudi sich inoffiziell für den religiösen Daoismus begeisterte, begab er sich 121 v.Chr. in den Ruhestand und widmete sich fortan nur noch seinen Studien zu den konfuzianischen Klassikern, allen voran den Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu) und dem Buch der Wandlungen (Yijing). Die Geschichte der Han-Zeit (Hanshu) enthält detaillierte biographische Angaben zu Dong Zhongshu, darunter auch das autobiographische fu-Prosagedicht »Der verkannte Gelehrte« (»Shi buyu fu«), mit dem sich auch spätere Literaten identifizieren konnten, u.a. (→) Sima Qian (»Bei Shi buyu fu«) und (→) Tao Yuanming (»Gan Shi buyu fu«).

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Du Fu 杜甫

Dong Zhongshu entwickelte eine eigene, in späteren Jahrhunderten sehr einflußreiche metaphysische Theorie aus der Synthese der konfuzianische Lehre mit den Gedanken der Yin-Yang-Schule. Er entwarf ein kosmologisches Gedankengebäude, das insbesondere im Neokonfuzianismus der Song-Zeit als idealisiertes Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft stark rezipiert wurde. Das ihm zugeschriebene Werk Chunqiu fanlu (Üppiger Tau der Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu fanlu) enthält 82 philosophische und teils auch politische Schriften, seine ausschließliche Autorenschaft wird jedoch bereits seit der Song-Zeit (960 – 1279) angezweifelt. WERKAUSGABEN: Chunqiu fanlu, in: Sibu beiyao, Nachdruck Taipeh: Zhonghua Shuju, 1975; Chunqiu fanlu jiaoshi, hg. von Zhong Zhaopeng u.a., Jinan: Shandong Yuyi Shushe, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Sources in Chinese Tradition, übers. u. hg. von Wm. Theodore de Bary et al., New York et al.: Columbia University Press, 1960, S. 174–183, 218–220; A Source Book in Chinese Philosophy, übers. u. hg. von Wing-tsit Chan, Princeton: Princeton University Press, 1963, S. 271–288; Robert H. Gassmann: Tung Chung-shu, Ch’unch’iu fan-lu, Üppiger Tau des Frühlings- und Herbst-Klassikers. Übersetzung und Annotation der Kapitel 1–6, Bern: Peter Lang, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Otto Franke: Studien zur Geschichte des konfuzianischen Dogmas und der chinesischen Staatsreligion: Das Problem des »Tsch’un-ts’iu« und Tung Tschung-schu’s »Tsch’un-ts’iu fan-lu«, Hamburg: Friederichsen, 1920; Yu-lan Fung: A History of Chinese Philosophy, 2 Bde., Princeton: Princeton University Press, 1953, Bd. 2, S. 7–87; Alfred Forke: Geschichte der mittelalterlichen chinesischen Philosophie, Hamburg: de Gruyter, 21964, S. 46–64; Steve Craig Davidson: Tung Chung-shu and the Origins of Imperial Confucianism, Diss., University of Wisconsin-Madison, 1982; Wei Zhengtong: Dong Zhongshu, Taipeh: Dongda Tushu Gongsi, 1986; Heiner Roetz: Die chinesische Ethik der Achsenzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 179, 368ff.; Gary Arbuckle: »Inevitable Treason: Dong Zhongshu’s Theory of Historical Cycles and Early Attempts to Invalidate the Han Mandate«, in: Journal of the American Oriental Society 115, 4 (1995), S. 585‒597; Sarah A. Queen: From chronicle to canon: The hermeneutics of the Spring and Autumn according to Tung Chung-shu, Cambridge: Cambridge University Press, 1996. [HP]

Du Fu 杜甫 (zi: Zimei, hao: Shaoling, Caotang, Gongbu, 712 – 770), geb. vermutlich im Kreis Gong östlich von Luoyang Du Fu, der neben (→) Li Bai berühmteste und angesehenste Dichter Chinas, entstammte einer niedergegangenen Adelsfamilie, die in der Vergangenheit große Staatsmänner und Literaten wie Du Yu (222 – 284) und Du Shenyan – Du Fus Großvater hatte unter Kaiserin Wu Zetian (reg. 690 – 705) gedient – hervorgebracht hatte. Die Familie verfügte in Duling im Süden der alten Präfektur Jingzhou, zu der auch die Hauptstadt Changʼan gehörte, noch über Grundbesitz. Du Fu nannte

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Du Fu 杜甫

sich selbst zuweilen »Mann aus Jingzhou« oder »Shaoling« (ein Ort in Duling), um den Bezug zu seiner Familie zu betonen, von der er im Laufe seines zum Teil bitterarmen Lebens jedoch kaum profitiert zu haben scheint. Er selbst wurde vermutlich nahe Luoyang geboren, wo der Du-Clan ebenfalls Land besessen hatte. Viele Details aus Dus Leben lassen sich seinen oftmals sehr persönlichen Gedichten entnehmen, doch über seine Kindheit und Jugend ist nur wenig bekannt. Nach dem frühen Tod der Mutter soll er in der Obhut einer Tante aufgewachsen und bereits früh mit Blick auf eine Beamtenkarriere unterrichtet worden sein. Du Fu gilt als einer der talentiertesten und am umfassendsten gebildetsten chinesischen Dichter überhaupt, und dennoch versagte er im Jahre 736 auch im zweiten Anlauf in der jinshi-Doktorprüfung. Wenn nicht an Begabung und Bildung, so mangelte es ihm für eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn vielleicht an dem nötigen Konformismus: Ihm soll zwar – im Unterschied zu Li Bai – eine gewisse Strenge und auch Disziplin zu eigen gewesen sein, doch er versäumte keine Gelegenheit, offen seine Meinung zu äußern. Diese vielzitierte Zivilcourage, gespeist aus einem konsequenten konfuzianischen Moralverständnis, machte es ihm wohl unmöglich, für längere Zeit in einem Amt zu verbleiben. Zwischen den Jahren 731 und 745 führte Du Fu, noch als Junggeselle, ein unstetes Wanderleben im Osten und Südosten des Reiches. In dieser Zeit verdiente er unter anderem als Händler sein Geld. Gegen Ende dieser Zeit, im Jahr 744, traf er den ihm zwar in vielerlei Hinsicht gegensätzlichen, aber zugleich kongenialen Dichter Li Bai, dem er sein Leben lang in bewundernder Freundschaft verbunden blieb. Zwölf Gedichte Du Fus erzählen von seiner Zuneigung und Verehrung für den älteren Freund. In den Jahren von 745 bis 759 war Du Fu – mittlerweile verheiratet – verzweifelt damit befaßt, seine junge Familie zu ernähren, und bemühte sich in Luoyang und Changʼan darum, dauerhaft in ein Amt zu gelangen. Obwohl es ihm 751 tatsächlich gelungen war, die Aufmerksamkeit des Kaisers Xuanzong (reg. 713 – 755) mit einem Prosagedicht (fu) zu erringen, und er in der Folge auch eine außerordentliche Prüfung bei Hofe bestand, wurde er dennoch nicht in ein Amt berufen. Als 755 das Land auch noch für zwei Jahre in den Wirren der An-Lushan-Rebellion versank, potenzierte sich die soziale und finanzielle Not des Dichters. Einer seiner Söhne starb in dieser Zeit an Hunger. Erst unter Kaiser Suzong (reg. 756 – 762) erhielt Du Fu das Amt eines Zensors zur Linken, wurde jedoch 758, nachdem er seinen Freund, den in Ungnade gefallenen Kanzler Fang Guan, offen verteidigt hatte, auf einen Provinzposten nach Guangdong abgeschoben – als Bildungsbeauftragter der Stadt Huazhou –, was damals einer Verbannung gleichkam. Ab 759 führte Du Fu erneut ein Wanderleben in Armut und bald auch geschwächtem Gesundheitszustand, zunächst in den westlichen Provinzen Gansu und Sichuan, gegen Ende seines Lebens dann im Gebiet der heutigen Provinz Hunan. 760 erreichte er Chengdu, die Hauptstadt der Provinz Sichuan, und fand in Yan Wu, dem Militärgouverneur der Stadt, einen Freund und Förderer. In den

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Du Fu 杜甫

ersten zwei Jahren lebte Du Fu dort, seinen eigenen Gedichten zufolge, in einer »Strohhütte«. 762 mußte die Familie dann wegen eines Aufstandes die Stadt verlassen. 764 kehrten sie wieder nach Chengdu zurück, und Du Fu wurde während der drohenden Invasion der Tibeter militärischer Berater Yan Wus. Nach dessen Tod 765 zog er weiter nach Kuizhou (heute Fengjie, Provinz Sichuan), wo er bis 768 wohnte. Die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte er mit Bootsreisen, u.a. auf dem Dongting-See und entlang des Xiang-Flusses. Er verstarb im Jahre 770 nahe Tanzhou (heute Changsha). Sein letztes Lebensjahrzehnt gilt als seine intensivste Schaffensphase. Du Fus überaus umfangreiches Werk umfaßt rund 1450 Gedichte, von denen etwas mehr als 400 im Alten Stil (gutishi) und über 1000 im Neuen Stil (jintishi) gehalten sind. Du Fu pflegte und perfektionierte das »Regelgedicht« (lüshi): den klassischen, jedoch nun tonal und im Reim streng reglementierten Achtzeiler. Neben zahllosen Gelegenheitsgedichten, die seine Lebensumstände, Reisen und vertraute Menschen – Familie und Freunde – beschreiben, ließ Du Fu vielfach sein politisches und soziales Gewissen in seiner Dichtung sprechen, da ihm dies beruflich zumeist verwehrt blieb, z.B. in seinem berühmten Langgedicht »Die Weise von den Kriegswagen« (»Bingchexing«). Insofern wurde er zum Chronisten der zum Teil elenden Realität seiner Zeit, indem er nicht nur die Grenzkonflikte und Aufstände thematisierte, die das Tang-Reich von außen und innen erschütterten, sondern auch die politischen und sozialen Ursachen ansprach. Er tat dies oft mit historischen Analogien, wohl um sich selbst zu schützen. Man hat ihn deshalb auch einen »dichtenden Historiographen« genannt. Du Fus Ruhm als größter Dichter Chinas reifte erst mit den Jahrhunderten heran. Erst ab dem 10. Jahrhundert fanden seine Gedichte in Anthologien Eingang, im Jahre 1039 erschien dann die erste Edition seiner Gesammelten Werke mit damals 1405 Gedichten und 29 Prosatexten. WERKAUSGABEN: Qian Muzhai jianzhu Du shi, hg. u. komm. von Qian Qianyi [1582 ‒ 1664], Taipeh: Zhonghua Shuju, 1967; Du Shaoling ji shi xiangzhu, hg. u. komm. von Qiu Zhaoao [1638 ‒ 1713], 5 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1979; Du shi Zhai Cigong xianhou jie jijiao, hg. u. komm. von Zhao Cigong [Qing-Zeit] u. Lin Xuzhong, Shanghai: Shanghai Guji, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Tu Fu’s Gedichte, übers. von Erwin Ritter von Zach, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1952; A Little Primer of Tu Fu, übers. von David Hawkes, Oxford: Clarendon, 1967; Li Po and Tu Fu, übers. von Arthur Cooper: Harmondsworth 1973; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 137‒187; The Selected Poems of Du Fu, übers. von Burton Watson, New York: Columbia University Press, 2003; A Life in Poetry, übers. von David Young, New York: Knopf, 2008; Gedichte, übers. von Raffael Keller, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Florence Ayscough: Tu Fu: The Autobiography of a Chinese Poet, 2 Bde., London: Cape and Houghton Mifflin, 1929/1934; Wu Hung: Tu Fu, China’s

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Du Mu 杜牧 Greatest Poet, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1952; Albert Richard Davis: Tu Fu, New York: Twayne, 1971; Stephen Owen: The Great Age of Chinese Poetry: The High T’ang, New Haven u. London: Yale University Press, 1981, S. 183‒224; Chen Yixin: Du Fu pingzhuan, 3 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1982/1988; David McCraw: Du Fu’s Laments from the South, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 1992; Chou Eva Shan: Reconsidering Tu Fu. Literary Greatness and Cultural Context, Cambridge: Cambridge University Press, 1995. [HP]

Du Mu 杜牧 (zi: Muzhi, hao: Fanchuan, 803 – 852), geb. in Chang’an (heute Xi’an, Provinz Shaanxi) Die spät-Tang-zeitlichen Dichter (→) Li Shangyin und Du Mu sind als die »Kleinen Li und Du« in die Literaturgeschichte eingegangen – in den Fußstapfen der Dichterfürsten (→) Li Bai und (→) Du Fu. Als Enkel des berühmten Staatskanzlers und Historikers Du You (735 – 812) kam Du Mu in den Genuß einer fundierten und zeitlebens prägenden konfuzianischen Ausbildung. Der Landsitz der Familie am Fluß Fanchuan (daher der Beiname Du Mus) lag am Rande der damaligen Zwei-Millionen-Metropole Changʼan. 828 bestand Du Mu im Alter von 25 Jahren die jinshi-Doktorprüfung. Obwohl auch sein Vater noch in höchste Ämter gelangt war, hatte die Familie in den vorangegangenen Jahrzehnten spürbar an Einfluß verloren. Deshalb konnte Du Mu trotz größter Anstrengungen nicht an die brillanten Karrieren seiner Vorfahren anknüpfen. Zunächst unterrichtete er in der Hauptstadt an der kaiserlichen Literaturakademie (hongwenguan), allerdings nur für ein halbes Jahr. Danach folgten Ämter in den Provinzen Jiangxi und Anhui. Ab 833 war er für mehrere Jahre in Yangzhou (Provinz Jiangsu) tätig. Auch wenn er sein Leben in dieser an Vergnügungen reichen Großstadt in vollen Zügen genossen hat, so zeugen seine Briefe und Throneingaben von dem zunehmend verzweifelten Bestreben, an den politischen Entscheidungen der Zentralregierung teilzuhaben. Hierbei waren besonders militärstrategische Fragen für ihn von großem Interesse. Während Zeitgenossen, wie der Dichter (→) Bai Juyi, z.B. die fortwährenden Grenzkriege als nutzlos und grausam anprangerten, verteidigte Du Mu, den man heute vermutlich zu den »Hardlinern« zählen würde, die konservative Machtpolitik des Tang-Kaiserhauses. Ab 842 war Du nacheinander Präfekt der Städte Guangzhou (Provinz Guangdong) und Chizhou (Provinz Anhui). Im Jahr 848 wurde er für kurze Zeit wieder nach Changʼan berufen. In dieser Zeit verkehrte er mit dem etwa zehn Jahre jüngeren Dichter Li Shangyin. Nach weiteren Provinzämtern, u.a. 850 als Präfekt der Stadt Huzhou (Provinz Zhejiang), kehrte er 851 erneut in die Hauptstadt zurück und hatte dort zuletzt das Amt des Großsekretärs der kaiserlichen Kanzlei (zhongshu sheren) inne. Als Gelehrter war Du Mu in vielen Künsten zu Hause. Sein literarisches Werk umfaßt 269 Gedichte (bei ca. 200 weiteren, ihm zugeschriebenen Gedichten ist

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Duo Duo 多多

die Autorenschaft ungeklärt) sowie knapp 200 Prosatexte. Darüber hinaus war er ein begabter Maler und Kalligraph. In der Lyrik beherrschte Du Mu besonders die strengen Formen des klassischen Vierzeilers (jueju) und Achtzeilers (lüshi). Sein geistiges Refugium fand er dabei in der Landschaftsdichtung; auch die wenigen erhaltenen Liebesgedichte sind von herausragender Qualität. Du Mus Schaffen steht in einem fragilen Spannungsfeld zwischen konfuzianischem Verantwortungsgefühl in Zeiten dynastischen Niedergangs (dieser ethische Anspruch kommt vor allem in seiner vielfältigen Prosa zum Ausdruck) und der daoistisch bzw. Chan-buddhistisch beeinflußten Sehnsucht nach Rückzug in eine nicht den historischen Wechselfällen unterworfene Natur. WERKAUSGABEN: Quan Tang shi suoyin: Du Mu juan, hg. von Luan Guiming, Peking: Zhonghua Shuju, 1992. ÜBERSETZUNGEN: Poems of the Late Tʼang, übers. von A.C. Graham, Harmondsworth: Penguin, 1965, S. 121‒140; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 288‒295. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: Das lyrische Werk des Tu Mu (803 ‒ 852), Wiesbaden: Harrassowitz, 1976; Gene Ching-song Hsiao: Semiotic interpretation of Chinese poetry: Tu Muʼs poetry as example, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1988; Wen-kai Kung: Tu Mu (803 ‒ 852). His Life and Poetry, San Francisco: Chinese Materials Center, 1990; Michael Fishlen: »Wine, Poetry, and History: Du Muʼs Pouring Alone in the Prefectural Residence«, in: Tʼoung Pao 80 (1994), S. 260‒297. [HP]

Duo Duo 多多 (eig. Li Shizheng, 1951 – ), geb. in Peking Duo Duo begann bereits als Schüler, mit Gedichten zu experimentieren. Wie alle anderen Jugendlichen seiner Generation lebte er von 1969 bis 1975 auf dem Land, und zwar in Baiyangdian in der Provinz Hebei. Während dieser Zeit beschäftigte er sich intensiv mit Lyrik, las und schrieb selbst auch viele Gedichte. Nach seiner Rückkehr nach Peking war er zeitweise als Journalist tätig. 1989 verließ er China und begann seine Wanderschaft durch Europa. 2004 kehrte er wieder in seine Heimat zurück und lehrte zuletzt an der Universität in Hainan. Duo Duo gilt als einer der wichtigsten Vertreter der hermetischen Lyrik (Menglong Shipai). In seinem Frühwerk beschäftigte er sich mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins inmitten gesellschaftlicher Zwänge, den Konflikten der Menschen zwischen Moral und Bedürfnis sowie den lange Zeit tabuisierten Grundfragen wie Sexualität und Tod. Geistig und literarisch beeinflußt wurde Duo Duo durch Robert Desnos, Sylvia Plath und Dylan Thomas. Surrealistische Elemente kommen in seiner Lyrik immer wieder zum Ausdruck; die Aufhebung logischer Strukturen, der nahtlose Übergang von Traum zu Realität und das immer wiederkehrende Todesmotiv sind kennzeichnend dafür.

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Fan Chengda 范成大

Duo Duo ist mit verschiedenen Literaturpreisen geehrt worden. Im Jahre 1987 erhielt er den Lyrikpreis der Universität Peking, 1988 den Lyrikpreis des Pekinger Spracheninstituts und 1989 den ersten Preis der im Ausland erscheinenden Literaturzeitschrift Heute (Jintian). Seine Gedichte sind u.a. ins Deutsche, Englische und Holländische übersetzt. WERKAUSGABEN: Xingli: shi 38 shou, Guilin: Lijiang, 1988; Licheng – Duo Duo shixuan, 1972 ‒ 1988, Peking [inoffizielle Publikation], 1989. ÜBERSETZUNGEN: Der Mann im Käfig. China, wie es wirklich war, übers. von Bi He u. La Mu, Freiburg u.a.: Herder, 1990; Wegstrecken, übers. von Jo Fleischle u.a., hg. von Peter Hoffmann, Dortmund: projekt verlag, 1994; Heimkehr. Erzählungen, übers. von Irmtraud Fessen-Henjes, Stuttgart: Edition Solitude, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: »Über den Lyriker Duo Duo anläßlich einer Lesung in München«, in: Neue Sirene. Zeitschrift für Literatur 3 (1995), S. 78f.; Maghiel van Crevel: Language Shattered. Contemporary Chinese Poetry and Duoduo, Leiden: Research School CNWS, 1996. [WH]

Fan Chengda 范成大 (zi: Zhineng, hao: Shihu jushi, 1126 – 1193), geb. in Suzhou (Provinz Jiangsu) Fan Chengda war ein Dichter, Kalligraph und Staatsmann von großem Weitblick, reichem Erfahrungsschatz und ausgeprägtem Forschergeist. Aus altem Beamtengeschlecht, erlebte er als Kind die Schrecken der Dschurdschen-Invasion, verlor siebzehnjährig seine Eltern, verbrachte danach mit vier Geschwistern zehn Jahre in einem buddhistischen Kloster, wo er sich umfassend bildete und erste Kontakte zu literarischen Kreisen pflegte. 1154 bestand er die Prüfung zum Doktor (jinshi). Schon in seinen ersten Ämtern in der Provinz und bei Hof zeichnete er sich durch Scharfblick, beherztes, situationsgerechtes Handeln und Verläßlichkeit aus. Von Kaiser Xiaozong (reg. 1162 – 1189) als Botschafter in die Hauptstadt der Jin, Zhongdu, entsandt (1170), handelte er kühn und geschickt Friedensbedingungen aus. Nach seiner Rückkehr von Neidern bedrängt, zog er sich in seine Heimat zurück, wo er sein Anwesen am Steinsee (Shihu) ausbaute, nach dem er sich »Shihu jushi« (»Eremit vom Steinsee«) nannte. Als Befriedungs- und Grenzschutzkommissar diente er 1173 – 75 in Guilin (Provinz Guangxi) und 1175 – 77 in Chengdu (Provinz Sichuan). 1178 zum Vizekanzler ernannt, dankte er bald darauf wegen Unstimmigkeiten mit dem Kaiser ab und konnte nach erneuten Provinzanstellungen die letzten neun Jahre ein friedliches Leben in seinem heimatlichen Anwesen führen. Fan Chengdas Ruhm gründet hauptsächlich auf der Lyrik seiner späten Jahre, insbesondere auf dem Zyklus »Gemischte Gefühle gemäß den vier Jahreszeiten in Feld und Flur« (»Sishi tianyuan za xing«), einer Folge von 60 Vierzeilern, 1186

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Fan Chengda 范成大

in Shihu entstanden, in denen er sich selbst ganz zurücknimmt und das bäuerliche Leben in seinen vielen Einzelheiten beschreibt. Der Mensch, eingebunden in den Rhythmus der Natur, verrichtet in stiller Unauffälligkeit seine sich immer wiederholende Arbeit, die Grundlage des Lebens ist. Hier übertrifft Fan Chengda alle bisherige Landlebendichtung an Schlichtheit und Eindringlichkeit. Darüber darf jedoch nicht übersehen werden, daß er auch auf anderen Gebieten Bedeutsames geleistet hat. Er schrieb Reisetagebücher zu seinen drei großen Reisen: von Hangzhou nach Zhongdu (Die Zügel ergreifen [Lan pei lu]), von Suzhou nach Guilin (Auf den Schwingen des Wundervogels [Can luan lu]) und von Chengdu nach Suzhou (Eine Schiffahrt nach Suzhou [Wu chuan lu]). Sie alle lesen sich höchst anregend, wie Handbücher zur Geographie, Geschichte, Architektur, Flora und Fauna Chinas. Hinzu kommen eine Lokalgeschichte Suzhous und eine Art Topographie zur Umgebung von Guilin. Von seinen 1916 shi-Gedichten sind etwa ein Drittel auf Reisen verfaßt. Wenn sie die Vielfalt der Landschaften und historischen Stätten, die Menschen und ihre Bräuche beschreiben, sind sie meist im narrativen »alten Stil« (guwen) geschrieben, drücken sie hingegen die eigenen Empfindungen und Erlebnisse aus, im klassischen Vierzeiler. Letztere äußern oft Mitgefühl für die Menschen am Wegesrand, aber auch Heimweh und Verlassenheit. Fan Chengdas höchst umfang- und facettenreiches Gesamtwerk, Fan Shihu ji, ist die Ernte eines bewegten Lebens, zu dem die Landlebenlyrik einen milden Ausklang und Schlußakkord bildet. WERKAUSGABEN: Fan Shihu ji, Peking: Zhonghua Shuju, 1962. ÜBERSETZUNGEN: The Five Seasons of a Golden Year. A Chinese Pastoral, übers. von Gerald Bullet, Hongkong: Chinese University of Hong Kong, 1980; »Lan-p’ei lu. A Southern Sung Embassy Account«, übers. von M. James Hargett, in: The Tsing Hua Journal of Chinese Studies, N.S. 16 (1984), S. 119–177; On the Road in Twelfth Century China. The Travel Diaries of Fan Chengda (1126 – 1193), übers. von M. James Hargett, Stuttgart: Steiner, 1989; Stone Lake. The Poetry of Fan Chengda, 1126 – 1193, übers. u. hg. von J.D. Schmidt, Cambridge: Cambridge University Press, 1992; »Die Drei Schluchten«, übers. von Volker Klöpsch, in: Hefte für ostasiatische Literatur 33 (November 2002), S. 71–83. SEKUNDÄRLITERATUR: James M. Hargett: The Pastoral Tradition in Fan Ch’eng-ta’s »Seasonal Poems on Fields and Gardens«, M.A.-Arbeit, Indiana University, 1976; Kong Fanli: Fan Chengda yizhu jicun, Peking: Zhonghua Shuju, 1983; ders.: »Fan Chengda zaoqi shiji kao«, in: Wenxue yichan 1 (1983), S. 55–63; Volker Klöpsch: »Aufklärerische Tendenzen in der Reiseliteratur der Song-Zeit, aufgezeigt an Fan Chengdas Wuchuan lu«, in: Kritik im alten und modernen China, hg. von Heiner Roetz, Wiesbaden: Harrassowitz, 2006, S. 131–143; Song shi jianshang cidian, hg. von Miao Yue, Shanghai: Shanghai Cishu, 32007, S. 1011–1046. [BD]

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Fan Zhongyan 范仲淹

Fan Zhongyan 范仲淹 (zi: Xi Wen, 989‒1052), geb. in Wuxian (Provinz Jiangsu) Fan Zhongyan stammte aus einer alten Beamtenfamilie, verlor aber einjährig seinen Vater. Seine Mutter heiratete wieder und gab ihm den Namen des Stiefvaters, Zhu. Als Fan Zhongyan in seinen Jünglingsjahren davon erfuhr, studierte er mit noch größerer Ernsthaftigkeit, u.a. auch in einem buddhistischen Kloster, um nach bestandener Prüfung zum Doktor (jinshi, 1015) und ersten Anstellungen als Provinzbeamter die Rückgewinnung seines ursprünglichen Namens zu beantragen, als Ehrerweisung für seinen verstorbenen Vater. Gleichwohl blieb er seinem Stiefvater in Respekt verbunden, hatte dieser ihn doch in Erziehung und Studium gefördert. Am Ende seines Lebens kaufte Fan ein großes Stück Land als Familienstiftung, die es mittellosen Familienangehörigen erlauben sollte, zu studieren und eine Stellung als Beamter zu erlangen. Die ersten zehn Jahre seiner Beamtenlaufbahn führten ihn hauptsächlich in die Provinzen Henan, Anhui und Jiangsu. Überall, wo er eingesetzt wurde, zeichnete er sich durch seine Umsicht, seinen tatkräftigen Einsatz und seine Sorge für das Volk aus. Er gründete Schulen, beseitigte Mißstände, ließ zerfallene Deiche reparieren, ging allen mit gutem Beispiel voran. Seine lange Vertrautheit mit den Alltagsproblemen in den Provinzen veranlaßte ihn, sich mit eindringlichen Eingaben an den Kaiser zu wenden und Reformvorschläge zu unterbreiten, die inhaltlich in den Hauptpunkten die Reformvorhaben des (→) Wang Anshi (1023 ‒ 1088) schon vorwegnahmen. Kaiser Renzong (reg. 1023 ‒ 1063) hatte ein gespaltenes Verhältnis zu diesem aufrechten Beamten, er förderte ihn, ernannte ihn zum Leiter textkritischer Untersuchungen im Kaiserlichen Archiv und zum Zensor, doch oft gewannen Neider die Überhand, und Fan fiel in Ungnade. So wurde er von 1040 bis 1043 als General an die Nordgrenze des Reichs beordert, um den Kampf gegen die eindringenden Tanguten des Westlichen Xia-Reiches aufzunehmen. Auch hier zeigte sich Fan Zhonyans Größe: Er kümmerte sich persönlich um die Ausbildung der Truppen, legte selbst mit Hand an beim Bau der Befestigungsanlagen und sorgte für das Wohl der Grenzbevölkerung. Tatsächlich unterbreiteten die Tanguten ein Friedensangebot. Danach bat Fan um Versetzung in den Süden, da er an einer Lungenkrankheit litt. Der Kaiser kam seiner Bitte nach. Nach seinem Tod verlieh er ihm hohe Ehrentitel und schrieb persönlich die Inschrift für seinen Grabstein. Lebensnähe, sittlicher Anspruch an sich selbst, Naturverbundenheit, tiefe Empfindsamkeit und menschliche Wärme zeichnen das literarische Werk Fan Zhongyans aus. Er ist ein Meister des klaren, treffenden Wortes, das gerade in seiner Schlichtheit großartige Landschaftsbilder vor dem inneren Auge des Lesers heraufbeschwören und die ganze Kraft der Gefühle und Gedanken des Dichters offenbaren kann. Hier ist der erste Schritt getan zur haofang-Stilrichtung, der Schule des »kraftvoll-erhabenen« Ausdrucks, die für eine offene und ungekünstelte Form eintrat, welche den »hohen Mut« und die edle Gesinnung des Dichters widerspie-

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Fan Zhongyan 范仲淹

gelte. (→) Su Shi (1037 ‒ 1101) gilt als Vollender dieser Form. Gleichzeitig bricht Fan Zhongyan mit dem in der frühen Song-Zeit (960 – 1279) vorherrschenden Xikun-Stil, bei dem (→) Li Shangyin (813? ‒ 858?) Pate stand und der sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa einen strengen Parallelismus verlangte. Kennzeichnend für diese Stilrichtung waren eine übertrieben kunstvolle und gezierte Sprache und häufige Anspielungen, aber die höchst verfeinerte Form ging oft zu Lasten des Inhalts. Dies war seinerzeit die Sprache des Hofes. Als ihr Hauptvertreter galt (→) Yang Yi (974 ‒ 1020). Fan Zhongyan leitete eine Erneuerungsbewegung in der Literatur ein, die im 11. Jahrhundert in der Entwicklung des Neuen guwen-Stils gipfelt (Hauptvertreter: [→] Ouyang Xiu, [→] Zeng Gong, Wang Anshi, [→] Su Xun, Su Shi und [→] Su Che). Fan Zhongyan schrieb hauptsächlich klassische Gedichte (shi), von seinen klassischen Liedern (ci) sind nur fünf erhalten. Gleichwohl sind die beiden ciDichtungen »Yujia ao« und »Yujie xing« immer wieder in Anthologien erschienen und sehr beliebt. Zusammen mit Ouyang Xiu verfaßte Fan zudem zwischen 1034 und 1036 den Katalog für die 987 gegründete Bibliothek des Kaiserpalastes, die 80.000 Bände besaß. Die größte, bis auf den heutigen Tag anhaltende Nachwirkung jedoch entfaltete Fan Zhongyans »Gedenkschrift für den Yueyang-Turm« (»Yueyanglou ji«). Der Turm erhebt sich über dem Dongting-See; Fan Zhongyan entwirft zwei völlig unterschiedliche Szenen von der ihn umgebenden Landschaft. Einmal ist sie von trüben Wolken und dichtem Regen erdrückt und erstarrt, so daß selbst die Gestirne und Bergsilhouetten verborgen bleiben und der See bedrohlich aufgepeitscht ist. Ein anderes Mal liegt der See im Glanz der Sonne und des Mondes und erscheint in all seiner das Herz bewegenden Schönheit. Als Spiegel der Lebenssituationen von Leid und Freude lassen beide Bilder den Dichter zu dem Schluß kommen, daß der Sinn der Menschlichkeit darin besteht, »sich eher als die anderen um die Belange der Welt zu sorgen und sich erst nach den anderen an den Freuden der Welt zu ergötzen«. Dieser Sinnspruch ist auch heute noch ein geflügeltes Wort. WERKAUSGABEN: Fan Zhongyan quanji, hg. u. komm. von Li Yongxian u. Wang Ronggui, Chengdu: Sichuan Daxue, 2002. ÜBERSETZUNGEN: Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, Berlin: Rütten & Loening, 1969, S. 289; Der Ruf der Phönixflöte. Klassische chinesische Prosa, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, 2 Bde., Berlin: Rütten & Loening, 1973, Bd. 1, S. 336‒339; Inscribed Landscapes. Travel Writing from Imperial China, übers. von Richard E. Strassberg, Berkeley et al.: University of California Press, 1994, S. 157‒160. SEKUNDÄRLITERATUR: Johanna Fischer: »Fan Chung-yen (989 ‒ 1052). Das Lebensbild eines chinesischen Staatsmannes«, in: Oriens Extremus 2 (1955), S. 39‒156; Peter Buriks: »Fan Chung-yens Versuch einer Reform des chinesischen Beamtenstaates in den Jahren 1043/44«, in: Oriens Extremus 3 (1956), S. 57‒80 u. 153‒184; James T.C. Liu: »An Early Sung Reformer: Fan Chung-Yen«, in: Chinese Thought and Institutions, hg. von

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Fang Bao 方苞 John K. Fairbank, Chicago: The University of Chicago Press, 1957, S. 105‒131; Zhongguo gudai shanshui shi jianshang cidian, hg. von Xu Guanying, Nanjing: Jiangsu Guji, 1989, S. 589‒591; Guwen jianshang cidian, hg. von Chen Zhenpeng u. Zhang Peiheng, 2 Bde., [BD] Shanghai: Shanghai Cishu, 172007, Bd. 2, S. 1159‒1167.

Fang Bao 方苞 (zi: Fengjiu, hao: Linggao, Wangxi, 1668 – 1749), geb. in Tongcheng (heute Provinz Anhui) Daß Fang Bao schon in jungen Jahren als sprachmächtigster Gelehrter Ostchinas galt und Anlaß zu der Hoffnung gab, er werde ein würdiger Nachfolger der Meister der klassischen Prosa wie (→) Han Yu (768 – 824) und (→) Ouyang Xiu (1007 – 1072), dürfte mit den Einflüssen zusammenhängen, die Fang schon früh in seiner unmittelbaren Umgebung empfing: Der Vater Fang Zhongshu war ein Dichter, ein älterer Bruder, Fang Baichuan, machte sich einen Namen als Essayist und Gelehrter. So schnell mehrte sich Fangs Ruf, daß er, nachdem er mit Anfang zwanzig die Bakkalaureus-Prüfung abgelegt hatte, bald Aufnahme in die Kaiserliche Akademie der Hauptstadt fand. Nachdem er 1706 erfolgreich die jinshi-Doktorprüfung abgelegt hatte, wurde er zur Teilnahme an einer Palastprüfung in Gegenwart des Kangxi-Kaisers (reg. 1661 – 1722) eingeladen, mußte aufgrund der Erkrankung seiner Mutter jedoch absagen. Durch seine Nähe zum Kreis der Tongcheng-Schule, als deren Mitbegründer er galt, war Fang auch verwickelt in die Affäre um (→) Dai Mingshis Sammlung vom Südberg (Nanshan ji), entging aber anders als Dai einer Hinrichtung. Dank der Gunst des Qianlong-Kaisers (reg. 1735 – 1796), der die hohe Qualität seiner Schriften schätzte, übertrug man Fang Bao in der Folge verschiedene Posten, darunter ein Amt im Ritenministerium, wo er die Abfassung historischer Texte überwachte. Neben der stilistischen Qualität seiner Schriften, die als Vollständige Sammlung der Schriften des Herrn Fang Wangxi (Fang Wangxi xiansheng quanji) erschienen sind und inhaltlich vielfach die überlieferten Moralvorstellungen weiterführten, sind auch einige Texte wie zum Beispiel die Vermischten Aufzeichnungen aus dem Gefängnis (Yuzhong zaji) bemerkenswert. Darin berichtet Fang vom Unglück der Haft und prangert die Mißstände im chinesischen Gefängniswesen an. Als Herausgeber einer Sammlung klassischer Prosatexte und Advokat des guwen-Prosastils hinterließ Fang Bao wichtige Spuren in der nachfolgenden Gelehrtenwelt. WERKAUSGABEN: Fang Wangxi quanji, Taipeh: Xinlu Shuju, 1963; Fang Bao ji, Shanghai: Shanghai Guji, 1983; Fang Wangxi yiji, Hefei: Huangshan Shushe, 1990. ÜBERSETZUNGEN: »Life in Prison«, übers. von D.E. Pollard, in: Renditions 33 & 34 (Spring & Autumn 1990), S. 195–200. SEKUNDÄRLITERATUR: Tongchengpai yanjiu lunwen ji, hg. vom Volksverlag Anhui, Hefei: Anhui Renmin, 1963; David E. Pollard: A Chinese Look at Literature. The Literary

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Fei Ming 废名 Values of Chou Tso-jen in Relation to the Tradition, London: C. Hurst & Co., 1973; Zhao Jianzhang: Tongchengpai wenxue sixiang yanjiu, Peking: Beijing Tushuguan, 2003. [TZ]

Fei Ming 废名 (eig. Feng Wenbing, 1901 – 1967), geb. in Huangmei (Provinz Hubei) Am 10.06.1926 schreibt der junge Literat Feng Wenbing in sein Tagebuch: »Seit gestern will ich meinen alten Namen nicht mehr tragen. Ich gebe mir einfach einen anderen, nämlich Fei Ming (›Der den Namen ablegt‹).« Dieser neue Name zeugt von der tiefen Zuneigung des Dichters zum Buddhismus, dem er neben der Literatur am liebsten seine Zeit widmete. Aus einer reichen Familie stammend, war Fei körperlich schwächlich. Er erhielt seinen ersten Unterricht an einer Privatschule und danach an einer lokalen pädagogischen Fachschule. 1917 wurde er von der Ersten Staatlichen Pädagogischen Fachschule in Hubei zum Studium zugelassen. Damals begann sein Interesse für die neue Literatur, vor allem für die neue Lyrik. Nach dem Abschluß seiner Ausbildung wurde er Schullehrer und trat mit (→) Zhou Zuoren in Verbindung. 1922 kam er nach Peking, um am Propädeutikum für Anglistik der Universität Peking teilzunehmen. Dort lernte er zahlreiche bedeutende Dichter kennen, trat in die von Zhou Zuoren gegründete »Gesellschaft vom Jungen Gras« (Qiancao she) ein und schrieb Gedichte und Erzählungen für die Zeitschrift Sprachglanz (Yusi). 1925 erschien seine erste Prosasammlung Die Geschichte des Bambuswaldes (Zhulin de gushi). Nach dem Universitätsabschluß in Anglistik wurde Fei 1929 Dozent für Chinesische Literatur an derselben Universität. 1930 gründete er mit (→) Feng Zhi zusammen die wöchentliche Literaturzeitschrift Kamelgras (Luotuocao, eingestellt nach 26 Ausgaben). Während des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) kehrte er in seine Heimat Hubei zurück, unterrichtete an einer Grundschule und verfaßte ein Buch über den Buddhismus. Von 1946 bis 1952 war Fei Professor für Sinologie an der Universität Peking. 1952 wurde er an die Nordöstliche Volksuniversität in Changchun (die heutige Universität Jilin) versetzt. Dort blieb er – zeitweilig als Abgeordneter des Volkskongresses und Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz der Provinz Jilin –, bis er 1967 einem Krebsleiden erlag. Einen Großteil seines literarischen Werks schuf Fei in seiner Zeit als Student und junger Hochschullehrer in Peking und während der Kriegszeit. Außer Kurzgeschichten und Erzählungen publizierte er 1947 auch einen Roman mit dem Protagonisten »Herr Niemand« (Moxuyou xiansheng). Von der Literaturkritik wird er oft als Schüler Zhou Zuorens bezeichnet und in die »Pekinger Schule« (Jingpai) eingeordnet. Sein knapper, eleganter Sprachstil erinnert auch an Werke späterer Literaten wie (→) Shen Congwen und (→) Wang Zengqi, die sich wahrscheinlich von ihm beeinflussen ließen. Fei konnte jedoch nicht so große Anerkennung wie

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Feng Jicai 冯骥才

die beiden Genannten erringen. Ein Grund dafür ist, daß es seinen Erzählungen an Dramatik und Spannung mangelt. Statt dessen ist der Leser selbst gefordert, den impliziten Handlungsstrang herauszuschälen. WERKAUSGABEN: Fei Ming xiaoshuo xuan, Peking: Renmin Wenxue, 1957; Feng Wenbing wenji, Peking: Renmin Wenxue, 1985; Fei Ming xuanji, Chengdu: Sichuan Wenyi, 1988; Fei Ming sanwen xuan, Tientsin: Baihua Wenyi, 1990; Fei Ming duanpian xiaoshuo ji, hg. von Feng Sichun, Changsha: Hunan Wenyi, 1997; Fei Ming wenji, hg. von Zhi An, Peking: Dongfang, 2000; Moxuyou xiansheng zhuan, Nanning: Guangxi Daxue, 2003; Zhulin de gushi, Nanning: Guangxi Shifan Daxue, 2003. ÜBERSETZUNGEN: Chi-Chen Wang: »Little Sister«, in: ders.: Contemporary Chinese Stories, Westport: Greenwood Press, 21973, S. 127–134. SEKUNDÄRLITERATUR: Shengyuan Dang u. Gao Jie: »About Fei Ming«, übers. von Li Guoqing, in: Chinese Literature Spring 1990, S. 123–127; Edward Gunn: Rewriting Chinese. Style and Innovation in Twentieth-Century Chinese Prose, Stanford: Stanford University Press, 1991, S. 125–129, 284–286; Haoming Liu: »Fei Mingʼs Poetics of Representation: Dream, Fantasy, Illusion, and Alayavijnana«, in: Modern Chinese Literature and Culture 13, 2 (Fall 2001), S. 30–71; ders.: Transformation of Childhood Experience: Rainer Maria Rilke and Fei Ming, Diss., New Haven: Yale University, 2001; Shu-mei Shih: »Writing English with a Chinese Brush: The Work of Fei Ming«, in: dies. (Hg.): The Lure of the Modern. Writing Modernism in Semicolonial China, 1917 – 1937, Berkeley: University of California Press, 2001, S. 190–203; Ningyi Li: »Fei Mingʼs Short Stories: A Poetry of Folk Elements«, in: Studies on Asia Series II, 2, 2 (Fall 2005), S. 112–125; Haiyan Lee: »The Other Chinese: Romancing the Folk in May Fourth Native Soil Fiction«, in: Concentric: Literary and Cultural Studies (special issue: »Ethics and Ethnicity«) 33, 2 (September 2007), S. 9–34. [XWR]

Feng Jicai 冯骥才 (1942 – ), geb. in Tientsin Nach dem Schulabschluß trat Feng Jicai in den 1960er Jahren in eine Gesellschaft für traditionelle Malerei ein und machte sich mit der volkstümlichen Maltechnik vertraut. Von 1974 an arbeitete er als Lehrer für chinesische Malerei, seit 1978 als Berufsschriftsteller. Als solcher wurde er ab 1982 Funktionär in verschiedenen lokalen und staatlichen Schriftstellerverbänden. Derzeit ist Feng Vizevorsitzender des chinesischen Dachverbandes der Literatur- und Kunstschaffenden, Vizepräsident des Chinesischen Schriftstellerverbandes, Vorsitzender des Vereins zur Erforschung der chinesischen Erzählliteratur, Vorsitzender des Verbandes der Chinesischen Volksliteraten und -künstler, Dekan der nach ihm benannten Feng-JicaiFakultät für Literatur und Kunst der Universität Tientsin sowie Chefredakteur der Zeitschriften Forum für Freie Literaturkritik (Wenxue ziyou tan) und Künstler (Yishujia). Seit den 90er Jahren engagiert sich Feng leidenschaftlich für den Schutz und die Weitergabe traditioneller Kunstformen und ist Herausgeber der

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Feng Jicai 冯骥才

Bücherreihe 5000 Jahre chinesischer Kunst: Was man kennen muß (Huaxia wu qian nian bu neng bu zhidao congshu, 1993). Im Vertrauen auf seine eigene Schaffenskraft und seinen gesellschaftlichen Einfluß hat er 2003 ein nationales Projekt zur Rettung des volkstümlichen Kulturerbes, das im Zeichen der Modernisierung allmählich zu verschwinden droht, ins Leben gerufen. Als Direktor des Expertenkomitees für die Katalogisierung des nationalen immateriellen Kulturerbes reist er unentwegt durchs Land und ist heute mehr Kulturaktivist als Schriftsteller. Seine kreativste literarische Schaffensphase hatte Feng in den 80er Jahren. Er begann seine Karriere als Erzähler mit dem Roman Die Faust der Gerechtigkeit (Yihe quan, 1977, geschrieben zusammen mit Li Dingxing). Die Kurzgeschichte »Chrysanthemen« (»Diaohua yandou«, 1979) und die Erzählungen »Ach!« (»A!«, 1980) und »Der wundersame Zopf« (»Shen bian«, 1984) wurden jeweils mit dem nationalen Preis für die beste Kurzgeschichte bzw. Erzählung ausgezeichnet. Thematisch setzt sich Feng oft mit der kollektiven Vergangenheit auseinander, sei es mit dem Irrsinn der Kulturrevolution (1966 – 1976) wie in den frühen Erzählungen »Der mit Blumen geschmückte Irrweg« (»Pu hua de qilu«, 1979) und »Ach!« sowie in den Gesprächsprotokollen Hundert Schicksale in zehn Jahren (Yibai ge ren de shinian, 1986ff.), sei es in der Suche nach traditionellen Lebensformen und -gegenständen, die nur noch vereinzelt im modernen Alltag vorkommen, wie etwa in Die magische Laterne (Shen deng qianzhuan, 1981), »Der wundersame Zopf«, »Drei Zoll goldener Lotos« (»San cun jinlian«, 1986) und »Yin, Yang und die acht Hexagramme« (»Yinyang bagua«, 1988). Protagonisten seiner Werke sind meistens gewöhnliche Menschen in ihrem Alltag. Dank ihres kunstvollen Stils und ihrer feinen Ironie klingen seine Erzählungen lange nach. Neben fiktionalen Werken schreibt Feng auch Sachtexte, in denen er sein eigenes Leben und seine Liebe zur traditionellen chinesischen Kultur thematisiert. WERKAUSGABEN: Yihe quan (mit Li Dingxing), Peking: Renmin Wenxue, 1977; Feng Jicai zhong-duanpian xiaoshuo ji, Peking: Zhongguo Qingnian, 1981; Feng Jicai xuanji, Tientsin: Baihua Wenyi, 1984; Feng Jicai xiaoshuo xuan, Chengdu: Sichuan Wenyi, 1985; Zhonghua sanwen zhencang ben, Feng Jicai juan, Peking: Renmin, 1995; Yibai ge ren de shinian, Nanjing: Jiangsu Wenyi, 1995/97; Feng Jicai xiaoshuo jingxuan, hg. von Zu Zhi, Xi’an: Taibai Wenyi, 1996/2001. ÜBERSETZUNGEN: »Drängen des Schicksals«, übers. von Dorothea Wippermann, in: Akzente 2/1985, S. 158–163 [auch in: Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, hg. von Helmut Martin, Bonn: Bouvier, 1993, S. 14–19]; Ach!, übers. von Dorothea Wippermann, Köln: Diederichs, 1985 [auch: Berlin (Ost): Volk und Welt, 1989]; »Die Frau, die durch Papiersammeln ihren Mann retten wollte«, übers. von Suizi Zhang u. Wolfgang Kubin, in: minima sinica 2/1989, S. 141–143; »Geschichte eines Lachens«, übers. von Suizi Zhang u. Wolfgang Kubin, in: minima sinica 1/1990, S. 126– 129; Der wundersame Zopf, übers. von Monika Katzenschlager u. Frieder Kern, Peking: Foreign Languages Press, 1991; Leben! Leben! Leben! Ein Mann, ein Hund und Mao

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Feng Menglong 冯梦龙 Zedong, übers. von Karin Hasselblatt, Aarau et al.: Sauerländer, 1993; Drei Zoll goldener Lotos, übers. von Karin Hasselblatt, Freiburg: Herder, 1994; Die lange Dünne und ihr kleiner Mann, übers. von Hannelore Salzmann, Dortmund: projekt verlag, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR:

Boris L. Riftin: »Literatur in China. Begegnungen in Tientsin«, in: Kunst und Literatur 4/1984, S. 484–502; Helmut Martin: »What If History Has Merely Played a Trick on Us? Feng Chi-tsʼai’s Writing, 1979 – 1984«, in: Reform and Revolution in Twentieth Century China, hg. von Yu-ming Shaw, Taipeh: Institute of International Relations, National Cheng-chi University, 1987, S. 277–290; David Wang: »Tai Hou-ying, Feng Chi-Tsʼai and Ah Cheng: Three Approaches to the Historical Novel«, in: Asian Culture Quarterly 16, 2 (1988), S. 70–88; Jun Li: »Feng Jicai: A Giant of a Writer in More Ways than One«, in: The Time is Not Ripe: Contemporary Chinaʼs Best Writers and Their Stories, hg. von Yang Bian, Peking: Foreign Languages Press, 1991, S. 78–84; Ylva Monschein: »Hundert Menschen in einem Jahrzehnt«, in: minima sinica 2/1995, S. 97–110; Monika Gänßbauer: Trauma der Vergangenheit. Die Rezeption der Kulturrevolution und der Schriftsteller Feng Jicai, Dortmund: projekt verlag, 1996 [mit einer Übersetzung von Hundert Schicksale in zehn Jahren]; Dietrich Tschanz: »Zehn Jahre im Leben von hundert gewöhnlichen Menschen«, in: Asiatische Studien 50, 1 (1996), S. 103–164; Yomi Braester u. Zhang Enhua: »The Future of China’s Memories: An Interview with Feng Jicai«, in: Journal of Modern Literature in Chinese 5, 2 (2002), S. 131–148; Monika Gänßbauer: »The Cultural Revolution in Feng Jicai’s Fiction«, in: China’s Great Proletarian Cultural Revolution. Master Narratives and Post-Mao Counternarratives, hg. von Woei Lian Chong, Lanham: Rowman and Littlefield, 2002, S. 319–344. [XWR]

Feng Menglong 冯梦龙 (Pseudonyme: Mohanzhai zhuren, Mouyuan yeshi, Lütianguan zhuren etc., zi: Youlong, Ziyou, Eryou, hao: Longziyou, 1574 – 1646), geb. in Changzhou (heute Suzhou, Provinz Jiangsu) Feng Menglong, der aus einem Ort in der Präfektur Suzhou stammte, hat sich in der Literaturgeschichte große Verdienste um die Bewahrung des mündlichen und frühen schriftlichen Erzählgutes im vormodernen China erworben. Feng sammelte und edierte zahlreiche Erzählungen, Lieder etc., die traditionell als volkstümlich galten und damit zu einer wenig angesehenen Literaturströmung zählten. Nachweislich fügte er seinen Editionen auch eigene Schöpfungen bei. Der Aufstieg zum Beamten blieb Feng lange Zeit verwehrt, erst im fortgeschrittenen Alter übertrug man ihm 1634 die Verwaltung eines Kreises in Fujian, wo er vier Jahre lang blieb. Auch den Herausforderungen der unsicheren politische Lage zum Ende der Ming-Dynastie (1368 – 1644) stellte er sich; zwar ist seine Mitgliedschaft in der Reformgesellschaft Fushe seit deren Gründung 1632 nicht endgültig belegt, doch stand er zumindest im Kontakt mit einigen Mitgliedern der Gesellschaft. Nach der Machtergreifung durch die Mandschuren in Peking war er vermut-

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Feng Menglong 冯梦龙

lich im Umkreis des Han-chinesischen Kaisers Zhu Yujian tätig, der im südchinesischen Fuzhou die kurzlebige Tang-Dynastie ausgerufen hatte. Bedeutsam ist vor allem Fengs Beitrag zur chinesischen Prosa in Form der kurzen Erzählung und des Romans. Unter dem Titel Drei Worte (San yan) wurden später die drei Bände Erzählungen aus Vergangenheit und Gegenwart (Gu jin xiaoshuo, ca. 1620, auch unter dem Titel Weise Worte zur Belehrung der Welt [Yushi mingyan] bekannt), Verständliche Worte zur Ermahnung der Welt (Jingshi tongyan, 1624) und Ewige Worte zur Erweckung der Welt (Xingshi hengyan, 1627) zusammengefaßt, in denen 120 Geschichten enthalten sind. Fengs Editorentätigkeit beschränkte sich jedoch keineswegs auf die reine Textreproduktion, vielmehr geht aus dem Vergleich mit dem überlieferten Ursprungsmaterial der Erzählungen hervor, daß Feng nicht selten drastische Eingriffe in den Texten vorgenommen hat und mitunter auch nicht davor zurückscheute, nur die Rahmenhandlungen der Geschichten zu übernehmen und diese dann stilistisch und inhaltlich nach seinem eigenen künstlerischen Empfinden umzugestalten. Parallel zu den Drei Worten veröffentlichte Feng Menglong eine Vielzahl weiterer Werke; stellvertretend genannt seien hier nur die noch in der Sprachform des klassischen Chinesisch gehaltene Anekdotensammlung Vage Berichte aus alter und neuer Zeit (Gu jin tan gai, 1620) und der Katalog der Weisheiten (Zhinang, 1626). Fengs Beteiligung an der Entstehung einiger früher Romane ist nicht minder komplex, doch ist hier wenigstens der Rahmen jener Werke überschaubar, an denen man einigermaßen zweifelsfrei sein Mitwirken nachweisen kann. Recht gut läßt sich Fengs Tätigkeit etwa am Beispiel des Romans Niederschlagung der Dämonen (Pingyaozhuan) ablesen, dessen ursprünglich 20 Kapitel umfassende Fassung er auf vierzig erweiterte. Mitgewirkt hat Feng auch an dem Roman Neue Geschichte der Staaten (Xin lieguozhi, 1627), der sich auf eine frühere Fassung namens Geschichte der Staaten (Lieguo zhizhuan) zurückführen läßt und selbst wiederum als Vorlage für Cai Yuanfangs (18. Jahrhundert) Qing-zeitliche Fassung Geschichte der Staaten der Östlichen Zhou (Dongzhou lieguozhi) diente. Darüber hinaus kommt Feng das Verdienst zu, die besonderen Qualitäten des frühen chinesischen Romans erkannt zu haben. So war er der erste, der die Romane Erzählung von den Drei Reichen (Sanguo yanyi), Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan), Jin Ping Mei und Die Reise in den Westen (Xiyouji) unter dem Begriff der »Vier herausragenden Werke« (si da qi shu) zusammenfaßte und damit die stilprägende Vorbildfunktion dieser Romane begründete. WERKAUSGABEN: Feng Menglong quanji, hg. von Wei Tongxian, Shanghai: Shanghai Guji, 1993; Gujin tangai, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1993; Jingshi tongyan, Xingshi hengyan, Yushi mingyan, je 2 Bde., hg. von Ma Songyuan, Peking: Zhongguo Xiju, 2000; Zhinang, 3 Bde., hg. von Ma Songyuan, Peking: Zhongguo Xiju, 2000. ÜBERSETZUNGEN: J. Lyman Bishop: The Colloquial Short Story in China. A Study of the San-yen Collections, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1956, S. 47–125 [Teil-

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Feng Zhi 冯至 übers.; mit einer Bibliographie der Einzelübersetzungen in westliche Sprachen auf S. 128– 135]; André Lévy et al.: Inventaire Analytique et Critique du Conte Chinois en Langue Vulgaire, Paris: College de France, Institute des Hautes Études Chinoises, 1978 [mit einer Bibliographie der Einzelübersetzungen in westliche Sprachen]; Patrick Hanan: The Chinese Vernacular Story, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1981, S. 245– 248. SEKUNDÄRLITERATUR: Patrick Hanan: The Chinese Short Story. Studies in Dating, Authorship and Composition, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973; W.L. Idema: Chinese Vernacular Fiction. The Formative Period, Leiden: Brill, 1974; Zhang Zhongli: Feng Menglong quanzhuan, Changchun: Changchun Chubanshe, 1997; Yang Shuhui: Appropriation and Representation: Feng Menglong and the Chinese Vernacular Story, Ann Arbor: Center for Chinese Studies University of Michigan, 1998; Hsu Pi-Ching: »Courtesans and Scholars in the Writings of Feng Menglong«, in: Nannü 2, 1, 2000, S. 40–77; Nie Fusheng: Feng Menglong yanjiu, Shanghai: Xuelin, 2002. [TZ]

Feng Zhi 冯至 (eig. Feng Chengzhi, zi: Junpei, 1905 – 1993), geb. in Zhuoxian (Provinz Hubei) Unter dem Einfluß der neuen Lyrik während der Bewegung des Vierten Mai (1919) begann Feng schon in der Schule Gedichte zu schreiben. Nach dem Schulabschluß studierte er an der Universität Peking Germanistik und gründete die literarische »Gesellschaft der Versunkenen Glocke« (Chenzhong she). 1927 veröffentlichte er seine erste Gedichtsammlung Lieder von gestern (Zuori zhi ge). Nach dem Studium war er ein Jahr lang in Harbin als Lehrer tätig und verfaßte aus seinen dortigen Erfahrungen heraus den Gedichtband Reise nach Norden und anderes (Beiyou ji qita). Von 1930 bis 1935 studierte er an der Universität Heidelberg Literatur und Philosophie und wurde mit einer Dissertation über Novalis promoviert. Nach China zurückgekehrt, erhielt er Professuren für Germanistik an verschiedenen Universitäten. 1942 erschienen in Kunming seine Sonette (Shisihangshi). Neben Lyrik veröffentlichte er auch zahlreiche Essays, den historischen Roman Wu Zixu (Wu Zixu [Eigenname], 1946) und eine Biographie über den Tang-Lyriker Du Fu (Du Fu zhuan, 1952). Nach 1949 war er Professor für Germanistik an der Universität Peking und später Direktor des Literaturwissenschaftlichen Institutes der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften. Durch seine langjährige Übersetzungsarbeit ist sein Name in China mit zahlreichen bedeutenden deutschen Literaten wie Goethe, Heine, Rilke, Nietzsche und Brecht verbunden. 1959 veröffentlichte er außerdem eine kurze Geschichte der deutschen Literatur. In Deutschland wurde Feng mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, darunter mit der GoetheMedaille, dem Gebrüder-Grimm-Preis und dem Bundesverdienstkreuz mit Stern. WERKAUSGABEN: Feng Zhi shixuan, Chengdu: Sichuan Wenyi, 1980; Feng Zhi xuanji, 2 Bde., Chengdu: Sichuan Wenyi, 1985; Feng Zhi quanji, 12 Bde., Shijiazhuang: Hebei Jiaoyu, 1999; Lüyiren – Wu Zixu, Shanghai: Fudan Daxue, 2006.

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Gan Bao 干宝 ÜBERSETZUNGEN: »Die Sonette des Feng Zhi«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Drachenboot 1/1987, S. 7–13; Feng Zhi: Inter Nationes Kunstpreis 1987. Die 27 Sonette, übers. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987; »Sonette«, übers. von Volker Klöpsch, in: Hefte für ostasiatische Literatur 6 (September 1987), S. 93–98; »Bar jeder Hoffnung. Vier Sonette«, übers. von Wolfgang Kubin, in: die horen 3/1989, S. 121f.; »Feng Zhi und sein Gedichtzyklus ›Reise nach Norden‹«, übers. von Barbara Hoster, in: Orientierungen 1/1990, S. 127–146. SEKUNDÄRLITERATUR: Dominic Cheung, Feng Chih, Boston: Twayne, 1979; ders.: »Feng Zhi, Rilke und die chinesische Form des Sonetts«, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 3, S. 373–381; Marián Gálik: »Feng Chihʼs Sonnets: the Interliterary Relations with German Romanticism, Rilke and van Gogh«, in: ders. (Hg.): Milestones in Sino-Western Literary Confrontation (1898 – 1979), Wiesbaden: Harrassowitz, 1986, S. 177–200; Wolfgang Kubin: »Die Philosophie des Weges. Die Sonette des Feng Zhi«, in: Drachenboot 1/1987, S. 7–14; Lloyd Haft: »Some Rhythmic Structures in Feng Zhiʼs Sonnets«, in: Modern Chinese Literature 9, 2 (1996), S. 297–326; Marián Gálik: »Feng Zhi and His Goethean Sonnet«, in: Crosscurrents in the literatures of Asia and the West. Essays in Honor of A. Owen Aldridge, hg. von Masayuki Akiyama u. Yiu-nam Leung, Newark: University of Delaware Press / London: Associated University Presses, 1997, S. 123–134. [XWR]

Gan Bao 干宝 (zi: Lingsheng, ? – 336), geb. in Xincai (heute Provinz Henan) Gan Bao hatte am Kaiserhof der Östlichen Jin-Dynastie (317 – 419) in Jianye (heute Nanjing) die Position des Historiographen inne. Zu seinen Freunden zählte der für sein enzyklopädisches Wissen berühmte (→) Guo Pu. Gan Bao kompilierte die Berichte von der Suche nach den Göttern (Soushenji), die nach den Umfassenden Berichten (Bowuzhi) des (→) Zhang Hua früheste Sammlung narrativer Prosa. Solche weder der Lyrik noch der Essayistik zuzuordnenden Texte nannte man spätestens seit (→) Ban Gus »Aufzeichnungen zur Literatur« (»Yiwenzhi«), in denen auch »Klatschgeschichten« verzeichnet sind, xiaoshuo (wörtlich: »kleines Gerede«) und begann sie nach und nach, als von Tatsachenberichten verschieden, in einem neu geschaffenen Bereich fiktionaler Prosa unterzubringen. Dort versammelte sich nun Kurioses, Skurriles, Übernatürliches, Humoristisches und vieles mehr. Damit war die Gattung der Erzählung vorbereitet, die schon in der Tang-Zeit (618 – 907) als »Novelle« (chuanqi) in formalisierterer Weise Gestalt annehmen sollte. Gan Bao gilt als einer der Begründer des Genres der zhiguai xiaoshuo, der Geschichten über seltsame Begebenheiten und übernatürliche Geschehnisse. Das Soushenji umfaßte ehemals 30 Kapitel, moderne Ausgaben sind in 20 Kapitel mit insgesamt 464 Abschnitten gegliedert. WERKAUSGABEN: Soushenji, hg. u. komm. von Wang Shaoying, Peking: Zhonghua Shuju, 1979.

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Gao E 高鹗 ÜBERSETZUNGEN: Der Mann, der einen Geist verkaufte, übers. von Käthe Zhao, Peking: Verlag für Fremdsprachige Literatur, 1984; Classical Chinese Tales of the Supernatural and the Fantastic. Selections from the Third to the Tenth Century, hg. von Karl S.Y. Kao, Bloomington: Indiana University Press, 1985; À la Recherche des Esprits, übers. von Rémi Mathieu, Paris: Gallimard, 1992; In Search of the Supernatural: The Written Record, übers. von Kenneth J. DeWoskin u. J.I. Crump Jr., Stanford: Stanford University Press, 1996. SEKUNDÄRLITERATUR: Kenneth J. DeWoskin: The Sou-shen chi and the Chih-kuai Tradition. A Bibliographical and Generic Study, Diss., New York, 1973; Li Jianguo: Tangqian zhiguai xiaoshuoshi, Tientsin: Nankai Daxue, 1984, S. 290‒316; Rémi Mathieu: Démons et Merveilles dans la Littérature des Six Dynasties, Paris: Éditions You-Feng, 2000. [HP]

Gao E 高鹗 (zi: Lanshu, hao: Honglou waishi, ca. 1746/1753 – ca. 1815) Nicht nur im Zusammenhang mit dem Roman Der Traum der Roten Kammer (Hongloumeng), an dessen Entstehung beide beteiligt waren, auch in Teilen ihrer Biographie gibt es interessante Parallelen zwischen (→) Cao Xueqin und Gao E. So stammten die Vorfahren Gaos wie die Caos aus dem Gebiet der Mandschurei und kamen mit den ersten Qing-Kaisern nach Zentralchina. Auch der große Familienclan der Gaos war in Peking ansässig und einflußreich genug, um Gao eine Ausbildung angedeihen zu lassen, die es ihm ermöglichte, alle wichtigen Beamtenprüfungen bis zur Erlangung des Doktorgrades erfolgreich abzulegen. Anders als Cao Xueqin war Gao E im Laufe seines Lebens auf mehreren Posten in der hauptstädtischen Regierung sowie in den Provinzen tätig. Nach allem, was man über Gao weiß, war er sehr belesen und besaß eine ausgeprägte künstlerische Begabung. Leider sind große Teile seines literarischen Werks verlorengegangen, nur die Titel sind überliefert. Bekanntheit erlangte Gao E vor allem aufgrund seiner Rolle bei der Abfassung der letzten vierzig Kapitel des Traums der Roten Kammer. Ob ihm oder dem gleichfalls an dem Entstehungsprozeß des Romans beteiligten Cheng Weiyuan (ca. 1745 – ca. 1819) dabei die wichtigere Rolle zukommt, ist in der Wissenschaft allerdings nach wie vor umstritten. Äußerungen Dritter ist jedoch zu entnehmen, daß Gao E daran den größeren Anteil hatte. Auch konnte bislang nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden, ob Gao und Cheng bloß Herausgeber eines bereits vorhandenen Manuskripts waren oder ob sie selbst den Roman fortschrieben. Hier rächt sich jedenfalls Cao Xueqins laxer Umgang mit Abschriften seines Romans. Teils mit Kommentaren versehen, fanden diese Versionen nach und nach den Weg an die Öffentlichkeit und gelangten schließlich auch in den Handel. All diesen Kopien war aber gemeinsam, daß sie mit dem 80. Kapitel endeten. Zwar behaupten

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Gao Ming 高明

Gao und Cheng, ein Fragment mit den 40 abschließenden Kapiteln des Romans gefunden zu haben, und unterstützen damit die These von Cao Xueqins alleiniger Verfasserschaft, doch ist nicht auszuschließen, daß es sich dabei um eine Finte handelt, die dem eigenen Textentwurf eine höhere Autorität verleihen soll. WERKAUSGABEN: Gao E shiwenji, hg. von Hu Wenbin et al., Tientsin: Baihua Wenyi, 1984. SEKUNDÄRLITERATUR: Hu Shi: »Hongloumeng kaozheng« (1922), in: Hu Shi Hongloumeng yanjiu lunshu zuanbian, Shanghai: Shanghai Guji, 1988, S. 75–120; Xiao Sai: Gao E qi ren, Taiyuan: Beiyue Wenyi, 1989; Wang Yongquan: Qianlong yu Gao E, Peking: Zhongguo Youyi, 2000; Shao Guangyou: Gao E / Ying Yong, Peking: Renmin Wenxue, 2003. [TZ]

Gao Ming 高明 (zi: Zecheng, hao: Caigen daoren, zwischen 1297 und 1307 ‒ 1368), geb. in Rui’an (Provinz Zhejiang) Gao Ming ist der Nachwelt hauptsächlich als Verfasser des Dramas Die Laute (Pipa ji) bekannt. Er war jedoch in erster Linie Gelehrter und Beamter. Er entstammte einer angesehenen Literatenfamilie. 1344 hat er den Magistertitel (juren) erworben und 1345 das Doktorat (jinshi) bestanden. Trotzdem hat er es in seiner Beamtenlaufbahn nur zu kleineren Posten in verschiedenen Provinzen gebracht. Allerdings wurde ihm am Ende seines Lebens die Ehre zuteil, von Zhu Yuanzhang, dem Gründer der Ming-Dynastie (1368 ‒ 1644), als Historiker an den Hof berufen zu werden. Damals lebte Gao Ming jedoch bereits seit langem (1356) im Ruhestand bei einer Familie im heutigen Ningbo (Provinz Zhejiang), wo er auch Die Laute verfaßt haben dürfte. Daher lehnte er den Ruf aus Krankheitsgründen ab und starb alsbald. (Als Todesdatum führen manche Quellen auch das Jahr 1359!) Die Laute dürfte 1367 erschienen sein. Sie gehört zu den ganz großen Werken der chinesischen Literatur. Es ist dies nicht das einzige Werk, das Gao Ming verfaßt hat, aber entweder sind seine Lyrik und Prosa nicht vollzählig überliefert, oder seine anderen Stücke – wir wissen allerdings namentlich nur von einem ‒ haben keine besondere Aufmerksamkeit bei der Nachwelt gefunden. Obwohl besagtes Stück in der Anlage sehr konfuzianisch gehalten ist, ist es dennoch alles andere als spröde. Meisterhaft treibt es den Konflikt des Helden auf die Spitze. Cai Bojie, der Protagonist, möchte drei Tugenden gleichzeitig gerecht werden, der Kindespietät, der ehelichen Treue und der Loyalität gegenüber dem Kaiser. Seine Konflikte vertiefen sich, je mehr er sich den Ansprüchen an sich selbst stellt. Um der Eltern willen geht er von daheim fort, um sein Examen zu machen. Um des Kaisers willen geht er in der Hauptstadt eine zweite Ehe ein. Um der zweiten Gattin gerecht zu werden, trifft er keinerlei Entscheidungen, sondern verfällt der Trübsal. Es sind die beiden Frauen, welche die Probleme zu lösen haben und in einer Gemeinschaft zu dritt die drei Tugenden miteinander aussöhnen.

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Gao Shi 高適

Gao Ming bedient sich hier eines historisch überlieferten Stoffes, denn Cai Bojie war ursprünglich eine wirkliche Person (133 ‒ 192), er war ein Literat, ein Kalligraph, dessen Name sich seit der Song-Zeit (960 – 1279) auf der Bühne und im Gedicht manch abschätziges Wort gefallen lassen mußte. Aus einem als treulos verschrienen Gatten hat der Autor ein Musterbeispiel an Loyalität und Pietät zu machen versucht. Auf Grund von dessen Handlungshemmung ist ihm dieses jedoch nicht ganz gelungen, was dem Stück freilich nur guttut. Die Laute ist eines der ersten chinesischen Theaterstücke, die in eine westliche Sprache übersetzt wurden (1841). Es ist mit seinen 42 Szenen in einer Übergangsform verfaßt, die vom Mongolendrama (zaju) zur Romanze (chuanqi) führt. Man nennt eine solche Form »Spiel des Südens« (nanxi). Das Stück ist vielfach anthologisiert und übersetzt (französisch, deutsch, japanisch, englisch) worden. Die deutsche Übertragung verdankt sich der Zusammenarbeit von Vincenz Hundhausen (1878 ‒ 1955) mit dem Dichter (→) Feng Zhi (1905 ‒ 1993). Die chinesische Literaturkritik hat manche Unstimmigkeit in diesem Stück auszumachen gesucht und auch die Deutung anders gewichtet. Ihr liegt mehr an dem Wandel, den die erste Gattin durchläuft: nämlich von einer selbstbezogenen jungen Frau zu einer aufopferungsbereiten Schwiegertochter. Diesem Wandel wird die äußere Handlung gerecht, die sich nach dem Fortgang des Cai Bojie kontrastierend auf zwei Ebenen zuträgt: in der Hauptstadt, wo der Protagonist mit seiner zweiten Gattin alles in Hülle und Fülle genießt, und auf dem Land, wo so große Not herrscht, daß die Schwiegereltern verhungern und die erste Gattin nur aufgrund ihrer Jugend überleben kann. Veranschlagt man jedoch den Begriff der Handlungshemmung aus der neueren Melancholiegeschichte, so lassen sich auch die vermeintlichen Unstimmigkeiten erklären: Wer nicht handeln kann, kann auch keine Nachricht von sich geben und ist auf die Hilfe anderer angewiesen. WERKAUSGABEN: Zhongguo shi da gudian beiju ji, hg. von Wang Jisi, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1982, S. 99‒234. ÜBERSETZUNGEN: Gau Ming: Die Laute. Ein chinesisches Singspiel in deutscher Sprache von Vincenz Hundhausen, Peking: Pekinger Verlag, 1930; The Lute. Kao Ming’s P’ip’a chi, übers. von Jean Mulligan, New York: Columbia University Press, 1980. SEKUNDÄRLITERATUR: John Y.H. Hu: »The Lute Song Reconsidered: A Confucian Tragedy in Aristotelian Dress«, in: Tamkang Review VI, 2 / VII, 1 (1975/76), S. 449‒463; Jean Mulligan: The P’ip’a-chi and Its Role in the Development of the Ch’uan-chi’i Genre, Diss., University of Chicago, 1976. [WK]

Gao Shi 高適 (zi: Dafu, Zhongwu, ca. 706 – 765), geb. in Bohai (heute Provinz Hebei) Gao Shi entstammte einer in schlimmsten Zeiten bettelarmen Beamtenfamilie. Im Jahr 737 versuchte er, an der Front im Nordosten des Reiches der Armee beizutre-

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Gao Shi 高適

ten, doch erst zehn Jahre später erhielt er den noch geringen Posten, den Bezirk Fengqiu (Provinz Henan) militärisch zu verteidigen. 754 wurde der turkstämmige General Geshu Han auf Gao aufmerksam und nahm ihn auf einen Feldzug nach Zentralasien mit. Nachdem Geshu Han 755 den Truppen An Lushans unterlegen war, hatte Gao den Mut, seinen gescheiterten und im Kampf gefallenen General bei Hofe zu verteidigen. Kaiser Xuanzong (reg. 713 – 755) belohnte dieses loyale Verhalten mit einem hohen Amt. 757 half er unter Kaiser Suzong (reg. 756 – 762) bei der Niederschlagung der Rebellion des Prinzen Lin von Yong, in die auch der Gao Shi persönlich bekannte Dichter (→) Li Bai verstrickt war. Als das Reich nach den Wirren der An-Lushan-Rebellion weitestgehend befriedet und der Kaiserhof wieder nach Changʼan zurückverlegt worden war, wurde Gao Shi, wie viele seiner Kollegen, die bereits unter Kaiser Xuanzong gedient hatten, zunächst von der Hauptstadt ferngehalten. Er diente in dieser Zeit am Hof des Kronprinzen in Luoyang. 760 wurde er zum Präfekten von Pengzhou (Provinz Sichuan) ernannt, wo er, wie (→) Cen Shen, mit mehreren lokalen Rebellionen zu kämpfen hatte. 762 scheiterte er bei der Niederschlagung eines Aufstandes der Tibeter und wurde nach Changʼan zurückbeordert. Trotz dieser Niederlage ernannte man ihn zum Stellvertretenden Justizminister und Kaiserlichen Rat. Gao Shis ca. 250 Gedichte umfassendes Werk ist stark durch sein politisches Leben geprägt, insbesondere die Erfahrungen des Bürgerkrieges und der Grenzkonflikte, die das Tang-Reich in der Mitte des 8. Jahrhunderts erschütterten. Nicht umsonst fühlte er sich den Dichtern der Jianʼan-Periode (196 – 220) verbunden, jenen Chronisten des Untergangs der Han-Dynastie. Wie vor ihm (→) Cao Pi schuf er ein Gedicht des Titels »Lied des Staates Yan« (»Yanʼgexing«), sein bekanntestes Gedicht im Genre der »Front-« oder »Grenzlyrik« (biansaishi). Das Bedürfnis nach einer Rückkehr zur Ernsthaftigkeit der Dichtung des frühen chinesischen Mittelalters und nach einer Abkehr von der höfischen Lyrik, die in den Jahrhunderten vor der Tang-Zeit überhandgenommen hatte und gleichzeitig verflacht war, teilte Gao Shi mit dem Dichter (→) Chen Ziʼang, der zur »Rückkehr zum Altertum« (fugu) aufgerufen hatte. Gao Shis Rückbesinnung auf das Altertum geht allerdings zuweilen mit einem übertriebenen Heldenethos einher, das dazu tendiert, die Schattenseiten des Krieges zu verharmlosen. WERKAUSGABEN: Gao Shi, Cen Shen shi yishi, hg. von Gao Guangfu, Harbin: Heilongjiang Renmin, 1984. ÜBERSETZUNGEN: Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 257f.; Chinesische Dichter der Tang-Zeit, übers. von Günther Debon, Stuttgart: Reclam, 1964, S. 45. SEKUNDÄRLITERATUR: Marie Chan: Kao Shih, Boston: Twayne, 1978; Stephen Owen: The Great Age of Chinese Poetry: The High Tʼang, New Haven u. London: Yale University Press, 1981, S. 147‒162; Zhou Xunchu u. Yao Song: Gao Shi he Cen Shen, Shanghai: Shanghai Guji, 1991. [HP]

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Gao Xiaosheng 高晓声

Gao Xiaosheng 高晓声 (1928 – 1999), geb. in Wujin (Provinz Jiangsu) Geboren und aufgewachsen in Wujin in der Provinz Jiangsu, ging Gao nach dem Schulabschluß nach Shanghai, um an einer privaten Hochschule Ökonomie zu studieren. 1949 gab er das Studium wieder auf und zog in die Stadt Wuxi, wo er eine einjährige journalistische Ausbildung an der Fachhochschule Sunan für Medienwissenschaft absolvierte. Von 1950 bis 1957 war er Angestellter im Kulturamt der Region Sunan (Südjiangsu) und der Provinzregierung von Jiangsu. Nach seiner Aufnahme in den Schriftstellerverband der Provinz 1957 wurde er Berufsschriftsteller. Kurze Zeit später verurteilte man ihn als »Rechtsabweichler« und verbannte ihn aufs Land. Erst 1979 wurde er rehabilitiert und wieder in sein altes Amt eingesetzt. Bis zu seinem Tod war Gao Vorstandsmitglied des Chinesischen Schriftstellerverbandes und Vizevorsitzender des Verbandes der Jiangsuer Schriftsteller. Schon in den 50er Jahren veröffentlichte Gao zahlreiche Erzählungen und mit Ye Zhicheng zusammen das Theaterstück Auf einem neuen Weg (Zoushang xin lu, 1955). Seine frühen Werke thematisieren das »neue« Leben auf dem Land nach der »Befreiung« durch die kommunistische Armee und werden heute kaum noch gelesen. Die Blütezeit seiner literarischen Laufbahn begann erst 1979. Von 1980 bis 1984 veröffentlichte er jedes Jahr einen Sammelband mit Erzählungen. Nach 20 Jahren auf dem Land verstand er besser als jeder andere Literat die Bauern und war daher in der Lage, ihre Welt lebensnah darzustellen. Es gelingt ihm, das beschwerliche Leben der Bauern lakonisch-nüchtern und doch zugleich elegant und durch Humor gemildert zu gestalten. Seine bedeutendsten Werke sind die Kurzgeschichtensammlung Li Shunda baut ein Haus (Li Shunda zao wu, 1979) und die Fortsetzungsgeschichten um Chen Huansheng. 1991 und 1992 publizierte er die Romane Der blaue Himmel da oben (Qingtian zai shang) und Chen Huansheng geht in die Stadt und ins Ausland (Chen Huansheng shang cheng chuguo ji). WERKAUSGABEN: Qijiu xiaoshuo ji, Nanjing: Jiangsu Renmin, 1980; Chen Huansheng shang cheng chuguo ji, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1991; Gao Xiaosheng xiaoshuo xuan, Peking: Waiyu Jiaoxue Yu Yanjiu, 1999; Gao Xiaosheng wenji, hg. von Lu Wenfu u. Fei Zhenzhong, 4 Bde., Peking: Zuojia, 2001. ÜBERSETZUNGEN: »Chen Huansheng geht in die Stadt«, übers. von Gabriele Jordan, in: Erkundungen. 16 chinesische Erzähler, hg. von Fritz Gruner u. Eva Müller, Berlin: Volk und Welt, 1984, S. 238‒251; »Li Shunda baut ein Haus«, übers. von Eike Zschacke, in: Die Drachenschnur. Geschichten aus dem chinesischen Alltag, hg. von Andreas Donath, Frankfurt a.M. et al.: Ullstein, 1984, S. 183–218; »Der Strick«, übers. von Eike Zschacke, in: ders. (Hg.): Das Weinen in der kalten Nacht. Zeitgenössische Erzählungen aus China, Bornheim: Lamuv, 1985, S. 125–143; Geschichten von Chen Huansheng, übers. von Eike Zschacke, Göttingen: Lamuv, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Jeanette L. Faurot: »Shoes That Fit – The Stories of Gao Xiaosheng«, in: Perspectives in Contemporary Chinese Literature, hg. von Mason Y.H. Wang, Michi-

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Gao Xingjian 高行健 gan: Green River Press, 1983, S. 77–88; Margeret Decker: The Vicissitudes of Satire in Contemporary Chinese Fiction: Gao Xiaosheng, Diss., Stanford University, 1987; Yi-tsi Mei Feuerwerker: »An Interview with Gao Xiaosheng«, in: Modern Chinese Literature 3, 1/2 (Spring/Fall 1987), S. 113–135; Li Guoqing: »Roots in the Same Land: On Hwang Chʼun-ming and Kao Hsiao-shengʼs Stories«, in: Chinese Culture 38, 3 (1997), S. 117– 135; Yi-tsi Mei Feuerwerker: »Reassesing the Past in the ›New Era‹: Gao Xiaosheng«, in: dies.: Ideology, Power, Text. Self-Representation and the Peasant »Other« in Modern Chinese Literature, Stanford: Stanford University Press, 1998, S. 146–187. [XWR]

Gao Xingjian 高行健 (1940 – ), geb. in Ganzhou (Provinz Jiangxi) Der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 2000 stammt aus einer Region Südchinas, die zwischen den Provinzen Jiangxi und Guangdong liegt. Sein Vater war Bankangestellter, seine Mutter Mitglied einer christlichen Jugendorganisation und während des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) Schauspielerin in einer Theatergruppe. Unter ihrem Einfluß entwickelte Gao schon als Kind einen Bezug zum Theater. 1950 zog die Familie nach Nanjing. Bis 1952 ging Gao in eine Mittelschule, die früher von christlichen Missionaren verwaltet worden war, und konnte sich dort mit westlicher Literatur und Kunst vertraut machen. Nach dem Schulabschluß 1957 studierte er Französisch an der Universität für Fremdsprachen in Peking und arbeitete danach als Übersetzer beim Verlag Zhongguo Shudian. Von 1970 bis 1975 wurde er wie so viele Intellektuelle seiner Zeit aufs Land geschickt. 1975 kehrte er nach Peking zurück und arbeitete für die Zeitschrift Chinas Aufbau (Zhongguo jianshe) als Redakteur für Französisch. Ab 1977 war er für den chinesischen Schriftstellerverband tätig und konnte 1979 als Dolmetscher des damaligen Vorsitzenden (→) Ba Jin Paris besuchen. In der ersten Hälfte der 80er Jahre schrieb er seine ersten Theaterstücke für das Pekinger Volkstheater, darunter Alarmsignal (Juedui xinhao, mit Liu Huiyuan, 1982), Die Busstation (Chezhan, 1983) und Der wilde Mann (Yeren, 1985), die sensationelle Bühnenerfolge feierten. Während dieser Zeit übersetzte Gao außerdem Theaterstücke von Eugène Ionesco (1909 – 1994) und Jacques Prévert (1900 – 1977) ins Chinesische und schrieb daneben das literaturtheoretische Buch Erste Überlegungen zur modernen Erzählkunst (Xiandai xiaoshuo chutan, 1981). 1985 machte er bei einer Kunstausstellung in Peking (zusammen mit dem Bildhauer Yin Guangzhong) auch als Maler auf sich aufmerksam. In demselben Jahr erhielt er eine Einladung nach Europa und bereiste u.a. Deutschland und Frankreich. In Berlin stellte er seine Malerei abermals aus und konnte einige Werke zu erstaunlich hohen Preisen verkaufen. Während Gao seinen großartigen Auftritt in der europäischen Kunst- und Literaturszene genoß, erregten seine von der westlichen Literatur stark beeinflußten Theaterstücke in China ein tiefes politisches Mißfallen, denn die damalige Regierung hatte große Angst vor einer Ver-

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westlichung der chinesischen Kultur. Dieser Umstand veranlaßte Gao, sich 1988 endgültig in Paris niederzulassen, nachdem er 1987 als DAAD-Stipendiat erneut nach Deutschland gereist war. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 verkündete er seinen Austritt aus der Kommunistischen Partei Chinas und inszenierte danach in Schweden sein neues Stück Die Flucht (Taowang, 1990), das diese politischen Ereignisse thematisiert. Dadurch verschärfte sich sein Konflikt mit der Pekinger Regierung, die ihm die Rückkehr nach China verbot. In Paris ist Gao seither als anerkannter Künstler aktiv und gewann dort mehrere Kunst- und Literaturpreise. 1997 wurde er französischer Staatsbürger. Im Exil wandte er sich zunehmend der Erzählliteratur zu. 1990 und 1999 veröffentlichte er jeweils einen autobiographischen Roman: Der Berg der Seele (Lingshan) und Das Buch eines einsamen Menschen (Yi ge ren de shengjing). Die Verleihung des Nobelpreises an Gao – für, so die Begründung, »ein Werk von universeller Gültigkeit, bitterer Einsicht und sprachlichem Sinnreichtum« – haben viele Chinesen eher verständnislos aufgenommen und als politische Geste betrachtet. Diese Skepsis rührt auch daher, daß Gao in seinem Heimatland nur mit einigen frühen Theaterstücken europäischen Einschlags bekannt war, während seine späteren literarischen Werke, darunter insbesondere seine im Exil geschriebenen Theaterstücke und Romane, in China lange Zeit nicht wahrgenommen wurden. WERKAUSGABEN: Gao Xingjian xiju ji, Peking: Qunzhong, 1985; Gei wo laoye mai yugan, Taipeh: Taiwan Lianjing, 1989; Lingshan, Taipeh: Taiwan Lianjing, 1990; Shanghaijing zhuan, Hongkong: Tiandi Tushu, 1992; Yi ge ren de shengjing, Taipeh: Taiwan Lianjing, 1999. ÜBERSETZUNGEN: »Mein Verhältnis zu Brecht«, übers. von Almuth Richter, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36 (1986), Heft 3, S. 319f.; »Selbstgespräch«, übers. von Helmut Forster-Latsch und Marie-Luise Latsch, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36 (1986), Heft 3, S. 416–423; Die Busstation, übers. vom Arbeitskreis Moderne chinesische Literatur am Ostasiatischen Seminar der FU Berlin, Bochum: Brockmeyer, 1988; »Ein Verkehrsunfall«, übers. von Almuth Richter, in: die horen 155 (1989), S. 204–209; The Other Shore. Plays by Gao Xingjian, übers. von Gilbert C.F. Fong, Hongkong: Chinese University Press, 1999; Auf dem Meer, übers. von Natascha Vittinghoff, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 2000; Der Berg der Seele, übers. von Helmut Forster-Latsch, Marie-Luise Latsch u. Gisela Schneckmann, Frankfurt a.M.: Fischer, 2001; Das Buch eines einsamen Menschen, übers. von Natascha Vittinghoff, Frankfurt a.M.: Fischer, 2004; Die Angel meines Großvaters. Erzählungen, übers. von Natascha Vittinghoff, Frankfurt a.M.: Fischer, 2008. SEKUNDÄRLITERATUR: Geremie Barme: »A Touch of the Absurd – Introducing Gao Xingjian and His Play The Bus Stop«, in: Renditions 19/20 (Spring & Autumn 1983), S. 373– 377; Monica Basting: »Yeren« – Tradition und Avantgarde in Gaos Theaterstück »Die Wilden«, Bochum: Brockmeyer, 1988 [mit einer Übersetzung von Die Wilden]; Wendy Larson: »Realism, Modernism, and the Anti-›Spiritual Pollution‹ Campaign in Modern China«, in: Modern China 15, 1 (1989), S. 37–71; Josephine Riley u. Michael Gissen-

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Ge Fei 格非 wehrer: »The Myth of Gao Xingjian«, in: Haishi Zou Hao: Chinese Poetry, Drama and Literature of the 1980s, hg. von Josephine Riley and Else Unterrieder, Bonn: Engelhard-Ng, 1989, S. 129–195; Bruno Roubicek: »Introduction to Wild Man: A Contemporary Chinese Spoken Drama«, in: Asian Theatre Journal 7, 2 (1990), S. 184–190; Zou Jiping: Gao Xingjian and Chinese Experimental Theatre, Diss., University of Illinois, 1994; Mabel Lee: »Without Politics: Gao Xingjian on Literary Creation«, in: Stockholm Journal of East Asian Studies 6 (1995), S. 82–101; »Walking Out of Other Peopleʼs Prisons: Liu Zaifu and Gao Xingjian on Chinese Literature in the 1990s«, in: Asian and African Studies 5, 1 (1996), S. 98–112; Harry H. Kuoshu: »Will Godot Come by Bus or through a Trace? Discussion of a Chinese Absurdist Play«, in: Modern Drama 41, 3 (Fall 1998), S. 461–473; Sy Ren Quah: The Theatre of Gao Xingjian: Experimentation Within the Chinese Context and Towards New Modes of Representation, Diss., Cambridge University, 1999; ders.: »Searching for Alternative Aesthetics in the Chinese Theatre: The Odyssey of Huang Zuolin and Gao Xingjian«, in: Asian Culture 24 (June 2000), S. 44–66; Henry Y.H. Zhao: Towards a Modern Zen Theatre. Gao Xingjian and Chinese Theatre Experimentalism, London: School of Oriental and African Studies, 2000; Gregory Lee u. Noel Dutrait: »Conversations with Gao Xingjian: The First ›Chinese‹ Winner of the Nobel Prize for Literature«, in: The China Quarterly 167 (2001), S. 738–784; Soul of Chaos. Critical Perspectives on Gao Xingjian, hg. von Kwok-kan Tam, Hongkong: Chinese University Press, 2001; Sylvia Li-chun Lin: »Between the Individual and the Collective: Gao Xingjianʼs Fiction«, in: World Literature Today (Winter 2001), S. 20–30; Julia Lovell: »Gao Xingjian, the Nobel Prize, and Chinese Intellectuals: Notes on the Aftermath of the Nobel Prize 2000«, in: Modern Chinese Literature and Culture 14, 2 (Fall 2002), S. 1–50; Thomas Moran: »Lost in the Woods: Nature in Soul Mountain«, in: ebd., S. 207–236; Carlos Rojas »Without [Femin]ism: Femininity as Axis of Alterity and Desire in Gao Xingjianʼs One Manʼs Bible«, in: ebd., S. 163–206; Gang Gary Xu: »My Writing, Your Pain, and Her Trauma: Pronouns and (Gendered) Subjectivity in Gao Xingjianʼs Soul Mountain and One Manʼs Bible«, in: ebd., S. 99– 129; Liu Zaifu: »Afterword To One Manʼs Bible«, in: ebd., S. 237–242; Sy Ren Quah: »Performance in Alienated Voices: Mode of Narrative in Gao Xingjianʼs Theater«, in: ebd., S. 51–98; ders.: Gao Xingjian and Transcultural Chinese Theater, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 2004; Silhouette/Shadow: The Cinematic Art of Gao Xingjian, hg. von Fiona Sze-Lorrain, Paris: Contours, 2007. [XWR]

Ge Fei 格非 (eig. Liu Yong, 1964 ‒), geb. in Dantu (Provinz Jiangsu) Seine akademische Karriere begann Ge Fei in Shanghai, wo er 1981 als Siebzehnjähriger ein Studium der Chinesischen Literatur an der Ostchinesischen Pädagogischen Hochschule aufnahm. Nach dem Abschluß 1985 blieb er als Dozent an dieser Universität, bis er im Jahr 2000 nach erfolgreicher Promotion als Professor an die renommierte Pekinger Tsinghua-Universität wechselte. Ge Feis schriftstellerische Karriere begann Mitte der 80er Jahre. 1986 veröffentlichte er seine erste Erzählung, es folgten mehrere Romane und Erzählbände. Von

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der Literaturkritik wird Ge Fei gern der »Avantgarde« (xianfengpai oder xianfeng wenxue) zugerechnet – ein Etikett, das nicht ganz so schwammig ist, wie es scheint. Denn immerhin eint die Autoren, die um das Jahr 1987 herum mit dieser Erzählhaltung die literarische Bühne betreten (ohne je eine Gruppe oder Schule im engeren Sinne zu bilden), nicht nur ihre Offenheit für (post)moderne Erzähltechniken, sondern auch ihre Verweigerung jener obsession with China (C.T. Hsia), die vor ihnen so viele chinesische Literaten des 20. Jahrhunderts umtrieb. Die Absage an »Geschichte« als konventionelles Erzählmuster geht einher mit der Absage an »Geschichte« als objektives Fundament eines nationalen Gedächtnisses. Die eine, monolithische Geschichte – im doppelten Sinne – wird zu lauter fragmentierten Geschichten aufgebrochen, die weder eine kollektive Sinnstiftung noch eine kohärente individuelle Identität mehr erlauben. Insofern hat man die »Avantgarde« immer wieder – und zu Recht – als Ausdruck einer epochalen postmaoistischen Desillusionierung gelesen. »Das verschwundene Boot« (»Mi zhou«, 1988) ist repräsentativ für diese frühen Erzählungen im fiktiv-historischen Gewand. Mit ihnen, weniger mit seinen modernen Großstadtgeschichten ist Ge Fei bekannt geworden. Die Figuren, die er darin auftreten läßt, wirken geistig seltsam ortlos und verloren, die Atmosphäre oft unwirklich. Unter den »Avantgardisten« Ende der 80er Jahre – darunter die später kommerziell sehr erfolgreichen (→) Yu Hua und (→) Su Tong – ist Ge Fei der Intellektuelle, der stilistische Feingeist und subtile Ironiker. Erst 2004 gelang es ihm mit seinem vierten Roman Das Paradies auf deinem Gesicht (Renmian taohua), seinen hohen intellektuellen und literarischen Ansprüchen treu zu bleiben, von der Literaturkritik gefeiert zu werden und gleichzeitig ein breiteres Publikum anzusprechen. Der Roman ist der erste Teil einer geplanten Trilogie, deren zweiter Teil (Shan he ru meng, in etwa: Träume von Bergen und Flüssen) 2007 erschien. Mit dem Grundthema der Trilogie, dem Scheitern des für das China des 20. Jahrhunderts so zentralen politischen Utopismus – im ersten Roman angesiedelt im untergehenden Kaiserreich Anfang des 20. Jahrhunderts, im zweiten Roman im Kommunismus Ende der 50er Jahre, im dritten, noch ausstehenden Teil in der jüngsten Vergangenheit –, macht Ge Fei den unausgesprochenen Hintergrund seiner frühen Erzählungen explizit. Der rätselhaft scheinende Titel des ersten Trilogieteils – wörtlich: »Die Pfirsichblüte auf dem Antlitz des Menschen« – spielt auf die berühmteste Utopie der chinesischen Geistesgeschichte an, die »Sage vom Pfirsichblütenquell« (»Taohuayuan ji«). (→) Tao Yuanming (365 – 427) entwirft darin eine ideale ländliche Gemeinschaft, die, fernab von den Wirren der Außenwelt, in Einklang mit sich und der Natur lebt. In Ge Feis Roman eifert eine Banditengemeinschaft diesem Ideal nach. Doch das vermeintlich wahrgewordene utopische Idyll endet in Mord und Totschlag. Die Heldin des Romans, die fünfzehnjährige Xiumi, die von den Banditen entführt worden ist, wird im Spannungsfeld von Liebe und Revolution

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dennoch selbst zur Revolutionärin. Erst aus der Melancholie des Scheiterns erwächst ihr schließlich ein neuer Lebenssinn: in der gelebten Menschlichkeit und in der Hinwendung zu den kleinen Dingen. Nur oberflächlich betrachtet hat Ge Fei einen historischen Roman geschrieben, in Wahrheit eher dessen Kontrafaktur. Nicht um die Geschichte als solche oder deren vermeintliche »Macher« geht es ihm, sondern um den einzelnen, der sich wie ein Blatt vom Strom der Ereignisse mitgerissen fühlt. Unter der dramatischen Oberfläche hat der Autor einen stillen, fast meditativen Roman geschrieben, in dem nur die nächste, innerste Wirklichkeit Bestand hat, während sich die Wirklichkeit der »großen« äußeren Welt in eine traumgleiche Ferne verflüchtigt. Der subversive und dennoch empathische Blick, den Ge Fei auf die Revolutionsbesessenheit im China des 20. Jahrhunderts wirft, ist dabei tief im Geist der chinesischen Tradition und ihrer Ästhetik – greifbar auch in der gehoben-poetischen, vereinzelt sogar klassischen Diktion – verwurzelt. Als treibende Kraft hinter dem utopischen Denken enthüllt der Autor durchaus wohlwollend eine romantische Geisteshaltung, eine Sehnsucht nach Überhöhung und Überschreitung der Wirklichkeit, nach dem »Paradies« von Schönheit und Liebe. Fatal wird diese Romantik nur da, wo sie politisch wird und das Denkbare mit dem Lebbaren in eins setzt (Rüdiger Safranski). Auch im Nachfolgeroman Träume von Bergen und Flüssen behält die utopische Romantik ihr Janusgesicht: Sie kann Not und Elend heraufbeschwören oder in einem Totalitarismus mit Orwellschen Zügen enden, aber sie kann auch als Vision von einem besseren Leben die Wirklichkeit transzendieren. Tan Gongda, der Protagonist dieses zweiten Trilogieteils, Kreisvorsteher im maoistischen China der 50er Jahre, ist der Sohn der Revolutionärin Xiumi, die den ersten Teil bestimmte. Mutter und Sohn verbindet ihre utopische Sehnsucht. Das Objekt dieser Sehnsucht tritt bei beiden in zweierlei Gestalt auf: als politische Utopie und als private Liebesutopie. Der Roman entwirft ein sorgsam austaxiertes Beziehungsgeflecht unterschiedlichster Figuren – von Utopisten verschiedener Colour (von harmlos-weltfremd bis totalitär) über Pragmatiker, Realisten, Opportunisten etc. bis hin zu Tan Gongdas gänzlich unpolitischer, kindlicher Geliebter Yao Peipei, die zu verletzlich für jede menschliche Gesellschaft scheint. Wie der Vorgängerroman zeichnet sich auch Träume von Bergen und Flüssen durch seinen Gedankenreichtum und die sorgfältige Komposition aus; hinzu kommt die anmutig fließende Lebhaftigkeit der Sprache und die Einheit von Komik und Tragik. WERKAUSGABEN: Ge Fei wenji, 3 Bde., Nanjing: Jiangsu Wenyi, 1996; Renmian taohua, Shenyang: Chunfeng Wenyi, 2004; Shan he ru meng, Peking: Zuojia, 2007. ÜBERSETZUNGEN: »The Lost Boat«, übers. von Caroline Mason, in: The Lost Boat. Avantgarde Fiction from China, hg. von Henry Y H [sic] Zhao, London: Wellsweep, 1993, S. 77–100; »Meetings«, übers. von Deborah Mills, in: Abandoned Wine, hg. von Henry

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Ge Hong 葛洪 Y H Zhao u. John Cayley, London: Wellsweep, 1996, S. 15–49; Nuée d’oiseaux bruns, übers. von Chantal Chen, Arles: Philippe Picquier, 1996; China’s Avant-garde Fiction. An Anthology, hg. von Jing Wang, Durham u. London: Duke University Press, 1998, S. 15–22 [»Remembering Mr. Wu You«, übers. von Howard Goldblatt], 23–42 [»Green Yellow«, übers. von Eva Shan Chou], 43–68 [»Whistling«, übers. von Victor H. Mair]; »Encounter«, in: Tales of Tibet. Sky Burials, Prayer Wheels, and Wind Horses, hg. u. übers. von Herbert Batt, Lanham: Rowman & Littlefield, 2001, S. 77–104; The Mystified Boat and Other New Stories from China (Special issue of Manoa 15, 2 [Winter 2003]), hg. von Frank Stewart u. Herbert J. Batt, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, S. 1–7 [»A Date in Purple Bamboo Park«, übers. von Lucas Klein], 142–161 [»The Mystified Boat«, übers. von Herbert J. Batt]; Impressions à la saison de pluies. Nouvelles, übers. von Xiaomin Giaferri-Huang, La Tour d’Aigues: Éditions de l’Aube, 2004; »Das Schweigen«, übers. von Peggy Kames, in: Stumme Städte. Neue Großstadtliteratur aus China. Orientierungen Themenheft 2006, hg. von Marc Hermann, S. 51–58; Poèmes à l’Idiot. Roman, übers. von Xiaomin Giaferri-Huang, La Tour d’Aigues: Éditions de l’Aube, 2008; Coquillages, übers. von Xiaomin Giaferri-Huang, La Tour d’Aigues: Éditions de l’Aube, 2008. SEKUNDÄRLITERATUR: Jing Wang: »The Mirage of Chinese ›Postmodernism‹: Ge Fei, Self-Positioning, and the Avant-garde Showcase«, in: positions 1, 2 (1993), S. 349–388; Xudong Zhang: Chinese Modernism in the Era of Reforms, Durham: Duke University Press, 1997, S. 163–200; Xiaobin Yang: The Chinese Postmodern. Trauma and Irony in Chinese Avant-garde Fiction, Ann Arbor: University of Michigan Press, 2002, S. 168–187; Justyna Jaguscik: »Im Labyrinth der Geschichte(n). Erinnerung und Vergessen in Gé Fēis Erzählungen«, in: Orientierungen 2/2010, S. 30–47. [MH]

Ge Hong 葛洪 (zi: Zhichuan, 283 – 343), geb. in Danyang (nahe Nanjing, Provinz Jiangsu) Der daoistische Philosoph und Alchemist Ge Hong hatte zwar als Sohn einer traditionsreichen Beamtenfamilie eine streng konfuzianische Erziehung genossen, begann sich aber schon früh für die mystischen Praktiken des religiösen Daoismus zu interessieren, insbesondere für die Suche nach der Unsterblichkeit. Obwohl ihm nach der Gründung der Östlichen Jin-Dynastie (317 – 419) wiederholt öffentliche Ämter angeboten worden waren, wählte er das zurückgezogene Leben eines Privatiers. Sein Ansehen bei Hofe scheint darunter nicht gelitten zu haben, denn im Jahr 330 wurde ihm der Titel eines Grafen (hou) samt den dazugehörigen Ländereien in seiner Heimatregion in der Provinz Jiangsu verliehen. Ge Hong glaubte – im Unterschied zu (→) Guo Pu – an die Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen, und suchte gar nach praktischen Wegen, in ihren Genuß zu kommen. In seinem Hauptwerk Meister der Einfachheit (Baopuzi), das sich in »Äußere« (waipian) und »Innere Kapitel« (neipian) gliedert, versuchte er, mit

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konfuzianischer Dialektik die daoistische Mystik zu begründen, ein nicht nur offenkundig halbherziges, sondern auch nahezu unmögliches Unterfangen. Nichtsdestotrotz ist das Werk insbesondere in seinen »Äußeren Kapiteln« von großem historischem Interesse, da es die Wirren des frühen 4. Jahrhunderts nach dem Fall der Westlichen Jin-Dynastie thematisiert. Die »Inneren Kapitel« befassen sich mit esoterischen Themen wie z.B. der Alchemie, Heilkunde und Sexualität. Ge Hong kompilierte darüber hinaus die Sammlung Biographien von Göttern und Unsterblichen (Shenxianzhuan), die dem Genre der zhiguai xiaoshuo, der Geschichten über seltsame Begebenheiten ([→] Gan Bao), zuzurechnen ist. In der daoistischen Tradition wurden ihm zudem eine Reihe von apokryphen Werken zugeschrieben. Wie vor ihm Guo Pu wurde auch Ge Hong bereits ab dem 4. Jahrhundert von verschiedenen Sekten des religiösen Daoismus vereinnahmt und unwiederbringlich ins Reich der Legenden verbannt. WERKAUSGABEN: Baopuzi, hg. von Sun Xingyan, in: Zhuzi jicheng, Taipeh: Shijie Shuju, 1969; Baopuzi neipian jiaoshi, hg. von Wang Ming, Peking: Zhonghua Shuju, 1985; Baopuzi waibian jiaojian, hg. von Yang Mingzhao, Peking: Zhonghua Shuju, 1991. ÜBERSETZUNGEN: Alchemy, Medicine, Religion in China of A.D. 320: The Nei-pʼian of Ko Hung, übers. von James R. Ware, Cambridge, Mass.: M.I.T. Press, 1966. SEKUNDÄRLITERATUR: Nathan Sivin: »On the Pao p’u tzu nei p’ian and the Life of Ko Hung (283 – 343)«, in: Isis 60 (1969), S. 388‒391; Li Liu: Légendes Taoistes du ChenSien-tchouan, Diss., Paris, 1978; Jay Sailey: The Master Who Embraces Simplicity. A Study of the Philosopher Ko Hung (A.D. 283 ‒ 343), San Francisco: Chinese Materials Center, 1978; Baopuzi yanjiu, hg. von Lan Xiulong, Yonghe: Wenjin, 1980; Lin Lixue: Baopuzi neiwaipian sixiang xilun, Taipeh: Xuesheng Shuju, 1980; Chi Tim Lai, The Taoist Vision of Physical Immortality. A Study of Ko Hung’s Pao-p’u tzu, Diss., University of Chicago, 1995; Franz-Rudolph Schmidt: Die magische Rüstung. Naturbilder aus dem Pao-p’u tzu Nei-p’ien des Ko Hung (283 ‒ 343), Frankfurt et al.: Peter Lang, 1996. [HP]

Gong Zizhen 龚自珍 (zi: Seren, hao: Dingʼan, 1792 – 1841), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Gong war schon zu Lebzeiten ein bekannter Gelehrter und Dichter, seine Schriften entfalteten ihre eigentliche Wirkung aber erst in den letzten Jahrzehnten der Qing-Dynastie (1644 – 1911) geraume Zeit nach seinem Tod. Auch wenn er mit dem Beamtenleben schon von Hause aus bestens vertraut war, blieben ihm wichtigere Posten in der zentralen Bürokratie der Hauptstadt aufgrund mangelnder Protektion versagt – und dies, obwohl er (wenn auch erst beim sechsten Versuch) 1829 die jinshi-Doktorprüfung erfolgreich abgelegt hatte. Zehn Jahr später, 1839, zog er sich endgültig aus dem Beamtenleben zurück und verbrachte die letzten Jahre vor seinem Tod in der südchinesischen Heimat.

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Gong Zizhen 龚自珍

Gongs ausbleibender Erfolg in der Politik steht in scharfem Kontrast zu dem, was er als Literat und Gelehrter vollbracht hat. Neben der Vertrautheit mit den philosophischen und historischen Schriften der chinesischen Klassiker erwies sich Gong auch auf den Gebieten der Geographie, Etymologie und des Buddhismus als überaus kundig. Sein Interesse an den Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu) führte ihn bald zu dem Gongyang-Kommentar (Gongyangzhuan) und weiter zu dessen zeitgenössischen Vertretern in der Denkerschule von Changzhou, die für ein praxisorientiertes Gelehrtentum eintrat und eine Rückbesinnung auf das Studium der Klassiker forderte. In einer Reihe von Aufsätzen, die Gong unter dem Einfluß dieser Schule und dort mit Bezug auf zentrale Begriffe wie bian (»Wandel/Reform«) und zhi (»Herrschaftskunst«) seit 1815 abfaßte, trat er für soziale und politische Veränderungen in der Gesellschaft seiner Zeit ein. Seine Forderungen reichten dabei von der Umstrukturierung der Qing-Bürokratie bis zum Verbot des Opiumkonsums. Diese Schriften, verfaßt in einem kraftvollen Prosastil, machten Gong zu einem der mächtigsten und weitsichtigsten Denker seiner Zeit, doch konnten seine Gedanken ihre Wirkung erst Jahrzehnte später zu Zeiten der Reformen Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts entfalten. Als Dichter ist Gong Zizhen vor allem für seine umfangreiche Sammlung Vermischte Gedichte aus dem Jihai-Jahr (Jihai zashi) mit siebensilbigen Vierzeilern (qi yan jueju) gelobt worden, die einen Meilenstein in der Geschichte der Gattung darstellen. Doch erwies sich Gong auch in den übrigen Gattungen der Dichtkunst wie den shi-Gedichten und den klassischen Liedern (ci) als ein Meister, indem er es verstand, die wichtigen Themen seiner Zeit in eine künstlerische Form zu gießen. Gongs Prosaschriften sind zum einen oftmals stilistisch anspruchsvolle und sehr pointierte politische Stellungnahmen wie etwa die Bemerkungen zur klaren Güte (Mingliang lun). Zum anderen nutzt Gong in seiner Prosa aber auch immer wieder die Möglichkeit, um ein bestimmtes Thema herum eine Fabel zu entwerfen, in der er dann auf die dunklen Seiten der Gesellschaft hinweist – beispielhaft in Texten wie »Ehre des Verstecks« (»Zunyin«) oder »Der gefaßte Dämon« (»Buyu«). Es ist gerade die thematische Vielfalt seines Werks, die ihm auch noch zum Ende der Qing-Dynastie und während der Republikzeit unter zahlreichen Literaten Einfluß verschaffte. WERKAUSGABEN: Gong Zizhen shiwen xuan, hg. u. mit Anmerkungen von Sun Qinshan, Peking: Renmin Wenxue, 1991; Gong Zizhen quanji, mit Anmerkungen von Wang Peizheng, Shanghai: Shanghai Guji, 1999. ÜBERSETZUNGEN: Poetry and Prose of the Ming and Qing, hg. von Yang Xianyi, Peking: Panda Books, 1986, S. 313–323; »Two Essays« übers. von Janice Wickeri, in: Renditions 33 & 34 (Spring & Autumn 1990), S. 201–204; Richard E. Strassberg: Inscribed Landscapes. Travel Writing from Imperial China, Berkeley: University of California Press, 1994, S. 416–472.

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Gu Cheng 顾城 SEKUNDÄRLITERATUR: Dorothy V. Borei: »Eccentricity and Dissent: The Case of Kung Tzu-chen«, in: Qingshi wenti, 3, 4 (1975), S. 50‒62; Shirleen S. Wong: Kung Tzu-chen, Boston: Hall, 1975; Judith Anne Whitbeck: The Historical Vision of Kung Tzu-chen (1792 – 1841), Diss., University of California, 1980; Gong Zizhen yanjiu lunwenji, hg. von Sun Wenguang et al., Shanghai: Shanghai Shudian, 1992; Yan Haiqing: Gong Zizhen quanzhuan, Changchun: Changchun Chubanshe, 1996; Zhang Shou’an: Gong Zizhen xueshu sixiang yanjiu, Taipeh: Wenshizhe, 1997; Chen Ming: Gong Zizhen pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1998. [TZ]

Gu Cheng 顾城 (1956 – 1993), geboren in Peking Auch wenn Gu Cheng in Peking geboren wurde, kam seine Familie ursprünglich aus Shanghai. Während der Kulturrevolution (1966 – 1976) wurde sie auf einen Bauernhof nach Shandong geschickt, von wo sie erst 1974 nach Peking zurückkehrte. In Shandong übte Gu verschiedene Berufe aus: Schweinezüchter, Lastenträger, Holzfäller und Redakteur. 1977 veröffentlichte er erste Gedichte in der von (→) Bei Dao herausgegebenen Zeitschrift Heute (Jintian) und erregte mit ihnen sogleich große Aufmerksamkeit seitens seiner Dichterkollegen und auch von Seiten normaler Leser. Er galt als Repräsentant der »obskuren« oder »hermetischen Lyrik« (Menglong Shipai), der zentralen lyrischen Richtung in der Anfangsphase der neuen, nachmaoistischen Literatur. Das literarische Establishment kritisierte die innovativen Ausdrucksformen dieser neuen lyrischen Richtung als nichtssagend – eine Kritik, die Gu bei der chinesischen Jugend nur um so bekannter machte. Seit 1980 führte er ein ungesichertes Leben als freier Künstler. 1985 wurde er Mitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes. 1988 siedelte er mit seiner Frau Xie Ye nach Neuseeland über, wo er eine Zeitlang an der Universität Auckland klassische chinesische Literatur lehrte. 1992/93 hielt er sich als DAAD-Stipendiat für ein Jahr in Deutschland auf. Kurz nach seiner Rückkehr von Deutschland nach Neuseeland tötete er erst seine Frau Xie Ye mit einer Axt und anschließend sich selbst auf der Insel Ostend/Waiheke, wo sie einige Jahre gewohnt hatten. Gu war ein vielseitiger Künstler. Neben seinem literarischen Schaffen hatte er auch Erfolg als Maler und Kalligraph. In der Erinnerung bleiben wird er aber vor allem als Schriftsteller. Mit seinen originellen Metaphern und phantasievollen Bildern bereicherte er die chinesische Sprache auf geniale Weise. Er selbst behauptete, er habe schon mit drei Jahren eine eigene Sprache erfunden, die direkt von der Natur inspiriert sei und die er mit niemandem teilen könne. Von chinesischen Literaturkritikern wurde er deswegen als »Märchendichter« (tonghua shiren) bezeichnet. Dieses Urteil trifft aber nur seinen Sprachstil, nicht den Inhalt seiner Werke. Seine lyrischen Themen entwickeln sich von der Vergangenheitsbewältigung und der Suche nach sich selbst in den frühen Versen hin zu Bildern der Heimatlosigkeit und der Selbstentfremdung in den späteren Werken. Als sein be-

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Gu Cheng 顾城

deutendstes Werk gilt die Gedichtsammlung Schwarze Augen (Hei yanjing, 1986). Daneben trat er auch als Romanautor hervor, und zwar mit dem autobiographischen, zusammen mit Lei Mi (Xie Ye) verfaßten Roman Ying’er (Ying’er [Eigenname], 1993). WERKAUSGABEN: Shu Ting, Gu Cheng shuqingshi xuan, Fujian: Renmin, 1982; Hei yanjing, Peking: Renmin Wenxue, 1986; Ying’er, Peking: Zuojia, 1993; Gu Cheng sanwen xuanji, Tientsin: Baihua Wenyi, 1993; Gu Cheng shi quanbian, Shanghai: Sanlian Shudian, hg. von Gu Gong, 1995; Gu Cheng wenxuan, Harbin: Beifang Wenyi, 4 Bde., 2005. ÜBERSETZUNGEN: Zwischen Wänden. Moderne chinesische Lyrik, übers. von Rupprecht Mayer, München: Simon und Magiera, 1984, S. 39–48; Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919–1984, hg. u. übers. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 227–237; Quecksilber und andere Gedichte, übers. von Peter Hoffmann, Bochum: Brockmeyer, 1990; Hans Peter Hoffmann: Gu Cheng – Eine dekonstruktive Studie zur Menglong-Lyrik, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1993, Bd. 2: Die Übersetzungen; »Die Stadt«, übers. von Hans Peter Hoffmann, in: die horen 169 (1993), S. 117–132; »Der Einzug der Geister«, übers. von Wolfgang Kubin, in: minima sinica 1/1993, S. 27–33; Yingʼer. The Kingdom of Daughters, übers. von Li Xia, Dortmund: projekt verlag, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: Richard Trappl: »›Modernism‹ and Foreign Influences on Chinese Poetry: Exemplified by the Early Guo Moruo and Gu Cheng«, in: Interliterary and Intraliterary Aspects of the May Fourth Movement 1919 in China, hg. von Marián Gálik, Bratislava: Veda, 1990, S. 83–92; Simon Patton: »Premonition in Poetry: Elements of Gu Chengʼs Menglong Aesthetic«, in: Journal of the Oriental Society of Australia 22– 23 (1990–91), S. 133–145; Hans Peter Hoffmann: Gu Cheng – Eine dekonstruktive Studie zur Menglong-Lyrik, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1993; Suizi Zhang-Kubin: »Das ziellose Ich. Gespräch mit Gu Cheng«, in: minima sinica 1/1993, S. 18–26; Wolfgang Kubin: »Splitter. Erinnerungen an Gu Cheng und Xie Ye«, in: minima sinica 1/1994, S. 119–146; Marián Gálik: »Gu Chengʼs Novel Yingʼer and the Bible«, in: Asian and African Studies 5, 1 (1996), S. 83–97; Simon Patton: »The Unbearable Heaviness of Being: Gender, Sexuality and Insanity in Gu Cheng and Xie Yeʼs Yingʼer«, in: Modern Chinese Literature 9 (1996), S. 399–415; Anne-Marie Brady: »Dead in Exile: The Life and Death of Gu Cheng and Xie Ye«, in: China Information 11, 4 (Spring 1997), S. 126– 48; Inge Nielsen: The Changing Phases of Gu Chengʼs Poetry, 1964 – 1993, Diss., Durham: University of Durham, 1997; Wolfgang Kubin: »Gu Cheng: Peking, Ich«, in: Autumn Floods: Essays in Honour of Marián Gálik, hg. von Raoul D. Findeisen u. Robert H. Gassmann, Bern: Peter Lang, 1997, S. 415–430; Xia Li, »›Nameless Flowers‹: The Role of Nature in Gu Chengʼs Poetry and in His Narrative Prose Yingʼer«, in: ebd., S. 431–446; dies.: »Gu Chengʼs Yingʼer: A Journey to the West«, in: Modern Chinese Literature 10, 1 (1998), S. 135–148; dies.: »The Death of Natural Man: Culture Versus Nature in Gu Cheng«, in: Language, Literature and Culture: A Selection of Papers Presented at Inter-Cultural Studies ʼ98, hg. von Graham Squires, Newcastle: University of Newcastle, 1999, S. 66–79; dies. (Hg.): Essays, Interviews, Recollections and Unpublished Material of Gu Cheng, Twentieth Century Chinese Poet. The Poetics of Death,

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Gu Hua 古华 Lewiston, New York: Mellen Press, 1999; Simon Patton: »Notes Toward a Nomad Subjectivity: The Poetics of Gu Cheng (1956 – 1993)«, in: Social Semiotics 9, 1 (1999), S. 49–66; ders.: »The Forces of Production: Symmetry and the Imagination in the Early Poetry of Gu Cheng« in: Modern Chinese Literature and Culture 13, 2 (Fall 2001), S. 134–171; Shusen Liu: »Gu Cheng and Walt Whitman: In Search of New Poetics«, in: Whitman East & West. New contexts for reading Walt Whitman, hg. von Ed Folson, Iowa City: University of Iowa Press, 2002, S. 208–220; Yibing Huang: »The Ghost Enters the City: Gu Cheng’s Metamorphosis in the ›New World‹«, in: New Perspectives on Contemporary Chinese Poetry, hg. von Christopher Lupke, New York: Palgrave Macmillan, 2008, S. 123–143. [XWR]

Gu Hua 古华 (eig. Luo Hongyu, 1942 – ), geb. in Jiahe (Provinz Hunan) Der Bauernsohn Gu Hua stammt aus einem kleinen Dorf im Süden der Provinz Hunan. Nach einer abgebrochenen Ausbildung an einer Agrarwissenschaftlichen Fachhochschule begann er 1962 als Agrartechniker in einem kleinen Ort zu arbeiten, in dem er bis 1976 blieb. Schon in den 60er Jahren begann er seine Karriere als Schriftsteller mit der Veröffentlichung von Erzählungen. 1975 wurde er als Texter in die Sing- und Tanzgruppe der Stadt Binzhou aufgenommen. Nach der Veröffentlichung eines Romans 1976 und einer Novellensammlung 1978 erhielt er 1979 eine Anstellung beim lokalen Schriftstellerverband. Gleichzeitig wurde er zur schriftstellerischen Weiterbildung nach Peking ans Institut für die Ausbildung von Literaten des Chinesischen Schriftstellerverbandes geschickt. Diese Kurse führten zu einer Wende in seinem Schaffen. 1981 publizierte er seinen bedeutendsten Roman, Hibiskus (Furong zhen), der großen Anklang in Literatenkreisen fand und den Mao-Dun-Preis gewann. Die im selben Jahr erschienene Erzählung »Eine von Efeu zugerankte Hütte« (»Pa man qingteng de muwu«) gewann den Preis als beste Kurzgeschichte des Jahres. 1982 wurde Hibiskus von dem bekannten Regisseur Xie Jin verfilmt. Der Film wurde ein sensationeller Kinoerfolg und gewann zahlreiche Filmpreise im In- und Ausland. Im Laufe der 80er Jahre verschwand Gu jedoch allmählich aus dem Fokus der chinesischen Literatur. Ende der 80er Jahre wanderte er nach Kanada aus. Vertraut mit dem ländlichen Leben und der traditionellen Erzähltechnik, erweist sich Gu als begabter Erzähler. Er stellt die Schicksale und Gefühle einfacher Menschen auf dem Land im Zeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs dar, der die alten Lebenskonventionen vielfach zerstört. Dennoch bleibt eine gewisse Beständigkeit der Umstände spürbar, die Gus Werken eine behagliche Atmosphäre verleiht. Stilistisch ähneln seine Werke der traditionellen Erzählliteratur Chinas und sind vergleichsweise leserfreundlich und leicht zugänglich. WERKAUSGABEN: Furong zhen, Peking: Renmin Wenxue, 1981; Gu Hua huojiang xiaoshuo ji, Guangzhou: Huacheng, 1984; Wo de lianbang deguo zhi xing, Peking: Zhongguo

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Gu Yanwu 顾炎武 Wenlian, 1987; Wujieshan chuanqi, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1987; Zhennü, Hongkong: Xiangjiang, 1987; Pa man qingteng de muwu, Changchun: Shidai Wenyi, 2001. ÜBERSETZUNGEN: A Small Town called Hibiscus, übers. von Gladys Yang, Peking: Panda, 1983; Pagoda Ridge and Other Stories, übers. von Gladys Yang, Peking: Panda, 1985; Hibiskus oder Vom Wandel der Beständigkeit, übers. [nach der englischen Ausgabe] von Peter Kleinhempel, Berlin [Ost]: Volk und Welt, 1986. SEKUNDÄRLITERATUR: Marc van der Meer: »›Hibiscus‹, ›The Garden of the Literati‹, and Mao Zedongʼs Biography: A Brief Introduction to the Life and Work of Writer Gu Hua«, in: China Information 7, 2 (1998), S. 20–29. [XWR]

Gu Yanwu 顾炎武 (eig. Gu Jiang, zi: Ningren, auch: Tinglin xiansheng, 1613 – 1682), geb. in Kunshan (Provinz Jiangsu) Gu Yanwu entstammte einer alten Beamten- und Gelehrtenfamilie aus der Nähe von Suzhou und gehörte mit (→) Wang Fuzhi (1619 – 1692) und (→) Huang Zongxi (1610 – 1695) zu jenen bedeutenden Gelehrten des 17. Jahrhunderts, die mit ihren Arbeiten die erstarrte konfuzianische Tradition noch einmal belebten. Während der letzten Jahre der Ming-Dynastie, die Gu als junger Mann erlebte, wirkte er in der Fushe-Gesellschaft mit, die sich gegen den Machtapparat der Minister wandte. Als die mandschurischen Truppen 1644 begannen, den Süden Chinas zu erobern, beteiligte er sich in Suzhou an dem Widerstandskampf der chinesischen Truppen. Während der folgenden Jahre nach der Unterwerfung unternahm er ausgedehnte Reisen durch die Provinzen Shandong, Hebei, Shanxi und Henan. Dabei führte er geographische Untersuchungen durch, die unter anderem der Landesverteidigung dienten. Gu war ein Ming-Loyalist, der vor allem in seinem dichterischen Werk immer wieder seine Treue gegenüber dem untergegangenen Kaiserhaus thematisierte und die Grausamkeit der neuen Herrscher anprangerte. In Gedichten wie »Herbstberge, Nr. 1« (»Qiu shan, diyi«), »Lied von Pfirsichblüten« (»Taoya ge«) oder »Goldberg« (»Jin shan«) verlieh Gu den Leiden der Bevölkerung und seinen eigenen patriotischen Gefühlen eine Stimme. Diese Themen waren auch immer wieder Gegenstand seiner Prosaschriften wie dem »Brief an Ye Renʼan« (»Yu Ye Renʼan shu«), in dem er seine Ablehnung gegenüber den Versuchen der Qing ausdrückte, ihn für ein Amt zu gewinnen. Mit seinen Aufzeichnungen des täglichen Lernens (Rizhilu) vollbrachte Gu schließlich die kunstvolle Synthese von Sachliteratur und Tagebuch. Gu löste sich von der strengen konfuzianischen Texttradition und trat für die konkrete Anwendbarkeit des Wissens ein. So ging er in seinen herausragenden wissenschaftlichen Werken wie Von dem Nutzen und den Lasten des Fürstenreiches (Tianxia junguo libing shu) unter anderem der Frage der ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft nach. Eine andere umfassende Arbeit von Wert bilden die Fünf

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Guan Hanqing 关汉卿

Schriften zur Phonetik (Yinxue wu shu), die als Begründung der Qing-zeitlichen Studien zur Phonetik gelten. WERKAUSGABEN: Gu Yanwu shiwen xuanyi, Chengdu: Bashu Shushe, 1991. ÜBERSETZUNGEN: Hellmut Wilhelm: »Die Mutter Gu Ting-lins«, in: Sinica 6 (1931), S. 229– 237 [mit einer Übersetzung von Gus Epitaph für seine Mutter]; Richard E. Strassberg: Inscribed Landscapes. Travel Writing from Imperial China, Berkeley: University of California Press, 1994, S. 353–360. SEKUNDÄRLITERATUR: Willard J. Peterson: »The Life of Ku Yen-wu«, in: Harvard Journal of Asian Studies 28 (1968), S. 114–156, u. 29 (1969), S. 201–247; Jean-François Vergnaud: La Pensée de Gu Yanwu (1612 – 1682). Essai de Synthèse, Paris: École Française d’Extrême-Orient, 1990; Zhou Kezhen: Gu Yanwu nianpu, Suzhou: Suzhou Daxue, 1998; ders.: Gu Yanwu zhexue sixiang yanjiu, Peking: Dangdai Zhongguo, 1999; Xu Sumin: Gu Yanwu pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 2006. [TZ]

Guan Hanqing 关汉卿 (hao: Yizhai bzw. Yizhai sou [»Der Alte aus dem Yi-Studio«], um 1230 ‒ um 1300), geb. wahrscheinlich in Dadu (heute Peking) Die allgemein ungenauen Angaben zu den Daten von Chinas wohl bedeutendstem Dramatiker haben mit einer Verweigerung zu tun: Guan Hanqing, der in manchen Berufen tätig war, u.a. als taiyi yuanyin (ein bislang ungedeuteter Titel, die Übersetzung »Arzt« scheint falsch zu sein) und Schauspieler, verweigerte als loyaler Anhänger der von den Mongolen gestürzten Jin-Dynastie (1115 ‒ 1234) den Dienst unter der neuen Herrschaft. Dies hatte zur Folge, daß er mit seinem Leben und Werk keine Aufnahme in den offiziellen Dokumenten fand. Spärliche Auskunft geben daher nur die Zeitgenossen. Bei dem Vornamen Hanqing kann es sich sowohl um den persönlichen (ming) als auch um den Anredenamen (zi) handeln. Guan Hanqing war Leiter eines Schreibclubs namens »Jadestadt« (Yujing shuhui), der sich vornehmlich dem Theater gewidmet haben dürfte. Während seiner späteren Lebensjahre war er eine Zeitlang auch in Hangzhou (Provinz Zhejiang), wo die damaligen Stückeschreiber zugleich als Schauspieler agierten – so auch Guan Hanqing. Er soll dort mit der bekannten Kurtisane Zhu Lianxiu liiert gewesen sein und nach eigenen Angaben den Lebemann gespielt haben. Guan Hanqing gilt als der »Erfinder« oder vielleicht besser gesagt: der Vollender des Mongolendramas (zaju). Er hat mehr als 60 Stücke geschrieben, von denen 18, teilweise fragmentarisch, erhalten sind; fünf darunter gelten allerdings hinsichtlich seiner Autorschaft als strittig. Mindestens neun sind in westliche Sprachen übersetzt worden, darunter das bekannteste Stück Dou E geschieht Unrecht (Dou E yuan) mehrfach. Als Auszug unter dem Titel Schnee im August ist dieses Stück heute vielleicht sogar noch bekannter. Die chinesische Theaterpraxis zieht seit lan-

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Guan Hanqing 关汉卿

gem die Aufführung von Schlüsselszenen der Inszenierung ganzer Dramen vor. Überdies haben viele Autoren, darunter (→) Tian Han (1898 ‒ 1968) und (→) Gao Xingjian (geb. 1940), Schnee im August adaptiert bzw. neu geschrieben. Dou E ist der Name einer Heldin, der Unrecht widerfährt. Zum Tode verurteilt, sagt sie Unschuldsbeweise voraus, darunter einen baldigen Schneefall im August. Als dieser Wirklichkeit wird, kann ihre Seele durch ihren Vater vom Tode gerettet und ihr Recht wiederhergestellt werden. Die Gelehrten der Volksrepublik China haben immer wieder gern auf den sozialkritischen Aspekt von Guan Hanqings Werken verwiesen. Eine solche Sicht wird getragen von der wiederholt zur Lösung von Konflikten eingesetzten Person des weisen Richters, der das Unrecht sühnen läßt und damit die soziale Ordnung sichert. Man kann das Œuvre des Dramatikers einteilen in Gerichtsdramen, historische Dramen und Dramen mit Frauengestalten in der Hauptrolle. Besonders in letzteren gelingen dem Autor immer wieder überzeugende Charaktere. Die Frauen, oftmals Kurtisanen, entsprechen nicht dem herkömmlichen Bild, das sich die Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten von »der Chinesin« gemacht haben. Sie geben sich hier alles andere als unterwürfig, ungebildet und schwach. Es sind starke Frauen, die wissen, was sie wollen, und sich nehmen, was sie brauchen, zum Beispiel Ehemänner aus der Oberschicht. Man hat dies immer wieder gern als eine Überzeichnung abgetan, doch Guan Hanqing war kein Stubengelehrter, er lebte unter dem Volk, so daß er vielleicht einen anderen Frauentypus hat kennenlernen können als denjenigen, der repräsentativ für die Gentry gewesen sein mag. Aus heutiger westlicher Sicht dürfte das Interesse von Leser und Zuschauer an Guan Hanqing eher in dem immer wieder thematisierten Geschlechterkampf liegen, den die Frauen für sich zu entscheiden wissen, als in der oftmals konstruiert wirkenden Gesamtanlage der Stücke. Die chinesische Seite dagegen goutiert weiterhin den vermeintlichen Realismus und die (nur ansatzweise gegebene) Sozialkritik und meint im Autor eine Art Nationaldichter sehen zu dürfen, der mit Shakespeare vergleichbar wäre. WERKAUSGABEN: Guan Hanqing juanji, hg. von Wu Guoqin, Guangzhou: Guangdong Gaodeng Jiaoyu, 1988; Guan Hanqing quanji jiaozhu, hg. von Wang Xueqi et al., Shijiazhuang: Hebei Jiaoyu, 1988. ÜBERSETZUNGEN: Selected Plays of Kuan Han-ch’ing, übers. von Yang Hsien-i u. Gladys Yang, Peking: Foreign Languages Press, 2004 [zweisprachig]. SEKUNDÄRLITERATUR: Werner Oberstenfeld: Chinas bedeutendster Dramatiker der Mongolenzeit (1280 ‒ 1368), Kuan Han-ch’ing, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1983; Wu-chi Liu: »Kuan Han-chʼing: The Man and His Life«, in: Journal of Song-Yuan Studies 1990 ‒ 1992, S. 63‒87. [WK]

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Guo Lusheng 郭路生

Guo Lusheng 郭路生 (Pseudonym: Shizhi, 1948 – ), geb. in Chaocheng (Provinz Shandong) 1948 wurde Guo von seiner Mutter, die der kommunistischen Armee angehörte, auf einem Marsch in der Ortschaft Chaocheng in Shandong geboren – daher der Name »Lusheng« (»Auf dem Weg Geborener«). Sein Pseudonym »Shizhi« hingegen bedeutet »Zeigefinger«. Schon in seiner Schulzeit ließ sich Guo von der westlichen Dichtung, v.a. Puschkin (1799 – 1837), Lermontov (1814 – 1841), de Musset (1810 – 1857), Baudelaire (1821 – 1867) und Whitman (1819 – 1892), beeinflussen. Außerdem lernte er von dem chinesischen Dichter und Literaturkritiker (→) He Qifang (1912 – 1977) und begann schon mit 15 Jahren selbst zu dichten. 1968 wurde Guo, wie alle jugendlichen Gebildeten seiner Zeit, aufs Land geschickt, und zwar in die Provinz Shanxi. 1971 trat er in die chinesische Armee ein. Wegen der Tochter eines hochrangigen Parteikaders, der ein Moslem uighurischer Abstammung aus Xinjiang war, litt er lange unter Liebeskummer. Später heiratete er eine andere Frau, ebenfalls die Tochter eines hohen Parteikaders. Bald danach wurde er in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, aus dem er erst Ende der 90er Jahre entlassen wurde. Er soll dann wieder geheiratet haben und heute in Guangzhou leben. Während der Kulturrevolution liebte die gebildete Jugend Guos Lyrik. Seine 1968 erschienenen Gedichte »Glaube an die Zukunft« (»Xiangxin weilai«) und »Das war Peking um acht nach vier« (»Zhe shi si dian ling ba fen de Beijing«) fanden große Verbreitung. Diese Gedichte drücken die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit einer verlorenen Generation aus, die wegen politischer Zwänge ihre Träume aufgeben und sich körperlich wie geistig von ihrer Heimat lossagen mußte. Aus diesem Grund wurden seine Gedichte von Jiang Qing (1914 – 1991), der Ehefrau Mao Zedongs, kritisiert. Der Stil seiner Dichtung übte einen gewissen Einfluß auf spätere Dichter wie (→) Bei Dao (geb. 1949) und (→) Duo Duo (geb. 1951) aus, die erst nach der Kulturrevolution als literarische Avantgarde hervortraten. WERKAUSGABEN: Shizhi: Xiangxin weilai, Guilin: Guangxi Xinhua Shudian, 1988; Shizhi juan, hg. von Lin Mang u. Liu Fuchun, Peking: Zuojia, 1998. ÜBERSETZUNGEN: »Zwei Gedichte«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Jahrbuch der Lyrik 1990/91, hg. von Christoph Buchwald u. Karl Mickel, Frankfurt a.M.: Luchterhand, 1990, S. 134f. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: »Das Ende des Propheten. Chinesischer Geist und chinesische Dichtung im 20. Jahrhundert«, in: die horen 169 (1/1993), S. 82f.; Maghiel van Crevel: Language Shattered. Contemporary Chinese Poetry and Duoduo, Leiden: Research School CNWS, 1996, S. 28–34. [XWR]

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Guo Moruo 郭沫若

Guo Moruo 郭沫若 (eig. Guo Kaizhen, hao: Dingtang, 1892 – 1978), geb. in Shawan (Provinz Sichuan) Guo Moruo kam aus einer wohlhabenden Grundbesitzerfamilie, die enge Beziehungen zu lokalen Banditen pflegte. Von klein auf war er von diesen »volksverbundenen Helden« fasziniert, liebte Waffen und bewaffnete Zusammenstöße. Nach einer zunächst traditionellen Ausbildung besuchte er 1905 eine Reformschule in Chengdu. Dort erwies er sich als junger Rebell. Er begann zu rauchen, zu trinken, amüsierte sich mit seinem schwulen Partner und suchte Faustkämpfe. 1912 heiratete er auf Wunsch seiner Eltern, verließ seine Frau jedoch nach fünf Tagen schon wieder. 1914 begann er ein Medizinstudium in Japan, das er 1923 an der Kaiserlichen Kyūshū-Universität erfolgreich abschloß; doch hat er danach nie als Arzt praktiziert. In Japan lebte er mit einer Japanerin namens Anna zusammen, die seinetwegen ihre Eltern verlassen hatte und ihm fünf uneheliche Kinder gebar. Guo beschäftigte sich damals mit westlicher Literatur und Philosophie, v.a. mit Shelley, Heine, Nietzsche, Ibsen, Goethe, Spinoza, Tagore und Whitman. Gleichzeitig pflegte er enge Beziehungen zu zeitgenössischen chinesischen Literaten wie (→) Tian Han und (→) Yu Dafu. 1918 veröffentlichte er erste Gedichte in Zeitschriften, und 1921 erschien die Sammlung Göttinnen (Nüshen), die als eines der repräsentativsten Werke der Anfangsphase der neuen chinesischen Lyrik gilt. Gleichzeitig gründete er mit Yu Dafu und anderen die »Schöpfungsgesellschaft« (Chuangzao she). 1923 folgte eine zweite Gedichtsammlung, Gestirnter Himmel (Xingkong), deren meditativer Stil deutlich von Tagores Lyrik beeinflußt ist. Guo hat außerdem Werke von Shelley, Nietzsche, Goethe und Tolstoi ins Chinesische übersetzt. 1923 kehrte Guo nach China zurück und bekehrte sich zum Marxismus. Von nun an betrachtete er die Literatur nicht mehr als eine ästhetische Ausdrucksform des Lebens, sondern als ein Instrument gesellschaftlicher Veränderung. Daher befürwortete er die sogenannte »revolutionäre proletarische Literatur«, die aus kollektiven Emotionen entstehen sollte und nur in einem revolutionären Zeitalter aufblühen könne. Von 1923 bis 1927 schuf er drei Dramen: Wang Zhaojun, Nie Ying und Zhuo Wenjun (alles Eigennamen), die jeweils um eine historische Heldin in der chinesischen Geschichte kreisen. Weiterhin veröffentlichte er die Gedichtsammlungen Avantgarde (Qianmao, 1928) und Rekonvaleszenz (Huifu, 1929) sowie satirische Erzählungen, darunter eine Satire auf Laozi, »Der Huanggu-Paß« (»Zhuxiashi ru guan«, 1923), und »Marx im Tempel des Konfuzius« (»Makesi jin wenmiao«, 1925). 1927 nahm er am Nanchang-Aufstand der Kommunistischen Partei teil und floh im folgenden Jahr vor der Verfolgung durch die Guomindang nach Japan. Im Exil zwischen 1928 und 1937 widmete sich Guo historischen und paläographischen Studien und verfaßte einige wichtige Werke wie Untersuchung zur archaischen Gesellschaft Chinas (Zhongguo gudai shehui yanjiu, 1930), Untersuchung der Orakelknocheninschriften (Jiagu wenzi yanjiu, 1931) und Untersuchung

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Guo Moruo 郭沫若

der Bronzeinschriften aus der Yin- und Zhou-Zeit (Yin-Zhou qingtongqi mingwen yanjiu, 1931). 1930 wurde er Mitglied der Liga linker Schriftsteller (Zuolian). Nach dem Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) verließ er seine japanische Lebensgefährtin und kehrte nach China zurück. In der Kriegshauptstadt Chongqing wurde Guo zum Vorstandsmitglied der »Widerstandsvereinigung der Kunst- und Literaturschaffenden« (Zhonghua quanguo wenyijie kangdi xiehui) gewählt. Er heiratete Yu Liqun (1916 – 1979), mit der er sechs Kinder zeugte. 1942 veröffentlichte er fünf historische Dramen: Qu Yuan (Qu Yuan [Eigenname]), Das Tigersiegel (Hufu), Wilde Kirschblüten (Tangdi zhi hua), Gao Jianli (Gao Jianli [Eigenname]) und Pfauengalle (Kongque dan), alle mit deutlichem politischem Zeitbezug. Nach der Gründung der Volksrepublik war Guo Vorsitzender des Dachverbandes der Literatur- und Kunstschaffenden, Präsident der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften sowie Gründer und Präsident der Chinesischen Universität für Naturwissenschaft und Technik. 1958 trat er in die Kommunistische Partei Chinas ein und vertrat die kulturpolitische Linie Mao Zedongs, die eine »Verbindung von revolutionärem Realismus und revolutionärer Romantik« propagierte. Als Literat beschränkte er sich auf politische Gebrauchslyrik und Theaterstücke. 1959 und 1960 erschienen die Dramen Cai Wenji (Cai Wenji [Eigenname]) und Wu Zetian (Wu Zetian [Eigenname]), wieder mit historischen Heldinnen. Guo war außerdem Herausgeber der Geschichte Chinas (Zhongguo shigao, 1962) und des 13bändigen Gesamtkatalogs der Orakelknocheninschriften (Jiaguwen heji, 1978 – 1982) und verfaßte eine Reihe von Abhandlungen zur traditionellen chinesischen Literatur. 1971 erschien seine Monographie über die beiden bekanntesten Lyriker der Tang-Zeit (618 – 907), (→) Li Bai und (→) Du Fu. WERKAUSGABEN: Guo Moruo quanji, 38 Bde., Peking: Renmin Wenxue,1982 – 2002. ÜBERSETZUNGEN: »Der Han-Gu-Paß«, übers. von Erich Schmitt, in: China erzählt. Acht Erzählungen, hg. von Andreas Donath, Frankfurt a.M.: Fischer, 1964, S. 21–28; Qu Yuan. Schauspiel in 5 Akten aus dem Jahr 1941, übers. von Markus Mäder, Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur, 1980; »Meister Meng läßt sich scheiden«, übers. von Wolfgang Keßler, in: Hoffnung auf Frühling. Moderne chinesische Erzählungen. Erster Band: 1919 ‒ 1949, hg. von Volker Klöpsch u. Roderick Ptak, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 56–64; »Zhuangzi wandert nach Liang«, übers. von Volker Klöpsch, in: ebd., S. 65–75; Kindheit, übers. von Ingo Schäfer, Frankfurt a.M.: Insel, 1981; Jugend, übers. von Ingo Schäfer, Frankfurt a.M.: 1985 [darin »Die schwarze Katze«]; Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919 – 1984, übers. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 33–42; »Schulzeit«, übers. von Ingo Schäfer, in: die horen 138 (1985), S. 44–53; »Marx im Tempel des Konfuzius«, übers. von Ingo Schäfer, in: Das neue China 4/1988, S. 20–23. SEKUNDÄRLITERATUR: Milena Dolezelova-Velingerova: »Kuo Mo-joʼs Autobiographical Works«, in: Studies in Modern Chinese Literature, hg. von Jaroslav Prusek, Berlin: Akademie-Verlag, 1964, S. 45–75; David T. Roy: Kuo Mojo. The Early Years, Cambridge: Harvard University Press, 1971; Leo Ou-fan Lee: »Guo Moruo: Der Held als

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Guo Pu 郭璞 Poet«, in: Moderne chinesische Literatur, hg. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 172–200; Marián Gálik: »Kuo Mo-joʼs The Goddesses: Creative Confrontation with Tagore, Whitman and Goethe«, in: ders. (Hg.): Milestones in SinoWestern Literary Confrontation (1898 – 1979), Wiesbaden: Harrassowitz, 1986, S. 43– 72; Ingo Schäfer: »Über das Interesse eines chinesischen Dichterhelden an einem deutschen Dichterfürsten. Anmerkungen zur Bedeutung Goethes für Guo Moruos Zyklus ›Göttinnen‹«, in: Wechselseitige Bilder. Das Eigene im Fremden. Chinesen über Deutsche. Deutsche über Chinesen. Zeitschrift für Kulturaustausch 1986, hg. von Helmuth Braun u. Wolfgang Kubin, S. 382–385; Bruce Doar: »Images of Women in the Dramas of Guo Moruo: The Case of Empress Wu«, in: Drama in the Peopleʼs Republic of China, hg. von Constantine Tung, Albany: Suny Press, 1987, S. 254–292; Ingo Schäfer: »Fragen beim Übersetzen moderner chinesischer Lyrik am Beispiel von Guo Moruos frühen Gedichten«, in: Orientierungen 2/1989, S. 77–98; Anna Bujatti: »The Spirit of the May Fourth Movement in The Goddesses of Guo Moruo«, in: Interliterary and Intraliterary Aspects of the May Fourth Movement 1919 in China, hg. von Marián Gálik, Bratislava: Veda, 1990, S. 101–110; Ruoqiang Liu: »Whitmanʼs Soul in China: Guo Moruoʼs Poetry in the New Culture Movement«, in: Whitman East & West. New Contexts for Reading Walt Whitman, hg. von Ed Folson, Iowa City: University of Iowa Press, 2002, S. 172–186; Jiayan Mi: Self-Fashioning and Reflexive Modernity in Modern Chinese Poetry, Lewiston, New York: Edwin Mellen, 2004; Xiaoming Chen: From the May Fourth Movement to the Communist Revolution. Guo Moruo and the Chinese Path to Communism, Albany, New York: Suny Press, 2007. [XWR]

Guo Pu 郭璞 (zi: Jingchun, 276 – 324), geb. im Kreis Wenxi in der damaligen Region Hedong (heute Provinz Shanxi) Guo Pu zählte zu jener Generation, die zu Beginn des 4. Jahrhunderts den Fall der Westlichen Jin-Dynastie (265 – 316) miterlebte. Damals flohen nahezu eine Million Menschen aus dem zerrütteten Norden in den Südosten des Reiches, um Hunger und Gewalt zu entkommen. Guo Pu zog zwischen den Jahren 307 und 310 mit seiner Familie von seiner Heimat in der heutigen Provinz Shanxi in die spätere Hauptstadt des Südens Jianye (heute Nanjing). In diesen unfreiwilligen Wanderjahren fand der wißbegierige Gelehrte und lebenslange Sammler enzyklopädischen Wissens seine ersten offiziellen Anstellungen. Neben seiner profunden konfuzianischen Bildung und seinem Interesse für Geographie und ungewöhnliche Naturphänomene hatte er seine eigentliche Berufung in der Kunst der Divination gefunden. Da insbesondere letztere Begabung ihn zu einem gefragten Berater machte, erlangte er in der Gründungsphase der Östlichen Jin-Dynastie (317 – 419) unter Kaiser Yuandi (reg. 317 – 322) das hohe Amt eines Staatssekretärs (shangshulang). Während der Regentschaft Kaiser Mingdis (reg. 323 – 325) drohte er jedoch von einem ehemaligen Militärmachthaber namens Wang Dun (266 – 324) instrumentalisiert zu werden, der sich – mit dem Ziel, den Thron zu usurpieren – das Amt des Kanzlers angeeignet hatte. Guo Pu prophezeihte Wang Dun das Scheitern seines

