Romantische Liebe im Licht neuer Naturphilosophie 9783495824078, 9783495491492

120 76

German Pages [361] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Romantische Liebe im Licht neuer Naturphilosophie
 9783495824078, 9783495491492

Table of contents :
Cover
Danksagung
Inhalt
1 Das Vorhaben
2 Wo ist die Liebe? Eine interkulturelle Kurzbetrachtung
3 Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs in der Antike und Romantik
3.1 Die Liebestrias der alten Griechen
3.1.1 Eros
3.1.2 Philia
3.1.3 Agape
3.1.3.1 Naturalistische Agape
3.1.4 Eros, Philia, Agape und die Romantische Liebe
3.2 Romantische Liebe in der romantischen Epoche
3.2.1 Das Liebesideal der Romantik
3.2.2 Liebesideal und Lebenswelten
3.2.3 Das innovative Moment des romantischen Liebesideals
3.2.4 Kierkegaards Kritik an der romantischen Ironie
3.2.4.1 Postmoderne Erweiterung der kierkegaardschen Kritik
4 Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A: Die Definition
4.1 Über die Definition der Romantischen Liebe
4.2 Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe
4.2.1 Emotionale Regung und Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten – konstitutiv
4.2.2 Wertschätzung des Geliebten – konstitutiv
4.2.3 Idealisierung des Geliebten – kontingent
4.2.4 Wunsch nach dem »Wir« – konstitutiv
4.2.5 Wunsch nach Gegenliebe – konstitutiv
4.2.6 Gemeinsame Geschichte – kontingent
4.2.7 Wunsch nach körperlicher Intimität – konstitutiv
4.2.7.1 Romantische Liebe und Libido
4.2.7.2 Romantische Liebe und Attraktivitätsverlust
4.2.7.3 Romantische Liebe und sexuelle Ausrichtung
4.2.8 Wunsch nach emotionaler Intimität – konstitutiv
4.2.9 Exklusivität
4.2.9.1 Sexuelle Exklusivität des Liebenden – kontingent
4.2.9.2 Emotionale Exklusivität des Liebenden – kontingent
4.2.9.3 Wunsch nach sexueller Exklusivität des Geliebten – kontingent
4.2.9.4 Wunsch nach emotionaler Exklusivität des Geliebten – kontingent
4.2.10 Eifersucht – kontingent
4.2.11 Wunsch nach Weiterführung des Kontakts und emotionaler Verlustschmerz bei Abbruch einer Liebesverbindung – konstitutiv
4.2.12 Entscheidung und Selbstverpflichtung – kontingent
4.2.13 Körperliche Reaktionen – kontingent
4.2.14 Sieben konstitutive Komponenten der Romantischen Liebe
4.3 Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe zu neun anderen Liebesformen
4.3.1 Liebe zu Dingen
4.3.2 Liebe unter Tieren
4.3.3 Liebe zu Tieren
4.3.4 Selbstliebe
4.3.5 Liebe zu Gott
4.3.6 Nächstenliebe
4.3.7 Liebe zu verstorbenen Menschen
4.3.8 Freundschaftliche Liebe
4.3.9 Familiäre Liebe
4.4 Eigenschaftsliebe
4.5 Liebe auf den ersten Blick – Teil A: Begriffliche Inklusion
5 Wie und wieso ist die Liebe? Die Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften
5.1 Phylogenie der Liebe
5.1.1 Das Evolutive Prinzip
5.1.2 Liebe und erfolgreiche Aufzucht
5.1.3 Ein evolutiver Ausblick
5.2 Wie funktioniert die Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil B: Das Dispersionsmodell und die Vereinheitlichung der Phänomene
5.3 Die Physiologie der Liebe
5.3.1 Das liebende Gehirn
5.3.2 Die Wirkstoffe der Liebe
5.3.3 Die Irreduzibilität der Physiologie der Liebe und wissenschaftstheoretische Konsequenzen
5.4. Partnerpräferenz
5.4.1 Attraktivität
5.4.1.1 Allgemeinbiologische und soziokulturelle Attraktivitätsmerkmale
5.4.1.2 Individuelle Präferenzprägung
5.4.1.3 Liebe auf den ersten Blick – Teil B: Funktionelle Explikation
5.4.2 Signale der Zuneigung
5.4.2.1 Der »Olfaktor« der Liebe
5.4.2.1.1 Die Lockstoffe der Geschlechter
5.4.2.1.2 Individueller Geruch und Partnerwahl
5.4.2.2 Expressionen
5.4.2.2.1 Potenziell bewusste Expressionen
5.4.2.2.2 Unbewusste Expressionen
5.4.2.2.2.1 Die Gestik
5.4.2.2.2.2 Die Stimme
5.4.2.2.2.3 Der Blick
5.4.2.2.3 Expressive Kommunikation als multidimensionale Komposition bewusster und unbewusster Signale zur Codierung komplexer Information
6 So ist die Liebe. Naturalistische Aufklärung der empfundenen Mystik des Liebens
6.1 Die Komplexität der Prozesse
6.2 Die introspektive Transparenz der physiologischen Abläufe, die Unbewusstheit der Kommunikation und die Irrelevanz des Wissens um individuelle Prägung und evolutive Determination
6.3 Die Ineffizienz antagonistischer Explanationen, die phänologische Immunität und die ontologische Entmachtung der Mystik
7 Was ist die Liebe? Die Romantische Liebe aus epistemologischer, ontologischer und heuristischer Perspektive
7.1 Ein einleitender Blick auf das Körper-Geist-Problem
7.2 Eine Differenzierung des menschlichen Geistes
7.2.1 Qualia
7.2.2 Intentionale Zustände
7.2.3 Bewusstsein
7.2.4 Selbstbewusstsein
7.3 Liebe als Komposition qualitativer und intentionaler Zustände
7.4 Das Problem mit den Qualia
7.5 Die Theorien des Körper-Geist-Problems
7.5.1 Der Substanzdualismus nach Descartes und Leibniz und der Epiphänomenalismus
7.5.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe
7.5.2 Der eliminative Physikalismus
7.5.2.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe
7.5.3 Nicht-eliminative Naturalismen
7.5.3.1 Der reduktive Physikalismus
7.5.3.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe
7.5.3.2 Der nicht-reduktive Naturalismus
7.5.3.2.1 Emergenz
7.5.3.2.2 Supervenienz
7.5.3.2.3 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe
7.5.3.3 Identifizierender Naturalismus
7.5.3.3.1 Die Identitätstheorie
7.5.3.3.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe
7.5.3.3.2 Der Funktionalismus
7.5.3.3.2.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe
7.6 Fazit – epistemische, ontologische und heuristische Reflexion der Romantischen Liebe
7.6.1 Epistemologisches Fazit
7.6.1.1 Wir können es wissen – epistemologischer Optimismus
7.6.1.2 Wir können es nicht wissen – epistemologischer Pessimismus
7.6.1.2.1 Komplexität als Erkenntnisblockade
7.6.1.2.2 Kognitive Erkenntnisblockade
7.6.1.2.2.1 Biologische, kulturelle und philosophische Evolution – ein Exkurs
7.6.1.2.3 Strukturelle Erkenntnisblockade
7.6.2 Ontologisches Fazit
7.6.2.1 Naturalistischer Monismus und die Lösung des Körper-Geist-Problems
7.6.2.2 Naturalistischer Monismus und Komplexität als Erkenntnisblockade
7.6.2.3 Naturalistischer Monismus und die kognitive Erkenntnisblockade
7.6.2.4 Naturalistischer Monismus und die strukturelle Erkenntnisblockade
7.6.2.5 Der epistemische Fehlschluss
7.6.3 Heuristisches Fazit
7.6.3.1 Verlagerung der Beweislast
7.6.3.2 Eine Heuristik der Romantischen Liebe
7.6.3.2.1 Das Problem der Metaerkenntnis
7.6.3.2.2 Die Motive »phänonegierender Naturalisten«
8 Trost der naturalistischen Liebe
8.1 Die Rettung der Liebe
8.2 Romantische Determination
Literatur
Monografien und Sammelbände
Zeitschriftenartikel

Citation preview

Sebastian Foltin

Romantische Liebe im Licht neuer Naturphilosophie

B

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Sebastian Foltin Romantische Liebe im Licht neuer Naturphilosophie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Sebastian Foltin

Romantische Liebe im Licht neuer Naturphilosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Sebastian Foltin Romantic Love in Light of Contemporary Philosophy of Nature The natural and social sciences often regard romantic love from seemingly opposed angles. On the one hand, love is supposed to be a natural by-product reduced to physiological processes without a substance of its own and without an epistemic claim. On the other hand, love is understood in terms of emotional semiotics which typically comprise feelings and behaviours in order to grasp the phenomenon. What is becoming apparent here is that the old philosophical problem of the relationship between body and mind and how the two can be bridged is at the heart of the matter. The present book aims to make accessible the human emotion of love while maintaining the naturalistic position. By means of cultural, philosophical-historical, scientific perspectives as well as approaches taken from philosophy of mind and philosophy of science this book expounds conceptual definitions, emergence and function, individual preference, mystic lived experiences as well as the ontological essence of love. The interdisciplinary outlook and the phenomenological-naturalist double perspective make possible an innovative naturalistic philosophy, which integrates the limitations of human cognition as meta-cognition in order to establish a holistic understanding of romantic love.

The Author: Dr Sebastian Foltin, born 1981, studied philosophy, musicology and biology. PhD in philosophy with a focus on the philosophy of nature, philosophy of mind and philosophy of science. Foltin works as a consultant in the areas of recruiting needs and structural as well as cultural developments of organisations and as a lecturer in socio-philosophical seminars.

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Sebastian Foltin Romantische Liebe im Licht neuer Naturphilosophie Romantische Liebe wird in den Wissenschaften zumeist konträr betrachtet: Auf der einen Seite als natürliches Produkt, als eine auf physiologische Prozesse zu reduzierende Erscheinung ohne eigene Substanz und epistemischen Anspruch. Demgegenüber stehen gefühlsbezogene Beschreibungen, die typischerweise ein Bündel von Empfindungen und Verhaltensweisen zusammenschnüren, um das Phänomen zu umfassen. Am Grunde dieser Dichotomie schlummert das alte philosophische Problem von Körper und Geist, die unüberwundene Erklärungslücke zwischen physiologischen Vorgängen und menschlichem Denken und Empfinden. Dieses Buch setzt sich zum Ziel, das menschliche Liebesempfinden unter Beibehaltung der naturalistischen Position begreifbarer zu machen. Anhand kultureller, philosophiegeschichtlicher, naturwissenschaftlicher, geistesphilosophischer und wissenschaftstheoretischer Überlegungen werden die begriffliche Definition, die Entstehung und Funktion, die individuelle Neigung, das mystische Erleben und schließlich das ontologische Wesen der Liebe erörtert. Die interdisziplinäre Ausrichtung und die phäno-naturalistische Doppelperspektive ermöglichen eine innovative Naturphilosophie, die das Auftreten menschlicher Erkenntnisgrenzen als Metaerkenntnis integriert, um ein ganzheitliches Verstehen der Romantischen Liebe voranzutreiben.

Der Autor: Dr. Sebastian Foltin, geb. 1981, Studium der Musik, Biologie und Philosophie, Promotion im Fach Philosophie mit den Schwerpunkten Naturphilosophie, Philosophie des Geistes und Wissenschaftstheorie. Tätig als Berater im Bereich der personellen, strukturellen und kulturellen Entwicklung von Organisationen sowie als Referent gesellschaftsphilosophischer Seminare.

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49149-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82407-8

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Meinen Eltern Rita und Wilfried Foltin

Wenn wir jung sind, gelten alle Gedanken der Liebe. Im Alter gilt alle Liebe den Gedanken. Albert Einstein

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Danksagung

Zuvorderst danke ich Prof. Dr. Franz Josef Wetz für die stets inspirierenden Gespräche und fachlichen Hinweise. Darüber hinaus möchte ich mich sehr herzlich für die fortwährende Beratung und sein menschliches Interesse bedanken. Meinen Eltern Rita und Wilfried Foltin danke ich für ihre beständige und vielseitige Unterstützung während all der Jahre meiner Studien. Meiner Frau Lina Foltin danke ich für ihr aufrichtiges Interesse an meiner Arbeit und ihr zurücknehmendes Verständnis. Bei Miriam Heymann-Bender möchte ich mich herzlich für die vielen professionellen Hinweise zum Text bedanken. Anna Groos danke ich für ihre gewissenhafte Hilfe bei der formalen Ausfertigung. Einen besonderen Dank möchte ich auch Joachim Velten für sein entgegenkommendes Verständnis bezüglich der Vereinbarkeit von Beruf und Autorentätigkeit aussprechen.

9 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Inhalt

1

Das Vorhaben

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

2

Wo ist die Liebe? Eine interkulturelle Kurzbetrachtung . . . . . . . . . . .

22

3

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs in der Antike und Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Liebestrias der alten Griechen . . . . . . . . . . . 3.1.1 Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Philia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Agape . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.1 Naturalistische Agape . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Eros, Philia, Agape und die Romantische Liebe . 3.2 Romantische Liebe in der romantischen Epoche . . . . 3.2.1 Das Liebesideal der Romantik . . . . . . . . . . 3.2.2 Liebesideal und Lebenswelten . . . . . . . . . . 3.2.3 Das innovative Moment des romantischen Liebesideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Kierkegaards Kritik an der romantischen Ironie . 3.2.4.1 Postmoderne Erweiterung der kierkegaardschen Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

26 27 27 39 50 54 62 62 63 73

. .

77 78

.

85

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A: Die Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Über die Definition der Romantischen Liebe . . . . . . .

89 91

4

11 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Inhalt

4.2 Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Emotionale Regung und Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten – konstitutiv . . . . . . 4.2.2 Wertschätzung des Geliebten – konstitutiv . . . . 4.2.3 Idealisierung des Geliebten – kontingent . . . . . 4.2.4 Wunsch nach dem »Wir« – konstitutiv . . . . . . 4.2.5 Wunsch nach Gegenliebe – konstitutiv . . . . . . 4.2.6 Gemeinsame Geschichte – kontingent . . . . . . . 4.2.7 Wunsch nach körperlicher Intimität – konstitutiv . 4.2.7.1 Romantische Liebe und Libido . . . . . . . . . . 4.2.7.2 Romantische Liebe und Attraktivitätsverlust . . . 4.2.7.3 Romantische Liebe und sexuelle Ausrichtung . . 4.2.8 Wunsch nach emotionaler Intimität – konstitutiv . 4.2.9 Exklusivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.9.1 Sexuelle Exklusivität des Liebenden – kontingent . 4.2.9.2 Emotionale Exklusivität des Liebenden – kontingent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.9.3 Wunsch nach sexueller Exklusivität des Geliebten – kontingent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.9.4 Wunsch nach emotionaler Exklusivität des Geliebten – kontingent . . . . . . . . . . . . . . 4.2.10 Eifersucht – kontingent . . . . . . . . . . . . . 4.2.11 Wunsch nach Weiterführung des Kontakts und emotionaler Verlustschmerz bei Abbruch einer Liebesverbindung – konstitutiv . . . . . . . . . . 4.2.12 Entscheidung und Selbstverpflichtung – kontingent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.13 Körperliche Reaktionen – kontingent . . . . . . . 4.2.14 Sieben konstitutive Komponenten der Romantischen Liebe . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe zu neun anderen Liebesformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Liebe zu Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Liebe unter Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Liebe zu Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Selbstliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Liebe zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

93 93 94 94 95 97 98 98 99 101 102 102 103 103 103 104 105 106

106 107 107 108 108 109 110 111 111 113 114

Inhalt

4.3.7 Liebe zu verstorbenen Menschen . . . . . . . . . 4.3.8 Freundschaftliche Liebe . . . . . . . . . . . . . . 4.3.9 Familiäre Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Eigenschaftsliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Liebe auf den ersten Blick – Teil A: Begriffliche Inklusion 5 5.1

5.2

5.3

5.4

Wie und wieso ist die Liebe? Die Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften . . . Phylogenie der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Das Evolutive Prinzip . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Liebe und erfolgreiche Aufzucht . . . . . . . . . 5.1.3 Ein evolutiver Ausblick . . . . . . . . . . . . . Wie funktioniert die Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil B: Das Dispersionsmodell und die Vereinheitlichung der Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Physiologie der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Das liebende Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Wirkstoffe der Liebe . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Die Irreduzibilität der Physiologie der Liebe und wissenschaftstheoretische Konsequenzen . . . . Partnerpräferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Attraktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.1 Allgemeinbiologische und soziokulturelle Attraktivitätsmerkmale . . . . . . . . . . . . 5.4.1.2 Individuelle Präferenzprägung . . . . . . . . . 5.4.1.3 Liebe auf den ersten Blick – Teil B: Funktionelle Explikation . . . . . . . . 5.4.2 Signale der Zuneigung . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1 Der »Olfaktor« der Liebe . . . . . . . . . . . 5.4.2.1.1 Die Lockstoffe der Geschlechter . . . 5.4.2.1.2 Individueller Geruch und Partnerwahl 5.4.2.2 Expressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.2.1 Potenziell bewusste Expressionen . . 5.4.2.2.2 Unbewusste Expressionen . . . . . . 5.4.2.2.2.1 Die Gestik . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.2.2.2 Die Stimme . . . . . . . . . . . . 5.4.2.2.2.3 Der Blick . . . . . . . . . . . . .

114 116 117 118 124

. . . . .

128 129 130 131 142

. . . .

144 150 150 154

. 159 . 164 . 164 . 165 . 171 . . . . . . . . . . .

177 181 181 184 189 195 196 202 203 205 209

13 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Inhalt

5.4.2.2.3 Expressive Kommunikation als multidimensionale Komposition bewusster und unbewusster Signale zur Codierung komplexer Informationen . . . . . . .

215

6

So ist die Liebe. Naturalistische Aufklärung der empfundenen Mystik des Liebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Komplexität der Prozesse . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die introspektive Transparenz der physiologischen Abläufe, die Unbewusstheit der Kommunikation und die Irrelevanz des Wissens um individuelle Prägung und evolutive Determination . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Ineffizienz antagonistischer Explanationen, die phänologische Immunität und die ontologische Entmachtung der Mystik . . . . . . . . . . . . . . . 7

7.1 7.2

7.3 7.4 7.5

. 219 . 220

. 224 . 226

Was ist die Liebe? Die Romantische Liebe aus epistemologischer, ontologischer und heuristischer Perspektive . . . . . . . Ein einleitender Blick auf das Körper-Geist-Problem . . . Eine Differenzierung des menschlichen Geistes . . . . . 7.2.1 Qualia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Intentionale Zustände . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe als Komposition qualitativer und intentionaler Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem mit den Qualia . . . . . . . . . . . . . . . Die Theorien des Körper-Geist-Problems . . . . . . . . 7.5.1 Der Substanzdualismus nach Descartes und Leibniz und der Epiphänomenalismus . . . . . . . . . . . 7.5.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe . . . . 7.5.2 Der eliminative Physikalismus . . . . . . . . . . 7.5.2.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe . . . .

14 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

230 230 233 233 234 235 236 237 242 248 248 252 257 261

Inhalt

7.5.3 Nicht-eliminative Naturalismen . . . . . . . . . 7.5.3.1 Der reduktive Physikalismus . . . . . . . . . . . 7.5.3.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe . . . . . . . . . . 7.5.3.2 Der nicht-reduktive Naturalismus . . . . . . . . 7.5.3.2.1 Emergenz . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3.2.2 Supervenienz . . . . . . . . . . . . . 7.5.3.2.3 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe . . . . . . . . . . 7.5.3.3 Identifizierender Naturalismus . . . . . . . . . . 7.5.3.3.1 Die Identitätstheorie . . . . . . . . . 7.5.3.3.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe . . . . . . . . . . 7.5.3.3.2 Der Funktionalismus . . . . . . . . . 7.5.3.3.2.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe . . . . . . . . . . 7.6 Fazit – epistemische, ontologische und heuristische Reflexion der Romantischen Liebe . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Epistemologisches Fazit . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1.1 Wir können es wissen – epistemologischer Optimismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1.2 Wir können es nicht wissen – epistemologischer Pessimismus . . . . . . . . . 7.6.1.2.1 Komplexität als Erkenntnisblockade . . 7.6.1.2.2 Kognitive Erkenntnisblockade . . . . . 7.6.1.2.2.1 Biologische, kulturelle und philosophische Evolution – ein Exkurs . 7.6.1.2.3 Strukturelle Erkenntnisblockade . . . . 7.6.2 Ontologisches Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.1 Naturalistischer Monismus und die Lösung des Körper-Geist-Problems . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.2 Naturalistischer Monismus und Komplexität als Erkenntnisblockade . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.3 Naturalistischer Monismus und die kognitive Erkenntnisblockade . . . . . . . . . . . . . . .

264 265

266 270 270 272

273 277 277

279 283

286 309 310 310 313 313 313 316 321 322 323 323 324

15 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Inhalt

7.6.2.4 Naturalistischer Monismus und die strukturelle Erkenntnisblockade . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.5 Der epistemische Fehlschluss . . . . . . . . . . 7.6.3 Heuristisches Fazit . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.3.1 Verlagerung der Beweislast . . . . . . . . . . 7.6.3.2 Eine Heuristik der Romantischen Liebe . . . . 7.6.3.2.1 Das Problem der Metaerkenntnis . . 7.6.3.2.2 Die Motive »phänonegierender Naturalisten« . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

328 329 331 331 333 338

. 341

8 Trost der naturalistischen Liebe . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Rettung der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Romantische Determination . . . . . . . . . . . . . . .

345 345 348

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

16 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

1

Das Vorhaben

Die Romantische Liebe ist eine erstaunliche Sache. Aus dem Nichts überkommt sie unseren Geist und regiert fortan unser Denken und Handeln. Sie ist imstande, Kriege zu entfachen und zwingt uns zu Sanftmut und Vergebung. Mal beflügelt sie den Menschen als ambrosisches Geschenk höchsten Glücks, mal lähmt sie ihn in dämonischem Schmerz und verleitet den allzu empfindsamen Geist zu den unglückseligsten Taten. Und doch ist sie es, die unser Leben mit Sinn anreichert und durch deren himmlischen Zauber sich unsere Existenz erst zum wahren Menschsein emporschwingt … Geht es um die Liebe, sind wir solch pathetische Bildsprache von Kindesbeinen an gewohnt. Denn nicht bloß in Dichtungen vergangener Epochen, auch in musikalischen und filmischen Erzeugnissen der Populärkunst unseres Zeitalters wird die Liebe als unergründbare, alles überwindende und selbst unüberwindbare, als schicksalhafte und überirdische Macht gepriesen. Diese metaphysische Ausdrucksweise markiert den intuitiven Versuch, unser Erleben der Liebe adäquat zu beschreiben und zu erklären. Kann dies aber dem aufgeklärten Weltbild unserer Zeit genügen? Haben wir unsere mystische Weltauffassung nicht längst gegen die Explanation naturalistischer Analysen eingetauscht? Schneidet die Naturwissenschaft denn nicht schon lange mit empirisch scharfer Klinge die Welt in dünne Scheiben, sodass sie im Licht unserer nüchternen Reflexionen durchschaut und verstanden werden kann? Sollte die vorliegende Abhandlung daher nicht besser mit den empirischen Fakten der Einzelwissenschaften beginnen – etwa mit soziobiologischen Erkenntnissen zur Paarbindung und zum Aufzuchtverhalten von Primaten oder der hormonellen Wirkungskette, die sich während des menschlichen Liebesaktes entfaltet? Oder sind die neurophysiologischen Funktionen des Körpers und deren evolutive Genese etwa nicht die natürliche Grundlage aller Empfindungen?

17 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Das Vorhaben

Das mag so sein. Dennoch möchte ich der didaktischen Intuition folgen, nach der eine Untersuchung möglichst dort beginnen sollte, wo bereits Erfahrung besteht: beim Lieben, bei der subjektiven Empfindung, beim Phänomen der Romantischen Liebe. Denn dieses Phänomen ist es schließlich, das uns die vielen kleinen und großen Fragen aufgibt, dieses Phänomen ist es, was wir erklären und verstehen möchten. Würden wir es nicht zuerst betrachten, würden wir also nicht zunächst das »zu Erklärende«, das Explanandum herausarbeiten, so stünde die naturwissenschaftliche Analyse für sich allein und ihre Konklusionen griffen ins begrifflich Leere oder fielen auf sich selbst zurück. Der philosophischen Forderung nach Explikation des Explanandums werde ich in den Kapiteln zwei bis vier nachkommen: Eine interkulturelle Betrachtung soll vorab herausstellen, ob das Phänomen auch in entlegenen und von den Gesellschaften der westlichen Welt verschiedenen Sozietäten vorkommt. Die Überschrift »Wo ist die Liebe?« meint also die Frage nach anthropologischer Universalität des Phänomens und die damit verbundene Einsicht, ob Liebe bloß kulturelles Erzeugnis oder in der Natur des Menschen verankert ist. Im Anschluss daran möchte ich die Bedeutung des Begriffs »Liebe« untersuchen, also der Frage »Was bedeutet ›Liebe‹ ?« nachgehen. Hierfür empfiehlt sich die Reflexion philosophischer Traktate des antiken Griechenlands, die die grundlegenden Formen des Phänomens differenzieren und so erste begriffliche Bezugspunkte sowie ein philosophisches Fundament für nachfolgende Überlegungen bilden. Nebstdem ist es natürlich die Epoche der Romantik, die unseren Begriff von der Romantischen Liebe entscheidend prägte. Über die philosophischen Texte hinaus waren es vor allem die großen Romane und Bühnenwerke dieser Zeit, die die Bedeutung weiter formten. Im dritten Schritt werde ich die Auffassungen beider Epochen am etablierten Verständnis der Postmoderne abgleichen, um anschließend eine eigene Definition der Liebe vorzunehmen. Gemäß der Frage »Wann ist es Liebe?« möchte ich in Teil A die konstitutiven, also notwendigen Aspekte des Phänomens von den nicht notwendigen unterscheiden. Hierdurch entsteht eine sparsame und intersubjektiv nachvollziehbare Definition der Romantischen Liebe, die sich zudem trennscharf von anderen Phänomenen menschlicher Zuneigung abhebt. Aufbauend auf dieses begriffliche Destillat werde ich in Teil B mittels der Leitfrage »Wie funktioniert die Liebe?« ein Modell erarbeiten, das die dynamischen Veränderungen und somit auch das Entstehen und 18 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Das Vorhaben

Vergehen der Romantischen Liebe verstehbar macht. 1 Erst dann wird das Explanandum sicher fixiert und dadurch sichergestellt sein, dass darauffolgende Überlegungen einen klaren Bezug zum Untersuchungsgegenstand besitzen. Im fünften Kapitel werden die Einzelwissenschaften eine Antwort auf die Doppelfrage »Wie und wieso ist die Liebe?« zu geben versuchen: Wenn das Phänomen der Romantischen Liebe in der Natur des Menschen verankert ist, dann sollte es evolutionsbiologische Prozesse gegeben haben, die es herausbildeten. Zudem ist in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl neurohormoneller Zusammenhänge bekannt geworden, deren Wirkungen in direkter oder indirekter Verbindung mit der Liebe stehen. Diese Erkenntnisse möchte ich zu einer Physiologie des liebenden Körpers zusammenstellen. Im letzten Abschnitt des Kapitels werde ich die funktionellen Prozesse der Partnerwahl untersuchen. Sowohl die Wurzeln allgemeingültiger Attraktivitätsmerkmale und die Prägung zur individuellen Partnerpräferenz als auch die geschlechtsspezifischen Botenstoffe und die nonverbalen, teils unbewussten Signale mittels Gestik, Stimmklang und Blick werden Gegenstand dieser Betrachtung sein. Durch die interdisziplinäre Reflexion evolutionsbiologischer, physiologischer, psychologischer, soziobiologischer und kommunikationstheoretischer Erkenntnisse wird ein umfangreiches Bild von den natürlichen Parametern und Prozessen der Romantischen Liebe entstehen, anhand dem ich im sechsten Kapitel ein Phänomen erklären möchte, das mit dem Erleben von Liebe fest verbunden scheint: die Mystik der Liebe. Zu Beginn dieser Einführung habe ich die metaphysische Bildsprache imitiert, die in Verbindung mit der Romantischen Liebe so häufig gebraucht wird. Der Ursprung solchen Ausdrucks liegt einerseits im enormen Einfluss des Phänomens auf unser Leben: Ob bei der Wahl des Wohnortes, des Berufs oder bei der Familienplanung, die leidenschaftliche Zuneigung zu einem Menschen beeinflusst eine ganze Reihe von Entscheidungen, die unseren Lebensweg gestalten. Andererseits kommt uns die Liebe in ihrem Wirken tatsächlich etwas übernatürlich vor: Wir können uns ihrer kaum erwehren und sie nicht willentlich erzeugen. Auch bereitet es uns oft Schwierigkeiten, die empfundene Zuneigung zu definieren und zu begründen, weil sich beim »Blick auf unser Inneres« ein eher unscharfes und schwer Aus strukturellen Gründen werde ich das Funktionsmodell der Romantischen Liebe erst im darauffolgenden fünften Kapitel ausarbeiten.

1

19 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Das Vorhaben

zu umfassendes Gefühlskontinuum bietet. Diese empfundene Autonomie und Unergründlichkeit in Verbindung mit dem schicksalhaften Einfluss auf unseren Lebensweg versieht die Romantische Liebe mit jener mystischen Aura, die uns zu transzendentalen Deutungen verleitet. Dementgegen möchte ich durch die reflexive Verknüpfung der einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse des vorangegangenen Kapitels aufzeigen, dass nicht bloß das Zustandekommen der übernatürlichen Ausstrahlung naturalistisch begreifbar ist, sondern auch, wieso uns ebendiese Einsicht nicht des mystischen Gefühls berauben kann. Auch wenn unser subjektives Empfinden von der interdisziplinären Analyse also unberührt bleibt, wäre mit der rationalen Entmystifizierung der Liebe dennoch eine wichtige Erkenntnis verbunden: Der Liebeszauber, den wir erleben, könnte keinen ontologischen Dualismus legitimieren, der zusätzlich zu den natürlichen Dingen und Prozessen der Welt eine Klasse supranaturaler Entitäten postuliert. Mit der angestrebten Naturalisierung der Mystik ist jedoch bloß der erste Schritt in einen Diskurs getan, der nicht nur thematisch wesentlich tiefer, sondern auch bis zurück zu den Anfängen westlicher Philosophie reicht: nämlich in die Debatte um das Problem von Körper und Geist. Sie bildet das Zentrum der Philosophie des Geistes und beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Verhältnis die phänomenalen Zustände des Menschen (also sein Bewusstsein, seine Sinneseindrücke, Gefühle und Gedanken) zu den (neuro-)physiologischen Zuständen seines Körpers stehen. Liegen hier zwei grundverschiedene Substanzen vor und wenn ja, wie können sie dann aufeinander einwirken? Oder ist der menschliche Geist natürliches Produkt der neuronalen Prozesse und kann deshalb vollständig auf sie reduziert werden? Existiert in Wirklichkeit vielleicht nur das Mentale und alles Dingliche in der Welt ist bloße Illusion – oder verhält es sich gerade umgekehrt? »Was ist die Liebe?« lautet also die ebenso grundlegende wie anspruchsvolle Leitfrage des siebten Kapitels. Sie zielt auf ein kategoriales Wesensverständnis der Entität Liebe und gilt gleichermaßen für alle übrigen qualitativen Erlebnisse des Menschen. Aus diesem Grund wird sich der Untersuchungsfokus zunächst etwas weiten, wenn ich die gängigen monistischen und dualistischen Ansätze zur Lösung des Körper-Geist-Problems bespreche, um einerseits ihre theoretischen Vorteile und Schwierigkeiten herauszustellen und andererseits zu reflektieren, welche Konsequenzen sich für die Verstehbarkeit der Romantischen Liebe aus den jeweili20 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Das Vorhaben

gen Theorien ergeben. Basierend auf diesen Überlegungen komme ich am Ende des Kapitels zu einem dreigeteilten Fazit. Hierbei werde ich sowohl ontologisch und epistemologisch als auch heuristisch Stellung beziehen, um schließlich die nach meinem Verständnis erforderliche philosophische Haltung für ein ganzheitliches Erforschen und bestmögliches Begreifen der Romantischen Liebe darzulegen. Das letzte Kapitel meiner Abhandlung möchte schließlich eine Brücke von den geistesphilosophischen Theorien hin zur Lebenswelt des naturalistisch liebenden Menschen schlagen: Um die Bedrängungen einer natürlichen Weltauffassung ein wenig zu lindern, werde ich tröstliche Gedanken aus meiner Liebesphilosophie ableiten. Dieses Buch setzt sich zum Ziel, die Romantische Liebe unter Beibehaltung der naturalistischen Position begreifbarer zu machen, ohne dabei das emotive Erleben des Menschen zu übergehen. Denn nur wenn das Phänomen des Liebens begrifflich gefasst in die naturphilosophischen Konklusionen integriert ist, entsteht Erkenntnis, die ein ganzheitliches Verstehen der Liebe – so es denn möglich ist – vorantreibt. Meine Apologie entwickelt ein intersubjektiv tragendes Modell der Romantischen Liebe und verteidigt das menschliche Liebeserleben vor naturwissenschaftlichen Interpretationen, die die Benennung korrelierender Physiologie als erschöpfende Erklärung der Entität deklarieren. Auf der anderen Seite unterstreicht sie die Bedeutung des empirischen Wissens als Substrat naturphilosophischer Reflexionen, die ihrerseits die menschlichen Motive und erkenntnistheoretischen Gefahren einer dualistischen Weltanschauung herausstellen. Gemäß dieser Auffassung bildet sich eine philosophische Position, die keine schnelle Befriedigung durch vermeintlich einfache Lösungen bedeutet, sondern das Unbehagen im Bekenntnis unvollständigen Wissens. Ebendiese epistemische Spannung und Kränkung anthropozentrischer Einbildung gilt es souverän zu ertragen, um sich der Wahrheit über die Romantische Liebe weitestmöglich zu nähern.

21 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

2 Wo ist die Liebe? Eine interkulturelle Kurzbetrachtung

Ethnologen gingen lange Zeit davon aus, dass leidenschaftliche Liebe nur in den Wohlstandskulturen des europäischen und amerikanischen Raums auftritt. So schrieb beispielsweise der Historiker Lawrence Stone noch im Jahre 1988: »[…] if romantic love ever existed outside of Europe, it only arose among the nonwestern nation-states’ elite who had the time to cultivate an aesthetic appreciation for subjective experiences.« 2 Dementgegen begann sich im selben Jahrzehnt eine alternative Theorie zu etablieren, nach der das Phänomen der Romantischen Liebe auf der besonderen Physiologie des Menschen beruht. Überlegungen solcher Art wurden in den Folgejahren durch immer neue Zusammenhänge zwischen den Emotionen der Liebe und biochemischen Prozessen im menschlichen Körper gestützt, was den Anthropologen William R. Jankowiak Anfang der 90er Jahre zu folgender Formulierung bewegte: »This evolutionary perspective suggests that romantic love arises from forces within the hominid brain that are independent of the socially constructed mind.« 3 Folgt man dieser Annahme, so müsste eine Form der Romantischen Liebe in jeder menschlichen Kultur auftreten. Um dies zu belegen, führten Jankowiak und der Anthropologe Edward F. Fischer eine Studie durch, bei der sie die Folklore (Mythen, Volkslieder, Literatur etc.) 166 unterschiedlicher Kulturen studierten, in der Hoffnung, hierin Anzeichen für die Existenz leidenschaftlicher Zuneigung zu finden. Die Autoren kamen schließlich zu dem Fazit, dass Romantische Liebe ein zumindest annähernd universales Phänomen ist, das sich bei weitem nicht nur innerhalb der kulturellen Spezifika westlicher Wohl-

Stone, Lawrence: Passionate attachments in the West in historical perspective. In: Gaylin, W.; Person, E. (Hrsg.): Passionate attachments. New York: Free Press 1988, S. 15–26. 3 Fischer, Edward F.; Jankowiak, William R.: A Cross-Cultural Perspektive On Romantic Love. In: Ethonology 31 (1992), 2, S. 150. 2

22 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wo ist die Liebe? Eine interkulturelle Kurzbetrachtung

standsgesellschaften entwickelte: »It is important to note that not everyone within a culture falls in love. This seldom occurs even in the so-called romantic cultures (i. e. Euro-American cultures) that celebrate passionate entanglements in its literature, films, and mythology. By the same token, this should not undermine our finding that in almost every culture there are some individuals who, often in the face of severe negative sanctions, do fall in love.« 4 Die Studie bekräftigte also das neue Verständnis der Liebe, nach dem sie sich nicht kulturell, sondern evolutiv entwickelte und damit natürlicher Bestandteil des Menschen ist. Mit dem Befund aber, dass Romantische Liebe keine bestimmte Kulturform für ihre Ausprägung benötigt, war das Verhältnis zwischen dem Phänomen und den kulturellen Einflüssen natürlich nicht erschöpfend beschrieben. Zu Beginn des neuen Jahrtausends untersuchte die Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler die Liebe der Makassar, ein zwei Millionen Individuen umfassendes, gemäßigt islamisches und hierarchisch organisiertes Volk, das im Süden der indonesischen Insel Sulawesi lebt. 5 Diese Menschen gebrauchen nicht den vieldeutigen und inflationären Liebesbegriff der westlichen Welt – hierzulande »lieben« wir unsere Lebenspartner, aber wir »lieben« auch unsere Kinder, unser Auto, das Reisen oder Pistazieneis. Hingegen unterscheidet das Volk etwa 25 Begriffe der Liebe und der Zuneigung, die sie anhand sozial-relationaler sowie qualitativer Parameter bilden. Zum einen hängt der verwendete Begriff also davon ab, wer für wen Zuneigung empfindet. Die Liebe zwischen Ehepartnern ist anders als die Liebe zu Kindern, zwischen denen wiederum eine andere, geschwisterliche Liebe herrscht. Zum anderen definieren die Intensität des Liebesgefühls und das daran gekoppelte Auftreten anderer Emotionen den Begriff. Unter den Makassar ist die arrangierte Ehe etablierte Praxis und Polygynie (Vielehe mit mehreren Frauen) nicht unüblich. Dem gesellschaftlichen Ideal folgend durchleben die Partner einer solchen Verbindung die folgenden Stadien von Liebe: Zu Beginn kennen sich die Eheleute nicht, doch können sie sich durch körperliche Erscheinung, Verhalten und Stimmklang zueinander hingezogen fühlen. Diese Attraktion nennen die Makassar »cinna-cini«. Ebenda, S. 153. Röttger-Rössler, Birgit: Die kulturelle Modellierung des Gefühls. Ein Beitrag zur Theorie und Methodik ethnologischer Emotionsforschung anhand indonesischer Fallstudien. Münster: LiT Verlag 2004 (= Göttinger Studien zur Ethnologie Bd. 13).

4 5

23 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wo ist die Liebe? Eine interkulturelle Kurzbetrachtung

Hierzu kann sich »ero« mischen, was so viel bedeutet wie »wollen« oder »starkes Verlangen«, sodass die Partner einander »schmecken möchten« (a’kanjame). Danach erfolgt eine Zuneigung, die auch den Charakter des Ehepartners integriert, sie heißt »singai«. Aus ihr schließlich entwickelt sich »sikarimangi«, was eine umsorgende und verstehende Liebe bezeichnet. 6 Innerhalb der makassarischen Gesellschaft, deren Mitglieder den sozialen Halt und die Fürsorge der Großfamilie anstreben, bildet diese Liebesentwicklung den emotionalen Erwartungshorizont einer Ehe. Hingegen scheinen romantisch-sexuelle Attraktion und die damit verbundenen Glücksgefühle des Individuums in den sozialen Konzepten gar nicht aufzutauchen. Doch die Makassar empfinden mehr, als ihre Kultur billigt und auch hierfür haben sie einen Begriff: Eine Liebe, die die Fürsorge und den gegenseitigen Respekt von »sikarimangi« weit übersteigt, bei der die Liebenden ständig aneinander denken, ihr Handeln danach ausrichten, dem Partner Wohlbefinden zu schenken, und bei deren Ende durch Trennung oder Tod tiefe und anhaltende Trauer, Depression oder sozialer Rückzug die Folge sind, nennen sie »amaling-maling«. Während solche Leidenschaft in unserem Kulturkreis als romantisches Ideal gehandelt wird, gilt sie bei den Makassar als problematisch. Zu hoch ist das Risiko eines ernsthaften emotionalen Schadens und zu verheerend kann sie sich auf bestehende Verbindungen ausüben, weil Eifersucht und Missgunst die Harmonie der (polygynen) Ehe zerstören. Noch drastischer fällt die Bewertung bezüglich des Verliebens aus. Die Makassar haben zwar keinen Begriff für die brennende Anziehung zwischen zwei Menschen, die sich gerade einander annähern, sie kennen aber eine Krankheit, deren Symptome den (körperlichen) Reaktionen verliebter Menschen verdächtig ähnlich sind: »garring lolo«. Dieses »Leiden« befällt vor allem junge Menschen und kann mit Idealisierung der anderen Person, Abhängigkeit, Hochstimmung, Hyperaktivität, Angst, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Herzklopfen, beschleunigter Atmung, Zittern, Schweißausbrüchen, Erröten oder Erbleichen einhergehen. Man müsse aufpassen, so die tradierte Meinung der Makassar, dass diese therapiebedürftige Krankheit nicht zu Flucht aus dem Sozialverbund und zu gesellschaftlich unvorteilhaften Eheschließungen führe. 7 Röttger-Rössler, Birgit: Kulturen der Liebe. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 62 ff. 7 Ebenda, S. 65 ff. 6

24 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wo ist die Liebe? Eine interkulturelle Kurzbetrachtung

Die makassarische Haltung zur Romantischen Liebe, die in so deutlichem Kontrast zu jener der »westlichen Welt« steht, ist keine Einzelerscheinung. So kennt das kenianische Volk der Taita neben der gesunden Liebe, bei der sich im Laufe der Verbindung eine tiefe, wertschätzende Zuneigung entwickelt, auch eine krankhafte Liebe, deren charakteristisches Symptom die starke Sucht nach der auserwählten Person ist. 8 Ähnliche Zensuren lassen sich in Sri Lanka und einigen Regionen Japans finden, wo der emotionale Zustand des Verliebtseins nicht als glückbringend, sondern schlicht als Geisteskrankheit gehandelt wird. 9 Diese Ergebnisse bestärken offensichtlich die Befunde von Jankowiak und Fischer. Denn wenn Romantische Liebe selbst in Kulturen auftritt, in denen sie als sozial unverträglich oder gar wahnhaft gilt, kann man begründet annehmen, dass sie weder kulturell erzeugt ist noch von den vorherrschenden Gesellschaftsstrukturen vollkommen unterdrückt werden kann. Sie scheint vielmehr als in der Natur des Menschen verankert, als evolutiv entstanden und somit als anthropologisch universal. Bei diesem kurzen interkulturellen Einblick wurde der Begriff »Romantische Liebe« relativ intuitiv und unscharf verwendet, um die unterschiedlichen Ausprägungen des Phänomens in den verschiedenen Ethnien detektieren zu können. Im weiteren Verlauf muss er jedoch geschärft werden, damit meine Abhandlung ihr definitorisches Fundament erhält. Bevor ich aber den Untersuchungsgegenstand herausarbeite, möchte ich eine Übersicht über die (philosophie-)geschichtliche Entwicklung des Liebesbegriffes geben. Im nachfolgenden Kapitel werden daher einflussreiche Denker und Dichter einschlägiger Epochen zu Wort kommen, deren unterschiedliche Anschauungen die Erörterung zunächst weiten werden. Ausgehend von diesem breiten Spektrum möchte ich anschließend mein Verständnis der Romantischen Liebe in einem möglichst schlanken und klar konturierten Explanandum fixieren.

Vgl. Bell, Jim: Notions of Love and romance among the Taita of Kenya. In: Jankowiak, W (Hrsg.) Romantic Passion. A Universal Experience? New York: Columbia University Press 1995, S. 152–165. 9 Röttger-Rössler, Kulturen der Liebe, S. 74. 8

25 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

3 Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs in der Antike und Romantik

Die Frage danach, was Liebe bedeutet, kann man etymologisch beantworten: Das deutsche Adjektiv »lieb« lässt sich über das mittelhochdeutsche »liep« auf das im 8. Jahrhundert übliche althochdeutsche »liop« zurückführen. Mit den verwandten Verben »erlauben«, »glauben« und »loben« und mit dem altindischen Begriff »lúbhyati« (»ist gierig«, »empfindet Verlangen«) sowie den lateinischen Begriffen »libēre« (»belieben«, »gefällig sein«), »libēns« (»willig«, »gern«) und »libīdo« (»Lust«, »Begierde«) geht der Ausdruck schließlich auf das indogermanische »leubh« zurück. Es bedeutet »gern haben«, »begehren«, »loben« und im Germanischen »Zutrauen«, »Vertrauen« und »Glaube«. Das altdeutsche Substantiv »liubī« (9. Jh.) bzw. »lioba« (11. Jh.) erfuhr im 15. und 16. Jahrhundert eine Bedeutungsänderung. Meinte es vor dieser Zeit noch »das Wohlgefallen«, »das Liebsein«, »das Liebhaben«, »Freude«, »Freundlichkeit« oder »Gunst«, verdrängte es nun allmählich den anstößig gewordenen Begriff »Minne« und nahm die heutige Bedeutung der starken emotiven Zuneigung zu einer anderen Person an. 10 Man könnte noch weitere sprachgeschichtliche Zusammenhänge betrachten, doch schon jetzt wird deutlich, dass etymologische Fakten das Verstehen der Romantischen Liebe nur wenig vertiefen können. Um dem Begriff inhaltliche Substanz zu verleihen, ist es notwendig, sich mit den Texten der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich beginne mit den Schriften des antiken Griechenlands, da hier, trotz mangelnder naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die vielfache geistige Basis philosophischer Überlegungen gebildet wurde, die bis in die Gegenwart hineinwirkt. Auch im Bereich der zwischenmenschlichen Zuneigung sind diese Traktate von grundlegender Bedeutung. Doch nicht nur aus philosophiegeschichtlicher Perspektive ist es sinnvoll Pfeifer, Wolfgang: Lieb, in Ders. (Hrsg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 798 f.

10

26 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

hier zu beginnen, auch methodisch ist es ratsam. Denn anhand der antiken Differenzierung lässt sich eine erste grobe Verortung der Romantischen Liebe vornehmen.

3.1 Die Liebestrias der alten Griechen In der Philosophie des antiken Griechenlands wurde die menschliche Liebesfähigkeit in drei Formen unterteilt: »Eros«, »Philia« und »Agape«. Nachfolgend möchte ich die Bedeutung dieser Begriffe darstellen, um anschließend herauszustellen, inwieweit sie dem von mir angestrebten Explanandum entsprechen können.

3.1.1 Eros Der bedeutendste Philosoph, der sich mit Eros befasste, war Platon. Er behandelte den Begriff in zwei seiner Bücher (Symposion und Phaidros) und prägte ihn dadurch entscheidend. Daher wird sich dieser Abschnitt den Ausführungen des großen Denkers widmen. Im Symposion oder auch »Gastmahl« beschreibt Platon, wie sich einige Freunde im Haus des Agathon zum gemeinsamen Essen einfinden. Nach dem Mahl beschließen sie, ihre Aufmerksamkeit nicht weiter dem Wein und der Flötenspielerin zu widmen, sondern dem Diskurs über Eros. So hält jeder der Anwesenden nacheinander eine Rede über die Liebe. Es würde zu weit führen, alle Ansprachen darzustellen, und es ist auch nicht notwendig, um den philosophischen Kern des Symposions herauszustellen. Ich beschränke mich daher auf drei Vorträge: den des Aristophanes, den des Agathon und schließlich den des Sokrates. Die Rede des Aristophanes ist die vielleicht berühmteste Passage des platonischen Textes. Das liegt weniger an ihrem tiefen philosophischen Gehalt, als an ihrer intuitiven Eingängigkeit und fantasievollen Schönheit. Ich möchte sie hier auch deshalb referieren, weil Aspekte späterer Passagen an ihre Idee erinnern werden. Aristophanes betrachtet Eros als Gottheit und möchte deren am Menschen wirkende Kraft erklären, die sich in der mächtigen Anziehung hin zur geliebten Person offenbart. Er beginnt, indem er die ursprüngliche Natur des Menschen beschreibt: Einst gab es nicht zwei Geschlechter, sondern drei, das (zweifach) männliche, das (zwei27 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

fach) weibliche und das mannweibliche. Zudem war die Gestalt eines jeden Menschen nicht wie heute aufrecht-länglich, sondern rund, »so dass Rücken und Brust im Kreise herumgingen. Und vier Hände hatte jeder und Schenkel ebensoviel wie Hände, und zwei Angesichter auf einem kreisrunden Halse einander genau ähnlich, und einen gemeinschaftlichen Kopf für beide einander gegenüberstehende Angesichter, und vier Ohren, auch zweifache Schamteile, und alles übrige wie es sich hieraus ein jeder weiter ausdenken kann.« 11 Die ursprünglichen »Kugelmenschen« konnten sich mit dieser Anatomie nicht nur sehr schnell fortbewegen, sondern hatten überhaupt gewaltige Kräfte und waren imstande große Gedanken zu bilden. Alsbald entwickelten sie Übermut und beschlossen, sich einen Weg in den Himmel zu bahnen, um die Götter anzugreifen. Zeus überlegte, was zu tun sei. Den andauernden Frevel konnte er nicht dulden, doch würde er sie einfach vernichten, gäbe es niemanden mehr, der ihm und den übrigen Göttern Opfer brächte und sie verehrte. So entschied er sich, den Menschen nicht zu töten, sondern ihn stattdessen entscheidend zu schwächen: »Denn, so sprach er, will ich sie jeden in zwei Hälften zerschneiden, so werden sie schwächer sein und doch zugleich uns nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind, und aufrecht sollen sie gehen auf zwei Beinen.« 12 Von dieser Zeit an haben die Menschen ihre heutige Gestalt und sehnen sich unablässig nach ihrer verlorenen Hälfte, die sie zur Vervollständigung ihrer ursprünglichen Natur benötigen. Aus der Trennung der mannweiblichen Kugelmenschen entstanden ein Mann, der sich zu Frauen hingezogen fühlt, und eine Frau, die sich zu Männern hingezogen fühlt. Die Hälften eines weiblichen Kugelmenschen sind weiblich und begehren andere Frauen, entsprechend sind jene eines rein männlichen Kugelmenschen männlich und empfinden Verlangen nach anderen Männern. Glauben die Suchenden ihr Gegenstück gefunden zu haben, umschließen sie es, im Versuch sich wieder mit ihm zu vereinigen, innig mit Armen und Beinen. Allzu oft ist es jedoch nicht die gesuchte Hälfte und die Menschen lassen einander wieder los. Geschieht es aber tatsächlich, dass die Verlorenen einander finden, so werden sie sich bis ans Ende ihres Lebens nicht mehr gehen lassen und wollen jede Sekunde ihrer Zeit miteinander verbringen. Würde man sie fragen, wieso sie derart aneinander hängen, so wüssten sie gar nicht recht zu antworten – es ist 11 12

Platon, Symposion, 189e–190a. Ebenda, 190 d.

28 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

eine tiefe, naturgegebene Sehnsucht der Seelen, die sich nicht in Worte fassen lässt. »Hiervon [von der Attraktion] ist nun dies die Ursache, dass unsere ursprüngliche Beschaffenheit diese war und wir ganz waren, und dieses Verlangen eben und Trachten nach dem Ganzen heißt Liebe.« 13 Es ist die Kraft des Eros, die uns auf dieser Suche befehligt und führt. Wenn wir ihn preisen und uns auch mit den übrigen Göttern gut stellen, so Platons Aristophanes, wird Eros uns zur verlorenen Hälfte geleiten, mit der wir unsere Existenz vervollständigend glückselig werden. Der Mythos der Kugelmenschen ist offensichtlich so populär, weil er auf so poetische Weise und mit ausdrucksstarken Bildern das beschreibt, woran der westlich sozialisierte Mensch glauben möchte: eine leidenschaftliche Liebe, die einzig ist und ewig währt, eine Liebe, die vom Schicksal bestimmt und geschützt ist, die gleichermaßen erfüllt und erfüllend ist – eine Liebe im Stile Walt Disneys. Bevor ich mich der Rede des Sokrates widme, die ein ganz anderes Licht auf Eros werfen wird und die den größten philosophischen Gehalt des Symposions birgt, möchte ich nun die Rede des Agathon darstellen. Sein Beitrag zum Diskurs kann in der Weise als stellvertretend für die Reden der übrigen Teilnehmer des Gastmahls gelten, als dass er ebenfalls eine Lobrede ist, wodurch sich ein kollektiver Kontrast zur abschließenden Rede des Sokrates bildet. Agathon beschreibt Eros als den glückseligsten, weil schönsten und besten unter allen Göttern. Er regiere die Götter, lehre sie und versöhne sie in Liebe miteinander. Er sei der Jüngste und ewig Jungbleibende, der das Alter von Natur aus hasse und sich stets zur Jugend geselle, der Geschmeidigste und Zarteste, der sich an jede Seelenkontur anschmiegen könne und nur in den weichen Gesinnungen und Seelen der Menschen und Götter lebe. 14 Eros sei in höchstem Maße gerecht, besonnen, tapfer, weise, kreativ und Schöpfer des Lebens: »Und was nun weiter die Hervorbringung alles Lebendigen betrifft, wer wollte wohl bestreiten, dass es die Kunst des Eros sei, durch welche alles Leben entsteht und gebildet wird.« 15 Auf diese Rede hin meldet sich Sokrates zu Wort. Nachdem seine Vorredner versuchten, dem Eros möglichst viel Schönes anzudichten, um ihn zu preisen, möchte er nun über die wahre Natur der 13 14 15

Platon, Symposion, 193a–193b. Vgl. ebenda, 195a–196b. Ebenda, 196e–197a.

29 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Liebe sprechen. 16 So fragt er Agathon, ob Liebe nicht immer einen Gegenstand haben müsse, auf den sie sich bezieht. Das bejaht Agathon und so fragt Sokrates weiter, ob Liebe diesen Gegenstand nicht begehren müsse, wenn sie einmal für ihn entbrannt ist. Auch hier stimmt Agathon zu. Kann denn aber, fragt nun Sokrates, das, was begehrt, das Begehrte schon besitzen oder kann es nur begehren, wenn ein Mangel an und eine Bedürftigkeit nach dem Begehrten besteht? »Wünscht also wohl jemand, der groß ist, groß zu sein, und der stark ist, stark zu sein?« 17 Agathon verneint und gibt Sokrates damit Recht. Wendet man diesen Gedankenschluss auf die Liebe an, so wird deutlich, dass sie niemals vollkommen sein kann, sondern immer Begehren aus Mangel ist, dass sie dem, wonach sie strebt, immer bedürftig sein muss. Da nun Eros, der die Liebe ist, immer nach dem Schönen strebt und nicht nach dem Hässlichen, kann er selbst nicht schön sein, sondern es muss ihm an Schönheit mangeln. Und da das Gute auch schön ist, begehrt Eros das Gute und ist dem Guten somit bedürftig. 18 Wenn Eros aber des Schönen und Guten bedürftig ist, dann kann er kein Gott sein, da Götter ihrer Natur nach vollkommen schön und glückselig sind. Das wiederum bedeutet aber weder, dass Eros hässlich und schlecht, noch dass er sterblich ist. Er ist weder hässlich noch schön, weder schlecht noch gut, weder Mensch noch Gott, er ist in allem immer dazwischen. So wird Eros als ein mächtiger Dämon vorgestellt, der als Mittler zwischen den Menschen und den Göttern fungiert, indem er den einen Gebete und Opfer und den anderen Befehle und Vergeltung ihrer Opfer überbringt. Er ist einerseits immer arm, immer bedürftig, rau und unansehnlich, andererseits aber stellt er tapfer und unermüdlich dem Schönen und Guten nach, ist erfinderisch und ein geschickter Jäger. Er ist weder weise noch unverständig und da auch die Weisheit zum Schönen gehört, liebt er sie und strebt ihr ewig philosophierend nach. Doch Eros erlangt nie, was er begehrt, da er nur im Begehren existiert. Seine Begierde richtet sich auf eine Person, sobald diese der Verbindung aber zustimmt, besteht an ihr kein Mangel mehr. Ohne den Mangel aber gibt es kein Begehren und ohne Begehren gibt es Im Laufe der Rede stellt sich heraus, dass Sokrates sein Wissen über die Liebe gar nicht selbst ersonnen, sondern von einer Mantineerin namens Diotima erfahren hat. Diesen rhetorischen Winkelzug möchte ich zu Gunsten besserer Lesbarkeit im laufenden Text vernachlässigen. 17 Platon, Symposion, 200b. 18 Vgl. ebenda, 200a–201c. 16

30 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

keine Liebe im Sinne des Eros – er stirbt im selben Moment, in dem er sein Ziel erreicht. Eros ist daher selbst nicht das Geliebte, »[denn] das Liebenswerte ist auch in der Tat das Schöne, Zarte, Vollendete, Seligzupreisende« 19, sondern er ist das Liebende, das im Verlangen besteht und im Erlangen vergeht. Comte-Sponville drückt es folgendermaßen aus: »Das Begehren wird durch die Befriedigung aufgehoben und ist darum zwangsläufig entweder unbefriedigt oder erloschen, entweder Not oder tot, entweder unglücklich oder abhanden gekommen. […] Was heißt lieben? Es heißt entbehren, was man liebt, und es für immer besitzen wollen. Darum ist die Liebe, jedenfalls diese Liebe, egoistisch, […] innerlich zerrissener Egoismus, als wäre sie glücklich über die Abwesenheit, erfüllt von der Leere, die ihr Objekt hinterlässt, und von sich selbst als gerade diese Leere.« 20 Diese qualvolle Beschreibung ist nun weit entfernt von den gefälligen Ausführungen des Aristophanes und des Agathon. Doch Platons Sokrates bietet gleich zwei Möglichkeiten, wie man dem Dilemma des Eros entkommen und doch noch Erfüllung erlangen kann. Zunächst erklärt er die Kraft, die den Menschen dazu antreibt, der Liebe mit solcher Hingabe nachzugehen, etwas genauer: Alle Menschen sind bezüglich ihres Körpers und ihrer Seele fruchtbar, also der Zeugung befähigt. Unserer Natur nach streben wir zur Erzeugung, die nur im Schönen und nicht im Hässlichen geschehen kann. Die Erzeugung selbst aber ist ein göttlicher Vorgang, da sie dem sterblichen Leben Anteil an der Unsterblichkeit gibt. Eltern reichen durch die Zeugung von Nachkommen nicht nur ihre Erbanlagen weiter, auch ihre Erfahrungen und Wertevorstellungen manifestieren sich durch die Erziehung im Wesen ihrer Kinder. »Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, dass es durchaus immer dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes Neues solches zurücklässt, wie es selbst war. Durch diese Veranstaltung […] hat alles Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles übrige«. 21 Aus dieser Feststellung schließt Platon, dass die Liebe der Menschen eigentlich gar nicht nach dem Schönen per se strebt, sondern nach der Zeugung im Schö-

Platon, Symposion, 204c. Comte-Sponville, André: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte. Übersetzt von Josef Winiger, Nicola Volland u. Una Pfau. Hamburg: Rowohlt Verlag 1996, S. 276. 21 Platon, Symposion, 208b. 19 20

31 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

nen. Die Schönheit ist somit bloß Bedingung für den göttlichen Akt der Zeugung, durch den die Menschen Anteil an der Unendlichkeit haben. »So geht denn, alles zusammengenommen, die Liebe darauf, dass man selbst das Gute immer haben will.« 22 »Nach der Unsterblichkeit aber zu streben mit dem Guten ist notwendig zufolge des schon eingestandenen, wenn doch die Liebe darauf geht, das Gute immer zu haben«. 23 Allerdings kann der Mensch nicht nur durch die Zeugung von Nachkommen Anteil an der Unsterblichkeit erlangen. Auch durch den Ruhm großer, tugendhafter Taten ist dies möglich, da man in der Erinnerung nachfolgender Generationen fortlebt. Den vollkommensten Weg zur Unsterblichkeit beschreitet man jedoch mittels der Zeugungskraft seiner Seele: Angeregt durch die Schönheit einer anderen Seele wird der Mensch tugendhaft und kreativ und erschafft Beständiges in Kunst und Philosophie. »Und jeder sollte lieber solche Kinder haben wollen als die menschlichen, wenn er auf Homeros sieht und Hesiodos und die anderen trefflichen Dichter […], was für Geburten sie zurücklassen, die ihnen unsterblichen Ruhm und Andenken sichern, wie sie auch selbst unsterblich sind«. 24 Neben der Zeugung im Schönen hält Platon noch eine zweite Möglichkeit bereit, den Leiden des Eros zu entkommen. Er nennt sie den »Stufenweg in der Erkenntnis des Schönen« 25: Die erste Stufe erklimmt man in der Jugend, indem man die Schönheit eines Körpers erkennt und nach dessen Berührung strebt. Dann erkennt man bald, dass die Schönheit dieses Körpers dieselbe ist, wie sie auch andere Körper innehaben, sodass man beginnt, alle schönen Körper zu lieben. Die dritte Stufe bedeutet das Erkennen der Schönheit der Seelen und die Erkenntnis, dass diese Schönheit jener der Körper vorzuziehen ist. Hiernach gilt es, die Schönheit in den Bestrebungen der Menschen und in den Sitten und Gesetzen zu erkennen und zu lieben. Auf der vorletzten Stufe des Weges soll die Schönheit der Erkenntnisse, also die der Weisheit, erkannt und geliebt werden. Spätestens an dieser Stelle löst sich der Liebespilger als Philosoph von der »trivialen Schönheit« menschlicher Individuen und hebt den Blick hin zu einer abstrakteren Ebene des Schönen: »Von den Bestrebungen aber muss er weiter zu den Erkenntnissen gehen, damit er […], […] auf die hohe 22 23 24 25

Ebenda, 206a. Ebenda, 207a. Platon, Symposion, 209c–209d. Ebenda, 209e.

32 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

See des Schönen sich begebend und dort umschauend, viel schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in unangemessenem Streben nach Weisheit […].« 26 Von der Schönheit der Erkenntnisse gebildet, gereift und gestärkt kann der Mensch auch die letzte Erleuchtung erfahren: »Die Vollendung des Lebens in der Schau des Schönen selbst« 27, des reinen Schönen, des Schönen an sich, das einzig, ewig und unveränderlich ist. Dieses vollkommen Schöne hängt nicht vom Geschmack des Betrachters ab und ist nicht relativ zu etwas anderem schön. Es ist weder gegenständlich noch auf einen Geisteszustand beschränkt. Es ist völlig und allumfassend schön, es ist die Idee des Schönen, an der die einzelnen schönen Körper und Gedanken unserer Welt teilhaben und von woher sie ihre Schönheit beziehen. Doch nicht so, dass das Schöne an sich durch das Werden und Vergehen der schönen Einzeldinge beeinflusst wäre. Es ist nicht Teil unserer Welt, sondern gehört zur Sphäre der unveränderlichen Ideen, deren Vollkommenheit die Erscheinungen unserer Welt als ihren Abglanz hervorbringt. Im Buch Phaidros spricht Platon abermals durch die Reden seines einstigen Lehrers und baut diese Vorstellung weiter aus. Sokrates führt einen Dialog mit Lysias, einem Logographen des antiken Athens. Schließlich widerspricht er seinem Freund darin, dass Eros und seine Wirkung auf die Menschen etwas Schädliches sei. Er gesteht zwar ein, dass Verliebte von einem gewissen Wahnsinn befallen sind, doch sei dieser nicht schlecht, sondern etwas Gutes. Ebenso wie der göttliche Wahn, in den wahre Künstler und Weissager verfallen und durch den sie größte Taten vollbringen können, so sei auch der Liebeswahn ein Geschenk der Götter an die Menschen. Denn er sei der Weg und die Methode zur Glückseligkeit in der Schau des reinen Schönen: »[…] zur größten Glückseligkeit [haben] die Götter diesen Wahnsinn verliehen.« 28 Jede menschliche Seele, so Platon (als Sokrates), hat das Schöne an sich in der Sphäre der ewigen Ideen erblickt, bevor sie in einen irdischen Körper herabsinkt. Je nachdem, wie viel vom wahrhaft Seienden die Seele vor ihrem Sturz erhaschen konnte, findet sie auf Erden ein entsprechendes Dasein. Jene mit der eindrücklichsten Erinnerung an die Ideensphäre sind die Philosophen und die wahren Künstler, die ihrer Natur nach die Weisheit und das 26 27 28

Ebenda, 210c–210d. Ebenda, 210e. Platon, Phaidros, 245b–245c.

33 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Schöne lieben. Hiernach folgen die Könige, dann die Dichter und schließlich die Bauern und Handwerker. Die Seelen, die am wenigsten Einsicht hatten, finden sich in Tyrannen wieder. Die menschliche Seele ist aber nicht auf alle Zeit dem Irdischen verhaftet, sondern kann wieder emporsteigen. Denn sie war einst befiedert und besitzt weiterhin die Anlage zur Ausbildung von Federn. Dieses Seelengefieder ernährt sich vom Schönen der irdischen Welt, vom Bösen und Missgestalteten hingegen zehrt es ab und vergeht. Erblickt ein Mensch weltliche Schönheit, bspw. in einem hübschen Gesicht oder einer schönen Gestalt, so erinnert seine Seele sich der reinen Schönheit der Ideensphäre. »Wer aber noch frische Weihung an sich hat und das Damalige vielfältig geschaut, wenn der ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst, und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten, hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott, und fürchtet er nicht den Ruf eines übertriebenen Wahnsinns, so opfert er auch, wie einem heiligen Bilde oder einem Gotte, dem Liebling. Und hat er ihn gesehen, so überfällt ihn, wie nach dem Schauder des Fiebers, Umwandlung und Schweiß und ungewohnte Hitze. Durchwärmt nämlich wird er, indem er durch die Augen den Ausfluss der Schönheit aufnimmt, durch welchen sein Gefieder gleichsam begossen wird. Ist er nun durchwärmt, so schmilzt um die Keime des Gefieders hinweg, was schon seit lange verhärtet sie verschloss und hinderte hervorzutreiben. Fließt aber Nahrung zu, so schwillt der Kiel des Gefieders und drängt, hervorzutreten aus der Wurzel überall an der Seele, denn sie war ehedem ganz befiedert.« 29 Dieser unkontrollierbare Wahnsinn, bei dem ein Mensch sich, angeregt durch die weltliche Schönheit eines anderen Menschen, der reinen Schönheit erinnert und oft gar nicht weiß wie ihm geschieht, weil es bloß eine Ahnung ist, das ist die Liebe. Mit ihrer Hilfe kann das Gefieder der menschlichen Seelen im Abglanz des ewig Schönen heranwachsen, bis es stark genug ist, um sie dorthin zurückzutragen. Allerdings ist dieser Prozess überaus langwierig und nur jene meistern den Aufstieg, die stets »ohne Falsch philosophiert und nicht unphilosophisch die Knaben geliebt [haben]. […] Daher auch wird mit Recht nur des Philosophen Seele befiedert: […] Indem er nun menschlicher Bestrebung sich enthält und mit dem Göttlichen um29

Platon, Phaidros, 251a–251b.

34 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

geht, wird er von den Leuten wohl gescholten als ein Verwirrter, dass er aber begeistert ist, merken die Leute nicht.« 30 Auch wenn die Aussichten auf baldige Erlösung schlecht stehen, ermutigt Platon dennoch dazu, sich Eros hinzugeben: »Denn in die Finsternis und den unterirdischen Pfad ist denen nicht bestimmt zu geraten, welche schon eingeschritten waren in den himmlischen Pfad […]« 31 – solche Menschen also, die in irgendeiner Form liebend nach dem Schönen streben. Wer sich hingegen aus Angst vor den Launen und dem Leid des Eros bloß mit Menschen umgibt, die er nicht liebt und die selbst keine Liebe spenden, dessen Seelengefieder verkümmert und sein Schicksal wird es sein »neuntausend Jahre um die Erde sich umherzutreiben und vernunftlos unter der Erde.« 32 Bevor ich mich der zweiten Liebesform der Antike zuwende, möchte ich die Möglichkeiten, die Platon anbietet, um dem Dilemma des Eros als ewig begehrende und nie erfüllende Liebe zu entkommen, aus lebenspraktischer Perspektive reflektieren. Zunächst ist da die Zeugung im Schönen in zwei Varianten: die Zeugung von Kindern und die Zeugung von geistigen oder dinglichen Werken, die das eigene Leben überdauern. Ich stelle mir einen jungen Menschen vor, der schon die eine oder andere Liebe durchlebt und verwunden hat und dessen letzte verzehrende Liebe im Aufbau einer langfristig angelegten Partnerschaft verklungen ist. Entstehen aus dieser Verbindung gemeinsame Nachkommen, so ändert sich der soziale Kontext der jungen Eltern, was eine Änderung ihres Selbstverständnisses zur Folge haben kann. Es werden neue soziale Rollen eingenommen und die Konzeption des eigenen Lebens erfährt eine Neuausrichtung. Von diesem tiefreichenden Perspektivwechsel kann auch Eros betroffen sein. Denn durch die neuartige Verbundenheit zum Partner und die neuartige Liebe zu den Kindern könnte sich die Begierde zum Schönen außerhalb dieses sozialen Subgefüges relativieren und in den Hintergrund rücken. Durch die Erfüllung, die mit der emotiven Bindung an die Familie einhergeht, könnte sich der Betroffene aus dem Wirkungskreis des Eros also zumindest mittelfristig befreien. 33 Ebenda, 249a–249d. Ebenda, 256d. 32 Ebenda, 257a. 33 Dass sich unter den beschriebenen Bedingungen das Lebenskonzept der Eltern nicht immer wandelt und dass es ebenso wie jedes andere Konzept dem zerrüttenden Moment der Alltagsrealität ausgesetzt ist, was einen Rückfall in den ewig begehrenden Zustand des Eros zur Folge haben kann, ist bekannt. 30 31

35 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Die zweite Variante, die Zeugung von Unbelebtem im Schönen, bewirkt in der Regel keinen solchen Wandel der Lebenswelt. Es ist schwer vorstellbar, dass derselbe junge Mensch durch die Komposition von Musikstücken oder das Schreiben philosophischer Texte seine begehrende Liebe zu anderen Menschen verliert. Der Grund hierfür ist, dass diese Zeugung nicht die existenziellen Strukturen des Individuums verändert, wodurch der beschriebene Rollenwechsel und die Bildung des sozialen Subraumes ausbleiben. Keine neuartige Zuneigung kann Eros verdrängen, es entsteht allenfalls eine abstrakte Liebe zu den erschaffenen Dingen, die jedoch eher einer Selbstliebe ohne Gegenliebe gleicht und auf lange Sicht für sich genommen kaum erfüllen kann. Ich bin zwar der Überzeugung, dass die Erschaffung von geistigen oder dinglichen Werken substanziellen Lebenssinn generieren kann, weil dadurch ein Abdruck der eigenen Person über den Tod hinweg fortbesteht. Die Liebe des Eros sehe ich durch die kreative Zeugung jedoch eher in dem Sinne betroffen, als dass die intensive Arbeit zeitweise von ihr ablenken kann. Dieser Effekt könnte jedoch auch durch eine weniger schöpferische Tätigkeit erreicht werden und kann kaum als »Befreiung« gelten. Die zweite beziehungsweise dritte Möglichkeit, der »Stufenweg in der Erkenntnis des Schönen«, beschreibt keinen kurzfristigen Ausweg aus den Leiden des Eros, sondern den geistigen Entwicklungsprozess eines gebildeten Menschen, der sich mit zunehmendem Alter immer mehr für die abstrakte Schönheit philosophischer Meditationen als für die sinnliche Schönheit anderer Menschen interessiert. Platon nimmt bei diesem Gedankengebäude also Rücksicht auf die Entwicklungsstufen des Menschen: In der Jugend soll der Körper geliebt werden, später der Charakter, hiernach das Staatswesen und erst dann, im fortgeschrittenen Erwachsenenalter mit reichlicher Liebeserfahrung, die Weisheit als solche. Denn es wird einem jungen Menschen kaum hilfreich sein, seine Liebesgefühle zum göttlich Schönen zu abstrahieren, um den Untiefen der Liebe im Sinne des Eros zu entkommen. Der Mensch bildet sich im Lieben der verschiedenen Schönheiten Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Ob die Liebe zur Erkenntnis jene zu den schönen Körpern im Erwachsenenalter tatsächlich vollkommen überstrahlt, entscheidet sich wohl an der körperlichen wie geistig-charakterlichen Konstitution eines jeden Menschen. Aufgrund ungeeigneter Veranlagung und weil lebenspraktisch oft die nötige Ruhe für ästhetische Reflexionen fehlt, ist es vielen Menschen zudem gar nicht möglich, einen philosophischen Erkennt36 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

nisweg zu beschreiten, wie ihn Platon vorzeichnet. Doch das ist auch gar nicht nötig. Wer ausgiebig geliebt, die Euphorie und Qual des Eros, sein Aufflammen und Erlöschen einige Male erlebt hat, der wird in aller Regel etwas besonnener. Er gibt nicht mehr jeder Liebesregung nach, weil er oft genug erfahren hat, dass Eros nicht solche Erfüllung bereithält, wie er sie mit aller Zier des Weltlichen verkündet. Auf diese Weise kann sich der Liebende gewissermaßen durch den Dämon aus dessen Dilemma befreien: Die Versenkung im Eros formt über die Jahre eine reifere und resistentere Persönlichkeit, die sich nicht von jedem Affekt ihrer Leidenschaft der Welt entrücken lässt. Ob nun also durch philosophische Reflexion oder Liebeserfahrung: Wir sollten nicht versuchen, den Leiden des Eros zu entkommen, solange diese Kraft in uns wirkt. Denn die Liebe lehrt uns Leben und ist somit gleichermaßen Leid und Erlösung im Schönen. Wie aber verhält es sich mit der letzten Stufe, dem Erreichen der »Glückseligkeit in der Schau des reinen Schönen«? Dieser Schritt wirkt doch sehr mystisch und übernatürlich. In der Tat wird hierfür der Glaube an etwas Jenseitiges, etwas Göttliches vorausgesetzt. Dies mag heutzutage nicht mehr selbstverständlich sein, doch bedenkt man das Wesen des Eros, so kann es kaum überraschen, dass sein Weg schließlich hier endet – oder besser: hier unendlich wird. Denn das Göttliche, dessen Gegenwart wir im Leben zwar erinnern und erahnen, nicht aber erfahren können, bedeutet ultimatives Entbehren. Durch Eros als Mangel des Göttlichen im Leben also bleibt die Leidenschaft lebendig. Es sind bezaubernde Vorstellungen und philosophische Perlen: der Stufenweg zur Erkenntnis des Schönen und die gefiederte Seele, die auf Schwingen des hiesigen Schönen zum reinen Schönen emporsteigt. Doch was lehren sie uns über die weltliche Liebe, leiten sie uns letztlich doch dazu an, den Blick von allem Menschlichen zu lösen? Es ist wahr, zum Ende der platonischen Abhandlungen wird die Liebe stets abstrakt und richtet sich »gen Himmel«. Doch gerade zu Beginn des Symposions lehrt Platon uns doch Wichtiges über die zwischenmenschliche Liebe: Eros ist Verlangen und Begehren, ist der Wunsch nach persönlichem Besitz und so seinem Wesen nach eine fordernde, einnehmende, erobernde und letztlich eine egoistische Liebe. Ihr ist das Wohl des Geliebten weit weniger wichtig als das eigene Wohl, das sich ausschließlich durch den Besitz des anderen erzeugt. In einer Vorrede des Phaidros heißt es: »Dieses also musst du bedenken […] und die Freundschaft des Liebhabers kennenlernen, dass sie nicht 37 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

wohlwollender Natur ist, sondern dass nur nach Art der Speise um der Sättigung willen, gleichwie Wölfe das Lamm […] lieben.« 34 Und Eros besitzt eine noch hässlichere Seite, dann nämlich, wenn er scheitert. Wenn die Liebe zurückgewiesen wird und der Geliebte darüber hinaus sein Glück mit einer anderen Person findet, kann Eros in Hass und Gewalt umschlagen. Eros kann nicht teilen, er ist eifersüchtig, verletzlich, stur und rachsüchtig. Seine guten Eigenschaften bildet er nur aus, wenn er eine Chance auf Besitz wittert. Ist diese Hoffnung einmal erloschen, wird er bitter und boshaft. Düstere Aussichten also: Wir empfinden eine Liebe, die ihrer Definition nach unerfüllt bleibt und dadurch gewissermaßen immer ohne realen Bezug ist: »Wenn die Liebe Entbehren ist, dann ist sie immer nur imaginär – und dann liebt man immer nur Trugbilder.« 35 – eine irreale Liebe, die schmachtet oder vergeht, die immer Not oder Tod bedeutet, in manchen Fällen sogar den Tod der Liebenden. Große Dramen wie »Tristan und Isolde« oder »Romeo und Julia« stellen es eindrücklich dar, das Sterben in brennender Leidenschaft und somit die Rettung des Eros durch seine Konservierung im gemeinsamen Ende. Die Werke hätten kaum solch andauernden Erfolg, wenn an ihrem Ende nicht der Tod, sondern der Alltag stünde, wenn der Zwist zwischen den Häusern Montague und Capulet beigelegt, Julia sich dem Haushalt und den Kindern und Romeo sich zunehmend dem Wirtshaus und sich selbst widmen würde. Nur durch das höchste Leid im Tod des Geliebten und den nachfolgenden Tod des Liebenden selbst, nur wenn die Liebe zur Leidenschaft stärker ist als zum Leben, kann Eros unsterblich werden, denn die Zeit ist sein Tod und der Tod seine Ewigkeit. Muss es aber so kommen? Steht uns endloses Leid oder Tod bevor? Sind die Liebenden verdammt? Nein. Zwar muss Eros, so wie er hier beschrieben ist, in der Verbindung der Liebenden verklingen, das gibt seine Natur vor. Doch das heißt nicht, dass an seiner statt nicht etwas Neues entstehen kann, etwas weniger Brennendes, weniger Verzehrendes und weniger Gefährliches vielleicht, das dafür länger währt. Vielleicht stirbt Eros auch nicht restlos, sondern wird Teil einer neuen Form der Liebe. In der nun folgenden Betrachtung von »Philia« wird diesem Gedanken nachgegangen.

34 35

Platon, Phaidros, 241c–241d. Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, S. 285.

38 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

3.1.2 Philia Der Mensch wäre eine traurige Kreatur, könnte er nur die verzehrende Liebe des Eros empfinden. Doch er ist auch zu anderen Arten der Zuneigung imstande, eine davon ist Philia. Platon befasst sich mit dieser Liebe im Lysis, allerdings eher um die Komplikationen bei der Analyse ihres Wesen aufzuzeigen. So beweist er stets das eine und widerlegt es durch das andere, bis er schließlich wieder zu seinen Anfangsüberlegungen gelangt. Die Rede ist also zirkulär und ohne abschließende Erkenntnis (außer, dass Philia sich seiner Analyse zu entziehen scheint) und so heißt es an ihrem Ende: »[…] wenn also nichts von allem diesem der Gegenstand der Freundschaft ist, so weiß ich meinesteils nicht mehr, was ich sagen soll.« 36 Eines aber verrät dieses Zitat, nämlich dass Philia eine freundschaftliche Liebe ist. Um mehr über diese Empfindung zu erfahren, ist es angeraten, Platon zu verlassen und sich den Abhandlungen seines bedeutendsten Schülers zuzuwenden, denen des Aristoteles. Im achten Buch der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen drei Formen der freundschaftlichen Liebe. Über die Erste schreibt er: »Die einen lieben einander […] wegen des Nutzens […].« 37 Diese Beziehung besteht also, weil sie einen Vorteil für die Beteiligten mit sich bringt. Am anschaulichsten sind hierfür wohl solche Kinderfreundschaften, bei denen ein eher unbeliebtes Kind zu seinem Geburtstag ein populäres Spielzeug geschenkt bekommt und plötzlich mit Freundschaftsbekundungen überschüttet wird. Doch auch unter Erwachsenen gibt es Beziehungen, die ausschließlich auf gegenseitigem Nutzen basieren – es gibt sogar explizite Bezeichnungen dafür: »Geschäftsfreund« oder »Geschäftspartner« beispielsweise nennen sich Menschen, deren gegenseitiger Nutzen unverhohlen als Basis und Bedingung ihrer Freundschaft gilt. Auch subtilere oder verdeckte Varianten dieser Freundschaft sind allgemein bekannt. Jegliche Art von Annäherung an einen Menschen, die zumindest teilweise von strategischen Überlegungen angetrieben ist – ob politisch, gesellschaftlich oder finanziell –, ist dieser Liebe anteilig. Es fällt berechtigterweise schwer, diese Zuneigung als freundschaftliche Liebe zu bezeichnen, weil sie sich so offensichtlich oder schlimmer noch verdeckt an dem ausrichtet, was ein Mensch besitzt oder was er durch seine 36 37

Platon, Lysis, 222e. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 3, 1156a10–15.

39 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Position ermöglichen könnte, nicht aber an seinen Eigenschaften als Mensch. Die zweite Form der Philia beschreibt Aristoteles als eine Liebe, die auf Lustgewinn basiert. Wie beim Eros ist also die erotische oder leidenschaftliche Anziehung ihre Triebfeder. Sieht man genauer hin, so erkennt man diese Liebe als Variante der eben beschrieben ersten Form von Philia, denn auch das persönliche Lustempfinden ist ein Nutzen, den man aus dem anderen zieht. Beide Philias richten sich im Grunde nicht auf den anderen als solchen, sondern fokussieren das eigene Wohlbefinden. »Wer also um des Nutzens willen liebt, tut es um seines eigenen Gewinns willen, und wer um der Lust willen, tut es um seiner eigenen Lust willen, und nicht sofern der Freund ist, was er ist, sondern nur soweit er nützlich oder angenehm ist.« 38 Es ist damit zum einen eine »kausale Liebe«: »Ich liebe dich, weil du mir mit deinem Geld schöne Geschenke kaufst und mich versorgst; ich liebe dich, weil du mich sexuell befriedigst.« Gleichzeitig aber ist es, und das ist das Entscheidendere, eine konditionale Liebe: »Ich liebe dich, wenn du mich beschenkst; ich liebe dich, wenn du regelmäßig mit mir schläfst.« Nun verhält es sich gewöhnlich so, dass das, was einem Menschen lustvoll oder nützlich erscheint, und das, was ein Mensch geben möchte oder geben kann, mit der Zeit variiert. Wenn also sie die Lust auf häufigen Sex verliert oder er sein Vermögen an der Börse verspielt, ist dieser Liebe die Basis genommen, weil ihre Konditionen nicht mehr erfüllt sind. Dann heißt es: »Ich verlasse dich, weil du nicht häufig genug mit mir schläfst; ich verlasse dich, weil du nicht mehr reich bist.« Beziehungen, die auf dieser Form der Zuneigung gründen, sind daher selten von Dauer. »Dergleichen Freundschaften lösen sich bald auf, da die Partner nicht dieselben bleiben. Wenn sie nämlich nicht mehr angenehm oder nützlich sind, hört die Freundschaft zu ihnen auf. Der Nutzen bleibt aber nicht, sondern ist bald dieser, bald jener. Wenn sich nun aber entfernt hat, um dessentwillen sie Freunde waren, so löst sich auch die Freundschaft auf, da sie ja durch jenes bedingt war.« 39 Die dritte Variante der aristotelischen Philia ist die wahre Freundschaftsliebe, die ausschließlich unter tugendhaften Menschen bestehen kann: »Vollkommen ist die Freundschaft der Tugendhaften 38 39

Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 3, 1156a15–20. Ebenda, VIII 3, 1156a15–25.

40 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

und an Tugend Ähnlichen. Diese wünschen einander gleichmäßig das Gute, sofern sie gut sind, und sie sind gut an sich selbst. Jene aber, die den Freunden das Gute wünschen um der Freunde willen, sind im eigentlichen Sinne Freunde; denn sie verhalten sich an sich so, und nicht zufällig.« 40,41 Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Varianten hat diese Philia nicht bloß die Eigenschaften des anderen wegen den aus ihnen resultierenden persönlichen Vorteilen zum Gegenstand, sondern die Ursache dieser Eigenschaften. Der Mensch wird nicht deshalb geliebt, weil er angenehm ist, sondern warum er angenehm ist. Die Liebe richtet sich somit auf das Gute schlechthin, das der Geliebte in sich trägt und das Aristoteles Tugend nennt. Das Gute an sich ist seiner Natur nach auch immer angenehm und nützlich, sodass die Liebenden einander Wohlbefinden aus der Quelle ihrer Tugend spenden: »[…] das schlechthin Gute ist auch schlechthin angenehm. Dies ist auch das Liebenswerteste, und so findet sich denn bei diesen am meisten Freundsein und Freundschaft, und auf die beste Art.« 42 Beziehungen, die auf diese Art der Philia gründen, sind nicht vom Wechselspiel der persönlichen Interessen abhängig. Sie sind wesentlich stabiler und zumeist von langer Dauer, da ihr Kern, die Tugend, von einer gleichbleibenden Erhabenheit über variierende Vorlieben und Lebensumstände ist. »Ihre Freundschaft dauert, solang sie tugendhaft sind. Die Tugend ist aber beständig, und jeder von beiden ist an sich gut und gut für den Freund.« 43 Wenn ich nachfolgend den Begriff »Philia« verwende, so ist stets diese dritte Variante gemeint. Durch das Gesagte wird deutlich, dass nicht jede Liebe Mangel und Entbehren im Sinne des Eros ist, da sich nicht jede Liebe nach dem Triebverlangen des Liebenden richtet. Philia beschreibt vielmehr die anhaltende Freude an der Existenz des anderen in seiner Gesamtheit als Mensch. Sie integriert zwar das persönliche Wohlbefinden Ebenda, VIII 4, 1156b1–15. Michel de Montaigne kleidet es in folgende Worte: »Nun ist Freundschaft die eigentliche Erfüllung des Ideals der Gesellschaft: alle anderen Beweggründe für menschliche Bindungen, sexuelle Anziehung, Vorteil, Notwendigkeit für die Gruppe oder für den einzelnen, sind weniger schön und uneigennützig; sie sind deshalb nicht eigentlich als Freundschaften zu bezeichnen, weil sich bei ihnen andere Gesichtspunkte als Motive, als Ziel und als Gewinn einmischen, die mit der Freundschaft selbst nichts zu tun haben.« (De Montaigne, Michel: Erstes Buch. Über die Freundschaft. In: Franz, Arthur (Hrsg.): Die Essais. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam Verlag 1984, S. 101). 42 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 3, 1156b20–25. 43 Ebenda, VIII 4, 1156b10–15. 40 41

41 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

durch die Eigenschaften des Geliebten, hat es aber nicht als Zentrum und akute Bedingung der Beziehung. Vielmehr ist der Wesenskern des Geliebten (seine Seele, um im Vokabular der antiken Philosophie zu bleiben) Angelpunkt und Voraussetzung der Zuneigung. Hierbei ist es wichtig zu bemerken, dass eine Handlung, sobald sie sich von den eigenen Primärtrieben löst, zumindest anteilig zu einer aktiven Entscheidung wird: »Die Zuneigung scheint eine Art von Leidenschaft zu sein, […] gegenseitige Freundschaft aber beruht auf einer Willensentscheidung […].« 44; ähnlich de Rougemont: »Verliebtsein ist ein Zustand, lieben eine Haltung.« 45; und ergänzend de Montaigne: »Unsere freie Entscheidung kann sich aber kein Ziel setzen, das ihr so wohl ansteht als Zuneigung und Freundschaft.« 46 Wenn Eros also Leid der Passion ist, so ist Philia aktive Freude zum Wesen eines anderen und die Willensentscheidung, ihn mit Verbindlichkeit und Vertrauen zu lieben. Sie ist das innere Vermögen zur Freude am anderen, wie Spinoza es formulieren würde 47, ganz gleich, ob er gerade zugegen ist und dem Liebenden Wohlbefinden spendet oder nicht. Philia vollzieht sich demnach eher im Lieben als im Geliebtwerden. Damit dezentralisiert sie sich gewissermaßen selbst und bildet mit ihrer altruistischen Freude ein Kontergewicht zum egoistischen Verlangen des Eros. Am reinsten besteht diese gebende Liebe, so Aristoteles, bei den Müttern. Ihnen genügt es oft, dass ihr Kind glücklich und gesund ist, selbst wenn es in einer Ziehfamilie aufwächst, weil die leiblichen Eltern ihm kein entsprechendes Leben bieten können. In diesem Fall ist das persönliche Verlangen, nämlich das Kind um sich zu haben, es zu liebkosen, es aufwachsen zu sehen und seine Liebe zu spüren, in den Hintergrund gerückt, zugunsten einer selbstlosen Freude über das glückliche Leben des Kindes. 48, 49

Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 7, 1157b25–35. De Rougemond, Denis: L’amour et l’Occident. Paris: Bibliothèques 10x18 1974, VII 4, S. 262. 46 De Montaigne, Über die Freundschaft, S. 102. 47 Vgl. De Spinoza, Baruch: Die Ethik. Übersetzt von Jakob Stern und revidiert von Michael-Czelinski-Uesbeck. Wiesbaden: Marixverlag 2012, insbesondere die Lehrsätze 6–13 und die 6. Definition der Affekte. 48 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 9, 1159a25–35. 49 Deutlich kontrastiert wird die selbstlose Liebe der Mutter durch ihren Säugling. Seine Gier beim Stillen ist reines Verlangen, reine Liebe zur eigenen Befriedigung, wohingegen die Liebe der Mutter freudiges Geben ist, auch wenn erhebliche Strapazen damit verbunden sind. 44 45

42 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

In seiner Eudemischen Ethik schreibt Aristoteles kurz und prägnant »Liebe heißt sich freuen.« 50 Spinoza formuliert es etwas differenzierter: »Liebe ist Lust [auch Freude] 51, verbunden mit der Idee einer äußeren Ursache.« 52 Das verdeutliche, dass Philia nicht der Wunsch nach Befriedigung durch etwas Unerfülltes und damit Imaginäres ist (Eros), sondern die begründete und anhaltende Freude über etwas, das real besteht. Hieraus folgt, dass man Philia nicht im Geheimen nur für sich haben kann. Es muss ein realer und regelmäßiger Austausch mit dem Geliebten stattfinden, er muss von der Zuneigung wissen und sie möglichst in gleichem Maße erwidern: »[…] in jedem Falle gibt es eine Gegenseitigkeit, die nicht verborgen bleibt. Wer einander liebt, will also einander das Gute in dem Sinne, in dem sie einander lieben.« 53,54 Die Philia ist keine spontane Liebe wie der Eros, sie muss sich über einige Zeit entwickeln, in der sich die Beteiligten einander als liebenswert an ihrer Tugend erweisen. Wenn sie dann einmal besteht, hält sie zwar eine Trennung und das Ausbleiben von persönlichem Wohlbefinden durch den Geliebten aus, allerdings nicht unbegrenzt: »Außerdem bedürfen die Glückseligen in keiner Weise des Nützlichen, wohl aber des Angenehmen; […] das Unangenehme halten sie für kurze Zeit aus, dauernd aber wird es keiner überstehen können, nicht einmal das Gute selbst, wenn es einem unangenehm wäre.« 55 Dementsprechend legt Aristoteles besonderen Wert auf das Zusammenleben der Freunde 56, wobei hier wohl weniger das gemeinsame Wohnen gemeint ist, als regelmäßige

Aristoteles, Eudemische Ethik, VII 2, 1237a37–38. Die Übersetzungen sind hier nicht einheitlich. Mit Lust ist aber nicht die körperliche, sondern eine allgemeine Lust der Seele gemeint. Eine synonyme Deutung mit Freude oder Glück ist also legitim. 52 De Spinoza, Die Ethik, S. 162. 53 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 3, 1156a5–10, vgl. auch IX 5, 1166b30–35. 54 Hierdurch ergibt sich ein Problem: In den aufgeführten Beispielen der Mutterliebe (vgl. oben sowie Fußnote 49) liegt eben keine Gegenliebe im Sinne der Philia vor, wie folgende Passage noch verdeutlicht: »[Die Mütter] lieben sie [die Kinder] auch dann, wenn jene ihnen nichts von dem zuliebe tun, was einer Mutter gebührt, weil sie sie nicht kennen.« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 9,1159a30–35). Dieser Umstand steht in direktem Widerspruch zur Forderung nach Gleichheit, emotionaler Entsprechung und dem Wissen der Beteiligten um die Liebe des anderen und kann daher als kleine Inkonsistenz in der aristotelischen Abhandlung bemerkt werden. 55 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 7, 1158a20–25. 56 Vgl. ebenda, VIII 6, 1157b15–20. 50 51

43 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Treffen und der intensive Austausch von Gedanken und Gefühlen, denn Philia ist Aktion im Realen. Damit sei nun das Wesen der Philia ausreichend beschrieben. Doch eine Frage gilt es noch zu klären, bevor ich einige Gedanken zur realen Anwendung der platonischen und aristotelischen Konzeptionen notieren möchte: Wem und wie vielen gegenüber ist die tugendhafte Philia möglich? Nach Lektüre der entsprechenden Textstellen wird eine klare Haltung des Philosophen nicht gleich ersichtlich. So schreibt Aristoteles zumeist ganz allgemein über die tugendhafte Liebe zwischen Freunden, an manchen Stellen aber über diese Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern 57 und an wieder anderen über die Philia zwischen Mann und Frau 58 und zwischen Geschwistern 59. Das wäre nicht problematisch, wenn er nicht gleichzeitig überzeugt zu sein scheint, dass die Philia nur zu einer einzigen Person möglich ist: »Mit vielen befreundet zu sein ist in der Weise der vollkommenen Freundschaft nicht möglich, wie man auch nicht viele zugleich lieben kann. Das gleicht nämlich dem Übermaß und seiner Natur nach bezieht sich ein solches Verhältnis immer nur auf einen einzigen.« 60 Unter diesen Voraussetzungen müsste eine Mutter sich entscheiden, welches ihrer Kinder sie im Sinne der Philia liebt, oder ob sie diese Zuneigung für ihren Mann reserviert. Und was, wenn sie auch noch eine Freundin hat, der sie sich seelenverwandt fühlt … ? Unserer Erfahrung nach existiert hier allerdings gar kein Problem: Eine Mutter verspürt für gewöhnlich die gleiche Art der Liebe für all ihre Kinder und kann darüber hinaus auch zu ihrem Mann tiefe Verbundenheit empfinden. Das folgende Zitat bringt hier womöglich etwas Klarheit und wirft zugleich neue Fragen auf. Im Neunten Buch der Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles: »Denn es scheint kaum möglich zu sein, mit vielen stark befreundet zu sein. Darum kann man auch nicht mehrere zugleich lieben; denn dies gilt doch als eine Steigerung der Freundschaft, und dies gibt es nur einem gegenüber. Und das starke Empfinden bezieht sich immer nur auf wenige.« 61 Hiernach scheint die tugendhafte Philia zu mehreren (wenn auch wenigen) Personen durchaus möglich, was auch die folVgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 8 1158b10–30, 9 1159a25–35 sowie 14 1161b25–35. 58 Ebenda, VIII 14, 1162a15–30. 59 Ebenda, VIII 14, 1161b25–35. 60 Ebenda, VIII 7, 1158a10–15. 61 Ebenda, IX 10, 1171a10–15. 57

44 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

gende Passage belegt: »Doch aus Tugend und um des anderen selbst willen kann man nicht Freund mit vielen sein; man muss froh sein, wenn man auch nur wenige derartige findet.« 62 »Lieben« hingegen, so heißt es oben, kann man nur eine einzige Person. Was aber ist diese Liebe, die noch als Steigerung zur tugendhaften Philia begriffen wird. Sie kann weder die erste noch die zweite Variante der Philia sein, da Aristoteles sie beide der dritten unterordnet. Ist womöglich die vollkommene Freundschaft zwischen zwei Männern gemeint, die alle anderen Verbindungen an Gleichheit und Tugendhaftigkeit überragt? 63 Oder denkt Aristoteles vielleicht an eine höchst tugendhafte Liebe, die gleichermaßen die Leidenschaft des Eros integriert und damit eine vollständige Verbindung von Geist und Körper ermöglicht? Vielleicht entspricht sie in etwa den Vorstellungen des Montaigne: »[…] wenn sich ein ganz freiwilliges und zwangloses Band so knüpfen ließe, dass nicht nur die völlig seelische Gemeinschaft genossen würde, sondern die körperliche Gemeinschaft noch dazu käme, der Mann sich also allseitig einsetzen könnte, dann würde die Freundschaft etwas noch vollständigeres und vollkommeneres werden: aber leider gibt es noch kein Beispiel, dass eine Frau dieses Ideal erreicht hätte; es scheint nach einhelliger Ansicht der antiken Philosophie diesem Geschlecht versagt zu sein.« 64 Also doch eine Freundschaft zwischen Männern – vielleicht mit zusätzlich erotischem Gepräge? Oder gar eine Liebe zu Gott? Es bleibt letztlich wohl disputabel, was für eine Liebe hier gemeint ist, die nicht bloß auf Lust oder Nutzen basiert, eine Steigerung zur tugendhaften Philia darstellt und die man nur einem einzigen Menschen gegenüber empfinden kann. Die »ordinäre« tugendhafte Philia kann also zu mehreren Personen empfunden werden, und zwar auch dann, wenn diese sich offensichtlich vom Liebenden unterscheiden. Zwar schreibt Aristoteles »[…] Freundschaft gilt als Gleichheit« 65, doch kommt es bei der Philia weniger auf Oberflächlichkeiten wie Geschlecht, soziale Stellung oder Alter an. Entscheidend ist vielmehr die ungefähre Entsprechung der Liebenden in ihrer Tugendhaftigkeit: »So können auch Ungleiche am ehesten wohl Freunde werden. […] Gleichheit und Übereinstimmung ist Freundschaft und vor allem die Übereinstimmung in der 62 63 64 65

Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX 10, 1171a15–20. Vgl. Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, S. 298. De Montaigne, Über die Freundschaft, S. 103. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 7, 1157b35–1158a1.