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Guo Songtao 郭嵩焘

Putschversuches und wurde noch am selben Tag dafür getötet. Seine Vorhersage sollte sich allerdings als richtig erweisen, denn auch Wang Dun fand noch im Jahr 324 den Tod. Guo Pu war zwar an okkulten Fragen und Praktiken interessiert, wußte aber durchaus eine beinahe wissenschaftliche Distanz zu wahren; so bestritt er zum Beispiel ausdrücklich – im Gegensatz zu (→) Ge Hong – die Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen. Dennoch hat insbesondere die religiös-daoistische Tradition nichts unversucht gelassen, ihn – ähnlich wie Ge Hong – als »Propheten« zu vereinnahmen, seine Biographie zu verklären und ihn gar selbst zu einem Unsterblichen zu stilisieren. In die Literaturgeschichte ist Guo Pu vor allem wegen seiner noch heute unverzichtbaren in Versform abgefaßten Klassikerkommentare eingegangen. Neben seinen Annotationen der Lieder des Südens (Chuci), aus denen seine Identifikation mit (→) Qu Yuan spricht, verfaßte er nicht nur den ersten Kommentar zum Klassiker der Berge und Meere (Shanhaijing), sondern versah u.a. auch das älteste chinesische Wörterbuch Erya mit nützlichen Anmerkungen. Teile seines poetischen Werkes von immerhin elf Prosagedichten (fu) und 45 Gedichten (shi) fanden Aufnahme in das Wenxuan, (→) Xiao Tongs einflußreiche Literarische Anthologie aus dem 6. Jahrhundert. WERKAUSGABEN: Quan shanggu sandai Qin Han Sanguo Liuchaowen, 4 Bde., hg. von Yan Kejun, Peking: Zhonghua Shuju, 1958, Bd. 2, Kap. 120‒123 [Prosa]; Xian Qin Han Wei Jin Nanbeichao shi zuozhe pianmu suoyin, hg. von Chang Zhenguo u. Jiang Yun, Bd. 2, Peking: Zhonghua Shuju, 1988, S. 862‒869 [Lyrik]. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 184‒192; Xiao Tong: Wen xuan, or Selections of Refined Literature, Bd. II, übers. von David R. Knechtges, Princeton: Princeton University Press, 1987, S. 321‒352. SEKUNDÄRLITERATUR: Jonathan Pease: Kuo P’u’s Life and Five-colored Rhymes. An ›Immortal‹ Chin-dynasty Writer and Diviner, 276 ‒ 324, M.A.-Arbeit, University of Washington, 1980. [HP]

Guo Songtao 郭嵩焘 (zi: Bochen, hao: Yunxian, Yuchi laoren, 1818 – 1891), geb. in Xiangyin (Provinz Hunan) Guo Songtao war eher ein Mann der Politik als der Literatur, gewann jedoch durch seine Verbindung zu einflußreichen Persönlichkeiten seiner Zeit auch erheblichen Einfluß auf die Welt der Literaten. In frühen Jahren unterstützte Guo das Lager des Zeng Guofan und schloß sich 1853 dessen Truppen bei der Unterdrückung der Taiping-Rebellen an. Später war

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Han Bangqing 韩邦庆

Guo einer der ersten chinesischen Botschafter im Westen, er vertrat China 1876/77 in England und 1878 in Frankreich. Aufgrund seiner Beobachtungen in Europa trat Guo für das Studium westlicher Techniken ein und förderte den Bau von Eisenbahnen sowie die Erschließung der heimischen Kohlevorkommen. Literarisch war Guo ein Anhänger der Tongcheng-Schule, die für eine Verbreitung der an den antiken Stil angelehnten Prosa warb. Innerhalb der TongchengSchule galt Guo als einer der wichtigsten Vertreter der heimischen HunanGruppe; besonders seine politischen Schriften zeichnen sich durch den für diese Schule typischen klaren Stil aus. Das umfangreiche Werk, das Guo hinterlassen hat, umfaßt unter anderem Schriften wie die Hinterlassene Sammlung aus dem Studio zur Förderung des Wissens (Yangzhi shuwu yiji), das Tagebuch des Guo Songtao (Guo Songtao riji) sowie das Reisetagebuch Wegstrecken einer Mission in den Westen (Shi Xi jicheng). WERKAUSGABEN: Guo Songtao riji, Changsha: Hunan Renmin, 1981; Guo Songtao zougao, hg. von Yang Jian, Changsha: Yuelu Shushe, 1983; Guo Songtao shiwen ji, hg. von Yang Jian, Changsha: Yuelu Shushe, 1984; »Shi Xi jicheng«, in: Guo Songtao deng shi Xi ji liu zhong, Peking: Sanlian Shudian, 1998, S. 1–74; »Lundun yu Bali riji«, in: ebd., S. 75–228. SEKUNDÄRLITERATUR: J.D. Frodsham: The First Chinese Embassy to the West. The Journals of Kuo Sung-tʼao, Liu Hsi-hung and Chang Te-i, Oxford: Oxford University Press, 1974; Zeng Yongling: Guo Songtao da zhuan, Shenyang: Liaoning Renmin, 1989. [TZ]

Han Bangqing 韩邦庆 (zi: Ziyun, hao: Taixian, Hua ye lian nong, Da yi shanren, 1856 – 1894), geb. in Songjiang (Shanghai) Als Sohn eines hohen Beamten im Justizministerium verbrachte Han seine Kindheit in Peking. Da er offenbar ein guter Schüler war, sandte ihn sein Vater als Jugendlicher in den Süden, damit er dort an Prüfungen für besonders talentierten Nachwuchs teilnahm. Aus den Beamtenprüfungen, die Han mit zwanzig Jahren ablegte, ging er jedoch nicht erfolgreich hervor und verlor in der Folge jedes Interesse an einer Karriere im Staatsdienst. In der Provinz Henan hatte er noch für eine Weile den Posten eines Amtsgehilfen inne, doch spätestens nach seiner Übersiedlung nach Shanghai widmete er sich zusehends dem Schreiben von Artikeln für die Zeitung Shenbo. Sein längerer Aufenthalt im Rotlichtmilieu und die Liaison mit einem Freudenmädchen bilden den Hintergrund für den 1892 im Wu-Dialekt abgefaßten Roman Erzählung über die Singmädchen von Shanghai (Haishang hualie zhuan), der später von der Schriftstellerin (→) Zhang Ailing (1920 – 1995) in die Schriftsprache des modernen Hochchinesisch und ins Englische übertragen wurde. Doch war Han Bangqing sprachlich ebenso sicher in der Schriftsprachenvariante des klassischen Chinesisch, in der er noch vor seinem Tod ein Werk mit dem Titel

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Han Dong 韩东

Entwürfe zu Göttern und Unsterblichen (Taixian mangao) vorlegte, eine Sammlung von Prosaschriften, Fabeln und Anekdoten, die eine Nähe zum daoistischen Klassiker Liezi und zu (→) Pu Songlings Seltsamen Geschichten aus dem Studio des Müßiggangs (Liaozhai zhiyi) erkennen läßt. Bekanntheit in der zeitgenössischen Kunst- und Literaturszene erlangte Han darüber hinaus vor allem als Herausgeber der Zeitschrift Haishang qishu, die 1892 bis 1894 erschien. In einer Reihe von theoretischen Schriften zur Erzählkunst distanzierte sich Han von dem traditionellen Erzählstil des allwissenden Erzählers und trat dafür ein, das Werk durch seine Struktur und die Protagonisten durch ihre Sprache direkt auf den Leser wirken zu lassen. WERKAUSGABEN: Haishang hualie zhuan, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1993. ÜBERSETZUNGEN: The Sing-song Girls of Shanghai, zuerst übers. von Eileen Chang, revidiert u. hg. von Eva Hung, New York: Columbia University Press, 2005. SEKUNDÄRLITERATUR: Stephen Cheng: »Sing-song Girls of Shanghai and its Narrative Methods«, in: Chinese Middlebrow Fiction. From the Chʼing and Early Republican Eras, hg. von Liu Tsʼun-yan, Hongkong: Chinese University Press, 1984, S. 111–136; Samuel Y. Liang: »Ephemeral Households, Marvelous Things: Business, Gender, and Material Culture in Flowers of Shanghai«, in: Modern China 33 (2007), S. 377–418; Chloë F. Starr: Red-light Novels of the Late Qing, Leiden: Brill, 2007. [TZ]

Han Dong 韩东 (eig. Han Dong 韩冬, 1961 – ), geb. in Nanjing (Provinz Jiangsu) Han Dong, aus Nanjing gebürtig, mußte mit acht Jahren mit seinen Eltern aufs Land in den Norden der Provinz Jiangsu umsiedeln. 1983 schloß er ein Studium der Philosophie an der Universität Shandong ab. Danach unterrichtete er Marxismus-Leninismus an verschiedenen Hochschulen in Xi’an und Nanjing. 1992 beendete er seine Tätigkeit als Lehrer und wurde Berufsschriftsteller. Seit 1994 arbeitet er an der Jugend-Literaturakademie in Guangdong. Daneben schreibt er auch für kommerzielle Unternehmen. Han repräsentiert die »avantgardistische« Dichterschule (xianfengpai) der 80er Jahre. Bekannt ist seine Erklärung, er schreibe Gedichte nur um ihrer selbst willen, sonst für niemanden, nicht einmal für sich selbst. Bei seiner Arbeit solle der Dichter nur die Konstruktion des Gedichtes im Sinn haben, genauso wie ein Dachdecker sich keine Gedanken darüber macht, wer später in das von ihm eingedeckte Haus einziehen wird. In seinem repräsentativen Gedicht »Über die Große Wildganspagode« (»Youguan Dayanta«) greift er den pathetischen Stil des zeitgenössischen Dichters (→) Yang Lian an und vertritt einen antihistorischen Standpunkt. Dichtung soll weder dem kollektiven Bewußtsein noch gesellschaftlichen Zielen dienen. Han erwartet vom Dichter, daß er sich der Außenwelt öffnet

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Han Fei 韩非

und nicht mit Introspektion und den eigenen Emotionen befaßt. In seiner schlichten, lakonischen Sprache – deretwegen man ihn in China zu einem der führenden Vertreter der »umgangssprachlichen Lyrik« (kouyu shige) zählt – gelingt es ihm, Gedanken von philosophischem Gehalt auszudrücken. Daneben schreibt Han auch Kurzgeschichten, Erzählungen und – mit einigem Erfolg – Romane wie z.B. Zha gen (2003; engl: Banished!). WERKAUSGABEN: Baise de shitou, Shucha jian de yueliang, Peking: Zuojia, 1995; Women de shenti, Peking: Zhongguo Huaqiao, 1996; Wo de Bolatu: Han Dong xiaoshuo ji, Xi’an: Shaanxi Shifan Daxue, 2000; Baba zai tianshang kan wo, Shijiazhuang: Hebei Jiaoyu, 2002; Zha gen, Peking: Renmin Wenxue, 2003; Wo he ni, Shanghai: Shanghai Wenyi, 2005; Aiqing lixue, Shanghai: Shanghai Wenyi, 2007; Xitian shang, Shanghai: Shanghai Renmin, 2007. ÜBERSETZUNGEN: »Rückhalt in unscheinbaren Wirklichkeiten«, übers. von Karl Rospenk, in: Orientierungen 2/1994, S. 34–46; Banished!, übers. von Nicky Harman, Honolulu: University of Hawaii Press, 2009; Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe. Anthologie chinesischer Gegenwartslyrik, ein Hörbuch von Torsten Feuerstein, Auswahl der Gedichte: Xi Chuan, übers. von Marc Hermann u. Raffael Keller, Berlin: Fly Fast Records, 2009 [mit Gedichten von Han Dong]. SEKUNDÄRLITERATUR: Maghiel van Crevel: Chinese Poetry in Times of Mind, Mayhem and Money, Leiden: Brill, 2008, S. 63–89, 365–397. [XWR]

Han Fei 韩非 (auch: Han Fei Zi, 280 – 233 v.Chr.), geb. im Reich Han (heute Südosten der Provinz Shanxi und Zentralhenan) Han Fei war den Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian zufolge ein Prinz aus dem Staate Han und – wie auch Li Si (gest. 208 v.Chr.), der einflußreiche Kanzler des Ersten Kaisers Qin Shihuangdi – ein Schüler des (→) Xun Zi. Während Li Si – in den Fußstapfen Shang Yangs (gest. 338 v.Chr.) wandelnd – als berüchtigter Praktiker des Legismus in die Geschichtsbücher einging, gilt Han Fei als der maßgebliche Theoretiker dieser philosophischen Schule. Der Legismus war damals eine unter vielen Schulen, die sich in den Kriegswirren der Zeit der Streitenden Reiche (481 – 221 v.Chr.) mit den Voraussetzungen für ein optimales Zusammenleben in der Gesellschaft befaßten. Die Legisten gingen von der Lehre des Xun Zi aus, nach der die (konfuzianischen) Idealtugenden nicht in der Natur des Menschen angelegt seien, sondern erst durch Erziehung erlernt werden müßten. Radikalisiert durch die Thesen (und bekanntermaßen grausamen Taten) des Shang Yang, plädierten die Legisten für eine strenge Gesetzgebung, rigorose Bestrafung und bedingungslose Anwendung der Staatsgewalt, um Frieden, Sicherheit und Ordnung im Staat zu garantieren. Han Fei kommt das Verdienst zu, die früheren, recht disparaten Ansätze dieser Schule in seinem umfangreichen Werk (55 Kapitel mit ca. 110.000 Schriftzei-

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Han Shan 寒山

chen) synthetisiert und für die Nachwelt formuliert zu haben. Das Buch wurde vermutlich nach seinem Tod von seinen Schülern zusammengestellt, gilt im Kern aber als authentisch. Han Fei, als Diplomat von Han nach Qin entsandt, um die drohende Annektion zu verhindern, wurde dort förmlich von der radikalen Wirklichkeit seiner eigenen Theorie überrollt. Nachdem der König von Qin sich zunächst geneigt gezeigt hatte, Han Fei als Berater anzuwerben, unterlag er bald den eifersüchtigen Anschuldigungen seiner Amtskollegen, die ihn als Han-Spion denunzierten. Han Fei nahm sich 233 v.Chr. – von Li Si mit Gift versorgt – im Gefängnis des Staates Qin das Leben, noch bevor der König von Qin als »Erster Kaiser« die anderen Teilstaaten gewaltsam unter sich vereint hatte (Qin-Dynastie, 221 – 206 v.Chr.). WERKAUSGABEN: Wang Xianshen: Han Fei Zi jijie, in: Zhuzi jicheng, Bd. 5, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1978; Han Fei Zi suoyin, Peking: Zhonghua Shuju, 1982. ÜBERSETZUNGEN: The Complete Works of Han Fei Tzu. A Classic of Chinese Legalism, übers. von Liao Wen-kuei, 2 Bde., London: Arthur Probsthain, 1939/1959; Han Fei Tzu. Basic Writings, übers. von Burton Watson, New York u. London: Columbia University Press, 1964; Die Kunst der Staatsführung. Die Schriften des Meisters Han Fei, übers. von Wilmar Mögling, Leipzig: Kiepenheuer, 1994. SEKUNDÄRLITERATUR: Ralf Moritz: Die Philosophie im alten China, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990, S. 209–238; Bertil Lundahl: Han Fei Zi. The Man and the Work, Stockholm: Institute of Oriental Languages, 1992. [HP]

Han Shan 寒山 (möglicherweise frühes 7. Jahrhundert) Die Tang-zeitliche (618 – 907) Sammlung von Chan-buddhistisch und daoistisch geprägten Gedichten mit dem Titel Gedichte vom Kalten Berg (Han Shan shi) gibt gewollte und ungewollte Rätsel auf, besonders hinsichtlich ihres Verfassers – der Legende nach ein Einsiedler des Namens Han Shan (»Kalter Berg«) oder Han Shan Zi (»Meister vom Kalten Berg«). Die zeitlose Faszination dieses Dichtermönches, gleich, ob er nun reale Person oder bloße Erfindung sein mag, erklärt sich nicht zuletzt aus ihrer Unschärfe. So ist die Figur vage genug überliefert oder angelegt worden, um als Projektionsfläche für unzählige Generationen zu taugen. Das undatierte (in der chinesischen Tradition ein bemerkenswerter Umstand) und sprachlich auffällig ungelenke Vorwort zu dieser Sammlung hat ein gewisser Lü Qiuyin, Präfekt von Taizhou, verfaßt. Darin berichtet er von wundersamen Vorkommnissen um das Guoqing-Kloster im Tiantai-Gebirge (Provinz Zhejiang). Hoch oben um den »kalten Gipfel« (han shan) streift ein seltsamer Einsiedler gleichen Namens; hin und wieder kehrt er im Kloster ein. Dort versorgt ihn der nicht minder närrisch erscheinende Mönch Shide (»Findling«) mit Nahrung. Das merkwürdige Duo steht unter dem Schutz des Chan-Meisters Fenggan, der –

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Han Shan 寒山

zuweilen in einen Tiger verwandelt – in seiner Klause haust. Der Autor des Vorwortes erkennt in Fenggan den Buddha Amitabha, in Han Shan den Bodhisattva Manjusri und in Shide den Bodhisattva Samantabhadra. Ehrfürchtig hat er ihre Zeugnisse zusammengetragen, in der Hauptsache die lebensklugen und zum Teil paradoxen Gedichte und Gleichnisse des Han Shan. Soweit die Legende. Auch wenn man bei den 311 in einfacher Sprache gehaltenen Gedichten des Han Shan (hinzu kommen innerhalb der Sammlung 53 Gedichte von Shide und zwei Gedichte von Fenggan) an die Autorenschaft aus einer Hand glauben möchte, weist die linguistische Analyse der zumeist fünfsilbigen Achtzeiler im Alten und Neuen Stil (wuyan gushi und wuyan lüshi), die allesamt ohne Titel sind, auf mindestens zwei unterschiedliche Entstehungszeiten hin. Eine von vielen Theorien zur Datierungs- und Verfasserfrage besagt, daß der Großteil der Gedichte sowie das erwähnte Vorwort zu Beginn der Tang-Zeit (also im frühen 7. Jahrhundert) entstanden sein könnten, während es sich beim verbleibenden Rest wahrscheinlich um Ergänzungen und Nachahmungen mehrerer Verfasser aus der späten Tang-Zeit (9. Jahrhundert) handelt. Auch wenn die Gedichte vom Kalten Berg in China bereits in der Tang-Zeit in Umlauf waren, wurden sie dort lange Zeit von der Literaturkritik für zu schlicht befunden und deshalb in keine der bedeutenden Anthologien aufgenommen. In Japan (bereits seit dem 11. Jahrhundert) und im Westen stießen sie dagegen auf ungleich größeres Interesse. Seit der Übersetzung Arthur Waleys aus dem Jahr 1954 setzten sich eine Reihe von westlichen Künstlern mit den Gedichten auseinander: allen voran die Vertreter der Beat-Generation Gary Snyder, Jack Kerouac und Allan Ginsberg. Wie Arthur Waley anmerkte, ist dabei für viele der Name »Han Shan« – jenseits des gebirgigen Ortes, den er bezeichnet, und der gleichnamigen irreal erscheinenden Dichterfigur – zum Synonym für einen erleuchteten Bewußtseinszustand geworden. WERKAUSGABEN: Han Shan shi jiaozhu, hg. von Qian Xuelie, Guangzhou: Guangdong Gaodeng Jiaoyu, 1991. ÜBERSETZUNGEN: »Twenty-seven Poems by Han-shan«, übers. von Arthur Waley, in: Encounter 3, 3 (1954), S. 3‒8; Cold Mountain. 100 Poems by the T’ang Poet Han-shan, übers. von Burton Watson, New York: Columbia University Press / London: Cape, 1970; Han Shan. 150 Gedichte vom Kalten Berg, übers. von Stephan Schuhmacher, Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1974; The Poetry of Han-Shan. A Complete, Annotated Translation of Cold Mountain, übers. von Robert G. Henricks, Albany: State University of New York Press, 1990; Han-shan, fl. 730 ‒ 850, The Collected Songs of Cold Mountain, übers. von Red Pine [d.i. Boll Porter], Port Townsend, Washington: Copper Canyon Press, 2000. SEKUNDÄRLITERATUR: Wu Chi-yu: »A Study of Han-shan«, in: T’oung Pao 45 (1957), S. 392‒450; Edwin G. Pulleyblank: »Linguistic Evidence for the Date of Hanshan«, in: Studies in Chinese Poetry and Poetics, hg. von Ronald C. Miao, Bd. 1, San Francisco: Chinese Materials Center, 1978, S. 163‒195; Robert Borgen: »The Legend of Hanshan:

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Han Shaogong 韩少功 A Neglected Source«, in: Journal of the American Oriental Society 111 (1991), S. 575‒ 579. [HP]

Han Shaogong 韩少功 (1953 – ), geb. in Changsha (Provinz Hunan) Geboren in Changsha, der Hauptstadt der Provinz Hunan, wurde Han Shaogong als Heranwachsender 1968 zur Umerziehung aufs Land geschickt, wo er sich mit der lokalen ländlichen Kultur vertraut machen konnte. Von 1974 bis 1978 arbeitete er im Kulturhaus des Kreises Miluo. 1978 bis 1982 studierte er Literatur an der Pädagogischen Hochschule der Provinz Hunan und war bis 1985 Redakteur einer Provinzzeitschrift. Nach einem kurzen Aufbaustudium der Englischen Literatur in Wuhan wurde er 1985 Berufsschriftsteller und schloß sich dem Hunaner Schriftstellerverband an. Seit 1988 lebt er auf der Insel Hainan und ist Vorsitzender des dortigen Schriftstellerverbandes, Chefredakteur einer lokalen Zeitschrift und Geschäftsführer eines Verlags. Han schrieb seit 1974 Kurzgeschichten und veröffentlichte eine erste Sammlung namens Yuelan (Yuelan [Eigenname]) im Jahr 1981. Es folgten Blick westwärts in die Steppe (Xi wang maocaodi, 1980) und Flug ins Himmelsblau (Feiguo lantian, 1983). Mitte der 80er Jahre rief er mit einigen anderen zeitgenössischen Literaten zusammen die literarische Bewegung »Auf der Suche nach den Wurzeln« (xungen wenxue) ins Leben. Deren Ziel lag darin, »das nationale Selbst« im Rückgriff auf dessen »Kindheit« wiederherzustellen. Das führte zum Neoprimitivismus, dessen Stoffe aus den kulturellen Randregionen entnommen sind. Erzähltechnisch folgen die meisten Literaten dieser Richtung jedoch westlichen Traditionen, vor allem Erzählern wie Franz Kafka, Gabriel García Márquez und Milan Kundera. Im Rahmen dieser Bewegung veröffentlichte Han die Erzählungen »Papapa« (»Bababa«, 1985) und »Fraufraufrau« (»Nününü«, 1986), in denen er die primitive Lebensart in abgelegenen Gebieten inszeniert, ohne dabei seine kulturkritische Haltung gegenüber der chinesischen Zivilisation zu verbergen. Hans repräsentativstes Werk ist der 1996 erschienene Roman Ein Wörterbuch für Maqiao (Maqiao cidian), in dem er Sprache und Lebensweise im dörflichen Milieu in der Form eines exkursreichen Wörterbuches darstellt. Diese innovative Erzähltechnik löste eine heftige Diskussion in Literaturkreisen aus; die Reaktionen reichten von begeisterter Zustimmung bis zu scharfer Ablehnung. WERKAUSGABEN: Maqiao cidian, Peking: Zuojia, 1996; Han Shaogong zuopin zixuanji, Guilin: Lijiang, 1997; Han Shaogong xiaoshuo jingxuan, Xi’an: Taibai Wenyi, 2001; Wenxue de gen, Jinan: Shandong Wenyi, 2001; Han Shaogong zixuanji, Haikou: Hainan, 2004. ÜBERSETZUNGEN: »Rückschau auf meinen Lernprozeß«, übers. von Hans-Hermann Schmidt, in: Akzente 2/1985, S. 170–175; »Papapa«, übers. von Karin Hasselblatt, in:

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Han Yu 韩愈 Drachenboot 1 (1987), S. 41–62; »Leere Stadt«, übers. von Hannelore Salzmann, in: Die Auflösung der Abteilung für Haarspalterei. Texte moderner chinesischer Autoren. Von den Reformen bis zum Exil, hg. von Helmut Martin u. Christiane Hammer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991, S. 136–146; Homecoming? and Other Stories, übers. von Martha Cheung, Renditions Paperback, Hongkong: Chinese University of Hong Kong, 1992; »Nach der ›Wundenliteratur‹: Lokalkulturen und eine Periode der Ermattung und Reife«, übers. von Christa Gescher, in: Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, hg. von Helmut Martin, Bonn: Bouvier, 1993, S. 161–170; A Dictionary of Maqiao, übers. von Julia Lovell, New York: Columbia University Press, 2003. SEKUNDÄRLITERATUR: Joseph S.M. Lau: »Visitation of the Past in Han Shaogongʼs Post1985 Fiction«, in: From May Fourth to June Fourth. Fiction and Film in TwentiethCentury China, hg. von Ellen Widmer u. David Wang, Cambridge: Harvard University Press, 1993, S. 295–326; Cai Rong: »The Subject in Crisis: Han Shaogongʼs Cripple(s)«, in: The Journal of Contemporary China 5 (Spring 1994), S. 64–77; Yi-tsi Mei Feuerwerker: »The Post-Modern ›Search for Roots‹ in Han Shaogong, Mo Yan, and Wang Anyi«, in: dies.: Ideology, Power, Text. Self-Representation and the Peasant »Other« in Modern Chinese Literature, Stanford: Stanford University Press, 1998, S. 188–238; Mark Leenhouts: »Is it a Dictionary or a Novel? – On Playfulness in Han Shaogongʼs Dictionary of Maqiao«, in: The Chinese at Play. Festivals, Games and Leisure, hg. von Bonnie McDougall u. Anders Hansson, London: Kegan Paul, 2002; Paola Iovene: »Authenticity, Postmodernity, and Translation: The Debates around Han Shaogongʼs Dictionary of Maqiao«, in: Annali dellʼUniversità degli Studi di Napoli LʼOrientale 62 (2002), S. 197–218. [XWR]

Han Yu 韩愈 (zi: Tuizhi, hao: Changli, 768 – 824), geb. in Heyang (heute Mengxian, Provinz Henan) Der überzeugte Konfuzianer Han Yu war einer der einflußreichsten Literaten der Tang-Zeit (618 – 907). Schon im Alter von zwei Jahren verwaist, wuchs er in der Familie seines älteren Bruders Han Hui (740 – 781) auf. Als Jugendlicher erlebte er wiederholt Provinzrebellionen und daraus resultierende Vertreibungen. 786 kam er in die Hauptstadt Changʼan, wo er 792 erst im vierten Versuch das jinshiDoktorexamen bestand. Auch das nächsthöhere kaiserliche Examen zur Postenvergabe bereitete ihm große Schwierigkeiten, weshalb er 796 zunächst in die Dienste des Militärgouverneurs Dong Jin (724 – 799) trat. Im Jahr 802 konnte er endlich seine Karriere bei Hofe beginnen, zunächst im Rahmen einer Lehrtätigkeit. In dieser Zeit bewegte er sich bereits tonangebend in den literarischen Zirkeln der Metropole. Doch schon 803 wurde Han Yu nach Süden strafversetzt, nachdem er es abgelehnt hatte, sich der Reformbewegung Wang Shuwens (753 – 806) anzuschließen, an der Literaten wie (→) Liu Zongyuan und (→) Liu Yuxi teilnahmen. Während letztere 805 in die Verbannung geschickt wurden, durfte Han Yu bei

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Han Yu 韩愈

Amtsantritt Kaiser Xianzongs (reg. 806 – 820) wieder an den Hof zurückkehren. Da die Fraktionskämpfe bei Hofe jedoch nicht enden wollten, ließ er sich 807 in die östliche Hauptstadt Luoyang (Provinz Henan) versetzen, wo er bis 811 tätig war. Wieder nach Changʼan zurückgekehrt, erwies er sich als kaisertreuer Verfechter der Tang-zeitlichen Expansionspolitik. Dabei befürwortete er eine starke, Han-chinesische Zentralregierung und die gewaltsame Niederschlagung separatistischer Rebellionen. Zudem bezog er entschieden gegen den Buddhismus, Daoismus und Aberglauben aller Art Position. Im Jahr 819 übertrieb er es allerdings, denn durch sein buddhismuskritisches »Manifest über den Buddhaknochen« (»Lun Fogu biao«) fühlte sich Kaiser Xianzong persönlich angegriffen. Han Yu entging nur knapp der Todesstrafe und wurde in das damalige Seuchengebiet Chaozhou (im äußersten Osten der Provinz Guangdong) verbannt. 820 wurde er rehabilitiert und hatte zuletzt u.a. das Amt des Bürgermeisters von Changʼan inne. Han Yu gilt spätestens seit der Ming-Zeit (1368 – 1644) als einer der bedeutendsten Essayisten der chinesischen Literaturgeschichte, wenn nicht sogar als der bedeutendste. Zusammen mit (→) Liu Zongyuan zählt er zu den »Acht großen Essayisten der Tang- und Song-Zeit«. Auf den zaghaften Vorstößen von Literaten wie (→) Chen Ziʼang aufbauend, der die Bewegung der »Rückbesinnung auf das Altertum« (fugu) ins Leben gerufen hatte, lösten Han Yu und Liu Zongyuan eine Renaissance der Alten Prosa (guwen) aus. In einer Mischung aus klassischschriftsprachlichen und umgangssprachlichen Elementen schuf Han Yu eine völlig neue Form der Prosa: die des freien Essays (sanwen). Sein Anliegen war dabei die Überwindung des Primats ästhetischer Kriterien in der Literatur – sowohl in der Lyrik als auch im zum bloßen Schema erstarrten Parallelstil der pianwenProsa. Von der Rückkehr zu den antiken, stilistisch unreglementierteren literarischen Formen versprach man sich gleichzeitig eine Rückkehr zu ethisch anspruchsvolleren Inhalten. Nach Jahrhunderten, in denen Buddhismus und Daoismus nicht nur in künstlerischen, sondern auch in politischen Belangen zunehmend an Einfluß gewonnen hatten, ging damit auch das Bestreben einher, den Konfuzianismus wieder (oder überhaupt erst) als Staatsideologie zu implementieren. Damit bereitete Han Yu den Weg für den Neokonfuzianismus der Song-Zeit. Neben dem umfangreichen Prosawerk aus Briefen, Vorworten, Throneingaben, Grabinschriften etc. sind rund 300 Gedichte überliefert, die sich – abseits manch kühner stilistischer Freiheit – besonders an konfuzianisch geprägten Dichtern wie (→) Du Fu orientieren. WERKAUSGABEN: Han Yu quanji jiaozhu, hg. u. komm. von Qu Shouyuan u. Chang Sichun, 4 Bde., Chengdu: Sichuan Daxue, 1996. ÜBERSETZUNGEN: »Betreffend den Knochen Buddhas«, in: Wilhelm Grube: Geschichte der chinesischen Litteratur [sic], Leipzig: Amelang, 1902, S. 303‒308; Le Kou-wen Chinois. Recueil de Textes avec Introduction et Notes, übers. von Georges Margouliès, Paris: Édition Paul Geuthner, 1926, S. 176‒219; Han Yü’s poetische Werke, übers. von

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He Qifang 何其芳 Erwin Ritter von Zach, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1952; Poems of the Late Tʼang, übers. von A.C. Graham, Harmondsworth: Penguin, 1965, S. 71‒79; Chinese Classical Prose: The Eight Masters of the T’ang-Sung Period, übers. von Shih Shun Liu, Hongkong: Renditions Press, 1979, S. 23‒97; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 241‒254. SEKUNDÄRLITERATUR: Y.W. Ma: »Prose Writings of Han Yü and Ch’uan-ch’i Literature«, in: Journal of Oriental Studies 7 (1969), S. 195‒223; Stephen Owen: The Poetry of Meng Chiao and Han Yu, New Haven u. London: Yale University Press, 1975; Madeline K. Spring: A Stylistic Study of Tang Guwen: The Rhetoric of Han Yu and Liu Zongyuan, Diss., University of Washington, 1983; Charles Hartman: Han Yü and the T’ang Search for Unity, Princeton: Princeton University Press, 1986; David L. McMullen: »Han Yü: An Alternative Picture«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 49, 2 (1989), S. 603‒657. [HP]

He Qifang 何其芳 (eig. He Yongfang, 1912 – 1977), geb. in Wanxian (Provinz Sichuan) He Qifang kam aus einer konservativen Großfamilie in der Provinz Sichuan. 1931 bis 1935 studierte er an der Universität Peking Philosophie. Danach war er Lehrer an verschiedenen Orten und veröffentlichte Gedichte und Essays mit politischen Kommentaren, in denen er die passive Widerstandspolitik der Guomindang gegenüber den Japanern kritisierte. 1938 kam er nach Yan’an, der Hauptstadt der kommunistischen Gegenregierung, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei und unterrichtete an der Lu-Xun-Akademie für Kunst und Literatur. Nach der Gründung der Volksrepublik wurde er Mitglied des Nationalkomitees der Politischen Konsultativkonferenz, Abgeordneter des Volkskongresses und Parteivorsitzender im chinesischen Schriftstellerverband. Er war Direktor des Instituts für Literatur an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und Herausgeber der Zeitschrift Literaturkritik (Wenxue pinglun). Seine frühen Gedichte wie »Prophezeiung« (»Yuyan«, 1931) und »Unter dem Mond« (»Yue xia«, 1932) zeichnen sich durch ihr Streben nach Form und ihre Betonung der Gefühle des Dichters aus. He erweist sich darin als ein Träumer, der die Empfindsamkeit der Dichtung zurückgewinnen möchte und sich gegen den Trend der Versachlichung und Rationalisierung der Lyrik wehrt. In dem 1936 erschienenen Gedicht »Das letzte Geleit« (»Songzang«) indes vollzog er eine Wende, indem er den Abschied vom Selbst und die Hinwendung zur gesellschaftlichen Realität forderte. Während der Zeit des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) rückte der Patriotismus als Thema in den Vordergrund, so in dem Langgedicht »Geschichte eines Maurers« (»Yige nishuiqiang de gushi«, 1939). In den 40er Jahren vertrat He die literarischen Auffassungen Mao Zedongs, was ihn während der Kulturrevolution (1966 – 1976) dennoch nicht vor Verfolgung schützte. Er veröffentlichte die Gedichtsammlungen Aufzeichnungen von bemalten Träumen

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Hong Mai 洪迈

(Hua meng ji, 1934), Aus dem Han-Garten (Hanyuan ji, 1936), Streben nach Vollkommenheit (Keyi ji, 1938) und Nacht- und Taglieder (Yege he baitian zhi ge, 1952) sowie die Essaysammlung Funken (Xinghuo ji, 1945). Nach 1949 widmete He sich hauptsächlich der Literaturkritik und -wissenschaft. WERKAUSGABEN: He Qifang wenji, 6 Bde., Peking: Renmin Wenxue, 1982 – 1984. ÜBERSETZUNGEN: Paths in Dreams. Selected Prose and Poetry of Ho Ch’i-fang, übers. von Bonnie S. McDougall, St. Lucia: University of Queensland Press, 1976; Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919 – 1984, hg. u. übers. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 137–145. SEKUNDÄRLITERATUR: Bonnie S. McDougall: »European Influences in the Poetry of He Ch’i-fang«, in: Journal of the Oriental Society of Australia 5, 1/2 (1967), S. 133–151; Marián Gálik: »Early Poems and Essays of Ho Chʼi-fang«, in: Asian and African Studies 15 (1979), S. 31–63; Bonnie S. McDougall: »Memories and Metamorphoses of a Thirtiesʼ Intellectual: A Study of He Qifangʼs ›Old Men‹ (Lao ren)«, in: CLEAR 3, 1 (Jan. 1981), S. 93–107; Marián Gálik: »Ho Chʼi-fangʼs Paths in Dreams: the Interliterary Relations with English, French Symbolism and Greek Mythology«, in: ders. (Hg.): Milestones in Sino-Western Literary Confrontation (1898 – 1979), Wiesbaden: Harrassowitz, 1986, S. 153–176. [XWR]

Hong Mai 洪迈 (zi: Jinglu, hao: Rongzhai, 1123 – 1202), geb. in Poyang (Provinz Jiangxi) Der vielseitige Gelehrte Hong Mai war der jüngste Sohn Hong Haos (1088 – 1155). Als Hong Mai erst sechs Jahre alt war, wurde sein Vater 1129 mit der schwierigen und gefährlichen Aufgabe betraut, als Unterhändler der Song zu den Jin (Dschurdschen, 1115 – 1234) zu reisen. Letztere hatten 1127 die Nördliche Song-Dynastie in den Süden vertrieben. Hong Mai, der später in der Funktion eines Gesandten in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte, erhielt eine fundierte Ausbildung in den konfuzianischen Klassikern und entwickelte eine Vorliebe für historische Themen sowie für die Lyrik der Tang-Zeit (618 – 907). Nach dem jinshi-Doktorexamen im Jahre 1145 bekleidete er mehrere Provinzposten, bevor man ihn 1158 als militärischen Berater nach Hangzhou, die Hauptstadt der Südlichen Song-Dynastie, berief. 1162 wurde er – wie einst sein Vater – als Unterhändler zu den Dschurdschen geschickt, um über die Rückgabe der sterblichen Überreste Kaiser Jinzongs (reg. 1126 – 1127) sowie über Territorialfragen zu verhandeln. Dort beharrte Hong Mai jedoch allzu halsstarrig auf den Forderungen der Song und wurde dafür hüben wie drüben mit scharfer Kritik gestraft. Nach 1163 stieg sein Ansehen bei Hofe erneut, nachdem er die Aufmerksamkeit Kaiser Xiaozongs (reg. 1163 – 1190) gewonnen hatte. Zwischen ihnen beiden entspann sich gar eine Art intellektueller Freundschaft, genährt von der Diskussion literari-

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Hong Mai 洪迈

scher und künstlerischer Themen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis Neider bei Hofe für eine erneute Versetzung Hong Mais in die Provinz sorgten. Während der folgenden fünfzehn Jahre empfahl er sich an wechselnden Wirkungsstätten durch eine gütige und volksnahe Politik, so daß er zuletzt auch bei Hofe wieder Gnade fand. Als Mitglied der Hanlin-Akademie und Direktor der staatlichen Prüfungskommission trat er 1180 in den Ruhestand, um sein umfangreiches Werk zu komplettieren. Hong Mai war ein »Meister der kleinen Form« (Helwig Schmidt-Glintzer) – als Autor, literarisch-historischer Sammler und Herausgeber. In seinem Hauptwerk Berichte des Yijian (Yijian zhi) sammelte und schrieb er insgesamt 2700 kurze Geschichten von Denk- und Merkwürdigem, Phantastischem und Historischem. Von den zwischen den Jahren 1161 und 1198 entstandenen 420 Kapiteln sind heute nur noch knapp die Hälfte erhalten. Dieses zum Genre der »Pinselnotizen« (biji) zählende Mammutwerk stand zwar in der Tradition der Tang-zeitlichen Novellistik, doch Hong Mai ging weniger mit einem literarischen als vielmehr mit dem rationalistischen Anspruch eines Historikers zu Werke. So schuf er eine einzigartige kulturgeschichtliche Quelle, aber natürlich auch einen schier unendlichen Fundus an literarischen Stoffen. Hong hat noch eine weitere Sammlung von 1217 Pinselnotizen, die den Titel Fünf Sammlungen von Notizen aus dem Duldsamen Studio (Rongzhai suibi wuji) trägt, zu einer großen Bandbreite von Themen hinterlassen. Seine Poetik Rongzhais Gespräche über Dichtung (Rongzhai shihua) besticht durch ihre vergleichsweise individualistischen Kommentare. Als Herausgeber zeichnete Hong Mai für die bis in die Qing-Zeit (1644 – 1911) einflußreiche Anthologie Zehntausend Vierzeiler von Dichtern der Tang-Dynastie (Wanshou Tangren jueju) verantwortlich. WERKAUSGABEN: Rongzhai suibi wuji zonghe yinde, hg. vom Harvard-Yenching Institute, Nachdruck: Taipeh: Chinese Materials Center, 1966; Yijian zhi, Peking: Zhonghua Shuju, 1981. ÜBERSETZUNGEN: Werner Eichhorn: »Zwei Episoden aus dem I-chien-chih«, in: Sinologica 3 (1953), S. 86‒96. Sekundärliteratur: Chang Furui: »Le Yi-kien-tche et la Société des Song«, in: Journale Asiatique 256 (1968), S. 55‒93; ders.: La Vie et Lʼ Œuvres de Hung Mai (1123 ‒ 1202), Diss., Paris, 1971; ders.: »L’Influence du Yi-kien-tche sur les Œuvres Littéraires«, in: Études d’histoire et de littérature Chinoises offertes au Professeur Jaroslav Prusek, hg. von Yves Hervouet, Paris: Bibliothèque de l’Institut de Hautes Études Chinoises, 1976, S. 51‒61; Katherine L. Kerr: »Yijian zhi: A Didactic Diversion«, in: Papers on Far Eastern History 35 (1987), S. 79‒88; Wang Nianshuang: Hong Mai shengping ji qi Yijian zhi zhi yanjiu, Diss., Taiwan, Zhengzhi Daxue, 1988; B.J. ter Haar: »Newly Recovered Anecdotes from Hong Mai’s (1123 ‒ 1202) Yijian zhi«, in: Journal of Song-Yuan Studies 23 (1993), S. 19‒42; Alister D. Inglis: Hong Mai’s Record of the Listener and Its Song Dynasty Context, Albany: State University of New York Press, 2006. [HP]

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Hong Sheng 洪昇

Hong Sheng 洪昇 (zi: Fangsi, hao: Baiqi, Baicun, Nanbing qiaozhe, 1645 ‒ 1704), geb. in Qiantang (heute Hangzhou, Provinz Zhejiang) Hong Sheng war Dichter und Dramatiker. Über sein Leben ist wenig bekannt, die Quellen widersprechen sich verschiedentlich. Um 1666 ging er nach Peking, um dort an der kaiserlichen Akademie (Guozijian) zu studieren. Er ließ sich aber erst nach seinem 30. Lebensjahr fest in der Hauptstadt nieder. Anscheinend hat er nie ein Amt innegehabt. Seinen großen Namen verdankt der Autor heute ausschließlich einem einzigen von dem guten Dutzend der ihm zugeschriebenen Stücke, von denen insgesamt nur zwei erhalten geblieben sind. Es heißt Der Palast des langen Lebens (Changsheng dian) und ist mit seinen fünfzig Szenen eine Romanze (chuanqi) im KunquStil. Es wurde möglicherweise schon 1684 vollendet und nicht erst 1688, trägt aber im Vorwort die Jahreszahl 1679, woraus sich schließen läßt, daß die erste Fassung damals noch in Hangzhou begonnen wurde. Dieses Werk war die Quelle von Hong Shengs Glück wie Unglück. Zunächst vom Kaiser belobigt und belohnt (1687 ‒ 1688), so daß es zu vielen Aufführungen in der Oberschicht kam, ereilte unseren Theatermann bald das Unglück. Die Aufführung, die 1689 zu seinen Ehren von seinesgleichen in Szene gesetzt wurde, fiel in eine Zeit der Staatstrauer, so daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Hong Sheng hatte Peking und damit die Akademie zu verlassen. Er verbrachte sein Leben nun mittellos in seiner Heimat, wo er 1704 bei einer Bootsfahrt im Vollrausch ertrank. Nach anderen Quellen war es der Kangxi-Kaiser (reg. 1661 ‒ 1722) höchstpersönlich, der in dem Stück antimandschurische Tendenzen witterte und entsprechend reagierte. Hong Sheng behandelt einen alten Stoff. Er erzählt allerdings die Liebe zwischen dem Kaiser Minghuang (Xuanzong, reg. 712 – 756) und seiner Konkubine Yang Guifei (719 ‒ 756) neu. Im Palast des ewigen Lebens, Teil des Kaiserpalastes des damaligen Chang’an (heute Xi’an), sollen sich die beiden 751 ewige Liebe geschworen haben. Bekanntlich kam die Heldin in den Wirren von 755 um. Der Autor sieht in dem Freitod ein Frauenopfer zum Wohle des Staates. Insofern weist Hong Sheng der Yang Guifei eine neue Rolle zu. Damit liegt er im Trend der Zeit, der Frauen nicht mehr als Gefahr, sondern als Segen einer Regierung ansah. Auch mit der übergroßen Betonung von Liebe als dem Sinn des Lebens entpuppt sich der Verfasser als Kind seiner Zeit. Was ihn jedoch wegweisend macht, ist seine Sicht des Kaisers. Er entwirft ihn als großen Leidenden, der in jeglicher Handlung gehemmt ist und der Helfershelfer bedarf, um wieder ins Leben zurückzukehren. Hier erleben wir einen Vorgriff auf die Moderne, die den apathischen Helden zum Spezifikum einer Gesellschaft am Ende der Tradition macht. WERKAUSGABEN: Changsheng dian, hg. von Xu Shuofang, Peking: Renmin Wenxue, 1983.

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Hu Yinglin 胡应麟 ÜBERSETZUNGEN: The Palace of Eternal Youth, übers. von Yang Hsien-yi und Gladys Yang, Peking: Foreign Languages Press, 1955; Waiting for the Unicorn. Poems and Lyrics of China’s Last Dynasty, 1644 ‒ 1911, hg. von Irving Yucheng Lo u. William Schultz, Bloomington: Indiana University Press, 1986, S. 142‒144. SEKUNDÄRLITERATUR: Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 715‒719. [WK]

Hu Yinglin 胡应麟 (zi: Yuanrui, Mingrui, hao: Shiyangsheng, Shaoshi shanren, 1551 – 1602), geb. in Lanxi (heute Provinz Zhejiang) Hu Yinglin, der 1576 die juren-Prüfung zum Magister abgelegt hatte, war Dichter und Sammler und kam über eben diese Tätigkeit auch zur Literaturtheorie. In den Gesammelten Schriften aus dem kleinen Bergstudio (Shaoshi shanfang bicong) bündelte er viele jener Schriften, die sich mit quellenkundlichen Darstellungen zur Literatur befassen. Außerdem setzen sich die Texte mit dem überlieferten Kanon der historischen und philosophischen Literatur auseinander. Daneben hat Hu noch die Verschiedenen Manuskripte aus dem kleinen Bergstudio (Shaoshi shanfang leigao) vorgelegt. Seine Darstellungen zur Dichtkunst sind in der Sammlung Dickicht von Bemerkungen zu Gedichten (Shisou) zu finden, in der Hu ausführlich die Entwicklung der Dichtkunst in China nachzeichnet und kritisch kommentiert. Mit seiner Bevorzugung des archaischen Stils gilt Hu als einer der letzten Ming-zeitlichen (1368 – 1644) Vertreter der fugu-Bewegung (»Zurück zum Altertum«). In Hu Yinglins weiteren literarturtheoretischen Arbeiten, die ebenfalls in die Gesammelten Schriften aufgenommen wurden, schenkte er vor allem den Romanen und Erzählungen große Aufmerksamkeit. Innerhalb der chinesischen Literaturgeschichte gilt Hu als einer der ersten, die den Werken der Erzählkunst einen gleichrangigen Platz neben den Schriften der Konfuzianer, Taoisten und Buddhisten einräumten. Vor allem betonte Hu die Fähigkeit der Erzählkunst, die von der Mehrzahl der Gelehrten geschätzten philosophischen Schriften der Klassiker um ungewöhnliche Sichtweisen zu bereichern, und führte in diesem Zusammenhang immer wieder die große Vitalität der Erzählungen an. Einen wichtigen Beitrag zur Literaturgeschichte lieferte Hu auch insofern, als er sich um eine für seine Zeit sehr fortschrittliche Aufteilung der Erzählliteratur in Genres wie »Darstellungen des Außergewöhnlichen« (zhiguai), »Darstellungen historischer Ereignisse« (chuanqi), »Vermischte Aufzeichnungen« (zalu) usw. bemühte, wohingegen man die fiktionale Prosa in der Vergangenheit nur grob den beiden Kategorien der philosophischen und der historischen Schriften zugeschlagen hatte. Auf der Grundlage dieser vergleichsweise präzisen Zuordnungen gelang es Hu Yinglin auf eindrucksvolle Weise, interessante Zeitbezüge zur Entwicklung der Erzählkunst herzustellen. So konstatiert er etwa für die Wei/Jin-Periode im vierten und fünften Jahrhundert

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Huang Naiʼan 黄耐庵

ein starkes »übersinnliches« Element, das er auf die Beeinflussung der Erzählkunst durch den Buddhismus zurückführt. Die Verfasser der Erzählungen zur und vor der Tang-Zeit (618 – 907) waren in den Augen Hus noch ausschließlich Gelehrte, erst nach der Song-Dynastie (960 – 1279) traten ihm zufolge als Erzähler auch Autoren hervor, die ihre Maßstäbe nicht mehr in so hohem Grad an dem überlieferten konfuzianischen Bildungskanon ausrichteten. WERKAUSGABEN: Hu Yinglin shihua, hg. von Mao Li, in: Ming shihua quan bian, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Chen Guoqiu: Hu Yinglin shilun yanjiu, Hongkong: Huafeng Shuju, 1986; Laura Hua Wu: »From Xiaoshuo to Fiction: Hu Yinglin’s Genre Study of Xiaoshuo«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 55, 2 (1995), S. 339–371. [TZ]

Huang Naiʼan 黄耐庵 (eig. Huang Yan, hao: Huaxi yishi, ca. 1750 – ca. 1830), geb. in Taoyuanbao (Provinz Guangdong) Huang war Wanderarzt und verfaßte einige medizinische Schriften wie Vademekum der Medizin (Yixue jingyao) und Grundlagen der Augenheilkunde (Yanke zuan yao). Hinweise finden sich auch auf eine als verschollen geltende Sammlung mit dem Titel Gedichte und Schriften vom Blumenfluß (Huaxi shiwenji). Am bekanntesten jedoch wurde Huang mit seinem Roman Verlorene Geschichte des Südens (Lingnan yishi). WERKAUSGABEN: Lingnan yishi, Tientsin: Baihua Wenyi, 1995.

[TZ]

Huang Tingjian 黄庭坚 (zi: Luzhi, hao: Shangu daoren, Fuweng, 1045 – 1105), geb. in Fenning (heute Xiushui, Provinz Jiangxi) Huang Tingjian war einer der eigenwilligsten Vertreter der Neuen guwen-Bewegung (vgl. [→] Ouyang Xiu), zudem ein namhafter Kalligraph (er zählt zu den vier großen Meistern der Song-Zeit [960 – 1279]) und »Originalgenie« (G. Debon); er gilt als Begründer der nach seiner Heimatprovinz benannten Jiangxi-Schule, da eine Gruppe von 25 Dichtern in ihm ein Vorbild sahen. 1067 bestand er die Prüfung zum Doktor (jinshi) und war danach als Provinzbeamter (1068 ‒ 1071 und 1080 ‒ 1085), als Professor der Kaiserlichen Akademie in Damingfu (Nördliche Hauptstadt, 1072 ‒ 1079) und als kaiserlicher Historiker in Kaifeng (1085 ‒ 1091) tätig. 1091 zog er sich von allen Ämtern zurück, um sich der Pflege seiner betagten Mutter zu widmen und nach ihrem Tod um sie zu trauern. In der Yuan-Zeit (1279 – 1368) wurde er dafür zum »Beispiel kindlicher Pietät« erhoben. Ab 1094 hatte er als Freund und Schüler des (→) Su Shi (sie hatten sich 1078 kennengelernt) unter den

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Huang Xiaopei 黄小配

feindseligen Verfolgungen der Nachfolger des (→) Wang Anshi zu leiden mit Verbannung, Degradierung und Entzug der Lebensgrundlagen bis zum Tode. Als überzeugter Konfuzianer und Anhänger des Chan-Buddhismus hielt er allen Anfeindungen ungebrochen stand und widmete sich unbeirrt seinem künstlerischen Schaffen. Sein Werk, die Gesammelten Werke des Shangu, innere, äußere und sonstige (Shangu ji, neiji, waiji, bieji), entspricht dem geistigen Anliegen seiner Zeit, die »Zehntausend Dinge« und ihren Wandel in der Unwandelbarkeit wahrzunehmen gemäß dem »verborgenen Muster von Himmel und Erde« (W. Kubin). Seine Dichtung dient nicht dem unmittelbaren Ausdruck von Gefühlen, sondern wird zum Ort der Weltbetrachtung, hinter der sich das Empfinden verbirgt. Es geht ihm nicht allein um die Wiederbelebung alter Tugenden, vielmehr verwendet er, ganz poeta doctus, Bilder, Anspielungen und den Wortschatz früherer Meister – namentlich (→) Tao Yuanming, (→) Du Fu, (→) Li Bai und (→) Han Yu –, um aus ihrem »Material« »völlig neue künstlerische Gebilde« zu schaffen (tuo tai huan gu). Er verwirft dabei häufig die strenge Prosodie der überlieferten Gedichte und pflegt einen »unregelmäßigen Stil« (aoti) mit ungewöhnlichem Versbau und Rhythmus. Dabei gelten seine Aufmerksamkeit und sein anspruchsvolles künstlerisches Gestalten den unscheinbaren Dingen mit ihrer tiefen Wirkkraft auf das menschliche Leben. Diese konzentrierte Innenschau verleiht seinem Werk den Stempel einer »spannungsreichen Abgeklärtheit« (tense stillness, Yoshikawa Kojiro). WERKAUSGABEN: Huang Tingjian quanji, komm. von Liu Lin et al., 4 Bde., Chengdu: Sichuan Daxue, 2001. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Joan H. Rupprecht: Huang T’ing-chien. A Study in his Literary Theories and Poetic Style, Diss., University of Washington, 1972; Kojiro Yoshikawa: An Introduction to Sung Poetry, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973, S. 122‒130; Lutz Bieg: Huang T’ing-chien (1045 – 1105), Leben und Dichtung, Darmstadt: J.G. Bläschke, 1975; Lin Lü: »Huang T’ing-chien’s Theories of Poetry«, in: Tamkang Review 10, 3 (1980), S. 429–446; David Palumbo-Liu: The Poetics of Appropriation. The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, Stanford: Stanford University Press, 1993; Huang Tingjian he Jiangxi shipai ziliao huibian, hg. von Fu Xuancong, 2 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 2004. [BD]

Huang Xiaopei 黄小配 (auch: Huang Shizhong, hao: Yushan shicilang, Shushi, Shicilang, Kang, Lao Kang, Kangsun, Shijie yige ren etc., 1872 – 1912), geb. in Panyu (Provinz Guangdong) Huang Xiaopei stammte aus einer ursprünglich reichen und gebildeten Familie, doch zwang ihn die Verarmung des Clans mit 20 Jahren dazu, gemeinsam mit seinem Bruder nach Südostasien zu ziehen, wo die beiden hauptsächlich in Kuala Lumpur und Singapur lebten. Nach der Reformbewegung von 1898 gelangte Huang unter den Einfluß der unter Mitwirkung (→) Kang Youweis in Singapur

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Huang Zongxi 黄宗羲

gegründeten Zeitung Tiannan xinbao. Nachdem Huang in dem Blatt erste Artikel veröffentlicht hatte, wurde er dort als Reporter engagiert. Dies war der Beginn seiner Karriere als Zeitungsmann; in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gab er mehrere Zeitungen in Hongkong heraus. Die bestimmenden Kräfte seines folgenden Werdegangs waren die Politik und die Literatur. So war Huang seit 1905 eines der ersten Mitglieder der bürgerlich-revolutionären Tongmeng-Partei. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Provinz Kanton in der Folge des Aufstands von Wuchang 1911 wurde Huang das Amt des Freikorpsleiters übertragen. Kurze Zeit später verurteilte der Warlord Chen Jiongming Huang unter dem Vorwand der Unterschlagung von Soldgeldern zum Tode und ließ ihn hinrichten. Huang Xiaopei trat literarisch vor allem als Verfasser von mehr als zehn Romanen in Erscheinung, die aber teilweise unvollendet blieben. Sein wichtigstes Thema war die Kritik an den Zeitumständen und den Praktiken der Politiker. Drei seiner bekanntesten Werke befassen sich mit dem Anführer der Taiping-Rebellion Hong Xiuquan (1813 – 1864, Hong Xiuquan yanyi), dem Reformer Kang Youwei (1858 – 1927, Der Roßtäuscher [Da ma pian]) und dem Politiker Yuan Shikai (1859 – 1916, Yuan Shikai). Darüber hinaus leistete Huang wichtige Beiträge zur Theorie der Erzählkunst am Ende der Qing-Dynastie, die zum Teil in Vorworten oder Erläuterungen zu seinem Werk erschienen, dann aber auch in Zeitschriften unter programmatischen Titeln wie »Der Wandel des literarischen Stils und die zukünftige Rolle des Romans« (»Wenfeng zhi bianqian yu xiaoshuo jianglai zhi weizhi«) oder »Der Nutzen des Romans reicht weiter als der Einfluß der Zeitungen« (»Xiaoshuo zhi gongyong bi baozhi yingxiang wei geng puji«) erschienen. Schon diese wenigen Titel machen klar, daß Huang wie andere Literaturkritiker seiner Zeit dem Roman einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft zuschrieb und ihm das Potenzial beimaß, aufklärerisch zu wirken. Insgesamt klingen seine Erklärungen zur Romankunst weit kämpferischer als die seiner Zeitgenossen, was freilich angesichts seiner starken politischen Betätigung wenig erstaunlich ist. WERKAUSGABEN: Hong Xiuquan yanyi, Shanghai: Shanghai Guji, 1981. SEKUNDÄRLITERATUR: Zhao Mingzheng: Huang Xiaopei yu Hong Xiuquan yanyi, Shenyang: Liaoning Jiaoyu, 1992. [TZ]

Huang Zongxi 黄宗羲 (zi: Taichong, hao: Nanlei, auch: Nanlei xiansheng, Lizhou laoren, 1610 – 1695), geb. in Yuyao (Provinz Zhejiang) Als eine herausragende Persönlichkeit im politischen Leben zum Ende der MingDynastie (1368 – 1644) wurde Huang in die Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen bei Hofe verwickelt, nachdem sein Vater als Mitglied der Donglin-

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Partei durch den mächtigen Eunuchen Wei Zhongxian in den Tod getrieben worden war. Als man Huang nach dem Leben trachtete und die mandschurischen Truppen ohnehin bereits aus dem Norden ins Reich drängten, flüchtete er zunächst in seine südchinesische Heimat. Dort schloß er sich dem Fürsten Lu bei der Organisation des Widerstands gegen die Invasoren an, zog sich jedoch nach der endgültigen Niederlage der Ming ins Privatleben zurück. In diesem letzten Lebensabschnitt entwickelte er sein bleibendes philosophisches und dichterisches Werk, das ihn zu einem der wichtigsten Denker seiner Zeit machte. Als ein treuer Anhänger des untergegangenen Kaiserhauses bemühte sich Huang darum, den Ming durch sein wissenschaftliches Werk ein Denkmal zu setzen. Seine Zusammenstellung der konfuzianischen Gelehrsamkeit der Ming-Dynastie (Ming ruxue an) gilt als das erste wissenschaftsgeschichtliche Werk Chinas, das von Huang zwischen 1668 und 1693 kompilierte Schriftenmeer der Ming (Ming wen hai) ist eine mehr als zweitausend Texte umfassende Anthologie von wichtigen Texten der Ming. Wo es um die Frage des traditionellen konfuzianischen Gelehrtentums geht, wird Huangs Name in der Regel gemeinsam mit denen von (→) Gu Yanwu und (→) Wang Fuzhi genannt. Seine Niederschrift des Wartens auf die Dämmerung (Mingyi daifang lu), in der er für die Befreiung von den Fesseln der Tradition eintritt, hat besonders auf politische Bewegungen späterer Zeit starken Einfluß ausgeübt. WERKAUSGABEN: Huang Zongxi quanji, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1985 – 1994; Huang Zongxi shi wen xuan, hg. vom Huang-Zongxi-Forschungsinstitut der Pädagogischen Hochschule von Ningbo, Shanghai: Huadong Shifan Daxue, 1990. ÜBERSETZUNGEN: Waiting for the Dawn. A Plan for the Prince. Huang Tsung-hsi’s Ming-i tai-fang lu, übers. von Wm. Theodore de Bary, New York: Columbia University Press, 1993. SEKUNDÄRLITERATUR: Lynn A. Struve: »The Early Ch’ing Legacy of Huang Tsung-hsi: A Reexamination«, in: Asia Major, Third Series 1 (1988), S. 83–122; Liu Shu-hsien: »Der letzte neokonfuzianische Philosoph: Huang Zongxi«, in: Der Konfuzianismus. Ursprünge – Entwicklungen – Perspektiven, hg. von Ralf Moritz et al., Leipzig: Leipziger Universität, 1998, S. 111–131; Lin Zhiqiang: Huang Zongxi: Qing-sixiangjia (1610 – 1695), Shenzhen: Haitian, 1999; Xu Dingbao: Huang Zongxi pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 2002. [TZ]

Huang Zunxian 黄遵宪 (zi: Gongdu, 1848 – 1905), geb. in Meixian (Provinz Guangdong) Huang gilt als der wichtigste Impulsgeber für die Veränderungen des chinesischen Gedichts zum Ende der Qing-Dynastie (1644 – 1911). Seine Familie, die zum Teil der Hakka-Minorität entstammte, war von den Taiping-Unruhen betroffen und mußte 1865 aus ihrer Heimat fliehen. Zwar blieb Huang zunächst eine Kar-

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riere als Beamter versagt, doch machte er auf seinen Reisen wichtige Erfahrungen in der Begegnung mit der westlichen Kultur, so etwa 1870 bei seinem Besuch in Hongkong. Auch in der Folge war die Begegnung mit dem Fremden für Huang ein wichtiges Element in seiner Entwicklung. Nachdem er 1876 die Provinzprüfungen in Peking erfolgreich abgelegt hatte, wurde er zum Dienst in der chinesischen Botschaft von Tokio verpflichtet. Später war er als chinesischer Generalkonsul in San Francisco, Sekretär an der Botschaft in London und Generalkonsul in Singapur tätig, was ihn mehr als jeden anderen Literaten am Ende der Qing vertraut mit dem Westen machte. Nach China kehrte Huang beim Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges 1894 zurück. Dort kam er mit den Reformern um (→) Kang Youwei und (→) Liang Qichao in Kontakt. Den Verfolgungen im Anschluß an das Scheitern der Hundert-Tage-Reform 1898 entging er nur, weil eine Krankheit seinen rechtzeitigen Antritt des angebotenen Postens in der Regierung verhindert hatte. Als Dichter legte Huang Wert auf die Feststellung, daß er nicht Klassiker der Vergangenheit nachahme, sondern bemüht sei, eine neue Dichtkunst zu erschaffen. Sein poetologisches Credo lautete, daß seine Hand das schreibe, was der Mund ihr auftrage, und daß er nicht von der Vergangenheit beherrscht werde. Dichtung war dieser Auffassung zufolge etwas, das auf die Erfahrungen des Dichters zurückging und Reflexionen über seine Zeit anstellte. Huangs Rolle bei den politischen Ereignissen am Ende des 19. Jahrhunderts und die Lebendigkeit seines Stils machen seine Dichtungen zu wichtigen Zeugnissen seiner Zeit. Gemessen an den literarischen Gepflogenheiten des 20. Jahrhunderts war seine Dichtkunst konservativ, doch kommt ihm das Verdienst zu, neue literarische Formen verbreitet zu haben. Das bis dahin weitgehend unbekannte lange Prosagedicht ist hierfür nur ein Beispiel. Noch stärker aber prägte Huang das Gedicht der aufkeimenden Moderne, indem er im Rahmen von Gedichten, die am klassischen Stil orientiert sind, umgangssprachliche Ausdrücke, Fremdwörter und neue Wortschöpfungen gebrauchte. Was ihn freilich noch weit mehr von den Dichtungen der Vergangenheit unterschied, war die Bereitschaft, Themen aufzunehmen, die nichts mehr mit China zu tun hatten, wie etwa die Anpreisung westlicher Technik oder Beobachtungen über Ereignisse in fremden Gesellschaften und Kulturen. Dabei übte er mitunter auch durchaus Kritik, so etwa am westlichen Christentum, am Rassismus und an den Mängeln der bourgeoisen Demokratie. Ein Bewunderer der eigenen chinesischen Kultur, setzte sich Huang aber auch immer wieder mit deren Nachteilen wie dem Ethnozentrismus auseinander und trat für einen künftigen Internationalismus ein, in dem alle Völker in Harmonie und gegenseitigem Respekt zusammenleben sollten. WERKAUSGABEN: Huang Zunxian shixuan, hg. u. mit Anm. von Cao Xu, Shanghai: Huadong Shifan Daxue, 1990; Huang Zunxian quanji, hg. von Chen Zheng, Peking: Zhonghua Shuju, 2005.

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Huang Zuolin 黄佐临 ÜBERSETZUNGEN: »Hong Kong«, übers. von T.C. Lai, in: Renditions 29 & 30 (Spring & Autumn 1988), S. 63. SEKUNDÄRLITERATUR: Tim Sung Wook Shin: The Concepts of State (Kuo-chia) and People (Min) in The Late Ch’ing, 1890 – 1907. The Case of Liang Ch’i-ch’ao, T’an Ssu-t’ung and Huang Tsun-hsien, Diss., Berkeley: University of California, 1980; Noriko Kamachi: Reform in China. Huang Tsun-hsien and the Japanese model, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1981; Jerry D. Schmidt: Huang Tsun-hsien, Boston: Twayne, 1982; Xu Yongduan: Huang Zunxian, Shanghai: Shanghai Guji, 1989; Jerry. D. Schmidt: Within the Human Realm. The Poetry of Huang Zunxian, 1848 – 1905, Cambridge: Cambridge University Press, 1994; Jiang Yinghao: Huang Zunxian shiyou ji, Hongkong: Zhongwen Daxue, 2002. [TZ]

Huang Zuolin 黄佐临 (1906 ‒ 1994), geb. in Tientsin Huang Zuolin wird zwar immer wieder gern als bedeutender Filmregisseur mit mehr als einhundert Filmen von der Sekundärliteratur angeführt, doch kommt er eigentlich vom Theater her und hat als Vertreter u.a. des epischen Theaters wichtige Theorien zum traditionellen wie zum modernen Drama in China hinterlassen. Man kann ihn daher auch als den wichtigsten Theoretiker und Praktiker der chinesischen Bühne im 20. Jahrhundert ansehen. Er war, jung an Jahren, durch seinen Vater mit dem chinesischen und durch seine Schule mit dem westlichen Theater in Berührung gekommen. Nach dem Abschluß einer englisch-chinesischen Missionsschule in Tientsin, die er von 1916 bis 1925 besuchte, ging Huang 1925 an die University of Birmingham in England, wo er dem Wunsch der Eltern gemäß bis 1929 Handel studierte. In seiner Freizeit jedoch begann er Theaterstücke zu verfassen und aufzuführen. Aus dieser Zeit rührt ein erster Briefkontakt mit Bernhard Shaw (1856 ‒ 1950), der später zu einer sehr fruchtbaren Bekanntschaft führen sollte. Ein zweiter Aufenthalt in Großbritannien war in Cambridge und London dem Studium des Theaters gewidmet (1935 ‒ 1937). Sein Handwerkszeug erwarb Huang jedoch nicht an der University of Cambridge, wo er 1937 den Magistergrad erwarb, sondern in und bei London. Da ist einmal das London Theatre Studio zu nennen und dann südlich der Metropole die berühmte Dartington Hall, wo Huang Tanz bei dem deutschen Emigranten Kurt Jooss (1901 ‒ 1979) und Theater bei dem russischen Emigranten Michael Chekhov (1891 ‒ 1955) studierte. Letzterer war ein Schüler von Konstantin Stanislavsky (1863 ‒ 1938). Hier kam Huang Zuolin schließlich auch in Berührung mit dem Verfremdungskonzept von Bertolt Brecht (1898 ‒ 1956). Als in seiner Heimat 1937 der Krieg mit Japan ausbrach, kehrte Huang Zuolin zurück. Zunächst unterrichtete er 1938 an der Hochschule für Theater in Chongqing die Theorie des westlichen Dramas und baute dann seine eigene Theatertruppe in Shanghai auf, wohin er sich 1939 begeben hatte.

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Ji Junxiang 纪君祥

Der Dramatiker bevorzugte zunächst das westliche Sprechtheater, das er auch gern zu politischen Zwecken einsetzte. Insofern war es für ihn kein Widerspruch, nach 1949 als Direktor der Shanghaier Bühnen ein patriotisches Theater aufzuführen. Doch widersprach seine internationale Ausbildung der immer enger gefaßten Aufführungspraxis. 1962 sah er sich zu einer Rede gezwungen, die dem chinesischen Theater durch eine Betonung traditioneller Prinzipien der chinesischen Ästhetik zu neuem Leben verhelfen sollte. Diese Prinzipien sind in der Idee des xieyi zusammengefaßt. Es ist dies eine Art Essentialismus, der nicht auf die unmittelbare Abbildung der sichtbaren Realität zielt, sondern das unsichtbare Wesen der Dinge zu erfassen sucht, so daß Form und Geist, Empfindung und Verstand eine Einheit bilden. Es ist eben diese Theorie, die Huang Zuolin über seine Vermittlung von Brecht und Stanislavsky hinaus heute immer noch aktuell erscheinen läßt. WERKAUSGABEN: Daoyan de hua, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1979; Peking Opera and Mei Lanfang. A Guide to China’s Traditional Theatre, Peking: New World Press, 1981 (mit Wu Zuguang u. Mei Shaowu); Wo yu xieyi xijuguan, Peking: Zhongguo Xiju, 1990. SEKUNDÄRLITERATUR: Faye Chunfang Fei: »Huang Zuolin: Michael Chekhov’s Link to China’s Modern Theatre«, in: New Theatre Quarterly 22 (2006), S. 235‒248. [WK]

Ji Junxiang 纪君祥 (auch: Ji Tianxian, fl. 14. Jahrhundert), geb. in Dadu (heute Peking) Dem nicht weiter bekannten Verfasser werden sechs Dramen (zaju) nachgesagt, von denen zur Gänze nur Die Waise von Zhao (Zhaoshi gu’er) und in Fragmenten Der Traum im Kiefernschatten (Songying meng) vorliegen. Die Waise von Zhao hat Geschichte gemacht, sowohl in China als auch in Europa. Das Stück erhielt im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Titel und wurde lokal nach den jeweiligen Bedürfnissen vor Ort bearbeitet. In Europa wurde es als erstes chinesisches Theaterstück überhaupt übersetzt (1735) und übt bis heute einen großen Einfluß auf den Literatur- und Kunstbetrieb aus. Unter den Rezipienten waren selbst so bedeutende Literaten wie Voltaire und Goethe. Jüngst (2009) wurde es durch den nun in Berlin lebenden Komponisten Jeffrey Ching (geb. 1965) unter dem Titel Das Waisenkind für das Theater Erfurt neu bearbeitet und in deutscher Fassung aufgeführt. Das Stück basiert auf alten historischen Vorlagen, die im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich bearbeitet worden sind. Im Mittelpunkt steht die Rache für die fast gänzliche Auslöschung eines Clans von 300 Mitgliedern durch einen Emporkömmling. Zhao ist der Name dieses Clans. Nur ein Baby bleibt als Waise irrigerweise übrig und tötet zwanzig Jahre später den für die Tat verantwortlichen

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Ji Kang 嵇康

Ziehvater, als es, herangewachsen und mit der Geschichte konfrontiert, die Wahrheit über seine Herkunft erfährt. Dem abendländischen Denken muß der Gedanke der Rache, der im fünften und letzten Akt zur grausigen Ausführung kommt, fremd erscheinen, zumal sich der Ziehvater über die Jahre als sehr guter Familienvater erwiesen hat. Doch der Grund, warum hier Güte mit Gewalt gelohnt wird, ist in der übermäßigen Bedeutung des Clans in China zu sehen: Oberstes Prinzip ist das Überleben der Großfamilie, und wenn auch nur in einer einzigen Person, denn nur so sind die Ahnenopfer gesichert, ist die Verbindung zwischen Himmel und Erde nicht weiter gestört – zumal wenn, wie in diesem Fall, noch nicht einmal ein Familiengrab für die Getöteten gewährt worden war. Die Tugend, die hinter dem Gedanken der Rache waltet, ist die der Pietät, die ein Kind den Eltern und den Angehörigen in jedem Fall schuldig ist. Sie wird hier von keinem der Beteiligten in irgendeiner Form durch ethische Überlegungen in Zweifel gezogen. Die Unbedingtheit der Verpflichtung gegenüber der eigenen Familie macht den Gedanken an einen Dank für die zwanzigjährige gute Erziehung wie Ausbildung und damit einen Zwiespalt unmöglich. Insofern mögen in dem Stück zwar Ansätze zu einer Tragödie angelegt sein, doch um eine Tragödie, wie die chinesische Theaterkritik es gern hätte, handelt es sich hier auf gar keinen Fall. Nicht einmal die dramatische Stimme hat ein Bewußtsein für den möglichen Konflikt von Pietät und Dankbarkeit. Erst in jüngster Zeit hat auch die chinesische Aufführungspraxis das absolute Vorrecht der Rache durch eine Moralisierung der Geschehnisse zu mildern gesucht. WERKAUSGABEN: Yuanqu xuan, hg. von Zang Maoxun, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1998, S. 664‒674. ÜBERSETZUNGEN: Six Yüan Plays, übers. von Jung-en Liu, Harmondsworth: Penguin, S. 41‒ 81, 21‒25; »The Revenge of the Orphan of Chao«, übers. von Pi-twan H. Wang, in: Renditions 9 (Spring 1978), S. 103‒131. SEKUNDÄRLITERATUR: Adrian Hsia: Chinesia. The European Construction of China in the Literature of the 17th and 18th Centuries, Tübingen: Niemeyer, 1998. [WK]

Ji Kang 嵇康 (auch: Xi Kang, zi: Shuye, hao: Zhongsan daifu, 224 – 262), geb. im Kreis Zhi in der Präfektur Qiao im damaligen Staat Wei (südwestlich der heutigen Stadt Suzhou, Provinz Anhui) Der daoistische Philosoph, Dichter und Musiker Ji Kang lebte zur Zeit der von (→) Cao Cao gegründeten Wei-Dynastie (220 – 265), die mit dem Sturz der HanDynastie ein ganzes Zeitalter, das Altertum, zu Fall gebracht hatte. Einerseits hatte der Zerfall des Han-Reiches generell zu einer vorübergehenden Abkehr von der konfuzianischen Tradition sowie einer verstärkten Hinwendung zu daoistischem

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und buddhistischem Gedankengut geführt, andererseits merkten gerade die Gelehrten des Reiches bald, daß das neue Zeitalter nicht zu halten vermochte, was man sich zunächst enthusiastisch davon versprochen hatte, sondern daß besonders Nordchina geradewegs einem Chaos zusteuerte, das Jahrhunderte der Instabilität bringen sollte. Beides – die Sehnsucht nach neuen Ideen, aber auch Angst und Enttäuschung – förderten unter den Intellektuellen den Hang zur Weltflucht. In dieser Zeitstimmung soll sich der Legende nach um Ji Kang eine Gruppe von häufig alkoholisierten (und von halluzinogenen Pilzen berauschten) Freigeistern formiert haben, die als die »Sieben Weisen vom Bambushain« (Zhulin qi xian) in die Geschichte eingingen. Zu ihnen zählten Liu Ling, (→) Ruan Ji, Ruan Xian, Shan Tao, Wang Rong und Xiang Xiu. Ob ihre berühmt-berüchtigten Treffen jemals stattgefunden haben oder eine Erfindung späterer Zeit darstellen, wird wohl nicht mehr abschließend zu klären sein. Ji Kang hatte 245 in die mächtige Familie der Cao eingeheiratet und geriet dadurch nach 249 in den hofinternen Kampf zwischen den Familien Cao und Sima. Letztere riß zusehends die Macht an sich und sollte in der Folge die Westliche Jin-Dynastie (265 – 316) begründen. Ji Kang wählte den Rückzug und lebte für einige Jahre in Shanyang (nahe Luoyang). Dort sollen die berühmten Treffen »im Bambushain« stattgefunden haben. Im Jahr 262 wurde er jedoch wegen einer Streitigkeit in Haft genommen und vom letzten Kanzler der Wei-Dynastie, Sima Zhao, zum Tode verurteilt. Ji Kang hat 60 Gedichte hinterlassen, von denen viele in altertümlichen viersilbigen Versen verfaßt und von seinen philosophischen Gedanken bestimmt sind. Letztere kreisten vornehmlich um die Begriffe Freiheit und Unsterblichkeit, offenkundig inspiriert von den daoistischen Klassikern (→) Laozi und (→) Zhuangzi sowie den Liedern des Südens (Chuci, [→] Qu Yuan). Des weiteren sind neun philosophische Essays überliefert, darunter die einflußreichen Texte »Das Leben nähren« (»Yangshenglun«) und »Musik kennt weder Kummer noch Freude« (»Sheng wu ai le lun«). Auch Ji Kangs »Poetische Beschreibung des Zitherspiels« (»Qinfu«) hat große Anerkennung gefunden, insbesondere da er selbst als Virtuose auf diesem Instrument galt. WERKAUSGABEN: Ji Kang ji jiaozhu, hg. u. komm. von Dai Mingyang, Peking: Renmin Wenxue, 1962; Xi Kang shiwen xuanyi, hg. von Wu Xiucheng, Chengdu: Bashu Shushe, 1991. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Robert Hans van Gulik: Hsi Kʼang and His Poetical Essay on the Lute, Tokyo: Tuttle, 1941; Donald Holzmann: La Vie et la Pensée de Hsi Kʼang, Leiden: Brill, 1957; Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Havard University Press, 1958, Bd. 1, S. 250‒258 et passim; Donald Holzmann: »La Poésie de Ji Kang«, in: Journal asiatique 268 (1980), S. 107‒177, 323‒378; Robert G. Henricks: Philosophy and Argumentation in Third-Century China. The Essays of Hsi Kʼang, Princeton: Princeton University Press, 1983. [HP]

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Ji Yun 纪昀

Ji Yun 纪昀 (zi: Xiaolan, Chunfan, hao: Shiyun, 1724 – 1805), geb. in Xian (Provinz Hebei) Rückblickend war Ji Yuns Karriere stets im Aufstieg begriffen, doch durchlebte er dabei zweifellos Höhen und Tiefen. Nachdem Ji zu Beginn der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts die jinshi-Prüfung zum Doktor abgelegt hatte, wurde er zunächst Mitglied der kaiserlichen Hanlin-Akademie. Kurze Zeit später fiel er jedoch bei Hof in Ungnade und wurde für zwei Jahre nach Xinjiang verbannt. Nach seiner Rückkehr übertrug man ihm die Herausgabe der Vollständigen Bibliothek in vier Abteilungen (Siku quanshu), außerdem wurde er zum Ritenminister ernannt und leitete die Kaiserliche Schule. Die monumentale und zweifellos verdienstvolle Aufgabe der Edition einer Vollständigen Bibliothek hatte freilich auch den Effekt, neben der Bewahrung von Literatur das nicht geduldete Schrifttum zu eliminieren. Angesichts seiner Leidenschaft und Stellung schien Ji Yun der richtige Mann für solch ein Projekt zu sein, ein Literaturkenner und Bibliograph gleichermaßen, dem man zweimal während seiner Amtstätigkeit die Leitung des Zensorats übertrug, wodurch er auch verantwortlich war für die Zusammenstellung der indizierten Bücher. Außer seinen Arbeiten im Zusammenhang mit diesem Projekt sowie diversen historischen Schriften wie der Lokalchronik von Jehol (Rehe zhi) und geographischen Werken, etwa den Bemerkungen zur Frage des Ursprungs des Gelben Flusses (Heyuan ji), hat Ji Yun auch wichtige literarische Arbeiten hinterlassen, vor allem seine Pinselnotizen aus der Strohhütte der Betrachtung des Großen im Kleinen (Yuewei caotang biji). Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von Anekdoten, kürzeren Geschichten und knappen essayistischen Einträgen, für die Ji Yun durchaus nicht in jedem Fall die Urheberschaft in Anspruch nimmt. Vielmehr gibt er immer wieder auch die Quellen für seine Darstellungen an, womit er für sich wie im Falle der Vollständigen Bibliothek die Rolle des ebenso emsigen wie künstlerischen Herausgebers beanspruchen darf. WERKAUSGABEN: Yuewei caotang biji, Tientsin: Tientsin Guji, 1988. ÜBERSETZUNGEN: Pinselnotizen aus der Strohhütte der Betrachtung des Großen im Kleinen. Kurzgeschichten und Anekdoten, übers. u. hg. von Konrad Herrmann, Leipzig/ Weimar: Gustav Kiepenheuer, 1983; Shadows in a Chinese landscape. The notes of a Confucian scholar, übers. von David L. Keenan, Armonk, New York: M.E. Sharpe, 1998. SEKUNDÄRLITERATUR: Silvia Freiin Ebner von Eschenbach: Die Gedichte des Chi Yün (1724– 1805) als Quelle für die Landeskunde in Ostturkestan im 18. Jahrhundert, Leiden: Brill, 1992; Zhang Hui: Ji Yun yu Yuewei caotang biji, Shenyang: Liaoning Jiaoyu, 1992; Zhou Jiming: Ji Yun pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1994; Leo Tak-hung Chan: The Discourse on Foxes and Ghosts. Ji Yun and 18th Century Literati Storytelling, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 1998. [TZ]

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Jia Pingwa 贾平凹

Jia Pingwa 贾平凹 (1952 – ), geb. in Shangluo (Provinz Shaanxi) Jia Pingwa wurde 1952 in der Stadt Danfeng in der Region Shangluo in Shaanxi geboren. Nach dem Diplomabschluß im Fach Chinesische Literatur an der Nordwestlichen Universität in Xi’an im Jahre 1975 war er einige Jahre als Redakteur tätig und hat für den Renmin-Verlag von Shaanxi und für die Zeitschrift Chang’an gearbeitet. Seit 1982 ist er Berufsschriftsteller und Vorstandsmitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes sowie Vizepräsident des Schriftstellerverbandes seiner Heimatprovinz Shaanxi. 1992 gründete er die Zeitschrift Schöngeistige Literatur (Meiwen). Zur Zeit ist er außerdem Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Bautechnischen Universität Xi’an. Jia ist einer der populärsten zeitgenössischen Erzähler Chinas. Seit Ende der 70er Jahre hat er eine Reihe von Erzählungen und Kurzgeschichten veröffentlicht, deren Kulisse die Bergwelt seiner Heimatregion Shangzhou bildet. Sein erster Roman, Turbulenz (Fuzao, 1987), der den amerikanischen »Pegasus Prize for Literature« gewann, beschreibt diese Welt in ihrem raschen gesellschaftlichen Wandel und läßt sich als Sinnbild des gegenwärtigen China verstehen. 1993 erschien sein umstrittener Roman Die verfallende Hauptstadt (Fei du), von dem wegen angeblich pornographischer Szenen keine weiteren Auflagen erscheinen durften. Danach kehrte Jia zu seinen früheren Themen im Umkreis des ländlichen Lebens zurück. Entsprechend programmatisch liest sich der Titel seiner im Jahr 2000 erschienenen Autobiographie: Ich bin ein Bauer (Wo shi nongmin). Daneben schreibt Jia auch Essays, die wegen ihrer stilistischen Anmut und ihrer Freigeistigkeit eine große Leserschaft gefunden haben. WERKAUSGABEN: Jia Pingwa wenji, 19 Bde., Xi’an: Shaanxi Renmin, 1995 – 2004. ÜBERSETZUNGEN: »Feuerpapier«, übers. von Konrad Wegmann, in: Nach den Wirren. Erzählungen und Gedichte aus der Volksrepublik China nach der Kulturrevolution, Dortmund: RWAG Dienste und Verlag, 1988, S. 128–158; The Heavenly Hound, übers. von Suzanne Convery, David Pattinson u. Li Rui, Beijing: Chinese Literature, 1991; Turbulence, übers. von Howard Goldblatt, Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1991; »Das Leben wandelt sich. Auch in den Bergen von Shangzhou«, übers. von Susanne Kümmel, in: Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, hg. von Helmut Martin, Bonn: Bouvier, 1993, S. 105–110; »Der häßliche Stein«, übers. von Wolf Baus, in: Hefte für ostasiatische Literatur 17 (November 1994), S. 80–82; »Die verrottete Hauptstadt« [Auszug aus Fei du], übers. von Hans Link, in: minima sinica 1/1996, S. 111–117. SEKUNDÄRLITERATUR: Du Zhuan: »A Profile of Jia Pingwa«, in: Chinese Literature 7 (July 1983), S. 40–43; Kam Louie: »The Macho Eunuch: The Politics of Masculinity in Jia Pingwaʼs ›Human Extremities‹«, in: Modern China 17, 2 (1991), S. 163–187; David Der-wei Wang: »Review of Turbulence«, in: Modern Chinese Literature 6, 1/2 (1992), S. 247–250; Ylva Monschein: »Alles im Zerfall? Kunst und Leben in Jia Pingwa’s Fei du, ›Verfallende Hauptstadt‹«, in: minima sinica 1/1996, S. 88–110; Yiyan Wang: Nar-

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Jia Yi 贾谊 rating China. Defunct Capital and the Fictional World of Jia Pingwa, Diss., University of Sydney, 1998; John Edward Stowe: The Peasant Intellectual Jia Pingwa. An Historico-Literary Analysis of His Life and Early Works, Diss., University of Toronto, 2003; Fang Jincai: The Crisis of Emasculation and the Restoration of Patriarchy in the Fiction of Chinese Contemporary Male Writers Zhang Xianliang, Mo Yan, and Jia Pingwa, Diss., University of British Columbia, 2004; Zheng Mingfang: The Tragic Vision in Jia Pingwaʼs Four Novels of 1990s (feidu, baiye, tumen, and gaolaozhuang), Diss., University of British Columbia, 2004; Sun Jianxi: Jia Pingwa zhuan, Shanghai: Shanghai Renmin, 2008. [XWR]

Jia Yi 贾谊 (201 – 168 v.Chr.), geb. in Luoyang (heute Provinz Henan) Jia Yi hatte sich bereits im Alter von 20 Jahren einen so beachtlichen Ruf als Gelehrter erarbeitet, daß ihm eine Stellung am Hof des Han-Kaisers Wendi (reg. 179 – 156 v.Chr.) angeboten wurde. Dort versuchte er politisch Einfluß zu nehmen, indem er zahlreiche Reformen vorschlug wie z.B. die verstärkte Förderung der Landwirtschaft oder die Beschränkung der stetig wachsenden Macht des Adels. Doch der enthusiastische junge Gelehrte machte sich damit nur unbeliebt und wurde schnell zum Opfer einer höfischen Intrige, infolge derer er nach Changsha auf einen niederen Posten versetzt wurde. Auf dem Weg nach Süden verfaßte er in seiner Trauer das fu-Prosagedicht »Totenklage um Qu Yuan« (»Diao Qu Yuan«), in dem er sich und seine trotz loyalen Verhaltens gescheiterte Karriere mit dem Lebens- und Leidensweg (→) Qu Yuans verglich, jenes ersten großen Dichters der chinesischen Geschichte. Berühmt wurde auch seine 174 v.Chr. verfaßte poetische Beschreibung »Die Eule« (»Funiao fu«). Nach Jahren des Exils in Changsha (der Hauptstadt der heutigen Provinz Hunan, südlich des antiken Staates Chu gelegen, rühmte sich in späteren Jahrhunderten als »Heimat Qus und Jias«) konnte Jia Yi zwar 173 v.Chr. an den Hof zurückkehren und wurde zum Lehrer des jüngsten kaiserlichen Prinzen Liu Yi ernannt, doch das Kind starb 169 v.Chr. bei einem Reitunfall. Mit nur 33 Jahren nahm Jia Yi sich daraufhin das Leben. Jia Yis politisch-philosophische Arbeiten – im konfuzianischen Geiste verfaßt – sind als Neue Schriften (Xinshu) überliefert, Teile davon sind auch in der Geschichte der Han-Zeit (Hanshu) des (→) Ban Gu enthalten. WERKAUSGABEN: Quan shanggu sandai Qin Han Sanguo Liuchaowen, hg. von Yan Kejun, 4 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1958, Bd. 1, S. 208‒218. ÜBERSETZUNGEN: »Das Eulengedicht«, übers. von Richard Wilhelm, in: ders.: Die chinesische Literatur, Potsdam: Athenaion, 1926, S. 111f.; »The Owl. Lament for Ch’ü Yüan«, übers. von James Richard Hightower u. Burton Watson, in: Anthology of Chinese Literatur, Bd. 1, hg. von Cyril Birch, New York: Grove, 1965, S. 160‒164; »Klage um Qu Yuan«, übers. von Volker Klöpsch, in: Hefte für ostasiatische Literatur 14 (Mai 1993),

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Jiang Kui 姜夔 S. 12f.; Xiao Tong: Wen xuan or Selections of Refined Literature, übers. von David R. Knechtges, Bd. 3, Princeton: Princeton University Press, 1996, S. 41‒49. SEKUNDÄRLITERATUR: G.M. Sites: Chia I of Lo-yang (B.C. 201 ‒ 168). The Political Thought of a Han Eclectic, MA-Arbeit, University of Indiana, 1975. [HP]

Jiang Kui 姜夔 (zi: Yaozhang, hao: Baishi daoren, 1155 – 1221), geb. in Poyang (Provinz Jiangxi) Eine der bewegenden Dichtergestalten der Südlichen Song-Zeit (1127 – 1279), die sich, aus einer Familie von Beamtengelehrten stammend, hochgebildet und vielseitig begabt (in Kalligraphie, Musik, Literaturtheorie), völlig ins Privatleben als Künstler zurückzog, nachdem alle Bemühungen, in den Genuß eines öffentlichen Amtes zu gelangen, gescheitert waren. (Jiang hatte den Doktortitel [jinshi] nicht erlangen können.) Mit etwa dreizehn Jahren hatte Jiang Kui seinen Vater verloren und war fortan auf die Hilfe von Verwandten und Gönnern angewiesen. Die Freundschaft eines einflußreichen Aristokraten, Zhang Jian, ermöglichte ihm von 1194 bis 1203 ein sorgenfreies Leben; währenddessen konnte er seine erste Liedersammlung (1202) und seine gesammelten Gedichte (1204) herausgeben. 1197 reichte er bei Hof ein Traktat zur rituellen Hofmusik (Da yue yi) sowie Abhandlungen über zwei zitherähnliche Zupfinstrumente, qin und se, und vierzehn kriegerische Ritualgesänge ein. Auch sie brachten ihm zwar kein Amt ein, aber von seinen Zeitgenossen wurde er für seine Gelehrsamkeit und seine künstlerischen Fähigkeiten sehr geschätzt; so pflegte er freundschaftliche Beziehungen zu (→) Yang Wanli, (→) Lu You und (→) Fan Chengda. Doch nach dem Tod seines Mäzens 1203 blieb weitere Unterstützung aus, und er starb völlig verarmt. Berühmt sind Jiangs Gespräche über die Dichtkunst (Baishi daoren shihua) und sein Traktat zur Kalligraphie (Xu shupu). Seine klassischen Gedichte orientierten sich anfänglich an (→) Huang Tingjian, später lehnte er jedoch jede Art von Nachahmung ab und fand in den von ihm bevorzugten siebensilbigen Vier- und Achtzeilern (qiyan jueju und qiyan lüshi) zu einer Form, die geprägt war von Feinheit und Wehmut, gepaart mit innerer Kraft. In seiner Zeit beruhte Jiang Kuis Ansehen hauptsächlich auf seinen klassischen Liedern (ci), insbesondere auf jenen, die – wie es damals in Mode war – »Dinge besangen« (yongwu). Jiangs Kunst im Verfassen von yongwu besteht nicht in der Betrachtung des Objekts an sich, sondern in den Ideen und Assoziationen, die durch dieses Objekt in ihm angeregt und entfaltet werden. Das Ding wird zum Ausgangspunkt von Gedankenwelten, die das gesamte Spektrum menschlicher Befindlichkeiten und Idealvorstellungen umschließen. Es findet eine Bewegung vom Kleinen zum Großen statt, die auch Widerspiegelung von Jiang Kuis Schicksal ist: Aus der Kleinheit der bedrängten Welt

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Jiang Shiquan 蒋士铨

hat er in der Dichtung die Weite einer Heimat gefunden, aus der er nicht mehr vertrieben werden konnte. WERKAUSGABEN: Jiang Kui shi ci shangxi ji, hg. von Yin Guangxi, Chengdu: Bashu Shushe, 1994; Jiang Kui ci xinshi xiji, hg. von Liu Naichang, Peking: Zhongguo Shudian, 2001. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Shuen-Fu Lin: The Transformation of the Chinese Lyrical Tradition. Chiang K’uei and Southern Sung Tz’u Poetry, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1975; Hans Frankel u. Chang Ch’ung-ho: Two Chinese Treatises on Calligraphy, New Haven u. London: Yale University Press, 1995; Liu Wan: »Allusion and Vision: Chiang K’uei’s Twin Poems on Plum Blossoms in the yung-wu (Poetry on Objects) Tradition«, in: Asia Major 3 (1995), S. 95‒121; Jiang Yimin: »Jiang Kui (1155 ‒ 1221) und seine Beziehung zur Literatenmusik«, in: minima sinica 2/1998, S. 93‒118; Frank Kraushaar: Das Werk des Dichters Jiang Kui (ca. 1155 ‒ 1221), Diss., Universität Hamburg, 2000; Zhao Xiaogang: Jiang Kui yu Nan Song wenhua, Peking: Xueyuan, 2001; Xia Chengtao: Song ci jianshang cidian, Bd. 2, Shanghai: Cishu, 92007, S. 1389‒1465. [BD]

Jiang Shiquan 蒋士铨 (zi: Xinyu etc., hao: Qingrong etc., 1725 ‒ 1785), geb. in Nanchang (Provinz Jiangxi) Der Beamtenliterat Jiang Shiquan gilt heute als die wichtigste dramatische Stimme des 18. Jahrhunderts und als einer der großen Poeten seiner Zeit. 1746 wurde er Bakkalaureus (xiucai), 1747 Magister (juren) auf Provinzebene und 1757 schließlich Doktor (jinshi) in Peking. Er hat ab 1760 verschiedene untergeordnete Posten in der Hauptstadt innegehabt, die er zweimal unterbrach. 1763 kehrte er wegen Erkrankung der Mutter nach Nanchang zurück, nahm dann aber 1766 den Posten eines Erziehers an verschiedenen privaten Akademien außerhalb von Nanchang an, um seine Familie ernähren zu können. Die Jahre 1775 bis 1778 banden ihn für die vorgeschriebenen drei Jahre der Trauer um die verstorbene Mutter an die Heimat. Danach erst führte sein Weg in die Hauptstadt zurück, wo er in Erwartung einer Berufung als Zensor (1781) zunächst Kompilationsarbeiten nachging. Es war ihm jedoch aufgrund einer bald eintretenden Lähmung unmöglich, das neue Amt anzutreten, so daß er sich nach Nanchang in seine Residenz namens Cangyuan zurückbegeben musste. Den Beginn seiner Karriere als Dramatiker setzt man mit dem Todesjahr des Vaters (1678 ‒ 1749) an. Jiang Shiquan war gezwungen, Arbeit zu suchen, und fand diese 1750 als Kompilator von Lokalgeschichte vor Ort. Während dieser Tätigkeit schrieb er die ersten fünf Dramen. Trotz seiner überlieferten 2300 Gedichte und Hunderten von klassischen Liedern (ci), trotz seiner Freundschaft und seines poetischen Austausches mit (→) Yuan Mei (1716 ‒ 1798) hat bislang sein lyrisches Werk hinter seinem dramati-

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Jiang Yan 江淹

schen in der Rezeption zurückstehen müssen. Gleichwohl äußert sich die Sekundärliteratur ganz unterschiedlich zu seinen gut ein Dutzend Stücken. Während sein deutscher Übersetzer Alfred Forke (1867 ‒ 1944) in Jiang Shiquan den letzten großen Dramatiker des traditionellen China sieht, bezeichnet ihn die junge chinesische Literaturkritik unverhohlen als altmodisch. Ein gerechtes Urteil ist hier schwer zu gewinnen, solange nicht das gesamte Werk aufgearbeitet ist. Doch was die kritische Sicht chinesischer Literaturwissenschaftler bestätigt, ist die Tatsache, daß der Autor immer wieder alte historische Themen aufwärmt. Dies gilt auch für sein vielleicht bekanntestes Stück, Der Traum von Linchuan (Linchuan meng, 1774). Diese Romanze (chuanqi) verfaßte er unter dem Einfluß von (→) Tang Xianzu (1550 ‒ 1616) und dessen berühmtester Romanze Die Rückkehr der Seele (Huanhun ji, englisch The Peony Pavilion [Mudanting]). Seine Version vom Leben des übermächtigen Vorbildes verfolgt einen zweiteiligen Plot. Überall dort, wo es ihm um das Politische geht, wirkt das Drama spröde, wo aber die Liebe (qing) thematisiert wird, gewinnt der Text an literarischem Reichtum. Gleichwohl vermag der Autor nicht aus den Vorgaben auszubrechen, die andere vor ihm auch immer wieder in ihren Stücken bemüht haben. Insofern hat Jiang Shiquan gleichsam am Ende der Tradition ein Stück über das lange Erbe einer Philosophie der Liebe verfaßt. WERKAUSGABEN: Jiang Shiquan xiqu ji, hg. von Zhou Miaozhong, Peking: Zhonghua Shuju, 1993; Zhongyatang ji jiaojian, hg. von Li Mengsheng, 5 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1993; Ming-Qing chuanqi jianshang cidian, hg. von Jiang Xingyu et al., Shanghai: Shanghai Guji, 2004, Bd. 2, S. 1357‒1391 [kommentierte Auszüge]. ÜBERSETZUNGEN: Waiting for the Unicorn. Poems and Lyrics of China’s Last Dynasty, hg. von Irving Yucheng Lo u. William Schultz, Bloomington: Indiana University Press, 1986, S. 202‒206; Zwei chinesische Singspiele der Qing-Dynastie, übers. von Alfred Forke, hg. von Martin Gimm, Stuttgart: Steiner, 1993, S. 395‒448 [»Die bunte Steinbühne« (»Caishi ji«)]. SEKUNDÄRLITERATUR: Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 763‒780. [WK]

Jiang Yan 江淹 (zi: Wentong, 444 – 505), geb. in Kaocheng im Kreis Jiyang (heute Kreis Lankao, Provinz Henan) Der Dichter Jiang Yan durchlebte drei der sechs Südlichen Dynastien, die Frühe Song- (Liu-Song), die Südliche Qi- und die Liang-Dynastie. Als hochbegabter Student aus durchschnittlichen Verhältnissen – immerhin war sein Vater Magistrat von Nansha (Provinz Jiangsu) – gelang ihm ab dem Jahr 463 eine ansehnliche, aber nicht ungebrochene Karriere an den wechselnden Kaiserhöfen und zuletzt sogar

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Jiao Hong 焦竑

die Erhebung in den Adelsstand im Rang eines Grafen von Liling (Liling hou). Dies erscheint um so erstaunlicher, als er sich offensichtlich nicht scheute, politische Kritik zu üben. Er blieb zeit seines Lebens ein unabhängiger Denker, dessen Einzelgängertum allerdings dazu beigetragen haben dürfte, daß er in den offiziellen Chroniken kaum Erwähnung fand. Jiang Yan hatte die bemerkenswerte Begabung, den Stil anderer Dichter nahezu perfekt zu imitieren. So hat er in seinem eigenen Werk den Tonfall einer ganzen Epoche bewahrt, von den Dichtern der Jianʼan-Periode der späten Han-Zeit über die »Sieben Weisen vom Bambushain« (besonders [→] Ruan Ji) bis hin zu einer Reihe von Dichtern der Jin- und Frühen Song-Dynastie. Das berühmteste Beispiel dieser Art sind seine dreißig »Vermischten Gedichte« (»Zashi«), die je einem Dichter der Vergangenheit gewidmet sind. Aus Jiangs Werk spricht so ein ganzer Chor von Dichtern des 3. bis 5. nachchristlichen Jahrhunderts. Darüber hinaus ist Jiang Yan als bedeutender fu-Dichter unvergessen. In der Gattung des »Prosagedichts« brillierte er als geistreicher, phantasievoller und vor allem gefühlvoller Dichter. Nicht umsonst zählen seine beiden Prosagedichte »Abschiede« (»Biefu«) und »Bedauern« (»Henfu«) zu den meistzitierten Werken jener Zeit. Jiang Yans umfangreiches Gesamtwerk (Lyrik und Prosa) umfaßt mehr als 250 Texte. Eine Auswahl seiner Gedichte wurde auch in (→) Xiao Tongs Literarische Anthologie (Wenxuan) aufgenommen. WERKAUSGABEN: »Jiang Liling ji«, in: Han Wei Liuchao baisan mingjia ji, hg. von Zhang Pu, Taipeh: Wenjin, 1979, S. 2777‒2875. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 582‒605 et passim; Hans H. Frankel: The Flowering Plum and the Palace Lady. Interpretations of Chinese Poetry, New Haven u. London: Yale University Press, 1976, S. 73‒81. SEKUNDÄRLITERATUR: John Marney: Chiang Yen, Boston: Twayne, 1981.

[HP]

Jiao Hong 焦竑 (zi: Ruohou, hao: Tanyuan, Yiyuan, 1541 ‒ 1620), geb. in Rizhao (Provinz Shandong) Jiao Hong war zu seiner Zeit ein bekannter Gelehrter, der 1589 die Prüfung zum Doktor (jinshi) abgelegt hatte und seinen ersten Posten in der Hanlin-Akademie erhielt. Mit seiner direkten Art und der offen geäußerten Kritik gegenüber den bestehenden Mißständen machte er sich viele Feinde in der Regierung und wurde als Präfekt u.a. nach Funingzhou strafversetzt. Jiao zog sich schließlich vollkommen aus dem Beamtenleben zurück, um sich nur noch seinen Studien zu widmen. Bekannt ist seine Verbindung zu dem umstrittenen Philosophen (→) Li Zhi. Hinterlassen hat Jiao Hong ein umfangreiches Werk mit mehr als einem Dutzend Titeln,

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Jin Shengtan 金圣叹

das neben der Sammlung von Schriften des Tanyuan (Tanyuanji), Texten zu Laozi (Laozi yi), Zhuangzi (Zhuangzi yi) und einer Darstellung der Geschichte der Ming unter dem Titel Gesammelte Gespräche aus der Jadehalle (Yutang congyu) auch vermischte Schriften wie Fragen und Antworten des Ruohou (Jiao Ruohou wenda), Abseitige Gespräche (Zhitan) usw. umfaßt. WERKAUSGABEN: Jiao Hong shihua, hg. von Wang Qixing, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997; Tanyuanji, Peking: Zhonghua Shuju, 1999. SEKUNDÄRLITERATUR: Edward T. Ch’ien: Chiao Hung and the Restructuring of NeoConfucianism in the late Ming, New York: Columbia University Press, 1986; Li Jianxiong: Jiao Hong pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1999; Long Xiaoying: »Jiao Hong yu Gong’an san Yuan guanxi kaolun«, in: Journal of Southwest University of Science and Technology 4/2006, S. 16–21. [TZ]

Jin Renrui (→) Jin Shengtan Jin Shengtan 金圣叹 (auch Jin Cai oder Jin Kui, gab sich später den Namen Jin Renrui, zi: Ruocai, 1608 ‒ 1661), geb. in Suzhou (Provinz Jiangsu) Jin Shengtan entstammte einer angesehenen Gelehrtenfamilie aus Suzhou, doch er selbst erwarb im Laufe seines Lebens nur den Gelehrtentitel eines Bakkalaureus. Dies hinderte ihn freilich nicht daran, sich mit den unterschiedlichsten Genres der Literatur Chinas auseinanderzusetzen. Vertraut war Jin zweifellos mit den konfuzianischen Klassikern, doch schien er mehr angezogen zu sein von Werken wie dem Lotus-Sutra, (→) Qu Yuans »Lied von der Verzweiflung« (»Lisao«) oder (→) Sima Qians Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji), in die er sich bereits früh vertiefte. Auf der Grundlage dieser Werke stellte Jin später seinen Kanon der Sechs Bücher der Talente zusammen (Liu caizi shu, darin enthalten »Lied von der Verzweiflung«, Aufzeichnungen des Großhistorikers, Räuber vom Liangshan-Moor [Shuihuzhuan], Aufzeichnungen vom Westzimmer [Xixiangji], Zhuangzi und Du Fus Gedichte). Jin galt als ambitionierter, cholerischer und exzentrischer Zeitgenosse, der sich in seinen Schriften gerne mit dem Jin/Song-Dichter (→) Tao Yuanming verglich. Die unsicheren Umstände während des Dynastiewechsels zur Mitte der 40er Jahre des 17. Jahrhunderts beschäftigten auch Jin auf vielfältige Weise, und so äußerte er in seinen Schriften offen seinen Unmut über die Lage, ohne daß daran zunächst jemand Anstoß zu nehmen schien. Später, als es zu einer allgemeinen Stabilisierung kam, wurde sein Ton gemäßigter, und als er kurz vor seinem Tod die Nachricht erhielt, daß der Kaiser seine Kommentare zur klassischen Prosa gelobt hatte, pries er in den höchsten Tönen den neuen Herrscher. Mit Kaiser Shunzhis (reg.

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Jin Shengtan 金圣叹

1644 ‒ 1661) Ableben steht auch Jin Shengtans eigener tragischer Tod 1661 in Verbindung. Anläßlich der Gedenkfeiern für den verstorbenen Herrscher ergriffen etwa einhundert Gelehrte aus Suzhou die Gelegenheit, gegen die Machenschaften eines lokalen Beamten zu protestieren. Jin und siebzehn andere Männer wurden als Rädelsführer verhaftet und hingerichtet. In die Geschichte ist diese Begebenheit als der »Vorfall der Klagen im Tempel« (ku miao an) eingegangen. Jin Shengtan dürfte ein überaus versierter Autor gewesen sein, doch leider ist nur ein geringer Bruchteil seiner Schriften jemals veröffentlicht worden. Das meiste gilt als verloren. Unter den erhaltenen Werken befinden sich eine Sammlung mit mehr als 380 Gedichten (Chen yin lou shixuan), verschiedene Abhandlungen zu Buddhismus, Taoismus, zum Buch der Wandlungen (Yijing) sowie zu diversen Gattungen der chinesischen Literatur wie Lyrik, historischen Texten, Essays, Dramen und Romanen. Am bekanntesten sind jedoch Jins Kommentare zum Roman Räuber vom Liangshan-Moor und dem Drama Aufzeichnungen vom Westzimmer, mit denen er einen Meilenstein in der frühen chinesischen Theorie zur Erzählkunst setzte. Indem er dabei vor allem der Komposition und der künstlerischen Funktion einzelner Wörter und Ausdrücke seine Aufmerksamkeit schenkte und gleichzeitig die Räume aufzeigte, die der Literatur für die fiktionale Ausgestaltung von historischen Ereignissen zur Verfügung stehen, entwickelte Jin eine neue Form der Literaturbetrachtung, die in starkem Kontrast zu den viel abstrakteren Untersuchungen anderer chinesischer Kritiker stand. Als Kommentator war ihm vor allem daran gelegen, hinter das Offensichtliche zu blicken und nach einem tieferen Verständnis des Textes zu streben. In dieser Akribie liegt freilich auch die Schwäche von Jins Kommentarliteratur, die insgesamt immer noch stark an die traditionelle konfuzianische Textkunde angelehnt blieb. So machte sich Jin nicht frei davon, lediglich über die Namen von Personen, Bezeichnungen von Beamten usw. den gedanklichen und künstlerischen Wert eines Buches zu erschließen. Aus heutiger Sicht sehr fragwürdig mutet auch Jins lässiger Umgang mit der kommentierten Literatur an. Unter Hinweis auf politische oder ästhetische Gründe nahm Jin mitunter massive Texteingriffe vor. Die durch ihn von 120 auf 70 Kapitel verkürzte Fassung der Räuber vom Liangshan-Moor blieb für mehr als hundert Jahre die wichtigste Edition dieses Romans und verstellte lange Zeit den Blick auf die Entwicklung, aus der heraus das Werk entstanden war. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß Jin vor allem mit seinen Kommentaren und Leseanleitungen der Erzählliteratur neue Möglichkeiten eröffnete und den Verfassern späterer Werke sowie auch der Forschung wichtige Impulse gab. WERKAUSGABEN: Jin Shengtan quanji, mit Anm. von Cao Fangren u. Zhou Xishang, 2 Bde., Nanjing: Jiangsu Guji, 1985; Jin Shengtan wenji, hg. von Ai Shuren, Chengdu: Bashu Shushe, 1997. ÜBERSETZUNGEN: How to Read the Chinese Novel, hg. von David L. Rolston, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1990, S. 124‒145.

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Jin Tianyu 金天羽 SEKUNDÄRLITERATUR: John Ching-Yu Wang: Chin Sheng-tʼan, New York: Twayne, 1972; Zhang Guogang: Shuihu yu Jin Shengtan yanjiu, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1981; Sally K. Church: »Beyond the Words: Jin Shengtan’s Perception of Hidden Meanings in Xixiangji«, in Harvard Journal of Asiatic Studies 59, 1 (1999), S. 5‒78; Patricia Sieber: »Getting at It in a Single Genuine Invocation. Tang Anthologies, Buddhist Rhetorical Practices, and Jin Shengtan’s (1608 ‒ 1661) Conception of Poetry«, in: Monumenta Serica 49 (2001), S. 33‒56. [TZ]

Jin Tianyu 金天羽 (eig. Jin Maoji, zi: Songcen, hao: Hefang, Jinyi, Ai ziyouzhe, Tianfanglou zhuren, 1874 ‒ 1947), geb. in Wujiang (Provinz Jiangsu) Jin Tianyu war ein Dichter und Gelehrter, der seit 1902 unter dem Einfluß von Männern wie (→) Cai Yuanpei (1868 ‒ 1949) und (→) Zhang Taiyan (1869 ‒ 1936) stand, die sich um eine Reform des Erziehungswesens in China bemühten. Im Jahr des Sturzes der Qing-Dynastie (1911) beteiligte sich Jin an der Gründung von Studiengesellschaften, in späteren Jahren war er Professor an der GuanghuaUniversität in Shanghai. In der Literaturwissenschaft ist Jin wohl am besten bekannt als der Urverfasser des Romans Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua), der von (→) Zeng Pu fortgesetzt wurde. Von Bedeutung sind allerdings auch Jins 1905 formulierte Thesen zum Einfluß der Erzählkunst auf die Entwicklung der Gesellschaft, die weniger auf die chinesische als vielmehr auf die westliche Tradition seit der Renaissance abhoben. Jin ging auch nicht näher darauf ein, wie die Literatur genau das Tor zu einer neuen Zeit und Gesellschaft öffne, sondern schien darauf zu hoffen, daß es in China zu einer ähnlichen kulturellen Entwicklung wie seit der Renaissance in Europa käme, in deren Folge dann ebenfalls große politische Veränderungen eintreten würden. Der Roman sollte nach seiner Vorstellung den Boden für solche historischen Umwälzungen bereiten. Die Romanverfasser seien dazu aufgefordert, immer wieder neue und eindrucksvolle Werke zu schaffen, um in den Köpfen der neuen Bürger eine neue Welt zu entwerfen. Auch in seiner Urfassung von Blumen im Meer der Sünde versucht Jin diesem Anspruch gerecht zu werden. In Romanen wie Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt oder dem 1902/03 entstandenen chinesischen Roman Eine Heldin aus Osteuropa (Dongou nü haojie) über die russische Anarchistin Sofia Perowskaja sah Jin Protagonisten, die eine wichtige Vorbildfunktion für chinesische Leser besaßen. Wie stark er dabei noch immer der konfuzianischen Tradition verhaftet war, zeigen jedoch seine Bemerkungen zum Verhalten einiger Romanfiguren, denen er trotz aller Vorbildhaftigkeit auch immer wieder einmal einen Mangel an Pietät und Keuschheit unterstellte. WERKAUSGABEN: Tianfanglou shiwenji, 3 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 2007.

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Jin Yong 金庸 SEKUNDÄRLITERATUR: Catherine Vance Yeh: »The Life-Style of Four Wenren in Late Qing Shanghai«, in Harvard Journal of Asiatic Studies 57, 1 (1997), S. 419‒470. [TZ]

Jin Yong 金庸 (eig. Zha Liangyong, auch: Louis Cha, Leung Yung, Yao Fulan, Lin Huan, 1924 – ), geb. in Haining (Provinz Zhejiang) Jin Yong gilt als der meistgelesene Autor im modernen chinesischsprachigen Raum. Sowohl auf dem Festland als auch in Hongkong, auf Taiwan und unter Überseechinesen wird er vom breiten Publikum verehrt. Geboren 1924 in der südchinesischen Provinz Zhejiang, ist Jin verwandt mit dem Dichter (→) Xu Zhimo. Er studierte in Chongqing und Shanghai Internationale Beziehungen und Jura. Doch statt seinen Traum von einer Diplomatenlaufbahn zu verwirklichen, arbeitete er danach als Journalist bei zwei Tageszeitungen, zunächst bei der Dongnan ribao in Hangzhou und seit 1948 bei der Dagong bao in Hongkong. 1955 eröffnete er daselbst zusammen mit Liang Yusheng (1924 – 2009) und Chen Fan (1915 – 1997) eine Literaturkolumne mit »Ritterromanen« (wuxia xiaoshuo, auch als »Abenteuerromane« oder »Heldengeschichten« übersetzt), die in Fortsetzungen erschienen. Bis 1972 schrieb Jin dreizehn solche Romane und zwei Erzählungen und feierte in Hongkong und auf Taiwan Triumphe als Bestsellerautor. Seit 1972 widmete er sich nur noch der Überarbeitung seiner Romane und der Verwaltung seiner 1959 gegründeten Zeitung Ming bao. Darin veröffentlichte er zahlreiche politische Essays, die teilweise scharfe Kritik an der kommunistischen Regierung auf dem Festland übten. Aus diesem Grund wurde er vom linken Lager der Hongkonger Politik verfolgt und stand lange unter Polizeischutz. Seit 1981 ist Jin jedoch ein willkommener Gast der Pekinger Regierung. 1985 bis 1989 arbeitete er im Rahmen eines Komitees am Entwurf des Hongkonger Grundgesetzes mit. 1989 trat er von diesem Komitee und von der Verlagsleitung der Ming bao zurück. Seither ist er hauptsächlich als Unternehmer tätig und wird als prominenter Literat öffentlich geehrt. Viele renommierte Universitäten weltweit – darunter Oxford, Cambridge, die Universität Peking und die Chinesische Universität von Hongkong – verliehen ihm Ehrendoktor- und Professorentitel. Von 1999 bis 2005 war er Dekan der Geistwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zhejiang. Wie der Name des Genres xin wuxia besagt, handelt es sich um in moderner Sprache und Form geschriebene Ritterromane. Im Gegensatz zu ihren traditionellen Vorläufern, in denen Staatstreue, Loyalität und Brüderlichkeit der herumziehenden Kämpfer (jianghu haohan) im Zentrum stehen, wendet sich Jin Yong dem Lebensweg seiner Helden zu und beschreibt nicht nur ihre Entwicklung in der Kampfkunst, sondern auch den Reifeprozeß ihrer Persönlichkeit durch viele dramatische und schicksalhafte Erfahrungen. Dazu gehören neben Abenteuern auch Liebesgeschichten, die diesen Werken eine romantische Facette verleihen. Obwohl sie alle in historische Kontexte eingebettet sind, drücken sie eine eher moderne

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Kang Hai 康海

Lebenshaltung aus, die sich für Liebe und Freiheit, für die innere Reife des Individuums und gegen Macht und Autoritäten ausspricht. Hinzu kommt die halbmythische, phantasievolle Darstellung, deretwegen diese Werke besonders unter jüngeren Lesern großen Anklang finden. Ein weiterer Grund für ihre Popularität liegt in der Sehnsucht moderner Chinesen nach den verlorenen Traditionen. Viele Leser gaukeln sich vor, diese Traditionen in Jins Werken wiederzufinden. Tatsächlich begnügen sich diese Romane nicht mit der historischen Peripherie, sondern transportieren durch verklärend-überhöhte Szenarien auch die traditionelle chinesische Kampfkunst und, dahinter verborgen, die Philosophien des Buddhismus und Taoismus. Fast alle Werke von Jin Yong sind mehrfach verfilmt bzw. als Fernsehserien adaptiert worden. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen die meist mehrbändigen Romane Die Jäger des Adlers (Shediao yingxiong zhuan, 1957 – 1959), Der fliegende Fuchs vom Schneeberg (Xueshan feihu, 1959), Göttliche Adler und treue Gefährten (Shendiao xialü, 1959 – 1961), Drachentötung mit dem himmlischen Säbel (Yitian tulong ji, 1961), Halb Gott, halb Teufel (Tianlong babu, 1963 – 1966), Hohngelächter über die Flüsse und Seen (Xiaoʼao jianghu, 1967 – 1969) und Der Hirsch und der Dreifuß (Lu ding ji, 1969 – 1972). In China entsteht derzeit eine eigene Forschungsrichtung namens »Jinologie« (Jinxue), die sich mit der Kultur, Philosophie, Geographie, Ästhetik, Heilkunde etc. im Spiegel von Jins Werk beschäftigt. WERKAUSGABEN: Jin Yong zuopin ji, 36 Bde., Taipeh: Yuanjing, 1976; Jin Yong zuopin ji, 36 Bde., Hongkong: Minghe She, 1989 – 1990; Jin Yong zuopin ji, 36 Bde., Peking: Sanlian Shudian, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Fox Volant of the Snowy Mountain, übers. von Olivia Mok, Hongkong: Chinese University Press, 1996; The Deer and The Cauldron, übers. von John Minford, 3 Bde., New York: Oxford University Press, 1998, 2000, 2003; The Book and the Sword, übers. von Graham Earnshaw, New York: Oxford University Press, 2005. SEKUNDÄRLITERATUR: Kai Portmann: Der Fliegende Fuchs vom Schneeberg. Die Gattung des chinesischen Ritterromans (wuxia xiaoshuo) und der Erfolgsautor Jin Yong (1924 –), Bochum: Brockmeyer, 1994; Leng Xia: Jin Yong zhuan, Hongkong: Mingbao, 1994; John Christopher Hamm: Paper Swordsmen. Jin Yong and The Modern Chinese Martial Arts Novel, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 2006; Ann Huss u. Jianmei Liu: The Jin Yong Phenomenon. Chinese Martial Arts Fiction and Modern Chinese Literary History, New York: Cambria Press, 2007. [XWR]

Kang Hai 康海 (zi: Dehan, hao: Duishan, Pandong yufu, 1465 ‒ 1541) geb. in Wugong (Provinz Shaanxi) Kang Hai entstammte einer mächtigen und erfolgreichen Gentryfamilie. Zusammen mit (→) Wang Jiusi wird er den Sieben Frühen Meistern der Ming-Dynastie (1368 – 1644) zugerechnet. 1502 schnitt er beim Doktorat in der Hauptstadt am

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Kang Youwei 康有为

besten ab. Sein Examensaufsatz galt als der beste seit 150 Jahren. Er wurde daraufhin mit Archivarbeiten in der kaiserlichen Hanlin-Akademie betraut. Aufgrund seiner offenen Kritik machte er sich jedoch bald unbeliebt, so daß er sich 1508 auf das Familiengut zurückzog. Während der gut dreißig Jahre, die er dort verbrachte, lehnte er den Empfang von offiziellen Gästen und damit einen neuerlichen Ruf in ein Amt ab. Statt dessen zog er die Rolle des kauzigen Einsiedlers vor. Kang Hai hat sich vor allem als Dichter nachklassischer Lieder (sanqu) und eines einflußreichen Theaterstückes einen Namen gemacht. Er hat überdies Essays verfaßt, musiziert und Gesangsunterricht gegeben. Zwar hat der Autor zwei Dramen (zaju) geschrieben, aber nur eines hat sich der Nachwelt fest eingeprägt und als geflügeltes Wort Schule gemacht. Sein Titel nämlich ist sprichwörtlich geworden, wiewohl es diesen in ähnlicher Form schon vorher als Vorlage gegeben hat: Das Drama vom Herrn des Ostwalls, der fälschlich den Wolf des Zentralmassivs rettet (Dongguo xiansheng wu jiu Zhongshan lang). Spricht man heute vom »Wolf aus dem Zentralmassiv« oder vom »Herrn des Ostwalls«, so meint man damit Undankbarkeit auf der einen Seite (Wolf) und falsches Mitleid auf der anderen Seite (Herr des Ostwalls). Es ist vielfach darüber gerätselt worden, ob der Verfasser die Undankbarkeit seiner Zeit geißeln wollte, doch ist die biographische Deutung für die Interpretation wenig ergiebig. Man sollte daher eher von einer philosophischen oder sozialen Sicht der Gesellschaft zur Mitte der Ming-Zeit ausgehen. Eine philosophische Note trägt die auf die Bühne gebrachte Fabel in vier Akten insofern, als das mohistische Prinzip der »allgemeinen Menschenliebe« (jian’ai) karikiert wird: Jemand, der einen Wolf rettet, darf sich nicht wundern, daß er gefressen werden soll, sobald der Hunger Dankbarkeit hat zur Nebensache werden lassen. Die Geschichte von Mensch und Tier endet dank eines listigen Gottes zwar positiv, doch eine Versöhnung findet nicht statt. Und dies macht die soziale Note des dramatischen Plots aus: Es gibt zwischen dem einzelnen und dem anderen nichts Unverbrüchliches. WERKAUSGABEN: Zhongguo xiqu jingdian, hg. von Guo Hancheng, 5 Bde., Jinan: Shandong Jiaoyu, 2000, Bd. 2, S. 525‒540; »Xin faxian Kang Hai sanqu ji ›Pandong yuefu houlu‹ jiaojian«, hg. von Tan Tianyuan u. Sun Chongtao, in: Wenhua yishu yanjiu 2, 4 (2009), S. 117–134 (Teil 1), u. 2, 5 (2009), S. 145–175 (Teil 2). ÜBERSETZUNGEN: The Columbia Book of Later Chinese Poetry. Yüan, Ming, and Ch’ing Dynasties (1279 ‒ 1911), übers. von Jonathan Chaves, New York: Columbia University Press, 1986, S. 245‒249. [WK]

Kang Youwei 康有为 (zi: Guangxia, 1858 ‒ 1927), geb. in Nanhai (Provinz Guangdong) Kang war einer der Anführer der Reformbewegung zum Ende der Qing-Dynastie (1644 – 1911) und formulierte eine Reihe neuer politischer Ideen. Aus einer wohl-

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Kang Youwei 康有为

habenden Gelehrtenfamilie stammend, zeigte er bei seinen Studien zunächst großes Interesse für die chinesische Philosophie sowie für den Taoismus und den Buddhismus. Während eines Aufenthalts in Hongkong erwachte jedoch sein Interesse an der westlichen Welt, und er begann, chinesische und westliche Ideen miteinander vergleichend und verbindend, sich den Fragen der Reform von Politik und Gesellschaft in China zu widmen. Von 1888 bis 1898 verfaßte er mehrere Arbeiten mit Reformvorschlägen, organisierte reformerisch ausgerichtete Gesellschaften und sandte entsprechende Eingaben an den Hof. Kaiser Guangxu berief Kang Youwei 1898 nach Peking, wo er gemeinsam mit (→) Liang Qichao und (→) Tan Sitong ein Reformprogramm auflegte, für dessen Durchführung den progressiven Kräften aber nur 100 Tage beschieden waren. Nach dem abrupten Ende der Reformen flüchtete Kang nach Japan und kehrte erst nach dem Sturz der Qing-Dynastie wieder nach China zurück, doch tat sich mit der Zeit eine immer breiter werdende Kluft zwischen seinen Überzeugungen und der politischen Wirklichkeit auf. Obwohl Kang vornehmlich als politische Figur gesehen wird, unterschätzt man damit seinen Beitrag zur chinesischen Literatur, gilt er doch als einer der besten Dichter zum Ende der Qing-Zeit, der seine Ansichten nicht nur mit Leidenschaft vertrat, sondern ihnen aufgrund seiner Bezüge zum Buddhismus und Taoismus immer auch eine ungewöhnliche Tiefe des Ausdrucks verleihen konnte. Seine frühen ästhetischen Ansichten gab Kang zwar nie ganz auf, doch hatten sein Exil in Japan und die vielen Reisen großen Einfluß auf das späte dichterische Werk, in dem er vor allem die Erfahrung der Fremde zum Thema machte und der Reiseliteratur neue Impulse gab. Kangs Dichtung macht sicherlich nur einen Teil seiner umfassenden Arbeiten aus, die streng genommen nicht eigentlich literarisch sind, doch zeigt der Prosastil seines utopischen Werkes Das Buch von der Großen Harmonie (Datong shu), wie sehr die klassische Schriftsprache immer noch auch zur Formulierung moderner Ideen taugte. WERKAUSGABEN: Kang Youwei quanji, Shanghai: Shanghai Guji, 1987. ÜBERSETZUNGEN: Ta T’ung Shu. The One-World Philosophy of Kʼang Yu-wei, übers. von Laurence G. Thompson, London: George Allen & Unwin, 1958; Kʼang Yu-wei: Ta T’ung Shu. Das Buch von der Großen Gemeinschaft, aus dem Englischen übers. von Horst Kube, Düsseldorf: Diederichs, 1974. SEKUNDÄRLITERATUR: Kung-chʼuan Hsiao: A Modern China and a New World. Kang Yu-wei, Reformer and Utopian, 1858 ‒ 1927, Seattle: University of Washington Press, 1975; Sabine Nagata: Dokumentation zur Reaktion gegen Kʼang Yu-wei. Untersuchungen zum Konservatismus im China des späten 19. Jahrhunderts, Wiesbaden: Harrassowitz, 1978; Lawrence Wu: »Kang Youwei and the Westernization of Modern Chinese Art«, in: Orientations 21, 3 (March 1990), S. 46‒53; Rudolf Wagner: »The Philologist as Messiah: Kang Youweiʼs 1902 Commentary on the Confucian Analects«, in: Disciplining Classics – Altertumswissenschaft als Beruf, hg. von Glen Most, Göttingen: Vandenhoeck and Ruprecht, 2002, S. 143‒168. [TZ]

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Kong Shangren 孔尚任

Konfuzius (→) Kong Zi Kong Shangren 孔尚任 (zi: Pinzhi, Jizhong, hao: Dongtang, Antang, Yunting shanren, 1648 ‒ 1718), geb. in Qufu (Provinz Shandong) Ein Nachfahre des Konfuzius in der vierundsechzigsten Generation, führte Kong Shangren zunächst ein zurückgezogenes Leben. Als der Kangxi-Kaiser (reg. 1611 – 1722) 1684 auf seiner Reise nach Südchina in Qufu, dem Geburtsort des Konfuzius, Station machte, durfte Kong aus den Schriften des Ahnen vortragen und wurde in die Kaiserliche Schule aufgenommen, später folgten auch andere Posten in den Ministerien der Hauptstadt. Zwischen 1685 und 1689 war Kong mit einem Projekt zur Flußregulierung beschäftigt, das von Yangzhou aus koordiniert wurde. Die in Gedichten und Prosatexten festgehaltenen Eindrücke von den in diesem Zusammenhang unternommenen Reisen und von den Begegnungen mit zahlreichen Literaten sind in der Sammlung von den Seen und Meeren (Hu hai ji) zusammengefaßt. Am bekanntesten von Kongs literarischen Hinterlassenschaften ist zweifellos das 1699 herausgekommene chuanqi-Drama Der Pfirsichblütenfächer (Taohuashan), das als eines der wichtigsten Schauspiele aus der Kangxi-Ära gilt. Kurz nach der Veröffentlichung des Stücks, das möglicherweise Reminiszenzen an die untergegangene Ming-Dynastie (1368 – 1644) wachrief, wurde Kong zur Niederlegung seiner Ämter aufgefordert, doch ist nicht ganz klar, ob diese Sanktion tatsächlich in einem Zusammenhang mit dem Drama stand. Es liegen noch eine Reihe weiterer Werke vor, die Kong bereits nach Aufnahme seiner Amtstätigkeit in der Hauptstadt anfertigte und die sich durch ihren reichen Inhalt sowie einen unprätentiösen Stil auszeichnen. So entstanden bereits Mitte der neunziger Jahre die chuanqi-Dramen Kleiner Donnerschlag (Xiao hulei, 1694) und Großer Donnerschlag (Da hulei, 1694). Gemeinsam mit (→) Liu Tingji gab Kong in späteren Jahren (1715) zudem die Gedichtauswahl Die Sammlung vom längeren Verweilen (Changliu ji) heraus. WERKAUSGABEN: Kong Shangren shiwen ji, hg. von Wang Weilin, Peking: Zhonghua Shuju, 1962; Taohuashan, Yangzhou: Jiangsu Guangling Guji, 1990. ÜBERSETZUNGEN: The Peach Blossom Fan, übers. von Chen Shih-hsiang, Harold Acton, Cyril Birch, Berkeley: University of California Press, 1976. SEKUNDÄRLITERATUR: Lynn A. Struve: »The Peach Blossom Fan as Historical Drama«, in: Renditions 8 (Autumn 1977), S. 99‒114; Richard E. Strassberg: The World of Kʼung Shang-Jen. A Man of Letters in Early Ch’ing China, New York: Columbia University Press, 1983; Xu Zhengui: Kong Shangren pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 2000; Li Jiping: Kong Shangren yu »Taohuashan«, Jinan: Qilu Shushe, 2002. [TZ]

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Kong Zi 孔子

Kong Zi 孔子 / Konfuzius (eig. Kong Qiu, auch: Kong Fu Zi, zi: Zhongni, 551 – 479 v.Chr.), geb. in Qufu (im damaligen Reich Lu, heute Provinz Shandong) Der von Jesuiten geprägte Name »Konfuzius« geht auf das chinesische »Kong (Fu) Zi« (»Meister Kong«) zurück. Sein eigentlicher Name war Kong Qiu. Die wohl glaubhafteste Quelle zu seinen Lebensdaten ist die in den Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian enthaltene Biographie aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert. Konfuzius wurde vermutlich als Mitglied des verarmten Adels im Staat Lu (im Südwesten der heutigen Provinz Shandong) geboren und verbrachte auch die meiste Zeit seines Lebens dort. Seine Geburt wurde in späterer Zeit als eine Geschichte voller Wunder erzählt, die Legendenbildung gipfelte Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Heiligsprechung. In der Hauptsache war Konfuzius als Lehrer tätig. Ob er tatsächlich politische Ämter innehatte, wie das Shiji berichtet, ist heute umstritten. Im Jahre 497 v.Chr. verließ er seinen Heimatstaat Lu und wanderte 13 Jahre in Begleitung seiner Schüler durch verschiedene andere Teilstaaten des zerfallenden Zhou-Reiches. Dort versuchte er vergeblich, mit seiner Lehre bei den jeweiligen Herrschern Gehör zu finden. 484 v.Chr. kehrte er nach Lu zurück und war bis zu seinem Tode weiterhin als Lehrer tätig. In diesen Jahren nach der Wanderschaft soll er Sima Qian zufolge u.a. die beiden Klassiker Buch der Lieder (Shijing) und Buch der Urkunden (Shujing) kompiliert haben. Für die Chronik seines Heimatstaates Lu, die Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu), wird ihm traditionell die Autorenschaft zugeschrieben. Dieses historiographische Werk diente etwa 400 Jahre später Sima Tan und seinem Sohn Sima Qian als Vorbild für das Shiji. Konfuzius starb 479 v.Chr., sein Grab befindet sich auf dem Friedhof der Stadt Qufu, wo er bis heute kultisch verehrt wird. Die von Konfuzius begründete und bis heute einflußreiche gleichnamige moralphilosophische Denkschule hat im Verlauf der Geschichte stetig und in einem nahezu ungebrochenen Rezeptionsprozeß an Bedeutung gewonnen. Schon in der Han-Zeit (206 v.Chr. – 220 n.Chr.) wurde der Konfuzianismus zur Staatsideologie erhoben. Konfuzius, der bis heute in China als erster großer »Tugendlehrer« verehrt wird, propagierte die grundsätzlichen Erziehbarkeit jedes Menschen und bewirkte damit, daß Erziehung und Bildung nicht mehr nur Sache der Familie und des Standes waren, sondern nach und nach als öffentliche Aufgabe begriffen wurden. Neben der traditionellen Bildung prägte Konfuzius vor allem den Begriff der ethischen Selbstkultivierung. Ein weiteres zentrales Thema seiner Lehre war das Idealbild einer Gesellschaftsordnung, in der jeder seinen festen Platz haben sollte – ein System, das der Gesellschaft als ganzer Stabilität und Harmonie, dem einzelnen aber auch Freiheit im Rahmen seiner Möglichkeiten versprach.

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Lao She 老舍

Die Lehre des Konfuzius ist uns durch die Gespräche (Lunyu) überliefert. Diese Sammlung von etwa 500 Gesprächsnotizen wurde von mehreren Generationen seiner Schüler (vom 5. bis ins 3. Jh.) aufgezeichnet und überliefert. Die heutige Fassung des Lunyu entstand allerdings erst im 2. oder 1. Jahrhundert v.Chr. Die ersten zehn der insgesamt 20 Kapitel gelten als die ältesten. Das Lunyu wurde von den Neokonfuzianern der Song-Zeit (960 – 1279) zum Bildungsklassiker erhoben, nachdem es bereits in der Späteren Han-Zeit unter die »Sieben Klassiker« (qijing) aufgenommen worden war. Neben der Großen Lehre (Daxue), Mitte und Maß (Zhongyong) und dem Buch Mengzi zählte es zu den »Vier Büchern« (sishu), die zum zentralen Prüfungsstoff bei den kaiserlichen Beamtenexamina gehörten. WERKAUSGABEN: A Concordance to the Analects of Confucius, Harvard-Yenching Institute Sinological Index Series, Suppl. 16, Nachdruck Taipeh: Chʼeng-wen Publishing, 1966. ÜBERSETZUNGEN: Kungfutse. Gespräche, übers. von Richard Wilhelm, Jena: Diederichs, 1919; The Analects of Confucius, übers. von Arthur Waley, London: Allen & Unwin, 1938; Gedanken und Gespräche des Konfuzius, übers. von Hans O.H. Stange, München: R. Oldenburg, 1953; The Analects, übers. von D.C. Lau, Harmondsworth: Penguin, 1979; Gespräche, übers. von Ralf Moritz, Leipzig: Reclam, 1982. SEKUNDÄRLITERATUR: Otto Franke: »Der geschichtliche Konfuzius«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 79 (1925), S. 163–191; Herrlee G. Creel: Confucius. The Man and the Myth, New York: John Day, 1949; René Étiemble: Confucius, Paris: Gallimard, 1966; Raymond Dawson: Confucius, Oxford: Oxford University Press, 1981; Kuang Yaming: Kongzi pingzhuan, Jinan: Qilu Shushe, 1985; Heiner Roetz: Konfuzius, München: Beck, 1995; Annping Chin: Konfuzius – Geschichte seines Lebens, übers. von Ursula Gräfe, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Verlag der Weltreligionen, 2009. [HP]

Lao She 老舍 (eig. Shu Qingchun, Pseudonym: Shu Sheyu, 1899 – 1966), geb. in Peking Als Sohn einer verarmten mandschurischen Familie wurde Lao She 1899 in Peking geboren. Sein Vater war Wächter im kaiserlichen Palast gewesen und wurde während des Boxeraufstandes getötet, als der Sohn eineinhalb Jahre alt war. Später konnte Lao She mit Unterstützung eines Verwandten eine Privatschule besuchen. 1913 legte er die Aufnahmeprüfung der Pekinger Dritten Mittelschule ab, mußte jedoch wegen finanzieller Schwierigkeiten die Schule bald wieder verlassen. Im selben Jahr trat er in die staatlich finanzierte Pädagogische Hochschule von Peking ein und schloß dort 1918 seine Ausbildung erfolgreich ab. Von 1918 bis 1924 arbeitete er als Schullehrer und studierte daneben Englisch an der Universität Peking. 1924 wurde er nach England eingeladen, um an der School of Oriental Studies in London Chinesisch zu unterrichten. Während seines fünfjährigen Aufenthaltes in England begann er sich literarisch zu betätigen. Er schrieb in dieser Zeit drei

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Romane, darunter Die beiden Ma (oder Chinesen in London bzw. Eine Erbschaft in London [Er ma, 1928]). Beeinflußt von Charles Dickens, brachte Lao She tiefes Mitgefühl für die Kleinbürger auf und beschrieb ihr elendes Leben in lebhaftem, humorvollem Sprachstil. Nach seiner Heimreise über Frankreich, Deutschland, Italien und Singapur, die fast ein Jahr lang dauerte, wurde er 1930 als Professor für Literatur an die Qilu-Universität nach Jinan berufen. 1931 heiratete er Hu Jieqing (1905 – 2001), ebenfalls eine Lehrerin mandschurischer Herkunft, die später bei dem berühmten Qi Baishi (1864 – 1957) chinesische Malerei lernte und eine anerkannte Malerin und Kalligraphin wurde. Der in dieser Zeit entstandene phantastische Roman Die Stadt der Katzen (Maocheng ji, 1932/33) kritisiert die korrupte Gesellschaft unter dem Guomindang-Regime mit einer Satire, die auf dem Mars spielt. Es folgten die Romane Die Blütenträume des Lao Li (oder Scheidung [Lihun, 1933]), eine heiter-ironische Geschichte über die Illusionen und die Lebenswirklichkeit kleiner Beamter in Peking, und Der Rikschakuli (Luotuo Xiangzi, 1936/37). 1934 wechselte Lao an die Universität von Shandong in Qingdao, kehrte jedoch drei Jahre später nach Jinan zurück. Kurz bevor die japanische Armee diese Stadt im November 1937 eroberte, floh Lao ins Landesinnere, zunächst nach Wuhan und dann nach Chongqing, in die provisorische Hauptstadt während des Krieges. Wie viele seiner Zeitgenossen schrieb Lao während der Kriegszeit hauptsächlich Theaterstücke, darunter Nebelschwaden (Canwu, 1939) und Nur nicht das Gesicht verlieren (Mianzi wenti, 1940). Er leitete in Chongqing auch die Widerstandsvereinigung der Chinesischen Kunst- und Literaturschaffenden. Gleichzeitig konzipierte er ein großes Werk über die Familientragödien, die viele Chinesen im Krieg durchlitten. Als Folge erschienen 1946 die ersten zwei Teile des Romans Vier Generationen unter einem Dach (Sishi tongtang). Lao vollendete dieses Werk während eines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten von 1946 bis 1949. Nach der Gründung der Volksrepublik kehrte er auf persönliche Einladung des Premierministers Zhou Enlai (1898 – 1976) in sein Heimatland zurück und erfreute sich einer ehrenvollen Aufnahme seitens der neuen Regierung. Die beiden unmittelbar danach verfaßten Theaterstücke Der Drachenbartgraben (Longxugou, 1950) und Fang Zhenzhu (Fang Zhenzhu [Eigenname], 1950) preisen das neue kommunistische Regime indirekt, indem sie das elende Leben der Künstler vor der »Befreiung« darstellen. Beide wurden 1952 verfilmt. Mit dem Stück Teehaus (Chaguan, 1957) erreichte Lao den Höhepunkt seines dramatischen Schaffens. Das Theaterstück in drei Akten, deren jeder ein Zeitalter behandelt, macht ein altes Pekinger Teehaus zur Bühne und stellt den gesellschaftlichen Wandel durch die darin auftretenden Figuren vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dar. Es ist eines der repräsentativsten modernen chinesischen Theaterstücke und wird bis heute immer wieder aufgeführt. Gleich zu Beginn der Kulturrevolution wurde Lao She von Rotgardisten terrorisiert und gedemütigt, so daß er sich schließlich im Taiping-See von Peking ertränkte.

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Einer anderen verbreiteten Meinung zufolge war sein Tod kein Selbstmord, sondern Mord. Erst 1978, zwölf Jahre nach seinem tragischen Tod, wurde er posthum rehabilitiert. In dem Haus, das er einst in Peking bewohnte, richtete man 1998 eine Gedenkstätte für ihn ein, die seit 1999 Besuchern zugänglich ist. Lao hat insgesamt 16 Romane, 36 Dramen und über 70 Novellen und Kurzgeschichten geschrieben. Sein großes Erzähltalent, sein Geschick im Gebrauch der modernen chinesischen Umgangssprache und die Anschaulichkeit, mit der er das Pekinger Lokalkolorit gestaltet, sind in der modernen chinesischen Literatur bis heute unerreicht. WERKAUSGABEN: Lao She juzuo xuan, Peking: Renmin, 1978; Lao She xuanji, 3 Bde., Chengdu: Sichuan Renmin, 1982; Lao She wenji, 14 Bde., Peking: Renmin, 1984. ÜBERSETZUNGEN: Das Teehaus, übers. von Liu Jen-kai u. Pai Ying-lin, hg. von Volker Klöpsch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1980; Zwischen Traum und Wirklichkeit. Elf Erzählungen, übers. von Volker Klöpsch et al., Frankfurt a.M.: ChinaStudien- u. Verlagsgesellschaft, 1981; Blick westwärts nach Changʼan, übers. von Ursula Adam et al., hg. von Kuo Heng-yü, München: Minerva, 1983; Die Blütenträume des Lao Li, übers. von Irmtraud Fessen-Henjes, Berlin [Ost]: Volk und Welt, 1984; Scheidung, übers. von Irmtraud Fessen-Henjes, Berlin [Ost]: Volk und Welt, 1984; Die Stadt der Katzen. Phantastischer Roman, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985; Rikschakuli, übers. von Florian Reissinger, Frankfurt a.M.: Insel, 1987; Eine Erbschaft in London, übers. von Irmtraud Fessen-Henjes, Berlin [Ost]: Volk und Welt, 1988; Sperber über Peking, übers. von Silvia Kettelhut, Freiburg et al.: Herder, 1992; »Aufgestaute Wut über die Ausländer-Truppen: Ein ungeschriebener Roman und ein Theaterstück über den Boxeraufstand 1900«, übers. von Reingard Gräbl, in: Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, hg. von Helmut Martin, Bonn: Bouvier, 1993, S. 293–297; Vier Generationen unter einem Dach, übers. von Irmtraud Fessen-Henjes, Zürich: Unionsverlag, 1998. SEKUNDÄRLITERATUR: Zbigniew Slupski: The Evolution of a Chinese Writer. An Analysis of Lao She’s Fiction with Biographical and Bibliographical Appendices, Prag: Publishing House of the Czechoslovak Academy of Science, 1966; Ranbir Vohra: Lao She and the Chinese Revolution, Cambridge: Harvard University Press, 1974; Chou Sui-ning Prudence: Lao She. An Intellectual’s Role and Dilemma in Modern China, Diss., University of California, 1976; Two Writers and the Cultural Revolution. Lao She and Chen Jo-hsi, hg. von George Kao, Hongkong: The Chinese University Press, 1980; Petra Großholtforth: Chinesen in London. Lao She’s Roman Er Ma, Bochum: Brockmeyer, 1985; Volker Klöpsch: »Lao She«, in: Moderne chinesische Literatur, hg. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 366–373; Chen Weiming: Pen or Sword. The WenWu Conflict in the Short Stories of Lao She (1899 – 1966), Diss., Stanford University, 1985; Leo Ou-fan Lee: »Lao Sheʼs ›Black Li and White Li‹: A Reading in Psychological Structure«, in: Reading the Modern Chinese Short Story, hg. von Theodore Huters, Armonk: M.E. Sharpe, 1990, S. 3–21; Silvia Kettelhut: Nicht nur der Rikschakuli. Frauendarstellung und Geschlechterverhältnis im Werk Lao Shes, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 1997; Louie Kam: »Constructing Chinese Masculinity for the Modern World: with Particular Reference to Lao Sheʼs The Two Mas«, in: The China Quarterly 164

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Lao Zi 老子 (2000), S. 1062–1078; Maria Rohrer: »Lao Shes Frauenfiguren in Vier Generationen unter einem Dach (Sishi tongtang)«, in: minima sinica 1/2008, S. 30–52. [XWR]

Lao-tse (→) Lao Zi Lao Zi 老子 (Li Er, Boyang, Zhongʼer, Dan, ca. 6. Jh. v.Chr.), geb. vermutlich im Reich Chu (heute Provinz Hubei) Die Lebensgeschichte des Begründers der philosophischen Schule des Daoismus muß wohl für immer im Reich der Legenden bleiben, da es keine gesicherten Quellen gibt, die seine Existenz belegen würden. Nach den um 100 v.Chr. verfaßten Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian soll Lao Zi (»Alter Meister«) ein Zeitgenosse des (→) Konfuzius gewesen und 571 v.Chr. in Kuxian im Staate Chu geboren worden sein. Er habe gegen Ende des 6. Jahrhunderts v.Chr. am Hofe der Zhou-Könige als Archivar gearbeitet, bevor er – den Untergang der Zhou vorhersehend – das Leben eines Einsiedlers wählte. Sima Qian berichtet sogar von einer angeblichen Begegnung der beiden Meister am ZhouHof in Luoyang (damals Chengzhou) im Jahre 518 v.Chr. Diese wohl daoistische Legende, die sich schon im Zhuangzi findet, wurde vermutlich mit dem Ziel in die Welt gesetzt, die eigene Schule gegenüber dem Konfuzianismus aufzuwerten. Lao Zi wird darin als der erheblich ältere und weisere Meister dargestellt, bei dem sich Konfuzius (erniedrigenderweise) in Fragen der Ethik Rat holte. Laut Sima Qian soll Lao Zi 160 Jahre alt geworden sein. Im Shiji findet sich auch die berühmte Grenzpaß-Legende von der Entstehung des Daodejing (»Buch von Weg und Tugend«): Lao Zi sei, als er – resigniert ob der Wirkungslosigkeit seiner Ratschläge – über den Hangu-Paß das Zhou-Reich verlassen wollte, um sein Einsiedlerleben zu beginnen, von Yin Xi, dem Gouverneur des Grenzpostens, gebeten worden, seine Lehre niederzuschreiben. So soll Lao Zi das Daodejing (über 5000 Schriftzeichen in zwei Teilen, später in 81 Kapitel gegliedert) an Ort und Stelle verfaßt haben. Danach sei er auf einem schwarzen Büffel gen Westen geritten: das Urbild der religiös-daoistischen Legende vom Paradies der Unsterblichen im Westen und ein in späteren Jahrhunderten vor allem in der Malerei beliebtes Motiv. Das Daodejing (auch das Buch Laozi genannt) ist einer der drei daoistischen Klassiker, neben dem anderen großen Haupttext, dem Zhuangzi, sowie dem Liezi, deren Datierung gleichfalls umstritten ist. Die Interpretation des Daodejing spaltete sich bereits in der späten Han-Zeit in eine religiös und eine philosophischpolitisch orientierte Richtung. Der religiöse Daoismus stützte sich auf die aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. stammende Textversion des Heshang Gong, die heute als anfechtbar gilt. Die andere Schulrichtung folgte der kommentierten Textfassung des Konfuzianers und Yijing-Forschers Wang Bi (226 – 249 n.Chr.), die eine

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pragmatischere Lesart des daoistischen Klassikers nahelegt. Erst das Jahr 1973 zerstreute diesen Schulstreit, als in Mawangdui nahe der Stadt Changsha (Provinz Hunan) in einem Grab aus dem Jahr 168 v.Chr. zwei weitere authentische Versionen des Daodejing gefunden wurden, die nun im Zentrum der Daoismus-Forschung stehen. Das Daodejing hat nicht nur als philosophischer, sondern auch als literarischer Text eine bis heute ungebrochene Anziehungskraft. WERKAUSGABEN: Wang Bi: Lao Zi zhu, in: Zhuzi jicheng, Bd. 3, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1978. ÜBERSETZUNGEN: Laotse. Taoteking. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben, übers. von Richard Wilhelm, Jena: Diederichs, 1921; Tao Te Ching, übers. von D.C. Lau, Harmondsworth: Penguin, 1963; Lao-tse. Tao-Te-King. Das Heilige Buch vom Weg und von der Tugend, übers. von Günther Debon, Stuttgart: Kohlhammer, 1979; Robert G. Henricks: Lao-tzu. Te-tao ching. A New Translation Based on the Recently Discovered Ma-wang-tui Texts, New York: Ballantine, 1989; Laotse. Tao Te King. Nach den Seidentexten von Mawangdui, übers. von Hans-Georg Möller, Frankfurt a.M.: Fischer, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen, München: Hanser, 1971, S. 61–69 et passim; Ralf Moritz: Die Philosophie im alten China, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990, S. 99–112; Florian C. Reiter: Lao-tzu zur Einführung, Hamburg: Junius, 1994; Max Kaltenmark: Lao-tzu und der Taoismus, Frankfurt a.M.: Insel, 1996; Hans-Georg Möller: Laozi, Freiburg: Herder, 2003. [HP]

Leung Ping-kwan (→) Liang Bingjun Li Bai 李白 (auch: Li Bo, zi: Taibo, 701 – 762), geb. vermutlich in Tokmok (heute Kirgisistan) Der vielleicht überragendste und im Westen bekannteste Dichter Chinas entstammte einer in Zentralasien ansässigen chinesischen Familie. Sein Urgroßvater war in das Gebiet der nordwestlichen Ausläufer des Tianshan-Gebirges im heutigen Kirgisistan verbannt worden, wo Li Bai wahrscheinlich im Jahre 701 geboren wurde. Ob es im Laufe der drei Generationen vor ihm auch turkstämmige Familienmitglieder gegeben hat, ist nicht bekannt. Sprachliche Einflüsse sind allerdings nachweisbar. Die Familie zog noch während Li Bais Kindheit zurück nach China in die Provinz Sichuan. Als junger Mann reiste Li Bai dann entlang des Yangtse weiter gen Osten. Er sollte zeit seines Lebens ein freiheitsliebender Reisender und Haudegen bleiben, der so manchen Gegner niederstreckte und es auf vier Ehen brachte. 742 wurde er an den Hof des Kaisers Xuanzong (reg. 713 – 755) in der Hauptstadt Chang’an berufen und erhielt, obwohl er nie die Beamtenprüfung abgelegt hatte, ein Amt in der kaiserlichen Hanlin-Akademie. Doch diese Stellung

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konnte er nur zwei Jahre halten, da sein unkonventionelles Auftreten bei Hofe und sein übermäßiger Alkoholgenuß nicht geduldet wurden. Hatte er bereits in jungen Jahren die dichterisch fruchtbare Bekanntschaft (→) Meng Haorans gemacht, so lernte er nun im Jahre 744 den elf Jahre jüngeren Dichter (→) Du Fu kennen, der sein lebenslanger Freund und größter Bewunderer wurde, obwohl – oder gerade weil – die beiden in Leben und Werk denkbar verschieden waren. Während Li Bai – im Herzen Daoist – die Weltflucht zelebrierte, indem er auf einzigartig unbändige Weise die Natur im allgemeinen und den Wein im besonderen besang, stellte sich Du Fu der trostlosen Realität seiner Zeit, indem er nicht nur die damaligen Kriegszüge in den nordwestlichen Grenzgebieten des Reiches auf bis heute berührende Weise in seinen Gedichten dokumentierte, sondern auch soziale Ungerechtigkeiten anprangerte, häufig im schützenden Gewand historischer Anspielungen. Beide wurden in den nachfolgenden Jahrhunderten zu den Dichterfürsten ihrer Epoche gekürt, als gegensätzliches und dennoch gleichrangiges Paar bis heute unbestritten. Die im 18. Jahrhundert von Wang Qi kommentierte Standardausgabe der Werke Li Bais enthält rund 1000 Texte: 779 Gedichte im Alten und Neuen Stil (gutishi und jintishi), 59 gufeng-Gedichte (»in alter Manier«), 149 Musikamtslieder (yuefu), acht Prosagedichte (fu) und 60 Prosaschriften. Allerdings ist die tatsächliche Autorenschaft einer nicht geringen Anzahl dieser Werke noch immer umstritten. Li Bais freier und unakademischer Stil kam besonders gut in den älteren Gedichtformen und im yuefu-Lied zur Geltung. Seine zuweilen rauschhaft transzendente Lyrik erinnert an Vorbilder wie die Lieder des Südens (Chuci), aber z.B. auch an die naturverbundenen und sinnlichen Gelegenheitsgedichte eines (→) Tao Yuanming. In den Kriegswirren nach der Rebellion des An Lushan im Jahre 755 trat der aus der Hauptstadt Changʼan geflüchtete Li Bai 757 in den Dienst des aufständischen Prinzen Lin von Yong. Nachdem dessen Aufstand gescheitert war, wurde Li Bai verhaftet und in die Region der heutigen Provinz Yunnan – damals ein gefürchtetes Seuchengebiet – verbannt. Er wurde zwar 759 begnadigt, kehrte jedoch unheilbar krank aus dem Exil zurück, vermutlich auch durch seinen Alkoholismus geschwächt. Li Bai starb 762 im Hause seines Onkels zweiten Grades Li Yangbing, des Herausgebers seines dichterischen Nachlasses. Die Legende weiß zu berichten, daß der wohl genialste Dichter Chinas auch den poetischsten aller Tode starb: Berauscht bei Nacht auf einem See rudernd, soll er bei dem Versuch, das Spiegelbild des Mondes zu umarmen, ertrunken sein. WERKAUSGABEN: Li Taibai quanji, hg. u. komm. von Wang Qi, 3 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1977; Li Bai ji jiaozhu, hg. u. komm. von Zhu Jincheng u. Qu Shuiyuan, Shanghai: Shanghai Guji, 1980. ÜBERSETZUNGEN: Li Tai-bo. Gedichte, übers. von Günther Debon, Stuttgart: Reclam, 1962; Li Po and Tu Fu, übers. von Arthur Cooper, Harmondsworth: Penguin, 1973; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig:

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Li Baichuan 李百川 Insel, 1991, S. 86‒127; Li Tʼai-po: Gesammelte Gedichte, 3 Bde., übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Hartmut Walravens (Bd. 1) / Hartmut Walravens u. Lutz Bieg (Bd. 2 u. 3), Wiesbaden: Harrassowitz, 2000/2005/2007. SEKUNDÄRLITERATUR: Arthur Waley: The Poetry and Career of Li Po, London: Allen & Unwin, 31969; Stephen Owen: The Great Age of Chinese Poetry: The High T’ang, New Haven u. London: Yale University Press, 1981, S. 109‒143; Feng-yu Shih: Li Po. A Biographical Study, Diss., University of British Columbia, 1983; William H. Nienhauser: »A Reading of Li Bo’s Biography in the Old History of the T’ang«, in: Oriens Extremus 43 (2002), S. 175‒188; Paula M. Varsano: Tracking the Banished Immortal. The Poetry of Li Bo and Its Critical Reception, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 2003. [HP]

Li Baichuan 李百川 (ca. 1720 ‒ nach 1771), geb. vermutlich in der Provinz Zhejiang Alles, was bislang an spärlichen Aussagen über das Leben Li Baichuans vorliegt, ist den Angaben im Vorwort seines Romans Spuren von Unsterblichen in der Wildnis (Luye xianzong) zu entnehmen. So scheint Li in seiner Kindheit und Jugend noch in auskömmlichen Verhältnissen gelebt und die Gesellschaft von Freunden bei Wein und Dichtung genossen zu haben. Nachdem sich die familiäre wirtschaftliche Situation verschlechtert hatte, fand Li womöglich ein Auskommen als Dorflehrer. Auf eine Teilnahme an Beamtenprüfungen gibt es nirgendwo Hinweise. Zunächst versuchte sich Li als Kaufmann, ihm war jedoch offenbar wenig Glück beschieden, denn immer wieder ist die Rede davon, daß er bei Geschäften hohe Verluste erlitt, Betrügereien aufsaß und am Ende selbst noch die Reste des elterlichen Erbes verlor. Seine Beschäftigung als Sekretär von hochgestellten Persönlichkeiten führte hernach zu einem unsteten Leben mit zahlreichen Reisen. In der Literaturwissenschaft ist Li vor allem aufgrund seines Romans Spuren von Unsterblichen in der Wildnis bekannt, der stark autobiographische Züge trägt und zwischen 1753 und 1762 an wechselnden Aufenthaltsorten entstanden ist. Das Vorwort zum Roman läßt erkennen, daß Li ein großer Liebhaber von Geschichten über Geister und Gespenster gewesen sein muß, doch blieb er in seinem Roman nicht allein der Welt des Mythisch-Phantastischen verhaftet, sondern setzte eine ideale Gegenwelt ein, um auf soziale und politische Mißstände seiner Zeit hinzuweisen. WERKAUSGABEN: Luye xianzong, Peking: Renmin Zhongguo, 1993. SEKUNDÄRLITERATUR: Cai Guoliang: »Ping Luye xianzong de xieshi yanjiu«, in: ders.: Qing xiaoshuo tanyou, Hangzhou: Zhejiang Wenyi, 1985, S. 65‒82. [TZ]

Li Bo (→) Li Bai 131

Li Boyuan 李伯元

Li Boyuan 李伯元 (auch: Li Baokai, zi: Li Baojia, hao: Youxi zhuren, Beiyuan, Nanting tingzhang, 1867 ‒ 1906), geb. in Wujin (heute Changzhou, Provinz Jiangsu) Li Boyuans Werdegang als Literat und Kritiker stand ganz im Zeichen der Veränderungen, die sich in China zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jh. abspielten. Das klassische Bildungsgut, vom dem Li in seinen Arbeiten zehrte, wurde ihm in frühen Jahren zu Hause vermittelt. Li entstammte einer Beamtenfamilie, die fern der eigentlichen Heimat der Vorfahren in Shandong lebte. Nach dem Tod seines Vaters kümmerte sich ein Vetter namens Li Yiqing, selbst Präfekt in Shandong, um die Ausbildung Li Boyuans und ließ ihm eine strenge Erziehung angedeihen. Nachdem Li Yiqing 1892 in den Ruhestand versetzt worden war, zog die Familie zurück an den Heimatort der Familie in Wujin (heute Changzhou). Li Boyuans Leben in den Kreisen der hohen Beamten verschaffte ihm wichtige Einblicke in die Abläufe und Gewohnheiten der Bürokratie, selbst jedoch gelang es ihm zu keiner Zeit, erfolgreich aus den Beamtenprüfungen hervorzugehen. Kurze Zeit nach dem Tod Li Yiqings zog Li Boyuan 1896 nach Shanghai. In den zehn Jahren bis zu seinem Tod trat er zunächst als Herausgeber von Zeitschriften hervor und wurde in der Folge einer der wichtigsten Autoren der späten Qing-Zeit (1644 – 1911). Li teilte die Auffassung zahlreicher Intellektueller seiner Zeit, derzufolge die Literatur aufklärerisch zu sein habe und die Mißstände in Politik und Gesellschaft offenlegen müsse. 1897 gründete er die Zeitschrift zur Unterhaltung (Youxibao), in der die unterschiedlichsten Textsorten wie Gedichte, Trinksprüche, Fabeln und Satiren sowie Vorkommnisse in der Beamtenschaft und der Gesellschaft kolportiert wurden. Stärker literarisch ausgerichtet war die 1900 von Li ins Leben gerufene Zeitschrift der blühenden Welt (Shijie fanhua bao), in der zunächst u.a. auch Lis Roman Die Bürokraten (Guanchang xianxingji) als Fortsetzungswerk erschien. Vom Verlag Shangwu Yinshuguan (Commercial Press) erhielt Li 1902 den Auftrag, die halbmonatlich erscheinende Zeitschrift Bebilderte Erzählungen (Xiuxiang xiaoshuo) herauszugeben, die zusammen mit Neue Erzählungen (Xinxiaoshuo), Monatliche Erzählungen (Yue yue xiaoshuo) und Erzählwald (Xiaoshuolin) zu den vier wichtigsten Literaturzeitschriften am Ende der Qing-Zeit gehörte. Neben seiner Tätigkeit als Herausgeber trat Li auch als Gründer literarischer Salons in Erscheinung, in die Menschen aus allen Schichten und Berufen Aufnahme fanden. So rief er 1897 den Salon »Yiwenshe« (Salon für Kunst und Literatur) ins Leben, gefolgt 1899 von den Salons »Shuhuashe« (Salon für Bücher und Bilder) und »Haishang wenshe« (Shanghaier Literatursalon). In die Literaturgeschichte ist Li Boyuan aber vor allem aufgrund seiner Romane und Erzählungen eingegangen. Lis Herkunft aus einem Beamtenhaushalt verschaffte ihm einzigartige Einblicke in die chinesische Bürokratie auf nahezu jeder Ebene. Neben den eigenen Erlebnissen war Li wie viele andere Autoren seiner Zeit aber auch sehr stark auf aktuelle Schilderungen in der Presse und Gerüchte in

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Li Dongyang 李东阳

der Gesellschaft angewiesen. Das beliebte Verfahren, fiktive Szenen und kolportierte Berichte scheinbar wahllos zusammenzufügen, hat Lis Erzählwerk allerdings den Vorwurf eingetragen, lediglich eine Sammlung von Klatschgeschichten zu sein. So fragwürdig also mitunter der eigentliche literarische Wert der Werke sein mag, ein sehr anschauliches und überdies eindringliches Bild der chinesischen Gesellschaft zur Zeit der Jahrhundertwende offenbart sich darin allemal. WERKAUSGABEN: Li Boyuan quanji, 5 Bde., hg. von Xue Zhengxing, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Das Haus zum gemeinsamen Glück, übers. von Marianne Liebermann u. Werner Bettin, Berlin: Rütten & Loening, 1964; Modern Times. A Brief History of Enlightenment, übers. von Douglas Lancashire, Hongkong: Chinese University of Hong Kong (Renditions Book), 1996. SEKUNDÄRLITERATUR: Li Boyuan yanjiu ziliao, hg. von Wei Shaochang, Shanghai: Renmin Wenxue, 1962; Christel Ruh: Das »Kuan-Chʼang Hsien-Hsing Chi« – Ein Beispiel für den »Politischen Roman« der ausgehenden Chʼing-Zeit, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 1974; Donald Holoch: »A Novel of Setting: The Bureaucrats«, in: The Chinese Novel at the Turn of the Century, hg. von Milena Dolezelová-Velingerová, Toronto: Toronto University Press, 1980, S. 76‒115; Douglas Lancashire: Li Po-Yuan, Boston: Twayne, 1981; Otto Gast: Wen-ming Hsiao-shih. Eine Prosasatire vom Ende der ChʼingZeit, Diss., Universität Erlangen-Nürnberg, 1982. [TZ]

Li Changqi (→) Li Zhen Li Dongyang 李东阳 (zi: Binzhi, hao: Xiya, 1447 ‒ 1516), geb. in Chaling (Provinz Hunan) Li gehörte mit (→) Li Mengyang, (→) He Jingming u.a. zu den einflußreichsten Dichtern und Literaturkritikern der frühen Ming-Zeit (1368 – 1644). Dank seines enormen Einflusses bei Hofe, den er nach dem frühen Ablegen der Prüfung zum Doktor (jinshi) 1463 über mehrere Jahrzehnte bewahren konnte, war er in der Lage, eine ganze Reihe von Literatengelehrten zu fördern, die ihn später in den Schatten stellten. Mit der Schule der Archaiker (fugu) teilte er die Auffassung der Überlegenheit der Tang-Dichtung über die der Song, doch wandte er sich vehement gegen die Nachahmung früherer Stile und trat vielmehr für eine Natürlichkeit und Spontaneität unter strenger Berücksichtigung der formalen poetischen Techniken ein. Literarisch wurde Li Dongyang in der Nachwelt vor allem durch seine Balladen im Stil des Altertums (Ni gu yuefu) bekannt, die nur scheinbar seiner Ablehnung jeglicher Nachahmung widersprechen, eröffneten sie doch einen neuartigen Blick auf die Dichtung vor der Tang-Zeit (618 – 907) und boten die Werke der

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Li Gongzuo 李公佐

Späten Han (25 – 220) und der Sechs Dynastien (220 – 589) als Modelle an. Lis Ruf als Prosaautor ist nicht mit dem als Dichter zu vergleichen, doch sind einige Schriften wie die Beschreibung einer Reise zu den Westbergen (You Xishan ji) oder die Erinnerungen an eine Ärztin (Ji nüyi) durchaus bekannt geworden. WERKAUSGABEN: Li Dongyang ji, Changsha: Yuelu Shushe, 1983; Li Dongyang shihua, in: Ming shihua quanbian, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. ÜBERSETZUNGEN: »Selected Ming Poems«, übers. von Daniel Bryant, in: Renditions 8 (Autumn 1977), S. 85‒91. SEKUNDÄRLITERATUR: Qian Zhenmin: Li Dongyang nianpu, Shanghai: Fudan Daxue, 1995; Shang Yongliang u. Xue Quan: Li Dongyang pingzhuan, Changsha: Hunan Renmin, 2006. [TZ]

Li Gongzuo 李公佐 (zi: Zhuanmeng, ca. 770 – ca. 848), geb. vermutlich in Longxi (Provinz Gansu) Li Gongzuo gilt nach (→) Shen Jiji als bester Autor der Tang-zeitlichen Novelle (chuanqi). Er stammte wahrscheinlich aus der nordwestlichen Provinz Gansu, verbrachte aber die meiste Zeit seines Lebens in Mittel- und Südchina. Manche Quellen lassen vermuten, daß er ein entfernter Verwandter des Tang-Kaiserhauses (d.h. des Li-Clans) war. Um das Jahr 795 bestand er die staatliche jinshi-Doktorprüfung und hatte daraufhin verschiedene kleinere Ämter im Gebiet der heutigen Provinzen Jiangxi, Jiangsu und Guangdong inne. Nach 840 trat er in die Dienste von Li Shen (gest. 846), Militärgouverneur von Huainan (heute Yangzhou), der 848 posthum der Korruption angeklagt wurde. Auch Li Gongzuo wurde in diesem weite Kreise ziehenden Fall all seiner Ämter enthoben und verstarb vermutlich kurz darauf. Vier von Li Gongzuos daoistisch geprägten Novellen, die nachweislich bereits in der Tang-Zeit (618 – 907) zirkulierten, sind durch die Aufnahme in die Songzeitliche (960 – 1279) Anthologie Umfassende Aufzeichnungen aus der Ära Taiping [976 – 984] (Taiping Guangji) erhalten geblieben – die wichtigste Sammlung früher narrativer Prosa, die als Nebenprodukt der großen kaiserlichen Enzyklopädie Taiping yulan entstanden war. Zwei dieser Novellen erlangten besondere Berühmtheit: »Die Geschichte der Xie Xiao’e« (»Xie Xiao’e zhuan«) erzählt im Stil eines Kriminalromans von einer streitbaren Nonne, die den Mord an Vater und Ehemann rächt; und die Erzählung »Der Herr des Südlichen Vasallenstaates« oder »Das geträumte Leben« (»Nanke taishou zhuan«) handelt von einem berauschten Tagträumer, der sich angesichts eines Ameisenhaufens in einem fernen Königreich voller Reichtümer wähnt. WERKAUSGABEN: Taiping Guangji, hg. von Li Fang et al., 10 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1961, Kap. 343, 467, 475, 491.

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Li He 李賀 ÜBERSETZUNGEN: Die goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden, hg. u. übers. von Wolfgang Bauer u. Herbert Franke, München: Hanser, 1959, S. 90‒105; Der Ruf der Phönixflöte. Klassische chinesische Prosa, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, 2 Bde., Berlin: Rütten & Loening, 1973, Bd. 1, S. 299‒326; »Sie Kleinholdchen«, in: Der Magier vom Wolkenturmgipfel. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden, übers. von Friedrich K. Engler, Frankfurt a.M.: Fischer, 1986, S. 127‒133; Das Geschenk des Drachenkönigs. Märchen aus China, hg. von Josef Guter, Köln: Komet, 2007, S. 47‒ 59. SEKUNDÄRLITERATUR: David Knechtges: »Dream Adventure Stories in Europe and Tʼang China«, in: Tamkang Review 4, 2 (1973), S. 101‒119. [HP]

Li He 李賀 (zi: Changji, 790 – 816), geb. in Changgu westlich von Luoyang (heute Kreis Yiyang, Provinz Henan) Über das Leben des genialischen, jung verstorbenen Dichters Li He geben zwei zeitgenössische Quellen Auskunft: die Vorworte (→) Du Mus und (→) Li Shangyins zu seiner posthum erschienenen ersten Werkausgabe (mit rund 240 Gedichten) aus dem Jahr 831. Sie prägten das Bild des ab der Song-Zeit (960 – 1279) als »dämonisches Genie« (guicai) bekannten Dichters. So heißt es in Li Shangyins »Kleiner Lebensbeschreibung Li Hes« (»Li He xiaozhuan«, in der Übersetzung von Günther Debon): »Hager von Gestalt, besaß er zusammengewachsene Brauen und lange Fingernägel. Er konnte voll Traurigkeit singen und in großer Hast schreiben.« Er soll sich selbst (in Debons amüsanter Übersetzung) »Dschungelbraue« genannt haben. Schon in seiner Jugend hatte Li He – Abkömmling einer verarmten Aristokratenfamilie – gegen schicksalhafte Widerstände zu kämpfen: Bereits im Alter von 16 Jahren wurde er mit der Notwendigkeit konfrontiert, seine Familie ernähren zu müssen, nachdem 807 sein Vater verstorben war. Obwohl die Familie in entfernter Verwandtschaft zum Tang-Kaiserhaus stand und er von illustren Zeitgenossen wie (→) Han Yu gefördert wurde, wollte es ihm nicht gelingen, in der Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan) Fuß zu fassen. Nachdem er 809 das Provinzexamen in Luoyang mit Bravour bestanden hatte, wurde er im Jahr darauf überraschend wegen eines Namenstabus von der jinshi-Doktorprüfung ausgeschlossen. Dadurch blieb ihm der Zugang zu höheren Ämtern für immer verwehrt. Zwischen 811 und 814 hatte er bei Hofe den (gemessen an seiner gesellschaftlichen Stellung) niedrigen Posten eines Zeremonienmeisters inne. Bis 816 versuchte er noch verzweifelt, abseits des höfischen Lebens, das keinerlei Perspektiven für ihn bereithielt, in die Dienste eines Generals zu gelangen. Als dies mißlang, kehrte er krank und verbittert in seine Heimat Changgu zurück und verstarb dort kurz darauf an Tuberkulose. Li He bevorzugte die alten, freieren Gedichtformen gushi (Gedicht im Alten Stil) und yuefu (Musikamtslied). Seine mythologisch aufgeladene Sprache steht in

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Li Kaixian 李开先

der Tradition des Südens – von den frühen Liedern des Südens (Chuci, um 300 v.Chr.) bis hin zur opulenten Lyrik im Palaststil (gongtishi) der Südlichen Dynastien des 5. und 6. Jahrhunderts. In bewußt inszeniertem Kontrast wechseln bei Li He sinnliches Erleben und jähe Vergänglichkeit einander ab. Dabei kippt die Klage über alles Vergehen zuweilen durchaus genußvoll in eine gespenstische Todessehnsucht. Sprachlich spielt Li He mit originellen, aber auch bizarren, zum Teil schwer zu entschlüsselnden Wortschöpfungen, hinter denen sich häufig politische Satire oder die Frustration über das eigene berufliche Scheitern verbergen. WERKAUSGABEN: Liu Yan: Li He shi jiaojian zhengyi, Changsha: Hunan, 1990; Quan Tang shi suoyin: Li He juan, hg. von Luan Guiming, Peking: Zhonghua Shuju, 1992. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Poems of the Late Tʼang, übers. von A.C. Graham, Harmondsworth: Penguin, 1965, S. 89‒119; Li Shangyin: »Notizen zur Biographie Li Hos«, in: Der Ruf der Phönixflöte. Klassische chinesische Prosa, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, 2 Bde., Berlin: Rütten & Loening, 1973, Bd. 1, S. 296‒298; Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, hg. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 228‒236; Kuo-ch’ing Tu: Li Ho, Boston: Twayne, 1979; J.D. Frodsham: Goddess, Ghost and Demons. The Collected Poems of Li Ho (790 ‒ 816), London: Anvil Press Poetry, 1983; Goat Koei Lang-Tan: »Traditionelles und Individuelles in der Bild- und Versgestaltung des Tʼang-Dichters Li Ho«, in: Ganz allmählich. Festschrift für Günther Debon, hg. von Roderich Ptak u. Siegfried Englert, Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt, 1986, S. 132‒145. [HP]

Li Kaixian 李开先 (zi: Bohua, hao: Zhonglu etc., 1502 ‒ 1568), geb. in Zhangqiu (heute Provinz Shandong) Das Leben des Li Kaixian, der aus einer Beamtenfamilie stammte und selbst hohe Posten am Kaiserhof innehatte, läßt sich in zwei Teile teilen. 1541 markiert den Schnittpunkt. Bis dahin war er Hofbeamter in Peking, nachdem er die drei grundlegenden Prüfungen zum Bakkalaureus (xiucai, 1510), zum Magister (juren, 1528) und zum Doktor (jinshi, 1529) bestanden hatte. Seine Entlassung hatte mit einem Brand im Ahnentempel zu tun, als er für die kaiserlichen Opfer zuständig war. Den Rest seines Lebens verbrachte er auf seinem heimatlichen Landgut, wo er das Leben eines Gelehrten führte, der sich ganz den Künsten und der Wissenschaft, dem Sammeln von Büchern und dem Schreiben widmete. Zu diesem Zweck ließ er eine Bibliothek und auch eine Schule bauen. Sein Hauptinteresse jedoch galt dem Theater und den Liedern der Straße. Er unterhielt sogar eine eigene Theatertruppe. Neben seiner literarischen und wissenschaftlichen Tätigkeit trat er auch als Sammler und Herausgeber auf. Mit seiner Edition einer Anthologie von Mongolendramen (Gaiding Yuanxian chuanqi, sinngemäß: Ausgewählte und bearbeitete Yuandramen), einem Meilenstein in der Geschichte des chinesischen Theaters, trug Li, der in Verbindung mit zeitgenössischen Dramatikern wie (→)

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Li Kaixian 李开先

Kang Hai (1475 ‒ 1541) und (→) Wang Jiusi (1468 ‒ 1551) stand, maßgeblich zum Erhalt des zaju-Dramas bei und förderte die Entwicklung der südlichen chuanqi-Versionen, die in der folgenden Generation bei Verfassern wie (→) Xu Wei und (→) Tang Xianzu zur Blüte kamen. Sein eigenes literarisches Schaffen umfaßt zwar nahezu alle Genres der chinesischen Literatur, also auch Gedichte und Lieder, Kritiken und Essays, doch in der Sekundärliteratur ist bislang nur sein dramatisches Werk einer verhaltenen Würdigung für wert befunden worden. Und auch da hat sich das Augenmerk unter den sechs Farcen (yuanben), drei Romanzen (chuanqi) und einem Mongolendrama (zaju) bislang fast ausschließlich auf die heute noch aufgeführte Romanze »Lin Zhong rennt durch die Nacht« gerichtet – so der deutsche Titel einer Arie aus Das Wunderschwert (Baojian ji), die im Juni 2010 in Potsdam in Verbindung mit Glucks Le Cinesi erklang. Hier ist ein Stoff aus dem Roman Die Räuber vom Liang Schan Moor (Shuihuzhuan) adaptiert worden. Es geht um die Flucht des Helden Lin Chong zu den Räubern, um seinen Widersachern zu entkommen. Die eigentliche Bedeutung des Li Kaixian wird vielleicht einmal in seiner Editionstätigkeit, seiner Literaturkritik und in seiner Dichtkunst gesehen werden. Er war in diesen Dingen manchmal seiner Zeit voraus. So beschreibt er zum Beispiel in einer Ballade mit dem Titel »Parabel« die Technik des psychologischen Sieges und den Hang der Chinesen zum Selbstbetrug, Dinge, also, die eigentlich erst dem Werk des (→) Lu Xun (1881 ‒ 1936) zugeschrieben werden. WERKAUSGABEN: Li Kaixian ji, 3 Bde., hg. von Lu Gong, Peking: Zhonghua Shuju, 1959; Li Kaixian quanji, 3 Bde., Peking: Wenhua Yishu, 2004; Ming-Qing chuanqi jianshang cidian, hg. von Jiang Xingyu et al., Shanghai: Shanghai Guji, 2004, Bd. 1, S. 174–190 [kommentierte Auszüge]. ÜBERSETZUNGEN: The Columbia Book of Later Chinese Poetry. Yüan, Ming, and Ch’ing Dynasties (1279 ‒ 1911), übers. von Jonathan Chaves, New York: Columbia University Press, 1986, S. 281‒304. SEKUNDÄRLITERATUR: Bo Jian: Li Kaixian zhuanlüe, Peking: Zhongguo Xiju, 1989; Meng Xiangrong: Li Kaixian yu »Baojian ji«, Jinan: Shandong Wenyi, 2004; Li Yongxiang: »Li Kaixian de wenxue chengjiu – Li Kaixian nianpu xu«, in: Journal of Jinan Vocational College 2/2005, S. 1–3; Tian Yuan Tan: »Rethinking Li Kaixian’s Editorship of Revised Plays by Yuan Masters: A Comparison with his Banter about Lyrics«, in: Text, Performance, and Gender in Chinese Literature and Music. Essays in Honor of Wilt Idema, hg. von Maghiel van Crevel, Tian Yuan Tan u. Michel Hockx, Leiden: Brill, 2009, S. 139–152. [TZ/WK]

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Li Lüyuan 李绿园

Li Lüyuan 李绿园 (eig. Li Haiguan, zi: Kongtang, hao: Lüyuan, Bipu laoren, 1707 ‒ 1790), geb. in Baofeng (Provinz Henan) Li bestand 1796 die Prüfung zum Magister (juren), der jinshi-Doktortitel blieb ihm jedoch trotz mehrerer Reisen in die Prüfungshallen Pekings versagt. Im Jahre 1756 wurde ihm ein Amt für die Inspektion der Wasserstraßen übertragen, was ausgedehnte Reisen durch das Reich zur Folge hatte. Einen Landratsposten im südchinesischen Guizhou erhielt er erst 1772. Drei Jahre darauf, 1775, zog er sich von allen Ämtern zurück und machte sich an die Vollendung des Jahrzehnte zuvor (1748) begonnenen Romans Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng), der schon zu Beginn seiner Amtstätigkeit auf mehr als achtzig Kapitel angewachsen war. Dieses umfassende Werk, das zunächst nur in Abschriften kursierte und erst in den 1920er Jahren in einer gedruckten Fassung erschien, befaßt sich im Stil eines Entwicklungsromans mit dem Thema des verlorenen Sohns, der erst nach zahlreichen Verfehlungen seinen Weg findet. Tan Shaowen, der Held des Romans, weist gewisse Parallelen mit Jia Baoyu im Traum der Roten Kammer (Hongloumeng) auf, doch ist die erzählerische Ausgestaltung der Figur weit individueller angelegt als im Roman von (→) Cao Xueqin. WERKAUSGABEN: Qiludeng, Zhengzhou: Zhongzhou Shuhuashe, 1980. SEKUNDÄRLITERATUR: Dong Zuobin: »Qiludeng zuozhe Li Lüyuan xiansheng«, in: Dong Zuobin pinglun wencun, Bd. 2, Taipeh 1963, S. 45–46; Luan Xing: Qiludeng yanjiu ziliao, o.O.: Zhongzhou Shushe, 1982; Qiludeng luncong, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1982 (Bd. 1), 1984 (Bd. 2); Lucie Borotová: A Confucian Story of the Prodigal Son. Li Lüyuanʼs Novel »Lantern at the Crossroad« (Qiludeng, 1777), Bochum: Brockmeyer, 1991; Xu Yunzhi: Li Lüyuan de chuangzuo guannian ji qi Qiludeng yanjiu, Peking: Zhongguo Shehui Kexue, 2010. [TZ]

Li Mengyang 李梦阳 (zi: Xianji, hao: Kongdong, 1472 ‒ 1529), geb. in Kaifeng (Provinz Henan) Li war ein wichtiger Literaturtheoretiker, dem trotz seines bescheidenen gesellschaftlichen Familienhintergrundes der Aufstieg zu hohen Ministerposten gelang, nachdem er 1493 den Doktortitel (jinshi) erworben hatte. Seine Verwicklung in die Machtkämpfe bei Hofe führte jedoch mehrfach zu Amtsenthebungen und sogar Haftstrafen, bevor er sich 1514 endgültig ins Privatleben zurückzog. Während seiner Amtszeit in Peking 1498 ‒ 1507 stand Li mit einer Gruppe von Dichtern in Verbindung, die den poetischen Idealen der Vergangenheit anhingen (fugu) und als »Sieben Meister der Ming« (Ming qi zi) oder auch »Frühere sieben Meister« (Qian qi zi) bekannt geworden sind. Außer Li gehörten dazu (→) Wang Jiusi (1468 ‒ 1551), Bian Gong (1476 ‒ 1532), (→) Kang Hai (1475 ‒ 1541), Wang Ting-

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Li Qingzhao 李清照

xiang (1474 ‒ 1544), He Jingming (1483 ‒ 1521) und Xu Zhenqing (1479 ‒ 1511) – allesamt Männer, die wie Li erfolgreich aus den Beamtenprüfungen hervorgegangen waren und als Autoren in der Kunst des Dramas oder der Dichtung eine wichtige Rolle spielten. Die maßgeblich von Li Mengyang ins Leben gerufene Bewegung zur Beachtung der dichterischen Ideale der Vergangenheit beherrschte die literarische Welt Chinas fast im gesamten 16. Jahrhundert. In seinen Schriften zur Literatur rief Li zur bewußten Nachahmung der Vorbilder aus der Vergangenheit auf, wobei er in der Prosakunst die Texte der Qin- und Han-Zeit (3. Jh. v.Chr. ‒ 3. Jh. n.Chr.) und in der Dichtung die Werke der Tang-Zeit (618 ‒ 907) zum Maßstab erhob. Mit seinem vehementen Eintreten für die Imitation ging Li nicht nur weit über die Forderungen seines Lehrers (→) Li Dongyang (1447 ‒ 1516) hinaus, er kritisierte auch seine eigenen Anhänger, wenn sie wie He Jingming forderten, neben der Beherrschung der Form mehr Raum für den Ausdruck eigener Vorstellungen zu lassen. Die Bedeutung der Vorbilder lag Li zufolge darin, daß sie nicht nur an sich vollkommen waren, sondern ein umfassendes Verständnis für die menschliche Existenz zum Ausdruck brachten. Von der Nachwelt ist Li Mengyang aufgrund seiner Betonung der Nachahmung dafür kritisiert worden, den literarischen Fortschritt behindert zu haben. Doch gegen Ende seines Lebens formulierte Li selbst neue Einsichten, etwa wenn er erkannte, daß die wahre Dichtung aus den Schichten der breiten Bevölkerung kam (zhen shi nai zai minjian) und daß es den eigenen Gedichten an subjektiver Kraft mangle. WERKAUSGABEN: Kongdong xiansheng ji, hg. von Deng Yunxiao, Shanghai: Shanghai Guji, 1991; Li Mengyang shihua, hg. von Jiang Guangdou, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Jian Jinsong: Li He shilun yanjiu, Magisterarbeit, National Taiwan University, 1980; Xue Zhengchang: Li Mengyang quanzhuan: »Qian qi zi« lingxiu, Changchun: Changchun Chubanshe, 2000. [TZ]

Li Qianfu (→) Li Xingdao Li Qingzhao 李清照 (hao: Yiʼan jushi, 1084 – ca. 1151), geb. in Licheng (heute Jinan, Provinz Shandong) Li Qingzhao gilt als die bedeutendste Dichterin Chinas. Sie entstammte einer in der Provinz Shandong ansässigen, politisch erfolgreichen Gelehrtenfamilie und wuchs in Kaifeng, der Hauptstadt der Nördlichen Song-Dynastie (960 – 1127), auf. Dort hatte ihr Vater Li Gefei (gest. 1106) ab 1086 den Posten eines Universitätsdirektors inne und verkehrte mit Berühmtheiten wie dem Dichter (→) Su Shi

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Li Qingzhao 李清照

und dem Maler Mi Fei (1051 – 1107). Mutter und Vater förderten die literarische Ausbildung ihrer ältesten Tochter und ermöglichten ihr ein vergleichsweise autonomes Frauenleben, indem sie sich z.B. der aufkommenden Mode des Füßebindens verweigerten. 1102 heiratete Li Qingzhao den späteren Inschriftenexperten und leidenschaftlichen Sammler Zhao Mingcheng (1081 – 1129), Sohn des einflußreichen Staatsmannes Zhao Tingzhi (gest. 1107). Die Ehe scheint sehr glücklich gewesen zu sein, vor allem wohl wegen der großen Übereinstimmung in ihren intellektuellen und künstlerischen Interessen. Das Paar lebte die meiste Zeit in Qingzhou (Provinz Shandong) auf dem Anwesen der Familie Zhao und arbeitete unermüdlich am Aufbau von Zhaos Schriften- und Antiquitätensammlung – wohl auch beflügelt durch die liberale Politik des kunstsinnigen Kaisers Huizong (reg. 1101 – 1125). Diese kulturell fruchtbare Ära fand jedoch ein jähes Ende, als die Dschurdschen 1127 Kaifeng eroberten und die Nördliche Song-Dynastie nach Süden vertrieben. Li Qingzhao sah sich in Qingzhou von den Invasoren bedroht, während ihr Mann zur Beerdigung seiner Mutter nach Nanjing gereist war. Sie flüchtete ebenfalls nach Nanjing und mußte einen Großteil der gemeinsamen Sammlung im Norden zurücklassen. Für kurze Zeit lebte das Paar in Nanjing, wo Zhao Mingcheng mit dem Amt des Bürgermeisters betraut wurde. Doch er starb bereits 1129 und hinterließ seine Ehefrau heimatlos. Sie reiste fast zwanzig Monate durch das vom Krieg gezeichnete Land, bis sie sich 1131 in Hangzhou, der Hauptstadt der Südlichen Song-Dynastie (1127 – 1279), niederlassen konnte. Dort soll sie erneut geheiratet haben (vermutlich aus materiellen Beweggründen), die Verbindung zerbrach jedoch schon nach kurzer Zeit wieder. Danach verliert sich Li Qingzhaos Spur, und man kann nur noch andeutungsweise aus ihrer Lyrik auf ihr weiteres Schicksal schließen. Das pralle, freudvolle Leben inmitten der geistigen Elite Chinas, das aus ihren frühen Gedichten spricht, weicht nun der Trauer über den Verlust des Ehemannes Zhao Mingcheng und der Heimat im Norden, die sie beim Wein zu vergessen sucht. Über Li Qingzhao wurde keine offizielle Biographie erstellt, die Dynastiegeschichte der Song-Zeit (Songshi) verzeichnet sie bloß als Tochter Li Gefeis. Die wichtigste Quelle hinsichtlich ihrer Lebensdaten ist ihr autobiographisches Nachwort aus dem Jahr 1134 zu einem noch gemeinsam mit ihrem Mann erarbeiteten (selbst nicht mehr erhaltenen) Katalog von Bronze- und Steininschriften (Jinshilu). Das nur gering und zudem verstreut überlieferte Werk umfaßt fünf Essays, 18 shi-Gedichte und 78 ci-Lieder. Li Qingzhaos ursprünglich umfangreichere Liedsammlung Souyuci ist verlorengegangen. Sowohl ihre eigenen ausdrucksstarken und formal perfekten Lieder als auch ihr Essay »Über die Lieddichtung« (»Cilun«) haben dazu beigetragen, daß nachfolgende Generationen sie unter die besten Lieddichter der chinesischen Literaturgeschichte einreihten. WERKAUSGABEN: Li Qingzhao ji jiaozhu, hg. von Wang Xuechu, Peking: Renmin Wenxue, 1979; Chongji Li Qingzhao ji, hg. von Huang Mogu, Jinan: Jilu Shushe, 1981; Li

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Li Rihua 李日华 Yu Li Qingzhao cizhu, hg. von Liu Yisheng, komm. von Chen Jinrong, Taipeh: Yuan Liu, 1988. ÜBERSETZUNGEN: Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 366–370; Oeuvres Poétiques Complètes, übers. von Paitchin Liang, Paris: Gallimard, 1977; Li Ch’ing-chao. Complete Poems, übers. von Kenneth Rexroth u. Ling Chung, New York: New Directions, 1979; Chinesische Frauenlyrik. Tzi-Lyrik der Sung-Zeit von Li Tschingdschau und Dschu Shu-dschen, übers. von Erich Schwarz, München: dtv, 1985, S. 5‒65; Li Qingzhao. Gedichte, übers. von Hong-chiok Ng u. Anne Engelhardt: Bonn: Engelhardt-Ng Verlag, 1985; Wolfgang Bauer: Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München: Hanser, 1990, S. 302‒309 [Übers. des Nachwortes von 1134]. SEKUNDÄRLITERATUR: Hu Pin-ching: Li Ch’ing-chao, New York: Twayne, 1966; Ling Chung: »Li Qingzhao: The Moulding of Her Spirit and Personality«, in: Woman and Literature in China, hg. von Anna Gerstlacher et al., Bochum: Brockmeyer, 1985, S. 141‒ 164; John Timothy Wixted: »The Poetry of Li Ch’ing-chao«, in: Voices of the Song Lyric in China, hg. von Pauline Yu, Berkeley: University of California Press, 1994, S. 145‒ 168; Dorothee Dauber: Geschliffene Jade. Zum Mythos der Song-Dichterin Li Qingzhao (1084 ‒ 1155?), Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2000; Barbara Beuys: Der Preis der Leidenschaft. Chinas große Zeit: Das dramatische Leben der Li Qingzhao, München: Hanser, 2004. [HP]

Li Rihua 李日华 (zi: Junshi, hao: Zhulan junshi, Jiuyi, Liuyanzhai, 1565 ‒ 1635), geb. in Jiaxing (Provinz Zhejiang) Li war ein Beamtengelehrter zum Ende der Ming-Dynastie (1368 – 1644), der es nach Ablegung der Doktorprüfung (jinshi) 1592 bis zum Zensor brachte. Er hinterließ mehrere Prosawerke und gab das bekannte Drama Westzimmer (Xixiangji) neu heraus. Auch zu den zeitgenössischen Romanen Madame Flamme (Denghua popo), Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und Jin Ping Mei finden sich Ausführungen von ihm. In der Literaturwissenschaft erlangte Li einige Bedeutung mit seinen Erörterungen zur Beziehung zwischen Fiktion (xu) und Wirklichkeit (shi) in der Erzählkunst, nachzulesen im Vorwort zu dem in der klassischen Schriftsprache abgefaßten Roman Geschichte der großen Eintracht (Guangxieshi). Darin geht es u.a. darum, den Lebewesen und einfachen Gegenständen eine Biographie zu verleihen. Li nimmt dieses Mittel der Personifizierung zum Anlaß, das dahinter stehende Prinzip der Fiktionalisierung mit dem buddhistischen Begriff der »Illusion« in Verbindung zu bringen, nach dem auch das nur geistig Vorstellbare Realität besitzt. Li zufolge bedingen und durchdringen das Fiktionale, Erfundene, nicht Faßbare und das Wirkliche, Greifbare einander, etwa wenn reale historische Tatsachen durch phantasievolle Ausmalungen mehr Eindringlichkeit erlangen oder wenn nur Erfundenes, niemals Geschehenes so dar-

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Li Ruzhen 李汝珍

gestellt wird, als handle es sich um eine bezwingende Wirklichkeit. Nur wenn die Literatur diese Verbindungen beachte, so Li, besitze sie Echtheit, Anschaulichkeit und Kreativität. Li Rihuas sicherlich noch sehr grobe Überlegungen zu Fiktion und Wirklichkeit wurden in der Folge von Romanverfassern wie (→) Yuan Yuling und Huang Yue (um 1700) verfeinert. WERKAUSGABEN: Li Rihua shihua, hg. von Jiang Fan u. Wang Yonghao, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. [TZ]

Li Ruzhen 李汝珍 (zi: Songshi, ca. 1763 ‒ ca. 1830), geb. in Daxing (bei Peking) Trotz seiner umfassenden Bildung kam Li bei den staatlichen Prüfungen über den akademischen Grad eines Bakkalaureus (xiucai) nicht hinaus. Seine beruflich unsichere Lage in der Heimat zwang ihn 1782, Aufnahme bei seinem Bruder Li Ruhuang zu suchen, der in Jiangsu das einträgliche Amt eines Steuereinnehmers für das staatliche Salzmonopol bekleidete. In den fast zwanzig Jahren, die Li im Hause des Bruders verbrachte, befaßte er sich – beeinflußt durch den Historiker und Philologen Ling Tingkan (1757 ‒ 1809) – mit Fragen der Phonetik und der Prosodie. In seiner 1805 vorgelegten Studie zum System der Phonetik (Yinjian) ging Li auf die Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen den Dialekten in Nord- und Südchina ein. Fragen der Etymologie, Zeichenlesung usw. tauchen auch in seinem später verfaßten Roman Blumen im Spiegel (Jinghuayuan) immer wieder auf, doch ist gerade dieses Werk viel breiter angelegt, flossen darin doch auch die Erfahrungen ein, die Li als Beamter in der Provinz Henan zwischen 1801 und ca. 1807 gesammelt hatte. Der Roman bietet darüber hinaus ein gutes Beispiel für die Neigung einer damals wachsenden Zahl von Autoren, mittels der Erzählkunst die eigene Gelehrsamkeit zur Schau zu stellen und der Gattung damit zu einem höheren Ansehen zu verhelfen. Die bei all den gelehrten Ausführungen dennoch gewahrte hohe Lesbarkeit des Romans kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Li viel Zeit seines Lebens auf die Abfassung der Blumen verwandte, wie auch der Umstand zeigt, daß er die erste Drucklegung 1818 in Suzhou selbst überwachte und 1821 eine korrigierte Fassung vorlegte. Einer größeren Öffentlichkeit wurde der Roman allerdings erst mit der Ausgabe bekannt, die 1828 erschien. In der Literaturkritik erweckte vor allem das längste Romankapitel Interesse, in dem es um die Zustände in einem utopischen »Land der Frauen« geht und in dem Li auf eine erfrischende Weise mittels des Rollentausches eine Reihe von Sitten anprangert, unter denen Frauen damals zu leiden hatten. Als einzelne Studie schließlich, die Lis Aufgeschlossenheit gegenüber der Kunst des Spiels unterstreicht, ist hier noch sein Handbuch zum chinesischen Schachspiel (Shouzipu) anzuführen.

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Li Shangyin 李商隐 WERKAUSGABEN: Jinghuayuan, Anm. von Zhang Youhe, Peking: Renmin Wenxue, 1990; Shouzipu, Yangzhou: Jiangsu Guangling, 1991. ÜBERSETZUNGEN: Li Ju-chen: Flowers in the Mirror, übers. von Lin Tai-yi, Berkeley u.a.: University of California Press, 1965; Im Land der Frauen, übers. von F.K. Engler, Zürich: Die Waage, 1970. SEKUNDÄRLITERATUR: Hsin-Sheng C. Kao: Li Ju-chen, Boston: Twayne, 1981; Ping Ping Lee: Representations of Women and Satire. »Gulliverʼs Travels« and »Flowers in the Mirror«, Diss., University of Alberta, Kanada, 1993; Wang An-chi: »Gulliverʼs Travels« and »Ching-huayuan« Revisited. A Menippean Approach, New York u.a.: Peter Lang, 1995. [TZ]

Li Shangyin 李商隐 (zi: Yishan, hao: Yuxisheng, Fannansheng, ca. 813 – 858), geb. in Huojia (Provinz Henan) Li Shangyin, einer der letzten großen Dichter der Tang-Zeit (618 – 907), verbrachte seine Kindheit und Jugend bei Verwandten in Zhengzhou und Luoyang (Provinz Henan), nachdem sein Vater (zuletzt Magistrat in Huojia, Provinz Henan) 821 verstorben war. Bereits im Alter von 24 Jahren (837) nahm er – mit Hilfe seines Mentors, des Militärgouverneurs Linghu Chu, und dessen Sohn Linghu Dao – erfolgreich am staatlichen jinshi-Doktorexamen teil. Im Jahr darauf heiratete er die Tochter des Militärgouverneurs Wang Maoyuan. Von da an wurde Li Shangyin in einer höfischen Fraktionsfehde aufgerieben, denn während die Familie seines inzwischen verstorbenen Förderers Linghu Chu den eher traditionsbewußten Politiker Niu Sengru (779 – 847) unterstützte, hielt die Familie seiner Frau zu dem Reformer Li Deyu (787 – 850). Sehr wahrscheinlich kam Li Shangyin deshalb zeitlebens nicht über die kleineren Posten hinaus, die er in der Hauptstadt Chang’an (heute Xiʼan) und in verschiedenen Präfekturen des Reiches (unter insgesamt sechs verschiedenen Tang-Kaisern) innehatte. Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 853 wandte er sich dem buddhistischen Glauben zu. Aller Ämter beraubt, starb er fünf Jahre später im Alter von nur 45 Jahren in Zhengzhou. Als Dichter ist Li Shangyin vor allem für seine »dunkle«, mehrdeutige und bildreiche Sprache bekannt. Seine Lyrik wurde später als überladen (»barock«) und manieriert kritisiert, da sie – nur für eine gebildete Leserschaft gedacht und geeignet – voller literarischer und historischer Anspielungen steckt, die eine Vielzahl möglicher Interpretationsansätze provozieren. Allerdings überwiegen die späteren Bewunderer eben dieser sprachlichen Dichte, insbesondere in seinen Gedichten »Ohne Titel« (»Wu ti«). Einige seiner sinnlichen, stark verschlüsselten Liebesgedichte könnten an eine Konkubine seines Schwiegervaters Wang Maoyuan gerichtet sein. Falls diese Theorie (eine von vielen) zutrifft, muß es sich um eine sehr riskante Verbindung gehandelt haben. Allerdings könnte sich hinter manchem dieser Liebesgedichte an eine unbekannte Dame auch die Sehnsucht nach

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Li Xingdao 李行道

besseren Zeiten verbergen – angesichts des drohenden Niedergangs der TangDynastie. Diese Vermutung wird von der Tatsache gestützt, daß Li Shangyins Werk auch glasklare, vor Geist sprühende Verse kennt, in denen er mit überraschender – häufig ironisch-kritischer – Offenheit seine Zeit betrachtet. Li Shangyins Werk umfaßt 598 Gedichte, wovon immerhin 24 in die berühmte Sammlung der Dreihundert Tang-Gedichte (Tangshi sanbai shou) aus den Jahren 1763/64 aufgenommen wurden. Er bevorzugte den klassischen Achtzeiler (lüshi) und das Langgedicht (pailü). Meisterhaft beherrschte er auch den Parallelstil der pianwen-Prosa. WERKAUSGABEN: Quan Tang shi suoyin: Li Shangyin juan, hg. von Luan Guiming et al., Peking: Zhonghua Shuju, 1991. ÜBERSETZUNGEN: Erwin Ritter von Zach: Han Yü’s poetische Werke, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1952, S. 353‒373; Poems of the Late Tʼang, übers. von A.C. Graham, Harmondsworth: Penguin, 1965, S. 141‒173; Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 240‒244; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 303‒330; Amour et Politique dans la Chine Ancienne. Cent Poèmes de Li Shangyin, übers. von Yves Hervouet, Paris: De Boccard, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: James J.Y. Liu: The Poetry of Li Shang-yin. Ninth Century Baroque Chinese Poet, Chicago u. London: University of Chicago Press, 1969; Chia-ying Yeh: »Li Shang-yin’s Four Yen-t’ai Poems«, in: Renditions 21/22 (Spring & Autumn 1984), S. 41‒92; Teresa Yee-Wah Yu: Li Shang-yin: The Poetry of Allusion, Diss., University of British Columbia, 1990; Stephen Owen: »What did Liuzhi Hear? The Yan Terrace Poems and the Culture of Romance«, in: T’ang Studies 13 (1995), S. 81‒118. [HP]

Li Xingdao 李行道 (eig. Li Qianfu, um 1300), geb. in Fengzhou (heute Xinfeng, Provinz Shanxi) Der Kreidekreis (Huilan ji) ist das einzige überlieferte Werk des Autors. Von diesem weiß man nur, daß er aus Enttäuschung als Beamter ein zurückgezogenes Leben geführt hat. Man kennt ihn im Westen hauptsächlich als Li Xingdao (oder in ähnlichen Schreibweisen), in China dagegen eher als Li Qianfu. Während besagtes Mongolendrama (zaju) von der chinesischen Literaturwissenschaft bislang eher vernachlässigt worden ist, haben sich die deutsche Germanistik und die deutsche Sinologie seiner besonders angenommen. Ausschlaggebend dürften hierfür vor allem zwei Gründe sein: Zum einen haben deutsche Autoren, allen voran Bertolt Brecht (1898 ‒ 1956, Der Kaukasische Kreidekreis, 1944/45), das Motiv vielfach weiterverarbeitet, zum anderen meint man eine Nähe zu einem Salomonischen Urteil im Alten Testament (1. Könige 3, 16–28) erkennen zu können. Der Autor wird jedoch als Vorlage eher auf die indische Sammlung Jātaka,

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Li Xingdao 李行道

die Geschichte früherer Geburten des Buddha, zurückgegriffen haben, und zwar auf »Die Erzählung vom großen Kanal« (»Mahā-Ummaga-Jākata«, Nr. 546). Dort wird nämlich ein ähnlicher Gerichtsfall überliefert. Diese Sammlung liegt seit der Nördlichen Wei-Dynastie (386 ‒ 534) in der Übersetzung des buddhistischen Mönchs Huijiao (497 ‒ 554) als Xianyu jing (Klassiker der Weisheit und Dummheit) vor. Das Drama wird der Gattung der sogenannten Gerichtsstücke (gonganxi) zugerechnet. Da tritt meist die sakrosankte Gestalt des Richters Bao auf, der dank seiner Weisheit und Gerechtigkeit der durch Frevel zerstörten Ordnung wieder zu ihrem Recht verhilft. So auch hier. Die Handlung trägt sich zur Song-Zeit (960 ‒ 1279) zu und spielt an zwei Orten, zunächst in Zhengzhou und dann in der damaligen Hauptstadt, dem heutigen Kaifeng, das ungefähr 60 Kilometer entfernt liegt. Das Stück besteht aus vier Akten und einem Vorspiel. Die Kurtisane Zhang Haitang stammt eigentlich aus gutem Hause. Sieben Generationen haben zum Status einer Gelehrtenfamilie beigetragen, doch auf Grund von Verarmung sieht sich die Heldin dazu gezwungen, ihr Lächeln zu verkaufen, um die Familie (Mutter, Bruder) zu ernähren. Hofrat Ma begehrt sie zur Konkubine. Die Heirat mit ihm ist eine gute Partie, doch die Hauptfrau schmiedet Ränke, sie entfremdet Haitang den Bruder, vergiftet ihren Mann und schiebt Haitang die Schuld zu. Die Heldin kommt in Zhengzhou vor Gericht und wird verurteilt. Nun (im dritten Akt) soll sie nach Kaifeng gebracht werden, um dort endgültig zum Tode verurteilt und hingerichtet zu werden. Doch sie hat doppeltes Glück: Unterwegs trifft sie auf ihren Bruder, mit dem sie sich aussöhnt, und ihr Richter ist der große Bao Zheng, der (im vierten Akt) mit Hilfe eines Kreidekreises die Wahrheit herauszufinden versucht. Um an das Erbe ihres Mannes zu kommen, hat die Hauptfrau Anspruch auf das von Haitang geborene Kind erhoben. Dieses wird nun in den besagten Kreis gestellt, aus dem es von der vermeintlich wahren Mutter herausgezogen werden soll. Die wahre Mutter verzichtet jedoch, um den Sohn vor Schmerzen zu bewahren. So hat es Richter Bao leicht, ein gerechtes Urteil zu fällen. Der Wert des Stückes dürfte aus heutiger Sicht in dem Erkenntnisgewinn von Geld und Gerichtsbarkeit zu Beginn der chinesischen Neuzeit liegen. Wie in vielen anderen Stücken der damaligen Zeit auch ist die klingende Münze der Nerv aller Dinge: Jeder im Amt läßt sich kaufen und bestechen, jeder wird dem Nächsten zum Feind, selbst in der eigenen Familie. Wenn auch der Schluß des Dramas idealistisch ist und manche Person überzeichnet wurde, so kann dem Autor eine realistische Sicht der damaligen Gesellschaft doch nicht abgesprochen werden. Übersetzungen in westliche Sprachen liegen seit 1832 vor, wobei sich besonders der deutsche Sprachraum hervorgetan hat. Hier gibt es insgesamt mindestens fünf verschiedene Versionen, nämlich vier Adaptionen bzw. Bearbeitungen und eine einzige nach wie vor maßgebliche Übersetzung. Diese stammt von dem Sinologen Alfred Forke, der sich des chinesischen Theaters immer wieder als Übersetzer angenommen hat. Seine Übertragungen zeichnen sich durch Genauigkeit und gute Lesbarkeit aus.

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Li Yu 李煜 WERKAUSGABEN: Yuanqu xuan, hg. von Zang Maoxun, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1998, S. 501‒512. ÜBERSETZUNGEN: Hui-lan ki. Der Kreidekreis, übers. von Alfred Forke, Leipzig: Reclam, [1927]. SEKUNDÄRLITERATUR: Adrian Hsia: »Eindeutschung des Kreidekreismotivs«, in: Ein Theatermann. Theorie und Praxis. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Badenhausen, hg. von Ingrid Nohl, München: Nohl [Selbstverlag], 1977, S. 131‒142; Wolfgang Kubin: »Das Motiv des Kreidekreises«, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 1981, S. 512‒516; Jen-Te Chen: Der Kreidekreis in der deutschen Dramenliteratur, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1991; Peter Yang: Theater ist Theater. Ein Vergleich der Kreidekreisstücke Bertolt Brechts und Li Xingdaos, Bern: Peter Lang, 1998. [WK]

Li Yu 李煜 (eig. Li Congjia, zi: Chongguang, hao: Nan Tang Houzhu [»Letzter Herrscher der Südlichen Tang«], 937 – 978), geb. in Xuzhou (Provinz Jiangsu) oder Huzhou (Provinz Zhejiang) Während man (→) Wen Tingyun (ca. 737 – ca. 792) als den avantgardistischen Erfinder der Lieddichtung (ci) verehrt, gilt Li Yu als der Dichter, dem es gelungen ist, das neue (zunächst weitestgehend auf die Liebeslyrik beschränkte) Genre als anerkannte und thematisch offene literarische Form zu etablieren, die in der SongZeit (960 – 1279) ihre Blüte erleben sollte (vgl. hierzu auch [→] Liu Yong). Li Yu galt nicht nur als begnadeter Lyriker, sondern auch als hochtalentierter Musiker und Maler. Im Jahre 961 beerbte er seinen Vater Li Jing (reg. 943 – 961), ebenfalls ein bedeutender Literat, als dritter und letzter Herrscher der Südlichen Tang-Dynastie (937 – 975), die sich seit dem Ende der Tang-Dynastie im Jahr 907 und dem darauffolgenden Zerfall des Reiches als eigenständige Dynastie zu behaupten suchte. 975 mußte Li Yu sich in seiner Hauptstadt Nanjing (Provinz Jiangsu) der Song-Dynastie unterwerfen. Er verbrachte die letzten drei Jahre seines Lebens in Kaifeng, der neuen Hauptstadt des wieder geeinten Reiches, unter Hausarrest. Nur 45 der zumeist zweistrophigen ci-Lieder Li Yus sind erhalten geblieben: 13 Lieder aus seinen frühen Jahren bis zum Tod seiner ersten Frau 964, 18 aus der Zeit seiner Regentschaft und 14 aus den letzten drei Jahren in Gefangenschaft. Besonders seine frühe, sehr sinnliche Liebeslyrik und die späten, stark autobiographischen Lieder machten Li Yu als Lieddichter unsterblich. Mit ihm gewann die ci-Dichtung eine rationalere Komponente, indem sie nicht mehr nur im Emotionalen (allzu oft im Sentimentalen) befangen blieb, sondern im persönlichen Ausdruck auch verallgemeinernde Zeit- und Lebensbetrachtungen zuließ. WERKAUSGABEN: Li Houzhu ci, hg. von Dai Jingsu, Shanghai: Shangwu Yinshuguan, 1927; Li Yu Li Qingzhao cizhu, hg. von Liu Yisheng, komm. von Chen Jinrong, Taipeh: Yuan Liu, 1988.

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Li Yu 李渔 ÜBERSETZUNGEN: Die Lieder des Li Yü, 937 ‒ 978, Herrscher der Südlichen Tʼang-Dynastie, übers. von Alfred Hoffmann, Köln: Greven, 1950; Lyric Poets of the Southern Tʼang: Feng Yen-ssu, 902 ‒ 960, and Li Yü, 937 ‒ 978, übers. von Daniel Bryant, Vancouver: University of British Columbia Press, 1982. SEKUNDÄRLITERATUR: Kang-i Sun Chang: The Evolution of Chinese Tz’u Poetry: From Late T’ang to Northern Sung, Princeton: Princeton University Press, 1980; Daniel Bryant: »The Hsieh Hsia En Fragments by Li Yu and His Lyric to the Melody Lin Chiang Hsien«, in: CLEAR 7 (1985), S. 37‒66; Tian Jujian: Li Yu zhuan, Peking: Dangdai Zhongguo, 1995. [HP]

Li Yu 李渔 (eig. Li Xianlü, zi: Zhefan, Lihong, hao: Liweng, Lidaoren, Suiʼan wuren, Hushang ligong, 1611 ‒ 1680), geb. in Lanxi (Provinz Zhejiang) Lis Leben war in hohem Maße von den unsicheren Zuständen zur Zeit des Dynastiewechsels Mitte des 17. Jahrhunderts geprägt. Im Jahre 1635 bestand er zwar noch die Examina zum Bakkalaureus (xiucai), fiel aber später bei den Provinzprüfungen durch und gab seine Ambitionen auf einen Beamtenposten nach der Machtübernahme durch die Mandschuren (1644) schließlich ganz auf. Geraume Zeit lebte Li zurückgezogen in seiner Heimat und betätigte sich in der Landwirtschaft. Im Jahre 1651 übersiedelte er nach Hangzhou, wo er zehn literarisch sehr produktive Jahre verbrachte, protegiert durch die örtliche Beamtenschaft zu einigem Ansehen gelangte und mit seinen Werken ein größeres Publikum erreichte. Lis Umzug nach Nanjing 1660 mochte auch damit zu tun haben, daß er in Hangzhou nicht mehr die schützende Hand von Zhang Jinyan, der ihn protegiert hatte, über sich spürte, war dieser doch politisch in Ungnade gefallen und wurde später hingerichtet. Lis künstlerischer Schaffensfreude tat der Ortswechsel keinen Abbruch, in Nanjing begann er seine Verlegertätigkeit. In seinem Verlag »Senfkorngarten« (Jieziyuan) erschienen damals zahlreiche Romane und Theaterstücke. Allem Anschein nach sah Li die Kunst als Ersatz für eine Karriere als Beamter. Als Direktor einer eigenen Theatertruppe bereiste er weite Teile des Reiches und gelangte in entfernte Provinzen wie Guangdong (1666), Gansu (1667) und Fujian (1670). Daß es ihm dabei um mehr als bloße Unterhaltung ging, zeigen seine Kontakte zu den führenden Denkern seiner Zeit wie (→) Wang Shizhen, Zhou Lianggong (1612 ‒ 1672) und (→) Wu Weiye. Lis vielfältiges literarisches Werk umfaßt neben mehreren Theaterstücken wie Sehnsucht nach der Geliebten (Lianxiangban, um 1654) und Das Phönixmännchen wirbt um das Phönixweibchen (Huangqiufeng, 1666 vollendet) eine Reihe von ihm herausgegebener Novellensammlungen, darunter Das lautlose Theater (Wushengxi) und Die zwölf Türme (Shiʼer lou). Das Romanwerk besteht aus dem Erotikon Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan) sowie möglicherweise aus

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Li Yu 李玉

Das Palindrom (Huiwenzhuan), doch wird Lis Verfasserschaft des letztgenannten Werkes mittlerweile stark angezweifelt. Neu war bei Li Yu die Darstellung von gesellschaftlichen Randgruppen wie Schauspielern, Clowns und Homosexuellen, die bis dahin in der Literatur nicht thematisiert worden waren. Die Stärke von Lis Erzählungen liegt sicherlich in der Originalität der dargestellten Typen. Lis Neigung, die Grenzen der literarischen Tradition zu überschreiten, spiegelt sich auch in einer Reihe von Essays wider, die unter dem Titel Müßige Gedanken (Xianqing ouji) erschienen. Darin legt Li als Gegenposition zu den strengen Regeln des Konfuzianismus seine Auffassungen von Lebensfreude dar. Enthalten sind in dem Band u.a. auch Ausführungen zur Bildung der Frauen, eine Stellungnahme gegen das Einbinden der Füße, die Prinzipien der Gartenkunst sowie eine Abhandlung zu den leiblichen Genüssen. WERKAUSGABEN: Li Yu quanji, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1992. ÜBERSETZUNGEN: Der Turm der fegenden Wolken. Altchinesische Novellen, übers. von Franz Kuhn, München: Goldmann, 1965; Li Yu: Jou Pu Tuan. Ein erotisch-moralischer Roman aus der Ming-Zeit (1633), übers. von Franz Kuhn, Bruck u.a.: Fackel-Verlag, 1972; Zwei chinesische Singspiele der Qing-Dynastie (Li Yu und Jiang Shiquan), übers. von Alfred Forke, hg. von Martin Gimm, Stuttgart: Franz Steiner, 1993; Li Liweng: Der schönste Knabe aus Peking. Vier Novellen aus der frühen Qing-Zeit, übers. von Martin Gimm und Helmut Martin, hg. von Tianchi Martin-Liao, Dortmund: projekt verlag, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: Helmut Martin: Li Li-Weng über das Theater (Diss., Universität Heidelberg, 1966), Taipeh: Meiya Publications, 1968; Nathan K. Mao u. Liu Tsʼun-yan: Li Yü, Boston: Twayne, 1977; Patrick Hanan: The Invention of Li Yu, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1988; Stephan Pohl: Das lautlose Theater des Li Yu (um 1655): eine Novellensammlung der frühen Qing-Zeit, Walldorf-Hessen: Verlag f. Orientkunde, 1994. [TZ]

Li Yu 李玉 (zi: Xuanyu, hao: Sumen xiaolü, Yili’an zhuren, 1611 ‒ 1681), geb. im heutigen Suzhou (Provinz Jiangsu) Der Theatermann Li Yu ist zu unterscheiden von dem Dichter (→) Li Yu (937 ‒ 978) und von dem Multitalent (→) Li Yu (oder: Li Liweng, 1611 ‒ 1680). Da seine Bedeutung erst in letzter Zeit erkannt worden ist, fällt die Sekundärliteratur zu ihm vergleichsweise spärlich aus. Selbst einschlägige biographische Nachschlagewerke führen ihn gar nicht. Grund sind die wenigen überlieferten Aufzeichnungen von seinem Leben. Man weiß nur, daß er aus ärmlichen Verhältnissen stammte und unter der Ming-Herrschaft an Prüfungen teilgenommen hat. Trotz seiner Gelehrsamkeit hat er mit der Machtübernahme durch die Mandschuren (1644) alle Aspirationen auf eine Beamtenkarriere aufgegeben, um sich ganz dem Theater zu widmen. Man weiß, daß er dem Haushalt des Hofbeamten Shen Shixing (1535 –

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Li Zhen 李祯

1614) nahe Suzhou verbunden war, der die besten Theaterensembles in der Gegend engagierte. Hieraus erklärt man sich die guten Kenntnisse des Li Yu in Sachen Musik, die in seiner »Liste zur richtigen Tonlage des klassischen Liedes aus dem Norden« (»Beici guangzheng jiugong pu«) zum Ausdruck kommen. Li Yu werden von den Quellen inzwischen 42 Theaterstücke zugeschrieben, von denen derzeit 21 als erhalten gelten. Er gehört zur Suzhouer Schule und ist ihr wichtigster Vertreter. Ganz nach dem Gusto seiner Zeit hat er Romanzen (chuanqi) verfaßt, hat seinen Stoff aber aus der Welt des Alltags bzw. aus dem wirklichen Leben genommen. Am deutlichsten wird dies an seinem bekanntesten Stück Eine Handvoll Schnee (Yi peng xue). Hier entpuppt er sich als der Autor, als der er später bekanntgeworden ist, nämlich als Moralist, der es liebt, die kleinen Leute in einem besseren Licht erscheinen zu lassen als die oberen Zehntausend. In den Jahren der Ära Wanli (1573 – 1620) hatten der Minister Yan Song und sein Sohn Yan Shifan sich in Machtkämpfen versucht. Objekt ihrer Begierde war auch die heute weltberühmte Rolle »Flußansicht zur Zeit von Allerseelen« (»Qingming shanghe tu«) gewesen. Aus dieser Rolle macht der Dramatiker einen wertvollen Jadebecher, der für die Reinheit von Schnee steht. Beim Kampf um diesen Becher und bei den zu erwartenden Todesfolgen gelingt es einem Diener und einer Konkubine, sich als vollkommene Verkörperung traditioneller Tugenden zu erweisen. WERKAUSGABEN: Li Yu xiju ji, 3 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 2004; Ming-Qing chuanqi jianshang cidian, hg. von Jiang Xingyu et al., Shanghai: Shanghai Guji, 2004, Bd. 2, S. 882–999 [kommentierte Auszüge]. SEKUNDÄRLITERATUR: Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 556–586. [WK]

Li Zhen 李祯 (besser bekannt unter dem zi als: Li Changqi, hao: Yunpi jushi, Qiaoʼan, 1376 ‒ 1451), geb. in Ji᾽an (Provinz Jiangxi) Li Zhen machte nach abgelegter Doktorprüfung (jinshi) im Jahre 1404 zunächst eine glänzende Karriere bei Hofe, wurde zum geschätzten Berater, hohen Beamten im Ritenministerium und Gouverneur der Provinz Guangxi. Aufgrund seines umfangreichen Wissens lud man ihn ein, Mitverfasser der Enzyklopädie Yongle dadian zu werden. In den Jahren zwischen 1419 und 1425 fiel er vorübergehend in Ungnade und wurde zum Frondienst bei Peking verurteilt. Li Zhens wichtigste literarische Hinterlassenschaft ist die um 1433 im Druck erschienene Novellensammlung Weitere Gespräche beim Putzen der Lampe (Jiandeng yuhua), die den Neuen Gesprächen beim Putzen der Lampe (Jiandeng xinhua) des (→) Qu You nachgebildet war. Gleich ihrem Vorbild behandeln die Novellen des jüngeren Autors sowohl übernatürliche Stoffe – wie Geistererscheinungen und Unterweltreisen – als auch mehr bürgerliche Liebesgeschichten, teils ästhetisch-

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Li Zhi 李贽

lasziv, teils gefühlvoll und fast sentimental. In den zahlreichen lyrischen Einlagen zeigte sich Li als äußerst gewandter Dichter, der die verschiedensten Gedicht- und Liedformen elegant meistert und auch gelegentlich formale Kunststücke wie Centos und Palindrome anbringt. Einige Geschichten, die sich unschwer als kritische Anspielungen auf aktuelle politische Mißstände verstehen ließen, führten Mitte des 15. Jahrhunderts zum Verbot. Von umgangssprachlichen Autoren Ende des 16. Jahrhunderts vielfach nacherzählt, dienten die Novellen nicht nur in China als Vorlagen für Theaterstücke, sondern wurden auch in Japan und Korea rasch bekannt. WERKAUSGABEN: Jiandeng yuhua, Shanghai: Shanghai Guji, 1981; Li Changqi shihua, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Gushi, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Die Goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden, übers. von Wolfgang Bauer u. Herbert Franke, München: Hanser, 1959 [mit sechs Novellen]. SEKUNDÄRLITERATUR: Herbert Franke: »Zur Novellistik der frühen Ming-Zeit: Das ›Chienteng yü-hua‹ des Li Ch’ang-ch’i«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 109, 2 (1959), S. 340‒401. [TZ]

Li Zhi 李贽 (eig. Li Zaizhi, zi: Hongfu, Sizhai, Zhuowu, Wenling jushi etc., 1527 ‒ 1602), geb. in Jinjiang (Provinz Fujian) Unter dem Namen Li Zaizhi legte der spätere Li Zhi 1552 noch die Magisterprüfung (juren) ab, wechselte aber seinen Namen, als Kaiser Muzong 1567 den Thron bestieg, da der persönliche Name des Herrschers ebenfalls ein »zai« enthielt und deshalb mit einem Tabu belegt war. Aufschlußreich für Lis Außenseiterrolle ist eine familiäre Besonderheit, finden sich doch unter seinen Vorfahren Handelsleute und Moslems. Li selbst diente geraume Zeit an mehreren Lehranstalten in ganz China, bevor er Präfekt in Yaoʼan wurde, ein Amt, das er bis 1580 ausübte. Nach seiner Entlassung zog er sich in ein Kloster in Hubei zurück und wurde zum buddhistischen Mönch. Im Jahre 1602 nahm man ihn unter dem Vorwurf der Anstiftung zum Aufruhr in Peking fest, wo er in der Haft Selbstmord beging. Li Zhi gilt in der chinesischen Geistesgeschichte als ein prominenter konfuzianischer Häretiker, der sich – beeinflußt von Wang Gen (1483 ‒ 1541) – gegen die starre Tradition wandte und die Verfälschung der Geschichtsschreibung ebenso anprangerte wie die Bigotterie der Gelehrtenbeamten. Seine Briefe und Essays über Geschichte und Philosophie sind in seinem Buch zum Verbrennen (Fenshu) enthalten, das Leben von mehr als hundert historischen Persönlichkeiten hat er in seinem Buch zum Verbergen (Cangshu) sowie der Fortsetzung zum Buch zum Verbergen (Xu cangshu) festgehalten. Auf die Literatur übte Li vor allem durch sein Eintreten für die volkstümlichen Werke Einfluß aus. Zu den Dramen und

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Liang Bingjun 梁秉钧

Romanen, die er entweder herausgab oder mit Kommentaren versah, gehören Werke wie Die Laute (Pipaji), Das Westzimmer (Xixiangji), Die Räuber vom LiangshanMoor (Shuihuzhuan) und Die Geschichte der Drei Reiche (Sanguo yanyi). Die überlieferte orthodoxe Literatur stellt in Lis Augen keine echte Literatur dar, da sie nicht dem wahren Wesen des Menschen entspreche, das sich durch das »kindliche Herz« (tongxin) auszeichne und soviel bedeute wie echt, aufrichtig und unverstellt zu sein – alles Eigenschaften, die einbüße, wer sich dem Einfluß der orthodoxen Schriften aussetze. Jenes »kindliche Herz« sieht Li in einer Reihe von literarischen Gattungen manifestiert, angefangen bei den frühesten Dichtungen der Antike über die chuanqi-Erzählungen und das Yuan-Drama bis hin zu den Romanen seiner eigenen Zeit. Wenn ein Autor die einfachen Dinge im Leben vernachlässigt, ist er nach Lis Vorstellung niemals in der Lage, echte Literatur zu verfassen. Auch zur Entwicklung des chinesischen Katharsis-Konzeptes – »aus Wut Bücher schreiben« (fa fen zhu shu) – leistete Li einen wichtigen Beitrag. Anders als die antiken Autoren (→) Qu Yuan und (→) Sima Qian wandte er dieses Konzept auf die umgangssprachliche Literatur an und schuf subtile politische Bezüge, die auf die Veränderung der gesellschaftlichen Zustände zielten. Lis Gedanken entfalteten ihren Einfluß weit über seine Zeit hinaus, sie spielten eine wichtige Rolle zur Zeit der Bewegung des Vierten Mai (1919) und Anfang der 1970er Jahre, als einige von Lis wichtigsten Schriften neu herauskamen, in der politischen Kampagne gegen Lin Biao (1907 ‒ 1971). WERKAUSGABEN: Cangshu, Peking: Zhonghua Shuju, 1961; Fenshu, Peking: Zhonghua Shuju, 1961; Xu cangshu, Peking: Zhonghua Shuju, 1974; Li Zhi wenji, hg. von Zhang Jianye, Peking: Shehui Kexue, 2000. SEKUNDÄRLITERATUR: Chan Hok-lam: Li Chih, 1527 ‒ 1602, in Contemporary Chinese Historiography. New Light on His Life and Works, White Plains: M. E. Sharpe, 1980; Wilfried Spaar: Die kritische Philosophie des Li Zhi (1527 ‒ 1602) und ihre politische Rezeption in der Volksrepublik China, Wiesbaden: Harrassowitz, 1984; Ray Huang: 1587 – Ein Jahr wie jedes andere. Der Niedergang der Ming, aus d. Amerikanischen von Gudrun Wacker, Frankfurt a.M.: Insel, 1986, S. 319‒370; Yan Lieshan u. Zhu Jianguo: Li Zhi zhuan, Peking: Shishi, 2000. [TZ]

Liang Bingjun 梁秉钧 (auch: Leung Ping-kwan, Pseudonym: Ye Si, ca. 1949 – ), geb. in Hongkong Bevor Liang Bingjun (kantonesisch: Leung Ping-kwan) sein Studium an der Universität Hongkong und an der Lingnan-Universität abschloß, arbeitete er bereits für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. In den 60er Jahren war er zunächst als Übersetzer französischer und lateinamerikanischer Literatur tätig, später verfaßte er Erzählungen. Seit den 80er Jahren trat er zunehmend als Dichter an die

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Öffentlichkeit. Er wurde mehrfach von internationalen Stiftungen eingeladen, unter anderem 1998 mit einem Stipendium des DAAD für ein Jahr nach Berlin. Liangs literarischer Blick gilt in erster Linie der Stadt Hongkong. Der Dichter setzt sich intensiv mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Stadt und ihren unterschiedlichen politischen und kulturellen Prägungen auseinander – als ehemaliger britischer Kronkolonie einerseits und jetzigem Teil Chinas andererseits – und erkundet angesichts dieser Lebenssituation zwischen Vergangenheit und Gegenwart intensiv die kulturelle Identität Hongkongs. Durch die Beobachtung des Alltagslebens und die Wahrnehmung scheinbar flüchtiger Dinge wie Essen und Trinken entsteht in seiner dichterischen Phantasie eine einzigartige Welt, die voller Unruhe, Dynamik, Ambivalenz und Leben ist. In engem Bezug zur Thematisierung der Identitätssuche stehen auch das Unterwegssein des Dichters und seine Auffassung von einer modernen Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung. Liang Bingjun verleiht darüber hinaus seiner Poesie einen besonderen Charakter, indem er zum einen die Ästhetik der Postmoderne mit der klassischen chinesischen Ästhetik der Schlichtheit (pingdan) verbindet (Wolfgang Kubin) und zum anderen auch sprachlich immer neue poetische Ausdrücke aus dem kreativen Umgang mit dem klassischen wie dem modernen Chinesisch und dem Kantonesischen schöpft. Heute ist Liang Bingjun Professor für Kreatives Schreiben an der LingnanUniversität in Hongkong. WERKAUSGABEN: City at the End of Time, übers. von Gordon T. Osing u. Leung Ping-kwan, Hongkong: Twilight Books, 1992 [zweisprachig chin.-engl.]; Travelling with a Bitter Melon. Selected Poems 1973 ‒ 1998, hg. von Martha P.Y. Cheung, Hongkong: Asia 2000, 2002 [zweisprachig chin.-engl.]. ÜBERSETZUNGEN: »Unterwegs«, übers. von Wolfgang Kubin, in: minima sinica 2/1991, S. 105‒119; Seltsame Geschichten von Vögeln und Blumen. Gedichte, übers. von Wolfgang Kubin, Hongkong: [ohne Verlag], 2000; Von Politik und den Früchten des Feldes, Berlin: DAAD, 2000; »Bilder von Hongkong. Gedichte von Leung Ping-kwan«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Orientierungen 1/2003, S. 126‒134; »Die Stadt mit der Maske«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Orientierungen 2/2003, S. 133‒135; »Liebe in Zeiten von Sars«, übers. von Wolfgang Kubin, in: ebd., S. 136‒144; Von Jade und Holz. Gedichte, übers. von Wolfgang Kubin, Klagenfurt: Drava, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Rey Chow: »Consumption and Eccentric Writing: Notes on Two Hong Kong Authors«, in: Communal/Plural 7, 1 (1999), S. 45–58; Wolfgang Kubin: »Ein Blatt am Rand. Bemerkungen zur neueren Lyrik von Leung Ping-kwan«, in Orientierungen 1/1999, S. 105‒111; ders.: »Irma Vep, Batman and Monster City. Film and Poetry: A Perspective from Hongkong«, in: Orientierungen 1/2001, S. 116‒124; ders.: »What shall We Do? Preliminary Remarks to Traits of Post-Modernism in the Formative Period (1978 ‒ 1984) of the Poet Liang Bingjun (Leung Ping-kwan)«, in: Orientierungen 1/2001, S. 125‒133; ders.: »Von Speisen und Karten. Der Hongkonger Schriftsteller Leung Ping-kwan«, in: Akzente 5/2005, S. 460‒462. [WH]

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Liang Chenyu 梁辰鱼

Liang Chenyu 梁辰鱼 (zi: Bolong, hao: Shaobai, Chouchi waishi, ca. 1521 – ca. 1594), geb. in Kunshan (heute Provinz Jiangsu) Liang Chenyu gilt als Erfinder der Kunqu-Oper. Neben dem Theater (chuanqi, zaju) hat er sich aber auch der Dichtung und der Musik befleißigt. Er hat zeit seines Lebens kein Amt innegehabt und ist viel auf Wanderschaft gewesen. Allerdings hat er sich nach mehrfachem Scheitern im Examen einen Beamtentitel gekauft. Seine Lebensdaten werden von Quelle zu Quelle anders angegeben. Unter dem musikalischen Einfluß von Wei Liangfu, der in seiner Nähe lebte und den sanften Kunqu-Gesang (Kunquqiang) kreierte, schuf er das erste Stück im Kunqu-Stil, das ihn so bekannt machte, daß er zwischen 1553 und 1575 als Ratgeber in Sachen Theater unterwegs war und so sicherlich auch für viele Jahre sein Auskommen dank reicher Mäzene fand. Unter den Werken, die Liang Chenyu hinterlassen hat, finden sich nachklassische Lieder, Gedichte, zwei Mongolendramen (zaju) und nur eine Romanze (chuanqi) nach Art der Kunqu-Oper. Sein heutiges Ansehen verdankt er einzig und allein letzterem Stück, mit dem er Schule gemacht hat. Es wird auch noch heute, allerdings ausschließlich in Auszügen, aufgeführt und trägt den Titel Die Aufzeichnung vom Waschen der Seide (Huansha ji). Seine Abfassungszeit liegt um 1570. Gegenstand des Singspiels ist eine alte Begebenheit aus dem Anfang des 5. Jahrhunderts v.Chr., als die Reiche Yue und Wu miteinander im Streit lagen. Ursprünglich wurde sie in den Historischen Aufzeichnungen (Shiji) des (→) Sima Qian (145 ‒ 86 v.Chr.) überliefert (»Wu Yue shijia«, »Wu Yue chunqiu«), ist aber so oft für das Theater bearbeitet worden, daß sie schon lange vor Liang Chenyu eine gewisse Eigenständigkeit entwickelt hat. In den 45 Szenen geht es um das folgende: König Gou Jian von Yue und sein Ratgeber Fan Li sind nach der Niederlage in der ersten Schlacht drei Jahre lang Geiseln am Hofe des Königs von Wu gewesen. Nach ihrer Rückkehr sinnen sie auf Rache. Teil ihres Plans ist die schöne Xi Shi, die eigentlich mit Fan Li liiert ist, seitdem er sie einmal bei der Wäsche von Seide gesehen hat. Sie willigt in den Plan ein, als Hetäre den Gegner durch ihre Reize zu erschöpfen, was ihr auch gelingt. Das Happyend sieht eine Wiederbegegnung der Liebenden vor, die auf einem Boot der Welt der Ränke entsagen. Aus heutiger westlicher Sicht mag vieles an dieser Geschichtsdeutung durch den Autor fragwürdig erscheinen, insbesondere das Frauenopfer, doch nach traditioneller chinesischer Vorstellung steht über allem die gerechte Sache, der auch die Nächsten zu opfern sind (dayi mie qin). Der Erhalt des Königreiches und die Rache für erlittene Demütigung stehen über dem Schicksal des einzelnen. Dies ist auch der Grund, warum Xi Shi bereit ist, in eine Sache einzuwilligen, der eigentlich nicht ihr Herz gehören kann.

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Liang Qichao 梁启超 WERKAUSGABEN: Huansha ji jiaozhu, hg. von Zhang Chenshi, Peking: Zhonghua Shuju, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Eight Chinese Plays. From the 13th Century to the Present, übers. von William Dolby, London: Elek, 1978, S. 84‒92; Cyril Birch: Scenes for Mandarins. The Elite Theater of the Ming, New York: Columbia University Press, 1995, S. 61‒105. SEKUNDÄRLITERATUR: K.C. Leung: »Balance and Symmetry in the Huan Sha Chi«, in Tsing Hua Journal of Chinese Studies XVI (1984), S. 179‒201; Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 289‒294. [WK]

Liang Qichao 梁启超 (zi: Zhuoru, hao: Rengong, Yinbingzi, Yinbingshi zhuren etc., 1873 ‒ 1929), geb. in Xinhui (Provinz Guangdong) Liang Qichao entstammte einer Intellektuellenfamilie im südchinesischen Guangdong, war Schüler des politischen Reformers (→) Kang Youwei und entwickelte sich zu einer der führenden Gestalten in der chinesischen Reformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie zahlreiche Intellektuelle seiner Zeit suchte Liang einen Weg zur Verknüpfung von Literatur und Politik und gründete zu diesem Zweck eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften. Nach dem Scheitern der Reformbewegung 1898 floh er nach Japan und kehrte erst nach dem Sturz der QingDynastie 1912 nach China zurück. Dort übernahm er einige wichtige politische Posten in der jungen Republik, zog sich aber bereits 1917 enttäuscht in die schriftstellerische Tätigkeit zurück. Neben eigenen Geschichten und Prosaschriften, die für ihren ausgefeilten Stil gelobt wurden, verfaßte Liang eine Reihe von literaturprogrammatischen Schriften, in denen er für eine »neue Lyrik« ebenso eintrat wie für eine »Reform der Erzählprosa«. Mit seinen 1898 und 1902 erschienenen Artikeln zur Literaturtheorie wies Liang den Autoren seiner Zeit eine ganz neue Richtung. Im »Vorwort zur Übersetzung und Veröffentlichung von politischen Romanen« (»Yiyin zhengzhi xiaoshuo xu«, 1898) formulierte er unter dem Einfluß von englischen Schriftstellern wie Bulwer-Lytton und Benjamin Disraeli politische Ansichten zur Erzählkunst und leitete daraus Maximen für den Roman ab. Er präzisierte diese Ansichten 1902 in dem Artikel »Über das Verhältnis des Romans zur Befindlichkeit der Massen« (»Lun xiaoshuo yu qunzhi de guanxi«). In seinen späteren Schriften wie dem 1915 erschienenen Aufsatz »An die Erzähler« (»Gao xiaoshuojia«) hob Liang vor allem die erzieherische und gesellschaftsverändernde Funktion hervor, die die Erzählliteratur ausübe. Mit seinen Ideen hatte er großen Einfluß auf Autoren wie (→) Li Boyuan, (→) Wu Woyao, (→) Zeng Pu u.a. und trug in hohem Maße zur Entwicklung des gesellschaftskritischen Romans am Ende der Qing-Dynastie bei. Richtungsweisend hierfür wurde sein unvollendeter Roman Die Zukunft des neuen China (Xin Zhongguo weilai ji) aus dem Jahr 1902.

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Liang Shiqiu 梁实秋 WERKAUSGABEN: Liang Qichao quanji, 10 Bde., hg. von Zhang Pinxing, Peking: Beijing Chubanshe, 1999. SEKUNDÄRLITERATUR: Helmut Martin: »A Transitional Concept of Chinese Literature 1897 ‒ 1917: Liang Qichao on Poetry Reform, Historical Drama and the Political Novel«, in: Oriens Extremus 20, 2 (1973), S. 175‒217; C.T. Hsia: »Yen Fu and Liang Ch’ich’ao as Advocate of New Fiction«, in: Chinese Approaches to Literature from Confucius to Liang Ch’i-ch’ao, hg. von Adele Austin Rickett, Princeton: Princeton University Press, 1978, S. 221‒257; Chen Chun-chi: Politics and the Novel. A Study of Liang Chʼi-chʼaoʼs The Future of New China and His Views on Fiction, Diss., Berkeley, 1991; Li Xisuo u. Yuan Qing: Liang Qichao zhuan, Peking: Renmin, 1993; Tang Xiaobing: Global Space and the Nationalist Discourse of Modernity. The Historical Thinking of Liang Qichao, Stanford: Stanford University Press, 1996; The Role of Japan in Liang Qichao’s Introduction of Modern Western Civilization to China, hg. von Joshua A. Fogel, Berkeley: University of California, Institute of East Asian Studies, Center for Chinese Studies, 2004. [TZ]

Liang Shiqiu 梁实秋 (eig. Liang Zhihua, hao: Junmo, Pseudonyme: Zijia, Qiulang, Cheng Shu etc., 1903 – 1987), geb. in Peking Liang Shiqiu gehört zur ersten Generation der modernen chinesischen Schriftsteller nach dem Ende des Kaiserreiches. 1903 in Peking geboren, kam seine Familie ursprünglich aus der Stadt Yuhang in der Provinz Zhejiang. Liang trat 1915 in eine Sonderklasse der Tsinghua-Schule, der heutigen Qinghua-Universität, ein, die Nachwuchs für ein späteres Studium in den Vereinigten Staaten ausbildete. 1923 reiste er nach Amerika und studierte an verschiedenen Universitäten Englische Sprache sowie Westliche Literatur und erwarb später den Doktorgrad im Fach Anglistik an der Harvard-Universität. 1926 nach China zurückgekehrt, lehrte er an verschiedenen Hochschulen, darunter der Dongnan-Universität in Nanjing (heute: Universität Nanjing), der Universität Qingdao (heute: Universität Shandong) und der Pädagogischen Universität Peking. Von 1927 bis 1930 lieferte er sich mit (→) Lu Xun einen heftigen Disput um die Klassenzugehörigkeit und die Humanität der Literatur. Während des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) hielt er sich eine Zeitlang in Sichuan auf. 1949 übersiedelte er nach Taiwan und fungierte dort zunächst als Direktor der Abteilung für Anglistik an der Nationalen Pädagogischen Universität Taiwan und später als Dekan der Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Staatlichen Pädagogischen Universität Taiwan. 1987 starb er in Taipeh. Liang war Humanist und verstand die menschliche Natur als das eigentliche Thema aller Literatur. Seinen größten literarischen Erfolg erreichte er mit seinem umfangreichen essayistischen Werk. Mit ihrer reichen Menschen- und Weltkenntnis und ihrem ausgeprägten Humor haben die Essays eine breite Leserschaft gefunden. Liang beeindruckt auch durch seine kunstvolle Sprache, die gekonnt westliche und chinesische Sprachformen und -inhalte kombiniert. Seine repräsentativsten

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Lin Shu 林纾

Prosawerke sind in der Sammlung Miniaturen, in einer Hütte verfaßt (Yeshe xiaopin, 4 Bände, 1949ff.) enthalten. Liang war auch Herausgeber mehrerer literarischer bzw. literaturkritischer Zeitschriften, darunter Neumond (Xinyue), Wochenmagazin für Literatur (Wenxue zhoukan) und Freie Kritik (Ziyou pinlun). Er gilt zudem als großer Übersetzer englischer Literatur, der in über 40jähriger Arbeit das Gesamtwerk von William Shakespeare ins Chinesische übersetzt hat. 1971 gab er in Hongkong A New Practical Chinese–Englisch Dictionary heraus, ein Wörterbuch, das vielfach wiederaufgelegt wurde. Kurz vor seinem Tod erschien 1985 sein Lebenswerk, eine Englische Literaturgeschichte (Yingguo wenxueshi), in Taipeh. WERKAUSGABEN: Yashe xiaopin, 4 Bde., Taipeh: Zhengzhong Shuju, 1949 – 1986; Liang Shiqiu zixuan ji, Taipeh: Liming Wenhua, 1975; Liang Shiqiu lun wenxue, Taipeh: Shibao, 1978; Yingguo wenxue shi, Taipeh: Xiezhi Gongye Congshu, 1985; Shashibiya quanji, Taipeh: Yuandong, 1986; Liang Shiqiu mingzuo xinshang, Peking: Zhongguo Heping, 1993. ÜBERSETZUNGEN: »Women«, übers. von Wu Qianzhang, in: The Chinese Pen, Winter 1972, S. 23–29; »Men«, übers. von Shi Zhaoying, in: The Chinese Pen, Spring 1974, S. 40– 43; »The Generation Gap«, übers. von Cynthia Wu Wilcox: in: The Chinese Pen, Autumn 1985, S. 33–39. SEKUNDÄRLITERATUR: Marián Gálik: »Studies in Modern Chinese Literary Criticism VII: Liang Shih-ch’iu and New Humanism«, in: Asian and African Studies 9 (1973), S. 29–51; Gaylord Kai Loh Leung: »The Eye of a Storm. The Familiar Essays by Liang Shih-ch’iu during the Anti-Japanese War Period«, in: La littérature Chinoise au temps de la guerre de résistance contre le Japon, Paris: Singer-Pollignac, 1985, S. 67–82. [XWR]

Lin Shu 林纾 (eig. Lin Qunyu, zi: Qinnan; hao: Weilu, Lenghongsheng, Buliuweng, Chang’an maihuaweng etc., 1852 ‒ 1924), geb. in Fuzhou (Provinz Fujian) Als ein Wegbereiter für die Aufnahme der westlichen Literatur zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist Lin Shu aus der Geschichte der Begegnung zwischen China und dem Westen nicht wegzudenken. Lins Karriere wäre sicherlich anders verlaufen, wenn er weitere Prüfungen oberhalb der Provinzebene erfolgreich abgelegt hätte und Beamter geworden wäre. Er besaß aber immerhin eine weitgehend im Selbststudium erworbene Kenntnis der klassischen Literatur. Es waren diese hervorragende Bildung und sein guter Ausdrucksstil in der klassischen Schriftsprache, die es ihm erlaubten, zunächst eine Lehrtätigkeit an mehreren privaten Schulen und später an der Universität Peking aufzunehmen. Hinsichtlich der Reformen in China vertrat Lin im Laufe seines Lebens sehr konträre Positionen und optierte nicht für den Wandel schlechthin. So trat er 1898 noch für moderne Methoden im Erziehungswesen ein und forderte mehr Bildung für Frauen, wandte

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Lin Yutang 林语堂

sich aber zwanzig Jahre später zur Zeit des Vierten Mai (1919) vehement gegen eine stärkere Ausbreitung der gesprochenen Sprache in der Literatur. War Lin bereits 1913, als seine Ablehnung der politischen Reformen deutlich wurde, zur Aufgabe seines Postens an der Universität Peking gedrängt worden, so geriet er sechs Jahre später vollkommen ins Abseits, als er in seinem berühmten Brief an den Rektor der Universität Peking, Cai Yuanpei (1868 ‒ 1940), Vorwürfe gegen Chen Duxiu (1879 ‒ 1942) und Hu Shi erhob (1891 – 1962) und diesen unterstellte, mit ihrem Reformeifer das Land in den Ruin zu treiben. Als Literat publizierte Lin zwischen 1910 und 1924 zahlreiche Romane, Erzählungen und Gedichte. Berühmtheit erlangte er aber durch seine umfassende Übersetzertätigkeit, die er – angeregt durch chinesische Studenten, die in Frankreich ausgebildet worden waren – 1897 begann. Seine 1899 erschienene Übertragung der Kameliendame von Alexandre Dumas erntete großen Beifall. Zwar beherrschte Lin selbst keine Fremdsprache, doch bediente er sich kundiger Übersetzer, nach deren mündlichem Vortrag er die Übertragung in das Idiom des klassischen Chinesisch vornahm. Etwa 180 bekanntere und weniger bekannte Werke aus mehreren europäischen Sprachen übertrug Lin auf diese Weise, darunter Autoren wie Homer, Shakespeare, Cervantes, Ibsen, Balzac und Dickens. WERKAUSGABEN: Lin Shu shi wen xuan, hg. von Li Jiaji et al., Peking: Shangwu Yinshuguan, 1993; Lin Shu fanyi xiaoshuo weikan jiuzhong, hg. von Li Jiaji, Fuzhou: Fujian Renmin, 1994. SEKUNDÄRLITERATUR: Robert William Compton: A Study of the Translations of Lin Shu, 1852 ‒ 1924, Ann Arbor (Mich.): University Microfilms International, 1971; Monika Motsch: »Lin Shu und Franz Kuhn – zwei frühe Übersetzer«, in: Hefte für ostasiatische Literatur 5 (September 1986), S. 76‒87; Kong Qingmao: Lin Shu zhuan, Peking: Tuanjie, 1998. [TZ]

Lin Yutang 林语堂 (eig. Lin Hele, Pseudonyme: Maolü, Zaiyu, Qiqing, 1895 – 1976), geb. in Longxi (heute: Zhangzhou, Provinz Fujian) Lin Yutang wurde 1895 in eine christliche Familie in der Provinz Fujian geboren. Sein Vater war evangelischer Pfarrer, und er wurde deshalb christlich erzogen. Nach einem Studium der Anglistik an einer christlichen Universität in Shanghai und anschließender Lehrtätigkeit an der Qinghua-Universität in Peking ging Lin 1919 in die Vereinigten Staaten und studierte Literaturwissenschaft an der HarvardUniversität. 1921 legte er die Magisterprüfung ab und ging nach Deutschland, um zu promovieren. Schon 1922 erwarb er einen Doktortitel in Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig. 1923 kehrte er nach China zurück und wurde Direktor der Abteilung für Anglistik an der Universität Peking. Er war damals einer der aktivsten Autoren der Zeitschrift Sprachglanz (Yusi). 1926 arbeitete er kurz an der

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Lin Yutang 林语堂

Pekinger Pädagogischen Hochschule für Frauen und zugleich an der Universität Xiamen. 1927 wurde er als Sekretär des Außenministeriums nach Wuhan berufen. Nach 1947 war er eine Zeitlang bei der UNESCO tätig. Anschließend blieb er zunächst in Paris und reiste dann in die Vereinigten Staaten, um Romane zu schreiben. 1954 gründete er die Nanyang-Universität in Singapur und wurde ihr erster Rektor. 1966 ließ er sich auf Taiwan nieder, wurde aber schon im folgenden Jahr auf eine Forschungsprofessur der Chinesischen Universität von Hongkong berufen. 1975 wurde er zum Vizepräsidenten des Internationalen PEN gewählt. Lin starb 1976 in Hongkong und wurde auf Taiwan begraben. In seiner Zeit als Literaturprofessor in Peking schrieb Lin viele Essays. Außerdem rief er diverse Literaturzeitschriften ins Leben. Sein Motto für die Prosaliteratur war: »Das Ich als Mittelpunkt, die Muße als Haltung« (yi ziwo wei zhongxin, yi xianshi wei gediao). Er sah sich also als Individualist und steht sozusagen für eine »bürgerliche« Lebensauffassung. Nicht zufällig etablierte er in einem 1924 erschienenen Essay auch die chinesische Übersetzung für das englische Wort humor. Anlaß war sein Bestreben, mehr Humor und Gelassenheit in das Leben der Chinesen einzuführen. 1935 veröffentlichte er in den USA sein erstes englischsprachiges Buch My Country and My People, das westlichen Lesern die chinesische Philosophie, Literatur, Kunst sowie Gesellschaft und Mentalität vermitteln sollte. Es folgten die Romane Moment in Peking (chinesisch: Jinghua yanyun, 1939), Kranichschreie im rauschenden Wind (Fengsheng heli, 1941), The Vermilion Gate (Zhu men, 1953), Between Tears and Laughter (Tixiao jiefei, 1947), China Town Family (Tangrenjie yi jia, 1948) und die Essaysammlungen Die Entdeckung des Lebens (Shenghuo de faxian, 1938), Das neugeborene China (Xinsheng de Zhongguo, 1939) und Die Kunst des Lebens (Shenghuo de yishu, 1941). Lin war einer der wenigen chinesischen Schriftsteller, die in zwei Sprachen schrieben. Daneben war er auch ein erfolgreicher Erfinder: Er erhielt in den Vereinigten Staaten zahlreiche Patente für die Erfindung einer Schreibmaschine für die chinesische Schrift. WERKAUSGABEN: Lin Yutang wenji, 17 Bde., Xi’an: Shaanxi Shifan Daxue, 2004; Lin Yutang sanwen jingdian quanji, Peking: Beijing Chubanshe, 2007. ÜBERSETZUNGEN: Mein Land und mein Volk, übers. aus dem Amerikanischen von W.E. Süskind, Stuttgart, Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1936; Weisheit des lächelnden Lebens, übers. aus dem Amerikanischen von Wilhelm E. Süskind, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1937; Ein wenig Liebe … ein wenig Spott, übers. aus dem Amerikanischen von Ines Loos, Zürich: Rascher, 1943; Peking. Augenblick und Ewigkeit, übers. aus dem Englischen von Lino von Rossi, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg, 1950; Glück des Verstehens. Weisheit und Lebenskunst der Chinesen, übers. aus dem Englischen von Liselotte und Wolff Eder, Stuttgart: Klett, 1959; Kontinente des Glaubens. Mein Weg zurück zum Christentum, übers. von M. Hackel, C.H. Pfaff u. A.M. Textor, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1961.

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Ling Mengchu 凌蒙初 SEKUNDÄRLITERATUR: Wing-Tsit Chan: »Lin Yutang, Critic and Interpreter«, in: College English 8, 4 (Jan. 1947), S. 163–169; Lin Yutang: The Best of an Old Friend, hg. von A.J. Anderson, New York: Mason/Charter, 1976; Frederick Brandauer: »Lin Yutangʼs Widow and the Problem of Adaptation«, in: Journal of the Chinese Language Teachers Association 20, 2 (1985), S. 1–14; Yi-chin Fu: »Lin Yutang: A Bundle of Contrasts«, in: Fu Jen Studies 21 (1988), S. 29–44; Martin Erbes, Gotelind Müller, Wu Xingwen u. Qing Xianci: Drei Studien über Lin Yutang (1895 – 1976), Bochum: Brockmeyer, 1989; Diran Sohigian: The Life and Times of Lin Yutang, Diss., Columbia University, 1991; Jun Qian: Lin Yutang: Negotiating Modernity Between East and West, Diss., University of California, 1996; Charles Laughlin: The Literature of Leisure and Chinese Modernity, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 2008. [XWR]

Ling Mengchu 凌蒙初 (zi: Xuanfang; hao: Chucheng, Lingbo, Jikongguang zhuren, 1580 ‒ 1644), geb. in Wuxing (Provinz Zhejiang) Ling Mengchu war neben (→) Feng Menglong die zweite große Gestalt zum Ende der Ming-Dynastie (1368 – 1644), die sich um die Erzählliteratur Chinas verdient gemacht hat. Ling entstammte einer Beamtenfamilie, war aber zunächst – beeinflußt vom Vater – im Verlagswesen und als Buchhändler tätig. In dieser Funktion brachte er neben den weiter unten genannten Sammlungen von Novellen vor allem historische Werke wie die Edierte Spätere Geschichte der Han-Dynastie (Hou Hanshu zuan) und literarische Sammlungen wie die Gesammelten Werke von Tao Qian und Wei Yingwu (Tao Wei heji) heraus. Erst relativ spät – 1634 – übernahm Ling einen Posten als stellvertretender Magistrat von Shanghai. Wenige Jahre nach seiner 1642 erfolgten Versetzung nach Xuzhou kam Ling bei der Verteidigung einer Ortschaft im Kampf gegen die Rebellen um Li Zicheng (1606 ‒ 1645) ums Leben. Wie Feng Menglong war Ling Mengchu nicht nur Sammler und Herausgeber von Literatur, sondern auch ein bekannter Dichter, Dramatiker und Theaterkritiker. So sind von ihm zum Beispiel mehrere Dramen verfaßt worden, die aber nicht alle überliefert sind. Lediglich drei seiner acht zaju-Dramen sind erhalten, darunter eine Bearbeitung des Stoffes um Song Jiang und die Räuber vom Liangshan-Moor. Auch hier fällt auf, daß Ling auf geschickte Weise die historischen Stoffe und Vorlagen zu nutzen wußte, um einen neuen Blickwinkel zu eröffnen. Vor allem aber hat sich Ling mit der Novellensammlungen Sensationelle Geschichten (Pai’an jingqi, 1628) und Zweite Sammlung sensationeller Geschichten (Erke pai’an jingqi, 1632) einen Namen gemacht. Ling veränderte die Stoffe, die oft älteren Erzählungen und Dramen entstammten, so stark, daß er dabei selbst zum Erzähler wurde. Erkennbar ist diese eigene Handschrift vor allem an dem einheitlichen Stil, der Komposition und der vorgetragenen Sichtweise. Sprachlich blieb Ling noch weitgehend dem gemischten Stil aus Elementen der gesprochenen und der Schriftsprache verhaftet. Daß er die Bedeutung einer verständlichen Sprache

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Liu Binyan 刘宾雁

in der Literatur dennoch klar erkannte, brachte er in der kurzen Abhandlung »Notizen zu den Schaustücken« (»Tan qu zazha«) zum Ausdruck, die seiner Anthologie Drei Formen von Südlichen Klängen (Nan yin san lai) beigefügt ist. Kreativer noch als Feng Menglong, führte Ling nicht bloß eine Tradition zu Ende, sondern begründete mit seinen Erzählungen zugleich einen neuen Trend, in dem die Persönlichkeit des Verfassers mehr Gewicht erlangte. So ist später etwa (→) Li Yu (1611 – 1680) stark von Ling Mengchu beeinflußt worden. WERKAUSGABEN: Erke paiʼan jingqi, hg. von Shi Changyu, Nanjing: Jiangsu Guji, 1990. ÜBERSETZUNGEN: Chinesischer Liebesgarten. Der Abt und die geborene Wu und andere Erzählungen aus der Ming-Zeit, übers. von Chang Tsung-tung, Herrenalb: Erdmann, 1964; Neuer chinesischer Liebesgarten. Novellen aus den berühmtesten erotischen Sammlungen der Ming-Zeit, übers. von Tat-Hang Fung, Wiesbaden: Erdmann, 1968; »Ling Mengchu: Die Rache der Xie Xiaoʼe«, übers. von Wolf Baus, in: Hefte für ostasiatische Literatur 20 (Mai 1996), S. 55‒80. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolf Baus: Das P’ai-an ching-ch’i des Ling Meng-chʼu, Bern: Peter Lang, 1974; Patrick Hanan: »The Nature of Ling Meng-chu’s Fiction«, in: Andrew H. Plaks: Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton University Press, 1977, S. 85‒114; Ma Meixin: Ling Mengchu he liang pai, Shanghai: Shanghai Guji, 1994. [TZ]

Liu Binyan 刘宾雁 (1925 – 2005), geb. in Changchun (Provinz Jilin) Geboren in der von Japanern besetzten Mandschurei, mußte Liu als Jugendlicher Russisch und Japanisch lernen. Schon 1939 veröffentlichte er eine Kurzgeschichte. Mit 18 Jahren trat er der Kommunistischen Partei im Untergrund bei. Seit 1951 war er Korrespondent für die Chinesische Jugendzeitung (Zhongguo qingnian bao) und konnte zahlreiche osteuropäische Länder sowie die chinesischen Provinzen bereisen. Angeregt von dem sowjetischen Schriftsteller Valentin V. Ovečkin (1904 – 1968), wurde er mit den Genres der Reportageliteratur und der dokumentarischen Skizze (texie) vertraut. In diesen Formen veröffentlichte er zeitkritische Artikel wie »Brückenbau« (»Zai qiaoliang gongdi shang«, 1956) und »Interne Nachrichten« (»Benbao neibu xiaoxi«, 1956). 1957 wurde er wegen eines Zeitungsartikels, der die Behinderung der freien Meinungsäußerung durch die Partei in Shanghai anprangerte, als »Rechtsabweichler« aus der Partei ausgeschlossen und zur Umerziehung in eine Parteischule aufs Land geschickt. 1961 erhielt er wieder eine Anstellung in seiner alten Redaktion, erlebte aber während der Kulturrevolution (1966 – 1976) eine abermalige Verbannung, die bis 1977 dauerte. Doch auch nach seiner Rehabilitierung 1979 schrieb er unbeirrt gesellschaftskritische Reportagen, so etwa »Unter Menschen und Dämonen« (»Renyao zhijian«, 1979) über Korruptionsfälle, in die auch Parteikader verwickelt waren. 1979 bis 1987 war er

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Liu Dakui 刘大魁

Journalist bei der Volkszeitung (Renmin ribao) und wurde 1985 zum Vizevorsitzenden des chinesischen Schriftstellerverbandes gewählt. Von 1988 an bis zu seinem Tod lebte er als politischer Dissident im Ausland und arbeitete für verschiedene Medien in Hongkong und den Vereinigten Staaten. 1989 veröffentlichte er in Taiwan eine Autobiographie. Aufgrund seiner scharfen Kritik an den politischen Zuständen in China wurde er in den Vereinigten Staaten mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. WERKAUSGABEN: Liu Binyan baogao wenxue xuan, Peking: Beijing Chubanshe, 1981; Liu Binyan zixuan ji, Peking: Zhongguo Wenlian, 1988; Liu Binyan zizhuan, Taipeh: Shibao Wenhua, 1989. ÜBERSETZUNGEN: »Unter Menschen und Dämonen«, übers. von Rudolf G. Wagner, in: ders. (Hg.): Literatur und Politik in der Volksrepublik China, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 186–248; »Jedes Jahr ist ein Geschenk«, übers. von Helmut Martin, in: die horen 2/1985, S. 162–172; »Der fünfte Mann im Mantel«, übers. von Ida Bucher, in: Wechselseitige Bilder. Das Eigene im Fremden. Chinesen über Deutsche. Deutsche über Chinesen. Zeitschrift für Kulturaustausch 1986, hg. von Helmuth Braun und Wolfgang Kubin, S. 431–441; »Die größte Gefahr war und ist die ›linke‹«, übers. von Eva Klapproth, in: Das Gespenst des Humanismus. Oppositionelle Texte aus China von 1979 bis 1987, hg. von Eva Klapproth, Helmut Forster-Latsch u. Marie-Luise Latsch, Frankfurt a.M.: Sendler, 1987, S. 75–82; »Das Tagebuch des Liu Binyan (28.4.–2.5. 1985)«, übers. von Thomas Kampen, in: Chinablätter 16 (1987), S. 24–28; China! Mein China!, übers. von Jean-Philippe Béja u. Petra Hustede, Wien, Darmstadt: Zsolnay, 1989; »Brückenbau«, übers. von Klaus Walther, in: China erzählt. 14 Erzählungen, hg. von Andreas Donath, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 1990, S. 123–181; »Interne Neuigkeiten«, übers. von Pierre Brun u. Ute Lüghausen, in: Orientierungen 2/1992, S. 99–140 (Teil I–V) u. 1/1993, S. 36–70 (Teil VI–VIII); »Ich bin kein wahrer Künstler: Reportageliteratur als Warnsignal«, übers. von Helmut Martin, in: ders. (Hg.) Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, Bonn: Bouvier, 1993, S. 140–147. SEKUNDÄRLITERATUR: Rudolf G. Wagner: »Liu Binyan oder der Autor als wandelnde Nische«, in: Moderne chinesische Literatur, hg. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 430–446; ders.: »Liu Binyan and the texie«, in: Modern Chinese Literature 2 (1986), S. 65–98; Karl Grobe-Hagel: »Das Volk ist jetzt stark. Nathan Gardels interviewt Liu Binyan«, in: Das neue China 16, 2 (1989), S. 32–34; Carolin Blank u. Christa Gescher: Gesellschaftskritik und Reportageliteratur in der Volksrepublik China. Der Journalist und Schriftsteller Liu Binyan, Bochum: Brockmeyer, 1991. [XWR]

Liu Dakui 刘大魁 (zi: Gengnan, Caifu, hao: Haifeng, 1698 ‒ 1780), geb. in Tongcheng (Provinz Anhui) Zweimal fiel Liu bei den Provinzexamina durch und blieb für die längste Zeit seines Lebens ein Privatgelehrter. Erst im Alter von über sechzig Jahren bekam er ein Lehreramt im Kreis Yi in Anhui.

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Liu E 刘鹗

Liu Dakui gehörte später wie (→) Fang Bao der Tongcheng-Schule an, und es war auch Fang, der Liu nach einer Begegnung in Peking protegierte, nachdem er dessen großes Talent als Prosaautor erkannt hatte. Neben seinen Prosaschriften leistete Liu auch theoretische Beiträge zur programmatischen Ausrichtung der Tongcheng-Schule. In seiner bekannten Schrift Beiläufige Notizen zur Literatur (Lun wen ouji) unterschied er drei Begriffspaare in der Literatur, nämlich shen (Spirituelles) und qi (lebensfördernde Kraft), yin (Klang) und jie (Rhythmus) sowie zi (Diktion) und ju (Syntax). Erst durch die Beherrschung des einfachsten der drei Begriffspaare (zi/ji) lasse sich die nächsthöhere Stufe bis hinauf zu shen und qi erlangen. Lius Ansichten trafen sich mit den in seiner Zeit kursierenden Überlegungen zum Studium der Klassiker, wie sie von der Schule der Textexegeten (kaozhengpai) angestellt wurden; demnach konnte nur ein gründliches, philologisch erarbeitetes Textverständnis auch zur korrekten Erkenntnis der Vorstellungen der Weisen und Heiligen führen. WERKAUSGABEN: Liu Dakui ji, Shanghai: Shanghai Guji, 1990; Haifeng wenji, Shanghai: Shanghai Guji, 2002. SEKUNDÄRLITERATUR: Tongchengpai yanjiu lunwen ji, hg. vom Volksverlag Anhui, Hefei: Anhui Renmin, 1963; Wang Zhenyuan: Tongchengpai, Shanghai: Shanghai Guji, 1990; Zhao Jianzhang: Tongchengpai wenxue sixiang yanjiu, 2003. [TZ]

Liu E 刘鹗 (eig. Liu Mengpeng, zi: Tieyun, Gongyue, Pseudonym: Hongdu bailiansheng, 1857 ‒ 1909), geb. in Zhenjiang (Provinz Jiangsu) Liu E war eine schillernde Persönlichkeit zum Ende der Qing-Dynastie (1644 – 1911), er betätigte sich nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Unternehmer, Ingenieur und Arzt. Vom Vater, der selbst eine Karriere als Beamter hinter sich hatte, wurde Liu fraglos auf die Bedeutung der klassischen Bildung hingewiesen und erhielt darüber hinaus die Gelegenheit, sich auch mit westlichem Wissen zu befassen, indem er sich bei katholischen Priestern u.a. in Mathematik und in der französischen Sprache fortbildete. Letztendlich standen für Liu in seinem Leben aber eher die praktischen Belange im Vordergrund. So erwarb er sich in den frühen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts große Anerkennung, als er in den Provinzen Henan und Shandong die Arbeiten zur Eindämmung des Gelben Flusses leitete. Bei der Zentralregierung intervenierte Liu, um für den Bau von Eisenbahnlinien und die Erschließung von Erzvorkommen mit Hilfe ausländischen Kapitals zu werben, doch scheiterte er am Widerstand der konservativen Kräfte. Nachdem ihm wegen angeblich landesverräterischer Kontakte 1898 sein Beamtentitel aberkannt worden war, richtete er sein Augenmerk verstärkt auf seine unternehmerischen Aktivitäten, die er mit wechselndem Erfolg durchführte. Doch auch wenn

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Liu Tangqing 刘唐卿

das eine oder andere Projekt scheiterte, so erwarb Liu durch Grundstücksspekulationen letztlich erheblichen Reichtum. Anonym begann er zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Roman Die Reisen des Lao Can (Lao Can youji) zu verfassen, in dem er sich verklausuliert recht freimütig zu Personen und Problemen seiner Zeit äußern und für die als häretisch eingestufte Taigu-Schule eintreten konnte, mit deren Lehren er 1876 bekannt geworden war. Der Roman blieb ein Fragment, ein letzter Teil erschien noch 1907, bevor Liu ein Jahr später unter der Anklage illegaler Kontakte zu ausländischen Firmen nach Xinjiang verbannt wurde und dort 1909 verstarb. Lius Roman, der sich aufgrund zahlreicher Übersetzungen auch im Westen großer Popularität erfreut, ragt aus einer Vielzahl zeit- und sozialkritischer Werke zum Ende der Qing-Dynastie heraus, da er nicht nur aktuelle Mißstände anprangert, sondern auch die traditionellen konfuzianischen Ideale auf den Prüfstand stellt. Der Reisende Lao Can ist dabei kein bloßer Veränderer, sondern jemand, der Distanz zu den Dingen bewahrt und die eigene Vervollkommnung bis hin zur Buddhaschaft nicht aus den Augen verliert. Besonders mit seinen gelungenen Naturschilderungen schafft der Autor immer wieder eindrucksvolle Stimmungen, etwa wenn die kalte Winteratmosphäre die Beschreibung der elenden Lage der Bevölkerung noch intensiviert, die nicht nur unter dem eisigen Klima, sondern ebenso unter der Grausamkeit der Beamten leidet. Auch Lius psychologische Frauendarstellungen sind immer wieder gelobt worden. WERKAUSGABEN: Lao Can youji, Peking: Renmin Wenxue, 1982. ÜBERSETZUNGEN: The Travels of Lao Can, übers. von Yang Xianyi u. Gladys Yang, Peking: Panda Books, 1983; Die Reisen des Lao Can, übers. von Hans Kühner, Frankfurt a.M.: Insel, 1989. SEKUNDÄRLITERATUR: Luke S.K. Kwong: »Self and Society in Modern China: Liu E (1857 ‒ 1909) and Laocan youji«, in: T’oung Pao 87, 4‒5 (2001), S. 360‒392; Lin Shuenfu: »The Last Classic Chinese Novel: Vision and Design in The Travels of Lao Can«, in: Journal of the American Oriental Society 121, 4 (Oct./Dec. 2001), S. 549‒564; Timothy Wong: »The Facts of Fiction: Liu Eʼs Commentary to the Travels of Lao Can«, in: Excursions in Chinese Culture. Festschrift in Honour of William R. Schultz, hg. von Marie Chan et al., Hongkong: Chinese University of Hong Kong, 2002, S. 159‒172. [TZ]

Liu Tangqing 刘唐卿 (fl. 1300) Von dem Lustspieldichter Liu Tangqing sind keinerlei biographischen Dinge überliefert. Und auch von seinem Werk findet sich nur das Stück Cai Shun überreicht Mutter Maulbeeren (Jiang sangshen Cai Shun feng mu) in den Sammelwerken wieder. Dieses ist deswegen wichtig, weil es die Farce »Die streitenden Quacksalber« enthält, eine Theaterform, die im großen und ganzen verlorengegan-

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Liu Tingji 刘廷玑

gen ist. Es sind historische Gründe, die mit der Entwicklung des chinesischen Theaters zu tun haben, daß man heute noch diesem unscheinbaren Spiel Bedeutung zumißt. WERKAUSGABEN: Yuanqu xuan waibian, hg. von Sui Shusen, 3 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1959, Bd. 2, S. 416‒447. ÜBERSETZUNGEN: Eight Chinese Plays. From the 13th Century to the Present, übers. von William Dolby, London: Elek, 1978, S. 21‒29. [WK]

Liu Tingji 刘廷玑 (zi: Yuheng, hao: Zaiyuan, gest. ca. 1711) Liu Tingji war ein Dichter und Literaturkritiker der frühen Qing-Zeit (1644 – 1911), der in Vorworten zu Romanen und in einigen Essays seiner Sammlung Vermischte Schriften des Zaiyuan (Zaiyuan zazhi) wichtige Beiträge zur Erzählkunst hinterlassen hat. Auf der Grundlage einer umfassenden Lektüre analysierte Liu die historische Entwicklung der Erzählkunst. So konstatierte er große Abweichungen bei dem, was in China seit früher Zeit gemeinhin mit xiaoshuo (wörtl. »kleines Gerede«) bezeichnet worden war. Die Entwicklung der xiaoshuo gliederte er in drei Abschnitte: 1. die Zeit von der Han-Dynastie (206 v.Chr. ‒ 220 n.Chr.) bis zur MingDynastie (1368 ‒ 1644), 2. die »vier außerordentlichen Romanwerke« (si da qishu) und 3. die xiaoshuo zu seiner Zeit, d.h. der Qing-Dynastie. Diese Gliederung wirkt zwar vor allem mit Blick auf den ersten Abschnitt sehr grob, entbehrt aber nicht der Logik. Vor allem erklärt Liu damit die Herausbildung der langen Erzählform des Romans in China und stellt diese in den Mittelpunkt. In seinen Blick geraten dabei naturgemäß insbesondere die vier herausragenden Romane Die Drei Reiche (Sanguo yanyi), Die Reise in den Westen (Xiyouji), Jin Ping Mei und Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan). Deren Besonderheit stand Liu klar vor Augen, was an seinen Ausführungen zum Aufbau und zum Problem der Fiktionalität in diesen Werken deutlich wird. In Bezug auf die zu seiner Zeit sehr weit verbreiteten Folgeromane zu den vier populären Ausgangswerken machte Liu eine Reihe kritischer Anmerkungen und bemängelte vor allem die nachlässige Ausgestaltung. Auch andere Kritikerkollegen nahm er dabei gelegentlich aufs Korn. WERKAUSGABEN: Zaiyuan zazhi, Anm. von Zhang Shouqian, Peking: Zhonghua Shuju, 2005. [TZ]

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Liu Xiang 刘向

Liu Xiang 刘向 (eig. Liu Gengsheng, zi: Zizheng, ca. 79 – ca. 6 v.Chr.), geb. in Xuzhou (heute Provinz Jiangsu) Liu Xiang war ein Nachfahre des jüngsten Bruders von Liu Bang, der als Kaiser Gaozu (reg. 206 – 194 v.Chr.) die Han-Dynastie begründet hatte. Von edler Geburt und hervorragender Bildung, war er für eine Beamtenlaufbahn prädestiniert, dennoch kam er in den Jahren 56 und 48 v.Chr. zweimal vorübergehend in Haft. In jungen Jahren vornehmlich mit okkulten Wirkungsbereichen wie der Alchemie und der Deutung von Omina befaßt, hatte er Kaiser Xuandi (reg. 73 – 48 v.Chr.) falsche Ratschläge erteilt und wurde dafür 56 v.Chr. inhaftiert. Dennoch blieb er zeit seines Lebens von den mystischen Praktiken des religiösen Daoismus fasziniert und hinterließ eine einflußreiche Theorie der Fünf Elemente, die ihm angeblich in einer Erleuchtung über die Geheimnisse der Schöpfung offenbart worden sein soll. Die zweite Inhaftierung im Jahre 48 v.Chr. geschah aufgrund einer politischen Intrige zu Beginn der Regentschaft Kaiser Yuandis. Liu Xiang kam zwar schnell wieder frei, blieb jedoch 15 Jahre ohne Amt. Erst unter Kaiser Chengdi (reg. 32 – 6 v.Chr.) verlief seine Karriere erfolgreicher, wohl weil er sich nun verstärkt handfesteren Dingen, wie der Literatur, widmete. Bereits unter Kaiser Xuandi war Liu in eine Gelehrtenkommission zur Interpretation der Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu) anläßlich des 500. Geburtstages des (→) Konfuzius im Jahre 51 v.Chr. berufen worden. Erst nach 32 v.Chr. begann aber seine eigentliche Blütezeit als Autor und Kompilator: Nun schuf er die erste kommentierte Bibliographie der chinesischen Literaturgeschichte – die Gesonderten Einträge (Bielu), die sein Sohn Liu Xin (gest. 23 n.Chr.) unter dem Titel Sieben Abrisse (Qilüe) weiterführte. Dieses Werk bildete die Grundlage für das bibliographische Kapitel (»Yiwenzhi«) des Hanshu, der Dynastiegeschichte der Han-Zeit. Liu Xiang verfaßte und kompilierte darüber hinaus das Lienüzhuan, eine Biographiensammlung über »mustergültige« Frauen der Geschichte, und die Anekdotensammlungen Garten der Überredungen (Shuiyuan) und Neu Geordnetes (Xinxu). Sein bedeutendstes Werk ist allerdings die historiographisch stilprägende Chronik Pläne der Streitenden Reiche (Zhanguoce), eine rhetorisch brillante Anekdotenlese aus der Zeit vom 4. Jahrhundert bis 221 v.Chr. Liu Xiangs herausragende Prosa hatte großen Einfluß auf die guwen-Literatur der Tang- (618 – 907) und Song-Zeit (960 – 1279). Sein Sohn Liu Xin tat sich später als Astronom hervor und kompilierte u.a. die erste Ausgabe des Buchs der Berge und Meere (Shanhaijing). WERKAUSGABEN: Bielu – Lienü zhuan – Shuiyuan – Xinxu – Zhanguoce, Shanghai: Shanghai Guji, 1978. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Erich Haenisch: Mencius und Liu Hsiang, zwei Vorkämpfer für Moral und Charakter, Leipzig: S. Hirzel, 1942; David Hawkes: Ch’u Tz’u. The Songs of the South, Oxford: Clarendon, 1959, S. 150‒169; J.I. Crump, Jr.:

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Liu Xie 刘勰 Chan-kuo-ts’e, Oxford: Clarendon, 1970; Albert Richard O’Hara: The Position of Women in Early China according to the Lieh nü chuan, Taipeh: Meiya, 1978; Liu Xiang Xinxu yanjiu, hg. von Xu Sufei, Taipeh: Xuesheng Shuju, 1982; Sherry Jenq-yunn Mou: Gentlemen’s Prescriptions for Woman’s Lives. Liu Hsiang’s »The Biographies of Women« and Its Influence on the »Biographies of Women« Chapters in Early Chinese Dynastic-Histories, Diss., Ohio State University, 1994; Bret Hinsch: »The Textual History of Liu Xiangʼs ›Lienüzhuan‹«, in: Monumenta Serica 52 (2004), S. 95–112; Jianfei Kralle: »Zu einigen Frauengestalten aus dem ›Lie nü zhuan‹«, in: Schreiben über Frauen in China, hg. von Jianfei Kralle u. Dennis Schilling, Wiesbaden: Harrassowitz, 2004, S. 93–110. [HP]

Liu Xie 刘勰 (zi: Yanhe, ca. 467 – ca. 522), lebte nahe Jiankang (heute Nanjing, Provinz Jiangsu) Über das Leben des einflußreichen Literaturkritikers Liu Xie sind in der offiziellen Chronik der Liang-Dynastie (502 – 557) nur rudimentäre Angaben zu finden. Früh verwaist, soll er im Kloster Dinglin Zuflucht gefunden haben, wo er den größten Teil seines Lebens dem Studium sowie der Herausgabe und Kommentierung buddhistischer Texte widmete. Liu Xies Poetik Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen (Wenxin diaolong), die er im Jahr 502 fertigstellte, lieferte das erste systematische Gattungskonzept der chinesischen Literaturgeschichte. Sein Literaturbegriff ist dabei weiter gefaßt als z.B. der (→) Xiao Tongs in dessen Literarischer Anthologie (Wenxuan). So schließen Liu Xies 34 Gattungen z.B. auch historiographische und philosophische Texte mit ein. Sein Begriff von Literatur ist philosophisch, ja kosmologisch begründet: Die Literatur (wen) ist so vielfältig und umfassend wie die Natur selbst, indem sie deren Muster (wen) nachahmt. Dezidiert konservativ, scheut Liu Xies stilistische Bewertung der Literatur des Altertums und frühen Mittelalters neuere Tendenzen und gibt dem klassischen Schriftenkanon den Vorzug. Letzterer wird zu einem unerreichbaren Ideal stilisiert. WERKAUSGABEN: Wenxin diaolong jiaozhu shiyi, hg. von Yang Mingzhao, Shanghai: Shanghai Guji, 1982; Wenxin diaolong xue zonglan, hg. von Yang Mingzhao, Shanghai: Shanghai Shudian, 1985. ÜBERSETZUNGEN: The Literary Mind and the Carving of Dragons, übers. von Vincent YuChung Shih, New York: Columbia University Press, 1959 [überarbeitet: Hongkong: Chinese University Press, 1983]; Early Chinese Literary Criticism, hg. u. übers. von Siu-kit Wong, Hongkong: Joint Publishing Company, 1983, S. 115‒123 (»On Imagination«), 125–136 (»A Postscript to Wenxin Diaolong«); Li Zhaochu: Traditionelle chinesische Literaturtheorie: Wenxin diaolong. Liu Xies Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens [Übers. der Kap. 26‒50], Dortmund: projekt verlag, 1997.

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Liu Xinwu 刘心武 SEKUNDÄRLITERATUR: Donald A. Gibbs: Literary Theory in the Wen-hsin tiao-lung, Diss., University of Washington, 1970; A Chinese Literary Mind. Culture, Creativity, and Rhetoric in »Wenxin diaolong«, hg. von Cai Zong-qi, Stanford: Stanford University Press, 2002. [HP]

Liu Xinwu 刘心武 (Pseudonyme: Liuliu, Zhao Zhuanghan, 1942 – ), geb. in Chengdu (Provinz Sichuan) Liu Xinwu ist 1942 in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, geboren. 1950 ließ sich seine Familie in Peking nieder. Liu zeigte bereits als Mittelschüler großes Interesse an Literatur und fing schon mit 16 Jahren an, literarisch zu publizieren. 1961 absolvierte er eine Lehrerausbildung an der Pädagogischen Fachhochschule Peking und wurde danach Lehrer an einer Mittelschule. Diese Berufserfahrungen verarbeitete er in seinen frühen literarischen Werken. Auch während der Kulturrevolution (1966 – 1976) hörte er nicht auf zu schreiben und veröffentlichte zahlreiche Essays und eine Erzählung in Tageszeitungen und Zeitschriften. 1976 bis 1980 arbeitete er als Redakteur in einem Pekinger Verlag und wirkte bei der Gründung der Literaturzeitschrift Oktober (Shiyue) mit. Ab 1979 fungierte er eine Zeitlang als Vorstandsmitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes und ab 1985 – nach seiner Aufnahme in die Kommunistische Partei – als Herausgeber der Zeitschrift Volksliteratur (Renmin wenxue). Landesweit bekannt wurde Liu durch seine 1977 veröffentlichte Kurzgeschichte »Der Klassenlehrer« (»Banzhuren«), die später zur besten Kurzgeschichte des Jahres gewählt wurde. Aus der Sicht eines Lehrers beschreibt Liu darin eine Gruppe von Jugendlichen, die eine durch die Kulturrevolution seelisch verkorkste Generation verkörpert. Damit eröffnete er eine neue literarische Richtung, nämlich die sogenannte »Wunden-« oder »Narbenliteratur« (shanghen wenxue), mit der eine neue Periode der modernen chinesischen Literatur begann. Es folgten weitere Kurzgeschichten wie »Ich liebe jedes grüne Blatt« (»Wo ai mei yi pian lüye«, 1979), die ebenfalls als die beste Kurzgeschichte des Jahres ausgezeichnet wurde. Die danach veröffentlichte Erzählung »Der Glücksbringer« (»Ruyi«, 1980), wurde 1982 verfilmt, und auch »Die Fußgängerbrücke« (»Liti jiaocha qiao«, 1981) hat große Resonanz gefunden. Für den Roman Der Glocken- und Trommelturm (Zhonggu lou, 1984) erhielt Liu 1985 den Mao-Dun-Preis. Auch mit den Reportagen »Zoomobjektiv 19. Mai« (»5.19. chang jingtou«, 1985) und »Die Bussymphonie« (»Gonggong qiche yongtandiao«, 1985) erlangte er große Erfolge. Seit 1986 gilt Liu als einer der bedeutendsten Essayisten Chinas. 1987 wurde er wegen der Veröffentlichung einer von der Zensur verurteilten Erzählung in der Zeitschrift Volksliteratur von seinem Posten als Herausgeber vorübergehend suspendiert, 1989 – nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung, die er unterstützt hatte – verlor er diesen Posten endgültig. Er wandelte sich nun vom Literatur-

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Liu Xinwu 刘心武

funktionär und parteipolitischen »Staatsschriftsteller« zu einem unabhängigen Autor. In den 90er Jahren erregte er zudem mit einem innovativen Ansatz zur Erforschung des Romans Der Traum der roten Kammer (Hongloumeng) großes Aufsehen: Er behauptete, Qin Keqing, eine eigentlich unwichtige Nebenfigur des Romans, liefere für dessen gesellschaftliche Hintergründe den Schlüssel. Allerdings muß dieser Ansatz eher als eine subjektive literarische Neuinterpretation denn als seriöse wissenschaftliche Forschung angesehen werden. WERKAUSGABEN: Liu Xinwu duanpian xiaoshuo xuan, Peking: Beijing Chubanshe, 1980; Liu Xinwu wenji, 8 Bde., Peking: Huayi, 1993; Liu Xinwu xiaoshuo jingxuan, hg. von Han Hua, Xi’an: Taibai Wenyi, 1996 u. 2001; Liu Xinwu zawen zixuan ji, Tientsin: Baihua Wenyi, 1996; Liu Xinwu zixuan ji, Kunming: Yunnan Renmin, 2006. ÜBERSETZUNGEN: »Der Ort der Liebe«, übers. von Renate Krieg, in: Hoffnung auf Frühling. Moderne chinesische Erzählungen, Zweiter Band: 1949 – 1979, hg. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 434–467; »Der Klassenlehrer«, übers. von Jochen Noth, in: ders. (Hg.): Der Jadefelsen. Chinesische Kurzgeschichten 1977 – 1979, Frankfurt a.M.: Sendler, 1981, S. 11–35; »Der Glücksbringer«, übers. von Helmut Forster-Latsch, Marie-Luise Latsch u. Zhao Zhenquan, in: Die Drachenschnur. Geschichten aus dem chinesischen Alltag, hg. von Andreas Donath, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein, 1984, S. 79–153; »Die Fußgängerbrücke«, übers. von Helmut Forster-Latsch, in: die horen 2/1985, S. 198–203; »Deutschland – ein Rätsel«, übers. von Dorothea Diener, in: Wechselseitige Bilder. Das Eigene im Fremden. Chinesen über Deutsche, Zeitschrift für Kulturaustausch 1986, hg. von Helmuth Braun u. Wolfgang Kubin, S. 303–327; »Ruyi«, übers. von Richard Rigby, in: Renditions 25 (Spring 1986), S. 53– 85; »Schwarze Wände«, übers. von Helmut Forster-Latsch u. Marie-Luise Latsch, in: Das Gespenst des Humanismus. Oppositionelle Texte aus China von 1979 bis 1987, hg. von Eva Klapproth, Helmut Forster Latsch u. Marie-Luise Latsch, Frankfurt a.M.: Sendler, 1987, S. 122–132; »Zoomobjektiv 19. Mai«, übers. von Wolfgang Ommerborn, in: Nach den Wirren. Erzählungen und Gedichte aus der Volksrepublik China nach der Kulturrevolution, Dortmund: RWAG Dienste und Verlag, 1988, S. 73–96; Black Walls and Other Stories, übers. u. hg. von Don J. Cohn, Renditions Paperback, Hongkong: Chinese University of Hong Kong, 1990; »Im Aufzug«, übers. von Kornelia Roßkothen, in: Die Auflösung der Abteilung für Haarspalterei. Texte moderner chinesischer Autoren. Von den Reformen bis zum Exil, hg. von Christiane Hammer u. Helmut Martin, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991, S. 85–92; »Der Hundert Blumen-Slogan riecht nach Pulver: Warum streben wir nicht lieber nach der ›Freiheit des Denkens und der Rede‹?«, übers. von Michaela Herrmann, in: Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, hg. von Helmut Martin, Bonn: Bouvier, 1993, S. 49–54; »Zwischen Markt und Partei. Zur Situation der chinesischen Intelligenz. Ein Gespräch mit Liu Xinwu«, übers. von Mette Thuno u. Stephan P. Werner, in: Orientierungen 1/1993, S. 27–35. SEKUNDÄRLITERATUR: Christoph Himmelstein: Kaleidoskop der 80er Jahre. Das Werk des chinesischen Schriftstellers Liu Xinwu, Dortmund: projekt verlag, 1997; Helmut Forster-Latsch: »Kulturrevolution und Humanismus bei Liu Xinwu«, in: Zurück zur Freude. Studien zur chinesischen Literatur und Lebenswelt und ihrer Rezeption in Ost

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Liu Yiqing 刘义庆 und West. Festschrift für Wolfgang Kubin, hg. von Marc Hermann u. Christian Schwermann, Sankt Augustin: Institut Monumenta Serica / Nettetal: Steyler Verlag, 2007, S. 657–679. [XWR]

Liu Yiqing 刘义庆 (Prinz von Linchuan, 403 – 444), geb. in Pengcheng (heute Xuzhou, Provinz Jiangsu) Liu Yiqing war der Neffe Kaiser Wudis (reg. 420 – 423), des Gründers der Frühen Song-Dynastie (Liu-Song, 420 – 479). Er selbst hatte als Prinz von Linchuan höchste Ämter inne und herrschte über ausgedehnte Ländereien. Sein Gelehrtenstab – Liu Yiqing galt als großer Förderer der Literati –, dem auch (→) Bao Zhao angehörte, kompilierte in seinem Auftrag die bedeutendste frühe Anekdotensammlung, Neuer Bericht von Reden aus aller Welt (Shishuo xinyu). Die Zeitspanne, die die darin versammelten rund 1000 Berichte und (aus heutiger Sicht literarischen) Biographien abdecken, reicht von 25 bis 420 n.Chr. Neben der stark biographischen Komponente enthält das Werk auch Aufzeichnungen geistreicher »reiner Gespräche« (qingtan) über philosophische und andere Themen. Liu Yiqing sah darin vermutlich eine Ansammlung »amüsanter Geschichten von erzieherischem Wert« (Audrey Spiro), die nebenbei den Charakter einer inoffiziellen Geschichtsschreibung hatten. Das Shishuo xinyu ist deshalb noch heute von unschätzbarem historischen Wert, allerdings sind viele der mit Sicherheit entsetzlichen Geschehnisse jener von Kriegen und Verfall geprägten 400 Jahre – vielleicht mit Absicht – in einen sanften Schleier der Erinnerung gehüllt. Inhaltlich wie stilistisch hat dieses vielfach nachgeahmte Werk nachhaltig die narrative Prosa Chinas beeinflußt. WERKAUSGABEN: Shishuo xinyu jiaojian, hg. von Yang Yong, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1973; Shishuo xinyu xuanzhu, hg. u. komm. von Zhang Huizhi, Shanghai: Shanghai Guji, 1987; Shishuo xinyu yizhu, hg. u. komm. von Zhang Huizhi, Shanghai: Shanghai Guji, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Shih-shuo hsin-yü. A New Account of Tales of the World, übers. von Richard B. Mather, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1976. SEKUNDÄRLITERATUR: Werner Eichhorn: »Zur chinesischen Kulturgeschichte des 3. und 4. Jahrhunderts«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 19 (1937), S. 451‒483; Qian Nanxiu: Spirit and Self in Medieval China. The Shih-shuo Hsin-yü and its Legacy, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 2001. [HP]

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Liu Yong 柳永

Liu Yong 柳永 (eig. Liu Sanbian, zi: Qiqing, 987? ‒ 1053?), geb. in Chong’an (Provinz Fujian) Liu Yongs Name ist in der offiziellen Dynastiegeschichte der Song (960 – 1279) nicht verzeichnet. Nur in Lokalchroniken seiner Heimatprovinz Fujian findet man z.T. widersprüchliche Aussagen über sein Leben. Einzig die Erlangung seines Doktorgrades (jinshi) im Jahre 1034 ist unumstritten. Sein Vater hatte es, nach bestandener jinshi-Prüfung (985), bis zum Stellvertretenden Minister für Öffentliche Arbeiten gebracht und seinen drei Söhnen – Liu Yong war der jüngste – eine vorzügliche Ausbildung zukommen lassen. Liu Yong teilte jedoch während seiner Studienzeit die Umtriebigkeit der Jeunesse dorée in den Teehäusern von Kaifeng und war willkommener Gast bei den Singmädchen und Schauspielern der kaiserlichen Musikschule (Jiaofang). Hier wurde seine offensichtlich früh sich abzeichnende dichterische Begabung gefeiert. Gleichwohl hegte er ehrgeizige Pläne für eine Beamtenlaufbahn, doch mit seiner Leichtlebigkeit und seinen manchmal frivolen Lieddichtungen hatte er sich die Gunst des Kaisers Renzong (reg. 1023 ‒ 1063), der großen Wert auf eine würdevolle und verfeinerte Sprache legte, verscherzt. So heißt es, der Kaiser habe ihn beim zweiten Anlauf auf die jinshiPrüfung von der Liste der Kandidaten, die bestanden hatten, gestrichen. Erst beim dritten Versuch gelang es Liu, den begehrten Titel zu erwerben, doch mit den Ämtern, die man ihm anvertraute, konnte er sich keinen Namen machen. Sie führten ihn hauptsächlich in die Provinzen Zhejiang und Jiangsu, auch in der Hauptstadt soll er angestellt worden sein. Sein Leben war gekennzeichnet von dem Gefühl, nicht am rechten Platz zu stehen. »Als umherreisender Beamter bin ich heimatlos geworden«, klagte er. Seine Dichtung wurde ihm zum emotionalen Freiraum, in dem er die Begrenzungen seines Lebens »hinwegsang«. In der chinesischen Literaturgeschichte gilt Liu Yong als bahnbrechend für die Entwicklung des klassischen Liedes (ci). Ursprünglich hieß dieses quzi ci, weil man dabei Worte (ci) zu bestehenden Melodien (quzi) erfand. Im Gegensatz zum klassischen Gedicht mit seiner strengen Reim- und Tonordnung, das mit seinen parallel gestalteten Reimpaaren auch einen kosmologischen Bezug beinhaltete und sich durch Ausgewogenheit, Gleichmaß und vornehme Zurückhaltung auszeichnete, erlaubt das klassische Lied Verse von unterschiedlicher Länge und zeilenübergreifende semantische Einheiten. Es ermöglicht somit eine freiere, individuellere Form des Ausdrucks. Das Interesse an der ci-Dichtung war spätestens seit der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts gewachsen (wohl auch als Folge der Erschütterung des chinesischen Weltbilds durch den Aufstand des An Lushan [755]). Davon zeugen zwei Liedsammlungen aus dem 10. Jahrhundert: Unter Blumen (Huajian ji) und Wolkengesänge (Yunyaoji). Erstere enthält 500 Gesänge von 18 namentlich aufgeführten Verfassern, allen voran (→) Wen Tingyun (812 ‒ 870) mit 60 Einträgen. Sie sind in der xiaoling-Variante der ci-Form verfaßt, d.h., sie überschreiten bis auf

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Liu Yong 柳永

wenige Ausnahmen nicht die Länge von 60 Schriftzeichen, zeichnen sich durch einen zarten, erlesenen Stil aus und haben zumeist Liebe, Trennungsschmerz und Sehnsucht zum Thema. Die Wolkengesänge dagegen umfassen 33 anonyme, z.T. aus dem siebten Jahrhundert stammende Gesänge unterschiedlicher Länge mit teils über 100 Schriftzeichen. Sie sind volksnah und umgangssprachlich und auch von zentralasiatischen Weisen beeinflußt, und ihre Thematik ist über die Liebeslyrik hinaus breiter gefächert: Grenzlanderfahrung, Freuden des Einsiedlerlebens usw. All diese ci-Dichtungen wurden tatsächlich gesungen und zumeist in Teehäusern und Vergnügungsstätten, aber auch bei Banketten am Hof und zu Feiern von Examenskandidaten von Singmädchen vorgetragen. (→) Li Yu (937 ‒ 978), der letzte Kaiser der Südlichen Tang-Dynastie, der sich auch als Dichter einen Namen machte, erweiterte die Thematik der ci-Dichtung, indem er philosophische und politische Betrachtungen mit einfließen ließ, in denen er sein eigenes Schicksal reflektierte. Durch ihn begann das ci auch zu einer Form der Gelehrtendichtung zu werden. Liu Yongs entscheidender Beitrag zur Weiterentwicklung der ci-Dichtung nun bestand darin, verschiedenste Elemente seiner Vorgänger auszuwählen und sie zu einer ganz neuen Form, dem manci, zu verschmelzen. (Man bedeutet zunächst »getragen«, »gemessen«, sollte aber auch mit dem homophonen man im Sinne von »sich ausdehnen«, »sich erstrecken« gedeutet werden.) Das manci ist nicht nur insgesamt länger als das xiaoling, es erlaubt auch eine Ausweitung verschiedener Verszeilen und somit eine neue Gliederung von Versmaßen, Reim und Rhythmus. Diese »lange Form« ermöglicht lange Beschreibungen, eine Ausbreitung des Themas zu einer Art narrativer Form, in der Erleben und Empfinden sich vermischen, Außenwelt und Innenwelt sich verweben und die Länge der Melodie einen durchgehend fließenden Rhythmus schafft. Liu Yong hatte eine ausgesprochen musikalische Begabung. Für seine heute noch existierenden 212 Lieder (zusammengestellt unter dem Titel Liedersammlung [Yuezhang ji]) wählte er 130 verschiedene Tonmuster aus, zu denen er noch Variationen ausarbeitete. Sein längstes manci (»Qi Shi«) setzt sich aus 212 Schriftzeichen zusammen. Sprachlich verbindet er viele geflügelte Worte aus dem Zitatenschatz früherer Dichtungen mit seinen ganz eigenen, aus der Unmittelbarkeit äußerer Beobachtung und innerer Gestimmtheit gewonnenen Wortschöpfungen. So entstand eine Vermischung von Umgangs- und Gelehrtensprache, die von Zeitgenossen zumeist beanstandet, später aber als sprachliche Auffrischung und Erneuerung gepriesen wurde. In seiner Themenwahl bleibt Liu relativ begrenzt. Viele Lieder sind erotischer Natur (wie »Juhua xin«) oder handeln von Abschied und Sehnsucht (sein »Yulin ling« ist eines der beliebtesten Abschiedslieder der chinesischen Literatur). Seine Reise-, Landschafts- und Stadtbeschreibungen hat man mit waagerechten chinesischen Rollbildern verglichen, in denen sich die Szenen Bild um Bild vor dem Auge des Betrachters entfalten.