45 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Tugend.« 66 Durch die Übereinstimmung in der Tugend und durch eine Zuneigung, die dem Verhältnis der Liebenden und dem Wesen des Geliebten gerecht wird, können also auch unterschiedliche Menschen Liebe im Sinne der Philia füreinander empfinden. 67 Im Besonderen gilt dies für Männer und Frauen. Sie können eine Glück bringende und tiefe Verbindung eingehen, trotz oder gerade anhand ihrer beträchtlichen Wesensunterschiede: »Denn die Aufgaben sind von vornherein differenziert und verschieden bei Mann und Frau. Also helfen sie einander, indem jedes das Seinige zum Gemeinsamen beiträgt. Darum scheint sowohl das Nützliche wie auch das Angenehme in dieser Freundschaft vorhanden zu sein. Sie wird auch auf Tugend begründet sein, wenn sie beide tugendhaft sind. Denn jedes von beiden hat seine Tugend, und sie werden sich dann daran freuen.« 68 Ich möchte Aristoteles hier wie folgt verstehen: Lebenspartner sollten sich in ihrem Wesen ähneln, in ihrer Tugendhaftigkeit, ihre Seelen sollten gleichen Anteil am Guten haben und in gleichem Maße danach streben. Die Verschiedenheit ihrer Gestalten, Fähigkeiten und einzelnen Charakterzüge hingegen erscheint unproblematisch, sie führt im Gegenteil eine große Chance mit sich. Bei entsprechender Passung können sich die unterschiedlichen Eigenschaften nämlich zu einem harmonischen Ganzen fügen, was das Wohlbefinden und die Stabilität, die die Liebenden zuallererst aus der Ähnlichkeit ihrer Wesen beziehen, noch erhöht. So wäre hier eine Anlehnung an den platonischen Liebesmythos der androgynen Kugelmenschen festzustellen. Was bedeutet dies nun alles für unsere lebensweltliche Romantische Liebe? Soll sie Eros oder Philia sein? Ist jede Beziehung auf einen Liebesmodus festgelegt und muss ihm bis an ihr Ende treu bleiben? Oder kann sie sich mischen und wandeln? Wie kann ein Wechsel gelingen und welche Gefahren birgt er? Welche Opfer fordert welche Liebe und lässt sich daraus eine »Liebesstrategie« ableiten? Aristoteles, Nikomachische Ethik, VIII 10, 1159b 1–5. Zur Freundschaft zwischen Ungleichen wie bspw. Eltern und Kindern vgl. u. a. ebenda, VIII 8, 1158b20–30: »In allen auf Überlegenheit beruhenden Freundschaften muss die Zuneigung eine proportionierte sein, so dass der Bessere mehr geliebt wird, als er selbst liebt und ebenso der Nützlichere usw. Denn wenn die Zuneigung der Würdigkeit entspricht, so ergibt sich eine gewisse Gleichheit, was eben der Freundschaft eigentümlich zu sein scheint.« 68 Ebenda, VIII 14, 1162a20–30. 66 67

46 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

Zunächst einmal muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich bei philosophischen Abhandlungen über Emotionen um Theorien handelt. Sie versuchen ein allgemeines Verständnis zu schaffen, indem sie abstrahieren, vereinfachen, verallgemeinern und das Wesentliche zusammenfassen. Die emotiven Feinheiten und die individuelle Dynamik subjektiver Empfindungen können auf diesem Weg also grundsätzlich nicht abgebildet werden. Sie unterliegen einer solch komplexen Interaktion zwischen Subjekt, dessen Imagination und seiner realen Umwelt, dass dem Liebenden seine eigenen Gefühle mitunter ganz unverständlich sind. Hinzu kommt, dass die beiden bisher besprochenen Formen der Liebe in ihrer reinen Form vorgestellt wurden. Eros und Philia wurden gewissermaßen aus der emotiven Emulsion des realen Lebens herausdestilliert und zur Anschauung in Flaschen verkorkt. In ihrer »natürlichen Umgebung« kommen sie so distinkt voneinander getrennt kaum vor, zumindest nicht für lange Zeit. Um das reale Verhältnis zwischen Eros und Philia zu erhellen, muss ich allerdings wiederum verallgemeinern, indem ich einen »typischen Liebesverlauf« beschreibe. Ich schematisiere diesmal also weniger auf Ebene der Emotionen selbst, sondern bezüglich der liebenden Subjekte: Wenn sich zwei Menschen verlieben, herrscht für gewöhnlich zunächst der Eros. Sie fühlen sich zueinander hingezogen, weil sie auf Befriedigung ihres dringenden Verlangens nach Wohlbefinden durch den anderen hoffen. Dementsprechend brennt die Leidenschaft heiß, wenn sie das erste Mal miteinander schlafen und so endlich Linderung verspüren. Die darauffolgenden Treffen sind geprägt vom Rausch des Entdeckens, vom erotischen Abenteuer im anderen. Doch, wie oben dargestellt, kann Eros nicht bestehen bleiben, weil er am realen Kontakt vergeht. Was einmal entdeckt ist, kann nicht erneut entdeckt werden und so wird der Körper des Geliebten mit all seinen plastischen Feinheiten, all seinen Bewegungen und Gerüchen nach und nach erschlossen. Das Bekannte ist nicht abenteuerlich, es ist gewöhnlich. Das schwächt den Eros, denn die Gewohnheit ist sein Feind und der Tod sein Schicksal. Doch manche Paare schaffen es, das aufzehrende Feuer des Eros umzuschichten, bevor es gänzlich erlischt. Dann nämlich, wenn sie ihre Liebe weg von der eigenen Leidenschaft hin zum anderen richten. So kann eine Freude an der reinen Existenz des anderen entstehen, an der Vertrautheit und Nähe, an der Geborgenheit und am Vertrauen, an der Aufrichtigkeit und der Verbindlichkeit. Nicht etwa um ineinander aufzugehen, sondern um sich in der Verschiedenheit aneinander zu 47 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

entwickeln. Comte-Sponville formuliert es so: »Eins werden? Das haben sie schon seit langem aufgegeben, wenn sie denn je daran geglaubt haben. Sie legen viel zu großen Wert auf ihr Duett mit seinen Harmonien, seinem Kontrapunkt, seinen gelegentlichen Dissonanzen, um es in einen doch nicht möglichen Monolog zu verwandeln. Sie sind vom Liebeswahn zur weisen Liebe gelangt, wenn man so will, und ein Narr, wer einen Verlust darin erblickt, einen Schwund, eine Banalisierung, wo es doch im Gegenteil eine Vertiefung bedeutet, mehr Liebe, mehr Wahrheit, und eine regelrechte Ausnahme im Gefühlsleben.« 69 Eros kann also unter bestimmten Umständen zu Philia werden. Das ist ein lebensnaher und erstrebenswerter Ausweg aus dem Leidenskreislauf des Eros. Denn wenn diese zerstörerische Liebe sterbend in die selbstlose Freude der Philia fällt, so kann sie als Teil des neuen, erweiterten Liebesspektrums weiterleben. Philia kann Eros retten – nicht vollständig mit all seiner Intensität, doch zumindest seine Essentia – und in die Beziehung integrieren. Denn Leidenschaft ist nach wie vor von großer Bedeutung für die Paarbeziehung, wenn auch nicht mehr ihre tragende Basis. Die leidenschaftliche und die freudige Liebe schließen einander also keineswegs aus, ihr Zusammenspiel ist vielmehr Regel und Ideal, gerade bei jungen Paaren. »Man kann sich freuen (philia) über etwas, das einem fehlt (eros), und man kann etwas besitzen wollen (eros), dessen Existenz allein bereits ein Glück ist (philia), man kann also leidenschaftlich und freudig zugleich lieben.« 70 Wenn es gelingt, die Leidenschaft lebendig in die Freundschaft herüberzutragen, so bekommt sie einen ganz eigenen Wert. Sie ist weniger stürmisch und abenteuerlich, dafür aber intensiver in ihrer emotiven Wirkung, sie ist hingebungsvoller, weniger selbstfixiert und freier von Hemmungen und Unsicherheiten. Es ist ganzheitlicherer Sex, weil man unter Philia nicht bloß mit einem reizvollen Körper, sondern mit dem gesamten Menschen schläft. Dies konstatiert auch Comte-Sponville: »Wer nie mit seinem besten Freund oder seiner besten Freundin geschlafen hat, dem fehlt, so scheint mir, grundlegendes Wissen über die Liebe und die Freuden der Liebe, über Paare und die Sinnlichkeit von Paaren.« 71 Ich sagte bereits, dass auch diese Ausführung schematisch und verallgemeinernd ist. Zum einen natürlich, weil jede Liebe mit ihren 69 70 71

Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, S. 302. Ebenda, S. 299. Ebenda, S. 305.

48 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

spezifischen Prägungen und akuten Einflüssen einzigartig ist. Zum andern aber, weil der Übergang von Eros zu Philia zumeist nicht so unproblematisch verläuft wie beschrieben. Er ist oftmals geprägt vom Zweifeln und Zögern, vom Schwanken zwischen den Affekten, zwischen Passion und Aktion, Hoffnung und Freude, Imagination und Realität. Angst vor dem restlosen Verlust des Eros kann sich ausbreiten, aber auch die Angst vor den Konsequenzen und Gefahren der Philia. Denn sie ist imstande einen Menschen so tief zu verletzen wie Eros es kaum vermag. Sie gilt zwar als die gemäßigte und gleichbleibend wärmende Liebe, die Verbindlichkeit und Geborgenheit vermittelt, doch ist natürlich auch sie nicht vor dem Scheitern gefeit. Wenn Philia zerbricht, geht nicht bloß eine Vorstellung verloren (wie es beim Ende des Eros der Fall ist), sondern reales Glück. Eine Fantasie lässt sich retrospektiv verwischen, verfälschen oder als kindische Spielerei abtun. Bei der Philia geht das nicht, denn die Aktion hat sie in der Wirklichkeit festgeschrieben. Die Liebenden haben Stellung bezogen, Entscheidungen getroffen und sich mit diesen identifiziert. Sie haben gemeinsame Erinnerungen, haben Pläne für die Zukunft geschmiedet, Schwierigkeiten gemeistert und Kraft aufgewendet. Sie haben ihre emotive Schutzhülle abgelegt und sich ohne Rückversicherung selbst mit ihrem ganzen Wesen in die gemeinsame Liebe investiert. Aus diesem Grund geht im Fall einer solchen Trennung immer auch ein Stück des Selbst verloren und unter Umständen auch ein Teil des Vertrauens in das eigene Lebensglück. Sollte man die Philia also besser meiden, wenn sie solche Gefahren birgt? Mitnichten, denn wer sich immer wieder nur dem Eros hingibt, der lebt sein Leben in ewig verzehrender Imagination, ohne eine Chance auf reales Liebesglück. Das hieße, wie Denis de Rougemont es ausdrückt, »das Leiden lieben und suchen« und »dem Unglück den heimlichen Vorzug geben«. 72 Es hieße außerdem, sich selbst aus Furcht und mangelndem Selbst- und Fremdvertrauen um einen elementaren Bestandteil seines Lebens zu betrügen – es bedeutete Lieben mit »emotivem Kondom«: relativ sicher, aber eben nicht gefühlsecht. Die Philia hingegen stellt sich der Welt wie sie wirklich ist. Sie bedeutet den aufrichtigen Versuch zu gelebter Liebe, auch wenn damit entsprechend reale Verletzungen einhergehen können. Sie ist die mündige Entscheidung und der Wille zur Anstrengung persönlicher Fortentwicklung in der Liebe: »Nichts leichter als einen Traum zu 72

De Rougemond, L’amour et l’Occident, I 11, S. 41 f.

49 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

lieben! Nichts schwerer, als die Realität zu lieben! Nichts leichter als besitzen zu wollen! Nichts schwerer, als hinnehmen zu können! Nichts leichter als die Leidenschaft! Nichts schwerer als die Paarbeziehung! Sich verlieben kann jeder. Lieben nicht.« 73 Für jene, die es riskieren, die den geforderten Mut aufbringen und sich einsetzen, hält Philia eine Belohnung bereit, die Paarliebe: »[…] was für ein Glück, wenn man geliebt wird, wenn man besitzt, wenn man gerade das genießt, was einem fehlt! Das ist wahrscheinlich, abgesehen vom Grauen, das Intensivste, was man erleben kann, und, abgesehen von der Weisheit, vielleicht auch das Beste.« 74 Die Ästimation der Philia bedeutet andererseits aber nicht, dass man versuchen sollte, den Eros zu meiden. Im Gegenteil: Die Liebenden sollten ihn ausleben, sooft er Besitz von ihnen ergreift. So wie auch die Philia ist er mit all seinem Genuss und seinem Leid essenzieller Teil des menschlichen Empfindungsspektrums und darüber hinaus möglicher Wegbereiter für eine reifere Liebe im Sinne der Philia. Man sollte Eros also empfangen und auskosten, jedoch nicht aus Bequemlichkeit, eitlem Jagdeifer oder Furcht vor der Tiefe einer realen Liebe bei ihm verharren. Zu Beginn dieses Kapitels habe ich von drei Formen der Liebe gesprochen: Eros, Philia und Agape. Diesen letzten Begriff der griechischen Trias werde ich verhältnismäßig kurz behandeln, da er kaum Berührungspunkte mit der Liebe zu haben scheint, wie ich sie definieren möchte. Der nachfolgende Abschnitt kann also als Abgrenzung und weniger als substanzieller Beitrag zum Begriff der Romantischen Liebe verstanden werden.

3.1.3 Agape Der griechische Begriff Agape leitet sich vom Verb »agapan« der profanen Literatur ab, was die Bedeutungen »mit Freundschaft aufnehmen«, »lieben« und »hängen an« trägt. Geprägt durch das Christentum bekam die nominale Form später die Bedeutungen »sich zufrieden geben mit den Dingen«, »die bewusste Entscheidung für das Geringere treffen« und »Nächstenliebe«. 75 Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, S. 302. Ebenda, S. 299. 75 Spree, Axel: Agape, in: Wulff, D. Rehfus (Hrsg.): Handwörterbuch Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 240. 73 74

50 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

Im christlichen Verständnis, das ich nachfolgend beschreiben möchte, ist Agape zunächst die reine Liebe Gottes, die er den Menschen zuteilwerden lässt und die sein Wesen bestimmt: »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« 76 Diese Liebe ist Gottes Geschenk an die Menschen und ermöglicht zu allererst deren Existenz. Denn Gott ist allmächtig und allgegenwärtig – oder besser: Er könnte durch seine Allmacht allgegenwärtig sein, und zwar in dem Sinne, dass er jeglichen vorhandenen Existenzraum mit seiner Vollkommenheit erfüllt. Wenn er dies aber täte, bliebe kein Raum mehr für die Existenz des Menschen. Daher entleert er im Akt seiner Schöpfung einen Teil des Seienden seiner selbst und ermöglicht auf diese Weise dem Menschen zu existieren. Er gibt Raum für das Leben, auch wenn die allumfassende Vollkommenheit dadurch herabgesetzt wird. Denn Gott ist vollkommen und die Menschen sind es nicht, woraus folgt, dass Gott zusammen mit allen Geschöpfen weniger ist als nur und alleine Gott. 77 Die Genesis ist also weniger Ausdehnen und Inbesitznahme, als freiwilliger Rückzug und Verzicht zulasten der eigenen Herrlichkeit. Wieso tut Gott das, wenn es einen Verlust für ihn bedeutet? Wieso zieht er sich zurück zugunsten einer minderen Kreatur, wenn er doch ebenso den gesamten Existenzraum ausfüllen könnte? Er tut es aus Liebe, aus Liebe im Sinne der Agape. Hinter dieser Liebe bedarf es keiner weiteren Begründung, sie allein ist Grund für selbstloses Handeln. Agape ist also eine spontane und grundlose Liebe, vollkommen frei von Zweck und Motiv. Sie leitet zur Beschränkung der eigenen Macht, des eigenen Handelns und des eigenen Seins, um dem Schwächeren Existenz und Entfaltung zu ermöglichen. Sie ist Leeren vom Selbst und Abkehr vom spinozistischen conatus. Agape erschöpft sich jedoch nicht in der göttlichen Hinwendung zum Menschen. Auch zwischen den Menschen soll diese Liebe herrschen, was bekanntermaßen Jesus von Nazareth predigte: »Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.« 78 Die be-

1. Johannes 4,16. In: Bund der Evangelischen Kirche Deutschland (Hrsg.): Die Bibel nach Martin Luther. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2017. 77 Vgl. Weil, Simone: Das Unglück und die Gottesliebe. München: Kösel Verlag 1953. 78 Johannes 13,34.35 nach LUT. 76

51 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

dingungslose und selbstlose Liebe Gottes unter den Menschen – dies kennzeichnet die Nächstenliebe. Vor allem durch das Moment vollkommener Selbstlosigkeit unterscheidet sich Agape deutlich vom Eros, wie auch von der Philia. Sie ist nicht Mangel, Begehren oder Leidenschaft, hat kein egoistisches Ziel und besteht unabhängig vom Wert dessen, was sie liebt. Sie ist nicht auf Freundschaft ausgerichtet, die beidseitiges Wohlbefinden vermittelt. Agape ist universell, sie liebt auch den Fremden und sogar den Feind und gibt, ohne dass daraus ein Vorteil für den Gebenden entsteht. Wie Gott im Schöpfungsakt, so verzichten Menschen, die von Agape erfüllt sind, darauf, ihre Macht auszuspielen, um den verfügbaren Raum einzunehmen. Sie geben selbstlos und ihr einziger Grund und Antrieb ist die Liebe. Diese Liebe ist »wie ein Mitleid, das vom Leiden befreit ist, und eine Freundschaft […], die vom Ego befreit ist.« 79 Doch ist das überhaupt möglich, ein liebendes Handeln, völlig frei vom Ego? Zunächst einmal sollte man sich bewusst werden, dass Agape nicht so grundlos und frei ist, wie sie üblicherweise dargestellt wird. So heißt es nach Johannes: »Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.« 80 Wer im Sinne der Agape spontan und grundlos seine Nächsten liebt, der wird von Gott geliebt. Wie frei und ohne Motivation kann dann aber solche Liebe noch sein? Es grenzt schon an Perfidie zu sagen »Befolge grundlos und freiwillig meinen Befehl, sonst schicke ich dich in die Hölle!«. Liegt es da nicht viel näher, dass die Nächstenliebe eher als gläubiger Gehorsam praktiziert wird, um Gott zu gefallen? Um dies zu widerlegen, müsste eine Situation vorgestellt werden, in der der Gläubige aus Liebe gibt und sich eben dadurch in letzter Konsequenz vor Gott versündigt. Würde also ein »guter Christ« einem Blinden dabei helfen, im Wald nach Alraunen für seine okkulten Machenschaften zu suchen? Oder würde er einem rechtsradikalen Analphabeten aus »Mein Kampf« vorlesen? Zugegeben, das sind recht konstruierte Vorstellungen und man könnte entgegnen, dass eine Verweigerung der Hilfe den Bittsteller vor

79 80

Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, S. 340. Johannes 15,9.10 nach LUT.

52 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

Versündigung schützen würde und sie so wiederum Handeln im Sinne der Agape wäre. Doch sie genügen, um Folgendes herauszustellen: Der Gläubige handelt bloß dann gemäß der göttlichen Liebe, wenn seine Taten im Einklang mit den Geboten seines Glaubens sind. Dies sind die allgemeingültigen Spielregeln, für ihn und für alle anderen Menschen, und nur in diesen Grenzen ist die Nächstenliebe praktizierbar. Das hat aber zur Folge, dass sich zwar die Handlung, nicht aber die zugrunde liegende Liebe auf den Nächsten richtet, sondern zu Gott und seinen Geboten. Sie ist nicht spontan, frei und selbstlos, sondern begrenzt durch die Gesetze Gottes und angetrieben vom Begehren ihm zu gefallen, um »in seiner Liebe zu bleiben«. Es scheint also, dass die christlichen Vorgaben eine selbstlose Liebe im eigentlichen Sinne unmöglich machen. Doch wie verhält es sich mit der atheistischen Philanthropie? Ist sie tatsächlich selbstlos, weil es hier keine transzendente Macht gibt, die sie einfordert? Um dies herauszustellen, müsste ein Mensch vorgestellt werden, der sich zugunsten anderer einschränkt, ohne einen Vorteil daraus zu ziehen – auch nicht den eines positiven Selbstbildes. Das jedoch erscheint unmöglich, denn sobald wir entbehren, ohne es zu müssen, indem wir beispielsweise eine Spende tätigen, tun wir dies aus der Überzeugung, dass es eine richtige und gute Tat ist. Und wenn wir nach unseren moralischen Überzeugungen handeln, empfinden wir uns selbst als gut und liebenswert (oder zumindest als weniger schlecht). In diesem Fall ist es also nicht Gott, der mit seiner Liebe belohnt, sondern wir selbst, die wir uns, anstelle der Beschenkten, die wir nie zu Gesicht bekommen werden, zurücklieben. Letzten Endes ist die Menschenliebe also unserem eigenen Befinden verpflichtet, das wir durch die persönliche Einschränkung und das Wohlbefinden des anderen positiv beeinflussen. Wäre dieses innere Belohnungssystem nicht im Menschen verankert, so könnte es keinerlei philanthropische Handlung geben, da ihr schlicht das verursachende Moment fehlte. Entbehrende Zuwendung ohne jegliche Motivation wäre mithin also nicht nur sprachgebräuchlich selbstlos, sondern in ganz wörtlichem Sinne vom Selbst befreit. Denn ohne den Entschluss des Handelnden kann eine Tat nur zufällig oder unbewusst erfolgen. Dies bedeutete eine Liebe ohne Liebenden, völlig willkürlich, gleichgültig und leer. Mit all dem möchte ich natürlich nicht die gelebte Nächstenliebe kritisieren oder sie gar als unmoralische Lüge darstellen. Doch ist sie, wie diese Überlegungen zeigen, keineswegs selbstlos und frei vom Ego. 53 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Was bleibt also von der Menschenliebe? Comte-Sponville formuliert folgenden Vorschlag: »Alle sind wir Brüder angesichts des Lebens, selbst wenn wir einander entgegengesetzt sind, selbst wenn wir Feinde sind, alle Brüder angesichts des Todes: die Nächstenliebe wäre wie eine Brüderlichkeit der Sterblichen, und sicherlich ist das nicht nichts.« 81 Es stimmt, ein Schulterschluss der Lebenden angesichts ihrer Sterblichkeit ist nicht nichts – er ist aber auch nicht viel mehr als nichts und wird dem Ruf der selbstlosen Agape nicht einmal annähernd gerecht. Es gibt natürlich eine Möglichkeit, der göttlichen Liebe eine gebührliche Stellung zu verleihen. Man könnte nämlich kurzerhand postulieren, dass Agape der menschlichen Moral ontologisch vorgelagert ist, dass sie ihr Quell ist und so philanthropisches Handeln auf Erden erst ermöglicht. Anders ausgedrückt: Wenn die Agape in der zwischenmenschlichen Praxis an der Vorgabe ihrer Selbstlosigkeit scheitern muss, dann könnte sie doch im Himmel bleiben und von dort aus den Menschen zu tugendhaftem Handeln befähigen. Auf diese Weise wäre Gott der Urheber dessen, was wir Menschlichkeit nennen, sie wäre Abglanz seiner vollkommenen Liebe. Wie wir im Alltag mit dieser von Gott gegebenen Fähigkeit umgehen, hinge dann von unserer moralischen Reflexion ab. Eine runde Sache also: Die göttliche Liebe hat ihren exponierten Stellenwert und der Mensch muss für sein Handeln verantwortlich zeichnen – wäre da nicht diese lästige Evolutionstheorie. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Problematik eines Wirkungspostulats zwischen verschiedenen ontischen Sphären eingehen (dem werde ich in Kapitel 7 nachkommen), sondern die Gelegenheit nutzen, um einen seitwärtigen Blick auf die Natur moralischen Handelns zu werfen. 3.1.3.1 Naturalistische Agape Altruistisches Verhalten oder vielmehr Verhalten, das altruistisch erscheint, also phänotypischer Altruismus, benötigt weder Moral noch Ethik, ja nicht einmal eine echte Willensentscheidung. Dem Prozess der Evolution liegt zugrunde, dass jene Individuen, deren Gene zu Ausprägungen führen, die ihnen unter den gegebenen Umweltbedingungen einen Vorteil gegenüber anderen Individuen verschaffen, 81

Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, S. 329.

54 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

höhere Überlebenschancen und einen höheren Fortpflanzungserfolg haben. Demgemäß werden die vorteilhaften Gene verhältnismäßig oft weitergegeben. Jene Individuen hingegen, die relativ schlecht an die Gegebenheiten des Habitats angepasst sind, haben eine höhere Letalrate und geringeren Fortpflanzungserfolg, sodass ihre Gene auf lange Sicht aus dem Genpool der Population aussortiert werden. Für die Vertreter einiger Tierarten war es aufgrund ihrer eigenen Eigenschaften, dem Verhalten anderer Arten und der Bedingungen im Lebensraum weniger von Vorteil, sich die Ressourcen im Alleingang zu erkämpfen, um sie anschließend gegen die Artgenossen und übrigen Individuen des Habitats zu verteidigen. Daher begannen sie mit ihren Artgenossen zu kooperieren und Schutz- und/oder Jagdgemeinschaften zu bilden. 82 Diese Fähigkeit zur Kooperation wird vererbt und in der Gemeinschaft erlernt. So schreiben Schmidt-Salomon und Voland: »Wir erkennen zunehmend, dass biologischer Eigennutz die evolutionäre Grundlage jedes altruistischen Verhaltens ist.« 83 Dieser kooperative Altruismus hat seinen Ursprung also in der »Sorge« um das eigene Erbgut. 84 Des Weiteren herrscht oft ein simples Reziprozitätsprinzip unter den Tieren. Was wie eine ethische Übereinkunft oder animalisches Erbarmen interpretiert werden könnte, ist auch bloß biologischer Eigennutz zum Schutz der eigenen Gene. Wenn etwa ein Revierkampf entschieden wird, ohne dass einer der Rivalen ernsthafte VerletzunKooperatives Verhalten kann sowohl zwischen Artgenossen als auch zwischen verschiedenen Tierarten, ja sogar zwischen verschiedenen biologischen Reichen erfolgen: Die Symbiose einer Ameisen- und einer Akazienart, bei der die Tiere den Baum vor Schädlingen schützen und die umliegende Vegetation kurz halten und bei der die Pflanze den Insekten im Gegenzug nahrhafte Futterkörper und Nektar aus speziellen Drüsen zur Verfügung stellt, zeigt, dass für den kooperativen Altruismus im Prinzip keinerlei kognitive Fähigkeiten nötig sind. 83 Schmidt-Salomon, Michael; Voland, Eckart: Die Entzauberung des Bösen. In: Wetz, Franz Josef (Hrsg.): Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2008 (= Kolleg Praktische Philosophie, Band 1), S. 110. 84 Das Phänomen der kooperativen Gruppenbildung kann auch ganz spontan auftreten. Sobald eine potenziell gefährliche Menschengruppe im sozialen Wirkungskreis von anderen Menschen auftritt (ob in Bierzelten oder bei Immigrationsprozessen), suchen diese nach Gemeinsamkeiten, um eine Allianz zu bilden (oft genügt hierfür schon das gemeinsame Misstrauen gegenüber den Fremden). Gäbe es einen Kontakt mit außerirdischer Intelligenz, sei er kriegerisch oder friedlich, so würde die Menschheit ein intensiveres Wir-Gefühl entwickeln, um Stärke zu generieren. Selbst Kooperationsprozesse auf solcher Ebene wären letzten Endes auf das Schutzgesuch des eigenen Erbguts an die Gruppe zurückzuführen. 82

55 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

gen davonträgt, dann bloß deshalb, weil den Sieger einer letalen Auseinandersetzung früher oder später das gleiche Schicksal ereilen würde wie den Besiegten. Durch Verschonen des unterlegenen Kontrahenten werden gewissermaßen auch die eigenen Überlebenschancen im fortgeschrittenen Alter erhöht. Biologisch ebenfalls gut zu erklären ist das aufopferungsvolle Verhalten der Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs: Es ist erneut das Interesse, sein eigenes Erbgut im Genpool zukünftiger Generationen zu integrieren. Aus diesem Grund hat die Unversehrtheit der Nachkommen bei Arten, die in Aufzucht investieren, oft einen höheren Stellenwert als das eigene Leben, was den persönlichen Überlebenstrieb auf jene Individuen ausweitet, die Anteile der eigenen Erbanlagen in sich tragen. Diesen Aspekt bezeichnet man als »Gesamtfitness« oder »inclusive fitness« eines Individuums. 85 Beim Menschen reicht dieser Trieb zumeist noch weiter. Wir schützen nicht nur unsere Kinder, sondern die gesamte Familie, weil wir »wissen«, dass sie Teile unserer eigenen Erbinformation besitzen. Je geringer dieser Anteil, je entfernter also die Verwandtschaft, desto geringer auch die Fürsorge. Dem Bruder würde man eher eine Niere spenden, um sein Fortleben zu sichern, als einem Cousin dritten Grades, selbst wenn man beide bis dahin nicht persönlich gekannt hätte. Die menschliche Freundschaft in ihrer einfachsten Form basiert auf einer reflektierten Form von reziprokem Altruismus, der damit immer bloß phänotypischer Altruismus sein kann. Wir unterstützen jene, von denen wir erwarten können, dass sie uns oder unsere Verwandten in Notsituationen unterstützen werden, weil dadurch unsere inclusive fitness gestärkt wird. Für diese Strategie musste der Mensch eine neue Fähigkeit evolvieren: das Abschätzen der Folgen seines Handelns in der Zukunft. Die Ausbildung dieser kognitiven Eigenschaft und ihr Einbezug in alltägliche Entscheidungsprozesse war einer der entscheidenden Schritte in der Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens und unterscheidet ihn von den meisten anderen Tierarten. Natürlich sind viele Freundschaften nicht bloß von der beschriebenen reziproken Berechnung geprägt. Oft mischt sich eine schwerer zu greifende Emotion der persönlichen Nähe hinzu, deren Ursprung ich nachfolgend darstellen möchte. Vgl. Vollmer, Gerhart: Der Turm von Hanoi – Evolutionäre Ethik. In: Wetz, Franz Josef (Hrsg.): Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2008 (= Kolleg Praktische Philosophie, Band 1), S. 132.

85

56 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

Wie kommt es, dass wir Mitleid für völlig fremde Personen empfinden und bereit sind, ihnen zu helfen, obwohl sie weder unsere Gene tragen, noch irgendeine Art der Gegenleistung erwarten lassen? Wieso spenden beispielsweise einige von uns für Hunger leidende Kinder in Afrika? Hier verlieren sowohl Reziprozitätsprinzip als auch die »inclusive fitness« ihre Erklärungskraft (und eine Brüderlichkeit der Sterblichen wäre weder stark genug noch empirisch substanziell). In Abschnitt 3.1.3 wurde festgestellt, dass Menschen gemäß ihren moralischen Überzeugungen handeln, weil es ihnen ein positives Gefühl mit sich selbst beschert. Dies beantwortet jedoch nicht die Frage, wieso sich diese Neigung zum Entbehren überhaupt erst entwickelt hat. Einen direkten Vorteil, den unsere Vorfahren aus ihr ziehen konnten und der sie somit evolutiv begünstigte, scheint es nicht zu geben: Was sollte es einem Menschen des Pleistozän genutzt haben, wenn er sein Leben riskierte, um einen Säbelzahntiger von der Fährte einer Gruppe fortzulocken, der er nicht angehörte und zu der er keinerlei Verbindung hatte. Im Gegenteil hätte solches Verhalten seine Fitness herabgesetzt, da er sich ohne eigenen Nutzen verausgabt und in große Gefahr begeben hätte. Analog dazu senkt auch der moderne Mensch seine biologische Fitness, wenn er Teile seines Vermögens spendet, anstatt sie in seine Attraktivität (zum Beispiel in seinen sozialen Status) oder persönliche Sicherheit zu investieren. Unser Mitgefühl gegenüber leidenden Menschen, das uns trotz des offensichtlichen Nachteils zu solchen Handlungen anleitet, geht auf eine weitere charakterisierende Eigenschaft des Menschen zurück, seine Empathiefähigkeit. Sie bezeichnet das Vermögen, sich in den emotiven Zustand eines anderen Menschen hineinzuversetzen, was einen wichtigen evolutionsbiologischen Vorteil bedeutet: Wer die Gefühle seines Gegenübers erkennen kann, der ist imstande, die Mitglieder seiner Kooperationsgruppe einzuschätzen. »Die Fähigkeit, die vielschichtigen Rollendifferenzierungen innerhalb einer sozialen Gruppe zu durchschauen und für sich nutzbar machen zu können, machte schon früh in der Primatenevolution und dann vor allem in der Menschheitsgeschichte einen entscheidenden Überlebensvorteil aus. Nur derjenige, der sich in die Bedürfnislage seiner Artgenossen hineinversetzen konnte, wusste, wann er mit wem wie kooperieren musste, wen man gefahrlos übervorteilen konnte und wen man besser umschmeicheln sollte, um seinen Zielen näher zu kommen.« 86 Die 86

Schmidt-Salomon; Voland, Die Entzauberung des Bösen, S. 116.

57 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Fähigkeit zur Empathie wird maßgeblich durch sogenannte Spiegelneurone vermittelt, deren Funktion Mitte der 1990er Jahre erkannt wurde. Diese Nervenzellen werden aktiv, wenn wir ein anderes Individuum in einer emotionalen Situation wahrnehmen, indem sie die fremden Empfindungen in unser eigenes emotives Erleben projizieren. Ohne dieses Spiegeln fremder Emotionen wären wir weder imstande, uns über den beruflichen Erfolg eines Freundes zu freuen oder über einen Witz zu lachen, noch würden wir uns beim Ansehen eines Horrorfilms gruseln. Denn ohne diese Fähigkeit würde uns das Geschick und Missgeschick aller anderen Menschen vollkommen kalt lassen, solange es nicht unser eigenes Wohl tangiert. Und auch das Mitleid geht, wie die Etymologie des Begriffs schon verrät, auf diese Fähigkeit zurück: Untersuchungen zeigten, »dass sensorische Zellen im Gehirn, die auf Schmerzsignale reagieren, auch dann ›feuern‹, wenn Menschen bloß ansehen mussten, dass eine andere Person mit einer Nadel gepiekt wurde.« 87 Unabhängig davon also, ob wir andere Menschen persönlich kennen, zwingt uns unsere evolutive Genese dazu, auch ihr Leid mitzuempfinden – und das ist natürlich nicht angenehm. 88 Entscheidend ist nun aber, dass wir das mitgefühlte Leid lindern können, indem wir das Leid des anderen lindern, das ja der Ursprung unseres Mitleids ist: Wir können unser projiziertes Leid, selbst geschlagen zu werden, lindern, indem wir einem misshandelten Straßenhund ein neues Zuhause geben, weil wir dadurch sein Leid beenden; wir können unser projiziertes Leid, selbst um ein Familienmitglied zu trauern, lindern, indem wir Trost spenden, weil wir dadurch das Leid des Trauernden lindern; wir können unser projiziertes Leid, selbst in einem afrikanischen Slum zu verhungern, lindern, indem wir eine Spende tätigen, von der der Hunger gestillt werden soll. Die Bereitschaft ein persönliches Opfer zu bringen, um zu helfen, hängt meiner Ansicht nach von drei Faktoren ab: Je größer das beobachtete Leid, je unmittelbarer die Konfrontation und je größer die Gemeinsamkeiten mit dem Leidenden, desto größer der eigene Leidensdruck und desto größer die resultierende Hilfsbereitschaft

Ebenda, S. 116. Wie stark die Aktivität der Spiegelneurone in einen Menschen wirken kann, ist gut bei artistischen Darbietungen zu beobachten, wenn das Publikum aufschreit, weil der Akteur beinahe das Trapez verpasst hätte. Auch wenn Menschen bei traurigen Filmszenen anfangen zu weinen oder beim Betrachten schwerer Verletzungen erbrechen oder in Ohnmacht fallen, ist das Ausdruck der neuronal vermittelten Empathie.

87 88

58 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

und das Opfer, das der Mensch zu bringen bereit ist. 89 Wir sind eher bereit zu helfen, wenn jemand sein Kind als vermisst meldet, als wenn jemand sein Portemonnaie verloren hat; wir helfen eher, wenn er uns selbst von seiner verzweifelten Lage berichtet, als wenn wir über die Nachrichten davon erfahren; und wir sind eher zur Hilfe bereit, wenn wir selbst Eltern sind. Hieraus wird ersichtlich, dass allgemeine Philanthropie und das Empfinden von Mitleid selbst keine Selektionsmerkmale waren, sondern Epiphänomene der evolutiv wirksamen Empathiefähigkeit sind, die durch das strategische Einschätzen von Artgenossen bloß wieder dem egoistischen Interesse am Fortbestehen der eigenen Gene dient. Diese Erkenntnis könnte die theologische Deutung kaum stärker diskreditieren: Die Nächstenliebe, nicht als selbstloses Geschenk Gottes an die Menschen und ewiges Leuchtfeuer des Guten, sondern als »ungewolltes Randprodukt egoistischer Evolution« des Menschen. Moral nicht als transzendentes Leitbild, sondern als naturalistischer Zufall. Doch dazu fehlt noch ein Zwischenschritt. Denn das akute Mitleid und die daraus resultierende Hilfsbereitschaft ergeben noch keine Moral im Sinne der Gesamtheit sittlicher Überzeugungen, Werte und Normen. Hierfür wird noch eine exklusive Eigenschaft des Menschen benötig, die als »abstrahierende Vernunft« bezeichnet werden könnte. Sobald ein reflektierter und einfühlsamer Mensch erkennt, dass ein anderer Mensch ebenso leiden kann, wie er selbst, und dass dieses Leid ebenso schwer wiegt wie das eigene, so zwingt ihn sein Verstand, diese Einsicht zu verallgemeinern bis die gesamte Menschheit in die moralische Reflexion integriert ist. 90 Dieser Prozess bildet die Grundlage für die Entwicklung einer Moral.

Die allgemeine emotive Situation sowie die grundsätzliche ethische Haltung des Beobachters spielen natürlich auch wichtige Rollen. Die beschriebenen Faktoren sind daher relativ zu allen individuellen Faktoren zu verstehen. 90 Bedenkt man die Gräueltaten unserer Zeit und der vergangenen Jahrhunderte, so klingen Schilderungen von menschheitsumfassender Moral gelinde gesagt sarkastisch. Es soll in diesem Abschnitt jedoch nicht um »das Böse« im Menschen gehen (vgl. hierzu Friedrich Hermanni sowie Schmidt-Salomon und Voland in Wetz, Franz Josef (Hrsg.): Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. Stuttgart: Reclam 2008 (= Kolleg Praktische Philosophie, Band 1)) oder um die gesellschaftliche Dynamik von Rassismus und Tyrannei, sondern um die evolutive Entwicklung der basalen Befähigung zu moralischer Reflexion. Was der Mensch aus dieser Fähigkeit macht und welche Mechanismen sie unterdrücken oder aushebeln können, ist ein anderes Thema. Auch kann ich hier keine Besprechung pathozentrischer, biozentrischer oder 89

59 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

In Verbindung mit den erwähnten Faktoren der unmittelbaren Konfrontation und des Ausmaßes des Leids birgt der beschriebene Mechanismus ein gewisses Problempotenzial: Durch die plastische mediale Information ist eine sehr direkte Begegnung mit weit entferntem Leid möglich geworden. So schauen wir bei Spendenaufrufen nicht selten direkt in die traurigen Augen eines afrikanischen Kindes, was natürlich mehr Mitleid erregt als eine Statistik über Unterernährung in der betroffenen Region. Zahlen werden im Aufruf aber ebenfalls genannt, woraufhin die abstrahierende Vernunft anhebt, das betrachtete und dadurch mitempfundene Leid um das zehntausender weiterer hungernder Kinder zu erweitern. Einige wenige Menschen könnte das große Leid zu caritativer Arbeit bewegen. Die meisten jedoch werden sich der eigenen Gedanken verwehren, weil sie Leid solchen Ausmaßes überfordert. Diese werden auch zukünftig eher unempfindlich für derartige Berichte sein. Wieder andere vollziehen die Abstraktion zum allgemeinen Leid und beginnen im Weltschmerz zu resignieren. Sie leiden ohne zu helfen und somit ohne Linderung, weil sie sich angesichts des überbordenden Elends klein und hilflos fühlen. Ich plädiere mit dem Gesagten natürlich nicht dafür, dass die westliche Welt gefälligst vom Leid der Entwicklungsländer verschont bleiben sollte. Ich möchte auf das Potenzial des »empathischen Systems« des Menschen in Verbindung mit dem Informationszeitalter und auf seine Abhängigkeit von der emotiven Konstitution des Einzelnen hinweisen. Denn natürlicherweise wird unser Mitleid immer diffuser, je mehr Leid wir uns durch die Weitung unseres Blickes in der Entfernung vorstellen – so wie das Licht einer Taschenlampe durch Streuung immer schwächer wird, je mehr der Fokus geweitet wird und je weiter das angestrahlte Objekt von uns entfernt ist. Auf diese Weise bleiben unsere Empfindsamkeit und damit unsere Fähigkeit, tatsächlich helfend zu handeln, erhalten. Ich möchte noch einen letzten natürlichen Aspekt der Liebe im Sinne der Agape benennen: Wer Wohltätigkeit betreibt, ist nicht nur deshalb attraktiv, weil er damit (vermeintlich) ausgeprägte empathische Fähigkeiten beweist, sondern auch, weil er es sich leisten kann, wohltätig zu sein. In der Biologie ist diese Form der Fitnessdemonstration unter dem Begriff »Handicapprinzip« bekannt. Hiernach bil-

holistischer Ethiken vornehmen, da damit der thematische Rahmen dieser Abhandlung, in der es um die Liebe zwischen Menschen geht, gesprengt würde.

60 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Liebestrias der alten Griechen

det ein Tier ein Merkmal aus, das es bei der Jagd oder Flucht, bei der Futterbeschaffung, bei der Tarnung oder anderweitig beeinträchtigt. Durch die Tatsache, dass Individuen mit besonders ausgeprägten Handicaps dennoch überleben, beweisen sie eine herausragende Fitness und so die Güte ihrer Gene. Ein Beispiel für ein solches Merkmal ist die Mähne der männlichen Löwen. Sie erschwert die Hitzeregulation in der heißen Savanne, behindert bei der Jagd und wird durch den notwendigen höheren Testosteronspiegel mit einer Minderung der Immunabwehr in Verbindung gebracht – auf Löwinnen aber wirkt sie attraktiv, weshalb sie sich bevorzugt mit solchen Individuen paaren, deren stark ausgebildete Mähnen auf besonders gutes Erbmaterial und gute Ressourcenverfügung schließen lassen. Analog dazu setzt eine großzügige Spende die »Fitness« eines Menschen zunächst herab, da er fortan über weniger Mittel verfügt, um sich zu behaupten. Doch sie steigert im Gegenzug seine Attraktivität, da er sie freiwillig tätigt, was auf ein so großes Vermögen schließen lässt, dass der gespendete Betrag ihm keine Probleme bereitet. Verehrer(-innen) können aufgrund dieses Verhaltens nicht bloß auf eine sichere Versorgung hoffen, sondern darüber hinaus auf die Mittel und die Freigiebigkeit des potenziellen Partners, ihnen ein luxuriöses Leben zu ermöglichen. So wird Wohltätigkeit durch mediale Inszenierung zum wirksamen Selektionsmerkmal. Denn entscheidend beim Löwen wie beim Menschen ist, dass das Handicap vom sozialen Umfeld auch bemerkt wird. Würde der Katze die schönste Mähne nach innen wachsen, so wäre diese Behinderung ohne attraktive Wirkung und würde keinen Fortpflanzungsvorteil bedeuten. Entsprechend beeindruckt eine heimliche Spende allenfalls den Spendenden, was bloß dessen Selbstbild stärkt. Aus dieser Perspektive erscheinen elitäre Spendengalas und groß angelegte Charityaktionen berühmter Persönlichkeiten etwas verständlicher – und etwas schaler. In manchen Kreisen könnte man wohl schon vom »Statussymbol Wohltätigkeit« sprechen, auch wenn der Eigennutz sich gewiss oft mit anderen Emotionen mischt (mit schlechtem Gewissen etwa, wegen des geradezu frivolen Reichtums und – das gibt es natürlich auch – mit tatsächlichem Mitgefühl). Auf diese Weise lässt sich das Phänomen der Nächstenliebe evolutions- und soziobiologisch vollständig erklären. Denkt man den naturalistischen Ansatz konsequent zu Ende, so ist die Existenz des »Guten an sich« und damit die Existenz jeglicher guter Taten sehr unwahrscheinlich. Moralisches Handeln ist der maskierte biologische 61 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Eigennutz und dessen Epiphänomen. Sollten wir daher anstatt »Danke für deine Hilfe!« lieber sagen »Gut, dass es auch zu deinem Vorteil ist, wenn du mir hilfst, zumindest, indem es dir besser geht, weil du deinen evolutiv entstandenen Vorstellungen einer virtuellen Moral folgst!«? Dazu besteht keine Notwendigkeit, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Idee des Guten als transzendentes Leitbild der Menschheit eher nützt als schadet – ganz im Gegensatz zur Idee des reinen Bösen.

3.1.4 Eros, Philia, Agape und die Romantische Liebe Es lässt sich mit wenigen Worten schließen: Weder Eros noch Philia noch Agape entsprechen der Romantischen Liebe, wie ich sie in meiner Abhandlung verstehen möchte. Sie ist nicht so egoistisch wie der Eros, nicht so leidenschaftslos wie die Philia und nicht so allgemein wie die Agape. Sie fließt zusammen aus Teilen des Eros und der Philia – der Liebe im Sinne der Agape hingegen ist sie nicht anteilig. Doch die Erörterung der altgriechischen Liebesbegriffe war nicht vergebens. Mit ihr ist nun eine stabile und reichhaltige Bezugsgrundlage für weitere Überlegungen geschaffen und zudem eine erste Exklusion vorgenommen. Im Folgenden möchte ich die Engführung des Begriffs der Romantischen Liebe weiter fortsetzen, bis er sich schließlich klar vor dem Hintergrund anderer Entwürfe abhebt.

3.2 Romantische Liebe in der romantischen Epoche Weil es nicht mein Ziel ist, eine lückenlose Philosophiegeschichte der Liebe zu erstellen, werde ich mich auf die Betrachtung nur einer weiteren Epoche beschränken. Es ist die Ära, in der die abendländische Liebe ihre aus heutiger Sicht entscheidendste Prägung erhielt und deren Name und emotive Silhouette sie seither trägt. Es ist die Epoche der Romantik. In einem ersten Abschnitt möchte ich das romantische Ideal der Liebe beschreiben, wie es vor allem die zeitgenössische Literatur formte. Hiernach soll ein Blick auf die tatsächliche Lebens- und Liebeswirklichkeit der Menschen dieser Zeit geworfen werden, um anschließend die entscheidende Neuentwicklung der Romantik herauszustellen. Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich die allgemeine Kritik Kierkegaards an den Romantikern und ihrer 62 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

»romantischen Ironie« darstellen, um sie um eine postmoderne Reflexion zu erweitern.

3.2.1 Das Liebesideal der Romantik Um die Entwicklungen innerhalb einer Epoche besser zu verstehen, sollte zunächst ihr geschichtlicher Kontext betrachtet werden: Der Romantik voraus ging die Rationalisierung der Aufklärung. Hier wurde die Vernunft zur universellen Urteilsinstanz erhoben, um religiös und dogmatisch legitimierte Autoritätsstrukturen aufzubrechen und die Mündigkeit des Bürgertums zu etablieren. Aus dieser Bewegung stammt auch das berühmte Zitat Immanuel Kants: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines Andern zu bedienen. Sapere aude! Habe den Muth, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« 91 Die damit verbundene epistemologische Hinwendung zu den Naturwissenschaften hatte eine weitreichende Entmystifizierung der gängigen Weltsicht zur Folge: Hinter den Erscheinungen auf Erden und am Himmel wurden zunehmend keine wunderbaren oder fürchterlichen Unerklärbarkeiten mehr vermutet, sondern lediglich bisher unverstandene Zusammenhänge, die sich mittels vernünftiger Untersuchungen grundsätzlich begreifen lassen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert jedoch wurde dieser Zeitgeist vor allem in den Kreisen von Künstlern, Romanautoren, Dichtern und Musikern als zu abgekühlt, zu reguliert und dogmensteif empfunden. Kierkegaard beschreibt treffend: »Man muss sich nun erinnern, dass […] die ganze romantische Schule in ein Verhältnis zu einer Zeit trat […] oder zu treten glaubte, in welcher die Menschen ganz gleichsam versteinert waren in den endlichen sozialen Verhältnissen. […] Alles ging seinen ruhigen, seinen abgemessenen Gang, selbst der, welcher auf Freiersfüßen ging; […]. Alles geschah auf den Glockenschlag. Man schwärmte für die Natur am Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift (1784), 12, S. 481.

91

63 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

St. Johannestag, man war zerknirscht am großen Bettag, man verliebte sich, wenn man sein 20. Jahr vollendet hatte, Punkt 10 ging man zu Bett. Man verheiratete sich, man lebte für die Häuslichkeit und seine Stellung im Staate; man bekam Kinder, bekam Familiensorgen; […] man war […] alles für die Seinen, Jahr aus Jahr ein mit einer Sicherheit und Präzision, welche immer auf die Minute traf. Die Welt wurde kindisch, sie musste verjüngt werden. Insofern war die Romantik wohltuend. Es geht ein kühler Luftzug, eine erfrischende Morgenluft aus dem Urwald des Mittelalters oder dem reinen Äther Griechenlands durch die Romantik; es läuft den Spießbürgern kalt den Rücken hinunter […].« 92 Die Romantik kann also als Gegenbewegung zur Rationalität und nüchternen Abgemessenheit der Aufklärung verstanden werden, als Widerstand gegen die Skeptiker, Atheisten und Empiristen dieser Zeit, die den Dingen der Welt ihre mystische Aura wegerklärten – sie war der Versuch einer Wiederverzauberung der Welt. Doch wie kann dies nach den errungenen wissenschaftlichen Fakten gelingen? Wie kann ein aufgeklärtes Mysterium wieder mystisch werden? Wie macht man einen verratenen Zaubertrick wieder verblüffend? Indem man sich ganz auf das Phänomen und die eigene Wahrnehmung bezieht: »Der wahre Inhalt des Romantischen ist die absolute Innerlichkeit, die entsprechende Form, die geistige Subjektivität.« 93 Auf diese Weise wird die Funktionswelt der Äußerlichkeiten gewissermaßen ignoriert, um dem Empfinden wieder seinen alten Glanz zu verleihen. Damit liegt der epistemische Fokus nun nicht mehr auf der empirischen Erforschung der Außenwelt und der Konstruktion theoretischer Gesellschaftsmodelle, um die Lebensqualität zukünftiger Generationen zu erhöhen. Das waren die Leitziele der Aufklärung. Das Bestreben richtet sich nun auf die Erforschung und Kultivierung der subjektiven Innerlichkeit des einzelnen Menschen sowie der begrifflichen Differenzierung ihrer Diversität – der Blick richtet sich also ganz konkret auf das momentane Ich und seine vielfältigen Emotionen. Durch diese konsequente Selbstanschau tritt die Alltagsrealität in den Hintergrund und wird als lästiges aber unbe-

Kierkegaard, Søren (1841): Der Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Übersetzt von Wilhelm Rütemeyer. München: Chr. Raiser Verlag 1929, S. 314 f. 93 Hegel, Georg W. F.: Werke. Band 10, zweiter Teil. Berlin: Duncker und Humblot Verlag 1837, S. 122 f. 92

64 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

deutendes Anhängsel der empfindenden Seele betrachtet. »Sie war in eine Wunderwelt eingetreten, in der alles Leidenschaft, Verzückung und Rausch war. Blaue Unermesslichkeit breitete sich rings um sie aus, vor ihrer Phantasie glänzte das Hochland der Gefühle und fern, tief unten, im Dunkel, weit weg von diesen Höhen, lag der Alltag.« 94 In seinen Vorlesungen zur Existenzphilosophie beschreibt Odo Marquard die romantische Weltsicht folgendermaßen: »Die romantische Ironie ist […] der Versuch, sich auf die Wirklichkeit nicht einzulassen, sich über sie hinwegzusetzen, weil sie die schlimme Wirklichkeit zu sein scheint. Wenn die Wirklichkeit das Schlimme und das Schlimme die Wirklichkeit ist, dann operiere ich gegen die Wirklichkeit und d. h. für die eigene Unwirklichkeit, d. h. für das Nichts: Das ist die romantisch-ironische Position.« 95 Damit verbleibt der Romantiker stets in einer Sphäre der unbeschränkten aber auch unverwirklichten Möglichkeiten. Er könnte diesen oder jenen Lebensweg einschlagen, diesen oder jenen Beruf erlernen, diesen oder jenen Menschen kennenlernen und vielleicht zum Freund oder Geliebten haben. Doch stattdessen verharrt er in der bloßen Vorstellung dieser Optionen. In seiner Fantasie malt er sich die Möglichkeiten aus und erlebt gleichsam träumend das Glück und Leid, das er erfahren würde, wenn er sich auf die Wirklichkeit einer tatsächlichen Lebensentscheidung eingelassen hätte. Doch eine solche Entscheidung hieße, mit der übrigen Realität in Kontakt zu treten und sich realem Leid oder Glück auszusetzen, das sich der eigenen Kontrolle entzieht, weil es sich nicht bloß durch die eigene Vorstellung konstituiert. Die Folgen dieser Weltanschauung und ihrer literarischen Verarbeitung möchte ich später beleuchten. Für den Moment genügt es, die Wende weg von soziologischen Reflexionen und hin zum Ich und seinen persönlichen Problemen, weg von der Funktionswelt und hin zu den empfundenen Phänomenen, weg von der Vernunft und hin zum »nackten Herzen« 96 festzuhalten. Diese Abkehr ist ein zentrales Moment etlicher Romane der Epoche. So zum Beispiel bei Proust und Flaubert, Gustav (1856): Madame Bovary. Aus dem Französischen von Arthur Schurig, mit Anmerkungen von Kai Kilian. Köln: Anaconda Verlag 2012, S. 204 f. 95 Marquard, Odo: Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie. Herausgegeben von Franz Josef Wetz. Stuttgart: Reclam Verlag 2013 (= Was bedeutet das alles?), S. 167. 96 Gay, Peter: Die Wiederverzauberung der Welt. In: Kemper, Peter; Sonnenschein, Ulrich (Hrsg.): Das Abenteuer Liebe. Bestandsaufnahme eines unordentlichen Gefühls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 21. 94

65 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Goethe: »[Es war Swann ein Vergnügen], mit einer Welt in Verbindung zu treten, für die wir nicht gemacht sind, die uns formlos erscheint, weil unsere Augen sie nicht wahrnehmen, und ohne Bedeutung, weil sie sich unserem Verstand entzieht […]. Es bedeutete eine große Ruhe und eine geheimnisvolle Erneuerung für Swann […], sich in ein der Menschheit fremd gegenüberstehendes, blindes, aller logischen Fähigkeiten beraubtes Geschöpf verwandelt zu fühlen, sozusagen in ein legendenhaftes Einhorn, ein Fabelwesen […]. Welch seltsamen Rausch fand er darin […], seiner innersten Seele alle Hilfe vernunftbestimmten Denkens zu entziehen […].« 97 »Auch schätzt er [ein Gönner Werthers] meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz allein die Quelle von allem ist, aller Kraft, aller Seligkeit und allen Elends. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen – mein Herz habe ich allein.« 98 Die Romantik war emotive Revolution, das Herz dominiert über den Verstand, sowohl an Wert als auch an allgemeiner Urteilskraft. Ausgestattet mit dieser Autorität bildet es die Grenzen der menschlichen Realität, indem es den gesamten Kosmos auf das reduziert, was das Selbst perzipiert und empfindet. Was bedeutet das Gesagte nun für die zwischenmenschliche Liebe? Man könnte durchaus schließen, dass es unter den geschilderten Bedingungen unmöglich sei, wahrhaft zu lieben, weil, wie Niklas Luhmann es formuliert, »Zwei Seelen […] hier zwei Welten [sind].« 99 Mit einem solchen Rückzug ins Selbst, solch einer Isolation von allem anderen, so könnte man argumentieren, ist emotionaler Kontakt ausgeschlossen und damit eine wirkliche Hinwendung zum anderen vollkommen unmöglich. Sollte sich die Liebe also seit der Antike derartig verfahren haben, dass sie schließlich im einsamen Kosmos des Ichs verkümmert? Nein. Denn nach dem Ideal der Romantik ist die Liebe – und nur die Liebe – imstande, den privaten Kosmos des Individuums für einen anderen Menschen zu öffnen, um fortan mit diesem eine exklusive und in sich abgeschlossene Wirklichkeit zu teilen. »Es geht dabei um mehr als um wechselseitige Anpassung, um mehr auch als um wechselseitige Beglückung, die ja Proust, Marcel: Eine Liebe Swanns. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. München: Lizensausgabe der Süddeutschen Zeitung 2004, S. 68. 98 Von Goethe, Johann Wolfgang (1774): Die Leiden des jungen Werther. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart: Reclam Verlag 2001, S. 89. 99 Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 12. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2012, S. 167. 97

66 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

an der Erschöpfung der Bedürfnisse und an der Gewöhnung rasch vergehen müsste; es geht um Konstitution einer gemeinsamen Sonderwelt, in der die Liebe sich immer neu informiert, indem sie das, was etwas für den anderen bedeutet, ihrer Reproduktion zugrunde legt.« 100 Der Rückzug in die und die Erforschung der eigenen Empfindungen kann also als »emotionaler Nestbau« bezeichnet werden, als Herrichten und Ausstaffieren der eigenen Gefühlswelt, um zu gegebener Zeit einen anderen Menschen eintreten und dessen Wirklichkeit mit der eigenen verschmelzen zu lassen. Dieses Einswerden der Liebenden ist in vielen zeitgenössischen Romanen beschrieben. So heißt es beispielsweise in Goethes »Wahlverwandtschaften« über Ottilie und Eduard: »Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur ein Mensch im bewusstlosen, vollkommenen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt.« 101 In seinem Werk »Lucinde« schreibt Schlegel: »Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beide sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unserer Geister, nicht bloß für das, was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die eine wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein und Leben.« 102 Und in Wagners Fassung von »Tristan und Isolde« wird die Verschmelzung der Liebenden besonders poetisch besungen: »O Wonne der Seele! O süße hehrste, kühnste schönste, seligste Lust! Ohne Gleiche! Überreiche! Überselig! Ewig! Ewig! Ungeahnte, nie gekannte, überschwänglich, hoch erhabne! Freude-Jauchzen! Lust-Entzücken! Himmel-höchstes Welt-Entrücken! Mein Tristan! Mein Isolde! Tristan! Isolde! Mein und dein! Immer ein! Ewig, ewig ein!« 103 »[Tristan:] Tristan du, ich Isolde, nicht mehr Tristan! [Isolde:] Nicht mehr Isolde! [Beide:] Ewig! Endlos!« 104 Die letzte Vereinigung finden die Ebenda, S. 177 f. Von Goethe, Johann Wolfgang (1809): Die Wahlverwandtschaften. Köln: Anaconda Verlag 2008, S. 301. 102 Schlegel, Friedrich (1799): Lucinde. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1984, S. 21. 103 Wagner, Richard (1865): Tristan und Isolde. Herausgegeben von Egon Voss. Stuttgart: Reclam Verlag 2003, S. 51. 104 Ebenda, S. 69. In der Oper singt Isolde, als Zeichen des Seelentauschs, diese Passage in der Tonlage des Tenors. 100 101

67 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Protagonisten schließlich nur im gemeinsamen Tod und so besingt Isolde ihr eigenes Sterben über dem Leichnam Tristans als ein erlösendes Auflösen in der Unendlichkeit und dadurch als Verschmelzung mit ihrem Geliebten, der ihr vorangegangen ist: »In des Wonnemeeres wogendem Schall, in des Welt-Atems wehendem All – ertrinken – versinken – unbewusst – höchste Lust!« 105 Man könnte nun erwarten, dass bei der Vereinigung zu einer gemeinsamen und in sich geschlossenen Gefühlswelt die Phänomene der Außenwelt, also die Erscheinungen der Natur, noch mehr an Bedeutung verlieren und verblassen. Die Liebenden würden ihre gesamte Empfindungsfähigkeit im anderen erschöpfen, ihr Herz nur aufeinander richten und der übrigen Welt somit gänzlich den Rücken kehren. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nach dem Liebesideal der Romantik bekommen die Phänomene durch die Verbindung der Liebenden eine völlig neue Qualität, sodass aus der Perspektive des gemeinsamen Kosmos nun alles doppelt schön erscheint. Diese Wendung ist in den folgenden Zeilen besonders pointiert: »Heute fand ich in einem französischen Buche von zwei Liebenden den Ausdruck: ›Sie waren einer dem anderen das Universum.‹ […] Sie finden das Universum einer in dem anderen, weil sie den Sinn für alles andere verlieren. Nicht so wir. Alles, was wir sonst liebten, lieben wir nur noch wärmer. Der Sinn für die Welt ist uns recht aufgegangen. Du hast durch mich die Unendlichkeit des menschlichen Geistes kennen gelernt, und ich habe durch dich die Ehe und das Leben begriffen, und die Herrlichkeit aller Dinge.« 106 Den umgekehrten Fall durchlebt Goethes einst so naturverliebter Werther, dem die Welt, wegen seiner unerfüllten Liebe zu Lotte, mit einem Mal als grausames Ungetüm erscheint: »[…] mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstöre. Und so taumle ich beängstigt! Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her! Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig widerkäuendes Ungeheuer.« 107 Die Schönheit der Phänomene steigert sich also durch die erfüllte und vergeht durch die unerfüllte Liebe. Durch die intensivierte »Weltfühligkeit« der Liebenden konnte die Natur zum zentralen Stilmittel des Romans der Romantik wer105 106 107

Ebenda, S. 108. Schlegel, Lucinde, S. 115 f. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, S. 62.

68 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

den. Während im 18. Jahrhundert vor allem der Dialog die Liebe zwischen den Menschen zum Ausdruck brachte, bildet nun die Schönheit der Natur den Resonanzkörper der Emotionen: »[…] ein frischer warmer Hauch von Leben und Liebe wehte mich an und rauschte und regte sich in allen Zweigen des üppigen Hains. Ich schaute und ich genoss alles zugleich, das kräftige Grün, die weiße Blüte und die goldene Frucht. […] Ich atmete Frühling, klar sah ich die ewige Jugend um mich und lächelnd sagte ich: Wenn die Welt auch eben nicht die beste oder die nützlichste sein mag, so weiß ich doch, sie ist die schönste.« 108 In manchen der einschlägigen Werke bildet die Natur sogar das literarische Fundament der Erzählung – so in Goethes »Die Wahlverwandtschaften«. Wie in einer musikalischen Komposition erzeugen die Natur, ihre Jahreszeiten und die menschliche Gestaltung des Landguts ein immer wiederkehrendes Grundthema, auf dem die Protagonisten ihre Melodien variieren. Ihre Emotionen und Erlebnisse werden von diesem periodischen Klangteppich begleitet oder kontrastiert. Durch die Verbundenheit mit der Natur und ihrer zyklischen Zeugung, durch die Berücksichtigung der subjektiven Empfindungen und Bedürfnisse des Individuums sowie durch die starke Leidenschaft, die der Liebe der Romantik innewohnt, erhält die Sexualität einen natürlichen Wert und wird fest im Liebesbegriff der Epoche integriert. Man könnte sagen, die Natur fordert sie, die Leidenschaft formt sie und die Romantische Liebe rechtfertigt sie: »Wenn man sich so liebt wie wir, kehrt auch die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit zurück. Die Wollust wird in der einsamen Umarmung der Liebenden wieder, was sie im großen Ganzen ist – das heiligste Wunder der Natur; und was für andere nur etwas ist, dessen sie sich mit Recht schämen müssen, wird für uns wieder, was es an und für sich ist, das reine Feuer der edelsten Lebenskraft.« 109 Mit der Legitimation (vorehelicher) körperlicher Leidenschaft erhält das literarische Liebesideal natürlich auch gesellschaftliche Relevanz. Und der Einfluss beschränkte sich keineswegs bloß auf Sexualität. Durch die konsequente Überhöhung der subjektiven Emotion avanciert die Romantische Liebe vielmehr zu einer allgemeinen Schlegel, Lucinde, S. 13. Ebenda, S. 116. Nicht nur der Liebes-, auch der Ehebegriff der Romantik integriert die Sexualität der Partner, vgl. etwa Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, S. 172 f. 108 109

69 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Handlungslegitimation. Taten im Namen der Liebe galten für die Romantiker per se als gerechtfertigt, vor allem weil die Liebe als eine Art mystische Kraft betrachtet wurde, eine Macht, der man als fühlender Mensch hilflos ausgeliefert ist, die vom Individuum Besitz ergreift und der man Moral und Ratio willenlos opfert: »Die Liebe gleicht dem Fieber. Sie entsteht und vergeht ohne den geringsten Einfluss des Willens.« 110 So gesehen zwingt sie die Liebenden zu Handlungen, die gegen das konservative Sittlichkeitsverständnis der Gesellschaft verstoßen. Dadurch ist der Mensch für sein Handeln entschuldigt und trägt auch keine Schuld daran, dass er in diese willenlose Zwangslage geraten ist. Mit kritischem Unterton bemerkt Luhmann: »[…] Passion wird dann zur institutionalisierten Freiheit, die nicht als solche gerechtfertigt werden braucht. Freiheit wird als Zwang getarnt.« 111 Die neu erworbene Handlungsgewalt der Liebe wirkte sich vor allem auf die Bedingungen der Eheschließung aus. Im vorangegangenen Jahrhundert wurden Heiraten in der Regel aufgrund strategischer Überlegungen verabredet, seien sie ökonomischer oder politischer Art. Nun aber war die Liebe über Politik, Kirche, Besitztum und ständische Reputation erhaben und avancierte nicht bloß zum Heiratsgrund, sondern zur Heiratsbedingung. Durch ihre eigenwillige Macht über das Individuum traten selbst grundlegende Eigenschaften des Geliebten wie seine Intelligenz, seine Schönheit, sein Talent oder seine Tugend in den Hintergrund. Die Liebe emanzipierte sich damit also nicht nur von den gesellschaftlichen Vorgaben, sondern sogar von den individuellen Vorlieben. Ich führe obiges Zitat von Stendhal zu Ende: »Die Liebe gleicht dem Fieber. Sie entsteht und vergeht ohne den geringsten Einfluss des Willens. […] Die guten Eigenschaften der Geliebten verdankt man nur einem glücklichen Zufall.« 112 Auch die folgende Passage aus »Eine Liebe Swanns«, in der sich die Fürstin des Laumes über den Liebeskummer Swanns mokiert, dokumentiert die Souveränität der Liebe über Willen und Präferenzen des Individuums: »›Ich finde es ja im Grunde lächerlich, dass ein so gescheiter Mann sich um eine solche Person soviel Kummer macht. Nicht ein-

110 Stendhal: Über die Liebe. In: Buchholz, Kai (Hrsg): Liebe. Ein philosophisches Lesebuch. München: Wilhelm Goldmann Verlag 2007, S. 93. 111 Luhmann, Niklas (1969): Liebe als Passion. Übung SS 1969. In: Kieserling, André (Hrsg.): Liebe. Eine Übung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2008, S. 32. 112 Stendhal, Über die Liebe, S. 93.

70 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

mal interessant ist sie, es heißt, sie sei furchtbar dumm‹, setzte sie mit der Weisheit derjenigen, die nicht lieben, hinzu, die alle der Meinung sind, ein Mann von Geist solle nur um eine Frau unglücklich sein, die es auch verdient. Mit dem gleichen Recht wundert man sich, dass sich jemand herbeilässt, wegen einer so unscheinbaren Kreatur, wie der Kommabazillus es ist, an Cholera zu erkranken.« 113 Der Liebende hat keine Wahl, er muss seinem Schicksal folgen, auch dann, wenn seine Liebe auf die Ehefrau des besten Freundes fällt; oder auf einen Angehörigen einer über Generationen verfeindeten Familie; oder auf die Tochter des Herzogs, die einer weit höheren gesellschaftlichen Schicht angehört. Hieran bildet sich ein weiterer wesentlicher Aspekt dieses Liebesideals, den ich unter 3.2.4 vertiefen möchte: Gerade wenn die Situation hoffnungslos ist und das nahende Unheil für den Romantiker offensichtlich, gerade dann erscheint seine Liebe besonders schön, weil besonders erhaben über das Weltliche und die Vernunft. Das romantische Leid wird daher nicht nur hingenommen und getragen, es wird sich darin gebadet und aufgelöst: »Das Zerstörerische daran wird gesehen – und geradezu mitgenossen.« 114 So ist die schicksalhafte Überwindung von gesellschaftlichen Konformitäten und das sträfliche Brechen von Tabus durch die unzähmbare Macht der Liebe in vielen Romanen jener Epoche ein zentrales Thema. Bevor ich im zweiten Teil dieses Kapitels einen Blick auf die gewöhnlichen Lebenswelten der Epoche werfe, möchte ich noch auf die Parallelen zwischen dem romantischen Liebesideal und dem antiken Mythos des Aristophanes eingehen. Unter 3.1.1 habe ich die Geschichte der Kugelmenschen beschrieben und bereits dort auf die Ähnlichkeit zu einem neuzeitlichen Liebesideal hingewiesen. Nach Betrachtung der Liebe der Romantik wird deutlich, dass sich die Konzeptionen in ihren entscheidenden Punkten sehr ähneln: Es ist jeweils eine für das Individuum unbegreifliche, schicksalhafte Macht, die es antreibt und die Menschen unablässig und unüberwindbar zueinander hinführt, wie die Fortführung des Goethezitats verdeutlicht: »Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; […] Ja hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt.« 115 Die 113 114 115

Proust, Eine Liebe Swanns, S. 199. Luhmann, Liebe als Passion. Übung SS 1969, S. 33. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 301.

71 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Suche nach der wahren Liebe ist unsere unabänderliche Bestimmung und wenn es das Schicksal gut mit uns meint, dann finden wir unseren Seelenpartner, mit dem wir verschmelzen, mit dem wir ein Ganzes bilden, einen gemeinsamen Kosmos aufspannen und vollkommenes Glück im diesseitigen Jetzt erlangen. Dieses Einswerden von zuvor getrennten Seelen ist das zentrale Moment beider Entwürfe. Das schicksalhafte Treffen »des Einen« oder »der Einen« und das perfekte Glück durch ideale Ergänzung sind auch heute noch verbreitete Erwartungen an die Liebe, selbst wenn sie als unvernünftige Wunschvorstellungen erkannt sind. Aus platonischer Sicht könnte das romantische Liebesideal als Rückentwicklung der abstrakten Liebesphilosophie gewertet werden, wie sie uns Diotima resp. Sokrates resp. Platon lehren. 116 Denn die Liebe der Romantik bedeutet Abkehr vom (gesellschaftlich) Allgemeinen, vom Abstrakten, von der analytischen Auseinandersetzung mit dem Sein und dem vernunftgeleiteten Streben nach einer glücklichen Zukunft in Einklang und Weisheit; sie bedeutet Abkehr vom allumfassenden Göttlichen und Hinwendung zum Innermenschlichen, zum konkreten Moment des Einzelnen und zum schillernden Mythos des liebenden Selbst. Ich kann hier Schlegel nicht zustimmen, der im romantischen Ideal der Liebe eine Fortentwicklung und Integration des platonischen Stufenwegs zu transzendenter Erfüllung zu sehen scheint: »Die begeisterte Diotima hat ihrem Socrates nur die Hälfte der Liebe offenbart. Die Liebe ist nicht bloß das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige Genuss einer schönen Gegenwart. Sie ist nicht bloß eine Mischung, ein Übergang vom Sterblichen zum Unsterblichen, sondern sie ist eine völlige Einheit beider. Es gibt eine reine Liebe, ein unteilbares und einfaches Gefühl ohne die leiseste Störung von unruhigem Streben. Jeder gibt dasselbe was er nimmt, einer wie der andre, alles ist gleich und ganz und in sich vollendet wie der ewige Kuss der göttlichen Kinder.« 117 Natürlich lassen sich Teilaspekte beider Modelle im persönlichen Liebesbegriff auf irgendeine Art vereinbaren, doch das anvisierte Ziel, die Erfüllung und damit der Kern der Liebeskonzepte bleibt verschieden: Einerseits das vollkommene Glück auf Erden durch das Einswerden mit einem anderen Menschen, andererseits

116 117

Vgl. 3.2.1. Schlegel, Lucinde, S. 104.

72 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

das vollkommene Glück im Transzendenten durch die solistische Schau des Göttlichen.

3.2.2 Liebesideal und Lebenswelten Das romantische Ideal der Liebe soll damit ausreichend dargestellt sein, doch wie wurde es umgesetzt? Wie wurde mit dieser Vorgabe tatsächlich gelebt? Zunächst muss klargestellt werden, dass Liebe in der Praxis zumeist bald Ehe bedeutete. Der durchschnittliche Mensch der Romantik war kein ewig umherliebender Schwärmer, der sich von allen Alltagssorgen befreite, sich keine Gedanken um seine Altersversorgung machte und sich versinkend in seinen Emotionen von der Gesellschaft absonderte. Er heiratete und gründete eine Familie – wie die meisten Menschen jeder Epoche (ein leichter Wandel dieser Lebenswirklichkeit ist erst postmodern zu beobachten). Allein hierdurch entsteht eine deutliche Abweichung vom beschriebenen Ideal, das sich von solchen Vernunftentscheidungen und weltlichen Belangen distanzierte. Allerdings reicht das Konzept der Liebe insofern in die Ehe hinein, als dass letztere auf der Liebe basieren sollte. So entstand, ausgehend vom aufstrebenden Bürgertum, das Ideal der Liebesehe: Nachdem sich die Partner aus Liebe zur Heirat entschlossen hatten, sollten sie sich gemäß ihrer natürlichen Geschlechterrollen, die antiken Vorstellungen entsprangen, also gemäß ihrer Fertigkeiten, Eigenarten, Wünsche und ihrer Fähigkeit zum Glück, ergänzen und als Einheit einander Erfüllung schenken. Das hieß, dass der Mann den öffentlichen Bereich besetzte und sich der Wirkungsbereich der Frau auf das private und häusliche Leben konzentrierte. Er sorgte durch Überlegtheit, Durchsetzungsvermögen und Leistungsbereitschaft für die Versorgung und die gesellschaftliche Einbindung der Familie. Dafür bereitete sie ihm durch Sanftmut, Heiterkeit und hingebungsvolle Liebe ein idyllisches Heim und kümmerte sich liebevoll um den Nachwuchs. Der Gatte benötigte diesen emotionalen Rückzugsort, um sich von den Anforderungen der nüchternen Arbeitswelt zu erholen. In dieser privaten Familiensituation sollten sich sodann ein intimes Liebesverhältnis und das Lebensglück beider Partner entwickeln: »Ich fühle nie mehr Zuversicht und Mut, als Mann unter Männern zu wirken, ein heldenmäßiges Leben zu beginnen und auszuführen und mit Freunden verbrüdert für die Ewigkeit zu handeln. Das ist meine Tugend; so ziemt es mir, den Göt73 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

tern ähnlich zu werden. Die deinige ist es, gleich der Natur als Priesterin der Freude das Geheimnis der Liebe leise zu offenbaren und in der Mitte würdiger Söhne und Töchter das schöne Leben zu einem heiligen Fest zu weihen.« 118 So verstand sich das Ideal der Liebesehe – die Realität jedoch sah vielfach anders aus: Zum einen wurde auch in der Romantik zumeist endogam geheiratet. Das heißt, dass die Romantische Liebe den ideellen Forderungen nach Überwindung gesellschaftlicher Barrieren nicht entsprach. Außerdem wurden im Bürgertum nach wie vor politisch oder ökonomisch orientierte Ehen geschlossen, sodass die Liebesehe mit romantischer Leidenschaft als Basis die Ausnahme blieb. »[…] es wurde von Liebe gesprochen, aber Mitgift gemeint« 119 schreibt Mahlmann und an anderen Stellen: »Von dem aufklärerischen und frühromantischen Entwurf der Liebe blieben in der bürgerlichen Fassung nur Vereinseitigungen und Rudimente übrig. […] Das Leuchten wahrhafter Liebe verdunkelte sich zu einem Glimmen. Die Ehe wurde zwar als auf Liebe gegründet postuliert, aber es war eine ernüchterte Liebe.« 120 »Im 19. Jahrhundert ›geisterte‹ die frühromantische verklärende Liebe bestenfalls durch die Seelen der opponierenden Frauen« 121, »die das Ideal der Liebesehe beim Wort ergriff[en] und sich leidenschaftlich für die Liebes- und gegen die Konvenienzehe engagierte[n].« 122 So proklamierte und simulierte das Bürgertum die Liebesehe, lebte aber einen Kompromiss aus gesellschaftlicher Strategie und Sympathie. Das romantische Eheideal war nicht bloß deshalb unrealistisch, weil die Romantische Liebe als tragendes Element in den meisten Fällen fehlte. Auch die strikte Trennung der Lebenswelten von Mann und Frau erwies sich als problematisch. So litt der Gatte unter der Verantwortung der alleinigen Versorgung und der Anforderung stets stark und souverän zu sein. Noch schwieriger aber war die Rolle der Gattin. Denn während er im öffentlichen Leben stand und für erbrachte Leistungen Ansehen und Selbstwertgefühl erhielt, blieb sie in der »Idylle des Haushalts« gefangen. »[…] im selben Maße, wie Schlegel, Lucinde, S. 114. Mahlmann, Regina: Liebe im 19. Jahrhundert. In: Kemper, Peter; Sonnenschein, Ulrich (Hrsg.): Das Abenteuer Liebe. Bestandsaufnahme eines unordentlichen Gefühls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004,S. 27. 120 Ebenda, S. 40. 121 Ebenda, S. 41. 122 Ebenda, S. 29. 118 119

74 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

die Männer der aufsteigenden Mittelschicht […] Selbstentfaltung der Persönlichkeit, Individualismus und Wettbewerb im Berufsleben praktizierten, wurde es nötig, die Frauen von diesen Rechten auszuschließen. Sonst wäre das Familienleben zerfallen, das die Männer als Rückhalt für ihre neue Rolle in der Öffentlichkeit dringend brauchten.« 123 Auf diese Weise bestätigte sich das biologische Geschlechterdiktum, denn der Mann konnte die ihm zugesprochenen Kompetenzen (Durchsetzungsvermögen, taktisches Geschick etc.) in der ihm zugeteilten Rolle des öffentlichen Lebens schulen. Die Frau hingegen ergab sich in die Erziehung der Kinder, die Wohnlichkeit des Heims und die emotionale und körperliche Versorgung ihres Mannes – sie wurde weltfremd, unsicher und passiv, weil sie der Welt ferngehalten wurde. Sie konnte unabhängig von ihrem Mann kaum Selbstwertgefühl erlangen, weil ihre Tätigkeit nicht als wichtige Arbeit, sondern als freiwilliger Liebesdienst betrachtet wurde. Das daraus resultierende Konfliktpotenzial ist auch heute noch in mancher Ehe wirksam: Durch die verschiedenen Lebensrealitäten entfremden sich die Ehepartner voneinander und entwickeln verschiedene Interessen. Sie kann seine beruflichen Sorgen nicht nachempfinden und er kann keinen Sinn für die Bedeutung von Vorhangfarben entwickeln. Anstatt höchstes Glück in einer gemeinsamen Weltsicht, im Teilen des Kosmos und im Einswerden zu erleben, erfolgen Distanz, Frustration und schließlich Resignation. Verschlimmert wurde die Situation in der Romantik noch dadurch, dass Konflikte nicht aufrichtig diskutiert werden konnten, weil Ehestreitigkeiten im Ideal des Idylls natürlich tabu waren. Mit der Diskussion von Unstimmigkeiten offenbarte man, so die allgemeine Auffassung, dass keine Liebe herrschte, was beide Ehepartner, vor allem aber den Mann, da er es war, der in der Öffentlichkeit stand, in gesellschaftlichen Misskredit brachte. 124 Das war die allgemeine Realität im Bürgertum, in dem das Ideal der Liebesehe seinen Ursprung hatte. In den Lebenswelten des Proletariats der Romantik ergab sich ein etwas anderes Bild, wie Mahlmann festhält: »Zwar proklamiert vor allem das Bürgertum das Ideal der Liebesehe. Doch diese wird auch im 19. Jahrhundert am ehesten

123 Schenk, Herrad, Freie Liebe – wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe. München: Beck Verlag 1987, S. 100. 124 Vgl. Mahlmann, Liebe im 19. Jahrhundert, S. 36.

75 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

in den unteren Schichten, den Heimarbeitern und Fabrikarbeitern, gelebt.« 125 Diese Tatsache hatte verschiedene Gründe: Zum einen waren politische oder ökonomische Strategien bei der Verheiratung zweier Menschen dieses Standes zumeist gegenstandslos, da beiderseits kaum Besitz und Einfluss vorhanden waren. So wurden diese Ehen in der Regel aus emotionaler Zuneigung und sexueller Attraktion geschlossen, also auf Basis der Leidenschaft. Zum anderen waren diese Ehen weniger patriarchalisch und die Lebenswelten und Interessen der Partner ähnlicher, weil sowohl der Gatte als auch die Gattin ihren Anteil zum Lebensunterhalt beisteuern mussten. Dieser Umstand entsprach zwar nicht dem Ideal, machte die Liebesehe aber stabiler. Beide Partner standen im öffentlichen Leben und konnten sich im gesellschaftlichen Milieu definieren, Konflikte wurden nicht unterdrückt, sondern offen ausgetragen, was eine Distanzierung, wie sie im Bürgertum vorkam, verhindern konnte. Trotz des Positiven, das sich über die Liebe der »einfachen Leute« berichten lässt, wäre es eine grobe Fehleinschätzung anzunehmen, dass das Ideal der Liebesehe im Proletariat der Romantik in seiner eigentlichen Form realisiert wurde. Denn von einer intimen Idylle und einem besonnenen Liebesleben konnte nicht die Rede sein: Diese Menschen waren arm, so arm, dass sich die Eheleute eine Wohnung und häufig auch den Schlafraum mit Fremden teilen mussten. Die hygienischen Bedingungen waren desaströs und auch Hunger war keine Seltenheit. Wenn es ums Überleben geht, ist wenig Raum für Romantik. Die schweren Lebensbedingungen verleiteten viele zum Alkoholismus und schufen immer wieder heftige Konflikte zwischen den Ehepartnern, die zwar offen ausgetragen wurden, aber auch schnell eskalierten und nicht selten zu Misshandlungen führten. Das war die übliche Realität im Proletariat, und doch trugen diese Ehen, im Gegensatz zu den meisten des Bürgertums, den Kern des romantischen Konzepts in sich: Ihre anfängliche Motivation und ihre Basis waren echte Zuneigung und körperliche Anziehung, kein Kalkül. Durch die Armut und das einfache Leben war die Liebesehe des Proletariats sicher nicht ideal, gerade dadurch aber konnte sie echt sein.

125

Ebenda, S. 24.

76 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

3.2.3 Das innovative Moment des romantischen Liebesideals In diesem Abschnitt möchte ich auf eine verbreitete Fehleinschätzung hinweisen und dadurch herausstellen, was das entscheidend Neue am Liebesideal der Romantik war. Die Liebe ist weder in der Romantik entstanden noch hat sie hier erstmals Kultivierung und begriffliche Differenzierung erfahren. Schon ein Gedanke an renaissancistische Werke wie »Romeo und Julia«, den Minnebegriff des Hochmittelalters und die Liebesphilosophie des antiken Griechenlands lässt das einsehen. Das Gefühl hingebungsvoller, leidenschaftlicher und einnehmender Zuwendung ist meiner Ansicht nach sogar älter als jede Kultur und vielleicht sogar älter als die differenzierte Sprache des Menschen. Der Irrglaube, dass die Liebe in der Romantik nicht bloß begrifflich fortentwickelt, sondern als Entität erfunden wurde, rührt wohl daher, dass das Liebesideal der Romantik noch in weiten Teilen den heutigen Vorstellungen entspricht. Wir nennen unsere Liebe »Romantische Liebe« und auch wenn wir uns schon seit Jahrzehnten dazu zwingen, realistischer und nüchterner auf die Prozesse der Liebe zu schauen, so scheint unser Innerstes noch immer dem süßen Schmerz der vergangenen Epoche nachzuschwelgen. Das kann zur Illusion eines statischen Liebesbegriffs und zur Ignoranz vorromantischer Liebeskonzepte führen. Was aber ist neu an der Liebe der Romantik? Die Einkehr ins Selbst und die Wertschätzung der individuellen Emotionen? Auch das scheint eher eine Intensivierung und Konzentration als eine wirkliche Innovation zu sein. Für tatsächlich neu hingegen halte ich die gesellschaftliche Relevanz der Liebe. Neben ihrer Unheil hinnehmenden Schicksalshörigkeit und ihrer handlungslegitimierenden und antifeudalistischen Funktion ist vor allem die Einwirkung des Liebesideals auf die Ehe entscheidend, da hier eine reale Modulation der gesellschaftlichen Gesinnung und eine konkrete Prioritätenverschiebung der Menschen in Gang kamen, auch wenn das Ideal in seiner reinen Form kaum gelebt werden konnte. Die Liebe als Bedingung der Ehe, das ist nach meinem Verständnis der innovative Kern der Romantik, fortan wirksam bis zum heutigen Tag.

77 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

3.2.4 Kierkegaards Kritik an der romantischen Ironie Ich zitiere die Textstelle aus Søren Kierkegaards Magisterdissertation, die ich zu Beginn des Kapitels über die Romantik angeführt habe, zu Ende: »Insofern war die Romantik wohltuend. Es geht ein kühler Luftzug, eine erfrischende Morgenluft aus dem Urwald des Mittelalters oder dem reinen Äther Griechenlands durch die Romantik; es läuft den Spießbürgern kalt den Rücken hinunter […]. Die Welt wird verjüngt, aber wie Heine recht witzig bemerkt hat, sie wurde durch die Romantik in dem Grade verjüngt, dass sie wieder ein kleines Kind wurde. Das ist das Unglück bei der Romantik, dass es nicht die Wirklichkeit ist, was sie ergreift. Die Poesie erwacht, die starke Sehnsucht, die geheimnisvollen Ahnungen, die begeisternden Gefühle, die Natur erwacht, die verzauberte Prinzessin erwacht – der Romantiker verfällt in Schlaf. Im Traum erlebt er all dieses, und während früher alles um ihn herum schlief, wacht nun alles, aber er schläft. Aber Träume sättigen nicht.« 126 Die romantisch-literarische Sicht auf die Welt, wie ich sie oben beschrieben habe – also die Abkehr von der Wirklichkeit in Form der Welt außerhalb der eigenen Emotionen, das träumende Verharren in unzähligen Möglichkeiten, ohne eine von diesen zu realisieren, und das schmachtvolle Schicksalsleben des Gefühlsmenschen – all das hätte Kierkegaard womöglich stirnrunzelnd und Augen rollend toleriert. Was ihn letztlich zu seiner Kritik brachte, sind zwei weitere Aspekte: Der erste ist das selbstzerstörerische Moment des Liebesideals. In den Romanen der Romantik wird das Leid des Liebenden nicht nur als mögliche und vorübergehende Erscheinung dargestellt, sondern als der wahren Liebe immanent. Ganz wie beim antiken Konzept des Eros ist nur ein schmachtendes Herz ein liebendes Herz, bleibt der Schmerz aus, so ist auch die leidenschaftliche Liebe gegangen: »[…] sein Gefühl für sie war jetzt frei von Schmerz und daher kaum noch Liebe zu nennen […].« 127 Mit dem romantischen Fokus auf das Gefühl des Individuums gehen eine emotive Überhöhung und damit eine emotive Überlastung desjenigen einher, der liebt, weil Liebe pure Emotion und somit pure Überhöhung ist. Der Romantiker leidet damit unter permanentem »Emotionsüberdruck« oder unkontrollierbarem »Gefühlserguss«. Der Inbegriff dieser Figur ist Goethes Wer126 127

Kierkegaard, Der Begriff der Ironie, S 315 f. Proust, Eine Liebe Swanns, S. 241.

78 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

ther: überempfindsam, naturliebend, dichtend und malend, mit allem mitfühlend, im Leid wie im Glück zerfließend, schäumend, überschwappend, schamlos sich zu Boden werfend, sich seinen Gefühlen hingebend und noch darüber weinend, oszillierend zwischen Liebesleid und aufflackernder Glückseligkeit, im eigenen Gefühl ersaufend. An manchen Stellen versteigt sich die emotive Überhöhung gar zu Blasphemie, weil nur noch ein Ausdruck der ultimativen Einsamkeit und des ultimativen Leids den Gefühlen Werthers gerecht zu werden scheint: »Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?« 128 Der wahre Romantiker kann also gar nicht glücklich werden, weil er zu empfindsam ist und weil seine fantastischen Ideale mit der äußeren Realität immer kollidieren werden. Er kann allenfalls Phasen der Euphorie durchleben bis erneute Schicksalsschläge sein Herz zu zerreißen drohen. So schreibt Luhmann: »[…] in der Romantik [wird], die Übersteigerung immer miterlebt, ihre Problematik, ihre Gefährdung miterfahren – und fast könnte man sagen: mitgenossen.« 129 Und an anderer Stelle noch dezidierter: »Das Zerstörerische daran wird gesehen – und geradezu mitgenossen.« 130 Es wird mitgenossen, weil es Teil dieser Liebe ist und die Liebe über allem steht und immer im Recht ist. In den meisten Romanen der Epoche wird das romantische Unglück des Liebenden so konsequent fortgespielt, dass am Ende unausweichlich der selbst herbeigeführte oder durch gebrochenes Herz verursachte Tod des Protagonisten und nicht selten noch weiterer in die Liebesgeschichte verstrickter Personen steht. 131 Auf diese Weise Goethe, Die Leiden des jungen Werther, S. 106. Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, S. 179. 130 Luhmann, Liebe als Passion. Übung SS 1969, S. 33. 131 Auffallend sind auch die Grausamkeit der Tode und deren detaillierte Beschreibungen. So heißt es am Ende von »Die Leiden des jungen Werther«: »Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem.« (Goethe, Die Leiden des jungen Werther, S. 153.) Es vergehen zwölf röchelnde Stunden, bevor Werther schließlich stirbt. Nicht minder grausig trägt es sich in »Rot und Schwarz« von Stendhal zu: Nachdem Julien wegen eines Pistolenschusses auf seine geliebte Luise ins Gefängnis kommt und nach immer wieder aufkeimender Hoffnung schließlich doch zum Tode verurteilt und durch Enthauptung hingerichtet wird, macht sich Mathilde, seine zweite Geliebte, an seinen sterblichen Überresten zu schaffen: »[Sie hatte] Juliens Haupt vor sich auf einem kleinen Marmortisch gestellt und küsste es auf die Stirn.« Sie entwendet den Kopf und »Ohne dass es einer unter ihnen wusste, hielt sie in dem verhängten Wagen, in dem sie fuhr, den Kopf des Mannes, den sie so sehr geliebt hatte auf ihrem Schoß. […] Als sie dann mit Fouqué allein war, begrub sie eigenhändig das Haupt des Toten. Der Freund sah 128 129

79 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

strebt der Romantiker leidenschaftlich seinem eigenen Tod entgegen, er »will seinen eignen Untergang, weil er die Wirklichkeit nicht will« 132, weil er sie nicht aushält und weil die Liebe in ihm mächtiger ist als alles andere, selbst mächtiger als sein Wunsch zu leben. Er entscheidet sich gegen die Wirklichkeit und für das Nichts. Der zweite Aspekt der kierkegaardschen Kritik weist darauf hin, dass die Romantiker es mit all dem nicht ernst meinen, es geschieht nur in ihren Träumen und Möglichkeiten. Denn das tatsächliche Nichts, der eigene Tod, ist ja keine Lebensart, da eine Lebensart schließlich gelebt werden muss. Das nennt Kierkegaard die romantische Ironie, »die Sünde: dass man dichtet anstatt zu sein« 133. Es ist eine Art lebender Suizid, eine Möglichkeit zwischen den Welten oder wie es Marquard so schön formuliert: »[Die romantische Ironie] ist im Zunichtewerden zugleich auch das, was seine Bewegung durchkreuzt: die Pause, die Retardierung, die Kunst der Aufenthalte. Sie ist (kann man sagen) nicht nur beim Leben, sondern auch beim Sterben das Bummeln: eine Technik, möglichst viele Beine zu beschäftigen, nicht um schneller laufen, sondern um über möglichst viele stolpern zu können und mit erheblichen Aufwand an Chancen und Möglichkeiten nirgendwohin zu kommen, nicht zur Wirklichkeit, aber noch weniger wirklich zum Nichts. […] So ist die romantische Ironie der unendliche Suizid, bei dem es gerade darauf ankommt, dass er nie zu Ende führt, dass der Ironiker, der unentwegt mit Anschlägen auf sich selbst beschäftigte, ebenso unentwegt alle überlebt: Weil ihm selber in der Möglichkeit dauernd das Schlimmste passiert, passiert ihm in Wirklichkeit nichts – aber dafür passiert es den Andern.« 134 Aus diesen beiden Aspekten, der Selbstvernichtung und ihrer Ironie, also gewissermaßen die Negation der propagierten Selbstnegation, folgt nun der zentrale Punkt der kierkegaardschen Kritik, zu, halb wahnsinnig vor Schmerz.« (Stendhal: Rot und Schwarz. Frankfurt am Main/ Leipzig: Insel Verlag 2006, S. 616.) (Luise verstirbt drei Tage darauf in den Armen ihrer Kinder – natürlich an gebrochenem Herzen.) Nach all den Buchseiten verklärter und schmachtender Liebesromantik, nach den Höhenflügen und Leidtälern der Seele scheint es, als dienten diese plötzlich allzu nüchternen, unverblümten und gestochen scharfen Bilder des Todes dazu, die Macht der Emotion über den Körper, die Erhabenheit der Liebe über das Leben blutrot zu unterstreichen. Es ist der mitgenossene Höhepunkt finaler Zerstörungskraft der Romantischen Liebe. 132 Marquard, Der Einzelne, S. 167 f. 133 Kierkegaard, Søren (1849): Gesammelte Werke. Die Krankheit zum Tode. Jena: Eugen Diedrichs Verlag 1911, S. 74. 134 Marquard, Der Einzelne, S. 168.

80 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

der am Ende des marquardschen Zitats schon anklang: Dem ironischen Romantiker geschieht nichts, da sich bei ihm nichts tatsächlich verwirklicht und damit auch nicht sein Unheil – aber dafür passiert es den anderen. Es sind jene realen Menschen, die die romantischen Ironiker und ihre fiktiven Idealfiguren zu ernst nehmen, die in Gefahr geraten, jene, die die heimliche Ironie derer, die vorgeben das romantische Ideal zu leben, nicht erkennen. Auf diese Weise tritt das Ideal aus seiner Fantasiewelt: Der literarische Schmerz des ironischen Romantikers, der sich aus unrealisierten Idealvorstellungen konstituiert, wird von Individuen der wirklichen Welt tatsächlich empfunden. Vor eben dieser Gefahr warnt Kierkegaard und das leichtsinnige und egozentrische Verhalten der Romantiker, das sie verursacht, kritisiert er: »[…] mein Leben kann ich aufs Spiel setzen, mein Leben kann ich allen Ernstes zum Scherze machen – das eines anderen nicht. […]. Ich habe nichts als mein Leben, und das setze ich stracks aufs Spiel, jedes Mal, dass eine Schwierigkeit sich zeigt. Da geht der Tanz leicht; denn die Sicht auf den Tod ist eine flinke Tänzerin, meine Tänzerin, jedweder Mensch ist mir zu schwer; und darum, ich bitte schön, ich bitte bei den Göttern: es fasse niemand eine Neigung zu mir, denn ich tanze nicht.« 135 Der sukzessive Untergang einer Frau, die sich unwissentlich in Abhängigkeit des romantischen Ideals begeben hat, ist in dem spätromantischen Werk »Madame Bovary« von Gustave Flaubert beschrieben: Die junge Emma ist geprägt von der Reinheit der Nonnenschule und den Romanen ihrer Zeit. Doch schon kurz nach ihrer Heirat gerät ihr Weltbild in Konflikt mit der Realität: »Vor der Hochzeit hatte sie fest geglaubt, Liebe zu ihrem Charles zu empfinden. Aber als das Glück, das sie aus dieser Liebe erwartete, ausblieb, da musste sie sich doch getäuscht haben. So dachte sie. Und sie gab sich Mühe, zu ergründen, wo eigentlich in der Wirklichkeit all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch so verlockend geschildert wird.« 136 Ihre durch die Romantiker geprägte Vorstellung von der Liebe erfüllt sich nicht im tatsächlichen Leben, wodurch sie allmählich in Depressionen verfällt: »Es war ihr Glaube, dass die Liebe plötzlich da sein müsse, unter Donner und Blitz, wie ein Sturm aus blauem Himmel, der die Men135 Kierkegaard, Søren (1844): Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum est. 3. Auflage. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1991, S. 6. 136 Flaubert, Madame Bovary, S. 47.

81 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

schen packt und erschüttert, ihnen den freien Willen entreißt, wie einem Baum das Laub, und das ganze Herz in den Abgrund schwemmt.« 137 »Im tiefsten Grund ihrer Seele harrte sie freilich immer des großen Erlebnisses. […] Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, fuhr sie empor und war dann betroffen, dass es immer noch nicht kam, das große Erlebnis. Wenn die Sonne sank, war sie jedesmal tieftraurig […].« 138 Verzweifelt versucht sie den Blick von der Wirklichkeit abzuwenden und sich an das Ideal ihrer Imagination zu klammern: »Aber beim Schreiben [der Liebesbriefe] stand vor ihrer Phantasie ein ganz anderer Mann: nicht Léon, sondern ein Traumgebilde, die Ausgeburt ihrer zärtlichsten Erinnerungen, eine Reminiszenz an die herrlichsten Romanhelden, das leibhaft gewordene Idol ihrer heißesten Gelüste. Allmählich wurde ihr dieser imaginäre Geliebte so vertraut, als ob er wirklich existierte, und sie empfand die seltsamsten Schauer, wenn sie sich in ihn versenkte, obgleich sie eigentlich gar keine bestimmte Idee von ihm hatte. Er war ihr ein Gott in der Fülle seiner Eigenschaften unsichtbar. Er wohnte irgendwo hinter den Bergen in einer Heimat romantischer Abenteuer, unter Rosendüften und Mondenschein.« 139 Doch der Kontakt mit dem realen Leben und seinen unvollkommenen Personen reißt sie immer wieder schmerzlich aus ihrer Traumwelt: »Sie suchte die Einsamkeit, um ungestört in der Vorstellung zu schwelgen. Diese Wollust der Träume wurde ihr durch den leibhaftigen Anblick des Geliebten nur gestört. Beim Hören seiner Tritte zitterte sie. Sobald er aber eintrat, verflog diese Erregung, und sie fühlte nichts als namenlose Verwunderung und tiefe Schwermut.« 140 So wird ihr schließlich bitter bewusst, dass das romantische Ideal nicht real sein kann, dass es gemeine Ironie ist: »Wenn es irgendwo auf Erden ein Wesen gab, stark und schön und tapfer, begeisterungsfähig und liebeserfahren zugleich, mit einem Dichterherzen und einem Engelskörper, ein Schwärmer und Sänger, warum war sie ihm nicht zufällig begegnet? Ach, weil das eine Unmöglichkeit ist! Weil es vergeblich ist, ihn zu suchen! Weil alles Lug und Trug ist! Jedes Lächeln verbirgt immer nur das Gähnen der Langeweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuss den Ekel, der

137 138 139 140

Flaubert, Madame Bovary, S. 128. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 361. Ebenda, S. 137.

82 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

ihm unvermeidlich folgt!« 141 »›All das große Glück […] ist doch nur […] erdichtet von sehnsüchtigen und verzweifelten Phantasten!‹ Jetzt erkannte sie, dass die Leidenschaften in der Wirklichkeit armselig sind und nur in der Überschwänglichkeit der Kunst etwas Großes.« 142 Diese Einsicht bedeutet aber nicht, dass Emma dem romantischen Ideal entkommt. Nach Jahren des Unglücks und der Unzufriedenheit, nach zahlreichen Wirrungen und Verwicklungen in außereheliche Liebschaften, die sie nicht erfüllen und die ans Tageslicht zu drohen kommen, vergiftet sie sich selbst und stirbt einen qualvollen Tod. Auch wenn das grausame Ende und das Leid in der Liebe an die typischen Romane der Romantik erinnern, kann dieses Werk durchaus als Kritik an der eigenen, gerade ausklingenden Epoche und im Sinne Kierkegaards gelesen werden. Eine ähnliche gesellschaftskritische Note lässt sich in Wagners Fassung von »Tristan und Isolde« entdecken, die um dieselbe Zeit entstand. Mit den folgenden Zeilen über den soeben verstorbenen Tristan deutet er auf das Leid, das diese Liebe dem Menschen zumutet, und stellt infrage, ob sie ihm je etwas Gutes brachte: »O Minne-Trug! O Minne-Zwang! Der Welt holdester Wahn, wie ist’s um dich getan! – Hier liegt er nun, der wonnige Mann, der wie keiner geliebt und geminnt: nun seht, was von ihm sie Dankes gewann, was je sich Minne gewinnt!« 143 Flaubert und Wagner können also als Gefolgsleute Kierkegaards betrachtet werden. Wer aber waren seine Gegner, wer waren die romantischen Ironiker, die durch ihre Imagination in die Lebenswelten ahnungsloser Leser hineinwirkten und sie so dem Verderben aussetzten? Ich möchte hier nur den einen nennen und nur das eine Werk: »Die Leiden des jungen Werther« von Johann Wolfgang von Goethe. Die Wirkung dieses dünnen Büchleins ist beispiellos: Der Roman endet bekanntermaßen mit dem Freitod des Protagonisten durch Erschießen. Im ersten Jahr nach seiner Veröffentlichung 1774 gab es Flaubert, Madame Bovary, S. 352. Ebenda, S. 282. 143 Wagner, Tristan und Isolde, S. 92. Musikanalytisch betrachtet drücken der immer fortlaufende, nie zur Ruhe kommende Fluss der Oper sowie der innovative Einsatz unaufgelöster Dissonanzen und die allgemeine Erweiterung der Chromatik die verzehrenden Affekte aus, unter denen die Protagonisten zu leiden haben. Man könnte also sagen, dass Wagner mittels ausgehalten dissonanter Strukturen sein Publikum auf die zumeist ebenso wenig harmonischen Umstände des realen Lebens aufmerksam machen wollte. Dies würde eine musikalische Kritik der romantischen Ironie im Aufbruch der Moderne bedeuten. 141 142

83 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

zahlreiche Nachahmungsfälle. Junge Männer mit Liebeskummer oder sonstigem Weltschmerz erschossen sich, nicht wenige in derselben blau-gelben Tracht, wie sie der traurige Held der Erzählung trägt. Daraufhin wurde das Werk im Jahre 1775 in Leipzig verboten und erst 1825 wieder vom Index genommen. Unter anderem in der Sozialpsychologie bezeichnet man seither einen möglichen Zusammenhang zwischen medialen Inhalten und einem Anstieg der Selbstmordrate als »Werther-Effekt«. Die romantische Ironie ist exemplarisch, da Goethe weite Teile der Geschichte selbst erlebt hatte und sie in der Freiheit des Künstlers ausschmückte und übersteigerte. Durch diese Überhöhung verarbeitete er die Ereignisse und therapierte sich schließlich selbst, wie folgende Zeilen zeigen, die er einige Jahre später schrieb: »Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt. Das alte Hausmittel war mir dießmal vortrefflich zu statten gekommen.« 144 Goethe, dem ironischen Romantiker, ging es also wieder gut, ihm geschah nichts, da sich das Schlimmste nur in einer imaginären Möglichkeit zutrug – aber dafür passierte es den anderen. Nun kann man Goethe natürlich nicht vorwerfen, er habe wissentlich gehandelt oder psychisch gesunde Menschen in den Tod getrieben. Vielmehr hat er mit einer solchen Wirkung, einer solch perfekten Katalyse des romantischen Zeitgeists gar nicht gerechnet: »Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen […] und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen.« 145 Doch Kierkegaard macht auch nicht den Vorsatz zur Tat zum Gegenstand seiner Kritik, sondern die gewissen- und verantwortungslose Egozentrik der Romantiker. Daher (und weil Kierkegaard bereits 18 Jahre alt war als Goethe starb) ist es durchaus naheliegend, dass er den großen Dichter als eine Leitfigur der unmoralischen Kunst betrachtete.