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Liu Yuxi 刘禹锡

Die von Liu Yong geschaffene neue Form wurde erst von nachfolgenden Dichtern auch thematisch voll ausgeschöpft, so von (→) Su Shi (1037 ‒ 1101), der durch gedankliche Vertiefung und philosophische Feinsinnigkeit das klassische Lied zur Vollendung führte. WERKAUSGABEN: Yuezhang ji, komm. von Xie Ruisheng, Peking: Zhonghua Shuju, 1995. ÜBERSETZUNGEN: Major Lyricists of the Northern Sung, übers. von James J.Y. Liu, Princeton: Princeton University Press, 1974, S. 53‒99; »Thirteen Tz’u«, übers. von Winnie Lai-fong Leung, in: Renditions 11/12 (Spring & Autumn 1979), S. 62‒82. SEKUNDÄRLITERATUR: Quan Song ci, hg. von Tang Guizhang, 5 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1965, Bd. 1, S. 21; Liou-yi Yuh: Liu Yung, Su Shih and Some Aspects of the Development of early Tzʼu Poetry, Diss., University of Washington, 1972; James Hightower: »The Songwriter Liu Yung«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 41, 2 (1981), S. 320‒ 376, u. 42, 1 (1982), S. 5‒66 [mit vielen Übersetzungen]; Zeng Daxing: Liu Yong he ta de ci, Guangdong: Zhongshan Daxue, 1990; Lap Lam, »A Reconsideration of Liu Yong and his ›Vulgar‹ Lyrics«, in: Journal of Song-Yuan Studies 33 (2003), S. 1–48; Song ci jianshang cidian, hg. von Zhang Xiaomin, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Cishu, 15 2007, Bd. 1, S. 28‒87. [BD]

Liu Yuxi 刘禹锡 (zi: Mengde, hao: Binke, 772 – 842), geb. in Pengcheng (heute Xuzhou, Provinz Jiangsu) Der bis heute unterschätzte Dichter und Naturphilosoph Liu Yuxi entstammte einer Gelehrtenfamilie, die sich in der Vergangenheit mit konfuzianischen Studien einen Namen gemacht hatte. Er bestand 793 das jinshi-Doktorexamen und hatte bereits kurz darauf das Amt eines Zensors am kaiserlichen Appellationshof inne. Zweimal wurde er im Laufe seiner Karriere für jeweils ein Jahrzehnt der Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan) verwiesen. Die erste Strafversetzung in die Provinz erfolgte im Jahr 805, nachdem er an der legistischen Reformbewegung Wang Shuwens (753 – 806) teilgenommen hatte, die bei Hofe die Privilegien der Eunuchen, Adeligen und lokalen Warlords einzuschränken versuchte. Die folgenden zehn Jahre verbrachte Liu als Präfekt der Stadt Langzhou (heute Changde) in der Provinz Hunan. 815 wurde er nach Changʼan zurückberufen. Trotz der Rehabilitierung wollte er es nicht versäumen, seine Gegner bei Hofe mit einem polemischen Gedicht zu bedenken; es trägt den Titel »Scherzhaft für die Herrschaften bei der Blütenschau« (»Xizeng kan hua zhu junzi«). Darin beklagt er, daß der schöne Pfirsichbaum, den ein daoistischer Mönch des hauptstädtischen Xuandu-Tempels zehn Jahre zuvor anläßlich seiner Verbannung gepflanzt hatte, groteskerweise von denjenigen genossen wurde, die ihn einst ins Exil geschickt hatten. Prompt erfolgte die nächste Verbannung. Diesmal sandte man Liu in den äußersten Süden des Reiches, nach Lianzhou (heute Lianxian, Provinz Guangdong). Um das Jahr 822

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Liu Zongyuan 柳宗元

war er Präfekt der Stadt Kuizhou (heute Kreis Fengjie, Provinz Sichuan). Erst nach 825 wurde ihm erlaubt, in den Norden zurückzukehren. Die Rückreise dorthin verbrachte er zum Teil in Begleitung (→) Bai Juyis, der damals auf dem Weg nach Luoyang war, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Die beiden verband eine tiefe Freundschaft. Liu Yuxi war – wie auch der gleichaltrige Bai – zuletzt als »Berater des Kronprinzen« (taizi binke) tätig, sein Beiname Liu Binke leitet sich aus diesem Amt her. Neben seinem philosophischen Hauptwerk Über den Himmel (Tianlun), das Gedanken (→) Xun Zis aufgreift, hat Liu Yuxi ebenso anspruchsvolle Lyrik geschaffen wie seine Zeitgenossen (→) Han Yu und (→) Liu Zongyuan, erlangte aber nicht deren Bekanntheitsgrad. Mit Liu Zongyuan war er eng befreundet und zeichnete für dessen erste Werkausgabe als Herausgeber verantwortlich. Aus Liu Yuxis eigenem poetischem Werk sind vor allem seine für die Lieddichtung der Song-Zeit (960 – 1279) wegweisenden »Bambus-« und »Weidenzweiglieder« (»Zhuzhi ci« und »Liuzhi ci«) hervorzuheben. In ihnen sind Einflüsse der Volksliedtraditionen jener Minderheitenvölker spürbar, mit denen Liu Yuxi im Exil in Kontakt kam. In seinen – häufig satirischen – politischen Gedichten setzte er auf literarischem Terrain seinen Kampf gegen die sich willkürlich bereichernde Oberschicht (die er z.B. offen mit einem »Mückenschwarm« verglich) fort. WERKAUSGABEN: Liu Yuxi xuanji, hg. von Wu Ruyu, Jinan: Qilu Shushe, 1989. ÜBERSETZUNGEN: Lyrik des Ostens: China, hg. von Wilhelm Gundert, München: Hanser, 1962, S. 118‒119; Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 196‒201; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 255‒257. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: »Der Empfindsame und der Leidvolle. Bemerkungen zu Liu Yü-hsis ›Bambuszweigliedern‹ (822)«, in: Ganz allmählich. Festschrift für Günther Debon, hg. von Roderich Ptak u. Siegfried Englert, Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt, 1986, S. 120‒131; Wilfried Spaar: »Liu Yuxi (772 ‒ 842). An Annotated Bibliography of Editions, Translations, and Studies«, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 1986, S. 1‒81; Wu Ruyu: Liu Yuxi zhuan lun, Xiʼan: Shaanxi Renmin, 1988; Chooi Kua Lim [d.i. Lin Shuikao]: »A Biography of Liu Yuxi«, in: Chinese Culture 36, 2 (1994), S. 115‒150, und 37, 1 (1996), S. 111‒141. [HP]

Liu Zongyuan 柳宗元 (zi: Zihou, hao: Hedong, Liuzhou, 773 – 819), geb. in Changʼan (heute Xiʼan, Provinz Shaanxi) Der Literat Liu Zongyuan zählt – neben (→) Han Yu – zu den »Acht großen Essayisten der Tang- und Song-Zeit«. Seine adlige Familie stammte aus Hedong (heute Yongji, Provinz Shaanxi), er selbst wuchs in der Hauptstadt Changʼan auf.

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Liu Zongyuan 柳宗元

Nach dem 793 bestandenen jinshi-Doktorexamen begann er im Jahr 796 eine zunächst sehr erfolgversprechende Beamtenlaufbahn. Erst war er in der kaiserlichen Bibliothek tätig, ab 801 hatte er das Amt des Bezirkskommandanten von Lantian (nahe Changʼan) inne. 803 erlangte Liu dann den höchsten akademischen Grad eines boxue hongzi und erhielt einen Posten im kaiserlichen Zensorat. Im Jahr 805 wurde er jedoch vom Kaiserhof verbannt, nachdem er – wie auch (→) Liu Yuxi – an der legistischen Reformbewegung Wang Shuwens (753 – 806) teilgenommen hatte. Für die nächsten zehn Jahre mußte sich Liu in Yongzhou (heute Lingling, Provinz Hunan) mit dem Amt eines – weitestgehend »kaltgestellten« – Marschalls (sima) zufriedengeben. Nicht umsonst war dieses Jahrzehnt seine intensivste literarische Schaffensperiode. 815 wurde er in die Hauptstadt zurückberufen, nur um alsbald in die entfernte und höchst unwirtliche Minderheitenregion Liuzhou (Provinz Guangxi) strafversetzt zu werden. Dort verstarb er mit nur 46 Jahren. Liu Zongyuan unterstützte Han Yus guwen-Bewegung, die sich die Rückbesinnung auf die literarischen Formen der Han- und Vor-Han-Zeit zum Ziel gesetzt hatte. Gemeinsam schufen und pflegten sie das neue Genre des – im Vergleich zum »korsetthaften« Parallelstil der pianwen-Prosa – stilistisch und inhaltlich freieren Essays (sanwen). Liu Zongyuan vertrat zwar auch den orthodox konfuzianischen Ansatz einer der Bildung verpflichteten Literatur, gestattete sich aber – im Gegensatz zu Han Yu – eine eklektischere Herangehensweise an die literarische (und philosophische) Tradition. So folgen seine feinfühligen und detailreichen Landschaftsbeschreibungen, die sich wie »ungereimte Gedichte« (Wolfgang Bauer) lesen, der Tradition von Chan-buddhistisch und daoistisch beeinflußten Naturlyrikern wie (→) Tao Yuanming, (→) Xie Lingyun, (→) Meng Haoran und (→) Wang Wei. Liu Zongyuan war selbst dem buddhistischen Glauben zugetan, sah darin jedoch keinen Widerspruch zu seinen ansonsten streng konfuzianischen Ansichten. Berühmt sind seine »Acht Aufzeichnungen von Exkursionen in Yongzhou« (»Yongzhou ba ji«), die als erste Reiseberichte (youji) der chinesischen Literaturgeschichte gelten. Seine vielfältige Prosa umfaßt rund 500 Werke, darunter neben Briefen und Essays auch Tierfabeln und Parabeln. Zudem hat er 180 Gedichte hinterlassen. Die erste Werkausgabe wurde nach seinem Tod von Liu Yuxi unter dem Titel Gesammelte Werke des Liu aus Hedong (Liu Hedong ji) herausgegeben. WERKAUSGABEN: Liu Hedong ji, Shanghai: Shanghai Renmin, 1974; Quan Tang shi suoyin: Liu Zongyuan juan, hg. von Luan Guiming, Peking: Zhonghua Shuju, 1995; Liu Zongyuan sanwen xuanji, hg. von Wang Xiandu et al., Shanghai: Shanghai Guji, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 212‒216; Chinese Classical Prose: The Eight Masters of the T’ang-Sung Period, übers. von Shih Shun Liu, Hongkong: Renditions Press, 1979, S. 98‒131; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 276‒280; Richard E. Strassberg: Inscribed Landscapes. Travel writing from Imperial China, Berke-

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Lu Can 陆粲 ley: University of California Press, 1994, S. 139‒150; Am Törichten Bach. Prosa und Gedichte, übers. von Raffael Keller, Berlin: Friedenauer Presse, 2005. SEKUNDÄRLITERATUR: Jennings Mason Gentzler: A Literary Biography of Liu Tsung-yüan, Diss., Columbia University, 1966; William H. Nienhauser Jr.: Liu Tsung-yüan, New York: Twayne, 1973; Madeline K. Spring: A Stylistic Study of Tang Guwen. The Rhetoric of Han Yu and Liu Zongyuan, Diss., University of Washington, 1983; Jo-Shui Chen: Liu Tsung-yüan and Intellectual Change in T’ang China, 773 ‒ 819, Cambridge: Cambridge University Press, 1992; Wilfried Spaar: Liu Zongyuan’s Work in Translation. A Bibliography, Berlin: Staatsbibliothek, 2003. [HP]

Lu Can 陆粲 (zi: Ziyu, 1494 ‒ 1551), geb. in Changzhou (Provinz Jiangsu) Lu legte 1526 die Prüfung zum Doktor (jinshi) ab, doch seine Kritik an mächtigen Beamten brachte ihm zunächst eine Gefängnisstrafe ein. Auf dem Posten eines Präfekten tat er sich später in der Bekämpfung von Räubern hervor. Lu war bekannt für sein umfassendes Wissen und beschäftigte sich vor allem mit dem HerzSutra. Er tat sich früh als Dichter hervor, galt als großes Talent und hinterließ zahlreiche literarische Arbeiten. Ein zentrales Werk ist Kompiliertes und Selbstverfaßtes zu den Jahren zwischen 1450 und 1521 (Gengsibian), das um 1520/21 entstanden ist und diverse Themen behandelt. Im Mittelpunkt stehen dabei soziale und wirtschaftliche Fragen in der Provinz Jiangsu, doch spielt daneben auch die Folklore eine große Rolle. Gerade diese volkstümlichen Geschichten, die sich zunächst mit Geistern und übernatürlichen Gestalten und Ereignissen befassen, besitzen eine hohe narrative Qualität und stehen fraglos unter dem Einfluß der zu Lu Cans Zeiten im Aufschwung befindlichen Erzählliteratur der xiaoshuo. Einige seiner Geschichten dienten später offenbar als Vorlage für die Textbücher (huaben) als eine frühe Form der umgangssprachlichen Erzählung. Ein in der chinesischen Erzählliteratur heraussragender und vielgelobter Text ist »Dongxiaoji«, der sich durch seine dichte Beschreibung auszeichnet und von dem Wunsch junger Liebender berichtet, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen. WERKAUSGABEN: Lu Ziyu ji, Taipeh: Taiwan Shangwu Yinshuguan, 1986; Lu Can shihua, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997; Gengsibian, Peking: Zhongguo Shudian, 2000. [TZ]

Lu Hsün (→) Lu Xun

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Lu Ji 陆机

Lu Ji 陆机 (zi: Shiheng, 261 – 303), geb. in Huating im damaligen Staat Wu (heute Kreis Songjiang nahe Shanghai, Provinz Jiangsu) Der Literat und Kalligraph Lu Ji stammte aus einer namhaften Familie des Staates Wu. Sein Großvater Lu Xun war Kanzler, sein Vater Lu Kang General unter Kaiser Sunhao (reg. 264 – 280). Auch Lu Ji selbst sollte später als General dienen, doch zunächst mußte er sich nach der Eroberung des Staates Wu durch die Westliche Jin-Dynastie (265 – 316) für neun Jahre auf den Landsitz der Familie in Huating zurückziehen. Im Jahr 289 reiste er – zusammen mit seinem ebenfalls berühmten Bruder Lu Yun (262 – 303) – nach Luoyang, nunmehr Hauptstadt der Jin, und gelangte mit der Hilfe seines Mentors (→) Zhang Hua in Amt und Würden; u.a. bekleidete er eine hohe Position in der kaiserlichen Bibliothek. Als es um das Jahr 300 verstärkt zu Aufständen und in der Folge auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen an den Grenzen des Staates Jin kam, wurde Lu Ji als General eingesetzt, konnte jedoch in dieser Funktion keine Erfolge vorweisen. Unter dem Verdacht des Landesverrates wurde er schließlich im Jahr 303 fern der Hauptstadt hingerichtet. Lu Jis umfangreiches Werk von nahezu 100 Titeln sowohl lyrischer als auch prosaischer Art ist in einer heute noch zehn Bände (von ehemals 14) umfassenden Sammlung erhalten. Doch nur ein einziger Text aus diesem großen Konvolut machte tatsächlich Furore und verankerte den Namen des Autors unauslöschlich in der Literaturgeschichte: die »Rhapsodie über die Literatur« (»Wenfu«). Das vermutlich im Jahre 301 verfaßte Prosagedicht ist auch in der Literarischen Anthologie (Wenxuan) des (→) Xiao Tong enthalten. Es entfaltet detailliert und »bewundernswert realistisch« (Siu-kit Wong) – zwar in poetischer Form, aber dennoch als Theorie lesbar – den Prozeß des Schreibens. Aufgrund seiner literaturkritischen Ansätze von einer Gattungsdifferenzierung bis hin zur Kompositionslehre, die über den Essay »Über die Literatur« (»Dianlun lunwen«) des (→) Cao Pi hinausgehen, hatte der Text großen Einfluß auf die nachfolgenden literaturtheoretischen Schriften der Tang-Zeit (618 – 907). Motivisch erinnert das »Wenfu« ein wenig an die phantastische und zugleich quälende Reise im »Lied von der Verzweiflung« (»Lisao«), in dem (→) Qu Yuan die Grenzen zwischen Integrität und Loyalität auslotet. In Lu Jis »Wenfu« wird dem Protagonisten, d.h. dem schöpferischen Autor, während einer Reise durch irdische und himmlische Regionen auf der Suche nach Worten, die seinen Gedanken, Gefühlen und Sinneseindrücken gerecht werden, schmerzlich die Begrenztheit des sprachlichen Ausdrucks bewußt. WERKAUSGABEN: Lu Shiheng wenji, in: Sibu congkan, hg. v. Zhang Yuanji, Bd. 33, Shanghai: Shangwu Yinshuguan, 1936; Lu Shiheng shizhu, hg. von He Liquan, Shanghai: Gudian Wenxue, 1958; Lu Shiheng ji, in: Sibu beiyao, Bd. IV, 4, Taipeh: Zhonghua Shuju, 1965.

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Lu Xun 鲁讯 ÜBERSETZUNGEN: The Art of Letters. Lu Chi’s »Wen Fu«, 302 A.D., übers. von Ernest R. Hughes, New York: Pantheon, 1951; Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 237‒239 et passim; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 133f.; »A Descriptive Poem on Literature«, übers. von Siu-kit Wong, in: ders.: Early Chinese Literary Criticism, Hongkong: Joint Publishing Company, 1983, S. 39‒60; The Art of Writing. Lu Chi’s Wen Fu, übers. von Sam Hamill, Minneapolis: Milkweed Editions, 1991; Xiao Tong: Wen xuan, or Selections of Refined Literature, Bd. III, übers. von David R. Knechtges, Princeton: Princeton University Press, 1996, S. 211‒231. SEKUNDÄRLITERATUR: Volker Strätz: Untersuchung der formalen Strukturen in den Gedichten des Luh Ki, Bern: Peter Lang, 1989; Chiu-mi Lai: River and Ocean. The Third Century Verse of Pan Yue and Lu Ji, Diss., University of Washington, 1990. [HP]

Lu Xun 鲁讯 (eig. Zhou Zhangshuo, später Zhou Shuren, zi: Yucai, 1881 ‒ 1936) geb. in Shaoxing (Provinz Zhejiang) Lu Xun kam in einer lokal angesehenen Gelehrtenfamilie zur Welt, deren Abstieg jedoch bereits begonnen hatte. Während seiner Schulzeit kam er mit verschiedenen philosophischen, politischen und literarischen Werken aus dem Westen in Berührung, wodurch er ein starkes Bewußtsein für das Individuum und die Freiheit des einzelnen entwickelte. 1902 erhielt er ein Regierungsstipendium für ein Medizinstudium in Japan. Dort engagierte er sich jedoch zunehmend politisch und setzte sich für die Modernität und Souveränität Chinas ein. Schließlich brach er sein Medizinstudium ab, da er der Auffassung war, daß man mit medizinischen Kenntnissen zwar Menschen von ihren Krankheiten befreien konnte, aber nicht von ihrer Stumpfsinnigkeit und geistigen Rückständigkeit. Er ging schließlich nach Tokio, das zu dieser Zeit das Zentrum der politisch engagierten chinesischen Studenten in Japan war. Dort verfaßte er politische Artikel und übersetzte zahlreiche literarische Werke aus dem Russischen und Japanischen ins Chinesische. 1909 kehrt Lu Xun nach China zurück und arbeitet zunächst als Chemielehrer in Hangzhou (Provinz Zhejiang) und Shaoxing. Nach dem Sturz des Kaiserhauses im Jahre 1911 wird er von Cai Yuanpei (1868 ‒ 1940, zu dieser Zeit Erziehungsminister der neugegründeten Republik China) nach Nanjing (Provinz Jiangsu) in das Ministerium für Bildung und Erziehung geholt. Mit dem Umzug des Ministeriums 1912 nach Peking wechselt auch Lu Xun seinen Wohnort und wird Leiter der Abteilung für Bildung und Soziales. Zu dieser Zeit beginnt er über klassische chinesische Literatur und Buddhismus zu forschen. 1918 tritt er in die Redaktion der Zeitschrift Neue Jugend (Xin qingnian) ein und veröffentlicht dort zum ersten Mal unter dem später bekannten Pseudonym Lu Xun seine erste Novelle »Tagebuch eines Verrückten« (»Kuangren

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Lu Xun 鲁讯

riji«). In dieser Novelle, verfaßt in moderner Umgangssprache (baihua), attackiert der Autor das feudale System mit seinem »Menschen fressenden« Charakter und appelliert an die chinesische Gesellschaft, die Kinder und somit die Zukunft Chinas zu retten. Es folgen bald weitere literarische Werke wie »Kong Yiji« (»Kong Yiji« [Eigenname]), »Arznei« (»Yao«) und »Die wahre Geschichte des Herrn Jedermann« (»A Q zhengzhuan«). Ab 1920 lehrt Lu Xun an verschiedenen Universitäten in Peking Chinesische Literatur. In diesen Zeitraum fällt die Veröffentlichung des Buches Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung (Zhongguo xiaoshuo lüeshi) sowie einer Sammlung literarischer Erzählungen unter dem Titel Applaus (Nahan). Angesichts der politischen Unruhen und der immer stärker werdenden Unterdrückung durch die Machthaber engagiert sich Lu Xun für verschiedene politische Aktionen und wird daraufhin von der damaligen Regierung per Haftbefehl gesucht. Um der Verfolgung zu entgehen, reist er 1926 nach Xiamen und später weiter nach Kanton. Neben seiner Lehrtätigkeit dort verfaßt er zahlreiche politische Essays und Satiren. Ab 1927 lebt er in Shanghai. Er tritt der Liga linker Schriftsteller bei und wird führender Vertreter der Neuen Literaturbewegung (Xin Wenhua Yundong). Als Herausgeber und Redakteur verschiedener Literaturzeitschriften bestimmt er maßgeblich die Richtung der modernen Literatur in China. Seine eigenen literarischen Beiträge gelten als herausragende Beispiele des neuen umgangssprachlichen Stils. Da sich die gesellschaftlichen Probleme in dieser Zeit weiter zuspitzten und die politischen Maßnahmen der Machthaber sich entsprechend radikalisierten, wird auch der Ton seiner politischen Essays schärfer und kompromißloser. In ihnen entlarvt er schonungslos die Mißstände in der chinesischen Gesellschaft und in dem herrschenden politischen System seiner Zeit. Lu Xuns literarische Werke beschäftigen sich überwiegend mit dem Alltagsleben der chinesischen Unterschicht. In ihnen kommt seine tiefe Sympathie gegenüber den Unterprivilegierten, Unterdrückten und Gescheiterten zum Ausdruck, aber auch seine Wut angesichts von deren lähmender Gleichgültigkeit und ihrem grotesken Aberglauben. Neben seinem Engagement für soziale Gerechtigkeit und seinem schriftstellerischen Schaffen war er zugleich ein großer Förderer junger chinesischer Autorinnen und Autoren, unter ihnen Yin Fu, (→) Xiao Hong und Ai Wu. Lu Xun gehört zweifellos zu den bedeutendsten Schriftstellern des modernen China. Während jedoch unter der Mao-Ära (1949 – 1976) seine Person für die Zwecke der Politik stark verklärt wurde, ist der Blick sowohl auf ihn selbst als auch auf sein literarisches Werk in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Diskussion differenzierter. Man versucht ihn zu entmystifizieren, ihn weniger als Gottheit kommunistisch geprägter Literatur zu sehen denn als einen Literaten, der seinerzeit große Literatur hervorgebracht hat. 1936 starb Lu Xun in Shanghai an Tuberkulose.

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Lu Xun 鲁讯 WERKAUSGABEN: Lu Xun quanji, Peking: Renmin Wenxue, 16 Bde., 1981. ÜBERSETZUNGEN: Der Einsturz der Lei-feng-Pagode. Essays über Literatur und Revolution in China, hg. u. übers. von Hans Christoph Buch u. Wong May, Reinbek: Rowohlt, 1973; Werkausgabe in 6 Bänden, hg. u. übers. von Wolfgang Kubin, Zürich: Unionsverlag, 1994; Alte Geschichte neu erzählt, Peking: Waiwen, 2002; Auf der Suche, Peking: Waiwen, 2002; Aufruf zum Kampf, Peking: Waiwen, 2002; Morgenblüten abends gepflückt, Peking: Waiwen, 2002; Wilde Gräser, Peking: Waiwen, 2002; Lu Xun, Xu Guangping: Briefe aus zwei Welten, hg. von Wolfgang Kubin, München: edition global, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Sung-kʼang Huang: Lu Hsun and the New Culture Movement of Modern China, Amsterdam: Djambatan, 1957; Jef Last: Lu Hsün – Dichter und Idol. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des neuen China, Frankfurt a.M./Berlin: Metzner, 1959; Jaroslav Prusek: »Lu Hsun the Revolutionary and the Artist«, in: Orientalische Literaturzeitung 5/6, 1960, S. 230‒236; Tsi-an Hsia: »Aspects of the Power of Darkness«, in: ders.: The Gate of Darkness. Studies on the Leftist Literary Movement, Seattle: University of Washington Press, 1968, S. 146‒162; Charles J. Alber: Soviet Criticism of Lu Hsun, Diss., Indiana University, 1971; William A. Lyell: Lu Hsün’s Vision of Reality, Berkeley et al.: University of California Press, 1976; Milena DolezelovaVelingerova: »Lu Xunʼs ›Medicine‹«, in: Modern Chinese Literature in the May Fourth Era, hg. von Merle Goldman, Cambridge: Harvard University Press, 1977, S. 221‒232; Marian Galik: The Genesis of Modern Chinese Literary Criticism, 1917 ‒ 1930, London: Curzon Press, 1980, S. 236‒284; Leo Ou-fan Lee: Voices from the Iron House. A Study of Lu Xun, Bloomington: Indiana University Press, 1987; Aus dem Garten der Wildnis. Studien zu Lu Xun (1881 ‒ 1936), hg. von Wolfgang Kubin, Bonn: Bouvier, 1989; Jon Kowallis: »Lu Xun’s Wenyan Essay Moluo shi li shuo (On the Power of Mara Poetry) and the Concerns of the May Fourth«, in: Interliterary and Intraliterary Aspects of the May Fourth Movement 1919 in China, hg. von Marian Galik, Bratislava: Veda, 1990, S. 45‒58; Wolfgang Kubin: »Lu Xun’s Dreams on the Eve of May Fourth and Thereafter«, in: ebd., S. 59‒65; Kam-ming Wong: »The Madman and the Everyman Self and Other in Lu Xun«, in: Proceedings of the Twelfth International Symposium on Asian Studies, Hongkong: Asian Research Service, 1990, S. 293‒310; Kam-ming Wong: »Dotting the ›I‹: Reading Lu Xun Through the Eyes of Darwin and Nietzsche«, in: Proceedings of the Thirteenth International Symposium on Asian Studies, Hongkong: Asian Research Service, 1991, S. 189‒210; David Der-wei Wang: Fictional Realism in 20th Century China. Mao Dun, Lao She, Shen Congwen, New York: Columbia University Press, 1992; Gregor Benton: »Lu Xun, Leon Trotsky, and the Chinese Trotskyists«, in: East Asian History 7 (1994), S. 93‒104; Paul B. Foster: Lu Xun, Ah Q, »The True Story of Ah Q« and the National Character Discourse in Modern China, Diss., The Ohio State University, 1996; Wang Furen: Zhongguo Lu Xun yanjiu de lishi yu xianzhuang, Hangzhou: Zhejiang Renmin, 1999; Gang Yue: The Mouth that Begs. Hunger, Cannibalism, and the Politics of Eating in Modern China, Durham: Duke University Press, 1999, S. 67‒100; Yenna Wu: »Pitfalls of the Postcolonialist Rubric in the Study of Modern Chinese Fiction Featuring Cannibalism: From Lu Xunʼs ›Diary of a Madman‹ to Mo Yanʼs ›Boozeland‹«, in: Tamkang Review 30, 3 (Spring 2000), S. 51‒88; Shueimay Chang: »Lu Hsunʼs ›Regret for the Past‹ and the May Fourth Movement«, in:

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Lu You 陆游 Tamkang Review 31, 4 ‒ 32, 1 (Summer – Autumn 2001), S. 173–203; Raoul David Findeisen: Lu Xun. Texte, Chronik, Bilder, Dokumente, Frankfurt a.M.: Stroemfeld, 2001; Bonnie S. McDougall: »Brotherly Love: Lu Xun, Zhou Zuoren, and Zhou Jianren«, in: China in seinen biographischen Dimensionen. Gedenkschrift für Helmut Martin, hg. von Christina Neder, Wiesbaden: Harrassowitz, 2001, S. 259‒276; dies.: »Lu Xun Hates China, Lu Xun Hates Lu Xun«, in: Symbols of Anguish. In Search of Melancholy in China, hg. von Wolfgang Kubin, Bern: Peter Lang, 2001, S. 385‒440; dies.: LoveLetters and Privacy in Modern China. The Intimate Lives of Lu Xun and Xu Guangping, Oxford: Oxford University Press, 2002; Ban Wang: Narrative Perspective and Irony in Selected Chinese and American Fiction, Lewiston, New York: Edwin Mellen, 2002; Jin Feng: The New Woman in Early Twentieth-Century Chinese Fiction, Lafayette: Purdue University Press, 2004, S. 40‒59; Paul B. Foster: »Ah Q Progeny ‒ Son of Ah Q, Modern Ah Q, Miss Ah Q, Sequels to Ah Q – Post-1949 Creative Intersections with the Ah Discourse«, in: Modern Chinese Literature and Culture 16, 2 (2004), S. 184‒234; Thomas Täubner: Chinas neuer Heiliger. Lu Xun in der Volkesrepublik China, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2004; Yoshimi Takeuchi: What Is Modernity? Writings of Takeuchi Yoshimi, übers. von Richard Calichman, New York: Columbia University Press, 2005; Jeremy Tambling: Madmen and Other Survivors. Reading Lu Xunʼs Fiction, Hongkong: Hong Kong University Press, 2007; Peter Button: Configurations of the Real in Chinese Literary and Aesthetic Modernity, Leiden: Brill, 2009; Roman Halfmann: »›De-Exotisierung‹ als Versuch der Neuschöpfung: Gogols und Lu Xuns Tagebücher eines Verrückten in der chinesischen Rezeption«, in: Lili – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (2009), S. 171‒182. [WH]

Lu You 陆游 (zi: Wuguan, hao: Fangweng, 1125 – 1210), geb. in Shanyin (heute Shaoxing, Provinz Sichuan) Hellwacher Geist, durchdringende Beobachtungsgabe und leidenschaftliche Empfindsamkeit bis ins hohe Alter bestimmten das spannungsreiche Werk und Leben dieses Staatsmannes, Historikers und Dichters, dessen Schaffenskraft nie ermüdete. Seine Geburt in stürmischer Nacht, auf einem Schiff, das die Familie Lu von einem Provinzposten in die Hauptstadt zurückbringen sollte – der Vater, Lu Zai, erwartete ein neues Amt am Hofe –, kann man als symbolische Vorzeichnung seines Schicksalsweges deuten. Im Folgejahr drangen die Dschurdschen (Jin) weit ins chinesische Territorium ein, das Kaiserhaus floh nach Hangzhou, die Familie Lu befand sich etwa acht Jahre auf der Flucht, bevor sie in ihrer Heimat Shanyin Zuflucht fand – unvergeßliche Eindrücke für Lu You, der zeitlebens die Beschwichtigungspolitik des Hofes anprangerte und für eine Zurückdrängung der Eroberer eintrat. Aufgrund dieser Haltung strich man ihn von der Liste der erfolgreichen Kandidaten, obwohl er das Doktorexamen (jinshi) als bester bestanden hatte. (Sein Vater und der Dichter Zeng Ji [1084 ‒ 1166] waren seine Lehrer.) Erst Kaiser Xiaozong (reg.1162 ‒ 1189) verlieh ihm 1162 den Titel ehrenhalber. Es folgten untergeordnete Ämter in verschiedenen Provinzen, die immer wieder durch Ent-

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Lu You 陆游

lassungen unterbrochen wurden, da er mit seinen Einstellungen im Dauerkonflikt mit den einflußreichen Beamten stand. Von 1170 bis 1178 hielt er sich in Sichuan auf, hauptsächlich in Chengdu, als Berater des Befriedungskommissars. Seine Reiseerlebnisse von Shanyin aus bis nach Sichuan hat er in einem ausführlichen Bericht über eine Reise nach Sichuan (Ru Shu ji) festgehalten. Dieser zählt wegen seiner Vielfalt von Beobachtungen (landschaftliche Besonderheiten, Schiffahrt, Schleusen, Häfen, Volksbräuche, Tempel und Städte entlang des Yangtse) und seiner lebendigen Sprache zu den Meisterstücken des Genres der Reiseberichte (youji). 1189 zog sich Lu You auf sein Anwesen in Shanyin zurück, nur 1202 wurde er noch einmal als Leiter der Kaiserlichen Bibliothek nach Hangzhou berufen, wo er die Wahren Aufzeichnungen (Shilu) der Regierungszeiten Xiaozongs und Guangzongs (reg. 1189 ‒ 1194) verfaßte sowie ein Geschichte der Südlichen Tang (Nan Tang shu), die große Beachtung fand. Nach Beendung des Werks kehrte er in seine Heimat zurück, bestellte selbst den Boden in friedlichem Nebeneinander mit seinen bäuerlichen Nachbarn, gleichzeitig unentwegt dichtend und forschend. (Er vertiefte sich täglich in die Lektüre des Durchgehenden Spiegels zur Hilfe bei der Regierung [Zizhi tongjian] des [→] Sima Guang.) Daheim stellte er mit seinem Sohn Zi Yu seine Gesammelten Werke zusammen, zum einen die Schriftensammlung des Weinan (Weinan wenji, benannt nach dem Adelstitel »Herzog von Weinan«, der Lu You 1207 verliehen worden war), die alle seine Prosaschriften und 130 klassische Lieder umfaßt, zum anderen seine Gedichtesammlung im Andenken an Jiannan (Jiannan shi gao, nach dem Ort Jiannan, nahe Chengdu, wo Lu You glückliche Zeiten verlebt hatte). Die etwa 9220 Gedichte sind nach seinem Lebensalter eingeteilt: Die meisten Gedichte seiner jungen Jahre hatte er verworfen, da sie von der Jiangxi-Schule beeinflußt waren, von der er sich später löste. Daher sind vom Frühwerk nur 236 Gedichte erhalten. Etwa 2500 Gedichte stammen aus der Zeit zwischen dem 45. und 64. Lebensjahr, die restlichen 6500 vom 65. bis zum Tode. Die Gedichte der mittleren Phase sind geprägt von Lus leidenschaftlichem Eintreten für die Wiederherstellung des Reiches, seinen Begegnungen mit den einfachen Menschen seiner Amtsbezirke, von Landschaftseindrücken und Reisebeobachtungen. Nach seinem Rückzug nimmt das ländliche Leben mit seiner Vielfalt von kleinen Dingen, an denen die Menschen leiden oder sich erfreuen, viel Raum ein. Der Mensch und das einfache Leben treten in den Vordergrund. Lu Yous Gefühlswelt, Gedankenwelt, erlebte Wirklichkeit, sein umfassendes Wissen, sein Idenreichtum und nicht zuletzt sein natürlicher, von innerer Ergriffenheit getragener Stil vereinen sich und verleihen diesen Gedichten eine unverwechselbare Tiefe, Leichtigkeit und Lebendigkeit zugleich. WERKAUSGABEN: Jiannan shigao jiaozhu, komm. von Qian Zhonglian, Shanghai: Shanghai Guji, 1985; Lu Fangwen quanji, Peking: Zhongguo Shudian, 1986.

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Lü Tiancheng 吕天成 ÜBERSETZUNGEN: The Old Man Who Does As He Pleases. Selections from the Poetry and Prose of Lu Yu, übers. von Burton Watson, New York u. London: Columbia University Press, 1973; South China in the Twelfth Century. A Translation of Lu Yu’s Travel Diaries, July 3 ‒ December 6, 1170, übers. von Chung-shu Chang u. J. Smythe, Hongkong: Chinese University Press, 1981; The Wild Old Man. Poems of Lu Yu, übers. von David M. Godon, San Francisco: North Point Press, 1984; Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, Berlin: Rütten & Loening, 1969, S. 337‒341. SEKUNDÄRLITERATUR: Clara Candlin: The Herald Wind, London: John Murray, 1933; dies.: The Rapier of Lu, Patriot Poet of China, London: John Murray, 1946; Yoke HoPeng et al.: Lu You, The Poet Alchemist, Canberra: Faculty of Asian Studies, 1972; Kojiro Yoshikawa: An Introduction to Sung Poetry, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973, S. 145‒159; Chung-shu Chang: Notes on the Composition, Transmission, and Edition of the »Ju-Shu Chi«, Bulletin of the Institute of History and Philology (Academia Sinica, Taipei) 48, 3 (1977), S. 481‒499; Michael S. Duke: Lu You, Boston: Twayne, 1977; Song shi jianshang cidian, komm. von Miao Yue, Shanghai: Shanghai Cishu, 32007, S. 914‒1011. [BD]

Lü Tiancheng 吕天成 (zi: Qinzhi, hao: Jijin, Yulansheng, 1580 ‒ ca. 1620), geb. in Yuyao (Provinz Zhejiang) Lü war ein Literat der ausgehenden Ming-Zeit (1368 – 1644), der sich vor allem als Dramenkritiker einen Namen machte. Besonders versiert soll Lü in der Frage der »temperierten Stimmung« (yinlü) bei Musikstücken gewesen sein. Von bleibendem Einfluß auf die spätere Wahrnehmung und Bewertung der Dramen- und Gesangskunst in China war Lüs Werk Beurteilung von Gesangsstücken (Qupin). Den überlieferten Äußerungen von Zeitgenossen zufolge scheint Lü in frühen Jahren noch eine Affinität zur Erzähl- und Romankunst besessen und sich erst in späteren Jahren den »ernsteren« Literaturgattungen zugewandt zu haben. So wird sein Name mit dem erotischen Roman Inoffizielle Geschichte des bestickten Lagers (Xiuta yeshi) in Verbindung gebracht, doch ist seine Verfasserschaft nicht mit Sicherheit belegt. WERKAUSGABEN: Qupin, Anm. von Wang Zhuo, Harbin: Beifang Wenyi, 2005. SEKUNDÄRLITERATUR: Zhang Ping: »Shilun Lü Tiancheng Qupin dui chuantong xiqu piping guannian de tupo«, in: Ningbo Daxue xuebao (Renwen kexue ban) 6/2006, S. 12–17. [TZ]

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Luo Guanzhong 罗贯中

Lü Xiong 吕熊 (zi: Wenzhao, hao: Yitian sou, Yitian lüsou, ca. 1641 ‒ ca. 1722), geb. in Kunshan (Provinz Jiangsu) Genauere Lebensdaten des Literaten Lü Xiong lassen sich nur aus Vorworten zu seinem Werk, Angaben in Lokalchroniken und Schriften aus dem Freundeskreis entnehmen. Unter letzteren ist vor allem () Liu Tingji mit seinen Vermischten Schriften des Zaiyuan (Zaiyuan zazhi) anzuführen. Soviel man weiß, gehörte Lü Xiongs Vater Tianyu zu den nationalistisch gesinnten Kreisen der loyalen MingAnhänger, jedenfalls nahm er angesichts des Zusammenbruchs der Ming-Dynastie Mitte der vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts davon Abstand, seinen Sohn auf eine Beamtenlaufbahn vorzubereiten, und brachte ihn statt dessen dazu, sich der Medizin zu widmen. Den literarisch ambitionierten Lü Xiong hinderte dies nicht daran, auch seine eigenen Pläne zu verfolgen. Aus freien Stücken schloß er sich dem Lager des Gouverneurs von Zhilü, Yu Chenglong, an, erntete damit aber Vorwürfe aus den Kreisen der Ming-Nationalisten. Lü setzte sich in der Folge über alle Anfeindungen aus seiner Umgebung hinweg, als er nach der Übernahme des kaiserlichen Befehls durch Yu Chenglong, die Region entlang des Gelben Flusses zu befrieden, wieder in dessen Umfeld auftauchte und Yu später auch bei dessen siegreichen Feldzügen in Südchina begleitete. Von Lü Xiongs umfassenden Schriften scheint kaum etwas erhalten geblieben zu sein, doch zumindest weiß man davon aus Katalogen und den Bemerkungen anderer Literaten. Dort liest man auch immer wieder von dem Lob, das Lüs knappem und prägnantem Ausdrucksstil gezollt wurde. Abgesehen von wenigen Gedichtzeilen Lü Xiongs, die in einer Lokalchronik enthalten sind, ist offenbar nur sein Roman Inoffizielle Geschichte der Unsterblichen (Nüxian waishi) erhalten geblieben. Aus den Bemerkungen seines Freundes Liu Tingji, der den Entstehungsprozeß des Romans über mehrere Jahre hinweg verfolgen konnte, ist bekannt, daß das Werk zwischen 1701 und 1704 entstanden sein muß. WERKAUSGABEN: Nüxian waishi, Shanghai: Shanghai Guji, 1991.

[TZ]

Luo Guanzhong 罗贯中 (eig. Luo Ben, zi: Guanzhong, hao: Huhai sanren, ca. 1315/1318 ‒ ca. 1385/1388), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Luo Guanzhong ist immer wieder mit der Entstehung einer größeren Anzahl der ältesten chinesischen Romanwerke in Verbindung gebracht worden, doch liegen bis heute keine gesicherten Erkenntnisse über seine Biographie und seine Funktion als Verfasser dieser Werke vor. Die einzige zeitgenössische Quelle mit Angaben über Luo ist eine kurze Biographie in einem frühen Ming-Werk aus dem Jahr 1424 mit dem Titel Ergänzende Bemerkungen zu den Verstorbenen (Lugui bu xubian).

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Luo Guanzhong 罗贯中

Von einer Verbindung Luos zur Literatur ist dort nur insofern die Rede, als erwähnt wird, er habe Dramen verfaßt. Von diesen ist heute nur noch eines erhalten: Das Wind- und Wolkentreffen von Drachen und Tigern des Song-Gründers (Zhao Taizu longhu fengyunhui). Dies hat freilich nicht verhindert, daß Luo die (Mit-)Verfasserschaft an einer Reihe weiterer Werke zugeschrieben worden ist, ähnlich wie später auch bekannte Persönlichkeiten wie () Li Zhi, () Jin Shengtan oder () Feng Menglong immer wieder als vermeintliche Romanautoren herhalten mußten. Dahinter ist das Bemühen zu erkennen, diesen Romanen eine bekannte Herkunft zu verleihen und sie damit zu legitimieren und in ihrem Wert zu steigern. So kann selbstverständlich auch nicht ausgeschlossen werden, daß Luo auf die eine oder andere Weise in den komplexen Entstehungsprozeß eines oder mehrerer Romane mit eingebunden war, der immerhin die mündliche Präsentation durch einen Erzähler, die Weiterverbreitung mittels einer Textfassung und deren immer wieder vorgenommene Überarbeitung umfaßte. Konkret soll nun Luo Guanzhong der Autor nicht nur der Drei Reiche (Sanguo yanyi) sein, sondern auch die historischen Romane Darstellung der beiden Dynastien Sui und Tang (Sui Tang liang dao zhi zhuan) und Der Niedergang der Tang und die Geschichte der Fünf Dynastien (Can Tang wudaishi yanyizhuan) verfaßt haben. Darüber hinaus schreibt man ihm die erste Fassung von Der Aufstand der Zauberer und ihre Unterwerfung durch die drei Sui (San Sui pingyao zhuan) zu. Als Mitverfasser kommt er der Überlieferung zufolge für Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und für die Mit Liedern und Balladen versehene Erzählung über Prinz Qin, Gründer der Tang (Da Tang Qinwang cihua) in Frage. Zu den Lebensumständen Luos läßt sich darüber hinaus den Quellen nur entnehmen, daß ihm eine Nähe zu den Führern der Anti-Mongolen-Bewegung in Südchina zugeschrieben wurde und daß er dabei in den Diensten Zhang Shichengs (gest. zwischen 1353 und 1367) gestanden haben soll, der ein größeres Gebiet in Südchina beherrschte. WERKAUSGABEN: Pingyaozhuan, Shanghai: Shanghai Guji, 1981; Sanguo yanyi, Hubei: Changjiang Wenyi, 1981; Shuihuzhuan, Peking: Renmin Wenxue, 1984. ÜBERSETZUNGEN: Der Aufstand der Zauberer. Ein Roman aus der Ming-Zeit in der Fassung von Feng Menglong, übers. von Manfred Porkert, Frankfurt a.M.: Insel, 1986; Outlaws of the Marsh, übers. von Sidney Shapiro, 4 Bde., Peking: Foreign Languages Press, 1988; Three Kingdoms, attributed to Luo Guanzhong, übers. von Moss Roberts, 4 Bde., Berkeley et al. / Peking: University of California Press / Foreign Languages Press, 1991. SEKUNDÄRLITERATUR: Liu Ts’un-Yan: »Luo Kuan-chung and his Historical Romances«, in: Qinston L.Y. Yang u. Curtis P. Adkins: Critical Essays in Chinese Fiction, Hongkong: Chinese University Press, 1980, S. 85‒114; Duan Jianming: Luo Guanzhong yu Sanguo yanyi, Shenyang: Liaoning Jiaoyu, 1992. [TZ]

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Ma Zhiyuan 马致远

Ma Zhiyuan 马致远 (zi: Qianli, hao: Dongli, 1250? – 1321?), geb. in Dadu (heute Peking) Die Lebensdaten dieses bedeutenden Literaten der Yuan-Dynastie (1279 ‒ 1368) werden in allen Quellen stets unterschiedlich angegeben. In mittleren Jahren ist unser Autor zwar einmal in der Provinzregierung von Jiangsu tätig gewesen, erfreute sich aber sein Leben lang keiner besonderen Karriere, weshalb ihm die Liebe zur Natur und Literatur als Orten des Trostes nachgesagt wird. Während der Regierungsära Yuanzhong (1295 ‒ 1297) hat er mit seinesgleichen in einer Schreibgemeinschaft (shuhui) zusammengearbeitet, wie das damals unter Dramatikern und Dichtern zur ästhetischen Ertüchtigung üblich war. Ma Zhiyuan gilt nicht nur als einer der vier großen Stückeschreiber der YuanZeit, sondern auch als einer der besten Verfasser von nachklassischen Liedern (qu, sanqu). Mit seinen 104 erhaltenen kurzen Weisen (xiaoling) und seinen 17 Arien (taoshu) hat er das formal wie inhaltlich als etwas lose eingestufte qu gleichsam gesellschaftsfähig gemacht. Dabei variiert er in einfacher Sprache Gedanken der menschlichen Hinfälligkeit, wie sie aus dem Mittelalter hinlänglich bekannt sind. Manche Verse haben es aufgrund ihrer so schlichten wie eindringlichen Diktion zur Berühmtheit gebracht. Ma Zhiyuan werden 16 Dramen (zaju) zugeschrieben, von denen sieben erhalten sind. Davon sind bislang vier in eine europäische Sprache übersetzt worden. Ihr beherrschendes Thema ist der religiöse Taoismus der Quanzhen-Schule, der heutigen Lesern eher fremd ist. Von überragender literarischer Bedeutung ist daher nach modernem Verständnis nur sein bekanntestes Werk Herbst im Han-Palast (Hangong qiu), das ohne tiefe Verankerung in taoistischer Tradition auskommt. Es basiert zwar auf historischen Quellen zur Geschichte der Han-Dynastie (206 v.Chr. – 220 n.Chr.), diese sind aber im Laufe der Zeit schon zuvor von anderen zu literarischen Zwecken umgeschrieben worden, so daß wir es bei der Begegnung des Kaisers Yuan (reg. 48 ‒ 33) mit dem vermeintlichen Bauernmädchen Wang Zhaojun keinesfalls mit Historie zu tun haben, sondern mit einer phantastischen Ausgestaltung. Die wirkliche Person zum Beispiel stammte aus vornehmem Haus und nicht etwa vom Lande. Das Stück besteht aus vier Akten. Es gibt keinen besonders raffiniert gestalteten Plot zu erkennen. Im ersten Akt befindet sich der Maler und Beauftragte des Kaisers Mao Yanshou unterwegs im Reich, um die schönsten Mädchen für den Harem am Hofe ausfindig zu machen. Ein jedes wird von ihm je nach Höhe der Bestechung idealiter porträtiert. Da sich Wang Zhaojun keine Vorteile durch Geld erkaufen möchte, fällt ihr Porträt entsprechend unzureichend aus, so daß sie nach der Ankunft in der Hauptstadt mit einem sogenannten »kalten Palast« einsam vorlieb nehmen muß. Dennoch gelingt es ihr nach Jahren, durch ihre Lieder den Kaiser auf sich aufmerksam zu machen. Ihre Liebesbegegnung hat negative Auswirkungen

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Ma Zhiyuan 马致远

auf den Maler Mao, der nun um sein Leben fürchten muß und daher mit dem wahren Porträt zu den Hunnen flieht. Die unverstellt gemalte Wang Zhaojun verfehlt natürlich ihre Wirkung auf den Khan der Hunnen nicht. Sogleich verlangt er ganz im Sinne der damaligen Befriedungspolitik des chinesischen Reiches die Hochzeit mit ihr, andernfalls drohe ein Angriff. Wang Zhaojun bietet sich während einer Diskussion am Hofe als Opfer an, so daß die Liebenden sich aus Sorge um das Reich trennen müssen. Der dritte Akt zeigt die Heldin auf ihrem Weg in die Fremde. Statt sich jedoch ihrem Los zu überlassen, zieht sie anläßlich der Hochzeitsvorbereitungen den Freitod durch einen Sprung in den Amur vor. Derweil grämt sich der Kaiser in seinem Palast. Erstaunlich ist das Maß seiner Trauer, die ihn völlig lähmt. Die einzigen, die im Stück zur Handlung befähigt sind, sind Wang Zhaojun und der Khan. Letzterer läßt im vierten Akt die Kunde von Wangs Tod dem Gegner überbringen und händigt ihm auch den Maler Mao zur Exekution aus, um auf diese Weisen den Frieden zwischen beiden Seiten zu bekräftigen. Die Handlung des Stückes mag aus hiesiger Sicht wenig interessant erscheinen, doch läßt sich hier durchaus Politisches in die Deutung hineintragen. Das loyale bzw. gar nationale Element, das im Frauenopfer anklingt, ließe sich als Gleichnis verstehen. Man braucht nämlich nur die Hunnen gegen die Mongolen auszutauschen, dann ist die Botschaft offensichtlich: Ein chinesischer Kaiser, der nur Vergnügen an Frauen und Liebschaften hat, kann kein Reich erfolgreich gegen Angriffe von außen führen. Gleichwohl muß der dramatischen Stimme des Stückes zugestanden werden, einmal mehr für die damalige Zeit mit dem chinesischen Herrscher eine Gestalt geschaffen zu haben, die sich eigentlich nur vom modernen Theater und der modernen Melancholiegeschichte her tiefgründig interpretieren läßt: Wer lediglich dem Schmerz lebt, ist gefangen in sich selbst und zu keiner Handlung befähigt. Allerdings ist zu vermuten, daß dieser neuzeitliche Aspekt durch Herausgeber der Ming-Zeit (1368 – 1644) in das Stück hineinredigiert worden ist, denn eine »Innerlichkeit« von solchem Ausmaß, wie sie dem Kaiser zugeschrieben wird, ist der Literatur der Yuan-Zeit im Grunde genommen fremd. WERKAUSGABEN: Ma Zhiyuan quanji jiaozhu, hg. von Fu Liying et al., Peking: Yuwen, 2002. ÜBERSETZUNGEN: »The Yueh-yang Tower«, in: Four Plays of Yuan Drama, übers. von Richard F.S. Yang, Taipeh: China Post, 1972, S. 47‒95; Chinesische Dramen der YüanDynastie. Zehn nachgelassene Übersetzungen von Alfred Forke, hg. von Martin Gimm, Wiesbaden: Steiner, 1978, S. 60‒108 (»Herbst im Han-Palast«) u. 243‒296 (»Der Traum bei gelber Hirse«); »Tears on the Blue Gown«, übers. von Shiao-ling Yu, in: Renditions 10 (Autumn 1978), S. 131‒154; The Columbia Book of Later Chinese Poetry. Yüan, Ming, and Ch’ing Dynasties (1279 ‒ 1911), übers. von Jonathan Chaves, New York: Columbia University Press, 1986, S. 33‒39. SEKUNDÄRLITERATUR: Ching-hsi Perng: Double Jeopardy. A Critique of Seven Yüan Courtroom Dramas, Ann Arbor: University of Michigan, 1978, S. 27‒79; Barbara Kwan

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Mao Dun 茅盾 Jackson: The Yüan Dynasty Playwright Ma Chih-yüan and His Dramatic Works, Diss., University of Arizona, 1983; Han-liang Chang: »Mimetic Desire / Dramatic Structure: Racine’s Phraedra and Ma Chih-yüan’s Han-kung ch’iu«, in: Studies in ChineseWestern Comparative Drama, hg. von Yun-tong Luk, Hongkong: Chinese University Press, 1990, S. 106‒111; Linda Greenhouse Wang: A Study of Ma Chih-yüan’s San-ch’ü and Tsa-chü Lyrics, Diss., Berkeley, University of California, 1992; Wilt L. Idema: »Madness on the Yuan Stage«, in: Hōrin 14 (1997), S. 65–85. [WK]

Mao Dun 茅盾 (eig. Shen Yanbing, auch Shen Hong, Shen Dehong, 1896 – 1981), geb. in Tongxiang (Provinz Zhejiang) Mao Dun genoß in seiner Kindheit eine für die damalige Zeit recht liberale Erziehung. Als er zehn Jahre alt war, verstarb sein Vater, womit der finanzielle Abstieg der Familie begann. Er besuchte ab 1911 mehrere moderne Mittelschulen in Zhejiang und ging 1913 nach Peking. Dort absolvierte er zunächst die Vorbereitungskurse für ein Universitätsstudium an der Universität Peking, 1916 mußte er das Studium jedoch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten abbrechen und erhielt durch Empfehlung von Verwandten Arbeit als Übersetzer und Redakteur im Yiwen-Verlag in Shanghai. Zeitgleich schrieb er Artikel in Zeitschriften wie Zeitschrift für Studenten (Xuesheng zazhi) und Studierlampe (Xuedeng). 1917 nahm er unter dem Einfluß der Russischen Revolution aktiv an linksgerichteten politischen Veranstaltungen in Shanghai teil. 1921 gründete er gemeinsam mit (→) Zheng Zhenduo, (→) Zhou Zuoren und (→) Ye Shengtao eine literarische Vereinigung und förderte die Entstehung des literarischen Realismus in China. Später übernahm er die Zeitschrift Monatsschrift für Erzählkunst (Xiaoshuo yuebao) und reformierte sie inhaltlich, so daß sie zu einer wichtigen Plattform für die neue Literaturbewegung in China wurde. Neben seinen gesellschaftspolitischen und redaktionellen Tätigkeiten arbeitete Mao Dun auch an seinen eigenen literarischen Beiträgen. 1928 vollendete er seine Trilogie Verfall (Shi) und 1930 den Roman Regenbogen (Hong). Zwischen 1930 und 1939 veröffentlichte er eine Reihe von Romanen, Erzählungen und Essays. Bedeutende Werke von ihm sind Shanghai im Zwielicht (Ziye), Seidenraupen im Frühling (Chuncan) und Der Laden der Familie Lin (Lin jia puzi). In dieser Zeit war er stark beeinflußt vom französischen Realismus und Naturalismus, insbesondere durch Vertreter wie Emile Zola. Er war der Ansicht, daß die Funktion der Literatur in der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Realität liege und das Ziel des literarischen Naturalismus in der Suche nach Wahrheit. Mit dieser Auffassung von Literatur widersetzte er sich der vorherrschenden Stimmung der Sinnleere und des Verlorenheitsgefühls, die in den Erzählwerken seiner Zeitgenossen zum Ausdruck kam. In seinen Werken Verfall und Regenbogen schildert er die inneren Konflike der Intellektuellen während dieser Umbruchzeit, die Ausweglosigkeit, den Wider-

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Mao Dun 茅盾

spruch zwischen Begeisterung und Enttäuschung, aber auch ihr Beharren auf der Suche nach neuer Sinngebung. Shanghai im Zwielicht stellt den Höhepunkt von Mao Duns literarischem Schaffen dar. Darin kreierte er einen Panoramablick auf das Stadtleben in der Übergangsphase von der feudalen hin zu einer modernen Gesellschaft und beschrieb die Beziehungsgeflechte zwischen Menschen verschiedener sozialen Gruppen und ihre auf unterschiedlichen Ebenen stattfindenden Konflikte. Aufgrund der Komplexität der Handlung gilt dieser Roman als Meilenstein in der chinesischen Erzählkunst. Während des Krieges gegen Japan wirkte Mao Dun als Aktivist im kulturellen Bereich und verfaßte den Roman Die Geschichte der ersten Phase (Diyi jieduan de gushi, 1938), später die Romane Zersetzung (Fushi, 1941), Frostblätter so rot wie Frühlingsblumen (Shuangye hong shi eryue hua, 1943) sowie den Erzählband Unrecht (Weiqu, 1945). Nach der Gründung der Volksrepublik China hatte Mao Dun verschiedene Funktionen im Bereich der Kultur und Literatur inne. Er war Kulturminister, Vorsitzender des chinesischen Schriftstellerverbandes und Chefredakteur der Zeitschrift Chinese Literature (Renmin wenxue) und der Zeitschrift für Übersetzung (Yiwen), beides wichtige literarische Plattformen unter den offiziellen Publikationen in China. 1981 wurde der bekannte Mao-Dun-Literaturpreis durch seine Spende von 20.000 Yuan ins Leben gerufen, mit dem Ziel, junge Schriftsteller für herausragende Leistungen in der Erzählkunst auszuzeichnen. WERKAUSGABEN: Mao Dun quanji, 9 Bde., Peking: Renmin, 1984. ÜBERSETZUNGEN: Der Laden der Familie Lin, übers. von Joseph Kalmer, Berlin: Volk und Welt, 1953; Regenbogen, übers. von Marianne Bretschneider, Berlin: Volk und Welt, 1963; Shanghai im Zwielicht, übers. von Johanna Herzfeldt et al., Berlin: Volk und Welt, 1966; Seidenraupen im Frühling, hg. von Fritz Gruner, Berlin: Volk und Welt, 1975; Shanghai im Zwielicht, übertragen von Franz Kuhn, revidierte Ausgabe, Berlin: Oberbaum, 1979. SEKUNDÄRLITERATUR: Marián Gálik: Mao Tun and Modern Chinese Literary Criticism, Wiesbaden: Steiner, 1969; Jaroslav Prušek: »Mao Tun«, in: Three Sketches of Chinese Literature, Prague: Academia, 1969 [Nachdruck in: The Lyrical and the Epic. Studies of Modern Chinese Literature, Bloomington: Indiana University Press, 1980]; C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 140‒164, 350‒359; John Berninghausen: Mao Dun’s Fiction, 1927 ‒ 1936. The Standpoint and Style of His Realism, Diss., Stanford University, 1979; Yu-Shih Chen: Realism and Allegory in the Early Fiction of Mao Tun, Bloomington: Indiana University Press, 1986; David Der-wei Wang: »Mao Tun and Naturalism: A Case of ›Misreading‹ in Modern Chinese Literary Criticism«, in: Monumenta Serica 37 (1986‒87), S. 169‒195; Marston Anderson: »Mao Dun, Zhang Tianyi, and the Social Impediments to Realism«, in: ders.: The Limits of Realism: Chinese Fiction in the Revolutionary Period, Berkeley: University of California Press, 1990, S. 119‒179; Yi-tsi Mei Feuerwerker: »The Dialectics of Struggle: Ideology and Realism in Mao Dun’s ›Algae‹«, in: Reading the Modern Chinese Short Story, hg. von Theodore Huters, Armonk, New York: M.E.

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Mao Kun 茅坤 Sharpe, 1990, S. 51‒73; Wilt Idema: »Mao Dun and Speenhoff, or how a Fallen Woman from Rotterdam started a New Life in Shanghai«, in: Words from the West. Western Texts in Chinese Literary Context. Essays to Honor Erich Zurcher on his Sixty-fifth Birthday, hg. von Lloyd Haft, Leiden: CNWS Publications, 1993, S. 35‒47; Gloria Shen: »A Theoretical Approach to Naturalism and the Modern Chinese Novel: Mao Tun as Critic and Novelist«, in: Tamkang Review 25, 2 (Winter 1994), S. 37‒66; Lorenz Bichler: »Conjectures on Mao Dun’s Silence as a Novelist after 1949«, in: Autumn Floods. Essays in Honour of Marián Gálik, hg. von Raoul Findeisen u. Robert Gassmann, Bern: Peter Lang, 1997, S. 195‒206; Yiu-nam Leung: »High Finance in Emile Zola and Mao Tun«, in: Crosscurrents in the Literatures of Asia and the West. Essays in Honor of A. Owen Aldridge, hg. von Masayuki Akiyama u. Yiu-nam Leung, Newark: University of Delaware Press / London: Associated University Presses, 1997, S. 145‒ 162; Sylvia Li-chun Lin: »Unwelcome Heroines: Mao Dun and Yu Dafu’s Creations of a New Chinese Woman«, in: Journal of Modern Literature in Chinese 1, 2 (Jan. 1998), S. 71‒94; Bonnie S. McDougall: »Disappearing Women and Disappearing Men in May Fourth Narrative: A Post-Feminist Survey of Short Stories by Mao Dun, Bing Xin, Ling Shuhua and Shen Congwen«, in: dies.: Fictional Authors, Imaginary Audiences. Modern Chinese Literature in the Twentieth Century, Hongkong: Chinese University Press, 2003, S. 133‒170; Raoul David Findeisen: »Von Ford zu Citroën – Überlegungen zur Genese des Romans ›Mitternacht‹ (1933) von Mao Dun«, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 28 (2004), S. 111‒127. [WH]

Mao Kun 茅坤 (zi: Shunfu, hao: Lumen, 1512 ‒ 1601), geb. in Gui’an (Provinz Zhejiang) Mao Kun legte im Jahr 1538 erfolgreich die Doktorprüfung (jinshi) ab und diente als mit Militäraufgaben betrauter Beamter in Guangxi. Später gab er sein Amt aufgrund von Problemen mit den Behörden auf. In der Geschichte der chinesischen Literatur gewann Mao mit seinen Ansichten zur Prosakunst starken Einfluß auf die Entwicklung dieser Literaturgattung. Selbst ein gefeierter Meister der antiken Prosa, erlangte Mao Ruhm durch die von ihm zusammengestellte Sammlung Schriften der acht Meister der Tang- und Song-Dynastie (Tang Song ba da jia wenchao) mit Texten von (→) Han Yu, (→) Liu Zongyuan, (→) Ouyang Xiu, (→) Zeng Gong, (→) Wang Anshi, (→) Su Xun, (→) Su Che und (→) Su Shi. Mit dieser Auswahl grenzte er sich deutlich von der Prosaschule ab, die die Schriften aus der weit früheren Qin- und Han-Zeit als Maßstab favorisierte. Maos eigene Schriften litten allerdings selbst unter der Altertümelei und der allzu starken Nachahmung des Stils der Meister aus der Antike. WERKAUSGABEN: Mao Kun ji, hg. von Zhang Dazhi, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1993. SEKUNDÄRLITERATUR: Zhang Mengxin: Mao Kun yanjiu, Peking: Zhonghua Shuju, 2001. [TZ]

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Mao Zonggang 毛宗岗

Mao Zonggang 毛宗岗 (zi: Xushi, hao: Jieʼan, gest. ca. 1660) Mao Zonggang war ein Roman- und Dramenkritiker, von dem aufgrund der dürren biographischen Skizzen nur bekannt ist, daß er gemeinsam mit seinem Vater Mao Lun den Roman Die Drei Reiche (Sanguo yanyi) und das Drama Die Flöte (Pipaji) überarbeitete und zu beiden Werken einen kritischen Kommentar verfaßte. Außerdem geht aus den Quellen hervor, daß er bei Zhu Renhuo studiert haben soll, der das Werk Historischer Roman der Dynastien Sui und Tang (Sui Tang yanyi) bearbeitet hat, und daß er um 1660 in Suzhou (Provinz Jiangsu) starb. Bei seinem Kommentar zu den Drei Reichen orientierte sich Mao erklärtermaßen am Vorbild des Kommentators der Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und des Westzimmers (Xixiangji), (→) Jin Shengtan. In seiner Rangordnung der sieben »herausragenden Bücher« (caizi shu) setzte Mao Die Drei Reiche an die erste und Die Flöte an die siebte Stelle. Wie im Falle der Räuber-Version von Jin Shengtan wurde auch Maos bearbeitete Fassung der Drei Reiche zur Standardausgabe. Mao beanspruchte fälschlicherweise, in den Besitz einer bestimmten älteren, Jin Shengtan zugeschriebenen Ausgabe des Romans gelangt zu sein, und verwarf die übrigen zu seiner Zeit kursierenden Fassungen als »vulgär«. Mao stellte seine Fassung der Drei Reiche vermutlich erst kurz vor seinem Tod fertig. Verglichen mit den Texteingriffen Jin Shengtans in den Räubern sind Maos Änderungen von weit geringerem Umfang. Die sechs Hauptanliegen seiner Revision hat Mao in einigen Vorbemerkungen formuliert; dabei betonte er die Bewahrung der Historizität, suchte aber auch nach Spielräumen für fiktionalisierende Elemente. Dank einer eingehenden Analyse gelang es ihm auf eindrucksvolle Weise, die Makrostruktur des Romans zu durchleuchten und die darin angelegten Verbindungen aufzuzeigen. Stilistische Eingriffe im Text nahm Mao insofern vor, als er einzelne Begriffe und Wendungen auswechselte. Dadurch liest sich der Text zwar flüssiger, doch ändert sich damit auch die Charaktersprache einzelner Figuren. Nach eigenem Gutdünken veränderte Mao darüber hinaus diverse Szenen, indem er Personen hinzufügte oder strich. Vielfach gelang es ihm damit, Figuren lebendiger zu gestalten, doch ging dies teilweise auf Kosten der historischen Genauigkeit. Einen recht drastischen Eingriff im Romanaufbau stellt Maos Abänderung der Kapiteleinteilung und die Einfügung anderer Kapitelüberschriften dar. So reduzierte Mao die ursprünglich zweihundert Kapitel auf hundertzwanzig und sorgte für einheitlich formulierte Kapitelüberschriften, bestehend aus zwei Zeilen. Außerdem entfernte er Inschriftenmaterial und Lobes- sowie Gedenktexte, die – wie zum Beispiel im Fall der sechs nach dem Tod Zhuge Liangs angeführten Inschriften – für unnötige Steifheit gesorgt hatten. Während sich Maos Änderungen bei den Gedichten auf einzelne Verse beschränkten, verwandte er auf die Änderung und Hinzufügung von Kommentaren zum Text erheblich mehr Mühe. All diese Eingriffe in den Text blieben nicht unwidersprochen, so zeigte sich (→) Li Yu unzufrieden mit den Überarbeitungen und legte eine eigene Version

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Mei Yaochen 梅尧臣

vor, die zwar näher am Original ist, jedoch nie die Popularität von Mao Zonggangs Fassung erlangte. WERKAUSGABEN: Mao Zonggang piping Sanguo yanyi, 2 Bde., Jinan: Qilu Shushe, 1991. ÜBERSETZUNGEN: How to Read the Chinese Novel, hg. von David L. Rolston, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1990. [TZ]

Mei Yaochen 梅尧臣 (zi: Shengyu, hao: Wanling xiansheng, 1002 ‒ 1060), geb. in Xuancheng (Provinz Anhui) Mei Yaochen hatte seine vorzügliche Bildung und seine Anstellungen als Beamter nicht nur seinem Fleiß und Talent zu verdanken, sondern auch der Förderung und Empfehlung seines Onkels, der eine erfolgreichere Laufbahn als Meis Vater eingeschlagen hatte und den Mei schon früh auf seine Amtsreisen in die Provinzen begleiten durfte. Obwohl Mei mehrmals bei den Prüfungen zum Doktor (jinshi) scheiterte, sprachen Freunde und Gönner für ihn bei Kaiser Renzong (reg. 1023 ‒ 1063) vor, der ihm nach einer persönlichen Befragung den begehrten Titel verlieh. Meis höchstes Amt war das eines Dozenten an der kaiserlichen Akademie. Wichtiger als seine Karriere war ihm allerdings seine Dichtkunst. 1031 hatte er in Luoyang mit (→) Ouyang Xiu Freundschaft geschlossen, der von seinem Schaffen begeistert war. Beide werden zu den großen Schlüsselfiguren der Neuen guwenBewegung, der Rückbesinnung auf das (konfuzianische) Altertum – Ouyang Xiu hauptsächlich für die Prosakunst, Mei Yaochen für die Dichtkunst. Für Mei hat diese weit über eine lyrische Gefühlsäußerung und schöne Wortgestaltung hinauszugehen. Sie soll der Weltbeobachtung und -erfassung dienen, denn alle äußeren Erscheinungsformen sind auf innere Zusammenhänge zurückzuführen. So eignet nicht nur schönen, erhabenen, sondern auch gerade kleinen, gewöhnlichen, ja häßlichen Dinge eine große Ausdruckskraft. Hier trifft sich die konfuzianische Vorstellung von der Übereinstimmung von Innen und Außen mit dem Chan-buddhistischen Gedanken, daß der Weg der Erleuchtung von der Durchdringung der Schale zum inneren Kern führt; als Konsequenz stellt Mei Yaochen das ästhetische Ideal des pingdan (wörtlich: »mild«, »eben«, sinngemäß: »ungekünstelt«, »ehrlich«) auf. Die einfachen, alltäglichen Dinge geben zum einen Auskunft über gesellschaftliche Verhältnisse ‒ das Haus des »Ziegelbrenners« (»Taozhe«, so ein Gedichttitel) ist ungedeckt, in den gedeckten Häusern ruhen saubere Hände ‒, zum anderen geben sie Anlaß zu philosophischer Betrachtung, wie etwa ein »Häßlicher Stein« (»Yong chou shi«) oder »Ein Regenwurm« (»Qiuyin«), wobei die Einzelbetrachtung zu einer allgemeinen Wahrheit führt. Auch ganz persönliche Erfahrungen wie der Tod von Meis Frau fließen in die Dichtung ein, weil sie Teil der Welt und Wirklichkeit sind, in die sich der Dichter eingebunden fühlt. Aus dieser Einheit erwächst eine Haltung des Gleichmuts, ja der Heiterkeit, die dem

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Meng Chengshun 孟称舜

ästhetischen Ideal des pingdan entspricht und zum charakteristischen Merkmal der Dichtung der Nördlichen Song-Zeit (960 – 1127) wird. Stilistisch zeichnen sich Mei Yaochens Gedichte durch eine herbe Anmut und eindringliche Bilder aus. Er schrieb auch einen Kommentar zu Sun Zis Kunst des Krieges (Sun Zi bingfa). Sein Kommentar zum Buch der Lieder (Shijing) und eine Studie zur Tanggeschichte sind verlorengegangen. Seine 2800 Gedichte sind von Ouyang Xiu herausgegeben worden und tragen den Titel Gesammelte Werke des Herrn aus Wanling (Wanling xiansheng wenji; Wanling ist der alte Name für Meis Geburtsort). WERKAUSGABEN: Wanling xiansheng wenji, Sibu-beiyao-Ausgabe; Mei Yaochen ji biannian jiaozhu, komm. von Zhu Dongrun, 3 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1980. ÜBERSETZUNGEN: Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-Chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 311–320; The Columbia Book of Chinese Poetry: From Early Times to the Thirteenth Century, übers. u. hg. von Burton Watson, New York: Columbia University Press, 1984, S. 337– 343. SEKUNDÄRLITERATUR: Peter Leimbigler: Mei Yaochʼen (1002 ‒ 1060). Versuch einer literarischen und politischen Deutung, Wiesbaden: Harrassowitz, 1970; Kojiro Yoshikawa: An Introduction to Sung Poetry, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973, S. 72‒78; Jonathan Chaves: Mei Yao-ch’en and the Development of Early Sung Poetry, New York: Columbia University Press, 1976; Song shi jianshang cidian, komm. von [BD] Miao Yue, Shanghai: Shanghai Cishu, 32007, S. 74‒112.

Meng Chengshun 孟称舜 (zi: Ziruo etc., hao: Huayu xianshi etc., 1598 ‒ 1684) geb. im heutigen Shaoxing (Provinz Zhejiang) Aus dem Leben dieses Dramatikers und Verlegers ist so wenig bekannt, daß selbst seine Lebensdaten in den einschlägigen Quellen um viele Jahrzehnte schwanken. Weitere Abweichungen bei den Fakten sind in der Sekundärliteratur die Folge. Meng Chengshun entstammte einer reichen Familie, die es sich leisten konnte, eine eigene Theatertruppe zu unterhalten. Er, der zur »Reformpartei« (Fushe) gehörte und daher als Ming-Loyalist auch gern politisch gedeutet wird, brachte es bei den Examensprüfungen lediglich zum Bakkalaureus (gongsheng, 1649), was ihm anschließend die Möglichkeit einer Lehrertätigkeit in seiner Heimatprovinz eröffnete. Seinen Unmut über sein Scheitern in den Examina soll er in seinen Stücken und Essays zum Ausdruck gebracht haben. Meng Chengshun hat nicht nur Theaterstücke geschrieben, sondern auch in Sammelbänden die ihm wichtig erscheinenden Dramen der Yuan- (1279 – 1368) und Ming-Zeit (1368 – 1644) ediert. Von ihm selbst sind fünf Romanzen (chuanqi) und sechs Mongolendramen (zaju) überliefert. Sein erfolgreichstes Drama, Die

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Meng Haoran 孟浩然

Aufzeichnung von Wang Jiaoniang und Feihong (Jiao Hong ji, 1636), bewegt sich in dem für den Verfasser und seine Zeit typischen Rahmen von Innovation und Konvention: Man schreibt immer wieder nur neu, was andere schon – unter Umständen mehrfach – (um)geschrieben haben, geht aber in einzelnen Aspekten weiter als die Vorläufer. Hier zum Beispiel wird das Herz zum alles bewegenden Auslöser. Die Liebe (qing) ist wichtiger als das Staatsexamen, und eine Frau möchte nur den heiraten, den sie sich selber zum Gatten erkoren hat. Damit verstößt diese Romanze (chuanqi) gegen zwei soziale Normen: Die Ehe ist nämlich eine Sache von Familien bzw. Sippen, und das Examen in der Hauptstadt, das für den Dienst an Kaiser und Staat steht, galt als die erste Voraussetzung für eine gute Partie. Auch Tod und Auferstehung, wie sie hier in der Nachfolge von (→) Tang Xianzu (1550 ‒ 1616) zur Lösung des Konfliktes bemüht werden, sind von radikalem Charakter: Nach konfuzianischer Auffassung ist der Leib von den Eltern gegeben. Man hat nicht über ihn zu verfügen, sondern ihn zu erhalten. Wer um der Liebe willen sich verzehrt, nimmt sich und seinen Leib für wichtiger als die Gemeinschaft der Familie und Sippe, die auf Reproduktion setzt. WERKAUSGABEN: Jiao Hong ji, hg. von Ouyang Guang, Shanghai: Shanghai Guji, 1988; Ming-Qing chuanqi jianshang cidian, hg. von Jiang Xingyu et al., Shanghai: Shanghai Guji, 2004, Bd. 1, S. 674‒695 [kommentierte Auszüge aus verschiedenen Stücken]. ÜBERSETZUNGEN: Mistress and Maid (Jiaohongji), übers. von Cyril Birch, New York: Columbia University Press, 2001. SEKUNDÄRLITERATUR: Itō Sohei: »Formation of the Chiao-hung chi: Its Change and Dissemination«, in: Acta Asiatica 32 (1977), S. 73‒95; Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 638‒646. [WK]

Meng Haoran 孟浩然 (689 – 740), geb. in Xiangyang (Provinz Hubei) Der Dichter Meng Haoran steht am Beginn der Tang-Blütezeit, jener konfliktreichen, aber kulturell einzigartig lebendigen Regierungszeit Kaiser Xuanzongs (reg. 713 – 755), die einige der bedeutendsten Dichter Chinas hervorbrachte. Zeit seines Lebens hielt Meng Haoran – abseits der großen Geschehnisse in der damaligen Zwei-Millionen-Metropole Changʼan (heute Xiʼan) – seinem Heimatort Xiangyang im Norden der Provinz Hubei die Treue. Erst im Alter von 40 Jahren bereiste er 729 zunächst Luoyang und versuchte danach vergeblich, in Changʼan die Beamtenprüfung abzulegen. Immerhin blieb ihm aus dieser kurzen Episode in der Hauptstadt die Freundschaft mit dem jüngeren, im öffentlichen Leben erfolgreicheren Dichter (→) Wang Wei erhalten. Meng Haoran und Wang Wei wurden später oft in einem Atemzug genannt, wenn von ihrem Stil »zarter und inniger Naturbeschreibung« (Günther Debon) die Rede war. Für Meng Haoran war der für beider Werk bestimmende Rückzug in die Natur allerdings ein unfreiwilliger, denn er litt zum

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Meng Zi 孟子

Teil offen unter der provinziellen Beengtheit, mit der er sich nach seinem beruflichen Scheitern zu begnügen hatte. Dies dürfte mit ein Grund für seine knapp dreijährige Reise in den Südosten Chinas (730 – 733) gewesen sein, auf der er viele seiner Eindrücke in Gedichten festhielt. Im Jahr 737 konnte er erneut für wenige Monate der ländlichen Idylle entfliehen und trat (wie vor ihm [→] Wang Changling) in den Dienst Zhang Jiulings (678 – 740), jenes integren Gelehrten und ehemaligen Kanzlers (734 – 736), der Kaiser Xuanzong vergeblich vor dem Machtstreben An Lushans warnte. Vermutlich war diese kurzfristige Anstellung mit Hilfe Wang Weis zustande gekommen, der mit Zhang Jiuling befreundet war. Danach blieb Meng Haoran in Xiangyang, doch auch von dort aus verkehrte er noch mit den bedeutendsten Dichtern seiner Zeit, darunter Wang Changling, der ihn 740 noch besuchte, als er bereits schwer erkrankt war. Meng Haoran verstarb im Alter von 52 Jahren und wurde von einer ganzen Dichtergeneration, der er mit seiner leisen, verhaltenen und sehr persönlichen Lyrik den Weg bereitet hatte, in bewegenden Gedichten betrauert, u.a. von den drei Größen der Tang-Lyrik (→) Li Bai, (→) Du Fu und (→) Wang Wei. Nach seinem Tod erschien eine erste, von Wang Shiyuan kompilierte Werkausgabe mit 218 Gedichten. Im Verlauf der Rezeptionsgeschichte kamen weitere verstreute Gedichte hinzu, so daß man heute von 262 überlieferten Gedichten Meng Haorans ausgeht, in der Hauptsache fünfsilbige Regelgedichte (wuyan lüshi). WERKAUSGABEN: Meng Haoran ji jianzhu, hg. u. komm. von You Xinli, Taipeh: Xuesheng Shuju, 1979. ÜBERSETZUNGEN: »Gedichte von Mong Hau Jan«, übers. von Richard Wilhelm, in: Sinica 5 (1930), S. 97‒100; Chinese Literature, Bd. 2: Nature Poetry, übers. von Hsin-chang Chang, Edinburgh: Edinburgh University Press, 1977, S. 81‒96; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 21‒32. SEKUNDÄRLITERATUR: Hans H. Frankel: Biographies of Meng Haoran, Berkeley: University of California Press, 1952; Ambros Rust: Meng Hao-jan (671 – 740). Sein Leben und religiöses Denken nach seinen Gedichten, Ingenbohl: Theodosius, 1960; Daniel Bryant: The High T’ang Poet Meng Hao-jan. Studies in Biography and Textual History, Diss., University of British Columbia, 1977; Paul W. Kroll: Meng Hao-jan, Boston: Twayne, 1981; Stephen Owen: The Great Age of Chinese Poetry: The High T’ang, New Haven u. London: Yale University Press, 1981, S. 71‒88. [HP]

Meng Zi 孟子 / Menzius (eig. Meng Ke, ca. 372 – 289 v.Chr.), geb. im Reich Zou (heute Kreis Zou, Provinz Shandong) Der Überlieferung nach entstammte Meng Zi – eigentlich Meng Ke, latinisiert Menzius – einer adeligen Familie aus dem kleinen Feudalreich Zou. Der älteste

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Meng Zi 孟子

erhaltene Bericht über sein Leben findet sich in den Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian. Meng Zi, dessen Vorbild (→) Konfuzius war, führte während der Zeit der Streitenden Reiche (481 – 221 v.Chr.) das Leben eines Wanderlehrers, er hatte jedoch bei den Herrschern der verschiedenen Fürstenhöfe ebensowenig Einfluß wie einst sein Lehrmeister – Meng Zi hatte bei einem Schüler von Zi Si, einem Enkel des Konfuzius, studiert. Obwohl ihm zeit seines Lebens kein hohes Regierungsamt anvertraut wurde, bezog er zeitweise ein so ansehnliches Einkommen, daß er den Unterhalt für bis zu 300 Schüler bestreiten konnte. In späteren Jahren arbeitete er, dem Shiji zufolge, mit anderen an der Auslegung der konfuzianischen Klassiker Buch der Lieder (Shijing) und Buch der Urkunden (Shujing). Er selbst hinterließ ein sieben Kapitel umfassendes Werk (Mengzi), das im 12. Jahrhundert in den Klassikerkanon des Konfuzianismus aufgenommen wurde. Meng Zi gilt als der entscheidende Überlieferer der konfuzianischen Lehre, denn er vereinte die vereinzelten Aussprüche des Konfuzius erstmals zu einem philosophischen Programm. An eigenen hinzugefügten Gedanken gilt es vor allem seine Theorie von der angeborenen Güte (liangneng) des Menschen hervorzuheben. Indem Meng Zi die Voraussetzungen für die konfuzianischen Kardinaltugenden – allen voran Mitmenschlichkeit (ren) und Gerechtigkeit (yi), Sittlichkeit (li) und Wissen (zhi) – als naturgegeben ansieht, werden diese Werte erst wirklich lebbar und zu notwendigen Zielen eines jeden Menschen. Der Mensch ist nach Meng Zi selbst für sein moralisches Handeln verantwortlich. Er allein bestimmt, ob er das Gute in sich fördert oder brachliegen läßt. In diesem Sinne trägt besonders der Herrscher große Eigenverantwortung für sein Handeln bzw. das Schicksal seines Reiches – wenn auch unter Anleitung des Himmels. Denn erst wenn er das Gute in sich zu vervollkommnen trachtet, wird er fähig sein, eine humane Politik (renzheng) zu betreiben. Meng Zi stärkt mit diesem moralischen Anspruch an den Herrscher indirekt auch die Stellung des Volkes, auch wenn er an der von Konfuzius postulierten hierarchischen Gesellschaftspyramide der Fünf Grundbeziehungen (wulun) festhält, ja sie sogar erst für die nachfolgenden Generationen ausformuliert. Im Gegensatz zu (→) Xun Zi wurde Meng Zi später neben Konfuzius als zweiter Heiliger des Konfuzianismus verehrt. WERKAUSGABEN: A Concordance to Meng Tzu, Harvard-Yenching Institute Sinological Index Series, Suppl. 17, Nachdruck Taipeh: Chʼeng-wen Publishing, 1966. ÜBERSETZUNGEN: Mong Dsi. Die Lehrgespräche des Meisters Meng Ke, übers. von Richard Wilhelm, Jena: Diederichs, 1916; Mencius, übers. von D.C. Lau, Harmondsworth: Penguin, 1970. SEKUNDÄRLITERATUR: Ralf Moritz: Die Philosophie im alten China, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990, S. 133–153; Heiner Roetz: Die chinesische Ethik der Achsenzeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992; Jörg Schumacher: Über den Begriff des Nützlichen bei Mengzi, Bern: Peter Lang, 1993; Reinhard Emmerich: »Der Lehrer und

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Mian Mian 棉棉 das Lernen. Anmerkungen zu Meng zi und Meng Ke«, in: Oriens Extremus 38 (1995), S. 17–90; Peter J. Opitz: Der Weg des Himmels. Zum Geist und zur Gestalt des politischen Denkens im klassischen China, München: Fink, 2000; François Jullien: Dialog über die Moral. Menzius und die Philosophie der Aufklärung, Bern: Merve, 2003; Wolfgang Ommerborn: »Ansätze menschenrechtsrelevanter und proto-demokratischer Konzepte in der politischen Theorie des Menzius«, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 29 (2005), S. 235‒264. [HP]

Menzius (→) Meng Zi Mian Mian 棉棉 (eig. Wang Shen, 1970 – ), geb. in Shanghai Mian Mian kam 1970 in Shanghai zur Welt. 1987 ging sie ohne Schulabschluß von der Mittelschule ab. Als Jugendliche verkehrte sie für einige Zeit in einer Subkultur, die sich im Rahmen der Popkulturszene gebildet hatte. In diesem Umfeld waren Drogenkonsum und sexuelle Ausschweifungen an der Tagesordnung. Diese Erfahrungen lieferten ihr Stoff für ihr literarisches Schaffen. Ab 1989 lebte sie in einer Kleinstadt in Südchina und hatte verschiedene kurzfristige Jobs. 1995 kehrte sie nach Shanghai zurück und veröffentlichte ab 1997 Romane wie Lalala (Lalala), Zucker (Tang), Liebhaber aus Salzsäure (Yansuan qingren), Gesellschaftstanz (Shejiao wu) und Panda (Xiongmao). Daneben veröffentlichte sie auch eine Reihe von Erzählungen. Sie beschäftigt sich in ihrer literarischen Welt mit Tabuthemen wie Sex und Drogen, Langeweile, Leere und Perspektivlosigkeit der heutigen Jugendlichen Chinas. Ihre Darstellungen wirken düster, radikal und teilweise depressiv, ihre Sprache dagegen schlicht, sensibel, aber auch provokativ. Mian Mians Werke sind stark geprägt von der Popkultur Chinas und wurde bereits in verschiedene Sprachen übersetzt. WERKAUSGABEN: Lalala, Hongkong: Xinshiji, 1997; Tang, Shanghai: Zhongguo Xiju, 2000; Ni de heiye wo de baitian, o.O.: Weilai Shucheng, 2001. ÜBERSETZUNGEN: Lalala, übers. von Karin Hasselblatt, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000; Candy, übers. von Andrea Lingenfelter, Newport Beach: Back Bay Books, 2003; Deine Nacht, mein Tag, übers. von Karin Hasselblatt, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2004; Panda Sex, übers. von Martin Woesler, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Gary Jones: »The Vampire Chronicles«, in: The Observer Magazine 23. Mai 1999. [WH]

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Mo Yan 莫言

Mo Yan 莫言 (eig. Guan Moye, 1955 – ), geb. in Gaomi (Provinz Shandong) Mo Yan wurde in der Stadt Gaomi als jüngster Sohn einer Bauernfamilie geboren. Aufgrund der schlechten finanziellen Lage seiner Familie mußte er frühzeitig die Schule verlassen, um auf dem Feld zu arbeiten. Mit 18 Jahren begann er in Gaomi in einer Raffinerie zu arbeiten. Ab 1976 diente er in der chinesischen Armee, und drei Jahre später kam er in die Zentralstelle für Information, wo er zunächst als Geheimkurier, dann als Lehrkraft im Bereich der politischen Schulung tätig war. 1984 bestand er die Aufnahmeprüfung an der Lu-Xun-Militärakademie für Kunst und Literatur in Peking und studierte dort Chinesische Sprache und Literatur. Er schloß das Studium mit dem Magister-Examen ab. Mo Yan begann 1981 mit dem literarischen Schreiben. Erfolg hatte er aber erst mit der Erzählung »Durchsichtiger roter Rettich« (»Touming de hong luobo«, 1986). Der endgültige Durchbruch gelang ihm 1987 mit dem Roman Das rote Kornfeld (Hong gaoliang). 1989 erhielt die gleichnamige Verfilmung des Buches durch den Regisseur Zhang Yimou auf der Berlinale den »Goldenen Bären«. Nach Das rote Kornfeld erfuhr Mo Yans Schaffen eine thematische Wende. Er verließ die Vergangenheit und betrachtete nun die aktuelle Lebenssituation der Land- und Stadtbevölkerung, so in seinem Roman Die Knoblauchrevolte (Tiantang dasuan ge, 1988 und 1993). In den Romanen Dreizehn Schritte (Shisan bu, 1990), Die Schnapsstadt (Jiuguo, 1993) und Der rote Wald (Hong shulin, 1999) wandte sich Mo Yan den Menschen in der modernen Großstadt zu. In Die Schnapsstadt versuchte er, eine seit Lu Xun gebräuchliche literarische Metapher unter neuzeitlichen Zusammenhängen wiederzubeleben; er wiederholte den Appell, die Kinder, hier symbolisch für die Zukunft eines Landes, zu retten, und schloß sich der Feststellung an, daß ein krankes System eine Art Kannibalismus an sich selbst verübt: Indem es sich seiner Lebensgrundlagen und somit seiner Zukunft beraubt, verspeist es sich selbst. Mo Yan hat zahlreiche Erzählungen und Romane veröffentlicht und teilweise bei der Verfilmung seiner Werke mitgewirkt. In den letzten Jahren erschienen auch mehrere Essaybände. Für seine Romane erhielt er diverse Preise. WERKAUSGABEN: Touming de hong luobo, Peking: Zuojia, 1986; Hong gaoliang jiazu, Peking: Jiefang Jun Wenyi, 1987; Tiantang suantai zhi ge, Peking: Zuojia, 1988; Huanle shisan zhang, Peking: Zuojia, 1989; Shisan bu, Taipeh: Hongfan Shudian, 1990; Bai mianhua, Peking: Huayi, 1992; Huaibao xianhua de nüren, Peking: Zhongguo Shehui Kexue, 1993; Fengru feitun, Peking: Zuojia, 1996; Hui changge de qiang, Peking: Renmin Ribao, 1998; Sheng pu de zuxian men, Peking: Wenhua Yishu, 2001; Tanxiang xing, Peking: Zuojia, 2001. ÜBERSETZUNGEN: Das rote Kornfeld, übers. von Peter Weber-Schäfer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993; Die Knoblauchrevolte, übers. von Andreas Donath, Reinbek bei

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Mo Zi 墨子 Hamburg: Rowohlt, 1997; Trockener Fluß, übers. von Susanne Hornfeck et al., Dortmund: projekt verlag, 1997; Shifu, You’ll do Anything for a Laugh, übers. von Howard Goldblatt, New York: Arcade publishing, 2001; Die Schnapsstadt, übers. von Peter Weber-Schäfer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002; Big Breasts & Wide Hips, übers. von Howard Goldblatt, New York: Arcade publishing, 2003; Der Überdruss, übers. von Martina Hasse, Unkel: Horlemann, 2009; Die Sandelholzstrafe, übers. von Karin Betz, Frankfurt a.M.: Insel, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: He Lihua u. Yang Shousen: Guai cai Mo Yan, Shijiazhuang: Huashan Wenyi, 1992; He Lihua u. Yang Shousen: Mo Yan yanjiu ziliao, Jinan: Shandong Daxue, 1992; Michael S. Duke: »Past, Present and Future in Mo Yanʼs Fiction of the 1980s«, in: From May Fourth to June Fourth. Fiction and Film in Twentieth-Century China, hg. von Ellen Widmer u. David Der-wei Wang, Cambridge, Mass. et al.: Harvard University Press, 1993, S. 43‒70; Susanne Hornfeck: »Magie und Groteske. Ein Nachwort«, in: Mo Yan: Trockener Fluß, Dortmund: projekt verlag, 1997, S. 189‒195; Lu Pan: Aus dem Schattenreich der Vergangenheit. Erinnerungsarbeit in Günter Grass’ Blechtrommel und Mo Yans Üppiger Busen, Dicker Hintern, Frankfurt: Peter Lang, 2008. [WH]

Mo Zi 墨子 (eig. Mo Di, um 470 – um 380 v.Chr.), geb. im Reich Lu (heute Provinz Shandong) Die Lebensdaten des Mo Di (latinisiert: Micius) sind nur rudimentär überliefert. Es spricht viel dafür, daß er um das Jahr 480 v.Chr. im Staat Lu geboren wurde, der Heimat des ca. 70 Jahre älteren (→) Konfuzius, anstatt, wie traditionell überliefert, im Staat Song. Denn Mo Di war mit der konfuzianischen Lehre gut vertraut, trat jedoch entschieden in Opposition zu ihr. Sein Name, Mo Di (wörtlich: »Tusche-Fasan«), gibt der Forschung bis heute Rätsel auf. Das Wort »Tusche« könnte auf seinen Berufsstand oder sozialen Status hinweisen: Mo Di entstammte vielleicht einer Familie von Schreibern oder Orakelpriestern; sein Name könnte aber auch »gebrandmarkter Di« (R. Moritz) bedeuten. Mo Zi begründete auf Basis seines gleichnamigen Werkes eine ordensähnliche philosophische Gemeinschaft, die eine Art logischen Diskurs entwickelte und pflegte. Er lehnte die hierarchischen Vorstellungen der Konfuzianer ab und propagierte ein egalitäres und utilitaristisches Gesellschaftsbild. Mo Zi interpretierte die konfuzianischen Ideale neu: Mitmenschlichkeit (ren) als »Mitliebe« (jianʼai, Übersetzung nach Roetz) im Sinne gegenseitiger Fürsorge, Gerechtigkeit (yi) als gegenseitigen Nutzen (xiangli). Seine Ablehnung individueller Freiheiten zugunsten der Gemeinschaft führte in letzter Konsequenz zu einem autoritären Staatsverständnis. Obwohl das Buch Mo Zi zu etwa zwei Dritteln (53 von ursprünglich 71 Kapiteln) erhalten geblieben ist, war die Schule des Mohismus selbst eher kurzlebig. Erst in der Neuzeit zog das Werk wieder Interesse auf sich.

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Nalan Xingde 纳蓝性德 WERKAUSGABEN: Mo Zi jiangu, hg. von Sun Yirang, in: Zhuzi jicheng, Bd. 4, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1978. ÜBERSETZUNGEN: Me Ti, des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke, übers. von Alfred Forke, Berlin: Kommissionsverlag der vereinigten wissenschaftlichen Verleger, 1922; The Ethical and Political Works of Motze, übers. von Mei Yi-pao, London: Probsthain, 1929; Helwig Schmidt-Glintzer: Mo Ti. Schriften I und II, 2 Bde., Düsseldorf : Diederichs,1975; The Mozi. A Complete Translation, übers. von Ian Johnston, Hongkong: Chinese University Press, 2010. SEKUNDÄRLITERATUR: A.C. Graham: Later Mohist Logic, Ethics and Science, Hongkong: Chinese University Press, 1978; ders.: Divisions in early Mohism reflected in the core chapters of Mo-tzu, Singapur: Institute of East Asian Philosophies, 1985; Ralf Moritz: Die Philosophie im alten China, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990, S. 67–92, 167–176; Heiner Roetz: Die chinesische Ethik der Achsenzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 372ff.; Wolfgang Bauer: Geschichte der chinesischen Philosophie, hg. von Hans van Ess, München: Beck, 2001, S. 64–75; Roman Malek: Verschmelzung der Horizonte: Mozi & Jesus. Zur Hermeneutik der chinesisch-christlichen Begegnung [HP] nach Wu Leichuan (1869 – 1944), Leiden: Brill, 2004.

Nalan Xingde 纳蓝性德 (eig. Nalan Chengde, zi: Rongruo, hao: Lengjia shanren, 1655 ‒ 1685), geb. in Peking Nalan Xingde, der einem angesehenen mandschurischen Clan entstammte und in der besten Gesellschaft aufwuchs, war einer der herausragenden Literaten des 17. Jahrhunderts und gilt als ein Meister der ci-Lieddichtung. Dem bei Hofe sehr einflußreichen Vater Mingzhu (1635 ‒ 1708) hatte er es zu verdanken, daß er von führenden Gelehrten seiner Zeit in der traditionellen chinesischen Kunst und Literatur unterwiesen wurde und bereits in jungen Jahren die höchsten Beamtenprüfungen ablegen konnte. Als junger Offizier der Leibgarde wurde er regelmäßig in das Gefolge des Kaisers bei dessen Inspektionsreisen aufgenommen. Er starb kaum dreißigjährig nach kurzer Krankheit an den Folgen einer Erkältung. Neben seinen Verpflichtungen bei Hofe pflegte Nalan Xingde einen regen Umgang mit zeitgenössischen Dichtern und Literaten. Seine posthum von seinem Freund Xu Qianxue (1631 ‒ 1694) veröffentlichten Lieddichtungen fanden große Anerkennung, insbesondere der traurig-verzweifelte Ton, der einigen seiner ciLieder zu eigen ist, wußte zu berühren. In spätere Sammlungen fanden vor allem seine Verse über die Besuche in den kargen, fernen Grenzregionen seiner nordchinesischen Heimat Aufnahme. Die Diktion, der allgemeine Grundton und die zum Ausdruck gebrachte Haltung finden sich in ähnlicher Weise auch in Nalan Xingdes anderen Werken der Dichtkunst wie seinen shi-Gedichten wieder. WERKAUSGABEN: Nalan Xingde cixuan, hg. u. mit Anm. von Sheng Dongling, Taipeh: Yuanliu, 1988; Nalan Xingde ci xinshi jiping, hg. von Zhang Bingshu, Peking: Zhongguo Shudian, 2001.

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Ouyang Jianghe 欧阳江河 ÜBERSETZUNGEN: »Eleven Tzʼu by Nalan Hsinteh«, übers. von John C.H. Wu, in: Renditions 11 & 12 (Spring & Autumn 1979), S. 252‒264; »Zwanzig Gedichte«, übers. von Martin Gimm, in: Hefte für ostasiatische Literatur 25 (November 1998), S. 42–53. SEKUNDÄRLITERATUR: Zhang Jun: Nalan Xingde quanzhuan, Changchun: Changchun Chubanshe, 1997; Wolfgang Kubin: »Von des Lebens Schmacklosigkeit: Bemerkungen zu Nalan Xingde«, in: Ad Seres et Tungusos. Festschrift für Martin Gimm, hg. von Lutz Bieg, Erling von Mende u. Martina Siebert, Wiesbaden: Harrassowitz, 2000, S. 267‒274. [TZ]

Ouyang Jianghe 欧阳江河 (eig. Jiang He, 1956 – ), geb. in Luzhou (Provinz Sichuan) In Luzhou, Provinz Sichuan, in eine Offiziersfamilie geboren, begann Ouyang Jianghe 1979 Gedichte zu schreiben. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er als Dichter jedoch erst 1984 durch das Langgedicht »Die hängenden Särge« (»Xuan guan«) bekannt. Bedeutende Gedichtbände sind unter anderem Durch das Glas der Wörter (Touguo ciyu de boli, 1997), Wer geht, wer bleibt (Shei qu shei liu, 1997) und Auf dieser Seite der Fiktion (Zhan zai xugou zhebian). Er gehört zu der Gruppe der »Fünf Edlen aus Sichuan« (Sichuan wu junzi), zu deren Mitgliedern u.a. auch (→) Zhai Yongming und Zhang Zao zählen. Ouyang Jianghe wurde bereits zu einer Vielzahl von Dichterlesungen nach Deutschland eingeladen. Zuletzt hielt er sich 1997 als Stipendiat im Schloß Solitude in Stuttgart auf. Er lebt heute in Peking. WERKAUSGABEN: Shei qu shei liu, Changsha: Hunan Wenyi, 1997; Touguo ciyu de boli, o.O.: Zhongguo Gaige, 1997; Zhan zai xugou zhebian, Peking: Sanlian Shudian, 2000; Shiwu de yanlei, Peking: Zuojia, 2008. ÜBERSETZUNGEN: Post-Misty Poetry, übers. von Li Fukang u. Eva Hung, in: Renditions 37 (Spring 1992), S. 91‒147 [mit Gedichten von Ouyang Jianghe]; Die Glasfabrik. Gedichte chinesisch-deutsch, hg. von Valèrie Lawitschka, Paul Hoffmann u. Jürgen Wertheimer, Tübingen: konkursbuch, 1993; Chinesische Akrobatik – Harte Stühle, hg. von Susanne Göbe u. Valèrie Lawitschka, Tübingen: konkursbuch, 1995; Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe. Anthologie chinesischer Gegenwartslyrik [mit Gedichten von Ouyang Jianghe], ein Hörbuch von Torsten Feuerstein, Auswahl der Gedichte: Xi Chuan, übers. von Marc Hermann u. Raffael Keller, Berlin: Fly Fast Records, 2009; Alles versteht sich auf Verrat. Gedichte von Yu Jian, Zhai Yongming, Wang Xiaoni, Ouyang Jianghe, Wang Jiaxin, Chen Dongdong, Xi Chuan, Hai Zi, hg. von Wolfgang Kubin u. Tang Xiaodu, übers. von Gao Hong und Wolfgang Kubin, Bonn: Weidle, 2009, S. 82‒107; Schnellimbiss, übers. von Wolfgang Kubin, Salzburg: Tartin Editionen, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: »Handschellen aus Papier. Der Dichter Ouyang Jianghe«, in: Orientierungen 1/2000, S. 118‒128. [WH]

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Ouyang Xiu 欧阳修 (zi: Yongshu, hao: Zuiweng und Liuyi jushi, posthumer Ehrentitel: Wenzhong gong, 1007 ‒ 1072), geb. in Mianzhou (heute Provinz Sichuan) Ouyang Xius Leben vollzieht sich wie eine Gezeitenbewegung zwischen Peripherie und Zentrum. Die Zeiten der Abgeschiedenheit in entlegenen Provinzstädten, die ihm als Kind durch den frühen Tod des Vaters, als Beamter durch Verbannungen (wegen seiner unerschrockenen Äußerungen oder verleumderischer Anklagen insgesamt sechsmal) auferlegt wurden, wußte er als Phasen des Lernens und Entdeckens, der Selbstbesinnung, der Wahrnehmung der Natur in ihrer Schönheit und Gesetzmäßigkeit, des schöpferischen Schaffens und nicht zuletzt der menschenfreundlichen Verwaltungsarbeit zu nutzen. In Zeiten, da er am Hofe zu hohen Ämtern und Ehren gelangte, stellte er die Fülle seiner Erfahrungen und Begabungen, getragen von konfuzianischen Idealen, mit großer Hingabe in den Dienst des Staates und junger Talente (darunter [→] Zeng Gong, [→] Su Che, [→] Su Shi, [→] Wang Anshi). Mit seiner Mutter zog der mit vier Jahren verwaiste Ouyang Xiu zu seinem Onkel in die Kreisstadt Sui, »an den Rand der Zivilisation« (so Ouyang selbst). Dank Freunden, die ihm Bücher liehen, bereitete sich der mittellos Heranwachsende konsequent im Eigenstudium auf die Prüfung zum Doktor (jinshi) vor, die im Parallelstil (pianwen, vgl. [→] Yang Yi) abgehalten wurde. Im Hause der Freunde stieß er auf eine abgegriffene, unvollständige Ausgabe von (→) Han Yus gesammelten Werken. Es war ein Schlüsselerlebnis, das seine weitere Entwicklung bestimmte. Er bewunderte Han Yu dafür, daß dieser in seiner Zeit die Sprache, die sich, in übertriebener Beachtung der Form, in findigen Wortspielereien erschöpfte, nach dem Vorbild der Gründungsväter des Konfuzianismus zu ihrer ursprünglichen Klarheit und Ausdrucksstärke hatte zurückführen wollen. Diese seine guwenBewegung hatte im eigentlichen Sinne keine Fortsetzung gefunden. Ouyang Xiu nimmt sie wieder auf, gibt ihr aber eine völlig neue Richtung. Han Yu ging davon aus, daß erhabene (gao) und ungewöhnliche (qi) Inhalte auch einer entsprechenden Form bedürften. Ouyang Xiu hingegen betont die Notwendigkeit von Echtheit (xin), Schlichtheit (jian) und Zeitlosigkeit (chang). Im Grunde geht es ihm nicht allein um die Sprache, sondern um den Kern der Persönlichkeit, die schreibt. Innere Selbsterziehung, eine tiefe Durchdringung der Welt, der menschlichen Natur und ihrer Belange, Festhalten und Weiterentwickeln der erzielten Werte, so daß keine äußeren Umstände sie erschüttern können und ein Zustand der Gelassenheit (jing) erreicht wird – all dies sind die Voraussetzungen für gutes Schreiben. Bis diese Ideen Zustimmung und Durchsetzung fanden, war es ein langer Weg. Nach bestandener Doktorprüfung 1030 und ersten Ämtern im Staatsdienst klärten und vertieften sich Ouyangs Einsichten im Austausch mit anderen Gelehrten. Fortan wird er, unermüdlich schaffend, den in seiner Zeit vorherrschenden nicht oder nur halb offiziellen Prosaformen – Gelegenheitsprosa wie Briefe, Vorworte, Abschieds-

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Ouyang Xiu 欧阳修

geleitworte, Grabinschriften, Gedenkschreiben – ein neues Gepräge verleihen kraft seiner Grundauffassung und seines individuellen Stils, der sich nicht direkt und einseitig dem Thema nähert, sondern in einem persönlichen, lyrischen Ton aus verschiedenen Blickwinkeln seine Betrachtungen zusammenschließt. Beispielhaft dafür sind die »Abschiedsgeleitworte für Yang Zhi« (»Song Yang Zhi xu«), »Der Pavillon des trunkenen Alten« (»Zuiweng ting ji«) und die »Lebensskizze des Ruheständlers Sechsmal Eins« (»Liu-yi jushi zhuan«). Berühmt wurden auch Ouyangs Gespräche über Dichtung (Liu-yi shihua), die in ihrer Zeit einmalig waren und viele Nachahmer fanden. Ouyang Xius offizielle Schreiben am Hof, die in seiner Zeit seinen Ruf begründeten, sind zunächst noch in einem – durch seine argumentative Dichte bestechenden – Parallelstil gehalten. Erst als er Leiter des Kaiserlichen Prüfungsamtes wurde (1057), setzte sich auch hier der Neue guwen-Stil durch. Als amtlicher Geschichtsschreiber erstellte Ouyang mit Song Qi (998 ‒ 1061) eine offizielle Neue Geschichte der Tang-Dynastie (Xin Tangshu) im Neuen guwen-Stil, und privat schuf er, während der Verbannungsjahre, die Neue Geschichte der Fünf Dynastien (Xin Wudai shi), die offiziell anerkannt wurde. In der Dichtkunst schließlich hinterließ er etwa 800 Gedichte (shi) und 200 Lieder (ci). Ouyang Xiu gehört zu den Acht großen Prosameistern der Tang- und SongDynastie. Er hat selbst kurz vor seinem Tod eine Sammlung seiner Werke, die er für veröffentlichungswürdig hielt, unter dem Titel Gesammelte Werke eines Ruheständlers (Jushi ji) zusammengestellt, mit genauen zeitlichen Angaben. Seine offiziellen Schreiben sind hierin nicht enthalten. Sein Gesamtwerk ist unter der Leitung von Zhou Bida (1126 ‒ 1204) zwischen 1191 und 1196 unter dem Titel Ouyang wenzhong gong kompiliert worden. WERKAUSGABEN: Ouyang Xiu quanji, 6 Bde., Peking: Zhonghua Shuju , 2001. ÜBERSETZUNGEN: Major Lyricists of the Northern Sung, übers. von James J.Y. Liu, Princeton: Princeton University Press, 1974, S. 34‒52; Chinese Classical Prose: The Eight Masters of the Tang-Song Peroid, übers. von Shih Shun Liu, Hongkong: Chinese University Press, 1979, S. 133‒209; Love & Time. The Poems of Ou-yang Hsiu, übers. von J.P. Seaton, Port Townsend, WA: Copper Canyon Press, 1989; »Aus der Abgeschiedenheit des Landlebens«, übers. von Volker Klöpsch, in: Hefte für ostasiatische Literatur 24 (Mai 1998), S. 59–74. SEKUNDÄRLITERATUR: Rolf Trauzettel: »Ou-yang Hsius Essays über die legitime Thronnachfolge«, in: Sinologica 9 (1966/67), S. 226‒249; James T.C. Liu: Ou-yang Hsiu. An Eleventh-Century Neo-Confucianist, Stanford: Stanford University Press, 1967; Ronald C. Egan: The Literary Works of Ou-yang Hsiu (1007 ‒ 72), Cambridge: Cambridge University Press, 1984; Zhongguo gudai shanshui shi jianshang cidian, hg. von Xu Guanying, Nanjing: Jiangsu Guji, 1989, S. 601‒610; Stephen Owen: Readings in Chinese Literary Thought, Cambridge, Mass., London: Harvard University Press, 1992, S. 363‒ 389; Liu Deqing: Ouyang Xiu jinian lu, Shanghai: Shanghai Guji, 2006; Song ci jianshang cidian, hg. von Zhang Xiaohui, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Cishu, 152007, S. 167‒207;

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Pu Songling 蒲松龄 Tang-Song ba da jia wen, hg. von Wu Xiaolin, 2 Bde., Peking: Xin Shijie, 2008, Bd. 1, S. 465‒678. [BD]

Pu Songling 蒲松龄 (zi: Liuxian, Jianchen, hao: Liuquan jushi, 1640 ‒ 1715), geb. in Zichuan (Provinz Shandong) Anerkanntermaßen war Pu Songling einer der herausragendsten Erzähler der QingDynastie (1644 – 1911). Als frustrierter Gelehrter aus Shandong, der mehrfach bei den Prüfungen auf Provinzebene durchfiel und nie einen höheren Grad als den des Bakkalaureus erreichte, wurde Pu nach kurzer Söldnertätigkeit der persönliche Sekretär eines Beamten und diente später dreißig Jahre lang als Hauslehrer der lokalen Gentryfamilie Bi, die über eine umfangreiche Bibliothek verfügte. Erst mit 72 Jahren erhielt er noch ein kleines Amt. Aus altem Erzählgut, Geschichten und Anekdoten, die Pu sammelte und überarbeitete, entstand bis 1679 sein Hauptwerk Merkwürdige Geschichten von Liaozhai (Liaozhai zhiyi). Der ursprünglichen Fassung fügte er bis 1707 weitere Erzählungen hinzu. Obwohl das Liaozhai zhiyi erst 1766 in einer Druckfassung erschien, kursierten bereits zu Pus Lebzeiten handschriftliche Fassungen unter Freunden und Bekannten. Pu erklärte in einem Vorwort zur Sammlung, diese sei auf der Grundlage von (→) Gan Baos Berichten von der Suche nach den Göttern (Soushenji) entstanden. In der Tat verhält es sich so, daß Pu einige Einträge Gan Baos umarrangiert und bearbeitet hat. Ein Teil des Erzählmaterials stammt aus dem Freundeskreis, eine große Zahl von Geschichten jedoch hat Pu selbst verfaßt, wobei als sicher gelten kann, daß er hierbei auf zu seiner Zeit kursierende Erzählungen zurückgriff. Pus Stil ist weniger handlungsorientiert als kommentarisch angelegt, so daß es dem Autor leichtfällt, seine eigenen Ansichten auszudrücken. Eine erzähltechnische Besonderheit ist der Einsatz von Dialogen zur Charakterisierung der Figuren, ein in der klassischen Erzählkunst bis dahin wenig ausgeprägtes Stilmittel. Bekannt wurde das Liaozhai zhiyi vor allem für seine Geschichten über Gespenster und Fuchsgeister, doch nehmen auch die übrigen teils als Sterbliche, teils als Unsterbliche auftretenden Wesen wie Krähen, Tiger, Mäuse, Fische, Wölfe usw. nicht selten menschliche Gestalt an und interagieren mit Männern und Frauen. Die große Beliebtheit des Liaozhai zhiyi ist nicht leicht zu erklären, stellt dieses Werk doch in gewisser Weise einen Anachronismus dar, zum einen, da die bekanntesten Geschichten Liebesbeziehungen zwischen Menschen und Dämonen schildern, wie man sie bereits tausend Jahre zuvor kannte, zum anderen, weil das Werk in der nur den Gelehrten geläufigen klassischen Schriftsprache verfaßt war. Letztlich wird sein Erfolg in der hohen literarischen Qualität begründet sein, gilt das Buch in China doch als Höhepunkt der traditionellen Erzählung. Gleichzeitig markiert Pu Songling auch das Ende der klassischen Erzählung, denn alle bedeutenden Erzählungen nach ihm wurden in der Umgangssprache geschrieben.

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Die große Popularität des Liaozhai zhiyi hat etwas den Blick auf das umfangreiche Werk Pu Songlings verstellt, welches neben shi-Gedichten und ci-Liedern sowie Volksliedern im Dialekt von Shandong auch viele Essays etwa zu Fragen der Astronomie, Medizin und Landwirtschaft umfaßt. Daß Pu Songling, wie noch Hu Shi annahm, den Roman Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt (Xingshi yinyuanzhuan) verfaßt hat, gilt dagegen als unsicher. WERKAUSGABEN: Pu Songling ji, hg. von Lu Dahuang, Peking: Zhonghua Shuju, 1962; Liaozhai zhiyi [urspr. 1679 ‒ 1701/1766, neu u.a. Quanben xinzhu Liaozhai zhiyi], Peking: Renmin Wenxue, 1989. ÜBERSETZUNGEN: Seltsame Geschichten aus dem Liao chai, übers. von Erich Schmitt, Berlin: Alf Jäger, 1924; Pu Sung-ling: Umgang mit Chrysanthemen. Zwei Leben im Traum. Besuch bei den Seligen. Schmetterlinge fliegen lassen. Kontakte mit Lebenden, übers. von Gottfried Rösel, 5 Bde., Zürich: Die Waage, 1987 ‒ 1992. SEKUNDÄRLITERATUR: Otto Ladstätter: P’u Sung-ling, sein Leben und seine Werke in Umgangssprache, Diss., Universität München, 1960; Chang Chun-shu: »P’u Sung-ling and his ›Liao-chai chih-I‹: Literary Imagination and Intellectual Consciousness in Early Chʼing China«, in: Renditions 13 (Spring 1980), S. 60‒81; Allan H. Barr: Pu Songling and Liaozhai zhiyi. A Study of Textual Transmission, Biographical Background, and Literary Antecedents, Diss., Oxford University, 1983; Judith T. Zeitlin: Historian of the Strange. Pu Songling and the Chinese Classical Tale, Stanford: Stanford University Press, 1993; Karl S.Y. Kao: »Projection, Displacement, Introjection: the Strangeness of the ›Liaozhai zhiyi‹«, in: Paradoxes of traditional Chinese literature, hg. von Eva Hung, Hongkong: Chinese University of Hong Kong, 1994, S. 199‒229. [TZ]

Qi Rushan 齐如山 (eig. Qi Zongkang, 1877 ‒ 1962), geb. in Gaoyang (heute Provinz Hebei) Die faktischen Angaben zu unserem ersten zeitgenössischen Theoretiker des traditionellen chinesischen Theaters im 20. Jahrhundert schwanken in der Sekundärliteratur. Der Dramatiker, Gelehrte und spätere Agent von Mei Lanfang (1864 ‒ 1961) entstammte einer angesehenen und politisch engagierten Gelehrtenfamilie. Er verzichtete auf das traditionelle chinesische Abschlußexamen und besuchte statt dessen von 1895 bis 1900 das Seminar für Westliche Sprachen (Tongwenguan) in der Hauptstadt, wo er Deutsch, Englisch und Französisch studierte. Seine Fremdsprachenkenntnisse erlaubten ihm, während des Boxeraufstandes (1900) zu dolmetschen und anschließend ins Ausland zu gehen. Zwischen 1908 und 1913 besuchte er dreimal Paris, wo er mit chinesischen Anarchisten zusammentraf. 1913 begleitete er auch die erste Gruppe von chinesischen Studenten, die in Paris gleichzeitig arbeiten und studieren sollten. Der Aufenthalt in Frankreich machte Qi Rushan mit dem europäischen Theater bekannt. Er selbst war schon von klein auf durch die Familie mit der klassischen

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chinesischen Bühne in Berührung gekommen. Der Vergleich des Theaters im Ausland mit dem daheim weckte in ihm den Wunsch, der traditionellen chinesischen Bühne wieder zu Ansehen zu verhelfen. So begann er 1913 nach seiner Rückkehr in Peking, das Schauspiel des Westens vorzustellen. Einer seiner ersten Hörer war Mei Lanfang, dessen schauspielerische Karriere er 1914 in Peking theoretisch wie praktisch durch Vorschläge begleitete. Hieraus entstand eine mehr als zwanzig Jahre anhaltende Zusammenarbeit. Dazu gehörte auch die Adoption traditioneller chinesischer Dramen für die Aufführung durch Mei Lanfang. Am bekanntesten unter den mehr als 40 so entstandenen Beispielen im Stil der Pekinger Oper ist das Spiel Lin Daiyu begräbt Blüten (Daiyu zang hua) geworden. Qi Rushan begleitete 1930 Mei Lanfang auf seiner Amerikatournee, jedoch nicht 1935 auf dessen Besuch der Sowjetunion, wiewohl er für das gesamte Programm zuständig war. Erklärlich wird die Abwesenheit des geistigen Mentors durch die kriegerischen Ereignisse. Mei Lanfang war nach dem japanischen Angriff (1931) auf den Nordosten Chinas von Peking nach Shanghai ausgewichen, während Qi Rushan vor Ort blieb. Qi setzte nun fort, was er zuvor schon begonnen hatte: die Sichtung des vorhandenen Materials zur Geschichte des klassischen chinesischen Theaters, wobei er auch viele Theatermacher persönlich interviewte. Die Folge war eine Reihe von Standardwerken, unter denen heute Die Grundprinzipien des chinesischen Nationaltheaters (Guoju de jiben yuanze) als das wichtigste erscheint. Während der Besetzung Pekings durch japanische Truppen (1937 ‒ 1945) arbeitete Qi Rushan gleichsam als Direktor seines eigenen Theatermuseums. Der Bürgerkrieg (1946 ‒ 1949) ließ ihm 1948 eine Übersiedlung nach Taiwan notwendig erscheinen. Dort arbeitete er zwar an seinem Lebenswerk weiter, doch waren seine Mitstreiter fast alle auf dem Festland verblieben, so auch seine Familie. Sein Nachlaß befindet sich heute großenteils in der Bibliothek der Harvard-Universität. Alles in allem läßt sich sagen, daß es Qi Rushan noch eher als Wang Guowei (1877 ‒ 1927) gelungen ist, dem klassischen chinesischen Theater die Achtung in der Welt zu verschaffen, die es heute als Weltkulturerbe genießt. WERKAUSGABEN: Qi Rushan quanji, hg. von Qi Rushan yizhu bian yin weiyuanhui, Taipeh: Chongguang Wenyi, 1964. SEKUNDÄRLITERATUR: Barbara M. Kaulbach: Ch’i Ju-shan (1875 ‒ 1961): Die Erforschung und Systematisierung der Praxis des chinesischen Dramas, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 1977 [mit Übers.]; Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 847‒849 [»Daiyu zang hua«]. [WK]

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Qian Daxin 钱大昕

Qian Daxin 钱大昕 (zi: Xiaozheng, Jizhi, hao: Xinmei, Zhuting jushi, Qianyan laoren, 1728 ‒ 1804), geb. in Jiading (Shanghai) Qian legte im Jahre 1754 die Prüfung zum Doktor (jinshi) ab, war u.a. für das Prüfungswesen in der Provinz Shandong tätig, wurde Mitglied der HanlinAkademie und befaßte sich später mit der Leitung der Studien- und Prüfungsangelegenheiten im südchinesischen Guangdong. Als ein großer Gelehrter war Qian einer von vielen Eklektikern seiner Zeit, die mit zahlreichen Klassikern vertraut waren, über umfassendes literarisches Können verfügten und es dennoch in keiner Disziplin zu einer echten Meisterschaft brachten. So beschäftigte sich Qian mit Fragen der Prosodie und Etymologie ebenso wie mit solchen des Beamtentums, der Geographie und der Kalenderkunde. Sein Schwerpunkt lag auf historischen Arbeiten, doch weisen auch eine Reihe seiner Prosatexte – vornehmlich die Reisebeschreibungen (youji) und die Pinselnotizen (biji) – eine hohe literarische Qualität auf. WERKAUSGABEN: Jiading Qian Daxin quanji, hg. von Chen Wenhe, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Qian Daxin yanjiu, hg. von Gu Jichen, Shanghai: Huadong Ligong Daxue, 1996; Qian Xinmei xiansheng nianpu, mit Anm. des Enkels Qian Qingzeng, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. [TZ]

Qian Qianyi 钱谦益 (zi: Shouzhi, hao: Muzhai, Muzhai laoren, Mengsou etc., 1582 ‒ 1664), geb. in Changshu (Provinz Jiangsu) Qian Qianyi gilt als einer der führenden Dichter seiner Zeit, war aber gleichzeitig auch ein sehr umstrittener Beamtengelehrter während des Wechsels von der Ming- zur Qing-Dynastie. Nach der erfolgreich abgelegten Doktorprüfung (jinshi) 1610 bekleidete er immer wieder nur vorübergehend ein Amt. So war er mehrmals in der Hanlin-Akademie und als Prüfungskommissar in Zhejiang tätig. In der Folge seiner Verwicklung in die Konflikte zwischen der »Donglin«-Fraktion und ihren gegnerischen Kräften bei Hofe zog sich Qian bis zum Ende der MingDynastie 1644 in seine Heimat zurück. Nach der Machtübernahme der Mandschuren erklärte er sich bereit, für die neuen Herrscher tätig zu sein, und kompilierte u.a. Material für die offizielle Geschichte der Ming. Schnell geriet er dabei zwischen die Fronten, wurde von seiten der Ming-Loyalisten des Verrats bezichtigt und mußte sich andererseits des Verdachts durch die Mandschuren erwehren, weiterhin mit den Kräften der untergegangenen Ming zu kollaborieren. In der Literaturgeschichte hat Qian wichtige Spuren hinterlassen; ohne die von ihm angefertigten Sammlungen wäre das Wissen der Nachwelt über die Geistesgeschichte und Literatur der Ming-Zeit weit geringer.

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Qian Zhongshu 钱钟书

Bessere Zeiten erlebte Qian Qianyi an der Seite der gebildeten Kurtisane Liu Shi (1618 ‒ 1664), die er während seines langen Heimataufenthaltes 1640 kennenlernte und ein Jahr später heiratete. Gemeinsam arbeiteten sie an der Anthologie der Ming-Dichtung (Liechao shi ji), der etwa zweitausend Biographien und eine Geschichte der Ming-Dynastie beigefügt sind. Liu Shi übernahm dabei vor allem die Arbeit am vierten Abschnitt, der den Dichterinnen in der chinesischen Literatur gewidmet ist, und fügte wohl auch selbst die Anmerkungen und Kommentare hinzu. Auf Qian wiederum geht außerdem eine umfassende Sammlung von TangGedichten zurück, die späteren Anthologien als Vorbild diente. WERKAUSGABEN: Qian Muzhai quanji, 8 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 2003. SEKUNDÄRLITERATUR: Jian Xiujuan: Qian Qianyi cangshu yanjiu, Taipeh: Han Mei Tushu Gongsi, 1991; Pei Shijun: Sihai zongmeng wushi nian: Qian Qianyi zhuan, Peking: Dongfang, 2001; Lawrence C.H. Yim: Qian Qianyiʼs Theory of Shishi during the MingQing Transition, Taipeh: Zhongyang Yanjiuyuan Zhongguo Wenzhe Yanjiusuo, 2005. [TZ]

Qian Zhongshu 钱钟书 (Pseudonyme: Mocun [zi], Huaiju [hao], 1910 – 1998), geb. in Wuxi (Provinz Jiangxi) Qian Zhongshu wurde in eine Familie mit ausgewiesenem Bildungshintergrund hineingeboren. Sein Vater war der bekannte Literaturhistoriker Qian Jibo. Qian Zhongshu verfügte schon früh über ein sehr gutes Gedächtnis und war sehr belesen. Er besuchte zwei Missionarsschulen in Wuxi und trat insbesondere durch seine Leistungen im Fach Englisch hervor. 1929 bestand er die Aufnahmeprüfung für die Tsinghua-Universität und begann dort Anglistik zu studieren. Nach dem Studium 1933 arbeitete er an der Guanghua-Universität in Shanghai und veröffentlichte Buchrezensionen und Fachartikel. 1935 erhielt er ein staatliches Stipendium und setzte sein Studium der Anglistik in Oxford unter Begleitung seiner Frau Yang Jiang, ebenfalls Schriftstellerin, fort. Danach ging er für Forschungszwecke für ein Jahr nach Frankreich. Erst 1938 kehrte er mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter nach China zurück. Er war an verschiedenen Universitäten Chinas als Professor für Englische Sprache und Literatur tätig. Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 war er zunächst als Professor an der Tsinghua-Universität, später als Literaturwissenschaftler an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften angestellt. Während der Kulturrevolution (1966 – 1976) mußte er eine Zeit lang in einem Umerziehungslager leben. Der Beginn seiner Forschungsarbeit und seiner schriftstellerischen Tätigkeit liegt in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Während der Semesterferien 1941 in Shanghai sammelte er Material für sein Buch Gespräche über Kunst (Tan yilu), das erst 1947 erschien und große Bekanntheit erlangte. Im selben Jahr kam

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Qian Zhongshu 钱钟书

eine Sammlung von Essays unter dem Titel An den Rand des Lebens geschrieben (Xie zai rensheng bianshang) heraus. 1946 erschien sein Erzählband Menschen, Tiere, Gespenster (Ren shou gui), 1947 folgte sein Roman Die umzingelte Festung (Weicheng). Letzterer besitzt aufgrund der hohen sprachlichen Präzision, der feinen Ironie, der wohldosierten Distanz zu dem Erzählten und einer Weisheit, die erst durch mehrmaliges Lesen zu begreifen ist, einen hohen Stellenwert in der chinesischen Erzählkunst. Sowohl im literarischen Schaffen als auch in der wissenschaftlichen Arbeit Qian Zhongshus sind die chinesische und westliche Kultur auf das engste miteinander verbunden. Während er in seinem Roman Die umzingelte Festung die Berührungspunkte der Kulturen in den Denk- und Verhaltensweisen aufzeigte, wobei er insbesondere die Oberflächlichkeit in der Übertragung kultureller Elemente mit Ironie und Humor aufdeckte, belegte er in seiner wissenschaftlichen Forschung die wechelseitige Beeinflussung und den Perspektivenwechsel in der Betrachtung fremder Kulturen. Sein Werk Mit Bambusrohr und Ahle (Guanzhui bian) ist ein bedeutender Beitrag zur komparatistischen Erforschung der klassischen chinesischen Literatur mit Bezug zur westlichen Literatur. WERKAUSGABEN: Xie zai rensheng bianshang, Shanghai: Kaiming, 1941; Guanzhuibian, Shanghai: Zhonghua Shuju, 1979; Weicheng, Peking: Renmin Wenxue, 1983; Tan yilu, Shanghai: Zhonghua Shuju, 1984; Qi zhuiji, Shanghai: Shanghai Guji, 1985. ÜBERSETZUNGEN: Das Andenken. Erzählungen, übertragen von Charlotte Dunsing u. Ylva Monschein, Köln: Diederichs, 1986; Die umzingelte Festung, übers. von Monika Motsch u. Jerome Shih, Frankfurt a.M.: Insel, 1988 [überarbeitete Neuauflage 2009]. SEKUNDÄRLITERATUR: C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 432‒460; Theodore Huters: Traditional Innovation. Qian Zhong-shu (Ch’ien Chung-shu) and Modern Chinese Letters, Diss., Stanford University, 1977; Theodore Huters: Qian Zhongshu, Boston: Twayne, 1982; Qian Zhongshu, Yang Jiang yanjiu ziliao ji, hg. von Tian Huilan, Wuhan: Huazhong Shifan Daxue, 1990; Shen Tai Chang: »Reading Qian Zhongshu’s ›God’s Dream‹ as a Postmodern Text«, in: CLEAR 16/1994, S. 93‒110; Monika Motsch: Mit Bambusrohr und Ahle. Von Qian Zhongshus »Guanzhuiban« zu einer Neubetrachtung Du Fus, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 1994; Jana Benicka: »Some Remarks on the Satirical in Qian Zhongshu’s Novel Weicheng (Fortressed Besieged)«, in: Autumn Floods. Essays in Honor of Marián Gálik, hg. von Raoul David Findeisen u. Robert H. Gassmann, Bern: Peter Lang, 1997, S. 351– 361; Hong Yu: »Qian Zhongshu’s Essays«, in: The Modern Chinese Literary Essay. Defining the Chinese Self in the 20th Century, hg. von Martin Woesler, Bochum: Bochum University Press, 2000, S. 147‒169; Yiran Mao: »Introduction«, in: Yiran Mao: Cat by Qian Zhongshu. A Translation and Critical Introduction, Hongkong: Joint Publishing, 2001, S. 17‒46; Robert Linsley: »Qian Zhongshu and the Late, Late Modern«, in: Yishu. Journal of Contemporary Chinese Art 1, 1 (Spring 2002), S. 60‒67. [WH]

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Qin Guan 秦观

Qin Guan 秦观 (zi: Shaoyou, Taixu, Hanyou jushi, hao: Huaihai jushi, 1049 ‒ 1100), geb. in Gaoyou (Provinz Jiangsu) Qin Guan verlor früh seinen Vater und wuchs in der Familie seiner Mutter unter bescheidenen Verhältnissen auf. Gleichwohl vertiefte er sich von jung auf in ernsthafte Studien und übte sich in literarischem Schaffen. 1074 lernte er in Yangzhou (→) Su Shi kennen, der ihn wegen seiner menschlichen Vorzüge und seines dichterischen Talents schätzte und in seine Familie und seinen Freundeskreis einführte. Mit (→) Huang Tingjian (1045 ‒ 1105), Chao Buzhi (1053 ‒ 1110) und Zhang Lei (1054 ‒ 1114) gehörte er zu den »Vier Gelehrten des Hauses Shu« (Su men si xueshi). Er blieb lebenslang mit Su Shi und dessen jüngerem Bruder, Su Che, befreundet und teilte mit ihnen die vielen Wechselfälle in der politischen Laufbahn aufgrund der Parteikämpfe, die durch die Reformen (→) Wang Anshis (1021 ‒ 1086) die Beamtenschaft und die regierenden Kaiser in »Fortschrittliche« und »Konservative« aufspaltete. Su und seine Anhänger galten als konservativ. Von 1079 an unternahm Qin Guan viele Reisen in die Provinzen Jiangsu, Zhejiang, Jiangxi und Henan; teilweise begleitete er dabei Su Shi und Su Che auf ihren Wegen in die Verbannung. 1084 gab er selbst eine Sammlung seiner Gedichte und Schriften unter dem Titel Sammlung des Müßiggängers aus Huaihai (Huaihai xianju ji) heraus. 1085 bestand er seine Prüfung zum Doktor (jinshi). Su Shi empfahl ihn für höchste Ämter, aber Neider wußten dies zu verhindern. Nach dem Tod des Kaisers Shenzong (1085) übernahm die Kaiserinwitwe die Regierungsgeschäfte für ihren minderjährigen Sohn, und die konservative Partei gewann erneut Einfluß. 1088 wurde Qin Guan zum »Umfassenden Gelehrten der Kaiserlichen Akademie« (taixue boshi) ernannt und mit der Aufgabe betraut, in der Kaiserlichen Bibliothek Texte zu kompilieren und zu korrigieren. Nach Erlangung der Volljährigkeit im Jahre 1094 übernahm Kaiser Zhezong selbst die Regierung und unterstützte die Reformer. Für die Konservativen begann ein jahrelanger Exodus. Qin Guan wurde zu untergeordneten Ämtern degradiert und in verschiedenste Provinzen verbannt – Zhejiang (in die Städte Hangzhou und Chuzhou), Hunan (Chenzhou), Guangxi (Hengzhou) und zuletzt 1099 auf die Halbinsel Leizhou in Kanton. Hier empfand er sein Los als besonders drückend, doch trotz aller Härten seines Schicksals besang er den Zauber der südlichen Landschaft und das Leben des einfachen Volkes, unter dem er lebte. Hier verfaßte er auch seinen Grabgesang. Als Kaiser Huizong auf Geheiß der Kaiserinwitwe 1100 eine allgemeine Amnestie erließ, konnte Qin Guan endlich die Heimreise antreten. Jedoch erreichte er die Hauptstadt nicht mehr. Er verstarb in Tengzhou (Provinz Guangxi) während einer Rast bei einem Gläschen Wein. »Hier vernahm man eine Stimme, jubelnd wie eine Lerche im Frühling«, so kennzeichnet (→) Lin Yutang die ci-Lieder Qin Guans. Tatsächlich ist Qin vor allem wegen seiner Lieder, gesammelt in der Huaihuai-Sammlung (Huaihai ji), bewundert worden, wenngleich er auch mit über 400 Gedichten (shi), Essays und Oden

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Qiu Jin 秋瑾

seine literarischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hat. Mit seinen Liedern traf er den Ton der Zeit. Was sie auszeichnet, ist eine direkte, aber fein gezügelte Sprache, in der sich literarische und umgangssprachliche Elemente ideal vermischen. Ein besondere Eigenart seiner Lieder ist eine gelegentliche Stellungnahme (yilun, meist nicht mehr als zwei Zeilen) zu menschlichen Befindlichkeiten, die er in den Reimfluß einfügt. Sie soll dazu anregen, nicht nur nachzuempfinden, sondern auch innezuhalten und nachzudenken. Seine Dichtungen gewinnen dadurch an Tiefe und Feinsinnigkeit. In (→) Liu Yongs ci-Dichtungen finden sich all diese Merkmale bereits im Ansatz. Qin Guan jedoch wußte sie noch zu verfeinern und so seinen Liedern einen ganz eigenen, stillen Ton aufzuprägen. So gilt Liu Yong als der Wegbereiter der »Schule der zart-verhaltenen Dichtung« (Wanyue Pai), Qin Guan aber als ihr endgültiger Begründer. WERKAUSGABEN: Huaihai jushi chang duan ju, Shanghai: Shanghai Guji, 1985; Huaihai ji jianzhu, komm. von Xu Peijun, Shanghai: Shanghai Guji, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, Berlin: Rütten & Loening, 1969, S. 320‒322; Major Lyricists of the Northern Sung, übers. von James J.Y. Liu, Princeton: Princeton University Press, 1974, S. 99‒120; Inscribed Landscapes. Travel Writing from Imperial China, übers. von Richard E. Strassberg, Berkeley et al.: University of California Press, 1994, S. 199‒ 204. SEKUNDÄRLITERATUR: Tang Song ci jianshang cidian, hg. von Tang Gaocai et al., Shanghai: [BD] Shanghai Cishu, 252003, S. 820‒870.

Qiu Jin 秋瑾 (eig. Qiu Guijin, zi: Xuanqing, Jingxiong, hao: Jianhu nüxia etc., 1875 ‒ 1907), geb. in Shaoxing (Provinz Zhejiang) Schriftstellerinnen waren innerhalb des von der Männerwelt beherrschten Mediums der Dichtung und Erzählkunst im vormodernen China die Ausnahme. Im Strom der allgemeinen Gesellschaftskritik, wie sie in zahlreichen Romanen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, gewann auch das Thema der Frauenrolle zunehmend an Bedeutung. Auch sind seit dieser Zeit – allerdings zumeist versteckt hinter einem Pseudonym – mehr und mehr Schriftstellerinnen in der Literaturszene auszumachen. Die berühmteste Gestalt dieser frühen chinesischen Emanzipationsbewegung war Qiu Jin. Ihr kurzes und ereignisreiches Leben – die Trennung von Mann und Familie, ein Studium in Japan 1904, Aktivitäten in der revolutionären chinesischen Studentenschaft, das Attentat auf den Provinzgouverneur von Anhui 1907 und die Hinrichtung kurze Zeit später – hat viele Schriftstellerinnen des frühen 20. Jahrhunderts beeinflußt. Qiu Jins eigenes literarisches Schaffen, das zahlreiche Gedichte und kurze Prosatexte umfaßt, kulminierte in ihrem Hauptwerk, dem unvollendet gebliebenen

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Qu You 瞿佑

Roman Die Steine des Vogels Jingwei (Jingwei shi). Das Werk, abgefaßt in der Form des seit der Ming-Zeit sich großer Beliebtheit erfreuenden Sprechgesangs (tanci), erzählt die Geschichte der Jurui, die einem reichen Mann in die Ehe versprochen wird und sich nach langen Gesprächen mit ihrer Freundin zur Flucht nach Japan entschließt. Qiu Jin hat hier wesentliche Stationen ihres eigenen Lebens nachgezeichnet. WERKAUSGABEN: Qiu Jin xuanji (hg. u. mit Anm. von Guo Yanli), Peking: Renmin Wenxue, 2004. ÜBERSETZUNGEN: Qiu Jin. Die Steine des Vogels Jingwei, übers. von Catherine Gipoulon, München: Frauenoffensive, 1977. SEKUNDÄRLITERATUR: Guo Yanli: Qiu Jin yanjiu ziliao, Jinan: Shandong Jiaoyu, 1987; Lu Tian et al.: Qiu Jin quanzhuan, Changchun: Changchun Chubanshe, 1997. [TZ]

Qu You 瞿佑 (zi: Zongji, hao: Cunzhai, 1341 ‒ 1427/1433), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Qu You war ein gefeierter Dichter und Prosaautor, der die meiste Zeit seines Lebens als Schullehrer an verschiedenen Orten zubrachte. Während der Herrschaft des Yongle-Kaisers (reg. 1402 – 1424) fiel er wegen seiner Erzählungen in Ungnade und wurde in eine zehn Jahre dauernde Verbannung geschickt, aus der er erst 1425 zurückkehrte, um im Hause eines Adligen seine Tätigkeit als Lehrer wiederaufzunehmen. Kurze Zeit danach starb er. Qu scheint ein überaus produktiver Autor gewesen zu sein, doch sind die meisten seiner Schriften nicht überliefert. Neben seinem Hauptwerk Neue Gespräche beim Putzen der Lampe (Jiandeng xinhua) sind als bedeutsam vor allem seine Gespräche über die Dichtung nach dem Eintritt in den Ruhestand (Guitian shihua) zu erwähnen. Nach dem dazugehörigen Vorwort aus dem Jahre 1378 muß die Sammlung der Neuen Gespräche ursprünglich weit umfangreicher gewesen sein, so daß die erhaltenen einundzwanzig Erzählungen nur einen Bruchteil des eigentlichen Werkes ausmachen dürften. Wie häufig bei den frühen chuanqi-Erzählungen, so behandeln auch die Texte dieser Sammlung insbesondere zeitgenössische Ereignisse und Themen wie Liebe, außergewöhnliche Begebenheiten und Begegnungen mit Geisterwesen. Vermutlich war es die freizügige Darstellung von Liebesszenen, die dazu führte, daß die Neuen Gespräche in der Ming-Dynastie (1368 – 1644) verboten wurden. Die Popularität des Werkes zeigt sich u.a. auch an zwei Folgewerken, nämlich Li Zhens (1376 ‒ 1452) Mehr Geschichten beim Putzen der Lampe (Jiandeng yuhua) und Shao Jingzhous 1592 abgeschlossenen Geschichten beim Suchen nach der Lampe (Mideng xinhua). Zahlreiche Erzählungen aus diesen Sammlungen dienten als Quelle für Schauspiele der Ming-Zeit, doch gerieten sie in der nachfolgenden Qing-Dynastie (1644 – 1911) in Vergessenheit und konnten

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Qu Yuan 屈原

erst später wieder über Einflüsse aus Korea und Japan eine stärkere Wirkung entfalten. WERKAUSGABEN: Jindeng xinhua, Taipeh: Shijie Shuju, 1962. ÜBERSETZUNGEN: Die goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden, hg. u. übers. von Wolfgang Bauer u. Herbert Franke, München: Hanser, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Herbert Franke: »Eine Novellensammlung der frühen Ming-Zeit: Das Chien-teng hsin-hua des Chʼü Yu«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 108, 2 (1958), S. 338‒383; Wang Shucheng: Chien-teng san-chung kʼao-hsi, Diss., National Taiwan University, 1982. [TZ]

Qu Yuan 屈原 (zi: Lingjun, ca. 340 – 278 v.Chr.), geb. im Reich Chu (heute Provinz Hubei) Qu Yuan ist als erster Dichter – mehr noch: als »Urbild des Poeten« – und als Verfasser der Lieder des Südens (Chuci, wörtlich: »Worte aus Chu«) in die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung eingegangen. Doch schon der Kompilator Wang Yi (gest. 158 n.Chr.) schreibt Qu Yuan nur die ersten sieben der insgesamt 17 Teile dieser neben dem Buch der Lieder (Shijing) zweitwichtigsten Liedersammlung des chinesischen Altertums zu. Der erste Text, das »Lied von der Verzweiflung« (»Lisao«), ist seit jeher auf besonderes Interesse gestoßen, da in der an schamanistische Traditionen anknüpfenden Beschreibung einer phantastischen und zugleich erschreckend realen Reise ein autobiographischer Kern vermutet wird. Die wichtigste biographische Quelle zu Qu Yuan sind die Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian aus dem 1. Jahrhundert v.Chr. Demnach war Qu Yuan, geboren im Staate Chu, von adliger Abstammung und stand als Berater (shuoke) in den Diensten des Königs Huai (reg. 329 – 299 v.Chr.). Angesichts der drohenden Expansionsfeldzüge des Staates Qin riet er dem König zu einer Verteidigungsallianz mit dem Staat Qi. Aber mit dieser im Rückblick prophetischen Einschätzung der Lage stand er bei Hofe allein und fiel beim König in Ungnade. Dieser wollte nichts vom drohenden Untergang seines Reiches hören und verbannte den mahnenden Berater in das Gebiet jenseits der gefährlichen Südgrenze des Staates Chu. Qu Yuan jedoch, überzeugt, seinem König einen treuen Dienst erwiesen zu haben, litt entsetzlich unter der Verbannung. Trotz der ihm widerfahrenen Ungerechtigkeit bekundete er in seinen Liedern weiterhin seine ungebrochene Loyalität zu König Huai, beklagte damit jedoch indirekt dessen Fehleinschätzung seiner Person. Qu Yuans Klage gipfelte in seinem Selbstmord. Das lyrische Ich im »Lisao«, ein Verbannter, irrt durch weltliche und himmlische Regionen, doch er findet nirgends mehr Einlaß. Der im Fluß Miluo ertrunkene Dichter Qu Yuan fand zumindest in den Köpfen und Herzen zahlloser chinesischer Literaten eine Heimat – kaum eine andere historische Figur Chinas wurde bis in unsere Tage hinein so verehrt (und so instrumentalisiert) wie Qu Yuan.

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Ruan Dacheng 阮大铖 WERKAUSGABEN: Qu Yuan ji jiaozhu, hg. von Jin Kaicheng et al., 2 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Das Li-Sao und die Neun Gesänge. Zwei chinesische Dichtungen aus dem dritten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, übers. von August Pfizmaier, Wien: Separatdruck aus: Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophische Historische Klasse, Bd. 3, 1852; Die neun Gesänge, übers. von Arthur Waley, aus dem Engl. von Franziska Meister, Hamburg: Schröder, 1957; Altchinesische Hymnen, übers. von Peter Weber-Schäfer, Köln: Hegner, 1967, S. 11–97, 189–209; »The Ch’u Tz’u«, übers. von Burton Watson, in: ders. (Übers. u. Hg.): The Columbia Book of Chinese Poetry: From Early Times to the Thirteenth Century, New York: Columbia University Press, 1984; The Songs of the South. An Anthology of Ancient Chinese Poems by Qu Yuan and Other Poets, übers. von David Hawkes, Harmondsworth: Penguin, 1985. SEKUNDÄRLITERATUR: James Robert Hightower: »Ch’ü Yüan Studies«, in: Silver Jubilee Volume of Jinbun Kagaku Kenkyusyo, Kyoto: Kyoto University, 1954, S. 192‒223; Laurence A. Schneider: The Madman of Chu. A Myth of Loyality and Dissent, Berkeley: The University of California Press, 1980; Jiang Liangfu u. Jiang Kunwu: Qu Yuan yu Chuci, Hefei: Anhui Jiaoyu, 1991; Zeng Zhengzhen: Mythopoesis Historicized: Qu Yuan’s Poetry and Its Legacy, Diss., University of Washington, 1992; Karl-Heinz Pohl: »Dichtung, Philosophie, Politik: Qu Yuan in den 80er Jahren«, in: ders. (Hg.): Chinesische Intellektuelle im 20. Jahrhundert: Zwischen Tradition und Moderne, Hamburg: Institut für Asienkunde, 1993, S. 405–425. [HP]

Ruan Dacheng 阮大铖 (zi: Jizhi, hao: Yuanhai, Shichao, Baizi shanjiao, 1587 ‒ 1646), geb. in Huaining (Provinz Anhui) Ruan Dacheng war ein durchaus beachtenswerter Literat und Künstler, dessen Ruf aber litt, weil er seine politische Karriere mit Hilfe des umstrittenen Eunuchenbeamten Wei Zhongxian (1568 ‒ 1627) vorantrieb, welcher lange Zeit einen rücksichtslosen Kampf gegen die politisch-literarische »Donglin«-Fraktion bei Hofe geführt hatte. Nach dem Tod Weis wurde Ruan aller seiner Ämter enthoben und lebte ab 1629 bis zum Sturz der Ming-Dynastie 1644 in Zurückgezogenheit. Sein späterer Versuch, das Verhältnis zu der Fraktion der Eunuchen sachlich zu erklären, scheiterte; in einer öffentlichen Erklärung, die von hundertvierzig bekannten Literaten unterschrieben war, wurde er verdammt. Ruan flüchtete mit den besiegten Ming in den Süden, wo er kurze Zeit das Amt des Kriegsministers bekleidete, ergab sich aber schließlich den mandschurischen Qing und starb wenig später während eines Feldzugs in den Reihen der Eroberer. In die Literaturgeschichte ist Ruan Dacheng als Verfasser einer Reihe von Theaterstücken eingegangen, darunter Das Rätsel der Frühlingslaterne (Chundeng mi), das noch im 20. Jahrhundert zur Aufführung kam. Am bekanntesten dürfte wohl Die Liebesnotiz der Schwalbe (Yanzi jian) sein, ein Stück, das vermutlich aus Anlaß der Krönung von Prinz Fu verfaßt wurde und von einer verwickelten Liebes-

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Ruan Ji 阮籍

geschichte handelt. Den Kennern der chinesischen Theatergeschichte ist Ruan Dacheng darüber hinaus als der Bösewicht in (→) Kong Shangrens Pfirsichblütenfächer (Taohuashan) bekannt. WERKAUSGABEN: Ruan Dacheng xiqu si zhong, Hefei: Huangshan Shushe, 1993; Ruan Dacheng shihua, in: Ming shihua quanbian, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. ÜBERSETZUNGEN: »Bigamy Unabashed: Ruan Dacheng’s Comic Masterpiece, The Swallow Letter«, übers. von Cyril Birch, in: Renditions 40 (Autumn 1993), S. 1‒9; »Three Scenes from The Swallow Letter«, übers. von Cyril Birch, in: Renditions 40 (Autumn 1993), S. 10‒ 31. [TZ]

Ruan Ji 阮籍 (zi: Sizong, hao: Bubing, 210 – 263), geb. in Chenliu im damaligen Staat Wei (heute Provinz Henan) Ruan Ji zählte, wie (→) Ji Kang, zu den legendären »Sieben Weisen vom Bambushain« (Zhulin qi xian, vgl. Eintrag zu Ji Kang). Auch er stand, aus einer angesehenen Gelehrtenfamilie stammend, dem Cao-Clan nahe und wurde ab 239 mit einem Amt am Kaiserhof in Luoyang betraut. Doch Ruan Ji geriet zusehends in die Intrigen des nach der Macht strebenden Sima-Clans, der im Jahr 265 die WeiDynastie stürzen sollte, um seine eigene Dynastie – die Westliche Jin-Dynastie (265 – 316) – zu etablieren. Der hochgebildete Gelehrte Ruan Ji soll sich in der Folge, frustriert von endlosen Loyalitätskonflikten, in die Welt des Rausches und der daoistischen Mystik geflüchtet haben. Doch es wäre völlig falsch, ihn auf das in Jahrhunderten der legendenhaften Verklärung gewachsene Bild eines betrunkenen Freigeists zu reduzieren. Dichterisch gehaltvoller als Ji Kang, ließ Ruan Ji völlig neue, abstrakte Themen und Motive in die Lyrik Eingang finden, weshalb seine Gedichte auch als »Gelehrtenlyrik« bezeichnet wurden. Diese spröden und zum Teil unzugänglichen Verse sind jedoch von einnehmender Individualität geprägt. Sein Ruf als Dichter beruht vor allem auf seinem aus 82 Gedichten bestehenden Zyklus Lieder aus der Tiefe meines Herzens (Yonghuaishi). Ruan Ji hat darüber hinaus sechs Poetische Beschreibungen (fu), drei Essays (lun) und eine geringe Anzahl weiterer Prosatexte hinterlassen, darunter die philosophisch-satirische »Biographie des Meisters ›Großer Mann‹« (»Daren xiansheng zhuan«). WERKAUSGABEN: Ruan Ji ji jiaozhu, hg. u. komm. von Chen Bojun, Peking: Zhonghua Shuju, 1987; Ruan Ji shiwen xuanyi, hg. von Qi Xin, Chengdu: Bashu Shudian, 1990; Ruan Bubing Yonghuaishi zhu, hg. u. komm. von Huang Jie, Peking: Renmin Wenxue, 2008. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard

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San Mao 三毛 University Press, 1958, Bd. 1, S. 356‒359; Lyrik des Ostens, hg. von Wilhelm Gundert et al., München: Hanser, 1965, 21978, S. 271‒273; »Roan Jyi«, übers. von Victor H. Mair, in: ders. (Hg.): Four Introspective Poets. A Concordance to Selected Poems by Roan Jyi, Chern Tzyy-arng, Jang Jeou-ling and Lii Bor, Tempe: Arizona State University, 1987. SEKUNDÄRLITERATUR: Donald Holzmann: Poetry and Politics. The Life and Works of Juan Chi (A.D. 210 ‒ 263), Cambridge: Cambridge University Press, 1976; Wang Yi-t’ung: »The Political and Intellectual World in the Poetry of Juan Chi«, in: Renditions 7 (Spring 1977), S. 48‒61; Cai Zong-qi: »The Symbolic Mode of Presentation in the Poetry of Juan Chi«, in: CLEAR 15 (1993), S. 37‒56; Dai Fang: Drinking, Thinking, and Writing: Ruan Ji and the Culture of His Era, Diss., University of Michigan, 1994. [HP]

San Mao 三毛 (eig. Chen Ping, 1943 – 1991), geb. in Zhoushan (Provinz Zhejiang) Der Künstlername der Schriftstellerin San Mao stammt aus dem Cartoon San Maos Wanderschaft (San Mao liulang ji) des bekannten chinesischen Karikaturisten Zhang Leping. Bereits als Kind wanderte auch San Mao mit ihrer Familie von Stadt zu Stadt, um dem Krieg zu entfliehen, bis sie in Taiwan ankam. In ihrer Kindheit galt sie als sehr stur und eigenwillig. Ihre Eltern mußten sie wegen »schwerer Erziehbarkeit« zu Hause behalten und selbst unterrichten. Nach einem Studium an der Universität Chenggong ging San Mao ins Ausland, von den USA über Deutschland nach Spanien. Ihre »Wanderjahre« verarbeitete sie literarisch in mehreren Essaybänden. Durch ihre Darstellung des Lebens im Ausland, ihre humorvolle Sprache und ihre Treffsicherheit in der Charakterisierung verschiedener Menschen aus fremden Kulturen wurde sie sehr beliebt. Essaybände wie Geschichten aus der Sahara (Shahala de gushi, 1976), Die Regenzeit kehrt nicht zurück (Yuji bu zai lai, 1976), Das weinende Kamel (Kuqi de luotuo, 1977) und Rückenansicht (Beiying, 1981) eröffnen den Lesern eine geheimnisvolle Welt voller Abenteuer und Überraschungen. San Mao übernimmt aus der Tradition des chinesischen Essays die Kunst, scheinbare Beiläufigkeit und Flüchtigkeit in der Thematisierung mit tiefgreifenden Einsichten über das menschliche Leben zu verbinden. San Mao starb 1991. Als Todesursache wurde offiziell Suizid angenommen. WERKAUSGABEN: Shahala de gushi, Taipeh: Huangguan, 1976; Yuji bu zai lai, Taipeh: Huangguan, 1976; Daochao ren shouji, Taipeh: Huangguan, 1977; Kuqi de luotuo, Taipeh: Huangguan, 1977; Wenrou de ye, Taipeh: Huangguan, 1979; Beiying, Hongkong: Wu Xingji, 1981; Mengli hualuo zhi duoshao, Hongkong: Wu Xingji, 1981; Wanshui qishan zuobian, Hongkong: Jiulong, 1982; Song ni yi pi ma, Taipeh: Huangguan, 1983; Suixiang, Taipeh: Huangguan, 1984. ÜBERSETZUNGEN: »Das Bad in der Wüste«, übers. von Stella Neumann, in: minima sinica 1/1999, S. 120‒130.

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Shen Congwen 沈从文 SEKUNDÄRLITERATUR: Fangmei Lin: Social Change and Romantic Ideology. The Impact of the Public Industry, Family Organization and Gender Roles on the Reception and Interpretation of Romance Fiction in Taiwan, Diss., University of Pennsylvania, 1992; Miriam Lang: San Mao and the Known World, Diss., Canberra: Australian National University, 1999; Miriam Lang: »San Mao Makes History«, in: East Asian History 19 (June 2000), S. 145‒180; Miriam Lang: »San Mao and Qiong Yao: A ›Popular‹ Pair«, in: Modern Chinese Literature and Culture 15, 2 (Fall 2003), S. 76‒120. [WH]

Shen Congwen 沈从文 (eig. Shen Yuehuan, Pseudonyme: Xiaobing, Xiu Yunyun, Shangguan Bi etc., 1902 – 1988), geb. in Fenghuang (Provinz Hunan) Shen Congwen ist im Kreis Fenghuang, Provinz Hunan, zur Welt gekommen. In einer Familie groß zu werden, die väterlicherseits bereits über mehrere Generationen Offiziere hervorgebracht hatte und deren Nachwuchs auch mütterlicherseits stets gut im Lesen und Schreiben ausgebildet und zugleich in Kräuterkunde und neuen Technologien wie Photographie und Postwesen bewandert war, bedeutete damals einen beträchtlichen Vorsprung für die spätere Lebensgestaltung. Shen Congwen erbte von seinem Vater Charakterzüge wie Mut, Entschlossenheit und Loyalität und von seiner Mutter die künstlerischen Ambitionen, aber auch die Liebe zur Natur und zu den Sitten und Gebräuchen der Region. Durch den Krieg verlor die Familie ihren Reichtum und verarmte innerhalb kurzer Zeit so dramatisch, daß Shen Congwen bereits mit 14 in der Armee dienen mußte, um sich selbst zu ernähren. Bis dahin hatte er aber bereits eine Schulbildung und eine gute häusliche Erziehung durch seine Mutter erhalten, so daß er gut gerüstet war für seine spätere schriftstellerische Tätigkeit. Geistig von der Bewegung des 4. Mai (1919) beeinflußt, ging er 1923 nach Peking und veröffentlichte ab 1924 Artikel in verschiedenen Literaturzeitschriften. Ab 1926 arbeitete er als Bibliothekar in der Bezirksbibliothek von Xiangshan bei Peking. Später lernte er Hu Yepin und (→) Ding Ling kennen, mit denen er 1928 die Literaturzeitschrift Rot und schwarz (Hong yu hei) herausgab. Zeitgleich war er Redakteur einer Beilage der Zeitschrift Jingbao, deren Titel nicht den Namen der Hauptstadt meinte, sondern eine literarische Gruppierung, der Shen Congwen angehörte. Ab 1929 arbeitete er an verschiedenen Universitäten als Dozent. 1933 kehrte er nach Peking zurück und war als Redakteur für das Feuilleton der Dagong bao tätig. Wenig später veröffentlichte er die Novelle Grenzstadt (Biancheng) und den Essayband Notizen von der Reise durch Hunan (Xiangxi xingji), beide zählen zu seinen wichtigsten Werken. Shen Congwen hatte bis zum Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts bereits zahlreiche Novellen, Kurzgeschichten, literarische Essays und Buchrezensionen geschrieben. In seinem literarischen Schaffen hat er eine besondere Darstellungsart entwickelt, die das Leben der Menschen im Westen Hunans mit Poesie,

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Shen Congwen 沈从文

Lokalkolorit, feinem Humor und Liebe beschreibt. Die Landschaft spielt dabei eine wichtige Rolle. Sie ist eng mit den Charakterzügen der Protagonisten verbunden. Nach 1949 ist sein literarisches Werk spärlich. Er war im Museumswesen tätig und leistete überwiegend Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Archäologie. Dieses Unternehmen nannte er selbst ein »historisches Versehen«. Dennoch war er voller Engagement und Leidenschaft bei der Sache. Insbesondere war er bei der Erforschung antiker Textilien und ihrer Muster sehr erfolgreich. Aufgrund der Kulturrevolution (1966 – 1976) und damit verbundener politischer Verfolgung mußte er dieses umfangreiche Forschungsprojekt, das er im Auftrag des damaligen Premierministers Zhou Enlai begonnen hatte, für lange Zeit unterbrechen. Erst 1981 konnte seine Forschungsarbeit in Hongkong publiziert werden. WERKAUSGABEN: Shen Congwen wenji, 12 Bde., Hongkong, Joint Publishing, 1984; Shen Congwen quanji, 32 Bde., Taiyuan: Beiyue, 2002. ÜBERSETZUNGEN: Recollections of West Hunan, übers. von Gladys Yang, Peking: Panda, 1982; Die Grenzstadt, übers. von Helmut Forster-Latsch u. Marie-Luise Latsch, Köln: Cathay, 1985; Die Grenzstadt, übers. von Ursula Richter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985; Erzählungen aus China, übers. von Ursula Richter, Frankfurt: Insel, 1985; Türme über der Stadt. Eine Autobiographie aus den ersten Jahren der chinesischen Republik, übers. von Christopher Eiden, Horlemann: Unkel, 1994. SEKUNDÄRLITERATUR: Anthony J. Prince: The Life and Works of Shen Ts’ung-wen, Diss., University of Sydney, 1968; William L. MacDonald: Characters and Themes in Shen Ts’ung Wen’s Fiction, Diss., University of Washington, 1970; C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 189‒211, 359‒ 366; Hua-ling Nieh: Shen Ts’ung-wen, Boston: Twayne, 1972; Jeffrey Kinkley: The Odyssey of Shen Congwen, Stanford: Stanford University Press, 1987; Anke Heinemann: »Die Liebe des Schamanen« von Shen Congwen. Eine Erzählung des Jahres 1929 zwischen Ethnographie und Literatur, Bochum: Brockmeyer, 1992; Isabelle Rabut: La Creation Litteraire chez Shen Congwen, du Proces de l’Histoire a l’Apologie de la Fiction, Diss., Paris, 1992; David Wang: Fictional Realism in Twentieth-Century China: Mao Dun, Lao She, Shen Congwen, New York: Columbia University Press, 1992; Jeffrey Kinkley: »Shen Congwen’s Legacy in Chinese Literature of the 1980s«, in: From May Fourth to June Fourth. Fiction and Film in Twentiety-Century China, hg. von Ellen Widmer u. David Wang, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1993, S. 71‒ 106; Hsiao-yen Peng: Antithesis Overcome: Shen Congwen’s Avant-Gardism and Primitivism, Taipeh: Institute of Chinese Literature and Philosophy, Academica Sinica, 1994; Man Wa Lo: »Female Selfhood and Initiation in Shen Congwen’s The Border Town and Ding Ling’s The Girl Ah Mao«, in: Chinese/International Comparative Literature Bulletin, 1/1996, S. 20‒33; Stefania Stafutti: »Wonderful China? ‒ On Shen Congwen’s ›Travelogue of Alice in China‹«, in: Autumn Floods. Essays in Honour of Marián Gálik, hg. von Raoul David Findeisen u. Robert H. Gassmann, Bern: Peter Lang, 1997, S. 615–627; Frank Stahl: Die Erzählungen des Shen Congwen. Analysen und Interpretationen, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 1997; Gang Yue: »Shen Congwen’s ›Modest Proposal‹«, in: ders.: The Mouth that Begs: Hunger, Cannibalism, and the Politics of

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Shen Defu 沈德符 Eating in Modern China, Durham: Duke University Press, 1999, S. 101‒144; Janet Ng: »A Moral Landscape: Reading Shen Congwen’s Autobiography and Travelogues«, in: CLEAR 23/2002, S. 81‒102; Bonnie S. McDougall: »Disappearing Women and Disappearing Men in May Fourth Narrative: A Post-Feminist Survey of Short Stories by Mao Dun, Bing Xin, Ling Shuhua and Shen Congwen«, in: dies.: Fictional Authors, Imaginary Audiences. Modern Chinese Literature in the Twentieth Century, Hongkong: Chinese University Press, 2003, S. 133‒170; Haiyan Lee: »The Other Chinese: Romancing the Folk in May Fourth Native Soil Fiction«, in: Concentric: Literary and Cultural Studies (special issue: »Ethics and Ethnicity«) 33, 2 (Sept. 2007), S. 9‒34. [WH]

Shen Defu 沈德符 (zi: Jingqian, Huchen, Jingbo, 1578 ‒ 1642), geb. in Jiaxing (Provinz Zhejiang) Shen war ein Literat und Gelehrter der ausgehenden Ming-Dynastie (1368 – 1644), der sich in seinen musikalischen Studien vor allem Fragen der »temperierten Stimmung« widmete und daneben als Verfasser von Notizen und Anekdoten in Erscheinung trat. Mit seiner Privaten Nachlese zur Wanli-Zeit (Wanli yehuobian) legte er ein umfassendes Werk von enzyklopädischer Qualität vor, das Material aus der Zeit vor, während und nach der Wanli-Periode (1573 ‒ 1620) beinhaltet. Zu den 938 Einträgen (davon 786 noch von Shen selbst verfaßt) gehören zum Beispiel Erörterungen zu Politik und Sprache, Darstellungen von zeitgenössischen Bräuchen und Sitten, Anekdoten über Literaten usw. Breit angelegt, beeindruckt die Arbeit vor allem aufgrund ihrer Authentizität und persönlichen Sicht auf die Dinge. Die spätere Einteilung in Sachgruppen unterstreicht noch einmal die inhaltliche Breite der Nachlese. Im Abschnitt zur ci-Lieddichtung finden sich in dreiundzwanzig Einträgen aufschlußreiche Angaben zur Geschichte und Entwicklung der Erzählkunst, so etwa zu frühen Vertretern der Romane über »Talente und Schönheiten« (caizi jiaren) wie Yu Jiao Li und Jin Ping Mei. Auf die Entstehungszeit dieser Werke, ihre Verbreitung usw. lassen sich hieraus wichtige Rückschlüsse ziehen. Was Shens Darstellungen von anderen abhebt, die ebenfalls im Notizenstil der biji abgefaßt sind, ist ihre lebendige Lockerheit. Auffällig ist hierbei die Vermischung von privaten Anekdoten mit nützlich-informativen Hinweisen auf historische Begebenheiten. WERKAUSGABEN: Wanli yehuobian, Peking: Wenhua Yishu, 1998.

[TZ]

Shen Deqian 沈德潜 (zi: Queshi, hao: Guiyu, 1673 ‒ 1769), geb. in Changzhou (Provinz Suzhou) Shens Fortkommen auf der Leiter zum beruflichen Erfolg verlief sehr mühsam. Erst nach Dutzenden von Versuchen bestand er im Alter von 67 Jahren die Prüfungen zum Dokor (jinshi), nicht zu spät, um noch in den inneren Gelehrtenkreis

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Shen Fu 沈复

um den Qianlong-Kaiser aufgenommen zu werden und gleichzeitig mit Ämtern im Innen- und Ritenministerium versehen zu werden. Schon lange, bevor er endlich in Amt und Würden gelangt war, hatte sich Shen einen Ruf als Dichter und Literaturkritiker erworben. Beeinflußt worden war er dabei von (→) Ye Xie (1627 ‒ 1703), der ihn mit den großen Dichtern der Vergangenheit bekannt machte, und (→) Wang Shizhen (1634 – 1711), der Shen seine Poetik des »spirituellen Nachklangs« (shenyun) vermittelte, die sich mit dem intuitiven Ausdruck der äußeren Wirklichkeit befaßt. Während Shen Deqians eigene dichterische Arbeiten in der Nachwelt aufgrund ihrer mangelnden Kraft und Tiefe wenig Nachhall fanden, hinterließ er als Herausgeber und Literaturkritiker wichtige Spuren. In seiner Theorie der poetischen Form und Metrik geht es um das Streben nach moralischer Bildung, die Orientierung der Metrik an den bedeutenden Dichtungen der Vergangenheit und den Eindruck der Unangestrengtheit, den das Ergebnis der dichterischen Arbeit hinterlassen soll. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs und seines hohen eigenen Anspruchs entfaltete Shen eine wichtige Herausgebertätigkeit und veröffentlichte nach Zeitaltern geordnete Lyrikanthologien wie z.B. Quelle antiker Gedichte (Gushi yuan) und Tang-Dichtung in neuer Ordnung (Tang shi bie cai), in denen er auch Lesehinweise und Beurteilungen abgibt. Shens Prosaschriften sind in der Sammlung des Shen Guiyu (Shen Guiyu wenji) zu finden. WERKAUSGABEN: Gushi yuan, hg. u. mit Anm. von Sun Tonghai, Shenyang: Liaoning Jiaoyu, 1997; Tang shi bie cai ji, hg. u. mit Anm. von Liu Fuyuan et al., Shijiazhuang: Hebei Renmin, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Hu Youfeng: Shen Deqian shilun tanyan, Taipeh: Xuehai, 1986. [TZ]

Shen Fu 沈复 (zi: Sanbai, hao: Meiyi, 1763 ‒ nach 1822), geb. in Changzhou (Provinz Jiangsu) In die Literaturgeschichte ist Shen Fu mit seinem einzigartigen autobiographischen Lebensbericht Sechs Aufzeichnungen über ein unstetes Leben (Fusheng liuji) eingegangen, von dem immerhin vier Abschnitte erhalten sind. Nicht nur der Bericht in der ersten Person stellt ein Novum in der chinesischen Literatur dar, auch die thematische Anordnung der Kapitel und der wechselnde Tonfall der einzelnen Abschnitte weisen Shen als bedeutenden Schriftsteller aus. In den ersten beiden Kapiteln berichtet er in kurzen, heiteren Szenen über seine Ehe mit Chen Yun (1763 ‒ 1803). Dabei entsteht das Bild eines unkonventionellen Paares, das sich gegen die Ansprüche der Gesellschaft zur Wehr setzte und ein hohes Maß an Privatheit zu bewahren suchte. Die daraus resultierenden Konflikte führten zu mehreren Umzügen der Familie und diversen beruflichen Versetzungen Shen Fus.

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Shen Jiji 沈既济

Das dritte Kapitel mit dem Bericht über den Tod der Gattin ist ein kunstvoll inszenierter Schock für den Leser. Das vierte Kapitel handelt von den Reisen durch China, die Shen in der Folge unternahm. Von den verlorenen Kapiteln sind nur die Titel erhalten, inhaltlich dürften sie sich zunächst mit einer Reise zu den Ryukyu-Inseln befaßt haben, die Shen 1808 antrat, als ein Freund ihm die Aufnahme in die diplomatische Delegation ermöglichte, die an den Krönungsfeierlichkeiten auf den japanischen Ryukyu-Inseln teilnahm. Den Abschluß des Buches bilden philosophische Betrachtungen. Seine letzten Jahre verbrachte Shen Fu vermutlich in ärmlichen Verhältnissen, worüber ein Gedicht berichtet, das sein Freund Gu Han für ihn zum 60. Geburtstag verfaßte. WERKAUSGABEN: Fu sheng liu ji, Nanchang: Jiangsu Renmin, 1980. ÜBERSETZUNGEN: Six Chapters of a Floating Life, übers. von Lin Yutang, Taipeh: Xun Lu Shuju, 1970; Sechs Aufzeichnungen über ein unstetes Leben. Mit 18 Reproduktionen nach Tuschmalereien auf Seide von Teng Shaoquan und Zhang Zhaoji, übers. von Rainer Schwarz, Leipzig: Reclam, 1989. SEKUNDÄRLITERATUR: Milena Doleželová-Velingerová u. Lubomir Dolezel: »An Early Chinese Confessional Prose: Shen Fu’s Six Chapters of a Floating Life«, in Tʼoung Pao 58 (1972), S. 137‒160. [TZ]

Shen Gua (→) Shen Kuo Shen Jiji 沈既济 (ca. 750 – ca. 800), geb. nahe Suzhou (Provinz Jiangsu) Shen Jiji – ein Nachfahre des Historikers und Dichters (→) Shen Yue (441 – 513) – machte sich ebenfalls als Historiker, doch vor allem als erster bedeutender Autor der Tang-zeitlichen (618 – 907) Novelle (chuanqi) einen Namen. Die Familie stammte ursprünglich aus dem Kreis Wuxing (heute Kreis Deqing, Provinz Zhejiang), Shen Jiji wurde jedoch nahe der Stadt Suzhou (Provinz Jiangsu) geboren. Über seine Biographie sind nur wenige Details bekannt. Man weiß, daß 769 sein Sohn Shen Chuanshi geboren wurde und daß er um das Jahr 775 in Zhongling (heute Nanchang, Provinz Jiangxi) lebte. 778 trat er in der Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan) sein erstes Amt bei Hofe an. Nach der Regierungsübernahme Kaiser Dezongs im Jahre 780 wurde er durch den neuen Kanzler Yang Yan (727 – 781) in das kaiserliche Historiographenamt berufen, da er sich zu dieser Zeit bereits einen Namen als Historiker gemacht hatte. Allerdings konnte er diese verantwortungsvolle Tätigkeit – in der Hauptsache war er mit alltäglichen Dokumenten des Kaisers befaßt – nur zwei Jahre ausüben, denn 781 wurde sein Mentor Yang Yan

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Shen Jing 沈璟

demontiert und in der Folge gar hingerichtet. Shen wurde daraufhin nach Chuzhou (Provinz Zhejiang) strafversetzt, wo er in der Armee dienen mußte. Vier Jahre später wurde er im Rahmen einer Generalamnestie begnadigt und nach Changʼan zurückbeordert. Dort hatte er zuletzt im Ritenministerium das höhere Amt eines Sekretärs (yuanwailang) inne. Als früher Novellist hat Shen Jiji zwei wegweisende Erzählungen hinterlassen: »Die Geschichte des Fräulein Ren« (oder: »Die Fuchsfee« [»Renshi zhuan«]) und »Aufzeichnungen aus dem Inneren einer Kopfstütze« (»Zhenzhong ji«). Letztere schildern – in Abwandlung eines wesentlich älteren daoistischen (später Chanbuddhistisch angereicherten) Motivs – ein nur geträumtes Leben, das den Erwachenden an den Grenzen zwischen Realität und Illusion (ver)zweifeln läßt. Anknüpfend an die »Berichte von Übernatürlichem« (zhiguai xiaoshuo) des frühen 4. Jahrhunderts (vgl. [→] Gan Bao, [→] Ge Hong), gelang es Shen, den spannenden Erzählstrang umfang- und detailreicher zu entfalten und feinere Charaktere herauszuarbeiten. Außer diesen beiden fiktionalen Meisterwerken Shen Jijis sind nur noch sieben amtliche Dokumente aus seiner Hand überliefert. WERKAUSGABEN: Taiping Guangji, hg. von Li Fang et al., 10 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1961, Kap. 82, 452. ÜBERSETZUNGEN: Die goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden, hg. u. übers. von Wolfgang Bauer u. Herbert Franke, München: Hanser, 1959, S. 65‒76; Traditional Chinese Stories. Themes and Variations, übers. von Yau-Woon Ma u. Joseph S.M. Lau, New York: Columbia University Press, 1978, S. 339‒345, 435‒438; Der Fremde mit dem Lockenbart. Erzählungen aus dem China der Tang-Zeit, hg. von Thomas Thilo, Berlin: Rütten & Loening, 1989, S. 304‒312. SEKUNDÄRLITERATUR: David Knechtges: »Dream Adventure Stories in Europe and Tʼang China«, in: Tamkang Review 4, 2 (1973), S. 101‒119. [HP]

Shen Jing 沈璟 (zi: Boying, Danhe, hao: Nang’an, 1553 ‒ 1610), geb. in Wujiang (heute Provinz Jiangsu) Der Dramatiker entstammt einem alten, reichen Clan, der viel Wert auf die Bildung (auch der Frauen) legte. Nach dem Doktorat (jinshi) im Jahre 1574 diente er in Peking als Hofbeamter und hatte unterschiedliche Ämter inne. Nachdem er 1588 zum Prüfer in den Staatsexamina bestellt worden war, wurde er 1589 in einen Prüfungsskandal verwickelt. Trotz seiner sich erweisenden Unschuld zog er daraufhin den Rückzug auf sein Gut vor, wo er sich als »Einsiedler« den Rest seines Lebens dem Theater widmete. Er schrieb nicht nur Dramen, sondern beschäftigte daheim auch Sänger und Schauspieler. Von Shen Jing sind 17 Stücke namentlich bekannt, aber nur sieben sind auch überliefert. Er stand der Form der Romanze (chuanqi) nahe, gab aber immer wieder

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Shen Kuo 沈括

auch den Einfluß des Mongolendramas (zaju) zu erkennen. Seine Bedeutung liegt weniger in seinen Bühnenwerken, die gern bekannte Stoffe noch einmal dramatisierten, als vielmehr in seiner theoretischen und praktischen Betonung der Form. Als der wichtigste Vertreter der Schule von Wujiang vertrat er die Auffassung, das Theater habe in erster Linie singbar, rezitierbar zu sein, die Bedeutung von Wort und Lied sei zweitrangig. Damit vertrat er die Auffassung vom Drama als einer Sache der Bühne, des Zuschauers und nicht als eine Sache der Lektüre, des Lesers. Seine Anforderungen an das Theater lassen sich in zwei Stichworten zusammenfassen: Ein Stück hat in der melodischen Abfolge (yinlü) formal perfekt zu sein, und es hat »natürlich« (bense) zu wirken. Hierüber ist es mit (→) Tang Xianzu (1550 ‒ 1617) zu einem Streit gekommen, als Shen auch dessen Werke um der besseren Sangbarkeit willen formal umgestaltete. Shen Jing schrieb auch Gedichte (shi), nachklassische Lieder (sanqu) und literaturtheoretische Schriften. Diese sind jedoch oftmals nur verstreut erhalten. Wenn auch in der Nachfolge von Jiang Xiao, so gilt sein Neuer Leitfaden für die Lieder des Südens (Nanci xinpu) heute als Standardwerk. WERKAUSGABEN: Shen Jing ji, hg. von Xu Shuofang, Shanghai: Shanghai Guji, 1991; Ming-Qing chuanqi jianshang cidian, hg. von Jiang Xingyu et al., Bd. 1, Shanghai: Shanghai Guji, 2004, S. 343‒369 [kommentierte Auszüge aus verschiedenen Stücken]. SEKUNDÄRLITERATUR: Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 369‒378. [WK]

Shen Kuo 沈括 (auch: Shen Gua, zi: Cunzhong, 1031 ‒ 1095), geb. in Qiantang (heute Hangzhou, Provinz Zhejiang) Beispielhafter Vertreter des in der Nördlichen Song-Zeit (960 – 1127) aufkommenden »auf das Experiment, auf die Erprobung von Erfindungen, Ideen und Theorien gegründeten praktischen Rationalismus« (J. Gernet), Universalgenie, 1063 Doktor (jinshi). Als Provinzbeamter sorgte er durch Damm- und Deichbau sowie durch Flußvertiefungen (nach genauen Vermessungen) für den Zugewinn von Ackerland. Als Militärbeauftragter in den nördlichen Grenzgebieten plante und leitete er, nach Erforschung der geographischen Gegebenheiten, den Bau von Verteidigungsanlagen und konstruierte selbst Streitwagen (1074). Als Botschafter handelte er mit den Khitan (Liao) einen Friedensvertrag aus. Als Direktor des Kaiserlichen Observatoriums konstruierte er Armillarsphären, Sonnen- und Wasseruhren. Er erstellte eine »Karte aller Kreise und Bezirke Chinas« (»Tianxia zhou xian tu«). Zu all seinen Tätigkeiten verfaßte er Eingaben an den Thron in Form theoretischer Erörterungen (lun). 1082 durchkreuzte ein Rivale seine Taktik zur Zurück-

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Shen Yue 沈约

drängung der Xixia in Shaanxi, so daß die entscheidende Schlacht verloren wurde. Shen Kuo wurde verbannt und zog sich 1088 auf sein Anwesen in Mengqi (wörtlich: »Traumbach«, Provinz Jiangsu) zurück. Hier verfaßte er seine »In Mengqi gemachten Aufzeichnungen« (Mengqi bitan, heutige Lesung: Mengxi bitan). Die ganze Breite seiner Erfahrungen, Erfindungen und Untersuchungen – privat beschäftigte er sich auch mit Musik, Malerei, Medizin usw. – ist in diesen Aufzeichnungen enthalten, die eine besondere Art der »Pinselaufzeichnungen« (biji) darstellen, da sie auch fundierte wissenschaftliche Abhandlungen einschließen, die gleichwohl sprachlich lebendig und anschaulich gehalten sind. 1095 zum ersten Mal erwähnt, stammt die wohl früheste Edition aus dem Jahre 1166. Eine moderne Standardausgabe des Herausgebers Hu Daojing gliedert die Schriften in 26 Kapitel, denen noch spätere Notizen von Shen Kuo hinzugefügt sind. Insgesamt umfaßt das Werk 609 Einträge. WERKAUSGABEN: Xin jiaozheng Mengqi bitan, komm. von Hu Daojing, Peking: Zhonghua Shuju, 1957. ÜBERSETZUNGEN: »Kriminalistische Episoden aus den Plaudereien am Traumbach«, übers. von Notker Böhme, in: Hefte für ostasiatische Literatur 19 (November 1995), S. 91‒96; Pinselunterhaltungen am Traumbach. Das gesamte Wissen des Alten China, hg. u. übers. von Konrad Herrmann, München: Diederichs, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Donald Holzmann: »Shen Kua and his Meng-ch’i pi t’an«, in: Toung-pao 46 (1958), S. 260‒292; Gabriele Gauler: Das Meng-Ch’i Pi-T’an des Shen Kua. Die Memoiren eines Staatsmannes und Universalgelehrten der Nördlichen SungZeit (960 ‒ 1126), Diss., Universität Würzburg, 1988; Paul Christopher Forage: Science, Technology, and War in Song China. Reflections in the »Brush Talks from the Dream Creek« by Shen Kuo (1031 – 1095), Diss., University of Toronto, 1991. [BD]

Shen Yue 沈约 (zi: Xiuwen, posthumer Ehrentitel: Yinhou [»Verborgener Graf«], 441 – 513), geb. in Wukang im Kreis Wuxing (heute Kreis Deqing, Provinz Zhejiang) Der Dichter und Historiker Shen Yue erlebte drei der sechs Südlichen Dynastien, die Frühe Song- (Liu-Song), die Südliche Qi- und den Beginn der Liang-Dynastie. Gegen Ende der Frühen Song-Dynastie (420 – 479) war er stellvertretender Finanzminister, während der nachfolgenden Qi-Dynastie (479 – 502) bekleidete er nicht minder wichtige Ämter und war dennoch später an ihrem Untergang beteiligt. In dieser Zeit (487) fiel ihm auch die Aufgabe zu, die offizielle Chronik der Frühen Song-Dynastie (Songshu) zu verfassen. Die darin enthaltene Abhandlung über Musik (»Yuezhi«) ist besonders für das Verständnis der yuefu-Dichtung (Musikamtslieder) von großer Bedeutung. Der Nachwelt berühmt wurde Shen Yue aber durch die erstmalige Darlegung von Regeln für die tonale Versgestaltung, denn

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Shi Chengjin 石成金

mit ihm beginnt der Siegeszug des sogenannten »Regelgedichts« (lüshi), das in der Tang-Zeit (618 – 907) zur beherrschenden Gedichtform avancieren sollte. Diese Regeln für den – sowohl klanglich als auch inhaltlich – bewußt einsetzbaren Wechsel der Sprachtöne hatte Shen Yue ursprünglich in seinem leider nicht mehr erhaltenen Werk Register der vier Töne (Sishengpu) aufgezeichnet. Seine Poesietheorie ist aber in Ansätzen im Songshu überliefert, nämlich in einem kurzen Nachwort zu seiner Biographie des Dichters (→) Xie Lingyun. Als Poet brillierte Shen Yue im Genre der Palastlyrik (gongtishi) und prägte – gemeinsam mit (→) Xie Tiao – den Stil der Qi-zeitlichen Regierungsperiode Yongming (483 – 493), die zu einem Synonym (Yongmingti) für eben dieses Genre wurde, dessen Haupthema – neben der Beschreibung höfischer Pracht – die Freuden der Liebe waren. Das umfangreiche erhaltene Werk umfaßt nahezu 200 Gedichte, elf Poetische Beschreibungen (fu) sowie ca. 170 Prosatexte, viele davon Abhandlungen über religiöse, zumeist buddhistische Themen. WERKAUSGABEN: Shen Yinhou ji, in: Han Wei Liuchao baisan mingjia ji, hg. von Zhang Pu, Taipeh: Wenjin, 1979, S. 2877‒3004. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 304f. et passim; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 158; »A Postscript to the Life of Xie Lingyun in the Songshu«, übers. von Siu-kit Wong, in: ders. (Hg.): Early Chinese Literary Criticism, Hongkong: Joint Publishing Company, 1983, S. 75‒87. SEKUNDÄRLITERATUR: Richard Bodman: Poetics and Prosody in Early Medieval China. A Study and Translation of Kukais Bunkyo hifuron, Diss., Cornell University, 1978, S. 116‒150; Richard B. Mather: »Shen Yüeh’s Poems of Reclusion. From Total Withdrawal to Living in the Suburbs«, in: CLEAR 5 (1983), S. 53–66; ders.: The Poet Shen Yüeh (441 ‒ 513). The Reticent Marquis, Princeton: Princeton University Press, 1988; ders.: The Age of Eternal Brilliance. Three Lyric Poets of the Yung-ming Era (483 ‒ 493), Leiden: Brill, 2003; Helga Sönnichsen: Beobachtungen zur Prosodie in der shiDichtung Shen Yues (441 ‒ 513), Hamburg: Ostasien Verlag, 2004. [HP]

Shi Chengjin 石成金 (zi: Tianji, hao: Xuehai, Xingzhai, 1659 ‒ nach 1739), geb. in Yangzhou (Provinz Jiangsu) Shi Chengjin war zwar kein herausragender, aber nach eigenem Bekunden ein sehr produktiver Literat, der mit seiner Begeisterung für die umgangssprachliche Literatur vor allem der Entwicklung der Prosa und Erzählkunst wichtige Impulse gab. Die literarischen Schriften Shis sind an der Grenze zwischen der Erzählung und der Prosagattung der »Pinselnotizen« (biji) einzuordnen. In seiner Beamtenzeit u.a. als Präfekt tätig, verwandte Shi viel Energie auf die Abfassung seiner Werke, die Titel wie Himmelsfreuden (Tiantongle) oder Duftende Himmelsblumen

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Shi Junbao 石君宝

(Yuhua xiang) tragen und später in der von Shi herausgegebenen Sammlung Familienerbe (Chuanjiabao) erschienen. Wie aus den überlieferten Anmerkungen Shi Chengjins hervorgeht, war es sein Anliegen, die die Welt und das Schicksal der Menschen bestimmenden Prinzipien mit Hilfe der Umgangssprache zu erläutern und für die Bildung und Befreiung der Menschheit von Dummheit und Verblendung zu sorgen – Anliegen, die auch im 20. Jahrhundert auf der Agenda der Schrift- und Sprachreformer in China standen. WERKAUSGABEN: Chuanjiabao, Tientsin: Tientsin Shehui Kexue, 1992. ÜBERSETZUNGEN: »Preface to a Good Laugh«, übers. von Eva Hung, in: Renditions 33 & 34 (Spring & Autumn 1990), S. 190f. [TZ]

Shi Junbao 石君宝 (auch: Shizhan Deyu, Shi Deyu, zi: Junbao, hao: Gongyan laoren, 1190 ‒ 1276), aus Pingyang (heute Linfen, Provinz Shanxi) Der Dramatiker Shi Junbao ist Dschurdsche (Ruzhen), daher wird sein Familienname auch mit Shizhan angeführt. Seine Familie stammte ursprünglich aus Gaizhou in Liaodong (heute Gaiping in Liaoning). In seiner Jugend war er beim Militär und brachte es bis zum General. Er ist auch als Bambusmaler hervorgetreten. Von seinen Dramen (zaju) sind bis heute zehn bekannt geworden, davon haben sich drei in der Überlieferung erhalten, nämlich Qiu Hu treibt einen Scherz mit seiner Frau (Qiu Hu xi qi), Zum Pavillon der azurnen Wolken (Ziyunting) und Der Teich am gewundenen Fluß (Qujiang chi). Der Autor verarbeitet in seinen Stücken bekannte Werke der chinesischen Tradition. So sind ihm die Biographien mustergültiger Frauen (Lienüzhuan) Anlaß für eine Adaption in seinem bekanntesten Stück von Qiu Hu und seiner Frau. Allerdings läßt er die Begebenheit nicht dramatisch ausgehen, sondern versöhnlich enden. Dadurch verschenkt er all das, was im dritten Akt an innerer Spannung angelegt ist. Der Bakkalaureus (xiucai) Qiu Hu wird wenige Tage nach seiner Hochzeit mit Luo Meiying zum Militär eingezogen. Erst zehn Jahre später kann er heimkehren. In der Zwischenzeit (zweiter Akt) soll sie an einen reichen Mann verheiratet werden, bei dem die Familie Schulden hat. Luo Meiying kann sich dem aber erfolgreich widersetzen. Ihre eigentliche Herausforderung stellt jedoch ihr eigener Mann nach seiner Rückkehr dar (dritter Akt). Die chinesische Literaturkritik kann es nicht goutieren, daß Mann und Frau bei ihrer Wiederbegegnung auf dem Feld einander zunächst nicht wiedererkennen sollen. Das Sujet ist jedoch raffinierter angelegt, als es die gemeine Deutung will. Qiu Hu sieht auf seinem Weg nach daheim nicht seine, sondern eine vermeintlich fremde Frau auf dem Felde arbeiten und entbrennt in Verlangen nach ihr.

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Shi Naiʼan 施耐庵

Und Luo Meiying, die sich zehn Jahre lang nach ihrem Mann gesehnt hat, erkennt in dem Lüstling nicht ihren Gatten, sondern einen Sittenstrolch, dem sie sich gekonnt zur Wehr setzt. Erst in der Gegenwart der Eltern bemerken beide, wieder zu Hause, ihren Irrtum. Sie verlangt die Scheidung, daraufhin droht die Schwiegermutter mit Freitod. Nun sieht sich die Schwiegertochter zum Einlenken gezwungen. Dies ist ein mechanischer Schluß, welcher der traurig endenden Vorlage nicht gerecht wird und das Problem des gegenseitigen Erkennens bzw. Nichterkennens nicht auslotet. Qiu Hu verlangt ja nicht nach der vermeintlich Fremden, und sie, die nach ihrem Mann verlangt, erkennt in dem Liebesverlangen nicht die Rechtmäßigkeit des Tuns. Dies ist nicht einfach ein zeitliches Problem. Es mag durchaus sein, daß man nach zehn Jahren einander nicht sofort wiedererkennt, aber mehr noch: Luo Meiying ist in den zehn Jahren in eine neue Rolle geschlüpft, die sie zu verteidigen weiß, nämlich in die Rolle einer keuschen Frau, und auch ihr Mann ist vom Ehemann zum Militär und dann zum vielversprechenden Beamten geworden. So gesehen stehen sich zwei Fremde gegenüber, die in der Vergangenheit gerade einmal drei Tage Eheleben hatten teilen dürfen. Der Verfasser, der die Tiefe seiner Vorlage nicht erkannt hat, läßt gar gegen Schluß noch den Gläubiger mit seinen Bütteln auftreten, um Luo Meiying zur Ehe zu zwingen, doch dies weiß unser Mandarin aufgrund seiner Position abzuweisen. Ein Happyend wie dieses gibt einmal mehr zu erkennen, woran es dem traditionellen chinesischen Theater oftmals fehlt, nämlich an einer geistigen Durchdringung eines an sich guten Stoffes. WERKAUSGABEN: Yuanqu xuan, hg. von Zang Maoxun, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1998, S. 342‒344. ÜBERSETZUNGEN: Eight Chinese Plays. From the 13th Century to the Present, übers. von William Dolby, London: Elek, 1978, S. 53‒85. SEKUNDÄRLITERATUR: Wilt L. Idema: »Shih Chün-pao’s and Chu Yu-tun’s Ch’ü-chiangch’ih. The Variety of Mode within Form«, in: T’oung Pao 66 (1980), S. 217‒265. [WK]

Shi Naiʼan 施耐庵 (ca. 1296 ‒ ca. 1370), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Die Lebensdaten und -umstände Shi Naiʼans sowie Angaben über sein Werk sind nur überaus vage bekannt. Vieles wurde Shi offenbar erst in späterer Zeit zugeschrieben. So ist man bereits in der umstrittenen Frage des Geburtsorts Qiantang bzw. Wulin im heutigen Hangzhou auf die Schriften späterer Gelehrter wie Lang Ying oder (→) Hu Yinglin angewiesen. Gemeinhin wird Shis Name in einem Atemzug mit (→) Luo Guanzhong genannt, wenn es um die Verfasserschaft der Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) geht. In älteren Literaturkatalogen wird dabei Shi Naiʼan als eigentlicher Verfasser genannt, wohingegen Luo die Rolle des Herausgebers zukommt. Da von Luo die groben Lebensdaten aufgrund biogra-

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Shi Runzhang 施闰章

phischer Hinweise bekannt sind, darf man annehmen, daß Shi etwa zur selben Zeit lebte. Shi Naiʼan ist bis in die Gegenwart hinein als Verfasser verschiedener meist volkstümlicher literarischer Werke und Dramen vereinnahmt worden. Zurückgehend auf eine angebliche Grabinschrift, deren Text in der ClanGenealogie der Shis von 1854 enthalten ist, kursiert seit den 1920er Jahren eine Überlieferung, wonach Shi Naiʼan 1296 geboren wurde, aus Huaiʼan stammte und den Beinamen »Zilan« führte, 1331 den Doktortitel (jinshi) erhielt und 1370 starb. Dazwischen soll er zwei Jahre lang Beamter in Hangzhou gewesen sein, sich aber mit dem dortigen Präfekten überworfen und zum Bücherschreiben zurückgezogen haben. Einer anderen Version zufolge soll sich Zhang Shicheng (1321 ‒ 1367), der Provinzgouverneur von Zhejiang, Shi Nai’an zum Ratgeber gewünscht haben, doch verzichtete Shi auf das Angebot und widmete sich statt dessen der Niederschrift jener berühmten Romane, zu denen u.a. Die Räuber vom Liangshan-Moor, Die Drei Reiche (Sanguo yanyi) und Die Niederschlagung der Dämonen (Pingyaozhuan) gehören. Darüber hinaus finden sich noch zahlreiche oft widersprüchliche Hinweise auf Shis Biographie, denen aber allen zu eigen ist, daß sie in ihm einen amtsmüden Gelehrten ausmachen, der sich in der Zurückgezogenheit der Abfassung der umfangreichen Erzählwerke widmete. Sicher ist das alles aber nicht, und so bleiben auch berechtigte Zweifel an der Authentizität des Shi zugeschriebenen Vorworts zu den Räubern vom Liangshan-Moor, das sich in der von Jin Shengtan auf 70 Kapitel gekürzten Fassung findet. Der Gelehrte Qu Mei (1884 ‒ 1939) brachte die Theorie auf, bei Shi Naiʼan handle es sich um niemand anderen als den Yuan-zeitlichen (1279 – 1368) Dramatiker Shi Hui. Diese These kursierte für geraume Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde aber später mangels konkreter Hinweise verworfen. Eine Reihe der genannten Legenden verfestigte sich, als Shi Naiʼan zu Beginn der 1950er Jahre in das Blickfeld chinesischer Literaturwissenschaftler geriet und in der Folge umfangreiche Feldstudien unternommen wurden. Daraus wurden Informationen von angeblich direkten Nachfahren Shis gewonnen, die dazu führten, daß seine Autorschaft an den Räubern nicht mehr angezweifelt wurde. SEKUNDÄRLITERATUR: Shi Naiʼan yanjiu, hg. von Jiangsu sheng shehui kexueyuan wenxue yanjiusuo, Nanjing: Jiangsu Guji, 1984; Huang Shucheng: Shi Naiʼan yu Shuihu, Shanghai: Shanghai Renmin, 2000. [TZ]

Shi Runzhang 施闰章 (zi: Shangbai, Qiyun, hao: Yushan, Juzhai, Huozhai, 1619 ‒ 1683), geb. in Xuancheng (Provinz Anhui) Von seinen Zeitgenossen wurde Shi Runzhang als einer der wichtigsten Dichter seiner Zeit bezeichnet, sein Name wurde meist zusammen mit dem von Song Wan (1614 ‒ 1673) genannt. Shis Leben verlief in den für viele Beamtenliteraten

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Shi Yukun 石玉昆

gewohnten Bahnen: Nach seinem 1649 abgelegten Doktorexamen (jinshi) hatte er fast zwanzig Jahre lang diverse Posten in der Hauptstadt und den Provinzen inne. Besonders engagiert war er bei der Unterstützung der lokalen Privatakademien tätig. Schon eine geraume Zeit im Ruhestand, wurde er nach der erfolgreichen Teilnahme an einer Sonderprüfung 1679 in die Hanlin-Akademie aufgenommen und wirkte an der Herausgabe der offiziellen Geschichte der Ming-Dynastie (1368 – 1644) mit. Dichterisch stand Shi Runzhang in der Tradition von Tang-Dichtern wie (→) Du Fu, (→) Wang Wei und (→) Meng Haoran, ohne diese jedoch zu imitieren. Besondere Meisterschaft wurde ihm in der Beherrschung des fünfsilbigen Verses nachgesagt, wobei er sich eines sparsamen und wenig blumigen Ausdrucks bediente und damit der inhaltlichen Aussage große Kraft verlieh, etwa wenn er über die von Banditen heimgesuchte Bevölkerung im südchinesischen Jiangxi schrieb. In der Prosa sind seine Reisebeschreibungen hervorzuheben. WERKAUSGABEN: Shi Yushan ji, Hefei: Huangshan Shushe, 1992. SEKUNDÄRLITERATUR: Ge Xinrong: »Shi Runzhang shixue sixiang chutan«, in: Anhui Shifan Daxue xuebao 2/2006, S. 210–213. [TZ]

Shi Yukun 石玉昆 (zi: Zhenzhi, ca. 1810 ‒ ca. 1871), geb. in Tientsin Shi Yukun ist der Nachwelt vor allem als Geschichtenerzähler, der in Peking auftrat, in Erinnerung. Seine genauen Lebensdaten sind unbekannt, doch dürfte seine intensivste Schaffensperiode zwischen 1821 und 1850 gelegen haben. Einige wenige biographische Hinweise, vor allem auf das Geburtsjahr, finden sich in einem Gedicht des Titels »Shi Yukun«, das der nach 1837 verstorbene mandschurische Adlige Fucha Guiqing in seinen späten Lebensjahren verfaßte. Darin heißt es u.a., Shi Yukun besitze in der Welt der Geschichtenerzähler Pekings seit fast zwanzig Jahren einen klangvollen Namen. Über Shis Auftritte weiß man recht gut aus einem überlieferten Hymnus an ihn Bescheid. Danach muß er es bestens verstanden haben, die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Mit einer eigenen Technik des Vortrags begründete er dabei eine Schule, die der Tradition der Trommelballaden (dagu) verpflichtet war. Von dem umfangreichen Erzählrepertoire, aus dem er vortrug, ist vor allem der Stoff um die Kriminalfälle des Richters Bao (Bao gongʼan) zu nennen. Die mündlich durch Shi rezitierte Version diente vermutlich einem zeitgenössischen Zuhörer als Material für die Aufzeichnungen über Gehörtes vom Herrn des Drachentafel-Pavillons (Longtu er lu). WERKAUSGABEN: Sanxia wuyi, Yukun bian [»in der Fassung von (Shi) Yukun«], Shanghai: Shanghai Guji, 1988. ÜBERSETZUNGEN: Shi Yukun u. Yu Yue: The Seven Heroes and Five Gallants, übers. von Song Shouquan, Peking: Chinese Literature Press, 1997.

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Shi Zhecun 施蛰存 SEKUNDÄRLITERATUR: Susan Blader: A Critical Study of »San-hsia wuyi« and Its Relationship to the »Lung-tʼu kung-an« Song book, Diss., University of Pennsylvania, 1977. [TZ]

Shi Zhecun 施蛰存 (eig: Shi Depu, Pseudonym: Shi Qingping etc., 1905 ‒ 2003), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Shi Zhecun, ein chinesischer »Modernist« der ersten Stunde, geboren 1905 in Hangzhou, kam 1923 in die Stadt, die sein Werk prägte: nach Shanghai. Schon 1922 hatte er in Hangzhou begonnen zu studieren und setzte diese Studien bis 1927 in Shanghai fort; er lernte Englisch und Französisch und machte sich mit der modernen westlichen Literatur vertraut. In die Studienjahre fallen auch seine ersten literarischen Fingerübungen: realistische Erzählungen mit lyrischen Einflüssen, angesiedelt zumeist in einem traditionellen ländlichen Umfeld. Dabei zeichnen sich mitunter schon tastende Versuche ab, den literarischen Realismus seiner Zeit zu überwinden. Der Durchbruch zu einem eigenen, spezifisch »modernen« Erzählen gelingt Shi aber erst 1928. Zugleich war Shi auch als Herausgeber literarischer Zeitschriften erfolgreich. Zwischen 1926 und 1932 versuchte er sich mit diversen anderen jungen Autoren, die später als Begründer des chinesischen Modernismus in die Literaturgeschichte eingehen sollten, wie (→) Dai Wangshu (1905 – 1950) und Du Heng (1907 – 1964), nicht nur an drei verschiedenen Buchläden, sondern auch an zwei Zeitschriften, die eine erste Blütezeit der modernistischen Bewegung markierten. 1932 wurde Shi dann Herausgeber der neuen Literaturzeitschrift Xiandai zazhi (Zeitschrift der Moderne). Die Zeitschrift entwickelte sich zur zentralen Bühne der modernistischen Bewegung und zugleich zum Forum hitziger Kontroversen zwischen den apolitischen Modernisten und der literarischen Linken. Ihr Untertitel – Les Contemporains – war Programm für Shi, der sich in seinen eigenen Werken als Zeitgenosse der von ihm bewunderten literarischen Moderne des Westens verstanden wissen wollte. Diese Zeitgenossenschaft lebte er auch als Übersetzer englischer und französischer Vorlagen, darunter eine ganze Reihe von Übersetzungen der Werke Arthur Schnitzlers. Allerdings waren nicht nur die Jahre der bedeutenden Zeitschrift der Moderne gezählt – bereits 1935 erschien die letzte Nummer –, auch Shis eigene, eigentliche literarische Schaffensphase währte nur wenige Jahre. Schon im Laufe der 30er Jahre kehrte er unter dem wachsenden Druck der Linken allmählich zu immer realistisch-konventionelleren Erzählweisen und -inhalten, auch mit sozialkritischem Einschlag, zurück. Seine letzte Erzählung schrieb er 1937 vor dem Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges im Juli desselben Jahres. Der Krieg bedeutete das Ende des Shanghaier Modernismus; der Kosmopolit war nicht mehr gesellschaftsfähig, Patriotismus schien das Gebot der Stunde.

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Shi Zhecun 施蛰存

Von nun an unterrichtete Shi als Dozent an verschiedenen Universitäten, von 1952 bis zu seiner Emeritierung 1986 als Dozent für Chinesische Literatur an der Ostchinesischen Pädagogischen Hochschule in Shanghai, und machte sich als Kenner der klassischen chinesischen Literatur und Epigraphik einen Namen. Shi Zhecun starb 2003 im Alter von 97 Jahren. Unter den zahllosen westlichen Autoren, die von Einfluß auf Shi waren, haben zwei seinem Werk in besonderer Weise ihren Stempel aufgedrückt: Sigmund Freud und, in wohl noch größerem Maße, Arthur Schnitzler. Die Intensität, mit der Schnitzler die Innenwelt seiner Figuren gestaltete, faszinierte Shi; an Schnitzler schulte er sich sowohl formal – vor allem im inneren Monolog – als auch inhaltlich in der erotischen Grundierung allen menschlichen Handelns, daneben auch in der Spannung von Eros und Thanatos. Ob man Shi – wie das oft geschehen ist – als »Psychoanalyse-Autor« etikettieren sollte, ist zwar fraglich, denn seine Werke lassen sich – ähnlich wie die von Schnitzler – nicht auf die ungebrochene literarische Umsetzung der Psychoanalyse reduzieren; dennoch ist Shi vielleicht der erste chinesische Schriftsteller, der die Freudsche Theorie ernsthaft rezipierte und bei der Darstellung sexueller Obsessionen bewußt auf sie zurückgriff. Die Anthologie Der Kopf des Generals (Jiangjun de tou, 1932) bildet in dieser Hinsicht den Höhepunkt in Shis Schaffen. In den darin versammelten vier historischen Erzählungen gestaltet Shi auf plastische Weise die Kraft und Auflehnung der Libido gegen das Über-Ich. In der Erzählung »Kumārajīva« (»Jiumoluoshen«) z.B. – Kumārajīva war ein berühmter buddhistischer Mönch – manifestiert sich das Über-Ich in Gestalt einer asketischen religiösen Sexualmoral, und der aus der westlichen Literatur vertraute Topos des Asketen, der den Lüstling als seinen Schatten unweigerlich mit sich führt, ja, ihn durch die Askese erst eigentlich gebiert, nimmt hier ein chinesisches Gewand an. Am meisten Anstoß erregt hat aber die Erzählung »Shi Xiu« (»Shi Xiu« [Eigenname]) mit ihrer Darstellung einer ins Extrem gesteigerten sadistischen Perversion. Shi greift hier auf eine Episode aus dem klassischen chinesischen Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) zurück: Der Protagonist Shi Xiu verliebt sich in die Ehefrau seines Schwurbruders. Als er sie des Ehebruchs mit einem Mönch überführt, wird sie von ihrem Mann grausam hingerichtet, und im Anblick der Zerstückelung der »geliebten« Frau erfährt Shi Xius Perversion ihre höchste Befriedigung. Dabei – und darin liegt die eigentliche Pointe – tut Shi Zhecuns psychoanalytische Neuerzählung der klassischen Vorlage durchaus keine Gewalt an; im Gegenteil, sie fügt sich auf eine höchst entlarvende, kongeniale Weise in die Romanatmosphäre aus ungehemmter sadistischer Gewalt und untergründigem Frauenhaß ein. Typischer für Shi sind indes jene Erzählungen, die das Innenleben moderner Großstädter in der zeitgenössischen Metropole – Shanghai – entfalten. »Ein Abend in der Regenzeit« (»Meiyu zhi xi«) ist hierfür ein repräsentatives Beispiel; die gleichnamige Anthologie von 1933 stellt den zweiten Höhepunkt in Shis Werk

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Shi Zhecun 施蛰存

dar. Die Triebkraft des Eros dominiert auch in diesen psychologischen Figurenskizzen – wenngleich in weniger spektakulärer, weniger pervertierter, weniger eindeutig freudianisch geprägter Form als in »Shi Xiu«. Doch entscheidend ist, daß auch hier die Figuren nicht mehr Herr ihrer selbst sind und ihr Verhalten sich nicht mehr rational auflösen läßt. Zugleich sind in diese Erzählungen auch immer wieder phantastische, groteske und unheimliche Töne gemischt. In der Erzählung »Hexenpfade« (»Modao«) etwa nimmt eine alte Frau für den Ich-Erzähler dämonische Züge an; er steigert sich in einen Verfolgungswahn hinein, und Eros und Thanatos, sexuelle Lust und Todesnähe vermischen sich auf gespenstische Weise. Nach der Geburt der Volksrepublik China 1949 galt Shi wie andere »Modernisten« auch als Unperson; 1957 wurde er als Reaktionär gebrandmarkt und durfte jahrzehntelang keine literarischen Werke veröffentlichen. Zu verdächtig war seine Bewunderung der westlichen Avantgardeliteratur, zu verräterisch seine einstige Weigerung, sich von der literarischen Linken vereinnahmen zu lassen. Erst seit der Mitte der 80er Jahre wurden seine Werke mehrfach neu aufgelegt, und seitdem ist er auch zum Gegenstand einer stetig wachsenden Zahl von Studien in der chinesischen Literaturwissenschaft und in der westlichen Sinologie geworden. Unter den Autoren der sogenannten »Neuen Sinnlichkeit«, auch »Neosensualismus« genannt (Xinganjue Pai) – dazu gehören neben Shi noch Liu Na’ou (1900 – 1939) und Mu Shiying (1912 – 1940) –, gilt Shi Zhecun zu Recht als der wichtigste. Auch wenn seine Erzählungen weder die psychologische Subtilität und Komplexität noch die literarische Meisterschaft seines großen Vorbilds Arthur Schnitzler erreichen, so bleibt er doch als Pionier einer psychologisch ambitionierten literarischen Moderne in China bedeutsam. WERKAUSGABEN: Shi Xiu zhi lian, Peking: Renmin Wenxue, 1991; Wu • Ou • Liuxing, Peking: Renmin Wenxue, 1991; Shi Zhecun sanwen, hg. von Liu Ling, Hangzhou: Zhejiang Wenyi, 1999. ÜBERSETZUNGEN: »Ye-tscha – Gespenster«, übers. von B.S. Liao, in: Sinica 13, 3/4 (1938), S. 142–154; »The Waning Moon«, in: Contemporary Chinese Short Stories, hg. u. übers. von Yuan Chia-hua u. Robert Payne, London et al.: Transatlantic Arts, 1946, S. 41–47; »The True Oracle of the Pagoda«, übers. von Mark Wallace, in: Chinese Literature 4 (Winter 1991), S. 131–145; One Rainy Evening, übers. von Rosemary Roberts et al., Peking: Chinese Literature Press (Panda Books), 1994; »One Evening in the Rainy Season«, übers. von Gregory B. Lee, in: The Columbia Anthology of Modern Chinese Literature, hg. von Joseph S.M. Lau u. Howard Goldblatt, New York: Columbia University Press, 1995, S. 126–135; »Kumārajīva«, übers. von Ralf John, in: minima sinica 2/1997, S. 61–103; »Ein Abend in der Regenzeit«, übers. von Marc Hermann, in: Kosmopolis 11–12/2004, S. 35–45; »Hexenpfade«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2009, S. 112–135; »Des Teufels Weg«, übers. von Alexander Saechtig, in: Meisterwerke chinesischer Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. Von Guo Moruo bis Zhang Jie, übers. u. hg. von Alexander Saechtig, Frankfurt a.M. et al.: Weimarer SchillerPresse, 2009, S. 212–235.

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Shu Ting 舒婷 SEKUNDÄRLITERATUR: Goat Koei Lang-Tan, »The European Literature of the Decadence and the So-Called Modernist Chinese Short Stories from the 1920s and 1930s: Interliterary Study of Arthur Schnitzler, Shi Zhecun and Ling Shuhua«, in: Marián Gálik (Hg.), Interliterary and Intraliterary Aspects of the May Fourth Movement 1919 in China. Proceedings of the International Sinological Symposium, Smolenice Castle, March 13– 17, 1989, Bratislava: Veda Publishing House of the Slovak Academy of Science, 1990, S. 139–153; Andrew F. Jones: »The Violence of the Text: Reading Yu Hua and Shi Zhicun«, in: positions: east asia cultures critique 2, 3 (1994), S. 570–602; InesSusanne Schilling u. Ralf John: Die Neuen Sensualisten (xin-ganjuepai). Zwei Studien über Shanghaier Modernisten der zwanziger und dreißiger Jahre, Bochum: Brockmeyer, 1994; Dongshu Zhang: Seelentrauma. Die Psychoanalyse in der modernen chinesischen Literatur ( 1919 – 1949), Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 1994 (v.a. S. 141–185); Lutz Bieg: »Shi Zhecun und seine Erzählung Große Lehrerin Huangxin, oder die bewußte Rückwendung zur Tradition«, in: Das andere China. Festschrift für Wolfgang Bauer zum 65. Geburtstag, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer, Wiesbaden: Harrassowitz, 1995, S. 435–448; Elena Hidveghyova: »The Decadent Obsession: Eros versus Celibacy in the Work of Shi Zhecun and Anatole France«, in: Asian and African Studies 4, 1 (1995), S. 47–70; William Schaefer: »Kumarajiva’s Foreign Tongue: Shi Zhecun’s Modernist Historical Fiction«, in: Modern Chinese Literature 10, 1/2 (1998), S. 25–70; Leo Ou-fan Lee: Shanghai Modern. The Flowering of a New Urban Culture in China, 1930 – 1945, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1999, S. 120–189; Ralf John: Zum Erzählwerk des Shanghaier Modernisten Shi Zhecun (geb. 1905). Komparatistische Untersuchungen und kritische Würdigung einer sinisierten »Literarischen Psychologie«, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 2000; Jason McGrath: »Patching the Void: Subjectivity and Anamorphic Bewitchment in Shi Zhecun’s Fiction«, in: Journal of Modern Literature in Chinese 4, 2 (2001), S. 1–30; Shu-mei Shi: The Lure of the Modern. Writing Modernism in Semicolonial China, 1917 – 1937, Berkeley et al.: University of California Press, 2001, S. 339–370; Hongbing Zhang: »Writing ›the Strange‹ of the Chinese Modern: Sutured Body, Naturalized Beauty, and Shi Zhecun’s ›Yaksha‹«, in: Journal of Modern Literature in Chinese 5, 2 (2002), S. 29–54; Marc Hermann: »Zu Leben und Werk des chinesischen Schriftstellers Shi Zhecun«, in: Kosmopolis 11–12/2004, S. 29– 33; Christopher John Rosenmeier: Shanghai Avant-garde. The Fiction of Shi Zhecun, Mu Shiying, Xu Xu, and Wumingshi, Diss., University of London, 2006; Yiyan Wang: »Venturing into Shanghai: The Flâneur in Two of Shi Zhecunʼs Short Stories«, in: Modern Chinese Literature and Culture 19, 2 (Fall 2007), S. 34–70. [MH]

Shu Ting 舒婷 (1949 ‒, eig. Gong Peiyu), geb. in Quanzhou (Provinz Fujian) Shu Ting wurde 1969 nach dem Schulabschluß in Xiamen aufs Land geschickt. Während dieser Zeit begann sie Gedichte zu schreiben. 1972 konnte sie wieder nach Xiamen zurückkehren. Sie übte verschiedene einfache Berufe aus und konnte sich erst 1980 aufgrund einer Anstellung als Berufsschriftstellerin im Verband der Kulturschaffenden der Provinz Fujian ausschließlich dem Schreiben widmen.

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Thematisch beschäftigte sie sich mit den Leiden und schmerzlichen Erfahrungen der Menschen während der Kulturrevolution (1966 – 1976) und ihrer Neuorientierung nach deren Ende. Ihre Lyrik erfreut sich dank der vielen neuen lyrischen Metaphern, die erfrischend wirkten nach den langjährigen eintönigen Lobeshymnen auf Mao und die Kommunistische Partei, großer Beliebtheit bei den Lesern. Shu Ting gehört wie (→) Bei Dao und (→) Gu Cheng zu den wichtigsten Vertretern der hermetischen Lyrik (Menglong Shipai). Zu ihren bekanntesten Gedichten gehören »Der Eiche gewidmet« (»Zhi xiangshu«, 1977), »Vaterland, mein liebes Vaterland« (»Zuguo, wo qinʼai de zuguo«, 1979) und »Das ist schon alles« (»Zhe ye shi yiqie«, 1979). Ersteres gewann den ersten Preis für das beste Gedicht 1979–1980. Ihr Gedichtband Der Zweimaster (Shuangwei chuan, 1982) gewann den ersten Preis für den besten Lyrikband 1982. Heute verfaßt Shu Ting überwiegend Essays, die jedoch wenig Beachtung in der Öffentlichkeit finden. WERKAUSGABEN: Shu Ting, Gu Cheng shuqing shi xuan, Fuzhou: Fujian Renmin, 1982; Shuangwei chuan, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1982. ÜBERSETZUNGEN: Shu Ting und Gu Cheng: Zwischen Wänden. Moderne chinesische Lyrik, übers. von Rupprecht Mayer, München: Simon & Magiera, 1984; Selected Poems. An Authorized Collection, übers. von Eva Hung et al., Hongkong: Renditions Paperbacks, 1994; Mist of My Heart. Selected Poems of Shu Ting, übers. von Gordon T. Osing und De-an Wu Swihart, hg. von William OʼDonnell, Peking: Panda Books, 1995; Archaeopteryx, übers. von Christine Berg, Dortmund: projekt verlag, 1996. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: »Mit dem Körper schreiben: Literatur als Wunde. Bemerkungen zur Lyrik Shu Tings«, in: Drachenboot 1/1987, S. 15‒22; Zhongyi Chen: »Afterword: Some Thoughts on Shu Ting’s Poetry«, in: Shu Ting: Selected Poems. An Authorized Collection, übers. von Eva Hung et al., Hongkong: Renditions Paperbacks, 1994, S. 131‒134. [WH]

Sikong Tu 司空图 (zi: Biaosheng, hao: Zhifeizi, Nairu jushi, 837 – 908), geb. vermutlich in Sishui (Provinz Anhui) oder Yuxiang (Provinz Shanxi) Der Gelehrte Sikong Tu ist der Nachwelt vor allem durch sein literaturtheoretisches Werk Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung (Ershisi shipin) im Gedächtnis geblieben, das von nachhaltigem Einfluß auf spätere Literaturkritiker wie (→) Yan Yu (tätig zwischen 1180 und 1235) und (→) Wang Shizhen (1634 – 1711) war. Nur wenig Biographisches ist über Sikong Tu bekannt. Er stammte aus einer erfolgreichen Beamtenfamilie, sein Vater wachte über das staatliche Salzmonopol. Im Jahr 869 bestand er das jinshi-Doktorexamen. Zwischen 878 und 880 hatte er für kurze Zeit höhere Ämter bei Hofe inne, zuletzt war er Sekretär im Ritenministerium (libu yuanwailang). Zu Beginn des Jahres 881 fand seine vielverspre-

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Sikong Tu 司空图

chende Karriere ein jähes Ende, als Changʼan (heute Xiʼan) von der Rebellenarmee des Militärgouverneurs Huang Chao eingenommen und bis 884 besetzt gehalten wurde. Danach zog sich Sikong Tu aus dem Amtsleben zurück. Den verfrühten Ruhestand verbrachte er auf seinem Landsitz im »Tal der kaiserlichen Beamten« (Wangguangu) in den Zhongtiao-Bergen. Er wandte sich nun verstärkt dem ChanBuddhismus und Daoismus zu und lehnte spätere Angebote, an den Hof zurückzukehren, ab. 907 erlebte er den endgültigen Zerfall des Tang-Reiches – einer Anekdote nach soll er sich deshalb zu Tode gehungert haben. Sikong Tu war ein Einzelgänger, wie viele seiner Gedichte belegen, in denen die Einsamkeit ein beherrschendes Thema ist. Trotz seines relativ umfangreichen Werkes von nahezu 400 Gedichten (zumeist klassische Vierzeiler, jueju) wurde er von seinen Zeitgenossen und auch späteren Generationen kaum als Dichter wahrgenommen. Vielleicht prädestinierte ihn gerade diese Außenseiterrolle dazu, ein die Dichtung reflektierendes Jahrhundertwerk zu schaffen: die Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung. Darin unterschied er 24 Gedichtkategorien, jedoch nicht im Sinne einer wertenden Klassifizierung, sondern nach ihren inhaltlichen und stilistischen Qualitäten bzw. nach ihrer »Gestimmtheit«. Diese Systematik diente dennoch auch der Kritik an der Eindimensionalität vieler herkömmlicher Gedichte. Nach Sikong Tu sollten Gedichte alle fünf Sinne ansprechen. Darüber hinaus sollten sie – seinem »Brief an Meister Li über die Dichtung« (»Yu Li sheng lunshi shu«) zufolge – einen »Geschmack jenseits des Geschmackes«, d.h. einen geistigen oder gar spirituellen Nachklang haben. Damit formulierte Sikong Tu das bis heute gültige ästhetische Konzept einer offenen, »unbegrenzten Semiotik« (Ming Dong Gu). WERKAUSGABEN: Shipin jinxi, hg. von Cai Naizhong et al., Nanjing: Jiangsu Renmin, 1983; Sikong Tu xuanji zhu, hg. von Gao Zongzhang et al., Taiyuan: Shanxi Renmin, 1989. ÜBERSETZUNGEN: Readings in Chinese Literary Thought, übers. von Stephen Owen, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992, S. 299–357; Ssʼu-kʼung Tʼuʼs Shih-pʼin, übers. von Y.W. Wong [d.i. Wang Ronghua], Singapur: Department of Chinese Studies, 1994. SEKUNDÄRLITERATUR: Y.W. Wong [d.i. Wang Ronghua]: Ss’u-k’ung T’u. A Poet Critic of the T’ang, Hongkong: Chinese University Press, 1977; Pauline Yu: »Ss’u-k’ung T’u’s Shih-p’in: Poetic Theory in Poetic Form«, in: Studies in Chinese Poetry and Poetics, hg. von Ronald C. Miao, San Francisco: Chinese Materials Center, 1978, S. 81‒103; Ming Dong Gu: »Aesthetic Suggestiveness in Chinese Thought: A Symphony of Metaphysics and Aesthetics«, in: Philosophy East and West 53, 4 (2003), S. 490‒513; Wang Bugao, Sikong Tu pingzhuan (Critical Biography of Sikong Tu), Nanjing: Nanjing Daxue, 2006. [HP]

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Sima Guang 司马光

Sima Guang 司马光 (zi: Junshi, hao: Sushui xiansheng, posthumer Ehrenname: Wenzheng, 1019 ‒ 1086), geb. in Xiaxian (Povinz Shanxi) Historiker, Philosoph und Staatsmann von hoher Gelehrsamkeit, mit fest verwurzelten konfuzianischen Wertvorstellungen, 1038 Doktor (jinshi). Nach Magistratstätigkeiten in der Provinz stieg er zum Mitglied der Hanlin-Akademie, Kaiserberater und Kanzler auf. Seine überragende Leistung ist die Verfassung eines Geschichtswerks in annalistischer Form, das erste seiner Art in China, das die Geschichte des Landes von 403 v.Chr. bis 959 n.Chr. umfaßt. Es besteht aus 294 Kapiteln, gefolgt von 30 Kapiteln Inhaltsverzeichnis und 30 Kapiteln »Untersuchungen zum Quellenmaterial« (»Tongjian kaoyi«), das Sima Guang und seine Mitarbeiter aus mehr als 300 Quellen (inoffizielle Geschichte, Dynastiegeschichten, Biographien, Chroniken, Anekdotensammlungen, gesammelte Werke von Philosophen und Literaten usw.) herausgefiltert hatten. Der Text selbst enthält, sichtbar abgehoben, bei Bedarf noch sehr schlüssige Kommentare des Autors. Schon unter Kaiser Yingzong (reg. 1064 ‒ 1068) hatte Sima mit seiner Arbeit begonnen und die Anerkennung des Herrschers genossen. Dieser stellte ihm namhafte Historiker als Mitarbeiter zur Seite. Auch Kaiser Shenzong (reg. 1068 ‒ 1086) unterstützte begeistert das Projekt, gab ihm bei seiner Fertigstellung den Titel Durchgehender Spiegel zur Hilfe bei der Regierung (Zizhi tongjian) und schrieb ein Vorwort dazu, als es 1084 in Druck ging. Sima Guang war Anhänger der Neuen guwen-Bewegung, deren Anliegen es war, zur Klarheit, Gedankentiefe und Lebendigkeit der konfuzianischen Vorväter zurückzukehren und so auch den Weg (dao) zur Bildung und Vervollkommnung des Menschen zu weisen. So besitzt das Werk neben der sorgfältigen Dokumentation einen hohen literarischen Wert. Es wurde richtungsweisend für nachfolgende Geschichtswerke. Zhu Xi (1130 ‒ 1200) verfaßte nach seinem Muster einen Abriß des allgemeinen Spiegels für die Regierung (Tongjian gangmu). Dieser wurde später von dem Jesuitenmissionar J.-A.-M. de Moyriac de Mailla für seine Histoire générale de la Chine verwendet (1777 ‒ 1785 in Paris erschienen) und wirkte somit weit über Chinas Grenzen hinaus. Sima Guang schrieb ein weiteres Geschichtswerk zum Altertum in 20 Bänden namens Überblick über Aufzeichnungen aus der Vergangenheit (Jigulu) sowie Kommentare zu fast allen Klassikern. Zudem erstellte er das lexikalische Werk Leipian, das auf der Erklärung der Schriftzeichen (Shuowen jiezi), einem im Jahre 121 dem Thron vorgelegten Wörterbuch von Xu Shen, beruht und etwa 30.000 Schriftzeichen mit 544 Radikalen enthält. Dazu gibt es von ihm eine philosophische Abhandlung über die Verborgene Leere (Qian xu) sowie Pinselnotizen (Sushui biji) und ein Tagebuch (Sima Guang riji). Berühmt ist auch Sima Guangs Briefwechsel mit (→) Wang Anshi, den er nicht überzeugen konnte, daß die Notstände der Zeit nicht durch legistische Maßnahmen, sondern durch die Verbesserung der menschlichen Qualität, insbesondere der Beamten, zu lösen seien. 1070 zog sich

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Sima Guang für fünfzehn Jahre vom Hof nach Luoyang zurück, weil er mit Wang Anshi keine Einigung fand. Diese Zeit nutzte er zur Vollendung seines Geschichtswerks. WERKAUSGABEN: Zizhi Tongjian. Sima Guang bianzhuang, komm. von Wu Guoyi, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 111997; Sima Wen gong ji, Sibu-beiyao-Ausgabe. ÜBERSETZUNGEN: The Chronicle of the Three Kingdoms (220 ‒ 265 AD). Chapters 69‒78 from the Tzu Chih T’ung Chien of Ssu-ma Kuang, übers. von Achilles Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1965; Emperor Huan u. Emperor Ling. Being the Chronicle of Later Han for the Years 157 ‒ 189 AD, übers. von Rafe de Crespigny, Canberra: Faculty of Asian Studies, 1989; To Establish Peace. Being the Chronicle of Later Han for the Years 189 ‒ 220 AD, übers. von Rafe de Crespigny, Canberra: Faculty of Asian Studies, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: E.G. Pulleyblank: »Chinese Historical Criticism: Liu Chih-Chi and Ssu-Ma Kuang«, in: W.G. Beasley u. E.G. Pulleyblank: Historians of China and Japan, London: Oxford University Press, 1961, S. 135–166; A.W. Sariti: The Political Thought of Ssu-Ma Kuang. Bureaucratic Absolutism in the Northern Song, Diss., Georgetown University, 1970; Zhu Bailu: Sima Guang, Changchun: Jilin Renmin, 1999; Ji Xiao-bin: Politics and Conservatism in Northern Song China. The Career and Thought of Sima Guang (AD 1019 ‒ 1086), Hongkong: Chinese University Press, 2005. [BD]

Sima Qian 司马迁 (zi: Zizhang, ca. 145 – ca. 86 v.Chr.), geb. in Longmen (heute Hancheng, Provinz Shaanxi) Sima Qian, der berühmteste Historiker Chinas, folgte seinem Vater Sima Tan (gest. 110 v.Chr.) in das Amt des Großastrologen und Großhistorikers am Hofe des Han-Kaisers Han Wudi (reg. 140 – 87 v.Chr.). Sima Tan hatte sich und seinem Sohn keine geringere Aufgabe gestellt, als ein ähnlich einflußreiches historiographisches Werk zu verfassen wie einst die Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu) des (→) Konfuzius. Aufbauend auf den Vorarbeiten des Vaters und unter Verwendung der kaiserlichen Archive schuf Sima Qian ein völlig neuartiges und für spätere Generationen modellhaftes Werk, das Chinas Geschichte von ihrem Anbeginn (der Regentschaft der legendären Urkaiser) bis in die frühe Han-Zeit (206 v.Chr. – 220 n.Chr.) hinein erzählt: die Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji). Nachdem Sima Qian in seiner Jugend bei so namhaften konfuzianischen Lehrern wie (→) Dong Zhongshu studiert hatte, entsandte ihn sein Vater auf eine Forschungsreise, auf der er historiographisch relevantes Material sammeln sollte. So hatte er z.B. den Auftrag, überlieferte Legenden vor Ort zu überprüfen und antike Heiligtümer zu besichtigen. Nach dieser ersten Reise im Alter von nur 20 Jahren durfte er Kaiser Wudi auf eine Inspektionsreise begleiten und 110 v.Chr. an einem Feldzug an der Westgrenze des Han-Reiches teilnehmen. Im selben Jahr erkrankte Sima Tan und holte seinen Sohn nach Changʼan (heute Xiʼan) zurück,

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Sima Qian 司马迁

um seine historiographische Arbeit fortzuführen. Nach dem Tod des Vaters übernahm Sima Qian 108 v.Chr. dessen Amt und begann mit der Arbeit am Shiji. Neun Jahre später geriet er in eine politische Affäre, die ihn tief erschüttert zurückließ. Er zog den Zorn des Kaisers auf sich, nachdem er einen im Kampf gegen die Hunnen (Xiongnu) unterlegenen General öffentlich verteidigt hatte, und wurde zum Tode verurteilt. Dieses Urteil konnte er nur abwenden, indem er sich der Kastration unterzog und danach eine dreijährige Gefängnisstrafe auf sich nahm. Eigentlich war von ihm erwartet worden, daß er angesichts dieser Schande Selbstmord beginge, doch er entschied sich für das Leben eines Eunuchen und die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Das Hanshu, die offizielle Dynastiegeschichte der Han-Zeit, enthält Prosagedichte (fu) und Briefe Sima Qians, die seine inneren Nöte jener Jahre beschreiben und daher als wichtige autobiographische Quelle gelten. Die Aufzeichnungen des Großhistorikers umfassen 130 Kapitel, die nicht wie frühere Geschichtswerke chronologisch, sondern thematisch in fünf Teile gruppiert sind: Annalen (benji), Tabellen (biao), Abhandlungen bzw. Monographien (shu), Genealogien (shijia) und Biographien (liezhuan). Insbesondere das Erzählen von Geschichte in einzelnen, durchaus nicht nur »heldenhaften« Biographien war ein absolute Neuerung. Nicht nur formal blieb das Shiji für Jahrhunderte Vorbild, sondern vor allem auch stilistisch, denn im Unterschied zu den späteren offiziellen Dynastiegeschichten ist es – jedenfalls in seinem Biographienteil – erkennbar das Werk eines individuellen Autors. WERKAUSGABEN: Shiji, hg. von Gu Jiegang, Peking: Zhonghua Shuju, 1959. ÜBERSETZUNGEN: Les Mémoires Historiques des Se-ma Tsʼien, übers. von Edouard Chavannes, 5 Bde., Paris: Leroux, 1895 ‒ 1905 [Nachdruck 1969, ergänzt um Bd. 6]; Records of the Grand Historian of China, übers. von Burton Watson, 2 Bde., New York: Columbia University Press, 1961; Selections from Records of the Historian, übers. von Hsien-yi u. Gladys Yang, Peking: Foreign Languages Press, 1979; Historical Records, übers. von Raymond Dawson, Oxford: Oxford University Press, 1994; The Grand Scribe’s Records, hg. von William H. Nienhauser, 9 Bde., Bloomington: Indiana University Press, 1994ff. SEKUNDÄRLITERATUR: Stephen W. Durrant: »Self as the Intersection of Traditions: The Autobiographical Writings of Ssu-ma Ch’ien«, in: Journal of the American Oriental Society 106 (1986), S. 33‒40; Zhou Hulin: Sima Qian yu qi shixue, Taipeh: Wenshizhe, 1987; Grant R. Hardy: Objectivity and Interpretation in the Shi-chi, Diss., Yale University, 1988; ders.: »Form and Narrative in Sssu-ma Ch’ien’s Shih-chi«, in: CLEAR 14 (1992), S. 1‒23; Ji Chun: Sima Qian nianpu xinbian, Xi’an: San Qin, 1992; Zhang Dake: Sima Qian pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1994; Stephen W. Durrant: The Cloudy Mirror. Tension and Conflict in the Writings of Sima Qian, Albany: State University of New York Press, 1995; Sima Qian yu Shiji lunji, hg. von Xu Xinghai, Xi’an: Shaanxi Renmin Jiaoyu, 1995; Zhou Xianmin: Sima Qian de shizhuan wenxue shijie, Taipeh: Wenjin, 1995; William H. Nienhauser: »A Century (1895 – 1995) of ›Shiji‹ Studies in the West«, in: Asian Culture Quarterly 24 (1996), S. 1–51. [HP]

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Sima Xiangru 司马相如

Sima Xiangru 司马相如 (zi: Changqing, 179 – 117 v.Chr.), geb. in Chengdu (heute Provinz Sichuan) Sima Xiangru gilt als der wichtigste fu-Dichter (fu: »Prosagedicht« oder »poetische Beschreibung«) der chinesischen Antike. Er wurde 179 v.Chr. im Staat Shu (heute Provinz Sichuan) als Sohn einer verarmten Familie geboren. Zunächst diente er für kurze Zeit am Hofe Kaiser Jingdis (reg. 156 – 141 v.Chr.) in Changʼan (heute Xiʼan), dann zog er in den Staat Liang und erhielt eine Anstellung am Hofe König Xiaos. Dort erlebte er seine künstlerisch fruchtbarste Zeit, inspiriert durch den Literatenkreis um den fu-Dichter Mei Sheng (gest. 141 v.Chr.). Der König selbst förderte diese literarischen Aktivitäten, und sein Tod 144 v.Chr. bedeutete eine tiefe Zäsur für den Zirkel. Sima Xiangru kehrte nach Chengdu zurück und verliebte sich dort in die Tochter eines reichen Eisenhändlers, Zhuo Wenjun. Damit begann eine der berühmtesten Liebesgeschichten Chinas: Durch Sima Xiangrus Lautenspiel betört, soll sich Zhuo Wenjun entschlossen haben, mit ihm in Armut und wilder Ehe zu leben, bis ihr Vater endlich der Heirat zustimmte und das Paar finanziell unterstützte. Sima Xiangrus noch in Liang verfaßte »Poetische Beschreibung des Meisters Leer« (»Zixufu«) wurde einige Jahre später Kaiser Wudi (reg. 140 – 87 v.Chr.) vorgelegt, woraufhin er wieder eine Anstellung bei Hofe erhielt und vom Kaiser mit einem weiteren Prosagedicht beauftragt wurde: dem »Shanglinfu« (»Poetische Beschreibung des kaiserlichen Jagdparks«). Obwohl insgesamt nur sechs seiner poetischen Beschreibungen erhalten sind, wurde sein Stil in der Literaturgeschichte hochgelobt und für Jahrhunderte prägend. WERKAUSGABEN: Sima Xiangru ji jiaozhu, hg. von Jin Guoyong, Shanghai: Shanghai Guji, 1993; Jia yi Sima Xiangru wen, hg. von Xu Chao et al., Taipeh: Jinxiu, 1993. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 103–117; Xiao Tong: Wen xuan or Selections of Refined Literature, Bd. 2, übers. von David R. Knechtges, Princeton: Princeton University Press, 1996, S. 53‒114. SEKUNDÄRLITERATUR: Yves Hervouet: Un Poète de Cour sous les Han: Sseu-ma Siangjou, Paris: Presses Universitaires de France, 1964; ders.: Le Chapitre 117 du Che ki: Biographie de Sseu-ma Siang-jou, Paris: Universitaires de France, 1972; David Knechtges: The Han Rhapsody. A Study of the Fu of Yang Hsiung, Cambridge: Cambridge University Press, 1976, S. 28‒40; Wilt L. Idema: »The Story of Ssu-ma Hsiang-ju and Cho Wen-chün in Vernacular Literature of the Yüan and Early Ming Dynasties«, in: T’oung Pao 70 (1984), S. 60‒109. [HP]

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Su Che 苏辙

Su Che 苏辙 (zi: Ziyou, hao: Yingbin yilao, 1039 ‒ 1112), geb. in Meishan (heute Provinz Sichuan) Su Che bestand 1057 mit 18 Jahren glanzvoll seine Prüfung zum Doktor (jinshi) zusammen mit seinem älteren Bruder (→) Su Shi, dem er ein Leben lang in Treue verbunden blieb. Die Brüder waren sich in politischen Ansichten einig, insbesondere in ihrer Gegnerschaft gegenüber den Reformen von (→) Wang Anshi (1021 ‒ 1080), und so teilten sie auch das wechselvolle Schicksal von Ehrung am Hof (Su Che u.a. als Hanlin-Akademiker, Vizepräsident des Zensorats, Vizepremier) und Ächtung in den verschiedensten Provinzen (u.a. als Präfekt, Aufseher für Salzund Weinsteuern) entsprechend den Machtkonstellationen der sich bekämpfenden Parteien. In seinem Wesen unterschied sich Su Che sehr von seinem Bruder. Er hatte nicht die Gabe, sein Leiden an der Welt und seine Freuden in dichterischen Höhenflügen aufs Papier zu zaubern. Er war bedächtig, zurückhaltend, dennoch mutig, geradeheraus und unverblümt, wenn es darum ging, gegen Ungerechtigkeiten und verderbliche Zeiterscheinungen anzugehen. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er in völliger Abgeschiedenheit auf dem Lande in Xuzhou (Provinz Jiangsu), dem Studium, Schreiben und Meditieren ergeben. Hier gab er sich den Namen »Einsamer alter Mann vom Ufer des Ying-Flusses« (Yingbin yilao). Seine Gedichte aus dieser Zeit offenbaren die ganze Einsamkeit und Tiefe eines lauteren Gelehrten, der versucht, den Staub der Welt von sich abzuschütteln. Sein Werk, von ihm selbst unter dem Namen Luancheng ji herausgegeben, umfaßt Kommentare zum Buch der Lieder (Shizhuan) und zu den Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiuzhuan), Studien zur alten Geschichte (Gushi), Erläuterungen zum Werk Lao Zis (Lao Zi jie) sowie aufschlußreiche Aufzeichnungen zum Zeitgeschehen und (laut Wolfgang Bauer) einige der frühesten autobiographischen Pinselnotizen (biji). WERKAUSGABEN: Su Che quanji, hg. von Zhang Meixia, Changchun: Shidai Wenyi, 2001. ÜBERSETZUNGEN: Chinese Classical Prose: The Eight Masters of the Tang-Song Period, übers. von Shih Shun Liu, Hongkong: Chinese University Press, 1979, S. 287‒303; Wolfgang Bauer: Das Antlitz Chinas, München, Wien: Hanser, 1990, S. 387‒390; The Chinese Essay, übers. u. hg. von David E. Pollard, New York: Columbia University Press, 2000, S. 64‒66. SEKUNDÄRLITERATUR: Lin Yutang: The Gay Genius. The Life and Times of Su Tungpo, London et al.: William Heinemann, 1948, S. 119‒124; Song shi jianshang cidian, hg. u. komm. von Miao Yue, Shanghai: Shanghai Cishu, 32007, S. 478‒485; Tang Song ba da jia wen, hg. von Wu Xiaolin et al., Peking: Xin Shijie, 22008, S. 1189‒1261. [BD]

Su Dongpo (→) Su Shi

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Su Manshu 苏曼殊

Su Manshu 苏曼殊 (eig. Su Jian, zi: Zigu, Pseudonyme: Qihong, Xuanying, Sanlang etc., 1884 ‒ 1918), geb. in Yokohama (Japan) Su Manshu wurde 1884 in Yokohama geboren. Seine Mutter kam aus Japan und war Nebenfrau eines chinesischen Handelsmannes aus Kanton. Nach seiner Geburt kehrten seine Eltern gemeinsam nach China zurück. Da aber die erste Frau seines Vaters seine Mutter nicht dulden konnte, kehrte diese kurze Zeit später allein nach Japan zurück, und Su Manshu wuchs nach dem frühen Tod seines Vaters bei Verwandten auf. Aufgrund der Tatsache, daß sein Vater ihn wegen der Familienehre bei den Nachbarn als uneheliches Kind angegeben hatte, erlebte Su Manshu von klein auf Verachtung und Diskriminierung durch seine Umgebung. Dies führte dazu, daß er sehr früh pessimistisch gestimmt war, eine Grundstimmung, von der sein Werk stark beeinflußt wurde. 1896 war er als Zwölfjähriger freiwillig in ein Kloster eingetreten, um dem unerträglichen Leben zu Hause zu entfliehen. Im selben Jahr erfuhr er durch seine frühere Kinderfrau von seiner richtigen Mutter und seiner wahren Herkunft. Daraufhin ging er nach Japan, lernte seine leibliche Mutter kennen und besuchte dort bis 1902 die Schule. 1902 zog er nach Tokio und studierte dort Kunst, Politik und Militärwesen. Während seines Aufenthalts in Japan lernte er politische Aktivisten wie (→) Zhang Taiyan und (→) Feng Ziyou aus China kennen und nahm an verschiedenen politischen Veranstaltungen der in Japan studierenden Chinesen teil, die das Ziel verfolgten, China zu erneuern. 1903 kehrte er nach China zurück und verfaßte verschiedene Artikel und literarische Beiträge für Zeitschriften und Zeitungen. Parallel zu seiner Beschäftigung mit den buddhistischen Schriften veröffentlichte Su Manshu Gedichte, Novellen und Übersetzungen ausländischer Literatur. Sein autobiographischer Roman Die Geschichte eines einsamen Schwans (Duanhong lingyan ji, 1912) schildert die Zerrissenheit des Protagonisten zwischen Verlangen und Pflichtbewußtsein, zwischen Liebe und Vernunft. Zwischen der Hauptfigur und ihrem Umfeld existiert keine erzähltechnische Trennung, die Spannung wird nur durch das erzählende Ich selbst ausgelöst. Motive wie Liebe zwischen Mann und Frau (ai) und menschliche Emotionen (qing) bilden den Schwerpunkt von Sus literarischem Schaffen. Nach seiner Auffassung verlangt Liebe eine Absolutheit der Hingabe, die losgelöst ist von körperlichem Verlangen. Su Manshu war sein Leben lang auf der Suche nach Liebe und innerlich zerrissen von den Schmerzen und Leiden seiner Kindheit. Er war Mönch, strebte aber stets nach der Liebe zwischen Mann und Frau, die wiederum platonisch bleiben sollte; er wollte die Leere im buddhistischen Sinne bewahren, konnte aber nie seinem leiblichen Empfinden für das andere Geschlecht abschwören. Sein früher Tod wurde maßgeblich von seiner psychischen Verfassung mitverursacht. Er starb mit nur 35 Jahren. WERKAUSGABEN: Su Manshu xiaoshuo shige ji, Peking: Xinhua, 1982.

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Su Qing 苏青 ÜBERSETZUNGEN: Der wunde Schwan. Die Aufzeichnungen des Mönches Man Ju, übers. von Anna von Rottauscher, Wien: amandus, 1947. SEKUNDÄRLITERATUR: Henry McAleavy: Su Manshu, a Sino-Japanese Genius, London: China Society, 1960; Wu-chi Liu: Su Man-shu, Boston: Twayne, 1972; Leo Ou-fan Lee: The Romantic Generation of Modern Chinese Writers, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973; Gilbert Chee Fun Fong: Subjectivism in Xu Zhenya (1889 ‒ 193?) and Su Manshu (1884 ‒ 1918). Chinese Fiction in Transition, Diss., University of Toronto, 1982; Wolfgang Kubin: »Liebe auf Distanz: Su Manshus (1884 ‒ 1918) ›Aufzeichnung einer zerbrochenen Haarnadel‹ (Sui zan ji, 1916)«, in: ders.: Die Jagd nach dem Tiger, Bochum: Brockmeyer, 1984, S. 53‒84; C.Y. Hsu: »Su Man-shu, Poet-Monk of Genius«, in: Asian Culture 18, 4/1989, S. 29‒66; Ying Hu: Tales of Translation. Composing the New Woman in China, 1899 ‒ 1918, Stanford: Stanford University Press, 2000, S. 98‒103; Hung-yok Ip: »Buddhism, Literature, and Chinese Modernity: Su Manshu’s Imaginings of Love (1911 ‒ 1916)«, in: Beyond the May Fourth Paradigm. In Search of Chinese Modernity, hg. von Kai-wing Chow, Tze-ki Hon, Hung-yok Ip u. Don Price, Lanham, MD: Lexington Books, 2008, S. 229‒254. [WH]

Su Qing 苏青 (eig. Feng Heyi, 1917 ‒ 1982), geb. in Jin (Provinz Zhejiang) Su Qing stammte aus einer gebildeten Familie in der Provinz Zhejiang. Nach der Schule studierte sie zunächst Anglistik, brach ihr Studium jedoch nach ihrer Eheschließung ab. Während des Krieges gegen Japan (1937 ‒ 1945) arbeitete sie als Sekretärin in der von den Japanern gebildeten Marionettenregierung. Ab 1935 war sie schriftstellerisch tätig. Nach zahlreichen Essays, die sie in Zeitschriften veröffentlicht hatte, erschien 1943 ihr autobiographischer Roman Zehn Jahre Eheleben (Jiehun shi nian), der mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Darin beschreibt sie die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann, das in Abhängigkeiten gezwängte Eheleben innerhalb einer Großfamilie mit feudalen Familienstrukturen und ihre Beziehung zu ihrer Schwiegermutter, Symbolfigur für die häusliche Unterdrückung und Erniedrigung. Die offene Darstellung der Sexualität in ihrem Roman wurde zu dieser Zeit von vielen Lesern als obszön empfunden. Su Qing wurde aufgrund dessen von der Literaturkritik als Rebellin und Tabubrecherin bezeichnet. Im selben Jahr gründete sie die Zeitschrift Himmel und Erde (Tiandi), in der z.B. (→) Zhang Ailing viele ihrer Essays publizierte. 1947 erschien der Nachfolgeroman Nachtrag zu »Zehn Jahre Eheleben« (Xu jiehun shi nian), der jedoch nur wenig Aufmerksamkeit fand. Su Qing war eine Schriftstellerin, die ausschließlich ihre eigenen Lebenserfahrungen literarisch verarbeitet hat. Ihre Schriften enthalten emanzipatorische Grundtendenzen, sind sprachlich lebendig und humorvoll. WERKAUSGABEN: Jiehun shi nian, Shanghai: Shanghai Sihai, 1943; Huan jingji, Shanghai: Shanghai Sihai, 1944; Xu jiehun shinian, Shanghai: Shanghai Sihai, 1947; Fu Xiaomei,

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Su Shi 苏轼 Shanghai: Shanghai Sihai, 1948; Tao, Shanghai: Shanghai Sihai, 1948; Yinshi nannü. Su Qing wenji, Shanghai: Xin Shijie, 2003; Jiehun san nian, Peking: Guoji Wenhua Chuban Zhongxin, 2005; Weicheng nei wai, Xian: Shaanxi Shifan Daxue, 2008. ÜBERSETZUNGEN: »Das Glück der Hochzeit« [Kap. 1 von Jiehun shi nian], übers. von Heike Münnich, in: Orientierungen 2/1990, S. 117‒124. SEKUNDÄRLITERATUR: Heike Münnich: »Kein Papierdrachen in der Hand des Herren. Die Schriftstellerin Su Qing (1917 ‒ 1982)«, in: Orientierungen 2/1990, S. 107‒116; Amy Dooling: »Outwitting Patriarchy: Comic Narrative Strategies in the Works of Yang Jiang, Su Qing, and Zhang Ailing«, in: dies.: Women’s Literary Feminism in Twentieth-Century China, New York: Palgrave Macmillan, 2005, S. 137‒170. [WH]

Su Shi 苏轼 (auch: Su Dongpo, zi: Zizhan, hao: Dongpo jushi, 1037 ‒ 1101) geb. in Meishan (heute Provinz Sichuan) Eine der großen Lichtgestalten der chinesischen Geistesgeschichte, von überschäumender Schaffenskraft, unerschöpflichem Einfallsreichtum, genialer Vielseitigkeit, umfassender wacher Beobachtung der Welt in ihren sichtbaren und unsichtbaren Abläufen und einer tiefen, warmen Verbundenheit mit den Menschen und ihren Schicksalen. Er wußte all seine Gaben in sich zu bündeln und zum Klingen zu bringen »wie das Singen der Vögel im Frühling und das Zirpen der Grillen im Herbst« (so er selbst). Er vollendete die Dicht- und Prosakunst der Nördlichen Song-Zeit (960 – 1127), war ein bedeutender Kalligraph und Maler, Philosoph, Staatsmann und vor allem ein Mensch, der trotz aller Anfeindungen, Demütigungen und Entbehrungen seine Würde, Witz und Heiterkeit zu wahren wußte. Er stammte aus einem Elternhaus, in dem unabhängiges Denken, Wissens- und Herzensbildung gleichermaßen gepflegt wurden. (Der Vater [→] Su Xun und der jüngere Bruder [→] Su Che zählen wie Su Shi selbst zu den Acht Großen Prosameistern der Tang- und Songzeit.) 1057 bestand er glanzvoll die Prüfung zum Doktor (jinshi) und 1061 eine Sonderprüfung (zhice) in Fragen der Staatsführung und Reichsgeschichte, die der Kaiser selbst abhielt. Er hatte alle Voraussetzungen für eine einflußreiche Karriere am Kaiserhof, doch er mißbilligte die Reformmaßnahmen des (→) Wang Anshi (1070 zum Kanzler berufen) und dessen Taktik, Andersdenkende vom politischen Mitwirken auszuschließen. So bat er selbst um Anstellungen im Außendienst. Als Präfekt leitete er verschiedenste Provinzen und setzte sich tatkräftig für die Belange der Bevölkerung ein, vom Deich- und Brückenbau über die medizinische Versorgung von Häftlingen, die Einrichtung von Schulen und Krankenhäusern und die Vorsorge gegen Hungersnöte bis hin zu Maßnahmen gegen Kindestötungen. Das war seine Art der Reformpolitik. Seine Erfahrungen mit den Menschen und seine Naturerlebnisse in den verschiedensten Landschaften schrieb Su Shi in einem nicht endenden Fluß von Gedichten,

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Su Shi 苏轼

Reimprosa, Essays, Briefen, Berichten, Betrachtungen und Pinselnotizen nieder. (Letztere sammelte er auf losen Blättern in Säcken und stellte sie während seiner späteren Verbannung unter dem Titel Dongpo zhilin zusammen.) Im Schreiben sucht er den großen Zusammenhang des Lebens und die Bestimmung des Menschen zu deuten. Gleichzeitig beobachtet er wachsam das politische Geschehen und scheut sich nicht, teils in offenen Throneingaben, teils mit ironischen Andeutungen in seinen Gedichten (shi) Kritik an Fehlentwicklungen zu äußern. 1079 wird er wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert und entgeht nur knapp der Todesstrafe. Es folgt die Verbannung nach Huangzhou (Provinz Hubei), Degradierung und Entzug des Gehalts. Durch einen Freund gelangt er zu einem Stück Land, das er selbst bebaut, um seine Familie zu ernähren. Es ist der Osthang (dongpo), nach dem er sich benannt hat. Diese Jahre (1080 ‒ 1084) werden für ihn Zeiten der inneren Klärung und Befreiung. Hier entstehen die berühmten »Poetischen Beschreibungen der Roten Wand« (»Chibi fu«), und hier gibt er der Lieddichtung (ci) eine neue Dimension der philosophischen Vertiefung und der humorvollen Intellektualität in einem »kraftvoll-erhabenen« (haofang) Stil. Nach einem Machtwechsel, während der Yuanyou-Periode (1086 ‒ 1093), gelangte Su Shi wieder zu hohen Ämtern am Hof (u.a. als Mitglied der Hanlin-Akademie und persönlicher Sekretär des Kaisers), doch abermals gewannen die alten Reformanhänger die Übermacht und verbannten ihn 1094 ‒ 1097 in die Provinz Guangdong, 1097 ‒ 1100 gar auf die ferne Insel Hainan. Hier vollendet er seine Kommentare zum Buch der Wandlungen (Yijing), zum Buch der Urkunden (Shujing) und zu den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu), die er selbst für die Schriften hält, die sein Leben lebenswert gemacht haben. Ein großes Thema darin ist die Verantwortung des Herrschers gegenüber seinem Volk. Zugleich vertieft sich die schon in Huangzhou begonnene Identifizierung mit den in (→) Tao Yuanmings Gedichten geäußerten Lebensbetrachtungen weiter und bestärkt ihn darin, seine Verbannung als den »schönsten Ausflug seines Lebens« (so er selbst) anzusehen. Er stirbt auf der Heimreise nach seiner Begnadigung. Chan-buddhistisch inspiriert, wußte er, daß das wahre Selbst sich im Umgang mit der Welt findet, da die Buddhanatur selbst im geringsten Staubkorn enthalten ist; als Konfuzianer blieb er bis zuletzt um das Wohl des Volkes besorgt; als Daoist wußte er sich aufgehoben in der großen Ordnung der Natur. WERKAUSGABEN: Su Shi quanji, komm. von Fu Cheng u. Mu Chou, Shanghai: Shanghai Guji, 2000; Dongpo zhilin, komm. von Qiao Lihua, Qingdao: Qingdao Chubanshe, 2002. ÜBERSETZUNGEN: Su Tung-pʼo. Selections from a Sung Dynasty Poet, übers. von Burton Watson, New York: Columbia University Press, 1965; Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, Berlin: Rütten & Loening, 1969, S. 309‒318; Major Lyricists of the Northern Sung, übers. von James J.Y. Liu, Princeton: Princeton University Press, 1974, S. 121‒160; Classical Chinese Prose:

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Su Tong 苏童 The Eight Masters of the Tang-Sung Period, übers. von Shi Shun Liu, Hongkong: Chinese University Press, 1979, S. 233‒285; »Dongpo’s Miscellaneous Records: excerpts«, übers. von Eva Hung, in: Renditions 33 u. 34 (Spring & Autumn 1990), S. 123‒140. SEKUNDÄRLITERATUR.: Lin Yutang: The Gay Genius. The Life and Times of Su Tungpo, London et al.: William Heinemann, 1948; Kojiro Yoshikawa: An Introduction to Sung Poetry, Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1973, S. 97‒122; Rainald Simon: Die frühen Lieder des Su Dong-po, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1985 [mit Übers.]; Michael A. Fuller: The Road to East Slope. The Development of Su Shi’s Poetic Voice, Stanford: Stanford University Press, 1990; Alice W. Cheang: »Poetry, Politics, Philosophy: Su Shih as the Man of the Eastern Slope«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 53, 2 (1993), S. 325–387; Ronald C. Egan: Word, Image, and Deed in the Life of Su Shi, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1994; Song shi jianshang cidian, komm. von Miao Yue et al., Shanghai: Cishu, 32007, S. 308–467; Song ci jianshang cidian, komm. von Xia Chengtao et al., Shanghai: Cishu, 92007, S. 306‒460; Tang-Song ba da jia wen pindu cidian, hg. u. komm. von Wu Xiaolin, 2 Bde., Peking: Xin Shijie, 2008, S. 857‒976. [BD]

Su Tong 苏童 (eig. Tong Zhonggui, 1963 ‒), geb. in Suzhou (Provinz Jiangsu) Su Tong wuchs in Suzhou in der Provinz Jiangsu auf. Nach einem Studium der Chinesischen Sprache und Literatur an der Pädagogischen Universität in Peking arbeitete er als Tutor der Studierenden an der Universität Nanjing. Ein Jahr später wurde er Redakteur der Literaturzeitschrift Zhongshan und widmete sich neben seiner Redaktionstätigkeit seinem eigenen literarischen Schaffen. Su Tong zählt zu den bedeutendsten jungen Schriftstellern Chinas. Doch nur auf Umwegen gelangte er zu seinem Ruhm. Bereits während seines Studiums versuchte er, Gedichte zu schreiben und zu veröffentlichen. Da er sich in einem Kreis anderer potenzieller Dichter bewegte, erkannte er schnell, daß Lyrik nicht sein Metier war. Auch mit der Erzählkunst war er nicht sofort erfolgreich. Nach einer Reihe vergeblicher Versuche, seine Erzählungen zu publizieren, gelang ihm erst 1983 mit der Erzählung »Die achte Bronzestatue« (»Di ba ge shi tongxiang«) der Durchbruch. Seine Romane, Novellen und Erzählungen kamen danach in dichter Folge heraus: Werke wie Erinnerungen an den Maulbeergarten (Sangyuan jinian), Eine Schar Ehefrauen und Konkubinen (Qiqie chengqun), Rouge (Hongfen) und Reis (Mi) zählen zu seinen brillantesten Leistungen. Thematisch bevorzugt er die Darstellung von Menschen im Übergang von der Tradition in die Moderne und ihrer daraus resultierenden Besinnung auf ihre jeweiligen kulturellen Wurzeln. Er schafft durch seine dichterischen Phantasien und ihre Anbindung an die Sitten und Gebräuche der chinesischen Kultur Erzählwerke, die poetisch-geheimnisvoll, farbenprächtig und trotz der Darstellung von Gewalt und Absurdität voller Menschlichkeit sind.

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Su Xun 苏洵

Su Tongs Werke sind bereits mehrfach verfilmt worden. Zu größter Bekanntheit gelangte die Verfilmung seines Romans Eine Schar Ehefrauen und Konkubinen durch den Regisseur Zhang Yimou unter dem Titel Die rote Laterne. WERKAUSGABEN: Su Tong xiaoshuo jingpin, o.O.: Xinan Shifan Daxue, 1993; Su Tong wenji, 6 Bde., Nanjing: Jiangsu Wenyi, 1996; Hongfen, Shanghai: Shanghai Wenyi, 2004. ÜBERSETZUNGEN: Rote Laterne, [aus dem Französischen] übers. von Stefan Linster, München: Goldmann, 1992; Die Opiumfamilie, übers. von Peter Weber-Schäfer, Reinbek: Rowohlt, 1998; Reis, übers. von Peter Weber-Schäfer, Reinbek: Rowohlt, 1998; Die Tränenfrau. Der Mythos der treuen Meng, übers. von Marc Hermann, Berlin: Berlin Verlag, 2006. SEKUNDÄRLITERATUR: Meng Yue: »Su Tong de ›jiashi‹ yu ›lishi‹ xiezuo (On Su Tong’s Writing of ›Family Genealogy‹ and ›History‹)«, in: Jintian 2/1990, S. 84‒93; Xiaobing Tang: »The Mirror as History and History as Spectacle: Reflections on Hsiao Yeh and Su T’ung«, in: Modern Chinese Literature 6, 1/2 (1992), S. 203‒220; Tonglin Lu: »Feminity and Masculinity in Su Tong’s Trilogy«, in: dies.: Misogyny, Cultural Nihilism and Oppositional Politics. Contemporary Chinese Experimental Fiction, Stanford: Stanford University Press, 1995, S. 129‒154; Robin Visser: »Displacement of the UrbanRural Confrontation in Su Tong’s Fiction«, in: Modern Chinese Literature 9, 1 (1995), S. 113‒138; Susanne Baumann: Rouge. Frauenbilder des chinesischen Autors Su Tong, Dortmund: projekt verlag, 1996; Fiorenzo Lafirenza: »Il personaggio ›Io‹ in La casa dei papaveri da oppio di Su Tong: un caso di serendipit«, in: Asiatica Venetiana 2/1997, S. 81‒92; Mark Leenhouts: »The Contented Smile of the Writer: An Interview with Su Tong«, in: China Information 11, 4 (Spring 1997), S. 70‒80; Deirdre Sabina Knight: »Decadence, Revolution and Self-Determination in Su Tong’s Fiction«, in: Modern Chinese Literature 10, 1/2 (1998), S. 91‒112; Clemens Treter: China neu erzählen. Su Tongs Erzählungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Dortmund: projekt verlag, 1999; Jian Xu: »Blush from Novella to Film: The Possibility of Critical Art in Commodity Culture«, in: Modern Chinese Literature and Culture 12, 1 (Spring 2000), S. 115‒ 163; Hsiu-Chuang Deppman: »Body, Space, and Power: Reading the Cultural Images of Concubines in the Works of Su Tong and Zhang Yimou«, in: Modern Chinese Literature and Culture 15, 2 (Fall 2003), S. 121‒153. [WH]

Su Xun 苏洵 (zi: Mingyun, hao: Laoquan, 1009 ‒ 1066), geb. in Meishan (Provinz Sichuan) Su Xun, Vater der Brüder (→) Su Shi und (→) Su Che, stammte aus einer einfachen, aber gebildeten Familie. Während seine zwei älteren Brüder reibungslos ihre Prüfungen zum Doktor (jinshi) meisterten, fand Su Xun in seiner Jugend keinen rechten Zugang zum Studium und scheiterte dementsprechend zweimal, zuletzt 1046. Danach verbrannte er all seine bisherigen Schriftübungen, zog sich acht Jahre lang völlig zurück und vertiefte sich gründlich in die Schriften der konfuzianischen Klassiker, bis die neuen Einsichten »nur so aus ihm heraussprudelten« (so

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Tan Sitong 谭嗣同

er selbst). Diese faßte er, klar, kraft- und schwungvoll formuliert, in meist politischen Essays zusammen, die er (→) Ouyang Xiu unterbreitete, als er 1057 seine zwei Söhne zur jinshi-Prüfung nach Kaifeng begleitete. Su Shi und Su Xun bestanden diese mit Bravour, und Su Xuns Schriften fanden höchste Anerkennung, so daß er später auch ohne jinshi-Titel ein – wenn auch bescheidenes – Amt erhielt. In seinen Werken – u.a. Geschichtliche Erörterungen (Shilun), Abwägende Erörterungen (Henglun) und Förderung von Talenten (Yang cai) – wendet er sich gegen Büchergelehrsamkeit und setzt auf die schöpferischen Kräfte von hervorragend Begabten (tiancai), die politische Entscheidungen des Kaisers mittragen sollen. Die Moral sei nicht auf einen strikten Kodex festzulegen, sondern entsprechend den Zeitläufen jeweils neu mit Kraft zu erfüllen. Diese seine kritische Einstellung zum Konfuzianismus fand wenig Nachhall. Sein Ruhm gründet auf der Offenheit, Frische und Tiefgründigkeit seiner Sprache. Mit seinen zwei Söhnen zählt er zu den Acht großen Prosameistern der Tang- (618 – 907) und Song-Zeit (960 – 1279) (vgl. [→] Zeng Gong). WERKAUSGABEN: Su Xun quanji, komm. von Zhang Yuxia, Changchun: Shidai Wenyi, 2001. ÜBERSETZUNGEN: Chinese Classical Prose: The Eight Masters of the Tang-Song Period, übers. von Shih Shun Liu, Hongkong: Chinese University Press, 1979, S. 211‒223. SEKUNDÄRLITERATUR: Lin Yutang: The Gay Genius. The Life and Times of Su Tungpo, London et al.: William Heinemann, 1948, S. 119‒124; George Hatch: »Su Xun’s Pragmatic Statecraft«, in: Ordering the World. Approaches to State and Society in Sung Dynasty China, hg. von Robert P. Hymes u. Conrad Schirokauer, Berkeley et al.: University of California Press, 1993, S. 59‒75; Wang Hao: Su Xun zhuan, Changchun: Jilin Wenshi, 1998; Song shi jianshang cidian, hg. u. komm. von Miao Yue, Shanghai: Shanghai Cishu, 32007, S. 163‒167; Tang Song ba da jia wen, hg. von Wu Xiaolin et al., Peking: Xin Shijie, 22008, S. 681‒753. [BD]

Tan Sitong 谭嗣同 (zi: Fusheng, hao: Zhuangfei, Huaxing zhongsheng, Donghai qianming shi, Tongmeisheng, Liaotian yige zhuren, 1865 ‒ 1898), geb. in Liuyang (Provinz Hunan) Tan Sitong ist eine jener in ihrer Vielseitigkeit und Entwicklung interessanten Persönlichkeiten aus der Zeit, als China sich von den Traditionen abzuwenden begann und sich den Herausforderungen der Moderne stellte. Von seiner Bildung und dem gesellschaftlichen Hintergrund her gesehen repräsentierte Tan den aufrechten Beamten der Vergangenheit, der loyal seinen Pflichten nachging und nebenbei seine literarischen Vorlieben pflegte. Mit den Herausforderungen seiner Zeit konfrontiert, entfaltete Tan jedoch zusätzlich ein modern wirkendes Auftreten als Reformer und Bildungsaktivist. Seine ausgezeichnete klassische Bildung er-

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Tan Yuanchun 谭元春

weiterte er dabei frühzeitig durch die Lektüre von Übersetzungen aus westlichen Sprachen, darunter auch naturwissenschaftliche Werke zur Geographie, Physik und Astronomie. Spätestens seit dem Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, besonders aber nach der Niederlage Chinas im Krieg gegen Japan 1894/95 auch politisch aktiv, fand Tan Anschluß an die reformerischen Intellektuellen um den Guangxu-Kaiser. Als dessen von Juni bis September 1898 dauernde »HundertTage-Reform« von der Kaiserinwitwe Cixi niedergeschlagen wurde, weigerte sich Tan zu fliehen und wurde noch im September 1898 hingerichtet. An Werken liegen von Tan neben seiner wichtigen philosophischen Arbeit zur Humanität mit dem Titel Über die Menschlichkeit (Renxue) auch eine Reihe von Prosaaufzeichnungen vor. Diese im wesentlichen 1894 entstandenen Aufzeichnungen aus der Hütte des Shijuyin-Studios (Shijuyin lu bishi) enthalten mehr als hundert Einträge, teils als »Studie«, teils als »Gedanken« bezeichnet und insgesamt philosophisch-weltbetrachtender Natur. In der Literaturwissenschaft ist Tan Sitong vor allem für seine lyrischen Werke gelobt worden, mit deren stark philosophischem Ton er einen eigenen Stil begründete. Mit seinem Wunsch nach Veränderungen und der Sorge um das Schicksal der Nation eröffnete Tan der Dichtkunst ganz neue Inhalte. Seine Lyrik besitzt dabei einen romantischen Klang und ist nicht frei von Pathos. WERKAUSGABEN: Quanji. Zengdingben, Peking: Sanlian Shuju, 1981. ÜBERSETZUNGEN: Exposition of Benevolence. The Jen-hsüeh of Tan-Ssu-tʼung, übers. von Chan Sin-wai, Hongkong: Chinese University Press, 1984. SEKUNDÄRLITERATUR: Sin-wai Chan: T’an Ssu-t’ung, an annotated bibliography, Hongkong: Chinese University Press, 1980; Luke S.K. Kwong: Tan Ssu-tung, 1865 ‒ 1898: Life and Thought of a Reformer, Leiden, New York: Brill, 1996; Ingo Schäfer: »Natural Philosophy, Physics and Metaphysics in the Discourse of Tan Sitong: The Concepts of Qi and Yitai«, in: New Terms for New Ideas. Western Knowledge & Lexical Change in Late Imperial China, hg. von Michael Lackner et al., Leiden: Brill, 2001, S. 257‒269. [TZ]

Tan Yuanchun 谭元春 (zi: Youxia, hao: Huwan, 1586 ‒ 1637), geb. in Jingling (Provinz Hubei) Als Dichter und Literaturkritiker genoß Tan Yuanchun zum Ende der MingDynastie (1368 – 1644) eine gewisse Bekanntheit. Gemeinsam mit Zhong Xing (1574 ‒ 1624) brachte er zwei kommentierte Anthologien heraus: Rückkehr zur antiken Dichtkunst (Gushi gui) und Rückkehr zur Dichtkunst der Tang (Tangshi hui). Beide Sammlungen bildeten ein beliebtes Studienmaterial für heranwachsende Dichter. Tan und Zhong wurden später als Gründer der nach ihrem Heimatort benannten Jingling-Schule angesehen.

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Tang Xianzu 汤显祖

Trotz seines frühen Ruhms in literarischen Kreisen war Tan kein Erfolg bei den Beamtenprüfungen beschieden. Erst über vierzigjährig bestand er 1627 die Provinzprüfungen zum Magister (juren), fiel aber wiederholt bei den Prüfungen zum Doktor (jinshi) in der Hauptstadt durch und starb 1637 auf dem Weg eben dorthin. Tan Yuanchun und Zhong Xing sind vermutlich beide von (→) Yuan Hongdao beeinflußt worden, der zentralen Gestalt der Gongʼan-Schule, in der man für Spontaneität und Originalität eintrat. Anders als Yuan und seine Schule jedoch, deren »Beseeltheit« Tan und Zhong durchaus würdigten (wenngleich sie auf die »Vulgarität« der Yuan-Schüler herabblickten), traten sie für mehr »Erhabenheit« ein. Zwar befürwortete Tan nicht generell eine Übernahme des Stils der alten Dichtung, doch macht seine Orientierung an den Vorbildern der Vergangenheit klar, daß er wohl eher ein Eklektiker als ein kreativer Geist war. Seine Lyrik stand im Ruf, schwierig und obskur zu sein, von Kritikern zu Beginn der Qing-Zeit (1644 – 1911) wie (→) Qian Qianyi wurde ihm später der Vorwurf gemacht, er sei ein »Dichterdämon« (shiyao) gewesen und habe den Niedergang der Dichtkunst mit verursacht. WERKAUSGABEN: Tan Yuanchun shihua, hg. von Chen Shaosong, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997; Tan Yuanchun ji, hg. von Chen Xingzhen, Shanghai: Shanghai Guji, 1998. ÜBERSETZUNGEN: »Four Examination Essays of the Ming Dynasty«, übers. von Andrew Lo, in: Renditions 33 & 34 (Spring & Autumn 1990), S. 167‒181. [TZ]

Tang Xianzu 汤显祖 (zi: Yireng, hao: Hairuo, Ruoshi, Qingyuan Daoren, 1550 ‒ 1616), geb. in Linchuan (heute Fuzhou, Provinz Jiangxi) Tang Xianzu gilt als eine der herausragenden literarischen Gestalten seiner Zeit. Als einer der wichtigsten Dramatiker der späten Ming-Dynastie (1368 – 1644) beeinflußte er zahlreiche Theaterautoren der nachfolgenden Zeit. Besonders gerühmt wurde von seinen Anhängern die hohe literarische Qualität seiner Stücke, der er einen höheren Stellenwert beimaß als der strengen musikalischen Ausgestaltung. Das Leben des Dramatikers aus gelehrtem und damit gutsituiertem Haus verlief in den nicht ganz ungewöhnlichen Bahnen eines traditionellen chinesischen Literaten. Es war Tangs unverblümte Kritik, die maßgeblich dazu beitrug, daß er politisch nie eine wichtigere Rolle spielen konnte. Nach dem Doktorat (jinshi) von 1583 versah er bis 1598 verschiedene Ämter, u.a. als Sekretär im Ritenministerium von Nanjing, doch dann wurden ihm eine Throneingabe (1591), aufgrund derer er wegen Majestätsbeleidigung zeitweilig ins südchinesische Guangdong verbannt wurde, und eine Amtsüberprüfung zum Verhängnis, so daß ihm 1600 alle Titel aberkannt wurden. Aber schon zuvor (1598) hatte er sich ganz aus dem Beamtenleben in die Privatheit seines Anwesens in Linchuan zurückgezogen, nicht un-

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Tang Xianzu 汤显祖

bedingt in Erwartung der kommenden Dinge, sondern im Rahmen einer bevorzugt »müßig« angelegten Existenz. Seit 1992 befindet sich in seiner ehemaligen Heimatstadt eine Art Gedenkgarten, in dem man anschaulich Einsicht in sein Werk und sein Leben gewinnen kann. Tang Xianzu ist jedoch schon lange vorher Gegenstand der Künste geworden: (→) Jiang Shiquan (1725 ‒ 1785) hat ihn zum Helden seines Theaterstückes Der Traum von Linchuan (Linchuan meng) gemacht. Von Tang Xianzu sind neben den vier Theaterstücken (sowie einem fünften, unvollendeten) auch Essays, Gedichte und Briefe überliefert, doch bis heute ist von dem gesamten Œuvre trotz seiner Bedeutung wenig übersetzt und analysiert worden. Dies gilt im großen und ganzen auch für das, wofür sein Name eigentlich steht: für die Erhebung des chinesischen Theaters zur hohen Kunst. Von den vier vollendeten Romanzen (chuanqi) hat sich beim Publikum und bei der Fachwelt eigentlich nur ein einziges Werk durchsetzen können, nämlich Die Rückkehr der Seele (Huanhun ji), so die deutsche Fassung, bekannter als Der Päonienpavillon (Mudanting) nach der englischen Übersetzung. (Die unterschiedlichen Titel erklären sich aus der jeweiligen Teilübersetzung des Gesamttitels.) Die anderen drei Stücke, die mit dem obigen zu den Vier Träumen von Linchuan (Linchuan si meng) bzw. zu den Vier Träumen in der Yumin-Halle (Yumintang si meng) zusammengefaßt werden, sind bislang kaum einer näheren Betrachtung für wert befunden worden. (Yumintang ist der Name des Studios unseres Dichters.) Die einzige Ausnahme ist Die Aufzeichnung von Handan (Handan ji, 1601), die im Französischen als Das magische Kopfkissen (L’oreiller magique) erschienen ist. Es handelt sich hier wie bei den drei anderen genannten Dramen auch um ein sogenanntes rewrite: Tang Xianzu hat, wie im chinesischen Theater gang und gäbe, bekannte Stücke und Erzählungen neu bzw. umgeschrieben. Handan ist ein Ortsname der Antike, Schauplatz für das falsche Leben, das als solches im Traum durchschaut wird. Dieses Lehrstück wider die Suche nach Ruhm und Geld dreht also um, was das europäische Theater wenige Jahrzehnte später als Maxime auf die Bühne bringt: Nicht das Leben ist ein Traum, sondern der Traum ist das Leben. Dem oftmals humorvoll angelegten Meisterstück Die Rückkehr der Seele wird man nur philosophisch gerecht. Sein Autor stand nämlich unter dem Einfluß der neokonfuzianischen Richtung, die in Gestalt von zeitgenössischen Denkern wie (→) Li Zhi und (→) Wang Yangming für die Kultivierung des Herzens, Spontaneität und individuellen Ausdruck eintrat und die zwischen »Vernunft« (li) und »Gefühl« (qing) keinen notwendig unversöhnlichen Gegensatz sah, sondern letztlich die Einheit statt der gegenseitigen Ausgrenzung für möglich hielt. Als Zeugnis für die Allmacht der Liebe hat das Drama Schule gemacht und ist oftmals von Zeitgenossen wie Nachgeborenen um- bzw. wiedergeschrieben worden. Zur Veranschaulichung von Wandel und Veränderung, welche die Zuneigung zwischen zwei jungen Menschen bewirken kann, bedient sich der Dramatiker bestimmter Motive, die von der Weltliteratur her allgemein bekannt sind, so zum Beispiel, wenn sich der Held Liu Mengmei in das Bild seiner künftigen Frau verliebt oder

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wenn die Heldin Du Liniang vom Tode aufersteht. Will man verstehen, wie sich Menschen, ohne sich jemals gesehen zu haben, im Traume nacheinander sehnen und im Leben auf Anhieb als wahre Partner erkennen können, so läßt sich die Philosophie der Sehnsucht bemühen. Wolfram Hogrebe hat am Beispiel des deutschen Idealismus gezeigt, wie Sehnsucht auf einem Urbild beruht, das man einmal geschaut, aber dann wieder verloren hat. Der liebende Mensch ist nur dank seiner Sehnsucht nach dem Verlorenen in der Lage, wahre Liebe zu suchen, zu finden, zu empfangen und zu geben. Aus Gründen wie diesen geht Die Rückkehr der Seele weit über die chinesische Literatur und Philosophie hinaus: als Teil der Weltliteratur bzw. der Weltphilosophie. Der Übersetzer Vincenz Hundhausen (1878 ‒ 1955) hat mit Hilfe chinesischer Gelehrter bei seiner Übertragung Großes geleistet. Er hat – nach der heutigen Übersetzungstheorie legitimerweise – nicht das Einzelne übersetzt, also nicht das einzelne Wort, den einzelnen Satz oder den einzelnen Teil der insgesamt 55 Szenen, sondern das Ganze, das heißt, er hat den Geist zu erfassen und in angemessenes Deutsch zu kleiden versucht. Dabei sind ihm manch hinreißende Partien gelungen. Dagegen ist die englische Fassung zwar korrekt und für das Fachpublikum zuverlässig, doch für den Laien vergleichsweise steif ausgefallen. Mit Blick auf das Gesamtwerk von Tang Xianzu muß das Urteil von Jonathan Chaves überraschen, der seine Übersetzungen der repräsentativen Gedichte unseres Dramatikers mit der Bemerkung einleitet, diese teilten mit den gelehrten Arien in Die Rückkehr der Seele die Einheit von lyrischem Ton und dichter Diktion. In der Tat hält die Lyrik gut einen Vergleich mit der Dichtung der Ming-Dynastie aus. Da auch die Prosa Auskunft zum Dramatiker gibt, wäre eine Gesamtbetrachtung für ein angemessenes Verständnis längst überfällig. Eine kommentierte Gesamtausgabe des Werkes, die nicht wie bislang das Theater (so Qian Nanyang 1978) von Prosa und Poesie (so Xu Shuofang 1982) trennt, liegt jedoch erst seit 1998 vor. Die Sekundärliteratur verweist gern auf die Zeitgenossenschaft von Tang Xianzu mit William Shakespeare (1564 ‒ 1616). Beide starben im selben Jahr. Doch ist es nicht angängig, wie gern suggeriert, in dem Chinesen den chinesischen Shakespeare zu sehen. Hier wären nur formal Ähnlichkeiten nachzuweisen. WERKAUSGABEN: Tang Xianzu xiqu ji, hg. von Qian Nanyang, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1978; Tang Xianzu shiwen ji, hg. von Xu Shuofang, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1982; Tang Xianzu quanji, 3 Bde., hg. u. komm. von Xu Shuofang, Peking: Beijing Guji, 1998. ÜBERSETZUNGEN: Tang Hsiän Dsu: Die Rückkehr der Seele. Ein romantisches Drama, übers. von Vincenz Hundhausen, 3 Bde., Zürich u. Leipzig: Rascher, 1937; The Peony Pavilion (Mudan Ting), übers. von Cyril Birch, Bloomington: Indiana University Press, 1980; The Columbia Book of Later Chinese Poetry. Yüan, Ming, and Ch’ing Dynasties (1279 ‒ 1911), übers. von Jonathan Chaves, New York: Columbia University Press, 1986, S. 338‒343; L’Oreiller Magique, übers. von André Levy, [Paris:] Édition MF, 2007.

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Tao Yuanming 陶淵明 SEKUNDÄRLITERATUR: Josephine Huang Hung: Ming Drama, Taipeh: Heritage, 1966, S. 134‒174; C.T. Hsia: »Time and the Human Condition. The Plays of T’ang Hsien-tsu«, in: Wm. Theodore de Bary: Self and Society in Ming Thought, New York u. London: Columbia University Press, 1980, S. 249‒290; Mao Xiaotong: Tang xianzu yanjiu ziliao huibian, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1986; Tang Xianzu lungao, hg. von Zhou Yude, Peking: Wenhua Yishu, 1991; Marion Eggert: »Du Liniang, das Käthchen von Heilbronn und die Lust des Träumens«, in: minima sinica 1/1992, S. 37‒56; Xu Shuofang: Tang Xianzu pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1993; Zou Zizhen: Tang Xianzu zonglun, Chengdu: Bashu Shushe, 2001; Zou Yuanjiang: Tang Xianzu xinlun, Taipeh: Guojia, 2005. [WK/TZ]

Tao Qian (→) Tao Yuanming Tao Yuanming 陶淵明 (eig. Tao Qian, zi: Yuanliang, Yuanming, hao: Jingjie xiansheng, 365 – 427), geb. in Chaisang im Kreis Xunyang (heute Kreis Xingzi, Provinz Jiangxi) Tao Yuanming gilt nicht nur als der berühmteste Dichter der Östlichen JinDynastie (317 – 419), sondern neben (→) Xie Lingyun als bedeutendster Dichter der Vor-Tang-Zeit überhaupt. Beiden gelang es, zu Zeiten einer wenig tiefgründigen und artifiziellen Lyrik im »Palaststil« (gongti) eine eigenständige und souveräne Dichtung von herausragender Qualität hervorzubringen. Wie auch Xie Lingyun widmete sich Tao Yuanming vor allem der Landschaftslyrik, einem Genre, dem diese beiden Dichter zum Durchbruch verhalfen. Es ist eher unwahrscheinlich, daß sie sich kannten, denn Tao Yuanming stammte aus wesentlich einfacheren Verhältnissen als Xie. Taos Familie hatte in der Vergangenheit durchaus Zugang zu einflußreichen Ämtern gehabt, war aber lange vor seiner Geburt verarmt. Er selbst hatte zwar die Möglichkeit zu einer bescheidenen Beamtenkarriere, doch zeigte er sich in ihr nur wenig beständig. Die ersten beiden Posten gab er jeweils schon nach wenigen Monaten wieder auf. Im Jahr 405 legte er das dritte und letzte Amt als Magistrat des Ortes Pengze nach nur drei Monaten mit den Worten nieder, er wolle »nicht für fünf Scheffel Reis seinen Rücken vor einem Flegel krümmen müssen« (Günther Debon). Noch für Jahrhunderte sollten Generationen frustrierter Beamter sich seinen Mut herbeisehnen: Tao Yuanming kehrte für die restlichen 22 Jahre seines Lebens allen gesellschaftlichen Pflichten den Rücken und zog sich auf sein Landgut zurück, wo er nach eigenem Zeugnis Feld und Garten bestellte und den Wein genoß. Nirgendwo sonst hätte seine in schlichter und direkter Sprache gehaltene Naturlyrik besser gedeihen können als hier. Dabei widmete sich seine Lyrik immer wieder auch – den eigenen Rückzug ins Private hinterfragend – jener »Spannung zwischen Pflicht und Neigung« (Thomas Harnisch). Einige wenige seiner mehr

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Tian Han 田汉

als 120 Gedichte sind in (→) Xiao Tongs Literarischer Anthologie (Wenxuan) enthalten. WERKAUSGABEN: Tao Yuanming ji, komm. von Lu Qinli, Peking: Zhonghua Shuju, 1979. ÜBERSETZUNGEN: Tao Yüan-ming. Pfirsichblütenquell, übers. von Ernst Schwarz, Leipzig: Insel, 1967; The Poetry of T’ao Ch’ien, übers. von James Robert Hightower, Oxford: Clarendon, 1970; Tʼao Yüan-ming. His Works and their Meaning, übers. von Albert Richard Davis, 2 Bde., Hongkong: Hongkong University Press, 1983; Anna Bernhardi: Tʼao Yüan-ming. Leben und Werk eines chinesischen Dichters, Nachdruck: Hamburg: Bell, 1985; Tao Yuanming. Der Pfirsichblütenquell. Gesammelte Gedichte, hg. von KarlHeinz Pohl, Köln: Diederichs, 1985. SEKUNDÄRLITERATUR: Fang Zushen: Tao Qian shi jianzhu jiaozheng lunping, Taipeh: Meiya, 1971; Charles Yim-tze Kwong: Tao Qian and the Chinese Poetic Tradition, Ann Arbor: The University of Michigan, 1994. [HP]

Tian Han 田汉 (eig. Tian Shouchang, Pseudonyme: Han’er Yisheng, Bo Hong, Ming Gao etc., 1898 ‒ 1968), geb. in Changsha (Provinz Hunan) 1898 kam Tian Han in Changsha zur Welt. Nach dem frühen Tod des Vaters lag die Erziehung des Kindes allein bei der Mutter. 1917 brachte sein Onkel mütterlicherseits ihn nach Japan. Zunächst machte er eine Ausbildung bei der Marine, wenig später studierte er an einer Pädagogischen Hochschule in Tokio Erziehungswissenschaft. In der Folge der Bewegung des 4. Mai (1919) gründete er 1921 gemeinsam mit (→) Guo Moruo, (→) Cheng Fangwu und (→) Yu Dafu die »Schöpfungsgesellschaft« (Chuangzaoshe), eine Vereinigung der chinesischen Studenten in Japan, die gegen jegliche Form feudal-gesellschaftlicher Fesselungen und für die freie Entfaltung des Individuums stand. 1922 kehrte Tian Han nach Shanghai zurück und wurde Redakteur eines Verlags und Dozent an der Universität Shanghai. Zeitgleich widmete er sich mit großem Engagement der Entwicklung der Film- und Theaterkunst in China. Er gründete ein Filmstudio und organisierte überregionale Aufführungen von Theaterstücken. Sein Erstlingswerk, das Theaterstück Huan Eʼlin und die Rose (Huan Eʼlin yu meigui), erschien 1919, es folgten weitere Werke wie Eine Nacht im Café (Kafeidian zhi yi ye, 1922), Die Nacht des Tigerfangs (Huo hu zhiye, 1924), Der Tanz des Feuers (Huo zhi tiaowu, 1929), Nachtgespräch in Suzhou (Suzhou yehua, 1929), Das Krankenzimmer Nr. 5 (Di wu hao bingshi, 1930), Ein kleiner Zwischenfall auf dem Land (Jiangcun xiaojing, 1931), Mutter (Muqin, 1932) und Sieben Frauen in Sturm und Regen (Baofengyu zhong de qi ge nüxing, 1932). Während sich in der Anfangsphase rebellische und romantische Tendenzen in seinen Werken zeigten, spürt man in seinen späteren Stücken einen Hauch von Melancholie und Verbitterung. Als der Krieg gegen Japan ausbrach (1937), widmete er sich überwiegend dem Thema des Widerstands gegen die japanischen Aggressoren. Nach 1949

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Tian Han 田汉

brachte er Theaterstücke wie Guan Hanqing (Guan Hanqing [Eigenname], 1958), Prinzessin Wencheng (Wencheng gongzhu, 1961) und Xie Yaohuan (Xie Yaohuan [Eigenname], 1961) heraus. Das historische Stück Guan Hanqing ist das einflußreichste unter ihnen. Es entlarvt die Unterdrückung durch die herrschenden Mächte und zeigt das große Verlangen des Protagonisten Guan Hanqing nach Gerechtigkeit. Tian Han gilt als der Begründer der modernen chinesischen Theaterkunst. Durch sein Engagement erlebte das chinesische Theater ein Frühlingserwachen. Parallel zu seinem eigenen Schaffen führte er auch viele ausländische Theaterstücke auf und machte diese unter dem chinesischen Publikum bekannt. Durch seine solide Ausbildung in der klassischen Lyrik sind die Dialoge in seinen Werken sprachlich einfach und dennoch voller poetischer Schönheit. Tian Han hat den Text der chinesischen Nationalhymne verfaßt. Während der Kulturrevolution wurde er politisch verfolgt und in Haft genommen, wo er 1968 verstarb. WERKAUSGABEN: Tian Han wenji, 16 Bde., Peking: Zhongguo Xiju, 1983. ÜBERSETZUNGEN: »Rückkehr nach Süden«, übers. von Bernd Eberstein, in: ders.: Moderne Stücke aus China, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 301‒320; »Eine Nacht im Café«, übers. vom Arbeitskreis für moderne chinesische Literatur, in: minima sinica 2/2001, S. 53‒82; »Lebenswille. Ein Einakter«, übers. von Heike Stutzriem, in: minina sinica 2/2009, S. 103‒111; »Die Geister am Klavier. Ein Einakter«, übers. von Marc Hermann, Silvia Roelcke u. Imme Zacharias, in: minima sinica 1/2010, S. 96‒110; »Ein kleiner Zwischenfall auf dem Land. Ein Einakter«, übers. von Marc Hermann u. Anja Lohmann, in: minima sinica 1/2010, S. 92‒103. SEKUNDÄRLITERATUR: Jarmila Haringova: »The Development of Tian Han’s Dramatic Writing during the Years 1920 ‒ 1937«, in: Studies in Modern Chinese Literature, hg. von Jaroslav Prusek, Berlin: Akademie-Verlag, 1964, S. 131–157; Bonnie S. McDougall: »The Search for Synthesis: T’ien Han and Mao Tun in 1920«, in: Search for Identity. Modern Literature and the Creative Arts in Asia, hg. von A.R. Davis, Sydney: Angus and Robertson, 1974, S. 225‒254; Elizabeth Bernard: »T’ian Han’s ›Reactionary Works‹: 1956 ‒ 1962«, in: 30th International Congress of Human Sciences in Asian and North Africa, China 1, hg. von Graciela de la Lama, Mexico City: Colegio de Mexico, 1982, S. 288–323; Lily Hsiao Hung Lee: »Local Colour in Two of T’ien Han’s Early Works«, in: The Journal of the Oriental Society of Australia 15/16, 1983/84, S. 102‒116; Randy Kaplan: The Pre-leftist One-act Dramas of Tian Han (1898 ‒ 1968), Diss., The Ohio State University, 1986; Rudolf Wagner: »A Guide for the Perplexed and a Call to the Wavering: Tian Han’s Guan Hanqing (1958) and the New Historical Drama«, in: ders.: The Contemporary Chinese Historical Drama, Berkeley: University of California Press, 1990, S. 1‒79; Rudolf Wagner: »Tian Han’s Peking Opera Xie Yaohuan (1961)«, in: ders.: The Contemporary Chinese Historical Drama, Berkeley: University of California Press, 1990, S. 80‒138; Lidia Kasarello: »Über die Modernität der frühen Stücke von Tian Han«, in: Autumn Floods. Essays in Honour of Marián Gálik, hg. von Raoul David Findeisen u. Robert H. Gassmann, Bern: Peter Lang, 1998, S. 323‒333; Xiaomei Chen: »Reflections on the Legacy of Tian Han: ›Proletarian Modernism‹ and Its

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Tie Ning 铁凝 Traditional Roots«, in: Modern Chinese Literature and Culture 18, 1 (Spring 2006), S. 155‒215. [WH]

Tie Ning 铁凝 (1957 ‒), geb. in Peking In Peking geboren, wurde Tie Ning 1975 nach der Schule wie ihre Altersgenossen aufs Land nach Boye in der Provinz Liaoning geschickt. Schon da begann sie zu schreiben. Erzählungen wie »Die fliegende Sense« (»Huifei de liandao«), »Unterwegs in der Nacht« (»Yelu«) und »Die Geschichte des Küchenfeuers« (»Zaohuo de gushi«) waren literarische Produkte dieser Zeit. Ab 1978 wurde sie von der Landarbeit in die Abteilung für berufliches Schreiben der Stadt Baoding in der Provinz Hebei versetzt und konnte sich von dieser Zeit an ausschließlich dem Schreiben widmen. Ab 1984 arbeitete sie in der Stadt Shijiazhuang (Provinz Hebei) im staatlichen Studio für literarisches Schaffen und wurde Mitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes. Die literarischen Themen, die Tie Ning in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgegriffen hat, umkreisen das Landleben und die schlichte und dennoch zufriedene Lebenseinstellung der dortigen Jugend. Erzählungen wie »Oh, Xiangxue« (»Ou, Xiangxue«), »Gesprächsthemen im Juni« (»Liuyue de huati«) und die Novelle »Die knopflose rote Bluse« (»Mei you niukou de hong chensan«) erhielten nationale Literaturpreise. Nach der Öffnungspolitik wandelte sich der Schreibstil Tie Nings. Sie ging nun über die reine Beschreibung der Verhältnisse hinaus und analysierte die menschliche Psyche in Zeiten des Wirtschaftswunders. Ihr neuestes Werk ist der zweibändige Roman Die Psychologin (Nü xinli yishi), in dem sie die inneren Krisen des Menschen unter der Last der Zeit beschreibt. WERKAUSGABEN: Tie Ning xiaoshuo ji, Shijiazhuang: Huashan Wenyi, 1985ff. ÜBERSETZUNGEN: Haystacks, Peking: Panda, 1990. SEKUNDÄRLITERATUR: Xiaoming Chen: »The Extrication of Memory in Tie Ning’s Woman Showering: Privacy and the Trap of History«, in: Chinese Concepts of Privacy, hg. von Bonnie S. McDougall u. Anders Hansson, Leiden: Brill, 2002, S. 195‒208; Terry Siu-han Yip: »Place, Gender and Identity: The Global-Local Interplay in Three Stories from China, Taiwan and Hong Kong«, in: Sights of Contestation. Localism, Globalism and Cultural Production in Asia and the Pacific, hg. von Kwok-kan Tam et al., Hongkong: Chinese University Press, 2002, S. 17‒34. [WH]

Tu Long 屠隆 (zi: Changqing, Weizhen, hao: Chishui, Hongbao jushi, 1542 ‒ 1605), geb. in Yinxian (Provinz Zhejiang) Tu Long war nach erfolgreich abgelegter Doktorprüfung (jinshi) auf mehreren Präfektenposten in Anhui und Jiangsu tätig und diente später als Sekretär im Ritenministerium. Während dieser Tätigkeiten erfreute er sich der Bekanntschaft mit

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Tu Shen 屠绅

einer Reihe illustrer Persönlichkeiten, darunter Shen Mingchen und Feng Mengzhen. Möglicherweise war es Tus lebenszugewandte Art, der Genuß von Dichtung, Wein und Spiel, der ihm später den Vorwurf eintrug, er habe eine Affäre mit der Frau des adligen Freundes Song Shi’en gehabt. Nach dem Verlust seines Postens war Tu darauf angewiesen, sich mit dem Verkauf seiner Texte durchzuschlagen, und führte eine unsichere Existenz, die ihm etwas von einem taoistischen Heiligen verlieh, der ruhelos durch die Natur schweift. Tu Long war ein vielseitiger Autor, diverse Sammlungen seiner Schriften sind der Nachwelt überliefert. Viele seiner Werke, die offensichtlich aus einer spontanen Eingebung heraus verfaßt wurden, entbehren nicht, wie bereits (→) Wang Shizhen bemerkte, einer eigentümlichen Schönheit. Besonders hervorzuheben sind drei von Tu verfaßte Dramen, die unter dem Sammeltitel Musikdramen aus der Halle der Phönixfeier (Fengyi ge yuefu) bekannt sind. Tu war aber nicht nur Bühnenautor, mitunter mischte er sich auch selbst unter die Schauspieler. So wenig ausgearbeitet die Dramentexte manchmal auch wirken, kommt in ihnen doch eine bestimmte Entwicklung zum Ausdruck. Indem er die Dialoge betonte und die musikalischen Anteile hintansetzte, unterstrich Tu Long die Bedeutung ausgefeilter Wortwahl, eine Tendenz, die mehr als ein Jahrhundert zuvor bereits von Shao Can (gest. Mitte des 15. Jahrhunderts) eingeleitet worden war. WERKAUSGABEN: Baiyuji, Taipeh: Weiwen Tushu, 1977; Tu Long shihua, in: Ming shihua quanbian, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Zheng Run: Jin Ping Mei he Tu Long, Shanghai: Xuelin, 1994. [TZ]

Tu Shen 屠绅 (zi: Xianshu, hao: Huyan, Leike shanren, Shuyu yisun, 1744 ‒ 1801), geb. in Jiangyin (Provinz Jiangsu) Tu stammte aus einem bäuerlichen Haushalt und wurde früh zum Waisen. Aufgrund seiner wachen Intelligenz erlangte er 1764 den Doktortitel (jinshi), woraufhin ihm die Leitung einer Magistratur in Yunnan übertragen wurde. Später stieg er noch zum Präfekten von Dianzhou und zum Vizeverwaltungschef von Guangzhou auf. In seinem Amtsgebiet war er ein gefeierter Gelehrter und umgänglicher Zeitgenosse, in der Überlieferung wird ihm als Frauenliebhaber ein gewisser Ruhm zugesprochen. Zu seinem männlichen Freundeskreis zählten u.a. Hong Liangji und Huang Jingren. Tu starb 1801 in Peking, während er noch auf einen Lehrplatz in der Akademie wartete. Literarisch gilt Tu Shen als ein Verehrer (→) Tang Xianzus. Sein eigener Stil besitzt etwas Dunkles, Altertümelndes, bei dem vieles im Vagen bleibt. Insgesamt neigte er zu unverbindlichen Plaudereien. An Werken sind seine Kleinen Bemer-

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Wang Anshi 王安石

kungen zu den sechs Beziehungen innen und außen (Liu he nei wai suoyan) in zwanzig Kapiteln, der Roman Geschichte der Motte (Tanshi) und die Poetischen Bemerkungen aus dem Fischadler-Pavillon (Eʼting shihua) nennenswert. WERKAUSGABEN: Tanshi, Peking: Zhongguo Xiju, 1993.