144 Von Goethe, Johann Wolfgang: Goethes sämtliche Werke in vierzig Bänden. Band 22. Cotta’scher Verlag 1840, S. 172. 145 Ebenda, S. 172.

84 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

3.2.4.1 Postmoderne Erweiterung der kierkegaardschen Kritik Solche Auswirkungen hatte das Liebesideal in der romantischen Epoche. Und wie wirkt es auf die gegenwärtigen Lebenswelten westlicher Wohlstandsgesellschaften? Ich habe oben bereits den Aspekt des Ideals benannt, der sich am tiefsten in die modernen und postmodernen Liebeskonzepte eingeprägt hat. Es ist der Anspruch, die Ehe bzw. die Lebenspartnerschaft auf leidenschaftliche Liebe zu gründen. Ich sehe hier jedoch nicht bloß eine Überlieferung dieser Forderung, sondern eine reale Verschärfung des Anspruchs: Das Ideal ist nun nicht mehr der neue Trend einer Zeit des emotiven Aufbruchs, sondern weitgehend anerkannte Doktrin. Einhundert Jahre Popkultur haben uns unermüdlich eingebläut, was der moderne Mensch von der Liebe erhoffen und wonach er streben sollte. Noch heute propagiert nicht nur Hollywood in immer neuen und doch immer gleichen Liebeskomödien das wahre Glück durch schicksalhafte Zufälle und perfekte Ergänzung der Liebenden – Love sells! Und der unbedarfte Zuschauer fängt an zu träumen, von seinem eigenen Leben, seinem Glück, seiner perfekten Liebe. Ganz wie die Leser der romantischen Epoche lassen sich auch die Zuschauer der Gegenwart vom romantischen Ideal verführen, doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Herrschte im Bürgertum der Romantik trotz aller Träumereien noch das gesellschaftliche Dekret der Konvenienzehe vor und verhinderte die Armut des Proletariats trotz der leidenschaftlicheren Heirat noch jede Aussicht auf ein idyllisches Eheleben, so sind diese Repressionen heute weitgehend verschwunden. Wir sind nun so frei, wie es sich das Bürgertum erträumte und die allermeisten von uns verfügen zumindest über solchen Wohlstand, dass sie keinen Hunger leiden und sich privaten Lebensraum leisten können. Diese Umstände, gepaart mit der Sozialisation durch eine Gesellschaft, die das Ideal über Generationen hinweg verinnerlicht hat, führen nun dazu, dass aus den romantischen Träumereien nicht nur bei einzelnen, sondern bei einem Großteil der Gesellschaft realer Anspruch an das eigene Leben wird. Die wahre und ewige Liebe als Bedingung und Versicherung der perfekten Ehe entwickelte sich vom abstrakten Ideal zum ernst gemeinten Lebensziel. Hieraus können erhebliche Probleme für das Individuum resultieren. Ein junger Mensch, bei dem sich das romantische Ideal gemäß dem Mythos des Aristophanes durch soziale und mediale Prägung fest im Wertesystem verankert hat, könnte, ganz wie »Madame 85 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

Bovary«, vergeblich darauf warten, dass »seine andere Hälfte«, sein »Seelenpartner«, der ihn perfekt ergänzt und perfekt beglückt, mit einem Donnerschlag der Liebe in sein Leben tritt. Denn dieser Mensch wird ihm nicht begegnen, einerseits, weil er in solcher Form sehr wahrscheinlich nicht existiert, und anderseits, weil der glücklose Romantiker vielleicht gar keiner ist. Denn Verliebtheit mit ihren vielfach beschriebenen Symptomen und ihren Ausbrüchen überschwänglicher Euphorie ist von der körperlichen und psychischen Konstitution, vom Gemüt des Individuums abhängig. Es könnte also sein, dass einige Menschen traurig auf etwas warten, zu dem sie gar nicht befähigt sind. Bis diese nüchternen Geister realisieren, dass ihnen schlicht die Veranlagung für die bittersüße Leidenschaft fehlt, dass sich bei ihnen erst nach einer Zeit der Sympathie eine zunehmende Neigung entwickelt, bis sie verstehen, dass ihre Liebe nicht dem Blitz aus heiterem Himmel, sondern eher einem langsam heranwachsenden Schössling gleicht, bis dahin haben sie vielleicht schon zu lange auf »das große Ereignis« gewartet oder sind über der ständigen Enttäuschung verbittert. Ihnen drohen Einsamkeit, Selbstwertverlust und Resignation, bloß weil sie den romantischen Überschwang nicht beherrschen. Nicht jeder hat das Herz eines Romantikers, doch nahezu jeder versucht bewusst oder unbewusst das Liebesideal in sein Leben zu integrieren. Ein anderer junger Mensch besitzt die »romantische Begabung«. Er verliebt sich mit all dem emotiven Prunk der vergangenen Epoche in seinen Traumpartner. Vollkommen beherrscht vom romantischen Rausch und im festen Wissen, dass nur die Liebe ihn zum wahren Glück in der oder dem Einen führen kann, heiratet er (oder trifft andere verbindliche Entscheidungen), ohne sich selbst die Zeit für rationalere Erwägungen zu geben. Ist aber leidenschaftliche Zuneigung einzige Basis, so gerät auch er in Schwierigkeiten. Denn wie Luhmann festhält, trifft das Ideal »kaum Vorsorge für den Liebesalltag derjenigen, die sich auf die Ehe einlassen […].« 146 Und schon bei Goethe heißt es (medien-)kritisch: »In der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick, da es erreicht ist, fällt der Vorhang, und die momentane Befriedigung klingt bei uns nach. In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt […].« 147 146 147

Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, S. 187. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 89.

86 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Liebe in der romantischen Epoche

So sind die romantischen Geister nicht selten schockiert, wenn der Rausch seiner Natur gemäß nachzulassen beginnt und sich damit die Basis ihrer Beziehung langsam verflüchtigt. Denn die leidenschaftliche Liebe ist bekanntermaßen nicht statisch, im besten Falle ist sie einigermaßen periodisch. Und die Lage ist noch etwas vertrackter. Denn ob der Mensch der Postmoderne bei der Wahl seines Lebenspartners nun auf die Liebe oder seine Vernunft setzt, so oder so geht er ein Risiko ein, das die meisten Menschen der Romantik nicht kannten: Wenn die Ehe scheitert, dann trägt allein er die Schuld daran. Weder religiöse oder moralische noch gesellschaftliche oder familiäre Zwänge haben ihn in sein Eheunglück gestürzt, es waren sein ureigenes Gefühl oder seine rationalen Überlegungen, die ihn leiteten. Mit einer der wichtigsten Entscheidungen, mit der Wahl eines Lebenspartners, sind wir heute vollkommen allein gelassen, weil kein Zwang mehr herrscht, der sich als mögliche Freiheit tarnt, sondern reale Freiheit mit all ihrer Verantwortungslast und Verunsicherung. Und selbst wenn die Ehe funktioniert, bleibt oft die leise aber bohrende Frage: »Was wäre wenn?« So fragt sich die Mitvierzigerin, wenn sie an den exquisiten Boutiquen eines noblen Stadtviertels vorbeigeht, ob sie damals nicht doch den zwar weniger charmanten, dafür aber erfolgsorientierten Fabrikantensohn hätte heiraten sollen; es fragt sich der Mitfünfziger, ob es damals richtig war, angetrieben von Karriereeifer in die renommierte Kanzlei seines jetzigen Schwiegervaters einzuheiraten, obwohl er für dessen Tochter allenfalls hoffnungsvolle Sympathie empfand, anstatt seiner Jugendliebe den Hof zu machen, die er noch immer ganz reizend findet. Wir tragen die Verantwortung für unsere Entscheidungen, weil wir heute tatsächlich imstande sind, aus Möglichkeiten Wirklichkeiten zu machen. Auch wenn gerade die zuletzt dargestellten Probleme zugegebenermaßen keine Neuerscheinungen der Moderne sind, so ist die gesteigerte Brisanz doch augenfällig: Das Ideal wurde zur allgemeinen Lebenserwartung und zum ernst gemeinten Glücksversuch des Individuums. Es wurde hierdurch aber kaum realistischer. In unserer emotiven und gesellschaftlichen Freiheit suchen wir die große Liebe und finden stattdessen große Verantwortung für unser Lebensglück und -unglück. Bleibt dieser Zusammenhang unerkannt, dann gehen die Menschen der Postmoderne der romantischen Ironie erst so richtig auf dem Leim, weil keine Repression sie mehr hält und ihre Vernunft nicht die Autorität besitzt, um sie vor den Gefahren des Ideals 87 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was bedeutet Liebe? Die Entwicklung des Liebesbegriffs

zu schützen. Damit plädiere ich natürlich weder für eine Rückbesinnung auf überkommene gesellschaftliche Konventionen noch gegen die Liebe als allgemeine und partnerwahlbezogene Handlungsinstanz und wertvolles Element einer gelungenen und Glück bringenden Partnerschaft. Ich plädiere vielmehr für ein gesteigertes Bewusstsein bezüglich der realeren Gefahren, die die Romantische Liebe in die gegenwärtige Epoche hineinträgt. Gerade weil das romantische Ideal in den meisten von uns fortlebt und gerade weil die ernüchternde Reflexion über die Chancen postmoderner Liebe zwar teils rational, nicht aber emotional verinnerlicht ist, sollten wir versuchen, der Romantischen Liebe in unserer Vernunft einen wohlwollenden Paten zu geben, der sich um sie sorgt und sie vor allzu großen Torheiten bewahrt, ohne sie zu unterdrücken. Vor allem aber dürfen wir die Funktion der Liebe nicht verkennen, indem wir ihr unser gesamtes Lebensglück überantworten und ihr die Last der Ehe respektive der Lebenspartnerschaft aufbürden. Dafür ist sie nicht gemacht, dieses Gewicht kann sie nicht tragen, dafür ist sie zu zart, sprunghaft und undiszipliniert. So gilt also: Sapere aude, um in deiner Liebe leben zu können! In diesem Sinn möchte ich die kierkegaardsche Kritik erweitern.

88 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

4 Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A: Die Definition

In gleicher Weise, wie ich im vorangegangenen Kapitel erklärt habe, weshalb die antiken Liebesbegriffe nur anteilig das beschreiben, was ich unter Romantischer Liebe verstehen möchte, so werde ich nun meinen Begriff vom Liebesideal der Romantik abgrenzen. Ich könnte nun ausführen, dass mein Konzept von der Romantischen Liebe das Leid des Liebenden nicht so grundlegend integriert, dass diese Liebe nicht die Vernunft unterwerfen und alleine über die Gedanken und Handlungen des Menschen herrschen muss, um wahrhaftig zu sein, dass sie nicht wie ein plötzlicher Donnerschlag in den Menschen fahren muss und dass es nicht »den Einen« oder »die Eine« gibt, die den Liebenden durch Gegenliebe fortan Lebensglück garantieren. Doch das sind nur inhaltliche Differenzen. Das entscheidende Problem mit der Liebe der romantischen Epoche ist grundlegender und betrifft ihre Wesensart, ihre Kategorie – denn sie ist theoretisches Ideal. Sie ist eine abstrakte Idee und dadurch steril, dadurch ohne belastbaren Bezug zu den realen Lebenswelten der Menschen. Meine Abhandlung auf diesen Begriff zu gründen, würde bedeuten, von vornherein einen kategorialen Graben zwischen den philosophischen Reflexionen und den liebenden Individuen zu ziehen. Sie wäre dann nicht nur theoretisch, weil sie keine praktischen Hinweise für das Finden und Bewahren der Liebe enthält, sondern wäre in dem Sinne transzendent, als dass sie die reale Problematik, die sich am Knotenpunkt zwischen menschlicher Emotion und Welt konstituiert, nicht einmal gedanklich betreffen kann. Und eine Heuristik der Liebe, die sich unter dieser grundlegenden Prämisse herausbildet, würde schließlich zu Studien anleiten, die das Phänomen menschlicher Emotion wissentlich oder unwissentlich exkludieren. Gewiss ist die philosophietheoretische Fortentwicklung abstrakter Gedankengebäude für die Metadisziplin selbst und letztlich für die gesamte Wissenschaft von großer Wichtigkeit. Doch ein Phänomen wie die Liebe durch solche Stilisierung vom lebenden Menschen zu entkoppeln und hinterher zu pro89 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

klamieren, etwas über dessen Gefühlswelt ausgesagt zu haben, ist in meinen Augen nicht zulässig – auch wenn dieser Kategorienfehler auch postmodern keine Seltenheit darstellt. Nichtsdestoweniger ist es für eine erkenntnisorientierte Arbeit essenziell, einen Arbeitsbegriff, das zu Erklärende, das Explanandum zu fixieren. Wenn nicht klar definiert ist, worüber gesprochen wird, ist keine epistemische Betrachtung, geschweige denn eine sinnvolle Diskussion möglich. Wie die obigen Überlegungen verdeutlichen, muss eine Definition, die gewährleistet, die Wirklichkeit des liebenden Menschen zu integrieren, vom Phänomen ausgehen, also von den emotiven Erscheinungen im menschlichen Bewusstsein. Erst nachdem ein solcher Liebesbegriff erarbeitet ist, kann eine sinnvolle Analyse der Relationen zu einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen, wie zu denen der Physiologie des menschlichen Körpers, erfolgen. Wie aber vorgehen? Wie die immense Diversität individueller und bereits einzeln betrachtet hochkomplexer Emotionsgemenge in eine brauchbare Definition der Liebe fassen, ohne sich in Beliebigkeit zu verlieren? Es ist Unsinn sagt die Vernunft es ist was es ist sagt die Liebe Es ist Unglück sagt die Berechnung Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst Es ist aussichtslos sagt die Einsicht Es ist was es ist sagt die Liebe Es ist lächerlich sagt der Stolz Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht Es ist unmöglich sagt die Erfahrung Es ist was es ist sagt die Liebe 148 Fried, Erich: Was bist du mir? Gedichte von der Liebe. Berlin: Wagenbach 2001, S. 67.

148

90 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Über die Definition der Romantischen Liebe

So charakterisiert Erich Fried die Liebe. Indem er sagt, was Liebe nicht ist, gerät er nicht in Verlegenheit, sie in einen Begriff zu schnüren: Liebe ist nicht Vernunft, ist nicht Berechnung, ist nicht Angst, nicht Einsicht, nicht Stolz, nicht Vorsicht und nicht Erfahrung. Auch wenn dies keine sehr präzise Bestimmung ist, denke ich doch, dass die zugrunde liegende Methode sich gut eignet, um ein Phänomen wie die Romantische Liebe zu beschreiben. Allerdings wird es sicher nicht ausreichen, zu sagen, was Liebe nicht ist. Um eine klar konturierte Definition zu erhalten, müssen jene Aspekte erörtert werden, die der Romantischen Liebe grundsätzlich immanent sind. In diesem ersten Teil meines Modells der Romantischen Liebe möchte ich also einen Begriff entwickeln, der jene Aspekte integriert, die alle Liebenden gemeinsam haben, und jene exkludiert, die unpassend oder unnötig sind. Nachfolgend werde ich die Anwendung meiner Methode genauer erläutern.

4.1 Über die Definition der Romantischen Liebe Für die Definition der Romantischen Liebe werde ich eine Mindestcharakterisierung herausarbeiten, indem ich eine Gruppe von Komponenten bilde, die für die Romantische Liebe konstitutiv sind. Diese Komponenten treten keineswegs exklusiv in Verbindung mit Liebe auf, entscheidend ist vielmehr, dass nach meiner Definition ohne den vollständigen Satz der Komponenten nicht von Romantischer Liebe gesprochen werden kann. Bei diesem Vorgehen werden auch solche Aspekte betrachtet, die im landläufigen Verständnis als Bestandteile der Liebe gelten, gemäß meinen Überlegungen jedoch nicht zum begrifflichen Zentrum gehören und damit als kontingent gelten müssen. Indem ich also analysiere, welche Eigenschaften alle Romantischen Lieben gemein haben, werde ich das Explanandum als allgemeinen Kern der Romantischen Liebe herausarbeiten. Selbst unter der Prämisse, dass nicht jede reale Liebe detailliert in der nachfolgenden Definition abgebildet sein kann, wird es differierende Meinungen zur begrifflichen Zusammensetzung des eben erklärten Kerns von konstitutiven Eigenschaften geben. Beschäftigt man sich mit einem Phänomen wie der Liebe, so muss bewusst sein, dass jeder Mensch einen individuellen definitorischen Entwurf von ihm besitzt. Diesem kann schwerlich widersprochen werden, er wurde von emotiven Erfahrungen im privatesten aller Räume gebildet, 91 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

dem eigenen Bewusstsein. Daher basiert jede phänomenologische Definition letztlich auf subjektiven Überzeugungen. Sie kann, so man metaphysische und/oder theologische Erklärungen beiseitelässt, letztlich in nichts Fundamentalerem wurzeln als in diesen. Dennoch ist es möglich, eine substanzielle und gewinnbringende Beschreibung des Phänomens zu geben. Hierfür sollten nach meinem Verständnis drei wesentliche Dinge beachtet werden: Zum einen sollte man versuchen, gesellschaftliche Überzeugungen sowie persönliche Prägungen zu reflektieren, um den Entwurf von unbegründeten Vorurteilen zu befreien und ihn intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Hiermit ist keine vollständige intersubjektive Korrektheit gemeint. Versuchte man eine Charakterisierung der Romantischen Liebe, die das subjektive Einverständnis eines jeden Lesers mit seinen individuellen Liebeserfahrungen und -vorstellungen genießt, so würde sie so ausladend und allgemein, so sperrig und konturenlos, dass kein erkenntnisorientiertes Arbeiten mit ihr möglich wäre – oder sie würde so dünn und schemenhaft, dass abgeleitete Überlegungen ins begrifflich Leere griffe. Es ist vielmehr gemeint, sowohl die eigenen als auch die allgemeinen Überzeugungen mittels vernunftgeleiteter Konklusionen auf ihre begriffliche Berechtigung zu prüfen. Das Zweite, was beim Erstellen einer Definition der Liebe erreicht werden sollte, ist zugleich ihr erster Prüfstein: Ihre innere Konsistenz, ihr logischer Zusammenhang, ihr »Insichstimmigsein«. Denn ein Konzept, dessen Teilaussagen sich widersprechen, ist theoretisch wie praktisch unbrauchbar. Zuletzt sollte die Definition durch ihre innere Geschlossenheit und äußere Kantenschärfe selbst imstande sein, andere Formen der Liebe von der Romantischen Liebe abzugrenzen. Diese Funktionsprüfung werde ich im zweiten Teil dieses Kapitels vornehmen. Im dritten Abschnitt möchte ich untersuchen, welchen Gegenstand die Liebe im anderen Menschen findet, also der Frage nachgehen, auf was sich menschliche Zuneigung prinzipiell richtet. Abschließend werde ich das Phänomen der »Liebe auf den ersten Blick« beleuchten, um herauszustellen, ob es sich auch hierbei um Romantische Liebe handeln kann. Die nun folgende Definition stellt Teil A meines Modells der Romantischen Liebe dar. Um Teil B auszuarbeiten, der die funktionale Dynamik der Liebe beschreibt, also ihr Entstehen, ihren Wandel und ihr Vergehen, müssen zuvor einige evolutionstheoretische Überlegungen angestellt werden. Daher werde ich Teil B des Modells unter 5.2 im Anschluss an das Kapitel »Die Phylogenie der Liebe« formu92 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

lieren. Erst mit Implementierung dieses Funktionsmodells in den definitorischen Begriff ist mein Explanandum vollständig. Vor dem Hintergrund gängiger Definitionen, die üblicherweise eine Liste liebestypischer körperlicher und emotionaler Symptome zusammenstellen oder poetische Unschärfe besitzen, stellt mein Modell in seinen Teilen und im Ganzen einen neuartigen Ansatz zur phänologischen Erfassung der Romantischen Liebe dar.

4.2 Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe 4.2.1 Emotionale Regung und Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten – konstitutiv Es ist leicht einzusehen, dass Romantische Liebe mit einer emotiven Reaktion auf den Geliebten einhergehen muss. Hiermit ist keine andauernde Erregung gemeint, sondern dass die Gegenwart des anderen und das Denken an ihn den emotiven Zustand des Liebenden grundsätzlich beeinflussen. Zudem muss es sich nicht unbedingt um positive Gefühle handeln. Bei unerfüllter Liebe oder räumlicher Trennung sind Emotionen wie Melancholie oder Frustration ebenso möglich wie beispielsweise Nervosität und Hochstimmung in anderen Liebessituationen. Wichtig ist hierbei, dass sich nicht bloß das Verhalten, sondern auch die Emotionen des Geliebten auf die des Liebenden auswirken. Widerfährt dem einen etwas Erfreuliches oder etwas Schmerzliches, so empfindet der andere diese Emotion zumindest anteilig mit, womit auch Sorge um das Wohlergehen des Geliebten einhergeht. Bleibt ein Individuum hingegen vollkommen unbeeinflusst von den Gefühlen des anderen, so kann es von diesem allenfalls geliebt werden, nicht aber selbst lieben. In diesem Fall wäre auch der Wunsch nach emotionaler Intimität (vgl. 4.2.8) und der nach Bildung eines »Wir-Gefühls« (vgl. 4.2.4) nicht sinnvoll zu äußern. Das Ausbleiben emotionaler Regung und Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten ist daher nicht mit der Romantischen Liebe vereinbar.

93 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

4.2.2 Wertschätzung des Geliebten – konstitutiv Mit diesem Aspekt ist nicht gemeint, dass der Geliebte in all seinen Eigenschaften wertgeschätzt wird, sondern dass der Liebende zumindest einige seiner Facetten als liebenswert empfindet. Romantische Liebe ist ohne eine solche Wertschätzung nicht denkbar, sie ist Voraussetzung für Sympathie und Attraktion. Diese positive Haltung kann allerdings zu großen Teilen verdeckt und somit schwer artikulierbar sein, sodass der Liebende mitunter gar nicht genau weiß, was er am Geliebten als wertvoll empfindet. Dadurch, dass die Eigenschaften (also auch die Vorlieben) des Liebenden sein Bewertungssystem bestimmen, ist die »(Liebens-)Wertigkeit« eines Menschen nicht absolut, sondern immer relativ zum subjektiven Kontext. Im Falle beidseitiger Wertschätzung verleiht sich der Liebende durch Wertschätzung des Geliebten auch selbst einen gewissen Wert. Denn wenn der Wert desjenigen erhöht wird, der den eigenen Wert hochschätzt, dann ist dessen Bewertung natürlich gewichtiger, was wiederum den eigenen Wert erhöht. Auf diese Weise kann mit der Romantischen Liebe, so sie einmal wechselseitig besteht, ein sich selbst verstärkender und die Verbindung festigender Prozess einhergehen, der in der gegenseitigen Wertschätzung und der damit verbundenen repetitiven Wertsteigerung dieser Wertschätzungen besteht.

4.2.3 Idealisierung des Geliebten – kontingent Es ist wichtig, diesen Aspekt von der zuletzt beschriebenen, sich steigernden Wertschätzung abzugrenzen. Der Liebende verleiht dem Geliebten zwar einen exklusiven Stellenwert in seinem Leben, doch damit muss keine Idealisierung einhergehen, bei der der Geliebte als perfekter Partner und makelloser Mensch betrachtet wird. In einer aufgeklärten und reflektierten Liebe können sich die Liebenden durchaus der Fehler des anderen bewusst sein und auch die Möglichkeit akzeptieren, dass eine andere (unbekannte) Person noch besser »passen« könnte, ohne dass die Romantische Liebe davon Schaden nimmt oder nicht als solche bezeichnet werden könnte. Gewiss kommt Idealisierung gerade bei jungen oder weniger erfahrenen Liebenden häufig vor, weshalb Autoren wie Dorothy Tennov und Helen Harris sie als typisches Merkmal der Romantischen Liebe auf94 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

führen. 149 Doch vorliegend soll, wie oben geschildert, nicht nach mehrheitlich vorhandenen Liebesmerkmalen, sondern nach für die Romantische Liebe konstitutiven Komponenten gesucht werden. Da die Idealisierung nicht in jeder Liebe vorkommen muss, kann sie also nicht als konstitutive, sondern muss als kontingente Komponente gelten.

4.2.4 Wunsch nach dem »Wir« – konstitutiv Diese Voraussetzung für die Romantische Liebe meint nicht den Wunsch nach einer Paarbeziehung mit all ihren Konsequenzen und Verbindlichkeiten, sondern den akut-emotionalen, also nicht kognitiv-reflexiven Wunsch nach einem geistig-emotiven Kollektiv. Für eine Begründung der Konstitutivität dieses Wunsches sollte zunächst geklärt werden, was dieses »Wir« eigentlich ist, woraus es besteht, wie es zustande kommt und in welcher Wirkbeziehung es zu den Liebenden steht. Ein liebendes Wir kann nur unter Einsatz zweier Individuen entstehen. Weiterhin muss ein emotiver Austausch, also eine Begegnung der Gefühle und deren wechselseitige Beeinflussung erfolgen (vgl. 4.2.1). Das Wir romantisch Liebender ist ein pflichtfreies, aus eigenem Antrieb neu erschaffenes und individuell formbares Kollektiv, das ein starkes Zugehörigkeitsgefühl vermittelt. Um das Entstehen des Wirs, sein Wesen und seine Beziehung zu den Individuen zu verstehen, ist es angebracht zu fragen, ob dieses Wir tatsächlich eine neue und autonome Sache darstellt, und im Zusammenhang damit, ob die beiden »Selbste« unter der Bildung des Wirs an eigener Substanz verlieren oder sich gar in ihm auflösen müssen. Es ist ohne Zweifel, dass das Wir auf die Selbste, die es gebildet haben, rückwirkt und sie dadurch prägt und verändert. Es ist ebenso klar, dass das Wir nicht in solchem Sinne autonom ist, dass es ohne Gegenwart der Individuen unabhängig von ihnen existieren kann. Doch das entscheidet noch nicht, ob das Wir in dem Sinne eigenständig ist, dass es sich eigene Substanz verschafft, oder ob es immer bloß Umwandlung und Aufbrauchen der Selbste ist. Um diese

Vgl. Tennov, Dorothy: Love and Limerence. Maryland: Scarborough House 1979 sowie Harris, Helen: Human Nature and the Nature of Romantic Love. Santa Barbara: University of California 1995.

149

95 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

Frage zu beantworten, sollte zunächst klargestellt werden, was unter Aufbrauchen und Verlust des individuellen Selbst zu verstehen ist. Bekanntermaßen gibt es Beziehungen, in denen einer der Partner oder beide erheblich an Autonomie verlieren. Ein konkretes Beispiel ist der Verlust der Fähigkeit, eigene Werturteile zu bilden. Ist dies der Fall, so fällt es dem Individuum nicht nur schwer, im Restaurant eigenständig ein Gericht zu wählen, die Unsicherheit setzt sich fort und durchdringt die ganze Person, bis dass sie den reflexiven Blick auf sich selbst verlernt. Wenn die Einstellungen des Partners Grundlage aller Werturteile geworden sind, dann wird sich der Liebende vollständig über die andere Person definieren. Eigenschaften und Anschauungen werden übernommen, um dem abhängigen Selbstentwurf zu entsprechen, wodurch das Selbst nicht nur zunehmend an Kontur, sondern auch die Fähigkeit zur Eigenentwicklung verliert. Das Selbst löst sich allmählich im Wir auf. Die Bildung eines Wir muss allerdings nicht mit dem Verlust individueller Substanz einhergehen. Sogar das Gegenteil ist möglich: Die enge geistig-emotive Verbindung im Wir kann den Individuen Fähigkeiten und Persönlichkeitsfacetten verleihen, die sie alleine nicht entwickelt hätten. Konkret können neue Denkanstöße, die vom Wir ausgehen, zu einer gesteigerten Selbstreflexion führen. Neben der psychischen Konstitution der Individuen kommt es darauf an, wie sehr sie darauf achten, ihre Selbste nicht im Wir zu verlieren. Gerade wenn diese Gefahr erkannt ist, kann es zu einer klareren »Selbstkonturierung« kommen: Die Individuen grenzen spezifische Aspekte dessen, was ihre Person ausmacht, mit scharfem Blick vom Pool der Gemeinsamkeiten im Wir ab. So bekommen das Wir und das Selbst einen nebeneinander bestehenden Wert, beides ist erkannt und gewollt. Es ist also durchaus möglich, dass die Selbste, nachdem sie das Wir gebildet haben, durch die Auseinandersetzung mit demselben reicher, definierter und dadurch letztlich autonomer hervorgehen. Dies verändert natürlich wiederum das Wir, das durch die Eigenschaften der Selbste bestimmt wird und das nun seinerseits auf neue Weise beginnt, die Selbste zu schleifen usf. Wegen der möglichen Parallelität von Selbst und Wir, bei dem nicht nur kein Verbrauch des Selbst erfolgen muss, sondern sogar ein individueller Zugewinn möglich ist, betrachte ich das Wir nicht als bloße Umformung von Bestehendem, sondern als in diesem Sinne eigenständiges Phänomen und echtes »Mehr«. In welcher Weise das Wir aber auf die Selbste einwirkt, ist natürlich von der konkreten Liebesverbindung 96 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

und ihren Individuen abhängig und kann kontinuierlich im Spektrum zwischen Befruchtung der Selbste und ihrer Auflösung variieren. Doch zurück zur Ausgangsfrage danach, ob der Wunsch nach dem Wir konstitutiv für die Romantische Liebe ist, denn sie bleibt durch obige Überlegungen unbeantwortet. Versucht man sich eine Liebe vorzustellen, bei der nicht einmal der Drang nach einem emotionalen und geistigen Zusammensein vorliegt, so sieht man bald ein, dass es unmöglich ist. Es ist das grundlegende Sehnen der eigenen Person hin zur anderen, ohne das nicht nur keine Romantische Liebe, sondern auch keine freundschaftliche Liebe möglich wäre. Die vorliegende Definition zeigt, dass der Wunsch nach dem Wir nicht die einzige der konstitutiven Komponenten Romantischer Liebe ist, doch sie ist sicher eine der fundamentalsten. Dieses Wir ist es auch, das für viele Menschen in Liebesbeziehungen den höchsten Wert besitzt, und sein Verlust verursacht den tiefsten Schmerz. Ohne das Wir keine Liebesbeziehung und ohne zumindest den Wunsch nach dem Wir keine Romantische Liebe.

4.2.5 Wunsch nach Gegenliebe – konstitutiv Wenn man den Wunsch nach einem Wir, wie eben herausgestellt, als eine der zentralsten Komponenten der Liebe betrachtet, so ist der Wunsch nach Gegenliebe schon deshalb konstitutiv, weil das Wir nur unter der Bedingung der Gegenliebe verwirklicht werden kann. Liebt der Geliebte nicht romantisch zurück, so ist allenfalls ein freundschaftliches Wir realisierbar. Gewiss könnte man äußere Umstände konstruieren, unter denen der Liebende den Geliebten oder sich selbst vor gesellschaftlichen oder anderen negativen Konsequenzen schützen möchte, die aus der Gegenliebe und dem nachfolgenden Wir resultieren würden. Die Person könnte dann den Wunsch nicht äußern und sein Handeln der Gegenliebe und der Entwicklung des Wirs entgegenstellen. Hierbei würde es sich aber lediglich um ein rationales Überschreiben der eigentlichen Gefühle handeln, die unter der Repression weiterhin bestehen, solange das Individuum liebt.

97 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

4.2.6 Gemeinsame Geschichte – kontingent Romantische Liebe ist nicht mit Liebesbeziehung gleichzusetzen. Weder das Wir und die Gegenliebe noch die unten folgenden konstitutiven Aspekte sind in ihrer tatsächlichen Realisierung konstitutiv. Es ist der empfundene Wunsch, auf den es ankommt, sodass auch unerfüllte Liebe dann Romantische Liebe ist, wenn sie die erforderlichen Komponenten aufweist. Anhand dieser Feststellung wird deutlich, dass eine gemeinsame Geschichte durch Erinnerungen an geteilte Erlebnisse nicht notwendig ist. Selbst wenn der Begriff weiter gefasst und vom ersten Augenblick des ersten Kontakts an von einer gemeinsamen Geschichte gesprochen werden würde, wäre es keine konstitutive Komponente. Es ist nämlich durchaus möglich, dass sich ein Individuum in ein anderes verliebt, ohne dass letzteres etwas von der Existenz des ersten weiß. In diesem Fall könnte man unmöglich von gemeinsamer, sondern lediglich von einsamer Geschichte sprechen.

4.2.7 Wunsch nach körperlicher Intimität – konstitutiv Strukturell ordne ich Sexualität dem für die Romantische Liebe so charakteristischen Komplex der Leidenschaft zu. Letzterer setzt sich aus dem Wunsch nach körperlicher und dem nach emotionaler Intimität zusammen (vgl. 4.2.8). Diesbezüglich ist es auffallend, dass die Begriffe »leidenschaftliche Liebe« und »Romantische Liebe« sprachgebräuchlich synonym verwendet werden können – ein Indiz für die tragende Rolle emotionaler und körperlicher Intimität innerhalb der Romantischen Liebe. Zurück zum Teilbereich der Sexualität: Sicher sind Zweifel an streng reduktiven Sichtweisen wie solchen Schopenhauers oder Freuds berechtigt, nach denen Liebe ausschließlich auf sexuelles Verlangen rückgeführt bzw. Liebe als Funktion des Sexualtriebes verstanden wird. Solche Reduktionen müssen auf ihre Konsistenz und, noch wichtiger, bezüglich ihres Geltungsbereichs geprüft werden. Es ist also wichtig zu schauen, was genau das Explanandum ist, ob es überhaupt definiert ist oder ob der Begriff je nach argumentativer Situation stillschweigend umgeformt wird. Zu schnell werden andernfalls, zugunsten einer scheinbar einfachen Lösung, wichtige Aspekte ignoriert oder unzulässig verallgemeinert. 98 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

Gedanklich näher stehe ich Wolfgang Bartholomäus, der die Meinung vertritt, dass Sexualität die Sprache der Liebe ist. 150 Sexualität, so sie unter romantisch Liebenden stattfindet, ist Ausdrucksform des schwer Auszudrückenden. Ist sie frei von Hemmung und Distanz, kann sie intimste Kommunikation sein, indem sie Liebesgefühlen, die das Sprachvermögen derer, die keine Dichter sind, übersteigen, eine physisch reale Komponente zur Seite stellt – so gesehen ist sie leibliche Poesie der Liebenden. Der gehaltene Blickkontakt über den sexuellen Höhepunkt hinaus ist womöglich die intimste Kommunikation überhaupt. Hier fällt jede Distanz, jeder Schutz, jede Fassade, hier liegt ein Stück Mensch völlig nackt und offen. Diese letzte emotionale Tiefe im Akt, das Vertrauen während der verletzlichen Hingabe des Selbst kann nur unter romantisch Liebenden erreicht werden. Rückwirkend steigert sie zumeist auch die Intensität der körperlichen Komponente des Koitus. Doch diese allgemeinen Gedanken zu Sexualität zwischen Liebenden sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier schlüssig bezüglich ihrer Konstitutivität argumentiert werden muss. Dies soll nachfolgend anhand dreier Überlegungen erfolgen. 4.2.7.1 Romantische Liebe und Libido Wenn angenommen wird, dass der Wunsch nach körperlicher Intimität konstitutiv für die Romantische Liebe ist, so muss auch angenommen werden, dass Menschen, die sich solche Intimität grundsätzlich nicht wünschen, auch nicht leidenschaftlich lieben können. Ein explizit auf sexuelle Interaktion gerichteter Fortpflanzungstrieb (Libido) entwickelt sich zu Beginn der Pubertät, die Entwicklungsphase, in der der Mensch auch erstmals romantisch liebt. 151 Schon in dieser 150 Bartholomäus, Wolfgang: Glut der Begierde – Sprache der Liebe. Unterwegs zur ganzen Sexualität. München: Kösel 1987. 151 Folgt man der freudschen Psychoanalyse, so existiert auch eine präpubertäre infantile Sexualität, die jedoch primär auf den eigenen Körper und dessen Erkundung gerichtet ist. Ohne die Begriffe und Auslegungen Freuds zu übernehmen, halte ich es doch für wichtig, präpubertäre Zuneigungen zu besprechen. Ich bin der Auffassung, dass in dieser Sache zwischen »Sexualität« und »sexueller Ausrichtung« im Sinne einer Disposition zur Sexualität unterschieden werden muss. Denn sexuelle Ausrichtung entfaltet, im Gegensatz zur voll entwickelten Sexualität, ihre Wirkung schon vor der Pubertät (in Verbindung damit, dass sich das Kind selbst einem Geschlecht zuordnet): Im Falle von Heterosexualität werden Vertreter des anderen Geschlechts zunehmend anders wahrgenommen, Neugierde, Unsicherheit und Scham beginnen den

99 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

einfachen Beobachtung liegt ein Indiz für die postulierte Abhängigkeit. Um der Sexualität ihre Bedeutung für die Romantische Liebe abzusprechen, könnte argumentiert werden, dass für die Liebe vor allem eine gewisse Reife, Ernsthaftigkeit und der Bezug zur eigenen und zur Lebensrealität des Gegenübers nötig sei. Das ist sicher richtig, doch sollte berücksichtigt werden, dass die sexuelle Reife eben diesen Sinneswandel hin zum erwachsenen Geist mit sich führt. Eine gesteigerte Hypothalamus-Hypophysen-Aktivität stimuliert die Keimdrüsen zu einer erhöhten Produktion von Sexualhormonen. Erst hiermit gehen die tiefgreifenden körperlichen wie seelischen Veränderungen einher. 152 Sexuelles Reifen heißt also auch geistiges Reifen, heißt also auch, die Fähigkeit zur Leidenschaft und somit zur Romantischen Liebe zu erlangen. Einen zweiten Hinweis liefert die Betrachtung von altersbedingter Anaphrodisie. Es spricht eine deutliche Indiziensprache, dass Liebesbeziehungen oftmals einen eher freundschaftlich unterstützenden Charakter bekommen, wenn der Sexualtrieb mit zunehmendem Alter nachlässt. Auch das viel zitierte Phänomen des »zweiten Frühlings« fügt sich vortrefflich in diese Deutung. Denn wenn sich Menschen fortgeschrittenen Alters erneut romantisch verlieben, schließt diese Zuneigung auch immer eine körperlich-zärtliche Komponente mit ein. Diese Aspekte deuten auf eine Verkettung von körperlicher Leidenschaft und Romantischer Liebe hin, sodass der Zusammenhang schon jetzt begründet angenommen werden kann. Umgang zu prägen. Zweifelsohne entwickeln sich auch auf diese Weise ausgerichtete präpubertäre Zuneigungen, allerdings müssen sie meinem Verständnis nach als spielerische und undifferenzierte »Schwärmereien« vom Begriff der Romantischen Liebe separiert werden. Sie sind als Vorstufen der Entwicklung adulter Liebe zu betrachten, die erst mit Beginn der Geschlechtsreife und der damit einhergehenden leidenschaftlichen Motivation und Ernsthaftigkeit möglich wird. Erst mit einer gewissen geistigen und sexuellen Entwicklungsreife ist das für die Romantische Liebe charakteristische körperliche und emotive Spektrum zwischenmenschlicher Kommunikation und Hinwendung möglich, das vom Erkennen der eigenen und der fremden Person abhängt und das der infantilen Schwärmerei fehlt. Ebenso wie die sexuelle Ausrichtung Disposition für den Wunsch nach körperlicher Intimität ist, ist die präpubertäre Zuneigung Disposition für die Romantischen Liebe, die sich erst später durch den vollständigen Satz ihrer konstitutiven Komponenten entfaltet. Auf diese Weise sind die Phänomene zu trennen. 152 Faller, Adolf; Schünke, Michael: Der Körper des Menschen – Einführung in Bau und Funktion. 15. Aufl. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2008, S. 597.

100 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

4.2.7.2 Romantische Liebe und Attraktivitätsverlust Gerade war der Liebende das auslösende Moment für ein Nachlassen sexueller Attraktion. Umgekehrt ist es auch möglich, dass der Geliebte einen körperlichen und/oder geistigen Wandel durchläuft, der ihn dem Liebenden nicht mehr als attraktiv erscheinen lässt. So wäre beispielsweise denkbar (zugegeben etwas stereotyp und natürlich von den Individuen, ihren Vorlieben und dem Charakter ihrer Verbindung abhängig, doch sicher millionenfach real), dass sie erheblich an Gewicht zunimmt und er seine Arbeitsstelle in leitender Funktion verliert. Beide Eigenschaften (eine Figur, die dem gesellschaftlichen Ideal einigermaßen entspricht, und Macht bzw. hoher gesellschaftlicher Rang) sind zentrale Attraktivitätsmerkmale der Geschlechter. 153 Gehen diese verloren und können nicht von den übrigen Eigenschaften ausgeglichen werden, so verliert der Partner seine Anziehungskraft, womit auch sexuelles Desinteresse einhergeht. Spätestens an diesem Punkt würde man auch nicht mehr von Romantischer Liebe sprechen. Denn sollte die Beziehung trotz fehlender Attraktion fortgeführt werden (denkbare Gründe wären gemeinsame Kinder, gesellschaftliche Normen etc.), so handelte es sich bestenfalls um eine auf Sympathie und gegenseitigen Respekt basierende freundschaftliche Liebe. Attraktivität ermöglicht sexuelle Anziehung, ermöglicht Leidenschaft, ermöglicht Romantische Liebe. Überdies kann Romantische Liebe wiederum positiv auf die wahrgenommene Attraktivität des Partners zurückwirken. Unvollkommenheiten, wie beispielsweise ein kleiner Sprachfehler, werden von romantisch Liebenden zwar wahrgenommen, aber als liebreizende Besonderheiten gewertet. In diesem Stadium kann die Romantische Liebe also ein sich selbst verstärkender und festigender Prozess sein, der durchaus zur Idealisierung des Partners führen kann. Wenn dieser Vorgang aber ausläuft oder gar nicht erst stattgefunden hat und zudem die Attraktivität des Partners aufgrund dessen Veränderung oder aufgrund einer Änderung der Vorlieben des Liebenden nachlässt, dann scheitern viele Beziehungen, weil im Gegensatz zum Fall einer Anaphrodisie noch Sexualtrieb vorhanden ist. So bricht nicht nur eine Säule der Romantischen Liebe weg, sondern außenstehende Individuen üben auch zunehmende Anziehung auf den Betroffenen aus – eine doppelte Schwächung der Verbindung. Sexuelle 153

Vgl. 5.4.1.

101 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

Attraktion ist sowohl für das Entstehen als auch für das Andauern von Romantischer Liebe Bedingung, sodass letztere durchaus aufgrund von Äußerlichkeiten zerbrechen kann. Dieser Fakt sollte mit aufgeklärtem Verstand eingestanden und akzeptiert, nicht in ideeller Verklärung ignoriert und tabuisiert werden, zumal Romantische Liebe ja nicht die einzig mögliche Basis einer funktionierenden Beziehung darstellt. 4.2.7.3 Romantische Liebe und sexuelle Ausrichtung Das wohl treffendste Argument zur Konstitutivität der Sexualität für die Romantische Liebe bedarf keiner langen Ausführungen: Es erscheint nicht möglich für heterosexuelle Menschen, Romantische Liebe zu gleichgeschlechtlichen Individuen und umgekehrt für homosexuelle Menschen Romantische Liebe zu gegengeschlechtlichen Individuen zu empfinden. Nun könnte argumentiert werden, dass die Geschlechter mehr voneinander unterscheidet als ihre Sexualität. Das ist natürlich richtig, doch ist sie der prägnanteste Unterschied und gleichzeitig Eigenschaftsschnittmenge aller dem spezifischen Geschlecht Zugehörigen. Wie sollte man die Romantische Liebe homosexueller Menschen zu gleichgeschlechtlichen Individuen erklären, trennte man Sexualität von ihr ab – wie die Fähigkeit bisexueller Menschen, Individuen beider Geschlechter zu lieben – wie die Liebesfixierung Heterosexueller auf das gegensätzliche Geschlecht? Die Romantische Liebe ist ebenso geschlechtsgerichtet wie die Sexualität selbst. Hiermit liegt nun offen, wie eng die Verknüpfung zur leiblichen Leidenschaft ist: Der Wunsch nach ihr bedingt die Romantische Liebe, sie richtet die Liebe geschlechtsspezifisch aus und ist nonverbale Kommunikation intimster Emotionen.

4.2.8 Wunsch nach emotionaler Intimität – konstitutiv Zusammen mit dem Wunsch nach körperlicher Intimität bildet der Wunsch nach emotionaler Intimität das leidenschaftliche Moment der Romantischen Liebe. So wie man einer Person körperlich nah sein will, kann man ihr auch geistig-emotiv nah sein wollen. Man möchte ihr Wesen befühlen und sich selbst in ihren Gedanken spiegeln. Auch wenn Wunsch und Fähigkeiten bezüglich der Tiefe eines solchen Kontakts von Individuum zu Individuum variieren, ist hier wohl kei102 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

ne ausgedehnte Erläuterung nötig. Wie sollte Romantische Liebe ohne Leidenschaft, wie sollte sie ohne den Wunsch nach emotionaler Nähe vorgestellt werden? Wäre sie nicht Ziel, hieße das eine Abschottung des Selbst, wodurch man einander fremd bliebe. Dies ist ganz offensichtlich nicht mit der Hinwendung zu einem romantisch geliebten Menschen vereinbar. Der Wunsch nach emotionaler Intimität ist eng verwandt mit dem nach einem »Wir-Gefühl« und ein zumindest ebenso zentraler Aspekt für die Romantische Liebe.

4.2.9 Exklusivität Um diesen Komplex angemessen zu prüfen, möchte ich ihn in vier Teilaspekte zerlegen. Aufbauend auf 4.2.7 und 4.2.8 soll nachfolgend untersucht werden, ob die Komponenten »Sexuelle Exklusivität des Liebenden«, »Emotionale Exklusivität des Liebenden«, »Wunsch nach sexueller Exklusivität des Geliebten« und »Wunsch nach emotionaler Exklusivität des Geliebten« konstitutiv für die Romantische Liebe sind. 4.2.9.1 Sexuelle Exklusivität des Liebenden – kontingent Der Aspekt sexueller Exklusivität dürfte relativ unstrittig sein. Auch wenn, wie oben dargelegt, eine untrennbare Verknüpfung von Sexualität und Romantischer Liebe besteht und der Wunsch nach körperlicher Intimität konstitutiv ist, muss er nicht exklusiv auf den Geliebten gerichtet sein. Romantisch Liebende können durchaus sexuelle Attraktion zu Dritten verspüren. Ob diese dann in sexuelle Handlungen umgesetzt wird, ist abhängig von vielerlei gesellschaftlichen, charakterlichen und situativen Faktoren sowie davon, ob überhaupt eine verbindliche Beziehung besteht, was hier von untergeordneter Bedeutung ist. 4.2.9.2 Emotionale Exklusivität des Liebenden – kontingent Dieser zweite Aspekt ist weniger offensichtlich. Er betrifft die alte Frage, ob ein Mensch mehrere Menschen romantisch lieben kann. Meiner Ansicht nach ist die Antwort darauf maßgeblich von den Prämissen der Frage abhängig. Würde gefragt werden, ob ein Mensch gleichzeitig zwei verschiedene Menschen lieben kann, so wäre sie 103 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

meiner Meinung nach mit nein zu beantworten. Romantische Liebe in aktiver Form ist ein fordernder Zustand, man muss sie bewusst empfinden. Hierzu ist ein gedanklicher Fokus auf die Person vonnöten, der die Liebe gewissermaßen abruft: Wenn jemand gerade mit seinem Nachbarn über die Höhe des Gartenzauns streitet, dann empfindet er in diesem Moment sicher keine Liebe für seine Freundin, weil sein geistig-emotives System anderweitig belegt ist. In gleicher Weise ist es einem Menschen nicht möglich seinen gedanklichen Fokus in erforderlicher Intensität gleichzeitig auf zwei verschiedene Personen zu richten und so Romantische Liebe für beide zu empfinden. Natürlich kann man an mehrere Menschen gleichzeitig denken, doch dies ist sodann der abstraktere Gedankengegenstand einer Gruppe, bei dem die spezifischen Konturen der Individuen unweigerlich verwischen. Man könnte hier also allenfalls das Abstraktum der »Abrufbarkeit beider Lieben« lieben, nicht aber gleichzeitige Romantische Liebe zu beiden empfinden. Die liebende Aktion lässt im Bewusstsein eines Menschen keinen Platz für Dopplungen. Das Potenzial zur Romantischen Liebe für mehrere Menschen kann jedoch durchaus gleichzeitig in einem Individuum vorhanden sein, wenn die konstitutiven Komponenten für mehrere Menschen erfüllt sind. So ist es möglich, dass ein Mensch in aufeinanderfolgenden Intervallen abwechselnd Romantische Liebe für zwei verschiedene Individuen empfindet. Es ist also ein oszillierendes Lieben, kein gleichzeitiges. Doch dieses Schwanken in Intervallen reicht allemal dazu aus, dass man nicht von emotionaler Exklusivität sprechen kann, zumal die Liebe zu einer Person, wie das Beispiel mit dem Nachbarschaftsstreit zeigt, auch nicht durchgängig »aktiv« ist. Begrenzende Mechanismen der menschlichen Psyche und Physis verhindern zwar eine echte Liebesdichotomie, das metaphorische Herz ist jedoch nicht gezwungen, sich auf ein Individuum festzulegen. 4.2.9.3 Wunsch nach sexueller Exklusivität des Geliebten – kontingent Wie 4.2.9.1 verlangt auch dieser Unterpunkt keine lange Erörterung. In einigen Liebesbeziehungen sind sexuelle Handlungen mit Dritten nicht nur toleriert, sondern ausdrücklich erwünscht. Der Besuch von Etablissements wie Swingerklubs und die damit verbundene Sexualität mit Fremden kann fester Bestandteil der gemeinsamen Sexualität und somit auch der Romantischen Liebe sein. Natürlich ist hier an104 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

zumerken, dass in den meisten Liebesverbindungen sexuelle Exklusivität des Geliebten ein notwendiges Element darstellt. Doch grundlegend für das Phänomen der Romantischen Liebe ist sie nicht. 4.2.9.4 Wunsch nach emotionaler Exklusivität des Geliebten – kontingent Gleich zu Beginn möchte ich konstatieren, dass dieser Aspekt in den allermeisten Romantischen Lieben in starker Ausprägung vorhanden ist. Doch um der definitorischen Methode zu folgen, muss geprüft werden, ob es nicht Fälle von Romantischer Liebe gibt, in denen er nicht vorkommt. Angenommen sei hierfür eine emotional ausgeglichene Dreiecksbeziehung, in der jedes Mitglied von Herzen sagen kann »ich wünsche mir, dass du ihn/sie so liebst wie du mich liebst, weil ich ihn/sie so liebe wie ich dich liebe«. Wie unter 4.2.9.2 dargelegt, wäre eine solche Gefühlssituation grundsätzlich möglich. In diesem Fall würde ein Wir aus drei Selbsten bestehen, das die paarbezogenen Wirs subsumiert. Solche »idealen Dreiecksbeziehungen« sind jedoch nicht nur sehr untypisch, sondern auch höchst instabil, da sie auf ein feines Gleichgewicht der Einzellieben angewiesen sind. Liebe ist aber nicht statisch, sondern unterliegt einer inneren Dynamik, die zudem von äußeren Umständen und Lebenssituationen beeinflusst werden kann. Diese Veränderlichkeit führt schließlich zum Zusammenbruch des emotionalen Gleichgewichts und damit zumindest bei einem Teil der Gruppe zum Wunsch nach emotionaler Exklusivität. Es ist also davon auszugehen, dass solche Formen Romantischer Liebe ohne den Wunsch nach emotionaler Exklusivität nur von kurzer Dauer sein können. Gleichwohl muss jedoch davon ausgegangen werden, dass es solche Verbindungen schon gegeben hat und wieder geben wird. 154 Sie sind instabil und selten, doch spricht nichts gegen ihre Existenz. Der Wunsch nach emotionaler Exklusivität ist damit nicht grundsätzlich konstitutiv für die Romantische Liebe, obschon er in der weit überwiegenden Mehrheit aller Romantischen Lieben elementare Bedeutung besitzt.

154 Man denke hier auch an die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, in denen die geistige Bewegung weg vom Besitzdenken bekanntermaßen auch auf den Umgang mit Exklusivität von Sexualität und Partnerschaft einwirkte.

105 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

4.2.10 Eifersucht – kontingent Folgt man den Ausführungen unter 4.2.9.3 und 4.2.9.4, so ist dieser Aspekt klar zu exkludieren. Wenn weder der Wunsch nach sexueller noch nach emotionaler Exklusivität des Geliebten konstitutiv für die Romantische Liebe ist, so kann es die Eifersucht nicht sein. Doch da wie oben angemerkt die Wünsche nach sexueller und emotionaler Exklusivität des Geliebten prägende Faktoren der meisten Romantischen Lieben sind, sollte auch das Potenzial zur Eifersucht zumeist existent sein.

4.2.11 Wunsch nach Weiterführung des Kontakts und emotionaler Verlustschmerz bei Abbruch einer Liebesverbindung – konstitutiv Wie beim Wunsch nach dem Wir ist auch hier der rein emotive Wunsch unter Ausschluss kognitiver Reflexionen gemeint. Man könnte zahlreiche Szenarien ersinnen, in denen sich die Liebenden aus rationalen Gründen gegen die Fortführung der Verbindung entscheiden. Handelt es sich jedoch um Romantische Liebe, so ist unterhalb der rationalen Repression immer der Wunsch nach Gemeinsamkeit in der Zukunft verborgen. Fehlt der Wunsch nach Fortführung des Kontakts hingegen, so liegt nicht nur keine Romantische Liebe vor, sondern auch keine freundschaftliche. Es ist widersprüchlich zu sagen: »Lieber Freund, es gibt weder äußere Umstände, die mich zu dieser Emotion bewegen, noch möchte ich meine oder deine Gefühle vor Folgen des Kontakts schützen: Ich liebe dich von Herzen und möchte keinen Kontakt zu dir.« Noch paradoxer erschiene eine solche Aussage bei Romantischer Liebe, weshalb der Wunsch nach Weiterführung des Kontakts konstitutiv ist. Auch emotionaler Verlustschmerz bei Abbruch einer bestehenden Verbindung ist notwendiger Bestandteil der Romantischen Liebe. Dieser Zusatz verdeutlicht den enormen Stellenwert, den die Paarliebe für die Beteiligten einnimmt, so sie einmal mit all ihren Komponenten besteht. Das unfreiwillige Ende der Liebesbeziehung führt selbst dann tiefreichenden Verlustschmerz mit sich, wenn eine Ersatzbindung in Form von freundschaftlicher Liebe in Aussicht steht. Auch wenn also rationale Überlegungen zu Einsicht und Gefasstheit anleiten und so ein aufrichtiges Freundschaftsangebot unter Umstän106 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Konstitutive und kontingente Komponenten der Romantischen Liebe

den sogar angenommen wird, durchfährt jeden Menschen, dessen Romantische Liebe zurückgewiesen wird, erheblicher emotionaler Schmerz.

4.2.12 Entscheidung und Selbstverpflichtung – kontingent Für die Gesundheit und das Bestehen vieler Liebesbeziehungen ist dieser Aspekt gewiss von großer Bedeutung. Romantische Liebe ist flüchtig, sodass sie als das primäre Bindungselement in langjährigen Beziehungen oft nicht mehr besteht. Wenn aber zur rechten Zeit eine reflektierte Entscheidung zum Fortführen der Verbindung, zum Wahrnehmen eventueller Verantwortungen und zur Akzeptanz einer eher freundschaftlich unterstützenden Liebe getroffen wurde, kann die Paarbeziehung durchaus Glück bringend fortgesetzt werden. 155 Jedoch ist in diesem Fall die Romantische Liebe schon erloschen und nur deshalb wird Entscheidung und Verpflichtung so bedeutsam. Sie selbst bedarf keines kognitiven Votums und keinerlei Pflichthandlung. Sie entsteht unabhängig von Zwang und nüchterner Reflexion. Wenn Romantische Liebe von einem rationalen Urteil abhinge, dann könnte man sich gegen sie entscheiden, da diese Zustimmung als konstitutive Komponente sie ja erst konstituieren würde. Dass dies nicht der Fall ist, sollte zumindest all jenen Menschen bewusst sein, die einmal von aussichtslosen Liebesgefühlen geplagt wurden.

4.2.13 Körperliche Reaktionen – kontingent Am Ende dieses Abschnitts gilt es noch einen kritischen Blick auf die »Symptome der Romantischen Liebe« zu werfen. Gemeint sind körperliche Reaktionen wie starkes Herzklopfen, Zittern, Schweißausbrüche, beschleunigte Atmung, Erbleichen, Erröten, Schlaf- oder Appetitlosigkeit und dergleichen mehr. Wie bereits erwähnt, sind Liebesdefinitionen, die ein Bündel typischer Symptome zusammenstellen, der verbreitete Standard. Allerdings sind körperliche Reaktionen stark von der physischen und psychischen Konstitution des Lie155 Nicht alle Beziehungen kühlen auf diese Weise ab, aber in allen werden mit der Zeit neben der Romantischen Liebe andere Faktoren bindungsrelevant.

107 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

benden, von seiner kulturellen und sozialen Prägung sowie von den äußeren Umständen der spezifischen Situation abhängig. So gibt es Menschen, die aufgrund ihres Gemüts, ihrer Physis und ihrer Lebensprägung schlicht nicht zu solcher Aufgeregtheit und Überschwänglichkeit neigen. Sollte ihnen deshalb die Fähigkeit zur Liebe abgesprochen werden? Am deutlichsten aber wird die Kontingenz körperlicher Reaktionen, wenn man sich eine Liebe vorstellt, die langsam heranwächst: Zwei Menschen, die sich schon lange kennen, freunden sich näher an und entwickeln eine tiefe unaufgeregte Zuneigung, die allmählich in Romantische Liebe übergeht. Bei diesem Verlauf können Situationen der brennenden Leidenschaft, der Aufregung, der Unsicherheit und des schmerzlichen Verzehrens, mit denen die genannten Reaktionen korrelieren, ausbleiben. Es gibt sie zwar also, die klassischen Symptome der Liebe, aber es gibt sie nicht für jeden Liebenden und nicht in jeder Liebe. Daher können sie zwar als typisch, nicht aber als konstitutiv gelten.

4.2.14 Sieben konstitutive Komponenten der Romantischen Liebe Resümierend lassen sich folgende konstitutive Elemente festhalten: I. II. III. IV. V. VI. VII.

Emotionale Regung und Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten Wertschätzung des Geliebten Wunsch nach dem Wir Wunsch nach Gegenliebe Wunsch nach körperlicher Intimität Wunsch nach emotionaler Intimität Wunsch nach Weiterführung des Kontakts und emotionaler Verlustschmerz bei Abbruch einer Liebesverbindung

4.3 Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe zu neun anderen Liebesformen Um das Definitionskonstrukt auf seine Funktionalität hin zu prüfen und um mein Explanandum weiter zu schärfen, werde ich nun den erarbeiteten Begriff der Romantischen Liebe auf andere Formen der Liebe beziehen. Durch die Vorgabe der sieben konstitutiven Kom108 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe

ponenten werden sich die Begriffe nacheinander voneinander abgrenzen. Bevor ich aber beginne, ist hierfür eine Prämisse festzulegen: Die Liebesemotionen müssen realen Sinn besitzen. Denn würde der Wunsch nach etwas zugelassen, obwohl er der Logik und der Vernunft widerstrebt, dann könnte alles Vorstellbare romantisch lieben und romantisch geliebt werden (vgl. auch 4.1). Der Wunsch nach Gegenliebe eines Baumes ist ebenso wenig realistisch, wie jener nach sexueller Intimität mit einer irrealen Entität, und kann daher nicht sinnvoll geäußert werden. Es muss also die Möglichkeit zur Realisierung unter den Bedingungen unserer Welt gegeben sein, um dem Wunsch Bedeutung und somit Geltung zu verleihen. Nur unter dieser Prämisse kann nachfolgendes Vorhaben glücken und neue Erkenntnis mit sich führen, nur so bleibt der Begriff beherrschbar und präzise. 156

4.3.1 Liebe zu Dingen Man kann nur romantisch lieben, was geistig-emotive Zustände besitzt. Der Objektophilie fehlen folgende für die Romantische Liebe konstitutive Komponenten: a. Die emotionale Beeinflussung ist nicht möglich, da Dinge keine Emotionen haben, die den Liebenden beeinflussen könnten. b. Der Wunsch nach Bildung eines Wir-Gefühls kann nicht sinnvoll geäußert werden, da Dinge kein Selbst besitzen, das beeinflussen oder beeinflusst werden kann. c. Der Wunsch nach Gegenliebe besitzt keinen Sinn, wenn er an ein Ding gerichtet wird, das keine Emotionen haben kann. d. Der Wunsch nach körperlicher Intimität in oben dargelegtem Sinne ist nicht möglich, da jegliche sexuelle Handlung bloß Selbstbefriedigung wäre (vgl. 4.3.4.d). e. Der Wunsch nach emotionaler Intimität besitzt keinen Sinn, da Dinge weder geistige noch emotive Eigenschaften besitzen.

156 Auch wenn einige der unten folgenden Liebesformen schon auf den ersten Blick weit von der Romantischen Liebe entfernt erscheinen, möchte ich sie dennoch nicht ignorieren, um eine umfassende Abgrenzung zu erhalten.

109 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

4.3.2 Liebe unter Tieren Man kann nur lieben, wenn man eine »Theory of Mind« (ToM) besitzt, wenn man sich also bewusst ist, dass andere Individuen geistigemotive Zustände besitzen, die sich von den eigenen unterscheiden. Andernfalls ist keine geistig-emotive, sondern bloß eine rein körperliche Annäherung möglich. Diese Voraussetzung könnten lediglich die dem Menschen eng verwandte Hominidae erfüllen. 157 Ansonsten ist die ToM dem Homo sapiens vorbehalten, der sie im Alter von drei bis fünf Jahren ausbildet. 158 Vor dieser Entwicklung sind Kinder ebenso wenig zur Romantischen Liebe befähigt wie Tiere, da die folgenden für die Romantische Liebe konstitutiven Komponenten fehlen: a. Die emotionale Beeinflussung ist nicht möglich, da die Emotionen des Geliebten nicht erkannt und miterlebt werden. b. Der Wunsch nach einem Wir-Gefühl in oben dargelegtem Verständnis ist nicht möglich, da das geistig-emotive Selbst des Gegenübers nicht erkannt wird. c. Der Wunsch nach Gegenliebe kann nicht sinnvoll geäußert werden, da für das Individuum keine Emotionen existieren, die nicht identisch zu den eigenen sind. d. Die emotionale Intimität ist nicht möglich und der Wunsch nach ihr kann nicht sinnvoll geäußert werden. Nur wenn der Liebende die Emotionen des Geliebten als verschieden von den eigenen Gefühlen erkennt, kann von intimer Nähe gesprochen werden (vgl. auch 4.3.4 d.).

157 Es ist strittig bis zu welchem Grad sich Menschenaffen in andere Individuen hineinversetzen können (vgl. z. B.: Povinelli, D. J.; Vonk, J.: Chimpanzee minds: suspiciously human? In: Trends in Cognitive Sciences 7 (2003), 4, S. 157–160. sowie Tomasello, M.; Call, J.; Hare, B.: Chimpanzees versus humans: it’s not that simple. In: Trends in Cognitive Sciences 7, (2003), 4, S. 239–240.). Ob sie romantisch lieben können ist davon abhängig, ob ihre ToM ausreichend ausgebildet ist und ob sie zu abstrakten Empfindungen wie »Wertschätzung« befähigt sind. Für mein Modell ist es indes unproblematisch, sollten diese Tiere zu einer einfachen Form der Romantischen Liebe fähig sein, denn es würde nicht mehr und nicht weniger bedeuten, als dass die Romantische Liebe kein exklusives Phänomen des Menschen wäre, wofür ich an keiner Stelle meiner Abhandlung argumentiere. 158 Scheiner, Elisabeth: Über die »Lieblosigkeit der Biologie. In: Röttger-Rössler, B., Engelen, E.-M.: »Tell me about love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 52.

110 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe

4.3.3 Liebe zu Tieren Man kann nur lieben, was eine ToM besitzt. Der Liebe zu Tieren fehlen folgende für die Romantische Liebe konstitutive Komponenten: a. Die Bildung eines Wir-Gefühls nach oben dargelegtem Verständnis ist nicht möglich, da das Selbst des Liebenden vom Tier nicht erkannt wird. Dementsprechend kann sich das Tier nicht zugehörig zum geistig-emotiven Kollektiv fühlen, wodurch letzteres nicht zustande kommt. Der Wunsch nach dem Wir ist nicht erfüllbar und seine Äußerung somit ohne Sinn. b. Der Wunsch nach Gegenliebe kann nicht sinnvoll geäußert werden, da Tiere der Romantischen Liebe nicht befähigt sind (vgl. 4.3.2). c. Emotionale Intimität ist nicht möglich und der Wunsch nach ihr damit ohne Sinn. Nur wenn der Geliebte die Empfindungen des Liebenden als verschieden von den eigenen Gefühlen und geistigen Zuständen erkennt, kann er die gemeinte emotionale Nähe mitentwickeln.

4.3.4 Selbstliebe Für die Romantische Liebe ist eine andere Person, ein zweites Selbst nötig. Der Selbstliebe fehlen dadurch letztlich alle für die Romantische Liebe konstitutiven Komponenten: a. Eine Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten ist augenscheinlich nicht möglich. Sicher bewirken die eigenen Emotionen neue Emotionen im Selbst (bspw. beim Selbstmitleid), doch bloß dadurch, dass sie als diese von vornherein selbst empfunden werden. Das Entscheidende und die eigentliche Leistung ist jedoch das Nachempfinden fremder Emotionen. Hierin liegt die Zuwendung und nur hierdurch ist dieser Aspekt relevant. b. Der Wunsch nach einem Wir-Gefühl ist nicht sinnvoll formulierbar, da in einem gesunden Geist 159 nur ein Selbst existiert. 159 Ein interessanter Fall wäre die Liebe zwischen den Persönlichkeiten eines Menschen mit multipler Persönlichkeit. Konzeptionell würde sie allerdings kein Problem darstellen, da sie aufgrund der mehreren Selbste gar keine Eigenliebe wäre, sondern nur im selben Gehirn stattfände.

111 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

c.

d.

e.

Der Wunsch nach Gegenliebe ist nicht sinnvoll formulierbar, da nur ein Selbst zur Verfügung steht, das die eigenen Eigenschaften liebt. Ein Zurücklieben der Eigenschaften ist nicht möglich. Körperliche und emotionale Intimität im oben beschriebenen Sinne ist nicht möglich. Gewiss ist Masturbation eine sexuelle Handlung, doch unterscheidet sie sich deutlich vom Geschlechtsverkehr zweier Individuen miteinander. Zum einen besteht eine schwächere Verbindung zum Fortpflanzungstrieb. Auch wenn verhüteter Geschlechtsverkehr die Fortpflanzung bewusst verhindert, so wird sie im Akt doch gewissermaßen simuliert. Darüber hinaus ist Selbstbefriedigung nicht geschlechtsspezifisch, wird sie doch vollkommen unabhängig von der sexuellen Ausrichtung »mit dem jeweils eigenen Geschlecht praktiziert«. Wichtiger aber ist, dass sie nicht die Funktionen der interindividuellen Sexualität erfüllen kann. Sie kann kein durch körperlich und emotional verletzliches Hingeben vermitteltes Annähern an Fremdes sein. Sie kann nicht Kommunikation komplexer Emotionen sein, da diese Emotionen in einem Selbst schon in ihrer abstrakten Form erfasst sind und daher nicht vermittelt werden müssen. Dementsprechend ist auch keine emotionale Intimität möglich. Intimität kann nur zwischen voneinander Getrenntem erfolgen, denn wenn etwas Eins ist, verliert der Begriff »Nähe« seinen Sinn. So kann ein menschliches Bewusstsein zwar seine Eigenschaften reflektieren und sich so besser kennenlernen, es kann ermutigende Gedanken produzieren und seinen Körper dazu veranlassen, demselben wohltuende Gefühle zu bereiten. Eine intime Annäherung des Selbst ans Selbst ist jedoch unmöglich und damit nicht sinnvoll wünschbar. Eine Wertschätzung des Geliebten und der Wunsch nach Weiterführung des Kontakts können nicht sinnvoll geäußert werden, da wie oben dargelegt die zweite Entität, das andere Selbst fehlt. Was als Kontakt zu sich selbst erscheinen mag, ist nur der reflexive Blick des Selbst auf sich, sein Selbstbewusstsein. Wir können uns und unsere Eigenschaften wertschätzen, wir können uns auch auf bestimmte Weise lieben, jedoch nicht auf romantische Weise.

112 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe

4.3.5 Liebe zu Gott Um diesen Aspekt detailliert zu behandeln, müsste zunächst ein Gottesbegriff definiert werden. Da das jedoch den Rahmen dieser Definition sprengen würde und ebenso ein allgemeines Verständnis zum Ausschluss dieser Liebesform hinreicht, möchte ich es folgendermaßen formulieren: Der Liebe zu einem transzendenten Schöpferwesen fehlen geringstenfalls folgende für die Romantische Liebe konstitutive Komponenten: a. Nimmt man an, dass Gott tatsächlich menschenähnliche geistigemotive Zustände besitzt, die auf jene des liebenden Gläubigen rückwirken können, so wären damit solche Komponenten wie der Wunsch nach Gegenliebe und der nach emotionaler Intimität zumindest grundsätzlich denkbar. 160 Problematischer erscheint hingegen der Wunsch nach dem Wir. Nach obiger Definition müsste es auf beide Individuen, also auch auf Gott rückwirken und so die Selbste beeinflussen. Es erscheint schwer vorstellbar, dass sich das Selbst des allwissenden und ewigen Schöpfers am kleinen Selbst eines einzelnen Menschen ausrichtet. Schon die erforderliche Kompatibilität der Selbste zur Bildung eines Wir der Romantischen Liebe ist zweifelhaft, bedenkt man die Ungleichheit der Wesen. b. Der Wunsch nach körperlicher Intimität zu einem übernatürlichen Wesen ist nicht erfüllbar und kann daher nicht sinnvoll geäußert werden. Nimmt man eine Inkarnation in die physische und geistige Begrenztheit eines menschlichen Körpers an, so scheinen hingegen alle Komponenten der Romantischen Liebe erfüllbar. Im Falle des christlichen Glaubens war eine Romantische Liebe zu Jesus Christus, der gemäß der Trinitätskonstruktion menschgewordener Gott auf Erden war, demnach möglich. Inwiefern ein Gottwesen romantisch geliebt werden kann, ist letztlich also davon abhängig, wie menschlich es von den Gläubigen konstruiert wird. Bei klassischer Vorstellung einer transzendentalen, außerweltlichen Wesenheit ist aber keine Romantische Liebe denkbar. 160 Ob ein solcher Gedanken- und Gefühlsaustausch bestehen kann, ist eine Frage des persönlichen Glaubens bzw. Nichtglaubens. Hier sei die Möglichkeit einmal vorausgesetzt, um zu zeigen, dass Gottesliebe auch unter dieser Annahme von der Romantischen Liebe separiert werden kann.

113 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

4.3.6 Nächstenliebe Die Nächstenliebe beschreibt eine universelle Menschenliebe. Ihr fehlen folgende für die Romantische Liebe konstitutive Komponenten: a. Der Wunsch nach dem Wir in oben beschriebener Form ist bei der Nächstenliebe nicht zu erkennen. Als Wir wird die gesamte Menschheit betrachtet, die unter Gottes Liebe (oder einer anderen moralischen Instanz) erst zum Wir wird. Nächstenliebe ist daher keine freiwillige Hinwendung zum Individuum aufgrund seiner Eigenschaften, sondern eine Hinwendung zum Abstraktum der göttlichen Schöpfung. Sollte ein interindividuelles Wir empfunden werden, so ist es doch immer abhängig vom moralischen Imperativ Gottes. Ein solches Wir kann der Romantischen Liebe nicht genügen. b. Ebenso zielt der Wunsch nach Gegenliebe primär auf die Liebe Gottes ab. Nächstenliebe zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie nichts zurückfordert, nichts wünscht außer dem Wohlergehen eines jeden anderen, um damit getreu der Lehre Jesu Christi zu handeln und Gott zu gefallen. c. Da sich diese Liebe auf alle Menschen richtet, kann schwerlich vom Wunsch nach Weiterführung des Kontakts gesprochen werden. Solange ein Individuum der Nächstenliebe bedarf, ist eine sorgende Verbindung gewünscht. Ist dies aber nicht mehr der Fall, so vermittelt die Nächstenliebe als solche keinen weiteren Kontakt. d. Ein Wunsch nach körperlicher Intimität liegt nicht vor. Selbst wenn der Nächste dieser Zuneigung dringend bedarf und der Liebende sie ihm daher geben möchte, würde nur wieder der Wunsch nach gottgefälligem oder moralischem Handeln durch körperliche Intimität vorliegen. e. Ebenso verhält es sich beim Wunsch nach emotionaler Intimität.

4.3.7 Liebe zu verstorbenen Menschen Diese Liebe stellt dann eine Sonderform dar, wenn sie zu Lebzeiten des Geliebten entstand und dieser dann verstirbt. Denn natürlich endet die Romantische Liebe nicht schlagartig mit diesem Verlust, sondern kann noch lange nachwirken. Mit zunehmender Zeit aber wan114 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe

delt sie sich für gewöhnlich zu einer anderen, einer weniger leidenschaftlichen Form der Liebe oder endet. Dieser Prozess ist, abgesehen von der psychischen Konstitution, maßgeblich von den Überzeugungen des Individuums abhängig, vor allem davon, ob es den Tod des Menschen als sein absolutes Ende begreift. Glaubt der Trauernde an die Fortexistenz der geistigen und emotiven Eigenschaften des Verstorbenen, an eine metaphysische Verbindung durch Gebet oder Meditation und an ein Wiedersehen nach dem eigenen Tod, so bliebe nur eine der konstitutiven Eigenschaften der Romantischen Liebe unerfüllt: Der Wunsch nach körperlicher Intimität ist zumindest in den christlichen »vita-post-mortem-Szenarien« illusorisch. Allein hierdurch wäre die Liebe zu einem Verstorbenen also von der Romantischen Liebe separiert. Vertritt man eine naturalistische Ontologie, die vom Tod als absolutes Ende des individuellen Seins ausgeht, so fehlen der Liebe zu einem verstorbenen Menschen (auf Dauer) folgende für die Romantische Liebe konstitutive Komponenten: a. Emotionale Beeinflussung ist nicht möglich, da der Verstorbene nicht mehr existiert und somit auch keine Emotionen haben kann, die den Liebenden beeinflussen könnten. b. Körperliche Intimität ist nicht möglich, da der Verstorbene nicht mehr existiert. Der Wunsch danach kann nicht sinnvoll geäußert werden. 161 c. Der Wunsch nach emotionaler Intimität kann nicht sinnvoll geäußert werden, da der Verstorbene nicht mehr existiert und somit auch keine geistigen oder emotiven Eigenschaften hat. d. Der Wunsch nach Bildung eines Wirs erhält keinen Sinn, da der Verstorbene nicht mehr existiert und somit auch kein Selbst zur Bildung des Wirs einsetzen kann. e. Der Wunsch nach Gegenliebe kann nicht sinnvoll geäußert werden, da der Verstorbene nicht mehr existiert und somit keine Liebe empfinden kann. f. Die Weiterführung der Verbindung ist unmöglich, da der Verstorbene nicht mehr existiert. Der Wunsch danach kann nicht sinnvoll geäußert werden.

161

Nekrophile Handlungen fallen in den Bereich der Selbstbefriedigung, vgl. 4.3.4 d.

115 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

4.3.8 Freundschaftliche Liebe Freundschaftliche Liebe von Romantischer Liebe zu trennen, stellt wohl die größte Herausforderung einer Definition der Liebe dar. Man könnte hier den fehlenden Wunsch nach sexueller Intimität anführen. Zudem ist freundschaftliche Liebe nicht geschlechtsspezifisch ausgerichtet. Doch was ist mit Freundschaften, die sexuelle Intimität einschließen? Sind hierbei nicht alle konstitutiven Komponenten erfüllt, sodass solche Verbindungen in den Begriff der Romantischen Liebe integriert werden müssen? Nachfolgend möchte ich das Gegenteil aufzeigen. Unter 4.2.11 habe ich ausgeführt, dass ein intensiver Verlustschmerz mit dem Abbruch der Romantischen Liebesverbindung einhergeht, auch dann, wenn eine freundschaftliche Liebe in direktem Anschluss möglich ist. Vorgestellt seien nun zwei Menschen, deren Verbindung auf rein freundschaftlicher Liebe füreinander basiert, die sich darüber hinaus aber sexuelle Intimität wünschen und diese auch vollziehen. Angenommen sei weiterhin ein Umstand, der ihnen den Sexualkontakt untersagt, bspw. der, dass sich einer von ihnen in eine monogame Beziehung mit einer anderen Person begibt. Hierdurch entsteht eine klassische Freundschaftsbeziehung ohne den Zusatz körperlicher Intimität. Das Entscheidende ist nun, dass der »körperlich Verlassene« oder auch beide diese Einschränkung zwar bedauern und mit Wehmut auf vergangene Tage zurückblicken mögen, der tief reichende emotionale Schmerz, der unter gleichen Umständen bei einer Romantischen Liebe aufgetreten wäre, aber ausbleibt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die bestehende Verbindung in ihrer Art unberührt bleibt. Es war vor der Beschränkung freundschaftliche Liebe und ist es auch anschließend noch, weil ihr mit der Sexualität nichts Konstitutives genommen wurde. Im Falle von Romantischer Liebe hingegen bedeutete der Verlust körperlicher Intimität auch das Ende der bestehenden Verbindung, weil sie für diese notwendige Eigenschaft ist. Hier müsste anschließend ein neuartiges (freundschaftliches) Wir konstruiert werden, was einen Teil des beschriebenen Schmerzes ausmacht und häufig nicht gelingt. Sollte bei der geschilderten Situation doch beträchtlicher emotionaler Schmerz entstehen, so war es keine rein freundschaftliche, sondern zumindest einseitig und anteilig eine Romantische Liebe. Für die Formen der Liebe existieren keine klaren Grenzen. Sie bewegen sich zwischen Werden und Vergehen, wobei Verschneidungszonen abhängig von den akuten In116 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Begriffliche Abgrenzung der Romantischen Liebe

tensitäten emotiver Hinwendung entstehen. So gibt es freundschaftliche Verbindungen, deren Individuen auch sexuell miteinander verkehren und deren Liebe gerade im Wandel begriffen ist, da sich durch den engen Kontakt allmählich die Voraussetzungen für den beschriebenen Verlustschmerz entwickeln (bewusst oder unbewusst). Es ist auch möglich, dass die Betroffenen in diesem emotionalen Niemandsland zwischen freundschaftlicher und Romantischer Liebe festsitzen, weil Schritte in beide Richtungen als falsch empfunden werden: Die Klärung einer solchen Verbindung hin zur freundschaftlichen Liebe würde mit relativ leichtem aber existentem emotionalem Schmerz einhergehen, für eine Romantische Verbindung fehlt hingegen die emotionale Intensität. 162

4.3.9 Familiäre Liebe Zunächst sollte hier zwischen der Liebe zu einzelnen Familienmitgliedern und der zur Familie als Gruppe unterschieden werden. Letztere ist eine Liebe zu einer abstrakten Entität, bei der nach einigen konstitutiven Komponenten der Romantischen Liebe nicht sinnvoll gefragt werden kann. Man kann bspw. mit Familie nicht körperlich intim werden, nur mit ihren Mitgliedern; Familie kann die Emotionen des Liebenden nicht beeinflussen, da sie keine hat, sondern ihre einzelnen Mitglieder; Familie kann nicht zurücklieben etc. Interessanter aber sind die Verhältnisse zwischen den einzelnen Mitgliedern der Familie. Im Regelfall ist solche Liebe durch das Fehlen des Wunsches nach Sexualität leicht von der Romantischen Liebe zu trennen. Was ist nun aber mit den Fällen von innerfamiliärer Sexualität? Erfolgen sexuelle Handlungen unter Familienmitgliedern, bspw. zwischen Vater und Tochter, so sind diese selten von beidseitigem Interesse. Außerdem ist in den allermeisten Fällen nicht der Wunsch nach einem neuartigen Wir-Gefühl, das noch tiefere Zugehörigkeit vermittelt, oder der Wunsch nach emotiver Intimität durch das Spiegeln der eigenen Gedanken in denen des Geliebten pri162 Natürlich muss eine langsame und vor allem einvernehmliche Entwicklung einer einst Romantischen Liebe hin zur freundschaftlich-unterstützenden Paarliebe nicht mit emotionalem Schmerz verbunden sein. Das Nachlassen sexueller Attraktion beispielsweise kann akzeptiert werden, wenn emotionale Intimität und Geborgenheit an Bedeutung gewinnen. Die funktionelle Dynamik der Liebe werde ich in Teil B meines Modells beschreiben (siehe 5.2).

117 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

märe Motivation, sondern die reine sexuelle Befriedigung. Doch gibt es natürlich auch Fälle, in denen beispielsweise Geschwister auf freiwilliger Basis Geschlechtsverkehr miteinander haben. Ebenso wie bei der freundschaftlichen Liebe muss auch hier nach dem (Potenzial zum) Verlustschmerz gefragt werden. Erfolgt er bei Abbruch der sexuellen Handlungen nicht, so lag keine Romantische Liebe vor, weil der Wunsch nach körperlicher Intimität sowie der emotionale Schmerz, den der Abbruch herbeiführt, für die Romantische Liebe konstitutiv sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Romantische Liebe zwischen Familienmitgliedern unmöglich ist. Der Wir-Begriff romantisch Liebender könnte sich unabhängig vom Wir familiärer Konstellationen entwickeln. Beide Wir-Begriffe könnten auch koexistieren, was sicher beachtliches moralisches und emotionales Konfliktpotenzial mit sich führen würde. Auch ist vorstellbar, dass das romantische Wir das familiäre Wir im Laufe der Zeit verdrängt. Dass hier nunmehr Romantische Liebe vorherrscht, würde wiederum der potenzielle Verlustschmerz bei Abbruch der sexuellen Aktivität (aufgrund der damit einhergehenden Beendigung der vorherrschenden Liebesverbindung) anzeigen.

4.4 Eigenschaftsliebe In diesem Unterkapitel möchte ich herausstellen, was eigentlich Gegenstand der Romantischen Liebe ist. Worauf, so also die Frage, kann sich menschliche Zuneigung richten? Bei Aristoteles richtet sich die wahre Freundschaftsliebe auf das Tugendhafte, auf das Gute an sich im anderen. Aus diesem Guten entstehen nachgestellt die Eigenschaften des Geliebten, die damit einen sekundären Status erhalten. Solche Liebe, die sich nicht auf die Tugend, sondern auf die für den Liebenden vorteilhaften Eigenschaften des anderen richtet (sei der Vorteil strategischer Art oder auf persönlichen Lustgewinn ausgerichtet), erklärt Aristoteles für minderwertig und instabil (vgl. 3.1.2). 163 Der Liebesbegriff der Romantik geht noch einen Schritt weiter und bezeich-

163 Dass Aristoteles die Philia und nicht die Romantische Liebe beschreibt, ist in diesem Kontext nachrangig, zum einen, weil er diese Liebe auch in der Paarbeziehung beschreibt und zum anderen, weil hier zunächst die allgemeine Frage danach gestellt ist, was Gegenstand menschlicher Zuneigung sein kann. Am Ende des Kapitels werde ich die beiden Phänomene wieder voneinander unterscheiden.

118 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Eigenschaftsliebe

net die (guten) Eigenschaften des Geliebten als glücklichen Zufall der autonomen und in diesem Sinne akausalen Entität Liebe. Durch das Loslösen der Liebe von den menschlichen Individualitäten entzieht sich der Mensch nicht bloß jeglicher Verantwortung, sondern erklärt sich zudem außerstande, seine Zuneigung durch die Eigenschaften des Geliebten zu begründen (vgl. 3.2.1). Ich werde wohl keinen Widerspruch erzeugen, wenn ich diese Ausprägung des Liebesideals zurückweise: Die Liebe ist menschliches Phänomen, das von Menschen hervorgerufen wird. Sie fällt nicht zufällig vom Himmel, sondern ist aufs Engste verbunden mit den liebenden und geliebten Personen. Wenn wir die Liebe nicht immer rational nachvollziehen können, dann sicher nicht deshalb, weil sie ihren eigenen, der Welt enthobenen Gesetzen folgt. 164 Die Romantische Liebe hat also einen realen Gegenstand in dieser Welt, auf den sie sich richtet, und ist damit kausal. Worin aber besteht dieser Gegenstand? Ist er die aristotelische Tugend, das Gute an sich? Es stimmt wohl, dass mit der Tugendhaftigkeit eines Menschen positive Eigenschaften verbunden sind. Solche Menschen gelten gemeinhin als gerecht, ehrlich, gütig, vernünftig, bescheiden, geduldig und tüchtig, sie besitzen Mitgefühl und Mut. In dieser Abhängigkeit liegt meiner Ansicht nach jedoch auch schon die Lösung der antiken Vorstellung: Tugend ist nicht mehr und nicht weniger als der zusammenfassende Überbegriff solcher Eigenschaften, die wiederum selbst Überbegriffe und Voraussetzung noch ausdifferenzierterer guter Eigenschaften sind: Mitgefühl ist Voraussetzung für Hilfs- und Opferbereitschaft; Aufrichtigkeit bewirkt Loyalität und Loyalität bewirkt Treue; Mut bedingt Durchsetzungsvermögen, das wiederum Teil der Eigenschaftsgruppe ist, die Erfolg und hohen Sozialstatus ermöglicht. Tugend ist also gleichermaßen Ursprung und Produkt tugendhafter Eigenschaften, die wiederum Ursprung und Produkt anderer Einzeleigenschaften sind – es besteht eine begriffliche, keine ontologische Hierarchie. Entscheidend ist nun, dass durch dieses Verständnis die Tugend selbst als menschliche Eigenschaft erkannt wird, die als Begriff viele andere Eigenschaften unter sich versammelt. Dadurch wird das Abstraktum »Gutes an sich«, das sich nach Aristoteles über die Eigenschaften des Menschen erhebt, obsolet. 164 Wie dieser Umstand tatsächlich zu erklären ist, werde ich in den Kapiteln 5 und 6 erörtern.

119 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

Ich bin also der Auffassung, dass die Romantische Liebe sich auf die Eigenschaften des Geliebten richtet. Ich bin darüber hinaus der Überzeugung, dass sie sich auf diese Eigenschaften richten muss, weil der Geliebte gewissermaßen aus ihnen besteht. Dieser Umstand wird sehr deutlich, wenn man versucht, sich einen Menschen ohne Eigenschaften vorzustellen: Dieser »Mensch« könnte keinen Stimmklang, keinen Humor, keine Wünsche und keinen Charakter haben, er hätte nicht einmal eine äußere Form und räumliche Ausdehnung. Es kann keine Dinge ohne Eigenschaften geben, denn Existieren setzt nicht bloß das Sein, sondern das Sosein voraus. Würde man also versuchen, an den Eigenschaften eines Menschen vorbei seinen »Wesenskern« zu lieben, so liebte man unvermeidlich nicht nur an ihm, sondern an allem Existierenden vorbei – man liebte das Nichts, dessen »einzige Eigenschaft« es ist, keine Eigenschaften zu haben. Aus der Erkenntnis, dass sich Liebe grundsätzlich auf die Eigenschaften des Geliebten richtet, folgt, dass diese Eigenschaften sie bedingen. Damit ist die Romantische Liebe als eigenschaftskonditional enthüllt. Praktisch bedeutet das, dass es in jeder Zuneigung wahre Bedingungssätze der Art »Ich liebe dich (weiterhin), wenn du (weiterhin) diese und jene Eigenschaften ausbildest.« gibt. Ob das spezifische Ensemble der Konditionen den Liebenden bewusst ist und wenn ja, ob sie es sich eingestehen möchten, ist natürlich eine ganz andere Frage. Hierbei ist zu bemerken, dass die Abhängigkeit der Liebe von den sie bedingenden Eigenschaften nicht in dem Sinne absolut ist, als dass eine nachlassende Eigenschaft nicht durch die Gesamtheit oder ein neues, auf den Liebenden anziehend wirkendes Merkmal kompensiert werden könnte. Auch können sich die Zusammenstellung der Konditionen und deren Gewichtung im Laufe der Zeit wandeln, wie man leicht einsieht, wenn man die Bedingungen seiner Jugendlieben in Erinnerung ruft. Wenn aber die tragenden konditionalen Eigenschaften, wegen denen sich zwei Menschen einst ineinander verliebt haben, verschwinden und die Partnerschaft stattdessen aufgrund gemeinsamer Geschichte oder lebenspraktischer Verbindlichkeiten aufrechterhalten wird, so kann nicht mehr von Romantischer Liebe gesprochen werden. Ganz im Sinne des Aristoteles scheint es auch heute eine relativ klare gesellschaftliche Haltung dazu zu geben, welche Eigenschaften des Geliebten »angemessen« sind, um die Liebe zu ihm zu rechtfertigen. Wenn jemand im Jahr 2019 in aristotelischem Stil proklamierte, dass die Liebe zu seinem Partner sich im Kern auf dessen Tugend 120 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Eigenschaftsliebe

als Ursprung und Produkt der Elemente seiner charakterlichen Güte richte, so würde das gemeinhin wohl als etwas pathetisch, dennoch aber als lobenswert bewertet. Denn Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Güte und Einsatzbereitschaft gelten weiterhin als adäquate Liebeskonditionen. Hingegen würden die Äußerungen »Ich liebe sie, weil sie so gut ausschaut.« und »Ich liebe ihn, weil er so ungeheuer viel Geld hat.« wenig Anklang finden. Aber woran liegt das? Sicher lassen sich hierfür etliche kulturgeschichtliche Erklärungen finden, es scheint aber auch ein eher lebenspraktischer Aspekt entscheidend für die Entwicklung dieser gesellschaftlichen Haltung zu sein, den auch Aristoteles schon bei der Beschreibung seiner Philia benennt. Je weniger die konditionalen Eigenschaften in der Person eines Menschen verankert sind, desto weniger beständig sind sie und desto weniger eignen sie sich als Fundament einer auf Romantischer Liebe basierenden Bindung. Folgt man dieser Überlegung, so wird schnell klar, dass es die charakterlichen Eigenschaften eines Menschen sind, die sich als Konditionen einer Romantischen Liebe am besten eignen. Denn sie sind nicht bloß eng mit der Person verbunden, sondern konstituieren sie bekanntermaßen, sie sind erblich in uns angelegt, bilden sich an den Geschehnissen des Lebens und modellieren damit fortwährend die Nuancen unserer Persönlichkeit, die sich durch diesen Prozess zunehmend konturiert und festigt – nicht statisch und dennoch beständig ist das charakterliche Wesen des Menschen. Man kann Aristoteles, der die Tugendhaftigkeit als Gegenstand wahrer Freundschaftsliebe bezeichnet, also zumindest so weit beipflichten, dass sie den stabilsten Gegenstand einer Liebe bildet. Denn was sollte enger mit dem Wesen eines Menschen verbunden und dadurch beständiger sein, als etwas, das die (guten) Charaktereigenschaften eines Menschen als Begriff unter sich vereint und zugleich als Eigenschaft von ihnen erzeugt wird? Je weiter sich die Eigenschaften hingegen ausdifferenzieren, desto weniger scheinen sie mit der Persönlichkeit des Geliebten verbunden, desto unbeständiger werden sie und desto mehr implizieren sie den praktischen Vorteil des Liebenden: Tugend integriert Mut, Mut ist eine Bedingung für Durchsetzungsvermögen, Durchsetzungsvermögen begünstigt gesellschaftliche und politische Macht; Intelligenz und Tüchtigkeit können beruflichen Erfolg vermitteln, der gewöhnlich finanzielles Vermögen und hohen gesellschaftlichen Status mit sich führt. Die Liebe kann sich sowohl auf die übergeordneten Eigenschaften »Tüchtigkeit«, »Intelligenz«, »Mut« und auch »Durchsetzungsvermögen« richten 121 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

als auch auf die ausdifferenzierteren Eigenschaften »Reichtum«, »Status« und »Macht«. Da ein Mensch aber eher seinen Reichtum, seinen Einfluss und sein gesellschaftliches Ansehen verliert als seine kognitiven und charakterlichen Eigenschaften, ist Liebe, die auf solch »weltlichen Attributen« des Geliebten basiert, im Durchschnitt deutlich instabiler. Je mehr sie aber die überbegrifflichen Eigenschaften zu ihrem Gegenstand nimmt, desto weiter verlagert sie ihren Fokus weg vom konkreten Vorteil des liebenden Selbst hin zum charakterlichen Wesen des Geliebten und desto stabiler wird sie. Aufgrund dieser Abhängigkeiten ist auch äußere Schönheit gemäß des Ideals jugendlicher Fruchtbarkeit als konditionale Eigenschaft der Liebe kritisch zu betrachten. Denn sie ist nicht bloß losgelöst vom soliden Kreis der Charaktereigenschaften, sondern dem unweigerlichen Wandel des Alterns unterzogen und damit ihrer Natur nach unbeständig. Und selbst wenn der Geliebte dank bester Gene und plastischer Chirurgie ein Leben lang herausragend schön bleibt, so handelt es sich bei dieser Eigenschaft, ebenso wie bei den oben beschriebenen »weltlichen Attributen«, um relativ facettenarme und zudem leicht in anderen Menschen wiederzufindende Merkmale. Entsprechend schnell können sie den Liebenden als selbstverständlich und eintönig erscheinen und entsprechend leicht springt die Liebe auf andere Individuen um, die sie stärker ausbilden. Der Charakter eines Menschen hingegen ist immer einmalig und bildet an den Windungen des Lebens beständig seine Facetten, was den Liebenden ein Leben lang faszinieren kann. Da die Romantische Liebe allgemein als substanzielle und beständige Zuneigung im (zukünftigen) Kontext einer festen Paarbeziehung begriffen wird, liegt in den geschilderten Zusammenhängen meines Erachtens eine praktische Begründung für das negative gesellschaftliche Werturteil über potenziell unbeständige konditionale Eigenschaften Romantischer Lieben. Eine Begründung ist jedoch noch keine Rechtfertigung, was die Frage aufwirft, inwiefern die Bewertung individueller Lieben überhaupt legitim ist. Bei Aristoteles werden solche Freundschaftslieben, die sich nicht auf das Wesen des anderen, sondern auf die für den Liebenden vorteilhaften oder befriedigenden Eigenschaften richten, als nicht wahrhaftig und minderwertig bezeichnet. Kann ein solches Urteil dann auch über die Romantischen Liebe gesprochen werden? Kann auch sie niedere Beweggründe haben und dadurch unwert sein? Auch wenn die gesellschaftlich verbreitete Abwertung bestimmter Romantischer Lieben erklärbar ist, halte ich sie dennoch für unzulässig. 122 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Eigenschaftsliebe

Denn sobald tatsächlich Romantische Liebe besteht und nicht bloß strategische und eigennützige Handlung unter dem Deckmantel vorgetäuschter Gefühle, so ist sie samt ihrer Konditionen immer auch legitim, weil sie als emotives Phänomen nicht »falsch« sein kann. Gefühle können aufgrund falscher Annahmen oder unmoralischer Geisteshaltungen entstehen, sie selbst aber rechtfertigt allein ihr authentisches Vorhandensein. Es wäre für die Liebenden lediglich wünschenswert, dass sie sich ihrer oberflächlichen, weil nicht zum Wesen des Geliebten reichenden, dadurch potenziell unbeständigen und dadurch tendenziell untauglichen Konditionen bewusst sind, sodass sie keine Ansprüche an ihre Liebe stellen, die sie nicht erfüllen kann. In diesem Kontext ist ein Werturteil bezüglich mangelnder oder treffender Reflexion der bestehenden Liebeskonditionen sowie deren potenziellen Konsequenzen für die Paarbeziehung möglich. Ob die Liebesmotive einer Person aber »statthaft« sind, kann (wenn überhaupt) nur sie selbst im Abgleich mit ihren spezifischen Vorlieben und Prioritäten entscheiden. Denn moralische Kritik benötigt das Moment der bewussten Entscheidung zur Handlung. An diesem Punkt kommt nun ein Unterschied zwischen der Romantischen Liebe und der aristotelischen Philia deutlich zum Tragen: Freundschaftliche Zuneigung integriert viel stärker die bewusste Entscheidung des Liebenden, weil sie frei ist von den mächtigen Triebfedern der Leidenschaft. Dieser Umstand macht die Philia zugänglicher für kognitive Steuerung. Wir können entscheiden, ob wir uns mit einer Person freundschaftlich verbinden, dessen Wesen uns langweilt oder gar abstößt, dessen Reichtum oder Status uns aber finanziellen oder gesellschaftlichen Vorteil verspricht. Unter 3.1.2 habe ich resümiert »Philia ist Aktion im Realen« und »Willensentscheidung«. Eben diese Aktion, dieses Moment bewusst entschiedener Handlung macht sie moralisch bewertbarer. 165 Die Romantische Liebe hingegen ist von leidenschaftlicher Motivation durchsetzt, die ungleich schwerer zu unterdrücken ist als bspw. das Streben nach Profit. Wie Angst, Freude oder Zorn steigt sie unwillkürlich in uns auf und lässt sich von kognitivem Widerstand kaum umlenken. Sie passiert dem Menschen eher, als dass er

165 Zur Frage, ob Handlungen überhaupt selbstlos sein können oder immer der egoistischen Motivation bedürfen, vgl. 3.1.3.1. Die dort ausgeführten Überlegungen würden sich als Kritik an der aristotelischen Kritik an »vorteilsorientierter« Freundschaftsliebe ausarbeiten lassen, da ihnen gemäß auch die »wahrhaftige Philia« als Aktion im Realen den Handlungsimpuls des eigenen Wohlseins benötigt.

123 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

sich zu ihr entscheidet, und kann im Gegensatz zur Philia auch im Verborgenen ohne jegliche Äußerung und Handlung fortbestehen. Wenngleich also die individuellen Konditionen Romantischer Lieben Rückschlüsse auf die Lebensauffassung und den Charakter der Liebenden zulassen und wenngleich diese Menschen dadurch als mehr oder weniger tief- und feinsinnig bewertbar werden, bin ich dennoch der Meinung, dass das Phänomen als solches, so es denn tatsächlich besteht, einschließlich seiner Bedingungen gesellschaftsmoralisch nicht als unwert, unecht oder verwerflich diskreditiert werden darf.