[TZ]

Wang Anshi 王安石 (auch: Linchuan xiansheng, zi: Jiefu, hao: Banshan, posthumer Ehrenname: Wang Wengong, 1021 ‒ 1086) geb. in Linchuan (Provinz Jiangxi) Wie kein zweiter hat Wang Anshi, Staatsmann, Dichter, Essayist und Philosoph, die Geister der zweiten Hälfte der Nördlichen Song-Zeit (960 – 1127) bewegt und geschieden. Hochbegabt, sowohl in den Klassikern wie auch auf verschiedensten Fachgebieten (Medizin, Botanik, Landwirtschaft) belesen, war er gleichzeitig vertraut mit den Landschaften und Zuständen zahlreicher Provinzen, da sein Vater, der Provinzbeamte Wang Yi, ihn stets auf seine häufig wechselnden Amtsstellen mitgenommen hatte. Hier schon entwickelte er ein besonderes Gespür für das Los der arbeitenden Bevölkerung. 1042 bestand er die Prüfung zum Doktor (jinshi), schlug dann mehrere Angebote für ein Amt am Hofe aus, um sich in einigen Provinzen für das Wohl seiner Gemeinden einzusetzen. Hautnah erlebte Fehlentwicklungen veranlaßten ihn 1058 zu einer »Eingabe von zehntausend Schriftzeichen an den Kaiser Renzong« (»Shang Renzong huangdi wan yan shu«), in der er grundlegende Reformen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens (Finanzen, Handel und Gewerbe, Bildung, Landwirtschaft, Heer, Verwaltung) einforderte, die durch staatlich geregelte Maßnahmen das Gemeinwesen neu ordnen, das Reich stärken, Monopole aufbrechen und den kleinen Leuten bessere Lebensbedingungen verschaffen sollten. Kaiser Renzong (reg. 1023 ‒ 1063) reagierte nicht darauf. Erst der junge Kaiser Shenzong (reg.1068 ‒ 1086) begeisterte sich für Wangs Vorschläge und rief ihn 1070 zu deren Durchführung als Kanzler an den Hof. Wang Anshi, kühn in seinen Ideen, wortgewaltig, klar, schlüssig und suggestiv in seinen Schriften, auch lauter in seinen Absichten, hatte jedoch, in einer Art »Ungeduld des Herzens« (Stefan Zweig), nicht die Gabe, hochbefähigte Zweifler und Andersdenkende zu überzeugen, geschweige denn, sie in seine Politik mit einzubeziehen, sowie aufrichtige Beamte um sich zu scharen, die seine Ideen vorbildhaft hätten umsetzen können. So spaltete sich die Beamtenschaft in Anhänger und Gegner, und entsprechend den wechselnden Machtverhältnissen vertrieben die einen die anderen. 1076 zog sich Wang Anshi, der Auseinandersetzungen müde und gebrochen durch den Tod seines einzigen Sohnes, auf sein Anwesen bei Nanjing zurück, schreibend, meditierend, auf Eselsrücken die Landschaft durchstreifend. Literarisch gesehen war er ein Anhänger der Neuen guwen-Bewegung (vgl. [→] Ouyang Xiu), die sprachlich wie gedanklich die Rückbesinnung auf die kon-

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Wang Anshi 王安石

fuzianischen Gründerväter forderte, und hier fand er – der zu den Acht Großen Prosameistern der Tang- (618 – 907) und Song-Zeit (960 – 1279) gezählt wurde – uneingeschränkte Anerkennung. Für seine Dichtkunst bevorzugte er in seinen jüngeren Jahren die freiere Form des Gedichtes im alten Stil, die Raum schaffte für seine sozialkritischen Themen wie Not, Ausbeutung, menschliche Tapferkeit (beispielhaft in Gedichten wie »Menschen von Hebei« [»Hebeiren«] oder »Landannexionen« [»Jianbing«]). In seinen späteren Jahren nutzte er die strengere Form des Regelgedichts für schlichte, aber starke Naturbilder, die eine neue Abgeklärtheit andeuten (so in »Auf dem Strom« [»Jiangshang«] und »Winterpflaumenblüten« [»Meihua«]). Zu seiner Prosa gehören Briefe, die sich durch kurze, knappe und doch kunstvolle Argumentation auszeichnen (z.B. die »Antwort auf den Brief des Mahners Sima Guang« [»Da Sima jianyi shu«]). Seine Reisebeschreibungen (youji), so etwa die »Betrachtungen über eine Wanderung auf dem Baochan-Berg« (»You Baochanshan ji«), dienen als Ausgangspunkt für Betrachtungen über das Leben, als Mittel, dem Gesetz des Wesens der Dinge (li) auf den Grund zu gehen, wobei er »die emotionale Anteilnahme nicht verborgen« hält (W. Kubin). Mit seinen Kommentaren zu den Klassikern Buch der Lieder (Shijing), Buch der Dokumente (Shujing) und Riten der Zhou (Zhouli) führte er eine neue Form der Exegese ein, die er für die Doktorprüfungen (jinshi) verbindlich machte (Neue Auslegung der drei Klassiker [San jing xin yi]). Auch veröffentlichte er eine Neue Herleitung der Schriftzeichen (Zishuo), der sich alle Gelehrten des Reiches anschließen sollten. Philosophisch setzte er sich mit der menschlichen Natur (yuan xing) und den Gefühlen (qing) auseinander und folgte dabei Yang Xiongs These, »daß die Natur sich dem Guten und dem Bösen zuwenden könne« (A. Forke). Aus seinem Leben und Werk ergibt sich das Bild eines genialen, eigenwilligen Streiters, dessen Epoche ihm das Verständnis verweigerte und der selbst zu keinem Kompromiß bereit war. WERKAUSGABEN: Wang Anshi quanji, komm. von Zhang Yuxia, Changchun: Shidai Wenyi, 2001. ÜBERSETZUNGEN: Der Bericht Wang Ngan-schis [d.i. Wang Anshi] von 1058 über Reform des Beamtentums. Ein Beitrag zur Beurteilung des Reformators, übers. von Otto Franke, Berlin: Verlag der Akademie der Wissenschaften, 1932; Der Ruf der Phönixflöte. Klassische chinesische Prosa, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, 2 Bde., Berlin: Rütten & Loening, 1973, Bd. 1, S. 351‒355; Chinese Classical Prose: The Eight Masters of the Tang-Song Peroid, übers. von Shih Shun Liu, Hongkong: Chinese University Press, 1979, S. 348‒359; Chinesische Geisteswelt. Zeugnisse aus drei Jahrtausenden, übers. von Günther Debon u. Werner Speiser, Hanau: Werner Dausien, 1987, S. 182‒196. SEKUNDÄRLITERATUR: H.R. Williamson: Wang Anshi, 2 Bde., London: Probsthain, 1935; John Meskill: Wang An-shih: Practical Reformer?, Boston: Heathland, 1967; Kojiro Yoshikawa: An Introduction to Sung Poetry, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973, S. 85‒97; Song shi jianshang cidian, komm. von Miao Yue et al., Shanghai: Cishu, 32007, S. 199‒255; Tang-Song ba da jia wen pindu cidian, hg. u. komm. von Wu Xiaolin et al., 2 Bde., Peking: Xin Shijie, 2008, S. 857‒976. [BD]

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Wang Anyi 王安忆

Wang Anyi 王安忆 (1954 ‒), geb. in Nanjing (Provinz Zhejiang) Wang Anyi kam 1954 als Tochter der Schriftstellerin Ru Zhijuan in Nanjing zur Welt. 1970 absolvierte sie die Mittelschule in Shanghai und wurde unmittelbar danach aufs Land geschickt. 1972 wurde sie als Cellistin in das Musikensemble des Bezirks Xuzhou (Provinz Jiangsu) aufgenommen. Nach Shanghai kehrte sie 1978 zurück und wurde Redakteurin der Zeitschrift Zeit der Kindheit (Ertong shidai), einer Zeitschrift für Kinder und Jugendliche. Davor hatte sie bereits mehrere erfolgreiche Kurzgeschichten für Kinder und Jugendliche verfaßt. Einige davon wurden mehrfach ausgezeichnet. 1984 erschien ihr erster Roman Die Mittelschulabsolventen des Jahrgangs 1969 (Liujiu jie chuzhongsheng), 1985 folgte die Novelle »Das Dorf Xiaobao« (»Xiaobao zhuang«), die ihr den Platz einer bedeutenden Schriftstellerin der Gegenwartsliteratur Chinas sicherte. Darin beschreibt sie mit scharfem Beobachtungssinn und hoher sprachlicher Präzision das Leben der Menschen in einem chinesischen Dorf während der Mao-Ära: die Stumpfsinnigkeit und drückende Langsamkeit des Dorflebens und die ärmlichen, primitiven Lebensverhältnisse der Dorfbewohner. Treffsicher in der Beschreibung der Figuren und überzeugend in der Reflexion ihrer psychischen Situationen vermochte Wang Anyi auch ihre späteren Stoffe zu bearbeiten. Während Wang Anyi bis Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts ihre Lebenserfahrungen in den ländlichen Gegenden literarisch verarbeitet hatte, wandte sie sich danach den Themen der Stadtmenschen zu. Immer wieder thematisierte sie in ihren literarischen Werken das Phänomen der Liebe. Die Werke Liebe auf dem kahlen Berg (Huangshan zhi lian, 1986), Kleinstadtliebe (Xiaocheng zhi lian, 1986) und Liebe im verwunschenen Tal (Jinxiu gu zhi lian, 1987) fallen in diese Schaffensphase. In den 90ern schrieb sie weitere Romane, die sich vom Themenspektrum her auf die Großstadtmenschen in Shanghai und ihre nostalgischen Gefühle konzentrieren. Diese Nostalgie, die dem unwiederbringlich Verlorenen aus der Glanzzeit Shanghais in den 30ern nachhängt, kann man auch in (→) Chen Danyans Werken wiederfinden. Wang Anyi drückt diese Nostalgie beispielsweise in ihrem Roman Lied von unendlicher Liebe und Sehnsucht (Chang hen ge, 1995) aus: Die Protagonistin, Konkubine eines reichen Mannes, bleibt nach der Gründung der VR China 1949 zurück und durchlebt ein Leben, das mit seinen Höhen und Tiefen eng an die Veränderungen der Gesellschaft angelehnt ist und schließlich mit einem grotesken Tod endet. Wang Anyi ist eine wichtige Vertreterin der Gegenwartsliteratur Chinas. In ihren Werken widmet sie sich insbesondere den weiblichen Figuren und ihren Schicksalen in von Politik dominierten Zeiten. Sie gewann verschiedene bedeutende Literaturpreise in China. WERKAUSGABEN: Yu, shashasha, Shanghai: Baihua Wenyi, 1981; Wang Anyi zhong-duanpian xiaoshuo ji, Shanghai: Zhongguo Qingnian, 1983; Xiao baozhuang, Peking: Zuojia,

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Wang Bo 王勃 1985; Huanghe gu dao ren, Chengdu: Sichuan Wenyi, 1986; Huangshan zhi lian, Hongkong: South China Press, 1988; Lü De de gushi, o.O.: Jiangsu Wenyi, 1990; Wang Anyi zixuanji, 6 Bde., Peking: Zuojia, 1996; Chang hen ge, Haikou: Nanhai, 2003. ÜBERSETZUNGEN: Wege, übers. von Andrea Döteberg, mit einem Vorwort von Anne Engelhardt u. Ng Hong-chiok, Bonn: Engelhardt-Ng, 1985; Kleine Lieben, übers. von Karin Hasselblatt, München: Hanser, 1988; Zwischen Ufern, übers. von Silvia Kettelhut, mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Berlin: Quintessenz, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: W.L. Chong: »Love and Sexuality: Themes from a Lecture by Woman Writer Wang Anyi«, in: China Information 3, 3 (Winter 1988 ‒ 1989), S. 64f.; Xueping Zhong: »Sisterhood? Representations of Women’s Relationships in Two Contemporary Chinese Texts«, in: Gender and Sexuality in Twentieth Century Chinese Literature and Society, hg. von Tonglin Lu, Albany: State University of New York Press, 1993, S. 157‒173; Bonnie S. McDougall: »Self-Narrative as Group Discourse: Female Subjectivity in Wang Anyi’s Fiction«, in: Asian Studies Review 19, 2 (November 1995), S. 1‒24; Ulrike Solmecke: Zwischen äußerer und innerer Welt. Erzählprosa der chinesischen Autorin Wang Anyi von 1980 – 1990, Dortmund: projekt verlag, 1995; Yi-tsi Mei Feuerwerker: »The Post-Modern ›Search for Roots‹ in Han Shaogong, Mo Yan, and Wang Anyi«, in: dies.: Ideology, Power, Text. Self-Representation and the Peasant »Other« in Modern Chinese Literature, Stanford: Stanford University Press, 1998, S. 188‒238; Helen H. Chen: »Gender, Subjectivity, Sexuality: Defining a Subversive Discourse in Wang Anyi’s Four Tales of Sexual Transgression«, in: China in a Polycentric World. Essays in Chinese Comparative Literature, hg. von Yingjin Zhang, Stanford: Stanford University Press, 1999, S. 90‒109; Kathleen Wittek: Wang Anyi zwischen Fiktion und Autobiographie, Bochum: Sektion Sprache und Literatur Chinas, Ruhr-Universität Bochum, 1999; Gang Yue: »Embodied Spaces of Home: Xiao Hong, Wang Anyi, and Li Ang«, in: The Mouth that Begs. Hunger, Cannibalism, and the Politics of Eating in Modern China, Durham: Duke University Press, 1999, S. 293‒330; Xiaobing Tang: »Melancholy against the Grain: Approaching Postmodernity in Wang Anyi’s Tales of Sorrow«, in: Postmodernism and China, hg. von Xudong Zhang u. Arif Dirlik, Durham: Duke University Press, 2000, S. 358‒378; Xudong Zhang: »Shanghai Nostalgia: Postrevolutionary Allegories in Wang Anyi’s Literary Production in the 1990s«, in: Positions 8, 2/2000, S. 349‒387; Patricia Sieber: »Wang Anyi«, in: dies. (Hg.): Red Is Not the Only Color: Contemporary Chinese Fiction on Love and Sex between Women. Collected Stories, Lanham, Maryland: Rowman and Littlefield, 2001, S. 191‒193; Jiwei Xiao: »Can She Say No to Zhang Ailing? Detail, Idealism, and Woman in Wang Anyi’s Fiction«, in: Journal of Contemporary China 56, August 2008, S. 513‒528. [WH]

Wang Bo 王勃 (zi: Ziʼan, um 650 – 676), geb. vermutlich in Longmen (heute Hejin, Provinz Shanxi) Wang Bo entstammte einer angesehenen Beamtenfamilie und wurde als hochbegabtes Kind bereits früh bei Hofe präsentiert. Seine erste Anstellung fand er als

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Wang Bo 王勃

Vorleser im Haushalt des Prinzen Pei (Li Xian, 655 – 687), nebenher studierte er Medizin und tat sich mit ersten Prosatexten hervor. Um das Jahr 667 mußte er das Haus des Prinzen verlassen, da sein Tadel der Vorliebe des Prinzen für den Hahnenkampf nicht dem Prinzen, sondern ihm selbst zum Vorwurf gemacht wurde. Trotz seiner hervorragenden intellektuellen Fähigkeiten konnte er nach diesem Vorfall in der Hauptstadt keinen Posten mehr finden. Zwischen 669 und 672 bereiste Wang Bo die Provinz Sichuan und entfaltete dort sein schriftstellerisches Können. Er brillierte vor allem im Stil der pianwen-Prosa, jener Gattung aus der Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420 – 581), die noch in die frühe Tang-Zeit (618 – 907) hinein nachwirkte. Später beschränkte sich ihre Verwendung auf behördliche Dokumente und Prüfungsaufsätze, doch im 7. Jahrhundert wurde die durch strengen Parallelismus und Endreime gekennzeichnete pianwen-Prosa noch literarisch genutzt, z.B. für einleitende Worte zu Gedichten. Wang Bos berühmtester Text ist eine solche Vorrede im pianwen-Stil: die »Vorrede auf den Pavillon des Prinzen Teng« (»Tengwangge xu«). Nach seiner ausgedehnten Sichuan-Reise lebte Wang Bo für zwei Jahre in Guozhou (nahe dem heutigen Kreis Lingbao, Provinz Henan), einer für ihre Heilpflanzen berühmten Gegend. Dort tötete er 674 einen entflohenen Sklaven, den er zuvor bei sich versteckt hatte, und entkam durch eine Generalamnestie nur knapp der eigenen Hinrichtung. Wang Bo floh nach Süden, um sich seinem in Sippenhaft nach Jiaozhi (nahe Hanoi, Vietnam) verbannten Vater anzuschließen. Er starb jedoch auf dieser Reise unter nicht mehr restlos zu klärenden Umständen im Alter von nur 27 Jahren. Als Prosaautor zählt Wang Bo – neben Luo Binwang (ca. 640 – 684), Lu Zhaolin (ca. 637 – ca. 689) und Yang Jiong (650 – ca. 694) – zu den »Vier großen Dichtern der Frühen Tang-Zeit« (Chu Tang si jie). Insbesondere seine lyrischen Reisebeschreibungen machten Schule, denn sie bewirkten durch ihren (noch zaghaften) Mut, auch das Alltägliche und Individuelle zur Sprache zu bringen, langfristig eine Abkehr vom Primat der höfischen Literatur. Yang Jiong gab kurz nach Wang Bos Tod die erste Anthologie seiner Werke heraus, doch von ihr ist nur Yangs Vorwort erhalten geblieben. Die älteste erhaltene Werkausgabe ist ein Ming-zeitlicher Nachdruck (1552) einer nicht mehr erhaltenen Ausgabe aus dem Jahr 1007. WERKAUSGABEN: Wang Ziʼan ji, in: Sibu congkan, Bd. 35, Shanghai: Shangwu Yinshuguan, 1936. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demieville, Paris: Gallimard, 1962, S. 202f.; The Poetry of the Early T’ang, übers. von Stephen Owen, New Haven u. London: Yale University Press, 1977, S. 123‒ 137; Victor H. Mair: Mei Cherng’s Seven Stimuli and Wang Bor’s Pavilion of King Terng. Chinese Poems for Princes, Lewiston: E. Mellen Press, 1988, S. 103‒139; Inscribed Landscapes. Travel Writing from Imperial China, übers. von Richard E. Strassberg, Berkeley: University of California Press, 1994, S. 105‒110. [HP]

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Wang Can 王粲

Wang Can 王粲 (zi: Zhongxuan, 177 – 217), geb. in Gaoping (heute Provinz Shandong) Wang Can zählte zu der Gruppe der »Sieben Meister der Jian’an-Periode (196 – 220)« (Jianʼan qi zi), zu der auch Chen Lin (gest. 217), Kong Rong (153 – 208), Liu Zhen (gest. 217), Ruan Yu (ca. 165 – 212), Xu Gan (171 – 218) und Ying Yang (gest. 217) gehörten. Wang Can, die wohl kreativste Figur dieses Dichterkreises, entstammte einer aristokratischen Familie aus Shandong, die es in der Vergangenheit zu hohen Ämtern gebracht hatte. Im Jahr 190, als sich das Ende der Han-Dynastie bereits abzuzeichnen begann, mußte Wang Can in den Bürgerkriegswirren die Hauptstadt Luoyang verlassen und zunächst in Changʼan (heute Xiʼan) ein unscheinbares Leben fristen. 193 floh er weiter nach Jingzhou (diese alte Region umfaßte die heutigen Provinzen Hubei, Hunan und Teile Guizhous) an den Hof des Liu Biao (gest. 208), eines streitbaren Verwandten des Han-Kaiserhauses, der sein Territorium südlich des Yangtse im Widerstand gegen (→) Cao Cao zu halten versuchte, doch auch dort wurde Wang Can nur geduldet. Erst als er sich im Jahr 208 auf die Seite (→) Cao Caos schlug und in ihm und seinen Söhnen (→) Cao Pi und (→) Cao Zhi großzügige Förderer fand, gelangte er selbst als Palastaufseher (shizhong) zu Amt und Würden. Insbesondere mit Cao Zhi verband ihn eine tiefe Freundschaft. Wang Can starb im Alter von nur 40 Jahren – offensichtlich zusammen mit einigen seiner Dichterfreunde – auf einem Feldzug gegen den Staat Wu. Sein überliefertes Werk umfaßt 25 fünfsilbige Gedichte (wuyan gushi), 24 zum Teil nurmehr fragmentarisch erhaltene Poetische Beschreibungen (fu) und über 20 Essays. Wang Can, der jüngste unter den »Sieben Meistern der Jianʼan-Periode«, ließ seine ausgezeichnete Kenntnis der literarischen Tradition auf bemerkenswert spontane und originelle Weise in sein eigenes themenreiches Werk einfließen. Seine fu-Gedichte – berühmt wurde die »Poetische Beschreibung einer Turmbesteigung« (»Dengloufu«) – enthalten frühe Landschaftsbeschreibungen sowie erkennbar eigene Gedanken. Der vielzitierte Realismus der »Sieben Meister der JianʼanPeriode« kommt besonders in seinem dreiteiligen Gedicht »Siebenfacher Kummer« (»Qiʼaishi«) zum Ausdruck. Wie nach ihm (→) Du Fu dokumentierte er darin das Grauen des Krieges. WERKAUSGABEN: Wang Can jizhu, hg. u. komm. von Wu Yun u. Tang Shaozhong, Zhengzhou: Zhongzhou Shuhuashe, 1984; Jianʼan qi zi shiwen ji jiaozhu xiangxi, hg. von Han Geping, Zhangzhun: Jilin Wenshi, 1991. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 289f. et passim; Ronald C. Miao: Early Medieval Chinese Poetry. The Life and Verse of Wang Tsʼan (A.D. 177 – 217), Wiesbaden: Steiner, 1982; Xiao Tong: Wen xuan, or Selections of Refined Litera-

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Wang Changling 王昌龄 ture, Bd. II, übers. von David R. Knechtges, Princeton: Princeton University Press, 1987, S. 237‒241. [HP]

Wang Changling 王昌龄 (zi: Shaobo, ca. 690 – ca. 756), geb. in Chang’an (Provinz Shaanxi) Wang Changling, einer der wichtigsten Dichter der Tang-Blütezeit, wurde in der Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan) geboren, damals mit zwei Millionen Einwohnern eine Weltstadt. Akademisch brillant, erlangte er im Jahr 727 nicht nur den jinshi-Doktortitel, sondern vermutlich im Jahr 734 auch den höchsten akademischen Grad eines boxue hongzi. Trotz dieser optimalen Voraussetzungen blieb ihm ein höheres Amt verwehrt. Eine Weile stand er (wie auch [→] Meng Haoran) als Sekretär in den Diensten Zhang Jiulings (678 – 740), jenes hervorragenden Literaten und Kanzlers, der Kaiser Xuanzong vergeblich vor den Machtgelüsten des Generals An Lushan gewarnt hatte und 736 entlassen worden war. Wang Changling bezog in der Folge einen Beamtenposten in Sishui (heute Provinz Henan), wurde jedoch 738 wegen seiner Verbindung zu Zhang Jiuling für kurze Zeit in den damals noch unwegsamen Süden nach Guangdong verbannt. Nachdem man ihm die Rückkehr in den Norden gestattet hatte, erhielt er ein Amt in Jiangning (heute Nanjing). In den Jahren der Rebellion des An Lushan (755 – 757) kam Wang Changling vermutlich gewaltsam zu Tode. Von seinen rund 190 überlieferten Gedichten ist mehr als die Hälfte in der Kurzform des Vierzeilers (jueju) verfaßt, bevorzugt im siebensilbigen Vierzeiler. Wang Changling perfektionierte diese Gedichtform, indem er – mit eigenen Worten – »lebendige Wesen mit Kopf, Bauch und Schwanz« schaffen wollte. Viele seiner Gedichte kreisen um das Thema des Abschieds, auch reflektierte er die kriegerischen Konflikte seiner Zeit. Letztere Gedichte gerieten jedoch zuweilen ins Klischeehafte, wie dies auch bei seinem Freund (→) Gao Shi der Fall war. Auch das Bild der von Trauer überwältigten, verlassenen Frau, hinter dem so mancher Dichter damals die Klage über das eigene berufliche Scheitern zu verbergen suchte, hat Wang oft bemüht. In seinem letzten Lebensdrittel waren seine Gedichte bekannter und populärer als die seiner Zeitgenossen (→) Meng Haoran, (→) Wang Wei und (→) Li Bai. Ein bemerkenswerter literaturkritischer Text Wang Changlings, das »Lied über die Dichtung« (»Shige«), ein Vorläufer des Song-zeitlichen (960 – 1279) Genres der shihua (»Gespräche über die Dichtung«), wurde erst in jüngster Zeit in den Aufzeichnungen des japanischen Mönches Kūkai (774 – 835), dem Bunkyō hifuron, wiederentdeckt. WERKAUSGABEN: Wang Changling shi ji jiaozhu, hg. u. komm. von Li Guosheng, Taipeh: Wenshizhe, 1973. ÜBERSETZUNGEN: Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 218f.; Lyrik des Ostens: China, hg. von Wilhelm Gundert,

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Wang Chong 王充 München: Hanser, 1962, S. 85; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch: Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 45‒50. SEKUNDÄRLITERATUR: Richard W. Bodman: Poetics and Prosody in Early Mediaeval China, Diss., Cornell University, 1978, S. 22‒98, 363‒403; Stephen Owen, The Great Age of Chinese Poetry: The High T’ang, New Haven u. London: Yale University Press, 1981, S. 91‒103; Joseph J. Lee: Wang Ch’ang-ling, Boston: Twayne, 1982. [HP]

Wang Chong 王充 (zi: Zhongren, 27 – ca. 97 n.Chr.), geb. in Kuaiji (heute Kreis Shangyu, Provinz Zhejiang) Wang Chong war einer der originellsten und unabhängigsten Denker der Späteren Han-Dynastie (25 – 220 n.Chr.). Aus ärmlichen Verhältnissen stammend und verwaist, konnte er dennoch als Kind die Schule besuchen und dank seines brillanten, vermutlich photographischen Gedächtnisses ab dem Jahr 54 an der kaiserlichen Akademie in der damaligen Hauptstadt Luoyang studieren. Einer seiner Lehrer war der Historiker Ban Biao, der Vater (→) Ban Gus. Im Jahr 59 begab er sich nach Changʼan (heute Xiʼan), der Hauptstadt der Frühen Han-Zeit. Eine Weile arbeitete er als Bezirkssekretär, wählte jedoch bald das ungebundene Leben eines Lehrers und Privatgelehrten. Gegen Ende seines Lebens erhielt er späte Anerkennung durch einen Ruf an den Kaiserhof, doch er war bereits zu krank, um der Einladung des Kaisers folgen zu können. Wang Chong starb vermutlich 97 in seiner Heimatstadt Kuaiji. Neben mehreren kürzeren, vor allem politisch motivierten Schriften gilt die zwischen den Jahren 70 und 80 entstandene Schrift Abwägung der Lehrmeinungen (Lunheng) als Wangs Hauptwerk. Von ehemals vermutlich etwa 100 Kapiteln sind noch 85 erhalten, wobei von Kapitel 44 nur noch der Titel bekannt ist. Zudem ist die Autorenschaft des letzten, augenscheinlich autobiographischen Kapitels zweifelhaft. Mit seinen rationalistischen und naturalistischen Ansichten schwamm Wang Chong in einem Zeitalter der Mystik und des Aberglaubens entschieden gegen den Strom. Den Einfluß religiös-daoistischen Gedankenguts auf die konfuzianische Lehre, wie ihn die »Neutext-Schule« des (→) Dong Zhongshu zuließ, kritisierte Wang scharf. Er forderte dagegen die Emanzipation vom Himmel, indem er dessen Vorgänge für spontan erklärte. Der Himmel handle weder für noch gegen den Menschen. Angesichts seiner Bemühungen, die vergleichsweise pragmatischen Ansätze der frühen konfuzianischen Texte zu verteidigen, hat man ihn einen Vertreter der sogenannten »Alttext-Schule« genannt. Da der Konfuzianismus, 136 v.Chr. zur Staatsideologie erhoben, danach zusehends »verwässert« worden war, nahm Wang Chong innerhalb seiner eigenen Schule eine singuläre Position ein. So machte er sich gegen den Trend der Zeit zum Advokaten eines kritischen, präzisen und nahezu empiristischen Wissensbegriffes. Sein Werk, das erst nach der Han-Dynastie größere Verbreitung fand, war zu allen Zeiten höchst umstritten. Dies ist zum einen auf seine unbändige und zum

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Wang Fuzhi 王夫之

Teil ungewöhnlich scharfe Sprache zurückzuführen, zum andern wohl auch auf die Tatsache, daß sich seine Abhandlungen jeder Vereinnahmung durch die eine oder andere Schulrichtung entzogen haben. Zuletzt scheiterte im 20. Jahrhundert der Versuch, Wang Chong als »materialistischen« Denker zu feiern. WERKAUSGABEN: Lunheng, in: Zhuzi jicheng, Bd. 7, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1978; Lunheng suoyin, hg. von Cheng Xiangqing et al., Peking: Zhonghua Shuju, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Lun-heng. Philosophical Essays of Wang Ch’ung, 2 Bde., übers. von Alfred Forke, London: Luzac & Co., 1907 (Bd. 1), Berlin: Georg Reimer, 1911 (Bd. 2) [Nachdruck: New York: Paragon Book Gallery, 1962]. SEKUNDÄRLITERATUR: Donald Leslie: »Contributions to a New Translation of the Lunheng«, in: T’oung Pao, XLIV (1956), S. 100‒149; Alfred Forke: Geschichte der mittelalterlichen chinesischen Philosophie, Hamburg: de Gruyter, 21964, S. 110–130; Timoteus Pokora: »The Works of Wang Ch’ung«, in: Archiv Orientálni 36 (1968), S. 122‒134; Kung-chuan Hsiao: A History of Chinese Political Thought, Princeton: Princeton University Press, 1979, Bd. 1, S. 582–601. [HP]

Wang Dexin (→) Wang Shifu Wang Fuzhi 王夫之 (zi: Ernong, hao: Jiangzhai, Chuanshan, Yi hu daoren, Xitang, 1619 ‒ 1692), geb. in Hengyang (Provinz Hunan) Wang war ein Gelehrter, der vor allem dank seiner Studien zur Philosophie und zu den Klassikern weit über seine Zeit hinaus Bekanntheit erlangte. Eine Beamtenkarriere blieb ihm jedoch aufgrund der schwierigen Umstände der Zeit verwehrt. Zwar legte er 1642 noch die Prüfung zum Magister (juren) ab, doch der Sturz der Ming-Dynastie zwei Jahre später stellte ihn vor die Wahl, sich entweder den mandschurischen Eroberern oder dem im Niedergang begriffenen Kaiserhaus anzuschließen. Aus Loyalität folgte Wang zunächst dem nach Süden flüchtenden Ming-Prinzen, doch nachdem dessen Truppen aufgerieben waren und ein Eintritt in die Dienste der Mandschuren für Wang nicht in Frage kam, zog er sich schließlich 1651 ins heimatliche Hengyang zurück und widmete sich von nun an nur noch seinen Studien. Neben seinen Schriften zu den Klassikern tat sich Wang auch als Literaturkritiker und -theoretiker hervor, worauf sich sein späterer Ruhm in der Wissenschaft vor allem gründet. Bei der Abfassung seiner Schriften griff er auf die zu seiner Zeit üblichen Formen der Anthologie und des literarischen Traktats zurück. Sein zentrales poetologisches Werk sind die Bemerkungen Jiangzhais zur Dichtkunst (Jiangzhai shihua); darin sind posthum Ausführungen aus verschiedenen weiteren Schriften zum Thema zusammengefügt. Der wichtigste Gedanke in Wangs Poetologie ist dabei wohl, daß die Dichtung eine vom Menschen ausgehende Aktivität

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Wang Fuzhi 王夫之

ist, seinem moralischen wie geistigen Wachstum dient und ihm im Idealfall ein Leben im Einklang mit dem Universum ermöglicht. Die Dichtkunst, so Wang, dürfe dabei nicht verwechselt werden mit Gelehrsamkeit und Bildung im konfuzianischen Sinne. Als etwas von den Bereichen des Wissens Unabhängiges unterliege die Dichtung keinen vom Menschen geschaffenen Gesetzen oder Regeln. Auch die Frage nach Maßstäben war damit für Wang obsolet. Ebenso verwarf er die Bildung von Gelehrtenschulen, in denen er nur eine Anleitung zur Nachahmung sah. Vielmehr sollten die inneren Bewegungen eines Gedichtes nach Wang von der Absicht und dem Willen des Poeten geleitet sein. Nur so könnten Werke mit einem eigenen, reichen Leben entstehen. Die unserem abendländischen Verständnis so geläufige Vorstellung vom Poeten als Schöpfer blieb bei Wang dagegen eher schwach ausgeprägt. Vielmehr stellte er den Dichter in ein dichtes Beziehungsnetz von Welt und Sprache, wobei der Dichter von einer Art »unbewußtem Bewußtsein« durchdrungen sei, d.h. vor allem frei von äußeren Ansprüchen, inneren Wünschen usw. Für Wang befand sich der Dichter in einem harmonischen Einklang mit dem Universum; durch diesen inneren Frieden werde Dichtung überhaupt erst möglich. Kernbegriffe in Wangs Poetologie sind daher »Gefühl« (qing) und »Szenerie« (jing), d.h. die Einheit von emotionaler und visueller Erfahrung des Dichters. Wang gab jedoch nicht nur der Schaffung, sondern auch der Lektüre von Dichtung neue Impulse. So wandte er sich ab von einer durch den Dichter vorgegebenen Werkintention und vertrat vielmehr die Vorstellung einer Deutung dichterischer Werke durch den Leser. Jeder könne ein Gedicht so lesen und verstehen, wie er es wünsche und wie es seinen eigenen emotionalen Reaktionen entspreche, doch geschehe dies keineswegs willkürlich, sondern hänge – und hier denkt Wang durchaus konfuzianisch – von der inneren geistig-moralischen Konstitution des einzelnen ab. Darüber hinaus war Wang auch im Bereich der Geschichtswissenschaft ein origineller Geist. Seine beiden Schriften Notizen zum historischen Almanach (Du Tongdian lun) und Abhandlung über die Song (Song lun) zeichnen sich durch ein ungewöhnliches Geschichtsverständnis aus. Aus den von Wang formulierten Auffassungen läßt sich die Forderung ableiten, daß die richtige Regierung dem Volk zu dienen hat. Diese vor dem zeitlichen Hintergrund der Abfassung als antimandschurisch zu verstehenden Ansichten hatten später großen Einfluß auf die chinesischen Intellektuellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. WERKAUSGABEN: Chuanshan quanshu, 16 Bde., Changsha: Yuelu, 1988 ‒ 1996. ÜBERSETZUNGEN: Notes on Poetry from the Ginger Studio, übers. von Siu-kit Wong, Hongkong: Chinese University Press, 1987; »Three Excerpts from Shi Guangzhuan«, übers. von Siu-kit Wong, in: Renditions 33 & 34 (Spring & Autumn 1990), S. 182‒187. SEKUNDÄRLITERATUR: Alison Harley Black: Man and Nature in the Philosophical Thought of Wang Fu-chih, Seattle: University of Washington Press, 1989; Ian McMorran:

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Wang Guowei 王国维 The Passionate Realist. An Introduction to the Life and Political Thought of Wang Fuzhi (1619 ‒ 1692), Hongkong: Sunshine, 1992. [TZ]

Wang Guowei 王国维 (eig. Wang Dezhen, zi: Jing’an, Boyu, hao: Litang, Guantang, Yongguan, 1877 ‒ 1927), geb. in Haining (Provinz Zhejiang) Wang war wohl eine der widersprüchlichsten Persönlichkeiten im China des frühen 20. Jahrhunderts. Als Denker, Schriftsteller, Gelehrter, gelegentlich verwickelt ins politische Geschäft, führte er insgesamt ein höchst wechselvolles Leben. Was seine Motive waren, als er 1927 im Pekinger Sommerpalast Selbstmord beging – ob er eine letzte große Veränderung suchte –, ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Nach dem Scheitern bei den Beamtenprüfungen wandte sich Wang dem Studium der europäischen Sprachen zu und beschäftigte sich dabei mit westlicher Philosophie, wobei vor allem Kant, Schopenhauer und Nietzsche Einfluß auf sein Denken gewannen. Die durch sein Studium entwickelten ästhetischen Konzepte wandte er auf die chinesische Literatur an. Bahnbrechend für die chinesische Literaturkritik wurde seine 1904 verfaßte Kritische Studie zum Traum der Roten Kammer (Hongloumeng pinglun). Wang sah in dem klassischen Roman ein herausragendes Beispiel für die zwingende Dramatisierung der ewigen Spannungen zwischen Wünschen und Zielen der Menschen und der Sublimierung des daraus resultierenden Leidens durch die Kunst. Diesen Ansatz sollte Wang auch bei seinen weiteren Untersuchungen verfolgen, die sich zwischen 1908 und 1912 auf die Ursprünge und Entwicklung des Dramas zur Zeit der Song (960 – 1279) und Yuan (1279 – 1368), die Rollenfächer der Schauspieler, die Melodien usw. erstreckten; zwar sind die Spuren westlicher Denker noch deutlich zu erkennen, doch suchte und fand Wang die Beispiele für die Exemplifizierung immer wieder vor allem in der überlieferten chinesischen Literatur. Der abrupte Abbruch seiner Forschungen zur traditionellen chinesischen Literatur um die Zeit der Republikgründung 1911 war verbunden mit einem mehrjährigen Aufenthalt – bis 1916 – in Japan, wo Wang 1901 kurze Zeit zum Studium verbracht hatte. In Japan nahm er auch seine Forschungen zu historischen und sprachwissenschaftlichen Themen wieder auf, wobei er vor allem den antiken Orakelknocheninschriften seine Aufmerksamkeit widmete. Nach China zurückgekehrt, unterrichtete er zunächst in Shanghai an einer von dem Kaufmann Hardoon gegründeten Universität, bevor er ab 1923 im Gefolge eines immer reaktionärer werdenden Denkens die Unterrichtung des jungen letzten Mandschu-Kaisers Puyi übernahm. Auf japanischen Druck hin mußte Puyi jedoch nach Tientsin übersiedeln, was Wang Gelegenheit gab, eine Professur an der Pekinger Tsinghua-Universität anzunehmen und sich der Erforschung der Geschichte der Mongolen zuzuwenden. Die inhaltliche Breite von Wangs forscherischem Schaffen kann nicht verbergen, daß es durchaus kontroverse Ansichten zur Natur seines Hauptwerks gibt.

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Wang Jiusi 王九思

Neben der Studie zum Traum der Roten Kammer sind von bleibendem Wert aber sicherlich die Gespräche über Lieddichtung (Renjian cihua) geblieben, eine Sammlung von literaturtheoretischen Schriften, in denen Wang auf kunstvolle Weise Vorstellungen aus der traditionellen Literaturkritik mit Ansichten der westlichen Ästhetik verbindet. Neben zahlreichen Beispielen aus der klassischen chinesischen Dichtung eröffnet Wang in seinem Werk auch einen Ausblick auf die Rolle des Dichters und seines Werkes in der Welt. Nicht zuletzt durch die Einbeziehung westlicher Denker in seine Überlegungen haben Wangs Schriften erheblichen Einfluß auf die literaturtheoretischen Erörterungen in China während der zurückliegenden Jahrzehnte gewonnen. WERKAUSGABEN: Wang Guowei lun xue ji, hg. von Fu Jie, Peking: Zhongguo Shehui Kexue, 1997; Wang Guowei wenji, hg. von Yao Ganming et al., 4 Bde., Peking: Zhongguo Wenshi, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Wang Kuo-weiʼs Jen-chien tzʼu-hua. A Study in Chinese Literary Criticism, übers. von Adele Austin Ricket, Hongkong: Hong Kong University Press, 1977. SEKUNDÄRLITERATUR: Hermann Kogelschatz: Wang Kuo-wei und Schopenhauer. Eine philosophische Begegnung, Wiesbaden: Steiner, 1986; Yuan Yingguang: Wang Guowei pingzhuan, Shanghai: Shanghai Renmin, 1999; Hu Qiuhua: »Wang Guowei und Immanuel Kant: Zu den Anfängen der Interkulturalität im China der späten Qing-Dynastie«, in: Monumenta Serica 53 (2005), S. 337‒360. [TZ]

Wang Jiusi 王九思 (zi: Jingfu, hao: Meipo, Zige shanren, 1468 ‒ 1551), geb. in Huxian (heute Provinz Shaanxi) Wang Jiusi wurde in eine namhafte und gebildete Familie hineingeboren. 1489 erwarb er den Magistertitel (juren) und 1496 den Doktortitel (jinshi). Unter der Protektion des einflußreichen Dichters und Literaturkritikers (→) Li Dongyang (1447 ‒ 1516) machte er schnell Karriere in der Hauptstadt. Doch als er sich in Peking (→) Kang Hai (1465 ‒ 1541) und (→) Li Mengyang (1475 ‒ 1529), die eine Rückkehr zur alten Prosa (guwenci) befürworteten, zuwandte, fiel er in Ungnade. Er wurde wegen Cliquenbildung aus der Hanlin-Akademie entlassen und zunächst einem unteren Posten in der Provinz Anhui zugewiesen. Als er auch diesen aufzugeben hatte, kehrte er heim und widmete sich zusammen mit Kang Hai »Wein und Gesang«, d.h., er trank, musizierte und dichtete. Auf diese Weise machte er sich einen Namen als einer der besten Literaten der Ming-Zeit (1368 – 1644). Trotz seiner 360 überlieferten nachklassischen Lieder (sanqu) ist er heute hauptsächlich als Dramatiker bekannt, und zwar wegen seines Einakters Der Wolf von Zhongshan (Zhongshan lang yuanben) sowie wegen seines Vierakters (zaju) über den Dichter (→) Du Fu (712 ‒ 770): Du Fu kauft Wein und erfreut sich des Frühlings (Du Zimei gu jiu you chun ji, 1519). Das erste Stück ist ein Remake, u.a.

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Wang Meng 王蒙

nach der bekannten Vorlage des Freundes Kang Hai. Das zweite Stück kleidet die politischen Intrigen, die sein Verfasser am Hofe erlebt hat, in eine Satire, die zwei »böse« Minister der Tang-Zeit (618 ‒ 907) aufs Korn nimmt und gleichzeitig den Rückzug der Dichter Du Fu und (→) Cen Shen (715 ‒ 770) preist. Allgemein wird diese »Aufzeichnung vom Frühlingsausflug« (you chun ji) biographisch gelesen und Du Fu mit dem Verfasser gleichgesetzt. Das Spiel ist lyrischer Natur und entwickelt keinen besonderen Plot. Es bedient sich vieler Verse von Du Fu und gestaltet jeden Akt nach einem entsprechenden Gedicht. Der Rückzug vom Amt und der Genuß des Eremitentums unterscheiden sich hier von der Einsiedelei, wie sie in den nachklassischen Liedern des Autors besungen wird. Besagte Lieder zeigen einen Eremiten, der aus dem Amt gedrängt wurde, während die Gestalt des Du Fu das Amt freiwillig aufgegeben hat. WERKAUSGABEN: Bishan yuefu, komm. von Shen Guangren, Shanghai: Shanghai Guji, 1989; Meipo ji, Meipo xu ji, Shanghai: Shanghai Guji, 2002. ÜBERSETZUNGEN: Eight Chinese Plays. From the 13th Century to the Present, übers. von William Dolby, London: Elek, 1978, S. 93‒102 [»Wolf of Mount Zhong«]; The Columbia Book of Later Chinese Poetry: Yüan, Ming, and Ch’ing Dynasties (1279 ‒ 1911), übers. von Jonathan Chaves, New York: Columbia University Press, 1986, S. 192‒203. SEKUNDÄRLITERATUR: Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 233‒235; Tan Tianyuan: »Shixu zhi kangheng – Wang Jiusi quzuo zhong de liang zhong guiyin«, in: Xiju yanjiu 3 (2009), S. 49‒74. [WK]

Wang Meng 王蒙 (1934 ‒), geb. in Peking Wang Meng besuchte ab 1945 eine Mittelschule in Peking. Beeinflußt von der kommunistischen Ideologie, trat er bereits 1948 der Kommunistischen Partei bei und wurde aktiv im Verband der kommunistischen Jugend Chinas. 1953 erschien sein erster Roman Es lebe die Jugend (Qingchun wansui), der 1979 in ergänzter Fassung neu aufgelegt wurde. In diesem Roman beschreibt er die jungen Chinesen in ihrem Engagement und ihrer Begeisterung für das neue Leben nach sowjetischem Vorbild. 1956 veröffentlichte er die kurze Erzählung »Der Neuling in der Organisationsabteilung« (»Zuzhibu xinlai de nianqingren«), in der er die Bürokratie in der Parteiorganisation kritisierte. Wegen seiner vermeintlichen Nähe zur Sowjetunion und seiner kritischen Haltung gegenüber der Vorgehensweise der Kommunistischen Partei Chinas wurde er politisch verbannt und aufs Land geschickt. 1962 arbeitete er für kurze Zeit als Dozent an der Pädagogischen Hochschule in Peking. Während der Kulturrevolution (1966 – 1976) fiel er erneut in Ungnade. Diesmal mußte er sehr weit von Peking wegziehen und bis 1979 in der Provinz Xinjiang bleiben. Dort arbeitete er als Bauer, Kommunenvorsitzender, als Übersetzer und später als Kader im Kulturbereich der autonomen Provinz Xinjiang.

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Wang Meng 王蒙

1979 kehrte Wang Meng nach Peking zurück und hatte verschiedene politische Funktionen inne. Er veröffentlichte ab dieser Zeit kurze Erzählungen und Romane. Zu nennen sind die Erzählungen »Die Stimme des Frühlings« (»Chun zhi sheng«, 1980), »Schmetterlinge« (»Hudie«, 1980), »Winterregen« (»Dongyu«, 1980), »Kunterbunt« (»Zase«, 1981), »Das schwere Wiedersehen« (»Xiangjian shi nan«, 1982), »Die hellgrauen Augen« (»Danhuise de yanzhu«, 1984), »Der Mondschein in Kanada« (»Jianada de yueliang«, 1984) und der Roman Rare Gabe Torheit (Huodong bian renxing, 1986). Aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtete er darin die gesellschaftlichen Veränderungen. In den 90er Jahren dominierten kritische Essays zur Literatur und zum Schaffen anderer chinesischer Autoren sein Werk. Mit seinen Untersuchungen zum Roman Der Traum der Roten Kammer (Hongloumeng) des (→) Cao Xueqin machte er sich als Experte in der Hongloumeng-Forschung einen Namen. Sein Werk Inspirationen zum Hongloumeng (Honglou qishilu, 1991) gehört zu den wichtigen aktuellen Forschungsbeiträgen zu diesem Roman. Wang Meng ist ein Schriftsteller mit einer langen Publikationsliste. In seinem Schreiben verfolgt er das künstlerische Ideal, mit realistischen, kritischen, romantischen und humorvollen Elementen eine literarische Welt zu kreieren. WERKAUSGABEN: Qingchun wansui, Peking: Renmin Wenxue, 1979; Wang Meng xiaoshuo baogao wenxue xuan, Peking: Beijing Chubanshe, 1981; Huodong bian renxing, Peking: Renmin Wenxue, 1987; Wang Meng wenji, 10 Bde, Peking: Huayi, 1993. ÜBERSETZUNGEN: »Der Neuling in der Organisationsabteilung«, übers. von Gerhard Will, in: Hundert Blumen. Moderne chinesische Erzählungen, Bd. 2: 1949 – 1979, hg. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 83–149; Der Schmetterling, übers. von Klaus B. Ludwig, Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur, 1986; Das Auge der Nacht, übers. von Irmtraud Fessen-Henjes, mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Zürich: Unionsverlag, 1987; Ein Schmetterlingstraum. Erzählungen, übers. von Hannelore Salzmann, Berlin: Aufbau, 1988; Lauter Fürsprecher und andere Geschichten, hg. von Inse Cornelssen u. Sun Junhua, Bochum, 1989; »Schön gesagt«, übers. von Annabel Goey, in: Orientierungen 2/1992, S. 85‒90; Rare Gabe Torheit, übers. von Ulrich Kautz, Frauenfeld: Waldgut, 1994; »Die Wissenschaft vom Baden. Ein Winterthema«, übers. von Anja Schmitz u. Christian Schwermann, in: minima sinica 2/1996, S. 101‒132. SEKUNDÄRLITERATUR: R. David Arkush: »One of the Hundred Flowers: Wang Meng’s ›Young Newcomer‹«, in: Papers on China 18 (1964), S. 155‒186; William Tay: »Wang Meng, Stream-of-consciousness, and the Controversy over Modernism«, in: Modern Chinese Literature 1, 1 (1984), S. 7‒24; Philip Williams: »Stylistic Variety in a PRC Writer: Wang Meng’s Fiction of the 1979‒1980 Cultural Thaw«, in: Australian Journal of Chinese Affairs 11 (1984), S. 59‒80; Ling Ch’a: »Wang Meng’s Rustication and Advancement«, in: Issues and Studies 22, 9 (1986), S. 50‒61; Helmut Martin: »Painful Encounter: Wang Meng’s Novel Hsiang chien shih nan and the ›Foreign Theme‹ in Contemporary Chinese Literature«, in: China and Europe in the Twentieth Century, hg. von Yu-ming Shaw, Taipeh: Institute of International Relations, National

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Wang Shifu 王实甫 Chengchi University, 1986, S. 32‒42; Geremie Barme: »A Storm in a Rice Bowl: Wang Meng and Fictional Chinese Politics«, in: China Information 7, 2 (Autumn 1992), S. 12‒19; Tze-chang Chang: »Isolation and Self-Estrangement: Wang Meng’s Alienated World«, in: Issues and Studies 24, 1 (Jan. 1988), S. 140‒154; Wendy Larson: »Wang Meng’s Buli (Bolshevik salute): Chinese Modernism and Negative Intellectual Identity«, in: Wang Meng, Bolshevik Salute. A Modernist Chinese Novel, übers. von Wendy Larson, Seattle: University of Washington Press, 1989, S. 133‒154; William Tay: »Modernism and Socialist Realism: The Case of Wang Meng«, in: World Literature Today 65, 3 (1991), S. 411‒413; Gladys Yang: »Wang Meng and his Fiction«, in: The Time is Not Ripe: Contemporary China’s Best Writers and Their Stories, hg. von Yang Bian, Peking: Foreign Languages Press, 1991, S. 238‒245; Anne Sytske Keyser: »Wang Meng’s Story ›Hard Thin Gruel‹: A Socio-Political Satire«, in: China Information 7, 2 (Autumn 1992), S. 1‒11; Rudolf Wagner: Inside the Service Trade. Studies in Contemporary Chinese Prose, Cambridge, Mass.: Council on East Asian Studies, Harvard University, 1992, S. 193‒212, 481‒531; Yi-tsi Mei Feuerwerker: »Text, Intertext, and the Representation of the Writing Self in Lu Xun, Yu Dafu, and Wang Meng«, in: From May Fourth to June Fourth. Fiction and Film in Twentieth-Century China, hg. von Ellen Widmer u. David Wang, Cambridge: Harvard University Press, 1993, S. 167‒193; Min Lin u. Maria Galikowski: »Wang Meng’s ›Hard Porridge‹ and the Paradox of Reform in China«, in: Min Lin u. Maria Galikowski: The Search for Modernity. Chinese Intellectuals and Cultural Discourse in the Post-Mao Era, New York: St. Martin’s Press, 1999, S. 71‒88; Dening Zhang u. Yi Jing: »Open Our Hearts to the Panoramic World: An Interview with Wang Meng«, in: Chinese Literature Spring 1999, S. 5‒24; Wolfgang Kubin: »Lacht der Heilige? Bemerkungen zum Humor bei Wang Meng«, in: minima sinica 2/2004, S. 1‒14. [WH]

Wang Shifu 王实甫 (eig. Wang Dexin, zwischen 1230 und 1300), geb. in Dadu (heute Peking) Von dem Verfasser des berühmten Singspiels Das Westzimmer (Xixiang ji) ist so gut wie nichts Sicheres bekannt. Vermutlich gehörte er zu den Theaterleuten, die berufsmäßig Mongolendramen (zaju) für die kommerziell betriebenen Bühnen im heutigen Peking lieferten. Er muß eine klassische Bildung genossen haben, aber auch mit der leichten Muse vertraut gewesen sein. Wang Shifu werden dreizehn, nach anderen Quellen vierzehn Spiele zugeschrieben, von denen allerdings nur drei vollständig überliefert worden sind. Hierzu gehört zum einen Das Westzimmer, für das mitunter immer noch fälschlicherweise Guan Hanqing als Co-Autor ‒ zumindest für den fünften Akt ‒ und das Entstehungsdatum 1350 angeführt werden. Zum anderen sind da Die Halle zum schönen Frühling (Lichuntang) und Die Aufzeichnung vom verfallenen Brennofen (Po yao ji) zu nennen. Außerdem finden sich noch einzelne Arien als Überbleibsel aus Stücken wie Der Lotospavillon (Furongting) und Das Teehandelsschiff (Fancha chuan) sowie das eine oder andere nachklassische Lied (sanqu).

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Wang Shizhen 王世贞

Das Westzimmer ist nach wie vor eines der berühmtesten chinesischen Theaterstücke. Es geht auf verschiedene Vorlagen zurück, wobei die einflußreiche Erzählung »Goldamsel« (»Yingying zhuan«) von (→) Yuan Zhen (779 ‒ 831) am Anfang steht. In beiden Fällen steht die freie Gattenwahl im Mittelpunkt. Während jedoch der Aspekt der Leidenschaft in der prosaischen Bearbeitung nur kurz angesprochen und dann zu guter Letzt negativ beschieden wird, wird er gleichsam zum eifrig lancierten Programm der dramatischen Neuauflage und damit zur Möglichkeit eines Happyends. Eine Passion, die zur Liebeskrankheit führt, läßt sich zwar bereits in der Lyrik der Tang-Zeit (618 ‒ 907) nachweisen, doch kaum für die Literatur der Yuan-Zeit (1279 ‒ 1368). Wir müssen daher davon ausgehen, daß Das Westzimmer bei seiner Edierung in sechzig verschiedenen Ausgaben (!) ab 1498 eine Zuspitzung erfahren hat, denn der Geist der Ming-Zeit (1368‒1644) setzt auf das Gefühlsleben des Menschen und relativiert die neokonfuzianische Sicht von der notwendigen Unterdrückung menschlichen Begehrens. Unser Stück ist vielfach in verschiedene Sprachen übersetzt worden, darunter am poetischsten in die deutsche von Vincenz Hundhausen (1878 ‒ 1955), und zwar mit Hilfe von chinesischen Gelehrten. Es teilt sich nicht in die üblichen vier Akte, sondern in fünf Spiele (ben) zu jeweils vier Akten (zhe). Es behandelt das gängige Thema vom Scholaren und der Schönen, allerdings auf eine sehr humorvolle, anspielungsreiche und poetische Weise, so daß darüber der Inhalt unwichtig wird. Die Liebe der jungen Leute, wider alle Sitte frei in einem Tempel genossen, vermag sich gegen alle äußeren Widerstände durchzusetzen und in einer für alle Seiten zufriedenstellenden Ehe zu münden. Gleichwohl hat sich das Stück bis ins letzte Jahrhundert hinein den Vorwurf der Unzucht gefallen lassen müssen. WERKAUSGABEN: Jiping jiaozhu Xixiang ji, hg. von Wang Jisi, Zhang Renhe, Shanghai: Shanghai Guji, 1987. ÜBERSETZUNGEN: Wang Sche-fu: Das Westzimmer, übers. von Vincenz Hundhausen, Nachdruck: Leipzig: Insel, 1978; The Moon and the Zither. The Story of the Western Wing, übers. u. hg. von Stephen H. West u. Wilt L. Idema, Berkeley et al.: University of California Press, 1991. SEKUNDÄRLITERATUR: William Dolby: »Wang Shifu’s Influence and Reputation« in: Ming Qing yanjiu 3 (1994), S. 19‒45. [WK]

Wang Shizhen 王世贞 (zi: Yuanmei, hao: Fengzhou, Yanzhou shanren, 1526 ‒ 1590), geb. in Taicang (Provinz Jiangsu) Wang Shizhen gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der chinesischen Literatur im späten 16. Jahrhundert. Begünstigt wurde er dabei zunächst durch seine Herkunft aus einer wohlhabenden Familie, zu der eine Reihe wichtiger Amts-

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Wang Shizhen 王世贞

träger zählte. Wang schloß also an die Tradition seiner Vorfahren an, als er 1547 erfolgreich die Doktorprüfung (jinshi) absolvierte und zwischen 1547 und 1556 auf verschiedenen Posten in der Hauptstadt und ab 1557 in den Provinzen diente. Möglicherweise war er noch zu jung und unerfahren sowie ohne den nötigen Einfluß, um eine Familientragödie abzuwenden, die sich auch auf seine weitere Karriere auswirkte. So gelang es ihm nach der Aufgabe seines Postens in der Provinz und der eiligen Rückkehr in die Hauptstadt nicht, die Hinrichtung seines in Ungnade gefallenen Vaters zu verhindern. Die Feindschaft zu dem für die Hinrichtung verantwortlichen Großsekretär Yan Song (1480 ‒ 1567) und später zu dem mächtigen Kanzler Zhang Juzheng (1525 ‒ 1582) vereitelte Wang Shizhens Aussichten auf eine erfolgreiche Laufbahn, und er blieb für die meiste Zeit seines restlichen Lebens ohne ein Amt. Erst 1588 stieg er zum Vizejustizminister auf. Um so klangvoller war Wangs Name in den literarischen Kreisen seiner Zeit. Innerhalb der archaisierenden Literaturrichtung, die während der Ming-Dynastie (1368 – 1644) zur Blüte gelangte, wird er zur Gruppe der »Späteren Sieben Meister« (Hou qi zi) gezählt. Schon früh nach seinem Eintreffen in der Hauptstadt hatte Wang über Li Panlong (1514 ‒ 1570) Zugang zu jener Dichterschule bekommen, die den poetischen Idealen der ältesten Vergangenheit anhing. Aus der Zusammenarbeit mit Li ging auch Wangs Hauptwerk Worte eines übervollen Herzens aus dem Garten der Kunst (Yi yuan zhi yan, zusammengestellt zwischen 1558 und 1565) hervor. Nach Lis Tod wandte sich Wang dann aber von den strengen Doktrinen der Archaiker ab, die auch auf die Werke von so bedeutenden später geborenen Dichtern wie (→) Bai Juyi und (→) Su Shi nur herabblickten. Vielmehr entwickelte Wang in späteren Jahren ein Interesse am Buddhismus und Taoismus und legte sich einen eklektischen Stil zu, was ihm zu seiner Zeit einen weitreichenden Einfluß in der Literatenwelt verschaffte. Dazu trug nicht zuletzt seine hohe literarische Produktivität bei; seine Schriften umfassen mehr als dreihundert Bände, die noch zu Lebzeiten in der Sammlung Schriften des Yanzhou shanren in vier Abteilungen (Yanzhou shanren sibu gao, 1575) erschienen, ergänzt durch eine weitere posthume Sammlung zum Ende der Ming. Eine eigene Sammlung unter dem Titel Weitere Sammlung aus der Halle des Yan-Berges (Yanshantang bieji) enthält Wangs historische Texte. Es dürfte an der Vielfältigkeit von Wangs literarischem Schaffen liegen, daß sein Name immer wieder auch in Verbindung mit Romanen wie dem Jin Ping Mei gebracht worden ist, doch ist seine Autorschaft unsicher. WERKAUSGABEN: Wang Shizhen shihua, hg. von Zhang Xijin, in: Ming shihua quanbian, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. ÜBERSETZUNGEN: »Selected Ming Poems«, übers. von Daniel Bryant, in: Renditions 8 (Autumn 1977), S. 85‒91. SEKUNDÄRLITERATUR: Barbara Kraft: »Wang Shih-chen (1526 ‒ 1590): Abriß seines Lebens«, in: Oriens Extremus 5 (1958), S. 169‒201; Zheng Lihua et al.: Wang Shizhen yanjiu, Shanghai: Xuelin, 2002. [TZ]

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Wang Shizhen 王士祯

Wang Shizhen 王士祯 (zi: Zizhen, Yishang, hao: Ruanting, Yuyang shanren, 1634 ‒ 1711), geb. in Xincheng (Provinz Shandong) Der Qing-zeitliche Wang Shizhen entstammte einer prominenten Beamtenfamilie der Ming-Dynastie (1368 – 1644) und brachte es nach erfolgreich abgelegter Doktorprüfung (jinshi) 1658 bis zum Mitglied des Zensorats und Justizminister. Wangs umfangreiche Schriften, die in verschiedenen Sammlungen erschienen (u.a. Ausgewählte Aufzeichnungen von Yuyang shanren [Yuyang shanren jinghualu], Zufällige Gespräche nördlich des Teiches [Chibei outan] und Poetologische Schriften aus der Daijing-Halle [Daijingtang shihua]) und dichterische Arbeiten ebenso wie theoretische Erörterungen und Essays umfassen, genossen damals unter den Gelehrten der Qing-Zeit ein hohes Ansehen. Was sein dichterisches Werk angeht, so ist Wang vor allem für seine Naturlyrik gerühmt worden. Amtsreisen führten ihn immer wieder in viele Teile des Reiches; die dabei gesammelten Eindrücke hielt er in Naturgedichten fest, die sich durch ihre Anschaulichkeit und Lebendigkeit auszeichnen. Dies war jedoch nur möglich, da Wang die gesamte Partitur der Naturdichtung beherrschte. In der Auseinandersetzung mit Wangs Schaffen stehen aber darüber hinaus immer wieder vor allem seine poetologischen Überlegungen und hier der Begriff shenyun im Mittelpunkt, der gelegentlich als vollkommene spirituelle Beherrschung des dichterischen Mediums sowie als intuitive, »erleuchtete« Wahrnehmung der Realität aufgefaßt wird, und zwar in Entsprechung zu den inneren psychologischen und spirituellen Gegebenheiten, die den individuellen Dichter auszeichnen. Dichtung ist demnach die Verbindung zwischen der Wahrnehmung der objektiven Wirklichkeit durch den Dichter und der subjektiven Stimmung, die diese Realität in ihm auslöst. Anderen Auffassungen zufolge, nach denen shenyun soviel wie »unergründlicher Nachklang« bedeutet, stellt der Begriff kein produktionsästhetisches Prinzip für das Verfassen von Dichtung dar, sondern bezeichnet rezeptionsästhetisch eine bestimmte Qualität der Dichtung. Auch Einflüsse durch den Buddhismus sind bei Wangs Poetologie festgestellt worden, festzumachen an dem dort immer wieder genannten Begriff für »Samadhi« (chin. sanmei, d.h. die buddhistische »Erleuchtung«). Als Wangs theoretische Vorbilder gelten (→) Sikong Tu und (→) Yan Yu. Nicht alles, was Wang an Überlegungen vorlegte, war neu. In vieler Hinsicht stellt seine Theorie der Dichtung eine Synthese dessen dar, was Wang als die besten Beispiele in dieser Tradition erachtete. Konkrete Einflüsse sind etwa durch Vorläufer wie (→) Xie Zhen erkennbar, dessen Anliegen es gewesen war, die archaische Schule der Dichtung vom Stil steriler Nachahmungen zu befreien und die Dichtkunst auf eine neue Höhe der Wahrnehmung und der spirituellen Erkenntnis zu führen. WERKAUSGABEN: Wang Shizhen shixuan yi, hg. von Wang Xiaoshan, Chengdu: Bashu Shushe, 1994.

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Wang Shuo 王朔 SEKUNDÄRLITERATUR: Richard J. Lynn: »Orthodoxy and Enlightenment: Wang Shi-chenʼs Theory of Poetry and Its Antecedents«, in: The Unfolding of Neo-Confucianism, hg. von Wm. Theodore de Bary et al., New York: Columbia University Press, 1975, S. 217‒ 269; Cornelia Schindelin: »Der Qing-zeitliche Dichter Wang Shizhen und seine shenyunPoetik«, in: Zurück zur Freude. Studien zur chinesischen Literatur und Lebenswelt und ihrer Rezeption in Ost und West. Festschrift für Wolfgang Kubin, hg. von Marc Hermann u. Christian Schwermann, Sankt Augustin: Institut Monumenta Serica / Nettetal: Steyler Verlag, 2007, S. 251–270. [TZ]

Wang Shuo 王朔 (1958 ‒), geb. in Peking Wang Shuo wurde im Kreis Xiuyan in der Provinz Liaoning geboren. Wenig später erfolgte der Umzug der Familie nach Peking, wo sein Vater beim Militär und seine Mutter als Ärztin beschäftigt waren. Nach der Schule diente Wang Shuo als Sanitäter bei der chinesischen Marine. Ab 1980 arbeitete er in Peking in einem Pharmaunternehmen als Sachbearbeiter. 1983 kündigte er seine Arbeit und wurde freier Schriftsteller. Mit seiner literarischen Tätigkeit hatte er bereits 1978 begonnen. Er veröffentlichte damals seine Erstlingserzählung »Warten« (»Dengdai«). Weitere Versuche, Themen aus der Armeezeit literarisch zu verarbeiten, scheiterten jedoch. Diese ersten, wenn auch erfolglosen Erfahrungen in der Literaturszene vermittelten ihm immerhin hilfreiche Lebens- und Überlebensstrategien. Geschickt wählte er später öffentlichkeitswirksame Themen aus, die er in eine bis dahin für die chinesischen Leser unbekannte, provokative und tabubrechende Sprache kleidete. Sein literarischer Durchbruch erfolgte 1984 mit der Novelle Stewardess (Kongzhong xiaojie), einer Liebesgeschichte zwischen einem Offizier und einer Flugbegleiterin. Sie handelt vom Scheitern an den absoluten Ansprüchen auf Liebe und vom Schmerz über deren Verlust. Die nachfolgenden Novellen und Romane, die er teilweise auch zu Drehbüchern umschrieb, machen die Stilrichtung Wang Shuos deutlich: Oberchaoten (Wanzhu, 1987), Herzklopfen heißt das Spiel (Wande jiu shi xintiao, 1988) und Kein bißchen seriös (Yidian zhengjing mei you, 1989). Er beschreibt darin Menschen aus Randgruppen in ihrer Langeweile, ihrer Gleichgültigkeit und ihrer Desorientiertheit. Aufgrund der Tatsache, daß die Figuren größtenteils aus dem gesellschaftlichen Abseits stammen und auch die dort übliche Sprache sprechen, erfreuen sich seine Werke bei den Lesern großer Beliebtheit, weil diese darin einen Realismus entdecken, der gerade in seiner Negierung von Konventionen und seinem Streben nach freier Lebensgestaltung des einzelnen der menschlichen Natur näher kommt. Wang Shuos Werke gerieten wegen ihrer radikalen Provokation in die Kritik und wurden aufgrund der Zuordnung seiner Literatur zur »Gossenliteratur« (liumang wenxue) zuletzt im Rahmen der »Säuberung gegen die geistige Verschmutzung« (fandui jingshen wuran) in den 90er Jahren zeitweise offiziell verboten.

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Wang Siren 王思任

Wichtige Werke der letzten Jahre sind Schön anzusehen (Kanshangqu hen mei, 2000) und Meine Jahrtausendkälte (Wo de qiansui han, Essays, 2007). Ersteres wurde 2006 verfilmt und nahm im selben Jahr auch an der Berlinale teil. WERKAUSGABEN: Wande jiu shi xintiao, Peking: Zuojia, 1989; Wang Shuo wenji, 4 Bde., Peking: Huayi, 1992. ÜBERSETZUNGEN: Herzklopfen heißt das Spiel, übers. von Sabine Peschel, in Zusammenarbeit mit Wang Ding u. Edgar Wang, mit einem Nachwort von Sabine Peschel, Zürich: Diogenes, 1995; Oberchaoten, übers. von Ulrich Kautz, mit einem Nachwort von Ulrich Kautz, Zürich: Diogenes, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Geremie Barme: »Wang Shuo and Liumang (›Hooligan‹) Culture«, in: The Australian Journal of Chinese Affairs 28 (1992), S. 23‒66; Karl Rospenk: »Wang Shuo«, in: LiteraturNachrichten 39 (1993), S. 6‒8; Jing Wang: »Wang Shuo: Pop Goes the Culture«, in: dies.: High Culture Fever. Politics, Aesthetics, and Ideology in Deng’s China, Berkeley: University of California Press, 1997, S. 261‒286; Geremie Barme: »The Apotheosis of the Liumang«, in: ders.: In the Red: On Contemporary Chinese Culture, New York: Columbia University Press, 1999, S. 62‒98; Carlos Rojas: »Wang Shuo and the Chinese Image/inary: Visual Simulacra and the Writing of History«, in: Journal of Modern Literature in Chinese 3, 1 (July 1999), S. 23‒57; Helen H. Chen: »From Sentimental Trilogy to Gangster Trilogy: Moral Dilemmas in a Cultural Crisis«, in: American Journal of Chinese Studies 8, 1 (April 2001), S. 57‒90; Yibing Huang: »›Vicious Animals‹: Wang Shuo and Negotiated Nostalgia for History«, in: Journal of Modern Literature in Chinese 5, 2 (2002), S. 81‒102; Yomi Braester: »Memory at a Standstill: From Maohistory to Hooligan History«, in: ders.: Witness Against History: Literature, Film, and Public Discourse in Twentieth-Century China, Stanford: Stanford University Press, 2003, S. 192‒205; Jonathan Noble: »Wang Shuo and the Commercialization of Literature«, in: Columbia Companion to Modern East Asian Literatures, hg. von Joshua Mostow u. Kirk A. Denton (China section), New York: Columbia University Press, 2003, S. 598‒603; Yusheng Yao: »The Elite Class Background of Wang Shuo and His Hooligan Characters«, in: Modern China 30, 4 (Oct. 2004), S. 431‒469; Jin Wu: The Voices of Revolt: Zhang Chengzhi, Wang Shuo and Wang Xiaobo, Diss., Eugene: University of Oregon, 2005; Yibing Huang: »Wang Shuo: Playing for Thrills in the Era of Reform, or, A Genealogy of the Present«, in: ders.: Contemporary Chinese Literature. From the Cultural Revolution to the Future, New York: Palgrave Macmillan, 2007. [WH]

Wang Siren 王思任 (zi: Jizhong, hao: Suidong, Xue’an, 1574 ‒ 1646), geb. in Shanyin (Provinz Zhejiang) Wang Siren gilt in der chinesischen Literatur des 16./17. Jahrhunderts als ein Meister der Reisebeschreibungen in Miniaturform (xiaopin). In diesem Genre kam es auf den momenthaften Eindruck, nicht auf die breitere und oft kunstvoll ausgestaltete Prosabeschreibung an. Die Knappheit legte eine Gruppierung der

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Wang Tao 王韬

um einen Beschreibungsgegenstand angeordneten Texte zu Zyklen nahe. Wang gestaltete diese Tendenz zu einem ganz wesentlichen Teil mit und schuf mit seinem Ausruf beim Reisen (Youhan), entstanden nach einer Reise ins TiantaiGebirge 1608, einen Klassiker des Genres. Das Werk zeichnet sich durch reiche Gestaltungsmittel sowie durch hohe sprachliche Originalität aus und entbehrt auch nicht des Humors, für den Wang bekannt war. Aus der späteren Zeit sind Texte wie Aufzeichnungen sukzessiver Reisen (Liyouji) und Aufzeichnungen einer Fahrt zum Lu-Berg (You Lushan ji) überliefert. Wangs Karriere ist charakteristisch für die Zeit des Dynastiewechsels. Längere Zeit auf Posten in der Verwaltung der Präfekturen tätig, gab Wang nach Konflikten mit Kollegen seine Arbeit auf und trat erst wieder in die Dienste des MingHerrschers Lu, als dieser, von den Qing geschlagen, in den Süden flüchtete. Unwillig, sich den Eroberern zu ergeben, hungerte sich Wang Siren zu Tode, als der Untergang der Ming endgültig feststand. WERKAUSGABEN: Wenfan xiaopin, Changsha: Yuelu Shushe, 1989; Wang Jizhong xiaopin, hg. u. mit Anm. von Li Ming, Peking: Wenhua Yishu, 1996; Wang Siren shihua, hg. von Chen Wenxin, in: Ming shihua quanbian, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Chen Feilong: Wang Siren wenlun ji qi nianpu, Taipeh: Wenshizhe, 1990. [TZ]

Wang Tao 王韬 (eig. Wang Libin, auch Wang Han, zi: Ziquan, Zhongtao, hao: Taoyuan laomin, Tiannan dunsou, 1828 ‒ 1897), geb. in Changzhou (Provinz Jiangsu) Wang Tao war kein klassischer Literatentypus mehr, sondern entwickelte im Austausch zwischen China und dem Westen großen Einfluß auf die Entstehung eines gehobenen journalistischen Stils. Die ersten traditionellen Prüfungen legte er zunächst noch ab, nahm dann aber 1849, als ihm weiterer Erfolg versagt blieb, auf Vermittlung des britischen Missionars-Gelehrten Walter H. Medhurst (1796 ‒ 1856) eine Stelle als Übersetzer der Mission Press in Shanghai an. Aufgrund seiner Nähe zu den Taiping-Rebellen erließen die Qing-Behörden 1862 einen Haftbefehl gegen ihn, doch mit Hilfe von Medhurst gelang ihm die Flucht nach Hongkong, wo er mehr als zwei Jahrzehnte im Exil blieb. In Hongkong kam er schließlich auch mit dem schottischen Sinologen James Legge (1814 ‒ 1897) zusammen, den er bei der Übersetzung der chinesischen Klassiker unterstützte, indem er zu den Texten Kommentare anfertigte, die aber nur zu einem kleinen Teil erhalten sind. Spätestens nach seinen Besuchen in Europa, wohin Wang 1867 auf Einladung Legges reiste und wo er über zwei Jahre lang blieb, erwuchs in ihm eine starke Aufgeschlossenheit gegenüber der westlichen Kultur, die auch Einfluß auf seine weiteren Schriften

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Wang Wei 王维

nahm. Wangs umfassende Kenntnisse der Verhältnisse im Ausland machten ihn in China zu einem gesuchten Ratgeber bei Persönlichkeiten wie Li Hongzhang (1823 ‒ 1901), Wu Tingfang (1848 ‒ 1922) und Sun Yat-sen (1866 ‒ 1925). Neben seinen Arbeiten zu den Klassikern und seinen Gedichten in den unterschiedlichen Varianten sind vor allem Wangs »Pinselnotizen«-Essays (biji) als literarische Hinterlassenschaft anzuführen. Darin beschreibt Wang immer wieder sehr anschaulich die herausragenden Eigenschaften der Menschen im Westen. Dabei entwickelte er einen lebendigen Stil, der sich zur Darstellung auch abstrakterer Gegenstände wie der Ideen und Vorstellungen in der modernen westlichen Geisteswelt eignete. Mit seinen politischen Stellungnahmen, seinen Reisebeschreibungen und reportageartigen Aufzeichnungen eröffnete Wang der chinesischen Prosaliteratur ganz neue Felder und Formen der Darstellung. WERKAUSGABEN: Wang Tao riji, Peking: Zhonghua Shuju, 1987. SEKUNDÄRLITERATUR: Paul A. Cohen: Between Tradition and Modernity. Wang T’ao and Reform in Late Ch’ing China, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1974; Zhang Hailin: Wang Tao pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1993; Wang Tao nianpu, hg. von Zhang Zhichun, Shijiazhuang: Hebei Jiaoyu, 1994; Elisabeth Sinn: »Fugitive in Paradise: Wang Tao and Cultural Transformation in Late Nineteenth-Century Hong Kong«, in: Late Imperial China 19, 1 (1998), S. 56‒81; Patrick Hanan: »The Bible as Chinese Literature: Medhurst, Wang Tao, and the Delegates’ Version«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 63, 1 (2003), S. 197‒239. [TZ]

Wang Wei 王维 (hao: Mojie, ca. 701 – ca. 761), geb. in Qixian (nahe Taiyuan, Provinz Shanxi) Wang Wei zählt, neben (→) Du Fu und (→) Li Bai, zu den bedeutendsten Dichtern der Tang-Blütezeit, der Regierungszeit Kaiser Xuanzongs (713 – 755). Nach Li Bai wurden von ihm am meisten Gedichte in westliche Sprachen übersetzt. Als junger Mann kam Wang Wei nach Changʼan (heute Xiʼan) und legte 721 sein jinshi-Doktorexamen ab. Bald wurde er Stellvertretender Direktor des Kaiserlichen Amtes für Musik. Aus unbekannten Gründen erfuhr seine vielversprechende Karriere 723 einen Einbruch, denn er wurde für knapp zehn Jahre auf einen unbedeutenden Posten in die Provinz Shandong abgeschoben. Ab dem Jahr 734, nachdem sein Freund Zhang Jiuling (678 – 740) Kanzler geworden war, stieg auch Wang Wei stetig die Karriereleiter weiter nach oben, bis ihn 755 die Rebellion des An Lushan erneut zu Fall brachte. Im Jahr 756 mußte er unter Androhung des Todes für den aufständischen General arbeiten, wurde jedoch im Jahre 758 von Kaiser Suzong (reg. 756 – 762) begnadigt. Sein einflußreicher jüngerer Bruder Wang Jin hatte sich erfolgreich für ihn eingesetzt. 759 erreichte Wang Wei das höchste Amt seiner Laufbahn, das Amt des Stellvertretenden Präsidenten der Staatskanzlei (shangshu youcheng), das der Funktion des Vizekanzlers gleichkam. Hier-

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Wang Wei 王维

aus resultierte sein offizieller Name Wang Youcheng. Bereits 763, zwei Jahre nach Wang Weis Tod, begann sein Bruder Wang Jin, selbst mittlerweile zum Kanzler aufgestiegen, auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers seine Werke zu edieren. Nach dem frühen Tod seiner Frau um das Jahr 730 war Wang Wei unverheiratet geblieben und hatte sich verstärkt dem Chan-buddhistischen Glauben zugewandt. Er gab sich selbst den Beinamen Mojie, nach einem tiefgläubigen buddhistischen Laien zu Zeiten des historischen Buddha Shakyamuni mit Namen Vimalakirti (chin. Weimojie). Parallel zu seinem erfolgreichen öffentlichen Leben in der Metropole Changʼan hielt Wang Wei sich stets den Rückzug in die Natur offen, besonders nachdem er sich im Jahr 740 auf seinem berühmten Landgut Wangchuan in Lantian (südlich von Changʼan) ein weltflüchtiges Refugium geschaffen hatte. Von den 420 überlieferten Gedichten Wang Weis wurde eine nicht geringe Anzahl im Kontext seines beruflichen Lebens bei Hofe verfaßt. Doch berühmt wurde er für seine privaten Gelegenheitsgedichte, insbesondere seine meditative und »malerische« Naturlyrik. Wang Wei war nicht nur als Dichter schon zu Lebzeiten sehr angesehen, sondern auch als Komponist und Maler. In letzterer Kunst ging er als Begründer der »Südlichen Schule« in die Geschichte ein, in der sich die freieren Gelehrtenmaler von den Berufsmalern, die sich dem höfischen Geschmack und Regelwerk unterwarfen, abzusetzen suchten. Allerdings ist keines seiner Gemälde erhalten geblieben, nur Kopien geben noch eine Vorstellung von seinem Schaffen, z.B. von seiner Bildrolle »Ansichten vom Wang-Fluß« (»Wangchuantu«). Mit dem dazugehörigen Gedichtzyklus »Wangchuanji« hatte Wang Wei für den befreundeten Dichter Pei Di (geb. 716) ein Gesamtkunstwerk geschaffen, in dem er sein Landgut in Wort und Bild besang. Malerei und Dichtkunst (in Kalligraphie verbildlicht) standen bei Wang Wei Seite an Seite, ja bedingten einander. WERKAUSGABEN: Wang Youcheng ji jianzhu, hg. u. komm. von Zhao Diancheng, Shanghai: Shanghai Guji, 1984. ÜBERSETZUNGEN: Poems of Wang Wei, übers. von G.W. Robinson: Harmondsworth: Penguin, 1973; The Poetry of Wang Wei. New Translation and Commentary, übers. von Pauline Yu, Bloomington: Indiana University Press, 1980; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 52‒83; Laughing Lost in the Mountains. Poems of Wang Wei, übers. von Tony Barnstone u. Xu Haixin Willis, Hannover u. London: University Press of New England, 1991; Jenseits der weißen Wolken. Die Gedichte des Weisen vom Südgebirge, übers. von Stephan Schuhmacher, bearbeitete Neuausgabe, München: dtv, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Alfred Hoffmann: »Die Dichtungen des Wang Wei«, in: Studia SinoAltaica. Festschrift für Erich Haenisch zum 80. Geburtstag, hg. v. Herbert Franke, Wiesbaden: Steiner, 1961, S. 102‒114; Marsha L. Wagner: Wang Wei, Boston: Twayne, 1981; Chen Tiemin: »Wang Wei nianpu«, in: Wenshi 16 (1982), S. 203–227. [HP]

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Wang Xiaoni 王小妮

Wang Xiaoni 王小妮 (1955 ‒), geb. in Changchun (Provinz Jilin) Wang Xiaoni besuchte die Grund- und Mittelschule in Changchun in der Provinz Jilin, bevor sie 1969 mit ihren Eltern aufs Land geschickt wurde. Erst nach drei Jahren konnte sie in die Stadt zurückkehren und die höhere Mittelschule besuchen. Mit Beginn der Öffnungspolitik konnte sie 1978 ein Studium der Chinesischen Sprache und Literatur an der Universität Jilin aufnehmen. Bereits während ihrer Studienzeit gründete sie gemeinsam mit sechs anderen Studenten den Dichterclub »Das Kinderherz« (Chizi xin). Ab 1980 begann sie, ihre Gedichte in verschiedenen Literaturzeitschriften zu veröffentlichen; sie wurde als junge Dichterin bekannt und zu Lesungen und überregionalen Dichtertreffen eingeladen. Nach dem Studium arbeitete sie in der Generalredaktion der Changchuner Filmproduktion und veröffentlichte während dieser Zeit zahlreiche Gedichte und Gedichtzyklen. 1985 zog sie nach Shenzhen um. 1994 gab sie offiziell ihre Arbeit in Changchun auf und widmet sich seitdem ausschließlich dem Schreiben. Gegenwärtig ist sie Dozentin an der Universität Hainan. Die Lyrik Wang Xiaonis ist bestimmt von der Suche nach Natürlichkeit und dem Versuch, Lebensrealitäten offenzulegen. In ihrer ersten Schaffensphase (1978 ‒ 1985) versuchte sie, Bauern und Arbeiter in ihrer Natürlichkeit lyrisch darzustellen und deren eigene Gefühlswahrnehmungen behutsam in Worte zu fassen. Während sich die Vertreter der hermetischen Lyrik auf die Suche nach der eigenen Identität machten und diese mit rebellischem Ton zum Ausdruck brachten, war Wang Xiaonis Haltung in ihrer zweiten Schaffensphase (1985 ‒ 1995) eher zurückhaltend. Ihr Blick war zwar aufmerksam, ihre Haltung gegenüber dem Gesehenen aber noch scheu – diese Unsicherheit spiegelt sich auch in ihrer Sprache wider. Gleichwohl ist die Realisierung ihrer poetischen Phantasien differenziert und feinfühlig. Nach dem Tod ihres Vaters stand lange Zeit das Thema Tod im Zentrum ihrer lyrischen Reflexion. Das Gedicht »Besuch bei Freunden« (»Kanwang pengyou«) und Gedichtzyklen wie »Gespräch mit dem Vater« (»He baba shuohua«) und »Plötzlich wurde die Haustür geöffnet« (»Turan dakai jiamen«; alle in: Wo de zhili baozhe wo de huo) sind Produkte dieser Zeit. Ihre lyrische Sprache wirkt darin melancholisch und verzweifelt. Auch begann sie mit der Gattung des Essays zu experimentieren. Essaybände wie Vertrieben nach Shenzhen (Fangzhu Shenzhen, 1996), In der Hand trage ich eine gelbe Blume (Shou zhi yizhi huang hua, 1997), Wen lassen wir leiden (Pai shenme ren qu shounan, 1998), Wir sind die Schädlinge (Women shi haichong, 1998) und Dem Schmerz ins Auge sehen (Muji tengtong, 1998) sind gelungene Werke ihrer geistigen Auseinandersetzung mit den Phänomenen und Problemen unserer Zeit. Die lyrische Sprache Wang Xiaonis ist klangvoll und die Komposition der Bilder phantasiereich. 1989 bekam Wang Xiaoni den Literaturpreis der Zeitschrift Zuojia (Autoren).

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Wang Xizhi 王羲之 WERKAUSGABEN: Fangzhu Shenzhen, Kunming: Yunnan Renmin, 1996; Shou zhi yizhi huang hua, Shanghai: Dongfang Chuban Zhongxin, 1997; Wo de zhili baozhe wo de huo, Shenyang: Chunfeng Wenyi, 1997; Muji tengtong, Changsha: Hunan Wenyi, 1998; Pai shenme ren qu shounan, Changsha: Hunan Wenyi, 1998; Shui fuzhe ge women hao xinqing, Changsha: Hunan Wenyi, 1998; Women shi haichong, Changsha: Hunan Wenyi, 1998. ÜBERSETZUNGEN: »I Feel the Sunshine«, übers. von Amy Klauke und Zhiyu Zhu«, in: Renditions 27/28 (Spring & Autumn 1987), S. 251; »Es war einmal ein kleines Dorf«, übers. von Yan Zhu, in: Chinesische Lyrik der Gegenwart, Chinesisch/Deutsch, hg. von Lü Yuan u. Winfried Woesler, Stuttgart: Reclam, 1992, S. 278‒283; »Ich spüre das Sonnenlicht«, übers. von Yi Zhang, in: ebd., S. 284‒285; »1966. Dein Puschkin ist gerade im Kessel«, übers. von Weiping Huang, in: Orientierungen 2/2001, S. 126‒140; Alles versteht sich auf Verrat. Gedichte von Yu Jian, Zhai Yongming, Wang Xiaoni, Ouyang Jianghe, Wang Jiaxin, Chen Dongdong, Xi Chuan, Hai Zi, hg. von Wolfgang Kubin und Tang Xiaodu, übers. von Wolfgang Kubin und Gao Hong, Bonn: Weidle, 2009, S. 62‒81. SEKUNDÄRLITERATUR: Lü Yuan: »Vorwort«, in: Chinesische Lyrik der Gegenwart. Chinesisch/Deutsch, hg. von Lü Yuan u. Winfried Woesler, Stuttgart: Reclam, 1992, S. 5–13; Xu Jingya: »Wang Xiaoni chuangzuo nianbiao«, in: Wang Xiaoni: Wo de zhili baozhe wo de huo, Changsha: Hunan Wenyi, 1997, S. 220f.; Xu Jingya: »Yi ge ren zenyang fei qilai«, in: ebd., S. 1‒18. [WH]

Wang Xizhi 王羲之 (zi: Yishao, 321 – 379), geb. in Linye im Kreis Langya (heute Provinz Shandong) Wang Xizhi, der bedeutendste Kalligraph der chinesischen Geschichte, entstammte einer adeligen Familie aus der Provinz Shandong, deren Mitglieder in der Vergangenheit höchste Ämter bekleidet hatten. Gegen Ende der Westlichen Jin-Dynastie (265 – 316) folgte er seinem Vater Wang Kuang in den Süden des zerfallenen Reiches und hatte dort selbst verschiedene militärische und zivile Ämter inne; u.a. diente er als Zensor in Kuaiji in der Provinz Zhejiang. Obwohl man seine Talente am Hof der Östlichen Jin-Dynastie sehr zu schätzen wußte und ihn wiederholt für höhere Ämter vorschlug, beendete er bereits während der Regierungsperiode Yonghe (345 – 356) aus freien Stücken seine berufliche Laufbahn. Im Wissen um seine angeschlagene Gesundheit wollte er fortan nur noch seinen privaten und künstlerischen Neigungen nachgehen, allen voran der Kalligraphie. Im Frühling des Jahres 353 veranstalteten Wang Xizhi und seine Freunde in Shanyin (Kuaiji) am »Orchideenpavillon« (Lanting) an der Nordseite des Berges Donglianshan eine Abendgesellschaft, die Geschichte machen sollte. Als Vorwort zu einer Sammlung der an diesem denkwürdigen Abend geschaffenen 37 Gedichte verfaßte Wang Xizhi seinen berühmten »Prolog zu der Zusammenkunft am Orchideenpavillon« (»Lanting xu«), eine zeitlose Hymne auf die Freundschaft und ein

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Wang Yangming 王阳明

kalligraphisches Meisterwerk. Einflüsse der Qin-zeitlichen Siegelschrift (zhuanshu) und der Han-zeitlichen Kanzleischrift (lishu) vereinend, hat Wang Xizhi eine klare und dennoch elegant fließende halbkursive Schrift (xingshu) geschaffen, die bis heute als vollendet gilt. Einige wenige seiner Kalligraphien sind in Kopien überliefert. Sein literarisches Erbe in Lyrik und Prosa ist in einer zweibändigen Mingzeitlichen Ausgabe mit dem Titel Wang Shijun ji erhalten. Zu großem Ruhm als Kalligraph gelangte auch Wang Xizhis jüngster Sohn Wang Xianzhi. WERKAUSGABEN: Yiwen leiju, Bd. 1, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1973. ÜBERSETZUNGEN: »Preface to the Orchid Pavilion Poems«, übers. von H.C. Chang, in: Classical Chinese Literature. An Anthology of Translations, Bd. 1: From Antiquity to the Tang Dynasty, hg. von John Minford und Joseph S.M. Lau, Hongkong: Chinese University Press / New York: Columbia University Press, 2000, S. 479‒482. [HP]

Wang Yangming 王阳明 (eig. Wang Shouren, zi: Bo’an, hao: Yangming, 1472 ‒ 1529), geb. in Yuyao (Provinz Zhejiang) Wang Yangmings Karriere begann sehr vielversprechend. Nachdem er 1499 die Prüfungen zum Doktor (jinshi) abgelegt hatte, arbeitete er zunächst im Justiz- und im Kriegsministerium. Aufgrund seines Eintretens für einen Zensor geriet er jedoch 1506 in Konflikt mit dem einflußreichen Eunuchen Liu Jin und wurde nach seiner Züchtigung auf einen geringen Posten in einer Poststation im südchinesischen Guizhou verbannt. Als Magistrat und Gouverneur in Jiangxi zwischen 1510 und 1522 hatte Wang jedoch Gelegenheit, seine Talente als Beamter wieder angemessen unter Beweis zu stellen. Seine wichtigste Amtshandlung in dieser Zeit dürfte die Niederringung des rebellischen Prinzen Ning 1519 gewesen sein, die Wang in einen gefährlichen Konflikt mit dem Kaiserhof brachte, als dieser den Sieg für sich reklamierte. Nach dem Tod seines Vaters 1522 zog sich Wang für mehrere Jahr zur Trauer und Lehrtätigkeit zurück. Seine Lehren sind den Anweisungen für ein praktisches Leben (Chuanxilu) zugrunde gelegt. Noch einmal trat Wang in den Staatsdienst, als man ihn 1527 zur Niederschlagung einer Rebellion in Guangxi aufforderte. Er führte diese Aufgabe erfolgreich durch, starb jedoch auf dem Rückweg aus dem Süden in die Heimat. Es war während der Einsamkeit der Verbannung in Guizhou, daß Wang in der Art einer Chan-buddhistischen Erleuchtung erkannte, daß das universelle Prinzip allein in ihm selbst ruhte und nicht außerhalb seiner selbst, wie es die zentralen Denker des Neokonfuzianismus seit Zhu Xi (1130 ‒ 1200) gelehrt hatten. Als praktische Konsequenz ergab sich für ihn, daß nicht mehr dem Buchwissen, sondern der Kontemplation die größere Bedeutung zukam. Die Einheit der Vorstellungen des Menschen und der Prinzipien des Universums bedeutete, daß das wahre Wissen und die richtige Handlung untrennbar miteinander verbunden waren, was Wang

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Wang Yucheng 王禹偁

denn auch mit seiner Theorie von der Einheit des Wissens und der Handlung (zhi xing he yi) ausdrückte. Wang Yangming prangerte wie nach ihm (→) Li Zhi die Heuchelei der konfuzianischen Rituale an und trat für einen natürlichen Gefühlsausdruck ein. Beide Denker stehen in einem engen Zusammenhang. Sowohl Wang wie Li betonten die Bedeutung des Gefühls (qing), bei Wang formuliert in seiner »Lehre vom Herzen« (xinxue) und später bei Li ausformuliert in der Vorstellung vom »kindlichen Herzen« (tongxin). Dieses Konzept hatte vor allem wichtige Auswirkungen auf die Erzählliteratur, in der man für einen natürlichen Gefühlsausdruck und unbeschränkte Sinnenlust eintrat. Als einem einflußreichen Philosophen und erfolgreichen Beamten wurde Wang schon kurz nach seinem Tod nicht nur in seiner Heimat, sondern auch in Japan eine hohe Verehrung zuteil, da er gleichsam ein konfuzianisches Ideal verkörperte. Wang hatte richtig erkannt, daß der Konfuzianismus mit seiner starken Betonung der Gelehrsamkeit in eine Sackgasse geraten war und dem Ziel von Erziehung und Bildung, nämlich innerer moralischer Kultivierung, nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Von Gelehrten zu Beginn der Qing-Dynastie freilich wurde Wang für seinen Subjektivismus, der zur Dekadenz der Ming und schließlich zum Sturz der Dynastie (1644) geführt habe, kritisiert. WERKAUSGABEN: Wang Yangming quanji, 2 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1992. ÜBERSETZUNGEN: Instructions for Practical Living and Other Neo-Confucian Writings, übers. von Wing-tsit Chan, New York: Columbia University Press, 1963; The Philosophical Letters of Wang Yang-ming, übers. von Julia Ching, Canberra: Australian National University Press, 1972. SEKUNDÄRLITERATUR: Julia Ching: To Acquire Wisdom. The Way of Wang Yang-ming, New York u. London: Columbia University Press, 1976; Tu Weiming: Neo-Confucian Thought in Action. Wang Yangmingʼs Youth (1472 ‒ 1509), Berkeley: University of California Press, 1976; A.S. Cua: The Unity of Knowledge and Action. A Study in Wang Yang-ming’s Moral Psychology, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 1982; Fang Erjia: Wang Yangming xinxue yanjiu, Changsha: Hunan Jiaoyu, 1989; Tu Chengxian: »Wang Yangmingʼs School and the Theory of Gongfu and Benti«, in: Social Sciences in China 15, 2 (1994), S. 115‒127; Fang Guogen: Wang Yangming pingzhuan, Nanning: Guangxi Jiaoyu, 1996; Philip J. Ivanhoe: Ethics in the Confucian Tradition. The Thought of Mengzi and Wang Yangming, Indianapolis: Hackett, 2002. [TZ]

Wang Yucheng 王禹偁 (zi: Yuanzhi, 954 ‒ 1001) geb. in Juye (Provinz Shandong) Von bäuerlicher Herkunft, machte er seinen Weg über das Doktorexamen (jinshi, 982) bis zum Mitglied der Hanlin-Akademie. Im Auftrag des Kaisers kompilierte er die Wahrhaftigen Aufzeichnungen (Shilu) für die Regierungszeit Taizongs (reg.

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976 ‒ 997). In seinem Amt als »Ermahner« scheute er vor offener Kritik an den Zuständen seiner Zeit nicht zurück, was ihm häufige Verbannungen einbrachte. Schlichtheit und Ergriffenheit zeichnen nicht nur sein Wesen, sondern auch sein literarisches Werk aus, wie es in den Gesammelten Werken des Xiaochu (Xiaochu ji) überliefert ist. (»Xiaochu« steht für das Zeichen qian – »das Schöpferische« – im Buch der Wandlungen [Yijing].) Diese Werkausgabe umfaßt 30 Kapitel mit einem Korpus von insgesamt 500 Gedichten, darunter vier Kapitel mit Gedichten im Alten Stil, fünf Kapitel mit Regelgedichten und zwei mit »Balladen« (gexing). Wang Yucheng gilt als Wegbereiter der Neuen guwen-Bewegung, da er sich vom vorherrschenden Xikun-Stil (vgl. [→] Yang Yi) abwandte und sich die Tang-zeitlichen (618 – 907) Größen (→) Han Yu, (→) Liu Zongyuan, (→) Du Fu und (→) Bai Juyi zum Vorbild nahm. Aus seinen Prosaschriften und Gedichten sprechen seine Sorge um das Los der Menschen jenseits des Hofes, sein Mut, sich den Widrigkeiten des Lebens nicht zu beugen, und seine Entschlossenheit, die staatlichen Würdenträger an ihre Verantwortung zu gemahnen. WERKAUSGABEN: Xiaochu ji, Peking: Zhonghua Shuju, 1986. ÜBERSETZUNGEN: Lyrik des Ostens, hg. von Wilhelm Gundert, München: Hanser, 1958, S. 127; Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, Berlin: Rütten & Loening, 1969, S. 287; Der Ruf der Phönixflöte. Klassische chinesische Prosa, hg. u. übers. von Ernst Schwarz, 2 Bde., Berlin: Rütten & Loening, 1973, Bd. 1, S. 334f. SEKUNDÄRLITERATUR: Kojiro Yoshikawa: An Introduction to Sung Poetry, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973, S. 56‒59; Guwen jianshang cidian, hg. u. komm. von Chen Zhenpeng u. Zhang Peiheng, Bd. 2, Shanghai: Cishu, 62007, S. 1151‒1156; Song shi jianshang cidian, komm. von Miao Yue, Shanghai: Cishu, 32007, S. 10‒21. [BD]

Wang Zengqi 汪曾祺 (1920 ‒ 1997), geb. in Gaoyou (Provinz Jiangsu) Wang Zengqi war einer der wenigen Autoren, die sich vor, während und nach der Kulturrevolution (1966 – 1976) erfolgreich schriftstellerisch betätigten. Nach einer traditionellen Erziehung bei seinem Vater, einem Gelehrten alter Schule, der in seinem Sohn die Liebe zur Malerei weckte, studierte Wang von 1939 bis 1943 Chinesische Literatur an der Vereinigten Südwestuniversität im südchinesischen Kunming. Zu seinen Lehrern gehörte u.a. der berühmte (→) Shen Congwen (1902 – 1988), der sein Werk nachhaltig prägte. Unter Shens Einfluß begann Wang 1940 mit dem Schreiben. (Der erste Erzählband erschien 1948.) Nach dem Universitätsabschluß arbeitete er zunächst als Lehrer und in einem historischen Museum, dann, nachdem er 1950 nach Peking gegangen war, als literarischer Redakteur, Herausgeber und Autor. 1958 wurde er für drei Jahre als »Rechtsabweichler« aufs Land geschickt. Ab 1962 war er als Librettist für das Pekinger Opernensemble tätig

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und verfaßte in dieser Funktion u.a. die »Modelloper« Shajiabang (Shajiabang [Eigenname], 1964), eines der wenigen »revolutionären« Stücke, die zur Hochzeit des Maoismus in den 60er Jahren noch gespielt werden durften. In den 80er Jahren war er als Essayist und v.a. als Autor von kürzeren Erzählungen erfolgreich. Wang Zengqis bekannteste Erzählung, »Die Mönchsweihe« (»Shoujie«, 1980), handelt von der Weihe eines jungen Novizen zum buddhistischen Mönch. Die tiefere Initiation indes erfährt der jugendliche Protagonist von einem Nachbarsmädchen: Es ist die Initiation in die Liebe. Die Handlung ist in ein zeitlos anmutendes ländliches Idyll eingebettet; die vollkommen apolitische Atmosphäre hebt sich wohltuend von der anderer zeitgenössischer Werke kurz nach der Kulturrevolution ab. In seiner Suche nach einer urtümlichen und zugleich überzeitlichen Schönheit, aber auch in seiner Erzählhaltung, die sich voll warmherziger Empathie und frei von jedem intellektuellen Dünkel in die volkstümlich-schlichten Figuren einfühlt, erweist sich Wang Zengqi als ein würdiger Schüler seines großen Lehrmeisters Shen Congwen. Allerdings hat der sprachlich schlichtere, gedanklich konventionellere Wang das Schreiben Shens in eine »noch klassischere und ›pastoralere‹ Richtung« (J.C. Kinkley) geführt. Als Bewahrer der Tradition wurde Wang Zengqi zugleich zu einem Wegbereiter der Mitte der 80er Jahre aufkommenden »Literatur auf der Suche nach den Wurzeln« (xungen wenxue, vgl. [→] Han Shaogong), die eine Rückbesinnung auf die nationalen Traditionen im Zeichen einer archaisch verstandenen kulturellen Peripherie propagierte. WERKAUSGABEN: Wang Zengqi wenji, Nanjing: Jiangsu Wenyi, 5 Bde., hg. von Lu Jianhua, 1993; Wang Zengqi quanji, 8 Bde., Peking: Beijing Shifan Daxue, 1998. ÜBERSETZUNGEN: »Die Mönchsweihe«, übers. von Ilse Karl, in: Erkundungen. 16 chinesische Erzähler, hg. von Irmtraud Fessen-Henjes, Fritz Gruner u. Eva Müller, Berlin: Volk und Welt, 1984, S. 252‒276; Story After Supper, übers. von Jeff Book et al., Peking: Chinese Literature Press (Panda Books), 1990; »Katzenjammer«, übers. von Helmut Martin, in: Die Auflösung der Abteilung für Haarspalterei. Texte moderner chinesischer Autoren. Von den Reformen bis zum Exil, hg. von Helmut Martin u. Christiane Hammer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991, S. 64–66; »Vergessen wir unsere historischen Wurzeln nicht! Folkloristische Literatur, Peking-Oper und moderne Prosa«, übers. von Thomas Harnisch, in: Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, hg. von Helmut Martin, Bonn: Bouvier, 1993, S. 171–178; Ausgewählte chinesische Essays des 20. Jahrhunderts in Übersetzung, übers. von Martin Woesler, Bochum: Europäischer Universitätsverlag, 2003, S. 69–75 [»Rund um den Tee«], 76–80 [»Der Regen in Kunming«]. SEKUNDÄRLITERATUR: Jeffrey C. Kinkley: »Shen Congwen’s Legacy in Chinese Literature of the 1980s«, in: From May Fourth to June Fourth. Fiction and Film in TwentiethCentury China, hg. von Ellen Widmer u. David Der-wei Wang, Cambridge: Harvard University Press, 1993, S. 71–106 (v.a. S. 82–90); Carolyn FitzGerald: »Imaginary Sites of Memory: Wang Zengqi and Post-Mao Reconstructions of the Native Land«, in: Modern Chinese Literature and Culture 20, 1 (Spring 2008), S. 72–128. [MH]

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Wei Liangfu 魏良辅

Wei Hui 卫慧 (eig. Zhou Weihui, 1973 ‒), geb. in Yuyan (Provinz Zhejiang) Wei Hui wurde in Yuyan in der Provinz Zhejiang geboren. Ihr Vater war ein hochrangiger Offizier der chinesischen Armee. Nach der Schule und einer einjährigen Militärausbildung studierte sie an der Fudan-Universität in Shanghai Chinesische Sprache und Literatur. Nach dem Studium war sie zeitweise als Redakteurin, Fernsehmoderatorin und Journalistin tätig. Werke wie Schreiende Schmetterlinge (Jianjiao de hudie), Die sanfte Nacht (Heiye wenrou), Verrückt wie Wei Hui (Xiang Wei Hui nayang fengkuang) und Shanghai Baby (Shanghai baobei) thematisieren in erster Linie Sexualität und sexuelle Erfahrungen aus weiblicher Perspektive. Die zum Teil pornographischen Darstellungen führten dazu, daß sie als »Schriftstellerin, die mit ihrem Körper schreibt« bezeichnet wurde. Ihr Roman Shanghai Baby, ein teilweise autobiografischer Text, beschreibt eine junge Schriftstellerin im permanenten Rausch von Partys, Alkohol, Konsumgier und sexuellem Abenteuer. WERKAUSGABEN: Wei Hui zuopin quanji, Shanghai: Dongfang, 2000; Wo de chan, Peking: Renmin Wenxue, 2004; Gou baba, Peking: Zuojia, 2007. ÜBERSETZUNGEN: Shanghai Baby, übers. von Karin Hasselblatt, München: Ullstein, 2001; Marrying Buddha, aus dem Engl. übers. von Susanne Hornfeck, Berlin: Ullstein, 2005. SEKUNDÄRLITERATUR: Jason Cowley: »Bridget Jones with Blow Jobs. Interview with Chinese Novelist Zhou Wei Hui«, in: New Statesman, July 23, 2001; Yuanfang Shen: »Sexuality in East-West Encounters: Shanghai Baby and Mistaken Love«, in: HECATE, an Interdisciplinary Journal of Women’s Liberation 27, 2 (2001), S. 97‒105; Ian Weber: »Shanghai Baby: Negotiating Youth Self-Identity in Urban China«, in: Social Identities 8, 2 (2002), S. 347‒368; Anbin Shi: »Body Writing and Corporeal Feminism: Reconstructing Gender Identity in Contemporary China«, in: ders.: A Comparative Approach to Redefining Chineseness in the Era of Globalization, Lewiston, New York: Mellen Press, 2003, S. 129‒206; Sabina Knight: The Heart of Time. Moral Agency in TwentiethCentury Chinese Fiction, Cambridge: Harvard University Asia Center, 2006, S. 222‒258; »Xueping Zhong: Who Is a Feminist? Understanding the Ambivalence towards Shanghai Baby, ›Body Writing‹ and Feminism in Post-Women’s Liberation China«, in: Gender & History 18, 3 (Nov. 2006), S. 635‒660. [WH]

Wei Liangfu 魏良辅 (fl. 1540), vielleicht aus Kunshan bei Suzhou (Provinz Jiangsu) Über das Leben des Musikers Wei Liangfu ist so gut wie nichts bekannt. Gleichwohl bemüht sich inzwischen die neuere Sekundärliteratur, die Lebenszeit auf die Jahre 1522 bis 1572 bzw. 1573 festzusetzen und als Heimat die heutige Provinz Jiangxi anzusetzen. Weis Vorname laute Shangquan.

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Wei Xiuren 魏秀仁

Wei Liangfu war Komponist, Sänger und Musiktheoretiker, also weder Dramatiker noch Schauspieler noch Tänzer. Insofern gehört er eigentlich in die Musikund nicht in die Theatergeschichte. Doch hat er sich das Verdienst erworben, nach seiner Übersiedlung nach Taicang in der heutigen Provinz Jiangsu den lokalen Singstil von Kunshan (Kunshanqiang) zu reformieren. Damit hat er nicht nur die musikalische Grundlage für das Kunqu, »das Singspiel aus Kunshan«, gelegt, sondern auch für das neuaufkommende Genre der Romanze (chuanqi), die bis Ende des 18. Jahrhunderts tonangebend blieb und mittlerweile als nationaler Stil des chinesischen Theaters bzw. der chinesischen Oper gewürdigt wird. Zur musikalischen Seite des von Wei Liangfu geschaffenen Kunqu-Stils ist inzwischen viel geschrieben worden. Doch dies gehört in die Geschichte der chinesischen Musik und soll hier nicht weiter behandelt werden. SEKUNDÄRLITERATUR: Chen Fu-yen, Song Bang-song u. G. Tsuge: »Principles of KunCh’ü Singing«, in: Asian Music viii/2 (1977), S. 4‒25; Xiao Li: Chinese Kunqu Opera, San Francisco: Long River Press, 2005. [WK]

Wei Xiuren 魏秀仁 (zi: Bozhun, Zi’an, Zidui, hao: Mianhe daoren, Dundun daoren, Bumei daoren, 1819 ‒ 1874), geb. in Fuzhou (Provinz Fujian) Von seinem Vater Wei Bentang – selbst ein recht erfolgreicher Beamter, u.a. als Präfekt in Nordchina sowie auf Posten in Taiwan tätig und Verfasser einer Reihe von Schriften – erfuhr Wei Xiuren zunächst die notwendige Förderung, um sich in der chinesischen Bürokratie einen Platz zu sichern. Wie erwartet legte er 1846 noch in jungen Jahren die Prüfungen zum Bakkalaureus und Magister erfolgreich ab, doch bei dem Versuch, die hauptstädtische Doktorprüfung (jinshi) zu absolvieren, scheiterte er dreimal. Im Gefolge des Gouverneurs Wang Qingyun kam Wei 1856 zunächst nach Shanxi und wenig später nach Sichuan. In der Folge hielt er sich wechselweise in den beiden Provinzen auf. Sein Roman Narben durch ein ausschweifendes Leben (Huayuehen) entstand 1858 zum Zeitvertreib bei seiner halbjährigen Unterkunft im Hause von Bao Mianqin, dem Präfekten von Taiyuan. Aus den hinterlassenen Aufzeichnungen des mit Wei Xiuren befreundeten Xie Zhangting geht hervor, daß der Roman autobiographische Züge trägt und daß der Hausherr bei einer kursorischen Lektüre so begeistert von dem entstehenden Werk war, daß er Wei versprach, nach jedem fertiggestellten Kapitel ein Bankett zu geben. Wie jedoch aus den im Roman angegebenen Zeitbezügen klar wird – u.a. hob Wei auf die Taiping-Revolution ab –, hat der Verfasser das Werk anschließend immer wieder überarbeitet; die Fertigstellung dürfte erst 1863/64 erfolgt sein, als sich Wei bereits seit zwei Jahren wieder im heimatlichen Fujian befand. Dort verbrachte er seinen Lebensabend als Lehrer in ärmlichen Verhältnissen.

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Wei Yingwu 韦应物

Außer seinem Roman hat Wei Xiuren mehr als dreißig verschiedene Schriften verfaßt (darunter Untersuchungen des Klassikers vom Stein [Shijingkao] und Poetische Skizzen aus dem Kabinett neben der Treppe am Südberg [Gainan shanguan shichao]), doch ist das meiste niemals gedruckt worden. WERKAUSGABEN: Huayuehen, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1993; Wei Xiuren zazhu chaoben, Nanjing: Jiangsu Guji, 2000. [TZ]

Wei Yingwu 韦应物 (hao: Suzhou, ca. 737 – ca. 792), geb. in Chang’an (heute Xi’an, Provinz Shaanxi) Wei Yingwu gilt als einer der namhaftesten Dichter der Tang-Blütezeit. Er wurde als Sohn einer gutsituierten Beamtenfamilie in der Metropole Changʼan geboren und trat bereits mit 15 Jahren in die Palastgarde Kaiser Xuanzongs (reg. 713 – 755) ein. Später hatte er eine Reihe weiterer (vor allem militärischer) Ämter in der Hauptstadt inne, obwohl er nie eine staatliche Beamtenprüfung abgelegt hatte. 782 bezog er einen Posten in Chuzhou (Provinz Zhejiang), danach einen weiteren in Jiangzhou (heute Xunyang, Provinz Jiangxi). Ab 785 war Wei als langjähriger Präfekt der Stadt Suzhou (Provinz Jiangsu) allseits beliebt. Zuletzt zog er sich in das buddhistische Yongding-Kloster zurück, wo er vermutlich 792 verstarb. Gemeinsam mit (→) Wang Wei und (→) Meng Haoran steht Wei Yingwu in der Tradition des frühen Naturlyrikers (→) Tao Yuanming. Seine bevorzugte Gedichtform war das fünfsilbige Gedicht im Alten Stil (wuyan gushi), das sich freier und zugleich schlichter gestalten ließ als die neuen, in Reim und Metrik strengen Regeln unterworfenen Gedichtformen des Vierzeilers (jueju) und des Achtzeilers (lüshi). Neben dieser meditativen und weltflüchtigen Landschaftsdichtung hat Wei Yingwu in seiner Lyrik auch die politische und soziale Realität seiner Zeit reflektiert, insbesondere die katastrophalen Konsequenzen der An-Lushan-Rebellion (755 – 757). Einige der mehr als 500 überlieferten Gedichte geben zudem Einblick in seine persönlichen Lebensumstände. WERKAUSGABEN: »Wei Suzhou ji«, in: Sibu beiyao, Bd. IV, 21, Taipeh: Zhonghua Shuju, 1965; Thomas P. Nielson: A Concordance to the Poems of Wei Yingwu, San Francisco: Chinese Materials Center, 1975. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Stephen Owen: The Great Age of Chinese Poetry: The High T’ang, New Haven u. London: Yale University Press, 1981, S. 304‒316; Oscar Lee: The Critical Perception of the Poetry of Wei Yingwu (737 – 792). The Creation of a Poetic Reputation, Diss., Columbia University, 1986; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 222‒ 231; Paula M. Varsano: »The Invisible Landscape of Wei Yingwu (736‒792)«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 54, 2 (1994), S. 407‒435. [HP]

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Wei Yuan 魏源

Wei Yuan 魏源 (eig. Wei Yuanda, zi: Moshen, hao: Liangtu, 1794 ‒ 1857), geb. in Shaoyang (Provinz Hunan) Nach der erfolgreich abgelegten Doktorprüfung (jinshi) 1844 wurde Wei als Präfekt nach Gaoyou geschickt, nachdem er zuvor während des Opiumkrieges (1839 ‒ 1842) dem Generalgouverneur der beiden Provinzen Jiangsu und Jiangxi (einschließlich der heutigen Provinz Anhui und Shanghai) bei der Organisation des Widerstands gegen die Briten geholfen hatte. Aus der Einsicht heraus, daß China sich nicht vor der Welt verschließen dürfe, sondern aus dem Studium der fortschrittlichen Wissenschaften aus dem Westen Kraft schöpfen müsse, um zum Beispiel seine Landesverteidigung zu organisieren und den Wohlstand unter der Bevölkerung zu mehren, war Wei einer der ersten in China, der mit Karten und Dokumentationen von Übersee (Haiguo tuzhi, 1844 ‒ 1852) eine Weltgeographie veröffentlichte und so einen wichtigen Beitrag dazu leistete, das chinesische Weltverständnis über die sinozentristischen Ordnungsvorstellungen hinaus zu erweitern. In der Literaturgeschichte wird Wei Yuans Name meist zusammen mit dem von (→) Gong Zizhen genannt, mit dem er die Forderung nach einem neuen, den Zeitumständen angepaßten Verständnis der klassischen Schriften teilte. Seine Sicht auf die Werke der Vergangenheit legte Wei u.a. in Arbeiten wie Der ursprüngliche Sinn von Laozi (Laozi benyi) oder Die klassische Essenz des Gongyang (Gongyang gu wei) dar. Als Dichter tat sich Wei insofern hervor, als er in seinen Versen einen patriotischen Ton pflegte und Landschaften sowie historische Ereignisse Chinas zum Thema machte. Gemeinsam mit Lin Zexu (1785 ‒ 1850) rief er die »Dichtergesellschaft von Xuannan« ins Leben. Unter seinen Prosaschriften, die sich durch einen lebhaften, bilderreichen Stil auszeichnen und zahlreiche Nachahmer fanden, sind vor allem die Landschaftsschilderungen bemerkenswert. Sein poetisches Werk und seine Prosa fanden Eingang in die Sammlung der Guwei-Halle mit Gedichten und Prosatexten (Guweitang shiwenji). WERKAUSGABEN: Wei Yuan ji, 2 Bde., Peking: Zhonghua Shuju, 1983; Wei Yuan quanji, Changsha: Yuelu, 1989; Wei Yuan shi wen xuan, hg. u. mit Anm. von Yang Jiqing, Shanghai: Huadong Shifan Daxue, 1990; Haiguo tuzhi, 3 Bde., hg. u. mit Anm. von Chen Hua, Changsha: Yuelu Shushe, 1998. SEKUNDÄRLITERATUR: Jane Kate Leonard: Wei Yuan and Chinaʼs Rediscovery of the Maritime World, Cambridge, Mass.: Harvard University, 1984; Li Hu: Wei Yuan yanjiu, Peking: Chaohua, 2002; Chen Qitai: Wei Yuan pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 2005; Li Suping: Wei Yuan sixiang tanxi, Chengdu: Baoshu Shushe, 2005. [TZ]

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Wei Zhuang 韦庄

Wei Zhuang 韦庄 (zi: Duanji, ca. 836 – 910), geb. in Duling bei Changʼan (heute Xiʼan, Provinz Shaanxi) Der Lieddichter Wei Zhuang war ein Ururenkel (→) Wei Yingwus. Erst nach mehreren Versuchen bestand er 894 das jinshi-Doktorexamen. Er erlebte den langsamen Niedergang der Tang-Dynastie (618 – 907) und den Zerfall Chinas in »Fünf Dynastien und Zehn Reiche«. 907 folgte er seinem Förderer Wang Jian (847 – 918) nach Sichuan, wo dieser das Frühere Shu-Reich (Qian Shu, 907 – 925) gründete. Wei Zhuang übernahm in der Hauptstadt Chengdu höchste Regierungsämter. Dort restaurierte er auch (→) Du Fus berühmte »Strohhütte«. Dies tat er sicherlich aus Bewunderung für den posthum an Ansehen gewinnenden Dichter der Tang-Blütezeit, jedoch auch, weil er sich wohl als »Landsmann« Du Fus fühlte: In Wei Zhuangs Heimatort Duling (im Süden der alten Präfektur Jingzhou, zu der die Hauptstadt Changʼan gehörte) hatte auch Du Fus Familie ihren Stammsitz gehabt. Von ehemals über 1000 poetischen Werken Wei Zhuangs sind nur ca. 300 shiGedichte und 47 ci-Lieder erhalten. Der Großteil seines literarischen Schaffens wurde 881 während der Eroberung Changʼans durch die Rebellenarmee des Militärgouverneurs Huang Chao zerstört. Bis 884 befand sich Wei Zhuang deshalb auf der Flucht. In dieser Zeit verfaßte er das Langgedicht »Klage der Frau von Qin« (»Qinfu yin«), das in 238 Versen den Untergang der Tang-Dynastie vorhersagt. Wei Zhuang steht mit seinem Werk an der Schwelle zwischen der mittelalterlichen Lyrik des shi-Gedichts, das in der Tang-Zeit vorherrschte, und der Lieddichtung (ci), die in der Song-Dynastie ihre neuzeitliche Blüte erleben sollte. Er zählt neben (→) Wen Tingyun (ca. 812 – 870) und (→) Li Yu (937–978) zu den Pionieren dieses neuen Genres. Seine ci-Lieder wurden in die 940 erschienene Sammlung Unter Blumen (Huajian ji) aufgenommen. WERKAUSGABEN: Wei Zhuang ci jiaozhu, hg. von Xia Chengtao, komm. von Liu Jincheng, Peking: Zhongguo Shehui Kexue, 1981; Wei Zhuang ji jiaozhu, hg. von Li Yi, Chengdu: Sichuan Sheng Shehui Kexueyuan, 1986. ÜBERSETZUNGEN: Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 267‒284; Among the Flowers: The Hua-chien chi, übers. von Lois M. Fusek, New York: Columbia University Press, 1982, S. 58‒74. SEKUNDÄRLITERATUR: John Timothy Wixted: The Song-Poetry of Wei Chuang (836 ‒ 910), Tempe: Arizona State University, 1979; Kang-i Sun Chang: The Evolution of Chinese Tz’u Poetry from Late T’ang to Northern Sung, Princeton: Princeton University Press, 1980, S. 42‒50; Marsha L. Wagner: The Lotus Boat. The Origin of Chinese Tz’u Poetry in T’ang Popular Culture, New York: Columbia University Press, 1984, S. 127‒134; Robin D.S. Yates: Washing Silk. The Life and Selected Poetry of Wei Chuang (834? ‒ 910), Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1988 [mit zahlreichen Übersetzungen]. [HP]

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Wen Tingyun 温庭筠

Wen Tingyun 温庭筠 (eig. Wen Qi, zi: Feiqing, ca. 812 – 870), geb. in Taiyuan (Provinz Shanxi) Der Dichter Wen Tingyun stammte aus einer angesehenen Beamtenfamilie, machte jedoch selbst kaum Anstalten, auch diese Laufbahn einzuschlagen. Um das Jahr 825 zog er (vermutlich aus der Gegend des Unteren Yangtse-Tals kommend) in die Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan) und unternahm einen Versuch, den jinshiDoktorgrad zu erlangen. Er scheiterte jedoch, angeblich, weil er seinen Kommilitonen bei ihren Prüfungsaufsätzen half. Wen soll zwar mit Hilfe persönlicher Kontakte für kurze Zeit ein Amt bekleidet haben, er zog es aber bald vor, als freier Gelehrter und Künstler zu leben – ein damals alles andere als respektabler Lebensweg. Künstlerisch hochbegabt, soll er neben der Dichtkunst mehrere Musikinstrumente beherrscht haben. Beide Talente – das sprachliche und das musikalische – vermochte er in einem neuen literarischen Genre zu vereinen: der Lieddichtung (ci). Diese wurde zu einer passenden alten oder neuen Melodie verfaßt und als Gesang vorgetragen. Die Liedtexte, die Wen Tingyun vorwiegend für Singmädchen aus den städtischen Vergnügungsvierteln schrieb (und zum Ärger seiner Zeitgenossen auch verkaufte), machten ihn – trotz oder gerade wegen seines nonkonformistischen und zuweilen promiskuitiven Lebenswandels – über Nacht berühmt. Seine zeitweilige Geliebte, die Kurtisane und Dichterin Yu Xuanji (844 – 868), war Inspiration und Adressatin vieler dieser Lieder. Auch ein Verbot des Kaisers konnte nicht verhindern, daß seine zwar freizügige, aber immer zarte, häufig bloß andeutende Liebeslyrik – und damit die freiere Gedichtform des ciLiedes – immer populärer wurde. Nachdem Wen Tingyun den entscheidenden Anstoß gegeben hatte, widmeten sich immer mehr Dichter diesem neuen Genre, denn hier gelang es ihnen leichter und spontaner, Gefühle und Gedanken auszudrücken, als dies in den streng reglementierten Gedichtformen des klassischen Vierzeilers (jueju) und Achtzeilers (lüshi) der Fall war. In der bedeutendsten frühen Sammlung von ci-Liedern, der 940 erschienenen Anthologie Unter Blumen (Huajian ji), nimmt Wens Lieddichtung mit 66 Stücken den größten Raum ein. Daneben hinterließ Wen Tingyun rund 300 shi-Gedichte und eine geringe Anzahl von Prosaschriften. WERKAUSGABEN: Wen Tingyun shi ci xuan, hg. u. komm. von Liu Yisheng u. Liu Sihan, Hongkong: Sanlian Shudian, 1986; Quan Tang shi suoyin: Wen Tingyun juan, hg. von Luan Guiming et al., Qinhuangdao: Xiandai, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 244‒254; Among the Flowers. The Hua-chien chi, übers. von Lois M. Fusek, New York: Columbia University Press, 1982, S. 15‒19; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, übers. von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 298‒302; Jonathan Chaves: The Tz’u Poetry of Wen T’ing-yün, Magisterarbeit, Columbia University, o.J.

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Wen Yiduo 闻一多 SEKUNDÄRLITERATUR: Lu I: Wen Fei-ch’ing und seine literarische Umwelt, Würzburg: Triltsch, 1939; Kang-i Sun Chang: The Evolution of Chinese Tz’u Poetry from Late T’ang to Northern Sung, Princeton: Princeton University Press, 1980, S. 33‒42; Marsha L. Wagner: The Lotus Boat. The Origin of Chinese Tz’u Poetry in T’ang Popular Culture, New York: Columbia University Press, 1984, S. 119‒127; Paul F. Rouzer: Writing Another’s Dream. The Poetry of Wen Tingyun, Stanford: Stanford University Press, 1993. [HP]

Wen Yiduo 闻一多 (eig. Wen Jiahua, Pseudonym: Wen Duo, zi: Yousan und Youshan, 1899 ‒ 1946), geb. in Xishui (Provinz Hubei) Wen Yiduo entstammte einer wohlhabenden Familie aus Xishui in der Provinz Hubei. Die Familie ermöglichte ihm eine Schulbildung sowohl in einer klassisch chinesisch geführten Privatschule als auch in einer Schule mit westlichen Einflüssen. Es war damals für seine weitere Ausbildung von großer Bedeutung, daß er jeweils die zu den Universitäten Hubei und Peking gehörige Grund- und Mittelschule besuchen konnte. 1922 führte ihn sein Kunststudium in die USA, nach Chicago und Colorado. Während dieser Zeit verfaßte er zahlreiche Gedichte, in denen er sein Heimweh und seine Vaterlandsliebe zum Ausdruck brachte. 1923 kam der Lyrikband Rote Kerze (Hong zhu) im Taidong-Verlag heraus. Diese Ausgabe enthielt 62 Gedichte, der 1981 im Volksliteraturverlag (Renmin Wenxue Chubanshe) erschienene gleichnamige Band 103 Gedichte. Dieser Band bietet ein umfangreiches Themenspektrum: von Vaterlandsliebe, Kritik an der Feudalherrschaft, persönlicher Liebe und Sehnsucht bis hin zu künstlerischen Idealen und philosophischen Gedanken über das menschliche Dasein. 1925 kehrte Wen Yiduo nach China zurück und übernahm die pädagogische Leitung der Pekinger Kunstakademie. Zugleich arbeitete er gemeinsam mit Xu Zhimo als Redakteur für die Lyrik-Rubrik der Morgenzeitung (Chenbao). Seine literaturwissenschaftlichen Bemühungen galten der Theoriebildung für eine vereinheitlichte Metrik in der modernen chinesischen Lyrik. 1927 ging er nach Nanjing und wurde Direktor des Fremdspracheninstituts der Sun-Yatsen-Universität. 1928 gründete er mit Xu Zhimo die Zeitschrift Neumond (Xinyue). Er war abwechselnd an verschiedenen Universitäten tätig und wirkte dort in leitenden Positionen. Im selben Jahr kam sein zweiter Gedichtband Totes Wasser (Si shui) heraus. Mit seinen drei ästhetischen Prinzipien des klaren Aufbaus, einer angemessenen Metrik und einer treffenden Bildlichkeit legte er eine neue Richtlinie für die Lyrik vor. In dem zweiten Lyrikband sind 28 Gedichte enthalten. Themen wie Vaterlandsliebe, Liebe, aber auch Zorn und Verbitterung angesichts der Unterdrückung der Arbeiterschicht und der Rassendiskriminierung in den USA stehen im Mittelpunkt seiner lyrischen Reflexion. Seine Gedichte sind gekennzeichnet durch Parallelismus in der Versgestaltung, klangvolle Reime und sprachliche Schönheit.

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Wu Bing 吴炳

Der Krieg gegen Japan und der darauffolgende Bürgerkrieg in China verändern Wen Yiduos Einstellung zur Politik nachhaltig. Von einem Dichter, der nach der Trennung von Politik und Kunst strebte, wandelte er sich nun zu einem politischen Aktivisten. Er trat der Chinesischen Demokratischen Vereinigung (Zhongguo minzhu tongmeng) bei und war zuständig für deren Öffentlichkeitsarbeit. Er ging auch offen gegen die Politik der Guomindang vor. Nach einer öffentlichen Rede anläßlich der Trauerfeier für den ermordeten Li Gongpu, der zuvor die Vorgehensweise der Guomindang scharf kritisiert hatte, wurde Wen Yiduo am selben Abend ebenfalls umgebracht. Wen Yiduo gilt in der chinesischen Literatur als bedeutender Dichter und Wegbereiter der modernen Lyrik. Zugleich wird er als ein ausgewiesener Kenner der klassischen Dichtungen Lieder des Südens (Chuci) und Buch der Lieder (Shijing) und als Experte für die Tang-zeitliche Lyrik geschätzt. WERKAUSGABEN: Wen Yiduo quanji, 4 Bde., Wuhan: Hubei Wenyi, 1993. ÜBERSETZUNGEN: Das Herz, es ist ein Hunger, übers. von Peter Hoffmann, Bochum: projekt verlag, 1999; Tanz in Fesseln. Essays, Reden, Briefe, übers. von Peter Hoffmann, Bochum: projekt verlag, 1999. SEKUNDÄRLITERATUR: Charles V. Olney: »The Chinese Poet Wen I-to«, in: Journal of Oriental Literature 7/1966, S. 8‒17; Patricia Uberoi: »Rhythmic Techniques in the Poetry of Wen I-to«, in: United College Journal 6 (1967‒68), S. 1‒25; Kai-yu Hsu: Wen I-to, Boston: Twayne, 1980; Peter Hoffmann: Wen Yiduos »Totes Wasser«. Eine literarische Übersetzung, Bochum: Brockmeyer, 1992; Wang-chi Wong: »›I am a Prisoner in Exile‹: Wen Yiduo in the United States«, in: Chinese Writing and Exile, hg. von Gregory Lee, Chicago: Center for East Asian Studies, The University of Chicago, 1993, S. 19‒34; Poet, Scholar, Patriot. In Honour of Wen Yiduo’s 100th Anniversary, hg. von Peter Hoffmann, Bochum u. Freiburg: projekt verlag, 2004. [WH]

Wu Bing 吴炳 (zi: Kexian, hao: Shiqu, Canhua zhuren, 1595 ‒ 1648), geb. in Yixing (heute Provinz Jiangsu) Der Dramatiker Wu Bing erwarb 1619 das Doktorat (jinshi) und war dann als Beamter tätig. Seine Posten umfaßten Ämter im Justiz- und Arbeitsministerium, er war Präfekt von Fuzhou. 1641 wurde er Vizeleiter der Bildungsbehörde von Jiangxi, in der Frühphase der Südlichen Ming-Dynastie (1646 ‒ 1651) war er als Vizeminister des Kriegsministeriums tätig und gleichzeitig als Hochschullehrer. Als die Mandschuren im Süden die letzten Loyalisten der Ming-Dynastie (1368 ‒ 1644) angriffen, wurde er gefangengenommen. Er verweigerte dennoch den Dienst im neuen Staat und hungerte sich zu Tode. Trotz seiner Bedeutung für die Entwicklung des chinesischen Theaters ist die Sekundärliteratur zu ihm, zumal in westlichen Sprachen, äußerst spärlich. Aus Gründen wie diesen dürfte bei den Lebensdaten auch eine gewisse Konfusion herrschen.