4.5 Liebe auf den ersten Blick – Teil A: Begriffliche Inklusion Wie zu Beginn des Kapitels angekündigt, möchte ich abschließend das Phänomen der »Liebe auf den ersten Blick« auf seine Zugehörigkeit zur Romantischen Liebe prüfen. Diese spontane Zuneigung soll durchaus wörtlich verstanden sein: Ein Mensch trifft einen anderen Menschen zum ersten Mal und verliebt sich augenblicklich. Was ließe sich gegen die Existenz solcher Romantischer Liebe vorbringen? Es gibt wohl zwei zentrale Einwände: 1. Die erblickte Person kann durch bloßen Sichtkontakt nicht in ihren geistig-emotiven Eigenschaften erkannt werden. Dadurch ist nur körperliches Verlangen möglich, nicht aber die Romantische Liebe, die den ganzen Menschen betrifft. 2. Romantische Liebe kann nur durch anhaltenden Kontakt entstehen. Ihr muss stets eine Phase des Kennenlernens vorausgehen. Vollzieht man die in diesem Kapitel ausgeführte Definition der Romantischen Liebe nach, so wird klar, dass eine gemeinsame Phase des Kennenlernens für die Romantische Liebe nicht notwendig ist. Alle konstitutiven Komponenten können ohne Weiteres dadurch erfüllt sein, dass eine Person die andere akut erlebt: Sie betrachtet ihren Körper, sieht ihr Lächeln, ihren Gang, ihre Gestik, vielleicht lauscht sie auch ihrer Stimme und kann ihr kurz in die Augen blicken. Die umschwärmte Person muss nicht einmal von der Existenz der anderen wissen. Wie steht es aber mit dem ersten Einwand? Es ist nicht abzustreiten, dass der bloße Blick auf einen Menschen dessen Eigenschaften nicht freilegen kann. Was geschieht hier also, wenn sich jemand trotzdem verliebt? Es beginnt ein Akt der Imagination: Angeregt durch die spezi124 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Liebe auf den ersten Blick – Teil A: Begriffliche Inklusion

fische Erscheinung der betrachteten Person generiert der Verliebte in seiner Vorstellung ein mehr oder weniger scharfes Bild geistig-emotiver Eigenschaften. Durch die Projektion dieser Imagination wird der Geliebte vom Verliebten gewissermaßen zu einer Person vervollständigt, sodass nun alle konstitutiven Komponenten erfüllt sein können. Doch ist solch projektive Fantasie innerhalb der Romantischen Liebe überhaupt erlaubt? Liebt man nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit am erblickten Menschen vorbei, weil seine tatsächlichen Eigenschaften kaum den konstruierten Vorstellungen entsprechen werden? Zu beiden Fragen Ja. Dass das entworfene Bild dem Charakter der betrachteten Person entspricht, ist in der Tat sehr unwahrscheinlich. Das bedeutet aber nicht, dass die Romantische Liebe solche Fehlvorstellungen verbietet, ganz im Gegenteil: Es muss sich vergegenwärtigt werden, dass kein Mensch jemals in direktem Kontakt mit den geistig-emotiven Zuständen eines anderen Menschen steht, weil immer zwei vollständig voneinander getrennte Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Denksysteme involviert sind. Weil wir uns also mit unseren Mitmenschen kein gemeinsames Gehirn teilen, sind wir von ihren geistigen Eigenschaften und Gefühlen grundsätzlich separiert. So ist projektive Imagination in jeder zwischenmenschlichen Verbindung, ganz gleich wie intensiv und vieljährig sie sein mag, notwendiger Mittler zwischen den Individuen, deren Originale immer bloß als veränderliche mentale Entwürfe im jeweils fremden Geist erfahrbar sind. Wenn unsere Vorstellungskraft also notwendiges Mittel menschlichen Miteinanders ist, so ist sie auch legitimer Bestandteil der Romantischen Liebe – und fraglos ist Imagination immer fehlbar. So kommt es auch in langjährigen, aus Romantischer Liebe geschlossenen Paarbeziehungen vor, dass Vorstellungen von den Eigenschaften und Überzeugungen des Partners herrschen, die gar nicht der Realität entsprechen. Eine junge Romantische Liebe muss sich sogar überwiegend von solchen Annahmen tragen lassen, die es alsdann an der Beziehungsrealität zu prüfen gilt. Unter diesen Bedingungen ist das imaginative Moment der Liebe auf den ersten Blick als ihr Ausschlusskriterium sehr fraglich. Es müsste definiert werden, zu welchem Anteil man den Geliebten tatsächlich erkennen muss, damit man romantisch lieben kann; es müsste ein Begriffsspektrum installiert werden, das abhängig vom Maß der imaginativen Projektion und der realen Entsprechung zwischen den Polen »echter Romantischer Liebe« und »falscher Romantischer Liebe« differenziert. Und was wä125 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wann ist es Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil A

re mit solchen Fällen, bei denen sicher geglaubtes Wissen über die Eigenschaften des Geliebten eine Fehleinschätzung oder Täuschung war? Wurde dann nicht romantisch geliebt? Muss das Phänomen, müssen die Gefühle dem Liebenden dann im Nachhinein aberkannt werden? Ein solches Konstrukt halte ich für eine irreale Verkomplizierung der tatsächlichen Vorgänge, unnötig und ohne echten Erklärungswert. Gesteht man der Liebe auf den ersten Blick mit ihrem hohen imaginativen Anteil hingegen zu, eine Ausprägung der Romantischen Liebe zu sein, so ist das Modell nicht nur wesentlich einfacher und schlüssiger, auch die Empfindungen der von Liebe auf den ersten Blick betroffenen Individuen sind besser erklärbar. Der Mensch kann nun einmal nur seine Idee von dem lieben, was tatsächlich real ist, zu mehr ist er nicht imstande. Wie gewagt diese Spekulation ist und inwiefern sie letztlich mit der Wirklichkeit kongruiert, bedingt weder Art noch Existenz seiner Liebe. 166 Die bisherigen Schlussfolgerungen müssen jedoch eingegrenzt werden, um nicht Gefahr zu laufen, der Voraussetzung unter 4.3 zu widersprechen, nach der ein grundsätzlicher Realitätsbezug der Liebe gegeben sein muss. Man könnte nämlich einwenden, dass, wenn ein imaginativer Anteil die Romantische Liebe nicht verbietet, auch eine gänzlich fantasierte Person geliebt werden kann. Die Liebe auf den ersten Blick lässt sich von solch irrealen Lieben jedoch klar abgrenzen, denn ihre Imagination besitzt einen realen Anker, der sie zuallererst auslöst. Ursprung der Liebe ist die lebende Person, nicht der eigene von der Außenwelt abgewandte Geist, in dem alles variabel ist. Dieser Bezug zum Weltlichen bedeutet die prinzipielle Möglichkeit, dass das 166 In diesem Zusammenhang sollte auch angemerkt werden, dass der Wunsch nach sexueller Intimität (als gleichermaßen konstitutive Komponente der Romantischen Liebe) ebenso der beschriebenen Spekulation unterliegt wie der nach geistig-emotiver Nähe. Denn ob der Geschlechtsverkehr mit einer Person tatsächlich erstrebenswert ist, kann durch deren bloße Betrachtung nicht erkannt werden. Auch hier erfolgt eine projektive Imagination darüber, wie das begehrte Individuum ohne Kleidung aussieht, wie es beim Koitus agiert, wie es riecht, sich anfühlt und so fort. Solches visuell ausgelöstes sexuelles Verlangen wird jedoch nicht hinterfragt. Es ist sogar möglich, dass die körperlichen Attribute des anderen Menschen vollständig imaginiert werden. Wenn sich beispielsweise aufgrund einer innigen Brieffreundschaft Romantische Liebe entwickelt, dann läuft derselbe kreative Prozess ab, nur dass diesmal kein Bild des Charakters generiert wird, sondern eines der gesamten körperlichen Eigenschaften, vom Klang der Stimme über die körperliche Gestalt bis hin zum Sexualverhalten. Ebenso wie bei der Imagination des Charakters sind auch hier Fehleinschätzungen sehr wahrscheinlich.

126 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Liebe auf den ersten Blick – Teil A: Begriffliche Inklusion

reale Individuum tatsächlich den Vorstellungen entsprechende oder ganz ähnliche geistig-emotive Eigenschaften besitzt, was wiederum die Hoffnung des Verliebten und damit die konstitutiven Komponenten der Romantischen Liebe legitimiert – auch wenn die Chancen auf einen Lottogewinn geradezu lachhaft gering sind, die Hoffnung darauf ist nur dann irrsinnig, wenn man kein Los kauft. Bedenkt man nun, dass die Gefühle des Liebenden existent sind; dass geistig-emotiver Kontakt grundsätzlich nur über die Mittelbarkeit selbst generierter Wesensentwürfe erfolgen kann, sodass fehlbare Imagination auch in längerfristigen Romantischen Lieben notwendige Funktion ist; dass auch der Wunsch nach körperlicher Intimität vor seiner Erfüllung der beschriebenen Spekulation unterliegt; dass die grundsätzliche Möglichkeit der (annähernden) Entsprechung von Imagination und Realität auch im Falle der Liebe auf den ersten Blick gegeben ist und dass diese Vorstellung von einer Begegnung mit einem real existierenden Menschen ausgelöst wird, so muss man die Liebe auf den ersten Blick als Ausprägung der Romantischen Liebe nach meinem Verständnis uneingeschränkt anerkennen. Unter 5.4.1.3 werde ich das funktionelle Zustandekommen der Liebe auf den ersten Blick mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erörtern. Durch die vorliegende Inklusion des Phänomens in den Begriff der Romantischen Liebe ist die spätere Analyse thematisch legitimiert.

127 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

5 Wie und wieso ist die Liebe? Die Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

»›Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist. Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnte Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte, luftige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhältnis dem anderen vorgezogen, eines vor dem anderen erwählt würde.‹ ›Verzeihen sie mir‹, sagte Charlotte, ›wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Notwendigkeit erblicken […]‹« 167 Dieses gut 200 Jahre alte Goethezitat aus »Die Wahlverwandtschaften« veranschaulicht, dass schon in der romantischen Epoche darüber nachgedacht wurde, ob und wie die Liebe mit den physiologischen und den darunterliegenden chemischen Prozessen des menschlichen Körpers zusammenhängt. Im weiteren Verlauf der zitierten Szene wird die chemische Doppelreaktion der Aufspaltung zweier bestehender Verbindungen und der Neuverknüpfung ihrer Teile von den vier Protagonisten scherzhaft auf ihre Liebesverhältnisse übertragen. Wenige Hundert Seiten später bewahrheiten sich die neckischen Andeutungen und führen zu dem obligatorisch-tragischen Ende der Literatur dieser Zeit. Auch wenn hier vor allem der Aspekt einer Determination, also ein »Liebeszwang« dargestellt wird, betrifft die grundlegende Frage die naturwissenschaftlichen Ursachen des Phänomens. Eben dieser Frage – »Warum liebt der Mensch und wieso liebt er gerade so?« – möchte ich in diesem Kapitel mittels Befragung ausgewählter Einzelwissenschaften nachgehen. Für eine strukturierte Annäherung an diesen Komplex ist es zielführend, die Ursachen zunächst in zwei Gruppen einzuteilen, in 167

Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 45.

128 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

ultimate und proximate Ursachen. Diese Begriffe entstammen der Verhaltensforschung und legen nahe, dass menschliches Handeln niemals monokausal sein kann, sondern bei ganzheitlicherer Betrachtung immer mehrere Ursachen hat. So erklären die proximaten Ursachen wie ein Prozess im Jetzt funktioniert, wohingegen die ultimaten Ursachen verständlich machen, wieso der Mechanismus in der Vergangenheit überhaupt entstanden ist. Dementsprechend kann beispielsweise Hunger zum einen ganz konkret durch die Aktivität von Rezeptoren, die den Blutzuckergehalt messen und entsprechende Signale zum Hypothalamus senden, woraufhin sich mittels komplexer Verschaltungen ein bewusstes Hungergefühl herausbildet, erklärt werden. Das wäre die proximate Betrachtung. Andererseits kann beantwortet werden, wieso Hunger überhaupt existiert: Das Hungergefühl hat sich im Laufe der Evolution herausgebildet, weil es für die Lebewesen von entscheidendem Vorteil war, zu wissen, wann und wie viel Nahrung sie aufnehmen sollten. Denn sowohl unterernährt als auch fettleibig ergeben sich erhebliche Beeinträchtigungen im Kampf ums Überleben. In anthropologischem Kontext betreffen die ultimaten Ursachen also die evolutive Genese der menschlichen Art, während die proximaten Ursachen die Entwicklungen und Prozesse im Leben des Individuums beschreiben. Dem folgend werde ich das Kapitel mit einer Betrachtung evolutionsbiologischer, also ultimater Erkenntnisse beginnen. Anschließend wende ich mich den rein physiologischen, also proximaten Erklärungen der Liebe zu. Der dritte und abschließende Abschnitt wird die Partnerwahlpräferenz des Menschen analysieren und sich einer Mischung aus proximaten und ultimaten Erläuterungen bedienen.

5.1 Phylogenie der Liebe Einleitend möchte ich darauf hinweisen, dass die Evolutionstheorie als Ganzes nicht der empirischen Wissenschaft zugehörig ist. Ihre Prozesse liegen in der Vergangenheit und erstrecken sich bis hin zum ersten Leben auf unserem Planeten. Dennoch ist sie eine überaus schlüssige Theorie. Beide Aspekte, ihre Unzugänglichkeit für eine direkte experimentelle Überprüfung und ihre intuitive Stringenz rufen zur epistemologischen Vorsicht auf. Denn auch die einleuchtendsten Erklärungen bleiben fehlbar, wenn rein theoretische Erwägungen ihr einziger unmittelbarer Prüfstein sind. Hiermit möchte ich keines129 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

wegs die Richtigkeit evolutionsbiologischer Schlüsse infrage stellen oder gar einen kreationistischen Einwand vorbringen. Ich bin überzeugter Anhänger und Verfechter der phylogenetischen Lehre. Aus philosophischer Sicht ist es jedoch Pflicht, die Evolutionstheorie aus dem Bereich sicheren Wissens, dem sie in naturwissenschaftlichen Kreisen allgemein zugeordnet wird, herauszunehmen und auf ihren tatsächlichen Status hinzuweisen: Der Status einer herausragend bedeutenden, hochplausiblen und epistemisch schier unerschöpflichen Theorie. Dieser Fakt sollte bei aller berechtigten Überzeugtheit nicht in Vergessenheit geraten.

5.1.1 Das Evolutive Prinzip Evolution hat einen grundlegenden Antrieb: das Streben nach Existenz, nach Leben. Das betrifft einerseits das Weiterleben als Individuum (Überlebenstrieb) und andererseits die Weitergabe der individuellen Gene, also gewissermaßen das Weiterleben durch die Zeugung von Nachwuchs (Fortpflanzungstrieb). Die evolutive Funktion des Überlebenstriebs bezeichnet man als natürliche Selektion: Überdurchschnittlich gut angepasste Individuen (z. B. bezüglich Stärke, Schnelligkeit, Intelligenz, Tarnung, Immunabwehr etc.) sterben weniger wahrscheinlich an Feindfraß, Nahrungsmangel oder Krankheit als jene, deren Eigenschaften eine verhältnismäßig schlechte Anpassung an die vorherrschenden Lebensbedingungen bewirken. Das hat zur Folge, dass die »fitten« Exemplare überdurchschnittlich häufig zur Paarung kommen und ihre Gene verhältnismäßig oft weitergeben können. Die evolutive Funktion des Fortpflanzungstriebs nennt man sexuelle Selektion. Dieser Mechanismus ist der natürlichen Selektion gewissermaßen nachgeschaltet, indem er die Gene jener Individuen aussortiert, die zwar bis zur Geschlechtsreife überleben, jedoch aufgrund zu geringer Ressourcenverfügung, unzureichender Attraktivitätsattribute oder schlechter Brutpflege keinen Fortpflanzungserfolg haben. Auf diese Weise wird das Erbgut jener Individuen, die gut an ihre Umwelt angepasst sind und zudem sexuell und als Eltern erfolgreich sind, häufiger in die Folgegeneration eingehen als das der Artgenossen. Ich möchte zunächst die sexuelle Selektion respektive den Trieb zur Zeugung von Nachkommen besprechen, da dieser für die evolutive Genese der Liebe von wesentlicher Bedeutung ist. Für eine auf der Evolutionstheorie gründende Erklärung heuti130 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

ger Phänomene ist die Annahme tragend, dass die selektionsbedingte Entwicklung des Menschen bis in die Gegenwart hineinwirkt, auch wenn viele ihrer Resultate im Jetzt keinen direkten Nutzen mehr zu haben scheinen. Diese These erscheint berechtigt, wenn man bedenkt, dass die Zeit seit der neolithischen Revolution (vor etwa 10.000 Jahren) nur etwa 0,5 Prozent der gesamten Menschheitsgeschichte umfasst. Evolution benötigt große Zeiträume, um zu wirken, und kann mit den beschleunigten Veränderungen unserer kulturellen Entwicklung und den dadurch ständig wechselnden Selektionsdrücken längst nicht mehr mithalten. Doch sie wirkt immerfort und wir sind bis in die letzte Faser unserer Physis von ihr gezeichnet. Um uns also besser zu verstehen, um etwas über unseren Körper und seine Emotionen zu erfahren, müssen wir die großen Zeiträume der Vergangenheit betrachten, in denen der Mensch zum Menschen evolviert ist.

5.1.2 Liebe und erfolgreiche Aufzucht Die US-amerikanische Anthropologin Helen Fisher hat eine tragfähige Theorie zur evolutiven Entwicklung von seriell monogamer Paarbindung entwickelt: Als die Vorfahren des Homo sapiens vor über dreieinhalb Millionen Jahren von der kletternden Fortbewegung in Bäumen zum aufrechten Gang übergingen (wahrscheinlich initiiert durch den klimatisch bedingten Rückgang afrikanischer Wälder), änderten sich die Bedingungen für die Aufzucht ihres Nachwuchses. Während der quadrupeden Fortbewegung eignete sich der Rücken der Mutter gut zum Tragen der Jungen, die sich selbstständig im Fell festhielten, sodass die Mutter beide Hände frei hatte, um ihren täglichen Tätigkeiten, vor allem der Nahrungsbeschaffung, nachzugehen. Beim aufrechten Gang hingegen müssen die Babys mit den Vorderextremitäten getragen werden, was eine starke Einschränkung des Tätigkeitsspektrums und der Leistungsfähigkeit zur Folge hatte. Aus diesem Grund, aber auch weil die neue steppenartige Umgebung weniger Schutz vor Räubern bot und das nomadische Sammeln und Jagen für die Nahrungsbeschaffung notwendig wurde, waren diese Mütter nun abhängig von der Fürsorge ihrer Artgenossen. Neben den Verwandten der Mutter, der sogenannten Matrilinie, waren es die Väter des Homininibabys, die die junge Familie versorgten und beschützten – allerdings nicht aus sozialem Pflichtbewusstsein, sondern aus dem ureigenen Interesse, dass ihr Nachwuchs sicher und 131 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

gesund heranwächst und somit die väterlichen Gene in eine weitere Generation hineintragen kann. Das Erbgut jener Männer, die sich nicht fürsorglich verhielten, war in dem Sinne gefährdet, als dass unterversorgte Mütter abmagerten und deshalb keine Milch mehr geben konnten oder gar ihren Aufzuchtbemühungen erlagen. In beiden Fällen starb das Kind und mit ihm das für dieses vernachlässigende Verhalten verantwortliche Erbgut des Vaters. 168 Hinzu kam ein ökonomischer Aspekt: Die eher karge Steppenlandschaft bot nicht genügend Ressourcen für die Bindung mehrerer Weibchen mittels der Inanspruchnahme und Verteidigung eines Reviers. Durch die aufwendige, nomadische Nahrungsbeschaffung konnten die männlichen Hominini in der Regel gerade genügend Ressourcen beschaffen, um sich und ihre kleine Familie zu versorgen. Die monogame Bindung war also auch deshalb für sie die vielversprechendste Option, um den Fortbestand ihres Erbgutes zu sichern. 169 Im Laufe der Entwicklung zum modernen Menschen erschwerte sich die Aufzucht der Jungen noch um ein weiteres entscheidendes Moment: Die Säuglinge wurden zunehmend unselbstständig und somit fürsorgebedürftiger. Diese Entwicklung wird in ihren Ursprüngen unter anderem auf den immer größeren Jagderfolg des Homo erectus und dessen Einsatz des Feuers zum Genießbarmachen von Pflanzen und zur Haltbarmachung von Fleisch zurückgeführt. Diese Fertigkeiten sicherten eine hohe und relativ gleichbleibende Energiezufuhr, die, so Fisher, in die Entwicklung eines größeren Gehirns »investiert« wurde. 170 Der zunehmende Kopfumfang der Neugeborenen 168 Sicher gab es auch in prähistorischer Zeit immer wieder Fälle, bei denen männliche Individuen kein Elterninvestment leisteten und ihre gesamte Energie stattdessen in den Paarungsaufwand investierten. Das heißt, sie schwängerten so viele Frauen wie möglich und hofften, dass einige der Nachkommen durch das Aufzuchtinvestment der Matrilinie überlebten (vgl. Voland, Eckart: Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz. 4. Auflage. Berlin Heidelberg: Springer Spektrum Verlag 2013, S. 200 ff.). In der Vernachlässigung einer hohen Anzahl von Kindern ist eine alternative Fortpflanzungsstrategie zu sehen, die unter bestimmten sozio-ökologischen Umständen und bei bestimmten Fähigkeiten und Unfähigkeiten des Individuums sinnvoll sein kann. 169 Vgl. Fisher, Helen: Anatomie der Liebe. München: Droemersche Verlagsanstalt 1993, S. 190 ff. sowie Fisher, Helen: Warum wir lieben. München: Knaur Taschenbuch 2007, S. 159 f. 170 Vgl. Fisher, Warum wir lieben, S. 170 f. Die Entwicklung und Betreibung des menschlichen Gehirns ist enorm energieaufwendig. Auch wenn es bloß 2 % des Körpergewichts ausmacht, so verbraucht es doch etwa 25 % der Stoffwechselenergie und 40 % des Blutzuckers (bei Kleinkindern, deren Gehirne sich noch entwickeln, sind es

132 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

führte jedoch vermehrt zu tödlichen Komplikationen bei der Geburt, zumal das weibliche Becken seine Form, Größe und Proportion für den aufrechten Gang beibehalten musste. Durch dieses Dilemma wurden jene Mütter selektiert, die ihre Kinder vorzeitig zur Welt brachten, sodass die Köpfe dieser »Frühchen« die eigentliche Geburtsgröße noch nicht erreicht hatten. Mit fortschreitender Evolution des menschlichen Gehirns wurden die Neugeborenen unserer Vorfahren also zunehmend fürsorgebedürftig. Dies steigerte die Notwendigkeit der väterlichen Fürsorge und stärkte über Jahrtausende die Bindung zwischen Mann und Frau. 171 Natürlich bleibt die Notwendigkeit der väterlichen Fürsorge und damit der Paarbindung nicht bis ans Lebensende bestehen. Es kommt der Zeitpunkt, an dem das Kind entwöhnt ist und am Gemeinschaftsleben teilnehmen kann, wo es durch die Mitglieder der Bezugsgruppe beaufsichtigt wird. Fisher veranschlagt für diese Entwicklung einen Zeitraum von vier Jahren. Nun kann sich die Mutter wieder eigenständig mit Nahrung versorgen und durch die gesteigerte Energiezufuhr setzt auch ihre Ovulation wieder ein. Sie ist bereit, sich erneut fortzupflanzen und die Bindung zum Vater verliert ihre primäre Bedeutung. Ebenso ergeht es dem Mann, dessen Bindung auf die Versorgung der Mutter und damit seines Kindes gegründet war. Ob aufgelöste Verbindungen durch ein zweites Kind erneuert werden, ist fraglich und von den Erfahrungen der Eltern miteinander abhängig: Vielleicht sucht sie für das nächste Kind nach einem Mann mit höherer Bereitschaft zur Unterstützung und besserer Ressourcenverfügung, vielleicht sucht er sich nun eine jüngere, fruchtbarere Frau. Ein Wechsel der Partner würde zudem zu höherer Diversität der Nachkommen und somit zu besseren Chancen für den Fortbestand der eigenen Gene in der Population führen. Das Ergebnis dieser Mechanismen ist serielle Monogamie, ein regelmäßiger Wechsel zwisogar 50 % der Stoffwechselenergie). Ein Drittel des menschlichen Genoms steuert allein die Entwicklung des Gehirns und die Aufrechterhaltung seiner Funktion. 171 Das unfertige Gehirn menschlicher Neugeborener ist – abgesehen von der damit einhergehenden Hilfsbedürftigkeit – keineswegs als Nachteil zu betrachten. Durch die indeterminierten neuralen Verschaltungen sind Babys enorm aufnahmefähig für die gebotenen Stimuli. Sie saugen ihre (kulturelle) Umwelt geradezu in sich auf und verarbeitet die Reize in anschließenden Ruhephasen, wobei grundlegende (kulturspezifische) Verknüpfungen im Gehirn erstellt werden. Man könnte also sagen, dass der Mensch gar nicht als Mensch zur Welt kommt, sondern sich erst im realen Abgleich mit ihr zum fertigen Menschen entwickelt.

133 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

schen mehr oder weniger monogamen, mehrjährigen Sexualbeziehungen. Fisher fand heraus, dass die durchschnittliche Scheidungsrate der US-amerikanischen Bevölkerung nach etwa vier Jahren einen Peak aufweist. Ob sich diese Zeitspanne nun von ihren anthropologischen Überlegungen ableitet, die hierin Bestätigung finden, oder umgekehrt: Es ist begründet anzunehmen, dass die evolutive Entwicklung des aufrechten Gangs sowie die frühe Geburt des Kindes die Aufzucht der Nachkommen entscheidend erschwerte und dass dadurch bezüglich der väterlichen Fürsorge ein Selektionsdruck entstand, der wiederum das Bindungsverhalten der seriellen Monogamie in unserem Erbgut etablierte. Dieser Prozess erscheint nachvollziehbar, doch kann man beim Nachwuchsinvestment eines Australopithecus afarensis-Männchens, das weder der Sprache noch des kunstvollen Werbens mächtig war, bereits von Liebe sprechen? Nach meiner Definition von Romantischer Liebe ist es nicht ausgeschlossen, dass schon Vertreter dieser Art liebten, solange sie von der Existenz der vom eignen Bewusstsein separierten Emotionen ihrer Artgenossen wussten. Das geistig-emotive und expressive Spektrum der Liebe des modernen Menschen konnten unsere Vorfahren aber sicher nicht erreichen, weshalb ich es folgendermaßen formulieren möchte: Das Bindungsverhalten früher Hominini scheint den Anstoß für die Romantische Liebe des Menschen gegeben zu haben. In den folgenden Jahrmillionen evolvierten die biochemischen Grundlagen der leidenschaftlichen Hinwendung zu einem anderen Individuum. Bedenkt man die interkulturelle Präsenz des Phänomens, so erscheint die urzeitliche Entwicklung eines physischen Fundaments der Romantischen Liebe recht überzeugend. Durch die zunehmende Abhängigkeit des Fortpflanzungserfolgs von postnatalem Teamwork wurde eine gute Partnerwahl nun immer bedeutsamer. Fisher ist der Meinung – und damit folgt sie dem Psychologen Geoffrey Miller –, dass sich all die Talente, die den Menschen von seinen nächsten rezenten Verwandten unterscheiden, erst durch das Werben um einen Partner entwickelt haben. Die Argumentation ist folgende: »Zahlreiche Eigenschaften, die die Menschen entwickelt haben, sind […] viel zu kunstvoll und viel zu aufwendig in Bezug auf den Stoffwechsel, um nur dem täglichen Überlebenskampf zu dienen, so zum Beispiel Intelligenz, Sprachbegabung und Musikalität, der schöpferische Drang zur Gestaltung von Gemälden, Statuen, Erzählungen, Komödien und Dramen, die Vorliebe für alle möglichen 134 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

Sportarten, unsere Neugier, unser mathematisches Talent, Tugend und Moral, religiöser Eifer, spontane Hilfsbereitschaft, politische Überzeugungen, Sinn für Humor, das Bedürfnis nach Klatsch, Kreativität, sogar Mut, Kampfeslust, Ausdauer und Freundlichkeit. Hätten unsere Vorfahren diese hochkomplexen Begabungen für das reine Überleben gebraucht, hätten sich diese Eigenschaften auch bei Schimpansen herausgebildet – doch das war nicht der Fall.« 172 Bevor ich kritisch auf dieses Zitat Bezug nehme, müssen einige Feinheiten der Evolutionstheorie besprochen werden. Oben habe ich vom Fortpflanzungstrieb als Produkt der sexuellen Selektion gesprochen. Diese wird nun weiter unterteilt in intrasexuelle Selektion und intersexuelle Selektion. Beim ersten Mechanismus werden solche Individuen begünstigt, die sich im Wettstreit um ein paarungswilliges Exemplar des anderen Geschlechts gegen Artgenossen desselben Geschlechts durchsetzen. Hierbei werden Merkmale wie beispielsweise ein starkes Geweih selektiert, weil es den Konkurrenten einschüchtert und dem Träger körperliche Überlegenheit verleiht. Individuen, bei denen solche Merkmale stark ausgeprägt sind, kommen überdurchschnittlich häufig zur Paarung und geben die für das Merkmal verantwortlichen Gene in die nächste Generation weiter. Bei der intersexuellen Selektion hingegen geht es nicht um den Wettstreit mit gleichgeschlechtlichen Rivalen, sondern darum, das andere Geschlecht zu beeindrucken und zu betören, um es paarungswillig zu machen. Hierfür werden mitunter Merkmale selektiert, die den Träger im täglichen Kampf ums Überleben eher behindern, als dass sie ihm nützen. Schon unter 3.1.3.1 habe ich das sogenannte Handicap-Prinzip am Beispiel der Mähne des männlichen Löwen erklärt. Das Paradebeispiel für ein den Träger beeinträchtigendes Merkmal ist jedoch das imposante Federrad des männlichen Pfaus: Es macht das Tier unbeweglich, langsam und auffällig, was es zum einen bei der Nahrungssuche behindert und zum anderen zur leichteren Beute für Prädatoren macht. Zudem ist die Ausbildung und Unterhaltung eines solchen Zierrats genetisch und in Bezug auf den Stoffwechsel sehr aufwendig. Eigentlich müsste ein solcher »Unfug« innerhalb weniger Generationen als Merkmal verschwinden, weil die betroffenen Individuen gegenüber ihren Artgenossen mit kleinen, unauffälligen Schwanzfedern eine Menge Nachteile haben. Doch diesem tatsächlich wirksamen Selektionsdruck 172 Fisher, Warum wir lieben, S. 149. Vgl. auch Miller, Geoffrey F.: Die sexuelle Evolution. Partnerwahl und die Entstehung des Geistes. Heidelberg: Sepektrum 2001.

135 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

wirkt ein anderer entgegen: Die Pfauenweibchen finden ein imposantes Federrad ungemein attraktiv und paaren sich bevorzugt mit Männchen, bei denen es besonders stark ausgeprägt ist. Weil das Individuum trotz des stark ausgeprägten Handicaps den Kampf ums Überleben offensichtlich erfolgreich führt, attestiert ihm die Beeinträchtigung überdurchschnittlich gute Eigenschaften, wie Durchsetzungsvermögen, Kraft, Gefahreninstinkt und Schnelligkeit, und damit besonders gute Gene. Damit kann die intersexuelle Selektion gegenläufig zur natürlichen Selektion wirken und Handicap-Merkmale als Indikatoren für geeignete Geschlechtspartner begünstigen. Fisher und Miller vertreten nun die These, dass all die oben aufgeführten Talente ab einem gewissen Komplexitätsgrad nur durch die Handicap-Merkmal-gebundene Partnerwahl entstanden sein können, da sie nicht dem direkten Kampf ums Überleben dienen. Dem widerspreche ich. Indem ich darlege, dass die natürliche Selektion (Überlebenstrieb des Individuums) nicht bloß zu den anfänglichen Formen der aufgezählten Merkmale führte (was die Autoren nebenbei einräumen), sondern bis zu deren vollen Ausbildung wirksam war, möchte ich die Kontingenz der intersexuellen Selektion für diese Prozesse aufzeigen. Für meine Betrachtungen blicke ich nur wenige Jahrhunderte zurück, was für makroevolutive Entwicklungen vernachlässigbar ist und überdies einem gegenwärtigen Blick auf Gesellschaften abseits der Industriestaaten gleichkommt. Ich beginne mit den rein geistigen Talenten des obigen Zitats. Genannt werden hier Sprachbegabung, mathematisches Verständnis und Intelligenz. Zur Sortierung und Vervollständigung möchte ich noch Empathievermögen anfügen und all diese Fähigkeiten unter dem Begriff der allgemeinen Intelligenz zusammenfassen. Es ist leicht einzusehen, dass Intelligenz im klassischen Verständnis, also als schnelle, zielgerichtete Auffassungsgabe und Verarbeitung von Reizen und Informationen, zu jeder Zeit der Menschheitsgeschichte einen Vorteil mit sich brachte und bis heute bringt. Überdurchschnittlich intelligente Individuen sind tendenziell weitsichtiger und erkennen Gefahren früher. Sie entwerfen und verfolgen komplexe Strategien, sie unterscheiden schnell und sicher, wo es sich lohnt Energie zu investieren, um ein Ziel zu erreichen (hierbei kann auch ein mathematisches Verständnis eine wichtige Rolle spielen). Dieses vorausschauende und analysierende Verhalten verhilft ihnen zu einer durchschnittlich höheren Ressourcenverfügung, größerem Erfolg in der Auseinandersetzung mit gleichgeschlechtlichen Konkurrenten 136 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

und einer höheren Lebenserwartung in Bezug auf vorhersehbare Gefahren. All dies wirkt sich positiv auf ihren Fortpflanzungserfolg aus, sodass ihr Erbgut überdurchschnittlich häufig in die nächste Generation weitergereicht wird. Wie schon in Kapitel 3.1.3.1 erläutert, war auch Empathievermögen stets von großem Vorteil. Mit der Fähigkeit, sich in die emotive Lage anderer Menschen zu versetzen, versteht man nicht bloß deren Beweggründe, sondern kann zudem ihr zukünftiges Verhalten abschätzen. Das ermöglicht die überaus nützliche Fertigkeit, innerhalb einer sozialen Gruppe – sei es die kaukasische Dorfgemeinschaft oder der westeuropäische Firmenvorstand – strategisch zu handeln. Die betroffenen Individuen wissen, in welchen Situationen mit welchen Gruppenmitgliedern auf welche Weise umgegangen werden muss, damit sie selbst einen Vorteil davontragen. Hingegen haben es Individuen, denen diese Eigenschaft fehlt, verhältnismäßig schwer und erleiden aufgrund ihres unklugen Sozialverhaltens nicht selten sozialen oder auch physischen Schaden. Die Fähigkeit sich innerhalb der Gruppe einen Vorteil zu verschaffen bedeutet wiederum größere Ressourcenverfügung, höhere Lebenserwartung, stärkeres intrasexuelles Durchsetzungsvermögen und somit besseren Fortpflanzungserfolg. Dieser vorteilige Effekt verstärkt sich noch mit einer gut ausgeprägten Sprachbegabung. Sie kann als Hauptinstrument zur Umsetzung der empathischen Erkenntnisse betrachtet werden. Träger dieser Eigenschaft sind nicht nur durch klare Argumentation und mitreißende Formulierungen in der Lage, ihre Mitmenschen für sich zu gewinnen und in ihrer Haltung und ihrem Handeln zu manipulieren, sie vermögen es auch, sich aus Situationen herauszureden, die weniger begabten Individuen zum sozialen oder physischen Verhängnis geworden wären. Die meisten der von Fisher und Miller genannten Eigenschaften haben ihre evolutiven Wurzeln im Sozialgefüge der Bezugsgruppe. Wer ein anerkanntes, weil wichtiges oder beliebtes Mitglied der Lebensgemeinschaft ist, genießt Vorteile, die er aus eigenen Kräften nicht erlangen könnte: Er wird durch die Gruppe vor Feinden geschützt, durch Kooperation erhält er eine sichere und regelmäßige Ressourcenversorgung, bei Krankheit, Unfall oder anderen Nöten wird er von der Gruppe versorgt, bis er seine erholten Kräfte wieder der Gemeinschaft zugutekommen lassen kann. Wer keiner sozialen Gruppe angehört, ist hingegen relativ schutzlos gegenüber Feinden und den Gefahren der Wildnis; bezüglich der Nahrungsbeschaffung ist er abhängig vom eigenen Jagderfolg oder dem landwirtschaftlichen 137 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

Geschick; und er kann bei Krankheit und Verletzung weder auf Heilung durch Fachkundige noch auf Versorgung mit Nahrungsmitteln hoffen. Solche Menschen haben eine geringere Lebenserwartung und aufgrund von mangelndem Kontakt und den Strapazen der Selbstversorgung zudem einen geringeren Fortpflanzungserfolg. So werden sich die für ihr Verhalten verantwortlichen Gene im Genpool der Population kaum behaupten können. Die soziale Zugehörigkeit ist also sowohl aus Sicht der natürlichen als auch aus der der sexuellen Selektion ein wesentlicher Faktor – wie aber wird man ein anerkanntes Mitglied der Bezugsgruppe? Durch einige der Eigenschaften aus obigem Zitat: Moralisches und (phänotypisch) altruistisches Verhalten ist sehr bedeutend, denn wer sich stets egoistisch verhält oder Gruppenmitglieder betrügt, wird über kurz oder lang der Gemeinschaft verwiesen. Ebenso durch findige Kreativität: Wer dafür bekannt ist, bei Problemen, die den Einzelnen oder die Gruppe betreffen (bspw. beim Konflikt mit einer anderen Gemeinschaft), stets einen guten Lösungsvorschlag parat zu haben, übernimmt bald eine leitende Position, die bekanntermaßen diverse Vorteile mit sich führt. Darüber hinaus ist Kreativität in Notsituationen, in denen Improvisation mit den gegebenen Umständen gefordert ist, von großer Bedeutung für das Überleben. Auch die Erheiterung der Mitmenschen durch geistreichen Sinn für Humor oder musische Darbietungen steigert die Beliebtheit des Individuums und stärkt somit seine Zugehörigkeit zur Gruppe. 173 Über den sozialen Aspekt in der Bezugsgruppe hinaus kann man annehmen, dass künstlerisch begabte Individuen ein Empfinden für Details und große Imaginationsfähigkeit besitzen, was wache Sinne und Einfallsreichtum bedeuten kann, Eigenschaften, die in bedrohlichen Zeiten von großem Vorteil sind. Vielleicht sind diese Menschen im Durchschnitt auch einfühlsamer oder empathischer, was sie zu besseren Versorgern des Nachwuchses machen würde, was wiederum ein funktionelles, wenn auch unterbewusstes Attraktivitätsmerkmal für das andere Geschlecht bedeutete. Es ist zudem wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass all diese kreativen, größtenteils sozial wirksamen Eigenschaften

173 Auch postmodern genießen etablierte Künstler höchstes gesellschaftliches Ansehen. Der selektive Ursprung musikalischer Begabung könnte im höheren Jagderfolg durch das Anlocken von Wildtieren mittels des Nachahmens ihrer Rufe liegen. Hier läge dann eine Exaptation vor, ein Wechsel der Funktion bei grundlegender Beibehaltung des Merkmals, gewissermaßen eine »kreative Zweckentfremdung«.

138 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

nicht bloß auf das Gegengeschlecht sympathisch wirken, sondern ganz allgemein. Handicap-Merkmale hingegen wirken vor allem intergeschlechtlich und haben im gleichgeschlechtlichen Kontext wenig Bedeutung. Dieser Fakt spricht deutlich für eine ebenso allgemeine, also paarungswahlunabhängige evolutive Entwicklung der besprochenen Merkmale. Zuletzt nennen Miller und Fisher noch einige durchsetzungsrelevante Qualitäten: Mut, Kampfeslust und Ausdauer sind Paradeeigenschaften für einen erfolgreichen Konkurrenzkampf um einen paarungswilligen Vertreter des anderen Geschlechts. 174 Diese Merkmale sind also in erster Linie der intrasexuellen Selektion zuzuordnen. Gemischt mit Neugier und sportlichem Ehrgeiz können sie dem Individuum zudem beherzte und anstrengende Unternehmungen ermöglichen, durch die es die Gruppe verteidigt oder neue Ressourcen sichert, was ihm zusätzlich zu hohem sozialen Ansehen verhilft. 175 Weiterhin möchte ich mich zum letzten Teil des Zitats äußern: »Hätten unsere Vorfahren diese hochkomplexen Begabungen für das reine Überleben gebraucht, hätten sich diese Eigenschaften auch bei Schimpansen herausgebildet – doch das war nicht der Fall.« 176 So kann man nicht schlussfolgern. Zunächst einmal, weil hiermit ein feststehender Endzustand der natürlichen Selektion auf der Entwicklungsstufe der Menschenaffen suggeriert wird, was, wie ich oben dargelegt habe, faktisch nicht der Fall und auch evolutionstheoretisch unhaltbar ist. Die Evolution arbeitet ohne Vorsatz, ohne Plan und Ziel, sie ist ungerichtet. Es ist ein funktionskalter Mechanismus, der das genetische Material unserer Welt anhand zufälliger genetischer Variationen (Mutationen) und der veränderlichen Bedingungen des Lebensraums, die stetig wechselnde Selektionsdrücke generieren, 174 Bei den meisten Arten liegt eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung vor: »male competition« und »female choice«. Aufgrund der geringeren zeitlichen und energetischen Kosten der männlichen Gametenproduktion und des Aufzuchtinvestments ist eine Fehlpaarung mit ungeeigneten Weibchen für Männchen weniger folgenschwer als umgekehrt. Das führt zu einer höheren, weil partnerunabhängigeren Paarungsbereitschaft und somit oft zu intensiver intrasexueller Konkurrenz. (Vgl. Voland, Soziobiologie, S. 137 ff.) 175 Was die Autoren schließlich mit den Eigenschaften »religiöser Eifer«, »politische Überzeugungen« und »das Bedürfnis nach Klatsch« in diesem Zusammenhang meinen, ist mir unklar, da diese Merkmale keine Attraktion aufweisen, wie sie für Handicap-Merkmale typisch ist. Davon abgesehen ließen sich auch sie anhand spezifischer Vorteile innerhalb der Bezugsgruppe erklären. 176 Fisher, Warum wir lieben, S. 149.

139 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

fortlaufend neu modelliert. Solange Leben und dynamische Umweltbedingungen auf der Erde existieren, solange ist die natürliche Selektion wirksam und die Evolution nicht am Ende. Ein weiterer Grund für die Unzulässigkeit dieses Schlusses liegt im Verständnis der Formulierung »das reine Überleben«. Fishers bzw. Millers Argumentation zufolge sind die Merkmale des Menschen, die jene seiner nächsten Verwandten an Leistung oder Komplexität übertreffen, Handicap-Merkmale, weil sie sonst auch bei den Menschenaffen ausgebildet wären. Einmal davon abgesehen, dass man ungerührt die Frage entgegnen könnte, wieso die evolutive Kausalkette bis hin zur Entwicklung dieser vermeintlichen Handicap-Merkmale nicht auch bei den Affen erfolgt ist, werden bei dieser Überlegung Aspekte der natürlichen Selektion ausgelassen, die ihrer Funktion untrennbar zugehören. Zum Beispiel konstituiert sich das »reine Überleben« unter anderem aus dem Moment der Ressourcenkonkurrenz innerhalb der Population. Im Regelfall sind die Ressourcen eines Habitats begrenzt, sodass nur ein gewisser Teil der Nachkommen, die eine Generation hervorbringt, überleben kann. Diese biologische »Überproduktion« an Leben führt zu einem ständigen Konkurrenzkampf, in dem auch Individuen, die völlig gesund sind und Merkmale besitzen, die sie gut an die Bedingungen anpassen, zugrunde gehen. Nach dem Verständnis des »reinen Überlebens«, wie es das Zitat suggeriert, hätte das nicht passieren dürfen. Doch es passiert, weil diese zwar angepassten und gesunden Individuen relativ zu den übrigen Mitgliedern der Population nicht gut genug angepasst waren. Aufgrund dieses Selektionsdruckes können sich Spezialmerkmale wie ein kreativer Umgang mit lebensbedrohlichen Situationen oder die Fähigkeit, seine Artgenossen besser einzuschätzen, über Generationen hinweg herausbilden. Denn es genügt oft ein kleiner Vorteil, um zu überleben, was zur genetischen Weitergabe dieses Vorteils und so zur Veränderung des Genpools der Population und schließlich der Art führen kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt der natürlichen Selektion ist die allopatrische Artbildung. Durch Nahrungsmangel, räumliche Enge, zufällige Zerstreuung oder geologische Veränderungen kann es dazu kommen, dass einige Individuen einer Population neue Habitate besiedeln. Zum Beispiel könnten starke Regenfälle zu einer Überschwemmung führen, die eine temporäre Verbindung zwischen zwei benachbarten Weihern schafft. Nun herrscht über einige Stunden ein reges Hin und Her zwischen den Gewässern bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Wasser wieder zurückgeht und die Verbindung gekappt ist. 140 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

Ein Teil einer Population des einen Weihers muss nun im andern Weiher überleben, und zwar unter neuartigen Umweltbedingungen und somit unter anderen Selektionsdrücken. Es wäre denkbar, dass dieses Gewässer tiefer ist und Prädatoren beheimatet, die es im Heimatgewässer nicht gab. Es könnte auch schattiger gelegen sein, wodurch sein Wasser kälter und sauerstoffreicher wäre, was wiederum das Vorkommen unterschiedlicher Vegetation bedeutete. Jedenfalls führt die natürliche Selektion dazu, dass die Population, so sie überlebt, mit der Zeit andere Merkmale ausbildet als die im ursprünglichen Weiher. Irgendwann haben sich die Populationen genetisch und phänotypisch so weit voneinander entfernt, dass eine Rückmischung durch Paarung bei erneuter Überschwemmung unmöglich geworden ist. Es ist eine neue Art entstanden. 177 Das »reine Überleben« kann somit für Individuen derselben Art völlig unterschiedlich aussehen, wodurch sie unterschiedliche evolutive Pfade einschlagen. Der Menschenaffe ist folglich weder das naturgegebene obere Ende der natürlichen Selektion noch ihr notwendiges Ziel. Bleiben die Bedingungen eines Habitats konstant, sind also die Umwelteinflüsse statisch und ist die Populationsgröße stabil und den Ressourcen des Habitats angepasst, so bleiben auch die Merkmale einer Population bestehen. Doch die allermeisten der rezenten Arten haben in ihrer phylogenetischen Geschichte ein weitreichendes und komplexes Kompositum von spezifischen Selektionsdrücken durchlaufen und sind deshalb zu dem evolviert, was sie heute sind. Zu fragen, wieso Menschenaffen nicht den Intellekt der Menschen besitzen, ist also, als frage man, wieso Fische nicht auf dem Land gehen, und als antwortete man, dass die Erschließung der aeroben Umwelt bloß ein sexy Handicap-Merkmal sei. Die ungerichtete Entwicklung unterschiedlich komplexer Lebensformen ist der natürlichen Selektion inhärent und kein Argument zur Einschränkung ihres Wirkungsbereichs. Die gemeinsame Entwicklungslinie der Primaten und des Homo sapiens trennte sich vor etwa 6 Millionen Jahren. Hierfür gab es Gründe, so wie es für jede weitere Auseinanderentwicklung Gründe in Form von zufälligen Mutationen und spezifischen Selektionsdrücken gab. Betrachtet man es etwas ganzheitlicher, wird es noch klarer: Der Mensch 177 Natürlich spielen bei solchen Entwicklungen mikroevolutionäre Prozesse wie genetische Drift oder auch Genfluss wesentliche Rollen. Für das Verständnis meiner Kritik reicht jedoch die gegebene Übersicht.

141 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

hat sich aufgrund seiner überragenden Talente über die übrigen Arten der Erde erhoben. Er bevölkert alle Regionen der Welt und kann (langfristig womöglich zu seinem Unglück, gewissermaßen als Opfer seiner eigenen Macht) über ihre Ressourcen frei verfügen. Er ist so weit evolviert, dass er es oft gar nicht mehr nötig hat, sich den natürlichen Umweltbedingungen anzupassen, weil er Kulturen bildete und gelernt hat, die Umwelt nach seinen Bedürfnissen einzurichten. Da erscheint es doch recht schwer einzusehen, dass ein Bündel von willkürlichen Handicap-Merkmalen, wie das Federrad des Pfauenmännchens eines ist, diese Entwicklung maßgeblich bestimmte. Mit der vorliegenden Kritik möchte ich weder die Existenz von menschlichen Handicap-Merkmalen noch die evolutive Bedeutung der Partnerwahl bezweifeln. Es ist vollkommen klar, dass die intersexuelle Selektion die besprochenen »Talente« ihrerseits begünstigte, weil sie den betroffenen Individuen funktionelle Vorteile gaben, die sie als Versorger und/oder als Spender des genetischen Materials attraktiv werden ließen. Hier handelt es sich jedoch um Attraktivität infolge von Funktion und Nutzen, wohingegen Handicap-Attraktivität wegen des nutzlosen, weil funktionslosen Aufwands entsteht. Aufgrund des Vorteilpotenzials seiner Fähigkeiten bildete sich der Mensch, und zwar inklusive des aufrechten Gangs und seiner postnatalen Gehirnentwicklung, was wiederum das erforderliche Aufzuchtinvestment und dadurch das geschlechtsspezifische Paarungsund Paarbindungsverhalten prägte. Die Selektion der Paarbindung scheint der evolutive Anstoß einer originären Liebe gewesen zu sein. Doch die autonome, weil vorteilige Entwicklung des geistig-emotiven Vermögens des Menschen gab ihm schließlich die einzigartige Fähigkeit in heutiger Komplexität und Tiefe zu lieben. So und nicht umgekehrt liegt die Kausalität der Hominisation.

5.1.3 Ein evolutiver Ausblick Bevor ich zum nächsten Punkt komme, noch einige Worte zur Entwicklung der evolutiven Faktoren der »westlichen Welt«. Es ist oben bereits angeklungen: Menschen reicher Industriestaaten sind keiner Wildnis mehr ausgesetzt. Sie müssen nicht mehr jagen, um sich zu ernähren, oder fürchten, von Raubtieren attackiert zu werden. Sie finden solch günstige Lebensbedingungen vor, dass ihnen selbst ganze Sinne fehlen können, ohne dass dadurch eine lebensbedrohliche 142 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phylogenie der Liebe

Situation entsteht. In der Tat könnte man sich den dümmsten, unsportlichsten, unansehnlichsten und sozial inkompetentesten Menschen vorstellen, der ohne besondere Anstrengung bis zum friedlichen Alterstod seine Jahre lebt. So hat sich die Lebenserwartung von Individuen mit deutlich benachteiligten Merkmalen in diesen Regionen über die letzten Jahrhunderte an die Lebenserwartung besonders fitter Exemplare weitgehend angeglichen. Hinzu kommt, dass besonders attraktive Individuen mit großer Ressourcenverfügbarkeit und geistig wie körperlich überdurchschnittlicher Fitness keine überdurchschnittlich große Anzahl von Nachkommen mehr zeugen. Sie mögen überdurchschnittlichen Paarungserfolg mit überdurchschnittlich attraktiven Partnern haben, doch durch die zuverlässige Empfängnisverhütung ist der elementarevolutive Prozess der Weitergabe erfolgreicher Gene gleichsam kausal entkoppelt. Im Gegenteil: sehr leistungsfähige Menschen verschreiben sich häufiger ihrem beruflichen Erfolg und bleiben kinderlos. Heißt das nun, dass uns unser Empfinden für Attraktivität in die Irre führt, weil es der phylogenetischen Vergangenheit des Menschen verhaftet ist? Haben wir die Evolution abgehängt und sollten neue »parabiologische Paarungsstrategien« entwickeln? Einmal davon abgesehen, dass dies weder eine wünschenswerte noch eine praktikable Realität wäre, da wir unsere teils unterbewussten Triebe und Emotionen nicht beliebig abschalten oder formen können, denke ich, dass die Vorstellung vom über seine eigene Evolution erhabenen Menschen illusorisch ist. Attraktivitätsattribute wie ein starker, geschmeidiger Körper und scharfe Sinne, die sich vor dem industriellen Wohlstand etabliert haben, sind heute nicht bloß deshalb anziehend, weil unser Bewertungssystem langsamer evolviert als sich unsere Umwelt wandelt, sondern weil sie weiterhin eine gewisse Sicherheit für den Partner und den potenziellen Nachwuchs bieten. Die westliche Welt ist nicht so sicher und stabil, als dass solche Merkmale nicht (wieder) von entscheidendem Vorteil sein könnten. Es muss gar nicht gleich der Meteoreinschlag sein, der die Weltkulturen in Schutt und Asche legt und die Menschheit in anarchische Verhältnisse mit Plünderungen und Raubmorden zurückwirft. Die Geschichte zeigt, dass wenige Menschengenerationen ausreichen, um stabile Staaten in regionale Konflikte zu verwickeln, in denen weitsichtiges und sicheres Handeln überlebenswichtig sein könnte. Aus dieser Perspektive ist die Trägheit der Evolution also kein Schwachpunkt, sondern ein Sicherheitsmechanismus dafür, dass bei kurzzeitigen Veränderungen der Um143 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

welt nicht das über Jahrmillionen entwickelte, gefestigte, weil bewährte Konzept völlig transformiert wird. Wenn die fossilen Brennstoffe aufgebraucht sind, sauberes Wasser und klimatisch gemäßigter Lebensraum knapp werden und der Hunger zu vieler Menschen zu groß ist, dann könnten scheinbar obsolete Fähigkeiten wieder einen offensichtlichen Vorteil besitzen. Zudem muss man sich bewusst sein, dass das Genmaterial der Menschen, die in einen solchen Wohlstand hineingeboren werden, dass sie unabhängig von ihren Fähigkeiten höchste Lebenserwartung haben und nahezu ressourcenunabhängig Nachkommen zeugen können, nur einen Bruchteil des gesamten Genpools der Art bildet.

5.2 Wie funktioniert die Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil B: Das Dispersionsmodell und die Vereinheitlichung der Phänomene Nun, da die evolutionstheoretischen Mechanismen besprochen sind, möchte ich Teil B meines Modells der Romantischen Liebe darlegen und damit das Explanandum vervollständigen. Mittels der geschilderten Überlegungen kann man begründet annehmen, dass die evolutive Entwicklung der Romantischen Liebe stark mit der Notwendigkeit einer energie- und zeitaufwendigen Aufzucht der relativ unentwickelten Kinder und der damit an Bedeutung gewonnenen Partnerwahl und Partnerbindung zusammenhängt. Doch wie sieht es unabhängig davon mit der Paarung aus? Alexandra Freund und Andreas Keil geben der Liebe bzw. der »Verliebtheit« entscheidende Bedeutung in Bezug auf den sexuellen Erfolg: »Die meisten dieser ›Symptome‹ der Verliebtheit können vor allem hinsichtlich ihrer Funktion der Aufmerksamkeitsfokussierung auf den potentiellen Partner und Gelegenheiten für das Eingehen einer sexuellen Verbindung verstanden werden. Sie wirken damit wie eine extrem starke Zielbindung und wie ›Implementationsabsichten‹, die […] die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung stark erhöhen.« 178 Auch Fisher formuliert mit finaler Konjunktion: »Ich 178 Freund, Alexandra M.; Keil, Andreas: Ein Grund zu bleiben. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 178.

144 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie funktioniert die Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil B

halte die Romantische Liebe für eine der drei zentralen Hirnstrukturen, die sich zur Steuerung von Paarung und Fortpflanzung entwickelten. Die Lust, das Verlangen nach sexueller Befriedigung, entstand, um unsere Vorfahren zur sexuellen Vereinigung mit relativ beliebigen Partnern anzuregen. Die Romantische Liebe, die Hochstimmung und Besessenheit des ›Verliebtseins‹, versetzte unsere Urahnen in die Lage, ihre Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Person zu richten, wodurch kostbare Paarungszeit und -energie eingespart wurde. Und die Bindung zwischen Mann und Frau, das Gefühl von Ruhe, Einklang und Geborgenheit, das sich häufig in einer langjährigen Beziehung einstellt, bildete sich heraus, damit unsere Vorfahren ihrem Partner so lange zugetan blieben, bis der Nachwuchs aus dem Gröbsten raus ist.« 179 Im Folgenden möchte ich eine alternative Theorie zum Verhältnis von Verliebtheit, Bindungsliebe, Paarung und Aufzucht anbieten. Hierfür muss zunächst bewusst werden, dass der Paarungstrieb da war, bevor es die Liebe und bevor es den Menschen gab, ja sogar noch bevor eine bewusst empfundene Erregung bei irgendeiner Lebensform existierte. Als über das eigene Dasein hinausgehender Überlebenstrieb reicht er in die Ursprünge der Phylogenese zurück. Er ist autonom und eine der mächtigsten Triebfedern des Lebens und bedurfte und bedarf keinerlei emotiver Aufladung, um wirksam zu sein. Die Formulierung Freunds und Keils suggeriert jedoch, dass das Verliebtsein die Funktion hat, den sexuellen Akt erfolgen zu lassen, als wäre das vorher, ohne die Liebe, unwahrscheinlich gewesen. Auch Fisher schreibt von einer Fokussierung auf einen Partner durch die Verliebtheit, damit Paarungszeit und -energie eingespart werden. Gewiss ist in den meisten unserer Sozietäten werbungsbedingte Fixierung auf ein Individuum nötig, damit es zum Geschlechtsverkehr kommt. Doch das ist nur deshalb der Fall, weil mit der Notwendigkeit des hohen Aufzuchtinvestments eine sorgfältige Partnerwahl nötig wurde. Nimmt man das Elterninvestment und ökologische Ressourcenbeschränkung bezüglich Nahrung, Lebensraum und potenziellen Sexualpartnern aus der Gleichung heraus, betrachtet man also nur die Paarung für sich, so ist eine Fixierung auf einen einzigen Partner fortpflanzungsökonomischer Unsinn. Bei gleichen Lebenserwartungen umsorgter und nicht umsorgter Nachkommen, sollte vor allem der Mann so viele Kinder mit unterschiedlichen Frauen zeugen, wie es 179

Fisher, Warum wir lieben, S. 8.

145 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

ihm möglich ist, um einerseits eine hohe Anzahl von Kindern und andererseits genetische Vielfalt unter ihnen zu erzeugen. Für die Frau zeichnet sich ein ähnliches Bild. Zwar muss sie ein Kind neun Monate lang austragen und geht mit der Schwangerschaft ein gewisses Gesundheitsrisiko ein, doch erhöht die genetische Vielfalt, die aus sexuellen Verbindungen mit verschiedenen Männern hervorgeht, auch für sie die Chancen für ein Fortbestehen der eigenen Gene. Darüber hinaus tritt bei regem Sexualkontakt mit unterschiedlichen Individuen das selektive Moment der Spermienkonkurrenz in Kraft, bei dem noch vor der Befruchtung eine Auswahl zu Gunsten vitaler Spermien getroffen wird, die schneller und mit höherer Wahrscheinlichkeit die Eizelle erreichen. Demzufolge leitet der Fokus der Verliebtheit keine günstige Paarungsstrategie an, sondern steht ihr vielmehr im Wege und Fishers »gesparte Energie« wäre nichts weiter als ein Verpulvern des eigenen Reproduktionspotenzials an immer denselben Genotyp, was ein erhöhtes Risiko schlecht angepasster Nachkommen zur Folge hätte. Erst wenn der Faktor des Elterninvestments (und die Variabilität vorherrschender sozio-ökologischer Gegebenheiten) Berücksichtigung findet, erschließt sich der Sinn der bestehenden menschlichen Fortpflanzungsstrategien. Aus dieser Einsicht folgt, dass Verliebtheit nicht unter einem Selektionsdruck zur Optimierung der Paarung entstanden sein kann, sondern ebenso wie die Bindungsliebe im funktionellen Dienste der erfolgreichen Fortpflanzung, abhängig vom erforderlichen Aufzuchtinvestments steht. 180 Ich komme zu meinem Modell. Weil sowohl die Verliebtheit als auch die gemäßigte Bindungsliebe denselben evolutiven Ursprung zu haben scheinen, halte ich es für plausibel, dass beide Phänomene in ihrer Grundsubstanz dieselbe Entität sind: der unter 4.2 definierte Wesenskern Romantischer Liebe, begriffen durch seine sieben konstitutiven Komponenten. Die individuellen Lieben erscheinen bloß deshalb distinkt, weil sich dieser theoretischen »Minimalliebe« in realer Ausprägung immer zusätzliche Empfindungen beimischen. Erst durch diese additionalen Empfindungen, ich nenne sie direkte Dispersionsempfindungen, bilden sich die spezifischen Intensitäten 180 Ob die in westlichen Gesellschaften nominell vorherrschende monogame Bindungsform unter gegenwärtigen sozio-ökologischen Bedingungen die optimale Reproduktionsstrategie darstellt und inwiefern sie im interindividuellen Vergleich ausgeübt und über welchen Zeitraum sie beibehalten wird, ist eine andere Frage. Vgl. hierzu Voland, Soziobiologie, S. 151 u. Fisher, Anatomie der Liebe, S. 194 ff. u. Fisher, Warum wir lieben, S. 161 ff. sowie 3.2.4.1 der vorliegenden Arbeit.

146 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie funktioniert die Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil B

und charakterlichen Facetten der Einzellieben heraus. Hierbei ist zu konstatieren, dass einige der konstitutiven Komponenten (z. B. der Wunsch nach dem Wir und die Wünsche nach körperlicher und emotionaler Intimität) nicht nur das Zustandekommen der Romantischen Liebe bedingen, sondern durch ihre Intensitäten ebenso deren Charakter prägen. Diese nenne ich (der Liebe) inhärente Dispersionsempfindungen. 181 In Anwendung dieses ontischen Verständnisses wird nun der urbekannte Übergang von der Verliebtheit zur Bindungsliebe funktionell verstehbar: Zu Beginn einer Liebe empfinden wir oft Euphorie, starke sexuelle Lust und gedankliche Fixierung sowie den Reiz der Eroberung und Erkundung des noch fremden Menschen. Durch die Beimischungen solcher Dispersionsempfindungen entsteht eine stürmisch glühende und aufreibende Liebe – die Verliebtheit. Kommt es dann zur Ausbildung einer Paarbindung, bei der erfolgreich erobert und zunehmend ausgiebig erkundet wurde, so waschen sich diese Reize und andere verliebtheitsspezifische Dispersionsempfindungen nach und nach wieder aus der Liebe heraus, wodurch sie allmählich ihren feurigen Charakter verliert. Zeitgleich jedoch können sich neuartige Dispersionsempfindungen hinzumischen: Geborgenheit, Verbundenheit, Vertrauen und Verbindlichkeit prägen mit zunehmender Intensität den Charakter der Zuneigung, wodurch eine gemäßigtere, langfristig wärmende Liebe entsteht – die Bindungsliebe. Somit erklärt der disperse Prozess den kontinuierlichen Emotionsverlauf zwischen den archetypischen Polen der Liebe. Anhand des Modells sind jedoch nicht bloß solch gradlinige und stereotype Liebesverläufe erklärbar, sondern alle denkbaren Dynamiken. So empfinden Partner einer langjährigen Bindungsliebe zuweilen plötzlich wieder heiße Gefühle der Verliebtheit füreinander. Verstünde man Verliebtheit und Bindungsliebe als getrennte Entitäten, so müsste man erklären, wieso die eine plötzlich endet und die andere unvermittelt einsetzt. Nach vorliegendem Modell ist es hingegen völlig plausibel, dass Verliebtheit wieder entstehen kann, solange Romantische Liebe als Essenz der Verbindung besteht. Wenn durch ge181 Man könnte hier bemerken, dass jede konstitutive Komponente mittels ihrer Intensität auch den Charakter der Liebe prägt. Allerdings erscheint mir diese Bestimmung beim »Wunsch nach Weiterführung der Verbindung« und beim »Wunsch nach Gegenliebe« theoretisch etwas überfrachtet, weshalb ich die Unterscheidung zwischen konstitutiven Komponenten und inhärenten Dispersionsempfindungen für sinnvoll halte.

147 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

steigerte Attraktivität des Partners wieder mehr sexuelle Lust oder durch bislang unbekannte Facetten neuer Erkundungseifer entsteht, dann mischen sich der Liebesemulsion wieder solche Dispersionsempfindungen bei, die Verliebtheit generieren – die leidenschaftliche Liebe braut sich buchstäblich wieder zusammen. 182 Auch umgekehrt kann der Verlust von Dispersionsempfindungen der Bindungsliebe zum Phänomen der Verliebtheit führen: Äußert der Partner nach Jahren der gemäßigten Liebe, dass er sich seiner Zuneigung nicht mehr sicher ist, so lösen sich bindungsspezifische Empfindungen wie Geborgenheit und Sicherheit aus dem emotiven Gemisch. Gleichzeitig entsteht in der Regel der verliebtheitsspezifische Drang nach (Rück-) Eroberung des Wankelmütigen. Dieser Mechanismus erklärt, wieso die unfreiwillige Trennung einer Bindungsliebe im Kontrast zu ihrem sonst so unaufgeregten Charakter häufig noch einmal leidenschaftlich aufflammt. Im Zerfall der Liebesbeziehung wird dem Verlassenen nämlich nicht bloß klar, was er verliert. Vielmehr verändert der Verlust seine Liebesdispersion zu einer tatsächlich neuen, leidenschaftlicheren Zuneigung. Ist jedoch als Basis keine Romantische Liebe mehr vorhanden, sodass ein rein freundschaftliches oder gar feindseliges Verhältnis besteht, so bleibt das Auswaschen und Beimischen jeglicher Dispersionsempfindungen ohne die beschriebene Wirkdynamik – wo keine Romantische Liebe, da weder Verliebtheit noch Bindungsliebe. Mittels des Modells lässt sich überdies der kausale Zusammenhang zwischen Umwelt und Liebe funktionell erklären. Indirekte Dispersionsempfindungen nenne ich Empfindungen, die selbst nicht zur Dispersion Romantischer Liebe gehören, sich aber darauf auswirken. So könnte zum Beispiel beruflicher Stress die Libido beeinträchtigen, sodass die Zumischung sexueller Lust zurückgeht, woraus ein weniger starkes Verliebtheitsgefühl resultiert. Ebenso wäre denkbar, dass die Gefühle beim Auszug eines inzwischen erwachsenen Kindes die Verbindlichkeit zwischen den Eltern und damit deren Bindungsliebe schwächt. Auch eine stabilisierende Wirkung indirekter Dispersionsempfindungen ist möglich: Gesellschaftliche oder familiäre Missbil-

182 Zur Auffrischung der Verliebtheit raten Beziehungsratgeber daher folgerichtig zu abenteuerlichen Unternehmungen, gemeinsamen Projekten oder Kreativität im Sexualleben. Denn diese und ähnliche Handlungen bringen neue Facetten und Fähigkeiten der Partner zutage, was Dispersionsempfindungen der Verliebtheit in beschriebener Weise erzeugen kann.

148 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie funktioniert die Liebe? Modell der Romantischen Liebe Teil B

ligung der Partnerschaft könnte das Verbundenheitsgefühl der Liebenden und somit deren Bindungsliebe stärken. Damit ist die Liebe nicht von der Welt separiert, sondern hat indirekten, aber verbindlichen Konnex zu den Ereignissen und Emotionen des Alltags. Natürlich könnte man zur Erklärung der kontinuierlichen Transformation der Phänomene auch eine Mischung distinkter Entitäten »Verliebtheit« und »Bindungsliebe« postulieren. Doch das wäre eine aufwendigere und epistemisch weniger ergiebige Theorie, weil das Wesen der Einzelentitäten, deren evolutive und akute Entstehung, ihre funktionelle Wechselwirkung und ihr Vergehen weitgehend ungeklärt blieben. Nimmt man hingegen eine dynamische Dispersionsänderung durch Beimischung separater Empfindungen zur einheitlichen Entität »Romantische Liebe« an, die sich ihrerseits aus konstitutiven Elementen aufbaut, so wird nicht bloß klar, auf welche Weise die teils heftigen, teils kaum spürbaren, jedoch immer nahtlosen Übergänge entstehen und wie sich alltägliche Empfindungen indirekt auf das Phänomen auswirken können, sondern auch, weshalb eine äußerlich-deskriptive Definition der Liebe immer hölzern und impotent anmutet. Denn das Schnüren eines Bündels typischer Symptome wie Schlaflosigkeit, gedankliche Fixierung, gesteigerte Herztätigkeit und dergleichen leistet weder begriffliche Schärfung noch theoretisches Verständnis. Und eine ausschließlich evolutive Erklärung des Phänomens, wie ich sie weiter oben dargestellt habe, erscheint künstlich, aufwendig und ohne Tragkraft. Aus diesen Gründen plädiere ich für mein Modell der Romantischen Liebe, das ich nachfolgend noch einmal zusammenfasse: In Kapitel 4 habe ich anhand vernünftiger Überlegungen die konstitutiven Komponenten der Romantischen Liebe herausgestellt. In seiner schwächsten Form besteht das Phänomen genau dann, wenn seine Komponenten in gerade ausreichender Intensität vorhanden sind. Empfindungen, die den Charakter der Liebe im Spektrum von Verliebtheit und Bindungsliebe zu formen imstande sind, jedoch nicht zu den konstitutiven Eigenschaften der Romantischen Liebe gehören, sind direkte Dispersionsempfindungen. Inhärente Dispersionsempfindungen besitzen dieselbe Wirksamkeit und gehören darüber hinaus zum Zirkel der konstitutiven Komponenten. Indirekte Dispersionsempfindungen schließlich sind dem Phänomen der Liebe selbst nicht zugehörig, können es aber durch ihre Wirkung auf direkte oder inhärente Dispersionsempfindungen in seiner Intensität und Ausprägung beeinflussen. Die Intensität einer hieraus resultieren149 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

den, individuellen Liebe ergibt sich aus der Summe der Einzelintensitäten der direkten und inhärenten Dispersionsempfindungen sowie der (übrigen) konstitutiven Komponenten, wobei die Stellenwerte und somit die Wirksamkeiten der einzelnen Elemente intersubjektiv variieren. Das vorliegende Modell ist sparsam, weil es mit einer definitorischen Mindestcharakterisierung seinen Anfang nimmt, die das intersubjektive Zentrum der Romantischen Liebe herausarbeitet. Des Weiteren, weil es die Paarung als präskriptives Moment der Liebe relativiert und die Verliebtheit sowie die Bindungsliebe als Ausprägungen einer einzigen Entität mit konkretem phylogenetischem Ursprung integriert. Das Modell ist epistemisch reichhaltig, weil es einen prägnanten Liebesbegriff liefert, der sich eigenständig von den übrigen Zuneigungsformen des Menschen abgrenzt, und weil es die kontinuierliche Dynamik der unterschiedlichen Liebesformen sowie die Einwirkung »liebesexterner« Vorkommnisse und Empfindungen funktionell erklärt. Mit der unter Kapitel 4 erstellten Definition und dem hier erarbeiteten Funktionsmodell ist das Modell der Romantischen Liebe nun vollständig und das Explanandum meiner Abhandlung fixiert.

5.3 Die Physiologie der Liebe Nachdem die ultimaten Ursachen der Liebe aus naturwissenschaftlicher Perspektive besprochen sind, möchte ich mich in diesem Abschnitt den proximaten Ursachen zuwenden. Es stellt sich hier also die Frage, was im Körper eines liebenden Menschen aus biologischer Sicht vor sich geht. Dafür müssen die Vorgänge zweier verschiedener, jedoch eng miteinander verbundener Systeme anhand folgender Fragestellungen untersucht werden: 1. Welche Gehirnareale sind bei der Liebe aktiv, welche sind inaktiv? 2. Welche biochemischen Wirkstoffe werden ausgeschüttet und auf welche Weise wirken sie?

5.3.1 Das liebende Gehirn Um diesen Aspekt zu behandeln, ist es notwendig, sich mit den einschlägigen naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu befassen. Ich beginne mit den Studien der Anthropologin Helen Fisher und des 150 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Physiologie der Liebe

Psychologen Arthur Aron, die den folgenden Versuch konzipierten: Zwanzig relativ frisch verliebte Probanden bekamen mehrmals abwechselnd ein Foto ihres Geliebten und das eines flüchtigen Bekannten gezeigt, während ihr Gehirn mittels des bildgebenden Verfahrens der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) untersucht wurde. Diese Geräte messen die Aktivitäten der unterschiedlichen Hirnareale, indem sie die spezifische Blutversorgung farbig darstellen. Bereiche des Gehirns, die besonders aktiv sind, benötigen mehr Blut, da das Blut den notwendigen Sauerstoff bereitstellt. 183 Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung waren gesteigerte Aktivitäten in corpus und cauda des rechten Nucleus caudatus, während die Probanden das Foto ihres Geliebten betrachteten. Dieses Areal ist Teil des sogenannten Reptiliengehirns oder R-Komplexes, einem entwicklungsgeschichtlich sehr ursprünglichen Bereich des Gehirns, der sich bereits vor rund 250 Millionen Jahren herausgebildet hat, also lange bevor sich die Entwicklungslinie der Säugetiere abspaltete. Die Region ist maßgeblich an der Steuerung der willkürlichen Körperbewegung beteiligt 184 sowie an instinktiver Kommunikation bezüglich des Territorialverhaltens, an der Partnerwahl und an Gehorsamsbezeugungen gegenüber Artgenossen 185. Fisher weist darauf hin, dass der Nucleus caudatus außerdem zum Belohnungssystem des Gehirns gehört, in dem Erregungszustände, Lustempfindungen sowie das Streben nach selbigen physiologisch korrelieren: »Der Nucleus caudatus hilft uns, eine Belohnung zu entdecken und wahrzunehmen, zwischen Belohnungen zu entscheiden und eine bestimmte Belohnung zu bevorzugen, sie in Gedanken vorwegzunehmen und zu erwarten. Hier wird die Motivation erzeugt, die uns nach einer Belohnung streben lässt, ebenso wie die Planung konkreter Maßnahmen.« 186 Je heftiger die Probanden im Vorhinein ihre Leidenschaft zum Geliebten angegeben hatten, desto stärker war die Durch183 Vgl. Aron, Arthur et al.: Reward, Motivation, and Emotion Systems Associated With Early-Stage Intense Romantic Love. In: Journal of Neurophysiology 94 (2005), S. 327–337 sowie Aron, Arthur; Fisher, Helen u. Brown, Lucy L.: Romantic Love: An fMRI Study of a Neural Mechanism for Mate Choice. In: The Journal of Comparative Neurology 493 (2005), S. 58–62. 184 Vgl. Faller, Adolf; Schünke, Michael: Der Körper des Menschen. Einführung in Bau und Funktion. 15. Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2008, S. 617. 185 Vgl. Kanitscheider, Bernulf: Das hedonistische Manifest. Stuttgart: Hirzel Verlag 2011, S. 190. 186 Fisher, Warum wir lieben, S. 88.

151 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

blutung der genannten Gehirnregion. Zudem beobachteten Aron und Fisher eine erhöhte Aktivität des rechten ventralen Tegmentums (VTA). Auch dieses Areal ist ein Bestandteil des beschriebenen Belohnungssystems und imstande, eine große Menge des Neurotransmitters Dopamin im Gehirn zu verteilen (die Wirkung dieser Substanz erläutere ich im nächsten Kapitel). Ein vergleichbares Experiment führten der Philosoph Andreas Bartels und der Neurobiologe Semir Zeki im Jahr 2000 durch. 187 Auch hier bekamen Probanden Fotos von ihren Geliebten und von flüchtigen Bekannten gezeigt, während ihre Gehirnaktivitäten von einem fMRT aufgezeichnet wurden. Entsprechend den Untersuchungen von Fisher und Aron zeigte sich eine erhöhte Durchblutung in den Basalganglien Putamen und Nucleus caudatus, die mit dem Belohnungssystem und somit mit der Motivation eines Menschen assoziiert werden. Darüber hinaus jedoch wurden im vorderen Cortex cingularis des limbischen Systems sowie im Cortex insularis der Großhirnrinde gesteigerte Aktivitäten verzeichnet. Diese Areale werden unter anderem mit haptischem Empfinden und der Perzeption des Magen-Darm-Traktes (Cortex insularis) sowie mit Glückszuständen, gesteigerter Aufmerksamkeit, gesteigertem Arbeitsgedächtnis und dem Erkennen fremder Emotionen assoziiert (Cortex cingularis). Des Weiteren wurden Aktivitäten im für das Sexualverhalten relevanten Hypothalamus sowie im Hippocampus beobachtet, der aufgrund spezifischer Rezeptoren mit der Partnertreue in Verbindung gebracht wird. Bartels und Zeki konnten auch in ihrer Aktivität gehemmte Areale ausmachen. So war einerseits die Durchblutung der Amygdala herabgesetzt, ein Teil des limbischen Systems, der mit Angstverarbeitung korreliert, andererseits schienen der mediale Cortex praefrontalis (Teil des Frontallappens der Großhirnrinde) und der rechte Sulcus temporalis superior (Teil des Temporallappens der Großhirnrinde) in ihrer Aktivität herabgesetzt, zwei Areale, die unter anderem an der kritischen Beurteilung anderer Menschen beteiligt sind. 188

187 Vgl. hierzu Bartels, Andreas; Zeki, Semir: The neural basis of romantic love. In: Neuroreport 11 (2000), 17, S. 3829–3834. 188 Vgl. Bartels; Zeki, The neural basis of romantic love sowie Walter, Henrik: Liebe im Scanner. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 90 ff. sowie Roth, Gerhard: Sexualität, Verliebtsein und Liebe. In: Kemper, Peter; Sonnenschein,

152 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Physiologie der Liebe

Die abweichenden Ergebnisse der beiden Studien können auf die Unterschiede der Probandengruppen zurückgeführt werden: Während die Testpersonen der Fisher-Aron-Studie im Schnitt erst etwa 7 Monate lang Liebe empfanden, liebten jene der Untersuchung von Bartels und Zeki durchschnittlich bereits seit 2,3 Jahren. Auf diesen Zusammenhang werde ich später noch einmal zurückkommen. Die oben dargestellten Untersuchungsergebnisse dürfen nun keinesfalls so verstanden werden, dass Liebe ausschließlich in den genannten Hirnregionen und nach einem immer gleichen Schema abläuft. Auch phylogenetisch junge Neokortikalverschaltungen, die unser Vermögen zur Sprache, zu abstrakten Reflexionen und zur Vorstellungskraft vermitteln, sind maßgeblich am Phänomen der Romantischen Liebe beteiligt. Liebe konstituiert sich nämlich nicht bloß instinktiv und emotiv, sondern auch reflexiv. Dabei wirken rationale und affektive Prozesse aufeinander ein, wie der Philosoph Bernulf Kanitscheider festhält: »Vernunftentscheidungen sind wegen der Kopplung von Neokortex und limbischem System immer emotional ›kontaminiert‹ : Einerseits werden die ›vernunftgemäßen‹ Entscheidungen von den emotiven Zentren gelenkt, andererseits vermag die Vernunft eine Art Selbstinduktion von Gefühlen einzuleiten, indem sie Reflexionsschleifen über Empfindungen aufbaut, die nach und nach zu immer stärkerem Erleben führen können.« 189 Durch ihre funktionellen Verbindungen zu den sensorischen Assoziationsfeldern des Kortex, zum limbischen System und zu den Basalganglien (auch zum Nucleus caudatus) sind es vor allem Areale des präfrontalen Kortex, die Relevanz für das Lieben besitzen. Sie sammeln und bewerten die Daten der Sinneseindrücke, integrieren Erfahrungen und Erinnerungen, stellen logische Überlegungen und Schlussfolgerungen an und treffen Entscheidungen, indem sie die Motivationen aus dem Belohnungssystem einer vernunftorientierten Prüfung unterziehen. So vermittelt der präfrontale Kortex das Erleben der eigenen Emotionen, verleiht unseren Wahrnehmungen

Ulrich (Hrsg.): Das Abenteuer Liebe. Bestandsaufnahme eines unordentlichen Gefühls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 225 f. Die Hemmung dieser Areale könnte die bekannte Verherrlichung geliebter Personen verständlich machen. 189 Kanitscheider, Das hedonistische Manifest, S. 196. Für den verstärkenden Effekt von Empfindungen durch reflexive Schleifen nennt Kanitscheider als Beispiel eine Steigerung der Lust durch Verbalisieren der sexuellen Handlungen.

153 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

sinnhafte Bedeutung, kontrolliert unsere Triebe und bildet unsere Präferenzen. 190 Demgemäß vollziehen sich im Gehirn eines liebenden Menschen hochkomplexe Interaktionen verschiedenster Areale aller drei Hirnschichten: ein andauerndes Erregen, Rückwirken und Kontrollieren in Abhängigkeit zu den vielfältigen Stimuli der situativen Umwelt. Denn würde eine der Hirnebenen samt ihrer phänomenalen 191 Ausprägungen ausfallen – etwa die triebhafte Motivation und Aufmerksamkeit des basalganglischen Belohnungssystems, die emotive Verarbeitung des limbischen Systems oder das bewusste Erleben, die vernünftige Kontrolle und das Vorstellungsvermögen des Neokortex – so wäre der Zustand motivationslos, emotionslos oder bewusstlos und man könnte nicht mehr von Romantischer Liebe sprechen. Der Mensch liebt mit seiner gesamten Phylogenese (diese Position werde ich unter 5.3.3 weiter substantiieren). Bedenkt man die interindividuelle Verschiedenheit der Gehirne und dass soziokulturelle Einflüsse sowie persönliche Erfahrungen auf die zerebrale Architektur einwirken können, so bekommt man eine grobe Vorstellung von der neuralen Diversität und Komplexität des Untersuchungsgegenstandes.

5.3.2 Die Wirkstoffe der Liebe Bevor ich die zerebralen Befunde bespreche, möchte ich den zweiten physiologischen Komplex der Romantischen Liebe beleuchten: die biochemischen Wirkprozesse. Auch wenn die Liebe in der realen Welt zumeist in dynamischen Mischformen auftritt, ist es für ein Verständnis dieser Zusammenhänge hilfreich, ihre abstrakten Pole »Verliebtheit« und »Bindungsliebe« isoliert zu betrachten. Für die Verliebtheit mit ihrer starken Motivation, Energie, Fixierung und Leidenschaft werden zumeist drei Stoffe verantwortlich gemacht. Einer davon ist Dopamin, ein Neurotransmitter aus der Familie der Katecholamine. Seine Anreicherung im Gehirn kann zu konzentrierter Aufmerksamkeit, erhöhter Motivation und Zielstrebigkeit, zu Hochstimmung und gesteigerter Energie, aber auch zu Vgl. Fisher, Warum wir lieben, S. 95 f. »Phänomenal« ist hier und nachfolgend nicht als wertender Ausdruck im Sinne von »großartig« zu verstehen, sondern als wertfreies Adjektiv des Begriffs »Phänomen«. 190 191

154 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Physiologie der Liebe

Schlaflosigkeit, Appetitverlust, Zittern, Herzklopfen, Anspannung, beschleunigter Atmung und manchmal zu Manie oder Angstzuständen führen. 192 Diese Wirkung kann den Betroffenen offensichtlich dazu veranlassen, große Anstrengungen, Gefahren und persönlichen Verzicht in Kauf zu nehmen, um bei der geliebten Person zu sein. Von besonderem Forschungsinteresse ist der dopamingebundene Mechanismus zur Präferenzbildung bei der Partnerwahl, also die starke emotionale Fixierung auf ein bestimmtes Individuum. Hierfür wurde in einer eindrucksvollen Studie das Sexual- und Partnerpräferenzverhalten von Präriewühlmäusen (Microtus ochrogaster) untersucht. Das Gehirn dieser kleinen Säugetiere ist dem unseren in Aufbau und grundlegender Funktion ähnlich, weshalb die Ergebnisse als Hinweis auf die biochemischen Prozesse beim Menschen gelten können: 193 Bei der Kopulation entwickelt das Präriewühlmausweibchen eine starke Vorliebe für das entsprechende Männchen, was durch einen Anstieg des Dopaminspiegels im Nucleus accumbens (eine Verbindungsstelle der Basalganglien Nucleus caudatus und Putamen) um etwa 50 % verursacht zu sein scheint. Als die Forscher demselben Weibchen ein dopaminsenkendes Mittel injizierten, verschwand diese Präferenz wieder. Als anschließend eine dopaminsteigernde Substanz verabreicht wurde, bevorzugte das Weibchen ein fremdes, ihm beigesetztes Männchen in gleicher Weise wie den vorherigen Sexualpartner. Der Bereich des rechten ventralen Tegmentums ist, wie oben schon erwähnt, in der Lage, eine große Menge Dopamin zu produzieren. Als Teil des Belohnungssystems verteilt es den Neurotransmitter über Neurone mit langen Axonen in andere Hirnareale, wodurch der Stoff seine Wirkung entfaltet. Unter den auf diese Weise stimulierten Hirnregionen befindet sich auch der Nucleus caudatus. Diese Region ist jedoch nicht nur durch Dopamin stimulierbar, sondern weist auch viele Rezeptoren für zwei weitere Wirkstoffe auf, die mit den Symptomen der Verliebtheit korrelieren. Eine dieser Substanzen ist das Katecholamin Norepinephrin oder Noradrenalin, ein Neurotransmitter und Hormon. In Teilen seiner Wirkung ähnelt es stark dem Dopamin und kann Euphorie, Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, Appetitverlust, aber auch ein gesteigertes Fisher, Warum wir lieben, S. 69 f. Vgl. Gingrich, B.; Liu, Y.; Cascio, C.; Wang, Z.; Insel, T. R.: Dopamine D2 receptors in the nucleus accumbens are important for social attachment in female prairie voles (Microtus ochrogaster). In: Behavorial Neuroscience (2000), 114, S. 173–183. 192 193

155 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

Erinnerungsvermögen für neue Reize auslösen. 194 Der dritte Wirkstoff heißt Serotonin, gehört zur Gruppe der Indolamine und ist ebenso wie Noradrenalin sowohl neural als auch hormonell wirksam. Im Blut verliebter Personen wurde Serotonin in herabgesetzter Konzentration nachgewiesen 195 und Fisher hebt seine Wirkung bezüglich zwanghaften Verhaltens hervor. In der Tat ist es bemerkenswert, dass die Medikation für Patienten, die unter Zwangsstörungen leiden, häufig Mittel umfasst, die den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen. Dies könnte, so die US-amerikanische Anthropologin, die unfreiwillige, ja oft zwanghafte gedankliche Bindung der Liebenden an ihre Geliebten verständlich machen. 196 In diesem Kontext ist auch interessant, dass alle schwerwiegenden Suchterkrankungen mit einem erhöhten Dopaminspiegel einhergehen, was auf einen Zusammenhang mit der verbreiteten Abhängigkeit Liebender vom Geliebten samt den durch Trennung entstehenden Entzugserscheinungen deuten könnte. Die biochemischen Substanzen wirken jedoch nicht so unabhängig und gradlinig wie hier zunächst dargestellt, sondern sind in ihrem physiologischen und schließlich phänologischen Effekt von einer Vielzahl anderer Stoffe, deren und der eigenen Dosierung sowie vom Zeitpunkt der Sezernierung abhängig. Es sind auch Wechselwirkungen untereinander bekannt: So kann ein Anstieg des Dopaminund Noradrenalinlevels eine Senkung des Serotoninspiegels hervorrufen, was bedeuten könnte, dass gesteigerte Leidenschaft zwanghafte Liebe hervorrufen kann. Ferner ist eine Wechselwirkung mit dem Sexualhormon Testosteron interessant, das unter anderem für das sexuelle Verlangen beider Geschlechter verantwortlich ist: Unter gewissen Umständen kann sowohl ein erhöhter Dopamin- als auch ein erhöhter Noradrenalinspiegel zu einer vermehrten Ausschüttung von Testosteron und somit zu gesteigerter Lust führen. 197 Das könnte erklären, weshalb Ereignisse wie ein Aktivurlaub mit vielen neuen Reizen und beglückenden Momenten, bei denen eine »liebesunabhängige« Ausschüttung von Dopamin erfolgt, die Bereitschaft für sexuelle Handlungen steigern. Allerdings kann die Stimulierung auch umgekehrt erfolgen, sodass ein erhöhter Testosteronspiegel die Do-

Fisher, Warum wir lieben, S. 70 f. Vgl. Marazziti, Donatella et al.: Alteration of the platelet serotonin transporter in romantic love. In: Psychological medicine 29 (1999), 3, S. 741–745. 196 Fisher, Warum wir lieben, S. 71 f. Vgl. auch Fisher, Anatomie der Liebe, S. 213. 197 Vgl. Fisher. Warum wir lieben, S. 72 und 104 ff. 194 195

156 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Physiologie der Liebe

pamin- und Noradrenalinkonzentration steigert und zudem den Serotoninwert herabsetzt. Man sollte sich also überlegen, ob man sich, getragen von euphorischen Urlaubsgefühlen, dem charmanten Surflehrer hingibt, denn die Sache könnte mit Verliebtheit und nachfolgenden Entzugserscheinungen enden – aber vielleicht geht es bei einer Urlaubsromanze ja genau um dieses süßbittre Erlebnis. Im Zusammenhang mit dem gegenüberliegenden Pol Romantischer Liebe, der Geborgenheit und emotionale Wärme vermittelnden Bindungsliebe, stehen die Hormone Oxytocin und Vasopressin, die im Hypothalamus und in den Gonaden gebildet werden. Untersuchungen ergaben, dass Frauen bei gesteigerter Oxytocinsezernierung auf männliche Offerten positiver reagieren und eher Vertrauen schöpfen. Das Hormon hemmt u. a. die Freisetzung von Stresshormonen (so auch bezüglich der Angst vor neuen und unvorhersehbaren Erfahrungen) und begünstigt die Bildung neuer Gedächtnisinhalte. Bei sexueller Reizung und vor allem beim Orgasmus erfolgt eine gesteigerte Sezernierung im weiblichen Körper. 198 Analog dazu scheint Vasopressin beim Mann zu wirken, das u. a. ebenfalls orgasmusinitiiert ausgeschüttet wird. In einer Reihe von Studien mit überwiegend monogam lebenden Präriewühlmäusen stellte sich heraus, dass sich Männchen, deren kopulationsgebundene Vasopressinausschüttung gehemmt wurde, völlig opportunistisch verhielten und die Weibchen nach dem Akt zugunsten einer anderen Paarungsmöglichkeit allein ließen. Hingegen begannen jungfräuliche Männchen, denen man Vasopressin injizierte, sofort mit der Beanspruchung eines Reviers, was als typisches Artverhalten zur Paarbildung gilt. Auch wurde ein Gen dieser Mäuse untersucht, das für die Verteilung von Vasopressinrezeptoren im Gehirn verantwortlich ist. Man fand eine »zusätzliche« DNA-Sequenz, die einer nah verwandten Art, den promiskuitiv lebenden Rocky-Mountains-Wühlmäusen, fehlt. Die Wissenschaftler isolierten das DNA-Fragment und integrierten es in das Erbgut eines Vertreters der »untreuen Art«. Im Anschluss an diesen Eingriff verhielten sich die betroffenen Rocky-Mountains-Wühlmäuse tatsächlich zunehmend monogam. 199 Freund; Keil, Ein Grund zu bleiben, S. 180. Vgl. hierzu Carter, Sue C. et al.: Peptides, steroids, and pair bonding. In: Carter, Sue C.; Lederhendler, I. Izja; Kirkpatrick, Brian (Hrsg.): The Integrative Neurobiology of Affiliation. Cambridge/Massachussetts/London: The MIT Press 1999, S. 169–182.; Young, Larry J. et al.: Neuroendocrine bases of monogamy. In: Trends in Neurosciences 21 (1998), 2, S. 71–75.; Young, Larry J. et al.: Increased affiliative response 198 199

157 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

Das sind eindrucksvolle Ergebnisse – bezüglich der orgasmusinitiierten Ausschüttung von Bindungshormonen verleihen sie dem Synonym »Liebe machen« im Übrigen eine ganz wörtliche Bedeutung. Doch wie bei den Wirkstoffen der Verliebtheit, so muss auch hier bedacht werden, dass die biochemischen Prozesse überaus komplex sind und nicht linear erfolgen. Ich möchte bloß zwei der vielen Abhängigkeiten herausgreifen: Unter bestimmten physischen und situativen Bedingungen können sich die »Bindungshormone« und das Lust vermittelnde Hormon Testosteron gegenseitig steigern, wie Fisher berichtet: »[…] die Chemie der Bindung kann Lust auslösen und die Chemie der Lust kann Bindung auslösen« 200. Allerdings ist auch eine negative Stimulierung möglich, sodass ein hoher Testosteronspiegel den Wunsch nach Bindung herabsetzt und ein hohes Oxytocin- und Vasopressinlevel lustdämpfend wirken kann. Welcher Effekt eintritt, ist abhängig von der Dosis des entsprechenden Hormons, dem Zeitpunkt der Sezernierung und den Wechselwirkungen mit anderen hormonell wirksamen Substanzen. Die zweite Beeinflussung betrifft die Wirkstoffe der Verliebtheit: Dopamin und Noradrenalin können die Ausschüttung von Oxytocin und Vasopressin anregen. Im Gegenzug kann ein ansteigender Oxytocinpegel die Weiterleitung von Dopamin und Noradrenalin hemmen. In diesen Fällen könnte man vereinfachend sagen, dass Verliebtheit zur Bindung führt und Bindung Verliebtheit herabsetzt. Fisher weist darauf hin, dass dieser Mechanismus aus evolutiver Sicht durchaus sinnvoll ist, da die Aufzucht der Nachkommen besser durch einander vertraute und sich vertrauende Eltern geleistet werden kann, als durch aufeinander fixierte, der Welt entrückte Verliebte. 201

to vasopressin in mice expressing the V1a receptor from a monogamous vole. In: Nature (1999), 400, S. 766–768.; Wang, Zuoxin et al.: The role of septal vasopressin innervation in paternal behavior in prairie voles (Microtus ochrogaster). In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 91 (1994), 1, S. 400–404.; Pitkow, Lauren J. et al.: Facilitation of affiliation and pair-bond formation by vasopressin receptor gene transfer into the forebrain of a monogamous vole. In: Journal of Neuroscience 21 (2001), 18, S. 7392–7396. 200 Fisher, Warum wir lieben, S. 111 f. 201 Ebenda, S. 113 f.

158 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Physiologie der Liebe

5.3.3 Die Irreduzibilität der Physiologie der Liebe und wissenschaftstheoretische Konsequenzen In der nun folgenden Reflexion möchte ich zunächst noch einmal die hohe Komplexität der neuralen und biochemischen Prozesse betonen und zudem auf die multiple Funktionalität der genannten Parameter hinweisen. Die geschilderten Ergebnisse sind also nicht bloß deshalb mit Vorsicht zu interpretieren, weil die resultierenden Effekte entscheidend von den weitgehend unerforschten Wechselwirkungen diverser physiologischer Aktivitäten, deren Intensitäten und vom zeitlichen und räumlichen Auftreten der Einzelprozesse abhängen (ganz zu schweigen von den multiplen Auslösern und den vielfach nachgeschalteten und ihrerseits einander beeinflussenden somatischen Wirkungsketten). Es muss auch berücksichtigt werden, dass die beobachteten Aktivitäten nicht exklusiv bei der Liebe auftreten, sondern durch die verschiedensten externen und mentalen Stimuli ausgelöst werden können. Diesbezüglich teile ich die Ansicht der Biologin Elisabeth Scheiner, wenn sie formuliert: »In den allerseltensten Fällen findet man eine Region im Gehirn, die nur für eine einzige Funktion zuständig ist. Ebenso selten werden bestimmte Vorgänge von einem einzigen Gebiet des Gehirns gesteuert, schon gar nicht, wenn sie komplex sind. Daher wäre es leichtfertig zu denken, die neurophysiologischen Grundlagen von Lust, romantischer Liebe und Bindung seien weitgehend aufgeklärt. Es ist sicherlich richtig, dass bei verliebten Menschen Aufmerksamkeit, Lernproesse und Emotionen verstärkt zu finden und subkortikale Belohnungs- und Motivationssysteme verstärkt aktiviert sind. Allerdings sind solche Effekte eben nicht nur bei Verliebten zu finden, sondern […] auch in vielen anderen Kontexten, zum Beispiel bei der Nahrungsaufnahme und der Schutzsuche. […] Ähnlich problematisch ist die genaue Zuordnung der genannten Neurotransmitter und Hormone zur Entstehung von Lust, romantischer Liebe und Bindung. Zum einen sind […] alle besprochenen Neurotransmitter und Hormone nicht spezifisch für den Kontext Lust, romantischer Liebe bzw. Bindung, sondern sind zusätzlich auch an verschiedensten anderen neuronalen und physiologischen Vorgängen beteiligt. Zum zweiten ist es schwierig, wirklich drei getrennte ›Liebessysteme‹ zu erkennen, da Testosteron, Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, Vasopressin und Oxytozin alle auf vielfältige und noch nicht umfassend verstandene Weise mit-

159 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

einander interagieren.« 202 Zudem sollte erwähnt werden, dass selbst auf der verhältnismäßig einfachen Komplexitätsstufe des Belohnungssystems schlüssige Alternativtheorien existieren, die andere Wirkstoffe in den Fokus stellen. 203 Diese Relativierungen sind bekannt und weithin anerkannt – wenn auch häufig nur stillschweigend, weil sie den wissenschaftlichen Impakt etwaiger Forschungsergebnisse herabsetzen würden. Hierbei möchte ich es jedoch nicht bewenden lassen, denn Fisher und Kollegen schließen aus ihren Beobachtungen, dass die Romantische Liebe bzw. die Verliebtheit primär ein »Motivationssystem« sei, das über das basalganglische Belohnungssystem vermittelt wird und dem Paarungsverhalten dient. Weshalb die phylogenetische Ableitung der Liebe von der Paarung nicht überzeugen kann, habe ich unter 5.1.2 bereits ausgeführt und anschließend als Alternative das Dispersionsmodell der Romantischen Liebe angeboten. Durch die hier dargestellten physiologischen Erkenntnisse sehe ich mein Modell weiter bekräftigt – vor allem der Vergleich der Ergebnisse aus der Bartels-Zeki-Studie mit jenen der Aron-Fisher-Studie macht es deutlich: Wie oben beschrieben empfanden die Probanden des Experiments von Bartels und Zeki im Schnitt wesentlich länger Liebe für einen Menschen, was auf eine Zuneigung schließen lässt, die eine gewisse Entwicklung durchlaufen hat und damit tendenziell reifer ist. Bei diesen Versuchspersonen waren die gleichen Hirnareale aktiv wie bei den erst seit kürzerer Zeit liebenden Probanden des Fisher-ZekiVersuchs, wenn auch weniger stark. 204 Daneben wurden jedoch gesteigerte Aktivitäten in ganz anderen Gehirnarealen festgestellt. Meine Theorie einer einzigen Entität »Liebe«, deren Charakter sich zwischen Verliebtheit und Bindungsliebe durch ein konstitutives und ein kontingentes Bündel von Einzelempfindungen und deren Intensität ausprägt, lässt genau diese Befunde erwarten: Die gereiftere Form der Romantischen Liebe weist (schwächere) Aktivitäten in denselben Arealen auf wie die frische und leidenschaftliche Verliebtheit. Allerdings »mischen« sich die Aktivitäten eines anderen Hirnbereichs hinzu, der mit Bindungsgefühlen assoziiert wird. In gleicher Weise ver202 Scheiner, Elisabeth: Über die »Lieblosigkeit« der Biologie. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 47. 203 Vgl. Seeley, B. A.: What is love, medically speaking? In: Sonoma County Physician (1999), S. 50. 204 Vgl. 5.3.1 sowie Fisher, Warum wir lieben, S. 88 f.

160 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Physiologie der Liebe

hält es sich bezüglich der mit diesen Hirnaktivitäten direkt oder indirekt in Verbindung stehenden Neurotransmittern und Hormonen. Durch das Beimischen und Herauslösen biochemischer Parameter ergeben sich die physiologischen Korrelate der verschiedenen Formen Romantischer Liebe, die sich im Spektrum von Verliebtheit und Bindungsliebe manifestieren. Wäre man in der Lage, die für die Liebesausprägungen charakteristischen Empfindungen neurophysiologisch zu isolieren, und würde man eine große Probandengruppe mit aufsteigender Liebesdauer untersuchen, so würde es mich nicht verwundern, wenn sich die Intensitäten und die Zeitpunkte der Zu- und Entmischung der inhärenten und direkten Dispersionsempfindungen gemäß meines Modells biochemisch und neurologisch abbilden würden. Nun zur Irreduzibilität: Helen Fisher folgt der ursprünglichen These von Arthur Aron und schreibt: »Ich gelangte allmählich zu der Überzeugung, dass es sich bei der romantischen Liebe um ein primäres Motivationssystem im Gehirn handelt – kurz, um einen grundlegenden Liebestrieb des Menschen.« 205 und an anderer Stelle: »[…] auf alles Neue reagieren wir mit einer erhöhten Ausschüttung von Dopamin – dem Neurotransmitter der romantischen Liebe.« 206 Auch wenn die Anthropologin diese Aussagen an anderer Stelle en passant etwas relativiert, indem sie die Verschaltungen mit höheren Hirnregionen und die grundsätzliche Komplexität zerebraler Prozesse erwähnt, implizieren ihre Arbeiten dennoch, dass der Kern der »Romantische Liebe« gefunden sei, das Zentrum, auf das jede Ausprägung des Phänomens funktionell zurückgeführt werden kann. Es mag zunächst trivial erscheinen, doch ich halte es für wichtig hier einzuhaken. Das basalganglische Belohnungssystem, seine chemischen Substanzen und die aus den Prozessen entstehende Motivation, Aufmerksamkeit und Fokussierung sind nur Teilaspekt der neuralen Korrelation der Romantischen Liebe. Und dementsprechend sollten die Forschungsergebnisse auch deklariert werden, es sollte also besser heißen: »Wir glauben ein neurales Teilkorrelat einer bestimmten Ausprägung der Liebe gefunden zu haben, das auch in anderen Liebesformen eine Rolle spielen könnte.«, anstatt »Die Romantische Liebe ist Paarungstrieb und Dopamin ist ihr Treibstoff.« Ich vermute, dass ein konklusiver Fehler, der nicht formuliert, aber mitgedacht 205 206

Fisher, Warum wir lieben, S. 94. Ebenda, S. 126.

161 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

wurde, die Forscher zu solch übergewichtigen Aussagen verleitete. Die unzulässige Überlegung könnte vereinfacht wie folgt formuliert werden: »Bei der Romantischen Liebe sind diese und jene Areale des R-Komplexes samt der entsprechenden Transmitter und Hormone aktiv. Weil es sich hierbei um phylogenetisch ausgesprochen ursprüngliche Teile unseres Gehirns handelt, muss das der Kern der Liebe sein, aus dem sie sich entwickelt hat und auf den sie daher funktionell zurückgeführt werden kann.« Bewusst oder unbewusst, sollten die Autoren auf diese Weise geschlussfolgert haben, begehen sie einen logischen Fehler, denn das Phänomen Romantische Liebe bildet sich erst aus, wenn Areale aller drei Hirnschichten beteiligt sind. Mittels unseres R-Komplexes erlangen wir lediglich die »Liebesfähigkeit« von Schlangen, Krokodilen oder Salamandern, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal eigene Emotionen haben, 207 geschweige denn von fremden Gefühlen wissen. Mit der Neurologie der Liebe verhält es sich also nicht wie mit der Quelle, die einen Fluss bildet, dessen spätere Zuflüsse die Kategorie seines Wesens nicht mehr verändern (er bleibt stets Gewässer), sondern vielmehr wie mit The Beatles: Es wäre offensichtlich falsch zu behaupten, die Band und ihr Einfluss auf die Welt hätten ihren Ursprung in Ringo Starr, weil er früher als die drei anderen Musiker geboren wurde. Erst durch die Fusion zum Ganzen, erst durch die künstlerischen und menschlichen Wechselwirkungen unter dem Einfluss musikalischer und soziokultureller Umwelt entstanden das Genie und die weltweite Wirkung des Ensembles. Ringo ist also nicht der Ursprung, auf den alles zurückgeführt werden kann, sondern Teil eines Kompositums, das Eigenschaften ausbildet, die die Summe der Eigenschaften der Komponenten übersteigen. Zu sagen, die Romantische Liebe sei ein basalganglischer Trieb, ist also, als würde man sagen »Das Auto ist sein Motor« oder »Der Baum ist seine Blätter« oder »Das Lied ist sein Rhythmus«. Die Liebe integriert Aktivitäten ursprünglicher Hirnareale, sie geht aber nicht aus ihnen hervor, bloß weil sie entwicklungsgeschichtlich früher entstanden sind. Pointierter gefasst: Die Abfolge der Genese der Teile eines Systems bestimmt weder den Ursprung und Kern ihres funktionellen Wirkens noch die Bedeutsamkeit der Komponenten für das System. Auch bei akuten Ausprägungen der Liebe gibt die evolutive Chronologie nicht den physiologischen Kausalprozess vor. Denn entwicklungsgeschichtlich junge 207

Vgl. Kanitscheider, Das hedonistische Manifest, S. 190 f.

162 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Physiologie der Liebe

Regionen des Gehirns können ältere Hirnschichten aktivieren. Beispielsweise müssen bei Menschen, die sich aufgrund einer Brieffreundschaft ineinander verlieben, zuerst Areale des Neokortex aktiv werden, um mittels des hier korrelierenden Vorstellungsvermögens eine facettenreiche Imagination vom Verfasser der Briefe zu generieren, in die sich der Leser dann mit all seinen Hirnschichten verlieben kann. Diese Überlegungen führen zu dem Schluss, dass die Physiologie der Romantischen Liebe nicht auf die Aktivitäten einer oder zweier Hirnschichten sowie auf die lineare Wirkung weniger biochemischer Substanzen an festgelegten Orten reduziert werden kann. Ich vertrete die Auffassung, dass sie sich multidimensional als neuartiges Phänomen hochkomplexer Wechselwirkungen menschlicher Biologie konstituiert. Die Evolution »erfindet« kein neues Hirnareal oder neue Stoffe, um ein neues Merkmal auszubilden, sondern verwendet vorhandene Strukturen in Kombination mit zufälligen Modifikationen wechselwirkender Systeme, wodurch sich die Funktionalität des Ganzen potenziert. Versucht man die Biologie der Liebe auf Teilaspekte ihrer Physiologie zu reduzieren, nimmt man ihr Aspekte (Emotion, Bewusstsein), ohne die sie schlechterdings nicht mehr Liebe ist. Solche Reduktionen können nur dann bestehen, wenn das Explanandum nicht klar bestimmt wurde, sodass es sich bis zu den ursprünglichsten Trieben des Menschen erniedrigen lässt. So führt eine falsche Interpretation evolutionstheoretischer Tatsachen zu Überbetonung und theoretischer Entkopplung abhängiger Teilaspekte und das Verstehen dieser Bruchstücke wird als hinreichende, weil fundamentale Erklärung deklariert. Auf diese Weise aber forscht man an der Entität vorbei. Basalganglische Aktivitäten sind für die Romantische Liebe unbestritten konstitutiv, allerdings muss den neokortikalen Prozessen mindestens dieselbe Beachtung zuteilwerden, sind sie es doch, die den Menschen so besonders machen (bezüglich der ursprünglichen Regionen sind sich die Gehirne der Säugetiere relativ ähnlich). Erst die phylogenetisch junge Ausdifferenzierung der menschlichen Großhirnrinde ermöglicht bewusstes Erleben der eigenen und Reflexion fremder Emotionen. Erst durch diese Entwicklung wurde der Mensch zum Menschen und erlangte Fähigkeiten, die ihn von den übrigen Kreaturen des Planeten unterscheiden – eine davon ist die Fähigkeit zu Romantischer Liebe. Erscheint es in diesem Licht nicht seltsam, gerade jene Strukturen zum Zentrum des Phänomens zu erklären, die selbst Reptilien besitzen? Fast könnte sich die Ver163 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

mutung aufdrängen, dass die einigermaßen verstandenen Mechanismen deshalb als Primärprozesse der Liebe publiziert werden, weil das neurophysiologische Gesamtkorrelat oder auch nur die neokortikalen Vorgänge viel zu komplex sind, um sie mit gegenwärtigen Methoden in eine handhabbare Theorie zu fassen. Aus heuristischer Perspektive ist es sicher sinnvoll, zunächst ein Verständnis für die einfacheren Strukturen zu entwickeln, um aus diesem Wissen vermittels Abstraktion Erkenntnisbausteine für das Verstehen komplexerer Prozesse zu gewinnen. Die dargestellten Forschungsergebnisse sind also von großem Wert und die beteiligten Wissenschaftler haben sich um das Thema Liebe verdient gemacht. Doch ist es epistemisch suppressiv und heuristisch folgenschwer, Teilerkenntnisse mit Bedeutung zu überladen oder das Explanandum in seinem Umfang stillschweigend an die Reichweite der Forschungsergebnisse anzupassen. Denn dadurch würde nicht nur die eigene Abhandlung den größten Teil des Phänomens verfehlen, auch Wissenschaftler zukünftiger Studien könnten verleitet sein, invalide Prämissen von ihr abzuleiten, wodurch sich die Täuschung über den interdisziplinären Forschungsbedarf der Romantischen Liebe verfestigen würde. Diesen und weiteren wissenschaftstheoretischen Überlegungen werde ich in den Kapiteln meines Fazits nachgehen.

5.4 Partnerpräferenz In diesem Kapitel möchte ich darlegen, wieso sich Menschen in bestimmte andere Menschen verlieben. In einem ersten Abschnitt werde ich sowohl allgemeinbiologische und soziokulturelle Attraktivitätsattribute zusammentragen als auch interindividuell differierende Präferenzen sowie deren mögliche Ursprünge besprechen. Im zweiten Teil werde ich die Signalwege erklären, auf denen Menschen miteinander kommunizieren, ohne ihre Zuneigung oder andere Emotionen zu verbalisieren. Hierbei werden die individuelle genetische Passung sowie die unbewussten Signale von besonderem Interesse sein.

5.4.1 Attraktivität Die Attraktivität eines Menschen ist Konglomerat seiner Eigenschaften und immer auch abhängig von den individuellen Vorlieben des 164 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Einzelnen, seiner Bezugsgruppe und den kulturellen Leitbildern. Nachdem ich die Aspekte und Abhängigkeiten menschlicher Attraktivität erläutert habe, möchte ich eine funktionelle Erklärung der Liebe auf den ersten Blick vornehmen, die ich unter 4.5 in den Begriff der Romantischen Liebe inkludiert habe. 5.4.1.1 Allgemeinbiologische und soziokulturelle Attraktivitätsmerkmale Es ist zielführend, die menschlichen Attraktivitätsmerkmale in vier getrennten Gruppen zu behandeln: 1. Körperliche Gesundheit und Fertilität 2. Ressourcenvermögen 3. Leistungsfähiges Gehirn 4. Soziales Vermögen. Die körperlichen Attraktivitätsattribute gehen bei Mann und Frau naturgemäß auseinander, doch es gibt auch Gemeinsamkeiten. So gelten Menschen mit symmetrischen Körpern seit jeher und kulturübergreifend als attraktiv. Die erste detaillierte Beschreibung ebenmäßiger Schönheit nahm wohl der griechische Bildhauer Polyklet vor. In einem Kanon zur Proportionslehre von Abstands- und Längenverhältnissen der menschlichen Körperteile zueinander sowie zum Ganzen beschrieb er gegen Mitte des fünften Jahrhunderts vor Christus den perfekten menschlichen Körper. Auch heutige Studien zeigen, dass ebenmäßige und spiegelsymmetrische Gesichter als besonders attraktiv empfunden werden. So wurden mittels eines Computerprogramms zahlreiche Gesichtsaufnahmen zu einem Einzelbild grafisch verschmolzen, was die Unregelmäßigkeiten der realen Gesichter verschwinden ließ. Diese »künstlichen Gesichter« wurden von gegengeschlechtlichen Probanden im Vergleich mit den unbearbeiteten Aufnahmen als attraktiver empfunden. 208 In der Biologie nennt man dieses Attraktivitätsmerkmal »fluktuierende Asymmetrie« und es dient einem bestimmten Zweck: Dass der Körper von perfekter Symmetrie abweicht, liegt an Störfaktoren während der Entwicklung, die sowohl genetisch als auch durch Umwelteinflüsse bedingt sein können. Daraus lässt sich schließen, dass Menschen mit relativ hoher Körpersymmetrie eine hohe Entwicklungsstabilität besitzen und auch aktuell weniger empfindlich auf Störfaktoren wie bspw. Krankheitserreger reagieren. Eine solch stabile Erbanlage be208 Vgl. Langlois, Judith H.; Roggmann, Lori A.: Attractive Faces Are Only Average. In: Psychological science 1 (1990), 2, S. 115–121.

165 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

wirkt wiederum höhere Lebenserwartung und gesteigerte Fruchtbarkeit – Eigenschaften, die nicht bloß für die Gründung und Versorgung einer Familie, sondern auch als genetisches Erbe der Nachkommen von großer Bedeutung sind. So schließen auch der deutsche Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe Karl Grammer et alii in einer Studie aus dem Jahr 2006: »Our data supports the notion that symmetric faces are considered more attractive and healthy. These higher ratings of symmetrical faces seem to support the biological explanation of adapted preferences for faces that signal quality.« 209 Bezüglich des Verhältnisses von Perfektion und Schönheit möchte ich jedoch die Worte Edgar Allan Poes zu bedenken geben, der seinen Lord Bacon Folgendes sagen ließ: »There is no exquisite beauty without any strangeness in the proportions« 210. Hiernach integriert wahre Schönheit einen dezenten aber merklichen Akzent der Unvollkommenheit. Denn erst diese kleine Ungereimtheit erzeugt den nötigen Kontrast, vor dem die übrige Perfektion lebendig wird. Ein Antlitz ohne jegliche Abweichung vom Ideal erscheint glatt, unnahbar, beinahe künstlich. Ein solches Gesicht ist natürlich ein Objekt der Bewunderung – ein kleiner, würzender Fehler könnte es darüber hinaus jedoch liebenswerter, lebendiger und dadurch letztlich auch schöner machen. Allgemein lässt sich konstatieren, dass Männer stärker auf visuelle Attraktivitätsmerkmale reagieren als Frauen. Junge, strahlende Augen, glatte Haut, glänzendes Haar, schöne Zähne, feste, aber geschmeidige Körper mit einem Taille-Hüft-Verhältnis von etwa 70 zu 100 sowie ein lebhaftes Wesen vermitteln Gesundheit und Fruchtbarkeit und somit eine hohe Chance auf erfolgreiche Fortpflanzung. 211 Diese Attraktivitätsmerkmale haben sich also deshalb entwickelt, weil das Leben des Nachwuchses davon abhängt, ob der Körper der Mutter während der Schwangerschaft, der Geburt und der Stillzeit den spezifischen Anforderungen ausreichend gewachsen ist. Das genetische Material solcher Männer, die diese Eigenschaften an einer Frau bevorzugten, wurde selektiert, weil Fortpflanzung und Aufzucht im Durchschnitt erfolgreicher waren.

209 Grammer, Karl et al.: Facial symmetry and judgements of attractiveness, health and personality. In: Personality and Individual Differences 41 (2006), S. 496. 210 Vgl. Ernst, Jutta: Edgar Allan Poe und die Poetik des Arabesken. Würzburg: Königshausen/Neumann 1996, S. 84. 211 Vgl. Fisher, Warum wir lieben, S. 133 f.

166 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Was die visuellen Wahlkriterien der Frauen betrifft, so herrscht die Meinung vor, dass maskuline Ausprägungen wie ein scharf gezeichnetes Kinn, ausgeprägte Wangenknochen, breite Schultern und ein athletischer Körperbau entscheidend sind. Biologisch wird diese Präferenz über die sogenannte Immun-Handicap-Hypothese erklärt. Ihr zufolge ist für die Ausbildung stark ausgeprägter Männlichkeitsmerkmale ein gesteigerter Testosteronlevel im Körper nötig. Das Sexualhormon übt allerdings eine hemmende Wirkung auf die Immunabwehr aus, sodass ein maskulines Aussehen als Handicapmerkmal für ein überdurchschnittlich gutes Immunsystem und somit als Indikator für Aufzuchtsicherheit und gutes Genmaterial gilt. 212 Eine finnische Studie aus dem Jahr 2012 stellt die Bedeutung dieser Merkmale jedoch infrage: Sowohl männliche als auch weibliche Probanden bekamen Gesichts- und Ganzkörperfotografien von 74 Männern gezeigt und bewerteten deren maskuline Erscheinung und zusätzlich deren Adiposität. Zudem wurden der Körperfettanteil und die Immunleistung der fotografierten Männer bestimmt. Die Untersuchung zeigte, dass eine gute Immunleistung eher mit relativ geringem Körperfett der Probanden korrelierte als mit maskulinen Zügen (ein Optimum ergab sich um 12 % Körperfettanteil). Im weiteren Verlauf der Studie bekamen 29 Frauen, die sich in ihrer fekunden Phase befanden, dieselben Fotos gezeigt, um sie auf Attraktivität hin zu beurteilen. Es zeigte sich, dass jene Individuen, deren Körperfettanteil nahe den 12 % lag, also auch jene mit der leistungsfähigsten Immunabwehr, durchschnittlich die besten Bewertungen erhielten. Hingegen wurden Männer mit besonders maskulinen Körpern als durchschnittlich attraktiv empfunden: »These findings indicate that women in this study use adiposity, and not masculinity, as a cue to immunocompetence when judging the attractiveness of men. […] In summary, our results show that adiposity, and not masculinity, underlies the relationship between immune response and attractiveness.« 213 Zudem gab es keine Korrelation zwischen dem Testosteronlevel der erwachsenen Männer und deren maskuliner Erscheinung. Es waren eher die Fettleibigen, die einen erhöhten Wert des Hormons aufwiesen: »Compared with masculinity, adiposity is also more strongly Zum Prinzip des Attraktivität vermittelnden Handicaps vgl. 5.1.2. und 3.1.3.1. Rantala et al.: Adiposity, compared with masculinity, serves as a more valid cue to immunocompetence in human mate choice. In: Proceedings of the Royal Society of London (2013), B 280, 1751, S. 4 f. 212 213

167 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

associated with circulating testosterone levels. Taken together, these findings highlight the role of adiposity as a cue to male quality in modern human societies.« 214 Diese Ergebnisse relativierend muss wiederum angemerkt werden, dass (maskuline) Ausprägungen vor allem während der Kindheits- und Jugendphase von den Hormonkonzentrationen abhängen, weil sie zu dieser Zeit entwickelt werden. Es ist also durchaus denkbar, dass die Probanden mit stark maskulinen Zügen in ihren Entwicklungsjahren tatsächlich relativ viel Testosteron ausschütteten, sich diese Produktion aber mit dem Erwachsenenalter normalisierte. Des Weiteren möchte ich auf die Problematik »versteckter« maskuliner Züge hinweisen. Ein scharf gezeichnetes Kinn, das in einem Doppelkinn versinkt, könnte weniger männlich wirken als das durchschnittlich entwickelte aber besser sichtbare Kinn eines schlanken Mannes. Während Männer im Allgemeinen stärker auf visuelle Reize reagieren, ist für Frauen die Ressourcenverfügbarkeit des potenziellen Partners von höherer Bedeutung. Diese Präferenz betrifft nicht nur materiellen Besitz, sondern auch sozialen Status, beruflichen Erfolg und Macht. Biologisch werden diese Attraktivitätsmerkmale mit dem für eine Aufzucht erforderlichen Elterninvestment erklärt. Ein wohlhabender und mächtiger Mann ist für gewöhnlich eher imstande seine Familie in Notsituationen zu versorgen und zu beschützen als einer ohne Besitz und Einfluss. Die geschlechtsspezifischen und vom Reproduktionsinvestment abhängigen Präferenzen lassen sich bis hierhin also folgendermaßen zusammengefassen: »Human evolutionary psychological studies across a wide range of cultures have shown that in consideration of mates men rank female beauty higher than women rank male looks, while women rank male resources higher than men rank female resources […]. Female beauty signals youth, fertility and health while male resources signal male competitive ability and health.« 215 Allerdings müssen Frauen im Zusammenhang mit der Aufzucht nicht bloß nach Ressourcenreichtum detektieren, sondern ebenfalls nach Verlässlichkeit und Treue, Attribute, die sich erfolgreicher vortäuschen lassen als Reichtum und Macht.

Ebenda, S. 5. Grammer et al: Darwinian aesthetics: sexual selection and the biology of beauty. In: Cambridge Philosophical Society 78 (2003), S. 387. Vgl. auch Greer, Arlette E.; Buss, David M.: Tactics for Promoting Sexual Encounters. In: The Journal of Sex Research 31 (1994), 3, S. 185–201. 214 215

168 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Eine Ursache für hohen gesellschaftlichen Status und finanziellen Wohlstand kann (neben verdeckt unsozialem oder kriminellem Verhalten, Durchsetzungsvermögen, Mut und Fleiß 216) ein leistungsfähiger Geist sein. Menschen mit überdurchschnittlicher Intelligenz, feinem Humor, vielfältigen Bildungsinteressen, hoher Gedächtnisleistung, Wortgewandtheit und Kreativität können sich im menschlichen Sozialgefüge Sicherheiten und in Notsituationen entscheidende Vorteile verschaffen, was sie als potenzielle Fortpflanzungspartner attraktiv macht. Ganz ähnlich verhält es sich mit der vierten Gruppen von Attraktivitätsattributen, den sozialen Kompetenzen. Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Anpassungsfähigkeit sind von beiden Geschlechtern hochgeschätzte Eigenschaften bei der Partnerwahl. Sie ermöglichen eine Vertrauensbindung, die die Aufzucht der Nachkommen begünstigt, und stärken die gesellschaftliche Position und somit den sozialen Rückhalt nicht nur desjenigen, der sie an den Tag legt, sondern den der ganzen Familie. 217 Neben diesen primären Attraktivitätsattributen beeinflussen natürlich unzählige Details die Attraktivität eines Menschen: Ein angenehmes Stimmtimbre, ein gewinnendes Lächeln oder eine auffallende Augenfarbe sind nur Beispiele für die vielfältigen körperlichen Attraktivitätsfaktoren, vom Facettenreichtum eines Charakters ganz zu schweigen. In einer Studie stellte der deutsche Psychologe Jochen Gebauer die Bedeutung des Vornamens als Partnerwahlkriterium heraus: Die User eines etablierten Online-Dating-Portals bekommen gemäß der von ihnen angegebenen Wahlkriterien (Alter, Interessen, Vorlieben etc.) E-Mails mit Partnervorschlägen zugeschickt. Diese enthalten jedoch lediglich den Wohnort, das Alter und den Vornamen der vorgeschlagenen Person sowie einen Link, der Interessierte zum detaillierten Profil weiterleitet. Im Abgleich mit Listen von Namen, die als besonders beliebt bzw. weniger beliebt gelten 218, erhoben Gebauer et alii, wie oft die Links zum Erstbesuch des Profils angeklickt wurden und kamen zu folgendem Ergebnis: »Individuals with extremely negative names (Study 1), moderately unattractive names (Study 2), and currently unpopular names (irrespective of 216 Vgl. Buss, David M.: Sex differences in human mate preferences: Evolutionary hypotheses tested in 37 cultures. In: Behavorial and Brain Sciences 12 (1989), S. 1–49. 217 Vgl. 5.2.1. 218 Vgl. Rudolph, Udo; Böhm, Robert; Lummer, Michaela: Ein Vorname sagt mehr als 1000 Worte – Zur sozialen Wahrnehmung von Vornamen. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie (2007), 38, 17–31.

169 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

name-popularity at birth; Study 3) were neglected by potential partners more than those with more positive, attractive, and popular names. […] From a dating perspective, it seems tempting to conclude that in Germany Kevin would gain from introducing himself as Alexander when meeting a potential partner.« 219 Konkret bedeutet das, dass die Profile von Personen mit Namen wie Chantal und Mike seltener angesehen wurden als jene von Personen mit Namen wie Lena, Charlotte oder Alexander. Isoliert ist der Vorname also ein wirksames Attraktivitätsmerkmal, was schließen lässt, dass er auch die Gesamtwirkung einer Person beeinflusst. Bevor ich zum Punkt der persönlichen Präferenzprägung komme, möchte ich einige der beschriebenen Attraktivitätsmerkmale in ihrer Gültigkeit etwas einschränken. Beim zuletzt genannten Kriterium des Vornamens ist offensichtlich, dass sich die Aussagen der Studie auf einen bestimmten Kulturkreis beziehen, da dieser die spezifischen Assoziationen festlegt. Ist der Name Kevin im deutschsprachigen Raum wenig attraktiv, so hat er im US-amerikanischen Raum einen eher durchschnittlichen Status. Und auch Schönheit durch Gesichtssymmetrie und körperliche Gestalt ist ethnohistorisch beeinflusst. In Gesellschaften, deren Mitglieder starken pathogenen Stressfaktoren ausgesetzt sind, ist Symmetrie als Hinweis auf eine gute Immunabwehr bedeutender für die Partnerwahl als in anderen Volksgruppen. Ebenso weichen die Vorstellungen von einer attraktiven weiblichen Figur in Kulturen, in denen große Familien zur sozialen Absicherung und damit weibliche Gebärfähigkeit von hoher Bedeutung sind, stark vom Schlankheitsideal westlicher Sozietäten ab. 220 Auch rein gesellschaftliche Ideale ohne direkten biologischen Zusammenhang, wie die vornehme Blässe des Mittelalters und die Beleibtheit fernöstlicher Ringer, prägen fortlaufend die Merkmale menschlicher Attraktivität. Relativierend wirkt auch die Abhängigkeit weiblicher Präferenzen vom Ovulationszyklus. Im Durchschnitt bewerten Frauen in ihrer fekunden Phase Merkmale wie maskuline und symmetrische Gesichter, athletische und hochgewachsene Körper, dominantes und selbstdarstellerisches Verhalten sowie eine tiefe Stimme als attraktiver. Hingegen scheinen sie während ihrer un219 Gebauer, Jochen E.; Leary, Mark R.; Neberich, Wiebke: Unfortunate first names: Effects of name- based relational devaluation and interpersonal neglect. In: Social Psychological and Personality Science, 3 (2012), 5, S. 594 f. 220 Voland, Soziobiologie, S. 134 f.

170 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

fruchtbaren Phase vermehrt auf weichere Züge und Anpassungsfähigkeit zu achten, da diese Merkmale auf eine gewisse Bindungsfähigkeit deuten könnten. 221 Und nicht nur in Bezug auf weibliche Fruchtbarkeit spielt günstiges Timing eine wichtige Rolle. Die akute Situation sowie die allgemeinen Lebensumstände müssen dem Menschen eine emotive Bereitschaft zur Perzeption von gegengeschlechtlicher Attraktivität ermöglichen. In einem Zustand von Panik, Zorn oder tiefer Trauer kann man sich schwerlich verlieben. Nicht zuletzt ist auch das Lebensalter und die damit einhergehende Lebens- und Liebeserfahrung ein relativierender Faktor der Attraktivitätsattribute. Ein Mädchen im Alter von 14 Jahren wird weniger Interesse daran haben, wie viel Geld der süße Junge aus dem Freibad auf seinem Sparkonto hat, als eine Frau Anfang dreißig mit Kinderwunsch. 5.4.1.2 Individuelle Präferenzprägung Vom Zeitpunkt seiner Geburt an tritt der Mensch mit seiner Umwelt in direkten Kontakt. Jedes Ereignis prägt nicht nur fortlaufend seine Person, sondern auch seine Interpretationsweise nachfolgender Ereignisse, wodurch sich das Wesen eines Menschen auf einmalige Weise ausdifferenziert. Bei der Partnerwahl scheint der Abgleich mit der eigenen Person eine wichtige Rolle zu spielen. So verlieben wir uns zumeist in Menschen unserer eigenen Volksgruppe, die uns in sozialem Status, Bildung, Intelligenz, Empathievermögen und sogar in phänotypischen und psychometrischen Merkmalen ungefähr entsprechen. 222 Doch wie kommt es eigentlich, dass das bekannte Phänomen von »Gleich und Gleich gesellt sich gern« so häufig zutrifft? Was die ethnische Gruppe, den sozialen Status und den Bildungsgrad betrifft, so spielt es natürlich eine Rolle, dass eine Person in ihrem eigenen Milieu die meisten zwischenmenschlichen Kontakte hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich unter ihnen ein geeigneter Partner befindet, ist also schon numerisch wesentlich höher. Wieso aber häufig Merkmale präferiert werden, die den eigenen ähneln, ist nicht abschließend geklärt. Es könnte damit zusammenhängen, dass viele (phänotypische) Gemeinsamkeiten eine höhere Wahrscheinlichkeit altruistischen Handelns erhoffen lassen. Wenn wir bekannte Ge-

221 222

Vgl. Ebenda, S. 132. Vgl. Voland, Soziobiologie, S. 139.

171 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

sichtszüge erkennen, schöpfen wir leichter Vertrauen und fühlen uns eher verstanden. Eine andere Überlegung geht von einer Stabilisierung ko-adaptiver Genkomplexe aus: Gene sind funktionell auch von benachbarten Genorten abhängig, sodass eine weitreichende Neumischung durch völlig andersartiges Erbmaterial diese Funktionseinheiten stören könnte. Darüber hinaus scheint die Schwangerschaft im Mittel mit weniger Komplikationen zu verlaufen, wenn sich Mutter und Kind in biochemischer Hinsicht ähneln, sodass Eltern mit ähnlicher DNA seltener Fehlgeburten und häufiger gesunde Kinder haben. 223 Des Weiteren scheint ein allgemeiner Attraktivitätsabgleich stattzufinden: Je höher der eigene »Marktwert« eingeschätzt wird, desto höher sind die Ansprüche an einen potenziellen Partner und desto geringer die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen. Die Selbstbewertung ist dabei nicht nur von der eigenen Attraktivität abhängig, sondern auch vom Attraktivitätsdurchschnitt der gleichgeschlechtlichen Konkurrenz in der Bezugsgruppe. Biologisch wird diese Vorauswahl als Mechanismus zur Einsparung unnötiger Werbungsenergie erklärt. Ein unterdurchschnittlich attraktiver Mann, der einer überdurchschnittlich attraktiven Frau den Hof macht, hat dabei in der Regel keinen Erfolg. Er verschwendet also Zeit und Energie und lässt realistische Chancen bei Frauen verstreichen, die eher seiner eigenen Attraktivität entsprechen. 224 Und selbst wenn er ihre Gunst gewinnt, ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie ihn eines Tages mit einem Mann ihres Attraktivitätslevels betrügt und er unter Umständen ein Kind mit fremdem Genmaterial aufzieht, deutlich erhöht. Neben den klassischen Attraktivitätsattributen der Geschlechter sind natürlich auch individuelle Vorlieben von Bedeutung. Wenn sie sich vom rothaarigen Typ angezogen fühlt und er eine gewisse Strenge im Wesen einer Frau bevorzugt, dann sind das paarspezifische Attraktivitätsmerkmale, die in den gegenseitigen Abgleich mit einfließen. Ich bin der Auffassung, dass bei Partnerschaften jede wahrnehmbare Eigenschaft des anderen in eine komplexe Rechnung mit individuellen Schwerpunkten integriert wird, um zu ermitteln, ob die Gesamtattraktivität unter Berücksichtigung der eigenen Vorlieben 223 Vgl. hierzu Lampert, Ada: The Evolution of Love. Westport, Connecticut: Praeger 1997. 224 Vgl. Voland, Soziobiologie, S. 135 f. sowie Zetterberg, The secret ranking (1966), S. S. 242–257.

172 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

und allgemeiner soziobiologischer Standards der erfahrenen Eigenattraktivität in etwa entspricht. Wenn die Frau also gewisse charakterliche Eigenschaften aufweist, auf die der Mann großen Wert legt, so kann sie an äußerlicher Attraktivität hinter ihm zurückstehen, ohne dass er mit seiner Wahl unzufrieden ist. Am Ende ist entscheidend, dass eine annähernde Ausgeglichenheit der Attraktivitäten besteht – mit welchen Multiplikatoren die einzelnen Eigenschaften integriert werden, ist individuell verschieden und bedarf keiner höheren Wertinstanz. Auch deshalb nicht, weil viele der Attraktivitätsattribute, wie sich im Laufe dieses Kapitels herausstellen wird, gar nicht bewusst empfunden werden können. Dieser Umstand ist meiner Ansicht nach für das Phänomen verantwortlich, bei dem Liebende gar nicht recht benennen können, wieso sie für ihren Partner so starke Zuneigung empfinden – »es ist eben einfach Liebe« wird dann allgemein geschlossen. Wenn die unbewusst wahrgenommenen Attraktivitätsmerkmale die bewussten übersteigen, so kann es einerseits dazu kommen, dass das ständige Infragestellen des eigenen Gefühls, dem eine bewusste Rechtfertigung fehlt, die Paarbindung zunehmend belastet. Andererseits können bewusst empfundene Eigenschaften des Geliebten in ihrer Vortrefflichkeit und/oder Bedeutung überhöht werden. So ist gut denkbar, dass die persönlichen Vorlieben und somit die Multiplikatoren der Attraktivitätsfaktoren im Laufe einer Beziehung rational, also gewissermaßen künstlich in Form einer Einstellungsänderung manipuliert werden, um die Attraktivitäten auch im Bewusstsein anzugleichen. Sofern dieser Selbstmanipulation unterbewusste, aber reale Attraktivitätsmerkmale entsprechen und dieser Mechanismus vielleicht sogar vom Liebenden erkannt und verstanden wird, kann dies die Paarbindung stabilisieren. Basiert die Überhöhung des Geliebten hingegen auf keiner unterbewussten Attraktion, sondern auf Angst vor den Konsequenzen einer Trennung, dann werden Beziehungsprobleme kaum zu vermeiden sein. So bin ich also der Auffassung, dass eine gewisse Flexibilität in der Gewichtung der persönlichen Präferenzen das Liebesglück langfristig begünstigt. Zum einen, weil es ohnehin unmöglich ist, einzusehen, wie sich die Anziehung des Partners und somit die eigene Zuneigung variabel konstituiert, zum anderen, weil starre Idealvorstellungen zwangsläufig mit der entwicklungsbedingten Veränderlichkeit realer Personen kollidieren – Liebe als Langzeitprojekt bedarf in aller Regel der mildsinnigen Nivellierung. Eine allzu große Flexibilität, die mehr Selbstbetrug als aufgeklärtes Liebesverständnis ist, hat allerdings den ge173 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

genteiligen Effekt, sodass die Verbindung mit der Zeit an Freude und Stabilität verlieren wird. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass Partnerwahl nicht ausschließlich in Abhängigkeit zur Reproduktions- und Aufzuchtoptimierung erfolgt, sondern zusätzlich anhand »egoistischer« Strategien für das eigene Leben. Dies sehe ich darin begründet, dass der Mensch in hohem Maße genussfähig und zudem imstande ist, zukünftigen Genuss zu planen. Er empfindet Freude durch den Besitz von Luxusgütern, durch das Reisen, durch erlesene Speisen, guten Sex, durch die Künste und geistigen Austausch. So kommt es vor, dass sich Menschen in Beziehungen begeben, die gemeinsamen Nachwuchs von vornherein ausschließen, jedoch einige dieser hedonistischen Bedürfnisse befriedigen. Sei es eine junge Frau, die eine Verbindung zu einem betagten, aber wohlhabenden Lebemann eingeht, weil er ihr ein luxuriöses Leben und damit das Gefühl von Erhabenheit ermöglicht; sei es ein Mann, der bei seiner unfruchtbaren Frau geistige Entsprechung und sexuelle Erfüllung erfährt. Viele Attraktivitätsmerkmale haben also jenseits ihrer Wirksamkeit bezüglich erfolgreicher Fortpflanzung einen davon unabhängigen Wert, weil sie imstande sind, das Leben des Liebenden mit Wohlgefühl anzureichern. Daher können hedonistische Strategien zur eigenen Lustoptimierung ebenso die Partnerwahl beeinflussen wie solche zur Optimierung der Reproduktion. Der Fortpflanzungstrieb ist eine überaus mächtige, aber eben nicht die einzige Triebfeder menschlichen Planens und Handelns. Woher aber kommen die individuellen Präferenzen, die persönlichen Vorlieben bei der Partnerwahl, von denen weiter oben die Rede war? Sie entstehen durch individuellen Kontakt des Menschen mit der Welt. Eine frühkindliche Prägung der Partnerwahlkriterien nahm bekanntermaßen schon Sigmund Freud an: »Der einfachste Fall gestaltet sich für das männliche Kind in folgender Weise: Ganz frühzeitig entwickelt es für die Mutter eine Objektbesetzung, die von der Mutterbrust ihren Anfang nimmt […]; des Vaters bemächtigt sich der Knabe durch Identifizierung. Die beiden Beziehungen gehen eine Weile nebeneinander her, bis durch die Verstärkung der sexuellen Wünsche nach der Mutter und die Wahrnehmung, dass der Vater diesen Wünschen ein Hindernis ist, der Ödipuskomplex entsteht.« 225 225 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es – Metapsychologische Schriften. Frankfurt a. M.: Fischer 2009, S. 270 f.

174 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

In einer anderen Publikation führt er weiter aus: »Auch wer die inzestuöse Fixierung seiner Libido glücklich vermieden hat, ist dem Einfluss derselben nicht völlig entzogen. Es ist ein deutlicher Nachklang dieser Entwicklungsphase, wenn die erste ernsthafte Verliebtheit des jungen Mannes, wie so häufig, einem reifen Weibe, die des Mädchens einem älteren, mit Autorität ausgestatteten Manne gilt, die ihnen das Bild der Mutter und des Vaters beleben können. In freierer Anlehnung an diese Vorbilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich. Vor allem sucht der Mann nach dem Erscheinungsbild der Mutter, wie es ihn seit den Anfängen der Kindheit beherrscht […].« 226 Dieser Prozess erfolgt dem berühmt(-berüchtigt)en Psychoanalytiker zufolge zumeist vollkommen unterbewusst. Auch zeitgenössische Psychologen gehen von einem starken Zusammenhang zwischen elterlicher Prägung und dem Liebesverhalten aus. So wird unter anderem angenommen, dass die in der frühen Kindheit angelegten Beziehungsmuster zu den jeweiligen Bezugspersonen in den Liebesbeziehungen des erwachsenen Menschen wieder auftreten: »Der Mechanismus der emotionalen Bindung zwischen erwachsenen Partnern ist demnach eine Exaptation, also ein Transfer eines ursprünglich in einem bestimmten Kontext entstandenen, hoch adaptiven Mechanismus (Bindung des Kleinkindes an die Bezugsperson) im Dienste anderer Funktionen (Bindung der Eltern aneinander).« 227 Ich bin der Auffassung, dass solche Überlegungen mit ausdrücklichem Konjunktiv formuliert werden sollten und darüber hinaus nicht als exklusives Element der Partnerwahlprägung postuliert werden dürfen. Frühkindliche Sexualprägung durch das gegengeschlechtliche Elternteil mag mitunter eine Rolle spielen, jedoch macht der junge Mensch unzählige elternunabhängige Erfahrungen, die ebenfalls ihre Spuren in seinem Liebesverhalten hinterlassen. Außerdem ist schwer haltbar, dass die freudschen Prägmechanismen bei jedem Individuum zum Tragen kommen – zu verschieden sind die Gemüter der jungen Menschen und zu großen Einfluss haben die vielfältigen Familienformen mit ihren spezifischen Bindungen. Es ist ein Modell, das eine mögliche Funktion menschlicher Prägung benennt, und als solches verstanden ist es durchaus nützlich. Die Schlussfolgerungen von Freund und Keil, nach denen der Bindungstyp zwischen erwach226 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 6. Auflage. Leipzig und Wien: Deuticke 1925, S. 103. 227 Freund u. Keil, Ein Grund zu bleiben, S. 179.

175 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

senen Partnern auf erlebte kleinkindliche Bindungen zu den Bezugspersonen zurückgeführt wird, sind grundsätzlich nachvollziehbar und empirisch gestützt. Allerdings darf hierbei nicht der Eindruck entstehen, dass die Liebesbindung erst aufgrund der kindlichen Bindung entsteht. Die Begriffe »ursprüngliche Funktion« und »Exaptation« impliziert diese Ansicht in gewisser Weise, weil mit letzterem ein neuartiges Merkmal gemeint ist, das ohne seinen funktionellen Ursprung nicht entstanden wäre. 228 Doch Waisen entwickeln ebenfalls Liebesverhalten, auch wenn das Fehlen der Elternbindung hierfür natürlich einen prägenden Faktor darstellt. Helen Fisher vertritt eine breitere Theorie zur individuellen Präferenzbildung: »[…] der allerwichtigste von allen Einflüssen, die uns bei der Partnerwahl leiten, ist meiner Ansicht nach die persönliche Erfahrungsgeschichte – die zahllosen Erlebnisse in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, die unsere Vorlieben und Abneigungen immer wieder neu geprägt haben. All diese Einflüsse wirken zusammen und erzeugen eine individuelle, größtenteils unbewusste psychische Schablone – eine ganz persönliche ›Landkarte der Liebe‹.« 229 Sie folgt damit dem Psychologen John Money, der den Begriff der »Lovemap« Mitte der 80er Jahre ausarbeitete. 230 Mit einem Akzent auf der Bedeutung von Erfahrungen mit Bindung zu und von Bezugspersonen teile auch ich diese Ansicht. Die Einstellungen, Verhaltensweisen und Vorlieben aller Menschen, mit denen wir über die Jahre in engeren Kontakt treten, spirituelle Vorbilder, Medieneinflüsse, Erfolge, Enttäuschungen, sexuelle Erlebnisse und philosophische Einsichten – die Gesamtheit unserer äußerlichen und innerlichen Prägfaktoren lässt uns die Umwelt (inklusive möglicher Partner) auf eine gewisse Weise wahrnehmen, interpretieren und werten. Auf besonders direkte Weise prägt uns jede Liebe, jede Beziehung und jedes damit verbundene Glück und Leid. Hierdurch und durch unsere genetisch codierte psychische Veranlagung bilden sich unsere Vorlieben, die sich in einem mehr oder weniger scharfen mentalen Bild vom Traumpartner manifestieren. Solange wir also in Kontakt mit den Einflüssen der Welt

228 Vgl. Campbell, Neil A; Reece, Jane B.: Biologie. Herausgegeben von Jürgen Markl. 6. Auflage. Heidelberg und Berlin: Spektrum Verlag 2003, S. 560 f. 229 Fisher, Warum wir lieben, S. 143. 230 Vgl. hierzu Money, John: Lovemaps – Clinical Concepts of Sexual/Erotic Health and Pathology, Paraphilia and Gender Transposition in Childhood, Adolescence, and Maturity. New York: Irvington 1986.

176 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

stehen und uns der Liebe nicht verweigern, ist unser Bild von Beziehung und das vom Wunschpartner dynamisch. Allerdings können die zunehmenden Lebenserfahrungen auch zu einer immer weiteren Ausdifferenzierung und Verfestigung der eigenen Vorlieben führen. Wenn man bedenkt, dass jeder Mensch einen komplexen, weitgehend unbewussten Prototyp eines Partners und einer Liebesbeziehung zu diesem im Kopf trägt, verwundert es nicht, dass es mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird, jemanden zu finden, der passend erscheint. In der Jugend sind die Vorstellungen aufgrund geringer Erfahrung noch relativ undifferenziert und empfänglicher für Prägungen durch den Geliebten. Mit zunehmender Differenzierung des imaginären Ideals wird daher die Bereitschaft Kompromisse einzugehen immer entscheidender. 5.4.1.3 Liebe auf den ersten Blick – Teil B: Funktionelle Explikation Meiner Auffassung nach lässt sich mittels dieser Einsichten das häufig als mystisch und schicksalhaft empfundene Phänomen der Liebe auf den ersten Blick schlüssig erklären. Die Überlegung basiert darauf, dass der Mensch beim Erblicken einer fremden Person diese innerhalb weniger Sekunden taxiert und bewertet, ohne die zugrunde liegenden Prozesse bewusst zu erleben. Schon in den 60er Jahren prägte der Soziologe Hans L. Zetterberg den Begriff »secret ranking«. Nach seiner Theorie haben die verschiedenen Mitglieder einer sozialen Gruppe einen bestimmten »erotic rank« – eine unausgesprochene und insofern geheime, aber durch die Gruppe und das Verhalten der Person bestimmte, mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeit, das andere Geschlecht emotional und sexuell anzuziehen: »[…] a person’s erotic ranking is the secretly kept probability that he can induce an emotional overcomeness among persons of the opposite sex.« 231 Es gibt sichtbare Indizien für einen hohen Attraktivitätsrang (z. B. Reichtum, Berühmtheit, akademischer Grad, sexueller Kontakt mit vermeintlich begehrenswerten Personen), die allerdings nicht sehr verlässlich sind. Denn erst im geistigen und körperlichen Intimkontakt offenbart sich, wie begehrenswert eine Person wirklich ist: »If a 231 Zetterberg, Hans L.: The secret ranking (1966). In: Plummer, Ken (Hrsg.): Sexualities. Critical concepts in sociology. II. Some Elements for an Account oft he Social Organization of Sexualities. London: Taylor & Francis Group 2002, S. 245.

177 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

surrender to visible status is pursued into the private world of the object of infatuation, the actual erotic rank may end up very differently from the one inferred from visible status characteristics: the famous doctor may turn out to be a narrow-minded bore, the rich girl a drab lover, the celebrated actor or popular singer an insecure mother’s boy, et cetera.« 232 Diese Personen täuschen nicht unbedingt absichtlich, ihr gesellschaftlicher Rang entspricht einfach nicht ihrem erotic rank. Die Bewertung einer fremden Person erfolgt aber nicht ausschließlich bezüglich attraktivitätsrelevanter Parameter, sondern ganz allgemein und innerhalb kürzester Zeit, wie eine Meta-Studie von Nalini Ambady und Robert Rosenthal zur Aussagekraft von »thin slices of behavior« über die Eigenschaften fremder Personen zeigte: »[…] the thinness of the slice does not seem to affect the accuracy of predictions: Judgments from under 30 s of observation were as accurate as those made from 5-min observations. […] Our findings indicate clearly that certain affective, interpersonally oriented dimensions of personality can be judged quite rapidly, efficiently, and accurately.« 233 Eine blitzschnelle und unbewusste Einschätzung von Konstellationen und Personen ist aus evolutiver Sicht leicht zu erklären: Würden wir jede Situation anhand neokortikaler Aktivierungen einer bewusst-reflexiven Bewertung unterziehen, so würde uns in Notsituationen keine Zeit mehr für überlebenswichtige Reaktionen bleiben. Auf eine Bedrohung, zum Beispiel durch eine bevorstehende körperliche Attacke, reagieren wir »instinktiv« (also ohne Umweg über Hirnareale des Bewusstseins und der Reflexion) mit Abwehrhaltung, Gegenangriff oder Flucht. Denn wer unter solchen Bedingungen gedankenverloren dasteht, ist wehrlos und leichte Beute für Feinde und Prädatoren. Aus diesem Grund und weil eine schnelle und sichere Einschätzung auch Vorteile bei der Ressourcensicherung einbringt hat sich die neurale Fähigkeit zur spontanen Taxierung von Situationen und Personen evolutiv herausgebildet und gefestigt. Doch nicht nur die Phylogenese, auch die Ontogenese spielt eine wichtige Rolle bei dieser Funktion. Für die schnelle Bewertung eines fremden Menschen ist es notwendig, auf vorhandene Prototypen zugreifen zu können. Andernfalls müsste jedes Mal, wenn wir Ebenda, S. 248. Ambady, Nalini; Rosenthal, Robert: Thin Slices of Expressive Behavior as Predictors of Interpersonal Consequences: A Meta-Analysis. In: Psychological Bulletin 111 (1992), 2, S. 267. 232 233

178 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

eine unbekannte Person erblicken, ein neues Persönlichkeitsbild entworfen werden, was für situativ-strategisches Handeln wiederum viel zu zeitaufwendig wäre. Diese Stereotypen menschlicher Vielfalt bilden wir anhand unserer persönlichen Erfahrungen mit unserer sozialen Umwelt. 234 Die resultierenden Einschätzungen sind, wie die Studie von Ambady und Rosenthal zeigt, im Groben relativ verlässlich (etwa bezüglich aggressiver Tendenzen, der sozialen Stellung und der äußerlichen Attraktivität). Mit fortführender Bewertung, ohne Abgleich am realen Menschen durch persönlichen Kontakt, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Fehleinschätzung jedoch rapide an. Der Mensch hat also einerseits die Gabe einer blitzschnellen Einschätzung fremder Personen, bei der er auf bestehende Stereotypen zurückgreift und die in den Bereich der freien Spekulation abdriften kann. Andererseits generiert er durch seine Erfahrungen mit Liebe, Beziehungen und der Welt ein zunehmend differenziertes mentales Bild eines idealen Partners. Um die Liebe auf den ersten Blick zu verstehen, muss man diese zwei Merkmale nun nur noch funktionell verknüpfen: Angenommen sei ein Mann Anfang zwanzig auf der Suche nach einer geeigneten Partnerin (ich wähle diese Altersgruppe, weil sie in der Regel genügend Erfahrungen gemacht hat, um ein relativ detailliertes Idealbild zu besitzen, und zu wenig, um zu erkennen, dass es keine reale Entsprechung desselben gibt). Erblickt er nun eine Frau, deren Aussehen, Bewegungen und Lächeln ihn an die entsprechenden Reize seiner Traumpartnerin erinnern, so projiziert er innerhalb von Sekunden diesen speziellen Prototyp auf die reale Person. 235 Angetrieben von brennendem Interesse und erregter Hinwendung überschüttet er sie im Geiste mit all den idealen Assoziationen seiner Traumfrau – ihrem faszinierenden Charakter, ihrem betörenden Geruch, dem warmen Klang ihrer Stimme, der Perfektion ihres nackten Körpers, dem anregenden geistigen Austausch im Gespräch, dem glücklichen Leben mit ihr und den wohlgeratenen gemeinsamen Kindern. Je nach emotiver und geistiger Konstitution schenkt er seinen Ideen weiterhin Glauben und kann sein Glück gar nicht fassen, unter allen Menschen tatsächlich die perfekte Frau gefunden zu haben. Noch bevor er ein einziges Wort mir ihr gewechselt hat, ist er verliebt. Doch auf gewisse Weise war er das schon vorher, nämlich Vgl. Ebenda, S. 267. Vgl. Perper, Timothy: Sex Signals. The Biology of Love. Philadelphia: ISI Press 1985, S. 15. 234 235

179 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

in sein selbst kreiertes Idealbild. Zum Liebesausbruch reichte dann ein auf den ersten Blick passendes Stück Realität, an dem sich die Liebe – dem Sinnbild Stendhals folgend – auskristallisieren konnte. Diese Glorifizierung kann im weiteren Verlauf dazu führen, dass der Mann jene Eigenschaften der Frau, die von seinen idealen Vorstellungen abweichen, nicht wahrnimmt oder sie als Würze übriger Perfektion gleichermaßen glorifiziert. Wer sich dem Geschilderten vollständig hingibt, durchlebt den platonischen Liebesmythos des Aristophanes tatsächlich: Er ist überzeugt, den idealen Menschen gefunden zu haben, mit dem er in perfekter Passung ein vollendetes Ganzes bildet, er glaubt, seine »verlorene Hälfte« zu erblicken. In Wirklichkeit jedoch erblickt er bloß sein imaginatives Ideal, das sich seit seiner Kindheit ausgeformt hat und in diesem Moment an der realen Existenz eines Individuums belebt. Aufgrund dieser Verwechslung folgen auf die Zeit der Entrückung häufig Enttäuschung und Fassungslosigkeit über die eigene Verblendung. 236 Im besten Fall aber erfolgt eine realistischere Sicht auf den anderen und eine reflexive Abkehr von imaginierten Idealbildern, denn nur so hat die Liebe eine Chance auf Beständigkeit. Hierfür müssen die unbewussten Prozesse zur Bildung einer fiktiven Idealperson sowie zur Projektion dieses Prototyps auf einen realen Menschen bewusst werden. Durch diese Erkenntnis ist man natürlich nicht vor der Überwältigung plötzlicher Verliebtheit gefeit, man kann seinem Handeln aber ein wenig relativierende Vernunft zur Seite stellen, um einer unter Umständen folgenschweren Selbsttäuschung vorzubeugen. Nach dem ersten heimlichen Blick, der gewiss nicht immer Verliebtheit auslöst, folgt nun der erste Kontakt samt seiner Fülle bewusster und unbewusster Kommunikation mit der realen Person. Diese Vorgänge werden Gegenstand des nachfolgenden Kapitels sein.

236 Sicher gibt es auch Fälle, in denen die gegenseitige Glorifizierung lange anhält. Es ist wohl auch nicht grundsätzlich auszuschließen, dass sich Menschen begegnen, die jeden Tag aufs Neue überwältigende Faszination aufeinander ausüben. In den allermeisten Fällen wird es aber die Liebe zum, oder besser, die Abhängigkeit vom romantischen Ideal der Postmoderne sein, die die Beziehung mit überschwänglicher Leidenschaft auflädt, anstatt der originären Hinwendung zum anderen. Selbst- und kulturkritischen, aufgeklärten Partnern, die imstande sind, sich, ihre Gefühle und die Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse zu reflektieren, und die keinem mystischen Glauben anhängen, wird diese Überhöhung kaum gelingen.

180 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

5.4.2 Signale der Zuneigung Die verschiedenen Wege nonverbaler Kommunikation zwischen Menschen untergliedere ich in zwei Aspekte: Zuerst wende ich mich der Physiologie des olfaktorischen Austauschs von Informationen zu. Anschließend werde ich die Expressionen der Gestik, der Stimme und des Gesichtsausdrucks beim Kontakt potenzieller Partner beleuchten. 5.4.2.1 Der »Olfaktor« der Liebe »[…] the sense of smell has largely been underestimated in reproductive behaviours and it has long been assumed that humans are ›microsmatic‹ (poorsmellers) and rely essentially on visual and verbal cues when assessing potential mates. Certainly visual stimuli play a key role in the perceptions of others within a sociosexual context, especially at a distance, but when individuals get closer and personal intimacy is increased, it is likely that smell also plays a key role a variety of sociosexual behaviours.« 237 Diese Zeilen von Grammer, Fink und Neave weisen auf die stiefkindliche Rolle des menschlichen Geruchssinns in der physiologischen Verhaltensforschung des Zwanzigsten Jahrhunderts hin. Allerdings herrscht seit einigen Jahren ein immer größeres wissenschaftliches Interesse an olfaktorischer Perzeption, vor allem bezüglich der subtilen Verursachung von Emotionen und der Prozesse menschlicher Partnerwahl. Der körpereigene Geruch eines Menschen ist ein Cocktail der Düfte verschiedenster Substanzen. Von besonderer Bedeutung jedoch sind die Sekrete dreier Arten exokriner Drüsen in der Haut. Neben den gewöhnlichen Schweißdrüsen, die sich über den gesamten Körper verteilen, und den ebenso verbreiteten Talkdrüsen, sind es die apokrinen Schweißdrüsen, die maßgeblich den Körpergeruch eines Menschen mitbestimmen. Sie befinden sich im Schambereich, um die Brustwarzen, in Teilen des Gesichts und in großer Anzahl in den Achselhöhlen, nehmen ihre Aktivität erst mit der Pubertät auf und sezernieren verstärkt bei Emotionen wie Angst, Wut und Erregung. 238 237 Grammer, Karl; Finka, Bernhard; Neave, Nick: Human pheromones and sexual attraction. In: European Journal of Obstetrics & Gynecology and Reproductive Biology 118 (2005), 2, S. 136. 238 Wedekind, Claus: Body odours and body odour preferences in humans. In: Dubar, Robin I. M. (Hrsg.): Oxford handbook of evolutionary psychology. Oxford: Oxford University Press 2007, S. 315–320.

181 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

Ihr Sekret scheint eine wichtige Rolle bei der intergeschlechtlichen Attraktion zu spielen, worauf ich weiter unten detailliert eingehen werde. Abgesehen von den dermalen Drüsen wird der spezifische Geruch einer Person zusätzlich durch die chemische Zusammensetzung des Speichels, des Urins und des weiblichen Vaginalsekrets beeinflusst. 239 Darüber hinaus sind die Gerüche eines Menschen stark von seiner Nahrung bzw. deren Metabolisierung abhängig. Es gibt drei relevante Wege der Perzeption und der neurophysiologischen Verarbeitung von Körpergerüchen. Die ersten beiden Erregungsprozesse haben ihren Ursprung in dem Teil der Nasenschleimhaut, der für das Riechen zuständig ist, der Regio olfactori. Sie liegt beidseits des oberen Nasenseptums sowie im Bereich der oberen Nasenmuscheln und integriert die sogenannten Riechzellen. Hierbei handelt es sich um primäre Sinneszellen, was bedeutet, dass sie sowohl Rezeptorfunktion für die Geruchsmoleküle der eingeatmeten Luft besitzen als auch das dadurch entstandene Aktionspotenzial über lange Axone ohne neurale Zwischenschaltungen in ein Hirnareal weiterleiten. Die Leitungen der Riechzellen enden synaptisch an den Neuronen des Bulbus olfactorius, einem Teil des olfaktorischen Kortex und Ausgangspunkt des Nervus olfactorius. Der Riechnerv teilt sich in seinem Verlauf in zwei Einzelstränge, die Stria olfactoria lateralis und die Stria olfactoria medialis. Der laterale Nervenstrang führt letztlich zum kortikalen Primär- und Assoziationsgebiet des olfaktorischen Kortex, einem Teil der Großhirnrinde. Durch eine komplexe Verschaltung entsteht hier der bewusste Sinneseindruck olfaktorisch perzipierter Stimuli. Die Nervenfasern der Stria olfaktoria medialeis enden hingegen nicht in phylogenetisch jungen Arealen der Großhirnrinde, sondern führen zu den ursprünglicheren Hirnarealen des limbischen Systems, Thalamus und Hypothalamus. Hier entsteht kein bewusster Geruchseindruck, sondern die Stimuli werden (auch anhand von Verschaltungen mit weiteren Hirnarealen) mit Emotionen, Erinnerungen und (sexuellen) Trieben verknüpft. 240 Es kann zwar dazu kommen, dass solche Erregungen durch bewusste Reflexion aufgedeckt werden, etwa wenn man nach einiger Zeit des Stimulus darauf kommt, was man da eigentlich riecht 239 Atzmüller, Michaela; Grammer, Karl: Biologie des Geruchs: Die Bedeutung von Pheromonen für Verhalten und Reproduktion. In: Speculum – Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe 18 (2000), 1, S. 14. 240 Faller; Schünke, Der Körper des Menschen, S. 745 f.

182 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

und wieso es eine bestimmte Emotion oder Erregung auslöst. In der Regel verbleiben diese Prozesse aber latent im Unterbewusstsein: »Olfactory signals induce emotional responses even if an olfactory stimulus is not consciously perceived: this is due to the fact that olfactory receptors not only send projections to the neocortex for conscious processing (e. g. the nature of a particular aroma) but also to the limbic system for emotional processing (e. g. memories and affect associated with a particular smell).« 241 Der dritte Weg olfaktorischer Perzeption erfolgt über das sogenannte Vomeronasalorgan, kurz VNO. Es besteht aus zwei blind endenden, röhrigen Strukturen, die in die Nasenschleimhaut eingebettet sind und je eine Öffnung in den Nasenraum aufweisen. Die Rezeptoren des VNO reagieren nicht auf gewöhnliche Duftmoleküle, sondern auf größere, teilweise geruchlose Verbindungen und ihre Reizleitungen verlaufen direkt zum Hypothalamus und zur Amygdala des limbischen Systems. Ebenso wie die Aktionspotenziale, die durch die Stria olfactoria medialis verlaufen, werden also auch die Erregungen des VNO unbewusst verarbeitet und beeinflussen (im weiteren neuroendokrinen Verlauf u. a. über die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse) das generative und emotive Verhalten des Riechenden. Damit ist es prädestiniert für die Perzeption von Pheromonen. 242 Bevor ich genauer auf einige Duftsubstanzen des Körpers und deren Wirkungen eingehe, ist also zu konstatieren, dass zwei der drei olfaktorischen Perzeptionswege unmittelbare und unbewusste emotive und/oder triebbezogene Reaktionen induzieren. Des Weiteren ist zu bemerken, dass man sich solchen Einflüssen kaum entziehen kann, da Menschen im Normalfall durch die Nase atmen und keine bewusste Wahrnehmung erfolgt, auf die mit einem Ortswechsel reagiert werden könnte. Grammer; Finka u. Neave, Human pheromones and sexual attraction, S. 136. Ob das VNO bei (allen) Menschen vorhanden ist und inwiefern es grundsätzlich und speziell in Bezug auf Pheromone fungiert, ist nicht abschließend geklärt (bei anderen Säugetieren sind diese Annahmen hingegen bestätigt). Ich möchte mich hier und im weiteren Verlauf meiner Arbeit der überwiegenden Lehrmeinung anschließen und von der funktionalen Existenz ausgehen (vgl. bspw. Faller; Schünke, Der Körper des Menschen, S. 747 f.). Sollte sich in zukünftigen Studien herausstellen, dass das Organ beim Menschen inaktiv ist, so würde dies für die naturphilosophischen Betrachtungen meiner Arbeit unterdes kein Problem darstellen. Denn die Regio olfactori vermittelt über die Stria olfaktoria medialis eine ebenso unbewusste Erregung der »emotiven Zentren« des Gehirns, die ihrerseits die Aktivität endokriner Hormonausschüttung steuern können. 241 242

183 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

5.4.2.1.1 Die Lockstoffe der Geschlechter Für den Aspekt der Partnerwahl sind natürlich solche Duftstoffe von Bedeutung, die vom Körper eines Menschen ausgehen und in einem anderen Menschen wirken, indem sie physiologische Prozesse einleiten. Stoffe, die innerartlich einen solchen Effekt haben, nennt man im Allgemeinen Pheromone. Vor allem bei Insekten ist der Einsatz von Duftlockstoffen als molekularer Wegweiser zum paarungsbereiten Artgenossen schon seit einigen Jahrzehnten Forschungsgegenstand. Dementgegen waren solche Zusammenhänge beim Menschen lange Zeit umstritten. Mit der Vermutung jedoch, dass wir ein funktionstüchtiges Vomeronasalorgan besitzen, das geschlechtsspezifisch auf Duftstoffe reagiert, intensivierte sich die Forschung auf diesem Gebiet. Im Fokus der Untersuchungen stehen aufseiten männlichen Körpergeruchs vor allem zwei Bestandteile des Sekrets apokriner Schweißdrüsen: der Alkohol 5α-androst-16-en-3α-ol, genannt Androstenol und das Keton 5α-androst-16-en-3-on, genannt Androstenon. 243 Beide Stoffe werden nicht direkt in dieser Form sezerniert, sondern aus geruchlosen Vorläufersubstanzen umgesetzt. Die Ergebnisse zahlreicher Experimente der Folgejahre deuten darauf hin, dass sich Frauen durch Androstenol zu Männern hingezogen und/oder sexuell stimuliert fühlen und dadurch kontaktbereiter werden, 244 wie Karl Grammer in einem für das junge Forschungsgebiet bedeutenden Aufsatz konstatierte: »Thus it has repeatedly been shown that females find this smell attractive and that the perception of this odor can increase female sexual arousal […]. These results then indicate that androstenol can induce positive […] attitudes towards male, suggesting that androstenol may be a male sex pheromone, enhancing attractiveness.« 245 Und einige Jahre später: »If we regard the androstenol–androstenone signaling system, the situation for androstenol seems clear, it makes males more attractive for females.« 246 243 Atzmüller; Grammer, Biologie des Geruchs: Die Bedeutung von Pheromonen für Verhalten und Reproduktion, S. 14. 244 Vgl. z. B. Filsinger, E. E.; Monte W. C.: Sex history, menstrual cycle, and Psychophysical Ratings of Alpha Androstenone, a Possible human sex pheromone. In: Journal of sex research 22 (1986), S. 243–248. sowie Cowley, J. J.; Brooksbank, B. W. L.: Human exposure to putative pheromones and changes in aspects of social behaviour. In: Journal of Steroid Biochemistry and Molecular Biology 39 (1991), 4B, S. 647–659. 245 Grammer, Karl: 5-α-androst-16en-3α-on: A Male Pheromone? A Brief Report. In: Ethology and Sociobiology 14 (1993), 3, S. 202. 246 Grammer; Fink u. Neave, Human pheromones and sexual attraction, S. 141.

184 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Androstenol oxidiert jedoch nach kurzer Zeit zu Androstenon, das der olfaktorischen Wahrnehmung nach an Urin erinnert und für den oftmals strengen männlichen Achselgeruch verantwortlich ist. Erwartungsgemäß konnte man für die Perzeption dieser Geruchsmoleküle einen umgekehrten, also regelrecht abstoßenden Effekt auf Frauen nachweisen. 247 Die Situation verschärft sich noch dadurch, dass der strenge Duft des Androstenons die Komposition des Achselgeruchs dominiert. Wie kann es biologisch sinnvoll sein, einen potenziellen Geschlechtspartner gleichzeitig anzuziehen und abzustoßen? Und wenn der Geruch des Androstenons so stark ist, sind dann nicht jene Männer im Vorteil, die erst gar keine Steroide sezernieren? Grammer fand die Lösung in der Abhängigkeit des weiblichen Geruchsempfindens vom Menstruationszyklus: »Male body odor is usually perceived as unattractive and unpleasant by females but this evaluation changes at the point in the menstrual cycle when conception is most likely. […] Thus the change in female attitudes towards male body odor could have a strong impact on mate selection and perhaps self-initiated copulations by females.« 248 Frauen fühlen sich also im Allgemeinen durch den Geruch von Androstenol angezogen und empfängnisbereite Frauen fühlen sich durch den Geruch von Androstenon weniger abgestoßen. Hierdurch wird der biologische Vorteil ersichtlich: Wer Steroide schwitzt, hat vielleicht nur ebenso viele Sexualkontakte wie ein Mann, der völlig neutral riecht, jedoch mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit solche, aus denen Nachkommen hervorgehen: »A philandering male producing androstenone would have more chances for reproduction than a nonproducing male. Non-ovulating females react negatively to the same cue. On average these males could contact more females exactly at ovulation and thus have higher chances of fertilizing. A nonproducing male would do relatively poorly in such a population.« 249 Aber ist Androstenon dann wirklich als Pheromon zu bezeichnen? Auch wenn es in den meisten Publikationen als solches gehandelt wird, bin ich der Auffassung, dass es sich (zumindest was den beschriebenen Effekt betrifft) eher um eine Art »transpirativen Selektionsstoff« als um ein klassisches Pheromon handelt, weil es keine direkten physiologi247 Vgl. Filsinger; Monte: Sex history, menstrual cycle, and Psychophysical Ratings of Alpha Androstenone, a Possible human sex pheromone, S. 243–248. 248 Grammer, 5-α-androst-16en-3α-on: A Male Pheromone? A Brief Report, S. 206. 249 Ebenda, S. 206.

185 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

schen Änderungen im Körper der Frau initiiert. Die veränderte Wahrnehmung geht von der zyklusabhängigen Ausschüttung der eigenen Hormone aus und Androstenon wirkt in diesem Zusammenhang nur passiv. Nichtsdestoweniger hat das Steroid einen bedeutenden, allen Beteiligten unbewussten Effekt: Über das Verhalten der Frauen befähigt es den Mann, die beim Menschen vermeintlich versteckt ablaufende Ovulation zeitlich zu detektieren. 250 Androstenol hingegen scheint tatsächlich als männliches Sexualpheromon zu wirken. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass Stoffe mit solcher Wirkung vor allem über das Vomeronasalorgan perzipiert werden und sich dadurch vom Riechenden unbemerkt auf neuroendokrine Vorgänge und schließlich auf dessen Verhalten auswirken. Diese Annahme wird unter anderem dadurch gestützt, dass die Rezeptoren des VNO geschlechtsspezifische Unterschiede in der Reaktion auf die einzelnen Pheromone aufzuweisen scheinen. 251 Im Falle von Androstenol und 250 An dieser Stelle möchte ich die Frage aufwerfen, ob die Ovulation der Frau dann tatsächlich als verdeckt gelten kann, zumal sie auch auf anderen Wegen zum Ausdruck kommt: Es wurde festgestellt, dass sich Frauen an ihren fruchtbaren Tagen freizügiger kleiden (Grammer, Renninger u. Fischer, Disco clothing, female sexual motivation, and relationship status: Is she dressed to impress?, S. 66–74), einen feminineren Gang haben (Grammer, Karl et al.: Bodies in motion: a window to the soul. In: Voland, E.; Grammer, K. (Hrsg.): Evolutionary Aesthetics. Heidelberg/ Berlin/ New York: Springer 2003, S. 295–324.) und dass ihr Gesicht in der fertilen Phase von Männern und Frauen als attraktiver empfunden wird als während der Lutealphase (Roberts, S. Craig et al.: Female facial attractiveness increases during the fertile phase of the menstrual cycle. In: Proceedings of the Royal Society (2004), B 271, S. 270– 272.). In einer Studie von 2012 ermittelten Oberzaucher et alii sogar, welche Parameter der Gesichtsgeometrie sich wie verändern, um die ovulierende Frau gesünder, jünger, liebenswürdiger und sexyer erscheinen zu lassen (vgl. Oberzaucher et al.: The Myth of hidden ovulation: Shape and texture changes in the face during the menstrual cycle. In: Journal of Evolutionary Psychology 10, (2012), 4, S. 173.). Aufgrund dieser Erkenntnisse bin ich der Meinung, dass der Begriff »verdeckte Ovulation« abgeändert werden sollte. Zwar würde wohl kaum ein Mann zu seinem Freund sagen »Schau mal, die da drüben sieht aber sexy aus, sie ovuliert sicher gerade!«, aber das denken sich auch die Paviane nicht, wenn sie sich von Weibchen mit geschwollenen Hinterteilen angezogen fühlen. Nur weil der Ursprung einer Attraktion nicht bewusst wird, ist er nicht automatisch verdeckt, vor allem dann nicht, wenn ein direkter funktioneller Zusammenhang zum Ursprung besteht: Männer finden Frauen während der Zeit ihres Eisprungs attraktiver und Frauen fühlen sich zu dieser Zeit vom Geruch der Männer weniger abgestoßen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit des Geschlechtsverkehrs während der fertilen Tage und somit der erfolgreichen Fortpflanzung. Eine bessere Bezeichnung als »verdeckte Ovulation« wäre daher »unbewusst perzipierbare Ovulation«. 251 Vgl. Grammer, Karl; Jütte, Astrid u. Fischmann, Bettina: Der Kampf der Ge-

186 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Androstenon sollte der Stimulus zusätzlich über die Regio olfactori und die Stria olfactoria lateralis in den Neokortex gelangen, denn die Substanzen besitzen auch einen bewusst wahrnehmbaren Geruch. 252 Auch Frauen produzieren eine gewisse Menge Androgene aus ihren apokrinen Schweißdrüsen, allerdings bei Weitem nicht in demselben Maße wie Männer. Als weibliche Pheromone stehen daher ganz andere Substanzen in Verdacht: die sogenannten Kopuline, Mischsubstanzen aus kurzkettigen Fettsäuren im Vaginalsekret der Frau. In einer Studie von Astrid Jütte et alii 253 bekamen 66 Männer je eine von vier Geruchsproben zur Inhalation gereicht. Drei davon waren synthetische Mischungen aus Essig-, Propan-, Butan-, Methylpropan- und Methylbutansäure, die den realen Kopulinzusammensetzungen der Zyklustage 2 (Menstruation), 14 (Ovulation) und 29 (prämenstruell) entsprachen. Die Konzentration im Medium (H2O) betrug 4 Promille, was in etwa der Grenze für eine bewusste Geruchswahrnehmung dieser Stoffe entspricht. Die vierte Geruchsprobe enthielt reines Wasser als Kontrolle. Während der Inhalation bekamen die Probanden Gesichtsaufnahmen von verschiedenen Frauen gezeigt, um diese bezüglich Attraktivität, Alter und Dominanz zu bewerten und um den Grad des eigenen Interesses an einer Bekanntschaft mit der abgebildeten Person anzugeben. Zudem wurde vor und nach dem Versuch der Testosteronspiegel der Probanden festgestellt. Nach Auswertung der Daten zeigte sich, dass die drei verschiedenen Kopulinpräparate bezüglich ihres Einflusses auf die Attraktivitätsbewertung zwar kaum voneinander abwichen, jedoch im Vergleich mit der Kontrollprobe ein deutlich positiveres Votum hervorriefen – allerdings nicht linear zur unbeeinflussten Bewertung. Vielmehr zeigte sich eine die bestehenden Attraktivitätsunterschiede ausgleichende Wirkung: »Je unattraktiver die Frau ohne Geruch eingeschätzt wird, desto mehr gewinnt sie durch die Kopulinwirkung […]. schlechter und der Krieg der Signale. In: Kanitscheider, Bernulf (Hrsg.): Liebe, Lust und Leidenschaft. Sexualität im Spiegel der Wissenschaft. Stuttgart: Hirzel 1998, S. 16 f. sowie Atzmüller u. Grammer, Biologie des Geruchs: Die Bedeutung von Pheromonen für Verhalten und Reproduktion, S. 12–18. 252 Neben den geschilderten Wirkungsweisen von männlichem Schweiß wurde auch herausgefunden, dass die enthaltenen Pheromone auf den weiblichen Ovulationszyklus einwirken können (vgl. Cutler et al: Human axillary secretions influence women’s menstrual cycle: the role of donor extract from men, S. 463–473.). 253 Vgl. Grammer; Jütte u. Fischmann, Der Kampf der Geschlechter und der Krieg der Signale, S. 20–25.

187 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

Der Effekt läuft auf eine Egalisierung der Frauen hinaus. Männer verlieren unter dem Einfluss von Kopulinen ihre kritische Haltung gegenüber der Attraktivität von Frauen.« 254 Dementsprechend verhielt es sich auch bezüglich der anderen Parameter: Dominante Frauen wurden submissiver, submissive Frauen dominanter eingeschätzt, junge Frauen wurden älter geschätzt, alte hingegen für jünger gehalten. Auch die Bereitschaften, mit den abgelichteten Personen Bekanntschaften einzugehen, näherten sich an. Des Weiteren stiegen die Testosteronwerte der Probanden durch Inhalation der Kopuline signifikant an, wohingegen sie bei den Versuchsteilnehmern, die der Kontrollprobe zugeteilt waren, abfielen. Ein besonders drastischer Anstieg wurde bei der Kopulinkomposition festgestellt, die der ovulierender Frauen entsprach. Demnach erscheinen Frauen, die gerade einen Eisprung haben, Männern zwar nicht bewusst attraktiver als andere, jedoch ist die männliche Aufmerksamkeit für sexuelle Stimuli empfängnisbereiter Frauen durch den gesteigerten Testosteronspiegel erhöht. Zu diesem Effekt wurde im Jahr 2007 eine interessante Studie veröffentlicht, in der die Autoren G. Miller, J. M. Tybur und B. D. Jordan die Abhängigkeit der Trinkgeldeinnahmen professioneller Stripperinnen von deren Zyklusphase untersuchten. Das Ergebnis war deutlich: »However, the normally cycling women made much more money during estrus (about US$ 354 per shift) – about US$ 90 more than during the luteal phase and about US$ 170 more than during the menstrual phase. Estrous women made about US$ 70 per hour, luteal women made about US$ 50 per hour, and menstruating women made about US$ 35 per hour.« 255 Miller und seine Kollegen räumen jedoch ein, dass diese Resultate nichts (oder nicht nur) mit dem Körpergeruch der Tänzerinnen zu tun haben müssen. Aufgrund der unbewussten Wirkung der Kopuline auf den Testosteronspiegel erscheint wahrscheinlich, dass auch bei ihnen eine zusätzliche Perzeption über das VNO oder eine Reizleitung über die Stria olfactoria medialis stattfindet. Hierdurch wird der Hypothalamus angeregt, das Hormon Gonadoliberin (GnRH) zu sezernieren, das wiederum die Hypophyse stimuliert, das luteinisierende Hormon

254 Grammer, Jütte u. Fischmann, Der Kampf der Geschlechter und der Krieg der Signale, S. 22 f. 255 Miller, Geoffrey; Tybur, Joshua M. u. Jordan, Brent D.: Ovulatory cycle effects an tip earnings by lap dancers: economic evidence for human estrus? In: Evolution and human behavior 28 (2007), S. 379.

188 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

(LH) auszuschütten, das seinerseits schließlich die Leydig’schen Zwischenzellen der Testes anregt, Testosteron zu sezernieren. Außerdem bewirkt GnRH die Ausschüttung des Hypophysenhormons Follitropin, das beim Mann die Spermienbildung stimuliert. Durch diese physiologischen Veränderungen in einem anderen Individuum der eigenen Art sind die Kopuline im Vaginalsekret der Frau eindeutig als Sexualpheromone zu bezeichnen. Bevor ich mich der olfaktorisch vermittelten Individualpassung zuwende, möchte ich noch auf einen Aspekt zum Hormon- bzw. Pheromonhaushalt und zur Perzeptionsfähigkeit der Frau hinweisen: Durch Verhütung durch hormonelle Präparate, wie das der AntiBaby-Pille, wird bekanntlich die Ovulation unterdrückt. Das hat zur Folge, dass Frauen, die auf diese Weise verhüten, weder die beschriebene zyklusabhängige Schwankung der Kopulinzusammensetzung durchlaufen (sie produzieren auch ganz allgemein deutlich weniger des Pheromons) 256 noch eine veränderte Wahrnehmung männlicher Pheromone zum Zeitpunkt der Ovulation erfahren. 257 Diesen Frauen ist also ein Teil des Ausdrucks und der Wahrnehmung im Prozess der Partnerwahl genommen. Gewiss irren sie deshalb nicht ziellos umher, unfähig einen Partner zu finden, da neben dem Körpergeruch noch viele weitere Parameter zwischenmenschlicher Attraktion existieren. Allerdings könnte es in Partnerschaften, die während der Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva geschlossen wurden, durchaus zu Überraschungen kommen, wenn sie wieder abgesetzt werden. Ebenso könnte sich der umgekehrte Fall, bei dem während einer bestehenden Beziehung mit der Einnahme von Hormonpräparaten begonnen wird, auf die individuelle olfaktorische Kompatibilität der Partner auswirken, die ich nachfolgend besprechen möchte. 5.4.2.1.2 Individueller Geruch und Partnerwahl Die Körpergerüche der Menschen sind verschieden. Allein durch unterschiedliche Ernährung, verschiedenen Stoffwechsel, Krankheiten, unterschiedlich starke Transpiration, verschiedene Körperpflege mit unterschiedlichen Pflegeprodukten und durch die Verwendung diver256 Grammer, Jütte u. Fischmann, Der Kampf der Geschlechter und der Krieg der Signale, S. 21. 257 Vgl. ebenda, S. 19 sowie Grammer; Fink u. Neave, Human pheromones and sexual attraction, S. 137 und Thornhill, Randy; Gangstad, Steven W.: The scent of symmetry: a human sex pheromone that signals fitness? In: Evolution and Human Behavior 20 (1999), S. 175–201.

189 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

ser Duftwasser ergeben sich starke Abweichungen. Doch auch unabhängig von diesen riecht kein Mensch wie der andere, denn der spezifische Körpergeruch ist auch direkt an das Genmaterial des Individuums gebunden. Hierbei spielt ein relativ großer Chromosomenabschnitt zur Ausprägung der Immunabwehr mit funktionell eng verbundenen Genen eine wichtige Rolle, der sogenannte Haupthistokompatibilitätskomplex, kurz MHC. Die einzelnen Gene sind ausgesprochen polymorph und haben, bezogen auf den menschlichen Genpool, auffallend viele Allele, was heißt, dass sie in sehr vielen unterschiedlichen Variationen auftreten können. Sie codieren für zwei Klassen hochkomplexer Glykoproteine, die MHC-Klasse-I-Moleküle und die MHC-Klasse-II-Moleküle. Diese Verbindungen sitzen in den Plasmamembranen somatischer Zellen und haben die Funktion, chemische Fragmente von körperfremden Proteinen (Antigene) im Zellinneren zu binden und an der Zellaußenseite den T-Zellen (Zellen der Immunabwehr) zu präsentieren. Hierbei binden die sogenannten cytotoxischen T-Zellen an den Verbund aus MHC-Klasse-I-Molekül und pathogenem Peptidfragment, woraufhin sie die befallene Zelle zerstören. Die sogenannten T-Helferzellen binden an den Verbund aus MHC-Klasse-II-Molekül und pathogenem Peptidüberrest und beginnen daraufhin, chemische Signale zu senden, die andere Körperzellen dazu veranlassen, die entdeckten Krankheitserreger zu bekämpfen. Was hat das nun mit dem spezifischen Duft eines Menschen zu tun? Man nimmt an, dass die von den MHC-Molekülen nach außen beförderten Peptide den Geruch eines Menschen entscheidend beeinflussen. Hierbei sind zwei Dinge entscheidend: Zum einen, dass die MHC-Moleküle nur an solche Peptide binden können, die an den Ankerregionen entsprechende Aminosäuren tragen. Ein bestimmtes MHC-Molekül kann also immer nur eine bestimmte Art von Peptiden und somit einen bestimmten Duft nach außen vermitteln. Zum anderen muss man sich die enorme Diversität der genetischen Parameter und die physiogenetischen Abhängigkeiten vor Augen führen: Für jedes der menschlichen MHC-Gene gibt es im Schnitt etwa einhundert verschiedene Allele, wobei die meisten Menschen für all ihre MHC-Gene heterozygot sind (das heißt, sie tragen mehr als ein Allel pro Gen). Diese Vielfältigkeit hat zur Folge, dass jeder Mensch eine einmalige genetische Feinstruktur der betreffenden Chromosomenregion besitzt, die für einen ebenso einmaligen Satz von MHC-Molekülen kodiert, die ihrerseits den Körpergeruch auf beschriebene Weise individualisieren. Der für die Partnerwahl 190 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

bedeutsame Effekt besteht nun darin, dass durch die beschriebenen Mechanismen die genetischen Details des physiologisch so wichtigen Haupthistokompatibilitätskomplexes extrasomatisch kommuniziert werden. MHC-Molekül-Verbindungen wurden sowohl im Schweiß als auch im Speichel, im Urin und im Blutplasma des Menschen nachgewiesen. 258 So viel zum Prozess der »extrasomatisch-olfaktorischen Transkription«. Doch ist der Mensch tatsächlich auch in der Lage, die genetischen Nuancen der Immunsysteme seiner Artgenossen geruchlich zu diskriminieren und wenn ja, zu welchem Zweck? Hierzu machten Wedekind et alii 1995 ein wegweisendes Experiment, bei dem sie Frauen an den getragenen T-Shirts verschiedener Männer riechen ließen und sie baten, den Duft auf seine Anziehung hin zu bewerten. 259 Nach Auswertung der Daten ergab sich: »that women’s preferences for male odours correlated with the degree of similarity of their own and the men’s MHC type. T-shirt odours were judged as more pleasant when they were worn by men whose MHC genotype was different from that of the judging woman.« 260 Einige Frauen gaben sogar an, dass sie der präferierte Duft an den ihres (Ex-)Partners erinnere. Es besteht hier also eine gleichbleibende Partnerwahlpräferenz, nach der Individuen (bzw. deren Körpergeruch) attraktiver empfunden werden, deren genetische Ausprägung des MHC verschieden zur eigenen ist. Allerdings gibt es für die Attraktion durch fremdartiges Erbgut eine obere Grenze. Denn in den Folgejahren zeigten ähnliche Experimente, dass Frauen nicht solche Männer geruchlich am attraktivsten finden, mit denen sie gar keine MHC-Ähnlichkeit besitzen. 261 Es scheint also eine mittlere Alleldivergenz der Gene des Haupthistokompatibilitätskomplexes im Vergleich zu den eigenen zu geben, deren indirekter Geruch das Individuum am stärksten anzieht. Und welchen (evolutionsbiologischen) Nutzen hat diese Partnerwahlfunktion? Wie oben beschrieben, besitzen MHC-Moleküle speVgl. Wobst et al.: Molecular forms of soluble HLA in body fluids: potential determants of body odor cues In: Genetica 104 (1998), S. 275–283. 259 Wedekind et al.: MHC-dependet mat preferences in humans. In: Proceedings of the Royal Society: Biological Sciences (1995), 260, S. 245–249. 260 Wedekind, Body odours and body odour preferences in humans, S. 317. 261 Vgl. hierzu z. B. Jakob, S.; McClintock, M. K.; Zelano, B. u. Ober C.: Paternally inherited HLA alleles are associated with women’s choice of male odor. In: Nature genetics 30 (2002), 2, S. 175–179. 258

191 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

zifische Bindungsstellen für eine bestimmte Sorte von Fremdeiweißen. Daraus folgt, dass besonders viele verschiedene MHC-Moleküle ein sehr großes Spektrum von Pathogenen erkennen und mithilfe der T-Zellen bekämpfen können. Das wiederum heißt, dass ein Haupthistokompatibilitätskomplex, dessen Gene viele verschiedene Allele tragen, eine bessere Immunabwehr ausbildet, was bekanntermaßen einen entscheidenden Vorteil für das Überleben und den Fortpflanzungserfolg des Individuums bedeutet. Die weiblichen Probanden fanden also den Körpergeruch jener Männer anziehend, deren MHC in geeignetem Maße vom eigenen differierte, weil sie mit diesen Individuen Nachkommen zeugen könnten, deren Immunsystem durch ausgeprägte Heterozygotie der MHC-Gene verhältnismäßig leistungsstark wäre. 262 Allerdings muss die fremde DNA auch eine gute Kompatibilität mit der eignen aufweisen. Denn beim MHC handelt es sich um einen funktionell eng verbundenen Genkomplex, sodass die Neumischung mit einer allzu fremden Variante zu einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Systems führen könnte. 263 Zudem sind Menschen nicht überall auf der Erde denselben Krankheitserregern ausgesetzt. Eine Mischung mit den Genen eines sehr fremdartigen MHC könnte zwar eine »globalere Immunabwehr« hervorbringen, in der Region jedoch, in der das Elternteil und der potenzielle Nachkomme leben, wäre das System anfälliger. Denn die hohe Komplexität der MHC-Gene entwickelte sich in Abhängigkeit von der Entwicklung der einheimischen Pathogene – eine Art evolutives Schachturnier, das zu immer komplexeren Spielfeldstellungen führte. Erst durch die genetische Neumischung der sexuellen Fortpflanzung und die natürliche Selektion sind wir imstande mitzuspielen, nur dadurch bleibt unsere Art im ewigen Kampf gegen evolvierende Krankheitserreger und Parasiten konkurrenzfähig. Doch nicht nur die menschliche Art, auch das Individuum profitiert von seiner geschlechtlichen Zeugung: Die neue und zufällige Zusammenstellung seines MHC stellt ein »unvorhersehbar bewegtes Ziel« für sich parallel entwickelnde Pathogene dar. Der olfaktorische Apparat des Menschen scheint also tatsächlich dazu in der Lage zu sein, exakt die Duftmoleküle eines Vertreters des andern Geschlechts zu detektieren, die in Abhängigkeit zur eigenen Hiermit steht auch der allgemeine Schutz vor Inzest in Verbindung. Vgl. hierzu Jakob et al.: Paternally inherited HLA alleles are associated with women’s choice of male odor, S. 175–179. 262 263

192 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Immunausstattung eine günstige Passung und Ergänzung für ein leistungsstarkes Immunsystem des potenziellen Nachwuchses kommunizieren. Demgemäß kann es hierbei keine Attraktivitätsideale geben, da die Merkmale immer in konditionalem Verhältnis zu den eigenen stehen – nicht nur Schönheit liegt also im Auge des Betrachters, auch olfaktorische Attraktivität liegt in der Nase des Riechenden. 264 Wo genau die Perzeption dieser »Individualpheromone« stattfindet und wie die exakte neurologische Verschaltung erfolgt, ist nicht abschließend geklärt und für meine Abhandlung nicht von entscheidender Bedeutung. Das oben geschilderte »T-Shirt-Experiment« von Wedekind zeigte allerdings, dass die Moleküle bewusst wahrgenommen werden können. Man sollte hierbei jedoch bedenken, dass die Probanden explizit um eine Reflexion ihrer olfaktorischen Eindrücke gebeten und so auf den Zusammenhang von Geruch und Attraktion aufmerksam gemacht wurden. In einer tatsächlichen Partnerwahlsituation wird die geruchliche Perzeption aufgrund der Flut von Sinnesreizen, Emotionen und Gedanken zumeist unterbewusst erfolgen. Denn der Riechende nimmt weder den nach innen gerichteten »Scan« des eigenen Immunapparats noch die physiologischen Gegebenheiten und Prozesse wahr, die letzten Endes seine subtilen Präferenzen ausbilden. Alles, was er spürt, ist eine anziehende Kraft, die der direkte Kontakt zum begehrten Menschen auf ihn ausübt. 265 Welche Redensart ist nun also richtig: »Gleich und Gleich gesellt sich gern« oder »Gegensätze ziehen sich an«? Aus den bisher dargestellten Partnerwahlmechanismen kann man vereinfachend schließen, dass wir uns im Groben gern zu Gleichen gesellen und uns im Feinen von Gegensätzen anziehen lassen. Der Mensch verliebt sich 264 Die Nutzung von selbstgewählten Duftwassern übertüncht den individuellen Körpergeruch im Übrigen nicht, sondern scheint ihn noch pointieren zu können (vgl. Lenochová, Pavlína et al.: Psychology of Fragrance Use: Perception of Individual Odor and Perfume Blends Reveals a Mechanism for Idiosyncratic Effects on Fragrance Choice. In: PLoS ONE 7 (2012), 3, S. 1.). 265 Jüngere Versuche haben gezeigt, dass auch allgemeinere Attraktivitätsmerkmale über den Körpergeruch eines Menschen wahrgenommen werden können: »Furthermore, both men and women prefer the smell of individuals with lower fluctuating asymmetry, which is thought to be a marker of individual developmental stability […].« (Lenochová et al., Psychology of Fragrance Use: Perception of Individual Odor and Perfume Blends Reveals a Mechanism for Idiosyncratic Effects on Fragrance Choice, S. 1 f.) Dieser Zusammenhang erscheint sehr plausibel, hängt die Entwicklungsstabilität und damit die fluktuierende Symmetrie doch eng mit der Leistungsfähigkeit des Immunsystems zusammen (vgl. 5.4.1.1).

193 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

häufiger in Artgenossen gleicher ethnischer Herkunft, gleichen sozialen Status sowie ähnlicher Intelligenz, Bildung und allgemeiner Attraktivität. Hingegen scheint uns bezüglich des genetischen Feinbaus das Fremde anzuziehen, weil es den Nachkommen ein vielseitiges Erbgut verleiht – allerdings nur in dem Maße, dass ko-adaptive Genkomplexe nicht in ihrer Funktionalität herabgesetzt werden. Die Wahrheit liegt also wie so oft irgendwo in der Mitte: nicht zu ähnlich und nicht zu verschieden ist der ideale Partner. Bevor ich zum letzten Komplex der Partnerwahl übergehe, möchte ich noch zur Bedeutung des Geruchssinns für die Partnerwahl Stellung beziehen. Es ist unbestritten, dass die olfaktorische Kommunikation und die Wirksamkeit menschlicher Pheromone über viele Jahre unterschätzt wurden und dass das gesteigerte wissenschaftliche Interesse an diesem Forschungsgebiet auch weiterhin hilft, den Menschen in seinem emotiven Verhalten besser zu verstehen. Es darf daraus aber nicht geschlossen werden, dass der Körpergeruch allein oder dominierend über die Schließung von Partnerschaften entscheidet. Bezogen auf die Romantische Liebe bedeutet das, dass der Körpergeruch zwar bedeutendes Element der zwischenmenschlichen Zuneigung und wichtiges Partnerwahlkriterium ist, für sich genommen aber nicht hinreicht, um Liebe zu erzeugen. Denn dafür bedarf es der Erfüllung vieler weiterer Bedingungen. Umgekehrt bin ich der Auffassung, dass die übrigen Faktoren der zwischenmenschlichen Attraktion eine nicht ideale MHC-Ergänzung ausgleichen können, sodass auch in solchen Fällen eine funktionierende Paarbindung möglich ist. Solche genetische Toleranz hat sicherlich ihre Grenzen, allerdings gibt es die bei allen Attraktivitätsattributen. Die Kollektion der Faktoren menschlicher Attraktivität bildet durch individuelle Gewichtung und (unterbewusste) Kompromissbereitschaft die komplexe Gesamtattraktivität des anderen, die der eigenen in etwa entsprechen sollte. In diesem selbst- und fremdevaluativen Prozess nimmt auch die olfaktorische Attraktion ihren Platz ein. Und noch ein relativierender Gedanke: Einige der in diesem Abschnitt dargestellten Mechanismen sind ausschließlich intergeschlechtlich wirksam und auf erfolgreiche Fortpflanzung ausgerichtet. Hätten sie für die Partnerwahl und die Romantische Liebe eine dominierende Bedeutung (wie es einige Publikationen implizieren), so sollte man doch annehmen, dass homosexuelle Paare, deren Pheromonsezernierung und -perzeption nicht aufeinander ausgerichtet sind und bei denen geschlechtliche Fortpflanzung ausgeschlossen ist, Liebe und sexuelle Anziehung 194 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

grundlegend anders empfinden als heterosexuelle Menschen. Eine absurde Konklusion, die die Gefahr der Überhebung empirischer Teilerkenntnisse verdeutlicht. 266 Die Liebeswahl ist kompensatorisch und Pheromone sind nicht die einzigen Pfeile im Köcher des Amor. 5.4.2.2 Expressionen »There’s a language in her eye, her cheek, her lip, Nay, her foot speaks; her wanton spirits look out At every joint and motive of her body.« 267

Mit diesen klangvollen Worten aus Shakespeares »Troilus and Cressida« möchte ich den letzten Abschnitt zur Partnerpräferenz und, neben den olfaktorischen Wechselwirkungen, das zweite Gebiet der (unterbewussten) Kommunikation zwischen potenziellen Partnern einleiten: den körperlichen Ausdruck. Wie sich emotive Erregungen auf die Funktionen des Körpers auswirken können, ist bekannt. Der Kontakt mit einem begehrten Menschen oder auch nur die bloße Betrachtung desselben kann zu gesteigerter Anspannung, Nervosität und in manchen Fällen gar zu Angstgefühlen führen. Diese Emotionen können ihrerseits Phänomene wie verstärkte Transpiration, kalte Hände, beschleunigte Atmung, Erröten, Erblassen, Stottern oder gesteigerte Herzaktivität hervorrufen. Solche Reaktionen sind größtenteils über das vegetative Nervensystem vermittelt und dementsprechend unwillkürlich. Aber sind sie auch unbewusst? Nein, in den meisten Fällen werden sie der Person, die sie ausprägt, und oft auch umstehenden Personen bewusst. Man sollte sie meiner Ansicht nach auch nicht als kommunikative Signale verstehen, weil sie primär eine andere Funktion haben (eine erhöhte Atemfrequenz und eine veränderte Durchblutung bei Angst dient bspw. der Vorbereitung auf eine energieaufwendige körperliche Reaktion, wie Flucht oder Angriff). Auch wenn aufgrund der äußerlichen Anzeichen Rückschlüsse auf den emotiven Zustand der betreffenden Person möglich sind und dadurch ein gewisser Informationsfluss besteht, handelt es sich hier-

266 Nichtsdestoweniger wäre die Frage danach, inwieweit homosexuelle Menschen bei der Partnerwahl von MHC-Passung geleitet sind und welche physioemotiven Wirkungen die besprochenen Pheromone haben, ein interessanter Forschungsansatz. 267 Shakespeare, William: Troilus and Cressida. In: Delius, Nicolaus (Hrsg.): Shakespeare’s Werke. Zweiter Band. Eberfeld: Friedrichs-Verlag 1855, S. 95.

195 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

bei um unbeeinflussbare Sekundäreffekte und somit nicht um Kommunikation in dem Sinne, wie ich sie hier verstehen möchte. 5.4.2.2.1 Potenziell bewusste Expressionen Um etwas über Kommunikation durch körperliche Expressionen zu erfahren, muss man also nach Phänomenen Ausschau halten, die nicht passiv als ungewolltes physiologisches Produkt des emotiven Zustandes erfolgen, sondern unabhängig davon als eigenständiges Signal an einen potenziellen Partner gesendet werden. Schon seit Mitte der sechziger Jahre wurden Studien zum nonverbalen Liebeswerben der Menschen durchgeführt. Sie stützten sich einerseits auf Daten direkter Beobachtungen einander fremder Menschen in Nachtklubs und künstlich erzeugten Begegnungen, andererseits wurden ausführliche Erhebungen anhand von Fragebögen vorgenommen. Vor allem zum nonverbalen Partnerwahlverhalten von Frauen wurden zahlreiche Versuche durchgeführt. Im Jahr 2000 veröffentlichten Karl Grammer, Kirsten Kruck, Astrid Jütte und Bernhard Fink eine Untersuchung zur geschlechtlich divergierenden Kontrolle bei der Liebeswahl. 268 Sie arrangierten eine künstliche Begegnung, indem sie je eine Frau und einen Mann, die einander nicht kannten, zu einer vermeintlichen Versuchsbesprechung einluden und in einem Wartezimmer allein ließen. Nach drei Minuten kam der angebliche Versuchsleiter herein und erklärte, er müsse ein wichtiges Telefonat entgegennehmen (Ende von Phase 1 des Versuchs), bevor er die Probanden erneut sich selbst überließ. Nach insgesamt zehn Minuten, während denen die Situation unbemerkt gefilmt wurde, endete das Experiment und die Probanden wurden über den wahren Versuchsaufbau aufgeklärt (Ende von Phase 2). Abschließend füllten sie einen Fragebogen zur Attraktivität der gerade kennengelernten Person aus und machten Angaben zum Interesse an ihr. Die Wissenschaftler erwarteten eine Reihe von typischen nonverbalen Verhaltensweisen, die schon in früheren Studien beschrieben wurden, 269 und wurden vor allem seitens der Frauen fündig. In den ersten drei Minuten beobachteten sie Körperregungen wie »Head akimbo« (eine Präsentation des weiblichen Körpers durch das Verschränken der Arme hinter 268 Grammer et al.: Non-verbal behavior as courtship signals: the role of control and choice in selecting partners. In: Evolution and Human Behavior 21 (2000), S. 371–390. 269 Vgl. Moore, Monica M.: Non-verbal courtship patterns in women: context and consequences. Ethology and Sociobiology 6 (1985), 4, S. 237–247.

196 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

dem Kopf, das Senken der Schultern und das Hervorstrecken der Brüste), »Primp« (das Ordnen der Kleidung ohne ersichtlichen Grund), »Hair flip« (ein Senken des Kopfes, der anschließend schwungvoll in den Nacken geworfen wird, wobei die Haare mit der Hand durchfahren werden), »Head tilt« (ein Freilegen des Nackens und Neigen des Kopfes), »Head down« (das Senken des Kopfes in Verbindung mit aufschauendem Blick), »Coy smile« (ein Anlächeln mit gleich darauf folgendem Wegdrehen und Senken des Kopfes), »Legs open« (ein Spreizen der Beine in der sitzenden Position), »Look through« (das Anschauen der anderen Person ohne sie zu fixieren, gefolgt von schnellem Wegschauen), »Short glance« (ein direktes Anschauen, das weniger als drei Sekunden währt), »Laugh« (ein geräuschvolles Lachen mit geöffnetem Mund). Diese körperlichen Expressionen waren, wie erwähnt, aufgrund der Ergebnisse ähnlicher Studien zu erwarten. Interessanter waren die folgenden zwei Aspekte: Zum einen wurden relativ zu den positiven Signalen nur sehr wenig abweisende Ausdrücke beobachtet (etwa verschränkte Arme und Beine oder ausweichendes Umherschauen), selbst wenn im Nachhinein wenig bis kein Interesse an der anderen Person angegeben wurde. Noch auffälliger war, dass solche Frauen, die wenig Interesse an ihrem »Wartezimmerpartner« und eine niedrig empfundene Attraktivität desselben angaben, in den ersten drei Minuten fast ebenso viele auffordernde Körpersignale sendeten wie jene, die gesteigertes Interesse und hohe Attraktion vermerkten: »There is no direct and strong initial relation between interest and signalling. Interestingly, women use signals described in the literature as solicitation signals irrespective of their professed interest. Women with low and with high professed interest both send the same amount of solicitation signals, but only highly interested women maintain the rate in phase II.« 270 In den übrigen Minuten glichen sich die Expressionen dem wirklichen Interesse der Frauen also an, was teils zu deutlichem Abfall der Signalrate führte. Dieses täuschende Verhalten desinteressierter Frauen begründen die Autoren mit dem unterschiedlichen Aufzuchtinvestment der Geschlechter. Eine Frau trifft bei der Wahl eines Sexualpartners eine schwerwiegendere Entscheidung, weil sie in höherem Maße in die Aufzucht investiert als der Mann (vgl. 5.1.2). Deshalb möchte sie, bevor sie sich entscheidet, so 270 Grammer et al.: Non-verbal behavior as courtship signals: the role of control and choice in selecting partners, S. 386.