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Wu Chengʼen 吴承恩

Wu Bing ist ein Vertreter der Romanze (chuanqi). Die fünf Spiele, die von ihm überliefert sind, werden unter dem Titel Fünf Stücke aus dem Canhua-Studio (Canhuazhai wu zhong qu) zusammengefaßt. Zu ihnen gehören Die Poststation des Herzens (Qing you ji), Die Schöne im Bildnis (Hua zhong ren), Der Garten im Westen (Xiyuan ji), Das Mittel zur Heilung von Eifersucht (Liaodu geng) und Die grüne Päonie (Lü mudan). Wiewohl alle fünf Stücke, die von der Liebe handeln, durch die chinesische Literaturkritik hoch eingestuft werden, hat sich letztere Komödie am ehesten dem Bewußtsein des Theaterpublikums eingeprägt. Auch sie steht unter dem Einfluß von (→) Tang Xianzu und Ye Xianzu (1566 ‒ 1641), d.h., sie ist inhaltlich wie formal auf der Höhe der Zeit. Ihre dreißig Szenen im Kunqu-Stil spielen zur Zeit der Südlichen Song-Dynastie (1127 ‒ 1279) in der damaligen Hauptstadt Lin’an, dem heutigen Hangzhou. Sie entwickeln ein neues Frauenbild. In einer Art spaßigem Verwechslungsspiel finden zwei Paare durch das Verfassen von Gedichten auf eine seltene grüne Päoniensorte zueinander. Frau und Mann kennen einander und finden einander aus freien Stücken, was für die damalige Zeit unerhört ist. Aber mehr noch, sie sind einander gleichgestellt. Frauen, die wie hier ihre »Prüfungsaufgaben« in Form von Gedichten lösen, demonstrieren nicht nur ihre hohe Bildung, sondern auch ihre Fähigkeit, ein Staatsexamen zu bestehen. Dem in Poesie und Dialog geschickt eingesetzten Wort fällt damit ein größeres Gewicht zu als Herkunft, Besitz und Geschlecht. In der Vergangenheit ist auf der Basis der Biographie auch eine politische Lesung der Komödie unternommen worden, doch hat sich über die Zugehörigkeit des Autors zur »Reformpartei« namens Donglin nichts Stichhaltiges verifizieren lassen. WERKAUSGABEN: Zhongguo shi da gudian xiju ji, hg. von Wang Jisi, Jinan: Qilu Shushe, 2006, S. 533‒658. SEKUNDÄRLITERATUR: Cyril Birch: Scenes for Mandarins. The Elite Theatre of the Ming, New York: Columbia University Press, 1995 [mit Übers., S. 183‒217]; Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 496‒511. [WK]

Wu Chengʼen 吴承恩 (zi: Ruzhong, hao: Sheyang shanren, ca. 1500 ‒ ca. 1582), geb. in Huai’an (Provinz Jiangsu) Wu entstammte einer Familie, die noch in der Generation des Urgroßvaters und des Großvaters Beamte hervorgebracht hatte. Wus eigener Vater jedoch, ein Halbwaise, wuchs in einer Händlerfamilie auf und mußte sich als kleiner Kaufmann durchs Leben schlagen. Zwar führte Wu in seiner Jugend kein wohlbehütetes Leben, doch brannte in ihm offenbar der Wunsch, an die Tradition seiner Vorfahren anzuknüpfen, so daß er sich in frühen Jahren in das Studium vertiefte, eine Lehr-

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Wu Chengʼen 吴承恩

anstalt in seiner Heimatstadt besuchte und die Lehrer früh mit seinen eingereichten Schriften beeindruckte. Auch in späteren Jahren verschaffte er sich die Gunst einflußreicher Männer in seinem Umfeld dadurch, daß er immer wieder Gedichte und Vorworte zu den Sammlungen anderer verfaßte. Seine guten Verbindungen und sein unabweisliches Talent dürften die Gründe dafür gewesen sein, daß Wu in den vierziger Jahren ein Stipendium erhielt, das ihm die Reise nach Peking ermöglichte. Dort kam er im Kreis um Xu Zhongxing (1517 ‒ 1578) und He Liangjun (1506 ‒ 1573) mit einigen der bekanntesten Literaten seiner Zeit in Verbindung. Bei den Prüfungen zum Einstieg in eine Beamtenkarriere war er jedoch nur auf Kreisebene erfolgreich, so daß er erst jenseits der Fünfzig einen akademischen Posten in der Südlichen Hauptstadt Nanjing erhielt. Gut zehn Jahre darauf wurde ihm ein kleiner Posten in Zhejiang (Kreis Changxing) zugewiesen, dessen Gegenstand Polizeiaufgaben und Siloverwaltung waren. Seine Konflikte mit einflußreichen Persönlichkeiten vor Ort führten zu Verleumdung, Absetzung und Haft. Nach der Aufklärung der Vorfälle und der Wiederherstellung seines Namens begab sich Wu jedoch nicht auf den ihm zugedachten neuen Posten im südchinesischen Hubei, sondern schied aus dem Beamtendienst aus und zog sich in seine Heimat zurück, wo er sich der Dichtkunst widmete, kleinere schriftliche Auftragsarbeiten übernahm und Geschäften nachging. Vielen seiner literarisch tätigen Zeitgenossen war Wu Chengʼen ein Begriff, doch finden sich nirgendwo direkte Hinweise auf eine Verbindung zur Reise in den Westen (Xiyouji), als deren Verfasser oder Herausgeber Wu später immer wieder angeführt wurde. Falls Wu jedoch mit der Entstehung des Romans zu tun hatte, dann handelt es sich mit Sicherheit um ein Spätwerk. Da er keine direkten Nachkommen besaß, blieben seine Schriften verstreut und teilweise verschollen; erst ein Verwandter ordnete später den literarischen Nachlaß und brachte ihn in einem mehrbändigen Werk mit dem Titel Erhaltene Manuskripte des Sheyang xiansheng (Sheyang xiansheng cungao) heraus. Im Bereich der Erzählkunst wird Wu Chengʼen neben der Reise in den Westen noch eine Sammlung von Erzählungen namens Aufzeichnungen über Inschriften auf dem Dreifuß des Kaisers Yu (Yu ding zhi) zugeschrieben, doch ist von dem Werk bis auf ein Vorwort nichts mehr erhalten. Es ist jedoch gut möglich, daß die darin enthaltenen Texte Vorarbeiten zur Reise in den Westen darstellten. WERKAUSGABEN: Xiyouji, Peking: Renmin Wenxue, 1984. ÜBERSETZUNGEN: The Journey to the West, 4 Bde., übers. u. hg. von Anthony C. Yu, Chicago, London: University of Chicago Press, 1977 – 1983; Die Räuber vom Liangschan, übers. von Johanna Herzfeldt, 2 Bde., Leipzig: Insel, 1968. SEKUNDÄRLITERATUR: Xiyouji yanjiu lunwenji, Peking: Zuojia, 1957; Liu Ts’un-yan: »Wu Chengʼen: His Life and Career«, in: Tʼoung Pao 53 (1967), S. 1‒97; Su Xing: »Zhuizong Xiyouji zuozhe Wu Cheng’en nanxing kaocha baogao«, in: Jilin Shida xuebao (Zhexue shehui kexue) 61 (1979), S. 78‒92; Andrew H. Plaks: The Four Masterworks

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Wu Jingzi 吴敬梓 of the Ming Novel, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1987 (v.a. S. 183–276). [TZ]

Wu Jingzi 吴敬梓 (zi: Minxuan, hao: Limin, Wenmu laoren, 1701 ‒ 1754), geb. in Quanjiao (Provinz Anhui) Die entfernteren Vorfahren Wu Jingzis aus dem nördlich des Yangtse liegenden Ort Quanjiao hatten meist noch bäuerlichen Hintergrund besessen. Ein enormer gesellschaftlicher Aufstieg zeichnete sich jedoch ab, als gleich mehrere Angehörige des Wu-Clans aus der Region im 17. Jahrhundert die Doktorprüfung (jinshi) in Peking ablegten. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Wu Guodui (1618 ‒ 1680), Wu Jingzis Großvater, der aus den Palastprüfungen 1658 als Drittbester hervorging und Mitglied der Hanlin-Akademie wurde. Damit war für die Familie aber der Zenit überschritten, Wus Vater bekleidete nur noch einen niederen Beamtenposten. Wu Jingzis literarischem Hauptwerk Die Gelehrten (Rulin waishi) haftet daher auch etwas Wehmütiges an, konnte er doch selber nicht mehr an die Erfolge seiner Vorfahren anknüpfen. Zwar erwarb er 1723 noch den Titel des Bakkalaureus, doch der kurz darauf eintretende Tod des Vaters stellte Wu vor die Notwendigkeit, einen Haushalt zu leiten. Fürs erste bewahrte ihn ein ausreichendes Erbe vor materieller Not, aber der Neid der Verwandtschaft und ein verschwenderischer Lebensstil in den Vergnügungsvierteln Nanjings führten bald zu seinem finanziellen Ruin. Der Ansehensverlust in der Heimat zwang Wu zur endgültigen Übersiedlung nach Nanjing, allerdings erntete er auch dort wegen seiner Lebensführung Kritik von seiten der Behörden, so daß er schließlich alle Ambitionen auf eine Beamtenkarriere fahren ließ. Erst 1736 legte Wu die ersten Examina zu einer vom Hofe verordneten Sonderprüfung für potentielle Beamte ab, zog später jedoch seine Bewerbung unter Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit zurück. Mehr schlecht als recht schlug er sich durch literarische Gelegenheitsarbeiten und Zuwendungen von Freunden und Bekannten durchs Leben. Zahlreiche ernsthafte literarische Werke, die Wu neben seinem Roman vorlegte, zeigen eine große Rastlosigkeit. Um 1740 veröffentlichte er eine Sammlung seiner Lyrik unter dem Titel Die Gebirgsklause von Wenmu (Wenmu shanfang ji); nicht erhalten ist dagegen seine Abhandlung Über die Poesie (Shishuo). Zu nennen sind außerdem noch mehrere Werke zu den wichtigen Texten der chinesischen Geschichtsschreibung. Insgesamt läßt das überlieferte Œuvre Wus einen erheblichen Einfluß durch die klassischen Schriften und ein aktives Eintreten für die konfuzianischen Werte erkennen, etwas, das man in Wus Leben ansonsten eher vermißt. WERKAUSGABEN: Wenmu shanfang ji, mit Anm. von Li Hanqiu u. Wu Mengfu, Hefei: Huangshan Shushe, 1993; Rulin waishi, Jinan: Qilu Shushe, 2003. ÜBERSETZUNGEN: Der Weg zu den weißen Wolken. Geschichten aus dem Gelehrtenwald, übers. von Yang Enlin u. Gerhard Schmitt, Leipzig, Weimar: Kiepenheuer, 1962/1989;

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Wu Weiye 吴伟业 The Scholars, übers. von Yang Hsien-Yi u. Gladys Yang, Peking: Foreign Languages Press, 1973. SEKUNDÄRLITERATUR: Meng Xingren u. Meng Fanjing: Wu Jingzi pingzhuan, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1987; Zbigniew Slupski: »Three Levels of Composition of the Rulin waishi«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 49, 1 (1989), S. 5‒53; Chen Meilin: Wu Jingzi pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1990; Roland Altenburger: Anredeverhalten in China um 1750. Soziolinguistische Untersuchungen am Roman Rulin waishi, Bern et al.: Peter Lang, 1997. [TZ]

Wu Weiye 吴伟业 (zi: Jungong, hao: Meicun, 1609 ‒ 1672), geb. in Taicang (Provinz Jiangsu) Ein großer Teil des lyrischen Werkes von Wu, der zu den wichtigsten Dichtern des 17. Jahrhunderts gehört, steht in dem besonderen Spannungsverhältnis, einerseits der untergegangenen Ming-Dynastie (1368 – 1644) die Treue zu halten und andererseits seiner Sohnespflicht gegenüber den Eltern zu genügen. Es waren zunächst die Zeitumstände, die ihn diesen Spannungen aussetzten: 1631 erfolgreich aus den Prüfungen zum Doktor (jinshi) hervorgegangen, wurde Wu Mitglied der politisch-literarischen Gesellschaft namens Fushe, an deren wechselndes Schicksal während des letzten Jahrzehnts der Dynastie auch sein eigenes gekoppelt war. Der endgültige Rückzug ins Privatleben nach der Übernahme der Macht durch die Qing blieb ihm versagt, denn 1653 zwang man ihn zur Übernahme eines Beamtenpostens. Wenige Jahre darauf entzog er sich den Amtspflichten mit der Begründung, der Trauerzeit für seine verstorbene Mutter nachkommen zu müssen, und verlor 1661 endgültig seine Beamtenwürde nach der Verwicklung in eine Steueraffäre. Obwohl Wu auch über das Leben zu Friedenszeiten schrieb, sind vor allem seine Gedichte über den Niedergang der Ming berühmt geworden. Dazu gehören insbesondere seine langen Balladen wie zum Beispiel »Der Gesang von Yuanyuan« (Yuanyuan qu«) mit der Geschichte des Ming-Generals Wu Sangui, der auf die Seite der Mandschuren überläuft, nachdem er erfahren hat, daß seine Lieblingskonkubine Chen Yuanyuan von dem Rebellen Li Zicheng gefangen worden ist. In »Der Fanqing-See« (»Fanqinghu«) beschwört Wu noch einmal die Erinnerung an die Flucht seiner Familie herauf, nachdem die Heimatregion von feindlichen Truppen erobert worden ist. Poetologisch ließ sich Wu Weiye von keiner der im 16. und 17. Jahrhundert im Aufschwung befindlichen Richtungen vereinnahmen, vielmehr ist bei ihm eine Orientierung an den Traditionen der Tang auszumachen. Ein Dichtervorbild, das in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird, ist (→) Du Fu. Zwar sparte Wu nicht mit Pathos und Wehmut, wenn es um die Vergangenheit unter den Ming ging, dennoch blieb sein Werk von der im 18. Jahrhundert einsetzen-

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Wu Wenying 吴文英

den Zensur verschont, wofür das Wohlwollen des Qianlong-Kaisers (reg. 1736 – 1796) ein wichtiger Grund gewesen sein dürfte. Daneben könnte aber auch der allegorische Stil Wus eine Rolle gespielt haben, der einen gewissen Deutungsspielraum zuließ. Jedenfalls kann die Nachwelt auf einen umfangreichen Textkorpus zurückgreifen mit knapp tausend shi-Gedichten und nahezu hundert ciLiedern. Auch das Prosawerk umfaßt beachtliche 35 Schriftrollen. WERKAUSGABEN: Wu Meicun quanji, hg. u. mit Anm. von Li Xueying, 3 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1990. ÜBERSETZUNGEN: Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-Chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 475f. SEKUNDÄRLITERATUR: Ye Junyuan: Wu Weiye pingzhuan, Peking: Shoudu Shifan Daxue, 1999; Tung Yuan-fang: Two Journeys to the North. A Comparative Study of the Poetic Journals of Wen T’ien-hsiang and Wu Mei-ts’un, Taipeh: Bookman Books, 2000. [TZ]

Wu Wenying 吴文英 (zi: Junte, hao: Mengchuang, Juewang, ca. 1200 – ca. 1260), geb. in Siming (heute Yinxian, Provinz Zhejiang) Wu Wenying war ein namhafter Lieddichter der Südlichen Song-Dynastie (1127 – 1279), deren politischer und ökonomischer Untergang sich zu seinen Lebzeiten bereits abzeichnete. Die Bedrohung durch die expandierenden Nomadenvölker des Nordens, allen voran die Mongolen, war allgegenwärtig. Wu Wenying verbrachte vermutlich die meiste Zeit seines Lebens in der Region um Suzhou (Provinz Jiangsu) und in der damaligen Hauptstadt Hangzhou (Provinz Zhejiang). In beiden Städten soll er eine Konkubine unterhalten haben, verlor jedoch beide verfrüht: Die Geliebte aus Suzhou trennte sich 1244 von ihm, die aus Hangzhou verstarb. Über weitere biographische Details kann im Falle dieses Dichters nur spekuliert werden, denn es existiert keine zeitgenössische offizielle Biographie über ihn. Sehr wahrscheinlich hatte er an keiner der staatlichen Beamtenprüfungen teilgenommen und deshalb nur niedrige Posten inne. Hinweise in seiner Lyrik lassen vermuten, daß er eine Zeitlang im Amt für Getreidetransport und danach als Privatsekretär eines höheren Beamten seinen Lebensunterhalt verdiente. In späteren Jahren fand er in Prinz Rong, dem Bruder Kaiser Lizongs (reg. 1225 – 1264), einen großzügigen Förderer. Unter den wichtigsten Lieddichtern der Song-Zeit war Wu Wenying mit rund 350 ci-Liedern der zweitproduktivste nach (→) Xin Qiji. Seine Lyrik hat jedoch die Kritikergemeinde generationenübergreifend polarisiert. Auf den ersten Blick erscheinen seine Lieder unberührt von den Wirren der Zeit, so als habe er sich in ausschließlich private, mal sinnenfreudige, mal melancholische Erinnerungen an seine verlorenen Lieben geflüchtet, denn zumindest an der Oberfläche bleibt er dem traditionellen Thema der Lieddichtung treu: der Liebe. Man hat ihn deshalb

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Wu Woyao 吴沃尧

den »Vollender des Privaten« (Wolfgang Kubin) genannt, dessen Werk sich nunmehr – einem in der Südlichen Song-Dynastie erkennbaren Trend der Verinnerlichung folgend – jeglicher Verallgemeinerung entzieht. Auch wenn nicht wenige Interpreten aus seinen Liedern dennoch ein soziales Engagement herauszulesen versucht haben, so hat ihnen seine überladene, schwer zu entschlüsselnde Metaphorik den Weg versperrt. Hinzu kommt die Tatsache, daß kaum biographische Rückschlüsse möglich sind, so daß die Interpretation seiner Lieder denkbar vage bleiben muß. Das Urteil über seine Lyrik fiel dementsprechend verschieden aus: Sollte man sie nun als obskur verurteilen oder ihre formale und intellektuelle Vielschichtigkeit loben? Neben einer Menge kritischer Stimmen wußte Wu Wenying auch Bewunderer um sich zu scharen, allen voran die Changzhou-Schule der Lieddichtung (Changzhou Cipai). Auch theoretisch hatte er mit seiner elitären Auffassung von der ci-Dichtung (in Abgrenzung zu den seiner Meinung nach schlichteren Volksliedtraditionen) großen Einfluß auf die Weiterentwicklung dieses Genres. Spätere namhafte Literaturkritiker wie Hu Shi und (→) Wang Guowei ließen allerdings kein gutes Haar an ihm. WERKAUSGABEN: Quan Song ci, hg. von Tang Guizhang, 5 Bde., Shanghai: Zhonghua Shuju, 1965, Bd. 4, S. 1873‒2942. ÜBERSETZUNGEN: A Collection of Chinese Lyrics, übers. von Alan Ayling u. Duncan Mackintosh, London: Routledge, 1965, S. 183. SEKUNDÄRLITERATUR: Chia-ying Ye Chao: »Wu Wen-ying’s Tz’u: A Modern View«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 29 (1969), S. 53‒92; dies.: »The Ch’ang-chou School of Tz’u Criticism«, in: Chinese Approaches to Literature from Confucius to Liang Ch’i-ch’ao, hg. von Adele Austin Rickett, Princeton: Princeton University Press, 1978, S. 151‒188; Grace S. Fong: Wu Wenying and the Art of Southern Ci Poetry, Princeton: Princeton University Press, 1987. [HP]

Wu Woyao 吴沃尧 (eig. Wu Baozhen, zi: Xiaoyun, hao: Jianren, Pseudonyme: Wo Foshanren, Lao Shanghai, Lao Shaonian etc., 1866 ‒ 1910), geb. in Foshan (Provinz Guangdong) Trotz seines frühen Todes hinterließ Wu Woyao eines der umfangreichsten literarischen Werke seiner Zeit. Es war dabei vor allem die Erzählkunst, der Wu nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch eine Reihe neuer Impulse gab. Daß er in seinen Büchern immer wieder Kritik an den Übeln der chinesischen Beamtenschaft übte, könnte mit seinem eigenen Familienhintergrund zu tun gehabt haben. Seit der Song-Dynastie (960 – 1279) siedelte die Familie Wu im kantonesischen Foshan und hatte eine Reihe einflußreicher Beamter hervorgebracht. Zur Zeit von Wu Woyaos Geburt hatten die Wus ihre besten Jahre aber schon hinter sich; seine Kindheit dürfte der spätere Autor in relativ dürftigen Verhältnissen verbracht haben. Daß er nach dem Tod des Vaters 1882 als junger Familienvorstand die Verant-

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Wu Woyao 吴沃尧

wortung für seine Angehörigen trug, dürfte mit dazu beigetragen haben, daß sich Wu den Wunsch versagte, an den Prüfungen teilzunehmen und eine Beamtenkarriere zu verfolgen. Statt dessen machte er sich daran, in Shanghai eine Arbeit zu suchen. Eine erste Anstellung fand er in dem 1865 geschaffenen Jiangnan-Arsenal, das mit Unterstützung des Auslands zur Herstellung von Waffen, Schiffen und Maschinen diente. Die technischen Kenntnisse, die Wu hier erwarb, haben in seinem späteren Werk zahlreiche Spuren hinterlassen. Seine publizistische Karriere begann er schließlich Ende der 90er Jahre bei der Shanghaier Tageszeitung Zilin Hubao, wechselte jedoch in den folgenden Jahren zu immer neuen Blättern, deren satirischer Umgang mit den aktuellen Tagesproblemen ebenfalls Einfluß auf seinen späteren literarischen Stil ausübte. Die rasche Folge, mit der Wu seine Werke seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorlegte, hat ihren Grund nur zum Teil in dem Wunsch, Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Einflußnahme über die Literatur wahrzunehmen; daneben haben auch ganz konkrete finanzielle Erwägungen eine Rolle gespielt, lebte Wu doch zu jener Zeit ausschließlich von der Schriftstellerei. Daß die Werke dennoch klar identifizierbar bleiben und nicht den Eindruck hinterlassen, als habe Wu Vielschreiberei betrieben, hat damit zu tun, daß er meist ganz unterschiedliche Genres für seine Themen auswählte. So finden sich in Wus Œuvre an Romanen (ihm werden siebzehn Werke zugeschrieben, die jedoch nicht alle zu Ende geführt sind) Anklänge an den Gesellschaftsroman und an den Liebesroman ebenso wie an die Tradition des historischen Romans. Die Kernthemen seiner späteren gesellschaftskritischen Romane und Erzählungen hatte Wu bereits 1902 in dem Prosatext »Wu Jianren weint« (»Wu Jianren ku«) formuliert: die Unfähigkeit der chinesischen Bürokratie, Mißstände im Erziehungswesen und die Widerstände gegen die Durchführung von Reformen. Das kulturelle und gesellschaftliche Umfeld in Shanghai und zwischenzeitlich auch in Hankou ermöglichte Wu Woyao jedenfalls nicht nur die Pflege seiner literarischen Ambitionen, sondern auch ein starkes politisches Engagement. Immer wieder war er bei Aktionen auf der politischen Bühne anzutreffen, zuletzt darum bemüht, als Leiter der Shanghaier Landsmannschaft für Guangdong und Guangxi die Bildungsanliegen der Kinder seiner südchinesischen Landsleute voranzutreiben. WERKAUSGABEN: Wu Jianren quanji, hg. von Hai Feng, Harbin: Beifang Wenyi, 1998. ÜBERSETZUNGEN: Wu Woyao: Vignettes from the Late Chʼing. Bizarre Happenings Eyewitnessed over two Decades, übers. u. mit einer Einleitung von Shih Shun Liu, Hongkong: Chinese University of Hongkong, 1975; The Sea of Regret. Two Turn of the Century Chinese Romantic Novels, übers. von Patrick Hanan, Honolulu: University of Hawai’i Press, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: Wu Jianren yanjiu ziliao, hg. von Wei Shaochang, Shanghai: Shanghai Guji, 1980; Ann C.B. Gold: Wu Jianren and the Late-Qing »New Fiction« Movement, Diss., University of London, 1987; Kai Nieper: Neun Tode, ein Leben. Wu Woyao (1866 ‒ 1910). Ein Erzähler der späten Qing-Zeit, Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang, 1995;

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Xia Jingqu 夏敬渠 Theodore Huters: »Wu Jianren: Engaging the World«, in: ders.: Bringing the World Home. Appropriating the West in Late Qing and Early Republican China, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 2005, S. 123‒150. [TZ]

Xi Kang (→) Ji Kang Xia Jingqu 夏敬渠 (zi: Maoxiu, hao: Erming, 1705 ‒ 1787), geb. in Jiangyin (Provinz Jiangsu) Xia Jingqu entstammte einer ursprünglich einflußreichen Familie, die noch in den letzten Jahrzehnten der Ming-Dynastie (1368 – 1644) eine Reihe von Gelehrten und mächtigen Beamten hervorgebracht hatte. Neben dem Studium der chinesischen Klassiker eignete er sich umfassende Kenntnisse in den verschiedensten Wissenschaften an, darunter Medizin, Astronomie und Mathematik. In dem wohl zum Ende seines Lebens verfaßten Roman Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan) breitete Xia seinen gesamten Bildungshorizont noch einmal aus. Die Hinwendung zur Wissenschaft war es auch, die ihn ein klares Bekenntnis zum Konfuzianismus abgeben ließ, wohingegen er die buddhistischen Lehren verwarf. Ein Amt blieb ihm trotz seiner Vertrautheit mit den klassischen Schriften dennoch versagt, und auch der Versuch, über einflußreiche Persönlichkeiten aus seinem Umfeld eine angemessene Stellng zu erlangen, scheiterte an unglücklichen Umständen: Ritenminister Yang Mingshi (1661 ‒ 1736), der wie Xia aus Jiangyin stammte und ihn dem Kaiser für die Kompilierung von Schriften empfehlen wollte, starb, bevor er das Gesuch einreichen konnte. Getrieben von materieller Not und der Sehnsucht nach Anerkennung, führte Xia lange Jahre eine unstete Existenz auf Wanderungen durch das Reich. Allein die Orte, die er in seinen Gedichten anspricht, weisen auf ausgedehnte Besuche der südchinesischen Provinzen, Zhejiang, Anhui und Jiangsu sowie der nordchinesischen Landesteile in Shandong, Shanxi und Peking hin. Zahlreiche Schriften von Xia Jingqu sind uns nur dem Titel nach überliefert – wie z.B. Überflüssige Erörterungen zu den Klassikern und den historischen Schriften (Jingshi yulun), Sammlung von Studien zur Antike (Xuegubian) oder Medizinische Entdeckungen (Yixue fameng) –, da Xia die Mittel zum Druck und einer weiteren Verbreitung seiner Werke fehlten. WERKAUSGABEN: Yesou puyan, 4 Bde., Peking: Renmin Zhongguo, 1993. SEKUNDÄRLITERATUR: Zhao Jingshen: »Yesou puyan yu Xiashi zongpu«, in: Zhongguo xiaoshuo congkao, Jinan: Qilu Shushe, 1980, S. 433‒447; Joanna Ching-Yu Kuriyama: Confucianism in Fiction. A Study of Hsia Ching-Ch’u’s »Yeh-Sou P’u-Yen«, Diss., Harvard University, 1993; Stephen J. Roddy: Literati Identity and Its Fictional Representations in Late Imperial China, Stanford, California: Stanford University Press, 1998. [TZ]

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Xia Yan 夏衍

Xia Yan 夏衍 (eig. Shen Naixi, Pseudonyme: Shen Duanxian, Cai Shusheng, Huang Zibu, Qin Bingshan, Luo Fu etc., 1900 ‒ 1995), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) In eine verarmte Familie hineingeboren, mußte Xia Yan früh auf den Besuch einer weiterführenden Schule verzichten und machte eine Berufsausbildung zum Färber. Später erhielt er über Umwege doch die Gelegenheit, an einer Fachhochschule zu studieren. 1919 nahm er an der Bewegung des 4. Mai teil und gab eine Zeitschrift heraus, in der avantgardistische Aufsätze veröffentlicht wurden. Nach Abschluß des Studiums ging er als Stipendiat nach Japan und studierte in Fukuoka Elektrotechnik. Während seines Studiums in Japan schloß er sich der Arbeiterbewegung an und nahm an den Aktivitäten der Linken teil. Wegen seines politischen Engagements wurde er polizeilich gesucht und mußte Japan 1927 verlassen. Im selben Jahr trat er der Kommunistischen Partei Chinas bei. Er war, gemeinsam mit (→) Tian Han, Gründer der Theatervereinigung der Linken. Seine Karriere im Filmbereich begann 1932 mit einer Beratungstätigkeit bei Regiearbeiten. 1933 schrieb er Drehbücher wie Strom (Kuangliu), Frühlingsraupen (Chunchan), Markt für Schminkartikel (Zhifen shichang), 24 Stunden in Shanghai (Shanghai de 24 xiaoshi), Freiheitsstatue (Ziyou shen). Ab 1934 verfaßte er Theaterstücke. Bekannt wurden Werke wie Sai Jinhua (Sai Jinhua), Die Geschichte der Qiu Jin (Qiu Jin zhuan) und Unter den Dächern von Shanghai (Shanghai wuyan xia). 1936 veröffentlichte er die literarische Reportage »Kontraktarbeiterinnen« (»Baoshengong«). Seine Arbeiten sind stark gesellschaftspolitisch motiviert, und seine Reportage »Kontraktarbeiterinnen« spiegelt insbesondere das Leben der Arbeiterklasse unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen im damaligen Shanghai wider. Wie so viele andere seiner Generation durchlebte auch er die verschiedenen politischen Phasen nach 1949. Er hatte wichtige politische Funktionen im Kulturbereich inne und konnte Aufführungen bedeutender Theaterstücke von (→) Lu Xun, Tian Han und anderen Autoren realisieren. Während der Kulturrevolution (1966 – 1976) wurde er politisch verfolgt, war lange Zeit im Gefängnis und wurde erst 1977 rehabilitiert. Xia Yan ist ein bedeutender Wegbereiter der neuen Theater- und Filmkunst Chinas und hat wichtige praktische und theoretische Beiträge zur Entwicklung des Genres Film im modernen China geleistet. WERKAUSGABEN: Qiu Jin zhuan, Shanghai: Shanghai Shenghuo Shudian, 1937; Xia Yan juzuo xuan, Peking: Renmin Wenxue, 1953; Xia Yan xuanji, Peking: Renmin Wenxue, 1959; Baoshengong, Peking: Renmin Wenxue, 1978; Xia Yan jinzuo, Chengdu: Sichuan Renmin, 1980. ÜBERSETZUNGEN: Unter den Dächern von Shanghai. Stück in 3 Aufzügen, übers. von Walter Eckleben, Berlin [Ost]: Henschelverlag, 1960; »Sai Jinhua«, in: Stephan von Minden: Die merkwürdige Geschichte der Sai Jinhua, Stuttgart: Steiner, 1994, S. 263‒321.

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Xiao Hong 萧红 SEKUNDÄRLITERATUR: Harry Kuoshu: Lightness of Being in China. Adaptation and Discursive Figuration in Cinema and Theater, New York: Peter Lang, 1999, S. 51‒70. [WH]

Xiao Hong 萧红 (eig. Zhang Qianying, Pseudonyme: Tiandi, Qiaoyin, 1911 ‒ 1942), geb. in Hulan (heute Harbin, Provinz Heilongjiang) Xiao Hong wurde in einer Grundbesitzerfamilie in Hulan (heute ein Teil von Harbin) in der Provinz Heilongjiang geboren. Ihre Mutter starb früh, und mit ihrer Stiefmutter kam sie nicht zurecht. Daher war ihre Kindheit geprägt von mangelnder Aufmerksamkeit und fehlender Liebe. Der Reichtum der Familie ermöglichte ihr jedoch eine solide Schulbildung, und in der Bibliothek des Großvaters fand sie Zugang zur klassischen Literatur. Um einer arrangierten Ehe durch ihre Eltern zu entkommen, flüchtete sie 1930 in ein Hotel im Stadtzentrum. Dort lernte sie den Schriftsteller (→) Xiao Jun, damals Redakteur einer Lokalzeitung, kennen. Er befreite sie aus den Fängen des Hotelbesitzers, der Xiao Hong wegen einer Geldschuld gefangenhielt. Gemeinsam mit Xiao Jun veröffentlichte sie ihre erste Erzählsammlung unter dem Titel Mühsamer Weg (Bashe). 1934 reiste sie nach Qingdao, um die Novelle Der Ort des Lebens und des Sterbens (Shengsi chang) vorzubereiten. 1935 erschien die Novelle in der von (→) Lu Xun herausgegebenen Reihe Sklaven (Nuli congshu) und machte Xiao Hong in der Literaturszene bekannt. Die Anerkennung ihrer literarischen Fähigkeiten und die Unterstützung durch Lu Xun motivierten sie, weitere Werke in Angriff zu nehmen. Nach einer Kur in Japan schrieb sie Erzählungen wie »Hand« (»Shou«) und »Auf dem Ochsenkarren« (»Niuche shang«). Gegenstand ihres literarischen Schaffens ist die Darstellung des Lebens in Nordostchina während der japanischen Besatzung und des Kampfes der ländlichen Bevölkerung ums Überleben. Dabei spielen Themen wie Liebe und Empfindsamkeit eine wichtige Rolle. Aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen war Xiao Hong in ihren literarischen Betrachtungen stets feinfühlig, gefühlvoll, detailsicher und voller Menschlichkeit gegenüber Unzulänglichkeiten und Charakterschwächen ihrer Mitmenschen. Das Leben dieser hochsensiblen Frau war durch Wanderschaft und Brüche in den Beziehungen bestimmt. Diese Lebensrealität mit Ereignissen wie der Trennung von Xiao Jun, den gescheiterten weiteren Beziehungen und dem Tod ihres Kindes lieferte ihr einerseits viele literarische Stoffe, beeinträchtigte aber andererseits ihre Gesundheit. Dennoch stellte sie 1940 die Manuskripte für die Romane Ma Bole (Ma Bole [Eigenname]) und Geschichten vom Hulanfluß (Hulan He zhuan) fertig. In den Geschichten vom Hulanfluß verarbeitet sie ihre eigenen Erlebnisse in ihrer Heimat literarisch und schafft so ein lebendiges Bild voller Lokalkolorit von den Menschen und dem Leben in dieser Region. Durch ihre lebensnahe Schilderung und die Leichtigkeit und Poesie ihrer Sprache gelingt Xiao Hong ein eindrucksvolles literarisches Dokument der Menschen am Fluß von Hulan.

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Xiao Jun 萧军

Aufgrund einer Fehldiagnose des behandelnden Arztes starb Xiao Hong 1942 in Hongkong an Diphtherie. WERKAUSGABEN: Bashe, mit Xiao Jun, Harbin: Wuhua Yinshuashe, 1933; Shengsi chang, o.O.: Rongguang Shuju, 1935; Niuche shang, Shanghai: Wenhua Shenghuo, 1936; Qiao, Shanghai: Wenhua Shenghuo, 1936; Shangshi jie, Shanghai: Wenhua Shenghuo, 1936; Hulan He zhuan, Chongqing: Shanghai Zazhishe, 1941; Ma Bole, Chongqing: Dashidai Shuju, 1941; Xiao Hong xuanji, Peking: Renmin Wenxue, 1958; Xiao Hong quanji, 2 Bde., Harbin: Harbin Chubanshe, 1991. ÜBERSETZUNGEN: Frühling in einer kleinen Stadt. Erzählungen, übers. von Ruth Keen, Köln: Cathay, 1985; Der Ort des Lebens und des Sterbens, übers. von Karin Hasselblatt, mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Freiburg: Herder, 1989; Geschichten vom Hulanfluß, übers. von Ruth Keen, mit einem Nachwort von Ruth Keen u. Wolfgang Kubin, Frankfurt: Insel, 1990. SEKUNDÄRLITERATUR: Luo Binji: Xiao Hong xiao zhuan, Shanghai: Jianwen Shudian, 1947; Howard Goldblatt: Hsiao Hung, Boston: Twayne, 1976; ders.: »Life as Art: Xiao Hong and Autobiography«, in: Woman and Literature in China, hg. von Anna Gerstlacher, Bochum: Brockmeyer, 1985, S. 345‒363; Si Xiao: »Loneliness among the Mountain Flowers ‒ Xiao Hong in Hong Kong«, übers. von Janice Wickeri, in: Renditions 29/30 (Spring & Autumn 1988), S. 177‒181; Lydia Liu: »The Female Body and Nationalist Discourse: Manchuria in Xiao Hong’s Field of Life and Death«, in: Body, Subject & Power in China, hg. von Angela Zito u. Tani E. Barlow, Chicago: University of Chicago Press, 1994, S. 157‒177; Gang Yue: »Embodied Spaces of Home: Xiao Hong, Wang Anyi, and Li Ang«, in: ders.: The Mouth that Begs: Hunger, Cannibalism, and the Politics of Eating in Modern China, Durham: Duke University Press, 1999, S. 293‒330; Amy D. Dooling: »Xiao Hong’s Field of Life and Death«, in: Columbia Companion to Modern East Asian Literatures, hg. von Joshua Mostow u. Kirk A. Denton (China section), New York: Columbia University Press, 2003, S. 431‒436. [WH]

Xiao Jun 萧军 (eig. Liu Honglin, Pseudonyme: Tian Jun, San Lang, 1907 ‒ 1988), geb. in Yi (Provinz Liaoning) Xiao Jun, geboren im Kreis Yi in der Provinz Liaoning, diente nach der Schulzeit zunächst in der Armee, später wurde er in einem Trainingslager für Infanteristen und Polizisten ausgebildet. Danach arbeitete er bei einer Lokalzeitung als Redakteur und als Kungfu-Lehrer. Xiao Jun begann während seiner Tätigkeit als Zeitungsredakteur auch mit seiner literarischen Karriere. Die ersten Erzählungen wurden gemeinsam mit (→) Xiao Hongs Beiträgen unter dem Buchtitel Mühsamer Weg (Bashe) veröffentlicht. 1934 begleitete er Xiao Hong nach Qingdao und war dort als Redakteur für die Beilage der Qingdaoer Morgenzeitung (Qingdao chenbao) tätig. 1935 erschien sein erster Roman Ein Dorf im August (Bayue de xiangcun). Darin stellt er eine Gruppe von Soldaten im Kampf gegen die japanischen Aggressoren und die

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Xiao Tong 萧统

schwierige Entscheidung des Hauptprotagonisten zwischen Liebe und gesellschaftlicher Verantwortung dar. Xiao Jun war danach, insbesondere während des Krieges gegen Japan (1937 – 1945), für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften als Redakteur und Chefredakteur tätig. Zeitweise war er Direktor der Lu-Xun-Kunstakademie und des Lu-XunKulturverlages in Nordostchina. Weitere Romane von ihm, unter anderem Zeche im Mai (Wuyue de kuangshan, 1954) und Die vergangene Zeit (Guoqu de suiyue, 1957) wurden zwar publiziert, fanden wenig Resonanz. Literarisch wird Xiao Jun in China wenig beachtet; ihm wird in erster Linie in der biografischen Forschung zu Xiao Hong Aufmerksamkeit geschenkt. WERKAUSGABEN: Bashe, mit Xiao Hong, Harbin: Wuhua Yinshuashe, 1933; Bayue de xiangcun, Peking: Renmin Wenxue, 1980; Xiao Hong shujian jicun zhushi lu, Harbin: Heilongjiang Renmin, 1980; Xiao Jun jinzuo, Chengdu: Sichuan Renmin, 1981. ÜBERSETZUNGEN: Ausgewählte Kurzprosa, übers. von Holger Höke, Karl-Heinz Pohl u. Roderich Ptak mit einer Einleitung von Roderich Ptak, Bochum: Brockmeyer, 1984. SEKUNDÄRLITERATUR: C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 257‒280; Leo Ou-fan Lee: The Romantic Generation of Modern Chinese Writers, Cambridge: Harvard University Press, 1973, S. 222‒224; Rudolf G. Wagner: »Xiao Jun’s Novel ›Countryside in August‹ and the Tradition of ›Proletarian Literature‹«, in: La litterature Chinoise au Temps de la Guerre de Resistance contre le Japon (de 1937 à 1945), Paris: Editions de la Fondation Singer-Polignac, 1982, S. 57‒66; Marsten Anderson: »The Barred View: On the Enigmatic Narrator in Xiao Jun’s ›Goats‹«, in: Reading the Modern Chinese Short Story, hg. von Theodore Huters, Armonk: M.E. Sharpe, 1990, S. 37‒50. [WH]

Xiao Tong 萧统 (zi: Deshi, Kronprinz Zhaoming der Liang-Dynastie, 501 – 531), geb. in Xiangyang (heute Xiangfan, Provinz Hubei) Xiao Tong, der Schöpfer der Literarischen Anthologie (Wenxuan), war der älteste Sohn Xiao Yans, eines verwitweten Generals der Qi-Dynastie (479 – 502), und dessen Konkubine Ding Lingguang. Im Jahr 502 riß Xiao Yan den Thron des letzten Qi-Kaisers Hedi an sich und begründete selbst als Kaiser Wudi die LiangDynastie (502 – 557). Xiao Tong wurde bereits in seinem ersten Lebensjahr zum Kronprinzen ernannt, seiner Mutter blieb als Konkubine zwar der Kaiserinnentitel verwehrt, sie erhielt jedoch einen ihrem Sohn ebenbürtigen Rang bei Hofe. Wie sein Vater war Xiao Tong gläubiger Buddhist, der sich unter Anleitung der führenden buddhistischen Mönche seiner Zeit intensiv dem Studium der Sutras widmete. Im Jahr 522, im Alter von nur 21 Jahren, begann er mit der Kompilation der posthum nach ihm benannten Literarischen Anthologie des [Kronprinzen] Zhaoming (Zhaoming wenxuan). Die Arbeit daran prägte sein letztes, weitestgehend in Isolation verbrachtes Lebensjahrzehnt, denn nachdem 526 seine Mutter gestor-

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Xie Lingyun 谢灵运

ben war, entzweiten sich Vater und Sohn in Fragen des Begräbnisrituals. Xiao Tong hatte – von tiefer Trauer um seine Mutter überwältigt – einem daoistischen Mönch gestattet, Rituale durchzuführen, die aus konfuzianischer Sicht die Würde des Grabes seiner Mutter verletzten. Erst nach seinem Ableben mit nur 30 Jahren verzieh ihm sein Vater, indem er ihm eine Grabstätte von kaiserlichem Ausmaß errichten ließ. Kaiser Wudi weigerte sich jedoch, Xiao Tongs Sohn die Nachfolge als Kronprinz zu überlassen, sondern ließ diese Ehre statt dessen Xiao Tongs jüngerem Bruder Xiao Gang (503 – 551) zuteil werden. Letzterer hatte allerdings erst 550 die Gelegenheit, für nur ein Jahr als Kaiser Jianwendi seinem Vater nachzufolgen. Nach dem Buch der Lieder (Shijing) ist das Wenxuan die zweitwichtigste Anthologie der chinesischen Literatur des Altertums. Viele frühmittelalterliche Werke wären ohne die Kompilationstätigkeit Xiao Tongs nicht erhalten geblieben. Xiaos Vorwort ist als eigenständiger literaturkritischer Text von Rang wahrgenommen worden, insbesondere der darin entfaltete engere Literaturbegriff, der weder historiographische noch philosophische Schriften einschließt. Xiao Tong orientierte sich hierbei an den ersten Gattungskonzepten von (→) Cao Pi, (→) Lu Ji und mit Einschränkungen auch (→) Liu Xie. Die im Wenxuan enthaltenen 761 Texte (Lyrik und Prosa) von insgesamt 127 Autoren sind in 37 Gattungen unterteilt. Die frühesten enthaltenen Werke stammen aus der Zhou-Zeit (1046 – 256 v.Chr.), die spätesten aus dem 5. und beginnenden 6. Jahrhundert. Xiao Tongs konservatives und zugleich zeitloses Qualitätsverständnis trug dazu bei, daß das Wenxuan für Jahrhunderte den literarischen Kanon bestimmen sollte. WERKAUSGABEN: Wenxuan jianzheng, hg. von Hu Shaoying, Shanghai: Shanghai Shudian, 1994. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958; Wen xuan, or Selections of Refined Literature, 3 Bde., übers. von David R. Knechtges, Princeton: Princeton University Press, 1982/1987/1996; »Preface to A Selection of Literary Writings«, übers. von Siu-kit Wong, in: ders. (Hg.): Early Chinese Literary Criticism, Hongkong: Joint Publishing Company, 1983, S. 149‒ 163. SEKUNDÄRLITERATUR: Wenxuan xue lunji, hg. von Zhao Fuhai, Changchun: Shidai Wenyi, 1992. [HP]

Xie Lingyun 谢灵运 (Herzog von Kangle, 385 – 433), geb. in Shining (heute nahe Shaoxing, Provinz Zhejiang) Der Dichter und Kalligraph Xie Lingyun stammte aus einer der angesehensten Adelsfamilien seiner Zeit. Xie An, sein Urgroßonkel, war Kanzler der Westlichen Jin-Dynastie (265 – 316) gewesen, einer seiner Großonkel war der Kalligraph Wang Xianzhi (vgl. [→] Wang Xizhi). Die Familie stammte ursprünglich aus

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Xie Lingyun 谢灵运

Yangxia in der Präfektur Chen (heute Taikang, Provinz Henan), war jedoch nach dem Ende der Westlichen Jin-Dynastie nach Süden geflohen. Seit dieser Zeit lebte ein Zweig der Familie in Shining, in der malerischen Gegend von Kuaiji (Provinz Zhejiang). Xie Lingyuns selbstbewußte und streitbare Persönlichkeit verhalf ihm zwar während der Östlichen Jin-Dynastie (317 – 419) noch zu hohen Ämtern, führte aber im Laufe seines Lebens wiederholt zu katastrophalen Einschnitten. So tötete er im Alter von 33 Jahren (418) einen Mann, der die Ehre seiner liebsten Konkubine verletzt hatte. Am Hofe der Frühen Song-Dynastie (Liu-Song-Dynastie, 420 – 479) konnte er danach nicht mehr Fuß fassen. Dreimal wurde er in seinem letzten Lebensjahrzehnt vom Kaiserhof verbannt, zunächst im Jahr 422 in die Küstenstadt Yongjia (Provinz Zhejiang), wo er an Tuberkulose erkrankte. Zwischen 423 und 430 konnte er zwar auf seinem Landgut in Shining wieder zu Kräften zu kommen, doch bereits 431 wurde er erneut bei Hofe denunziert und nach Linchuan (Provinz Jiangxi) zwangsversetzt. Zuletzt schickte man ihn 432 wegen weiterer Anschuldigungen in den fernen Süden nach Nanhai (heute Guangzhou), wo er wegen angeblicher Rebellion 433 zum Tode verurteilt wurde. Neben (→) Tao Yuanming gilt Xie Lingyun als bedeutendster Poet der VorTang-Zeit. Xies Landschaftsdichtung kennt nicht Taos direkten und schlichten Naturgenuß, sondern kultiviert den metaphorischen Ausdruck, in dem immer auch Gedankliches mitschwingt. In seiner buddhistisch geprägten und von philosophischen Gedanken durchdrungenen Lyrik wurde »das Landschaftserlebnis gleichsam zur Weltanschauung« (Günther Debon). Das Genre der Landschaftsdichtung (shanshui shi) hatte bereits gegen Ende der Han-Zeit (206 v.Chr. – 220 n.Chr.) mit (→) Cao Cao einen zaghaften Beginn gesehen, doch jetzt erlebte es seine erste Blüte. In der Tang-Zeit (618 – 907) sollte die Naturlyrik dann zu einer der zentralen Formen des poetischen Ausdrucks werden. Nur knapp 100 Gedichte Xie Lingyuns sind erhalten geblieben, mehr als 30 davon in (→) Xiao Tongs Literarischer Anthologie (Wenxuan). Zudem sind 14 Prosagedichte (fu) und 30 Essays (lun) – mehrheitlich zu buddhistischen Themen – in der Tang-zeitlichen Sammlung Kompendium der Kunst und Literatur (Yiwen leiju) überliefert. WERKAUSGABEN: Xie Kangle shizhu, hg. u. komm. von Huang Jie, Peking: Renmin Wenxue, 1958. ÜBERSETZUNGEN: Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 145‒148; Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 272f. et passim; An Anthology of Chinese Verse. Han Wei Chin and the Northern and Southern Dynasties, übers. von J.D. Frodsham, Oxford: Clarendon, 1967, S. 123‒141. SEKUNDÄRLITERATUR: Richard B. Mather: »The Landscape Buddhism of the Fifth Century Poet Hsieh Ling-yün«, in: Journal of Asian Studies 18 (1958/59), S. 67‒79; J.D.

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Xie Tiao 谢朓 Frodsham: The Murmuring Stream. The Life and Works of the Chinese Nature Poet Hsieh Ling-yün (385 – 433), Duke of K’ang-lo, 2 Bde., Kuala Lumpur: University of Malaysia Press, 1967; Francis A. Westbrook: »Landscape Transformation in the Poetry of Hsieh Ling-yün«, in: Journal of the American Oriental Society 100 (1980), S. 237‒ 254; Selinda Ann Sheridan: Vocabulary and Style in Six Dynasties Poetry. A Frequency Study of Hsieh Ling-yün and Hsieh T’iao, Diss., Cornell University, 1982; Kang-yi Sun Chang: Six Dynasties Poetry, Princeton: Princeton University Press, 1986, S. 47‒78. [HP]

Xie Tiao 谢朓 (zi: Xuanhui, 464 – 499), geb. in Jiankang (heute Nanjing, Provinz Jiangsu) Der Dichter Xie Tiao gehörte dem adeligen Clan der Xie an, die ihren Stammsitz ursprünglich in Yangxia in der Präfektur Chen (heute Taikang, Provinz Henan) gehabt hatten, jedoch nach dem Ende der Westlichen Jin-Dynastie (265 – 316) nach Süden geflohen waren (vgl. [→] Xie Lingyun). Xie Tiao hatte während der Südlichen Qi-Dynastie (479 – 502) verschiedene kleinere Ämter inne. Nach 486 verkehrte er im Dichtersalon des Prinzen von Jingling (Xiao Ziliang, 460 – 494) in den malerischen Bergen vor der Hauptstadt Jiankang. Die Literaturgeschichte zählt ihn deshalb auch zu dem Kreis der »Acht Freunde [des Prinzen] von Jingling« (Jingling ba you), dem u.a. auch (→) Shen Yue angehörte. Im Jahr 491 wurde Xie Tiao mit der Erziehung eines Prinzen betraut, wurde aber schon nach kurzer Zeit als ungeeignet wieder entlassen. Später versetzte man ihn als Gouverneur nach Xuancheng in die Region der heutigen Provinz Anhui. Trotz seines offensichtlich nicht einfachen Werdeganges zeigte er sich bis zuletzt gegenüber der Regentenfamilie der Xiao loyal und weigerte sich 499, am Sturz der Südlichen Qi-Dynastie teilzunehmen. Hierfür wurde er von den Aufrührern gefangengenommen und starb mit nur 35 Jahren in Haft. In Xie Tiaos Werk spiegelt sich der Verfall der Südlichen Qi-Dynastie. Zu Beginn seines Schaffens pflegte er im Kreise der »Acht Freunde von Jingling« mit großer Hingabe – und unter strenger Einhaltung der neuen tonalen Versregeln – die Lyrik im Palaststil (gongtishi), die während der Qi-Dynastie ihre Blüte erlebte. Nicht umsonst ist die Regierungsperiode Yongming (483 – 493) zu einem Synonym (Yongmingti) für diesen opulenten, aber auch gekünstelten höfischen Stil geworden. Andererseits ist Xie Tiao für seine spontane und gefühlvolle Naturlyrik berühmt geworden, in der er besonders in seinen späteren Lebensjahren seine Frustration und Trauer angesichts der instabilen Verhältnisse artikuliert. Das erhaltene Werk umfaßt rund 170 Gedichte verschiedenster Stilrichtungen, neun Poetische Beschreibungen (fu) und 19 Essays (lun). WERKAUSGABEN: Xie Xuancheng ji jiaozhu, hg. u. komm. von Hong Shunlong, Taipeh: Zhonghua Shuju, 1969.

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Xie Zhaozhe 谢肇浙 ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 309 et passim; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 153‒155; An Anthology of Chinese Verse. Han Wei Chin and the Northern and Southern Dynasties, übers. von J.D. Frodsham, Oxford: Clarendon, 1967, S. 159‒165. SEKUNDÄRLITERATUR: Cynthia L. Chennault: The Poetry of Hsieh T’iao, Diss., Stanford University, 1979; Selinda Ann Sheridan: Vocabulary and Style in Six Dynasties Poetry. A Frequency Study of Hsieh Ling-yün and Hsieh T’iao, Diss., Cornell University, 1982; Lance Eccles: »The Qualities of Clarity and Beauty in the Poetry of Hsieh T’iao«, in: Journal of the Oriental Society of Australia 15‒16 (1983 ‒ 1984), S. 45‒59; Kang-yi Sun Chang: Six Dynasties Poetry, Princeton: Princeton University Press, 1986, S. 112‒ 145; Richard B. Mather: The Age of Eternal Brilliance. Three Lyric Poets of the Yungming Era (483 ‒ 493), Leiden: Brill, 2003. [HP]

Xie Zhaozhe 谢肇浙 (zi: Zaihang, 1567 ‒ 1624), geb. in Changle (Provinz Fujian) Xie Zhaozhe war zum Ende der Ming-Dynastie (1368 – 1644) während einer Phase, in der der frühe chinesische Roman eine rasante Entwicklung durchlief, ein geschätzter Literaturkritiker. Zwischen 1610 und 1614 hatte er (nach 1592 abgelegter Doktorprüfung [jinshi]) das Amt eines Direktors im Arbeitsministerium inne und unternahm in dieser Funktion u.a. Reisen zum Großen Kanal. Später war er in den Provinzregierungen von Yunnan und Guangxi tätig. Von Xie ist ein Werk mit Prosanotizen überliefert, das den Titel Fünf gemischte Angebote (Wu zazu) trägt; er trat als Gründer der Dichterschule von Fujian auf und hinterließ unter dem Titel Schriften aus der Strohkammer (Xiaocaozhai wenji) eine Sammlung mit vermischten Schriften. Ein prononcierter Standpunkt in seinen Texten, die Kritik an Konventionen und nicht zuletzt abwertende Äußerungen gegenüber den Mandschuren, die wenige Jahrzehnte nach seinem Tod die Herrschaft in China übernehmen sollten, führten dazu, daß Fünf gemischte Angebote im 18. Jahrhundert verboten wurde und damit längere Zeit in Vergessenheit geriet. Xies literaturtheoretische Überlegungen beschäftigten sich im wesentlichen mit den in der überlieferten Schriftsprache wenyan verfaßten und mit den der gesprochenen Sprache baihua angenäherten Erzählwerken. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang seine Ausführungen zur Romankunst, der er anders als die meisten seiner Zeitgenossen einen hohen künstlerischen Wert zumaß. Lobend äußerte er sich über eine ganze Reihe von Werken wie etwa das Jin Ping Mei. So sah er im Roman nicht lediglich ein Mittel zur Kurzweil und Zerstreuung, sondern billigte ihm einen pädagogischen Wert zu. Ebenso betonte er die Bedeutung der subkulturellen Aspekte, etwa wenn in der Roman- und Erzählkunst (hiermit meinte Xie wohlgemerkt immer die Werke in der baihua-Variante) Ansichten geäußert würden,

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Xie Zhen 谢榛

die in den angeseheneren Erscheinungsformen der Literatur wie der Dichtung keine Beachtung fänden. Bei Werken mit einem historischen Bezug trat Xie für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den fiktionalen und den historisch begründeten Elementen ein. WERKAUSGABEN: Xie Zhaozhe shihua, hg. von Wang Cuilan u. Liu Mingjin, in: Ming shihua quanbian, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1997; Wu Zazu, Shanghai: Shanghai Guji, 2002. SEKUNDÄRLITERATUR: Sewall Jerome Oertling: Painting and Calligraphy in the Wu-tsa-tsu. Conservative Aesthetics in Seventeenth-Century China, Ann Arbor: Center for Chinese Studies, University of Michigan, 1997. [TZ]

Xie Zhen 谢榛 (zi: Maoqin, hao: Siming shanren, Tuoxi shanren, 1495 ‒ 1575), geb. in Linqing (Provinz Shandong) Ein Beamtenposten blieb Xie Zhen zwar verwehrt, doch genoß er in seiner Zeit nichtsdestoweniger einen herausragenden Ruf als Dichter und Kritiker. Die Popularität seiner Werke und eine Unrast, die ihn Reisen durch seine Heimatprovinz Shandong sowie durch Henan, Hebei und Shanxi unternehmen ließ, brachte ihn in engeren Kontakt mit wichtigen örtlichen Herrschern. Umstritten ist in der neueren Forschung die Rolle, die Xie in Kritikerzirkeln wie den »Sieben späteren Meistern« (Hou qi zi) einnahm. Sein Konflikt mit dem einflußreichen Li Panlong (1514 ‒ 1570) scheint aber von der Nachwelt übertrieben dramatisiert worden zu sein und dürfte tatsächlich der später unterstellten Schärfe entbehrt haben. In der Literaturgeschichte hat Xie Zhen vor allem als Theoretiker Spuren hinterlassen. Zusammen mit (→) Hu Yinglin und einer Reihe weiterer Gelehrter wandte er sich gegen die sterile Nachahmung des antiken Dichterstils und trat als Verfasser des Werkes Simings Gespräche über die Dichtung (Siming shihua) hervor. Darin setzte er sich mit einem wichtigen Thema der chinesischen Poetik auseinander, nämlich dem Zusammenhang zwischen Gefühl (qing) und Szenerie (jing). Gemäß dieser Auffassung, die Xie Zhen mit einer Reihe von Vorgängern teilte, entsteht ein Gedicht, indem der Dichter mittels seiner ganz eigenen Empfindung auf die Welt eingeht und so immer neue Formen und Klänge hervorbringt. WERKAUSGABEN: Xie Zhen quanji, hg. u. mit Anm. von Zhu Qikai et al., Jinan: Qilu Shushe, 2000; Xie Zhen quanji xiajian, mit Anm. von Li Qingli, Nanjing: Jiangsu Guji, 2003. ÜBERSETZUNGEN: »Selected Ming Poems«, übers. von Daniel Bryant, in: Renditions 8 (Autumn 1977), S. 85‒91. SEKUNDÄRLITERATUR: Li Qingli: Xie Zhen yanjiu, Jinan: Qilu Shushe, 1993.

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[TZ]

Xin Di 辛笛

Xin Di 辛笛 (eig. Wang Xindi, 1912 ‒ 2004), geb. in Huai’an (Provinz Jiangsu) Xin Di schrieb bereits in der Schulzeit Gedichte. Während seines Anglistikstudiums an der Pekinger Tsinghua-Universität war er zuständig für die literarische Beilage der Tsinghua-Wochenzeitschrift. Nach seinem Studium in England wurde er Professor für Anglistik und Chefredakteur der Reihe der amerikanischen Literatur (Meiguo wenxue congshu) und der Reihe Neue Gedichte aus China (Zhongguo xin shi). Die lyrischen Werke Xin Dis sind geprägt von der chinesischen klassischen Lyrik und von Gedichten ausländischer Dichter der Moderne, vorwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum. Gemeinsam mit (→) Chen Jingrong, (→) Mu Dan und (→) Yuan Kejia gehörte er der »Schule der neun Blätter« (Jiu ye pai) an. Die neun Dichter verfolgten in ihrem lyrischen Schaffen das Ziel, die klassische Schönheit der chinesischen Lyrik in die moderne Gedichtgestaltung zu überführen und auch ausländische Einflüsse in ihr poetisches Werk zu integrieren. Mit dieser Vorgabe gelangen Xin Di künsterisch anspruchsvolle Kompositionen; seine Verse sind sprachlich geschliffen, reich an neuen Metaphern und voller poetischer Phantasien. Repräsentativ für seine Werke sind: Sammlung von Perlen und Perlmutt (Zhubei ji, 1935), Handteller (Shouzhang ji, 1947), Sammlung der neun Blätter (Jiu ye ji, 1981) und Gedichte von Xin Di (Xin Di shiji, 1983). WERKAUSGABEN: Zhubei ji, Selbstverlag 1935; Shouzhang ji, Shanghai: Shanghai Qunxing, 1947; Yedu shuji, Shanghai: Shanghai Chuban Gongsi, 1948; Jiu ye ji, Hangzhou: Jiangsu Renmin, 1981; Xin Di shiji, Peking: Renmin Wenxue, 1983; Yinxiang, huasu, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1983. [WH]

Xin Qiji 辛弃疾 (zi: Danfu, You’an, hao: Jiaxuan, 1140 – 1207), geb. in Licheng (heute Jinan, Provinz Shandong) Leben und Werk des Lieddichters Xin Qiji sind ein berührendes Zeugnis der Vertreibung der Song-Dynastie aus Nordchina durch die expandierende Jin-Dynastie (Dschurdschen, 1115 – 1234). Nach dem frühen Tod des Vaters wuchs Xin Qiji in Shandong bei seinem Großvater auf, der ihn von Kindheit an jene verzweifelte Heimatlosigkeit fühlen ließ, die ihn ein Leben lang begleiten sollte. Denn einerseits erzog ihn der Großvater zu bedingungsloser Loyalität gegenüber dem 1127 nach Süden verjagten und nach wie vor bedrohten Song-Kaiserhaus, andererseits diente er selbst aus Angst den fremden Eroberern. Diese innere Zerrissenheit des Großvaters vor Augen, initiierte Xin Qiji 1161 einen bewaffneten Aufstand gegen die Dschurdschen, der jedoch zum Scheitern verurteilt war. Enttäuscht flüchtete er – kaum mehr als zwanzig Jahre alt – nach Süden an den nach Kaifeng (Provinz Henan) verlegten Kaiserhof der Song. Dort wurde er jedoch ob der radikalen Mittel,

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Xiong Damu 熊大木

mit denen er sich gegen den Machtverlust der Song-Kaiser aufgelehnt hatte und weiterhin auflehnen wollte, nur mit Argwohn beäugt. Spätestens von da an war Xin tatsächlich ein Heimatloser. Nach einer konfliktreichen Amtszeit wurde er 1181 vorzeitig aus dem Staatsdienst entlassen. Ab 1182 bezog er in Shangrao (Provinz Jiangxi) die Villa Jiaxuan, nach der er sich fortan als Künstler benannte. Vor allem in den folgenden langen Jahren des unfreiwilligen Ruhestandes gab Xin Qiji in der Lyrik – als seinem einzig möglichen Refugium und Remedium – seiner Verbitterung und Trauer über die Vertreibung aus dem heimatlichen Norden Ausdruck. Seine kraftvollen und thematisch vielfältigen Gedichte, in der Hauptsache ci-Lieder, zählen zu den herausragendsten Werken der Song-Zeit. Mit über 600 Liedern war er zudem der produktivste Lieddichter dieser Epoche. WERKAUSGABEN: Jiaxuan ci biannian jianzhu, hg. u. komm. von Deng Guanming, Shanghai: Shanghai Guji, 1978. ÜBERSETZUNGEN: A Collection of Chinese Lyrics, übers. von Alan Ayling u. Duncan Mackintosh, London: Routledge, 1965, S. 159‒167; Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, übers. von Ernst Schwarz, Berlin: Rütten & Loening, 1969, S. 344‒347; Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 393‒400; Poetry and Prose of the Tang and Song, übers. von Yang Xianyi u. Gladys Yang, Peking: Foreign Languages Press, 1984, S. 292‒310; »Seven Poems on Getting Drunk«, übers. von David E. Pollard, in: Renditions 46 (Autumn 1996), S. 47‒68. SEKUNDÄRLITERATUR: Irving Yucheng Lo: Hsin Ch’i-chi, New York: Twayne, 1971; Lian Xinda: The Wild and Arrogant. Expression of Self in Xin Qiji’s Song Lyrics, New York: Peter Lang, 1999. [HP]

Xiong Damu 熊大木 (hao: Zhongguzi, ca. 1522 ‒ 1566), geb. in Jianyang (Provinz Fujian) Über Xiong Damu liegen nur sehr wenige Angaben vor, auch die Lebensspanne läßt sich nur vage erschließen. Fest steht jedoch, daß Xiong mit der Entstehung einiger historischer Romane befaßt war. So darf man davon ausgehen, daß er einige bereits in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts erschienene Romane verfaßte wie Bericht über die Helden aus der Zeit des Aufstiegs und Niedergangs der Song (Da Song zhongxing yingliezhuan, 1552) und Populäre Erzählung über die Erzählungen aus dem Buch der Tang (Tangshu zhizhuan tongsu yanyi, 1553). Der Bericht über die Han-Dynastie (Quan Han zhizhuan, 1588) und der Bericht über die Nördliche und Südliche Song-Dynastie (Nanbei liang Song zhizhuan, 1588) dürften erst nach Xiongs Tod herausgegeben worden sein. Seine Bücher erschienen alle in seiner Heimatstadt bei namhaften Druckereien wie der der Familie Yu, aus deren Werkstatt auch eine Anzahl weiterer historischer Erzählwerke hervorging, so etwa die Erzählung über die Drei Reiche (Sanguo zhi yanyi).

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Xu Shukui 徐述夔

Auf Xiong Damu geht die Forderung zurück, die offiziellen Darstellungen der Geschichte künstlerisch-romanhaft weiterzuentwickeln. Zwar setzte er dieses Konzept in seinen eigenen Werken nur zum Teil um, doch beeinflußte er damit spätere Generationen von historischen Romanautoren, die den neuen Raum kreativ nutzten. WERKAUSGABEN: Da Song zhongxing tongsu yanyi, Chengdu: Bashu Shushe, 1995; Yangjiajiang yanyi, Shanghai: Shanghai Guji, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: Zhang Pingren: »Xiong Damu lishi yanyiguan jianxi«, in: Shenyang Shifan Xueyuan xuebao 6/2001, S. 36–39. [TZ]

Xu Shukui 徐述夔 (eig. Xu Gengya, zi: Xiaowen, ca. 1701 ‒ ca. 1763), geb. in Yangzhou (Provinz Jiangsu) Bekannt geworden ist Xu Shukui als einer der konfuzianischen Gelehrten, die für die Wiedereinrichtung der Ming-Dynastie (1368 – 1644) eintraten. Blickt man auf den offiziellen Umgang mit Xus Werk, so ist es nicht verwunderlich, daß sich zu seiner Person kaum genauere Angaben machen lassen. Fest steht, daß er 1738 die Prüfung zum Magister (juren) ablegte; außerdem scheint er als Lehrer aufgetreten zu sein, worauf man durch Schriften wie Auszüge aus den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu zhaiyao), Klassische Prosa (Gu wen) etc. schließen kann. Xus ausgeprägte antimandschurische Einstellung äußerte sich u.a. in seinem Eintreten für den Erhalt des – zur Qing-Zeit verbotenen – dichterischen Werkes von Lü Liuliang (1629 ‒ 1683), einem Ming-Loyalisten. Nicht nur sammelte Xu dessen Schriften, vielmehr verbreitete er bereits mit Zensur belegte Texte in einer größeren Öffentlichkeit. Auch in seinen eigenen Versen brachte Xu mit der in der chinesischen Sprache und Schrift angelegten Doppeldeutigkeit Kritik an der Qing-Dynastie zum Ausdruck und rief zu deren Sturz auf. Ein berühmtes Beispiel hierfür sind seine Gedichte aus einem Gebäude (Yi zhuang lou shi), die auch der Affäre im Zusammenhang mit der Inquisition fünfzehn Jahre nach Xus Tod den Namen gaben: 1778 wurde Xu in einem spektakulären Prozeß des Landesverrats bezichtigt, seine Leiche exhumiert und zerstückelt. Auch seine Enkel Xu Liangtian und Xu Liangshu richtete man hin; örtliche Beamte, die nach Auffassung der Qing Xu Shukui zu Lebzeiten gedeckt hatten, wurden ihrer Ämter enthoben. Während die Verfasserschaft Xu Shukuis an einer Reihe von Gedichten feststeht, sind seine Beiträge zur chinesischen Erzählkunst nicht ganz zweifelsfrei. So sind die Erzählsammlungen Fünffarbiger Stein (Wuseshi) und Himmel mit acht Löchern (Badongtian) ihm immer wieder zugeschrieben worden, doch gehen diese Editionen möglicherweise auf weit früheres Material aus der Mitte des 17. Jahrhunderts zurück. WERKAUSGABEN: Wuseshi, Peking: Zhongguo Wenshi, 2003.

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Xu Wei 徐渭

Xu Wei 徐渭 (zi: Wenchang, hao: Tianche, Shanyinren, 1521 ‒ 1593), geb. in Shaoxing (Zhejiang) Xu Wei, wohl der wichtigste Verfasser von zaju-Dramen im 16. Jahrhundert, erwies sich auch in vielen anderen künstlerischen Gattungen wie der Dichtung, dem Essay und der Kalligraphie als überaus talentiert. Daneben stellte er einige Anthologien zusammen und brachte Kommentare zu diversen Verfassern heraus. Weit weniger erfolgreich verliefen seine berufliche Karriere und sein Privatleben. Sein Anschluß an Hu Zongxian, den Gouverneur Zhejiangs, schien zunächst eine steile Karriere zu versprechen. Nicht nur stand Xu dem Gouverneur mit seinem militärischen Wissen bei den Feldzügen im chinesischen Südosten beratend zur Seite, auch seine Einghaben an den Thron im Namen Hus fanden großen Beifall. Das Blatt wendete sich, als Hu 1565 in Ungnade fiel und verhaftet wurde. In der Annahme, seine erst drei Jahre zuvor beendeten Verbindungen zu Hu würden ihn in die Affäre mit hineinziehen, unternahm Xu einen Selbstmordversuch. Einige Zeit darauf tötete er seine Frau in einem Anfall von Eifersucht, was ihm sieben Jahre Haft eintrug. Nur der Fürsprache eines einflußreichen Freundes war es zu verdanken, daß die Strafe nicht noch höher ausfiel. Den Rest seines Lebens verbrachte Xu Wei in Shaoxing. Xus größter literarischer Beitrag sind seine vier zaju-Dramen, die unter dem Titel Die vier Schreie des Affen (Si sheng yuan) zusammengefaßt sind: Der verrückte Trommler spielt dreimal in Yuyang (Kuang guli Yuyang san nong), Der Traum von Chan-Meister Yutong und Liu Cui (Yu chanshi Cuixiang yi meng), Die Heldin Mulan tritt anstelle ihres Vaters der Armee bei (Ci Mulan ti fu cong jun) und Eine Scholarin schlüpft in die Rolle eines Mannes (Nü zhuangyuan ci huang de feng). Bei den vier Stücken wich Xu von der traditionellen Struktur des zajuDramas ab, die vier Akte vorschrieb. So besteht Der verrückte Trommler aus nur einem Akt, Eine Scholarin dagegen aus fünf und die übrigen Stücke aus je zwei Akten. Erwähnung verdient zudem Xus Sprache, die als sehr lebendig und immer der Szene angemessen gelobt worden ist. Bemerkenswert ist obendrein, daß in zwei von Xus Stücken (Eine Scholarin und Die Heldin Mulan) die Frauen als den Männern überlegen erscheinen und damit das überlieferte Rollenbild der Geschlechter in Frage stellen. WERKAUSGABEN: Si sheng yuan, Shanghai: Shanghai Guji, 1984; Xu Wenchang wenji, Taipeh: Guoli Zhongyang Tushuguan, 1986; Nanci xulu zhushu, Peking: Zhongguo Xiju, 1989; Xu Wei huaji, Hangzhou: Zhejiang Renmin Meishu, 1991. SEKUNDÄRLITERATUR: Jeanette Faurot: Four Cries of a Gibbon: A »Tsa-chü« Cycle by the Ming Dramatist Hsü Wei (1521 ‒ 1593), Diss., University of California, 1972; Liang Yicheng: Xu Wei de wenxue yu yishu, Taipeh: Yiwen Yinshuguan, 1977. [TZ]

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Xu Xiake 徐霞客

Xu Xiake 徐霞客 (eig. Xu Hongzu, zi: Zhenzhi, hao: Xiake, 1586 ‒ 1641), geb. in Jiangyin (Provinz Jiangsu) Der vor allem unter seinem Ehrennamen bekannte Xu Xiake hat in der chinesischen Reiseliteratur des 16./17. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen. Wie bis dahin niemand vor ihm machte Xu das Reisen zu seinem Lebenshinhalt, wobei vor allem auffällt, daß er statt der am Vergnügen orientierten Ausflugsreisen mehr und mehr gefährliche und anstrengende Erkundungsreisen unternahm. Von keiner Amtslast beschwert (Xu hatte nach dem Scheitern bei den Prüfungen den Wunsch nach einer Karriere als Beamter frühzeitig aufgegeben und war, da aus begüterter Familie stammend, nicht auf einen Erwerb angewiesen), widmete sich Xu zunächst im Privaten dem Studium der historischen Schriften und der Lokalchroniken, um schließlich ab 1607 für die nächsten Jahrzehnte kreuz und quer durch China zu reisen. Dabei schreckte er selbst vor dem Vordringen in abgelegene Wald- und Bergregionen nicht zurück. Den längeren Reisen bis 1633 (meist zu den berühmten Bergen) folgte zwischen 1636 und 1640 eine über mehrere Jahre ausgedehnte Reise in den chinesischen Südwesten mit zum großen Teil noch unbekannten Regionen. Pläne, noch weiter bis nach Japan und Burma zu reisen, kamen aber am Ende nicht zur Ausführung. Seiner Freude am Entdecken und Forschen taten selbst die zahlreichen Entbehrungen keinen Abbruch. Seine wunderbaren Landschaftsbeschreibungen und seine wissenschaftlichen Ergebnisse hat Xu in den Tagebüchern niedergelegt, die als Reisebeschreibungen des Xu Xiake (Xu Xiake youji) einen Höhepunkt in der chinesischen Reiseliteratur darstellen und in Stil, Ausführlichkeit und Genauigkeit der Beschreibung maßgebend für die spätere Zeit wurden. WERKAUSGABEN: Xu Xiake youji, hg. von Zhu Shaotang et al., 3 Bde., Shanghai: Shanghai Guji, 1980; Xu Xiake youji, Zhengzhou: Zhongzhou Guji, 1992. ÜBERSETZUNGEN: The Travel Diaries of Hsü Hsia-kʼo, übers. von Li Chi, Hongkong: Chinese University Press, 1974; Randonnées Aux Sites Sublimes, übers. von Jacques Dars, Paris: Gallimard, 1993. SEKUNDÄRLITERATUR: Xu Xiake yanjiu, hg. von der Chinesischen Forschungsgesellschaft zu Xu Xiake u. der Stadtregierung von Jiangyin, Peking: Xueyuan, 1997 ‒ 2002; Julian Ward: Xu Xiake (1587 ‒ 1641). The Art of Travel Writing, Richmond, Surrey: Curzon Press, 2001; Zhou Ningxia: Xu Xiake lun gao, Shanghai: Shanghai Guji, 2004; Yang Zaitian: Xu Xiake ji qi »youji«, Peking: Zhongguo Wenshi, 2005. [TZ]

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Xu Zhimo 徐志摩

Xu Zhimo 徐志摩 (eig. Xu Zhangxu, Pseudonyme: Yun Zhonghe, Nanhu, Xianhe, Haigu, Huanggou etc., 1897 ‒ 1931), geb. in Haining (Provinz Zhejiang) Xu Zhimo kam in einer wohlhabenden Familie im Kreis Haining in der Provinz Zhejiang zur Welt. Die umfangreiche Büchersammlung und der Bildungshintergrund seiner Familie ermöglichten ihm eine frühe Beschäftigung mit der klassischen chinesischen Literatur. Nach dem Universitätsstudium in China reiste er zunächst in die Vereinigten Staaten, um dort Soziologie an der Clark University und Politologie an der Columbia University zu studieren. 1920 führte ihn sein Weg nach England, und er studierte an der Cambridge University Politische Ökonomie. Dort wurde er literarisch beeinflußt von der englischen Romantik und dem europäischen Ästhetizismus. Catherine Mansfield und Thomas Hardy waren seine literarischen Vorbilder. 1921 begann er selbst zu dichten. Seine poetische Inspiration dieser Zeit war Lin Huiyin, eine junge, talentierte chinesische Studentin, die ebenfalls dichtete. 1922 kehrte er zurück nach China und wurde Professor an der Universität Peking. Er trat 1923 der Literarischen Studiengesellschaft (Wenxue yanjiuhui) bei und gründete gemeinsam mit Hu Shi und (→) Wen Yiduo die »Neumondgesellschaft« (Xinyue she). Neben seiner Professorentätigkeit arbeitete er als Redakteur und später Chefredakteur renommierter literarischer Zeitschriften und literarischer Beilagen von Tageszeitungen. Er bewegte sich im Kreis von Hu Shi, Wen Yiduo und (→) Liang Qichao und wurde innerhalb kurzer Zeit eine literarische Berühmtheit. Seine Gedichte waren bereits in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht worden, bevor sie 1925 zusammengefaßt in seinem ersten Gedichtband Die Gedichte Zhimos (Zhimo de shi) erschienen. Durch die Verwendung von neuen poetischen Metaphern und die Einarbeitung von Wortschatz aus dem klassischen Chinesisch gelang Xu ein höchst erfrischender Zugang zur modernen Lyrik. 1926 kam sein erster Essayband Gefallene Blätter (Luoye) heraus. Seine Essays verfolgen das Prinzip des Ästhetizismus in der Gestaltung von Sprache und Inhalt und erfreuen sich bis heute großer Beliebtheit bei der Leserschaft. Es folgten wenig später die Essaybände Pariser Fragmente (Bali de linzhao, 1927), Selbstportraits (Zibao, 1928) und Herbst (Qiu, 1931) sowie weitere Gedichtbände wie Der Tiger (Menghu ji, 1931) und Reise über den Wolken (Yunyou, 1932). Xu Zhimos Dichtkunst umkreist Themen wie Liebe und Heimweh und die Freiheit des Individuums. Sie wirkt bei aller Sparsamkeit der Mittel höchst faszinierend. Xu Zhimo starb 1931 bei einem Flugzeugabsturz. WERKAUSGABEN: Xu Zhimo quanji, 6 Bde., Taipeh: Zhuanji Wenxue, 1969. ÜBERSETZUNGEN: »So geh denn, Welt«, übers. von Wolfgang Kubin, in: die horen 5/1985, S. 78; »Zweiter Abschied von Cambridge«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919 ‒ 1984, Frankfurt:

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Xue Tao 薛涛 Suhrkamp, 1985, S. 44‒58; »Nächtliches Gespräch mit einem ›German‹ von echtem Schrot und Korn«, übers. von Wolf Baus, in: Hefte für ostasiatische Literatur 12 (März 1992), S. 21‒25; »Blut«, übers. von Wolf Baus, ebd., S. 25–30. SEKUNDÄRLITERATUR: Leo Ou-fan Lee: The Romantic Generation of Modern Chinese Writers, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973, S. 124–176; Cyril Birch: »English and Chinese Meters in Hsu Chih-mo«, in: Asia Major 8 (1960), S. 258‒293; Richarda Päusch: Fliegen und Fliehen: Literarische Motive im Werk Hsü Chih-mos, Dortmund: projekt verlag, 1995; Pang-Mei Natasha Chang: Bound Feet and Western Dress, New York: Doubleday, 1996; Ruth Cremerius: Das poetische Hauptwerk des Xu Zhimo (1997 ‒ 1931), Hamburg: Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde, 1996; Raoul David Findeisen: »Xu Zhimo Dreaming in Sawston (England) ‒ on the Sources of a Venice Poem«, in: Asiatica Venetiana 1 (1996), S. 27‒42; Richard von Schirach: Hsu Chih-mo und die Hsin-Yueh Gesellschaft: ein Beitrag zur neuen Literatur Chinas, Diss., München, 1971. [WH]

Xue Tao 薛涛 (zi: Hongdu, ca. 768 – ca. 831), geb. in Changʼan (heute Xiʼan, Provinz Shaanxi) Xue Tao ist – neben Yu Xuanji (ca. 844 – ca. 868) – die einzige bekanntere Dichterin der Tang-Zeit (618 – 907). Geboren in der Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan), zog sie in ihrer Kindheit nach Chengdu, schon damals die Hauptstadt der Provinz Sichuan, nachdem ihr Vater dorthin versetzt worden war. Der Vater starb, als Xue Tao kaum fünfzehn Jahre alt war, und ließ Frau und Kinder verarmt zurück. Xue Tao trug daraufhin – ihren musischen Talenten folgend – als Singmädchen zum Familieneinkommen bei. Schon bald machte sie in den Vergnügungsvierteln Chengdus als Kurtisane Furore und erregte die Aufmerksamkeit von Männern aus den höchsten politischen und künstlerischen Kreisen der Stadt – erst recht, nachdem Provinzgouverneur Wei Kao sie zur Unterhaltung seiner Ehrengäste angestellt hatte. Xue Tao wurde zwar nie an den Kaiserhof empfohlen, erhielt aber aufgrund ihrer nun weithin beachteten dichterischen Begabung inoffiziell den Beamtentitel einer kaiserlichen Lektorin. Über kurz oder lang lernte sie auch die literarischen Größen Changʼans kennen, allen voran den Dichter (→) Yuan Zhen. Als dieser sie 809 in Chengdu aufsuchte, entspann sich zwischen ihnen eine Liebesaffäre und tiefe Freundschaft, die sie auch später noch in Briefen und einander gewidmeten Gedichten fortzusetzen wußten. Weitere Details aus Xue Taos Leben lassen sich nur andeutungsweise ihrer Lyrik entnehmen. Von ihren ehemals mehr als 500 bekannten Gedichten sind nur noch ca. 90 erhalten geblieben. Zumeist sind es Liebesgedichte, die sich durch ihre Sinnlichkeit und Musikalität auszeichnen. Häufig hat Xue Tao darin ihrer – trotz vieler Bewunderer – großen Einsamkeit in ebenso geistreichen wie berührenden poetischen Bildern Ausdruck gegeben.

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Xun Zi 荀子 WERKAUSGABEN: Quan Tang shi, Peking: Zhonghua Shuju, 1979, Bd. 11, S. 9035‒9064, 9804. ÜBERSETZUNGEN: The Orchid Boat. Women Poets of China, hg. u. übers. von Kenneth Rexroth u. Ling Chung, New York: New Directions, 1972, S. 21‒23; Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 190f.; Brocade River Poems. Selected Works of the Tang Dynasty Courtesan Xue Tao, übers. von Jeanne Larsen, Princeton: Princeton University Press, 1987; Hsüeh T’ao, un Torrent de Montagne, übers. von Pierre Lorain und Zhu Jie, Paris: La Différence, 1992. SEKUNDÄRLITERATUR: Genevieve B. Wimsatt: A Well of Fragrant Waters, Boston: John W. Luce, 1945. [HP]

Xun Zi 荀子 (eig. Xun Kuang, auch: Xun Qing, ca. 300 – ca. 235 v.Chr.), geb. im Reich Zhao (heute zu den Provinzen Hebei, Shanxi und Shaanxi zugehörig) Der konfuzianische Philosoph Xun Zi diente zunächst als Beamter in seinem Heimatstaat Zhao, später soll er, wie die Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian verzeichnen, in den Staaten Qi (im Norden der heutigen Provinz Shandong) und Chu (Provinz Hubei) öffentliche Ämter bekleidet haben. Seine philosophische Lehre verstand sich vor allem als Gegenpol zu der Tradition des (→) Meng Zi, dessen Schüler längst versuchten, Meng Zis Lehre als einzig wahre konfuzianische Doktrin zu etablieren. Xun Zi begründete die konfuzianische Forderung nach moralischer Erziehung des Menschen anders als Meng Zi, denn er war der Ansicht, daß der Mensch von Natur aus schlecht (exing) und nur durch Erziehung zu gutem Handeln zu befähigen sei. Dem quasi Hobbesschen Naturzustand sei nur durch Kultivierung beizukommen, d.h. durch die strenge Einhaltung der überlieferten Riten (li) – und auch der Himmel (bei Meng Zi noch eine moralische Instanz) könne dabei nicht mehr behilflich sein. Von der strikten Befolgung der Riten zu einer rigorosen Gesetzgebung (fa) war der Weg nicht mehr weit, und so wurde Xun Zi, wenn auch unfreiwillig, zum Wegbereiter einer neuen philosophischen Schule: des Legismus – er war Lehrer des (→) Han Fei Zi und des Li Si. Man hat Xun Zi oft als den Realisten bzw. Rationalisten unter den Konfuzianern bezeichnet, im Gegensatz zu dem Idealisten Meng Zi. Fest steht, daß Xun Zis Denken zumindest in systematischer Hinsicht den Höhepunkt der frühen konfuzianischen Theoriebildung darstellt – wenn nicht gar den Höhepunkt der klassischen chinesischen Philosophie überhaupt, denn in Xun Zis stringent aufgebautes Werk (Xunzi, 32 Kapitel, von denen die ersten 26 gemeinhin als authentisch gelten) fanden auch die Gedanken anderer bedeutender philosophischer Schulen des Altertums Eingang, insbesondere daoistische und mohistische Thesen.

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Yan Fu 严复 WERKAUSGABEN: Xun Zi duben, hg. von Wang Zhonglin, Taipeh: Sanmin Shuju, 1977; Wang Xianqian: Xun Zi jijie, in: Zhuzi jicheng, Bd. 2, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1978. ÜBERSETZUNGEN: Hsün Tzu. Basic Writings, übers. von Burton Watson, New York: Columbia University Press, 1963; Hsün-Tzu, übers. von Hermann Köster, Kaldenkirchen: Steyler, 1967; Xunzi. A Translation and Study of the Complete Works, übers. von John O. Knoblock, 3 Bde., Stanford: Stanford University Press, 1988 ‒ 1994. SEKUNDÄRLITERATUR: Ralf Moritz: Die Philosophie im alten China, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990, S. 177–203; Heiner Roetz: Die chinesische Ethik der Achsenzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 343ff. et passim; Wolfgang Bauer: Geschichte der chinesischen Philosophie, hg. von Hans van Ess, München: Beck, 2001, S. 103–108. [HP]

Yan Fu 严复 (eig. Yan Tiqian, später Yan Zongguang, zi: Youling, Jidao, hao: Yuye laoren, Tianyan zhexuejia etc., 1854 ‒ 1921), geb. in Fuzhou (Provinz Fujian) Nur selten dürfte ein Übersetzer so viel Einfluß besessen haben wie Yan Fu, der mit seinem Werk wichtige Impulse für den politischen und sozialen Wandel in China zum Ende der Kaiserzeit gegeben hat. Seine Talente als Dichter, Erzieher und Publizist treten dagegen in den Hintergrund. Yans zunächst noch ganz auf die Beamtenprüfungen hin angelegte Ausbildung im Elternhaus nahm eine Wende, als kurz hintereinander erst sein Lehrer und dann sein Vater starben. Dafür gelang ihm 1867 die Aufnahmeprüfung zu der in Fuzhou gegründeten Marineakademie, wo er sich auf das Fach Navigation spezialisierte. Das fünfjährige Studium umfaßte die Fächer Englisch, Mathematik, moderne Wissenschaften und Seefahrtskunde. Als einer von einem Dutzend Graduierten der Anstalt wurde Yan 1877 zum Studium nach Europa geschickt, wo er weitere Unterweisungen in den modernen Naturwissenschaften erhielt. Nach seiner Rückkehr nach China wurde er zunächst Dozent und später, 1889, Dekan an der Beiyang-Marineakademie in Tientsin. Dem folgte in der frühen Republikzeit das Amt des Kanzlers der Universität Peking und noch später das des außenpolitischen Beraters gegenüber dem mächtigen Politiker Yuan Shikai (1859 ‒ 1916). Yans Versuche, doch noch eine traditionelle Beamtenkarriere einzuschlagen, scheiterten in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts mehrmals an den Prüfungen, woraufhin er sich mit einer Reihe von Veröffentlichungen zu politischen und sozialen Reformen im Erziehungswesen zu Wort meldete. Die große öffentliche Wahrnehmung seines Memorandums an den Hof in Peking verschaffte ihm 1898 eine Audienz bei Kaiser Guangxu, doch endeten die Refomversuche bekanntlich kaum mehr als drei Monate nach ihrem Beginn aufgrund des Einschreitens der Kaiserinwitwe Cixi.

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Yan Yu 严羽

Bereits vor diesen Ereignissen hatte Yan Fu mit seinen übersetzerischen Arbeiten begonnen und damit das wachsende Interesse einer neuen Generation junger Intellektueller in China bedient. Allein daß Yan für seine Wiedergabe das Medium des klassischen Chinesisch wählte, mag am Ende eine noch größere Verbreitung verhindert haben. Sein Hauptaugenmerk richtete er dabei auf die Werke der Philosophie und des politischen Denkens. Das meiste von dem, was er ins Chinesische übertrug, hatte er während seines Studiums in England kennengelernt. So erschien 1897 zunächst seine kommentierte Übersetzung der ersten beiden Kapitel von Thomas Huxleys Evolution and Ethics and Other Essays. Über die nächsten zehn Jahre folgten rasch hintereinander, mal vollständig, mal teilweise übersetzt, Adam Smiths An Enquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, John Stuart Mills On Liberty, Herbert Spencers Study of Sociology, Montesquieus De lʼEsprit des Lois, William S. Jevons Primer of Logic etc. Da Yan Fu davon ausging, daß die technologische Überlegenheit des Westens tiefere Ursachen in der Gesellschaft hatte, wählte er mit Bedacht jene Titel, die für ihn auf hervorragende Weise die Besonderheiten des Westens wie Individualismus, politische und rechtliche Verfassung usw. betonten und die seiner Ansicht nach jene Dynamik herbeiführen konnten, die zum Erfolg der Modernisierung beitrug. Yan Fu ist also aus der Herausbildung der modernen chinesischen Ideengeschichte nicht fortzudenken, doch reicht sein Einfluß noch viel weiter. So lieferte er mit der Prägung von Neologismen für fremde Begriffe und Konzepte einen bleibenden Beitrag zum modernen Chinesisch. Mit seinen Forderungen nach xin (Treue gegenüber dem Ausgangswerk), da (Genauigkeit und sprachliche Verständlichkeit) und ya (stilistische Eleganz) formulierte Yan Fu zudem erstmals ansatzweise die Grundlagen für eine Übersetzungstheorie in China. WERKAUSGABEN: Yan Fu ji, hg. von Wang Shi, Peking: Zhonghua Shuju, 1986; Yan Fu heji, hg. von Wang Qingcheng et al., Taiwan Gu Wenliang Foundation, 1998; Wu Jie: Yan Fu shuping, Shijiazhuang: Hebei Renmin, 2001. SEKUNDÄRLITERATUR: Benjamin Schwartz: In Search of Wealth and Power. Yen Fu and the West, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1964; Ko-wu Huang: »The Reception of Yan Fu in Twentieth-Century China«, in: China Reconstructs, hg. von Cindy Yik-yi Chu u. Ricardo K.S. Mak, Lanham, Md.: University Press of America, 2003, S. 25‒44; Sun Yingxiang: Yan Fu nianpu, Fuzhou: Fujian Nianpu, 2003. [TZ]

Yan Yu 严羽 (zi: Yiqing, Danqiu, hao: Canglang buke, tätig zwischen 1180 und 1235), geb. in der Provinz Fujian Die Biographie des einflußreichen Literaturkritikers Yan Yu, dessen Beiname »Weltflüchtiger vom Fluß der blauen Wogen« (Canglang buke) lautete, liegt weitestgehend im dunkeln. Mit der Wahl seines Künstlernamens suchte er offensichtlich die geistige Nähe zu (→) Qu Yuan, jenem großen Dichter der chinesischen

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Yan Yu 严羽

Antike, der, im öffentlichen Leben gescheitert und aus seiner Heimat verbannt, den Rückzug in die Einsamkeit der Natur – und letztlich in den Freitod – antrat. Ein alter Fischer hatte Qu Yuan am Canglang-Fluß noch Worte des Trostes zugesprochen. Ob wir aus diesen literarischen Bezügen allerdings Schlüsse hinsichtlich der Biographie Yan Yus ziehen dürfen, ist fraglich. In seinem Hauptwerk Canglangs Gespräche über die Dichtung (Canglang shihua) entwickelte Yan Yu seine Kriterien für die Komposition und Bewertung von Lyrik. Diese poetologische Abhandlung war zunächst nur als Vorwort zu einem eigenen Gedichtband geplant. Durch ihre Aufnahme in eine der wichtigsten Anthologien der Literaturkritik, Jadesplitter der Dichter (Shiren yuxie), die in der Mitte des 13. Jahrhunderts von Wei Qingzhi herausgegeben wurde, wurde sie jedoch schon bald nach ihrer Entstehung als wesentlicher Beitrag zum literaturkritischen Diskurs wahrgenommen. Der Einfluß der Poetik Yan Yus auch auf die nachfolgenden Generationen war tatsächlich enorm, denn an seinen zentralen Thesen kam kaum ein späterer Autor mehr vorbei. Yan Yu vertrat hinsichtlich der Bewertung der Tradition eine orthodoxe Position: Er favorisierte die Lyrik der Han-, Wei-, Jin- und Tang-Dynastie und fand wenig Gefallen an den neuen literarischen Strömungen wie etwa der Jiangxi-Gruppe (vgl. [→] Huang Tingjian). Eine seiner grundlegenden Neuerungen (anknüpfend an [→] Sikong Tu) bestand darin, die poetologische Diskussion nicht mehr nur in einzelnen Analogien, sondern konsequent in den religiösen Termini des ChanBuddhismus zu etablieren. Ein Gedicht soll nach Yan Yu intuitiv entstehen und auf eine so natürliche Weise vollkommen sein wie »ein in der Luft schwebender Ton« oder wie »das Spiegelbild des Mondes im Wasser«; es müsse jenem unmittelbaren Zustand einer spontanen Erleuchtung gleichkommen. Eine zweite, ebenso kontroverse These seiner Poetik besagte, daß die Qualität von Lyrik primär nichts mit literarischer Bildung (shu) und rationalen Prinzipien (li, ein zentraler Begriff des Neokonfuzianismus) zu tun habe. Als sekundäre Fähigkeiten (vor dem eigentlichen Schaffensprozeß) seien das Bücherstudium und die Einübung formaler Techniken zwar notwendig, sie seien aber hinsichtlich der Qualität eines Gedichtes keine maßgeblichen Voraussetzungen, auch wenn etwa die der Rationalität verpflichtete Jiangxi-Schule dies glauben machen wolle. Yan Yus Poetik widersprach zwar vordergründig den zeitgenössischen literarischen Strömungen, lag jedoch argumentativ durchaus im neokonfuzianischen Trend der Zeit. Unter den zahlreichen Kritikern, die sich im Laufe der Jahrhunderte mit Yan Yu befaßten, ist allen voran (→) Wang Shizhen (1634 – 1711) zu nennen, der mit seiner eigenen Literaturtheorie des »spirituellen Nachklangs« (shenyun) explizit an die Theorien Sikong Tus und Yan Yus anknüpfte. Neben seiner Poetik hat Yan Yu nur eine kleine Gedichtsammlung, einen Kommentar zu Gedichten (→) Li Bais und einen Brief an seinen Onkel hinterlassen.

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Yang Jiang 杨绛 WERKAUSGABEN: Canglang shihua, hg. von He Wenhuan, in: Lidai shihua, Bd. 2, Peking: Zhonghua Shuju, 1981, S. 685‒708; Canglang shihua jiaoshi, hg. von Guo Shaoyu, Peking: Renmin Wenxue, 1983. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Günther Debon: Tsʼang langʼs Gespräche über die Dichtung. Ein Beitrag zur chinesischen Poetik, Wiesbaden: Harrassowitz, 1962; Richard J. Lynn: »The Talent Learning Polarity in Chinese Poetics: Yan Yu and the Later Tradition«, in: CLEAR 5 (1983), S. 157‒184; Readings in Chinese Literary Thought, übers. von Stephen Owen, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992, S. 391‒420. [HP]

Yang Jiang 杨绛 (eig. Yang Jikang, 1911 ‒), geb. in Wuxi (Provinz Jiangsu) Yang Jiang stammt aus der Stadt Wuxi in der Provinz Jiangsu. 1935 heiratete sie den Schriftsteller und Literaturwissenschaftler (→) Qian Zhongshu und begleitete ihn kurze Zeit später zum Studium nach England. Nach der Rückkehr war sie an verschiedenen Universitäten als Professorin tätig und zugleich als Theaterautorin erfolgreich. Ab 1944 erschienen Stücke wie Vollkommen zufrieden (Chengxin ruyi, 1944), Aus der Täuschung wird Wahrheit (Nong jia cheng zhen, 1945) und Brise (Fengxu, 1947). Nach 1949 beschäftigte sie sich überwiegend mit Übersetzungen von Werken der Weltliteratur. Ab 1979 veröffentlichte sie Prosastücke wie Frühlingserde (Chunni ji, Erzählungen, 1979), Sechs Kapitel aus der Kaderschule (Ganxiao liu ji, Essays, 1981), Schattenbild (Daoying, Erzählungen, 1982), Baden (Xizao, Roman, 1988) und Wir drei (Women sa, 2003). Der Roman Baden ist einer der wichtigsten Beiträge zur literarischen Verarbeitung der politischen Gehirnwäsche im China der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Treffsicher und humorvoll stellt Yang Jiang die Verwandlungen der Intellektuellen im Denken und Handeln und ihre Anpassung an die zunehmende Politisierung ihres Alltags dar. WERKAUSGABEN: Chunni ji, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1979; Ganxiao liu ji, Peking: Sanlian Shudian, 1981; Daoying, Peking: Renmin Wenxue, 1982; Huiyi liang pian, Changsha: Hunan Renmin, 1986; Ji Qian Zhongshu yu »Weicheng«, Changsha: Hunan Renmin, 1986; Xizao, Peking: Renmin Wenxue, 1988; Women sa, Peking: Sanlian Shudian, 2003. ÜBERSETZUNGEN: A Cadre School Life. Six Chapters, übers. von Geremie Barmé, Hongkong: Joint Publishing, 1982. SEKUNDÄRLITERATUR: Howard Goldblatt: »The Cultural Revolution and Beyond: Yang Jiang’s Six Chapters From My Life ›Down Under‹«, in: Modern Chinese Literature Newsletter 6, 2 (1980), S. 1‒11; Amy Dooling: »In Search of Laughter: Yang Jiang’s Feminist Comedy«, in: Modern Chinese Literature 8, 1/2 (1994), S. 41‒68; dies.: »Outwitting Patriarchy: Comic Narrative Strategies in the Works of Yang Jiang, Su Qing,

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Yang Lian 杨炼 and Zhang Ailing«, in: dies.: Women’s Literary Feminism in Twentieth-Century China, New York: Palgrave Macmillan, 2005, S. 137‒170; Judith Armory u. Shihua Yao: »Yang Jiang and Baptism«, in: Yang Jiang: Baptism, Hongkong: Hong Kong University Press, 2007, S. vi‒xii. [WH]

Yang Lian 杨炼 (1955 ‒), geb. in Bern (Schweiz) Yang Lian gehört zur Gruppe der Dichter hermetischer Lyrik (Menglong Shipai), die sich nach der Öffnungspolitik der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts in China gebildet hat. Mit Dichtern wie (→) Gu Cheng und (→) Bei Dao versuchte er, in einer bis dahin völlig politisierten Lyrikwelt eine neue Ausdrucksweise zu finden. Das zentrale Motiv dieser Richtung war die Suche nach dem Ich, nach einer neuen Identität, die die individuelle Wahrnehmung und die Freiheit des Geistes zur Voraussetzung hat. Diese Art von Lyrik wurde insbesondere von jungen Studenten mit Neugier und Begeisterung aufgenommen. 1979 wurde Yang Lian Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Today (Jintian), die heute in Hongkong herausgegeben wird und in erster Linie Exilliteratur veröffentlicht. Während des »Säuberungsprozesses gegen die geistige Verschmutzung« (»Qingli jingshen wuran«, 1983) wurden auch Yang Lians Gedichte verboten. Zur Zeit des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 befand sich Yang Lian gerade im Ausland. Er entschied sich, nicht mehr nach China zurückzukehren. Heute lebt er mit neuseeländischem Paß in London. In seinem lyrischen Schaffen bevorzugt Yang Lian die Form des Langgedichtes. Sein erstes Langgedicht war »Nuorilang« (»Nuorilang« [Eigenname], 1983). Yang Lian setzt sich in seiner Lyrik insbesondere mit der Sprache als philosophischem Phänomen auseinander und experimentiert mit den verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, um deren Grenzen zum Nicht-Ausdrückbaren auszuloten. WERKAUSGABEN: Yang Lian u. Ning Fengzhu: Taiyang yu ren, Changsha: Hunan Wenyi, 1991; Yang Lian u. You You: Renying, guihua, Peking: Bianyi, 1998; Yang Lian zuopin 1982 ‒ 1997. Shige juan, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1998. ÜBERSETZUNGEN: Pilgerfahrt. Gedichte, hg. von Karl-Heinz Pohl, Innsbruck: Handpress, 1987; »Sechs Gedichte und ein Prosatext«, übers. von Peter Hoffmann, in: Hefte für ostasiatische Literatur 12 (März 1992), S. 46‒52; »Dichtung in Wechselwirkung mit der Welt«, übers. von Sabine Peschel, in: Hefte für ostasiatische Literatur 12 (März 1992), S. 55‒58; Gedichte. Drei Zyklen, übers. von Yi Huang u. Albrecht Conze, Zürich: Ammann, 1993; Masken und Krokodile. Gedichte, übers. u. mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Berlin: Aufbau, 1994; Non-Person Singular. Collected Shorter Poems of Yang Lian, übers. von Brian Holton, London: Wellsweep Press, 1994; Der Ruhepunkt des Meeres, übers. von Wolfgang Kubin, Stuttgart: Edition Solitude, 1996; Where the Sea Stands Still. New Poems by Yang Lian, übers. von Brian Holton, Newcastle: Bloodaxe Books, 1999; Notes of a Blissful Ghost, übers. von Brian Holton, Hongkong:

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Yang Shen 杨慎 Renditions Paperbacks, 2002; Yi, übers. von Mabel Lee, zweisprachige Ausgabe, Los Angeles: Green Integer, 2002; Concentric Circles, übers. von Brian Holton u. Agnes Hung-Chong Chan, Tarset: Bloodaxe Books, 2005; Riding Pisces. Poems from five Collections, übers. von Brian Holton, Exeter: Shearsman, 2008; Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons. Gedichte und Reflexionen, übers. von Karin Betz und Wolfgang Kubin, mit einem Nachwort von Uwe Kolbe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Wai-lim Yip: »Crisis Poetry: An Introduction to Yang Lian, Jiang He and Misty Poetry«, in: Renditions 23 (Spring 1985), S. 120‒130; Mabel Lee: »The Philosophy of the Self and Yang Lian«, in: Yang Lian: Masks and Crocodile, Sydney: Wild Peony, 1990; Sean Golden u. John Minford: »Yang Lian and the Chinese Tradition«, in: Worlds Apart. Recent Chinese Writing and its Audiences, hg. von Howard Goldblatt, Armonk, New York: M.E. Sharpe, Inc., 1990, S. 119‒137; Mabel Lee: »Before Tradition: The Book of Changes and Yang Lian’s Yi and the Affirmation of the Self Through Poetry«, in: Modernization of the Chinese Past, hg. von Mabel Lee u. A.D. Syrokomla-Stefanowska, Sydney: Wild Peony, 1993, S. 94‒106; Brian Holton: »Translating Yang Lian«, in: Yang Lian: Where the Sea Stands Still. New Poems, Newcastle: Bloodaxe Books, 1999, S. 173‒191; John Cayley: »John Cayley with Yang Lian: Hallucination and Coherence«, in: positions: east asia cultures critique 10, 3 (Winter 2002), S. 773‒784; Jacob Edmond: »Locating Global Resistance: The Landscape Poetics of Arkadii Dragomoshchenko, Lyn Hejinian and Yang Lian«, in: AUMLA: Journal of the Australasian Universities Language & Literature Association 101 (2004), S. 71‒98; Jacob Edmond u. Hilary Chung: »Yang Lian, Auckland and the Poetics of Exile«, in: Yang Lian: Unreal City. A Chinese Poet in Auckland, Auckland: Auckland University Press, 2006, S. 1‒23. [WH]

Yang Shen 杨慎 (zi: Yongxiu, hao: Sheng’an, 1488 ‒ 1559), geb. in Xindu (Provinz Sichuan) Yang gilt als einer der wichtigsten Dichter und vielseitigsten Gelehrten des 16. Jahrhunderts. 1506 rief er mit Freunden aus der Heimat die Literaturgesellschaft »Lizehui« ins Leben. Seine Karriere bei Hofe begann zunächst vielversprechend, nachdem er 1511 als bester aus den Palastprüfungen hervorgegangen war und ein Amt in der Hanlin-Akademie übertragen bekommen hatte. Der Bruch kam, als sich unter starkem Einfluß von Yangs Vater Yang Tinghe Widerstand gegen den neu inthronisierten Kaiser Shizong (reg. 1521 ‒ 1567) formierte. Shizong nämlich gedachte seines Vaters mit kaiserlichem Pomp, obwohl dieser nie selbst Kaiser gewesen war. Zahlreiche Beamte des Hofes verloren in der Folge auf Anordnung des Kaisers entweder ihr Leben oder wurden aus dem Amt gejagt, darunter Yangs Vater, den man degradierte, und Yang Shen selbst, der ausgepeitscht und in die entlegene südchinesische Provinz Yunnan nach Yongchang verbannt wurde, wo er die restlichen dreieinhalb Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Die ihm am Verbannungsort zur Verfügung stehende Zeit und das von Hause aus vorhandene Vermögen nutzte Yang zu umfassenden Studien, aus denen ein

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Yang Wanli 杨万里

reichhaltiges Werk von mehr als vierhundert Schriften hervorgegangen ist. Erhalten sind davon noch knapp über hundert, darunter solche zu Themen der Geschichte, der Sitten und Bräuche, Geographie, Phonetik und Kunst. An nennenswerten Beiträgen zur Literatur sind u.a. die zur Dramen- und Balladenkunst und zu diversen Prosa- und Lyrikformen anzuführen. Yangs verstreute Schriften wurden später in Sammlungen wie Sammlung des Shengʼan (Shengʼan ji) und Zusätzliche Sammlung des Shengʼan (Shengʼan waiji) zusammengefaßt. Aus Yangs eigenem dichterischen Schaffen ragen v.a. seine shi-Gedichte hervor, wobei er sich nicht der zeitgenössischen Stilvorgabe der Archaiker mit Vertretern wie (→) Li Mengyang anschloß, die die Tang-Zeit (618 – 907) zum Vorbild erklärten, sondern vielmehr Zeit der Sechs Dynastien (4. ‒ 6. Jahrhundert) den Vorzug gab. WERKAUSGABEN: Shengʼan waiji, Taipeh: Taiwan Xuesheng Shuji, 1971; Yang Shen ciquji, Chengdu: Sichuan Renmin, 1984; Shengʼan ji, Shanghai: Shanghai Guji, 1993. SEKUNDÄRLITERATUR: Lin Duzhang: Yang Shen yanjiu ziliao huibian, 2 Bde., Taipeh: Zhongyang Yanjiuyuan, Zhongguo Wenzhe Yanjiusuo, 1992; Adam Schorr: »Connoisseurship and the Defense against Vulgarity: Yang Shen (1488 ‒ 1559) and his Work«, in: Monumenta Serica 41 (1993), S. 89‒128; Feng Jiahua: Yang Shen pingzhuan (A Critical Biography of Yang Shen), Nanjing: Nanjing Daxue, 1998. [TZ]

Yang Wanli 杨万里 (zi: Tingxiu, hao: Chengzhai, 1127 – 1206), geb. in Jishui (Provinz Jiangxi) Der bedeutende Literat und couragierte Beamte Yang Wanli wurde im Jahr des Zusammenbruchs der Nördlichen Song-Dynastie geboren. Neben (→) Lu You, (→) Fan Chengda und You Mou (1127 – 1194, das Werk dieses Dichters ist großteils verloren) zählt er zu den »Vier großen shi-Dichtern der Südlichen SongDynastie«. Nachdem Yang 1154 sein jinshi-Doktorexamen bestanden und sich zunächst an verschiedenen Orten in der Provinz bewährt hatte, wurde er an den Kaiserhof in Hangzhou, der Hauptstadt der Südlichen Song-Dynastie, berufen. Dort eckte er mit seiner integren und unabhängigen Art wiederholt an, bis er sich 1192 in den Ruhestand begab. Als Dichter pflegte er in früheren Jahren noch den gelehrigen und zitatreichen Stil der von (→) Huang Tingjian begründeten Jiangxi-Gruppe (vgl. auch [→] Chen Shidao). Doch 1178 widerfuhr ihm etwas, das als »poetische Erleuchtung« überliefert ist. Gemeint ist die Chan-buddhistisch beeinflußte grundlegende Erkenntnis, daß ein eigenständiger und spontaner Stil in der Lyrik möglich ist – allerdings nur ohne die sklavische Abhängigkeit von der Tradition. Diese unabhängige Art zu dichten nannte Yang Wanli (seinem Zeitgenossen Lü Benzhong folgend) »lebendige Methode« (huofa). Dieser Begriff beschreibt eine Art »eingeübte Spontaneität« (Karl-Heinz Pohl), die zwar einer erlernten Technik bedarf,

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Yang Xiong 扬雄

aber mehr noch der unmittelbaren Eingebung des individuellen Dichters. Yang Wanlis eigener Stil in der Dichtung zeichnete sich durch eine schlichte, umgangssprachliche Diktion aus, die mit der Lyrik (→) Bai Juyis verglichen wurde. Als »Kind des Umbruchs« ging er sogar so weit, sein Frühwerk zu verbrennen. Indem er mit diesem über das Private hinausweisenden Akt der Zerstörung mit der Tradition brach, schwamm er in einer Zeit des Neoklassizismus, in der die Nachahmung und Orientierung an den großen Vorbildern der Vergangenheit allerhöchstes Gebot war, gehörig gegen den Strom. WERKAUSGABEN: Yang Wanli shi pingshu, hg. von Hu Mingting, Taipeh: Xuehai, 1976; Yang Wanli xuanji, hg. u. komm. von Zhou Ruchang, Shanghai: Shanghai Guji, 1979. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Jerry D. Schmidt: »Ch’an, Illusion, and Sudden Enlightenment in the Poetry of Yang Wanli«, in: T’oung Pao 60 (1974), S. 230‒281; Heaven my Blanket, Earth my Pillow. Poems by Yang Wan-Li, übers. von Jonathan Chaves, New York et al.: Weatherhill, 1975; J.D. Schmidt: Yang Wan-li, Boston: Twayne, 1976. [HP]

Yang Xiong 扬雄 (zi: Ziyun, 53 v.Chr. – 18 n.Chr.), geb. in Chengdu (heute Provinz Sichuan) Der Philosoph Yang Xiong, nach (→) Sima Xiangru der bedeutendste fu-Dichter der Han-Zeit, diente unter Kaiser Chengdi (reg. 32 – 6 v.Chr.) und dessen Nachfolgern. Später ließ er sich überreden, unter dem Usurpator Wang Mang (reg. 9 – 23 n.Chr.) ein Ministeramt zu bekleiden, was ihm von späteren Historikern sehr zum Vorwurf gemacht wurde. Um 20 v.Chr. an den Hof Kaiser Chengdis berufen, betätigte Yang Xiong sich dort zunächst als eifriger Nachahmer Sima Xiangrus, indem er im Auftrag des Kaisers das höfische Leben in poetischen Beschreibungen (fu) besang. Später kehrte er diesem Genre des »schönen Scheins« allerdings den Rücken zu: Es habe zu wenig moralischen Tiefgang und trage in keinster Weise zur Bildung des Charakters bei. Auch in seinen philosophischen Arbeiten war das Thema der Charakterbildung für Yang Xiong zentral: Hier versuchte er sich an einer Versöhnung der gegensätzlichen Positionen (→) Meng Zis und (→) Xun Zis. Der Mensch sei von Natur aus gut und schlecht zugleich. Nur moralische Bildung könne über die Richtung entscheiden, die ein Individuum in seinem Leben einschlage. Yang Xiongs Werke umfassen eine Aphorismen- und Gesprächssammlung im Stile der Gespräche (Lunyu) des (→) Konfuzius mit dem Titel Musterhafte Sprüche (Fayan), das auf dem Buch der Wandlungen (Yijing) aufbauende kosmologische Buch vom höchsten Geheimen (Taixuanjing) sowie das Dialektwörterbuch Fangyan. WERKAUSGABEN: Yang Zi Fayan, in: Zhuzi jicheng, Bd. 7, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1978.

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Yang Yi 杨亿 ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Alfred Forke: »Der Philosoph Yang Hsiung«, in: Sinica 7 (1932), S. 169‒178; Erwin Ritter von Zach: Yang Hsiungʼs Fa-yen: Worte strenger Ermahnung. Ein philosophischer Traktat aus dem Beginn der christlichen Zeitrechnung, Batavia: Lux, 1939; Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 93–98 et passim; David Knechtges: The Han Rhapsody. A Study of the Fu of Yang Hsiung, Cambridge: Cambridge University Press, 1976; ders.: The Han-shu Biography of Yang Hsiung (53 B.C. – A.D. 18), Tempe: Arizona State University Press, 1981; Michael Nylan: The Canon of Supreme Mystery. A Translation with Commentary of the T’ai Hsüan Ching, Albany: State University of New York Press, 1993; Xiao Tong: Wen xuan or Selections of Refined Literature, Bd. 2, übers. von David R. Knechtges, Princeton: Princeton University Press, 1996, S. 17‒39, 115‒151. [HP]

Yang Yi 杨亿 (zi: Danian, 974 ‒ 1020), geb. in Pucheng (Provinz Fujian) Yang Yi war ein Wunderkind, dessen sprachliche Begabung von seiner Mutter früh erkannt und gefördert wurde. Mit sieben Jahren schrieb er Essays und unterhielt sich mit Gelehrten, die bei seinen Eltern zu Gast waren. Kaiser Taizong (reg. 976 ‒ 997) ließ den Elfjährigen mit einer kaiserlichen Eskorte an den Hof holen, ließ ihn fördern und prüfen. 991 erlangte Yang Yi den Doktortitel (jinshi) und wurde Gelehrter der Hanlin-Akademie, und schon 996 wurde ihm die Schriftleitung in der Palastbibliothek und in den kaiserlichen Archiven anvertraut. Bis auf kurze Unterbrechungen blieb er in diesen Einrichtungen tätig. Zwischen 1005 und 1013 diente er als leitender Herausgeber des Grundlegenden Wegweisers zu den Dokumenten der Schatzkammer (Cefu yuangui), einer 1000 Kapitel umfassenden Sammlung politischer Essays, die hauptsächlich biographische Angaben zu Herrschern und hohen Beamten vor der Gründung der Song-Dynastie (960 – 1279) enthielten. Yang schrieb ein Vorwort zu jedem der 31 Hauptabschnitte. Seinen literarischen Ruf verdankt Yang Yi der Gedichtsammlung aus den XikunArchiven (Xikunchouchang ji), deren Herausgeber er war. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von 250 meist siebensilbigen Regelgedichten (qiyan lüshi), geschrieben von 17 Beamten des Kaiserlichen Archivs. 74 Gedichte stammen von Yang Yi selbst. Seine Freunde Liu Yun (971 ‒ 1031) und Qian Weiyan (977 ‒ 1034) waren mit jeweils 74 bzw. 55 Gedichten beteiligt. Der Name Xikun bezieht sich auf eine alte Legende, der zufolge die Kaiser der Vorzeit im Kunlun-Gebirge (Xikun) ein Kaiserliches Archiv angelegt hatten – das »Kaiserliche Archiv am Jadeberg« (»Yushan cefu«) –, um dort wertvolle Dokumente und Bücher sicher aufzubewahren. Während Yang Yi und seine gelehrten Kollegen in den Archiven arbeiteten, verfaßten sie sogenannte changhe-Gedichte. Ein Dichter trug ein Gedicht vor (chang), und ein zweiter mußte eine Erwiderung dazu dichten (he), die

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Yao Nai 姚鼐

in Form und Versmaß dem ersteren entsprach. Vor allem mußte ein strenger Parallelismus eingehalten werden. So entstanden Gedichte, die einen raffiniert ausgeklügelten Wortschatz aufwiesen, viele Anspielungen enthielten (zum Beweis der Gelehrsamkeit), von der Form her vollendet, inhaltlich jedoch kraft- und bedeutungslos waren. Als Vorbild galt (→) Li Shangyin (813? ‒ 858?), dem allerdings noch eine Synthese zwischen Form und Inhalt gelungen war. Diese Sprache wurde am Hofe sehr geschätzt. Auch in den Prosatexten der kaiserlichen Ausgaben herrschte ein strenger Parallelstil (piantiwen) vor. In der späteren Song-Zeit wurde der Xikun-Stil (Xikunpai) zum Synonym für eine im Formalismus erstarrte Sprache. WERKAUSGABEN: Xikun chouchang ji, komm. von Zhou Zhen u. Wang Tuwei, Shanghai: Shanghai Guji, 1985. ÜBERSETZUNGEN: Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-Chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 309f. SEKUNDÄRLITERATUR: Ye Qingbing: »Xikunchouchang ji zakao«, in: Shu he ren 195 (16.09. 1972). [BD]

Yao Nai 姚鼐 (zi: Jichuan, Menggu, 1732 ‒ 1815), geb. in Tongcheng (Provinz Anhui) Yao Nai, ein Vertreter der Gelehrtenwelt des 18. Jahrhunderts, war durch die Abstammung aus seinem Heimatort stark beeinflußt von der dort gegründeten Tongcheng-Schule. Besonderen Einfluß auf ihn hatte (→) Liu Dakui, einer der Anhänger dieser Schule. Im Anschluß an seine Tätigkeit bei Hofe, wo Yao nach der Erlangung des Doktorgrades (jinshi) mehrere Posten in der Hanlin-Akademie, im Ritenund Justizministerium innegehabt hatte und der Kommission zur Gründung der von (→) Ji Yun herausgegebenen Vollständigen Bibliothek in Vier Abteilungen angehörte, widmete er sich dem Aufbau und der Pflege des privaten Akademiewesens. In der chinesischen Literaturwissenschaft hat Yao Nai wichtige Spuren vor allem durch seine Klassifizierte Anthologie der Prosa und Verse im antiken Stil (Gu wen ci leizuan) hinterlassen. In den dreizehn entworfenen Kategorien wie etwa »Essays und Argumentationen« (lunbian), »Edikte und Befehle« (zhaoling) oder »Biographien und Nachrufe« (zhuanzhuang), die starken Einfluß auf den Gattungsbegriff in der späteren chinesischen Literaturwissenschaft ausübten, kommen naturgemäß besonders stark die Werte der traditionellen konfuzianischen Gelehrsamkeit zum Ausdruck. Yao kam es weniger auf eine rein formale Einteilung an (auch wenn er auf bestimmte »äußerliche« Faktoren wie Lautgesetze, poetische Bauprinzipien etc. sehr wohl einging); mit dem der göttlich-religiösen Vorstellung zuzurechnenden shen, dem metaphysischen Ordnungsprinzip li und der Vitalkraft qi machte er vielmehr solche Prinzipien aus, die der Literatur erst den für sie wichtigen trans-

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Ye Shengtao 叶圣陶

zendenten Charakter verliehen. Als Quelle zur Konsultation der überlieferten Schriften und als Hilfe zur Komposition eigener Texte war Yao Nais Klassifizierte Anthologie Vorbild für eine Reihe von ähnlichen Anthologien späterer Zeit. WERKAUSGABEN: Gu wen ci leizuan, Taipeh: Taiwan Zhonghua Shuju, 1965; Yao Nai wenxuan, Hefei: Huangshan Shushe, 1986; Xibaoxuan quanji, Peking: Zhongguo Shudian, 1991. SEKUNDÄRLITERATUR: David Pollard: A Chinese Look at Literature. The Literary Values of Chou Tso-jen in Relation to the Tradition, London: C. Hurst & Co., 1973; Yao Yongpu: Xibaoxuan shiji xunzuan, Hefei: Huangshan Shushe, 2001. [TZ]

Ye Shengtao 叶圣陶 (eig. Ye Zhaojun, zi: Taosheng, 1894 ‒ 1988), geb. in Suzhou (Provinz Jiangsu) Ye Shengtao arbeitete nach der Mittelschule zunächst als Grundschul-, später als Mittelschullehrer. Diese Erfahrung als Lehrer lieferte ihm wichtige Stoffe für sein literarisches Schaffen. 1914 begann er zu schreiben und veröffentlichte kurze Geschichten in Zeitschriften wie Samstag (Libailiu) und Zeitschrift für Erzählungen (Xiaoshuo congbao). 1919 weitete er sein literarisches Schreiben auf die lyrische und die dramatische Gattung aus. Er war Mitbegründer der Literarischen Studiengesellschaft (Wenxue yanjiuhui) und wenig später Herausgeber der Zeitschrift Lyrik (Shi). Von 1923 bis 1930 war er als Redakteur der Commercial Press in Shanghai und zeitweise als Dozent an der Fudan-Universität tätig. Nach 1949 übte er verschiedene politische Funktionen im Kulturbereich und Verlagswesen aus. Der erste Erzählband Entfremdung (Gemo) kam 1922 heraus, 1923 folgte der Band Feuersbrunst (Huozai). Im selben Jahr erschien auch seine erste Sammlung von Kindergeschichten, Vogelscheuche (Daocaoren). Sie handelten von einem verarmten Lehrer, einer davongelaufenen Frau und einem verängstigten Schulkind. Ye wollte mit diesen Geschichten auf die Kluft ‒ und die daraus resultierenden sozialen Konflikte ‒ zwischen der Revolution und ihrem Scheitern, zwischen Idealvorstellungen und Realität aufmerksam machen. Zu den einflußreichsten Werken Ye Shengtaos gehört der Roman Die Flut des Tjiäntang (Ni Huanzhi). Darin beschreibt er einen jungen, engagierten Lehrer, der das Ziel verfolgt, das Vaterland durch Bildung von Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien. Gemeinsam mit seinen Kollegen führt er eine Schulreform durch. Einen parallelen Handlungsstrang bildet die Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten Ni Huanzhi und seiner Kollegin Jin Peizhang. Berufliche und persönliche Veränderungen führen jedoch nicht zu dem erwarteten Lebensglück. Schnell entdeckt Ni, daß sein Leben sinnleer ist. Sein erzieherisches Experiment in der Schule scheitert an menschlicher Unzulänglichkeit, und seine Frau entspricht nicht seinem Ideal: Nach all dem Scheitern und den Enttäuschungen stirbt er kurze Zeit später. Dieser Roman macht die Ausweglosigkeit der Intellektuellen im damaligen China deutlich.

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Ye Xie 叶燮

Ye Shengtaos Schaffenszeit konzentriert sich auf die 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Mit seinen erzählerischen Leistungen trug er maßgeblich zur Entstehung und Weiterentwicklung der modernen Erzählkunst Chinas bei. Auch die thematische Entdeckung der Kindheit und die Entwicklung der Kinderliteratur gehören zu seinen großen Verdiensten. WERKAUSGABEN: Ye Shengtao wenji, 3 Bde., Peking: Renmin Wenxue, 1958; Ye Shengtao ji, o.O. [Nanjing]: Jiangsu Jiaoyu, 1988. ÜBERSETZUNGEN: Schoolmaster Ni Huanchih, Peking: Foreign Languages Press, 1958; Yä Scheng-Tau: Die Flut des Tjäntang, übers. von Helmut Liebermann, Berlin: Rütten & Loening, 1962; »Ein Leben«, übers. von Roderich Ptak, in: Hoffnung auf Frühling. Moderne chinesische Erzählungen. Erster Band: 1919 bis 1949, hg. von Volker Klöpsch u. Roderich Ptak, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 40‒45; How Mr. Pan Weathered the Storm, Peking: Panda, 1987; »Melonen«, übers. von Ute Laschewski, in: minima sinica 1/1991, S. 75‒96; »Der Angeber«, übers. von Katrin Bode, in: minima sinica 1/1999, S. 105‒115. SEKUNDÄRLITERATUR: Jaroslav Prušek: »Yeh Cheng-tʼao and Anton Chekhov«, in: Archiv Orientálni 38, 4/1970, S. 437‒452; C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 57‒71; David Joel Selis: Yeh Shao-chun. A Critical Study of His Fiction, 1919 ‒ 1944, Diss., Bloomington: Indiana University, 1975; Frank B. Kelly: The Writings of Yeh Sheng-t’ao, Diss., University of Chicago, 1979; Liao Chen: Ye Shengtao pingzhuan, Tientsin: Baihua Wenyi, 1981; Jin Mei: Lun Ye Shengtao de wenxue chuangzuo, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1985; Marsten Anderson: »The Specular Self: Subjective and Mimetic Elements in the Fiction of Ye Shaojun«, in: Modern China 15, 1 (Jan. 1989), S. 72‒101; ders.: The Limits of Realism. Chinese Fiction in the Revolutionary Period, Berkeley: University of California Press, 1990, S. 76‒118; Michel Hockx: »Art for Whose Sake? The Poetry of Xu Yunuo and the Esthetic Principles of Ye Shengtao«, in: Words from the West. Western Texts in Chinese Literary Context. Essays to Honor Erik Zurcher on His Sixty-fifth Birthday, hg. von Lloyd Haft, Leiden: CNWS Publications, 1993, S. 5‒25; Wolfgang Kubin: »Der Schreckensmann. Deutsche Melancholie und chinesische Unrast. Ye Shengtaos Roman Ni Huanzhi«, in: minima sinica 1/1996, S. 61‒73. [WH]

Ye Xie 叶燮 (zi: Xingqi, hao: Jiqi, 1627 ‒ 1703), geb. in Wujiang (Provinz Jiangsu) Ye Xie war ein Literaturkritiker, Dichter und Wissenschaftler, der 1670 die Prüfung zum Doktor (jinshi) ablegte und später u.a. als Magistrat diente. Seine Anstrengungen, die durch Krieg und Hungersnot verursachten Leiden der Bevölkerung zu verringern, stießen bei der Obrigkeit auf Mißfallen und führten zu seiner Entlassung. In der Folge gab Ye alle Ämter auf, reiste und zog sich in späten Jahren auf seinen Landsitz am Hengshan zurück.

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Ye Zhou 叶昼

Besondere Bedeutung gewann seine Schrift Der Ursprung der Dichtung (Yuan shi), die oft in einem Atemzug mit (→) Liu Xies (ca. 465 ‒ 522) Poetologie Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen (Wenxin diaolong) genannt wird und der Literaturkritik wichtige Impulse gab. Im Kern des vier Kapitel umfassenden Werks bemühte sich Ye um die Erörterung der Frage, ob sich die Dichtkunst nach festen Regeln (fa) erlernen lasse, wobei er versuchte, die Verbindung zwischen den Prinzipien (li), den Fakten (shi) und der Gestalt (qing) aufzuzeigen. Das dabei entworfene Modell lehnte sich in hohem Maße an die Kosmologie und Weltdeutung der zur Zeit der Südlichen Song (1127 – 1279) vorherrschenden Schulen des Neokonfuzianismus an. Die in Ye Xies Untersuchung angewandte Methode trägt mit ihrer analytischen Art fast moderne Züge. WERKAUSGABEN: Yuan shi, hg. u. mit Anm. von Huo Songlin, Peking: Renmin Wenxue, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Stephen Owen: Readings in Chinese Literary Thought, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992, S. 493‒581. SEKUNDÄRLITERATUR: Poon Hon Kwong: The Poetics of Ye Xie (1627 ‒ 1703). A Revaluation, M. Phil. Thesis, University of Hongkong, 1987; Karl-Heinz Pohl: »Ye Xieʼs ›On the Origin of Poetry‹ (Yuan shi) – A Poetic of the Early Qing«, in: Tʼoung Pao 58 (1992), S. 1‒32. [TZ]

Ye Zhou 叶昼 (zi: Wentong, auch Jinweng, Buye, Yangkai, Yewuye, Liang Wuzhi, gest. ca. 1621/27), geb. in Wuxi (Provinz Jiangsu) Ye Zhou war als Kritiker auf das engste mit der Ästhetik der frühen chinesischen Romankunst und des Dramas verbunden, doch sind seine genaueren Lebensumstände nur schwer zu ermitteln. Seine Hauptwirkungszeit muß jedenfalls zwischen 1573 und 1619 gelegen haben. Wie aus Angaben in den hinterlassenen Schriften von Zeitgenossen zu entnehmen ist, sollen die meisten unter dem Namen des konfuzianischen Häretikers (→) Li Zhi erschienenen Kommentare zu Werken wie Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan), Die Reise in den Westen (Xiyouji), Die Helden der kaiserlichen Ming-Dynastie (Huang Ming yingliezhuan), Die Laute (Pipaji) usw. in Wahrheit alle von Ye Zhou stammen, doch besteht darüber in der Wissenschaft noch keine Einigkeit. Ye soll bei dem Führer der DonglinPartei, Gu Xiancheng, studiert haben, dem Alkohol nicht abgeneigt gewesen sein und zahlreiche seiner Schriften während des abklingenden Rausches verfaßt haben. Als wichtiger Wegbereiter der chinesischen Romanästhetik wird Yes Name in einem Zug mit denen von Li Zhi und (→) Jin Shengtan genannt. So war Ye etwa ein früher Verfechter der These, daß Personen und Handlungen in den Erzählungen immer nur den Erscheinungen im Leben nachgebildet sind und sich auch nicht von diesen realen Vorbildern lösen dürfen. Fiktive Elemente bildeteten nach

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Ye einen wichtigen Bestandteil der Erzählungen, doch müßten sie plausibel wirken und im Leben der Menschen nachvollziehbar sein. Durch seine Differenzierungen löste Ye die Romankunst aus den der Tatsachenabbildung verpflichteten Grundsätzen der Geschichtsschreibung. Gerade am Beispiel des Romans Die Reise in den Westen machte er dies deutlich, indem er darauf hinwies, daß die Handlung zwar in höchstem Maße erfunden sei, nichtsdestoweniger aber sehr realistisch wirke. Mit seiner Würdigung der Reise hob sich Ye klar von der nachfolgenden Generation von Romankritikern wie Jin Shengtan, (→) Mao Zonggang und (→) Zhang Zhupo ab, die das Werk allesamt als an den Haaren herbeigezogen verurteilten. Daneben war Ye Zhou der erste, der die chinesischen Romane für ihre prägnanten Charaktere und wiedererkennbaren Typen lobte, wobei er in diesem Zusammenhang vor allem Die Räuber vom Liangshan-Moor heraushob. In der Geschichte der chinesischen Literaturkritikschreibung ist Ye immer wieder für die hohe Individualität seiner Ansichten gelobt worden. SEKUNDÄRLITERATUR: Ye Lang: Zhongguo xiaoshuo meixue, Peking: Beijing Daxue, 1982, S. 280‒302. [TZ]

Yu Da 俞达 (auch: Yu Zongjun, zi: Yinxiang, gest. 1884), geb. in Suzhou (Provinz Jiangsu) Von den Lebensumständen des Romanautors und Dichters Yu Da wissen wir nur etwas aus den Schriften seines Freundes Zou Tao, mit dem er Freud und Leid teilte. Demzufolge führte Yu eine rastlose Existenz, suchte immer wieder die Zurückgezogenheit in der Natur, neigte jedoch auch zu Ausschweifungen – wohl mit ein Grund für seinen mutmaßlich frühen Tod. Neben dem Roman Der Traum der Grünen Kammer (Qingloumeng, auch bekannt unter dem Titel Spiegel der duftenden Wangen und Frühlingsnächte [Xiangsai chunxiao jing]) liegen diverse weitere Werke vor, darunter Mit geschwungenem Pinsel und vom Wein geröteten Gesicht auf dem Pferdewagen (Zui hong xuan bi hua) und Die Sammlung der Möwe (Xianʼouji). Literaturkritikern zufolge zeichnet sich Yus dichterisches Werk durch einen frischen, aber nicht vulgären Stil aus. WERKAUSGABEN: Xiangsai chunxiao jing, Guangzhou: Huacheng, 1993.

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Yu Dafu 郁达夫 (eig. Yu Wen, 1896 ‒ 1945), geb. in Fuyang (Provinz Zhejiang) Yu Dafu entstammte einer Grundbesitzerfamilie, die so verarmt war, daß er als Kind Hunger litt. Sein Vater, ein Privatlehrer und Arzt, starb, als er drei Jahre alt war. Das Gefühl der Einsamkeit und der Armut prägte den hochsensiblen Jungen.

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1913, im Alter von siebzehn Jahren, ging er mit seinem älteren Bruder nach Japan, zunächst zur Vorbereitung auf ein Studium der Medizin und Literatur, dann ab 1919 als Student der Wirtschaftswissenschaft an der Kaiserlichen Universität Tokio. Schon früh entwickelte er sich zu einem exzessiven Leser der chinesischen, japanischen und westlichen Literatur (Japanisch, Englisch und Deutsch las er im Original). 1921 gründete er zusammen mit anderen chinesischen Studenten, darunter (→) Guo Moruo und (→) Tian Han, die einflußreiche »Schaffensgesellschaft« (Chuangzaoshe, 1921 – 1929), die ein romantisches Konzept der Kunst um der Kunst willen und des Schöpferischen als eines individuellen Selbstausdrucks vertrat, ehe sie Mitte der 20er Jahre zum Marxismus umschwenkte. 1921 war auch das Jahr, in dem Yu Dafu mit seinem ersten Erzählband Versinken (Chenlun) schlagartig berühmt wurde. Nach seiner Rückkehr nach China arbeitete er als Dozent (1923 – 1926) an diversen Universitäten in Peking, Wuchang (heute Wuhan) und Kanton sowie als Journalist, Redakteur und Herausgeber mehrerer Zeitschriften (z.T. gemeinsam mit seinem Freund [→] Lu Xun). Bei allem »Subjektivismus«, dem Yu Dafu auch in seinen weiteren Erzählungen treu blieb, zeichnet sich sein Werk doch auch schon früh durch eine gesellschaftskritische Dimension aus. 1930 gehörte er denn auch mit Lu Xun zu den Gründungsmitgliedern der »Liga linker Schriftsteller« (Zhongguo zuoyi zuojia lianmeng), mit der er sich allerdings noch im selben Jahr überwarf. Statt dessen schloß er sich nun betont unpolitischen Autoren wie (→) Lin Yutang und (→) Zhou Zuoren an, führte (von 1933 bis 1937) ein zurückgezogenes Leben in Hangzhou (Provinz Zhejiang) und widmete sich hauptsächlich dem Schreiben von Essays, Tagebüchern und Reiseberichten. Die Werke dieser Zeit weisen den berühmten Erzähler auch als einen glänzenden Essayisten aus. Nach dem Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) engagierte sich Yu Dafu im antijapanischen Widerstand. Er ging erst ins zentralchinesische Wuhan, dann nach Singapur, wo er ab Ende 1938 als Redakteur arbeitete. Als die Japaner Anfang 1942 die Stadt einnahmen, floh er nach Sumatra, wo er schließlich, kurz vor Kriegsende im Spätsommer 1945, von der japanischen Militärpolizei ermordet wurde. Gleich Yu Dafus erste, 1921 erschienene Sammlung dreier Erzählungen – die erste Erzählsammlung in moderner chinesischer Umgangssprache überhaupt – etablierte ihren Autor schlagartig als einen der wichtigsten Erzähler der modernen chinesischen Literatur und als ihren radikalsten »Subjektivisten«. Die erste, titelgebende Erzählung, »Versinken« (»Chenlun«), ist zugleich auch die berühmteste. Sie liest sich wie die Fallstudie einer pathologisch übersteigerten »Wertherhaften« Empfindsamkeit. Der Held, ein chinesischer Auslandsstudent in Japan, erleidet einen tiefgreifenden Realitätsverlust mit paranoiden Zügen. Ähnlich wie der Rousseau der Träumereien eines einsamen Spaziergängers (Rêveries du Promeneur Solitaire) stilisiert er sich zum Opfer einer feindlichen Umwelt und flüchtet sich in die Natur, die Dichtung, die Phantasie. Er verfällt in eine manisch-

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depressive Störung mit Schüben von Größenwahn. Auslöser ist seine erwachende Sexualität. Zum Voyeur und Onanisten geworden, fühlt er sich zerrissen zwischen »sündigem« fleischlichem Verlangen und der Sehnsucht nach »Reinheit«. Zugleich sublimiert er seinen Geschlechtstrieb als Liebe zum Vaterland, das er – wie sich selbst – von den Japanern verachtet glaubt. Nach einem Bordellbesuch erst von Haß auf die Japaner, dann von Scham und Selbstmitleid überwältigt, will er sich im Meer ertränken und stilisiert sich als Märtyrer einer schwachen, gedemütigten Nation. Die Deutung der Erzählung ist bis heute umstritten. Gegen die traditionelle patriotische Lesart, die den Märtyrertod für bare Münze nimmt, haben manche Interpreten (M. Egan, W. Kubin) mit Nachdruck die ironische Brechung der Figurenperspektive durch den Erzähler geltend gemacht. Unbestreitbar ist, daß der Erzähler sich immer wieder kritisch, ja, sarkastisch von seinem offenkundig kranken Protagonisten distanziert. Ob dadurch die grundsätzliche Identifikation mit dem Helden aufgebrochen wird, bleibt dennoch fraglich. Ausgerechnet in der Schlüsselszene gegen Ende, als der Protagonist im Bordell seine Nationalität bekennen muß, stellt der Erzähler die Verachtung der Japaner als objektives Faktum hin: »Denn die Japaner verachten die Chinesen, so wie wir Schweine und Hunde verachten.« Die Vaterlandsliebe ist demnach nicht allein reduzierbar auf sexuelle Sublimierung und Paranoia. Das Trauma nationaler Ohnmacht gewinnt Gestalt als symbolische Kastration (S. Shi). Die Widersprüchlichkeit der Erzählung läßt sich kaum auflösen. Sie gründet wesentlich darin, daß – angesichts der nationalen »Schande« – der rebellische Impuls einer Befreiung des Individuums aus den Fesseln von Tradition und Gesellschaft von der Sehnsucht nach einem starken »Wir« unterlaufen wird (K.A. Denton). Yu Dafus demonstrativ autobiographisches Frühwerk hatte wesentlich kathartische Funktion; seine Selbstentblößung – nach dem Vorbild der japanischen shishōsetsu-Literatur (»Ich-Erzählung«) – diente v.a. der Selbstheilung (A. Saechtig). Doch zugleich begriff der Autor individuelle Krankheit stets als Spiegel einer kranken Gesellschaft. Individuelles (Liebes-)Leid und überpersönliches Leid an der Zeit gehen ineinander über. Yu Dafus Stellung in der chinesischen Literatur ist unbestritten, auch wenn sein Werk streng literarischen Maßstäben nicht immer standhält. Stilistisch meisterhafte, subtile Passagen stehen neben sprachlich wie gedanklich Unausgegorenem. Dazu kommt – jedenfalls im Frühwerk – ein ausgeprägter Hang zum sentimentalen Pathos und zum Selbstmitleid. Dennoch verkörpert Yu Dafu wie wenige andere zwei Haupterrungenschaften der Bewegung des 4. Mai (1919): den Eintritt der chinesischen Literatur in die Weltliteratur (die er extensiv rezipierte, u.a. die europäische Romantik und die Literatur des Fin de siècle) und die Entdeckung – und Emanzipation – des Ich. Gerade die Erzählung »Versinken« ist – bei aller Unausgegorenheit – revolutionär aufgrund der radikalen Ehrlichkeit ihrer psychologischen Innenschau und aufgrund ihrer psychologisch-emotionalen Darstellung von Sexua-

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lität. Von den Konservativen als »dekadent« und »pornographisch« geschmäht, fand Yu Dafu mit seiner mitunter kruden Mischung aus Sentimentalität, Erotik und nationalem Pathos ein begeistertes Echo v.a. bei der Jugend. WERKAUSGABEN: Yu Dafu wenji, 12 Bde., Hongkong: Joint Publishing, 1982; Yu Dafu quanji, hg. von Wu Xiuming, 12 Bde., Hangzhou: Zhejiang Daxue, 2007. ÜBERSETZUNGEN: Yo Ta Fu: Untergang. Roman, übers. von Anna von Rottauscher, Wien: Amandus, 1947 [sehr freie Bearbeitung]; »›Diese paar seichten Wellen …‹. Brief & Prolog«, übers. von Heiner Frühauf, in: die horen 138 (1985), S. 59–66; »Blauer Dunst«, übers. von Johanna Sohn u. Martina Niembs, in: Hefte für ostasiatische Literatur 6 (September 1987), S. 17–23; »Die Nacht, in der die Motte begraben wurde«, übers. von Irmgard Wiesel, in: ebd., S. 24–30 [überarbeitet in: minima sinica 2/1999, S. 131–137]; »Berauschende Frühlingsnächte«, übers. von Gudrun Fabian, in: die horen 156 (1989), S. 183–190; »Allein unterwegs«, übers. von Kay Möller, in: Hoffnung auf Frühling. Moderne chinesische Erzählungen. Erster Band: 1919 bis 1949, hg. von Volker Klöpsch u. Roderich Ptak, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 122‒132; »Passé«, übers. von Almuth Richter u. Barbara Hoster, in: minima sinica 2/1990, S. 79–96; Die späte Lorbeerblüte. Erzählungen, übers. von Yang Enlin, Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur, 1990; »Blut und Tränen«, übers. von Heike Münnich u. Ute Leukel, in: minima sinica 1/1991, S. 97–108; »Frühe Autobiographie: Von Parias und japanischen Verlockungen«, übers. von Elke Junkers, in: Bittere Träume. Selbstdarstellungen chinesischer Schriftsteller, hg. von Helmut Martin, Bonn: Bouvier, 1993, S. 340–345; »Zwei Briefe«, übers. von Heiner Frühauf, in: minima sinica 1/1993, S. 70–84; »Wenn die Lantana blühn«, übers. von Ylva Monschein u. Frank Stahl, in: minima sinica 2/1993, S. 91–97; »Heimwehkrank«, übers. von Ylva Monschein u. Frank Stahl, in: minima sinica 1/1994, S. 98–103; »Der silbergraue Tod«, übers. von Oliver Corff u. Frank Stahl, in: minima sinica 2/1994, S. 41–54; »Schneemorgen«, übers. von Chang Hsien-chen, in: Orientierungen. Texte der Avantgarde: China, Taiwan, Hongkong. Literatur-Sonderheft 1995, S. 111–124; »Grenzenlose Nacht«, übers. von Klaus Hauptfleisch u. Frank Stahl, in: minima sinica 1/1997, S. 71–100; »Der Tanz der Geldscheine«, übers. von Almuth Richter u. Frank Stahl, in: minima sinica 2/1997, S. 104–108; »Im kalten Herbstwind«, übers. von Ulrike Dernbach, in: minima sinica 1/2000, S. 99–118; »Autobiographie«, übers. von Charlotte Dunsing, in: China in seinen biographischen Dimensionen. Gedenkschrift für Helmut Martin, hg. von Christina Neder, Heiner Roetz u. Ines-Susanne Schilling, Wiesbaden: Harrassowitz, 2001, S. 129–139; »Versinken«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 1/2002, S. 93–135; »Die Stille des Fangbergs«, übers. von Martin Woesler, in: ders.: Ausgewählte chinesische Essays des 20. Jahrhunderts in Übersetzung, Bochum: Europäischer Universitätsverlag, 2003, S. 15–20; »Nach Süden«, übers. von Marc Hermann, in: Zurück zur Freude. Studien zur chinesischen Literatur und Lebenswelt und ihrer Rezeption in Ost und West. Festschrift für Wolfgang Kubin, hg. von Marc Hermann u. Christian Schwermann, Sankt Augustin: Institut Monumenta Serica / Nettetal: Steyler Verlag, 2007, S. 281–320; »Vergangenheit«, übers. von Alexander Saechtig, in: ders. (Hg. u. Übers.): Meisterwerke chinesischer Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. Von Guo Moruo bis Zhang Jie, Frankfurt a.M. et al.: Weimarer Schiller-Presse, 2009, S. 48–72.

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Yu Guangzhong 余光中 SEKUNDÄRLITERATUR: Anna Doležalová: Yü Ta-fu. Specific Traits of His Literary Creation, Bratislava: Publishing House of the Slovak Academy of Sciences et al., 1971; Leo Ou-fan Lee: The Romantic Generation of Modern Chinese Writers, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1973, S. 81–123; Michael Egan: »Yu Dafu and the Transition to Modern Chinese Literature«, in: Modern Chinese Literature in the May Fourth Era, hg. von Merle Goldman, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1977, S. 309–324; Jaroslav Prušek: »Yu Dafu: Subjektivität und Erzählkunst«, in: Moderne chinesische Literatur, hg. von Wolfgang Kubin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 201–224; Wong Yoon Wah: »Yu Dafu in Exile: His Last Days in Sumatra«, in: Renditions 23 (Spring 1985), S. 71–83; Wolfgang Kubin: »Yu Dafu (1896 – 1945): Werther und das Ende der Innerlichkeit«, in: Goethe und China – China und Goethe, hg. von Günther Debon u. Adrian Hsia, Bern et al.: Lang, 1986, S. 155–181; Wolfgang Bauer: Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München: Hanser, 1990, S. 604–613; Kirk A. Denton: »The Distant Shore: Nationalism in Yu Dafu’s ›Sinking‹«, in: CLEAR 14 (December 1992), S. 107– 123; Birgit Beutler: »Yu Dafu in Singapur: Flucht und Tod«, in: minima sinica 2/1994, S. 34–40; Wolfgang Kubin: »Der Junge Mann als Melancholiker. Ein Versuch zu Yu Dafu (1896–1945)«, in: minima sinica 2/1994, S. 15–33; Beate Rusch: Kunst- und Literaturtheorie bei Yu Dafu (1896 – 1945), Dortmund: projekt, 1994; Shu-mei Shih: The Lure of the Modern. Writing Modernism in Semicolonial China, 1917 – 1937, Berkeley: University of California Press, 2001, S. 110–123; Alexander Saechtig: Schreiben als Therapie. Die Selbstheilungsversuche des Yu Dafu nach dem Vorbild japanischer shishōsetsuAutoren, Wiesbaden: Harrassowitz, 2005; Weigui Fang: Selbstreflexion in der Zeit des Erwachens und des Widerstands. Moderne chinesische Literatur 1919 – 1949, Wiesbaden: Harrassowitz, 2006, S. 346–366. [MH]

Yu Guangzhong 余光中 (1928 ‒), geb. in Nanjing (Provinz Jiangsu) In Nanjing geboren, ging Yu Guangzhong später in Sichuan und Xiamen zur Schule. 1950 führte er sein in Xiamen begonnenes Anglistikstudium in Taiwan fort. Nach dem Studium hielt er sich mehrmals in den USA auf, nahm dort an verschiedenen Fortbildungen teil und erhielt schließlich eine Gastprofessur. Er unterrichtete an verschiedenen Universitäten Taiwans und Hongkongs und betätigte sich als Dichter und Essayist. Yu Guangzhong ist bekannt für seine über 1000 Gedichte und seine umfangreichen Essays und Artikel zur chinesischen Literatur. In seinem lyrischen Werk strebt er nach einem ästhetischen Prinzip, das nur der lyrischen Welt selbst verpflichtet ist. In ihr bilden Natur, Schönheit und Liebe die zentralen Themen. Er gebraucht klassische lyrische Bilder wie Lotus, Regen, Taube und Fluß in einer sehr eigenwilligen poetischen Art, durch die eine besondere ästhetische Atmosphäre entsteht. WERKAUSGABEN: Yu Guangzhong sanwen ji, Hongkong: Xianggang Wenhua Shenghuo, 1975; Yu Guangzhong shixuan, Taipeh: Hongfan Shudian, 1981.

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Yu Hua 余华 ÜBERSETZUNGEN: Lotos-Assoziationen. Moderne Liebesgedichte, übers. u. mit einem Vorwort von Andreas Donath, Tübingen u. Basel: Erdmann, 1971. SEKUNDÄRLITERATUR: Julia C. Lin: »Yu Kuang-chung: From Dream to Reality«, in: dies.: Essays on Contemporary Chinese Poetry, Athens, Ohio: Ohio University Press, 1985, S. 150‒187; Amie Elizabeth Parry: Interventions into Modernist Cultures. Poetry from Beyond the Empty Screen, Durham: Duke University Press, 2007. [WH]

Yu Hua 余华 (1960 ‒), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Yu Hua stammt aus einer Arztfamilie in Hangzhou. Kurz nach seiner Geburt zog die Familie nach Haiyan um, einer ebenfalls in der Provinz Zhejiang gelegenen Kleinstadt. Nach der Schule arbeitete er fünf Jahre als Zahnarzt, allerdings ohne die herkömmliche Ausbildung, und begann 1983 zu schreiben. Sein Werk umfaßt fünf Romane, zahlreiche Erzählungen, die in sechs Sammelbänden erschienen sind, und drei Essaysammlungen. Yu Hua gehört zur Avantgarde der Gegenwartsautoren Chinas. Seine Romantrilogie Rufe im Nieselregen (Zai xiyu zhong huhuan, 1991), Leben (Huozhe, 1991, von Zhang Yimou verfilmt) und Der Mann, der sein Blut verkaufte (Xu Sanguan mai xue ji, 1993) machte ihn weltweit bekannt. Auf eindringliche Weise beschreibt er darin das Leben der chinesischen Bauern in der Zeit von 1949 bis zur Reformpolitik der 80er Jahre. Die Leiden der Protagonisten und das stille Erdulden all ihrer Bitternisse werden den Lesern in einer lakonisch-realistischen Sprache vor Augen geführt, und dabei wahrt der Autor stets die Würde des Menschen, des Menschen mit seinen Stärken und Schwächen. Der neueste Roman Brüder (Xiongdi, 2005) beschreibt das Leben zweier guter Freunde in einem kleinen Dorf in Südchina während der Revolution und ihren Kampf um die Liebe, das Überleben und nicht zuletzt den Sieg der Menschlichkeit. Yu Huas kurze Erzählungen umspannen ein etwas weiteres Themenspektrum. In einigen von ihnen geht es um die Kriegszeit. Bewußt hält er die Zeitangaben vage, so daß die Geschichten geheimnisvoll, rätselhaft und trotz aller Brutalität und Groteskheit poetisch bleiben. Yu Huas Werke sind bereits in verschiedene Sprachen übersetzt worden. Er gewann verschiedene nationale und internationale Literaturpreise, unter anderem den Literaturpreis Grinzane Cavour in Italien (1998) und den Chevalier de L’ordre des Arts et des Lettres in Frankreich (2004). WERKAUSGABEN: Yu Hua zuopin ji, 3 Bde., Peking: Zhongguo Shehui Kexue, 1995; Zhongguo dangdai zuojia xuanji congshu – Yu Hua juan, Peking: Renmin Wenxue, 2001; Huozhe, Shanghai: Shanghai Wenyi, 2004; Xu Sanguan mai xue ji, Shanghai: Shanghai Wenyi, 2004; Xiongdi, 2 Bde., Peking: Zuojia, 2005; Zai xiyu zhong huhuan, Peking: Zuojia, 2008.