197 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

viele Informationen wie möglich über einen potenziellen Partner gewinnen, dabei jedoch möglichst unverbindlich bleiben. Was würde sich da besser anbieten als das Senden variierender und subtiler Körpersignale, die ohne Weiteres als zufällig und als vom Mann fehlinterpretiert dargestellt werden können: »Our results support the hypotheses that sex differences are present and that they follow the direction predicted by our evolutionminded hypotheses: women try to elicit information from men and try to avoid the possibility of deception.« 271 »The sex, which has the most to lose in an interaction with the other sex, should try to control the interaction to a higher degree in order to get the information necessary for decision making and minimization of costs.« 272 Frauen senden also relativ unabhängig von der akut empfundenen Attraktion und ihrem Interesse auffordernde Signale an den Mann, damit dieser sich ermutigt fühlt, einen ersten verbalen Kontakt aufzunehmen: »[…] women appear to control male speech production through the use of non-verbal behavior. This is consistent with our proposed strategy theory, which holds that women try to elicit information from the man in order to make a decision. In the first stages of the contact, women showed higher variability in their courtship behavior.« 273 Hierbei kann ein spezifischer nonverbaler Code des Werbens entstehen: »Either women behave in a protean way and send signals independent of their interest, or women signal a complete repertoire and try to find out which behaviour modulates a man’s response. In this view, every pair would develop its own non-verbal code for courtship.« 274 Nach diesen Erkenntnissen sind es also die Frauen, die den intersexuellen Erstkontakt dirigieren. Sie versuchen die Situation derart zu gestalten, dass auch der spontan als unattraktiv und uninteressant bewertete Mann glaubt, für die Frau interessant zu sein, damit er sich ihr über seine Artikulationsfähigkeit und den Sprachinhalt seiner Äußerungen sowie durch eigene körperliche Expressionen präsentiert. Dadurch kann ihn die Frau besser in seiner Qualität als potenzieller Sexualpartner bewerten und fundierter entscheiden. Sind genügend Informationen gesammelt, um den ersten Eindruck zu bestätigen, lassen die auffor-

271 Grammer et al.: Non-verbal behavior as courtship signals: the role of control and choice in selecting partners, S. 386. 272 Ebenda, S. 375. 273 Ebenda, S. 386 f. 274 Ebenda, S. 387.

198 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

dernden Signale nach. Nur bei tatsächlichem Interesse setzten die Frauen ihr Werbungsverhalten fort. Und welche nonverbale Kommunikation durch körperliche Expressionen findet seitens der Männer statt? Hierzu haben Lee Ann Renninger et alii eine Studie veröffentlicht, in der sie den folgenden Fragen auf den Grund gehen: 275 Haben solche Männer, die es schaffen, mit einer Frau ins Gespräch zu kommen, zuvor andere körperliche Signale ausgesendet als jene, die keinen Verbalkontakt herstellen? Und in welchem Maße korrelieren männliche Expressionen mit dem tatsächlichen Interesse an einer Frau? Hierfür wurde das Verhalten von Männern in Bars mittels versteckter Kameras beobachtet. Anschließend wurden die Probanden über den Versuch aufgeklärt und gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, auf dem sie angaben, in welchem Maße sie sich von der betreffenden Frau angezogen fühlten. Wie in der zuvor geschilderten Studie erwarteten die Wissenschaftler, auch hier bekannte Verhaltensweisen zu beobachten, die sich positiv auf den Werbungserfolg ausüben: »Intrasexual touch« (das nicht erwiderte Anfassen eines anderen Mannes signalisiert höheren sozialen Status und Dominanz), »Space-maximization movements« (das Strecken und Dehnen der Gliedmaßen über den eigenen Raum hinaus sowie das Ausstellen der Ellbogen mit Händen an den Hüften vermittelt Größe, Stärke und Selbstbewusstsein), »Location change« (der häufige Wechsel des eigenen Standortes macht Kontakte wahrscheinlicher), »Closed- versus open-body positioning (verschränkte Arme oder Beine signalisieren Verschlossenheit, eine offene Körperhaltung hingegen erhöhten Sozialstatus, Potenz, Offenheit und Aktivität), »Glancing behavior« (wie die oben beschriebene Studie von Grammer, Kruck, Jütte und Fink verdeutlicht, sind Männer auf das nonverbale »come-on« der Frauen durch Blickkontakt, Lächeln etc. angewiesen, weshalb Männer, die häufiger nach solchen Signalen Ausschau halten, im Durchschnitt erfolgreicher bei der Kontaktbildung sind), »Gesticulation patterns« (ausdrucksstarke Gesten vermitteln einen hohen Sozialstatus, nach oben gewendete Handflächen signalisieren Kommunikationsbereitschaft und Verträglichkeit), »Automanipulations« (Verhaltensweisen wie das Reiben des Gesichtes mit den Händen, wiederholtes Kratzen, mit 275 Renninger, Lee Ann.; Wade, T. Joel u. Grammer, Karl: Getting the female glance: Patterns and consequences of male nonverbal behavior in courtship contexts. In: Evolution and Human Behaviour 25 (2004), S. 416–431.

199 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

den Händen durch die Haare fahren). Nach Auswertung der Videoaufnahmen kamen die Forscher zu folgendem Ergebnis: »Contactsuccessful males exhibited a larger number of Type 2 glances [glances that are short and direct […]], more space-maximization movements […], more location changes […], more nonreciprocated touches to surrounding males […], and a smaller number of closedbody movements […], compared with the noncontact males […].« 276 Die Vermutung, dass sich die beschriebenen nonverbalen Signale positiv auf den Erfolg beim Knüpfen von intersexuellen Verbalkontakten auswirken, hat sich also weitgehend bestätigt. Bezüglich der Frage nach der Korrelation von Signalen und tatsächlichem Interesse (attraction level) ergab sich folgendes Bild: »Two behaviors approached significance: total glances […] and automanipulations targeting the beard-growth area […]. Participants with high levels of attraction exhibited more total glancing behaviors and more automanipulations targeting the beard-growth area than did those with low levels of attraction […].« Im Unterschied zum weiblichen Werbungsverhalten, das in seiner ersten Phase oftmals Interesse vortäuscht, um dem Mann nähere Informationen über sich zu entlocken, ist beim Mann also eine Korrelation zwischen tatsächlichem Interesse und körperlichen Expressionen zu erkennen. Die Publikation von Renninger und ihren Kollegen umfasst einen zweiten Versuch, der die Unterschiede im männlichen Verhalten bei An- und Abwesenheit von Frauen untersucht (erneut anhand versteckter Videoaufzeichnung): Mit ansteigender Anzahl von Frauen im Raum zeigten sich signifikante Anstiege von »Space-maximization movements«, »Glancing behavior« und »Automanipulations« (letzteres vor allem am Haupthaar, im Bartbereich und am Kiefer, weshalb die Autoren über eine Betonung maskuliner Attribute spekulieren). Die Ergebnisse beider Untersuchungen resümierend und Erkenntnisse vorangegangener Studien integrierend kommen die Wissenschaftler schließlich zu folgendem Fazit: »The task for females, when courting, is to express enough interest to elicit courtship behavior from various males so that their mate quality can be assessed, but not so much that the courter skips courtship altogether (Blythe, Miller, & Todd, 1996). The task for males, on the other hand,

276 Renninger; Wade u. Grammer, Getting the female glance: Patterns and consequences of male nonverbal behavior in courtship contexts, S. 421.

200 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

is to display their status, health, strength, and intelligence, close enough for the desired mate to perceive them, but not too close to scare them off […].« 277 Auf diese Weise nehmen Männer aktiv teil an der nonverbalen Kommunikation durch Körperexpressionen. »We expect that, from a distance, females can use a male’s nonverbal cues to assess his intentions (interest/noninterest, hostile/friendly) and his evolutionary affordances (status, health, and prowess). Males who provide signals of positive intentions […] and mate value […] will receive preferential attention over males who do not present signals of such intentions and matevalue affordances.« 278 Auch die Psychologin Monica Moore hebt (etwas allgemeiner) die wechselnde Kontrolle der intersexuellen Liebeswahl und den beidseitigen Beitrag zum Prozess der Paarwerbung hervor: »Women, however, do seem to be responsible for the earlier stages of courtship, and men appear to orchestrate the steps just prior to sexual intercourse. As the process unfolds, each member of the pair contributes to the escalation of a successful courtship.« 279 Im Gegensatz zu den eingangs beschriebenen, unwillkürlichen Sekundäreffekten emotiver Erregung sind die in den Studien von Grammer et alii und Renninger et alii beobachteten Expressionen tatsächlich als körperliche Kommunikation zu betrachten. Sowohl die weibliche als auch die männliche nonverbale Selbstdarstellung sind Phänomene mit primärer Signalfunktion und rufen entsprechende Reaktionen bei Vertretern des anderen Geschlechts hervor. Es stellt sich nur die Frage, ob die Expressionen unbewusst oder bewusst gesendet und/oder empfangen werden. Ich denke, hierauf kann folgendermaßen geantwortet werden: Es sind potenziell bewusste Handlungen, abhängig vom Individuum und dessen situativer Verfassung. Als Beispiel kann das weibliche Freilegen der seitlichen Nackenpartie durch Zurückstreifen der Haare dienen (Head tilt). Eine in Liebensdingen erfahrene Frau, die sich innerhalb ihres sozialen Milieus befindet (ihr Stammlokal, die Geburtstagsfeier eines engen Freundes etc.) und einen Mann erblickt, der ihr gefällt, jedoch nicht »ihr Blut in Wallung bringt«, kann diese Expression vollkommen be-

277 Renninger; Wade u. Grammer, Getting the female glance: Patterns and consequences of male nonverbal behavior in courtship contexts, S. 426. 278 Ebenda, S. 426. 279 Moore, Monica M.: Human nonverbal courtship behavior – A brief historical review. In: Journal of Sex Research 47 (2010), 2–3, S. 178.

201 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

wusst anbringen, um zu sehen, ob er darauf reagiert und ob sich vielleicht eine interessante Begegnung daraus entwickelt. Anders bei einer jungen Frau, die gerade die Obhut ihrer Eltern verlassen hat, um in einer fremden Stadt ihr Studium zu beginnen, und die in einer ihr unbekannten Bar einen Mann erblickt, der vor Selbstbewusstsein strotzt und in überwältigender Weise ihrem imaginären Traumpartner ähnelt. Wenn ihr bei plötzlichem Blickkontakt das Adrenalin in die Adern fährt und sie spontan dieselbe Expression vollzieht, bevor sie sich bebend und beschämt abwendet, ist es wahrscheinlich, dass ihr der »Head tilt« nicht ins Bewusstsein geriet. Auf dieselbe Weise können die beschriebenen Körpersignale bewusst oder unterbewusst perzipiert werden. Es hängt vom reflexiven Bewusstsein und der akuten Aufmerksamkeit des Individuums sowie von der sich bietenden Situation mit all ihren verstärkenden und hemmenden Einflüssen ab. Hierbei spielt natürlich auch die Art und Intensität der Signale eine Rolle: Eine das Blickfeld füllende »Head-akimbo-Legs-open-Kombination« sollte selbst dem unsichersten und unerfahrensten Träumer ein deutliches Zeichen sein. Zuletzt müssen die genannten Signale noch von Handlungen unterschieden werden, die zwar ähnlich aussehen, jedoch keine kommunikative, sondern eine ganz praktische Funktion für die Partnerwahl haben. Wenn zum Beispiel eine Frau einen attraktiven Mann erblickt, dann kann es sein, dass sie sich ganz einfach deshalb durch die Haare fährt, weil sie für den Fall, dass er herüberschaut, möglichst gut aussehen möchte. Sie will also gar nicht, dass er diesen vermeintlichen »Hair-Flip« bemerkt. Auch wenn diese Handlung wahrgenommen wird und dadurch Informationsfluss stattfindet, kann sie nicht als Kommunikation im beschriebenen Sinne gelten, da das Signal nicht ihre originäre Funktion ist. Dasselbe gilt für das Richten der Kleidung (vermeintlich »Primp«), das Glattstreichen des Bartes (vermeintliche Betonung maskuliner Attribute) und das Umschauen, um die Anwesenden unbemerkt zu sondieren (vermeintlich »Glancing behavior« oder »Look through«). 5.4.2.2.2 Unbewusste Expressionen Nachdem nun solche Körpersprache besprochen ist, die den Kommunikationspartnern bewusst werden kann, werde ich in diesem Abschnitt dem unterbewussten Informationsaustausch sowie der Komplexität menschlicher Expressionen besondere Aufmerksamkeit schenken. Denn diese Aspekte bilden den Unterbau der Überlegun-

202 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

gen, die ich in Kapitel 6 anstellen möchte. Im Folgenden werde ich die Gestik, die Stimme und den Gesichtsausdruck als drei Kanäle expressiv-nonverbaler Kommunikation beleuchten. 5.4.2.2.2.1 Die Gestik Schon Ende der 80er Jahre stießen Karl Grammer, Kirsten Kruck und Magnus Magnusson auf eine Art subtilen »Werbungstanz« zwischen potenziellen Partnern: 280 Die Forscher beobachteten das nonverbale Verhalten von Personen verschiedenen Geschlechts im direkten Kontakt. Auch hierbei wurden jeweils zwei Probanden aufgrund eines Vorwands in einem Raum allein gelassen. Mittels eines eigens entwickelten Suchalgorithmus stießen die Autoren auf komplexe körperliche Verhaltensmuster, die sich wie eine Sprache hierarchisch aufzubauen schienen und spezifische Reaktionen beim Empfänger hervorriefen: »In this view, behavior involves repeated performances of hierarchically composed temporal behavior patterns. The larger of these patterns are built up of smaller ones, much like phrases in language are patterns of words. Words, in turn, again are patterns of phonemes that again, are patterns of still simpler sounds and muscular movements and so forth. Certain of these patterns are both interindividual and causal, such as when one individual causes another to do something he/she might not have done at all or would otherwise have done at a different time.« 281 Anhand dieser Expression erfolgt eine Art Abgleich der Bewegungen, der den ganzen Körper mit einbezieht und maßgeblich von der Frau dirigiert wird: »[…] it also becomes clear that the whole body is involved in the rhythmic structuring of an interaction. This underlines the fact that interpersonal coordination is not perceivable directly from single stimuli […].« 282 »The main result is that pattern organization seems to depend solely on female interest. As soon as the female is interested in the male, the time structure in behavior becomes much more elaborate. The male’s interest is secondary. This supports the hypothesis that hierarchical pattern synchronization has a communicative, or even more so, a manipulative value – the female synchronizes with

280 Vgl. Grammer, Karl; Kruck, Kirsten B. u. Magnusson, Magnus S.: The courtship dance: Patterns of nonverbal synchronization in opposite-sex encounters. In: Journal of Nonverbal Behavior 22 (1989), 1, S. 3–29. 281 Ebenda, S. 6. 282 Ebenda, S. 22.

203 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

the male and thereby communicates interest.« 283 Durch angleichende Körperbewegungen signalisiert die Frau dem Mann also, dass er als Sexualpartner infrage kommt, doch aufgrund der Subtilität, der hohen Komplexität und der Ablenkung durch andere Reize ist es dem Mann nicht möglich, die unterschwelligen Signale bewusst wahrzunehmen: »The fact that the rhythmic patterns are hidden in ›noise‹ makes it difficult for males to perceive actual female interest directly, and rhythmic pattern synchronization might thus be a versatile tool to communicate without running into the danger of deception. If deception actually plays a role in male-female initial interactions, communication is forced to level of high ambiguity.« 284 In einer späteren Studie formuliert Grammer etwas verbindlicher: »If a woman is interested in a man, female rhythmic body movements create ›hidden‹ and highly complex patterns in synchrony with the male body movements. The man perceives changes in her interest but is not able to ascertain their source.« 285 Im Vergleich der Verhaltensmuster der verschiedenen »Versuchspaare« konnten keine signifikanten Ähnlichkeiten festgestellt werden, jede Individualkonstellation scheint im Laufe des Kontakts eine spezifische Struktur auszubilden. Dieser Fakt und die Tatsache, dass der Prozess maßgeblich vom situativen Interesse der Frau und ihrem sozialen Verhalten abhängt, brachte Grammer und seine Kollegen zu der Hypothese, dass hinter dem Phänomen eine Art Kompatibilitätstest stecken könnte: »Females are more sensitive to nonverbal behavior […] and thus might indeed use complex inter-individually patterned behavior in order to test out compatibility. This becomes clear through the fact that female social cognitions are related to the emergence of a complex timing and hierarchy of patterns. This is not the case for males. Moreover females, when interested in the male, are reacting to his nonverbal behaviour at a higher degree of determination than vice versa.« 286 »Thus the dance can be seen as a type of nonverbal partner-test.« 287

Grammer; Kruck u. Magnusson, The courtship dance: Patterns of nonverbal synchronization in opposite-sex encounters, S. 22 f. 284 Ebenda, S. 22. 285 Grammer et al.: Non-verbal behavior as courtship signals: the role of control and choice in selecting partners, S. 373. 286 Grammer; Kruck u. Magnusson, The courtship dance: Patterns of nonverbal synchronization in opposite-sex encounters, S. 24. 287 Ebenda, S 23 f. 283

204 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Bedenkt man die Komplexität und Geschwindigkeit der Verhaltensmuster und die von der Persönlichkeit des Mannes abhängige Spezifität, mit der Frauen ihren Kompatibilitätstest anzuwenden scheinen, so wird einsichtig, wieso ihnen dieser Mechanismus mit seinen funktionellen Prozessen ebenso unbewusst ist wie den involvierten Männern. Bei guter Kompatibilität empfinden die Partner Sympathie füreinander und merken, dass das Gespräch einen angeregten aber harmonischen Verlauf nimmt. Diese Menschen verspüren womöglich eine »positive Schwingung« und angenehmen »Gleichklang«, die Details der nonverbalen Verständigung, die im Hintergrund ihre komplizierten Muster und Schleifen vollzieht, bleiben aber im Verborgenen. Meiner Ansicht nach handelt es sich hierbei also tatsächlich um unbewusst-expressive Kommunikation zur Prüfung interindividueller Paarkompatibilität. 5.4.2.2.2.2 Die Stimme Eine weitere subtile Informationsquelle könnte die menschliche Stimme sein: »Als wäre sie ein Seismograph der Seele, macht die Stimme jede kleinste Regung des Menschen hörbar. Gefühle färben den Klang der Stimme ebenso rasch heller oder dunkler wie Gedanken. Das Besondere dabei ist, dass alles hörbar wird, ob wir wollen oder nicht. Oft sind es nur Nuancen, die weder dem Sprecher noch dem Zuhörer bewusst werden. Aber unbewusst werden diese Signale sehr wohl aufgenommen und entfalten machtvoll ihre Wirkung in der Kommunikation.« 288 So formuliert es der österreichische Theaterschauspieler und Stimmcoach Arno Fischbacher. Ob tatsächlich jede emotionale Regung hörbar wird und alleine eine machtvolle Wirkung im Inneren des Perzipienten entfaltet, sei einmal dahin gestellt. Sicher hingegen ist, dass der Klang der Sprache als Ausdruck emotionaler Regungen evolutiv verwurzelt ist. 289 Aufgrund seiner Phylogenese prüft unser Gehirn einen auditiven Reiz zunächst darauf, aus welcher Richtung er kommt und ob er eine Bedrohung bedeutet – man muss kein Evolutionsbiologe sein, um den Vorteil der Vorran288 Fischbacher, Arno: Geheimer Verführer Stimme – 77 Fragen und Antworten zur unbewussten Macht in der Kommunikation. 2. Auflage. Paderborn: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung 2010, S. 11. 289 Vgl. Schneider, Elisabeth; Fischer, Julia: Emotion Expression: The Evolutionary Heritage in the Human Voice. In: Welsch, Wolfgang; Singer, Wolf u. Wunder, André (Hrsg.): Interdisciplinary Anthropology – Continuing Evolution of Man. Berlin: Springer Verlag 2011, S. 105–129.

205 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

gigkeit einer solchen Verschaltung zu erkennen. Nachdem eine lebensbedrohliche Situation ausgeschlossen ist, wird das Gehörte zunächst eingehender auf seinen emotiven Gehalt geprüft, etwa ob es leise und gedrückt oder fröhlich und einladend klingt. Erst nachdem diese Prozesse abgelaufen sind, interpretiert unser Gehirn den sprachlichen Inhalt der Perzeption, indem es die Laute zu Wörtern und diese zu sinnhaften Aussagen fügt. 290 So dauert es unter normalen Umständen etwa eine fünftel Sekunde, bis im Sprachzentrum des Neokortex ein Wort als solches erkannt und verstanden ist, eine Zeitspanne, in der weniger aufwendige Prozesse des limbischen Systems den emotiven Inhalt der Geräusche längst erfasst haben. Dieses Taxieren findet unwillkürlich und weitgehend unbewusst statt, was einerseits in der präreflexiven Aktivierung sogenannter Spiegelneurone begründet ist. Sie lassen uns die emotiven Regungen anderer Menschen begreifen, indem sie neuronale »Als-ob-Schleifen« generieren, die uns die Emotionen unseres Gegenübers in gewisser Weise mitempfinden lassen. 291 Neben der unwillkürlichen Aktivierung neuronaler Steuerungsprozesse ergibt sich die Unbewusstheit andererseits aus der begrenzten Rechenkapazität für bewusste Perzeption innerhalb einer gegebenen Zeitspanne: Während eines angeregten Gesprächs beispielsweise ist unser Gehirn mit der Übersetzung der Laute in zusammenhängende sprachinhaltliche Informationen sowie mit deren Interpretation bezüglich unserer Beziehung zum Gesprächspartner, bezüglich der situativen Bedingungen, in denen die Konversation stattfindet, bezüglich unserer Gesprächserfahrungen etc. weitgehend ausgelastet. Wenn uns daher kein außerordentlicher Grund geboten wird, den sprachklanglichen Empfindungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken (etwa ein vorangegangener Streit, der uns hellhörig für emotionale Verstimmungen macht), dann vollziehen sie sich unwillkürlich und unterbewusst. Wie stark der Stimmklang im Perzipienten wirkt, hat der Psychologe Albert Mehrabian schon Ende der sechziger Jahre in mehreUm die Hierarchie der Informationsverarbeitung anschaulich zu machen, sind keine aufwendigen neurologischen Tests nötig: Ein Mensch, der aus heiterem Himmel von einem Fremden angebrüllt wird, wird instinktiv zurückweichen oder zum Angriff übergehen, ohne dass er im entferntesten weiß, welche Worte der andere brüllt. Diese Verarbeitungsblockade hält so lange an, bis der Perzipient die Situation eingeschätzt und sich Sicherheit verschafft hat. 291 Vgl. 3.1.3.1 sowie Schmidt-Salomon u. Voland, Die Entzauberung des Bösen, S. 116. 290

206 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

ren Aufsätzen darzustellen versucht. Im Jahre 1971 veröffentlichte er die sogenannte »7-38-55-Regel«, nach der Äußerungen, die sich bezüglich ihres sprachlichen Inhalts, des stimmlichen Klangs und des mimischen Ausdrucks widersprechen, vom Empfänger nach einer bestimmten Gewichtung gewertet werden. 292 Ob eine Aussage als positive oder negative Emotion gedeutet wird, wird zu 38 % vom Stimmklang beeinflusst und nur zu 7 % vom sprachlichen Inhalt. Ganze 55 % des Einflusses kommen nach dieser Theorie dem mimischen Ausdruck zu. 293 Im Jahr 2002 publizierten Ambady et alii eine Studie, die die Abhängigkeit zwischen der stimmlichen Wirkung von Chirurgen und der Anzahl der bisher gegen sie eingereichten Schadensersatzklagen untersuchte. 294 Hierfür wurden reguläre Patientengespräche aufgezeichnet und die Stimmen der Ärzte im Anschluss derart modifiziert, dass Sprachklang und -melodie erhalten blieben, der Sprachinhalt jedoch nicht mehr zu verstehen war. Diese Tonaufnahmen wurden von Probanden bezüglich der Parameter »Wärme«, »Feindlichkeit«, »Dominanz« und »Ängstlichkeit« bewertet. Nach Auswertung der Daten stellte sich heraus, dass Chirurgen, deren Sprechweise eher tief, laut, schnell, monoton und klar war, für dominant gehalten wurden. Überraschenderweise traf diese Einschätzung auf solche Chirurgen zu, die in der Vergangenheit schon des Öfteren aufgrund von Kunstfehlern rechtlich belangt wurden. Hingegen wurden solche Kollegen, in deren Stimmen Sorge und etwas Ängstlichkeit mitklangen, bis zum Zeitpunkt des Versuchs noch nie verklagt. Ambady merkte an, dass Dominanz als Mangel an Empathie und Verständnis gedeutet werden könnte, hingegen könnte Ängstlichkeit von den Probanden als positiv empfunden worden sein, weil sie Sorge und Mitgefühl suggeriert. Bemerkenswert ist auch die Geschwindigkeit, in der die Bewertung erfolgt: »[…] 40 seconds of surgeons’ speech distinguished between claims and no-claims surgeons, revealing the power of the information communicated by the voice. These findings suggest that […] ›how‹ a message is conveyed may be as important as

292 Vgl. Mehrabian, Albert: Silent messages. Belmont/ Californien: Wadsworth Publishing Company 1971. 293 Vgl. auch LaPlante, Debi; Ambady, Nalini: On How Things Are Said – Voice Tone, Voice Intensity, Verbal Content, and Perceptions of Politeness. In: Journal of Language and Social Psychology 22 (2003), 4, S. 434–441. 294 Vgl. Ambady et al.: Surgeons’ tone of voice: A clue to malpractice history. In: Surgery 132 (2002), 1, S. 5–9.

207 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

›what‹ is said.« 295 Darüber hinaus kann die Studie als Hinweis darauf verstanden werden, dass paraverbale Informationen nicht bloß unbewusst perzipiert, sondern ebenso unbewusst ausgesendet werden. Denn die Chirurgen waren sich sicherlich nicht darüber im Klaren, dass der Beiklang von Angst und Sorge bzw. Dominanz in ihrer Stimme einen Hinweis auf ihre bisherigen Kunstfehlerklagen gibt. Auch die Probanden, die sich die Aufnahmen anhörten, konnten das nicht bewusst benennen, doch sie hatten gewisse Vorbehalte gegenüber solchen Ärzten, die sie als unbesorgt und dominant empfanden. Sicherlich ist bei dieser Studie viel Raum für alternative Deutungen, unstrittig aber ist, dass in Stimmklang und Sprechweise Informationen verborgen liegen, die in ihrer Bedeutung weder vom Sprecher noch vom Zuhörer in vollem Umfang bewusst erfasst werden. Vielmehr findet – und das ist für meine Überlegungen von vorrangiger Bedeutung – eine unterbewusste Kommunikation auf rein akustischer Ebene statt. Aus welchen Elementen aber baut sich dieser »akustische Code« auf? Und wie klingt menschliche Zuneigung? Die klanglichen Parameter der Stimme sind dieselben wie die der Musik: Frequenz (Tonhöhe); Ton-/Pausendauer (ergibt den Sprachrhythmus), Amplitude (Lautstärke) und Timbre (dieser Faktor ist eigentlich kein einzelner Parameter, weil sich die Klangfarbe aus Grundton, Obertönen, Rauschanteilen und Lautstärke im zeitlichen Verlauf konstituiert). Diese Variablen könnten auf den ersten Blick relativ überschaubar wirken. Doch macht man sich bewusst, welche Klangdiversität allein das Timbre einer Stimme umfasst, wird der gewaltige akustische Raum deutlich, den der stimmliche Ausdruck aufspannt. Feinste Abstufungen in Dynamik, Tempo und Tonhöhe multiplizieren sich mit variablen Mischungen aus Obertönen und Rauschanteilen, die über dem Bezugston das agile Kolorit der menschlichen Stimme bilden. So bildet die Akustik der verbalen Verständigung einen breiten Kommunikationsweg, auf dem prinzipiell auch komplexere Informationen transportiert werden könnten. Welche Klangsignale es im Einzelnen sind, die so umfassende Gefühle wie menschliche Zuneigung ausdrücken, erscheint mir jedoch schwer festzulegen. Nicht bloß deshalb, weil ihre Erscheinungsform von der Persönlichkeit des Sprechers, der emotionalen und sozialen Beziehung zwischen den Gesprächspart-

295

Ambady et al.: Surgeons’ tone of voice: A clue to malpractice history, S. 8.

208 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

nern sowie den situativen Bedingungen abhängt – weil sie also hochvariabel ist –, sondern auch, weil sich die Bedeutung des Codes erst unter Berücksichtigung eben dieser Faktoren erschließt. Ganz allgemein könnte man bei Zuneigung zum Gesprächspartner zwar einen beschwingten Singsang in der Sprechweise und einen eher sonoren Stimmklang erwarten, mit dem der Sprecher versucht, Freundlichkeit, Wohlwollen und Sympathie zu signalisieren. Doch bereits eine Emotion wie Nervosität, die in Situationen der Partnerwahl bekanntermaßen nicht selten auftritt, würde die Stimme kaum mehr so ausgeglichen und beruhigend klingen lassen. Solche Modulationen müssen jedoch keine Missverständnisse zwischen den Gesprächspartnern zur Folge haben, denn auch sie können perzipiert und unter Berücksichtigung der Umstände und der Verfassung des Sprechenden unbewusst richtig interpretiert werden. Hieran wird die grundlegende Abhängigkeit der Bedeutung des akustischen Codes sowie dessen Entschlüsselung vom persönlichen und situativen Kontext einerseits und der Feinfühligkeit der Individuen andererseits deutlich. Aufgrund dieser Dependenzen halte ich es für wenig Erfolg versprechend, den Komponenten des Stimmklangs spezifische Emotionen zuzuordnen, um komplexere Informationen, die durch diese Elemente aufgebaut werden, mittels einer »Theorie der Klangbedeutung« systematisch zu bestimmen. Denn sobald eine paraverbale Expression von ihren Randbedingungen isoliert wird, weil sie sich in ihrer kausalen Gesamtheit methodisch und/oder theoretisch nicht beherrschen lässt, ist es wahrscheinlich, dass sie ihre eigentliche Bedeutung verliert. Hier droht dann der folgenschwere Fehlschluss, es habe gar keine Information gegeben. Bevor ich diese Gedanken zur Diversität und Kontextabhängigkeit nonverbaler Kommunikation sowie zur Möglichkeit der Übermittlung komplexer Informationen weiter ausführe, möchte ich noch den letzten Kanal unbewusster Expressionen betrachten. 5.4.2.2.2.3 Der Blick Seit jeher sind die Augen dem Menschen etwas Magisches. Sie legen die Seele offen, versenden geheime Botschaften und sind imstande, Leidenschaft und Liebe zu entfachen: Die Augen sind die Fenster der Seele. (Hildegard von Bingen, 1098–1179); Das Auge ist der Punkt, in welchem Seele und Körper sich vermischen. (Christian Friedrich Hebbel, 1813–1863); Deine Augen schwiegen nicht. (Ovid, 43 v. Chr.– 17 n. Chr.); Augen, sagt mir, sagt, was sagt ihr? Denn ihr sagt was gar

209 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

zu Schönes, Gar des lieblichsten Getönes; Und in gleichem Sinne fragt ihr. … Und indem ich diese Chiffern, Mich versenke zu studieren, Laßt euch ebenfalls verführen, Meine Blicke zu entziffern! (Johann Wolfgang von Goethe, 1749–1832); Die Augen sind die Lenker in der Liebe. (Propertius, 49–15 v. Chr.); Die Augen sind der Liebe Tür. (William Shakespeare, 1564–1616). Man könnte wohl noch lange so fortfahren, denn zu jeder Epoche fühlten sich Dichter und Denker dazu hingezogen, Sinnsprüche über die Wirkung der Augen und des Blickes zu verfassen. Doch wie kommt diese bemerkenswerte Wirkung zustande? Was ist es, das einen Blick mit solcher Bedeutung ausstattet? Was sind seine Parameter? Der menschliche Augapfel als physiologische Funktionseinheit ist zu wenigen, aber wichtigen Ausdrücken imstande. Zunächst ist natürlich seine Beweglichkeit in der Augenhöhle durch die Aktivität der äußeren Augenmuskeln zu nennen. Allein hiermit sind wirksame Expressionen wie beispielsweise das »Augenrollen« möglich. Die Augenmotorik bewirkt aber auch Subtileres. Der Unterschied zwischen einem starren, nach einiger Zeit leblos wirkenden und einem aufmerksam fixierenden Blick entsteht nicht durch die tatsächliche Akkommodation (Fokussierung), die verdeckt im Augeninneren durch muskuläre Beugung und Abflachung der elastischen Augenlinse erfolgt. Es sind die schnellen Wechselbewegungen der Augäpfel aufgrund sich ändernder Fokussierpunkte, die den Eindruck eines wachen Blicks vermitteln. Sie huschen kaum merklich zwischen den Augen der betrachteten Person hin und her oder »scannen« andere Bereiche deren Gesichts. Aus diesem Grund schnipst und winkt man im Gesichtsfeld eines Menschen, der offensichtlich gedankenverloren und mit verschwommenem Blick vor sich hinträumt. Sobald der Träumer das bemerkt, »erwachen« seine Augen, was nichts anderes bedeutet, als dass sie den Ereignissen im Raum wieder durch rasche Bewegungen folgen. Ein weiterer Parameter ist die Pupillenweitung. Sie wird über den Musculus sphincter pupillae und den Musculus dilatator pupillae vermittelt und verändert sich ohne willentlichen Einfluss des Menschen, vor allem um das Auge vor zu intensiver Helligkeit zu schützen und um bei schwacher Beleuchtung möglichst viel Licht auf die Retina einfallen zu lassen. Doch auch innere Regungen haben Einfluss auf diesen Mechanismus: Bei emotionaler Erregung und bei kognitiver Beanspruchung ist eine deutliche Pupillenweitung nachweisbar. Diese Reaktion ist allerdings unspezifisch, das heißt, sie kann nicht – wie von einigen Wissenschaftlern beharrlich sugge210 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

riert 296 – per se als Zeichen positiver Emotion gedeutet werden. Wenn sich die Augen eines Mannes beim Anblick einer Frau weiten, so könnte es sich um ein Zeichen für sexuelle und/oder positive emotionale Erregung handeln. Ebenso gut könnte die Reaktion aber auch durch eine negative Emotion wie Furcht ausgelöst sein oder durch konzentrierte Aufmerksamkeit und kognitive Anstrengung (etwa der intensive Versuch sich zu erinnern, woher die Frau bekannt ist, bevor es zu einem Gespräch kommt). Auch hier ist die richtige Interpretation der Expressionen also stark vom Kontext abhängig. Neben den beschriebenen Regungen des Auges selbst spielt die Aktivität der peripheren Muskulatur eine wichtige Rolle für die Wirkung eines Blickes. Hier befinden sich der Ringmuskel der Augenhöhle (Musculus orbicularis oculi), der Lidheber (M. levator palpebrae superioris), der Herabzieher der Augenbraue (M. depressor supercilii) und der Runzler der Augenbraue (M. corrugator supercilii) 297. Diese feinen Muskeln bestimmen die Öffnungsweite der Augen, die Struktur und Form der Augenpartie sowie die Stellung der Augenbrauen. Mittels dieses kleinen Bereichs ist bereits eine Vielzahl starker Expressionen möglich, wie etwa ein schnelles Zuzwinkern, ein verführerischer Augenaufschlag oder das Verengen der Augen zu zornigen Schlitzen. Und natürlich sind auch Teile der übrigen Gesichtsmuskulatur an der Formierung des Blickes beteiligt. Neben der Augenpartie ist der Mundbereich mit seinen zahlreichen Muskeln der wichtigste Faktor des mimischen Ausdrucks. Der Ringmuskel des Mundes (M. orbicularis oris), der Anheber des Mundwinkels (M. lavator anguli oris), der Anheber der Oberlippe (M. lavator labii superioris), der Schläfenscheitelmuskel (M. temporoparietalis), der kleine und der große Jochbeinmuskel (M. zygomaticus minor/major), der Trompetermuskel (M. buccinator), der Herabzieher der Unterlippe (M. depressor labii inferioris), der Herabzieher des Mundwinkels (M. depressor anguli oris), der Kinnmuskel (M. mentalis) sowie der Lachmuskel (M. risorius) 298 generieren durch ihr komplexes Zusammenspiel die vielfältigen Ausdrücke der Mundstellung – vom breiten Lächeln über den Schmollmund bis hin zum zornverzerrten Fletschen der Zähne. Um die mimische Muskulatur zu komplettieren, sind noch die Ohrenmuskeln (Mm. Auriculares), die 296 297 298

Vgl. bspw. Fisher, Anatomie der Liebe, S. 24. Faller; Schünke, Der Körper des Menschen, S. 220 f. Ebenda, S. 220 ff.

211 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

Nasenmuskeln (Mm. Nasales) und der Stirnteil des Hinterhauptstirnmuskels (M. occipitofrontalis) zu nennen 299. Doch vor allem ist es das filigrane Zusammenspiel von Augen- und Mundpartie, das über den Informationsgehalt der entstehenden Expression entscheidet. Wie subtil die Abstufungen muskulärer Kontraktionen und Relaxationen ihre Wirkung entfalten, dokumentiert die Lügenforschung. Geschulte Personen sind mit hoher Treffsicherheit imstande, am Blick eines Menschen zu erkennen, wenn er die Unwahrheit sagt. Hierfür detektieren sie kleine Unstimmigkeiten im Gesichtsausdruck. Zum Beispiel kann eine Lüge zu leichten Asymmetrien führen oder der Ausdruck für eine vorgetäuschte Emotion ist unvollständig (bei einem gekünstelten Lächeln beispielsweise fehlen häufig die Kontraktion des äußeren Teils des Ringmuskels um die Augen oder ein leichtes Herabsenken der Augenbrauen und der sogenannten Oberlidfalte). 300 Solche kurzzeitig auftretenden, feinen Ausdrücke nennt man Mikroexpressionen. Auch ohne Ausbildung zur Lügendetektion kommt es vor, dass man jemandem aufgrund seines Gesichtsausdrucks nicht recht trauen mag. Man hat das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, auch wenn man nicht präzise benennen kann, woher die Skepsis rührt. Hierdurch wird einerseits deutlich, wie unmittelbar, unkontrolliert und unbewusst sich unsere Emotionen im eigenen Gesicht abzeichnen, und andererseits, wie subtil und gleichzeitig machtvoll unsere Mimik im Betrachter ihre Wirkung entfalten kann. All die beschriebenen Parameter sind allerdings (wie die meisten Expressionen) entscheidend vom Kontext abhängig – ganz allgemein von der Situation, den beteiligten Personen und etwaigem Gesprächsinhalt, aber auch vom Blickkontext und Blickrhythmus. Denn die isolierte Momentaufnahme eines emotionsleeren Blickes bspw. kann nicht das sarkastische Moment wiedergeben, das entsteht, wenn der Betreffende einer anderen (sich inzwischen abwendenden) Person, noch eine Sekunde zuvor breit ins Gesicht gegrinst hat. So ist der Verlauf von Gesichtsexpressionen, ihre Aneinanderreihung und in besonderem Maße ihre Dauer von großer Bedeutung. Kurzes Fixieren einer fremden Person trägt unter Umständen noch keine besondere Information. Das Aushalten desselben Blickes über mehrere

Ebenda, S. 220 ff. Ekman, Paul: Gefühle Lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. 2. Auflage. Heidelberg: Spektrum Verlag 2010, S. 302 f. 299 300

212 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

Sekunden aber multipliziert seine Intensität und lässt ihn durchdringend und bohrend werden. Abhängig von der Situation, vom Schauenden und vom Angeschauten könnte er nun Interesse und Zuneigung oder Aggressivität signalisieren. Wie entscheidend Blickkontext und Blicktiming sind und wie präzise und ausdrucksstark die mimische Kommunikation sein kann, wird anhand von nonverbaler Komik deutlich, bei der oft gerade dadurch der Witz entsteht, dass die Emotion nicht ausgesprochen, sondern durch einen bedeutungsschwangeren Blick kommuniziert wird. Es ist unterdes bemerkenswert, welch tragende Rolle bei all den verschiedenen Gesichtsausdrücken die Augen spielen. Obwohl sie für sich genommen zu weitaus weniger Expressionen fähig sind als beispielsweise der Mund, scheinen sie doch ganz entscheidend für die paraverbale Kommunikation zu sein. Dies liegt zunächst darin begründet, dass sie durch ihre Ausrichtung den Adressaten der mimisch dargestellten Emotion festlegen können. In diesem Sinne sind sie also Richtschützen der geäußerten Expression, auch dann, wenn sie absichtlich ins Leere »abgefeuert« wird. Doch sie sind noch mehr: Selbst wenn vollkommen klar ist, wem der Ausdruck gilt, wenn also gar nicht gezielt werden muss, hat der gesamte Blick mit »zurückhaltenden Augen« längst nicht solche Kraft und Tiefe wie mit wachem Fokus. Es erscheint fast so, als wären die Augen nicht bloß Schütze, sondern gleichzeitig Projektil eines Blickes, das ihm zu seinem eigentlichen Effekt verhilft. So sind Menschen mit auffallenden Augen häufig zu besonders ausdrucksstarken Blicken imstande. Stahlblaue oder leuchtend grüne Irisfärbungen mit dunklem äußerem Ring, strahlendes Weiß der Peripherie und auffallende Größe sind nicht bloß Attraktivitätsfaktoren, sondern verleihen dem Individuum Potenzial zu einem eindrucksvolleren mimischen Ausdruck. Um die kommunikativen Parameter eines Blickes aufzuzeigen, habe ich bis hierher vorwiegend bewusste Signale wie das Augenrollen als Beispiele verwendet. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass der Blick im situativen Gefüge ebenso häufig unterbewusste emotive Signale transportiert. Die oben erwähnte Lügenforschung belegt zumindest die Möglichkeit, denn die minimalen Unstimmigkeiten im mimischen Ausdruck bleiben vom Lügenden unbemerkt und geraten häufig auch nicht ins Bewusstsein des Angelogenen. So erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass wir in emotional aufreibenden Situationen, wie dem direkten Kontakt mit einer begehrten Person, unsere Mikroexpressionen kontrollieren. Vielmehr ist anzunehmen, dass 213 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

auch weniger subtile Ausdrücke unbemerkt ausgesendet werden und auf den Perzipienten ebenso unbewusst einwirken können. Welche feinen Änderungen in der Mimik allerdings Zuneigung signalisieren, ist, wie bereits bemerkt, vor allem vom situativen Kontext, aber auch von den Persönlichkeiten der Kommunikationspartner abhängig. Ob zwei Menschen mittels Blicken komplexe Informationen und gehaltvolle Emotionen (ggf. auch bewusst) austauschen können, hängt meines Erachtens nicht nur von ihrer Vertrautheit, ihren Einstellungen und Erfahrungen ab, sondern auch davon, ob sie über ähnlichen Intellekt und ein ähnliches Wertesystem verfügen. Nur so ist die Basis dafür gegeben, dass sich ein einzelner Blick, gespiegelt an der sich zum gegebenen Zeitpunkt bietenden Umwelt, plötzlich geradezu mit Bedeutung auflädt. Ich bin der Meinung, dass die viel gerühmte Liebe auf den ersten Blick (in Abweichung zu 4.5 und 5.4.1.3 hier nicht als ein einseitiges Betrachten verstanden, sondern als beidseitiges Verlieben durch Blickkontakt) zumindest in Anteilen auf dieser Bühne stattfindet: »Ein Blick genügte und wir hatten einander erkannt …« könnte es in einer solchen Szene heißen – ein spontanes Verstehen des anderen, das die Beteiligten überwältigen und euphorisieren kann. Will es jedoch nicht Vorstellung bleiben, muss es sich im Anschluss der Prüfung im konkreten Kontakt unterziehen, weil es bis dahin nur Vermutung ist und große Anteile imaginativer Vorwegnahmen beinhaltet. Wie bereits anklang, bin ich der Auffassung, dass für eine wirksame Kommunikation komplexerer emotiver Informationen mittels eines Blickwechsels eine gewisse geistige Wachheit Voraussetzung ist. Denn sie setzt Aufmerksamkeit, Empathievermögen, analytisches Verständnis der sich bietenden Situation und Interpretationsgabe der feinen und flüchtigen Expressionen im dynamischen Gesamtgefüge voraus. Vor allem dann, wenn die mimisch codierte Emotion vom Perzipienten bewusst benannt und durch Reflexion der situativen Bedingungen in ihrer interpretativen Bedeutung erklärt werden kann. Auch wenn kein Zweifel daran bestehen kann, dass im zwischenmenschlichen Kontakt viele Informationen unbewusst gesendet und wahrgenommen werden und dass diese Prozesse erhebliche Bedeutung für die Kommunikation im Allgemeinen und für die Partnerpräferenz im Speziellen haben, so wäre es doch verfehlt anzunehmen, unser Unterbewusstsein würde automatisch all jene Information auffangen, die eine bewusste Perzeption zu deuten in der Lage gewesen wäre. Das menschliche Unterbewusstsein ist weit und wirkungsreich, 214 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

aber nicht der Boden, zu dem alles, was wir an der Oberfläche unseres Bewusstseins übersehen, hinabsinkt, um dort verarbeitet und in unser Handeln integriert zu werden. 5.4.2.2.3 Expressive Kommunikation als multidimensionale Komposition bewusster und unbewusster Signale zur Codierung komplexer Information Die körperlichen Signale sind vielfältig. Schon die Kombinationsmöglichkeiten der potenziell bewussten Körperposen sind immens, wie das folgende Zitat verdeutlicht: »Moore also found that an index of only 10 out of 52 courtship behaviors could predict ›come on‹ effects. Although Moore did not make this point, such a finding of any 10 of 52 behaviors would result in 1.6 � 1010 different signal combinations. […] Moreover, if the combinations of different signals have to be taken into account by the observer, the complexity of the task becomes very challenging.« 301 Visuelle Expressionen sind zudem oft mehrdeutig oder gar unbestimmbar, wenn man sie separiert betrachtet. Oben habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die theoretische Isolierung einzelner Expressionen zu dem Fehlschluss führen kann, es habe gar keine Information gegeben, weil sich ihr Sinn erst aus der Komposition der Einzelexpressionen ergibt. Die Vermeidung direkten Augenkontakts einer Frau zum Beispiel kann sowohl Abneigung oder Angst bedeuten als auch scheue Zuneigung und Koketterie. Der Perzipient benötigt weitere Informationen für eine treffende Interpretation des Verhaltens. Was auf dieser einfachen und bewussten Ebene zutrifft, gilt für den Gesamtkomplex körperlicher Ausdrücke: Der Weg aus der Mehrdeutigkeit hin zur sicheren Interpretation führt nur über die Kombination vieler verschiedener Expressionen verschiedener körperlicher Signalwege. Kommunikative Klarheit benötigt Komplexität, benötigt den Zusammenklang der Diversität. Um diese Komplexität einigermaßen erfassen zu können, ist der Mensch auf sein unterbewusstes Perzeptionsvermögen angewiesen, denn die bewusste Wahrnehmung allein kann diese Anforderung nicht bewältigen. Und auch seitens der Expressionsaussendung muss ein Großteil des kombinierten Gesamtausdrucks dem Unterbewusstsein und seinen reaktiven und unwillkürlichen Prozessen überlassen

301 Grammer et al., Non-verbal behavior as courtship signals: the role of control and choice in selecting partners, S. 387.

215 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

werden. Denn der Mensch sendet unablässig, hochauflösend und auf allen Kanälen. Wie kompliziert ist nun die nonverbale Kommunikation des Menschen? Einen Komplexitätsgrad, ausgedrückt auf einer numerischen Skala, kann wohl niemand angeben. Was man aber tun kann, ist die sich multiplizierenden Dimensionen aufzeigen, wodurch eine grobe Vorstellung des körperlichen Sprachraums entsteht: Die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten der eher offensichtlichen Signale sind durch das letzte Zitat bereits dargestellt – doch das ist bloß der Anfang. Man erinnere sich an den unter 5.4.2.2.2.1 beschriebenen ganzkörperlichen Feinabgleich, der wie ein individueller Paartanz komplizierte Bewegungsmuster vollzieht, um Kompatibilität zu prüfen, und beiderseits vollkommen unbewusst stattfindet. Man erinnere sich an den enormen Klangraum der menschlichen Stimme, bei dem sich allein das Stimmtimbre aus einer Vielzahl subtiler Einzelparameter konstituiert und im Zusammenspiel mit der Tonhöhe, dem Sprachrhythmus und der Lautstärke ein hochkomplexes Ganzes ergibt. Und man erinnere sich an die immense Diversität menschlicher Gesichtsausdrücke, bei denen filigrane muskuläre Variationen entscheidende Bedeutungsveränderung herbeiführen können. Schon jetzt ist ersichtlich, dass eine Kombination der mannigfachen und im Einzelnen so feingliedrigen Expressionen der unterschiedlichen Signalwege zu einer enormen Informationskomplexität führt. Doch damit nicht genug, denn die hierdurch entstandene, sich in ihren Teilen beeinflussende, expressive Komposition ist in ihrer Bedeutung wiederum maßgeblich vom jeweiligen Kontext abhängig. Dieser erscheint mir zweischichtig aufgebaut zu sein: Die eine Ebene ist der »expressiv-inhaltliche Kontext«. Er bildet sich durch die Bedeutungsabhängigkeit des gegenwärtigen Gesamtausdrucks von den in der Kommunikation zuvor getätigten Expressionskompositionen sowie vom gesprochenen Wort. In Korrelation zum sprachlichen Sinngehalt entsteht also ein mehrschichtiger nonverbaler Bedeutungsstrang, in dem ein Ausdruck oder eine expressive Emulsion nicht als Momentaufnahme betrachtet werden kann, sondern unter Berücksichtigung der in der Zeit fortlaufenden, gesamtinhaltlichen Dynamik der Kommunikation gelesen werden muss. Die zweite Kontextebene betrifft die allgemeinen Bedingungen der Kommunikation, ich nenne sie den »subjektiv-situativen Kontext«. Hierzu zähle ich die charakterlichen Eigenschaften, die Prägungen und die derzeitige psychische und physische Verfassung der kommunizierenden Personen; die Beziehung, 216 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Partnerpräferenz

in der sie zueinander stehen, die ihrerseits vom bisherigen Austausch, der gemeinsamen Geschichte und den gesellschaftlichen Stellungen geprägt ist; alle situativen Bedingungen wie die Beschaffenheit des Ortes, an dem die Kommunikation stattfindet (Temperatur, Lichtverhältnisse, Geräuschkulisse, körperlicher Freiraum, Ästhetik der Umgebung u. a.), die Menschen, die der Kommunikation mit all ihren Eigenschaften und sozialen und emotiven Relationen zu den Akteuren beiwohnen, sowie die Gesamtheit soziokultureller Vorgaben und Tabus – eben all die unzähligen Randbedingungen, die eine reale Situation ausgestalten. Spätestens unter Einbezug dieser Aspekte ist die Komplexität schlicht überwältigend. Dabei sind die genannten Parameter keine irrelevanten Nebeninformationen, sondern Voraussetzung für eine der tatsächlichen Bedeutung emotiver Expressionen nahe kommenden Interpretation. Erst nach Prüfung möglichst aller Ebenen können wir die Bedeutung einigermaßen sicher erschließen. Es ist nämlich ein beträchtlicher Unterschied, ob jemand blinzelt und den Mund in die Breite zieht, weil ihn die Sonne blendet oder weil er bei normaler Beleuchtung durch Zwinkern und Lächeln auf sich aufmerksam machen möchte, ob jemand die Stimme erhebt, weil er aufgrund der lauten Musik sonst nicht gehört würde oder weil er Ärger ausdrücken möchte, ob ein Angestellter seinem Chef auf die Schulter klopft oder einem Kollegen, ob jemand auf einem Berggipfel zusammen mit seinen Freunden steht und anfängt laut zu jodeln oder ob er dasselbe im Aufzug unter Fremden tut … Natürlich ist der menschliche Geist dabei nicht imstande (bewusst oder unterbewusst, als Sender oder Perzipient), jedes Detail aller Dimensionen einer Kommunikation in seine Bedeutungsinterpretation einzubeziehen. Vor dem Versuch, menschliche Interaktion, vor allem solche in Gruppen, bis ins Letzte zu berechnen, sollte vielleicht sogar gewarnt sein. Denn wiederholtes Scheitern oder immer bessere Erfolge könnten einerseits zu Unsicherheit und Frustration und andererseits zu zwanghafter mentaler Belastung führen. Mit den hier dargelegten Überlegungen möchte ich also auf die reale Möglichkeit einer Übertragung komplexer nonverbaler Informationen hinweisen – nicht vermittelt durch einen einzelnen Signalweg, sondern codiert in der Gesamtheit körperlicher Expressionen, die in fortlaufender Abhängigkeit zu den expressiv-inhaltlichen und subjektiv-situativen Kontexten stehen und die sowohl mithilfe des Unterbewusstseins intuitiv und reaktiv als auch bewusst gesendet und perzipiert werden. Gleichzeitig möchte ich zu einer gewissen Ge217 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Wie und wieso ist die Liebe? Romantische Liebe in den Einzelwissenschaften

lassenheit bezüglich eigener »Sendekontrolle«, individueller Perzeptionsgrenzen und interpretativer Fehlbarkeit raten. Alle Details der kommunikativen Wirklichkeit können wir nicht integrieren – wir erfahren ja nicht einmal, was wir alles erfassen.

218 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

6 So ist die Liebe. Naturalistische Aufklärung der empfundenen Mystik des Liebens

»The miracle of love will take away your pain, when the miracle of love comes your way again« intonierte Annie Lennox im Jahre 1986 und etablierte sich damit in den Singlecharts gleich zehn verschiedener Länder. Der internationale Erfolg des Titels gründete, neben seiner kompositorischen und interpretatorischen Popqualitäten, nicht zuletzt auch auf dieser titelgebenden Textzeile: »Das Wunder der Liebe, das Mysterium des Liebens.« Denn seit jeher erscheint dem Menschen die Romantische Liebe als geheimnisvolles und unergründliches Phänomen. In Dichtungen und Denkschriften verschiedener Epochen wurden ihr transzendentale Wirkkräfte und eigene charakterliche Eigenschaften wie Launenhaftigkeit und Unzähmbarkeit, aber auch Wahrhaftigkeit und Güte zugesprochen (vgl. 3): Ohne Rücksicht auf Etikette ergreift sie Besitz von der Natur des Menschen und beherrscht fortan sein Handeln und Denken. Sie entsteht aus dem Nichts und kann sich spontan zu nichts verflüchtigen. So scheint sie keiner irdischen Kausalität zu folgen und erhebt sich gleichermaßen über Ethos und Ratio. Weil sie sich auf diese Weise dem intuitiven Verstehen und der Kontrolle des Menschen entzieht, erhielt die Romantische Liebe (und erhält in vielen Weltanschauungen noch heute) den Status einer metaphysischen Entität, einer Sache also, die mit Empirie und menschlicher Vernunft in ihren Wirkprozessen grundsätzlich nicht zu begreifen ist. Doch stimmt das tatsächlich? Ist der Fall »Romantische Liebe« mit diesem Zugeständnis an unser begrenztes Erkenntnisvermögen abgeschlossen? Sollten wir das Phänomen als nicht von dieser Welt und daher nicht intelligibel deklarieren? Nein, denn das griffe entschieden zu kurz. Es ist wahr, dass sich Liebe unverhofft entfachen und ebenso unvermittelt wieder auflösen kann; es ist wahr, dass sich ihre Kausalprozesse unserer Reflexion entziehen, und es stimmt auch, dass sie dadurch ihrer eigenen Logik und oft vermeintlichen Unlogik zu folgen scheint. Doch deshalb entzieht sie sich nicht grundsätzlich unserer Erkenntnis, denn die intui219 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

So ist die Liebe. Aufklärung der Mystik des Liebens

tive Analyse von Empfindungen kann nicht so einfach über den ontologischen Status einer Sache entscheiden. Nicht, bevor nicht genauer hingeschaut wurde, ob sich aus dem empirischen Wissen erhellende Schlüsse ziehen lassen. In diesem Abschnitt möchte ich anhand der Erkenntnisse der Einzelwissenschaften des vorangegangenen Kapitels darlegen, dass die empfundene Mystik der Liebe auf naturalistischer Ebene vollständig erklärt werden kann und dass somit vorerst keine Einführung einer zweiten oder gar dritten Seinsebene oberhalb eines naturalistischen Monismus notwendig ist. Denn ein Zaubertrick ist doch bloß so lange verblüffend, bis man ihn durchschaut – oder präziser: bis man erkannt hat, mittels welcher Kniffe seitens des Illusionisten und durch welche Vorannahmen seitens seiner selbst man verblüfft wurde. Ob diese Analogie das menschliche Erkenntnisverhältnis zur Romantischen Liebe tatsächlich präzise abbildet, wird sich am Ende des Kapitels herausstellen.

6.1 Die Komplexität der Prozesse An dieser Stelle müssen die enorme Diversität und der komplizierte Aufbau der Expressionen sowie deren beeinflussende Kombination und Abhängigkeit von der akuten Situation, die die Komplexität noch einmal vervielfacht, vergegenwärtigt werden. 302 Schon die Komplexität dieses Teilaspektes der Romantischen Liebe war außerordentlich. Doch das ist noch lange nicht das Ende, denn es laufen noch viele weitere Prozesse im Körper eines liebenden Menschen ab. Ich beginne mit den zerebralen Abläufen. Das menschliche Gehirn ist neben dem Aufbau der Gesamtheit aller Dinge, also dem Universum, die komplizierteste Sache, die uns bekannt ist. Es besteht aus geschätzten einhundert Milliarden (100.000.000.000) Neuronen, eine unvorstellbare Zahl. Wenn man nun bedenkt, dass diese Zellen über etwa einhundert Billionen (100.000.000.000.000) Synapsen funktional, also nicht zufällig, sondern sinnvoll miteinander verbunden sind, kann man eigentlich nur noch schweigen und staunen. Zum einen ob der unvorstellbaren Komplexität dieses Apparats und zum anderen ob des Resultats eines so extraordinären, höchst distinkten, seiner inneren Beschaffenheit nach aber vollkommen homogenen Phänomens wie dem des menschlichen Bewusstseins – ganz zu schweigen vom 302

Vgl. 5.1, 5.3 und 5.4, insbesondere 5.4.2.2.3.

220 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Komplexität der Prozesse

unermesslichen Spektrum menschlicher Empfindungen, Gedanken und Konklusionen, das unsere Kunst, Philosophie und die gesamte Wissenschaft über Jahrtausende aufschichtete und Menschsein überhaupt erst möglich macht. Nun benötigt das neurale Korrelat der Romantischen Liebe natürlich nicht alle Gehirnzellen gleichzeitig. Wie jedoch unter 5.3.1 und 5.3.3 herausgestellt wurde, sind alle drei Hirnschichten beteiligt: Die triebhafte Motivation und die Aufmerksamkeit korrelieren in den Basalganglien, die emotive Verarbeitung im limbischen System und das bewusste Erleben sowie das Vorstellungsvermögen im Neocortex. Der Mensch liebt also mit seinem ganzen Gehirn und die Vorgänge sind dementsprechend komplex: ein fortlaufendes Innervieren und Inhibieren von vielen Milliarden Zellen anhand verschiedenster Transmitter, ein Verschalten, Verrechnen und Organisieren von Informationen, ein Abgleich mit den Signalen der Sinneszellen, deren Aktivität ihrerseits verrechnet und interpretiert werden muss, und ein permanentes Kontrollieren, Rückwirken und Korrigieren mittels höherer Funktionseinheiten. Allein die Existenz des menschlichen Bewusstseins, das »nur« im Neocortex stattzufinden scheint, stellt Neurowissenschaften und Philosophie vor ein Problem, von dem nicht einmal sicher ist, ob es das menschliche Erkenntnisvermögen nicht grundsätzlich übersteigt. Ausgehend von diesen Gegebenheiten kann man eine grobe Vorstellung von der neuralen Komplexität eines so umfassenden Phänomens bekommen, wie es die Romantische Liebe darstellt. Und um die Sache zu krönen: Die Architektur des Systems Gehirn ist nicht statisch, sondern kann sich durch die Erfahrungen des Individuums in ihrer Feinstruktur verändern. Liebe ist also nicht nur wegen der einzigartigen Neurophysiologie des Individuums und der akuten Bedingungen einmalig, sondern schon dadurch, dass das liebende Gehirn sich selbst und damit das neurale Korrelat jedes Liebesaugenblicks fortlaufend verändert. Es bedarf wohl keiner weiteren Worte, um die Komplexität der Liebe auf zerebraler Ebene zu verdeutlichen. Ich komme daher zum nächsten Aspekt, der Wirkungskomplexität somatischer Substanzen. Pheromone wie das weiter oben besprochene Kopulin können physiologische Prozesse in Gang setzen: beispielsweise die Anregung des Hypothalamus zur Ausschüttung von GnRH, das die Hypophyse veranlasst, LH zu sezernieren, das wiederum die Leydig’schen Zwischenzellen der Hoden stimuliert, Testosteron abzugeben. Solch vereinfachende Darstellungen reichen 221 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

So ist die Liebe. Aufklärung der Mystik des Liebens

aus, um eine Übersicht der Wirkzusammenhänge zu geben, werden den tatsächlichen Vorgängen aber bei Weitem nicht gerecht. Auf molekularer Ebene laufen unzählige komplizierte und in weiten Teilen unerforschte chemische Wechselwirkungen zwischen den Substanzen und den ihrerseits sezernierenden Organen ab. In den Feinheiten haben wir viele Funktionen unseres Körpers nur ansatzweise ergründet, weil einerseits der Einzelvorgang in seinen kleinsten Elementen schwer untersucht werden kann und andererseits das Wirkungsnetzwerk verschiedener Vorgänge so ungeheuer kompliziert ist. Es ist unter anderem deshalb so komplex, weil die allermeisten Wirkstoffe des Körpers multiple physiologische Effekte hervorrufen, also immer gleichzeitig mehrere Wirkungsketten in Gang setzen oder hemmen. Zudem beeinflussen sie sich gegenseitig, wie unter 5.3.2 am Beispiel der Wechselwirkung von Testosteron, Dopamin, Noradrenalin, Oxytocin und Vasopressin deutlich wurde. Die korrelierenden Wirkungen hängen wiederum von der Sezernierungsmenge, dem Sezernierungsort, dem Sezernierungszeitpunkt und von der allgemeinen physiologischen Beschaffenheit des Individuums ab. Der zuletzt genannte Aspekt individueller Konstitution wird etwa am unter 5.4.2.1.2 besprochenen olfaktorischen Immunabgleich ersichtlich: Aufgrund der hohen Anzahl existierender Allele für jedes einzelne Gen des Haupthistokompatibilitätskomplexes und aufgrund der vorwiegend heterozygoten Anlage codiert jeder Mensch für einen individuellen Satz von MHC-Molekülen, die ihrerseits spezifisch an Peptidreste binden, um sie den T-Helferzellen zu präsentieren. Dadurch entsteht eine Komposition verschiedener Düfte, die die Beschaffenheit des MHC olfaktorisch abbildet und die sich den allgemeinen Körperausdünstungen zumischt, welche wiederum von der Ernährung und den Stoffwechselaktivitäten des Subjekts abhängen. Ob dieser individuelle Körpergeruch nun physiologische Prozesse in einem anderen Menschen auslöst und, wenn ja, welche und in welcher Ausprägungsstärke, hängt entscheidend von der HaupthistokompatibilitätskomplexBeschaffenheit des Riechenden ab, denn sie entscheidet über dessen olfaktorische respektive genetische Vorlieben. Schon anhand dieser einzelnen physiologischen Ausschnitte sollte nachvollziehbar werden, dass Liebe auch auf Ebene der funktionellen Körpersubstanzen enorme Komplexität aufweist. Um eine annähernd realistische Einschätzung der Gesamtkomplexität der Romantischen Liebe zu erhalten, genügt es jedoch nicht, die Komplexitäten dieser Einzelkomponenten, also die der expressi222 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Komplexität der Prozesse

ven Kommunikation, die der zerebralen Prozesse und die der übrigen physiologischen Abläufe, zu addieren beziehungsweise zu multiplizieren, denn dies sind lediglich die innerlichen Parameter des Moments. Hinzu kommen die unüberschaubare Menge soziokultureller Beeinflussung sowie das Gepräge ontogenetischer und phylogenetischer Prozesse der Vergangenheit. Zu guter Letzt muss das so entstandene Komplexitätsungetüm gedanklich zurück in den Augenblick transferiert werden, um es mit der Gesamtheit der Eigenschaften der sich bietenden Umwelt zu multiplizieren – gemeint sind alle extrasomatischen Parameter, also alle physikalischen, biologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen einer realen Situation (vgl. 5.4.2.2.3). Denn nur unter Berücksichtigung der situativen Bedingungen würden sich die Dynamik der Gefühle und das Handeln des Liebenden fundamental erklären lassen. Ich glaube, nicht erst nach dieser letzten Komplexitätsstufe ist meine Ansicht klar geworden: Der Mensch ist nicht einmal ansatzweise imstande, die Prozesse seiner eigenen Liebe zu erfassen, weil ihre Komplexität nicht nur die Rechenleistung seines Gehirns übersteigt, sie sprengt gar sein Vorstellungsvermögen. Wieso aber ist diese Erkenntnis so wichtig? Weil sie schon für sich genommen das Mysteriöse der Romantischen Liebe erklären kann: Der Mensch ist seiner Natur nach nämlich so veranlagt, dass er Dingen, die er nicht intuitiv begreift, eine transzendente Aura andichtet. Durch die Entschlüsselung ihrer Funktionsweise haben inzwischen die meisten Naturphänomene ihren metaphysischen Schimmer verloren (zumindest in wissenschaftlich aufgeklärten Regionen der Erde). So ist ein Regenbogen zwar immer noch schön anzusehen und hebt das Gemüt, er erscheint uns aber nicht mehr magisch, weil er uns vereinfacht als optischer Effekt begreiflich ist. Die Liebesphysiologie des Menschen hingegen ist ungleich komplizierter als dieses physikalische Phänomen, so kompliziert, dass das Gehirn des Liebenden sie niemals in einem logisch konsistenten und kontinuierlichen Gedankengengang erfassen wird. Dass sich Naturphänomene wie ein Regenbogen viel einfacher entmystifizieren lassen als die Romantischen Liebe, hat jedoch noch weitere gewichtige Gründe.

223 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

So ist die Liebe. Aufklärung der Mystik des Liebens

6.2 Die introspektive Transparenz der physiologischen Abläufe, die Unbewusstheit der Kommunikation und die Irrelevanz des Wissens um individuelle Prägung und evolutive Determination Der Begriff »Transparenz« bedeutet hier nicht wie im herkömmlichen Sprachverständnis, dass etwas klar und deutlich in seinen Teilen erkennbar und daher durchschaubar ist, sondern dass es im Gegenteil durchsichtig ist, im Sinne von unsichtbar. Die introspektive Transparenz der physiologischen Abläufe der Romantischen Liebe bezeichnet also den Umstand, dass der Liebende zwar spürt, dass er liebt, jedoch nicht die einzelnen, dem Phänomen zugehörigen und einander verursachenden Prozesse erlebt: Er spürt durch kein Kitzeln unter seiner Schädeldecke, welche Hirnareale gerade aktiv sind; er kann es nicht hören, wenn sein rechtes ventrales Tegmentum Dopamin ausschüttet, um seinen Nucleus caudatus zu aktivieren; er kann den abfallenden Serotoninspielgel und die beim Orgasmus freigesetzten Vasopressin-Moleküle nicht schmecken – diese und all die übrigen physiologischen Abläufe kann seine Introspektion nicht diskriminieren, wodurch sie sich seiner bewussten Wahrnehmung entziehen. Er spürt nur das Kontinuum seiner Liebeswallungen, scheinbar unverursacht, unergründlich und daher mystisch. Wie in Kapitel 5.4.2 herausgestellt wurde, erfolgt ein beträchtlicher Teil der Aussendung und Perzeption von Kommunikationssignalen zwischen Verliebten ohne bewusste Wahrnehmung: die olfaktorische Reizaufnahme von Pheromonen sowie von Duftcocktails zum Abgleich der Immunausstattungen; der unterschwellige »Courtship-dance«; der subtile Klang der Stimme, der zu filigran ist, als dass er fortlaufend reflektiert werden kann; der dynamische Ausdruck des Gesichts, der durch das feine Zusammenspiel kaum wahrnehmbarer Einzelregungen ein großes Spektrum unwillkürlich ausgesendeter und unbewusst perzipierter Signale umfasst. In den meisten Situationen laufen die genannten Prozesse parallel ab, beeinflusst voneinander sowie durch den kontinuierlichen Abgleich zum sprachlichen Inhalt. Es entsteht ein in seinen Teilen hochkomplexes, im Ganzen aber homogen ineinander geflochtenes Kommunikationsband, das sich fortlaufend unterhalb der Bewusstseinsoberfläche der beteiligten Personen erstreckt. Auch die Existenz dieses verdeckten Austauschs ist schon für sich genommen in der Lage, die Mystik der Romantischen Liebe zu erklären. Denn wenn sich dem Bewusstsein des Liebenden 224 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Introspektive Transparenz, unbewusste Kommunikation und irrelevantes Wissen

entzieht, was er selbst kommuniziert und welche Informationen er vom Geliebten empfängt, so kann er seine eigenen emotiven Reaktionen, die sodann als fertige Phänomene in seiner bewussten Wahrnehmung auftauchen, unmöglich rational begründen. Weil ihm die wesentlichen Informationen fehlen, erscheinen ihm einige seiner Empfindungen ohne erkennbare Ursache und widersprechen unter Umständen gar seiner bewussten Reflexion der Gegebenheiten. Dadurch bekommt die Romantische Liebe den Anschein einer autonomen oder akausalen Entität, die sich nicht bändigen oder erklären lässt, dadurch erscheint sie mystisch. Neben den akuten physiologischen und kommunikativen Aspekten der Liebe spielen für die naturalistische Fundierung ihrer Mystik auch Prozesse der Vergangenheit eine Rolle, nämlich die der individuellen Prägung und der evolutiven Determination. Jeder Mensch hat eine spezifische Disposition bezüglich der Wahl eines Partners und reflektiert diese Voreinstellung mehr oder weniger bewusst: Womöglich ahnt er, durch welche persönlichen Erfahrungen mit dem sozio-kulturellen Umfeld sich seine Vorlieben herausgebildet haben (vgl. 5.4.1.2). Doch die Gesamtheit seiner äußerlichen und innerlichen Erfahrungen, aus der sich das komplexe und in der Zeit veränderliche Bild eines idealen Partners konstituierte, das in Sekundenbruchteilen zum Abgleich mit realen Personen zur Verfügung steht, kann er weder einsehen noch berechnen. Vielleicht weiß er auch einige Fakten zu den phylogenetischen Zusammenhängen, durch die sich allgemeingültige Attraktivitätsattribute und bestimmte Bindungsformen im Erbgut des Menschen etabliert haben (vgl. 5.1.2 und 5.4.1.1). Doch dies sind bloß bruchstückhafte Kenntnisse einer Theorie, deren Zeitspannen allein schon schwer zu begreifen sind. Für eine intuitiv wirksame Erklärung der empfundenen Liebeszustände ist aber (u. a.) ein konsistentes Begreifen der relevanten Prägprozesse Voraussetzung. So kann die unvollständige Einsicht des Menschen in phylo- und ontogenetische Vorgänge nur eine abstrakte Vorstellung ohne subjektiven Bezug erzeugen, wodurch sie für ein innerliches Begreifen des Phänomens weitgehend irrelevant ist. Ich resümiere: Die Mystik der Romantischen Liebe ist multipel expliziert. Einerseits sind die neuralen, die biochemischen, die kommunikativen, die onto- und phylogenetischen sowie die situativen Abläufe viel zu kompliziert, als dass der menschliche Geist sie in einer ihm verständlichen Form integrieren könnte. Andererseits bleibt ihm selbst der Versuch dazu verwehrt, weil er die Prozesse im Augenblick 225 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

So ist die Liebe. Aufklärung der Mystik des Liebens

seiner Liebe nicht erkennen kann und weil ihm zu den Prägprozessen der Vergangenheit die Details und der emotive Konnex fehlen.

6.3 Die Ineffizienz antagonistischer Explanationen, die phänologische Immunität und die ontologische Entmachtung der Mystik Mit dem Gesagten ist die Mystik der Romantischen Liebe bereits naturalistisch erklärt. Es könnte jedoch noch einen weiteren Umstand geben, der das vollständige Begreifen des Phänomens mittels menschlicher Kognition verhindert. Um diesen zu verdeutlichen, nehme ich einmal an, dass die bisher angeführten Argumente nicht gelten: Vorgestellt sei, dass der Mensch die Möglichkeit hätte, sich an eine »Liebesanalysemaschine« anzuschließen, die alle nur erdenklichen Daten im Zusammenhang mit seiner Gefühlswelt auswirft, aus Vergangenheit und Gegenwart und in Echtzeit. Vorgestellt sei weiterhin, dass der Mensch imstande wäre, diese Daten in seinem Geiste zu einem einheitlichen Gedankengebäude zu schichten, sodass er einen universellen Einblick bekommt, der alle Faktoren umfasst und gleichzeitig bis in deren feinste kausale Details hineinreicht. Die entscheidende Frage ist nun, ob diese Einsicht die Liebe auf solche Weise entmystifizieren könnte, dass wir unser Erleben fortan als Produkt der physiologischen Prozesse intuitiv begreifen, oder ob sie keine Auswirkung auf die kategoriale Interpretation unserer Empfindungen hätte. Zur Beantwortung sollten zwei Umstände bedacht werden. Einerseits sind die Erkenntnisse, die wir durch logische Verknüpfung der Informationen der »Liebesanalysemaschine« erhalten, intelligibel, also dem Bereich der Kognition zugehörig. Andererseits legen unsere Alltagserfahrungen nahe, dass weder Herleitungen auf kognitiver Ebene befriedigend auf Fragen zu Phänomenen auf Empfindungsebene antworten, noch dass Erklärungen auf emotionaler Ebene rein kognitive Zusammenhänge begreifbar machen. Zur Verdeutlichung kann man sich einen Arzt vorstellen, der herausfinden möchte, wieso sein Patient immer wieder unkontrollierbar einschläft. Über viele Wochen stellt er verschiedenste Untersuchungen an, kann die Ursache des Leidens aber nicht diagnostizieren. Resigniert wendet er sich an seine Kollegen, doch auch sie wissen keinen Rat, woraufhin der Arzt seinen Fall in einer Fachzeitschrift darstellt. Einige Tage nach der Publikation erreicht ihn der Anruf eines renommierten Experten 226 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phänologische Immunität und ontologische Entmachtung

für Schlafanomalien, der ihm freudig mitteilt: »Herr Kollege, ich habe die Lösung gefunden: Ihr Patient schläft so häufig ein, weil er sich regelmäßig ungeheuer müde fühlt.« Es ist leicht nachzuvollziehen, dass diese Erkenntnis unmöglich befriedigen kann. Denn sie betrifft das Empfinden des Patienten, nicht dessen physiologische Verfassung, die der Arzt aber zu verstehen sucht. Ebenso unbefriedigend wäre es für ein junges Mädchen, wenn es fragt »Mama, was ist Liebe?« und seine Mutter daraufhin beginnt, von den Körperduft bildenden Aktivitäten des Haupthistokompatibilitätskomplexes zu referieren. Sobald es sich zum ersten Mal verliebt, hält es die Aussagen der Mutter für widerlegt, weil es gar nicht findet, dass der Junge aus der Parallelklasse ein tolles Immunsystem hat, sondern dass er ganz einfach furchtbar süß ist. Mit diesen zugegebenermaßen ein wenig konstruierten Geschichten möchte ich verdeutlichen, dass eine Sache am überzeugendsten in ihrer »eigenen Sprache« Erklärung findet. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich um »extreme Entitäten« handelt, um solche also, die im Spektrum von Ratio und Sentiment eine Randposition einnehmen: Eine gefühlsgeleitete Erklärung dafür, dass fünf minus zwei drei ergibt, wird auf wenig Verständnis stoßen, denn dieser Sachverhalt bildet ein rationales Extrem und bedarf daher einer rationalen Begründung. Der oben erwähnte Regenbogen nimmt auf dieser Skala eine relativ neutrale Position ein: Durch seine bunte Lichtgestalt und Imposanz berührt er unser ästhetisches Gefühl und wird deshalb als bewegend schön oder beglückend empfunden. Ebenso gültig jedoch ist seine Beschreibung als physikalischer Effekt, bei dem sich das Sonnenlicht mehrfach in den Körpern atmosphärischer Wassertropfen bricht und von deren inneren Rückseiten in Spektralfarben zum Beobachter reflektiert wird. Dadurch, dass diese Erklärung allgemein als befriedigend angesehen wird, gilt ein Regenbogen zwar weiterhin als herrlich anzusehen, gleichermaßen aber als rational verstanden, wodurch er seine mystische Aura verliert. Dabei ist es nicht etwa die funktionelle Trivialität, die ihn im Gegensatz zur Liebe der Entmystifizierung aussetzt – die grundlegenden Aspekte dieses Naturphänomens reichen bis hin zu quantenphysikalischen Fragestellungen und die subjektive Farbwahrnehmung stellt uns vor schwerwiegende bewusstseinsphilosophische Probleme. Der Grund, aus dem mit dem Regenbogen und seinen vereinfachenden Erklärungen leichter »epistemischer Frieden« geschlossen werden kann, ist ein anderer: Er findet der Intuition des Menschen nach außerhalb des Bewusstseins statt. Die Liebe hingegen wird als vollkommen inner227 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

So ist die Liebe. Aufklärung der Mystik des Liebens

lich empfunden. 303 So, wie eine einfache Subtraktion ein rationales Extrem darstellt, bildet sie ein gegenüberliegendes emotives Extrem. Und so, wie mathematische Probleme einer rationalen Erklärung bedürfen, bedarf die Liebe einer gefühlsbezogenen Erklärung. Denn extreme Entitäten lassen sich nicht überzeugend durch Begriffe und Zusammenhänge des antagonistischen Extrems erläutern. Die Frage, ob ein tatsächlich universal-rationales Verständnis der Liebe unser Erleben integrieren und es damit auf neue Weise begreifbar machen würde, möchte ich zurückstellen und im Kontext des nächsten Kapitels behandeln. Hingegen halte ich es an dieser Stelle für entscheidend, dass selbst bei optimistischsten, aber einigermaßen realistischen anthropologisch-epistemischen Zukunftsszenarien, die keine fantastischen kognitiven Fähigkeiten des Menschen implizieren, die folgende Einschätzung zutrifft: Am Grunde der allermeisten Erkenntnisse tun sich fundamentale Fragen auf, weil wir die Funktionsweisen des Universums inklusive unserer Existenz darin nicht vollständig entschlüsselt haben. Wenn die Untersuchungen aber unser unmittelbares Erleben zum Gegenstand haben, erhalten die Fragen herausragende Bedeutung und lassen sich mittels inadäquater Schlussfolgerungen nicht intuitiv überzeugend erklären. Weil das Phänomen der Romantische Liebe ein innerlich-emotives Extrem bildet, wird keine Kognition des Menschen jemals hinreichen, um die Mystik des Liebens aus seinem Erleben wegzuerklären. Es mag also stimmen, dass Zaubertrick und Regenbogen nur so lange verblüffen können, bis sie logisch erklärt sind, und es mag sogar denkbar sein, dass dies grundsätzlich auch für die Liebe gilt – es gilt aber nicht für den liebenden Menschen. Weil sie den epistemischen Antagonismus unserer emotiven und kognitiven Natur nicht realistisch berücksichtigt, kann die eingangs formulierte Analogie das Erkenntnisverhältnis des Menschen zur Romantischen Liebe letztlich nicht korrekt abbilden. Das ist die abschließende Begründung der Mystik samt Ableitung ihrer phänologischen Immunität. Da diese Überlegungen thematisch schon ins siebte Kapitel meiner Abhandlung hineinreichen, möchte ich hier bloß noch das Fol303 Inwieweit eine optische Erscheinung tatsächlich außerhalb des menschlichen Bewusstseins stattfindet bzw. ob sie mit dem gleichgesetzt werden kann, was die menschliche Wahrnehmung aus ihr formt, ist eine abseitige, wenngleich überaus wichtige Frage. Im Text allerdings geht es um die Einschätzung dieser Verhältnisse gemäß dem natürlichen Erleben des Menschen. Diese Perspektive meine ich, wenn ich die Begriffe »Intuition« oder »intuitiv« verwende.

228 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Phänologische Immunität und ontologische Entmachtung

gende konstatieren: Die empfundene Mystik kann anhand der dargelegten (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisse erschöpfend, denn sogar multipel erklärt werden. Auch wenn diese Einsichten nicht zu einer Entmystifizierung auf phänomenaler Ebene führen werden, haben sie dennoch die Autorität, die Mystik als legitimierendes Moment für die Integration überempirischer Axiome zu disqualifizieren. Denn sobald etwas mit klaren kognitiven Schlüssen verstanden ist, ist es aus Gründen der theoretischen Sparsamkeit 304 illegitim, es mit aufwendigen (übernatürlichen) Zusatztheorien zu behängen. Die Mystik bleibt dem Liebenden also als innerliches Phänomen erhalten, ist jedoch durch die naturalistischen Konklusionen in ihrer philosophischen Aussagekraft über den ontologischen Status der Romantischen Liebe entmachtet. Ob die Liebe abseits der empfundenen Mystik zusätzliche Seinsebenen rechtfertigen kann, wird eine Frage des nächsten Kapitels sein.

304

Zum Sparsamkeitsprinzip vgl. 7.5.1.1.

229 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

7 Was ist die Liebe? Die Romantische Liebe aus epistemologischer, ontologischer und heuristischer Perspektive

Nachdem erörtert ist, wo die Liebe ist (die interkulturelle Umschau), was Liebe bedeutet (die Etymologie der Liebe), wann es Liebe ist (das Modell der Liebe) und wie und wieso die Liebe ist (die naturalistische Reflexion der Liebe), gilt es nun die letzte große Frage zu stellen: Was ist die Liebe? In diesem Kapitel möchte ich untersuchen, mit welcher wissenschaftlichen Haltung der Mensch am meisten vom Wesen der Romantischen Liebe erfahren kann. Welche Konsequenzen hat unser subjektives Erleben der Liebe für ihren ontologischen Status, ihre Zuordnung zu einer bestimmten Art des Seienden? Und gibt es neben den physikalischen Dingen und Prozessen überhaupt noch anderes Seiendes in der Welt? Und wenn nicht, wie sollte man damit umgehen, ohne die Liebe aus dem Blick zu verlieren? Schon mit diesen allgemeinen Überlegungen steht man vor dem klassischen Problem von Körper und Geist, das ich nachfolgend umreißen möchte.

7.1 Ein einleitender Blick auf das Körper-Geist-Problem Das Körper-Geist-Problem, klassisch Leib-Seele-Problem genannt, ist eines der ältesten philosophischen Themen und einer der zentralen Gegenstände der Philosophie des Geistes. Allgemein verstanden bezeichnet es die Schwierigkeit, den menschlichen Geist – also die Gedanken und Empfindungen sowie das Bewusstsein eines Menschen für diese Geistestätigkeiten und darüber hinaus das Bewusstsein für sich selbst als Individuum mit einmaliger Perspektive auf die Welt – als notwendiges Produkt unserer Physiologie und deren Prozesse und Eigenschaften zu verstehen. Vereinfacht ausgedrückt: Wie kann das menschliche Gehirn als natürliche »Maschine« mittels seiner Funktionen, seien sie ein noch so spektakuläres Feuerwerk neuraler Oszillation, so etwas Eigenartiges wie geistigen Gehalt erzeugen? Wie genau erfolgt der Übergang zwischen unserer Körperlichkeit und dem, 230 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Ein einleitender Blick auf das Körper-Geist-Problem

was wir seit unseren ersten Gedanken als vollkommen selbstverständliches »Tor zur Wirklichkeit« und zu uns selbst gebrauchen? Oder gibt es vielleicht gar keinen funktionellen Übergang? Existiert der Geist des Menschen vielleicht als eigenständiges und zu allem Übrigen verschiedenes Ding? Wie kann aber eine Wechselwirkung zwischen ontologisch verschiedenen Entitäten erfolgen? Wie kann der Geist den Körper befehligen, wie kann er ihn empfinden, sei es im Schmerz, im Hunger oder in der Lust? Schon vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden waren die griechischen Atomisten, unter ihnen Demokrit, Leukipp, Epikur und vor allem Lukrez, der Auffassung, dass räumliche Bewegung nur von einer physischen Entität ausgelöst werden kann. Da Lukrez zufolge der Geist dem Körper die Bewegung befiehlt, müsse auch der Geist materiell sein. So stellte er ihn sich zusammengesetzt aus kleinsten, schnell beweglichen und kugelrunden Atomen vor. Etwa 300 Jahre früher war Platon völlig anderer Auffassung. Er ging von einer eigenständigen Seele aus, die den Menschen seiner Art nach ausmacht und die es vermag, sich nach dem Tod vom Körper zu trennen und unabhängig von ihm zu existieren. Dies wird bereits im unter 3.1.1 behandelten Werk »Phaidros« deutlich. Im »Phaidon« bezieht Platon sich dann konkret auf die Angst vor dem Sterben, indem er seinen früheren Lehrer Sokrates in dessen Todeszelle auf die Frage Kritons »Aber auf welche Weise sollen wir dich begraben?« 305 Folgendes antworten lässt: »Wie ihr wollt, sprach er, wenn ihr mich nur wirklich haben werdet und ich euch nicht entwischt bin. Dabei lächelte er still und sagte, indem er uns ansah: Diesen Kriton, ihr Männer, überzeuge ich nicht, dass ich dieser Sokrates bin, der jetzt mit euch redet und euch das Gesagte einzeln vorlegt, sondern er glaubt, ich sei jener, den er nun bald tot sehen wird, und fragt mich deshalb, wie er mich begraben soll. Dass ich aber schon so lange eine große Rede darüber gehalten habe, dass, wenn ich den Trank genommen habe, ich dann nicht länger bei euch bleiben, sondern fortgehen werde zu irgendwelchen Herrlichkeiten der Seligen, das, meint er wohl, sage ich alles nur so, um euch zu beruhigen und mich mit. […] du [Kriton] musst mutig sein und sagen, dass du meinen Leib begräbst, und diesen begrabe nur, wie es dir eben recht ist und wie du es am meisten für schicklich hältst.« 306 Wo also die Atomisten von einer einzigen Seinsform aus305 306

Platon, Phaidon, 115c. Ebenda, 115c–116a.

231 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

gehen, nämlich der materiellen, ist Platon davon überzeugt, dass es neben der Materie und ihren Gesetzen eine zweite Form der Existenz gibt, die immaterielle Seele, die den menschlichen Geist bildet und nach dem Tode autonom fortexistiert. Mit dieser scheinbar einfachen Unterscheidung lassen sich alle Philosophen in zwei Lager teilen: Jene, die postulieren, dass es nur eine Seinsform gibt, bezeichnet man als Monisten; jene, die glauben, dass es zwei ontologische Ebenen gibt, als Dualisten. Natürlich teilen sich diese Positionen noch in viele Untergruppen, die teils sehr verschiedene Vorstellungen von der Realisierung der Prämissen haben; und bekanntermaßen gibt es Philosophen, sogenannte Pluralisten, die noch eine dritte oder vierte ontologische Ebene postulieren, wie beispielsweise eine göttliche Sphäre. 307 Da diese Theorien jedoch mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind wie die dualistischen (allerdings an zweierlei Fronten), werden sie im Folgenden eine untergeordnete Rolle spielen. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass sämtliche Anschauungen bis zum heutigen Tage als Versuche gelten müssen, unsere Intuition vom Menschsein zu erklären, denn jede Variante stößt auf mehr oder weniger schwere, theoretische und/oder epistemische Schwierigkeiten. Die Analyse dieser Probleme sowie die Differenzierung der monistischen und dualistischen Ansätze werde ich in späteren Abschnitten dieses Kapitels vornehmen – vorab nur so viel: Übergeordnetes Ziel ist es, die sogenannte explanatorische Lücke zu schließen oder zu zeigen, dass sie gar nicht existiert. Aber was genau bedeutet das? Es könnte einerseits bedeuten, eine zufriedenstellende Erklärung dafür zu geben, wie sich aus unserem materiellen Denkapparat unser Geist konstruiert, oder andererseits zu zeigen, worin ein ontologisch autonomer Geist besteht und wie er auf unseren Körper einwirkt. Es könnte auch den Nachweis bedeuten, dass es außer unserem Geist gar nichts anderes gibt, oder den, dass eigentlich gar kein Geist existiert. In gleichermaßen einfachen wie treffenden Worten hat David J. Chalmers die grundlegende Problematik beschrieben: »Consciousness fits uneasily into our conception of the natural world. On the most common conception of nature, the natural world is the physical world. But on the most common conception of consciousness, it is not easy to see how it could be part of the physical world. So it seems that to find a place for consciousness within the natural 307 Auch Platon muss mit seiner Vorstellung der »reinen Ideen« als Pluralist bezeichnet werden, vgl. 3.1.1.

232 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Eine Differenzierung des menschlichen Geistes

order, we must either revise our conception of consciousness, or revise our conception of nature.« 308 Bevor ich mich den Lösungsversuchen der verschiedenen Ansätze zuwende, halte ich es für geboten, den Untersuchungsgegenstand theoretisch etwas einzugrenzen. Andernfalls nämlich läuft man Gefahr, sich schon begrifflich im Explanandum »menschlicher Geist« zu verirren. Ich möchte daher verschiedene Bestandteile unterscheiden, die in ihrer Gesamtheit als menschlicher Geist bezeichnet werden können, um anschließend herauszuarbeiten, welche für die Romantische Liebe von vorrangiger Relevanz sind.

7.2 Eine Differenzierung des menschlichen Geistes Im Bewusstsein der Vereinfachung und im Wissen, dass es für dieses Vorhaben viele andere Herangehensweisen gibt und dass begriffliche Überschneidungen daher wahrscheinlich sind, möchte ich den menschlichen Geist in vier Elemente untergliedern: die Qualia, die intentionalen Zustände, das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein im Sinne des Selbsterlebens.

7.2.1 Qualia Qualia bezeichnen die kleinsten Bestandteile phänomenalen Erlebens. Demnach sind sie die »Elementarteilchen«, die unsere Wahrnehmung von der Welt und von uns selbst konstruieren. Vorgestellt sei ein Sprung vom Fünfmeterbrett in ein Schwimmbecken. Innerhalb weniger Sekunden prasselt eine Unzahl von Qualia auf uns ein: Wir sehen die blauen Beckenfliesen, wie sie durch die bewegte Wasseroberfläche gestaucht und gezerrt werden, wir spüren unseren erhöhten Puls am Hals, das raue Sprungbrett unter unseren Füßen, den freien Fall in unserer Magengegend, wir riechen das Chlor, wir hören das Spritzen, wenn unser Körper das Wasser verdrängt, das Gluckern, wenn unser Kopf unter Wasser taucht, wir spüren die Kühle, wir schmecken das Wasser auf unseren Lippen und spüren erleichternde 308 Chalmers, David J.: Consciousness and its Place in Nature. In: Chalmers, David J. (Hrsg.): The Character of Consciousness. Oxford/New York: Oxford University Press 2010, S. 103.

233 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Euphorie, wenn wir an die Wasseroberfläche aufgetaucht sind. All dies und alles andere, was wir in solcher Weise erleben, ist aufgebaut aus Qualia. Dabei ist es wichtig sich klarzumachen, dass allein das Betrachten der Beckenfliesen aus einer großen Anzahl von Einzelqualia besteht, denn der Begriff bezeichnet ja die Elementarteilchen des (in diesem Fall visuellen) Erlebens. Das bedeutet, dass ein fiktives Standbild einer einzelnen durch die Wasseroberfläche verzerrten Fliese so viele unterschiedliche Qualia besitzt, wie das optische Auflösungsvermögen des Beobachters und seine Differenzierungsfähigkeit bezüglich der Farbgebung (inkl. Helligkeit, Farbsättigung etc.) zu leisten imstande sind. Jedes »Wahrnehmungs-Pixel«, das sich von seinem Nachbarn unterscheidet, bildet ein eigenes Quale. Wenn man sich nun vorstellt, den Film des visuellen Erlebens wieder anlaufen zu lassen, bekommt man einen Eindruck von der ungeheuren Diversität und Menge von Qualia, die wir in jeder Sekunde erleben. Allein das olfaktorische Erlebnis eines abendlichen Sommerspaziergangs durch die Stadt bildet ein kleines Universum, das sich fortlaufend aus zahlreichen Einzelgerüchen collagiert. Und die qualitative Empfindung ist nicht einmal davon abhängig, ob unser Verstand uns bestätigt, dass in der gegenständlichen Welt tatsächlich etwas ist, das wir wahrnehmen. Denn auch Träume, auch (drogeninduzierte) Halluzinationen, auch optische Täuschungen und Nachbilder (z. B. farbige Flecken, die noch einige Zeit nach einer Blendung im Gesichtsfeld erscheinen) bestehen, folgt man der allgemeinen Auffassung, aus Qualia.

7.2.2 Intentionale Zustände Charakteristisch für diese Eigenschaft des menschlichen Geistes ist, dass sie semantischen Gehalt hat. Danach handelt es sich bei intentionalen Zuständen also nicht nur um Absichten, wie der Begriff irreführen könnte, sondern um Überzeugungen, Wünsche, Befürchtungen und dergleichen mehr. Entscheidend ist dabei die Gerichtetheit der Zustände auf einen bestimmten Inhalt. Wenn jemand ein Quale von »Aquamarinblau« erlebt, ist damit weiter kein semantischer Inhalt verbunden. Wenn jemand aber Angst vor etwas empfindet, etwa vor einem Zahnarztbesuch, dann ist diese Empfindung auf eben diese zukünftige Situation bzw. auf die damit einhergehenden körperlichen Unannehmlichkeiten gerichtet. Der Inhalt bestimmt 234 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Eine Differenzierung des menschlichen Geistes

unterdes nicht die Art des intentionalen Zustandes. So kann ich befürchten, dass meine Schwiegermutter zu Besuch kommt oder mich freuen, dass sie kommt – der Inhalt (Schwiegermutter kommt zu Besuch) bleibt derselbe, der intentionale Zustand wechselt. Auch kann ich glauben, dass die Quersumme von 368 = 17 ist und ich kann glauben, dass morgen Dienstag ist – der intentionale Zustand ist derselben Art (ich glaube), der Inhalt wechselt. Während zum Beispiel mathematische Überzeugungen zumeist rein intentionale Geisteszustände sind, haben Zustände der Hoffnung, Trauer, des Zorns etc. auch eine qualitative Komponente. Daher kann man von einem kontinuierlichen Übergang zwischen reinen Qualia auf der einen Seite und rein intentionalen Zuständen auf der anderen Seite sprechen.

7.2.3 Bewusstsein Das menschliche Bewusstsein lässt sich am besten als Wahrnehmung und/oder Kognition der Wahrnehmungen und/oder Kognitionen verstehen: Wir bemerken, dass wir denken und fühlen und sind uns somit dieser Zustände bewusst. So formulierte John Locke: »Bewusstsein ist die Wahrnehmung dessen, was im eigenen Geiste vorgeht.« 309 Und schon 2000 Jahre vor ihm Aristoteles: »Da wir wahrnehmen, dass wir sehen und hören, muss einer entweder mit dem Gesichtssinn wahrnehmen, dass er sieht, oder mit einem anderen Sinn.« 310 Auch heute wird das Bewusstsein weithin als eine Art der Metarepräsentation verstanden, mit der Geistesinhalte erster Ordnung aus einer innerlich distanzierten Perspektive betrachtet werden. Über die Frage, ob diese Repräsentation eine Metawahrnehmung, also ein Empfinden oder eine Metakognition, also ein gedankliches Erfassen ist, herrscht hingegen keine Einigkeit, da beide Versionen mit theoretischen Problemen zu kämpfen haben. 311

309 Locke, John (1690): Versuch über den menschlichen Verstand. Buch II, Kap. 1, § 19. In: Philosophische Bibliothek. Band 75. Hamburg: Meiner Verlag 2000, S. 122. 310 Aristoteles: Über die Seele. 3. Buch, Kapitel II, 425b. 311 Vgl. Güzeldere, Güven: Is Consciousness the Perception of What Passes in One’s Own Mind? In: N. Block, Owen Flanagan, G. Güzeldere (Hrsg.): The Nature of Consciousness – Philosophical Debates. Massachusetts: Institute of Technology 1997, S. 789–805.

235 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

7.2.4 Selbstbewusstsein Mit dieser Bezeichnung ist natürlich nicht Selbstsicherheit gemeint, sondern dass wir uns selbst als jemanden erleben, dass wir eine ErstePerson-Perspektive auf die Welt besitzen, dass wir Ichs sind. Der Philosoph Thomas Metzinger hat treffend die Relevanz dieses Phänomens des Geistes herausgestellt. Nach seiner Selbstmodelltheorie macht das phänomenale Selbst das Bewusstsein erst zu einem subjektiven Phänomen: Selbstbewusstsein entsteht nach Metzinger dann in einem bewussten System, wenn es ein ins System integriertes zeitlich stabiles Bild von sich als Ganzes hat. Diese innere Repräsentation des Selbst bzw. die sie konstruierenden Prozesse müssen aber transparent sein, dürfen also vom System selbst nicht als solche erkannt werden. Dadurch erleben wir uns nicht als von uns simuliert, sondern stehen in direktem Kontakt mit unserem Ich, dadurch sind wir das Ich. 312 Man kann auch sagen, das phänomenale Selbst, die Grundlage aller Selbstreflexion, entsteht genau dann, wenn wir uns beim Repräsentieren – seien es Inhalte erster Ordnung wie die Farbgebung einer Schwimmbadfliese, sei es die Metarepräsentation, dass wir diese Fliese sehen – nochmals als repräsentierend repräsentieren und wenn diese Selbstrepräsentation, abgesehen von ihrem Inhalt natürlich, transparent ist. »Transparenz«, so Metzinger weiter, »ergibt sich aus einer funktionalen Eigenschaft der neuronalen Informationsverarbeitung in unserem Gehirn, die häufig frühere Verarbeitungsschritte für die Aufmerksamkeit nicht verfügbar macht.« 313 Die Transparenz lässt also das phänomenale Selbst entstehen und entlarvt es gewissermaßen gleichzeitig als objektiv nicht existent. Denn es erscheint uns bloß deshalb so unmittelbar, weil wir den zugrunde liegenden physikalischen Prozess, dessen Eigenschaft es ist, nicht erkennen können. Und diese Unmittelbarkeit ist konstitutiv für das Selbstbewusstsein.

312 Metzinger, Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV: Das phänomenale Selbst und die Perspektive der ersten Person. Einleitung. In: Metzinger, Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes, S. 421 ff. 313 Metzinger, Thomas: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung. In: Ders. (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 441.