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Yu Huai 余怀 ÜBERSETZUNGEN: The Past and the Punishments, übers. von Andrew F. Jones, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 1996; Leben, übers. von Ulrich Kautz, Stuttgart: KlettCotta, 1998; Der Mann, der sein Blut verkaufte, übers. von Ulrich Kautz, mit einem Nachwort des Autors, Stuttgart: Klett-Cotta, 2000; Brüder, übers. von Ulrich Kautz, Frankfurt a.M.: Fischer, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: Xiaobin Tang: »Residual Modernism: Narratives of Self in Contemporary Chinese Fiction«, in: Modern Chinese Literature 7, 1 (Spring 1993), S. 7‒31; Andrew F. Jones: »The Violence of the Text: Reading Yu Hua and Shi Zhicun«, in: positions 2, 3 (1994), S. 570‒602; Anne Wedell-Wedellsborg: »One Kind of Chinese Reality: Reading Yu Hua«, in: CLEAR 18 (1996), S. 129‒145; Marsha Wagner: »The Subversive Fiction of Yu Hua«, in: Chinoperl Papers, 20‒22 (1997‒99), S. 219‒244; Jianguo Chen: »Violence: The Politics and the Aesthetic ‒ Toward a Reading of Yu Hua«, in: American Journal of Chinese Studies 5, 1 (1998), S. 8‒48; Ulrich Kautz: »Drei Novellen und ein Roman – ein Leserbericht«, in: Hefte für ostasiatische Literatur 31 (November 2001), S. 111‒115; Deirdre Sabina Knight: »Capitalist and Enlightenment Values in 1990s Chinese Fiction: The Case of Yu Hua’s Blood Seller«, in: Textual Practice 16, 3 (Nov. 2002), S. 1‒22; Yomi Braester: Witness Against History. Literature, Film, and Public Discourse in Twentieth-Century China, Stanford: Stanford University Press, 2003, S. 177‒191. [WH]

Yu Huai 余怀 (zi: Danxin, Wuhuai, hao: Manweng, Manchi laoren, 1616 ‒ ca. 1696), geb. in Jingtian (Provinz Fujian) Das genaue Todesjahr von Yu Huai ist nicht bekannt, es wird jedoch vermutet, daß er erst mit mehr als achtzig Jahren starb. Als ein passionierter Sammler von Tuschesteinen verfaßte Yu darüber eine Schrift mit dem Titel Wald aus Tuschesteinen (Yanlin). Seine Gedichte fanden Gefallen bei bekannten zeitgenössischen Gelehrten wie (→) Wang Shizhen (1634 – 1711) und (→) Wu Weiye und wurden von diesen weiterempfohlen. In vielen seiner poetischen Werke beklagte Yu die Wirren zur Zeit des Dynastiewechsels 1644. An vermischten Schriften liegen u.a. die Sammlung aus der Yanshan-Halle (Yanshantang ji) und die Ci-Gedichte zum Herbstschnee (Qiuxue ci) vor. Bleibende Bekanntheit aber sicherte sich Yu Huai mit dem in hohem Alter verfaßten und nur drei Kapitel umfassenden Bändchen Vermischte Aufzeichnungen von der Hölzernen Brücke (Banqiao zaji), in dem er das Vergnügungsviertel Qinhuai von Nanjing während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beschreibt. Darin überliefert er mit den Biographien der »Acht hervorragenden Freudenmädchen von Nanjing« (»Jinling bajue«) Vorbilder an moralischer Integrität und größter Entschlossenheit. WERKAUSGABEN: Banqiao zaji, Yangzhou: Jiangsu Guangling Guji, 1987. ÜBERSETZUNGEN: A Feast of Mist and Flowers. The Gay Quarters of Nanjing at the End of the Ming, übers. u. mit Anm. von Howard S. Levy, Yokohama [ohne Verlag], 1967. [TZ]

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Yu Qiuyu 余秋雨

Yu Qiuyu 余秋雨 (1946 ‒), geb. in Yuyao (Provinz Zhejiang) Yu Qiuyu, ein einflußreicher Essayist in der Gegenwartsliteratur Chinas, wurde Anfang der 90er Jahre durch zahlreiche literarische Essays bekannt. Durch seine Reflexion der chinesischen Kultur und Geschichte, Impressionen von Reisen durch viele Länder und die Auseinandersetzung mit Themen wie chinesische Identität, Zeitkritik und Ergründung der menschlichen Natur versucht er, eine neue Art des Essays zu gestalten, die in der historischen Faktizität Antworten auf die aktuell aufgeworfenen Fragen findet. Essaybände wie Eine bittere Reise durch die Kultur (Wenhua kulü, 1992) und Ein Jahrtausend-Seufzen (Qian nian yi tan, 1999) zählen zu seinen wichtigsten Beiträgen. Yu Qiuyus Schreibstil ist sehr differenziert und poetisch. Er macht viele Andeutungen auf aktuelle gesellschaftliche Geschehnisse und stellt oft lose und dennoch aufschlußreiche Verbindungen zu Ereignissen in der chinesischen Geschichte und der Weltgeschichte her. Es bleibt aber Aufgabe des Lesers, seine eigenen Antworten im offenen Text zu finden. WERKAUSGABEN: Wenhua kulü, Shanghai: Dongfang, 1992; Shuangleng changhe, Peking: Zuojia, 2001; Xingzhe wujiang, Huayi, 2001; Qian nian yi tan, Peking: Zuojia, 2003. ÜBERSETZUNGEN: »Die Shanghaier«, übers. von Cheng Shaoyun, in: minima sinica 1/2001, S. 57‒83. [WH]

Yu Shaoyu 余邵鱼 (zi: Weizhai, 16. Jh.), geb. in Jianyang (Provinz Fujian) Vermutlich über das Verlagshaus, das seine Familie in Jianyang besaß, war Yu Shaoyu gleich (→) Xiong Damu an der Entstehung der frühen chinesischen Romanwerke beteiligt. Das Verlagshaus der Yus schien sich dabei auf Stoffe spezialisiert zu haben, die nicht von den Xiongs behandelt wurden. Kommerzielle Erwägungen dürften es daher gewesen sein, die Yu zur Abfassung der Geschichte der Staaten (Lieguo zhi zhuan) veranlaßten. Die ursprüngliche Version dieses Werks existiert nicht mehr, doch legte Yu Shaoyus Neffe 1606 eine Fassung in einer neuen Aufteilung vor. Die später gängige Version des Romans geht allerdings auf (→) Feng Menglong zurück, der sie nach einer Umarbeitung unter dem Titel Neue Geschichte der Staaten (Xin lieguo zhi) herausgab. [TZ]

Yu Wanchun 余万春 (zi: Zhonghua, hao: Hulai daoren, 1794 ‒ 1849), geb. in Shaoxing (Provinz Zhejiang) Yu, der aus einem einflußreichen Beamtenhaushalt stammte, kam früh in den Genuß anregender Bildung, die er aus der riesigen Bibliothek seiner Familie bezog.

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Yu Xin 庾信

Dabei war er gleichzeitig über die Familie auch eng mit den Zeitereignissen verbunden – als Militärbeamter schlug sein Vater zwei große Aufstände in Südchina nieder. Als 1832 ein neuer Aufstand, diesmal durch die Yao-Nationalität, die Herrschaft der Qing erschütterte, folgte Yu Wanchun seinem Vater auf den Feldzug nach Guangdong und nahm selbst erfolgreich an den Kämpfen teil. Für eine Beamtenstellung reichte es am Ende jedoch nicht, so daß Yu in Hangzhou einer Beschäftigung als Arzt nachging. In die militärischen Auseinandersetzungen mit dem Ausland während des Opiumkrieges (1839 – 1842) griff Yu zwar nicht mehr direkt ein, doch unterstützte er die Generäle der Qing mit strategischen Ratschlägen und Kriegsmaterial. Das einzige von Yu Wanchun überlieferte Werk ist sein Roman Aufzeichnungen von der Niederschlagung der Räuber (Dangkouzhi); von seinen übrigen Schriften, die sich vor allem mit militärischen und medizinischen Themen beschäftigten und Titel trugen wie »Erörterungen zur Bogenschützenreiterei« (»Qishelun«), »Untersuchungen zu Feuerwaffen und Maschinen« (»Huoqikao«) oder »Medizinische Abhandlungen« (»Yixue bianzheng«) ist nichts in den Druck gegangen. WERKAUSGABEN: Dangkouzhi, Peking: Renmin Wenxue, 1985.

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Yu Xin 庾信 (zi: Zishan, hao: Kaifu, 513 – 581), geb. in Xinye im Kreis Nanyang (heute Provinz Henan) Yu Xin war der letzte große Dichter der Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420 – 581). Er wurde während der Regentschaft des Liang-Kaisers Wudi (reg. 502 – 549) geboren und starb im Alter von 67 Jahren im 1. Regierungsjahr des Kaisers Wendi der neuen Sui-Dynastie, der es gelungen war, China nach Jahrhunderten der Zersplitterung wieder zu vereinen. Obwohl ein Mann des Südens, zählt man Yu Xin zumeist zu den wenigen namhaften Dichtern der Nördlichen Dynastien, da er in späteren Jahren am Hof der Nördlichen Zhou-Dynastie (557 – 589) eine Anstellung fand. Er sollte sein Leben lang Heimweh nach dem Süden haben und ihm in seiner Lyrik Ausdruck geben, dennoch blieb er stilistisch von den Traditionen des Nordens nicht unbeeinflußt. Yu Xin war ein Meister der Gedichte im »Palaststil« (gongti), einer im späten 5. und 6. Jh. populären höfischen Dichtung mit häufig erotischem Inhalt. Er wurde aber auch als begabter fu-Dichter geschätzt. Sein »Lied von der Liebe zum Süden« (»Ai Jiangnan fu«) gilt als das letzte herausragende Prosagedicht der chinesischen Literaturgeschichte. WERKAUSGABEN: Yu Xin xuanji, hg. u. komm. von Shu Baozhang, Zhengzhou: Zhongzhou Shuhuashe, 1983. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard

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Yu Yue 俞樾 University Press, 1958, Bd. 1, S. 1047–1101; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 172f.; An Anthology of Chinese Verse. Han Wei Chin and the Northern and Southern Dynasties, übers. von J.D. Frodsham, Oxford: Clarendon, 1967, S. 188–197; Lamentations pour le Sud du fleuve, übers. von Michel Kuttler, Paris: La Différence, 1995. SEKUNDÄRLITERATUR: Peter Michael Baer: The Lyric Poetry of Yü Hsin, Diss., Yale University, 1968; Stephen Owen: »Deadwood: The Barren Tree from Yu Xin to Han Yu«, in: CLEAR 1, 2 (July 1979), S. 157–179; William T. Graham Jr.: »The Lament for the South«. Yü Hsin’s »Ai Chiang-nan fu«, Cambridge: Cambridge University Press, 1980; ders. u. James R. Hightower: »Yü Hsin’s ›Songs of Sorrow‹«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 43 (1983), S. 5–55; Kang-i Sun Chang: Six Dynasties Poetry, Princeton: Princeton University Press, 1986, S. 146–184; Robert Joe Cutter: The Brush and the Spur. Chinese Culture and the Cockfight, Hongkong: Chinese University Press, 1989, S. 45–49. [HP]

Yu Yue 俞樾 (zi: Yinfu, hao: Quyuan, 1821 ‒ 1906), geb. in Deqing (Provinz Zhejiang) Yu Yue, ein Gelehrter der ausgehenden Qing-Dynastie, füllte in seinem Leben eine Reihe von Posten aus. Nachdem er 1850 die Prüfung zum Doktor (jinshi) erfolgreich absolviert und in der hauptstädtischen Hanlin-Akademie gearbeitet hatte, beauftragte man ihn damit, in der Provinz Henan Bildungsaufgaben wahrzunehmen. Nach seinem Rücktritt von den Ämtern lehrte Yu an mehreren Akademien in Suzhou und Shanghai, wohin man ihn aufgrund seiner umfassenden Bildung besonders im Bereich der chinesischen Sprachwissenschaft (xiaoxue) berufen hatte. Er verfaßte eine Reihe von Werken, die unter dem Titel Gesamtausgabe der Schriften aus der Frühlingshalle (Chunzaitang quanshu) zusammengestellt sind. Ein Steckenpferd Yus indes war die umgangssprachliche Erzählkunst; in seinen Essays und Aufzeichnungen finden sich zahlreiche Hinweise auf das eine oder andere Werk. Schöpferisch brachte er hier allerdings nur kleine Anfänge zustande, indem er das erste Kapitel des Kriminalromans Drei Ritter und Fünf Edle (San xia wu yi) schrieb, den Titel später in Sieben Ritter und Fünf Edle (Qi xia wu yi) änderte und ein Vorwort dazu verfaßte. In seinen Schriften zur Erzählkunst hob Yu eine Reihe von wichtigen Charakteristika hervor, etwa wenn er darauf hinwies, daß Romane und Erzählungen die Fähigkeit zur moralischen Belehrung besäßen. Letztendlich freilich blieb sein Zugang auch zur Erzählkunst eher der eines Historikers, wie seine Forschungen zu den Ursprüngen von Werken wie der Investitur der Götter (Fengshen yanyi) oder des Historischen Romans zu den Dynastien Sui und Tang (Sui Tang yanyi) zeigen. SEKUNDÄRLITERATUR: Yu Runmin et al.: Deqing Yushi: Yu Yue, Yu Biyun, Yu Pingbo, Peking: Renmin Daxue, 1999. [TZ]

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Yuan Haowen 元好问

Yuan Haowen 元好问 (zi: Yuzhi, hao: Yishan, 1190 ‒ 1257), geb. im heutigen Xinxian (Provinz Shanxi) Trotz seiner Anerkennung als der wichtigste Dichter der fremdstämmigen JinDynastie (1115 ‒ 1234) auf chinesischem Boden ist Yuan Haowen bislang vergleichsweise wenig übersetzt und behandelt worden; dies gilt insbesondere für den deutschen Sprachraum. Er ist Nachkomme einer ebenfalls fremdstämmigen Adelsfamilie, die den chinesischen Familiennamen Yuan annahm. Erst 1221 und 1224 gelang es ihm, die höchsten Staatsexamen zu bestehen. Als Beamter war er zu guter Letzt (1231) am Hofe der nach Bianjing (heute: Kaifeng) verlegten Hauptstadt tätig, die 1233 schließlich Opfer der Mongolen wurde. Diese hatten bereits seit 1211 die Jin-Dynastie bedroht und unseren Dichter wenig später (1214) zur Flucht in die heutige Provinz Henan gezwungen. Statt mit den neuen Herrschern, die ihn zwei Jahre in der Provinz Shandong internierten, gemeinsame Sache zu machen, zog er es nach der Freilassung (1235) vor, in seiner Heimat seinen historischen Studien nachzugehen, und zwar nicht nur im Studio, sondern auch vor Ort. Bei seinen Reisen zu den einstigen Stätten der Dschurdschen stand er unter der Gunst des von den Mongolen eingesetzten chinesischen Militärbeauftragten. Die Forschungsergebnisse waren der Nachwelt später von großer Hilfe bei der Abfassung der Geschichte der Jin-Zeit (Jinshi). Zuvor hatte Yuan während seiner Gefangenschaft die Dichtung seiner Zeit unter dem Titel Zhongzhou ji (Lyrik aus den mittleren Landen [d.h. der Jin-Dynastie], 1343 ‒ 44) zusammengestellt. Beides, die Sammlung der Dichtkunst und die Sichtung historischer Spuren einer untergegangenen Dynastie, geben Yuan Haowen als Nostalgiker zu erkennen. Dementsprechend sind der Rückblick auf die letzten Zeugnisse der Dschurdschen (Jin) und die Klage über eine entschwindende Welt für das literarische Werk kennzeichnend. Gleichwohl schildert er die Nöte der Zeit ohne jede Beschönigung. Besonders eindringlich ist in dieser Hinsicht der Zyklus »Weitere Lieder von den Mädchen« (»Xu guniang ge«, 1233). Yuan Haowen hat 1366 Gedichte (shi), 377 klassische Lieder (ci), neun nachklassische Lieder (sanqu) und Prosatexte hinterlassen. Er war aber auch als Herausgeber der Werke von (→) Du Fu und (→) Su Shi (Su Dongpo) tätig. Seine Auffassung zur Poetik hat er in dem »Zyklus von dreißig Gedichten über Gedichte« (»Lun shi sanshi shou«) 1215 niedergelegt. Hier zeigt sich der Dichter, der die Poeten der Jian’an-Periode (196 ‒ 219) bevorzugte, von seiner »rationalen« und »akademischen« Seite. WERKAUSGABEN: Yuan Haowen quanji, hg. von Yao Dianzhong, 2 Bde., Taiyuan: Shanxi Renmin, 1990. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: John Timothy Wixted: Poems on Poetry. Literary Criticism by Yuan Haowen, Wiesbaden: Steiner, 1982; Stephen H. West: »Chilly Seas and East-flowing Rivers: Yuan Haowen’s Poems of Death and Disorder«, in: Journal

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Yuan Hongdao 袁宏道 of the American Oriental Society 106 (1986), S. 197‒210; Kōjirō Yoshikawa: Five Hundred Years of Chinese Poetry, 1150 ‒ 1650, übers. von John Timothy Wixted, Princeton: Princeton University Press, 1989, S. 28‒42; Richard E. Strassberg: Inscribed Landscapes. Travel Writing from Imperial China, Berkeley: University of California Press, 1994, S. 235‒243. [WK]

Yuan Hongdao 袁宏道 (zi: Zhonglang, Wuxue, hao: Shigong, Liuxiu, 1568 ‒ 1610), geb. in Gong’an (Provinz Hubei) Ein bedeutender Dichter und Essayist der späten Ming-Dynastie (1368 – 1644), wandte sich Yuan Hongdao gemeinsam mit seinen beiden Brüdern Zongdao (1560 ‒ 1600) und Zhongdao (1570 ‒ 1624) in vielem gegen die starre Ausrichtung am künstlerisch-literarischen Stil der Vergangenheit. Diese Kritik erwuchs zunächst aus einer intensiven Beschäftigung mit der konfuzianischen Bildung, die auch er genoß und die es ihm ermöglichte, bereits im Alter von 24 Jahren die Prüfung zum Doktor (jinshi) abzulegen. Die anschließende Tätigkeit als Magistrat von Suzhou füllte ihn aber nicht aus; schon kurze Zeit später gab er den Posten wieder auf und trat eine ausgedehnte Reise in den Süden an. Die tiefen Eindrücke landschaftlicher Schönheit, die er empfing, hielt er in Gedichten und Prosabeschreibungen fest. Frühe Gedichte, erschienen in der Sammlung des bestickten Segels (Xiufanji), und die Sammlung eines Freigelassenen (Jietuoji) mit Beschreibungen seiner Reise begründeten Yuans literarischen Ruhm. In vielen Briefen und Essays trat Yuan immer wieder für Originalität und Spontaneität in der Dichtung ein und drängte auf die Anerkennung der umgangssprachlichen Romane wie Jin Ping Mei sowie der Volkslieder. Sehr gut kommen die literarischen Vorlieben Yuans und seiner Brüder in dem programmatischen »Essay über die Literatur« (»Lunwen«) von Yuan Zongdao zum Ausdruck. Die drei Brüder samt einer Reihe von Anhängern der von ihnen verfochtenen Literaturauffassung wurden bekannt als Gong’an-Schule (Gong’an Pai). Aus dieser Schule, deren Name den Wohnort der Yuans als Aufhänger nahm, sollte eine neue Generation von Dichtern hervorgehen. In seiner Dichtung und Essayistik war Yuan überaus experimentierfreudig, was sich vor allem in der Öffnung für eine zeitgemäße Sprache und zeitgemäße Themen ausdrückte, fort von den Zwängen, die Dichtern und Gelehrten stets mit dem Verweis auf die klassische Bildung auferlegt wurden. Für sein kompromißloses Auftreten ist Yuan insbesondere von späteren Generationen chinesischer Intellektueller immer wieder als früher Verfechter des »Individualismus« und eines Bewußtseins vom »Selbst« gelobt worden, doch darf man an diese Begriffe hier sicherlich nicht dieselben Maßstäbe wie in der westlichen Philosophie anlegen.

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Yuan Mei 袁枚 WERKAUSGABEN: Yuan Zhonglang quanji, 40 Bde., Taipeh: Weiwen Tushu, 1976; Yuan Hongdao ji qianxiao, hg. von Qian Bocheng, Shanghai: Shanghai Guji, 1981; Yuan Hongdao shihua, hg. von Wu Wenzhi, Nanjing: Jiangsu Guhi, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Pilgrim of the Clouds. Poems and Essays by Yüan Hung-tao and His Brothers, übers. von Jonathan Chaves, New York et al.: Weatherhill, 1978; »Letter to Gong Weichang«, übers. von David E. Pollard, in: Renditions 41 & 42 (Spring & Autumn 1994), S. 94‒97. SEKUNDÄRLITERATUR: Martine Valette-Hémery: Yuan Hongdao (1568 ‒ 1610). Théorie et Pratique Littéraire, Paris: Presses Universitaires de France, 1982; Herbert Butz: Yüan Hung-taoʼs »Reglement beim Trinken« (Shang-cheng). Ein Beitrag zum essayistischen Schaffen eines Literatenbeamten der späten Ming-Zeit, Frankfurt a.M.: Haag + Herchen, 1988; Hung Mingshui: The Romantic Vision of Yuan Hung-tao, Late Ming Poet and Critic, Taipeh: Bookmann Books, 1997; Zhou Qun: Yuan Hongdao pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 1999. [TZ]

Yuan Mei 袁枚 (zi: Zicai, hao: Jianzhai, Cangshan jushi, Suiyuan laoren, Shicheng suiyuan, 1716 ‒ 1797), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Yuan war ein überaus vielseitig begabter Gelehrter, dem es mit Anfang zwanzig gelang, erfolgreich die Prüfung zum Doktor (jinshi) abzulegen und Aufnahme in die Hanlin-Akademie zu finden. Schon wenig später wurden ihm nacheinander mehrere Präfekturen übertragen. Nach dem Tod des Vater jedoch zog er sich Anfang der fünfziger Jahre von allen Amtsgeschäften zurück und ließ sich in einem kurz zuvor erworbenen Anwesen bei Hangzhou nieder, das er zu einem viel frequentierten Treffpunkt für die Gelehrten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte, was seinen Ruhm als führender Literat dieser Zeit noch steigerte. Gleichwohl achtete Yuan sehr bewußt darauf, die Verbindungen zu den mandschurischen Herrschern nicht abreißen zu lassen, und stand daher weiterhin mit einer Reihe von sehr einflußreichen Persönlichkeiten bei Hofe in Kontakt. In der Literatur war Yuans Hauptmetier die Dichtung, doch schrieb er daneben in mehreren Prosaformen, verfaßte Essays, Erzählungen und Literaturkritiken. Im Bereich der Bildung galt sein Augenmerk vor allem der Unterweisung weiblicher Schüler, und so trat er vorübergehend als informeller Leiter einer Schule für weibliche Dichter auf, deren Werke er auch veröffentlichte. Obwohl aus diesem Kreis einige begabte Dichterinnen hervorgingen und es keinerlei Hinweise auf ein unziemliches Verhalten von Yuan gegenüber den jungen Damen gibt, wurde er dennoch deshalb von Zeitgenossen scharf angegriffen. In der Erzählkunst fand Yuan wie vor ihm (→) Pu Songling großen Gefallen an den Geistergeschichten, die er sammelte oder umschrieb und in Worüber der Meister nicht sprach (Zibuyu) herausgab.

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Yuan Yuling 袁于令

Am bekanntesten aber ist Yuan Mei wohl als Literaturkritiker und -theoretiker. Bedeutung kommt hier vor allem seinen Thesen zum Eigencharakter und zur Beseeltheit (xingling) dichterischer Werke zu, wie er sie in den Dichtergesprächen aus dem Sui-Garten (Suiyuan shihua) niederlegte. Damit übte er einen großen Einfluß auf die Literaten seiner Zeit und späterer Generationen aus. Besonders der Formalismus der Gelehrsamkeit zur Zeit der Song (960 – 1279) und die Enge der achtgliedrigen Prüfungsaufsätze waren Yuan ein Dorn im Auge. Ebenso verwarf er die Nachahmung der Schriften alter Meister und forderte statt dessen von den Dichtern, auf ihre eigenen Gefühle und die Perfektionierung ihrer dichterischen Technik zu achten. WERKAUSGABEN: Yuan Mei quanji, hg. von Wang Yingzhi, Nanjing: Jiangsu Guji, 1993. ÜBERSETZUNGEN: »Thoughts on Master Hungʼs Book Borrowing«, übers. von D.E. Pollard, in: Renditions 33 & 34 (Spring & Autumn 1990), S. 192‒194; Chinesische Geistergeschichten, übers. u. hg. von Rainer Schwarz, Frankfurt a.M.: Insel, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Arthur Waley: Yüan Mei, Eighteenth Century Chinese Poet, London: George Allen & Unwin, 1956; Fu Yuheng: Yuan Mei nianpu, Hefei: Anhui Jiaoyu, 1986; Marion Eggert: Nur wir Dichter. Yuan Mei: Eine Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts zwischen Selbstbehauptung und Konvention, Bochum: Brockmeyer, 1989; Wang Zhiying: Yuan Mei yu Suiyuan shihua, Shanghai: Shanghai Guji, 1989; ders.: Yuan Mei yu Zibuyu, Shenyang: Liaoning Jiaoyu, 1992. [TZ]

Yuan Yuling 袁于令 (eig. Yuan Yunyu, zi: Lingzhao, Yanzhao, Fugong, hao: Yujuan, Baibin, Jiyi zhuren, Jianxiaoge zhuren, 1592 ‒ 1674), geb. in Suzhou (Provinz Jiangsu) Yuan stammte aus einer wohlhabenden Familie in Suzhou und geriet nach dem Dynastiewechsel 1644 in keinen Loyalitätskonflikt, obwohl er seine Tätigkeit als Beamter erst unter den mandschurischen Herrschern aufnahm. Einer Arbeit als Zollinspektor 1646 folgte im Jahr darauf die des Präfekten von Jingzhou. Wahrscheinlich trugen seine lockere Amtsführung und seine allzu lebensfreudige Art Yuan 1653 den Vorwurf der Veruntreuung ein, was zur Aufgabe all seiner Ämter führte. Yuan Yuling hat ein recht umfangreiches literarisches Erbe hinterlassen, an dem er mit Sicherheit schon vor dem Dynastiewechsel arbeitete und das vor allem die im 16. und 17. Jahrhundert im Schwunge befindlichen volkstümlichen Gattungen des Romans (zum Beispiel Die vergessene Geschichte der Sui [Suishi yiwen]) und der romantischen Komödie umfaßt. Sein bekanntestes Stück Der Westturm (Xilouji), das die Liebesgeschichte zwischen dem Scholaren Yujuan und dem Singmädchen Mu Lihua erzählt und immer wieder aufgeführt wurde, fand auch den Zuspruch von (→) Feng Menglong, der eine Szene dazu ergänzte. Als

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Yuan Zhen 元稹

Schüler von Ye Xianzu (1566 ‒ 1641), einem Spezialisten für die lokale Dramenkunst in der Region um Suzhou, legte Yuan vor allem Wert auf die Prosodie seiner Stücke. Bei einer Reihe seiner literarischen Werke wie etwa der Vergessenen Geschichte der Sui freilich darf man Yuan wohl nicht als den ursprünglichen Verfasser annehmen, sondern nur als den Bearbeiter eines bereits vorhandenen Stoffes. Wie sehr Yuan an der Entwicklung der Romankunst lag, zeigt auch das Vorwort, das er für die von (→) Li Zhi kommentierte Ausgabe der Reise in den Westen (Xiyouji) verfaßte. WERKAUSGABEN: Suishi yiwen; Peking: Beijing Daxue, 1988. SEKUNDÄRLITERATUR: Robert E. Hegel: The Novel in the Seventeenth Century China, New York: Columbia University Press, 1981, S. 112‒139. [TZ]

Yuan Zhen 元稹 (zi: Weizhi, 779 – 831), geb. in Luoyang (Provinz Henan) Der Dichter Yuan Zhen war ein Nachfahre der Toba, des Herrscherhauses der Nördlichen Wei-Dynastie (385 ‒ 532). Er wurde in der östlichen Hauptstadt Luoyang geboren. Yuan Zhens Vater starb, als er erst sieben Jahre alt war. Seine Mutter zog daraufhin mit ihm nach Fengxiang, in die Nähe der Hauptstadt Changʼan (heute Xiʼan, Provinz Shaanxi). 803 bestand er das staatliche jinshi-Doktorexamen. Bald darauf trat er, (→) Bai Juyi nachfolgend, sein erstes Amt als Archivar in der kaiserlichen Bibliothek an. Die beiden jungen Dichter (häufig in einem Atemzug »YuanBai« genannt) verband von da an eine lebenslange Freundschaft. Auch wenn sie später an verschiedenen Orten wohnten, verlief ihr Leben und Wirken dennoch parallel, wie ihr reger Briefwechsel und Austausch von Gedichten bezeugt. Sie teilten insbesondere das idealistische Streben nach sozialem Fortschritt, gespeist auch aus eigenen bitteren Erfahrungen. Nachdem Yuan Zhen und Bai Juyi sich bis 806 auf die höchste kaiserliche Prüfung vorbereitet hatten und sie in der Folge auch mit Auszeichnung bestanden, wurden beide zu Zensoren (»Ermahnern«) zur Linken (zuoshiyi) ernannt. Yuan Zhen unterbreitete Kaiser Xianzong (reg. 806 – 820) schon nach kurzer Zeit voller Übermut ein Papier mit Reformvorschlägen, für das er mit sofortiger Wirkung verbannt wurde. Zeitgleich war 806 seine Mutter verstorben, so daß ihm gestattet wurde, sich – anstatt in die Verbannung – in die übliche dreijährige Trauerzeit zurückzuziehen. 809 wurde er (wohl noch im Sinne einer Strafversetzung) als Zensor in die Provinz Sichuan entsandt, wo er – wiederum übereifrig – mehrere Korruptionsfälle aufdeckte. Damit hatte er sich jedoch so einflußreiche Feinde gemacht, daß er diesmal für ein ganzes Jahrzehnt in die Verbannung geschickt wurde. In dieser Zeit diente er u.a. in Jiangling (Provinz Hubei) in der Armee; 813 zog er weiter nach Tangzhou (im heutigen Nanyang, Provinz

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Zeng Gong 曾巩

Henan). Im Jahr 819 gab man ihm eine weitere Chance, sich in den hauptstädtischen Beamtenapparat einzufügen, doch schon 823 wurde er wieder in die Provinz versetzt. Zuletzt konnte Yuan bei Hofe doch noch an Ansehen gewinnen und erlangte 829 das hohe Amt eines Stellvertretenden Staatssekretärs zur Linken (shangshu zuocheng). Zurückblickend mußten er und Bai Juyi feststellen, daß sie mit ihrem Reformdenken kaum zum Zuge gekommen waren. Yuan Zhen war zwar beruflich erfolgreicher als der Freund, sein Ruhm als Dichter – zu Lebzeiten groß – hatte aber nicht die historische Reichweite eines Bai Juyi. Einem anderen Dichter dagegen verhalf Yuan Zhen zu bis heute unübertroffenem Ansehen: Mit seiner »Grabinschrift für Du Fu« (»Du Zimei muzhiming«, 813) machte er seine Zeitgenossen auf den bis dato noch relativ unbekannten Dichter aufmerksam und begründete so dessen ungeheuren Nachruhm. Yuan Zhen selbst erweckte die Gattung des archaischen Musikamtsliedes (yuefu) wieder zum Leben: Unter seinen Neuen Musikamtsliedern (xin yuefu) ist vor allem sein »Lied vom Lianchang-Palast« (»Lianchanggong ci«) berühmt geworden. Darin beklagt er die Zerstörung der Hauptstadt Changʼan durch die Rebellenarmee des An Lushan (755 – 757) und schließt mit einem bewegenden Friedensappell. Mit seiner Novelle »Die Geschichte der Yingying« (oder: »Die Goldamsel« [»Yingying zhuan«]) schuf er zudem eine der schönsten und meistbearbeiteten Liebesgeschichten Chinas. WERKAUSGABEN: »Yingying zhuan«, in: Taiping Guangji, hg. von Li Fang et al., Peking: Zhonghua Shuju, 1961, Kap. 488; Quan Tang shi suoyin: Yuan Zhen juan, hg. von Luan Guiming, Peking: Zhonghua Shuju, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Die goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden, hg. u. übers. von Wolfgang Bauer u. Herbert Franke, München: Hanser, 1959, S. 78‒89; Sunflower Splendor. Three Thousand Years of Chinese Poetry, übers. von Wu-chi Liu u. Irving Yucheng Lo, New York: Anchor Press, 1975, S. 216‒226; Der seidene Faden. Gedichte der Tang, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel, 1991, S. 281‒284; »Grabinschrift für Du Fu«, übers. von Volker Klöpsch, in: Hefte für ostasiatische Literatur 14 (Mai 1993), S. 19‒23; »Die Geschichte der wunderschönen Yingying«, übers. von Martin Gimm, in: Hefte für ostasiatische Literatur 28 (Mai 2000), S. 27‒42. SEKUNDÄRLITERATUR: Angela C.Y. Jung Palandri: Yüan Chen, Boston: Twayne, 1977; Ludger Ikas: Der klassische Vierzeiler. Das Beispiel Yuan Zhen (779 ‒ 831), Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1995. [HP]

Zeng Gong 曾巩 (auch: Nanfeng xiansheng, zi: Zigu, 1019 – 1083), geb. in Nanfeng (heute Provinz Jiangxi) Unter den Acht Großen Essayisten der Tang- und Song-Zeit (Tang Song ba da jia), zu denen Zeng Gong mit (→) Han Yu (768 ‒ 824), (→) Liu Zongyuan (773 ‒ 819), (→) Ouyang Xiu (1007 ‒ 1072), (→) Su Xun (1009 ‒ 1066), (→) Su Shi (1037 ‒ 1101), (→) Su Che (1039 ‒ 1112) und (→) Wang Anshi (1021 ‒ 1086) ge-

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Zeng Gong 曾巩

hört, ist Zeng Gong derjenige, der sich durch seine stille, beständige und verhaltene Art auszeichnet. Dies hängt wohl damit zusammen, daß er neben seinem intensiven Studium nach dem Tod des Vaters für seine jüngeren Geschwister, vier Brüder und neun Schwestern, zu sorgen hatte, eine Aufgabe, der er sich mit hohem Verantwortungsgefühl und ohne Klagen stellte. Gleichwohl lebte er am Puls der Zeit. Schon etwa um 1040 stand er im Briefwechsel mit Ouyang Xiu, der ihn förderte und seine literarischen Produkte pries. Auch mit Wang Anshi tauschte Zeng Gong Briefe aus und ermöglichte ihm eine Begegnung mit Ouyang Xiu. 1057 bestand er zusammen mit Su Che und Su Shi die aufsehenerregende Prüfung zum Doktor (jinshi) im Neuen guwen-Stil unter Ouyang Xius Prüfungsleitung. Nach kurzer Anstellung als Präfektenassistent übte er in der Kaiserlichen Bibliothek das Amt eines literarischen Kommentators und später im Staatsarchiv das eines Bücherrevisors aus. Hier widmete er sich dem Studium der Sechs Klassiker und vor allem den Werken (→) Liu Xiangs (77 ‒ 6 v.Chr.), da dieser als »Vorkämpfer für Moral und Charakter« (Ernst Haenisch) galt und Zeng Gong diese Einstellung im Sinne der Neuen guwen-Bewegung teilte. So erforschte er Lius Werke Biographien musterhafter Frauen (Lienüzhuan), Garten der Überredungen (Shuiyuan), Neu Geordnetes (Xinxu) und Pläne der Streitenden Reiche (Zhanguoce). Letztere waren während der Tang-Zeit (618 – 907) in Teilen verlorengegangen und von Zeng Gong nach eingehenden Untersuchungen rekonstruiert worden. All diese Werke sowie eine Gedichtsammlung von (→) Li Bai versah er mit einem Vorwort. Nach Wang Anshis Aufstieg zum Kanzler (1069) unter Shenzong (reg. 1068 ‒ 1085) begann die Umsetzung seiner radikalen Reformvorschläge, die Zeng Gong, obwohl mit Wang befreundet, mißbilligte. Er bat deshalb selbst um Versetzung in den Außendienst (1069). In sieben verschiedenen Provinzen stand er als Magistrat oder Präfekt seinen Mann, leitete sie mustergültig und griff beherzt bei allen Notständen ein. Erst 1080 rief ihn der Kaiser zurück und ehrte ihn wegen seiner Bescheidenheit, Treue und Gelehrsamkeit mit hohen Ämtern und Titeln. Zeng Gong hat unermüdlich in verschiedensten Prosaformen geschrieben: Erörterungen, Lebensskizzen, Geleitworte, Grabinschriften, Trauerreden, Gedenkschriften, Pinselnotizen (biji) usw. Konfuzianischen Werten verpflichtet, pflegte er einen ungekünstelten, ausgewogenen Stil, knapp, gehaltvoll und voller Würde. Die Berichte »Der Tuschteich« (»Mochi ji«) und »Der Pavillon der Nüchternheit« (»Xingxinting ji«) – letzterer ein Komplement zu Ouyang Xius »Pavillon des Trunkenen Alten« (»Zuiwengting ji«) – findet man in vielen Anthologien. Zhu Xi (1130 ‒ 1200), das Haupt der neokonfuzianischen Philosophie, schätzte Zeng Gongs Werke sehr, und auch für die Qing-zeitliche (1644 – 1911) Tongcheng-Schule (Tongcheng Pai) hatten sie Vorbildcharakter. ‒ Zeng Gongs 197 Gedichte im alten und 213 Gedichte im neuen Stil fanden allerdings nicht dieselbe Wertschätzung wie seine Prosa. WERKAUSGABEN: Nanfeng xiansheng yuanfeng leigao, Shanghai: Shanghai Shudian, 1989; Zeng Gong ji, hg. u. komm. von Song Changkun, Changchun: Shidai Wenyi, 2002.

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Zeng Pu 曾朴 ÜBERSETZUNGEN: Tseng Kung. Ein Beitrag aus der Litteratur der Sung-Zeit, übers. von F.E.A. Krause, Heidelberg: Winters, 1922; Chinese Classical Prose: The Eight Masters of the Tang-Song Peroid, übers. von Shih Shun Liu, Hongkong: Chinese University Press, 1979, S. 305‒343. SEKUNDÄRLITERATUR: Song shi jianshang cidian, hg. u. komm. von Miao Yue, Shanghai: Shanghai Cishu, 32007, S. 184‒189; Tang Song ba da jia wen, hg. von Wu Xiaolin et al., Peking: Xin Shijie, 22008, S. 757‒852. [BD]

Zeng Pu 曾朴 (zi: Taipu, Mengpu, Xiaomu, Pseudonym: Dongya bingfu, 1872 ‒ 1935), geb. in Changshu (Provinz Jiangsu) Zeng Pu wurde 1872 als einziger Sohn einer großen und traditionsreichen Familie geboren. Er absolvierte zwischen 1889 und 1895 ein Studium der klassischen Schriften in Peking und erwarb 1892 den Magistertitel. In diesen Jahren stand er auch in Verbindung mit bekannten zeitgenössischen Gelehrten. Über ein Studium des Französischen an der Sprachenhochschule Tongwenguan ab der Mitte der 90er Jahre fand Zeng Zugang zur europäischen Literatur und Philosophie. Zwischen 1910 und 1920 übersetzte er aus dem Werk französischer Autoren wie Balzac, Molière, Zola sowie Hugo, von dem er ganz besonders stark beeinflußt wurde. So übertrug er 1913 Hugos Quatre-vingt Treize, dem 1916 die chinesische Version des Schauspiels Lucrèze Borgia folgte. Die literarische Arbeit war allerdings auch für Zeng Pu stets nur eine vorübergehende Beschäftigung, wie sein politisches Engagement zwischen 1908 und 1926 auf verschiedenen Posten in der Provinz Jiangsu belegt. Über Zengs Kindheit und Jugend sind wir dank des 1927 bis 1929 abgefaßten Romans Der Herr von Lu: Liebe (Lu Nanzi: lian), der stark autobiographische Züge trägt, gut informiert. Der Nachwelt ist Zeng Pu vor allem aufgrund seines Romanfragments Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua) in Erinnerung geblieben. Jin Songcen (1874 ‒ 1947) hatte bereits 1903 einige Szenen daraus vorgelegt, die Zeng Pu jedoch umarbeitete und 1905 in einer 20 Kapitel umfassenden Ausgabe herausbrachte. Die immense Popularität des Romans belegen nicht nur die hohen damaligen Auflagen, sondern auch eine Reihe von Folgewerken, die bis in die 40er Jahre hinein erschienen. Blumen im Meer der Sünde ist einer der stringentesten und sprachlich ausgefeiltesten Romane zum Ende der Qing-Dynastie und daneben eines der ersten Werke, das den Blick auf die Welt außerhalb Chinas richtete. Auf geschickte Weise gelang es Zeng Pu darüber hinaus, in Anlehnung an eine Reihe der beliebtesten Stoffe der Erzählkunst wie das Thema von den Talenten und Schönheiten sowie unter Ausnutzung struktureller Novitäten ein panoramaartiges Bild der politischen und gesellschaftlichen Zustände im China des späten 19. Jahrhunderts zu entwerfen. Seine Beliebtheit bei den Lesern verdankte das Werk jedoch seinem Charakter als Schlüsselroman. Hinter nahezu allen Protagonisten verbergen sich konkrete

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Zeng Ruiqing 曾瑞卿

historische Persönlichkeiten. Als besonders pikant wurde die erfundene Affäre zwischen der Kurtisane Sai Jinhua (1874 ‒ 1936) und dem deutschen Grafen von Waldersee (1832 ‒ 1904) empfunden. Auf eindringliche und sprachlich überaus anspruchsvolle Weise gelang es Zeng Pu in seinem Roman, den Niedergang der traditionellen chinesischen Aristokraten und Gelehrten zu veranschaulichen. Schonungslos prangerte er Schwächen wie die Vorliebe für unpraktisches Buchwissen, Weltfremdheit sowie übertriebene Ruhmsucht an. WERKAUSGABEN: Lu Nanzi: Lian, Taipeh: Wenhua Tushu, 1985; Niehaihua, Shanghai: Shanghai Guji, 1991. ÜBERSETZUNGEN: Blumen im Meer der Sünde, übers. von Thomas Zimmer, München: iudicium, 2001. SEKUNDÄRLITERATUR: Peter Li: Tseng Pʼu, Boston: Twayne, 1980; Stephan von Minden: Die Merkwürdige Geschichte der Sai Jinhua. Historisch-philologische Untersuchung zu Entstehung und Verbreitung einer Legende aus der Zeit des Boxeraufstands, Stuttgart: Steiner, 1994; Blanka Hinz: Der Roman »Eine Blume im Sündenmeer« (Niehaihua) und sein Platz in der chinesischen Literatur, Bochum: Brockmeyer, 1995. [TZ]

Zeng Ruiqing 曾瑞卿 (auch: Zeng Rui, ? – 1330) Über Zeng Ruiqing oder Zeng Rui – so mittlerweile die Schreibung in der chinesischen Sekundärliteratur – ist nichts bekannt. Mit Sicherheit können ihm ein gutes halbes Dutzend nachklassischer Lieder (qu) zugerechnet werden. Die Autorschaft des unter seinem Namen hinterlassenen Mongolendramas (zaju) Die Geschichte vom zurückgelassenen Schuh (Liuxie ji) ist Sache der Spekulation. Gegen die Zuordnung des als durchschnittlich einzustufenden Kriminaldramas mit dem Richter Bao Zheng (999 ‒ 1062) zur Yuan-Zeit (1279 – 1368) spricht das Thema von selbstgewählter Liebe und Auferstehung des Geliebten als eines Scheintoten. Eine solche »Liebeskomödie« ist eigentlich erst seit (→) Tang Xianzu (1550 ‒ 1617) denkbar. Es ist daher von einem späteren Verfasser bzw. von einer inhaltlich später stark bearbeiteten Fassung auszugehen. WERKAUSGABEN: »Liuxie ji«, in: Yuanqu xuan, hg. von Zang Maoxun, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1998, S. 571‒577. ÜBERSETZUNGEN: Chinesische Dramen der Yüan-Dynastie. Zehn nachgelassene Übersetzungen von Alfred Forke, hg. von Martin Gimm, Wiesbaden: Steiner, 1978, S. 549‒591 [mit Komm., S. 612f.]. SEKUNDÄRLITERATUR: Yuanqu jianshang cidian, hg. von He Xinhui, Peking: Zhongguo Funü, 1988, S. 396‒411. [WK]

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Zhai Yongming 翟永明

Zhai Yongming 翟永明 (1955 ‒), geb. in Chengdu (Provinz Sichuan) Zhai Yongming stammt aus der Stadt Chengdu in der Provinz Sichuan, wo sie auch heute lebt. Sie gehört der Dichtergruppe der »Sieben Edlen aus Sichuan« (Sichuan qi junzi) an. Nach ihrem Studium der Elektrotechnik arbeitete sie zunächst in einem physikalischen Forschungsinstitut. 1986 kam ihr erster Gedichtband Frauen (Nüren) heraus. Seitdem befaßt sie sich hauptberuflich mit Lyrik. Daneben unterhält sie seit einigen Jahren auch einen Szeneclub namens »Weiße Nacht« (Baiye) in Chengdu, in dem sich oft Dichter treffen und Dichterlesungen stattfinden. Ihr lyrisches Werk umfaßt folgende Bände: Frauen (Nüren), Über all den Rosen (Zai yiqie meigui zhishang, 1989), Die Lyrik Zhai Yongmings (Zhai Yongming shiji, 1994), Nächtliche Skizze (Heiye de sumiao, 1996) sowie Das nennt man alle (Cheng zhi wei yiqie, 1997). Dazu kommen die Essaybände Die Reißbrettbauten (Zhishang de jianzhu, 1997), Die unerschütterlichen zerschnittenen Blumen (Jianren de posui zhi hua, 1999) und New York, westlich von New York (Niuyue, Niuyue yi xi, 2003). Thematisch beschäftigt sie sich mit der Wahrnehmung der Welt aus weiblicher Perspektive. Ihre lyrische Sprache ist eigenwillig, ihre lyrischen Bilder voller dichterischer Phantasie. 2007 erhielt sie den Pamir-Lyrikpreis als beste poetische Stimme Chinas. WERKAUSGABEN: Cheng zhi wei yiqie, Shenyang: Chunfeng Wenyi, 1997. ÜBERSETZUNGEN: Kaffeehauslieder, übers. und mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, Bonn: Weidle, 2004; Alles versteht sich auf Verrat. Gedichte von Yu Jian, Zhai Yongming, Wang Xiaoni, Ouyang Jianghe, Wang Jiaxin, Chen Dongdong, Xi Chuan, Hai Zi, übers. von Wolfgang Kubin und Gao Hong, hg. von Wolfgang Kubin und Tang Xiaodu, Bonn: Weidle, 2009, S. 38‒61. SEKUNDÄRLITERATUR: Naikan Tao: »Building a White Tower at Night: Zhai Yongming’s Poetry«, in: World Literature Today 73, 3 (1999), S. 409‒416; Jeanne Hong Zhang: »Zhai Yongming’s ›Woman‹ ‒ With Special Attention to Its Intertextual Relations with the Poetry of Sylvia Plath«, in: Journal of Modern Literature in Chinese 5, 2 (2002), S. 109‒130; Maghiel van Crevel: »Zhai Yongming«, in: Biographical Dictionary of Chinese Women: The Twentieth Century, 1912 ‒ 2000, hg. von Lily Lee, Armonk, New York: M.E. Sharpe, 2003, S. 672‒678. [WH]

Zhang Ailing 张爱玲 (engl.: Eileen Chang, 1921 ‒ 1995), geb. in Shanghai Zhang Ailing wurde in Shanghai in eine Familie hineingeboren, die eine ruhmreiche Vergangenheit hatte: Ihr Urgroßvater war die berühmte historische Persönlichkeit Li Hongzhang. Sehr früh kam sie mit der klassischen Literatur in Berührung und war insbesondere von der chinesischen Erzählkunst sehr fasziniert. Sie besuchte

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Zhang Ailing 张爱玲

eine Missionarsmädchenschule in Shanghai und nahm im Anschluß daran an der Hongkonger Universität ein Studium der Englischen Sprache und Literatur auf. 1942 kehrte Zhang Ailing aufgrund des Kriegsausbruchs ohne einen Universitätsabschluß nach Shanghai zurück. Nach einer Versuchsphase, in der sie ihre Erfolgschancen als junge Autorin getestet hatte, nämlich durch ihre englischen Beiträge für die Zeitschrift XXth Century, eroberte sie innerhalb kurzer Zeit mit Erzählungen wie »Das goldene Joch« (»Jin suoji«), »Liebe in einer gefallenen Stadt« (»Qingcheng zhi lian«) und »Rote Rose, weiße Rose« (»Hong meigui yu bai meigui«) das Herz der Leser. Zwischen 1943 und 1945 veröffentlichte sie ihre wichtigsten Werke. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten verließ sie Shanghai und ging zunächst nach Hongkong, später in die Vereinigten Staaten. Sie brachte weitere Erzählungen und Novellen heraus, wichtige Beiträge dieser Zeit sind die Romane Das Reispflanzerlied (Yangge) und Liebe auf der roten Erde (Chidi zhi lian). 1995 starb Zhang Ailing nach langjähriger selbstgewählter Isolation in ihrem Apartment in Los Angeles. Zhang Ailing ist eine Schriftstellerin mit einem außergewöhnlichen Sprachtalent und einer scharfen Beobachtungsgabe. Ihre Werke enthalten subtile Beschreibungen des menschlichen Lebens mit all seinen Widersprüchen. In der Diskrepanz zwischen Leiden und Freuden, den Schwächen der Menschen und ihren Hoffnungen, ihrer Machtlosigkeit und ihrem Glücksstreben, ihrer Melancholie und ihrer Liebe erblickt sie die große Tragik des menschlichen Lebens. Gerade in der detaillierten Beschreibung dieser menschlichen Realität gewinnen die chinesischen Sitten, Gebräuche und Mentalitäten äußerste Lebendigkeit und Anschaulichkeit. Literarisch stark beeinflußt von ihrem Vorbild (→) Cao Xueqin, versteht es Zhang Ailing, durch die Beschreibung scheinbar nebensächlicher und banaler Dinge des Lebens menschliche Schicksale literarisch zu verarbeiten. Chinesische Alltagsthemen ‒ von Essen, Kleidung, zwischenmenschlichen Beziehungen bis hin zu Erziehung, Religion, Aberglauben und Schönheitsidealen ‒ stellt sie dank ihres künstlerischen Wahrnehmungsvermögens anschaulich, humorvoll und differenziert dar. Bei ihr ist Kultur keine bloße Abstraktion, sie ist durch ihre literarische Arbeit faßbar und erfahrbar. Vergangenheit ist ein zentrales Thema in den Werken Zhang Ailings. Bei ihr ist das Bild der Vergangenheit jedoch sehr ambivalent. Einerseits entlarvt sie schonungslos die negative Seite der feudalen Gesellschaft, andererseits trauert sie ihr nach und schafft dadurch eine melancholische Stimmung. Anders als ihre zeitgenössischen Kollegen, die die Vergangenheit radikal verurteilen, sehnt sie sich nach der verlorenen Zeit, in der die alte Kultur ihre Blüte erlebte. Aufgrund ihres Erfolgs gerade in der Zeit während der japanischen Besatzung und aufgrund der engen Zusammenarbeit ihres damaligen Ehemannes Hu Lancheng mit den Japanern wurde Zhang Ailing in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Taiwan scharf kritisiert. In der VR China waren ihre gesamten Werke bis in die 90er Jahre verboten, ihre zwei Romane Das Reispflanzerlied und Liebe auf der roten Erde sind bis heute offiziell für die Publikation nicht zugelassen.

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Zhang Ailing 张爱玲

Sehr lange wurde über die Stellung ihrer Werke in der chinesischen Literatur debattiert. Gerne möchten manche Literaturkritiker ihre Leistungen in der Trivialliteratur platziert sehen, doch für die Mehrheit ist es mittlerweile Konsens, daß ihre Werke aus der modernen chinesischen Erzählkunst nicht mehr wegzudenken sind. WERKAUSGABEN: Zhang Ailing quanji, 16 Bde., Taipeh: Huangguan, 1995. ÜBERSETZUNGEN: Das Reispflanzerlied. Ein Roman aus dem heutigen China, übers. von Gabriele Eckehard, Düsseldorf: Diederichs, 1956; Naked Earth [engl. Fassung von Chidi zhi lian], Hongkong: Union Press, 1956; The Rice-Sprout Song [engl. Fassung von Yangge], Hongkong: Dragonfly Books, 1963; The Rouge of the North (Yuannü), London: Cassell, 1967; Written on Water, übers. von Andrew F. Jones, New York: Columbia University Press, 2005; Love in a Fallen City, übers. von Karen S. Kingsbury u. Eileen Chang, New York: New York Review Books, 2007; Gefahr und Begierde, übers. von Susanne Hornfeck, Wolf Baus u. Wang Jue, Berlin: Claassen, 2008; Das Reispflanzerlied, übers. von Susanne Hornfeck, Berlin: Claassen, 2009. SEKUNDÄRLITERATUR: C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 389‒431; Shui Jing: Zhang Ailing de xiaoshuo yishu, Taipeh: Dadi, 1973; Stephen Cheng: »Themes and Techniques in Eileen Chang’s Stories«, in: Tamkang Review 8, 2 (1977), S. 169‒200; Edward Gunn: Unwelcome Muse. Chinese Literature in Shanghai and Peking (1937 ‒ 1945), New York: Columbia University Press, 1980, S. 200‒231; Tang Wenbiao: Zhang Ailing ziliao da quanji, Taipeh: Shibao Wenhua, 1984; Elizabeth Cheng Stewart: Awareness of the Woman Question in the Novels of George Elliot and Eileen Chang, Diss., University of Illinois at UrbanaChampaign, 1988; Lucien Miller u. Hui-chuan Chang: »Fiction and Autobiography: Spatial Form in ›The Golden Cangue‹ and ›The Woman Warrior‹«, in: Modern Chinese Women Writers. Critical Appraisals, hg. von Michael S. Duke, New York: M.E. Sharpe, Inc., 1989, S. 24‒43; Juan Liu: Beyond the Mountains. Cross-culturalism in the Fiction of Edith Wharton and Eileen Chang, Diss., Washington University, 1995; Carole F. Hoyan: The Life and Works of Zhang Ailing. A Critical Study, Diss., Vancouver: University of British Columbia, 1996; Ya-Shu Chen: Love Demythologized. The Significance and Impact of Zhang Ailing’s (1921 ‒ 1995) Works, Diss., Madison: University of Wisconsin, 1998; David Der-wei Wang: »Foreword«, in: Eileen Chang, The Rouge of the North, Berkeley: University of California Press, 1998, S. vii‒xxx; Poshek Fu: »Eileen Chang, Women’s Film, and Domestic Culture of Modern Shanghai«, in: Tamkang Review 29, 4 (Summer 1999), S. 9‒28; Philip F.C. Williams: »Back from Extremity: Eileen Chang’s Literary Return«, in: Tamkang Review 29, 3 (Spring 1999), S. 127‒138; Nicole Huang: »Eileen Chang and the Modern Essay«, in: The Modern Chinese Literary Essay: Defining the Chinese Self in the 20th Century, hg. von Martin Woesler, Bochum: Bochum University Press, 2000, S. 67‒96; Helmut Martin: »›Like a Film Abruptly Torn Off‹: Tension and Despair in Zhang Ailing’s Writing Experience«, in: Symbols of Anguish. In Search of Melancholy in China, hg. von Wolfgang Kubin, Bern: Peter Lang, 2001, S. 353‒383; Jeesoon Hong: Gendered Modernism of Republican China: Lu Yin, Ling Shuhua, and Zhang Ailing, 1920‒1949, Diss., University of Cambridge, 2003; Amy Dooling: »Outwitting Patriarchy: Comic Narrative Strategies in the Works of Yang Jiang,

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Zhang Chengzhi 张承志 Su Qing, and Zhang Ailing«, in: dies.: Women’s Literary Feminism in Twentieth-Century China, New York: Palgrave Macmillan, 2005, S. 137‒170. [WH]

Zhang Chengzhi 张承志 (1948 – ), geb. in Peking 1948 in eine muslimische Familie in Peking geboren, wurde Zhang dennoch nicht islamisch erzogen, da seine Eltern schon während des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937 – 1945) Mitglieder der Kommunistischen Partei geworden waren. Nach dem frühen Tod seines Vaters wuchs er, von der Mutter und zwei älteren Schwestern umsorgt, in ärmlichen Verhältnissen auf. Er litt schon damals unter der spürbaren Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten durch die Han-Chinesen. Als Reaktion darauf entwickelte er einen zwiespältigen Charakter aus starken Minderwertigkeitsgefühlen und zugleich übermäßigem Stolz. 1964 trat er in die an die Tsinghua-Universität angeschlossene Mittelschule ein, in der die Schüler zwei Jahre später gegen die Schulverwaltung rebellierten, was zum Ausbruch der Kulturrevolution (1966 – 1976) führte. Zhang selbst nahm aktiv und sogar gewalttätig an der »Revolution« teil, verließ aber bald freiwillig die Hauptstadt, um in der Inneren Mongolei ein Hirtenleben zu führen. Die nachfolgenden vier Jahre unter Mongolen prägten ihn nachhaltig, so daß er nach seiner Rückkehr nach Peking die Mongolei fortan als seine wahre Heimat empfand. 1972 durfte er auf Empfehlung einheimischer Mongolen ein Studium der Archäologie an der Universität Peking aufnehmen. Danach arbeitete er im Chinesischen Historischen Museum, bis er 1978 ein Magisterstudium in Ethnologie anfangen konnte. Gleichzeitig begann er Kurzgeschichten und Erzählungen zu schreiben, in denen er seine Erlebnisse in der mongolischen Steppe verarbeitete. Unter ihnen sind »Grüne Nacht« (»Lü ye«, 1981) und »Der edle Rappe« (»Hei junma«, 1982) die gelungensten; in ihnen pflegt er einen poetischen und einfühlsamen Stil, der an Prosagedichte erinnert. Nach dieser ersten experimentellen Phase nehmen seine Werke immer stärker autobiographische Züge an, wie in den Erzählungen »Die alte Brücke« (»Lao qiao«, 1982), »Der Gletscher« (»Daban«, 1982) und »Die Flüsse des Nordens« (»Beifang de he«, 1984). Die Protagonisten sind stets von Unrast erfüllt und auf der ewigen Suche nach Selbstverwirklichung und der eigenen Identität. Nach einigen Jahren als Ethnologe und nach einem längeren Forschungsaufenthalt in Japan begegnete Zhang auf einer Reise in Nordwestchina dem islamischen Jahryyah-Orden und bekannte sich infolgedessen bald zu seinen eigenen islamischen Wurzeln. Im Auftrag seiner muslimischen Brüder begann er die Geschichte dieses Ordens zu recherchieren und in einem Roman zu verarbeiten. Um einer politischen Verfolgung nach der Veröffentlichung seines Lebenswerkes Die Geschichte der Seelen (Xinling shi) zu entgehen, wanderte er 1989 nach Japan und Kanada aus und kündigte 1990 auch seine damalige Anstellung als Berufsschriftsteller im Dienst der chinesischen Marine. 1992 kehrte er aber von Kanada wieder nach

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Zhang Chengzhi 张承志

China zurück, weil er sich in einem hochentwickelten Industrieland nicht zurechtfinden konnte. Seit 1993 schrieb er nur noch gesellschaftskritische Essays, die wegen ihrer scharfen Töne für heftige Diskussionen im chinesischen Literaturbetrieb sorgten, so daß 1995 eine große Literaturdebatte um ihn und drei andere Gegenwartsautoren entbrannte. Zhang selbst brach danach alle gesellschaftlichen und beruflichen Verbindungen ab und lebt seither in selbstgewählter Isolation. Von der chinesischen Regierung wird er als potenzieller Anstifter religiöser Unruhen streng beobachtet, während viele Jahriyyah-Muslime und auch Han-Chinesen ihn als einen Kulturhelden bewundern. Inhaltlich beschäftigen sich Zhangs Werke beständig mit der Frage der Identität, sei es die individuelle oder die kollektive. Sie spiegeln die innere Welt einer kulturell heimatlosen Generation wider. Außerdem meistert Zhang eine poetische Sprache, die von subjektiven Gefühlen und Spiritualität geprägt ist. Dennoch erreichen viele seiner späteren Werke wegen ihrer kompromißlosen Haltung und der Geradlinigkeit der vermittelten Botschaft nicht mehr den hohen ästhetischen Wert, der seine frühen Erzählungen auszeichnet und ihnen Leichtigkeit und Eleganz verleiht. WERKAUSGABEN: Jin Muchang, Peking: Zuojia, 1987; Xinling shi, Guangzhou: Huacheng, 1991; Zhang Chengzhi wenxue zuopin xuanji, 4 Bde., Haikou: Hainan, 1995; Zhang Chengzhi wenji, 5 Bde., Changsha: Hunan Wenyi, 1999. ÜBERSETZUNGEN: »Grüne Nacht«, übers. von Li Nai, in: Chinablätter 1 (1982), S. 61; The Black Steed, übers. von Stephen Fleming, Peking: Panda Books, 1990; »Dazzling Poma«, übers. von Steven L. Riep, in: Worlds of Modern Chinese Fiction. Short Stories & Novellas from the Peopleʼs Republic, Taiwan & Hong Kong, hg. von Michael S. Duke, Armonk et al.: M.E. Sharpe Inc., 1991, S. 329–338. SEKUNDÄRLITERATUR: Liu Xinmin: »Self-Making in the Wilderness: Zhang Chengzhiʼs Reinvention of Ethnic Identity«, in: American Journal of Chinese Studies 5, 1 (1998), S. 89–110; ders.: »Deciphering the Populist Gadfly: Cultural Polemic around Zhang Chengzhiʼs ›Religious Sublime‹«, in: The Modern Chinese Literary Essay: Defining the Chinese Self in the 20th Century, hg. von Martin Woesler, Bochum: Bochum University Press, 2000, S. 227–237; Zhang Xuelian: »Muslim Identity in the Writing of Zhang Chengzhi«, in: Journal of the Oriental Society of Australia 32/33 (2000/2001), S. 97–116; Xu Jian: »Radical Ethnicity and Apocryphal History: Reading the Sublime Object of Humanism in Zhang Chengzhiʼs Late Fictions«, in: positions: east asia cultures critique 10, 3 (Winter 2002), S. 526–546; Xiaobing Wang-Riese: Zwischen Moderne und Tradition. Leben und Werk des zeitgenössischen chinesischen Schriftstellers Zhang Chengzhi, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2004; Wu Jin: The Voices of Revolt: Zhang Chengzhi, Wang Shuo and Wang Xiaobo, Diss., University of Oregon, 2005; Howard Y.F. Choy: »To Construct an Unknown China: Ethnoreligious Historiography in Zhang Chengzhiʼs Islamic Fiction«, in: positions: east asia cultures critique 14, 3 (Winter 2006), S. 687–715; Huang Yibing: »Zhang Chengzhi: Striving for Alternative National Forms, or, Old Red Guard and New Cultural Heretic«, in: ders. (Hg.): Contemporary Chinese Literature. From the Cultural Revolution to the Future, New York: Palgrave Macmillan, 2007; Stefan Henning: »History of the Soul: A Chinese Writer, Nietzsche,

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Zhang Dai 张岱 and Tiananmen 1989«, in: Comparative Studies in Society and History 51 (2009), S. 473– 501. [XWR]

Zhang Dai 张岱 (auch: Zhang Weicheng, zi: Zongzi, Shigong, hao: Taoʼan, Dieʼan jushi etc., 1599 ‒ ca. 1676), geb. in Shaoxing (Provinz Zhejiang) Zhang Dai stammte aus einer wohlhabenden Familie und führte zunächst ein Leben, in dem es an nichts fehlte. Dies endete mit dem Sturz der Ming-Dynastie 1644: Zhang und seine Angehörigen wurden all ihres Besitzes beraubt, danach lebte er zeitweise zurückgezogen in den Bergen. Der Niedergang des Kaiserhauses war auch der Anlaß für Zhang, die glanzvollen Eindrücke der letzten Jahrzehnte in zahlreichen kürzeren und längeren Prosatexten festzuhalten, die in den Sammlungen Taoʼans Erinnerungen an vergangene Träume (Taoʼan mengyi), Suche nach Träumen am Westsee (Xihu meng xun) und Gesammelte Texte aus der Langhuan-Bibliothek des Himmelskaisers (Langhuan wenji) zu finden sind. Bei seiner Weiterentwicklung der Literaturauffassungen der »Gongʼan«-Schule um (→) Yuan Hongdao orientierte sich Zhang vergleichsweise wenig an den klassischen Textvorlagen und war um einen stärker individuellen, unkonventionellen Stil bemüht, der vielleicht am ehesten in der vom Dynastieuntergang ausgelösten Wehmut vieler seiner Texte zu spüren ist. Das Themenspektrum seiner Prosa ist sehr weit; darunter finden sich stimmungsvolle Abhandlungen zu Festen und Feiern, aber auch zu Parkbesuchen, Reisen usw. Besonders die Darstellungen von Hangzhou, wo Zhang lebte, gelten als herausragende Beispiele seiner Prosakunst. Als Historiker gewann Zhang Dai auf die spätere Geschichtsschreibung großen Einfluß mit seinem Buch des Steinkästchens (Shigui shu), das bereits als eine Geschichte der Ming-Dynastie (1368 – 1644) angelegt ist und den zur Qing-Zeit in Auftrag gegebenen offiziellen Darstellungen in vieler Hinsicht als Quelle und Vorbild diente. WERKAUSGABEN: Xihu meng xun, mit Anm. von Sun Jiasui, Hangzhou: Zhejiang Wenyi, 1984; Langhuan wenji, Changsha: Yuelu Shushe, 1985; Zhang Dai shiwenji, mit Anm. von Xia Xianchun, Shanghai: Shanghai Guji, 1991; Zhang Dai sanwen xuanji, hg. u. mit Anm. von Xia Xianchun, Tientsin: Baihuawen, 1997; Taoʼan mengyi, Nanjing: Jiangsu Guji, 2000. ÜBERSETZUNGEN: »Six Essays«, übers. von D.E. Pollard u. Soh Yong Kian, in: Renditions 33 & 34 (Autumn & Spring 1990), S. 155‒166. SEKUNDÄRLITERATUR: Hu Yimin: Zhang Dai pingzhuan, Nanjing: Nanjing Daxue, 2002; ders.: Zhang Dai yanjiu, Hefei: Anhui Jiaoyu, 2002. [TZ]

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Zhang Deyi 张德彝

Zhang Deyi 张德彝 (eig. Zhang Deming, zi: Zaichu, 1847 ‒ 1918), geb. in Tieling (Provinz Liaoning) Zhang Deyi war einer der wichtigsten Reiseschriftsteller der späten Qing-Dynastie (1644 – 1911). Sein Weg hinaus in die Welt begann mit einem Studium an der 1862 in Peking gegründeten Fremdsprachenschule Tongwenguan, zu deren ersten zehn Studenten er gehörte. Nach dem Studienabschluß 1866 wurde Zhang in das Gefolge des Gesandten Bin Chun aufgenommen, als dieser zehn Länder Europas, darunter Frankreich, England, Preußen und Rußland, bereiste. Fünf Jahre später begleitete Zhang den Gesandten Chong Hou als Übersetzer nach Frankreich und wurde dabei Zeuge der Pariser Kommune. Nachdem er für eine Weile als Englischlehrer des Kaisers Guangxu tätig gewesen war, reiste er 1896 als Botschaftsrat mit dem Gesandten Luo Fenglu u.a. nach England, Italien und Belgien. Im Jahre 1901 wurde Zhang endlich selbst zum Gesandten für England, Italien und Belgien bestellt, ein Jahr darauf ernannte man ihn zum Botschafter in London. Auf Grundlage der Tagebücher, die auf seinen insgesamt acht oft lange währenden Reisen ins Ausland entstanden, fertigte Zhang später ausführliche Reisebeschreibungen an, die unter Titeln wie Wundersame Berichte von den Reisen über das Meer (Hanghai shuqi), Aufzeichnungen von der Rundreise durch Europa und Amerika (Ou Mei huanyouji) oder Beschreibungen der Gesandtschaftsreise nach Frankreich (Sui shi Faguo ji) erschienen. WERKAUSGABEN: Ou Mei huanyouji, Changsha: Hunan Renmin, 1981; Xibu taiyang, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1986. ÜBERSETZUNGEN: Diary of a Chinese Diplomat, übers. von Simon Johnstone, Peking: Chinese Literature Press, 1992; »Tagebuch über eine Gesandtschaftsreise in Preußen, Belgien und Frankreich« [1866], in: Ying Sun: Aus dem Reich der Mitte in die Welt hinaus, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1997, S. 71‒76; »Bericht über die Gesandtschaftsreise nach England und Rußland« [1877], in: ebd., S. 83‒93. SEKUNDÄRLITERATUR: Ding Jianhong: »Zhang Deyi und Deutschland«, in: Deutschland und China. Beiträge des Zweiten Internationalen Symposiums zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen, hg. von Kuo Heng-yü u. Mechthild Leutner, Berlin: Minerva Publikation, 1991, S. 135‒160. [TZ]

Zhang Heng 张衡 (zi: Pingzi, 78 – 139), geb. in Xiʼao in der damaligen Provinz Nanyang (heute Provinz Henan) Der bedeutende fu-Dichter, Astronom und Geologe Zhang Heng lebte während der Östlichen Han-Dynastie (25 – 220 n.Chr.). Sein Vater Zhang Kan war Gouverneur der Provinz Sichuan (damals Shu). Zhang Heng studierte ab dem Jahr 95 in der Hauptstadt Luoyang und tat sich besonders als Mathematiker und Astronom hervor. Um 100 n.Chr. wurde er für ein Amt bei Hofe vorgeschlagen, doch es zog

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Zhang Henshui 张恨水

ihn zurück nach Nanyang (der damaligen Provinzhauptstadt Henans), wo er für neun Jahre als Sekretär des dortigen Gouverneurs tätig war und auch danach noch einige Jahre verweilte. Im Jahre 115 wurde er von Kaiser Andi (reg. 107 – 125) als Oberster Astronom (taishiling) an das kaiserliche Observatorium in Luoyang berufen. Zhang Heng starb mit 62 Jahren im Rang eines Ministers (shangshu) der Regierung Kaiser Shundis (reg. 126 ‒ 144). Wie sehr er in seinen letzten Arbeitsjahren bereits den Ruhestand herbeigesehnt hatte, ist eindrucksvoll und berührend in seinem wohl berühmtesten Prosagedicht »Poetische Beschreibung einer Rückkehr aufs Land« (»Guitianfu«) nachzulesen. Zhang Heng hat insgesamt 13 fu-Gedichte hinterlassen, darunter auch eine an (→) Ban Gu orientierte »Poetische Beschreibung beider Hauptstädte« (»Liangjingfu«), die die Han-Hauptstädte Changʼan und Luoyang vergleicht. Er galt als strenger Hüter dieser an archaische Traditionen anknüpfenden literarischen Gattung, die durch die Aufnahme in das Curriculum der Beamtenprüfung an Qualität zu verlieren drohte. Ausgehend von der Mischform der Poetischen Beschreibung (fu), die neben ihrer in Prosa abgefaßten Vorrede (xu) zumeist Verszeilen zu drei oder sieben Silben aufwies, erprobte Zhang Heng den siebensilbigen Vers auch in der Form des nun aufkommenden Gelehrtengedichts. Zu den frühesten Gedichten dieser Art (qiyan gushi) zählt sein »Gedicht vom vierfachen Kummer« (»Sichoushi«). WERKAUSGABEN: Zhang Heng shiwen ji jiaozhu, hg. u. komm. von Zhang Zhenze, Shanghai: Shanghai Guji, 1986; Zhang Heng wen xuanyi, hg. von Zhang Zaiyi et al., Chengdu: Bashu Shushe, 1990. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 1‒44 et passim; Ernest R. Hughes: Two Chinese Poets. Vignettes of Han Life and Thought, Princeton: Princeton University Press, 1960; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 86f.; Lai Jiadu: Zhang Heng, Shanghai: Shanghai Renmin, 1979; Xiao Tong: Wen xuan, or Selections of Refined Literature, übers. von David R. Knechtges, Bd. I, Princeton: Princeton University Press, 1982, S. 181‒335, Bd. III, Princeton: Princeton University Press, 1996, S. 105‒143. [HP]

Zhang Henshui 张恨水 (eig. Zhang Xinyuan, Pseudonyme: Chouhua Henshuisheng, Henshui, 1895 ‒ 1967), geb. in Nanchang (Provinz Jiangxi) Zhang Henshui wurde zu Hause schon sehr früh mit der klassischen chinesischen Literatur vertraut gemacht. Mit 19 Jahren mußte er seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen und ging daraufhin nach Shanghai. Zunächst war er als Praktikant in einer Theatergruppe, geleitet von Chen Dabei, tätig, später wurde er Reporter und Zeitungsredakteur in Wuhu und Peking. Seine schriftstellerische Tätigkeit begann

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Zhang Henshui 张恨水

1914. Er veröffentlichte Erzählungen im »Mandarinenten«-Stil, einer festen Erzählschablone, bei der es sich in der Regel um Liebesgeschichten zwischen einem talentierten Mann und einer schönen jungen Frau (caizi jiaren) handelte. Sein im klassischen Kapitelstil verfaßter Roman Inoffizielle Aufzeichnungen aus Peking (Chunming waishi) von 1924 machte ihn landesweit bekannt. 1926 kam sein zweiter Roman Der ruhmreiche Familienclan (Jinfen shijia) heraus, der eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Verfalls einer Großfamilie beschreibt: ein unbeständiger Mann aus gutem Haus, seine schöne, tapfere junge Frau, der Kampf innerhalb der Familie aus Rache und Machtbesessenheit. Dabei geht es um Gerechtigkeit, Loyalität und Emotionen, Themen, die von den damaligen Lesern erwartet wurden. Gerade weil Zhang ein Gespür für die Leserinteressen hatte, wurden seine Romane beispiellos erfolgreich. Als einflußreichster Roman Zhang Henshuis gilt jedoch Ehen zum Lachen und zum Weinen (Tixiao yinyuan). Darin vereint er Themen wie Liebe, soziale Verantwortung und Kungfu und liefert zugleich ein gesellschaftskritisches Porträt seiner Zeit. Während des Krieges gegen Japan verfaßte er kritische Texte: Werke wie der Roman 81 Träume (Bashiyi meng), die Novelle »Die Nacht des Gassenkampfs« (»Xiangzhan zhi ye«) und die Erzählsammlung Schießbögen (Wangong ji) verfolgen das klare Ziel, die chinesische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Japaner zu mobilisieren. Durch die neuen dramatischen Lebenserfahrungen richtete Zhang seine Aufmerksamkeit nun auch auf das Elend der ländlichen Bevölkerung in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Nach 1949 hatte Zhang Henshui verschiedene politische Funktionen inne und widmete sich in erster Linie der Neufassung historischer Stoffe und deren Verfilmung. Werke dieser Richtung sind Liang Shanbo und Zhu Yingtai (Liang Shanbo yu Zhu Yingtai, 1954), Die Geschichte von der weißen Schlange (Bai she zhuan, 1955), Die Frau namens Mengjiang (Mengjiang nü, 1957) und Südostwärts fliegt der Pfau (Kongque dongnan fei, 1958). Zhang Henshui wird aufgrund seines anfangs oft klischeehaften Erzählstils als Trivialautor bezeichnet. Viele seiner Werke unterstützen in der Tat diese These. Dennoch sind sie in allen Bevölkerungsschichten und auch bei seinen Schriftstellerkollegen sehr beliebt, was vermuten läßt, daß sich hinter der äußeren Trivialität etwas verbirgt, das große Faszination ausübt. Dieses Phänomen ist in der chinesischen mündlichen Erzählkunst ohnehin tief verwurzelt, und in der chinesischen Literaturgeschichte können Zhang Henshuis Werke als Beispiele für diese unterhaltende, leserorientierte Zielrichtung gelten. WERKAUSGABEN: Zhang Henshui quanji, 16 Bde., Taiyuan: Beiyue Wenyi, 1993. ÜBERSETZUNGEN: Shanghai Express. A Thirties Novel, übers. von William A. Lyell, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 1997. SEKUNDÄRLITERATUR: Hsiao-wei Wang Rupprecht: Departure and Return. Chang Hen-shui and the Chinese Narrative Tradition, Hongkong: Joint Publishing, 1987; Eva Wagner:

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Zhang Hua 张华 Zhang Henshuis »Einundachtzig Träume«. Gesellschaftskritik zwischen Tradition und Utopie, Bochum: Brockmeyer, 1990; Tommy M. McClellan: Zhang Henshui’s Fiction. Attempts to Reform the Traditional Chinese Novel, Diss., University of Edinburgh, 1991; Roland Altenburger: »Willing to Please: Zhang Henshui’s Novel ›Fate in Tears and Laughter‹ and Mao Dun’s Critique«, in: Autumn Floods. Essays in Honour of Marian Galik, hg. von Raoul D. Findeisen u. Robert Gassmann, Bern: Peter Lang, 1997, S. 185‒ 194; William A. Lyell: »Translator’s Afterword«, in: Zhang Henshui: Shanghai Express, Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 1997, S. 239‒256; T.M. McClellan: »Change and Continuity in the Fiction of Zhang Henshui (1895 ‒ 1967): from Oneiric Romanticism to Nightmare Realism«, in: Modern Chinese Literature 10, 1/2 (1998), S. 113‒133. [WH]

Zhang Hua 张华 (zi: Maoxian, 232 – 300), geb. in Fangcheng im Kreis Fanyang (heute Kreis Guʼan, Provinz Hebei) Zhang Huas Talent und Bildung wurden bereits früh erkannt; noch während der Wei-Dynastie (220 – 265) wurde er an den Kaiserhof empfohlen. Nach 265 diente er dem Gründer der Westlichen Jin-Dynastie (265 – 316), Kaiser Wudi (reg. 265 – 290), als Berater. Um das Jahr 280 nahm an der Eroberung des Staates Wu teil und wurde dafür mit dem Titel eines Grafen (hou) belohnt. In seinem letzten Lebensjahrzehnt prägte und lenkte er unter Kaiser Huidi (reg. 290 – 306) den Staatsapparat der Jin-Dynastie. Im Jahr 300 ließ ihn seine einflußreiche Stellung bei Hofe den Mut fassen, gegen einen versuchten Staatsstreich des Prinzen von Zhao aufzubegehren, wofür er von einem Gefolgsmann des Prinzen hingerichtet wurde. Zhang Hua war ein begabter Dichter von Prosagedichten (fu), tat sich jedoch besonders als Kompilator der Umfassenden Berichte (Bowuzhi) hervor. Diese Sammlung narrativer und zum Teil fiktionaler Prosa vereinte (in 10 Kapitel gegliedert) das damalige Wissen aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Mythologie, Geographie und Botanik. Sie hatte sowohl stilistisch als auch thematisch großen Einfluß auf Werke wie die Berichte von der Suche nach den Göttern (Soushenji) des (→) Gan Bao. WERKAUSGABEN: Bowuzhi jiaoshi, hg. von Tang Jiuchong, Taipeh: Xuesheng Shuju, 1980; Bowuzhi jiaozheng, hg. von Fan Ning, Peking: Zhonghua Shuju, 1980; Bowuzhi quanyi, komm. u. übers. von Zhu Hongjie, Guiyang: Guizhou Renmin, 1992. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 201‒203 et passim; Anna Staughair: Chang Hua. A Statesman-Poet of the Western Chin Dynasty, Canberra: Australian National University, 1973; Roger Greatrex: The Bowu Zhi, Stockholm: Föreningen för Orientaliska Studier, 1987; Xiao Tong: Wen xuan, or Selections of Refined Literature, übers. von David R. Knechtges, Bd. II, Princeton: Princeton University Press, 1987, S. 57‒63. [HP]

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Zhang Jie 张洁

Zhang Jie 张洁 (1937 ‒), geb. in Peking In Peking geboren, wuchs Zhang Jie bei ihrer Mutter auf, da der Vater früh verstarb. Nach dem Schulbesuch in Fushun (Provinz Liaoning) und in Guilin (Provinz Guangxi) kehrte sie 1956 nach Peking zurück, studierte dort Statistik und Stadtplanung und arbeitete nach dem Studium in der Zentralstelle für Maschinenbau. Mit dem literarischen Schreiben begann sie im Jahr 1978. Die Erzählungen »Das Kind aus dem Urwald« (»Senlin li laide haizi« und »Wer lebt schöner« (»Shui shenghuo de geng meihao«) erhielten 1978 und 1979 jeweils den nationalen Preis für die beste Erzählung. Es folgte wenig später die bekannte Erzählung »Vergeßt die Liebe nicht« (»Ai shi bu neng wangji de«), die das Thema Liebe in einer für die damalige Zeit völlig neuen Art und Weise behandelte: als Liebe einer Frau zu einem verheirateten Mann, die platonisch, unerfüllbar und dennoch in ihrem Wesen rein und unvergeßlich ist. Mit dieser Erzählung hatte das Thema Liebe, nach der Kulturrevolution und der mit ihr einhergehenden Tabuisierung von Gefühlen und Leidenschaften, in der chinesischen Literatur endlich wieder seinen Platz eingenommen. Die Romane Arche (Fangzhou, 1981) und Schwere Flügel (Chenzhong de chibang, 1981, überarbeitet 1984) gehören zu den wichtigsten Versuchen, die Zeit der Reformen in China literarisch zu verarbeiten: Während der erste drei Protagonistinnen in einer Frauenwohngemeinschaft porträtiert, geht es in dem zweiten Roman um die Umsetzung der Reformbestrebungen in einem staatlichen Automobilunternehmen. Die Autorin beschreibt darin die verschiedenen Konflikte zwischen Kollegen, Freunden und Familienangehörigen in der schwierigen Entwicklungsphase der Reform und liefert damit ein lebendiges Bild der Gesellschaft jener Zeit. Der Roman wurde 1986 mit dem Mao-Dun-Preis ausgezeichnet. Weitere wichtige Veröffentlichungen Zhang Jies sind der Erzählband Smaragd (Zumulü), die autobiographische Prosa Abschied von der Mutter (Shijieshang zui teng wo de neige ren qu le, 1993) und der Roman Wortlos (Wu zi, 1998; Mao-Dun-Preis 2005). Zhang Jie ist die einzige Schriftstellerin Chinas, die zweimal mit dem MaoDun-Preis geehrt wurde. Daneben erhielt sie weitere wichtige nationale und internationale Auszeichnungen für ihr literarisches Werk, darunter den Lao-She-Literaturpreis und den Malaparte-Preis in Italien. WERKAUSGABEN: Ai shi bu neng wangji de, Guangzhou: Huacheng, 1980; Chenzhong de chibang, Peking: Renmin Wenxue, 1981; Fangzhou, Peking: Beijing Chubanshe, 1983; Shijie shang zui teng wo de neige ren qu le, Peking: Zuojia, 1997; Wuzi, Shanghai: Shanghai Wenyi, 1998. ÜBERSETZUNGEN: Die Arche, übers. von Nelly Ma, München: Frauenoffensive, 1985; Schwere Flügel, übers. von Michael Kahn-Ackermann, München: Hanser, 1985; Solange nichts passiert, geschieht auch nichts, Satiren, übers. von Michael Kahn-Ackermann, München: Hanser, 1987; Abschied von der Mutter, übers. von Eva Müller, Zürich: Unionsverlag, 2000.

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Zhang Tianyi 张天翼 SEKUNDÄRLITERATUR: Alison Bailey: »Travelling Together: Narrative Technique in Zhang Jie’s ›The Ark‹«, in: Modern Chinese Women Writers. Critical Appraisals, hg. von Michael S. Duke, New York: M.E. Sharpe, Inc., 1989, S. 96‒111; Sylvia Chan: »Chang Chieh’s Fiction: In Search of Female Identity«, in: Issues and Studies 25, 9 (1989), S. 85‒104; Roxann Prazniak: »Feminist Humanism: Socialism and Neofeminism in the Writings of Zhang Jie«, in: Marxism and the Chinese Experience, hg. von Arif Dirlik u. Maurice Meisner, Armonk, New York: M.E. Sharpe, 1989, S. 269‒293; Gladys Yang: »Zhang Jie, a Controversial, Mainstream Writer«, in: The Time is Not Ripe. Contemporary China’s Best Writers and Their Stories, hg. von Yang Bian, Peking: Foreign Languages Press, 1991, S. 253‒260; Amy Tak-yee Lai: »Liberation, Confusion, Imprisonment: The Female Self in Ding Ling’s ›Diary of Miss Sophie‹ and Zhang Jie’s ›Love Must Not Be Forgotten‹«, in: Comparative Literature and Culture, 3 (Sept. 1998), S. 88‒103; Eva Müller: »Die Schriftstellerin Zhang Jie: Vom großen politischen Roman zum weiblichen Psychogramm«, in: China in seinen biographischen Dimensionen. Gedenkschrift für Helmut Martin, hg. von Christina Neder et al., Wiesbaden: Harrassowitz, 2001. [WH]

Zhang Tianyi 张天翼 (eig. Zhang Yuanding, hao: Yizhi, Tie Chihan, 1906 ‒ 1985), geb. in Xiangxiang (Provinz Hunan) Zhang Tianyi stammte aus Xiangxiang in der Provinz Hunan. Nach der Schule besuchte er 1924 zunächst die Kunstakademie in Shanghai und studierte dort Malerei. 1926 ging er nach Peking und besuchte den Vorbereitungskurs für ein Studium an der Universität Peking. Dort wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei. Ab 1922 veröffentlichte Zhang Tianyi in verschiedenen Zeitschriften Erzählungen und kurze Artikel. Erzählungen wie »Der Traum von dreieinhalb Tagen« (»San tian ban de meng«), »21« (»Ershiyi ge«), »Die Brüste eines Mädchens« (»Jibei yu naizi«), »Das Bollwerk« (»Dizhu«) und »Der letzte Zug« (»Zuihou lieche«) erweckten die Aufmerksamkeit von (→) Lu Xun und Qu Qiubai und wurden von ersterem teilweise für die Veröffentlichung im Ausland empfohlen. In satirischem Ton karikiert Zhang das Leben der Intellektuellen und das kleinkarierte Stadtbürgertum. In der Erzählung »Vater und Sohn der Familie Bao« (»Bao shi fu zi«) etwa beschreibt er einen ehrgeizigen Vater, der, wie das Sprichwort sagt, »im Sohn einen Drachen erhofft«, und seinen primitiven Sohn, der nur den reichen Schein seiner Kommilitonen begehrt und seinen Vater durch seine schulischen Leistungen tief enttäuscht. Ab 1931 erschienen Romane wie Tagebuch aus dem Land der Gespenster (Guitu riji, 1931), Zahnrad (Chilun, 1932), Ein Jahr (Yi nian, 1933) und Der wundersame Heros in Shanghais Konzessionen (Yangjingbang qixia, 1936), in denen Zhang Tianyi sowohl das fehlende Engagement der Chinesen für ihr Land als auch die politischen Mißstände der Parteien kritisiert. Ab 1932 befaßte er sich zudem mit der Kinder- und Jugendliteratur und veröffentlichte Werke wie Bienen

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Zhang Xianliang 张贤亮

(Mifeng, Sammlung kurzer Geschichten, 1933), Großer Lin und kleiner Lin (Da Lin he xiao Lin, 1937) und Das Reich der goldenen Ente (Jin ya diguo, 1942/43). In seiner Schaffenszeit von knapp 20 Jahren hat Zhang Tianyi wichtige sozialkritische Werke geschaffen und darin die inneren Konflikte der Menschen angesichts der unruhigen politischen Lage, des Wandels der Gesellschaft und der Zerstörung durch den Krieg literarisch verarbeitet. WERKAUSGABEN: Zhang Tianyi wenji, 4 Bde., Shanghai: Wenyi, 1985. ÜBERSETZUNGEN: Geschichten von Jungpionieren Chinas, übers. von Tschen Yüan, Peking: Verlag für Fremdsprachige Literatur, 1954. SEKUNDÄRLITERATUR: C.T. Hsia: A History of Modern Chinese Fiction, New Haven: Yale University Press, 21971, S. 212‒236; Shu-ying Tsau: Zhang Tianyi’s Fiction. The Beginning of Proletarian Literature in China, Diss., University of Toronto, 1976; Marsten Anderson: »Realism’s Last Stand: Character and Ideology in Zhang Tianyi’s Three Sketches«, in: Modern Chinese Literature 5, 2 (1989), S. 179‒196; ders.: The Limits of Realism. Chinese Fiction in the Revolutionary Period, Berkeley: University of California Press, 1990, S. 119‒179; Yifeng Sun: Fragmentation and Dramatic Moments. Zhang Tianyi and the Narrative Discourse of Upheaval in Modern China, New York: Peter Lang, 2002. [WH]

Zhang Xianliang 张贤亮 (1936 ‒), geb. in Nanjing (Provinz Jiangsu) Zhang Xianliang stammt aus der Stadt Nanjing in der Provinz Jiangsu. Nach der Mittelschule wurde er Dozent in einer Kaderschule in der Provinz Gansu. 1958 wurde er wegen angeblicher konterrevolutionärer Tendenzen in seinen Gedichten politisch verfolgt und in einem Arbeitslager interniert. Dort mußte er bleiben, bis er 1978 politisch rehabilitiert wurde. 1981 erschienen seine erste Novelle Liebesgeschichte im Gefängnis (Tulao qinghua) und die Erzählsammlung Seele und Leib (Ling yu rou). Darin thematisiert er die politische Verfolgung der Intellektuellen während der Kulturrevolution (1966 – 1976) und ihre physischen und psychischen Leiden. Den Höhepunkt in seiner Aufarbeitung dieser schweren Zeit erreichte er mit den zwei Novellen Die Pionierbäume (Lühua shu, 1984) und Die Hälfte des Mannes ist die Frau (Nanren de yiban shi nüren, 1985), die er später unter der Überschrift »Bekenntnisse eines Materialisten« (»Weiwulunzhe de qishilu«) zusammenfaßte. Beide Novellen kreisen um das Tabuthema Liebe und Sexualität in einem totalitären System. Der Protagonist, ein ins Arbeitslager geschickter Intellektueller, versucht seine Sexualität zu unterdrücken, indem er Ablenkung in der geistigen Beschäftigung mit den philosophischen Schriften von Marx sucht. Aufgrund der Thematisierung von Sexualität als etwas Triebhaftem lösten Zhangs Werke eine heftige Debatte aus. Auch die dargestellten vorehelichen sexuellen Beziehungen und psychisch bedingten sexuellen Störungen waren fremde Themen in der vorherrschenden sozialistischen Literatur.

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Zhang Zhupo 张竹坡

Zhang Xianliang schrieb darüber hinaus auch Novellen über die Reformpolitik und ihre Folgen, wie Nachfahren der Drachen (Longzhong, 1982) und Die Eigenschaften des Mannes (Nanren de fengge, 1983). Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählt die Novelle Gewohnt zu sterben (Xiguan siwang, 1989). Zhang Xianliang lebt heute als Geschäftsmann in Yinchuan in der Provinz Ningxia. WERKAUSGABEN: Lühua shu, Peking: Zuojia, 1985; Nanren de yiban shi nüren, Peking: Zuojia, 1985; Xiguan siwang, Tientsing: Baihua, 1989. ÜBERSETZUNGEN: Mimosa, Peking: Panda, 1985; Die Hälfte des Mannes ist die Frau, übers. von Petra Retzlaff, Frankfurt: Limes, 1989; Die Hälfte des Mannes ist Frau, übers. von Konrad Herrmann, Berlin: Neues Leben, 1990; Die Pionierbäume. Ein Roman der Volksrepublik China des Jahres 1984, übers. von Beatrice Breitenmesser, Bochum: Brockmeyer, 1990; Gewohnt zu sterben, übers. von Rainer Schwarz, Berlin: edition q, 1994. SEKUNDÄRLITERATUR: Yu-shih Chen: »Harmony and Equality: Notes on ›Mimosa‹ and ›Ark‹«, in: Modern Chinese Literature 4, 1/2 (1988), S. 163‒170; Kwok-kan Tam: »Sexuality and Power in Zhang Xianliang’s Novel Half of Man is Woman«, in: Modern Chinese Literature 5, 1 (1989), S. 55‒72; Jeffrey C. Kinkley: »A Bettelheimian Interpretation of Chang Hsien-liang’s Labor-Camp Fiction«, in: Asia Major, TS 4, 2 (1991), S. 83‒114; Douwe Fokkema: »Modern Chinese Literature as a Result of Acculturation: The Intriguing Case of Zhang Xianliang«, in: Words from the West. Western Texts in Chinese Literary Context. Essays to Honor Erik Zurcher on his Sixty-fifth Birthday, hg. von Lloyd Haft, Leiden: CNWS Publications, 1993, S. 26‒34; Zuyan Zhou: »Animal Symbolism and Political Dissidence in ›Half of Man is Woman‹«, in: Modern Chinese Literature 8 (1994), S. 69‒95; Daming Wu: Zhang Xianliang: The Stories of Revelation, Durham: Durham East Asia Papers, University of Durham, 1995; Gang Yue: »Postrevolutionary Leftovers: Zhang Xianliang and Ah Cheng«, in: The Mouth that Begs: Hunger, Cannibalism, and the Politics of Eating in Modern China, Durham: Duke University Press, 1999, S. 184‒221; Jincai Fang: The Crisis of Emasculation and the Restoration of Patriarchy in the Fiction of Chinese Contemporary Male Writers Zhang Xianliang, Mo Yan, and Jia Pingwa, Diss., Vancouver: University of British Columbia, 2004. [WH]

Zhang Zhupo 张竹坡 (auch: Zhang Daoshen, zi: Zide, hao: Xingshi, 1670 ‒ 1698), geb. in Tongshan (Provinz Jiangsu) Der bekannte Romankritiker Zhang Zhupo wuchs in Xuzhou auf, wohin die ursprünglich aus Zhejiang stammende Familie zur Mitte der Ming-Zeit (1368 – 1644) übergesiedelt war. In seiner Umgebung genoß Zhang schon als junger Mensch den Ruf umfassender Bildung. Seine weiteren Bemühungen um Ansehen und Ruhm lassen auf einen hohen Ehrgeiz schließen. Mit fünfzehn Jahren nahm er erfolgreich an den Prüfungen auf der Kreisebene teil, doch ließ es der frühe Tod des

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Zheng Banqiao 郑板桥

Vaters kurze Zeit später nicht zu, daß er sich weiter seinen Studien widmete. Nachdem er 1693 zum vierten Mal bei den Magisterprüfungen durchgefallen war, hörte er von der »Dichtergesellschaft des Langen Friedens« (Chang an shishe) in Peking und machte sich auf den Weg in die Hauptstadt, um seine Zuhörer dort mit mehr als hundert Gedichten zu beeindrucken. Mit Ehren überhäuft, kehrte er anschließend in das heimatliche Xuzhou zurück und verbrachte dort den ruhigsten Abschnitt seines Lebens, der aber nur von kurzer Dauer war. Gerade sechsundzwanzigjährig, fertigte er einen umfassenden Kommentar zum Jin Ping Mei an, der einen äußerst wichtigen Beitrag zur chinesischen Romantheorie darstellt. Nicht lange darauf zog Zhang nach Suzhou um, wo er sich am Bau des Yongding-Kanals beteiligen wollte. Doch kurze Zeit später verstarb er – wie es heißt, aus Kummer darüber, daß der Bau schon fertig war und er keinen angemessenen Ort fand, um seine Talente unter Beweis zu stellen. Zhangs Analyse des Jin Ping Mei hat Vorbildcharakter; er hat damit in China literaturkritische Maßstäbe gesetzt. In einleitenden Bemerkungen, Kapitelkommentaren und Angaben im Text ging Zhang auf stoffliche Fragen, die Struktur, Sprache und den gedanklichen Gehalt des Werks ein. Seine Erkenntnisse faßte Zhang zudem in einem Essay zur Lesart des Jin Ping Mei zusammen. Im Zuge seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Buch sprach er es von dem früh geäußerten Vorwurf der Pornographie frei und erkannte statt dessen den Verfall der Gesellschaft als Leitthema. Nicht zuletzt dadurch verlieh er dem frühen Roman in China wichtige Impulse, da er ihm ein ganz neues Beschreibungsfeld eröffnete, fort von der Historie und hin zum konkreten familiären Lebensumfeld der Menschen. WERKAUSGABEN: Zhang Zhupo piping Jin Ping Mei, mit Anm. von Wang Rumei et al., Jinan: Qilu Shushe, 1991. ÜBERSETZUNGEN: »How to read Jin Ping Mei«, übers. von David T. Roy, in: Renditions 24 (Autumn 1985), S. 63‒101. SEKUNDÄRLITERATUR: David T. Roy: »Chang Chu-p’o’s Commentary on the Chin P’ing Mei«, in: Andrew Plaks: Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton University Press, 1977, S. 115‒123; Wu Gan: Jin Ping Mei pingdian Zhang Zhupo nianpu, Shenyang: Liaoning Renmin, 1987; ders.: Zhang Zhupo yu Jin Ping Mei, Tientsin: Baihua Wenyi, 1987. [TZ]

Zheng Banqiao 郑板桥 (eig. Zheng Xie, zi: Kerou, hao: Banqiao, Banqiao daoren, 1693 ‒ 1765), geb. in Xinghua (Provinz Jiangsu) Einen Namen machte sich Zheng mit furchtlosen Reden als einer der »Acht Exzentriker von Yangzhou«, wo er nach der Aufgabe seiner Ämter – 1736 hatte er die Prüfung zum Doktor (jinshi) abgelegt und auf mehreren Posten als Kreisvorsteher gedient – vom Verkauf seiner Bilder lebte und ansonsten ein geselliges Leben

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Zheng Chouyu 郑愁予

im Kreise seiner Freunde und Anhänger pflegte, unter denen sich auch der eine oder andere Mäzen befand. Zheng war vielseitig begabt; in der Malerei tat sich er vor allem mit Darstellungen von Orchideen und Bambus hervor, doch beherrschte er auch die Kalligraphie und entwickelte dabei einen eigenen Stil. Seine Gedichte sind gefühlvolle Schilderungen aus dem Leben, in denen bereits eine Form der sozialen Kritik anklingt, die auf die Moderne vorausweist. An Prosa sind vor allem die Briefe an Familienangehörige zu nennen, die in einem natürlichen, ungekünstelten Stil abgefaßt sind. WERKAUSGABEN: Zheng Banqiao quanji, Yangzhou: Jiangsu Guangling Guji Keyinshe, 1997; Zheng Banqiao shici wenxuan, Peking: Zuojia, 1997; Zheng Banqiao wenji, Chengdu: Bashu Shushe, 1997. ÜBERSETZUNGEN: The Wisdom of China, hg. von Lin Yutang, New York: Random House, 1942, S. 1070‒1082; Lettres Familiales, übers. von Jean-Pierre Diény, Fougères: Encre Marine, 1996. SEKUNDÄRLITERATUR: Karl-Heinz Pohl: Cheng Pan-ch’iao: Poet, Painter and Calligrapher, Nettetal: Steyler, 1990. [TZ]

Zheng Chouyu 郑愁予 (eig. Zheng Wentao, 1933 ‒), geb. in Jinan (Provinz Shandong) Zheng Chouyu veröffentlichte bereits in seiner Schulzeit Gedichte. 1949 ging er mit seiner Familie nach Taiwan. Ab 1954 publizierte er kontinuierlich Gedichte. Nach dem Militärdienst war er an der Gründung des Klubs für moderne Lyrik (Xiandaipai shishe) beteiligt. Nach seinem Studium an der Zhongxing-Universität in Taiwan war er zeitweise in der Hafenbehörde von Jilong beschäftigt. 1968 reiste er in die Vereinigten Staaten und wurde Teilnehmer des internationalen Schriftstellerprogramms der Universität Iowa, ab 1970 studierte er dort Kreatives Schreiben. Später arbeitete er an verschiedenen Universitäten in den USA als Dozent und Professor. Zheng Chouyus Gedichte sind bekannt für ihre lyrische Atmosphäre, die sich durch Leichtigkeit in der Wortwahl, Melancholie in der bildlichen Komposition und Klangharmonie in der rhythmischen Ausgewogenheit der Silben auszeichnet. Wichtige Werke stammen in erster Linie aus den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Viele Gedichte seiner Lyriksammlungen Traumland (Mengtu shang, 1955), Vermächtnis (Yibo, 1966), Sklavin unter dem Fenster (Chuangwai de nünu, 1967) und Lange Lieder (Chang ge, 1968) sind bis heute sehr beliebt in Taiwan, vor allem unter Jugendlichen und jungen Studenten, seit den 90er Jahren auch in der VR China. Das Grundmotiv in der Lyrik Zheng Chouyus ist das Gefühl der Verlorenheit und des Verlusts. Die bewußt vage gehaltenen Zeitangaben in seinen Gedichten lassen viele Interpretationen zu und könnten sowohl die Zeit des Kriegs

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Zheng Guangzu 郑光祖

gegen Japan oder die Zeit des Bürgerkriegs als auch die Zeit der politischen Verfolgung durch die Guomindang in Taiwan betreffen. Zheng Chouyus Gedichte sind mehrfach vertont worden. Daraus sind Lieder wie »Ein schöner Irrtum« (»Meili de cuowu«) und »Mönchsgesang« (»Ji«) entstanden. WERKAUSGABEN: Yan ren xing, Taipeh: Hongfan Shudian, 1980; Shi hua chana, Hongkong: Sanlian Shudian, 1985; Cixiu de geyao, Taipeh: Lianhe Wenxue Zazhishe, 1987; Jimode ren zuo zhe kan hua, Taipeh: Lianhe Wenxue Zazhishe, 1993; Zheng Chouyu shiji, 2 Bde., Taipeh: Hongfan Shudian, 2003f. ÜBERSETZUNGEN: »Sechs Gedichte«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919‒1984, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 174‒181; »Vier Gedichte«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Phönixbaum, hg. von Tienchi Martin-Liao u. Ricarda Daberkow, bearbeitet von Christiane Hammer, Bochum: projekt verlag, 2000, S. 146‒153; »Rote Erde«, übers. von Wolfgang Kubin, in: Orientierungen 2/2007, S. 63‒68. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: »Der schwarze Ritter auf dem einsamen Pferd. Bemerkungen zu Zheng Chouyus poetischer Variante des fahrenden Liebhabers«, in: Drachenboot 1/1987, S. 23‒29; Julie Chiu: »Free-verse Poems in fixed Forms: Tracing the ›Silhouette‹ of Zheng Chouyu’s Early Poems«, in: Texas Studies in Literature and Language 47, 2 (2005), S. 188‒218; Wolfgang Kubin: »›Ich bin der Frühling, den der Norden nicht erträgt‹. Zheng Chouyu in der Bundeskunsthalle« in: Orientierungen 1/2005, S. 129‒143. [WH]

Zheng Guangzu 郑光祖 (zi: Dehui, ca. 1260 ‒ ca. 1320), geb. in Xiangling/Pingyang (heute Provinz Shanxi) Obwohl Zheng Guangzu zu den auch schon zu Lebzeiten bekanntesten Dramatikern gehörte, so ist dennoch aus seinem Leben wenig bekannt geworden. Man weiß nur, daß er als kleiner Beamter in der Lokalverwaltung des heutigen Hangzhou tätig gewesen ist. Auch über sein überliefertes Werk ist keine letzte Klarheit zu gewinnen. Von den 18 ihm zugeschriebenen Mongolendramen (zaju) sind zwar acht unter seinem Namen erhalten, werden aber mitunter auch anderen Zeitgenossen zugedacht. Man teilt seine Stücke in Spiele von Krieg und Regierung sowie in Spiele von Poesie und Liebe ein. Unter letzteren hat das Drama Eine schöne Seele verläßt ihren Leib (Qiannü li hun) bislang den größten Erfolg gehabt. Es handelt von der Doppelexistenz einer Frau, die um der Liebe willen als Seele dem Mann in die Ferne folgt und den Leib bei den Eltern zurückläßt. Das Stück, das mit seiner Sicht von Passion und Leid eher dem Geist der Ming- (1368 – 1644) als dem der YuanZeit (1279 – 1368) zu folgen scheint, hat auf die Romanzen der nachfolgenden Jahrhunderte großen Einfluß ausgeübt und den späteren Liebeskult mitbegründen bzw. vertiefen helfen.

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Zheng Zhenduo 郑振铎 WERKAUSGABEN: Zheng Guangzu ji, hg. von Feng Junjie, Taiyuan: Shanxi Renmin, 1992. ÜBERSETZUNGEN: Monks, Bandits, Lovers and Immortals. Eleven Early Chinese Plays, übers. von Stephen H. West u. Wilt L. Idema, Indianapolis: Hackett, 2010, S. 195‒236 [»Dazed Behind the Green Lattice, Qiannü’s Soul Leaves her Body«]. SEKUNDÄRLITERATUR: Yuanqu jianshang cidian, hg. von He Xinhui, Peking: Zhongguo Funü, 1988, S. 1143‒1148 [Auszug nebst Deutung]. [WK]

Zheng Tingyu 郑廷玉 (fl. 1251), geb. im heutigen Anyang (Provinz Henan) Über den Dramatiker Zheng Tingyu, dessen Vorname unterschiedlich geschrieben wird, ist biographisch so gut wie nichts bekannt. Von den 22 ihm zugeschriebenen Werken sind fünf erhalten. Vier davon hat Zang Maoxun (1550 ‒ 1620) in seine einflußreiche Auswahl von Mongolendramen (um 1615) übernommen. Die Stücke des Zheng Tingyu behandeln Rechtsfälle, religiöse und historische Themen. Keines der Dramen hat sich prominent beim Publikum und bei der Literaturkritik durchsetzen können. Allerdings verdient ein Aspekt besondere Achtung: Der Autor hat ein besonderes Gespür für die allmächtige Rolle des Geldes in der damaligen Gesellschaft. Insofern erscheint eine soziologische Auseinandersetzung mit seinem Werk ergiebiger als eine literaturwissenschaftliche. WERKAUSGABEN: Yuanqu xuan, hg. von Zang Maoxun, Hangzhou: Zhejiang Guji, 1998, S. 139‒146 [»Chu Zhao gong« (»Herzog Zhao von Chu«)], 424‒434 [»Houting hua« (»Blüten am hinteren Palast«)], 481‒490 [»Ren zi ji« (»Die Geschichte vom Zeichen ›Geduld‹)], 713‒724 [»Kanqian nu« (»Der Sklave seines Geldes«)]. ÜBERSETZUNGEN: Chinesische Dramen der Yüan-Dynastie. Zehn nachgelassene Übersetzungen von Alfred Forke, hg. von Martin Gimm, Wiesbaden: Steiner, 1978, S. 430‒499 [»Der Sklave seines Geldes«]. SEKUNDÄRLITERATUR: Roderich Ptak: Die Dramen Cheng T’ing-yüs, Bad Boll: Klemmerberg-Verlag, 1979 [mit Übers.: »Phönixhaarnadeln« (»Jinfeng chai«), S. 8–90]; Sanbai zhong gudian mingju xinshang, hg. von Xu Peijun et al., Shanghai: Shanghai Cishu, 2005, S. 90‒97. [WK]

Zheng Zhenduo 郑振铎 (Pseudonyme: Xidi, Guo Yuanxin, Wenji und Bingfen, 1898 ‒ 1958), geb. in Changle (Provinz Fujian) Aus dem Kreis Changle in der Provinz Fujian stammend, kam Zheng Zhenduo 1917 nach Peking an die Fachschule für Eisenbahnverwaltung. Während der Bewegung des 4. Mai (1919) war er Aktivist und mit Qu Qiubai Begründer der Zeitschriften Neue Gesellschaft (Xin shehui) und Humanismus (Rendao). Später war er Mitherausgeber wichtiger Literaturzeitschriften wie der Monatsschrift für Er-

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Zhong Hong 锺嵘

zählkunst (Xiaoshuo yuebao) und der Vierteljährlichen Literaturzeitschrift (Wenxue jikan). 1922 machte er die chinesischen Leser mit dem indischen Dichter Tagore bekannt, von dem er zwei Gedichtbände ins Chinesische übersetzte: Fliegender Vogel (Fei niao ji) und Neumond (Xinyue ji). Ab 1928 veröffentlichte er zahlreiche Erzählsammlungen, wie die Familiengeschichten (Jiating de gushi, 1928), Die Verhaftung des Feuerfängers (Quhuozhe daipu, 1934), Der Krüppel (Goulou ji, 1934) und Drei Jahre (San nian, 1940). Darüber hinaus publizierte er auch Gedichte und Essays in mehreren Sammelbänden. Neben seiner literarischen Arbeit beschäftigte Zheng Zhenduo sich auch mit der wissenschaftlichen Erforschung der chinesischen Literatur. WERKAUSGABEN: Chen Fukang: Yidai caihua: Zheng Zhenduo zhuan, Shanghai: Shanghai Renmin, 1996; Zheng Zhenduo quanji, 17 Bde., Shijiazhuang: Huashan Wenyi, 1998; Lu Rongchun: Zheng Zhenduo zhuan, Fuzhou: Haixia Wenyi, 1998. [WH]

Zhong Hong 锺嵘 (auch: Zhong Rong, zi: Zhongwei, ca. 467 – 518), geb. in Changshe, im Kreis Yingchuan (heute Changge, Provinz Henan) Zhong Hong entstammte einer Beamtenfamilie, die sich vornehmlich in militärischen Ämtern Verdienste erworben hatte. Sein Vater Zhong Dao hatte während der Südlichen Qi-Dynastie (479 – 502) einem Provinzgouverneur als Militärsekretär (zhongjun) gedient. Auch Zhong Hong selbst bekleidete während der Qi- und frühen Liang-Dynastie (502 – 557) zivile und militärische Ämter an verschiedenen Prinzenhöfen. Zuletzt war er persönlicher Sekretär des Prinzen von Jinʼan, des späteren Kaisers Jianwendi (Xiao Gang, reg. 550 – 551) der Liang-Dynastie (vgl. [→] Xiao Tong) und Auftraggebers einer einflußreichen Sammlung von Lyrik im Palaststil (gongtishi) mit dem Titel Neue Gesänge der Jadeterrasse (Yutai xinyong, um 545) – einer Gattung, die Zhong Hong verabscheut hatte. Zhong wurde als Autor des literaturkritischen Werkes Klassifizierung der Dichtung (Shipin) berühmt. Ursprünglich hieß diese Abhandlung Shiping (Kritik der Dichtung), erst ab der Song-Zeit (960 – 1279) kursierte sie unter dem Namen Shipin. Das Werk kategorisiert und bewertet 122 Dichter von der Han- bis in die LiangZeit (2. Jh. v.Chr. bis 5. Jh. n.Chr.) nach drei Qualitätsstufen. Einige dieser Beurteilungen waren Anlaß für jahrhundertelange Kontroversen, so zum Beispiel die nur mittelmäßige Bewertung der Lyrik (→) Tao Yuanmings. In seiner Vorrede, die an (→) Cao Pis »Abhandlung über die Literatur« (»Dianlun lunwen«) und die Dichter der Jianʼan-Periode anknüpft, bricht Zhong Hong eine Lanze für mehr Individualität und Realismus in der Lyrik und rät von einem Übermaß an historischen Anspielungen ab. Darüber hinaus spricht er sich gegen die von (→) Shen Yue etablierten tonalen Regeln aus, denen unterworfen die Dichtung zu erstarren drohe.

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Zhou Bangyan 周邦彦 WERKAUSGABEN: Zhong Hong Shipin jijiao, hg. von Hing-ho Chang [d.i. Chen Qinghao], Paris u. Hongkong: Centre de publication Asie orientale, 1978; Shipin zhu, hg. von Chen Yanjie, Peking: Renmin Wenxue, 1980. ÜBERSETZUNGEN/SEKUNDÄRLITERATUR: Chiaying Yeh u. Jan W. Walls: »Theory, Standards, and Practice of Criticizing Poetry in Chung Hung’s Shih-p’in«, in: Studies in Chinese Poetry and Poetics, hg. von Ronald C. Miao, San Francisco: Chinese Materials Center, 1978, S. 43‒80; »Preface to The Poets Systematically Graded«, übers. von Siu-kit Wong, in: ders. (Hg.): Early Chinese Literary Criticism, Hongkong: Joint Publishing, 1983, S. 89‒114; John Timothy Wixted: »The Nature of Evaluation in the Shih-p’in«, in: Theories of Arts in China, hg. von Susan Bush u. Christian Murck, Princeton: Princeton University Press, 1983, S. 225‒264; Bernhard Führer: »Zur Biographie des Zhong Hong (467?‒518)«, in: Acta Orientalia Scientiarum Hungaricae 46 (1992/93), S. 163‒187; ders.: Chinas erste Poetik. Das Shipin (Kriterion Poietikon) des Zhong Hong, Dortmund: projekt verlag, 1995; Aidong Zhang: Zhong Rong’s Shipin and the aesthetic awareness of the Six Dynasties, Toronto: National Library of Canada, 1996. [HP]

Zhong Rong (→) Zhong Hong Zhou Bangyan 周邦彦 (zi: Meicheng, hao: Qingzhen, 1056 ‒ 1121), geb. in Hangzhou (Provinz Zhejiang) Zhou Bangyans Erfolge in seiner amtlichen Laufbahn waren beachtlich: Leiter der Kaiserlichen Akademie (1083 ‒ 1087), Präfekt in verschiedenen Provinzen (1087 ‒ 1097), Archivar der Kaiserlichen Bibliothek (ab 1097) und Direktor des Musikamts (ab 1116). Seinen Namen jedoch verdankte er seiner Liedkunst, die er zu einer neuen Blüte führte. (→) Su Shi hatte die Lieddichtung (ci) thematisch erweitert und gedanklich vertieft, aber ihre ursprüngliche Musikalität vernachlässigt. Zhou Bangyan bereicherte sie mit neuen Klangfarben und Rhythmen und gab ihr den melodiösen, gefühlvollen Ton zurück. Er lebte ganz aus seiner Kunst. Nicht mit einem Doktortitel (jinshi), sondern mit einer »Poetischen Beschreibung der Hauptstadt Kaifeng« (»Biandu fu«), die er dem Kaiser zueignete, fand er Zugang zum öffentlichen Dienst. Er schrieb keine polemischen Schriften, und auch über sein Leben ist wenig bekannt, doch aus seinen über 180 Liedern, unter dem Namen Inspirierte Liedersammlung (Qingzhen ci) oder Jadesplitter-Liedersammlung (Pianyu ci) nach seinem Tod gesammelt und herausgegeben (seine Gedichte [shi] und Essays dagegen sind verlorengegangen), tritt uns ein Künstler entgegen, der es versteht, höchste Gelehrsamkeit mit zarter Empfindsamkeit zu verbinden, indem er Bruchstücke von Zitaten früherer großer Dichter mit originellen eigenen Bildern und Wortfügungen in eine neue, schwingende und berührende Form gießt. Seine Themen sind Sehnsucht, Liebe, Verlangen, Heimweh, Reiseeindrücke, Freude an Festen. Die Natur mit ihren kleinen Schönheiten – Vögel, Insekten,

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Zhou Zuoren 周作人

Blumen, Bäche usw. – nimmt für ihn fast menschliche Züge an und dient ihm dazu, in seine kunstvollen Formen eine zarte Leichtigkeit einzubringen. Die Nachwelt rühmte in ihm den »Vollender des anmutig-verhaltenen Stils (Wanyue Pai)« (vgl. [→] Liu Yong, [→] Qin Guan). Das wiederkehrende Thema der Begegnung mit einer Schönen und des darauf folgenden Trennungsschmerzes übersteigt dabei letztlich den Bezug auf bestimmte Personen und weitet sich zur Klage über die Vergänglichkeit von Schönheit, Anmut und Liebreiz an sich. WERKAUSGABEN: Pianyu ci, 2 Bde. + Suppl., Shanghai: Shanghai Guji, 1995‒2002. ÜBERSETZUNGEN: »Nine tz’u«, übers. von Julie Landau, in: Renditions 11/12 (Spring & Autumn 1979), S. 177‒189. SEKUNDÄRLITERATUR: James J.Y. Liu: Major Lyricists of the Northern Sung, Princeton: Princeton University Press, 1974, S. 161‒194; James R. Hightower: »The Songs of Chou Pang-yen«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 37 (1977), S. 233‒272; Song ci jianshang cidian, komm. von Xia Chengtao, Bd. 1, Shanghai: Shanghai Cishu, 92007, S. 673‒759. [BD]

Zhou Zuoren 周作人 (eig. Zhou Kuisuo, zi: Qimeng, Qiming, hao: Zhitang, 1885 ‒ 1967), geb. in Shaoxing (Provinz Zhejiang) Zhou Zuoren, ein jüngerer Bruder (→) Lu Xuns, wurde in Shaoxing in der Provinz Zhejiang geboren. Nach einer klassischen Schulbildung besuchte er 1901 zunächst die staatliche Seekadettenschule. 1906 ging er nach Japan und studierte dort Rechts- und Erziehungswissenschaften. Dabei lernte er neben Japanisch auch Fremdsprachen wie Englisch, Griechisch und Latein. 1911 kehrte er nach China zurück und hatte verschiedene Ämter im Bildungsbereich in Hangzhou in der Provinz Zhejiang inne, bevor er 1917 nach Peking berufen wurde. Dort arbeitete er als Professor an verschiedenen Universitäten und zusätzlich als Beauftragter für die nationale Geschichtsschreibung an der Universität Peking. Zhou Zuoren gehört zu den bedeutendsten Vermittlern der ausländischen Literatur in China. Ab 1909 übersetzte er Werke aus der japanischen und europäischen Literatur, und er blieb während seines ganzen Lebens dieser Tätigkeit treu. Sein literarisches Interesse galt in erster Linie der Gattung des Essays. 1922 kam zwar zunächst sein erster Lyrikband Das vergangene Leben (Guoqu de shengming) heraus, doch schon bald folgten die Essaysammlungen Mein eigener Garten (Ziji de yuandi, 1923), Das Buch vom Regenwetter (Yutian de shu, 1926) und Über Drachen (Tan long ji, 1927). Aufgrund seiner scharfen Kritik an der damaligen Gesellschaft und seiner poetischen Sprache, die schlicht, humorvoll und voller Leichtigkeit ist, haben seine Werke die Entwicklung des modernen Essays in China inhaltlich und stilistisch sehr positiv beeinflußt. Wenig später nahm sein Schaffen jedoch eine thematische Wende. Aus Enttäuschung über die nur schleppende

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Zhu Quan 朱权

Entwicklung der Gesellschaft und das Ausbleiben der ersehnten Reformen entschloß er sich, seine Schriften realitätsfern und apolitisch zu halten und nicht mehr auf Konfrontation zu gehen. Er beschäftigte sich nun in seinen Essays überwiegend mit Themen wie Seele und Inspiration, erlesenen Hobbys etc. Politisch erlebte Zhou Zuoren nach dem Ausbruch des Krieges 1937 eine schwierige Zeit. Seine Haltung, Neutralität gegenüber seinen Landsleuten und den einmarschierten Japanern zu bewahren, führte von Anfang an zu Problemen. Dabei übernahm er auch Funktionen, die sich von der Politik der Japaner und der Kollaborateure nicht klar trennen ließen. Nach dem Krieg wurde er von der Guomindang-Regierung verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe wegen Kollaboration mit den Japanern verurteilt. Erst 1949 wurde er aus der Haft entlassen und arbeitete von nun an in erster Linie an der Übersetzung ausländischer Literatur, in der Lu-Xun-Forschung und an seiner Essaysammlung Erinnerungen von Zhitang (Zhitong huixiang lu), die 1980 posthum erschien. WERKAUSGABEN: Zhou Zuoren sanwen ji, Peking: Zhongguo Guangbo, 1992; Zhou Zuoren sanwen xuanji, Tientsin: Baihua Wenyi, 2004. ÜBERSETZUNGEN: Zhou Zuoren: Selected Essays. Chinese-English Bilingual Edition, übers. von David Pollard, Peking: Chinese University Press, 2006. SEKUNDÄRLITERATUR: David E. Pollard: A Chinese Look at Literature. The Literary Values of Chou Tso-jen in Relation to the Tradition, London: C. Hurst and Co., 1973; Marian Galik: The Genesis of Modern Chinese Literary Criticism (1917 ‒ 1930), London: Curzon Press, 1980, S. 9‒27; William C.S. Chow: Chou Tso-jen. A Serene Radical in the New Culture Movement, Diss., Madison: University of Wisconsin, 1990; Susan Daruvala: Zhou Zuoren (1885 ‒ 1967) and an Alternative Response to Modernity, Diss., University of Chicago, 1993; Haoming Liu: »From Little Savages to hen kai pan: Zhou Zuoren’s (1885 ‒ 1968) Romanticist Impulses around 1920«, in: Asia Major 15, 1 (2002), S. 109‒ 160. [WH]

Zhu Quan 朱权 (hao: Daming qishi, Quxian, Hanxu Zi, Danqiu xiansheng, 1378 ‒ 1448), geb. in Nanjing (Provinz Jiangsu) Zhu Quan war der 17. Sohn des ersten Ming-Kaisers. 1391 wurde er mit dem Titel Prinz Xian von Ning (Ning Xian wang) belehnt und begann zwei Jahre später in Daning, einer Garnisonsstadt nahe dem heutigen Chengde, zu residieren. Mit seinem Bruder Zhu Di, dem späteren Yongle-Kaiser (reg. 1403 ‒ 1424), rebellierte er seit 1399 gegen den regierenden Kaiser, einen Neffen. Nach dem Sieg von 1402 erfüllten sich jedoch seine Hoffnungen auf eine bevorzugte Belehnung im Raum des heutigen Hangzhou und Suzhou nicht. Statt dessen hatte er sich mit Nanchang in der heutigen Provinz Guangxi zu begnügen. Aus dieser Gegend stammte seine Frau, und hier ist auch noch sein Grab erhalten.

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Zhu Youdun 朱有炖

Wohl aus Gründen der eigenen Sicherheit verlegte er 1403 seine Ambitionen von der Politik zu Gelehrsamkeit und Kunst. Im Alter versuchte er, mit Hilfe des Taoismus und der Alchemie Unsterblichkeit zu erlangen. Er ist heute eher als vielseitiger Literat, der sich selbst mit Medizin und Chemie befaßte, denn als erfolgreicher Militär bekannt. Zu den wichtigsten seiner zahlreichen Werke wird heute die Fibel für die richtigen Töne der großen Harmonie (Taihe zhengyin pu) gezählt. Es dürfte 1398 oder später entstanden sein. Es hat das nachklassische Lied (sanqu) und das Mongolendrama (zaju) zum Gegenstand. Zhu Quan hat nicht nur weitere Studien zum chinesischen Theater und zur chinesischen Musik vorzuweisen, sondern er hat auch selbst Theaterstücke verfaßt, und zwar zwölf an der Zahl, von denen allerdings nur zwei überliefert worden sind. Er soll zudem eine Romanze (chuanqi) geschrieben haben. Allerdings hat sich bis heute die Sekundärliteratur noch nicht wesentlich seines dramatischen Werkes angenommen. In dieser Hinsicht steht er ganz im Schatten seines als Dramatiker bedeutenderen Neffen (→) Zhu Youdun (1379 ‒ 1439). WERKAUSGABEN: »Taihe zhengyin pu«, in: Zhongguo gudian xiqu lunzhu jicheng, Peking: Zhongguo Xiqu, 1980, Bd. 3, S. 1‒231. SEKUNDÄRLITERATUR: Yao Pinwen: Zhu Quan yanjiu, Nanchang: Jiangxi Gaoxiao, 1993; dies.: Ning wang Zhu Quan, o.O.: Yishu Renwen Kexue, 2002. [WK]

Zhu Youdun 朱有炖 (hao: Quanyang Zi, Lao Kuangsheng, Jinke Daoren, Chengzhai, posthum: Zhou Xian wang [Prinz Xian von Zhou], 1379 ‒ 1439), geb. in Fengyang (Provinz Anhui) Zhu Youdun stammte aus kaiserlichem Haus. Sein Großvater hatte die MingDynastie (1368 ‒ 1644) gegründet und war ihr erster Herrscher gewesen. Gleichwohl hatte Zhu Youdun nach seiner Ernennung zum Thronfolger (1391) unter den üblichen Ränken am Hofe zu leiden gehabt und wurde hin und wieder degradiert. Obwohl er auch ein guter Kalligraph und Maler war und obwohl er auch Lyrik und Prosa verfaßt hat, ist er der Nachwelt vor allem als Dramatiker in Erinnerung geblieben. Von seinen 31 Stücken (Chengzhai zaju), zwischen 1404 und 1433 verfaßt, sind wunderbarerweise alle erhalten geblieben, da zu Lebzeiten bereits gedruckt. Sein Onkel (→) Zhu Quan (1378 ‒ 1448) war übrigens Theoretiker des chinesischen Theaters. Statt sich der Romanze (chuanqi) der Ming-Zeit zu verschreiben, hat der Autor mit seinen Stücken die Geschichte des Mongolendramas (zaju) gleichsam abgeschlossen. Dabei hat er das volkstümliche Theater an den Hof geholt und zum höfischen Theater erhoben. Man unterscheidet in seinem Werk Kostümstücke, auch Palaststücke genannt, und Staatsstücke. Erstere dienten der Unterhaltung

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Zhu Ziqing 朱自清

allein am Hof, letztere der Hebung der Moral innerhalb und außerhalb des Palastes. Anläßlich von Geburtstagen, von Blütenfesten oder auch zum Preis des Kaisers schrieb Zhu Youdun märchenhafte Stücke wie Die Granatapfelfee (Haitang xian, 1439). Mehr Bedeutung wird dagegen seinem moralischen Theater zugemessen. Hier steht die Loyalität (zhong) im Mittelpunkt, gern herausgestrichen am Beispiel von Kurtisanen. Repräsentativ ist da das Stück Von Duftbeutel und Liebeskummer (Xiangnang yuan, 1434). Die Heldin Liu Panchun befindet sich in einem Konflikt von Loyalität gegenüber ihrem Liebhaber Zhou Gong und von Pietät gegenüber ihrer (Bordell-)Mutter. Sie hat die Mutter durch ihre Dienste zu ernähren bzw. sich durch die Heirat eines reichen Mannes auszulösen. Eine wahre Liebe dagegen zu einem jungen, weniger bemittelten Mann nach ihrem Geschmack, die der Vater nach Monaten untersagt, wirft kein Geld ab, so daß sich die Heldin genötigt sieht, ihre Treue gegenüber dem Mann ihrer Wahl durch den Freitod zu bewahren. Auch Zhou Gong verzichtet an ihrem Grab auf eine weitere Beziehung zu einer Frau, so daß beide als in Leben und Tod vereint gelten können. Wiewohl von Zhu Youdun wenig übersetzt worden ist und er heute nicht mehr zu den großen Dramatikern gerechnet wird, so ist sein dramatisches Werk dennoch historisch von Bedeutung geblieben. Er hat zur Mehrzahl seiner Stücke ein datiertes Vorwort geschrieben, er hat Regieanweisungen aufgesetzt, und er hat die Dialoge in Prosa selber ausgeführt, was damals noch unüblich war. All dies hat zur Folge, daß man den Weg eines Theatermannes in China zum ersten Mal recht genau verfolgen kann. WERKAUSGABEN: »Chengzhai yuefu«, in: Yinhong-yisuo kequ, hg. von Lu Qian, Nanjing 1934, Nachdruck: Taipeh 1961. ÜBERSETZUNGEN: Wilt L. Idema, Stephen H. West: Chinese Theater 1100 ‒ 1450. A Source Book, Wiesbaden: Steiner, 1982, S. 356‒425. SEKUNDÄRLITERATUR: Wilt L. Idema: The Dramatic Œuvre of Chu Yu-tun (1379 ‒ 1439), Leiden: Brill, 1985. [WK]

Zhu Ziqing 朱自清 (eig. Zhu Zihua, zi: Peixian, hao: Qiushi 1898 ‒ 1948), geb. in Donghai (Provinz Jiangsu) Nach seiner Schulzeit begann Zhu Ziqing ein Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Peking. Danach arbeitete er zunächst als Lehrer in den Provinzen Jiangsu und Zhejiang und ab 1925 als Professor für Chinesische Sprache und Literatur an der Pekinger Tsinghua-Universität. 1931 reiste er zum Studium nach England und kehrte im darauffolgenden Jahr an die Tsinghua-Universität zurück. Bereits während seiner Studienzeit verfaßte Zhu Ziqing Gedichte in moderner Sprache. Sein Langgedicht »Zerstörung« (»Huimie«, 1924) ist ein wichtiger

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Zhuang Zi 庄子

Beitrag aus dieser Zeit. Darin beklagt er den Verlust der Souveränität seines Landes und die damit verlorenen Hoffnungen, blickt aber dennoch mit einer gewissen Zuversicht in die Zukunft. Später wandte er sich der Kunst des Essays zu und verfaßte einflußreiche Werke wie »Rückenansicht« (»Beiying«), »Der Lotosteich im Mondschein« (»Hetang yuese«) sowie politisch motivierte Beiträge wie »Der Weiße, ein Liebling der Götter« (»Baizhongren, shangdi de jiaozi«) und »Der Preis des Lebens – sieben Mao« (»Shengming de jiage – qi mao qian«). Seine poetische Sprache ist schlicht, präzise und zugleich elegant. Zhu Ziqing war darüber hinaus ein passionierter Erforscher der chinesischen Literatur und publizierte wichtige Beiträge zur Erforschung der klassischen Lyrik, der Literaturtheorie und der ästhetischen Wahrnehmung. WERKAUSGABEN: Zhu Ziqing wenji, Nachdruck, 4 Bde., Hongkong: Wenxue Yanjiushe, 1972. ÜBERSETZUNGEN: »Der Lotosteich im Mondschein«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2005, S. 91‒95. SEKUNDÄRLITERATUR: Daniel A. Fried: »Zhu Ziqing, Frantz Fanon, and the Fierce White Children«, in: The Modern Chinese Literary Essay: Defining the Chinese Self in the 20th Century, hg. von Martin Woesler, Bochum: Bochum University Press, 2000, S. 99‒ 114; Alexandra R. Wagner: »Tradition as Construct and the Search for a Modern Identity: A Reading of Traditional Gestures in Modern Chinese Essays of Place«, in: ebd., S. 133‒ 146. [WH]

Zhuang Zi 庄子 (eig. Zhuang Zhou, ca. 369 – 286 v.Chr.), geb. im Reich Song (heute Provinz Henan) Zhuang Zi, der neben (→) Lao Zi zweite große Philosoph des Daoismus, wurde – den Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) des (→) Sima Qian zufolge – im Staat Song geboren und bekleidete dort zunächst ein niederes Amt. In späteren Jahren habe er aber jegliche öffentliche Tätigkeit verweigert. In der Tang-Zeit (618 – 907) wurde ihm der posthume Ehrentitel »Nanhua zhenren« (»Wahrer Mensch des Südlichen Blütenlandes«) verliehen. Das ihm zugeschriebene Buch Zhuangzi erhielt den zusätzlichen Titel Wahres Buch vom Südlichen Blütenland (Nanhua zhenjing). Der Begriff »Südliches Blütenland« verweist vermutlich auf die Heimatgegend Zhuang Zis. Die von Guo Xiang (gest. 312) kompilierte und kommentierte Fassung des Buches Zhuangzi gliedert sich in 7 »innere«, 15 »äußere« und 11 »vermischte« Kapitel, wobei wahrscheinlich nur die ersten sieben Kapitel aus der Hand Zhuang Zis stammen. Im Shiji (1. Jh. v.Chr.) ist das Buch noch mit 52 (anstatt der späteren 33) Kapiteln verzeichnet. Die exakte Datierung der einzelnen Textteile ist bis heute aufgrund fehlender archäologischer Funde unmöglich. Zumindest in Teilen

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Zong Baihua 宗白华

ist das Zhuangzi aber vermutlich älter als das Daodejing des Lao Zi. Hinsichtlich der philosophischen Positionen des Daoismus ist das Buch Zhuangzi ergiebiger als das Daodejing, dessen kurze und oft »dunkle« Texte zwar faszinieren, aber dennoch in weiten Teilen rästelhaft bleiben. Die Art und Weise, in der Zhuang Zi selbst und die anderen in seinem Werk vertretenen daoistischen Philosophen ihrer Zivilisationskritik Ausdruck geben und vor allem gegen die Konfuzianer und Mohisten Stellung beziehen, ist dagegen sehr viel klarer und konkreter. Trotz der im Buch Zhuangzi propagierten oft träumerischen Weltflucht in ein freieres Leben in idyllischer Natur ist die Auseinandersetzung mit der politischen Realität jener Zeit erstaunlich präzise und zuweilen von beißender Ironie. Das Buch Zhuangzi ist nicht nur als unerschöpfliche Quelle einer lebendigen philosophischen Akademie des 4. vorchristlichen Jahrhunderts von unschätzbarem Wert, sondern auch – weit mehr als die »kargen Urworte« (Debon) des Daodejing – als literarisches Werk, dessen Fülle an Motiven und Gleichnissen bis heute die Literaturgeschichte bereichert. WERKAUSGABEN: Zhuang Zi jishi, hg. von Guo Qingfan, in: Zhuzi jicheng, Bd. 3, Hongkong: Zhonghua Shuju, 1978; Zhuang Zi jijie, hg. von Wang Xianqian, Peking: Zhonghua Shuju, 1987; Zhuang Zi daodu, hg. von Xie Xianghao, Chengdu: Bashu Shushe, 1988. ÜBERSETZUNGEN: The Complete Works of Chuang Tzu, übers. von Burton Watson, New York: Columbia University Press, 1968; Dschuang Dsi. Das wahre Buch vom Südlichen Blütenland, übers. von Richard Wilhelm, Nachdruck Düsseldorf/Köln: Diederichs, 1972; Chuang-tzu. The Seven Inner Chapters and Other Writings from the Book Chuang-tzu, übers. von A.C. Graham, London: Allen & Unwin, 1981; Wandering on the Way. Early Taoist Tales and Parables of Chuang Tzu, übers. von Victor H. Mair, New York: Bantam Books, 1994 [u. Honolulu: University of Hawaiʼi Press, 1997]; Zhuangzi. Das klassische Buch daoistischer Weisheit, übers. von Victor H. Mair und Stephan Schuhmacher, Frankfurt a.M.: Krüger, 1998. SEKUNDÄRLITERATUR: Tsung-tung Chang: Metaphysik, Erkenntnis und praktische Philosophie im Chuang-Tzu, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1982; Ralf Moritz: »Der chinesische Philosoph Zhuang-zi im Licht neuer Forschungen«, in: Ostasiatische Literaturzeitung 80 (1985), S. 120–127; ders.: Die Philosophie im alten China, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990, S. 112–132; Hans Peter Hoffmann: Die Welt als Wendung. Zu einer literarischen Lektüre des Wahren Buches vom Südlichen Blütenland (Zhuangzi), Wiesbaden: Harrassowitz, 2001; Hans-Georg Möller: In der Mitte des Kreises. Daoistisches Denken, Frankfurt a.M.: Insel, 2001; Günter Wohlfart: Zhuangzi, Freiburg: Herder, 2002; Henrik Jäger: Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße. Ein Zhuangzi-Lesebuch, Freiburg: Herder, 2003. [HP]

Zong Baihua 宗白华 (eig. Zong Zhikui, 1897 ‒ 1986), geb. in Changshu (Provinz Jiangsu) Zong Baihua kam im Kreis Anqing in der Provinz Anhui zur Welt. Mit acht Jahren ging er in die von seinem Vater gegründete moderne Grundschule in Nanjing.

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Zong Pu 宗璞

Bereits während seiner Schulzeit lernte er Englisch und Deutsch. 1914 besuchte er einen Vorbereitungskurs für ein Universitätsstudium an der Shanghaier TongjiUniversität in den Fächern Deutsche Literatur und Philosophie, später studierte er an derselben Universität Medizin. Seinen Abschluß machte er im Jahr 1918. Bereits in dieser Zeit zeigte er großes Interesse an Literatur und Philosophie. 1919 wurde er Redakteur der Beilage Studierlampe (Xuedeng) und der Neuen Nachrichten (Shishi xinbao). Darin veröffentlichte er Gedichte und philosophische Aufsätze. 1920 ging er nach Deutschland und studierte an den Universitäten Frankfurt und Berlin Philosophie. Sein Gedichtband Treibende Wolken. Kleine Gedichte (Liuyun xiaoshi) erschien 1923. 1925 kehrte er nach China zurück und war Professor an verschiedenen Universitäten, zuletzt an der Universität Peking. Zong Baihua gehört zu den bedeutendsten modernen Ästhetikern Chinas. Sein Schwerpunkt liegt in der Erforschung der ästhetischen Prinzipien in der klassischen chinesischen Literatur und Kunst. Unter Anwendung philosophischer Theorien aus dem europäischen Sprachraum untersuchte er intensiv und präzise die Besonderheiten der chinesischen ästhetischen Wahrnehmung: das objektive Vorhandensein des Schönen in der Natur, im menschlichen Leben, in der Kunst, in der Gesellschaft und nicht zuletzt im geistigen Empfinden und Empfangen des Schönen. Spaziergänge durch die Ästhetik (Meixue sanbu, 1981) ist ein wichtiger Beitrag seiner Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Ästhetik. WERKAUSGABEN: Zong Baihua quanji, 4 Bde., Hefei: Anhui Jiaoyu, 1994. ÜBERSETZUNGEN: »Der Ausdruck von Leere und Fülle in der chinesischen Kunst«, übers. von Sebastian Gault u. Marc Hermann, in: minima sinica 2/2002, S. 116‒124; »Spaziergänge durch die Ästhetik«, übers. von Wu Yun u. Karl Rudolf Bittigau, in: minima sinica 1/2003, S. 65‒79; »Der Ort des Schönen«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 2/2004, S. 69‒83; »Treibende Wolken. Kleine Gedichte«, übers. von Marc Hermann, in: minima sinica 1/2005, S. 49‒65. SEKUNDÄRLITERATUR: Wolfgang Kubin: »Das Schöne und das Leere. Bemerkungen zu Zong Baihua (1897‒1986)«, in: minima sinica 1/1997, S. 18‒30. [WH]

Zong Pu 宗璞 (eig. Feng Zongpu, Pseudonyme: Ren Xiaozhe, Fengfei, 1928 ‒), geb. in Peking Zong Pu wurde als Tochter des Philosophen Feng Youlan in Peking geboren. Nach der Schule studierte sie am Institut für Fremdsprachen der Tsinghua-Universität und machte 1951 ihren Abschluß. Danach wurde sie Redakteurin der Zeitschrift für Literatur und Kunst (Wenyi bao). 1960 wurde sie in die Redaktion der Weltliteratur (Shijie wenxue) versetzt. 1957 erschien ihre Erzählung »Rote Bohnen« (»Hong dou«), in der sie ein ungleiches Liebespaar beschreibt, das vor der Entscheidung steht, entweder im

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Zuo Si 左思

sozialistischen Strom mitzuschwimmen oder in den USA den Weg der individuellen Entfaltung einzuschlagen. Wegen dieser Erzählung geriet Zong Pu heftig in die Kritik. Der Hauptangriffspunkt war die Frage, wie die Protagonistin, eine überzeugte Kommunistin, von solch einer »krankhaften« Liebe befallen sein konnte. Erst nach 1979 war Zong Pu wieder literarisch aktiv. Sie verfaßte Erzählungen wie »Der nicht sinkende See« (»Bu chen de hu«), »Der Traum der Saiten« (»Xian shang de meng«) sowie die Novelle »Stein der drei Leben« (»San sheng shi«). Ihr neuestes Werk Die Aufzeichnung der Reise nach Osten (Dongcang ji) ist der Nachfolgeroman der Aufzeichnung der Reise nach Süden (Nandu ji). WERKAUSGABEN: Xian shang de meng, Peking: Renmin Wenxue, 1978; San sheng shi, Baihua Wenyi, 1981; Zong Pu xiaoshuo sanwen xuan, Peking: Beijing Chubanshe, 1981. SEKUNDÄRLITERATUR: Irene Wettenhall: »Seven Contemporary Chinese Women Writers«, in: Australian Journal of Chinese Affairs 10 (1983), S. 175‒178; Gladys Yang: »Research Note: Women Writers«, in: China Quarterly 103 (1985), S. 510‒517. [WH]

Zuo Si 左思 (zi: Taichong, ca. 250 – ca. 305), geb. im Kreis Linzi (damals Staat Qi, heute Provinz Shandong) Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende und als kauziger Eigenbrötler geltende Dichter Zuo Si fand um das Jahr 272 Eingang in den bedeutendsten Dichterzirkel Luoyangs im Hause des Gelehrten Jia Mi, nachdem seine Schwester Zuo Fen, selbst eine begabte Dichterin, als Konkubine in den Palast des Jin-Kaisers Wudi (reg. 265 – 290) aufgenommen worden war. In jenem Dichtersalon begegnete Zuo Si u.a. (→) Zhang Hua und den Brüdern (→) Lu Ji und Lu Yun. Diese einflußreichen Kontakte sollen ihm auch eine Anstellung in der kaiserlichen Bibliothek verschafft haben. Im Jahr 302 mußte er jedoch Luoyang wieder verlassen und floh nach Jizhou, wo er nur wenige Jahre später verstarb. Als fu-Dichter reihte sich Zuo Si unter jene Gelehrte ein, die es sich seit (→) Ban Gus »Poetischer Beschreibung beider Hauptstädte« (»Liangdufu«) zur Aufgabe gemacht hatten, das Leben in den Metropolen des Reiches zu besingen und zuweilen auch zu beklagen. Seine »Poetische Beschreibung der drei Hauptstädte« (»Sandufu«), an der Zuo Si über zehn Jahre lang gearbeitet haben soll, beschreibt die Hauptstädte der Drei Reiche Wei (220 – 265), Shu (221 – 263) und Wu (222 – 280). Die Mühen hatten sich gelohnt, denn das Werk war sofort in aller Munde. Neben diesem hat Zuo Si noch vier weitere Prosagedichte (fu) und 14 Gedichte (shi) hinterlassen. Unter letzteren ist der achtteilige Gedichtzyklus »Lieder über historische Ereignisse« (»Yongshishi«) hervorzuheben, in dem Zuo in historischen Analogien seinen eigenen Gedanken und Lebensreflexionen Ausdruck gab. Über-

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haupt besticht sein – wenn auch nicht umfangreicher, aber höchst gehaltvoller – poetischer Nachlaß durch seinen oft berührend persönlichen Ton. Ein Großteil seines Werkes ist in der Literarischen Anthologie (Wenxuan) des (→) Xiao Tong aus dem 6. Jahrhundert überliefert. WERKAUSGABEN: Quan shanggu sandai Qin Han Sanguo Liuchaowen, 4 Bde., hg. von Yan Kejun, Peking: Zhonghua Shuju, 1958, Bd. 2, S. 1882‒1890. ÜBERSETZUNGEN: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, übers. von Erwin Ritter von Zach, hg. von Ilse Martin Fang, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1958, Bd. 1, S. 44‒92 et passim; Anthologie de la Poésie Chinoise Classique, hg. von Paul Demiéville, Paris: Gallimard, 1962, S. 131f.; An Anthology of Chinese Verse. Han Wei Chin and the Northern and Southern Dynasties, übers. von J.D. Frodsham, Oxford: Clarendon, 1967, S. 94‒97; Xiao Tong: Wen xuan, or Selections of Refined Literature, übers. von David R. Knechtges, Bd. I, Princeton: Princeton University Press, 1982, S. 337‒477. SEKUNDÄRLITERATUR: Ye Riguang: Zuo Si shengping ji qi shi zhi xilun, Taipeh: Wenshi Zhexue Jicheng, 1979; Liu Wenzhong: »Zuo Si he ta de Yongshishi«, in: Wenxue pinglun zongkan 7 (Oktober 1980), S. 139‒152; Wei Fengjuan: »Lun Zuo Si ji qi wenxue chuangzuo«, in: Zhongguo gudian wenxue lunzong 2 (1985), S. 37‒54; Xu Chuanwu: »Zuo Si, Zuo Fen xingnian kaobian«, in: Zhongguo wenzhe yanjiu tongxun 5, 3 (Sept. 1995), S. 159‒172. [HP]

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Zeittafel der chinesischen Dynastien Xia-Dynastie

ca. 2070 – ca. 1600 v. Chr.

Shang-Dynastie

ca. 1600 – 1046 v. Chr.

Zhou-Dynastie Westliche Zhou-Dynastie Östliche Zhou-Dynastie Zeit der Frühlings- und Herbstannalen Zeit der Streitenden Reiche

1046 – 256 v. Chr. 1046 – 771 v. Chr. 770 – 256 v. Chr. 770 – 481 v. Chr. 481 – 221 v. Chr.

Qin-Dynastie

221 – 206 v. Chr.

Han-Dynastie Westliche Han-Dynastie Interregnum des Wang Mang Östliche Han-Dynastie

206 v. Chr. – 220 n. Chr. 206 v. Chr. – 9 n. Chr. 9 – 23 n. Chr. 25 – 220 n. Chr.

Drei Reiche

220 – 265

Jin-Dynastie

265 – 420

Südliche Dynastien

420 – 589

Nördliche Dynastien

386 – 581

Sui-Dynastie

589 – 618

Tang-Dynastie

618 – 907

Fünf Dynastien

907 – 960

Liao-Dynastie

916 – 1125

Song-Dynastie

960 – 1279

Jin-Dynastie

1115 – 1234

Yuan-Dynastie

1279 – 1368

Ming-Dynastie

1368 – 1644

Qing-Dynastie

1644 – 1911

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Liste der Verfasser BD HP MH TZ WH WK XWR

Brigitta Diep, M.A. Henriette Pleiger, M.A. Marc Hermann, M.A. PD Dr. Thomas Zimmer PD Dr. Weiping Huang Prof. Dr. Wolfgang Kubin Dr. Xiaobing Wang-Riese

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