236 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Liebe als Komposition qualitativer und intentionaler Zustände

7.3 Liebe als Komposition qualitativer und intentionaler Zustände In derselben Reihenfolge, wie ich die »Elemente des menschlichen Geistes« gerade umrissen habe, werde ich sie nun auf ihre Relevanz für eine epistemologische, ontologische und heuristische Analyse der Romantischen Liebe prüfen. Qualia stellen die elementaren Bestandteile unserer Empfindungen dar. Sie lassen sich in drei Gruppen einteilen, die sich ihrerseits in weitere Untergruppen verzweigen. Allgemein gegenwärtig ist der Bereich der Exterozeption. Er bezeichnet die klassischen fünf Wahrnehmungsarten: den Gesichtssinn, den Gehörsinn, den Geruchssinn, den Geschmackssinn und den Tastsinn. Wie im obigen Schwimmbadbeispiel schon deutlich wurde, ist der Qualiatheorie folgend jeder einzelne dieser Empfindungsbereiche und damit unser gesamtes perzeptorisches Spektrum aus unzähligen Einzeleindrücken (Qualia) aufgebaut. Jede Sekunde unserer subjektiven Realität besteht hiernach aus einer Komposition sinnlicher Kleinstbausteine, die sich zu einem homogenen Empfindungsraum zusammenfügen. Es ist leicht zu sehen, dass auch die Liebe in weiten Bereichen auf die perzeptorische Wahrnehmung aufbaut: man betrachtet den geliebten Menschen, betastet ihn, riecht ihn, schmeckt ihn, man lauscht seiner Stimme. Ohne unsere Sinne könnte die biologische Ausrichtung und Wechselwirkung unserer Liebe, wie ich sie in den Kapiteln 5.3 und 5.4 erörtert habe, nicht stattfinden – es wäre nicht einmal möglich, irgendetwas anderes außer sich selbst zu empfinden, was für die Ausbildung von Liebe zu einem anderen Menschen offensichtlich nicht hinreicht. Die zweite Untergruppe der Qualia bilden die Propriozeptionen. Hierbei handelt es sich nicht um nach außen gerichtetes Empfinden der Umwelt, wie es die visuelle, auditive, olfaktorische, gustatorische und haptische Perzeption vermittelt, sondern um die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Ich möchte den Begriff hier als Antonym von Exterozeption verstanden wissen und damit weiter fassen als die geläufige Bedeutung, nach der er die Wahrnehmung der relativen Körperposition, der Bewegung und Stellung von Gelenken sowie der Aktivität von Muskeln bezeichnet. Wenn ich den Begriff verwende, meine ich also auch solche Wahrnehmungen wie Hunger und Durst, Übelkeit, Harndrang, sexuelle Lust, Erschöpfung, das Gefühl der Adrenalinausschüttung und dergleichen. Auch wenn diese körper237 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

lichen Reaktionen nach meiner Definition der Liebe nicht konstitutiv sind, dürfen sie doch als häufige Begleiterscheinung der Romantischen Liebe gelten, wodurch sie in diesem Kontext Relevanz erhalten. Für die Romantische Liebe von substanzieller Bedeutung hingegen ist die dritte Gruppe der Qualia, die der Emotionen. Liebe ohne Gefühle, das ist nicht nur vollkommen kontraintuitiv, sondern scheint schon auf begrifflicher Ebene widersprüchlich zu sein. Dieser Umstand spricht dafür, dass hier das subjektive Zentrum der Romantischen Liebe verortet ist. Emotionen lassen sich weiter aufgliedern in Affekte, Gefühle und Stimmungen. Affekte sind von kurzzeitigem, impulsivem Charakter, es sind heftige Erregungen, zumeist als Reaktionen auf äußerliche Einflüsse. Im Rahmen der Romantischen Liebe könnten aufwallende Euphorie, akute Eifersucht oder das sprichwörtliche »Dahinschmelzen« als Beispiele genannt werden. Gefühle sind gewöhnlich von längerer Dauer und weniger heftig, wie etwa die Freude mit dem geliebten Menschen einen Spaziergang zu machen oder die Sehnsucht, wenn er für einige Tage verreist ist. Stimmungen sind im Gegensatz zu Affekten und Gefühlen oft unbewusst. Sie sind weniger dynamisch, wirken ruhig aber beständig aus dem Hintergrund – sie geben den Grundton der »emotiven Leinwand« vor, auf der sich die Gefühle und mit schrillen Farben und harten Konturen die Affekte ausdrücken. Mit der Romantischen Liebe geht oft eine allgemeine Beschwingtheit einher, die Schweres leichter und Alltägliches schön erscheinen lässt. Auf diese Weise beeinflussen Stimmungen die Ausprägungen von Gefühlen und Affekten. Ich denke, mit dem Gesagten ist ausreichend deutlich geworden, dass die Gruppe der Qualia als ein Teil des menschlichen Geistes für die Untersuchung der Frage »Was ist die Romantische Liebe?« von großer Bedeutung ist. Auch intentionale Zustände sind von besonderer Relevanz für die Romantische Liebe. Denn ein Großteil der Emotionen eines verliebten Menschen hat auf die eine oder andere Weise den geliebten Menschen zum Inhalt. Ich freue mich, dass sie nach Hause kommt, ich leide, weil er mich nicht zurückliebt etc. Um zu zeigen wie verbreitet intentionale Zustände in der Liebe sind, möchte ich noch einmal deren konstitutive Eigenschaften nennen: I. Grundsätzliche emotionale Regung und Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten II. Wertschätzung des Geliebten III. Wunsch nach dem Wir 238 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Liebe als Komposition qualitativer und intentionaler Zustände

IV. V. VI. VII.

Wunsch nach Gegenliebe Wunsch nach körperlicher Intimität Wunsch nach emotionaler Intimität Wunsch nach Weiterführung des Kontakts und emotionaler Verlustschmerz bei Abbruch einer Liebesverbindung Es ist leicht zu sehen, dass zumindest sechs von sieben Eigenschaften intentionalen Gehalt besitzen, da sie sich auf etwas richten: den Geliebten selbst (II) oder einen Zustand mit ihm (III bis VII). Diese Präsenz bedeutet nun aber keine Verdrängung der Qualia, denn beide Aspekte liegen oft in Mischzuständen vor. Der Schmerz des Verlassenwerdens ist eine Emotion und gehört damit zu den Qualia. Es besteht jedoch auch ein intentionaler Zustand, da sich die Emotion auf etwas richtet, nämlich auf den Geliebten bzw. dessen Verlassen der Liebesverbindung. Auf Ebene der Exterozeption enthält die Liebe Qualia, die frei von intentionalem Gehalt sind. Das Riechen des Geliebten ist reine Empfindung ohne weiteren Inhalt und ohne Gerichtetheit, auch wenn der Geliebte Auslöser der Empfindung ist. Auch könnte man dafür argumentieren, dass unbewusste Stimmungen reine Qualia sind, da sie dem Empfinden nach auf nichts bezogen sind und keinen definierten Ursprung haben. Bezüglich rein intentionaler Zustände zeichnet sich ein anderes Bild. Sicher kann man über seinen Geliebten einfache Überzeugungen haben, wie z. B.: »Ich weiß, sie heißt Sabine.« oder: »Ich glaube, er arbeitet als Grundschullehrer.« Solche mentalen Zustände scheinen jedoch keine unmittelbare Relevanz für die Romantische Liebe zu besitzen. Nach meinem Dafürhalten können sie erst dann als der Liebe anteilig gelten, wenn sich ihnen eine Emotion beimischt: »Ich freue mich/es zieht mich an, dass er als Grundschullehrer arbeitet.« Demzufolge sind intentionale Zustände also eine Ergänzung zu den Qualia, ohne die die Liebe nicht auskommt, und Qualia (vor allem die Emotionen) sind das phänomenale Zentrum der Liebe, ohne das die intentionalen Zustände keine Verbindung zur Liebe besitzen. Trotz dieser Hierarchie sind beide Aspekte menschlicher Geisteszustände von Relevanz für das Wesen der Romantischen Liebe. Bewusstsein, wie es hier verstanden sein soll, bedeutet im Wesentlichen, das eigene Empfinden und Denken mit von der reinen Wahrnehmung »distanziertem Blick« zu erkennen. Selbstbewusstsein bedeutet im Wesentlichen, sich selbst als Empfindenden und Denkenden mit »distanziertem Blick« zu erkennen. Beide Geisteszustände agieren also auf einer Metaebene und beide sind innerhalb 239 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

der Liebe wirksam. Es gehört zu unserer Konzeption von Liebe, dass wir uns unserer Gefühle bewusst sind, dass wir versuchen sie zu benennen, zu verstehen, sie bewusst auszukosten oder uns von ihnen bewusst abzulenken, weil sie uns schmerzen. Ebenso ist die Liebe vom Ich-Gefühl durchsetzt, das besonders stark in ihren schmerzlichen Facetten zutage tritt. Denn selten empfindet und reflektiert man sich selbst so intensiv wie in Zeiten des Leids, der Selbstzweifel und Sinnkrisen. Die Frage, die hierbei allerdings gestellt werden sollte, ist, wieso Bewusstsein und Selbstbewusstsein so basal mit der Romantischen Liebe verknüpft zu sein scheinen. Weil diese mentalen Zustände ihr Wesen bestimmen? Gehören sie zu den Elementen, die Liebe entstehen lassen oder sie zu dem machen, was sie ist? Ich möchte nicht bestreiten, dass die Romantische Liebe ohne Bewusstsein und ohne Ich-Gefühl kaum vorstellbar ist. Allerdings denke ich, der Grund dafür ist nicht, dass sie auf besondere Weise mit der Liebe verbunden sind. Tritt man einen Schritt zurück, so wird deutlich, dass beide Zustände auf dieselbe oder noch gravierendere Weise in vielen anderen Bereichen unseres Lebens wirken, denn sie bilden etwas, das man den »reflexiven Apparat« des Menschen nennen könnte. Immer dann, wenn wir uns über unser Verhalten, unsere Emotionen, unser Leben oder unsere Gedanken Gedanken machen oder wir Empfindungen dazu haben, sind Bewusstsein und Selbstbewusstsein wesentlich stärker und den Vorgang prägender aktiv als bei der Liebe. Und auch in Situationen, die keinen so offensichtlich reflexiven Charakter haben, sind sie bedeutender: beim Grenzstreit mit dem Nachbarn, beim sportlichen Wettkampf, beim Sprechen vor Gruppen und in vielen Angstsituationen. Hier findet eine rege und sehr bewusste Positionierung und Reflexion der eigenen Person, der eigenen Gedanken und Gefühle, der eigenen Stärken und Schwächen im Abgleich mit der situativen Umwelt statt. Ich möchte mit diesen Beispielen herausstellen, dass Bewusstsein und Selbstbewusstsein nicht deshalb die Liebe beeinflussen, weil sie ein maßgeblicher Teil ihres Wesens sind, sondern weil sie ein maßgeblicher Teil des menschlichen Wesens sind. Sie durchsetzen bruchstückhaft unser gesamtes geistiges Sein und deshalb auch unsere Liebe, sind mal vordergründig wirksam, mal subtil und setzen mal aus. Die Liebe hat durchschnittlich betrachtet wohl weniger reflexive Anteile als eine Freundschaft unter Kollegen, die von mehr Selbstbehauptung und strategischen Allianzen geprägt ist. Hingegen scheinen (gerichtete) Emotionen auf »Nicht-Metaebene« viel substanzieller mit der Liebe verbunden. Denn setzen sie 240 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Liebe als Komposition qualitativer und intentionaler Zustände

aus, ist nicht zu sehen, wie man überhaupt noch von Liebe sprechen kann. Weil Bewusstsein und Selbstbewusstsein also eher allgemeine als spezifische Bedeutung für die Romantische Liebe haben, ist die Untersuchung des Wesens dieser mentalen Zustände in meinen Augen nicht von unmittelbarer Relevanz, um sich dem Wesen der Liebe zu nähern. Für die Überlegungen dieser Abhandlung ist zwar von evidenter Bedeutung, welche Prozesse bewusst und welche unbewusst sind, eine philosophische Analyse von (Selbst-) Bewusstsein als solchem würde jedoch den epistemischen Fokus verstellen und thematisch vom Explanandum wegführen. Um die Physiologie eines Laubbaumes zu verstehen, stellt man auch keine Versuchsreihe über die Entstehung der Erdatmosphäre an, sondern nimmt sie als wirksamen und notwendigen, aber gegebenen Faktor hin. 314 Zusammenfassend ist also Folgendes zu konstatieren: Qualia und insbesondere Emotionen mit ihren bewussten Affekten und Gefühlen und ihren subtileren Stimmungen bilden das phänomenale Zentrum der Romantischen Liebe und sind sehr oft von intentionalen Zuständen begleitet, die ihrerseits jedoch nicht ohne emotive Beimischung zum Komplex der Liebe gezählt werden können. Bewusstsein und Selbstbewusstsein sind wichtige Faktoren, gehören jedoch nicht zum eigentlichen Wesen der Romantischen Liebe, weshalb hier auf eine Analyse verzichtet wird. Bevor ich im nächsten Kapitel die epistemischen Probleme konkretisiere, möchte ich noch kurz einer nachvollziehbaren, aber wenig zielführenden Reaktion entgegenwirken, die etwa so formuliert werden könnte: »Wieso weiterreden? Haben wir die Frage danach, was die Liebe ist, denn nicht eben gerade beantwortet? Sie ist eine dynamische Mischung aus Perzeptionen und überwiegend intentionalen Emotionen, die mehr oder weniger bewusst sind.« Bei den meisten Erörterungen gibt es sinnvolle Zeitpunkte, an denen man aufhören 314 Mit dieser Fußnote möchte ich der Tatsache Rechnung tragen, dass qualitative Wahrnehmung und Bewusstsein begrifflich nicht einfach voneinander zu trennen sind. Dem Bewusstsein scheint die Bewusstlosigkeit gegenüberzustehen und bewusstlos, also in einem Zustand völliger Umnachtung ohne Traumaktivität, kann man keine Qualia empfinden. Daher möchte ich vom Begriff »Bewusstsein« die »phänomenale Aufnahmebereitschaft« unterscheiden. Bewusstsein soll hiernach als reflexive Tätigkeit verstanden werden, die mentale Vorgänge (Gedanken oder Empfindungen) auf einer Metaebene, also mit etwas »geistigem Abstand« anschaut. Die phänomenale Aufnahmebereitschaft ermöglicht hingegen die erste Ebene der mentalen Aktivität, nämlich Gedanken und Wahrnehmungen, die nicht einen anderen mentalen Zustand zum Inhalt haben, sondern die Qualia selbst.

241 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

kann, weiter nachzufragen. Das vorliegende Thema allerdings ist an dieser Stelle noch nicht ausreichend behandelt, denn was wäre, wenn jemand fragt: »Und was ist ein Gefühl? Und wie kommt es in unseren Körper? Oder ist es gar nicht im Körper? Aber wo ist es dann? Und was ist eigentlich eine Geruchsempfindung? Ja, das mit den Geruchsmolekülen in der Luft und deren biochemischer Wirkung an den olfaktorischen Rezeptorzellen habe ich verstanden, aber wie kommt es dazu, dass ich den Geruch als eben diesen empfinde?« Hierzu könnte man zum jetzigen Zeitpunkt nur mit den Achseln zucken oder die Fragen kurzerhand als unsinnig oder kleinlich abtun. Doch das sind sie keineswegs, denn sie betreffen den eigentlichen Kern des Problems von Geist und Körper. Was in diesem Abschnitt also erörtert wurde, ist bloß die Auswahl dessen, was untersucht werden muss, um sich der Romantischen Liebe zu nähern. Erst durch diese Bestimmung sieht man sich mit den eigentlichen Schwierigkeiten konfrontiert.

7.4 Das Problem mit den Qualia Nachdem nun das »Subexplanandum« auf (intentionale) Qualia eingegrenzt ist, möchte ich, bevor ich dazu übergehe, die verschiedenen philosophischen Ansätze zu beleuchten, zunächst noch die Problemlage und den Anspruch an eine zufriedenstellende Lösung präzisieren. Wieso sind (intentionale) Qualia philosophisch so problematisch? Diese Frage, so denke ich, beinhaltet im Wesentlichen zwei voneinander verschiedene, in der philosophischen Praxis jedoch oft aufeinander bezogene und auch theoretisch korrelierende Teilprobleme. Nach diesem Verständnis lassen sich zwei Fragen formulieren: 1. Wie können wir ein Quale begrifflich erfassen? 2. Wie entsteht und wirkt ein Quale aus ontologischer Perspektive? Die Behandlung der ersten Frage möchte ich mit einem Zitat von Clarence Irving Lewis beginnen, der Qualia erstmals begrifflich in die Philosophie des Geistes einführte: »There are recognizable qualitative characters of the given, which may be repeated in different experiences, and are thus a sort of universals; I call these ›qualia‹. But although such qualia are universals, in the sense of being recognized from one to another experience, they must be distinguished from the properties of objects. Confusion of these two is characteristic of many historical conceptions, as well as of current essence-theories. The 242 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Das Problem mit den Qualia

quale is directly intuited, given, and is not the subject of any possible error because it is purely subjective.« 315 Mit diesen Zeilen ist schon vieles über die (intuitive) Auffassung von Qualia gesagt: Zunächst einmal sind Qualia keine Eigenschaften der Objekte, sondern entstehen im empfindenden Subjekt. Durch diesen Umstand und dadurch, dass ihr Entstehen für das Subjekt transparent ist, scheinen sie ihm direkt und intuitiv zugänglich zu sein. Diese Überlegung führt nun zu der Folgerung, dass der einzige Zugang zu den Qualia über das Subjekt selbst erfolgen kann. Denn allein der empfindende Mensch kann entscheiden, ob er Spargel riecht, Schmerz spürt oder Furcht im Angesicht eines Clowns empfindet. Daher ist das Urteil des Empfindenden über die Empfindungen gewissermaßen grundsätzlich unfehlbar. Nur er kann spezifische Qualia kategorisieren und als bekannt identifizieren, ganz gleich, ob die Reiz gebenden Umstände der Welt außerhalb seines Geistes neu oder verschieden sind. Dem Empfinden nach besitzen Qualia keine innere Struktur und fügen sich zu einem homogenen phänomenalen Kontinuum. Sie existieren ausschließlich im Erlebnisraum des Subjekts, sind unauflöslich an die Erste-Person-Perspektive gebunden und dadurch ihrer Natur nach intrinsisch und vollkommen privat. Das ist das klassische Qualiaverständnis. Diese Charakterisierung hat gewichtige Folgen für die Untersuchbarkeit der Qualia, denn die wissenschaftliche Methode basiert nicht auf subjektiven Überzeugungen, sondern auf Empirie. Sie ist einer objektiven Prüfung des Explanandums verpflichtet, wofür sie eine unabhängige Außenperspektive einnehmen muss. Zudem müssen ihre Ergebnisse wiederholbar, verifizierbar und damit intersubjektiv zugänglich bzw. erfahrbar sein. Qualia nach obiger Definition sträuben sich jedoch gegen sämtliche dieser wissenschaftlichen Ansprüche. Sie können eben nicht von außen betrachtet werden, da sie einzig dem jeweils empfindenden Subjekt zugänglich sind. Sicher können die korrelierenden physiologischen Aktivitäten mit medizinischen Geräten gemessen und aufgezeichnet werden. Ein solches Vorgehen entspricht den Vorgaben der Empirie: Es bedient sich einer objektiven Außenperspektive, ist wiederholbar und kann von beliebig vielen Individuen nachvollzogen und diskutiert werden. Doch diese Untersuchung betrifft nicht die empfundene Qualität, also das phä315 Lewis, Clarence Irving (1929): Mind and the World Order – Outline of the theory of knowledge. Mineola: Dover Publications. Inc. 1956, S. 121.

243 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

nomenale Erlebnis des Subjekts, dessen neurale Aktivitäten gemessen, aufgezeichnet und diskutiert werden. Wie es sich für ein Individuum anfühlt an Migräne zu leiden, kann kein medizinischer Apparat für ein anderes Individuum erfahrbar machen. Auch wenn wir versuchen, unsere Empfindungen über ihr Versprachlichen zu fixieren und so zu einem intersubjektiv zugänglichen Gegenstand zu machen, stoßen wir schnell an Grenzen. Schon die Beschreibung eines so plastischen Quales, wie das einer spezifischen Blauempfindung, scheint selbst dann unmöglich, wenn wir das blaue Objekt währenddessen betrachten. Natürlich können wir dem spezifischen Blau einen Namen geben, etwa Azur 8, doch bedeutet dies im Grunde nichts anderes, als mit dem Finger darauf zu deuten und zu sagen »dieses Blau dort«. Denn über das subjektive Erleben ist mit der Benennung erneut nichts gesagt. 316 Vielmehr ist es der Versuch über die Installation einer intersubjektiven Verständigungsbasis eine gewisse Form der Fixierung und Verifikation zu generieren, gewissermaßen Objektivität über intersubjektiven Abgleich zu simulieren. Ich möchte nicht bestreiten, dass solche Verständigung in der Lebenspraxis einigermaßen gut funktioniert. Wenn jemand beginnt, von den türkisblauen Buchten seines letzten Urlaubsortes zu schwärmen, dann entwickelt man sicherlich eine Vorstellung, die in dem Maße stimmig ist, dass man bei Aufsuchen desselben Ortes unter denselben Bedingungen (Lichteinfall, Seegang etc.) nicht völlig perplex wäre. Aber woran liegt das? Man könnte antworten: »Weil beide Personen die Farbe des Wassers in der Bucht gleich empfinden.« Doch kann man da sicher sein? Angenommen, beide säßen auf einem Felsen und schauten ins Wasser und würden sich nach einiger Zeit der Betrachtung auf die Farbebezeichnung Türkis 103 einigen. Ist damit nun sichergestellt, dass sie dasselbe Quale erleben? Könnte es nicht sein, dass die eine Person womöglich das empfindet, was die andere unter dem Begriff Zinnoberrot kennt? Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet, wie könnte es jemand bemerken, wenn diese (oder alle) Farbempfindungen in der Wahrnehmung wechselseitig vertauscht, also invertiert wären? Diesen Fall gesetzt hätte die eine Person durch ihre sprachliche Prägung immer dann Abstufungen des Begriffs Türkis gebraucht, wenn die andere Abstufungen von Zinnoberrot empfindet und umgekehrt. Durch die Exklusivität des rein subjektiven Zugangs 316 Diese Tatsache wird besonders deutlich, wenn man sich den Versuch vorstellt, einem von Geburt an blinden Menschen eine Farbe zu beschreiben.

244 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Das Problem mit den Qualia

zu den eigenen Qualia könnten weder die Beteiligten noch irgendjemand sonst die unterschiedlichen Empfindungen erkennen, geschweige denn entscheiden, welche Wahrnehmung die Realität korrekt abbildet. Wenn schon so vermeintlich einfache Perzeptionen solch gravierende analytische Probleme aufwerfen, dann wird verständlich, dass abstraktere mentale Zustände wie Gefühle, auf die man nicht so einfach mit dem Finger zeigen kann und die von vielen weiteren bewussten und unbewussten Empfindungen beeinflusst werden, das Vorhaben einer begrifflichen Differenzierung und Fixierung noch aussichtsloser erscheinen lassen. Die zweite Frage betrifft die ontologische Zuordnung von Qualia, also ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art des Seienden. Als Beispiel für einen qualitativen Zustand soll die Emotion Scham dienen. Intuitiv würde man wohl sagen, dass Scham nicht zu den festen Körpern zählt. Auch kann man sich schwer vorstellen, dass sie flüssig ist oder als eine Art Gas durch unseren Kopf wabert. Vielmehr hat man das Gefühl, dass Scham auf eine Weise innerhalb des menschlichen Geists entsteht und eher nicht gegenständlich, also ohne Körper, vielleicht sogar unphysikalisch ist. Schließlich kann man Scham nicht messen oder operativ entfernen. Wenn man aber annimmt, dass Scham, unsere übrigen Emotionen und die Qualia im Allgemeinen unphysisch sind, dann richtet man dadurch unvermeidlich eine zweite ontische Ebene ein, auf der sich solche »Dinge« versammeln, die nicht zur dinglichen Welt gehören. Man könnte sich diese Ebene oberhalb der physikalischen Entitäten und deren Wechselwirkungen vorstellen und sie demgemäß meta- oder transphysisch nennen. Gemeint ist in jedem Fall ein eigener Seinsbereich, in dem sich die mentalen Zustände und Prozesse des Menschen verorten, die ihrer Natur nach grundlegend anders sind als die nicht-mentalen Dinge – eine eigene Sphäre des Geistes, körperlos, privat und mit eigenen Gesetzen. Genau so fühlt sich die menschliche Existenz doch auch an: Wir haben Anteil an einer körperlichen Welt, in der wir Möbel verrücken, Tennis spielen und Sex haben können, gleichzeitig aber haben wir das Gefühl an einer mentalen Welt zu partizipieren, in der wir Gedanken, Erlebnisse und Gefühle wie Scham haben, in der wir träumen und Ideen entwickeln, in der wir Geheimnisse aufbewahren und zu uns selbst sprechen. Was spricht also dagegen, zusätzlich zur Ebene der physikalischen Dinge eine Ebene der Geistesdinge in unser ontologisches Weltbild einzuziehen, passt es doch so hervorragend zu unserem phä245 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

nomenalen Bild von der Welt? Ausführlich möchte ich auf diese Frage erst antworten, nachdem ich die dualistischen Ansätze genauer geschildert habe. Hier nur so viel: Aus wissenschaftstheoretischer Sicht sollten, wenn möglich, keine Prämissen in eine Theorie eingeführt werden, die sich einem empirischen Zugang verwehren und die zudem eine Vielzahl von neuen, nebulösen Prozessen implizieren. Eine zweite ontische Ebene der Geistesdinge schafft nicht weniger als eine eigene Welt, die nicht nur für sich genommen empirisch unzugänglich ist, sondern auch völlig unklar lässt, wie sie mit der Welt der physischen Dinge in Verbindung stehen könnte. Mit diesem Schritt ist die Theorie des Geistes enorm verkompliziert. Die Zweifel an solcher Heuristik lassen sich mit den Worten Albert Einsteins pointieren: »Wenn du etwas nicht einfach erklären kannst, hast du es nicht gut genug verstanden.« Ein Dualismus kann sich nach meiner Auffassung also nur dann heuristisch rechtfertigen, wenn er neben der Komplizierung unserer Welt auch ihr Verstehen vorantreibt und damit echten epistemischen Gehalt mit sich führt. Ein naturalistischer Monismus hingegen, nach dem alles, was existiert, zur selben dinglichen Welt gehört, hat dieses fundamentale Problem nicht. Denn hier existieren ausschließlich Dinge, die derselben Seinsart angehören und deren Wechselbeziehungen dadurch unproblematisch sind, dass sie alle derselben Kausalität folgen, nämlich der der physikalischen Gesetze des Universums. Doch ist es damit getan? Ist es zufriedenstellend einfach zu sagen, dass die Romantische Liebe und all die sie konstruierenden Einzelemotionen physikalisch sind? Kann man dies als letzte Antwort hinnehmen? Nein, denn damit ist nicht mehr verstanden, als wenn wir die Liebe und den gesamten menschlichen Geist in eine andere ontologische Sphäre verfrachten. Die Arbeit des Naturalisten fängt mit seinem monistischen Credo an – und sie endet erst, wenn er zumindest in Grundzügen verständlich gemacht hat, wie unser materieller Denkapparat es in einer materiellen Welt zustande bringt, etwas zu erzeugen, das dem Menschen so eigenartig und vom Materiellen losgelöst erscheint, dass er seit Beginn seines Denkens versucht ist, ihm eine eigene Welt zu konstruieren. Bei dieser groben Darstellung möchte ich es vorerst belassen, denn Ziel dieses Kapitels ist es nicht, jedes durch wechselnde philosophische Perspektiven veränderliche Detail des Problemraumes zu analysieren, sondern ein Gefühl für Letzteren zu entwickeln. Anhand der unten folgenden Darstellung der einzelnen philosophischen 246 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Das Problem mit den Qualia

Lösungsansätze werden sich die theoretischen Schwierigkeiten konkreter darstellen lassen. Doch was ist eigentlich mit den intentionalen Zuständen? Neben der oben erörterten Tatsache, dass sie ohne Qualiaanteil keinen eigenständigen Bezug zur Romantischen Liebe besitzen, gibt es einen weiteren Grund dafür, weshalb sie nicht im Fokus meiner Ausführungen liegen: Ihre Realisierung im Gehirn gilt, im Vergleich zu der von Qualia, als »einfaches«, wenn nicht gar als theoretisch gelöstes Problem: Eine Überzeugung hat (in reiner Form) keinen qualitativen, sondern bloß einen inhaltlichen Gehalt. Zu glauben, dass die Zahl 17 multipliziert mit der Zahl 15 die Summe 255 ergibt, ist für sich genommen nicht von Emotionen oder spezifischen Perzeptionen begleitet. Allerdings sind an das, was wir unter Überzeugungen verstehen, gewisse Anforderungen gestellt: Sie folgen für gewöhnlich rationalen Bedingungen. Wenn jemand davon überzeugt ist, dass alle Pflanzen Licht zum Leben benötigen, dann sollte er auch glauben, dass eine Eiche Licht braucht, weil sie eine Pflanze ist. Des Weiteren müssen Überzeugungen konsistent sein, das heißt, sie sollten sich nicht in offensichtlicher Form widersprechen: Jemand, der von sich selbst weiß, Vegetarier zu sein, kann sich nicht gleichzeitig als überzeugten Steakesser bezeichnen. In einem solchen Fall muss daran gezweifelt werden, dass beide Zustände tatsächlich Überzeugungen sind. Die dritte Bedingung betrifft die Richtigkeit im Abgleich mit der Umwelt und besagt, dass nicht alle Überzeugungen eines Menschen unwahr sein dürfen. 317 Das Argument für ein theoretisches Verständnis der Realisierung solcher Überzeugungen im Menschen ist nun, dass sich in physikalischen Systemen ohne Geist und Verstand, nämlich in Computern, Zustände einrichten lassen, die diesen Rationalitätsanforderungen genügen. 318 Weil das menschliche Gehirn die FunkVgl. Beckermann, Das Leib-Seele-Problem, S. 94. Logische Schlussfolgerungen basieren auf dem semantischen Gehalt ihrer Sätze, also auf deren Bedeutung. Wenn Computer »rechnen«, bedeutet das, dass sie Zahlzeichen durch Muster von elektrischen Spannungszuständen ihrer elektronischen Bauteile realisieren und durch schrittweise ablaufende Operationen neue Zahlzeichen erzeugen. Mittels sogenannter Inferenzprogramme sind Computer nun zwar nicht imstande »Bedeutung zu generieren«, jedoch können sie logische Schlüsse gewissermaßen nachbilden, indem sie den semantischen Gehalt der Symbole in einer rein syntaktischen Beziehung ausdrücken. Diese Schlüsse sind also nicht von der Bedeutung ihrer Sätze abhängig, sondern basieren auf einem relationalen Regelwerk der Verkettung und Kategorisierung von Symbolen und Symbolgruppen. Mittels sogenannter syntaktischer Kalküle, die sich ihrerseits durch rein formale, sukzessiv ab317 318

247 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

tionsweisen eines rein physikalischen Systems offenkundig inkludiert, kann das Problem als gelöst gelten: »Insgesamt kann man daher zu Recht sagen, dass die Computerwissenschaften und die Künstliche-Intelligenz-Forschung in den letzten Jahren gezeigt haben, dass es rein physische Systeme geben kann, die den für intentionale mentale Zustände charakteristischen Rationalitätsanforderungen genügen.« 319 Da intentionale Zustände also weder das phänomenale Zentrum der Liebe bilden noch vom Kern des Problems von Körper und Geist betroffen zu sein scheinen, möchte ich sie im Folgenden zwar mitgedacht wissen, meine Abhandlung aber auf die Untersuchung der (Liebes-)Qualia konzentrieren.

7.5 Die Theorien des Körper-Geist-Problems Dieses Kapitel möchte einen Überblick über die bekannten philosophischen Ansätze zur Handhabung des Leib-Seele-Problems geben und jeweils im Anschluss die theoretischen Schwierigkeiten sowie die epistemischen Konsequenzen für die Romantische Liebe erörtern.

7.5.1 Der Substanzdualismus nach Descartes und Leibniz und der Epiphänomenalismus René Descartes war prägend für die Philosophie des Geistes. Ging man vor ihm allgemein noch davon aus, dass das Leben durch die Seele in den ansonsten unbelebten menschlichen Körper gelangt, war er der Ansicht, dass es sich durch die Wechselprozesse der somatischen Einzelteile erklären lasse. Damit beschrieb er den menschlichen Körper als eine Art Maschine, die allein durch ihre physische laufende Rechenoperationen realisieren lassen, können Schlüsse gemäß dem folgenden Schema vollzogen werden: Der Satz X folgt genau dann logisch aus dem Satz Y, wenn sich X im Kalkül K aus Y ableiten lässt. Bezüglich des Resultats und innerhalb abgesteckter Bereiche sind Computer durch ihr algorithmisches Erzeugen und Verändern von Symbolen also imstande, dasselbe zu vollziehen wie der Mensch durch seine semantisch-logischen Schlussfolgerungen. Damit erfüllen computergenerierte Überzeugungen die beschrieben Rationalitätsanforderungen. 319 Beckermann, Das Leib-Seele-Problem, S. 99. Für eine tieferreichende Darstellung siehe auch Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geiste. 2., überarbeitete Auflage. Berlin: De Gruyter 2000

248 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Funktion lebendig ist – eine für seine Zeit ausgesprochen naturalistische Ansicht. Allerdings war er dennoch von der Existenz der menschlichen Seele überzeugt. Nach Descartes ist sie »res cognitas«, das »denkende Ding«, das die geistige Sphäre des Menschen samt all seiner Gedanken und Empfindungen konstituiert. Mit dieser Sichtweise unterscheidet er klar zwischen zwei verschiedenen Seinsformen, die der Geisteszustände und die des Gegenständlichen, die er »res extensa«, das »ausgedehnte Ding« nennt. 320 Gegen die Vorstellung, dass auch die Seele respektive der Geist durch die physiologischen Prozesse des menschlichen Körpers erklärt werden kann, führte er zwei Argumente ins Feld, ein metaphysisches und ein naturphilosophisches. Das metaphysische Argument schließt sich an das kartesische »(ego) cogito ergo sum« (»Ich denke, also bin ich.«) an, das er in seinem Werk »Meditationen über die erste Philosophie, in welcher die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird« entwickelte. Hier beweist er mittels der Tatsache, dass er denkt, seine eigene Existenz, denn etwas, das nicht ist, kann sich keine Gedanken darüber machen, ob es ist. Descartes ist zudem von der Allmacht Gottes überzeugt und davon, dass dieser zumindest all das vollbringen kann, was der Mensch sich vorzustellen imstande ist. Ausgehend von seinem »cogito«, nach dem sich die Existenz des Subjekts nur in der Tatsache verankern lässt, dass es denkt, ist leicht vorstellbar, dass das Subjekt ausschließlich durch sein Denken existiert. Dass diese Vorstellung widerspruchsfrei formulierbar ist, beweist also in Kombination mit der Prämisse der allmächtigen Schaffenskraft Gottes, dass die Seele durch ihr Denken ohne den Körper existieren kann (und umgekehrt, dass der Körper ohne die Seele durch sein Ausgedehntsein und seine physiologischen Funktionen existieren kann). Wenn die Seele aber autonom existiert, dann kann sie nicht in Abhängigkeit zum Körper stehen und ist damit weder sein Erzeugnis noch mit den Kategorien der dinglichen Welt erfassbar. Damit sind zwei grundlegend verschiedene ontologische Substanzen unterschieden. Aus heutiger Sicht ist diese Herleitung ausgesprochen brüchig. Nicht nur, weil sie ein metaphysisches Gotteswesen inkludiert, sondern auch, weil nicht klar ist, wie alles, was wir Menschen uns vorstellen, gleichzeitig realisiert sein kann. Schnell ergeben sich elemen320 Descartes war Pluralist, da seine Philosophie zusätzlich eine göttliche Seinsebene integrierte.

249 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

tare Widersprüche, so zum Beispiel mit der Vorstellung, dass der Geist nicht ohne den Körper existieren kann. Ist diese Vorstellung nicht ebenso logisch widerspruchsfrei formulierbar? Das naturphilosophische Argument ist wenig ausgearbeitet und besteht eher in der Ausformulierung einer subjektiven Intuition zu einer Prämisse als in einer strukturierten Konklusion. Es lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn man eine Maschine bauen würde, die exakt so konstruiert ist wie der Körper des Menschen, dann könnte diese Maschine weder denken und vernunftgesteuerte Handlungen ausführen noch könnte sie durch Sprache ihre Gedanken und Gefühle mitteilen. Deshalb sind die Seele und der aus ihr hervorgehende menschliche Geist keine Teile der körperlichen Welt. Die Grundstruktur dieses Arguments findet sich auch in gegenwartsphilosophischen Ansätzen wieder. Zur Vorstellung, dass nicht bloß intentionale Zustände, sondern auch alle übrigen geistigen Phänomene in einem künstlichen System verwirklicht werden können, werde ich später Stellung beziehen. Charakteristisch für den kartesischen Substanzdualismus sind seine Kausalverbindungen: Einerseits wirkt der Körper auf den Geist, beispielsweise im Falle einer schmerzenden Wunde, und andererseits wirkt der Geist auf den Körper, indem er ihm beispielsweise Bewegung befiehlt. Descartes unterscheidet also grundlegend verschiedene Entitäten und postuliert gleichzeitig deren funktionelle Verknüpfung. Als »Bindeglied zwischen den Welten« vermutet er einen Teil des evolutiv ursprünglichen Epithalamus, die Epiphyse (Zirbeldrüse). Sie erzeugt, so die Vorstellung des französischen Philosophen, angeregt durch physische Wahrnehmung, ein geistiges Bild und kann ihrerseits vom Geist gedreht und so ausgerichtet werden, dass sie spezifische Nervensignale in den Körper sendet. 321 Weder der Bereich des Geistigen noch der des Körperlichen ist also kausal geschlossen, denn beide wirken durch ihre Prozesse zielgerichtet auf die Zustände und Prozesse der jeweils anderen ontologischen Sphäre. 322 Ein solcher Dualismus wird als Interaktionismus bezeichnet. Gottfried Wilhelm Leibniz war, ebenso wie Descartes, Substanzpluralist: »Man muss übrigens zugestehen, dass Perzeption und was 321 Auch wenn diese Vorstellung aus heutiger Sicht absurd anmutet, ist es interessant zu bemerken, dass die Epiphyse tatsächlich eine Art Mittlerfunktion einnimmt, nämlich zwischen zentralem Nervensystem und den endokrinen Organen. 322 Vgl. Beckermann, Das Leib-Seele-Problem, S. 31 ff.

250 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

von ihr abhängt durch mechanische Gründe, d. h. durch Figuren und Bewegungen, unerklärbar ist. Angenommen, es gäbe eine Maschine, deren Struktur zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zu haben erlaubte, so könnte man sich diese derart proportional vergrößert vorstellen, dass man in sie eintreten könnte wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, würde man, indem man sie von innen besichtigt, nur Teile finden, die sich gegenseitig stoßen, und niemals etwas, das eine Perzeption erklären könnte. Also muss man danach in der einfachen Substanz und nicht im Zusammengesetzten oder in einer Maschine suchen.« 323 Allerdings vertrat Leibniz im Gegensatz zu Descartes keinen Interaktionismus. Vielmehr kam der dritten, nämlich der göttlichen Ebene eine funktionale Rolle bezüglich der Abhängigkeit phänomenaler und physischer Entitäten zu: Der deutsche Denker stellte sich die Abläufe des Mentalen und die des Körperlichen wie den Gleichgang zweier komplexer Uhrwerke vor, deren Kausalprozesse jedoch unabhängig voneinander erfolgen. Dass der Mensch dennoch das Gefühl hat, sein Geist habe Einfluss auf den Körper und umgekehrt, liegt nach Leibniz daran, dass Gott die beiden »Apparate« so geschickt konstruiert und aufgezogen hat, dass sie ein Leben lang vollkommen synchron laufen. Eine solche Sicht wird als Parallelismus bezeichnet. 324 Ein dualistischer Ansatz, der gänzlich ohne ein supranaturales Wesen auskommt (und somit tatsächlich Dualismus und nicht apologetischer Pluralismus ist) und sich daher in Auszügen auch in der modernen philosophischen Debatte wiederfindet, ist der Epiphänomenalismus. Gemäß dieser Theorie ist die materielle Ebene kausal geschlossen. Das bedeutet, dass das neuronale Uhrwerk in unserem Kopf und all die übrigen physischen Prozesse unseres Körpers an keiner Stelle durch phänomenale Entitäten beeinflusst werden. Die ontische Ebene des Dinglichen agiert vollkommen autonom und auf sich selbst gerichtet. Was aber ist mit unserem Erleben, was ist mit Schmerz, Meeresbläue und Wut, was ist mit der Romantischen Liebe? Nach der Theorie des Epiphänomenalismus sind all diese Phänomene bloß Begleiterscheinungen der materiellen Welt, ohne Sinn 323 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1714): Monadologie. Übersetzt und herausgegeben von Hartmut Hecht. Stuttgart: Reclam Verlag 2008, S. 19, § 17. 324 Eine ähnliche Theorie des ausgehenden 17. Jahrhunderts ist der sogenannte Okkasionalismus, nach dem Gott die Prozesse nicht einmalig zu Beginn synchronisiert, sondern fortlaufend in jeder akuten Situation jedes Menschen als Vermittler zwischen den Prozessen der ontischen Sphären wirksam ist.

251 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

und ohne Wirkung auf irgendetwas, es sind Epiphänomene. Die Erlebnisse des Menschen werden demnach zwar von den Funktionen des Körpers erzeugt, können ihrerseits jedoch nicht auf ihn rückwirken, wie Thomas Huxley bildhaft formuliert: »The consciousness of brutes would appear to be as related to the mechanism of their body simply as a collateral product of its working, and to be as completely without any power of modifying that working as the steamwhistle which accompanies the working of a locomotive engine is without influence upon its machinery. Their volition, if they have any, is an emotion indicative of physical changes, not a cause of such changes.« 325 Nach Huxley ist nun nicht bloß das Tier, sondern auch der Mensch eine solche »bewusste Maschine«. Unsere Gedanken und Emotionen zeigen körperliche Veränderungen bloß an, sie sind randständige Symptome der materiellen Kausalvorgänge und nicht imstande, die verursachenden Prozesse oder sonst etwas in der Welt zu beeinflussen. Der große Vorteil eines solchen Ansatzes gegenüber dem Interaktionismus ist, dass er unseren empirischen Erfahrungen bezüglich der in sich geschlossenen physikalischen Abläufe der Welt entspricht, er ist kompatibel mit den Erhaltungssätzen der Physik. Auf der anderen Seite hat diese Theorie zur Folge, dass der Mensch in seinen Gedanken und Handlungen vollständig determiniert ist. Ich möchte an dieser Stelle nicht detailliert auf das Für und Wider der theoretischen Implementierung eines Determinismus eingehen, nur so viel: Dass unsere mentalen Eigenschaften keinerlei Einfluss auf unser Handeln haben, wir also keinen freien Willen besitzen und unser gesamtes Sein dadurch unabänderlich vorgeschrieben scheint, ist nicht bloß maximal kontraintuitiv, sondern zudem eine fundamentale Kränkung des menschlichen Selbstbildes – der Naturalist sollte daher versuchen, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. 7.5.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe Es gibt viele technisch-formale Einwände gegen die dualistischen Ansätze und beinahe ebenso viele Entgegnungen und erneute Erwiderungen auf diese Entgegnungen. David Chalmers beispielsweise ar325 Huxley, Thomas (1874): On the Hypothesis that Animals are Automata. In: Beakley, Brian; Ludlow, Peter (Hrsg.): The Philosophy of Mind – Classical Problems, Contemporary Issues. Massachusetts: Institute of Technology 1992, S. 135.

252 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

gumentiert gezielt gegen den Epiphänomenalismus. Aus der Tatsache, dass der Mensch von seinem Bewusstsein und seinen Empfindungen weiß und dass er Äußerungen darüber tätigen kann, leitet er Konsequenzen ab, die schwer zu akzeptieren sind: »Wenn wir den Epiphänomenalismus akzeptieren, dann muss uns die tatsächliche Korrelation zwischen dem Bewusstsein und Aussagen über das Bewusstsein als eine Art glücklicher Fügung erscheinen. Wenn nämlich die psychophysischen Gesetze von der physischen Evolution selbst unabhängig sind, dann existieren mögliche Welten, in denen zwar dieselbe physische Evolution stattgefunden hat, aber andere psychophysische Gesetze gelten – mögliche Welten, in denen eine radikale Diskrepanz zwischen Berichten und Erlebnissen besteht. Bloß dank einer glücklichen Fügung, so scheint es, leben wir in einer Welt, in der die psychophysischen Gesetze Berichte und Erlebnisse in der richtigen Weise verbinden.« 326 Wieso diese Übereinstimmung besteht, ist eine treffende Frage. Denn wenn unser Bewusstsein und unsere Qualia keinerlei Auswirkung haben, dann sind sie ohne Verbindung zu den evolutiven Selektionsprozessen, die unsere Physis herausbildeten. Mit ähnlicher Intention, allerdings etwas subjektiver schreibt Ansgar Beckermann, der Epiphänomenalismus impliziere, »dass das gesamte beobachtbare Leben auf dieser Welt genauso ablaufen würde, wie es jetzt abläuft, wenn kein Mensch und kein Tier je bewusste Erlebnisse, Überzeugungen und Wünsche hätte. Und dies scheint zumindest hochgradig kontraintuitiv.« 327 Auch finden sich in diesem Kontext immer Positionen, die sich zumindest teilweise auf die intuitive Unbekömmlichkeit des resultierenden Determinismus stützen. Für einen Blick auf das epistemische Potenzial, aus dem eine heuristische Einschätzung ableitbar wird, halte ich es für zielführend, die beschriebenen Ansätze nun bezüglich ihrer charakteristischsten und sie vereinenden Eigenschaft zu prüfen: die Implementierung einer zweiten ontischen Ebene in das menschliche Weltverständnis. Denn sieht man von den innertheoretischen Problemen einmal ab, mit denen, wie sich im Laufe dieses Kapitels herausstellen wird, ohnehin jeder der Ansätze zur Lösung des Körper-Geist-Problems zu kämpfen hat, so stellt sich doch die einfache Frage: Wieso nicht dem 326 Chalmers, David J.: Bewusstsein und sein Platz in der Natur. In: Metzinger Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 162. 327 Beckermann, Das Leib-Seele-Problem, S. 42.

253 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

starken Gefühl der Andersartigkeit unserer mentalen Zustände nachgeben und ihnen eine eigene Welt zubilligen? Wieso nicht fundamental unterscheiden zwischen den Qualia und den physikalischen Dingen? Liegt eine Trennung zwischen unserem Körper und den Empfindungen der Romantischen Liebe denn nicht nahe, wenn sich die Realität genau so anfühlt? Im Wesentlichen sprechen zwei Dinge dagegen, die unter 7.4 bereits anklangen: Zunächst einmal bedeutet die Einrichtung weiterer Seinssphären eine maximale Aufblähung der Theorie. Der menschliche Verstand hat die Eigenart, ungeklärte Erscheinungen möglichst umgehend erklären zu wollen. Oft ist dieser Drang gut, da er ein schnelles Verständnis der einfachen Erscheinungen bewirkt. Zum Beispiel: Ein dicker Ast liegt auf dem Waldweg. → Er ist von einem Baum abgebrochen. → Es hat geschneit und das Gewicht des Schnees hat Äste abbrechen lassen. → Heute besondere Vorsicht vor herabfallenden Ästen! Eine solche Kette von Schlussfolgerungen, angetrieben vom Drang, ein Ereignis zu erklären, ist natürlich sehr nützlich, da sie wie im Beispiel vor Gefahren schützen kann. Wenn die Zusammenhänge aber komplexer werden, kann dieser Erklärungsdrang problematisch werden, wie die Vergangenheit lehrt: Dieser Mann ist krank und muss sterben. → Diese Frau hat ihn gesund gemacht. → Kein Mensch hätte das schaffen können. → Diese Frau ist eine Hexe! Es geht mir hierbei nicht explizit um die abscheulichen Folgen solcher spät- und nachmittelalterlichen Schlussfolgerungen, sondern um das allzu menschliche Verhalten, Erscheinungen, die uns auf anderem Wege unerklärbar erscheinen, mittels unmäßiger Imagination begreifbar zu machen. Natürlich ist Vorstellungskraft ein kaum zu überschätzendes Moment der Forschung, ohne das die großen wissenschaftlichen Erkenntnisse nie oder erst sehr viel später gemacht worden wären. Doch sollte sie als inspirierender Ausblick mit Bedacht verwendet werden und einen möglichen Anschluss zur Empirie aufweisen. Denn je höher der freie imaginative Anteil einer Erklärung, desto unwahrscheinlicher der reelle Bezug zu der zu erklärenden Erscheinung. Zudem wird im Zuge solcher Erklärungen zumeist eine ganze Reihe von Postulaten gemacht, die ihrerseits einer Erklärung ermangeln oder sogar ihrer Definition nach nicht erklärt werden können. Aus diesen Gründen hat sich die moderne Wissenschaft die theoretische Sparsamkeit zum Credo gemacht, die unter den Begriffen »Ockham’s razor« (Wilhelm von Ockham) oder »Denkökonomie« (Ernst Mach) bekannt geworden ist und in ihren Ursprüngen 254 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

auf die Lehren der Scholastik zurückgeht. Hierbei handelt es sich um eine heuristische Überzeugung, nach der eine einfache Erklärung einer komplizierten, die neue Variablen und Hypothesen implementiert, vorzuziehen ist: »Wenn du kochendes Wasser siehst, denke an Hitze, nicht an ein Vakuum in der Küche!« Oder wie es in der Diagnostik pointierter heißt: »When you hear hoofbeats, think horses, not zebras!« Macht man sich bewusst, welch enormes theoretisches Volumen die Annahme einer eigenen ontischen Ebene der mentalen Dinge, Zustände und Prozesse samt all der implizierten Hypothesen und Postulate bedeutet, so hat die Frage danach, ob das subjektive Gefühl des Menschen für eine Rechtfertigung dieser Aufblähung hinreicht, meines Erachtens durchaus Gewicht. Abseits dieser heuristischen Bedenken ergeben sich auch schwerwiegende Probleme bezüglich der Kausalbeziehungen. Denn eine Unterscheidung zwischen mentalen und nicht mentalen Entitäten ist nicht wie die Unterscheidung zwischen fest und gasförmig oder wie die zwischen Lichtwelle (resp. -teilchen) und Gravitation – sie ist viel fundamentaler, denn sie besagt: Mentale Dinge gehören nicht der physikalischen Welt an und sind daher in jeder Eigenschaft vollkommen anders als alles, was es sonst gibt. Lässt man dieses Postulat etwas wirken, so gelangt man bald zu der Frage, wie es dann sein kann, dass unsere geistigen Zustände mit der physikalischen Welt, die wir ja offensichtlich mental erleben, in Verbindung stehen. Wir schmecken ja das Zitroneneis, das seiner Natur nach vollkommen physikalisch und gar nicht mental ist, wir hören ja den Klang der Zither, sehen das Licht der Sterne und wir empfinden ja Freude aufgrund dieser physikalischen Dinge. Wie kann das sein? Wie können Entitäten, die nicht der Welt des Mentalen angehören, mental wirksam sein (und umgekehrt). Schaut man in unsere Wahrnehmungsapparate, so sieht man nichts als biochemische Prozesse in den Rezeptoren und deren Ableitungen zum Gehirn. Schaut man ins Gehirn, so sieht man komplexe neurale Erregungen, doch nirgends einen Bereich, der als Übergangsmodul zwischen den materiellen Funktionen unseres Körpers und den immateriellen Erscheinungen unseres Geistes infrage käme. 328 Sicher, die freie Fantasie könnte auch hierfür eine Erklärung geben, aber eben nicht – und das ist der entscheidende 328 Von diesem Problem ist auch der Epiphänomenalismus betroffen, denn auch wenn eine Rückwirkung des Geistigen auf das Physische ausgeschlossen wird, ist die »interontische« Abhängigkeit des Geistigen vom Physischen völlig unklar.

255 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Punkt – ohne die ohnehin schon große Menge erklärungsbedürftiger Entitäten und Zusammenhänge noch einmal stark zu vermehren. Auch für diese erneute Ausweitung der Theorie könnten wir wiederum nichts als die menschliche Intuition legitimierend anführen, also das Gefühl eines Wesens über die grundlegenden Zusammenhänge einer Realität, der es selbst mit all seinem Sein, all seinen Gedanken und Gefühlen verpflichtet ist, weil es in ihr existiert. Ich bin der Auffassung, dass einer Intuition, die gerade durch das vollständig geprägt ist, was sie zu erkennen versucht, nicht ohne Weiteres eine solche epistemologische Bedeutung beigemessen werden sollte. Der Versuch, eine Denkart zu entwickeln, die uns kognitiv nachvollziehbar über die Wirklichkeit aufklärt, darf nicht verwechselt werden mit der Suche nach einer Beschreibung der Welt, die uns beruhigt, weil sie unserem Welterleben entspricht. Daher plädiere ich für einen naturalistischen Monismus, eine Auffassung der Wirklichkeit also, die sich vollständig im Rahmen der physikalischen Entitäten und Prozesse erschöpft. Mit treffenden Worten und in Würdigung meiner universitären Tradition: In der Welt geht es überall mit rechten Dingen zu. 329 Und etwas ausführlicher: »Naturalismus behauptet die keineswegs besonders gewagte Aussage, dass das Universum in seinem empirisch, aber auch theoretisch fassbaren Bereich ohne Rekurs auf autonome spirituelle Entitäten, besondere Lebenskraft oder teleologische und transzendente Wirk-Faktoren erkannt werden kann.« 330 Was bedeutet das nun für die Empfindungen der Liebe? Es bedeutet, dass sie auf natürliche Weise aus den neuronalen Prozessen unseres Gehirns hervorgehen und dass sie dadurch ebenso zur physischen Welt gehören, wie unser Denkapparat selbst und alles Übrige. Damit wäre das Problem einer Wechselbeziehung zwischen fundamental verschiedenen Entitäten aus der Welt geschafft. Doch stellt sich alsbald die Frage, wie und wo genau unser mentales Erleben in unsere Physiologie integriert ist. Denn die einfache Deklarierung unserer Empfindungen als der physikalischen Welt zugehörig kann dem philosophischen Erkenntnisanspruch natürlich nicht genügen. Es muss geklärt werden, wie Emp-

329 Vgl. Vollmer, Gerhard: Was ist Naturalismus? Zwölf Thesen zur Begriffsverschärfung. In: Logos, N.F. I (1994), S. 200–219. 330 Kanitscheider, Bernulf: Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele. Grundzüge einer naturalistischen Philosophie und Ethik. In: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 1. 2003, S. 33.

256 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

findungen entstehen, was genau sie aus naturalistischer Sicht eigentlich sind und wie beziehungsweise ob sie kausal rückwirken. In gewissem Sinne ist die Frage nach den Kausalzusammenhängen zwischen körperlichen und mentalen Zuständen also bloß verschoben, nunmehr allerdings mit dem realistischeren Anspruch einer »intraontischen« anstatt einer »interontischen« Klärung. Für die Evaluierung einer Theorie zum Körper-Geist-Problem ist nach meinem Dafürhalten die Prüfung des effektiven epistemischen Zugewinns also ebenso wichtig wie die Prüfung auf theoretische Konsistenz und die Prüfung auf Prüfbarkeit. Denn nur wenn die Mechanismen als grundsätzlich verstehbar gedacht werden, können wir eine Antwort auf die größere Frage wagen, die dieses Kapitel überschreibt und die da lautet: Was ist die Liebe?

7.5.2 Der eliminative Physikalismus Der erste Monismus, den ich vorstellen möchte, ist gleichzeitig eine der radikalsten Theorien der Philosophie des Geistes: der eliminative Physikalismus oder Eliminativismus. Nach dieser Position werden die alltagspsychologischen Beschreibungen, also die Weise, wie wir versuchen unsere Eindrücke von der Welt und unsere Emotionen zu fassen, mit fortschreitender Entwicklung des (neuro-)wissenschaftlichen Wissens obsolet oder sind es bereits. In frühen Formen des Eliminativismus stellten die Philosophen Richard Rorty und Paul Feyerabend Überlegungen an, die sich auf den bisherigen Verlauf des Theorienwandels stützen: In der Geschichte der Versuche des Menschen, seine Welt zu verstehen, gab es immer wieder Theorien, deren Falschheit in späteren Epochen klar zutage trat. So ging man im 18. Jahrhundert verbreitet davon aus, dass allen brennenden Stoffen eine Substanz namens Phlogiston entweiche, die zuvor durch Erwärmung in sie eingedrungen war; oder dass den belebten Dingen eine originäre Lebenskraft (im Falle des Menschen eine Seele) innewohne, die sie erst lebendig mache und dadurch von allen anorganischen Dingen unterscheide. Die eliminativen Materialisten sind nun der Überzeugung, dass sich unser Verständnis von mentalen Zuständen auf dieselbe Weise auflösen wird, wie die Vorstellungen der Phlogistontheorie und des Vitalismus, die durch spätere physikalische und biologische Einsichten und neues naturwissenschaftliches Vokabular obsolet wurden. Die neuro- und kognitionswissenschaftlichen Argu257 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

mente für den Eliminativismus wurden durch das Ehepaar Paul und Patricia Churchland in der Philosophie des Geistes etabliert. 331 Die »folk psychology« habe sich seit den alten Griechen nicht maßgeblich weiterentwickelt, wohingegen die Neurowissenschaften schon jetzt ein enormes Erkenntnispotenzial bewiesen hätten. Es sei daher davon auszugehen, dass in Zukunft nicht nur Prozesse des Lernens und geistige Erkrankungen besser durch die naturwissenschaftliche Sprache benannt und erklärt werden können, sondern dass der gesamte Komplex psychologischer und geistesphilosophischer Überlegungen und Beschreibungen durch die viel leistungsfähigere Sprache und Denkart der Neuro- und Kognitionswissenschaften ausgewechselt werden könne. An dieser Stelle ist es wichtig, gedanklich einen Moment zu verweilen, um sich die Konsequenzen dieser philosophischen Position zu vergegenwärtigen: Es ist nämlich kein Erklärungsversuch der mentalen Zustände durch den neuro- und kognitionswissenschaftlichen Wissensfortschritt. Es ist auch nicht bloß eine Absage an eine zusätzliche ontologische Ebene neben der der physischen Dinge. Es ist vielmehr die existenzielle Negation des Geistes, die theoretische und begriffliche Abschaffung des Mentalen, weil es faktisch gar nicht existiert. 332 Ein Eliminativist kann daher proklamieren: »Hört auf über den Zusammenhang von Körper und Geist nachzudenken! Es ist die irrsinnige Beziehung zwischen etwas Existentem und etwas nicht Existentem.« Der Widerspruch dazu entsteht geradezu reflexartig und könnte etwa so lauten: »Was soll das heißen: ›Das Mentale existiert nicht‹ ? Ich kenne doch meine Gedanken, meine Gefühle und meine visuellen, auditiven, olfaktorischen, gustatorischen und haptischen Erlebnisse – wer sollte besser darüber Bescheid wissen als ich selbst?« Doch stimmt das? Können wir über unser Empfinden sichere Auskunft geben? Sind Qualia tatsächlich dem Individuum unmittelbar zugängliche, intrinsische Entitäten und der Mensch dadurch in seinem Bezug auf diese unfehlbar? Der US-amerikanische Philosoph Daniel Dennett beantwortet diese Fragen mit einem klaren »Nein« und leitet daraus die Negation des Mentalen und seine eliminative Heuristik ab: »Theorists of the 331 Vgl. z. B. Churchland, Paul: Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes. In: Journal of Philosophy 78 (1981), 2, S. 67–90. 332 Metzinger, Qualia V: Ontologie des Bewusstseins. Einleitung. In: Metzinger Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes, S. 177.

258 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

contrary persuasion [zu dualistischen Ansätzen] have patiently and ingeniously knocked down all the arguments, and said most of the right things, but they have made a tactical error, I am claiming, of saying in one way or another: ›We theorists can handle those qualia you talk about just fine; we will show that you are just slightly in error about the nature of qualia.‹ What they ought to have said is: ›What qualia?‹« 333 Für den Beweis der Existenz einer Entität, so Dennett, müsse sie Kriterien besitzen, anhand derer sie wiedererkannt werden kann. Das bedeutet, dass wir zwei unterschiedliche Qualia nicht bloß diskriminieren können müssen, während wir sie gleichzeitig und nebeneinander betrachten, sondern auch dann, wenn wir sie zu einem späteren Zeitpunkt einzeln perzipieren. Falls keine solchen für die Reidentifikation benötigten introspektiven Identitätskriterien gefunden werden können, kann dem Phänomen kein ontischer Status beigemessen werden, was nichts anderes bedeutet, als dass es nicht existent ist. Und wenn es nicht existiert, dann gibt es auch nichts, das über die physikalischen Prozesse hinaus erklärt werden muss. Am Beispiel zweier sehr ähnlicher Farbtöne wird deutlich, dass es einem Menschen zwar leicht fällt, sie voneinander zu diskriminieren, wenn er sie simultan betrachtet. Soll er sie jedoch anschließend getrennt voneinander ihren Bezeichnungen zuordnen oder sie von einem dritten Farbton unterscheiden, so kommt er schnell ins Raten. Aufgrund fehlender introspektiver Identitätskriterien argumentiert Dennett also gegen das klassische Verständnis der Qualia, gegen den unmittelbaren und unfehlbaren Zugang des Individuums und letzten Endes dagegen, dass sie überhaupt existieren. Für seinen Ansatz ist darüber hinaus die Veränderlichkeit der Wahrnehmung bei gleichbleibender Information zentral. Um diesen Aspekt zu verdeutlichen, führt er in seinem Aufsatz »Quining Qualia« verschiedene Alltagssituationen an, so zum Beispiel die folgende: Wenn man sich an seinen ersten Schluck Bier zurückerinnert, so dürfte dieses gustatorische Erlebnis den meisten Menschen als eher unangenehm in Erinnerung sein. Jahre später aber empfinden »erfahrene Biertrinker« dieselbe gustatorische Information als schmackhaft und erfrischend. 334 Ähnlich kann es einem mit der Musik ergehen: Versteht man erst den 333 Dennett, Daniel C.: Quining Qualia. In: Goldman, Alvin I. (Hrsg.): Readings in Philosophy and Cognitive Science. Massachusetts: Institute of Technology 1993, S. 385. 334 Vgl. Dennett, Quining Qualia, S. 397.

259 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

komplexen Aufbau eines klassischen Stücks oder macht eigene Erfahrungen als Ensemblemusiker, so erzeugt der Musikkonsum einen höheren Genuss als zu Zeiten musikalischer Ungebildetheit. Selbst eine einzelne gut intonierte Note kann dann Verzückung auslösen, wohingegen sie vorher unter der Oberfläche des Gesamteindrucks ungeschätzt blieb. Hieran wird deutlich, dass Qualia auch deshalb nicht sicher reidentifizierbar sind, weil sie nicht autonom existieren, sondern relational sind. Sie hängen immer vom aktuellen Erfahrungsstand, den Einstellungen, Überlegungen und der gegenwärtigen Konstitution des empfindenden Individuums ab. Für einen realistischen Blick auf unsere Empfindungen müssen wir diese Faktoren also einbeziehen, was den Zugang zu unseren Zuständen eher theoretisch und unsicher anstatt direkt und unfehlbar werden lässt. Zudem scheinen Qualia nicht elementar zu sein, denn wie beim Beispiel des Musikhörens ergeben sich durch die Veränderlichkeit des Subjekts immer neue Unterscheidungskriterien. Und selbst wenn ein Mensch tatsächlich an die Grenzen seiner individuellen Diskriminationsfähigkeit stößt, erscheint die Annahme, an dieser Stelle vor einer atomaren, also nicht weiter teilbaren Entität zu stehen, doch sehr anthropobzw. egozentrisch: »At any time, of course, there is one’s current horizon of distinguishability – and that horizon is what sets, if anything does, what we should call the primary or atomic properties of what one consciously experiences […]. But it would be a mistake to transform the fact that inevitably there is a limit to our capacity to describe things we experience into the supposition that there are absolutely indescribable properties in our experience.« 335 Zu guter Letzt sind Qualia, so Dennett, keine intrinsischen Phänomene, sondern bloß mangelhafte Eindrücke äußerlicher Eigenschaften: Eine Wolke vor einem blauen Himmel ist eine hochkomplexe, extrinsische, optische Information, die einen von vielen Abdrücken visueller Perzeption bei uns hinterlässt, mittels derer wir versuchen, die Dinge der Welt zu kategorisieren und wiederzuerkennen. Der Eindruck ist dabei immer fehlerhaft, da die potenzielle Information der Wolke wesentlich detaillierter ist als unser visuelles Erinnerungsvermögen. Daher ist die wesentliche Eigenschaft nicht privater Natur mit unmittelbarem intrinsischem Zugang, sondern öffentlich und unser Zugang unsicher. Das Private, auf das wir mit dem Begriff der Qualia ver-

335

Dennett, Quining Qualia, S. 409.

260 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

weisen, ist nur der unzulängliche Versuch auf das Eigentliche, das sich außerhalb von uns befindet, Bezug zu nehmen. 336 Aus den beschriebenen Überlegungen konkludiert Dennett, dass bei dem Vorhaben, den qualitativen Kern herauszuschälen, indem man den extrinsischen und subjektiven Kontext (Erfahrungen u. dgl.) subtrahiert, nichts übrig bleiben würde als »something like a vacuum« 337 und dass der klassische Begriff damit unterminiert und die Existenz der Qualia negiert sei: »So when we look one last time at our original characterization of qualia, as ineffable, intrinsic, private, directly apprehensible properties of experience, we find that there is nothing to fill the bill. In their place are relatively or practically ineffable public properties we can refer to indirectly via reference to our private property detectors – private only in the sense of idiosyncratic. […] So contrary to what seems obvious at first blush, there simply are no qualia at all.« 338 Mit der Abschaffung des Phänomenalen existiert kein Körper-Geist-Problem mehr, weil es dann außer den physiologischen Komponenten und Prozessen des menschlichen Körpers nichts gibt, das erklärt werden muss. 7.5.2.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe Vielen Punkten der dennettschen Philosophie möchte ich zustimmen: Es sind wichtige Hinweise, dass Qualia nicht reidentifizierbar zu sein scheinen, dass unser perzeptives Gedächtnis begrenzt und dadurch nicht detailgetreu ist, dass sie von der Diskriminationsfähigkeit und der akuten und allgemeinen Konstitution des Subjekts abhängen und dass sie aus diesem Grund nicht zeitlich konstant und atomar sein können. Ich denke, dass damit viel Richtiges über das Wesen der Qualia gesagt ist. Jedoch bin ich auch der Auffassung, dass diese Einsichten es nicht vermögen, die radikalen Konklusionen zu tragen, die Dennett auf ihnen abzustellen versucht. Qualia sind nicht reidentifizierbar. Einmal davon abgesehen, dass die Forderung nach menschlichem Wiedererkennen für die Rechtfertigung der Existenz einer Sache in meinen Augen recht fragwürdig ist, bin ich der Meinung, dass Qualia aus gut verständlichen 336 337 338

Ebenda, S. 406 f. Ebenda, S. 383. Ebenda, S. 409.

261 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Gründen nicht reidentifiziert werden können. Einige gehen aus den Überlegungen Dennetts selbst hervor: Zum einen kommen Qualia unter natürlichen Bedingungen in hochkomplexen Kompositionen vor, die sich durch Überlagerungen von Eindrücken derselben »Qualia-Gruppe« (z. B. das vielfältige auditive Erlebnis eines Weihnachtsmarktes) und darüber hinaus durch Beimischung anderer Empfindungsgruppen konstituieren (z. B. die Gerüche der verschiedenen Stände und die Emotionen, die das Individuum mit Weihnachten verbindet). Die Ebenen unseres Erlebens sind also voneinander unabhängigen Dynamiken der Veränderung unterworfen, die es unmöglich machen, ein einzelnes Quale herauszuheben und es in einem neuen Erlebniskontext als eben dieses zu reidentifizieren. Zum anderen ist das Wiedererkennen vermeintlich einfacher Qualia wie Farbeindrücke unter Versuchsbedingungen deshalb sehr anspruchsvoll, weil es den Rand unserer Diskriminationsfähigkeit berührt. Die explizite Wahrnehmung zweier fast identischer Rottöne entsteht unter voller Auslastung unserer perzeptiven Fähigkeiten. Unser perzeptives und emotionales Erinnerungsvermögen hingegen ist eher grob auflösend, um unser Gehirn vor Überlastung durch nicht zu bewältigende Informationsmengen zu schützen. Kann es also verwundern, dass eine akute Höchstleistung nicht aus dem Gedächtnis heraus wiederholt werden kann? Entscheidend hinzu kommt, dass Qualia, wie Dennett selbst schreibt, relational sind: Sie hängen von den Fähigkeiten, Erfahrungen, Einstellungen und Stimmungen des Subjekts ab, die sich fortwährend durch neue Empfindungen verändern. So beeinflusst natürlich auch unter gleichbleibenden Laborbedingungen ein erstes Roterlebnis ein darauf folgendes, erst recht, wenn es in einem der Versuchsdurchgänge durch einen danebenliegenden sehr ähnlichen Rotton sanft kontrastiert ist. Der relationale Charakter der Qualia fügt sich ebenso bereitwillig in unser intuitives Bild von der Welt, wie meine Schlussfolgerung aus diesem Umstand. Denn neben dem Einwand der komplexen Komposition und dem der zu hohen kognitiven Anforderung einer spezifischen Reidentifikation aus dem Gedächtnis lässt sich meines Erachtens noch ein basalerer Grund dafür finden, weshalb wir Qualia nicht wiedererkennen können: Die Reidentifikation ist unmöglich, weil qualitative Erlebnisse niemals zweimal identisch auftreten. Das können sie nicht, da sie nicht statisch sind, sondern immer von der Disposition des wahrnehmenden Individuums abhängen, die sich mit jeder Sekunde, jeder neuen Wahrnehmung und jeder neuen Empfindung unvermeidlich und unwider262 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

ruflich verändert. Unsere Erlebnisse fühlen sich einmalig an, weil sie einmalig sind – dadurch verliert die Forderung nach introspektiven Identifikationskriterien ihren Sinn und die dennettsche Elimination der Qualia ihr Fundament. Jedes Quale wird durch den Fluss der Zeit und die empfindenden und empfundenen Dinge, die darin existieren, zum unreidentifizierbaren Unikat. Unter 7.5.3.3.1.1 werde ich noch einmal auf die theoretische Relevanz des »unikalen Quales« zurückkommen. Nach meinem Verständnis wird der Eliminativismus Dennetts mit diesen Ausführungen bereits unverständlich, doch ich möchte noch offensichtlichere Probleme aufzeigen: Selbst wenn der Anspruch einer Reidentifikation realistisch wäre und selbst wenn sich herausstellt, dass wir uns über den Gehalt unserer Qualia täuschen und Identisches nicht als identisch erkennen, dann wäre damit mitnichten bewiesen, dass wir gar nicht empfinden. Und noch weniger kann das verwandte Argument unserer Fehlbarkeit in Bezug auf Dinge und Prozesse unserer Umwelt bzw. deren unpräzise geistige Abbildung überzeugen. Wie ist zu verstehen, dass Fehlbarkeit das negiert, was zuerst noch falsch liegen konnte? Wie ist die Prämisse begründet, nach der nur das existiert, was seiner Natur nach frei von Irrtümern ist? Was ist ein Irrtum, wenn er nur von etwas begangen werden kann, das gar nicht existiert? Ich denke, man kann gegen den Eliminativismus mit Recht auch »kartesischen Einspruch« erheben: »percipio ergo percipio« (»ich empfinde, also empfinde ich«) – wir mögen fehlbar in Bezug auf die Welt und selbst im reflexiven Bezug auf unser eigenes Empfinden sein, aber dass wir erleben, erscheint mir unbestreitbar. Unter 7.5.1.1 habe ich erörtert, dass unsere intuitive Sicht auf die Welt nicht alleine hinreicht, um eine zusätzliche Ebene des Seins einzurichten, sie besitzt also keine ontologische Entscheidungsgewalt. Demgegenüber jedoch besitzt sie bei all ihrer Fehlbarkeit sehr wohl epistemische und damit heuristische Autorität. Die menschliche Perspektive muss entscheiden, was der Mensch zu erforschen und begreifen sucht, da sie es ist, die ihm zuallererst die Rätsel aufgibt. Der Eliminativismus setzt sich darüber hinweg, indem er kurzerhand bestreitet, dass die Empfindungen der Liebe existieren. Aus einer nüchternen philosophisch-theoretischen Perspektive ist das, wie oben herausgestellt, sehr problematisch. Aus einer menschlich-intuitiveren Perspektive ist es absurd. Der Mensch liebt, dafür hat er seit Jahrtausenden einen Begriff, das ist es, was er verstehen möchte. Durch 263 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

theoretische Negation des Gefühls gerät die Romantische Liebe zwangsläufig und augenblicklich aus dem Untersuchungsfokus, denn die Empfindungen konstituieren ihr Wesen. Getrost können wir Qualia also als nicht atomar, nicht statisch und nicht inter- und intrasubjektiv reidentifizierbar annehmen, der Anspruch an eine befriedigende naturalistische Theorie der Liebe bleibt derselbe: Er besteht im Versuch, unser Liebeserleben unter Beibehaltung des natürlichen Monismus verstehbar zu machen – und zwar unabhängig davon, ob uns das gelingt oder auch nur gelingen kann. Denn für das Staunen, das zum Wundern und schließlich zur formulierbaren Frage wird, ist es nicht von Bedeutung, ob am Ende eine befriedigende Erkenntnis in Aussicht steht. Das Explanandum entsteht und rechtfertigt sich im menschlichen Geist, ganz gleich, ob es ihn übersteigt. Diese heuristische Position werde ich unter 7.6.3 unter dem Begriff »Phänointegrativer Naturalismus« vollständig ausbreiten. Naturalismen, die das Phänomenale zumindest nicht theoretisch eliminieren, möchte ich im nachfolgenden Kapitel besprechen.

7.5.3 Nicht-eliminative Naturalismen Die Ansätze dieses Abschnitts versuchen, das phänomenale Erleben und damit auch die Liebe des Menschen unter Beibehaltung einer natürlichen Ontologie zu erklären. Das Feld solcher Theorien ist weit und kompliziert. Um die Romantische Liebe als übergeordneten Untersuchungsgegenstand nicht zu lang aus dem direkten Fokus zu nehmen, möchte ich die einschlägigen Positionen sowie deren Vor- und Nachteile möglichst komprimiert innerhalb eines Gefüges der folgenden Strömungen darstellen: 1. Reduktiver Physikalismus, 2. Nichtreduktiver Naturalismus und 3. Identifizierender Naturalismus. 339

339 Die philosophischen Positionen sind in ihrer Form nicht unbeweglich und werden häufig verschieden ausgelegt. Ich werde diesen interpretativen Schwankungen in meiner Arbeit jedoch nicht nachgehen und damit eine eher klassische Differenzierung vornehmen. Des Weiteren ist die Reihenfolge, in der die Ansätze besprochen werden, keine philosophiegeschichtlich chronologische, sondern zu Gunsten einer guten Verständlichkeit gewählt.

264 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

7.5.3.1 Der reduktive Physikalismus Bevor ich den reduktiven Physikalismus bespreche, möchte ich ihn zunächst präzisieren. Denn es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen einer konstitutiven und einer explanatorischen Reduktion. Die konstitutive Reduktion bedeutet, dass alle Phänomene letzten Endes auf naturwissenschaftliche Prozesse in dem Sinne reduziert werden können, dass sie grundsätzlich auf ihnen basieren und dadurch ermöglicht werden. Die explanatorische Reduktion fordert darüber hinaus, dass alle Phänomene in den Begriffen der Chemie, Biologie und Physik erklärt und verstanden werden können. Damit kann die konstitutive Reduktion als ein Ausdruck des allgemeinen naturalistischen Standpunkts betrachtet werden, nach dem außer dem Materiellen und seinen Prozessen nichts anderes existiert. Hingegen bedeutet der explanatorische Reduktionismus eine klar definierte epistemische Forderung. Nachfolgend soll unter dem Begriff des reduktiven Physikalismus stets die explanatorische Variante verstanden sein. Der reduktive Physikalismus fordert, dass sich alle Phänomene der Einzelwissenschaften und des menschlichen Alltags durch Reduktion und Beschreibung in physikalischer Sprache verstehen lassen. Die Makroeigenschaften eines Systems sind dann reduktiv erklärbar, wenn aus den seine Teile betreffenden Naturgesetzen unter Verwendung geeigneter Brückenprinzipien 340 folgt, dass alle Systeme mit den entsprechenden Teilen und der entsprechenden Mikrostruktur dieselbe Makrostruktur ausbilden. Wundert sich also der Hobbygärtner, wieso seine Pflanzen Licht und Wasser zum Wachsen benötigen, so wendet er sich an den Botaniker. Dieser wird ihm die biochemischen Prozesse der Fotosynthese erklären, bei denen aus anorganischen Stoffen organische Verbindungen synthetisiert werden und die sich in der Gleichung 6 CO2 + 6 H2O + Lichtenergie → C6H12O6 + 6 O2 zusammenfassen lassen. Durch diese Belehrung versteht der Hobbygärtner die Vorgänge nun auf biologischer und chemischer Ebene, doch er ist neugierig und will es noch genauer wissen. Also fragt er, was die chemischen Verbindungen ausmacht und wie Licht als Energie verwendet werden kann, woraufhin der Botaniker ihn an einen befreundeten Physiker verweist. Dieser erklärt ihm den Aufbau und die Eigenschaften der Atome, die die Eigenschaften der Moleküle be340

Für ein Beispiel vgl. 7.5.3.2.1.

265 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

stimmen, und wie aus der molekularen Verbindung H2O Elektronen abgespalten und mittels in Lichtsammelkomplexen aufgefangener Photonen auf ein höheres Energieniveau gebracht werden, was die primären Prozesse der Fotosynthese antreibt. Nach einiger Zeit des Nachfragens gelangt der Physiker mit seinen Ausführungen zur sogenannten starken Wechselwirkung, die neben der schwachen Wechselwirkung, der Gravitation und dem Elektromagnetismus als eine der vier Grundkräfte der Physik gilt und die Bindungen zwischen Quarks und Hadronen sowie den Zusammenhalt der Nukleonen des Atomkerns begründet. Der Hobbygärtner ist sichtlich beeindruckt vom Wissenstand der Menschheit. Als er aber ansetzt zu fragen, wieso die Grundkräfte der Physik in eben dieser Ausprägung existieren, schneidet ihm der Physiker das Wort und gibt zurück, dass ihm das nur die Astrophysiker erklären könnten, die sich mit der Entstehung des Universums samt seiner fundamentalsten Gesetze befassten. Bei ihnen, so der Physiker nachdenklich, ende die reduktive Explanation – hiernach könnten nur noch die Philosophen Auskunft geben – allerdings seien die sich meist schon bezüglich der Frage uneins … Trotz des etwas unbefriedigenden Endes der kleinen Geschichte ist der Hobbygärtner vollkommen zu Recht beeindruckt: Die naturwissenschaftlich-reduktive Erklärungstradition kann eine gewaltige Menge von Erkenntnissen für sich verbuchen, die sowohl die Sicht des Menschen auf die Welt als auch (durch ihre technischen Umsetzungen) die Welt selbst maßgeblich verändert haben. Diese Erfolge veranlassen die reduktiven Materialisten nun zu der Annahme, dass sich auch das phänomenale Erleben des Menschen in reduktiver Weise durch biologische, chemische und schließlich fundamentale physikalische Prozesse begreifen lässt. 7.5.3.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe Das Streben nach einer reduktiven Erklärung des Mentalen lässt sich nur zu gut nachvollziehen: Zum einen handelt es sich beim reduktiven Physikalismus um eine aus wissenschaftstheoretischer Sicht ausgesprochen vorbildliche Theorie: Die Hypothese, dass unsere Welt bis ins Letzte durch eine einheitliche physikalische Beschreibung verstanden werden kann und dass darüber hinaus nichts wahr ist, das nicht aus diesem naturalistischen Theorem folgt, erfüllt jede sinnvolle Forderung nach Sparsamkeit sowie Geschlossenheit und ist zudem nicht ad hoc, da sie auf unzähligen empirischen Erfahrungen

266 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

gründet. Der bedeutendste Vorzug des reduktiven Physikalismus ist jedoch sein explanatorisches Potenzial. Denn sollte er Erfolg haben, so wären die Konsequenzen für das Verständnis des menschlichen Geistes, seiner Qualia und damit auch für das Verständnis der Romantischen Liebe schlicht unübertreffbar: Das phänomenale Erleben und das Bewusstsein des Menschen blieben als wirklicher Teil der Welt bestehen, wären nun aber empirisch und rational nachvollziehbar in die naturwissenschaftlichen Beschreibungen des Universums integriert. Dies würde nicht weniger bedeuten als eine ganzheitliche Beschreibung der menschlichen Realität und die Lösung des Jahrtausende alten Problems von Körper und Geist – der »Heilige Gral der Philosophie des Geistes«. An dieser Stelle muss der Lobgesang auf den reduktiven Physikalismus aber verklingen, denn bislang scheint nicht klar zu sein, wie die angestrebte Reduktion überhaupt aussehen könnte. Die zentrale Frage lautet: Wie gelangt man explanatorisch vom subjektiven Erleben zu einem biologischen, chemischen oder physikalischen Körperzustand? Welche der naturwissenschaftlichen Begriffe können darüber Auskunft geben, wie wir in dieser Sekunde empfinden? Die biochemische Beschreibung der gustatorischen Wahrnehmung reicht inzwischen weit ins physiologische Detail. Doch was sagt uns das über die qualitative Geschmackskomposition eines Schlucks Espresso? Es muss ein explanativer Konnex zwischen unserer Physiologie und unserem Erleben gefunden werden, formuliert in naturwissenschaftlicher Terminologie und verstanden mittels rationaler Überlegungen. Denn das ist es, was der reduktive Physikalismus vorhersagt und was ihn so überaus erstrebenswert macht. Schon David Hume erkannte hier eine fundamentale Schwierigkeit, als er in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schrieb: »We cannot form to ourselves a just idea of the taste of a pine-apple, without having actually tasted it.« 341 Noch einige Jahre zuvor schilderte Leibniz durch sein Gedankenexperiment der begehbaren Denkmaschine seine Zweifel an der Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Erklärung des Geistes (vgl. 7.5.1). Emil du Bois-Reymond ging noch einen Schritt weiter als er im Jahr 1872 in seinem berühmten Vortrag verkündet: »Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Be341 Hume, David in: Tweyman, Stanley: Scepticism and belief in hume’s dialogues concerning natural religion. Boston/ Dordrecht/ Lancester: Martinus Nijhoff Publishers 1986, S. 12.

267 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

wegung materieller Theilchen aber lässt sich eine Brücke in’s Reich des Bewusstseins schlagen. […] Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Thatsachen: ›Ich fühle Schmerz, fühle Lust, fühle warm, fühle kalt; ich schmecke Süsses, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Roth‹ […]?« 342 »Gegenüber den Räthseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ›Ignoramus‹ [wir wissen nicht] auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewusstsein, dass, wo er jetzt nicht weiss, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Räthsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschliessen: ›Ignorabimus‹ [wir werden es niemals wissen].« 343 Der menschliche Geist gehörte für du Bois-Reymond zu den sieben Welträtseln, deren Lösungen teilweise möglich oder (wie in diesem Falle) aufgrund der menschlichen Natur unmöglich sind. Diese Ansicht möchte ich am Ende des Kapitels diskutieren. Einen der einflussreichsten Gegenwartsartikel zur Kritik am reduktiven Physikalismus veröffentlichte Thomas Nagel im Jahr 1974 unter dem Titel »What is it like to be a bat?«. Wie der Titel ahnen lässt, fordert er den Leser zu dem Versuch auf, sich vorzustellen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Hiermit ist nicht gemeint, sich vorzustellen, wie man sich selbst als Fledermaus fühlen würde, sondern wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. Diese Tiere nehmen ihre räumliche Umwelt mittels Echolotung wahr. Sie senden hochfrequente Töne aus und horchen, auf welche Weise sie von den Gegenständen ihrer Umgebung reflektiert werden. Durch die spezifische Intensität und die Dauer, die der Schall benötigt, um als Echo zu den Ohren zurückzugelangen, entsteht ein auditiver Abdruck, aus dem die Tiere ein mentales Abbild des Raumes erzeugen. Wer einmal eine Fledermaus in engen Räumen hat navigieren sehen, der weiß, dass dieses System der visuellen Raumwahrnehmung in nichts nachsteht, zumal es auch in völliger Dunkelheit bestens funktioniert. Es 342 Du Bois-Reymond, Emil: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträthsel. Zwei Vorträge. Zehnter Abdruck. Hamburg: tredition Verlag 1872, S. 35 f. 343 Ebenda, S. 43 f.

268 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

ist leicht einzusehen – und darauf will Nagel natürlich hinaus – dass es uns nicht gelingen kann, uns räumliches Wahrnehmen mittels unserer Ohren vorzustellen. Den Grund hierfür sieht der US-amerikanische Philosoph in der subjektiven Perspektive, an die unser Erleben gebunden ist und die wir aufgrund unserer biologisch fixierten Existenz nicht wechseln können. Nach Nagel gilt diese Erkenntnis nun nicht nur bezüglich verschiedener Wahrnehmungsformen unterschiedlicher Spezies, sondern auch bezüglich der Wahrnehmung zweier menschlicher Individuen. Denn alle Erlebnisse sind in dem Sinne an die Erste-Person-Perspektive gebunden, dass sie durch den subjektiven Charakter überhaupt erst zu Erlebnissen werden. Eine naturwissenschaftliche Beschreibung der physiologischen Vorgänge hat hingegen rein objektiven Charakter. Sobald wir also beginnen, über neurale Erregungen im Gehirn zu sprechen, betreten wir den Raum des Objektiven, in dem intersubjektiver Austausch möglich ist, weil das Objektive unabhängig von der individuellen Perspektive erkannt und diskutiert werden kann. Zugleich verlassen wir jedoch zwangsläufig den Raum der subjektiven Erste-Person-Perspektive, die unser Erleben ausmacht: »If physicalism is to be defended, the phenomenological features must themselves be given a physical account. But when we examine their subjective character it seems that such a result is impossible. The reason is that every subjective phenomenon is essentially connected with a single point of view, and it seems inevitable that an objective, physical theory will abandon that point of view.« 344 Nach Nagel bedeutet eine Reduktion des Phänomenalen ein sukzessives Aufgeben der subjektiven Perspektive und damit ein sukzessives Abwenden vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand: »Certainly it appears unlikely that we will get closer to the real nature of human experience by leaving behind the particularity of our human point of view and striving for a description in terms accessible to beings that could not imagine what it was like to be us. If the subjective character of experience is fully comprehensible only from one point of view, then any shift to greater objectivity – that is, less attachment to a specific viewpoint – does not take us nearer to the real nature of the phenomenon: it takes us farther away from it.« 345 344 Nagel, Thomas: What is it like to be a bat? In: The Philosophical Review LXXXII 83 (1974), 4, S. 437. 345 Ebenda, S. 444 f.

269 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Auch wenn Nagel aus dem Gesagten keine Falsifikation des Naturalismus ableitet, 346 steht die Position des Reduktionismus doch vor tief reichenden theoretischen Problemen, deren grundsätzliche Lösbarkeit fraglich erscheint. 347 Inwieweit eine wissenschaftliche Revolution denkbar ist, die den reduktiven Physikalismus letzten Endes doch noch verständlich macht, möchte ich in den Kapiteln des epistemischen und heuristischen Fazits besprechen. Zunächst aber soll erörtert werden, ob ein Naturalismus auch nicht-reduktiv sinnvoll formuliert werden kann. 7.5.3.2 Der nicht-reduktive Naturalismus In diesem Abschnitt möchte ich zwei nicht-reduktive Ansätze darstellen, die Theorie der Emergenz und die der Supervenienz. Beide Begriffe bedürfen jedoch einer vorangestellten Präzisierung, um als nicht-reduktive Variante gelten zu können. 7.5.3.2.1 Emergenz Im Allgemeinen spricht man von einem emergenten Phänomen, wenn ein System eine Eigenschaft ausbildet, die seine Komponenten isoliert betrachtet nicht besitzen. Hierzu lassen sich zahlreiche naturwissenschaftliche Beispiele finden, ein klassisches betrifft den Aggregatzustand von Wasser: Unter den entsprechenden Umweltbedingungen (Temperatur und Druck) besitzt Wasser die Eigenschaft »flüssig«. Hingegen kann man den Einzelteilen des Wassers, den H2O-Molekülen, diese Eigenschaft nicht zuschreiben. Also bildet das »Molekularsystem Wasser« die emergente Eigenschaft »flüssig« aus. Diese Sorte emergenter Phänomene muss jedoch als reduktiv erklärbar gelten, wie die folgende Herleitung zeigt: Die Mikroeigenschaften des Stoffes legen fest, dass auf Meereshöhe bei einer Temperatur über null und unter 100 Grad Celsius die Moleküle so weit auseinanderstehen, dass ihre Abstoßungskräfte eine Verringerung des Abstands trotz (mäßiger) Krafteinwirkung nicht zulassen. Das erforderliche Brückenprinzip besagt: Wenn der Abstand der Moleküle nur mittels sehr großem Druck verringert werden kann, dann kann das Volumen des Stoffes (den die Moleküle ja aufbauen) nur durch großen Druck Vgl. Ebenda, S. 437. Vgl. etwa Jackson, Frank: Epiphenomenal Qualia. In: The Philosophical Quarterly 32 (1982), 127, S. 127–136. 346 347

270 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

verringert werden – und dies stellt eine charakteristische Eigenschaft von »flüssig« dar. Weil solche Emergenz also mittels anerkannter naturwissenschaftlicher Verfahren reduzierbar ist, muss sie für dieses Kapitel ausgeschlossen werden. Eine erkenntnistheoretisch interessantere Variante ist die sogenannte schwache Emergenz. Im Gegensatz zur eben dargestellten Abhängigkeit, die man als »reduzible Emergenz« bezeichnen könnte, kennzeichnet dieser Begriff eine epistemische Position in der Naturphilosophie und wird bezüglich Phänomenen gebraucht, die sich einer Reduktion zu verwehren scheinen (so wie es auch die Qualia der Romantischen Liebe tun). Wie alle in diesem Abschnitt besprochenen Ansätze verortet sich auch der schwache Emergentismus innerhalb der naturalistisch-monistischen Ontologie, nach der alle Erscheinungen des Universums auf physikalischen Prozessen basieren. Das erkenntnistheoretische Moment ist nun, dass Erscheinungen, die sich einer reduktiven Analyse entziehen, aktuell nicht mit den uns verfügbaren Begriffen erklärbar sind. Diese Position geht also davon aus, dass alle Phänomene der Welt grundsätzlich physikalisch reduzibel sind und dass der Mensch nur noch nicht über die entsprechenden Erkenntnisse verfügt, um die Reduktion bei allen Erscheinungen durchzuführen. Damit ist der schwache Emergentismus im Kern keine nicht-reduktionistische Theorie, sondern vielmehr eine epistemisch bescheidene, aber hoffnungsvolle Position des reduktiven Physikalismus. Nur ein solcher Emergentismus, der die sogenannte starke Emergenz vertritt 348, kann als nicht-reduktiver Naturalismus gelten. Dieser Position zufolge bilden Systeme Eigenschaften aus, die grundsätzlich nicht durch die Eigenschaften der Systemkomponenten und deren Komposition erklärt werden können. Es geht hierbei also nicht wie beim schwachen Emergentismus um den aktuellen Wissensstand der Menschheit, der das Verständnis einer grundsätzlich möglichen Reduktion verhindert, sondern um eine prinzipielle Irreduzibilität einiger Phänomene der physikalischen Welt – allen voraus das Phänomen des menschlichen Bewusstseins und der Qualia. Solche Ma348 Was hier als starker Emergentismus bezeichnet wird, ist in seinen Konsequenzen mit dem synchronen Emergentismus vergleichbar. Auf eine begriffliche Abgrenzung zum diachronen Emergentismus möchte ich verzichten, da ein synchroner Emergentismus immer auch diachroner Emergentismus ist (vgl. Gessmann, Martin: Emergenz, in: Gessmann, Martin (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 23., vollständig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2009, S. 190 f.).

271 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

kroeigenschaften sind dann emergent, wenn alle Systeme mit der entsprechenden Mikrostruktur und den entsprechenden Teilen diese Makrostrukturen aufweisen, jedoch aus den allgemeinen Naturgesetzen, die für die Teile gelten, und unter Verwendung der relevanten Brückenprinzipien, nicht gefolgert werden kann, dass solche Systeme die Makroeigenschaft ausbilden. Um es schlichter auszudrücken: Selbst ein supranaturales Wesen namens Gott, dass alles weiß und alles kann, wäre nicht imstande die mentalen Phänomene des Menschen mittels einer physikalischen Reduktion zu erklären, weil die Natur des Universums »echte Emergenzen« beinhaltet, die vollkommen neuartig, unvorhersehbar und vor allem irreduzibel aus komplexen Systemen hervorgehen. Bevor ich die theoretischen und epistemologischen Schwierigkeiten des starken Emergentismus beleuchte, möchte ich einen zweiten Ansatz vorstellen, der unter bestimmten Voraussetzungen auch als nicht-reduktiver Naturalismus gelten kann: die Supervenienztheorie. 7.5.3.2.2 Supervenienz Der Begriff der Supervenienz bezeichnet die Relation zwischen zwei Familien von Eigenschaften, wobei die zu erklärende Eigenschaft über einer (subvenierenden) Eigenschaft superveniert. Hierbei besteht folgende Abhängigkeit: Es kann keine Situation geben, in der die subvenierenden Eigenschaften zweier Systeme identisch sind, die supervenierenden Eigenschaften sich aber unterscheiden. Umgekehrt ist es hingegen möglich, dass die supervenierenden Eigenschaften identisch sind, obwohl (leichte) Unterschiede zwischen den subvenierenden Eigenschaften bestehen. 349 Zur Verdeutlichung dieser einseitigen Determination kann man sich ein Gemälde im Stile des Pointillismus vorstellen, bei dem das Dargestellte – etwa eine Obstschale – durch das gekonnte Arrangement kleiner Pinseltupfer verschiedener Farben besteht. Die Anordnung und Eigenschaften der Farbtupfer stellen die subvenierende Eigenschaft da, die Information des Bildes, also die dargestellte Obstschale, stellt die Eigenschaft dar, die darüber superveniert. Es ist nun leicht einzusehen, dass es möglich ist, die subvenierende Eigenschaft zu verändern, indem man einige Farbtupfer übertüncht, ohne dadurch gleich auch die supervenierende Eigenschaft zu verändern – man erkennt immer noch auf Anhieb eine 349

Vgl. Beckermann, Das Leib-Seele Problem, S. 82 f.

272 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Obstschale. Umgekehrt funktioniert das jedoch nicht: Man kann nicht das Dargestellte ändern, ohne die Anordnung oder Farbe der Tupfer zu verändern, da diese das Bild einer Obstschale determinieren. Übertragen auf die mentalen Erlebnisse des Menschen bedeutet das Folgendes: Die empfundenen Qualia supervenieren über den subvenierenden Prozessen unseres Gehirns. Jedes Individuum, das dieselben neuralen Erregungsmuster aufweist, erlebt auch denselben phänomenalen Gehalt, weil dieser von den physio-physikalischen Abläufen bestimmt ist. Durch (leichte) Änderungen der neuralen Aktivitäten muss sich der phänomenale Gehalt jedoch nicht ändern. Mit dieser Schilderung habe ich den Supervenienzbegriff erheblich eingegrenzt, denn für sich genommen ist die Supervenienz ontologisch und epistemisch neutral: Es könnten ebenso gut nicht-physische Eigenschaften über dem Physischen supervenieren, was einen Dualismus bedeuten würde. Außerdem schließt die allgemeine Supervenienztheorie auch nicht die Möglichkeit einer zukünftigen physikalischen Reduktion der supervenierenden Eigenschaften auf die subvenierenden aus. Die Variante der Supervenienz, die hier aber relevant ist, ist antireduktionistisch und physikalistisch – von welchem epistemischen Wert sie ist, möchte ich nachfolgend untersuchen. 7.5.3.2.3 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe Die Supervenienztheorie besagt also, dass die Qualia der Liebe über den neuralen Abläufen des Gehirns supervenieren. Damit ist die einseitige Determination unserer phänomenalen Erlebnisse durch die neuralen Prozesse formuliert – viel mehr aber auch nicht. Denn sofort drängt sich die berechtigte Frage auf, wie Supervenienz eigentlich funktioniert. Auf welche Weise manifestiert sich das eine über dem anderen? Auf welche Weise lassen physiologische Prozesse mentalen Gehalt entstehen? Darauf bleibt die Theorie eine Antwort schuldig, denn sie beschreibt lediglich die Art der Beziehung zwischen Physischem und Geistigem, nicht aber deren Realisierung. Mit den Worten des Philosophen Jaegwon Kim: »Mind-body supervenience, therefore, does not state a solution to the mind-body problem; rather it states the problem itself.« 350 So kann die epistemische und ontologi350 Jaegwon, Kim: Supervenience and Mind: Selected Philosophical Essays. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press 1995 (= Cambridge Studies in Philosophy), S. 168.

273 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

sche Neutralität der allgemeinen Supervenienz nach meinem Dafürhalten durchaus als Hinweis darauf gelten, dass die Theorie keinen bedeutenden explanatorischen Gehalt mit sich führt. Sie ist vielmehr eine Angabe des Verhältnisses zwischen Physischem und Mentalem, die selbst einer Erklärung bedarf. Der Emergentist ist in dieser Hinsicht konsequenter. Auf die Frage, wie mentale Zustände aus neuralen Zuständen hervorgehen, antwortet er folgendermaßen: »Mentale Zustände sind emergente Phänomene, das bedeutet, dass sie irreduzibel und damit grundsätzlich nicht weiter erklärbar sind. Das ist festgelegt durch die Natur unseres Universums und eine Frage, auf die es gemäß den ureigenen Gesetzen des Universums keine Antwort gibt, ist eine sinnlose Frage.« Eine klare Haltung, die umso mehr Widerstand erregt, sowohl aus dem antiphysikalistischen als auch aus dem eigenen Lager. Der erste Einwand ist eine explanatorische Kritik und wirft den Emergentisten vor, dass sie durch ihre Theorie letztlich nichts erklären. Die explanatorische Lücke besteht weiterhin, denn der Begriff der Emergenz schafft weder Klarheit noch ist aus ihm eine Annäherung von Mentalem und Physischem ableitbar, wie David Chalmers in seinem Aufsatz »Consciousness and its Place in Nature« festhält: »What can be inferred from this sort of description in terms of structure and dynamics? A low-level microphysical description can entail all sorts of surprising and interesting macroscopic properties, as with the emergence of chemistry from physics, of biology from chemistry, or more generally of complex emergent behaviors in complex systems theory. But in all these cases, the complex properties that are entailed are nevertheless structural and dynamic: they describe complex spatiotemporal structures and complex dynamic patterns of behavior over those structures. So these cases support the general principle that from structure and dynamics, one can infer only structure and dynamics.« 351 Dieses Argument gegen den starken Emergentismus besagt also weder, dass er unzulässig oder theoretisch fehlerhaft ist, sondern dass er uns schlicht nichts bringt, weil er nichts erklärt – ein factum brutum, das in seinem explanatorischen Gehalt nicht weit über die begriffliche Fassung des Nichtwissens hinausreicht. Der zweite Einwand hängt mit dem ersten zusammen, ist aber eher epistemischer Art und kritisiert den finalen Charakter der Theorie des starken Emergentismus. Ähnlich wie die Argumentation der 351

Chalmers, Consciousness and its Place in Nature, S. 121.

274 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Eliminativisten (wenn auch in seinen Konsequenzen weitaus weniger radikal) verweist er auf die wissenschaftlichen Durchbrüche der Vergangenheit: Zu jeder Zeit gab es große Fragen, deren Beantwortung als unmöglich galt. So ging man noch vor etwa 150 Jahren allgemein davon aus, dass die Entstehung des Lebens nur religiös, niemals aber naturwissenschaftlich erklärt werden könne. 352 Heute gilt dieses Rätsel längst als theoretisch gelöst und sogar empirisch überprüft: In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts formulierten der russische Biochemiker Alexander Iwanowitsch Oparin und der britische Genetiker John Burdon Sanderson Haldane unabhängig voneinander eine Theorie über die chemischen und physikalischen Bedingungen der Erde vor 3,5 bis 4,5 Milliarden Jahren. Daraus schlossen sie, dass vor allem der reduzierende statt oxidierende Charakter der Uratmosphäre eine spontane Entstehung von organischen Verbindungen aus anorganischen Bestandteilen ermöglichte. Im Jahre 1953 simulierten Stanley Miller und Harold Clayton Urey diese Umweltbedingungen im Labor. Ihre Apparatur füllten sie mit einem Gasgemisch aus Methan, Ammoniak und Wasserstoff, in das sie simulierte Blitze in Form elektrischer Entladungen leiteten. Hierdurch ließen sie H2O zirkulieren, indem sie es erhitzten, woraufhin der entstandene Dampf durch die »Uratmosphäre« strömte, anschließend wieder abkühlte und als angereichertes Kondensat erneut dem heißen »Urmeer« zugeführt wurde. Bald färbte sich das ehedem klare Wasser braun und nach einer Woche ergab die chemische Analyse, dass es eine Vielzahl organischer Verbindungen beinhaltete, darunter auch Aminosäuren, die Bausteine der Proteine heutiger Lebewesen. 353 Auch wenn die fortgeschrittene Säkularisierung der Wissenschaft epistemologische Vorhersagen etwas substanzieller gemacht hat, ist die zentrale Frage dieser Kritik dennoch geradezu zwingend: Wie kann jemand wissen, was die Menschheit grundsätzlich wissen kann, zeigt uns doch obiges Beispiel zur Entstehung des Lebens sowie die gesamte Wissenschaftsgeschichte, dass der Mensch sein Erkenntnispotenzial zu jeder Epoche unterschätzt hat? Wie kann ein Blickwinkel erlangt werden, aus dem man »epistemologisches Recht spricht« und kurzerhand die Grenzen der menschlichen Erkenntnis absteckt? Denn nichts anderes bedeutet das Postulat des starken Emergentismus, nach dem die Existenz systemischer Eigenschaften 352 353

Vgl. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, S. 45–75. Vgl. Campbell u. Reece, Biologie, S. 615 ff.

275 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

nicht reduzierbar und somit auch nicht tiefer verstehbar ist. Das ist eine weitreichende Prämisse, die von den Vertretern des starken Emergentismus lediglich dadurch gerechtfertigt wird, dass das Problem von Körper und Geist nicht gelöst ist. Aus diesem epistemischen Argument leitet sich zudem eine heuristische Kritik ab: Der starke Emergentismus verleitet dazu, das Unerklärte als einen ungereimten Teil der Natur hinzunehmen, weil mit diesem Einverständnis die vollständige Beschreibung der Welt lockt. Doch das könnte fatale Folgen haben, da eine solche Haltung die Chancen darauf, doch noch verwertbare Erkenntnis über das Zustandekommen des menschlichen Geistes zu erhalten, gegen Null gehen lässt. 354 Das dritte Argument gegen den starken Emergentismus bezweifelt seine Legitimität in einem naturalistischen Weltbild, in dem ja alles »mit rechten Dingen zugehen« muss. Wenn Eigenschaften von physischen Systemen aber unerklärbar und unvorhersehbar auftreten, ist dann der Begriff der Emergenz nicht vielmehr eine transzendente Beschreibung im naturalistischen Gewand? Das ist eine berechtigte Frage, zumal die emergenten Phänomene sich per definitionem allen physikalischen Erkenntnismethoden verweigern. Eine physikalische Eigenschaft, die sich aus nichts Physikalischem ableiten lässt, findet gemäß dieser Kritik also keinen Platz in einer physikalischen Beschreibung der Welt. Mit dem starken Emergentismus, so könnte man formulieren, beginnt ein schwacher Dualismus. Gemäß dieser Einwände bedeutet der starke Emergentismus für die Romantische Liebe, dass wir ihr Phänomen weitgehend dort lassen, wo es sich schon seit Jahrtausenden befindet: in einem gesonderten Bereich, unzugänglich und auf subtile, weil naturalistische Weise mystisch. Wenn die Liebe ein emergentes Phänomen im Sinne des starken Emergentismus ist, dann haben wir sie beschrieben, ohne sie zu verstehen, denn das Verstehen ist nicht nur dem Menschen unmöglich, sondern grundsätzlich – kein sehr befriedigender Zustand. Jede dieser drei Kritiken hat Substanz und ist berechtigt, jede folgt naturwissenschaftlich etablierten Überzeugungen und der naturalistischen Intuition. Die Argumente zeigen, dass der starke Emergentismus wenig verwertbare Erkenntnis mit sich führt, dass er aus epistemologischer Perspektive beliebig und aus heuristischer Perspektive gefährlich anmutet und dass seine Prämisse so tief in den 354 Den hier aufgeworfenen Fragen und Überlegungen gehe ich in meinem epistemischen und heuristischen Fazit weiter nach.

276 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Naturalismus eingreift, dass nicht mehr klar zu sein scheint, ob er sich überhaupt noch innerhalb monistischer Grenzen befindet. Doch – und diese Entgegnung ist legitim – was, wenn die Natur tatsächlich so ist, wie sie der Emergentist beschreibt? Was, wenn es bezüglich des Verhältnisses zwischen Mentalem und Physischem tatsächlich nichts weiter zu wissen gibt als dessen Emergenz? Was, wenn die Prämisse aus epistemologischer Sicht gerade deshalb so gewagt wirkt, weil ihre Unbegründbarkeit dadurch besteht, dass starke Emergenz eine fundamentale Eigenschaft des Universums ist? Wo steht festgeschrieben, dass wir die Natur des Universums in allen Belangen begreifen können müssen, wo steht festgeschrieben, dass uns die Natur des Universums in unserer menschlichen Vorstellung über die Welt befriedigen muss? Wer entscheidet, was naturalistisch, was natürlich ist? Bei diesen Impulsen möchte ich es vorerst belassen, eine Ausarbeitung werde ich in den Kapiteln meines Fazits vornehmen. 7.5.3.3 Identifizierender Naturalismus In diesem Kapitel werde ich zwei Theorien zum Umgang mit dem Geist-Körper-Problem besprechen, die sogenannte Identitätstheorie und den Funktionalismus. 7.5.3.3.1 Die Identitätstheorie Wie unter 7.5.3.1.1 ausgeführt, scheint eine reduktive Erklärung der mentalen Phänomene zumindest bei gegenwärtigem Wissensstand und unter Verwendung der gegenwärtig verfügbaren Terminologie nicht möglich zu sein. Daher möchte ich im Folgenden nur eine solche Variante der Identitätstheorie besprechen, die eine naturalistische Alternative zur physikalisch-reduktiven Explanation bedeutet. Der (antireduktionistische) Identitätstheoretiker möchte das Problem von Körper und Geist in den Griff bekommen, indem er das Mentale mit dem Physischen nicht nur ontologisch, sondern absolut gleichsetzt: Jeder mentale Zustand ist ein physischer Zustand. Durch die Identifizierung der scheinbar distinkten Entitäten verliert die schwierige Frage danach, auf welche Weise der eine Zustand den anderen hervorbringt, ihren Sinn, da tatsächlich nur eine einzige Entität existiert. Das Einzelne kann nicht etwas anderes hervorbringen, ohne den Status des Einzelnen zu verlieren. Daraus ergibt sich die verbindlichste Form »gegenseitiger Determination«, weil es das Gegenseitige in Wirklichkeit gar nicht gibt. Konkret bedeutet die Theo-

277 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

rie also, dass jedes Quale, also auch die akute Qualiakomposition einer Romantischen Liebe, identisch ist mit einem spezifischen neuralen Erregungsmuster des Gehirns. In seinem Aufsatz »Mind the Gap« aus dem Jahr 1998 argumentiert David Papineau am Beispiel der Aktivität von Schmerz vermittelnden C-Fasern für diesen antireduktionistischen Identitätsbegriff: »Exactly the same point, I say, applies to the identity of conscious and material properties. We can ask for an explanation of what shows that pains are identical to the firing of C-fibres (once more, they appear at the same place in the causal scheme of things). But it makes no sense then to ask for a further explanation of why pains arise from C-fibre firings. If they are C-fibre firings, they don’t ›arise‹ from them, they are them, and that’s it.« 355 Identitäten bestehen unabhängig von analytischen Kriterien, sie bestehen einfach. Es gibt Schmerz nicht als distinkte Entität, denn Schmerz ist C-Faser-Aktivität und umgekehrt – und damit basta. Mit dieser Interpretation der Identitätstheorie ist kein Eliminativismus verbunden, der die Existenz der Qualia und damit das menschliche Empfinden leugnet, wie die Fortsetzung des Zitats zeigt: »Perhaps it is worth making clear that I certainly do not want to deny the ›what-it’s-likeness‹ of conscious occurrences. To say that pains are identical with C-fibres firing is not to deny that it is like something to be in pain. Rather, it is to affirm that it is like something to have your C-fibres firing. […] feeling a pain is having your C-fibres firing. And given this, there is then no further mystery of why firing C-fibres should feel like that. The ›two‹ states are the same, and that’s it.« 356 Folgt man diesen Überlegungen, so ist die Suche nach einer Begründung für Identität beziehungsweise für ihr Zustandekommen unsinnig. Wie aber können wir Identitäten, wenn sie denn vorliegen, erkennen? Nach Papineau ist ein wichtiges Indiz dieselbe kausale Rolle der scheinbar distinkten Entitäten, also dasselbe Verhalten im Gefüge von Ursache und Wirkung. Auch Ned Block und Robert Stalnaker vertreten in Ihrem Aufsatz »Conceptual Analysis, Dualism and the explanatory Gap« die Meinung, dass Identität nicht durch strenge (reduktionistische) Analyse zu erkennen sei, sondern durch Suche und Anhäufen von kausalen Indizien. Die US-amerikanischen Philosophen verdeutlichen diese Überlegung an einem Beispiel über die 355 Papineau, David: Mind the Gap. In: Philosophical Perspectives 12, Language, Mind and Ontology (1998), S. 379. 356 Papineau, Mind the Gap, S. 379.

278 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Identität des Pseudonyms »Mark Twain« mit »Samuel Langhorne Clemens«: »Suppose one group of historians of the distant future studies Mark Twain and another studies Samuel Clemens. They happen to sit at the same table at a meeting of the American Historical Association. A briefcase falls open, a list of the events in the life of Mark Twain tumbles out and is picked up by a student of the life of Samuel Clemens. ›My Lord‹, he says, ›the events in the life of Mark Twain are exactly the same as the events in the life of Samuel Clemens. What could explain this amazing coincidence?‹ The answer, someone observes, is that Mark Twain = Samuel Clemens. Note that it makes sense to ask for an explanation of the correlation between the two sets of events. But it does not make the same kind of sense to ask for an explanation of the identity. Identities don’t have explanations […]. The role of identities is to disallow some questions and allow others.« 357 Identität verbietet es also selbst, nach einer Erklärung für sie zu fragen. Sie ist lediglich durch das Finden und Ansammeln von Indizien des Zusammenhangs, aufgrund derer sie allmählich zur besten Erklärung für das zu Untersuchende wird, entdeckbar. Der Naturalismus, so die Identitätstheoretiker, benötigt keine erklärende Reduktion, sondern begründete Identitätsaussagen. 7.5.3.3.1.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe Die Vorteile des Identitätspostulats bezüglich mentaler und physischer Zustände sind nicht zu leugnen, denn es bedeutet eine erhebliche Vereinfachung der Theorie. Wenn man statt zwei Entitäten nur eine einzige annimmt, dann werden der ganze Problemkomplex des Kausalverhältnisses und damit die epistemologische Forderung nach einer erklärenden Lösung hinfällig. Das erinnert an eliminativistische Ansätze, mit dem Unterschied, dass bei der Identität die Existenz des phänomenalen Erlebens nicht geleugnet wird. Die qualitativen Komponenten, die die Romantische Liebe aufbauen, sind die dynamische Abfolge neuraler Erregungsmuster. Die Liebe wird also nicht durch etwas anderes hervorgebracht und bedarf damit keiner weiteren Erklärung bezüglich ihrer Existenz in der Welt. Diese geradezu simple Lösung mag auf den ersten Blick nicht sehr erhellend wirken, doch nimmt man es genau, so ist der explanatorische Gehalt der Identitäts357 Vgl. Block, Ned; Stalnaker, Robert: Conceptual Analysis, Dualism, and the Explanatory Gap. In: The Philosophical Review 108 (1999), 1, S. 24.

279 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

theorie höher als der eines starken Emergentismus (und selbstverständlich auch höher als der einer Supervenienztheorie, die ja im Grunde gar nichts erklärt). Denn bei der Identität von Mentalem und Physischem entsteht die Liebe nicht durch unverstehbare und dadurch mysteriös wirkende Gesetzmäßigkeiten der Natur, sondern ist verstehbare Physik. Aus wissenschaftstheoretischem Gesichtspunkt ist die Identitätstheorie also recht vorbildlich. Doch wie steht es mit dem menschlich-intuitiven Urteil? Empfinden wir den Ansatz als eine befriedigende Erklärung für das Phänomen der Romantischen Liebe? Was heißt »das Phänomen ist gleich Physik«? Können wir das überhaupt begreifen? Und welche heuristische Relevanz besitzt unser intuitives Urteil eigentlich? Trotz des höheren explanatorischen Gehalts ergeben sich bei den Varianten des identifizierenden Naturalismus (also auch beim noch zu besprechenden Funktionalismus) ähnliche Fragen wie beim starken Emergentismus. Und auch an dieser Stelle möchte ich deren Vertiefung auf die Kapitel meines Fazits verschieben. Ich werde diese Überlegungen auch deshalb hier nicht weiter ausführen, weil die Identitätstheorie mit substanzielleren Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Den schwersten Schlag erlitt die Identitätstheorie in den späten sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als der US-amerikanische Philosoph Hilary Putnam das Argument der multiplen Realisierbarkeit entwickelte. Es besagt, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass ein mentaler Zustand mit einem Gehirnzustand identisch ist, weil die gleichen mentalen Zustände in ganz verschiedenen Gehirnen realisiert werden können: »Consider what the brain state theorist has to do to make good his claims. He has to specify a physical-chemical state such that any organism (not just a mammal) is in pain if and only if (a) it possesses a brain of a suitable physical-chemical structure; and (b) its brain is in that physical-chemical state. This means that the physical-chemical state in question must be a possible state of a mammalian brain, a reptilian brain, a mollusc’s brain […], etc. […] Even if such a state can be found, it must be nomologically certain that it will also be a state of the brain of any extraterrestrial life that may be found that will be capable of feeling pain before […].« 358 Vom 358 Putnam, Hilary (1967): The nature of mental states. In: Beakley, Brian; Ludlow, Peter (Hrsg.): The Philosophy of Mind – Classical Problems, Contemporary Issues. Massachusetts: Institute of Technology 1992, S. 55 f.

280 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Verhalten einer Eidechse lässt sich also schließen, dass sie fähig ist, Schmerz zu empfinden. Vergleicht man nun aber die Gehirnarchitektur dieser Tiere mit der des menschlichen Gehirns, so findet man bedeutende Unterschiede, wie sie rund 350.000.000 Jahre evolutiver Entwicklung erwarten lassen. Wie kann es dann sein, so die kritische Frage Putnams, dass Schmerz mit einem spezifischen Gehirnzustand identisch ist, wenn andere Lebewesen, deren Gehirne gar nicht imstande sind, diesen spezifischen Erregungszustand auszubilden, ebenfalls Schmerz empfinden? Auch innerhalb unserer Spezies scheinen sich Ungereimtheiten bezüglich der Identität von Empfindungen und physiologischen Zuständen zu ergeben. Abgesehen davon, dass die Gehirne verschiedener Menschen in ihrer Mikrostruktur deutlich voneinander abweichen, haben bildgebende Untersuchungsverfahren ergeben, dass bestimmte phänomenale Zustände durch ähnliche, aber doch unterschiedliche zerebrale Aktivitäten realisiert werden. Und selbst bei ein und demselben Individuum wandeln sich die neuralen Korrelate der Empfindungen im Laufe seines Lebens, da sich der Feinaufbau seines Gehirns durch das natürliche Absterben von Gehirnzellen und der Kompensation dieser Prozesse fortwährend verändert. Der Fall scheint also klar: Die empirischen Befunde sind unvereinbar mit dem starren Determinismus von Physiologie und Phänomen, was die Identitätstheorie widerlegt. Die Kritik Putnams ist gewichtig und aus philosophiegeschichtlicher Perspektive hat sie die Identitätstheorie zu Fall gebracht. Auch ich bin der Auffassung, dass die Identitätstheorie nicht haltbar ist, allerdings nicht wegen des Arguments der multiplen Realisierbarkeit. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass die Kritik Putnams nicht so zwingend ist, wie sie allgemein gehandelt wird. Erst im nächsten Kapitel werde ich dann im Vergleich mit der Theorie des Funktionalismus die nach meinem Verständnis tatsächliche Unterminierung der Identitätstheorie herausstellen. Mein Einwand gegen die Kritik Putnams betrifft seine zentrale Prämisse. Putnam postuliert, dass dasselbe Quale in verschiedenen zerebralen Systemen auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann. Das ist jedoch unvereinbar mit dem relationalen und dadurch unikalen Charakter der Qualia, wie ich ihn in Kapitel 7.5.2.1 dargelegt habe: Jede Wahrnehmung ist gefärbt durch vorangegangene Perzeptionen, Propriozeptionen und Gefühlsregungen, sie ist beeinflusst durch die Erfahrungen und wechselnden Dispositionen des wahrnehmenden Individuums. Der erste Schluck Bier schmeckt anders als der 281 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

zweite und keine Emotion ist exakt wie die andere, denn alles findet in zeitlichen Wahrnehmungskontexten statt. Empfindungen, die gleichzeitig auftreten, sind nicht distinkt. Sie bilden ein phänomenales Konglomerat, dessen Einzelteile vom Empfindenden zwar mitunter erkannt und benannt werden können, jedoch nie in reiner Form, sondern stets gefärbt durch das Ganze. Distinkt können Empfindungen – wenn überhaupt – nur nacheinander auftreten, doch dann sind sie immer der Prägung vorangegangener Empfindungen ausgesetzt, so wie sie ihrerseits Teil des subjektiven Empfindungskontextes nachfolgender Eindrücke sind. Durch die simultane und sukzedane Beeinflussung der Qualia durch Qualia und durch die resultierende dispositionale Prägung des Individuums entsteht ein dynamisches und höchst individuelles Wahrnehmungsmilieu, in dem keine »reinen«, keine elementaren und reidentifizierbaren Qualia, sondern ausschließlich unwiederholbare phänomenale Unikate entstehen. Wenn also die Qualia eines Individuums einmalig und dadurch grundsätzlich voneinander verschieden sind, dann sind es interindividuelle oder gar interspezifische Qualia, die in vollkommen anderen Wahrnehmungsmilieus entstehen, erst recht. Hieraus folgt, dass die putnamsche Prämisse der multiplen Realisierbarkeit, nach der dieselben Qualia in verschiedenen zerebralen Systemen realisiert werden, eine irreale Voraussetzung ist. Vielmehr wäre doch vorstellbar, dass jedes unikale Quale identisch ist mit einem unikalen neuralen Erregungsmuster – der erforderliche Ereignisraum wäre durch die dynamische Komplexität unseres Gehirns wohl gegeben. Dass die zwischenmenschliche Verständigung bezüglich persönlicher Empfindungen dennoch funktioniert, ist damit begründbar, dass wir dieselben Kategorien von Wahrnehmungen haben, etwa brennender Schmerz, Verlustangst, euphorische Freude, sexuelles Verlangen etc. Und dass der Versuch einer exakten Vermittlung spezifischer Phänomene doch immer etwas vage und unscharf bleibt, liegt dieser Überlegung folgend daran, dass wir nie über exakt dasselbe sprechen – ein Umstand, der vortrefflich mit der Intuition des Menschen in Einklang steht, nach der er sich selbst und die Welt auf ganz einmalige und im Detail schwer zu vermittelnde Weise erlebt. Es lässt sich also konstatieren, dass das Argument der multiplen Realisierung an der Unmöglichkeit selbiger scheitert. Ich möchte mit der vorliegenden Argumentation jedoch weder für die klassische Identitätstheorie plädieren noch die Möglichkeit eines Naturalismus mit schwächerer Determination bestreiten, wie sie beispielsweise die 282 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Supervenienztheorie impliziert. Ich möchte hingegen darauf hinweisen, dass die Notwendigkeit für ein schwächeres Determinationsverhältnis zwischen phänomenalen und physischen Zuständen, die sich auf das Argument der multiplen Realisation stützt, nicht besteht, weil das begründete Postulat unikaler Qualia die tragende Prämisse der putnamschen Folgerungen unterminiert. 7.5.3.3.2 Der Funktionalismus Auch wenn die vorgestellte Kritik gegen die Identitätstheorie meiner Meinung nach nicht deren Kernschwäche trifft, so war sie philosophiegeschichtlich doch von großer Bedeutung – vor allem deshalb, weil Hilary Putnam alsbald eine alternative Theorie entwickelte, den Funktionalismus: »I shall, in short, argue that pain is not a brain state, in sense of a physical-chemical state of the brain (or even the whole nervous system), but another kind of state entirely. I propose the hypothesis that pain, or the state of being in pain, is a functional state of a whole organism.« 359 Putnam löst also die Identität »mentale Zustände = Gehirnzustände« auf und ersetzt sie durch die Identität »mentale Zustände = funktionale Zustände«. Funktionale Zustände sind ausschließlich durch ihre kausale Rolle charakterisiert, das heißt durch ihre (extrasystemischen) Auslöser (Inputs), ihre Wirkung auf andere innersystemische Zustände und durch das resultierende Systemverhalten (Output). Die kausale Rolle funktionaler Zustände kann demzufolge in bestimmten Verhaltensgesetzen ausgedrückt werden: »[…] the presence of the functional state (i. e. of inputs which play the role we have described in the Functional Organisation of the organism) is not merely ›correlated with‹ but actually explains the pain behaviour on the part of the organism.« 360 Ned Block hilft bei der Veranschaulichung dieser Zusammenhänge: Er beschreibt einen Getränkeautomaten, der eine Flasche Cola gegen den Einwurf des Betrags von einem Euro auswirft. Dieser Automat nimmt jedoch nicht nur Ein-Euro-Münzen an, sondern auch 50-Cent-Stücke und ist zudem imstande, Restgeld herauszugeben. Diese Funktionsleistungen werden dadurch erreicht, dass sich der Getränkeautomat in zwei verschiedenen funktionalen Zuständen befinden kann, die jeweils spezifische Verhaltensgesetze implizieren. Befindet sich der Automat im Ausgangszustand Z1 und ein Durstiger füttert ihn mit einer 359 360

Putnam, The nature of mental states, S. 54. Ebenda, S. 58.

283 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Ein-Euro-Münze (Input), dann determiniert das erste Verhaltensgesetz für Z1 den Auswurf einer Cola-Flasche und den Verbleib im Ausgangszustand. Das zweite Verhaltensgesetz für Z1 betrifft den Fall, dass eine 50-Cent-Münze eingeworfen wird. Es besagt, dass der Automat in einen neuen Zustand übergeht, den Anzahlungszustand Z2. Für Z2 gelten nun die folgenden neuen Verhaltensgesetze: Bei Einwurf einer weiteren 50-Cent-Münze erfolgt der Auswurf einer Cola-Flasche und der Übergang in den Ausgangszustand Z1; bei Einwurf einer Ein-Euro-Münze erfolgt der Auswurf der Flasche, der Auswurf eines 50-Cent-Stücks als Wechselgeld und der Übergang in den Zustand Z1. 361 Was bedeutet das nun angewandt auf das menschliche Phänomen mentaler Zustände? In der neurophysiologischen Deutung 362 bedeutet es, dass unsere Qualia nichts anderes sind, als die wechselnden Kausalzustände, in denen sich unser neurales System befindet. Diese bewirken einander oder sind durch extrasystemische Inputs verursacht und determinieren spezifische Verhaltensgesetze, wodurch sich das Verhalten des gesamten Systems (Gehirn bzw. Körper-Outputs) instantiiert. Wenn ich im Folgenden von funktionalen Zuständen spreche, ist eben diese Interpretation gemeint. Diese Beschreibung passt vorzüglich zu meinem Postulat des unikalen Quales, denn durch die Einführung der kausalen Rolle ist die fortlaufende Beeinflussung der Phänomene im Fluss der Zeit auch theoretisch implementiert. Die kausale Prägung der Qualia durch Qualia, die ihrerseits wiederum Produkte qualitativer Prägung waren usf., eröffnet den großen Ereignisraum, den ein Menschenleben voller einzigartiger Erlebnisse beansprucht. Nun aber zu den wesentlichen Unterschieden des Funktionalismus im Vergleich zur Identitätstheorie. Der ontologische Rahmen für die Identität von mentalen und physikalischen Zuständen (Identitätstheorie) ist festgelegt, weil physikalische Zustände nun einmal der physikalischen Welt zugehörig sind. Die Identität von mentalen und Vgl. Block, Ned: Troubles with Functionalism. In: Goldman, Alvin I. (Hrsg.): Readings in philosophy and cognitive science. Cambridge/Massachussetts/London: The MIT Press 1993, S. 231–254. Im Original sind die Münzen ein amerikanisches 5-Cent-Stück (»Nickel«) und ein Zehn-Cent-Stück (»Dime«). 362 Der ursprüngliche Ansatz Putnams war (wie das erste Zitat durchscheinen lässt) eher verhaltenspsychologisch inspiriert. Ich möchte den Funktionalismus bezogen auf die zerebralen Vorgänge besprechen, aus denen das Verhalten dann auf höherer Komplexitätsstufe entsteht. 361

284 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

funktionalen Zuständen hingegen ist in ihrer allgemeinsten Auslegung ontologisch ungebunden, denn die Definition des funktionalen Zustandes durch seine kausale Rolle im System sagt über seinen ontologischen Status zunächst einmal nichts aus. Allerdings ist der Funktionalismus philosophiegeschichtlich eindeutig naturalistisch geprägt und wird auch in aktuellen Debatten um das Problem von Körper und Geist monistisch verwendet. 363 Aus seiner theoretischen Unabhängigkeit vom Materiellen im Allgemeinen ergibt sich nun aber der entscheidende Vorteil des Funktionalismus gegenüber der Identitätstheorie, nämlich seine Unabhängigkeit vom Materiellen im Speziellen. Denn für die funktionale Verwirklichung von Qualia ist die materielle Beschaffenheit des Systems, in dem die Prozesse ablaufen, nachrangig. Die Systemorganisation muss lediglich die Realisation der kausalen Rollen der mentalen Zustände ermöglichen, wie David Chalmers treffend formuliert: »More precisely, the principle states that given any system that has conscious experiences, then any system that has the same functional organization at a fine enough grain will have qualitatively identical conscious experiences. A full specification of a system’s fine-grained functional organization will fully determine any conscious experiences that arise.« 364 An dieser Stelle wird die Intention Putnams ganz deutlich: Wie im letzten Kapitel beschrieben, besagt sein Argument der multiplen Realisierbarkeit, dass die Identität von mentalen und physischen Zuständen deshalb nicht möglich sei, weil Wesen mit verschiedenen Gehirnen dieselben Qualia haben könnten. Die Identität von mentalen und funktionalen Zuständen macht die Forderung nach multipler Realisierung identischer Qualia nun möglich, da hierfür nicht entscheidend ist, dass die Gehirne identische physikalische Eigenschaften aufweisen. Anstatt physikalischer Isomorphie genügt nun funktionale Isomorphie. Funktional isomorph für ein gegebenes Phänomen sind zwei Systeme dann, wenn sie sich in ihrer Funktionsstruktur ausreichend detailliert gleichen, um die kausale Rolle des Zustandes, der mit dem gegebenen Phänomen identisch ist, zu ermöglichen. Konkret bedeutet das, dass die Eidechse trotz ihres verhältnismäßig einfachen Gehirns Schmerz empfinden kann, weil ihr zerebrales System die kausale Rolle für Schmerz ebenso ermöglicht, wie das viel komplexeVgl. Putnam, The nature of mental states, S. 55. Chalmers, David J.: Absent Qualia, Fading Qualia, Dancing Qualia. In: Metzinger, Thomas (Hrsg.): Conscious Experience. Paderborn: Schöningh 1995, S. 310. 363 364

285 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

re menschliche Gehirn: »being capable of feeling pain is possessing an appropriate kind of Functional Organisation« 365. Weniger ursprüngliche Empfindungen, wie etwa Reue oder die qualitative Komposition der Romantischen Liebe, benötigen entsprechend höher entwickelte funktionale Systemorganisationen und sind damit höher entwickelten Spezies mit komplexeren Gehirnen vorbehalten. Dieser Ansatz bildet auch den metatheoretischen Hintergrund des Informationsverarbeitungsansatzes in der kognitiven Neurowissenschaft und den Kognitionswissenschaften. 366 Entsprechend bietet sich der Vergleich mit einem künstlichen System wie einem Computer an, gemäß dem dieselbe Software auf verschiedenen Rechnern in gleicher Weise ausgeführt werden kann. Solange die Hardware die erforderliche funktionale Organisation für die spezifische Anwendung bereitstellt, ist das Phänomen (Benutzeroberfläche, Funktionen des Softwareprogramms etc.) trotz unterschiedlicher Systeme identisch. Der Funktionalismus bedeutet also – um in diesem Vergleich zu bleiben – die Auflösung der direkten Abhängigkeit von der »physiologischen Hardware« und die Identifikation der mentalen Phänomene mit den abstrakteren Zuständen »neuronaler Software-Prozesse.« 7.5.3.3.2.1 Theoretische Schwierigkeiten und epistemische Konsequenzen für die Romantische Liebe Die Identifizierung von Unverstandenem mit Verstandenem hat in den meisten Fällen einen explanatorischen und damit einen epistemischen Mindestgehalt. Angenommen, man lehrt einen Schüler, der die römische Zahlenschreibweise »XVII« nicht kennt, dass sie identisch mit der arabischen Zahl 17 ist, dann wird das Unverstandene durch die Identifikation mit dem Verstandenen ebenfalls zu etwas Verstandenem. Der Schüler kennt nun die Bedeutung und Verwendung von »XVII« und hat dadurch neues Wissen erworben. Am größten ist der epistemische Gehalt allerdings dann, wenn die Identifikation durch eine (reduktive) Erklärung begründbar ist. Denn wenn man dem Schüler erläutert, dass »XVII« mit »17« deshalb identisch ist, weil »XVII« sich aus den Zahlenwerten 10 (= X), 5 (= V) und zweimal 1 (= zweimal I) summiert, dann hat er zusätzlich zur BedeuPutnam, The nature of mental states, S. 54. Vgl. Metzinger, Thomas: Funktionalismus und Bewusstsein I: Fehlende und invertierte Qualia. Einleitung. In: Metzinger, Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes, S. 251. 365 366

286 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

tung und Verwendung von »XVII« nicht bloß einen Aspekt des römischen Zahlensystems verstanden, sondern die Identifizierung selbst. Gäbe es eine solche explanatorisch befriedigende Identifikation der Qualia der Romantischen Liebe mit den somatischen Prozessen des Menschen, dann wäre das alte Problem gelöst und die geistesphilosophische Arbeit daran beendet – doch leider steht uns so etwas bekanntermaßen nicht zur Verfügung. Am anderen Ende des epistemischen Spektrums liegen Identifikationen, denen nicht nur eine reduktive Erklärung fehlt, sondern deren vermeintlich distinkte Entitäten so verschieden erscheinen, dass eine Gleichsetzung auf »intuitives Unbehagen« stößt. Ein solches Gefühl könnte sich bezüglich der klassischen Identitätstheorie breitmachen, bei der die Phänomene des Mentalen letzten Endes ohne weitere Erklärung mit den physikalischen Zuständen identifiziert werden – aus wissenschaftstheoretischer Sicht vorbildlich sparsam, aber aufgrund der empfundenen Divergenz subjektiv wenig befriedigend, irgendwie künstlich und aus der Luft gegriffen. Aus Perspektive dieser intuitiven Bewertung ist der Funktionalismus nach meinem Empfinden deutlich bekömmlicher: Zwar kann auch er keine reduktive Erklärung bieten, doch sind die zu identifizierenden Erscheinungen kompatibler, weil sie ihrem Wesen nach näher beieinanderliegen. Grund für diese Annäherung können natürlich nicht die mentalen Zustände sein, denn sie bleiben verglichen mit der Identitätstheorie unverändert – es liegt vielmehr an der abstrakteren Natur des funktionalen Zustands. Denn er ist nicht die Physik oder deren Prozesse, sondern ist die kausale Rolle der Prozesse physischer Systeme. Damit, so scheint mir, ist etwas von der starren Materie Losgelösteres entstanden, etwas schwerer zu Greifendes. Etwas, das der natürlichen Welt eindeutig zugehört, nicht aber auf spezifisches Material angewiesen ist, nur existent im systemischen Kontext, gewichts- und formlos, weil selbst immateriell. Das führt auf der einen Seite dazu, dass der Funktionalismus zunächst etwas schwerer verständlich ist als die Identitätstheorie. Die Gleichsetzung von einem Gehirnzustand und einer Emotion ist sofort verständlich, weil uns beide Erscheinungen der Identifikation vertraut sind. Die Identität eines mentalen und eines funktionalen Zustandes ist hingegen nicht sofort einsichtig, da zuerst die abstraktere Natur des funktionalen Zustandes verinnerlicht und als Teil der physikalischen Welt akzeptiert werden muss (der Einzug des PCs in unsere Alltagswelt hat diese Vorstellung ohne Zweifel erheblich erleichtert). Ist dieser kognitive Schritt aber einmal getan, so ergibt sich ein recht 287 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

bemerkenswertes Bild: Vor einigen Zeilen habe ich den funktionalen Zustand als immateriell und unabhängig von den Eigenschaften des physikalischen Stoffs, als form- und schwerelos beschrieben. Das ist das charakteristische Vokabular für die Beschreibung von etwas Transzendentem, etwas, das der physikalischen Welt nicht zugehört. Es ist das Vokabular der Pluralisten, wenn sie über die Entitäten zusätzlicher ontologischer Ebenen sprechen – sei es Gott, sei es die Seele oder seien es die qualitativen Phänomene des menschlichen Geistes. An dieser begrifflichen Überschneidung wird die »Wesensannäherung« der vermeintlich distinkten Erscheinungen sehr deutlich: Der funktionale Zustand ist intuitiv noch so gut verständlich, dass wir ihn ohne Bedenken der physikalischen Welt zuordnen können (zumal es im Computermodell ein technisches Analogon gibt). Er hat aber trotz seiner Zugehörigkeit zum naturalistischen Monismus einen solchen Abstraktheitsgrad und ist bezüglich des Materials und der exakten Architektur der physischen Systeme so autonom, dass er den noch viel autonomer und abstrakter wirkenden Phänomenen des menschlichen Geistes seiner Natur nach ähnlicher ist. Nach meinem Dafürhalten macht eben diese Ähnlichkeit das identifizierende Moment des Funktionalismus für den Menschen verstehbarer. Und eine Theorie, die verstehbarer ist, hat einen höheren epistemischen Gehalt, weshalb der Funktionalismus der Identitätstheorie schon aus erkenntnistheoretischen Überlegungen vorzuziehen ist. Hierzu drei Klarstellungen: Zunächst ist das Gesagte nicht die weiter oben angekündigte Unterminierung der Identitätstheorie, die ich erarbeiten werde, wenn ich die theoretischen Einwände gegen den Funktionalismus diskutiere. Viel wichtiger ist der Hinweis, dass der Funktionalismus die Phänomene des menschlichen Geistes nicht in solcher Art erklärt, dass sich keine neuen Fragen stellen ließen. Bezüglich der explanatorischen Befriedigung steht ein Ansatz, dessen theoretischer Kern eine Identifikation ist, hinter jeder konsistent funktionierenden Reduktionstheorie zurück. Zuletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass mein Plädoyer für eine funktionalistische Sicht auf das Problem von Körper und Geist und damit auf die Frage »Was ist die Liebe?« keinesfalls mit einem Plädoyer für deren Richtigkeit zu verwechseln ist. Was der Mensch (besser) versteht, ist nicht automatisch das, was tatsächlich real ist. Auf der anderen Seite sind Verstehbarkeit und epistemisches Potenzial auf der Suche nach der wahren Beschreibung der Welt gewiss nicht ohne Belang. Diese Überlegungen gehören jedoch schon den Kapiteln des ontologischen und 288 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

heuristischen Fazits an, weshalb ich es hier bei diesem Hinweis belassen und mit den philosophischen Einwänden gegen den Funktionalismus sowie dessen Erwiderungen fortfahren möchte. Auf diese Weise wird sich zeigen, ob er als Ansatz zur Lösung des Problems von Körper und Geist bestehen kann oder seinen theoretischen Schwächen erliegt. Um die spezifischen Argumente gegen den Funktionalismus besser zu verstehen, möchte ich mit einer klassischen Kritik am Naturalismus im Allgemeinen beginnen, die der US-amerikanische Philosoph Joseph Levine Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts unter dem Titel »The Explanatory Gap« 367 entwickelte. 368 Mit einem Satz beschrieben besagt Levines Argument, dass alle Theorien, die die Phänomene nicht durch eine naturwissenschaftliche Reduktion erklären, explanatorisch unvollständig sind und dass daher die angenommene Identität eines spezifischen funktionalen Zustands und eines spezifischen Quales nicht notwendig, sondern kontingent ist. Zur Verdeutlichung vergleicht Levine die folgenden zwei Identitätsaussagen: »Temperatur ist identisch mit der mittleren kinetischen Energie der Moleküle eines Gases«. Diese Gleichsetzung ist nach Levine explanatorisch vollständig und damit notwendig richtig, weil sich unser Begriff von Temperatur vollständig in dieser seiner kausalen Rolle erschöpft. 369 »Temperatur« (nicht »Temperaturempfinden«) beinhaltet demnach nichts, was nicht durch die physikalische Erklärung verstehbar wird. Hingegen ist die zweite Identitätsaussage »Schmerz ist identisch mit der Aktivität von C-Fasern« explanatorisch unvollständig, weil »Schmerz« mehr beinhaltet als seine reduzible kausale Rolle – nämlich den qualitativen Gehalt, das »wie es ist, Schmerz zu haben«: »However, there is more to our concept of pain than its causal role, there is its qualitative character, how it feels«. 370 Diese Unvollständigkeit in der erklärenden Verbindung zwischen dem Empfundenen und dem funktionalen Zustand nennt Levine »explanatory gap«. Einerseits zeigt uns diese Erklärungslücke die (derzeitigen) Grenzen Vgl. Levine, Joseph: Materialism and Qualia: The Explanatory Gap. In: Pacific Philosophical Quarterly 64 (1983), 4, S. 354–361. 368 Dass ich den deutschen Begriff »explanatorische Lücke« oder »Erklärungslücke« schon zuvor wiederholt verwendet habe, deutet auf die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Aufsatzes hin. 369 Zur reduktiven Methode und der Verwendung von Brückenprinzipien vgl. Kapitel 7.5.3.1 und 7.5.3.2.1. 370 Levine, Materialism and Qualia, S. 357. 367

289 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

unseres Vermögens auf, nicht-reduktive Theorien tatsächlich zu verstehen. Andererseits weist sie darauf hin, dass nicht-reduktive Identitätsaussagen durch ihren kontingenten Charakter etwas Unbestimmtes, Willkürliches und Zufälliges an sich haben. Denn man könnte berechtigt fragen, wieso gerade diese Nervenaktivität Schmerzen und nicht etwa Juckreiz verursacht; oder wieso die biochemische Perzeption einer elektromagnetischen Welle von rund 400 Nanometer Länge ein violettes Farberlebnis verursacht und nicht etwa ein grünes. Aus keinem der physiologischen, neurobiologischen, chemischen oder physikalischen Gesetze folgt notwendig, wie es sich anfühlt in einem Zustand zu sein, der offensichtlich durch sie bestimmt ist: »[…] what is left unexplained by the discovery of C-fiber firing is why pain should feel the way it does! For there seems to be nothing about C-fiber firing which makes it naturally ›fit‹ the phenomenal properties of pain, any more than it would fit some other set of phenomenal properties.« 371 Nun könnte man die Identitäten natürlich als »factum brutum« annehmen – als etwas also, das sich von nichts anderem ableiten lässt und damit nicht weiter erklärbar ist –, so wie es bei den fundamentalen Wechselwirkungen der Physik zu sein scheint. 372 Allerdings hält Levine hier berechtigt entgegen, dass es sich bei funktionalen und phänomenalen Zuständen nicht um basale, sondern um hochsystemische Zustände auf makroskopischer Ebene handelt und dass durch diesen Umstand erklärende Zusammenhänge ungleich wahrscheinlicher sind. 373 So hindere die Kontingenz der explanatorischen Unvollständigkeit den Menschen daran, der Wahrheit auf empirischem Wege näherzukommen – selbst dann, wenn die Wirklichkeit tatsächlich so ist, wie sie der Funktionalismus beschreibt. 374 Ebenda, S. 357. Genau genommen wird selbst hierbei die Vereinheitlichung der Grundkräfte zum Zeitpunkt der Entstehung des Universums angenommen. 373 Eine Theorie, die diese Problematik auszuhebeln versucht, indem sie proto-, also »vor«-phänomenale Eigenschaften auf Ebene der basalsten physikalischen Teilchen postuliert, ist der sogenannte Panprotopsychismus von David Chalmers (vgl. Chalmers, Consciousness and its Place in Nature sowie den klassischen Artikel von Russell, Bertrand (1927): The Analysis of Matter. Nottingham: Spokesman Books 2007). Nach meinem Dafürhalten handelt es sich bei diesem Ansatz jedoch um einen (verdeckten) Dualismus mit unverständlicher Verbindung zwischen geistigen und körperlichen Entitäten und dem esoterischen Beigeschmack eines Panpsychismus und Pantheismus. 374 Vgl. Levine, Materialism and Qualia, S. 360. 371 372

290 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Die Konsequenz der Kontingenz der Identität des Funktionalismus klang oben bereits an: Wenn durch die Analyse der funktionalen Zustände ungeklärt bleibt, wieso ein bestimmter funktioneller Zustand mit einem bestimmten Quale auftritt, dann ist immer vorstellbar, das bedeutet logisch möglich, dass dieser Zustand 1. ohne das Quale oder 2. mit einem anderen Quale auftritt. Diese beiden Einwände werden dementsprechend als das Argument fehlender Qualia und das Argument invertierter Qualia bezeichnet. Ich werde sie nachfolgend in umgekehrter Reihenfolge behandeln. Bereits im Jahr 1690 beschrieb der englische Philosoph John Locke die Möglichkeit einer Inversion phänomenalen Gehalts und stellte heraus, dass solche Diskrepanz nicht einmal bemerkt werden würde 375: »(Wenn auch die Idee des Blauen bei dem einen Menschen von der bei dem anderen verschieden sein sollte.) Auch dann dürfte man unseren einfachen Ideen nicht Falschheit vorwerfen, wenn der verschiedenartige Bau unserer Organe es mit sich brächte, daß dasselbe Objekt im Geist verschiedener Menschen gleichzeitig verschiedene Ideen erzeugen würde. Nehmen wir zum Beispiel an, die Idee, die ein Veilchen im Geist des einen Menschen vermittels der Augen erzeugt, sei dieselbe, die im Geiste eines anderen durch die Ringelblume erzeugt werde und umgekehrt. Dies wäre jedoch nie zu erkennen; denn der Geist des einen Menschen könnte unmöglich in den Körper des anderen übergehen, um wahrzunehmen, welche Erscheinungen durch dessen Organe erzeugt werden. Daher würde in dem bezeichneten Fall weder eine Verwechslung der Ideen noch der Namen eintreten; auch würde beiden keinerlei Falschheit anhaften. Denn da alle Dinge, die die Beschaffenheit eines Veilchens hätten, beständig die von ihm blau genannte Idee erzeugten, und die, welche die Beschaffenheit der Ringelblume hätten, beständig die von ihm ebenso regelmäßig gelb genannte Idee, so würde er, wie diese Erscheinungen auch immer in seinem Geiste aussähen, in der Lage sein, die Dinge für seinen Zwecke regelmäßig vermittels dieser Erscheinungen zu unterscheiden; er würde die durch die Wörter blau und gelb bezeichneten Unterschiede verstehen können, wie wenn die durch jene zwei Blumen vermittelten Erscheinungen oder Ideen in seinem Geist

375 Auch Descartes und Leibniz sind Vordenker solcher »Vorstellbarkeitsargumente« (vgl. auch 7.5.1).

291 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

dieselben wären wie die Ideen im Geist anderer Menschen.« 376 Das Argument, dass zwei funktional isomorphe Systeme verschiedene Qualia instantiieren könnten, wird traditionell durch den Vergleich verschiedener menschlicher Individuen formuliert. Wirkungsvoller jedoch ist der Vergleich mit anorganischen Systemen aus Siliziumverbindungen. Vorgestellt sei daher ein Roboter, der der menschlichen Anatomie nachempfunden ist und dessen Computergehirn über Funktionsstrukturen verfügt, die exakt dieselben Kausalprozesse ermöglichen, wie sie im Gehirn eines Menschen ablaufen (funktionale Isomorphie). Nach Meinung der Kritiker sei nun schon intuitiv völlig klar, dass eine Maschine mit elektronischem SiliziumRechenzentrum nicht dieselben Gefühle und Sinneseindrücke erleben könne wie der Mensch mit seinem biochemischen Kohlenstoff-Gehirn – selbst dann nicht, wenn Mensch und Maschine aufgrund derselben sensorischen und motorischen Schnittstellen dasselbe Verhalten aufwiesen. Hieraus schließen sie, dass das phänomenale Erleben nicht ausschließlich von der kausalen Rolle der Prozesse abhängen könne, womit der Funktionalismus widerlegt sei. Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts griff David J. Chalmers die Vorstellung vom exakten Silizium-Nachbau eines Gehirns auf, allerdings um den Funktionalismus zu verteidigen. Hierfür kreierte er das folgende Gedankenexperiment: Angenommen sei ein Mensch, der beim Betrachten eines Gegenstands ein Blauerlebnis hat. Sein »Siliziumklon« hingegen erlebt denselben Gegenstand als rot. Im ersten Schritt des Experiments werden am Gehirn des Menschen nur einzelne Neurone gegen kleine Halbleiterbauteile mit identischer Funktionsweise ausgetauscht, sodass die neuronalen Erregungen in unveränderter Form weitergeleitet werden. Bei einer Gesamtzahl von vielen Milliarden Gehirnzellen sind wohl auch die energischsten Kritiker des Funktionalismus der Meinung, dass solch geringe Materialmodifikation keinen Unterschied im Erleben bewirken würde. Was aber, wenn ganze Areale des Gehirns durch digitale Netzwerke ersetzt werden? Chalmers’ Gedankenexperiment sieht hierfür eine Versuchsanordnung vor, bei der wählbar 10 %, 20 %, 30 % bis 90 % des menschlichen Gehirns durch elektronische Äquivalenzen ausgetauscht werden. Dieser Eingriff ist aber reversibel: Durch einen ausgeklügelten Mechanismus können die Siliziumnachbauten als 376 Locke, John, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. 32, § 15, S. 490 f.

292 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Wahlschleifen zu- und wieder abgeschaltet werden. Dabei bleibt die funktionale Organisation stets unverändert, da immer entweder das Bioareal oder das entsprechende Siliziumareal, niemals aber beide gleichzeitig oder keines von beiden aktiv sind. Der Mechanismus ist so gut, dass im laufenden Wahrnehmungsbetrieb unterbrechungsfrei zwischen dem ursprünglichen »Vollbiohirn« und den Hybridstadien hin und her geschaltet werden kann. Die entscheidende Frage ist nun natürlich, was dabei mit der Wahrnehmung des Probanden geschieht. Folgt man der Überzeugung der Funktionalismuskritiker, nach der der vollständige Siliziumklon (wenn überhaupt) andere Wahrnehmungen hat als der Mensch, dann müsste sich das oben geschilderte Erleben eines Blau-Quales innerhalb von zehn Schritten zu einem Rot-Quale wandeln. Da man aber nicht unbemerkt in zehn Schritten von Blau zu Rot gelangen kann, müsste die Versuchsperson zusätzlich zum Farberlebnis auch die Farbveränderung wahrnehmen. Für solche zusätzlichen Wahrnehmungen, so Chalmers, kann es in einem funktional isomorphen System jedoch gar keinen Platz geben, da schließlich auch sie über die zerebralen Kausalprozesse instantiiert würden. Demnach ergibt sich bei neuen Wahrnehmungen unweigerlich ein neuer Systemzustand, der eben nicht mehr mit der vorherigen (Hybrid-)Version funktional isomorph ist: »There is simply no room in the system for any new beliefs to be formed. Unless one is a dualist of a very strong variety, beliefs must be reflected in the functioning of a system not in behavior, but at least in some process. But this system is identical to the original system […] at a fine grain.« 377 Das naheliegende Postulat, nach dem der Proband die Veränderungen seiner eigenen Farbwahrnehmung gar nicht bemerkt, stellt nach Chalmers keinen akzeptablen Ausweg dar. Zu radikal wäre hierbei der Bruch zwischen dem phänomenalen Erleben auf der einen Seite und der Kognition und der Psyche des Individuums auf der anderen: »It seems entirely implausible to suppose that my experiences could change in such a significant way, even with me paying full attention, without my being able to notice the change. It would suggest once again an extreme dissociation between consciousness and cognition. If this kind of thing could happen, then psychology and phenomenology would be radically out of step […].« 378

377 378

Chalmers, Absent Qualia, Fading Qualia, Dancing Qualia, S. 318. Ebenda, S. 323.

293 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Das Argument fehlender Qualia, nach dem der beschriebene Siliziumklon gar keine Erlebnisse hat, wurde u. a. vom US-amerikanischen Philosophen Ned Block ausgearbeitet. Nach seiner Auffassung folgt aus den Vorgaben des Funktionalismus, dass auch die Bevölkerung Chinas einen wahrnehmenden Geist ausbilden könne, wenn sich die Individuen entsprechend den Neuronen eines Gehirns funktional organisierten. Diese Vorstellung sei jedoch vollkommen absurd und daher der Funktionalismus nicht haltbar. 379 Einmal davon abgesehen, dass die Bevölkerung Chinas mit ca. 1,37 Milliarden Menschen nicht einmal annähernd an die Summe von rund 86 Milliarden Neuronen und noch einmal so vielen Gliazellen, die wichtige Funktionen bei der Reizweiterleitung und der Aufnahme von Botenstoffen erfüllen, heranreicht. Und davon abgesehen, dass diese Zellen über insgesamt 100 Billionen Synapsen mit durchschnittlich jeweils 1.000 anderen Zellen verbunden sind, sodass jedes Neuron über höchstens vier Stationen angesteuert werden kann, ganz zu schweigen von der unvorstellbaren Geschwindigkeit und funktionalen Komplexität des Systems. Also einmal davon abgesehen, dass die Analogie schlicht nicht funktioniert, weil sie Äpfel mit den phytophysiologischen Vorgängen einer Birnenbaumplantage vergleicht, lässt sich auf den Einwand fehlender Qualia in gleicher Weise antworten, wie auf den Einwand invertierter Qualia. Die Kritik gibt vor, dass der Proband, dessen organisches Gehirn innerhalb von zehn Schritten gegen ein funktional isomorphes System aus Siliziumchips ersetzt wird, spätestens bei hundertprozentigem Austausch keinerlei Wahrnehmung mehr hat. Für dieses Resultat sind zwei Versuchshypothesen möglich: Die Qualia könnten einerseits mit steigendem Siliziumanteil schwächer werden und kontinuierlich verschwinden oder andererseits bis zu einem gewissen Hybridstadium unverändert bleiben und bei Überschreiten dieser Grenze abrupt und vollkommen verschwinden. Wie schon oben erörtert, ist es nicht möglich, dass der Proband vom Verlust seiner Wahrnehmung Notiz nimmt, da dies eine zusätzliche neural instantiierte Wahrnehmung wäre, die die Vorgabe funktionaler Isomorphie

379 Vgl. Block, Troubles with Functionalism, S. 231–254. Etwas später formulierte John Searle eine ähnliche Kritik gegen den Funktionalismus, bei der er anstatt von Chinesen von einer komplexen Konstruktion aus Wasserrohrleitungen ausgeht (vgl. Searle, J. R.: Minds, brains, and programs. In: Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), S. 417–457.).

294 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

verletzen würde. Natürlich darf sich auch das Verhalten der Hybride nicht verändern, weil in einem funktional isomorphen System dieselben sensorischen und motorischen Schnittstellen dieselben Informationen empfangen und weiterleiten. Aus dieser Tatsache ergeben sich äußerst bizarre Konsequenzen: Wenn sich die ursprüngliche Person mit vollständig organischem Gehirn an der klanglichen Transparenz eines Symphonieorchesters erfreut und seinen Empfindungen in der Konzertpause wortreichen Ausdruck verleiht, so müsste sich der 70 %-Siliziumklon in exakt gleicher Weise verhalten, obwohl er anstatt eines gut arrangierten Orchesters in einem klangdesignten Konzertsaal nur dumpfes Wummern und spitze Fieplaute erlebt hat: »If such a system [ein zu 100 % künstliches] is not conscious, then there exists an intermediate system that is conscious, has faded experiences, and is completely wrong about its experiences. Unless we are prepared to accept this massive dissociation between consciousness and cognition, the original system must have been conscious after all.« 380 Gemäß der zweiten Hypothese könnte die Wahrnehmung des Probanden bei diesem Künstlichkeitsgrad seines Gehirns schon vollkommen zusammengebrochen sein. Das hätte zur Folge, dass er all die begeisterten Äußerungen über das exquisite Klangerlebnis macht, obwohl er gar nichts erlebt hat. Ein solches Wesen könnte Liebesgedichte schreiben, feinfühlige Balladen komponieren und seiner Lebensgefährtin ewige Liebe schwören, ohne dass es irgendetwas wahrnimmt oder empfindet und weder es selbst noch seine Partnerin noch irgendwer sonst würde je von der hintergründigen Empfindungsleere erfahren – eine gleichermaßen schaurige wie abwegige Vorstellung. Den Standpunkt, dass solche Divergenz zwischen bewusster Wahrnehmung und Kognition nicht akzeptabel ist, vertritt auch Sydney Shoemaker in seinem Aufsatz »Functionalism and Qualia«: »And if, to return to sanity, we take qualitative character to be something that can be known in the ways we take human feelings to be knowable (at a minimum, if it can be known introspectively), then it is not possible, not even logically possible, for a state that lacks qualitative character to be functionally identical to a state that has it.« 381 Ich muss allerdings gestehen und entgegenhalten, dass mir aus rein logischtheoretischer Sicht der plötzliche Abbruch der Wahrnehmung etwas Chalmers, Absent Qualia, Fading Qualia, Dancing Qualia, S. 319. Schoemaker, Sydney: Funktionalism and Qualia. In: Philosophical Studies 27 (1975), S. 297. 380 381

295 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

unproblematischer erscheint, da beim Wegfallen aller Erlebnisse auch ein Aussetzen des Bewusstseins mitgedacht werden könnte. Dadurch käme es zu keiner widersprüchlichen Situation zwischen der (fehlenden) Wahrnehmung des Probanden und seinen reflexiven Gedanken über sich und die Welt, weil solche Gedanken nur im bewussten Zustand gefasst werden können. Vielleicht könnte man analog dazu auch beim langsamen Schwinden der Qualia eine kontinuierlich zunehmende Bewusstlosigkeit postulieren, sodass auch hier »nur« das sprachliche und körperliche Verhalten des Hybrids mit seiner inneren phänomenalen Leere in Widerspruch stünde. Auch wenn diese Überlegungen auf ein logisches Schlupfloch für die Funktionalismuskritiker hindeuten mögen, können sie die Argumentation Chalmers’ dennoch kaum schwächen, da es sich bei seinen Ausführungen um Plausibilitätsargumente handelt. Die beschriebenen Einwände gegen den Funktionalismus basieren darauf, dass durch die fehlende erklärende Reduktion logisch widerspruchsfrei gedacht und formuliert werden kann, dass die funktionale Organisation nicht das spezifische Erleben determiniert. Was logisch widerspruchsfrei ist, das ist a priori vorstellbar – und was unabhängig von empirischer Erfahrung vorstellbar ist, das ist metaphysisch möglich. Metaphysisch möglich schließlich bedeutet, dass es andere Universen mit anderen Naturgesetzen geben kann, in denen Wesen leben, deren phänomenale Zustände nicht durch die funktionale Organisation ihrer zerebralen Systeme determiniert sind. Chalmers ist sich bewusst, dass gegen solche metaphysischen Argumente bei jetzigem Wissensstand nichts ausgerichtet werden kann, da sie ja gerade auf dem Mangel einer reduktiven Erklärung bzw. deren Notwendigkeit basieren. Er will daher nicht zeigen, dass der Funktionalismus logisch, a priori oder metaphysisch notwendig ist, sondern dass er nomologisch, das heißt unter Einbezug und Berücksichtigung aller bekannten Gesetze unseres Universums, die derzeit beste, weil wahrscheinlichste, weil mit weniger bizarren Konsequenzen einhergehende Theorie von Körper und Geist darstellt. Chalmers arbeitet also die problematischen Folgen eines nicht-funktionalistischen Monismus heraus, um dann zu zeigen, dass sich die Folgen des Funktionalismus vergleichsweise leicht in unser Bild von der Wirklichkeit einfügen: »It is therefore extremely implausible that absent qualia and inverted qualia are possible.« 382 »I conclude that by far the most plausible 382

Chalmers, Absent Qualia, Fading Qualia, Dancing Qualia, S. 326.

296 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

hypothesis is that replacement of neurons while preserving functional organization will preserve qualia, and that experience is wholly determined by functional organization.« 383 Kern der chalmersschen Ausführungen ist also nicht der Beweis des Funktionalismus, sondern der Hinweis auf dessen hohe natürliche Plausibilität in unserer Welt. Diese wichtige Verteidigung des Funktionalismus möchte ich nachfolgend um eine etwas offensivere Überlegung erweitern. Da die Plausibilität des Funktionalismus vorerst gesichert ist, soll nun umgekehrt die Glaubhaftigkeit der Theorie unterminiert werden, die sowohl bei den monistischen Kritikern mitklingt als auch durch ihre anthropozentrischen Konsequenzen der Gesinnung der Dualisten schmeichelt: die Identitätstheorie. Ihr zufolge können nicht-neurale Systeme keine Phänomene ausbilden, weil Empfindungen nicht mit funktionalen Zuständen, sondern mit Gehirnzuständen identisch sind. Das Erleben ist hier also vom organischen Material abhängig, das die Komponenten des Systems aufbaut. Meine einfache Frage lautet nun: »Was legitimiert die Hypothese der Materialabhängigkeit?« Aus kulturpsychologischer Perspektive ist die Motivation offensichtlich: Seit Jahrtausenden rühmt sich der Mensch als das Erstaunlichste, was auf Erden wandelt, als Krönung der göttlichen Schöpfung mit so einzigartigen Fähigkeiten, dass er zwischen sich selbst und der restlichen Fauna wie selbstverständlich unterscheidet. Die kopernikanische Wende weg vom geo- hin zum heliozentrischen Weltbild war ein herber Schlag für dieses Selbstverständnis. Darauf folgten Aufklärung und alsbald die Anfänge der Säkularisierung – eine neuerliche Erschütterung der anthropozentrischen Weltsicht. Zuletzt dann die astrophysikalische Gewissheit unserer wahnwitzigen Nichtigkeit in einem grotesk großen Raum, gefolgt von den evolutiven und molekulargenetischen Erkenntnissen der (Post-)Moderne, nach denen wir uns bei Weitem nicht in dem Maße von den Tieren unterscheiden, wie wir es uns ursprünglich vorgestellt hatten. Schlimm genug, dass das Genom einer Maus dem des Menschen zu schockierenden 99 % entspricht und dass einige Primaten offensichtlich einen Zukunftsbegriff und sogar ein Ich-Bewusstsein besitzen – nun sollen auch noch Maschinen dieselben Empfindungen haben wie wir? Das geht endgültig zu weit! Um es deutlich zu sagen: Die über Jahrtausende gewachsene Eitelkeit des Menschen ist eine starke Verbündete 383

Ebenda, S. 324.

297 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

anthropozentrischer Dualismen und Pluralismen, aber auch jener Monismen, die eine Ehrenrettung des menschlichen Selbstwertgefühls durch Exklusivität seines Denkapparates und dessen Erzeugnisse implizieren. Denn nichts anderes bedeutet das Postulat der Materialabhängigkeit der Identitätstheorie, das unser Gehirn als unnachahmlich auszeichnet. Wir fürchten es, gewöhnlich zu sein, weil wir die Epochen mangelnden naturwissenschaftlichen Erkennens mit indirekter Selbstglorifizierung mittels Gottesanbetung gefüllt haben. Denn die Anbetung des einen nährt die Überhebung derer, denen er zugeneigt ist. Aber vor allem fürchten wir unsere universale Bedeutungslosigkeit, weil es unsere heimliche Hoffnung auf einen transzendenten Fürsorger schmälert, der uns wegen unserer Einmaligkeit als seine persönlichen Lieblinge behütet und leitet und uns am Ende unserer diesseitigen Tage zu sich aufnimmt. Durch die Möglichkeit künstlich erzeugter Gedanken und Empfindungen bröckelt unser prominenter Status weiter und mit ihm der Glaube an eine elitäre Verbindung zu einer höheren Macht. Ohne diese Verbindung, ohne dieses transzendentale Sicherheitsnetz sind wir bloß eine von wer weiß wie vielen intelligenten Lebensformen, die im schmerzlichen Bewusstsein ihrer eigenen Vergänglichkeit ohne Zweck und Ziel durch einen schwindelerregend großen, eiskalten Raum driften. Armes, eitles, ängstliches Menschlein. Diese tief sitzende Furcht ist die natürliche Konsequenz unseres Bewusstseins für uns selbst sowie für unseren Tod einerseits und unseres zunehmenden naturwissenschaftlichen Wissens andererseits. Mit ihr zu leben oder sie gar zu überwinden ist das philosophische Martyrium und (neben universaler Erkenntnis) höchstes Ziel des naturphilosophisch denkenden Menschen. Angst jedoch kann nicht als Argument für eine Theorie gelten. Wie also ist die Annahme der Materialabhängigkeit rational begründbar? Zugegeben, Neurone sind komplizierte kleine Dinger. Jedoch nicht so kompliziert, dass sie uns vor fundamentale Rätsel bezüglich ihrer Funktion stellen. Wir haben verstanden wie und wo sie durch Depolarisation uniforme Aktionspotenziale ausbilden, dass deren Frequenz die Reizstärke codiert, wie die saltatorische Erregung die Reizweiterleitung beschleunigt und wie welche chemischen Transmitter über den synaptischen Spalt an den Rezeptoren nachgeschalteter Neurone ihre exzitatorische oder inhibitorische Wirkung entfalten. Wenn wir uns vorstellen, wir könnten all diese funktionalen Eigenschaften in einem »künstlichen Neuron« verwirklichen, 298 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

was bliebe dann als Unterschied übrig, der bewirkt, dass nur der Mensch des Empfindens fähig ist? Es blieben nur die unterschiedlichen chemischen Verbindungen des Baumaterials. Organische Verbindungen basieren auf Kohlenstoff, elektronische Bauteile auf dem Halbleiter Silizium. Das Kohlenstoffatom steht in der vierten Hauptgruppe des Periodensystems, hat eine Masse von etwas über 12 u, einen Atomradius von 70 pm und besitzt sechs Elektronen auf zwei Schalen. Silizium steht ebenfalls in der vierten Hauptgruppe, hat eine Masse von gut 28 u, einen Radius von 110 pm und 14 Elektronen auf drei Schalen. Man könnte noch weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzählen, doch keines dieser Daten würde den herausragenden Status des Kohlenstoffs rechtfertigen, wie ihn eine materialabhängige Identitätstheorie stillschweigend postuliert. 384 Was also ist das Besondere am C-Atom? Was ist das Außergewöhnliche an organischen Verbindungen, dass allein sie es vermögen, Komponenten des Erlebens zu generieren? Worin soll sie bestehen, die Magie des Biologischen? Das menschliche Gehirn ist zweifellos bemerkenswert – es ist in der Tat das wohl erstaunlichste uns bekannte Gebilde neben dem Universum, vor dem es sich so schrecklich fürchtet. Sein auf Kohlenstoff basierendes Baumaterial aber als entscheidende Bedingung für sein Bestehen (nicht sein Entstehen) zu postulieren, um der Eitelkeit des Menschen zu schmeicheln und seine Ängste zu lindern, ist eine haltlose Annahme und gleichsam eine Beleidigung der tatsächlichen Güte dieses wunderbaren Erzeugnisses der Evolution. Wer würde schon zustimmen, die Schönheit der Fresken Michelangelos und den Ausdruck der Mona Lisa da Vincis auf die molekularen Bestandteile der verwendeten Farbe zu reduzieren? Hier wie dort entsteht das Bemerkenswerte durch die außergewöhnliche Komposition des Gewöhnlichen, nicht umgekehrt. Es sind also weder die C-Atome noch die Neuronen als Einzelkomponenten, die das Kunststück des Erlebens vollbringen. Es ist die Ganzheit der hochkomplexen funktionalen Kausalprozesse eines mit sich selbst und der Welt wechselwirkenden und sich dadurch fortwährend neu modulierenden Systems. Nicht 384 Bei diesem Vergleich spielt die für die evolutiven Entwicklungen tatsächlich herausragende Eigenschaft des Kohlenstoffs, vielfältigste Verbindungen einzugehen, keine Rolle, da die Entwicklungsprozesse eine Voraussetzung der Annahme des erfolgreichen Nachbaus aus Silizium sind. Das Argument bedeutet also nicht, dass sich ein empfindendes System auf Siliziumbasis hätte autonom entwickeln können, sondern dass der künstliche Nachbau Empfinden generiert.

299 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

durch das vermeintliche Problem der Multirealisierbarkeit, sondern durch diese Überlegungen sehe ich die Lesarten der Identitätstheorie unterminiert. Die auf den letzten Seiten dargestellte philosophische Position führt zu einer spannenden Konsequenz, die ich ganz offen formulieren möchte: Obschon es uns hoffentlich nie gelingt, bin ich der Überzeugung, dass es unter den gegebenen Bedingungen unseres Universums grundsätzlich möglich ist, eine Maschine aus anorganischen Stoffen zu konstruieren, die nicht nur kognitiv vollkommen autonom ist, also Gedanken und intentionale Zustände ausbildet, sondern zudem das gesamte qualitative Spektrum menschlicher Empfindungen realisiert, selbst die Romantische Liebe. Ich bin jedoch gleichzeitig der festen moralischen und ontischen Überzeugung, dass man mit Vollendung eines solchen Werks keine Maschine, sondern einen Menschen gebaut hätte. Denn nicht das Fleisch, sondern der Geist substantiiert das Menschsein. Bevor ich das letzte große Argument gegen den Funktionalismus bespreche, möchte ich noch eine begriffliche Kritik äußern. Meiner Auffassung nach implizieren Bezeichnungen wie »künstliche Intelligenz« und »künstliche Gefühle« einen kategorischen Fehler, der das Verstehen der funktionalistischen Position unnötig erschwert. Gedanken und Empfindungen sind abstrakte Eigenschaften von etwas. Dieses Etwas kann natürlich aus organischem oder künstlichem Material bestehen. Die Eigenschaften selbst hingegen können meiner Ansicht nach aber nicht mittels der Kategorien »natürlich« und »künstlich« unterschieden werden. Denn was sollte es heißen, einen künstlichen Gedanken zu haben oder im Zustand künstlicher Trauer zu sein? Ein metallener Strommast inmitten eines Waldes hat schließlich auch keine »künstliche Höhe« als Eigenschaft, die ihn von den Bäumen unterscheidet, sondern ganz gewöhnliche, also »natürliche Höhe«. Was ihn unterscheidet, ist, dass er aus anorganischem Material von Menschenhand erbaut und in diesem Sinne künstlich ist. Analog dazu können Gedanken und Gefühle zwar in einem aus anorganischem Material bestehenden und nicht-biologisch entstandenen System instantiiert sein; sie können auch auf künstliche Weise ausgelöst werden (beispielsweise drogeninduziert). Selbst aber können mentale Zustände niemals künstlich sein, weil künstliche Zustände schlicht nicht existieren. Die vollkommen zu Recht empfundene Abwehrhaltung gegen die Vorstellung solcher künstlicher Eigenschaften springt nun durch die Verknüpfung des Termi300 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

nus »künstlich« mit den Termini »Intelligenz« und »Gefühle« auf die Theorie des Funktionalismus über, obwohl dieser ja gerade für die Gleichwertigkeit der mentalen Phänomene plädiert, die innerhalb künstlicher Systeme entstehen können. Um diese fehlgeleitete und unzulässige Assoziation zu verhindern, sollte also anstatt von künstlicher Intelligenz und künstlichen Gefühlen besser von »gewöhnlichen Gedanken und Empfindungen, generiert durch die funktionalen Prozesse eines anorganischen Systems« gesprochen werden – nicht gerade griffig, aber den wahren Verhältnissen entsprechend. Hiermit möchte ich mein Plädoyer gegen die Materialabhängigkeit der Identitätstheorie schließen und mich dem letzten, wohl prominentesten und wirkungsvollsten Argument gegen den Funktionalismus und den Naturalismus im Allgemeinen zuwenden: dem Argument unvollständigen Wissens. In seinem Aufsatz »Epiphenomenal Qualia« 385 aus dem Jahr 1982 formuliert der australische Philosoph Frank Cameron Jackson das folgende Gedankenexperiment: Die brillante Sinnesphysiologin Mary ist weltweit unangefochtene Expertin auf dem Gebiet des Farbensehens. Sie ist mit ihrer Forschung tatsächlich so weit fortgeschritten, dass sie restlos alle empirischen Tatsachen, also alle physiologischen und physikalischen Erkenntnisse entdeckt und verstanden hat, die es zu den perzeptiven und neuralen Abläufen zu entdecken und zu verstehen gibt. In Jacksons Vorstellung ist Mary aber in absoluter Isolation von der Außenwelt aufgewachsen und hat ihr Labor auch als erwachsene Frau nie verlassen. Das Entscheidende ist nun, dass im begrenzten Lebensumfeld der genialen Forscherin alle Dinge farblos sind: die Wände könnten weiß sein, die Laborapparaturen schwarz, ihre Kleidung, Haut und Haare könnten verschiedene Grautöne haben, die Bildschirme der Computer zeigten ausschließlich Schwarz-Weiß an etc. Aufgrund dieser Umstände hat Mary, auch wenn sie alles über das Farbsehen weiß, was es zu wissen gibt, noch nie selbst eine Farbe gesehen, also noch nie ein Farbquale erlebt. Eines Tages dann öffnet sie die Tür ihres Labors und geht nach draußen. Hier erblickt sie den blauen Himmel, das Grün der Bäume und das Rot der untergehenden Sonne. In diesem Augenblick, so Jackson, erfährt die Wissenschaftlerin erstmals wie es ist, Farben zu sehen und erlangt damit Wissen, das sie vorher nicht hatte. Die Konklusion aus 385 Vgl. Jackson, Frank: Epiphenomenal Qualia. In: The Philosophical Quarterly 32 (1982), 127, S. 127–136.

301 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

dieser Fiktion lautet wie folgt: Wenn Mary sämtliche physischen Tatsachen über das Farbsehen kennt und vollständig begreift und durch das erstmalige Sehen der Farben dennoch neues Wissen erlangt, dann gibt es Tatsachen, die nicht-physisch sind. Wenn es aber neben den physikalischen Dingen andere Entitäten gibt, über die man etwas wissen kann, dann muss der physikalische Monismus falsch sein: »I think that there are certain features of the bodily sensations especially, but also of certain perceptual experiences, which no amount of purely physical information includes. Tell me everything physical there is to tell about what is going on in a living brain, the kind of states, their functional role, their relation to what goes on at other times and in other brains, and so on and so forth, and be I as clever as can be in fitting it all together, you won’t have told me about the hurtfulness of pains, the itchiness of itches, pangs of jealousy, or about the characteristic experience of tasting a lemon, smelling a rose, hearing a loud noise or seeing the sky.« 386 Aus der vollständigen physikalischen Information kann demnach nicht deduziert werden, wie es ist, das Türkis des Meeres zu sehen, Schmerz zu fühlen oder einen Menschen zu lieben. Die Debatte um den Status privaten Tatsachenwissens über phänomenale Zustände, das ausschließlich über eine subjektive Introspektion erlangt werden kann, ist seit der Veröffentlichung dieses Aufsatzes nicht mehr abgerissen. Nachfolgend möchte ich zwei von insgesamt drei Erwiderungen auf die jacksonsche Konklusion darlegen. Der intuitiv sehr wirkungsvollen Kritik am Naturalismus kann man einerseits entgegenhalten, dass es Mary beim erstmaligen Sehen der Farben nur so vorkommt, als erlange sie Wissen über eine neue Tatsache. In Wahrheit lernt sie dieselbe Tatsache nur auf eine andere, für sie neue Weise kennen. Schon Gottlob Frege hat auf die Wichtigkeit hingewiesen, bei Äußerungen zwischen Sinn und Bezug zu unterscheiden: Angenommen, eine Person weiß nicht, dass die Ausdrücke »Morgenstern« und »Abendstern« dasselbe bezeichnen, nämlich den Planeten Venus. Wenn diese Person nun zuerst eine Information über den Morgenstern lernt, beispielsweise, dass auf seiner Oberfläche eine mittlere Temperatur von rund 460 Grad Celsius herrscht, und anschließend dieselbe Information über den Abendstern erhält, dann hat sie in beiden Fällen etwas Neues gelernt. Denn 386

Jackson, Epiphenomenal Qualia, S. 127.

302 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

der Sinn der beiden Sätze »Auf dem Morgenstern herrscht eine mittlere Temperatur von rund 460 Grad Celsius.« und »Auf dem Abendstern herrscht eine mittlere Temperatur von rund 460 Grad Celsius.« ist verschieden. Jedoch werden beide Informationen durch dieselbe Tatsache wahr, nämlich die, dass auf dem Planeten Venus eine mittlere Temperatur von rund 460 Grad Celsius herrscht. Daraus kann man folgern, dass die Person zwar neues Wissen, nicht aber Wissen über eine neue Tatsache gelernt hat. Analog dazu würde Mary beim Erblicken der Welt außerhalb ihres farblosen Labors zwar etwas Neues erfahren, jedoch kein neues Tatsachenwissen erlangen – sie lernt Bekanntes lediglich auf eine neue Weise kennen. 387 In ähnlicher Weise argumentiert der britische Philosoph Collin McGinn, wenn er schreibt, dass manchmal die Verschiedenheit der Eigenschaften einer Entität vortäuscht, dass es mehr als diese eine (physikalische) Entität gibt: »We learn in effect that property diversity masks uniqueness of instantiating objects. Objects have many properties, and we sometimes discover that these distinct properties occur in the same entity.« 388 Auch der kanadische Philosoph Paul Churchland ist von einem physikalischen Monismus überzeugt und sieht den Grund dafür, dass Mary das Gefühl hat, eine gänzlich neue »unphysische« Tatsache zu lernen, darin, dass sie einen neuen epistemischen Zugang zu derselben Sache erhält: »What blind Mary is missing is a common form of knowledge about light 389: she lacks perceptual/discriminative knowledge of light. And yet, people who have such knowledge are accessing the very same features of reality that she is obliged to access in other ways. The difference lies in the manner of the knowledge, not in the nature of the thing(s) known. […] They are different forms of knowledge; they operate with different representational ›palettes‹ inside Mary’s brain. But they both represent, each in its own distinct way, one and the same entirely physical thing: light.« 390 Farberleben ist also bloß ein Aspekt der vollständigen Beschreibung der zugrunde liegenden physikalischen Wirklichkeit, so wie die sinnesphysiologiVgl. Beckermann, Das Leib-Seele-Problem, S. 104. McGinn, Colin: Consciousness and its objects. Oxford: Oxford University Press 2004, S. 31. 389 Churchland hat das Gedankenexperiment für seine Argumentationsreihe modifiziert: Hier ist Mary blind und anstelle von Farbsehen tritt Lichtsehen. Die Argumentstruktur bleibt davon jedoch unberührt. 390 Churchland, Paul M.: The Rediscovery of Light. In: On the contrary – critical Essays 1987–1997. Massachusetts: The MIT Press 1998, S. 131. 387 388

303 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

schen Erkenntnisse, die Mary über so viele Jahre studiert hat, einen anderen Aspekt darstellen. Subjektive Introspektion und intersubjektive Objektivität sind verschiedene Erkenntnismodalitäten, die sich ergänzend auf dieselben Entitäten, dieselben Tatsachen richten. Damit besteht also lediglich eine epistemische, nicht aber eine ontologische Divergenz. Die zweite Entgegnung auf das Argument unvollständigen Wissens ist ungleich radikaler. Während die eben dargestellten Überlegungen erklären, wieso es sich für Mary so anfühlt, als würde sie neues Tatsachenwissen erlangen, besagt diese Position, dass Mary, wenn sie tatsächlich über universelles theoretisches Wissen zum Farbensehen verfügt, auch ohne das perzeptorische Erlebnis je gehabt zu haben weiß, wie es ist, Farben zu sehen. Interessanterweise ist einer der prominentesten Vertreter dieser Entgegnung Frank Jackson selbst. Mit seinem im Jahr 2003 erschienenen Artikel »Mind and Illusion« verwirft er seine dualistischen Ansichten und vertritt fortan einen naturalistischen Monismus: »Most contemporary philosophers given a choice between going with science and going with intuitions, go with science. Although I once dissented from the majority, I have capitulated and now see the interesting issue as being where the arguments from the intuitions against physicalism – the arguments that seem so compelling – go wrong.« 391 Auch Daniel Dennett teilt diese Auffassung, allerdings mit den für seine Philosophie typischen eliminativistischen Konklusionen. 392

391 Jackson, Frank: Mind and Illusion. In: Royal Institute of Philosophy Supplement 53 (2003), S. 251. Den entscheidenden Punkt, an dem das Argument unvollständigen Wissens fehlerhaft ist, sieht Jackson in der intuitiven Annahme, dass perzeptorische Ereignisse phänomenale Eigenschaften (also Qualia) instantiieren und dass demzufolge jemand, der ein Farberlebnis hatte, subjektives Tatsachenwissen über diese phänomenalen Eigenschaften besitzt, was der Naturalismus ontologisch nicht integrieren kann. In seiner Entgegnung vertritt Jackson einen Repräsentationalismus, nach dem nicht phänomenale Eigenschaften von perzeptorischen Ereignissen instantiiert werden, sondern repräsentationale Eigenschaften, die den Naturalismus zumindest vor keine logisch-theoretischen Unlösbarkeiten stellen. Nach Jackson erschöpfen sich nun die phänomenalen Gehalte von Erlebnissen in diesen repräsentationalen Eigenschaften (bzw. deren Gehalten), sind also gewissermaßen mit ihnen identisch. Für eine zusammenfassende Darstellung der Jacksonschen Position, vgl. Heckmann, HeinzDieter: Der Repräsentationalismus als Erwiderung auf das Argument unvollständigen Wissens. Einleitung. In: Heckmann, Heinz-Dieter; Walter, Sven (Hrsg.): Qualia. Ausgewählte Beiträge. 2., überarbeitete Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 311 ff. 392 Churchland hingegen widerspricht: »It is true that no amount of propositional

304 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Dass Mary durch ihr umfassendes theoretisches Wissen tatsächlich etwas über das phänomenale Erleben von Farbe weiß, ist schwer begreiflich. Noch bizarrer wird es, wenn wir diese Annahme auf die qualitative Komposition der Romantischen Liebe anwenden: Ein Mensch, der sein gesamtes Leben in absoluter sozialer Isolation verbringt, ein Mensch also, der noch nie geliebt hat und nie lieben können wird, könnte, durch sein umfassendes naturalistisches Wissen und Verstehen der Prozesse des Liebens, Kenntnis davon haben, wie es ist zu lieben. Ein solcher Mensch hätte gewissermaßen eine Erfahrung von etwas, das er nie erlebt hat – eine zugegebenermaßen haarsträubende Vorstellung. Doch bevor dieses Szenario als Nonsens verworfen wird, möchte ich eruieren, wie es zustande kommt. Es ist nämlich, so denke ich, die direkte Reaktion auf eine ebenso, wenn nicht noch spektakulärere Prämisse des Mary-Arguments, deren tatsächliche Bedeutung von vielen Philosophen unterschätzt zu werden scheint. Ich habe die entsprechende Textstelle bereits zitiert: »Tell me everything physical there is to tell about what is going on in a living brain, the kind of states, their functional role, their relation to what goes on at other times and in other brains, and so on and so forth, and be I as clever as can be in fitting it all together, you won’t have told me about the hurtfulness of pains, the itchiness of itches, pangs of jealousy, or about the characteristic experience of tasting a lemon, smelling a rose, hearing a loud noise or seeing the sky.« 393 In dieser Passage wird der Leser dazu aufgefordert, sich einen Menschen vorzustellen, der alle physikalischen Vorgänge des menschlichen Gehirns begreift, die es zu begreifen gibt, der die funktionale Rolle aller Zustände ebenso kennt, wie ihre relationale Verbindung zu den Vorgängen anderer Gehirne. Außerdem muss die Person ausreichend intelligent sein, um all dies zu einem ganzheitlichen Verständnis zusammenzufügen, das nicht bloß die aktuellen Prozesse und Abhängigkeiten umfasst, sondern zudem die gesamten individuellen und intersubjektiven Kausalzusammenhänge der Vergangenheit mit einbezieht. Die Vorstellung eines solchen Geistes ist nicht neu. Schon im Jahr 1814 beschrieb Pierre-Simon Laplace im Vorwort seines Werks »Essai philosophique sur les probabilités« eine Intelligenz, die später unter dem Begriff Laplacescher Geist oder Laplacescher Dämon beknowledge of light will ever constitute the visual apprehension of light, but that is entirely to be expected.« (Churchland, The Rediscovery of Light, S. 131.) 393 Jackson, Epiphenomenal Qualia, S. 127.

305 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

kannt wurde: »Ein Geist, […] der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegung der grössten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen: nichts wäre ungewiss für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wären in seinem Bick gegenwärtig.« 394 Einige Jahre später greift der deutsche Physiologe Emil du Bois-Reymond diese Fiktion auf und vergleicht sie mit dem Erkenntnispotenzial des Menschen: »Das Naturerkennen des Laplace’schen Geistes stellt somit die höchste denkbare Stufe unseres eigenen Naturerkennens vor, und bei der Untersuchung über die Grenzen dieses Erkennens [des menschlichen] können wir jenes zu Grunde legen. Was der Laplace’sche Geist nicht zu durchschauen vermöchte, das wird vollends unserem in so viel engeren Schranken eingeschlossenen Geiste verborgen bleiben.« 395 Nach du Bois-Reymond ist der menschliche Geist resp. das Bewusstsein des Menschen resp. sein phänomenales Erleben eine der Entitäten, die nicht einmal der Laplacesche Dämon aus seinem allumfassenden physikalischen Wissen ableiten könnte. Dementsprechend ist die Hoffnung des Menschen auf solche Erkenntnis geradezu vermessen: »Ich werde jetzt […] darthun, dass nicht allein bei dem heutigen Stand unserer Kenntniss das Bewusstsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder zugibt, sondern dass es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nie erklärbar sein wird.« 396 »Denn sogar der Laplace’sche, über den unseren so weit erhabene Geist würde in diesem Punkt nicht klüger sein als wir, und daran erkennen wir verzweifelnd, dass wir hier an der Grenze unseres Witzes stehen.« 397 – Ignorabimus. Ich unternehme diesen kleinen Exkurs ins 18. und 19. Jahrhundert mit der Absicht, die psychologische Intuition um die »Physiologin Mary« aufzubrechen, denn Jackson stattet sie in seinem Gedankenexperiment mit denselben sagenhaften Erkenntnisfähigkeiten aus, wie sie der Laplacesche Dämon besitzt (wenn auch »nur« hinsichtlich der menschlichen Wahrnehmung). Die Vorstellung, die Jackson in so lässigem

394 Laplace, Pierre-Simon nach Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, S. 15. 395 Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, S. 21. 396 Ebenda, S. 29. 397 Ebenda, S. 25.

306 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Theorien des Körper-Geist-Problems

Stil (»Tell me everything physical there is to tell […] and so on and so forth«) vom Leser verlangt, ist nicht weniger als die eines perzeptionsphysikalisch allwissenden Wesens mit nahezu unbegrenzten kognitiven Fähigkeiten, das die Gesamtheit der zerebralen und physikalischen Kausalprozesse einer in die Vergangenheit reichenden und kontinuierlich fortlaufenden Zeitachse mit all den extraindividuellen Variablen der belebten und unbelebten Umwelt auf einen Blick erfasst, analysiert und zu einer konsistenten, ganz- und einheitlichen Erkenntnis integriert. Ein Wesen mit solchen Fähigkeiten darf keinesfalls als »überaus schlauer und leistungsfähiger Mensch« begriffen werden, weil dies eine irrläufige Intuition erzeugt: Der Autor vermittelt das Gefühl, man könne sich diesen »brillanten Menschen« vorstellen – zum Beispiel als jemanden, »der noch klüger ist als der klügste Mensch der Welt« oder als eine viel intelligentere und fleißigere Version der eigenen Person – und kommt dann zu dem sehr eingängigen Schluss, dass selbst diese fiktive Elite unter den gegebenen Bedingungen kein phänomenales Wissen besitzen würde. Mary ist aber nicht »brillant« und Mary ist auch kein Mensch. Sie ist ein erhabenes Wesen, sie ist der Laplacesche Dämon, der alles Verstehbare versteht und dessen Kausalberechnungen die Vergangenheit, die Gegenwart, und – so muss man konsequenterweise annehmen – auch die eigene determinierte Zukunft in klaren Linien vor sich liegen sieht. 398 Mit diesem Verständnis von der wahren Natur Marys möchte ich einerseits den Aufbau des Arguments hinterfragen: Ist es zielführend eine für den Menschen ganz eindeutig unvorstellbare Vorstellung in ein Intuitionsargument einzustricken, um anschließend die (wenig überraschend) unvorstellbaren Konsequenzen als Negation der zu attackierenden Theorie herauszustellen? Ist es legitim den Laplaceschen Dämon im Unschuldsgewand der Sinnesphysiologin Mary auftreten zu lassen? Oder ist das nicht eher irreführend und illegitim? Denn auf der anderen Seite, so denke ich, drängen epistemische Fragen: Können wir überhaupt eine Einschätzung darüber abgeben, wie es wäre, die gesamten gegenwärtigen und vergangenen Ereignisse unseres Gehirns, inklusive der vollständigen relevanten Kausalvernetzungen mit den Subjekten und Objekten unserer Umwelt in einer handhabbaren Gesamterkenntnis zu begreifen? Wie 398 Eine vollständig determinierte Welt, wie sie u. a. Laplace annimmt, einmal vorausgesetzt.

307 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

können wir wissen, wie groß, wie komplex und auch wie neuartig und grundlegend die von Jackson geforderte kognitive Sphäre »alles wissen und verstehen« ist und was es heißen würde, sie geistig zu umfassen? Können wir uns anmaßen zu entscheiden, über welche Einsicht und Erkenntnis ein Wesen, das dazu tatsächlich imstande ist, verfügen würde? Wäre es aus dieser adäquateren, weil die Prämissen präzisierenderen Perspektive wirklich so abwegig, dass dieses Wesen durch analytische Reflexion zwar nicht selbst erlebt, aber eine exakte Vorstellung und somit theoretisch generierte Erfahrung von phänomenalen Zuständen ausbilden könnte? Könnte es so vielleicht doch wissen, wie es ist, rot zu sehen, eine Fledermaus zu sein oder Romantische Liebe zu empfinden, ohne selbst in den entsprechenden Zuständen gewesen zu sein? Ich bin der Meinung, dass das jacksonsche Argument durch die vorliegende Demaskierung Marys – und durch das damit verbundene Verständnis, dass aus für den Menschen Unvorstellbarem (die kognitiven Einsichten des übermenschlichen Wesens) erwartungsgemäß auch für den Menschen Unvorstellbares resultiert (eine phänomenale Vorstellung ohne Erlebnis) – seine psychologische Hebelwirkung verliert, ohne die es nicht stechender ist als die allgemeinen Ausführungen du Bois-Reymonds. Das einstige Argument fällt zusammen zu einer Annahme, einer Haltung, einer epistemischen Intuition. Diese Intuition, der neben du Bois-Reymond und (ehedem) Jackson noch zahlreiche andere Denker anhingen und anhängen, ist legitim. Es ist schließlich ohne Weiteres vorstellbar, dass aus dem vollständigen Wissen und Verstehen aller relevanten sinnesphysiologischen und physischen Faktoren kein phänomenales Erfahrungswissen resultiert. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass von der epistemischen Intuition keinesfalls auf eine ontologische Dichotomie geschlossen werden darf – sogar dann nicht, wenn aus der Intuition empirische Gewissheit werden würde und der »Dämon Mary« tatsächlich keine Kenntnis vom Erleben haben könnte. Da meine diesbezüglichen Überlegungen thematisch jedoch dem ontologischen Fazit meiner Abhandlung zugehören, möchte ich die dritte Entgegnung auf das Argument unvollständigen Wissens nicht hier, sondern ebendort ausführen.

308 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

7.6 Fazit – epistemische, ontologische und heuristische Reflexion der Romantischen Liebe An dieser Stelle meiner Abhandlung möchte ich kurz innehalten und auf den bis hierher gegangenen Weg zurückblicken: Zu Beginn wurde der Frage »Wo ist die Liebe?« nachgegangen und das Phänomen im interkulturellen Vergleich global wiedererkannt. Zur Beantwortung der Frage »Was bedeutet Liebe?« wurde anschließend die philosophiegeschichtliche Entwicklung des Liebesbegriffes in den Epochen der Antike und der Romantik aufgearbeitet. Im Abgleich mit den historischen Konstrukten erfolgte hiernach die schrittweise Formulierung einer konkreten und belastbaren Definition des Untersuchungsgegenstandes. Durch Fixierung der sieben konstitutiven Komponenten und die neunfache Abgrenzung der Romantischen Liebe zu anderen Liebesformen wurde das Explanandum geformt und auf die Frage »Wann ist es Liebe?« eine substanzielle Antwort gegeben. Ausgestattet mit diesem definitorischen Fundament konnte sich der Doppelfrage »Wie und wieso ist die Liebe?« gewidmet werden, wofür phylogenetische, physiologische, soziobiologische und psychologische Erkenntnisse kommunikationstheoretisch reflektiert wurden. Dies führte nicht nur zu einem naturalistischen Verständnis des teils unbewussten Komplexes der Partnerwahlpräferenz, sondern ermöglichte zudem die Vervollständigung des Explanandums durch das Dispersionsmodell, das die Liebe auch in ihrer funktionellen Dynamik verstehbar macht und damit auf die Frage »Wie funktioniert die Liebe?« antwortete. Mittels der einzelwissenschaftlichen und (natur-) philosophischen Einsichten war es nun möglich, den mystischen Charakter der Liebe zu durchschauen und damit unter der Überschrift »So ist die Liebe« eine naturalistische Antwort auf die Fragen des vorangegangenen Kapitels zu geben. Am Ende stellte sich die schwierigste Frage, sie lautete »Was ist die Liebe?«. Die Herausstellung des Wesens der Romantischen Liebe als dynamische Komposition teils intentionaler Qualia zog die Abhandlung tief in die Wässer des alten philosophischen Problems von Körper und Geist. Die theoretische und epistemische Analyse der verschiedenen geistesphilosophischen Ansätze machte alsbald eine gewisse Distanz zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand notwendig, die sich noch bis zum heuristischen Fazit fortsetzen wird – grundlegende Probleme bedürfen grundlegender Betrachtung. Die hierbei angestoßenen Überlegungen möchte ich nachfolgend 309 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

zu meiner philosophischen Position ausarbeiten: Zuerst werde ich ein epistemologisches Fazit ziehen, also eine Antwort auf die Frage »Was können wir über die Romantische Liebe wissen?« versuchen. Daran anknüpfend werde ich in einem ontologischen Fazit herausstellen, dass selbst die Romantische Liebe, als vielleicht innerlichste und »magischste« aller Empfindungen, mit einem naturalistischen Monismus vereinbar ist und somit keinen Dualismus rechtfertigen kann. Mein heuristisches Fazit erfolgt am Ende des Kapitels und wird sich der Frage widmen, durch welche wissenschaftstheoretische Haltung wir unter gegebenen epistemischen Bedingungen der Wahrheit über die Romantische Liebe am nächsten kommen.

7.6.1 Epistemologisches Fazit Im Ringen um ein ganzheitliches Verständnis der Romantischen Liebe und im weiteren Sinne um das Schließen der Kluft zwischen phänomenalen und zerebralen Vorkommnissen kann es naturgemäß nur zwei Resultate geben: Entweder es gelingt oder es gelingt nicht. Entweder der Intellekt des Menschen reicht hin – einerseits, um das Problem zu lösen, und andererseits, um sich zuvor nicht selbst zu vernichten – oder er reicht nicht hin. Ich möchte schon hier, zu Beginn meines Fazits klarstellen, dass ich in dieser Sache keine Vorhersage abgeben werde. Zu spekulativ und damit vermessen erscheinen mir beide Aussagen. Viel nützlicher als eine waghalsige Prognose ist es, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen eine Lösung des Problems wahrscheinlicher ist und welche Gegebenheiten bestehen könnten, die uns den Blick auf die Wirklichkeit prinzipiell verstellen. 7.6.1.1 Wir können es wissen – epistemologischer Optimismus Die Geschichte des menschlichen Erkenntnisweges rechtfertigt die Hoffnung auf Erfolg. Denn sie ist gespickt mit wissenschaftlichen Durchbrüchen, die vormals für unmöglich gehalten wurden und nicht selten zum Zusammenbruch des etablierten Theoriengebäudes führten. Ich habe bereits die Obsoleszenz der Phlogistontheorie und die Lösung des Rätsels irdischen Lebens beschrieben, doch nirgends waren Durchbrüche in der Forschung mit solch weitreichender Wirkung verbunden wie in der Geschichte der physikalischen Kosmologie: Ausgehend von den Theorien der vorsokratischen Atomisten 310 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

zum Verhältnis von Materie, Raum und Zeit, gefolgt von den platonischen und aristotelischen Modellen, hin zur klassischen Physik Isaac Newtons, die von der einsteinschen Relativitätstheorie »geschluckt« wurde, die ihrerseits durch die Erkenntnisse der Quantenmechanik der Unvollständigkeit überführt wurde. Ausgehend vom ptolemäischen Kosmos, der die Erde als Zentrum aller Dinge verstand und der im 16. Jahrhundert vom Weltsystem des Nicolaus Kopernikus »korrigiert« wurde, das unsere Sonne als kosmisches Zentrum markierte 399, über die Einsicht, dass unser Stern nur einer von ca. 200 Milliarden innerhalb der Milchstraße ist, bis hin zum Wissen, dass auch unsere Galaxis aktuellen Schätzungen zufolge bloß eine von über einer Billionen anderer Galaxien im Universum darstellt. Diese Meilensteine der Kosmologie bedeuten nicht bloß die ultimative Kränkung des anthropozentrischen Selbstbildes (auch weil es bei dieser unvorstellbaren Anzahl von Möglichkeiten gelinde gesagt ignorant ist, die irdische Intelligenz als exklusiv oder ultimativ anzunehmen), sondern sie dokumentieren eindrucksvoll, wie über Jahrhunderte etablierte Weltanschauungen durch unerwarteten Erkenntnisfortschritt mit einem Mal ins Wanken geraten. Oft wartet in solchen Fällen schon eine jüngere Theorie mit passender Erklärung für die neuen Beobachtungen darauf, das alte Paradigma abzulösen und sich als amtierende Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit zu etablieren – so lange, bis sich auch ihre Obsoleszenz durch das Abweichen ihrer Vorhersagen bezüglich neuer Phänomene oder durch theoretische Widersprüche in neuen physikalischen Grenzbereichen ankündigt. Wenn die neue Theorie die aktuellen Probleme mit einem Mal löst und die Sicht auf die Welt maßgeblich verändert, dann spricht man dem US-amerikanischen Philosophen Thomas S. Kuhn folgend von einer wissenschaftlichen Revolution. Zu Beginn der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts veröffentlichte er sein einflussreiches Hauptwerk »The Structure of Scientific Revolutions«, in dem er in kontroverser Weise zu den Schriften Karl R. Poppers das Wesen dieser epistemischen Umbrüche beschrieb. 400 Leider würde es zu weit führen, den interessanten wissenschaftstheoretischen Diskurs der Philosophen zu behandeln, denn hier ist schon die folgende 399 Vgl. Kopernikus: De revolutionibus orbium coelestium (Die Umschwünge der himmlischen Kreise), gedruckt 1543 in Nürnberg. 400 Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 1962.

311 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Einsicht entscheidend: Der Weg wissenschaftlicher Erkenntnis verläuft nicht immer linear als weitere Anhäufung von Wissen und Ausbau des bestehenden Theoriegebäudes, sondern in oft überraschenden Windungen und manchmal in unerwarteten Sprüngen, die die gesamte wissenschaftliche Gemeinde zur Neuordnung ihrer sicher geglaubten Überzeugungen zwingen. Durch wissenschaftliche Revolutionen treten neue theoretische Fragen auf, die vorher so gar nicht hätten gestellt werden können, und der empirischen Forschung eröffnen sich ganz neue Felder, deren Erkundung mitunter sogar den Aufbau neuer wissenschaftlicher Disziplinen erfordert. Auch die physikalische Welt des 21. Jahrhunderts kann – mögen ihre Theorien noch so valide anmuten – morgen in völlig neuem Licht erscheinen. 401 Denn alles, was wir messen, kategorisieren, theoretisieren und kausal verknüpfen, kann den Status einer gut begründeten Annahme über die physikalische Wirklichkeit nicht übersteigen. Der Realität können wir uns nicht weiter nähern, als der bildhauerische Akt dem Original. Dieses Bewusstsein ist einerseits natürlich schmerzlich und auf gewisse Weise beklemmend, andererseits birgt es aber die Hoffnung, dass wir hinter der nächsten Biegung unseres Erkenntnisweges erneut einen Teil der Welt auf die uns eigene Weise begreifen – womöglich ja die Zusammenhänge zwischen unserem Körper und unseren Qualia, den Bausteinen der Romantischen Liebe. Da die Reflexion des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns eng mit der Erörterung einer potenten Heuristik verbunden ist, werde ich die Überlegungen zu den epistemologischen Aspekten der Romantischen Liebe sowie zu den begünstigenden Bedingungen für die Lösung des Körper-Geist-Problems im Kapitel der heuristischen Reflexion zu Ende führen. Bevor ich mich also im direkten Anschluss den pessimistischen epistemischen Szenarien zuwende, schließe ich hier nur vorerst mit den optimistischen Worten des finnischen Kognitionswissenschaftlers Antti Revonsuo: »Wenn wir Glück haben, entdecken wir vielleicht auch neue Organisationsebenen, Ebenen, die nicht ganz das sind, was wir heute als ›neural‹ oder ›neurokognitiv‹ bezeichnen, aber auch nicht ganz das, was wir heute [phänomenales] Bewusstsein nennen, sondern etwas, das – bemerkenswert genug – ›dazwischen‹ liegt und das die explanatorische Lücke in der Erklärung des Bewusstseins in der Weise schließt, in der die Mole401 Genau genommen stehen wir bezüglich der Vereinheitlichung quantenmechanischer und relativistischer Phänomene immer noch vor vielen Ungereimtheiten.

312 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

kularbiologie die explanatorische Lücke in der Erklärung des Lebens geschlossen hat.« 402 7.6.1.2 Wir können es nicht wissen – epistemologischer Pessimismus Dass sich Gründe zur Hoffnung auf ein echtes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Empfindungen und Physiologie finden lassen, bedeutet nicht, dass das Problem für den Menschen prinzipiell lösbar ist. Ebenso gut denkbar wie die Vorstellung einer wissenschaftlichen Revolution, die uns ein neues Verständnis der Dinge ermöglicht, ist die Vorstellung, dass diese Revolution nie eintritt und niemals eintreten kann. 7.6.1.2.1 Komplexität als Erkenntnisblockade Der einfachste Grund dafür könnte die zu hohe Komplexität der Prozesse sein. Unter 7.5.3.3.2.1 habe ich bereits auf die erforderliche Kapazität hingewiesen, die eine vollständige Verrechnung der perzeptiven und neuralen Vorgänge zu jedem gegebenen Zeitpunkt der Gegenwart als Kausalerzeugnis der Vergangenheit erfordern würde. Sollte eine solche oder ähnlich umfassende Analyse für das Schließen der explanatorischen Lücke notwendig sein, so wäre denkbar, dass dem Menschen das Begreifen trotz der Kapazität zukünftiger Supercomputer nicht möglich sein wird. Denn sollten die immensen Datenmengen, die von Sekunde zu Sekunde weiter anwachsen, eines Tages tatsächlich erfasst werden können, so stünde immer noch kein Modell zur Verfügung, das es dem beschränkten menschlichen Geist ermöglichte, sinnvolle Schlüsse zu ziehen und damit tatsächliche Erkenntnis zu generieren. Die Komplexität der Prozesse und damit die Komplexität des erforderlichen Modells könnte die menschliche Kognitionsfähigkeit übersteigen. 7.6.1.2.2 Kognitive Erkenntnisblockade Grundlegender als die Erkenntnisblockade durch zu hohe Komplexität ist die Annahme, dass es dem Menschen aufgrund seiner ihm 402 Revonsuo, Antti: Wie man Bewusstsein in der kognitiven Neurowissenschaft ernst nehmen kann. In: Metzinger, Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2. Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 524 f.

313 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

eigenen und unabänderlichen Art der Kognition versagt ist, das Qualiaproblem zu lösen. Um diese Erwägung nachzuvollziehen, muss man sich von dem Gedanken verabschieden, dass unsere Weise des Erkenntniserwerbs, also unsere Art der Beobachtung, Messung, Theorie-, Begriffs- und Modellentwicklung, ja dass nicht einmal unser wissenschaftliches Fundament der logischen Konklusion der einzige oder richtige Weg ist, die Wirklichkeit zu verstehen. Uns erscheint dieses Vorgehen vollkommen natürlich, was aber, wenn die letzten Rätsel unseres Universums eine andersartige, uns nicht einmal vorstellbare Kognitionsweise verlangen? Was, wenn wir die letzten Rätsel mit unserem Denken nicht einmal erkennen können? Einige Philosophen halten diesen Umstand für durchaus wahrscheinlich. So formulierte Nicolai Hartmann im Jahr 1921 in seiner Metaphysik der Erkenntnis: »Das Subjekt kann die Objektion nicht beliebig erweitern. Der Widerstand liegt in der Struktur unseres Erkennens selbst und seiner Gesetze. Ein anders geartetes Erkennendes, als das menschliche Subjekt, hätte zweifellos andere Erkenntnisgrenzen in derselben Welt des Seienden, vielleicht auch gar keine. Wir aber kennen nur unsere, offensichtlich an bestimmte, unsererseits nicht wandelbare Gesetze gebundene Erkenntnis und können nur von ihr handeln.« 403 Der zeitgenössische Philosoph Colin McGinn ist ganz ähnlicher Auffassung. Er geht davon aus, dass das Qualiaproblem zwar eine Lösung besitzt, der Mensch jedoch nicht imstande ist, die richtigen Begriffe dafür zu finden. Einfache Identitätsaussagen aufgrund empirischer Beobachtungen (nach der Art »diese Emotion ist diese neurale Erregung«) reichten nicht aus, denn eine Korrelatbeziehung sei noch keine Kausalrelation und schon gar keine explanatorische Relation. Vielmehr müssten, so der britische Philosoph, analytisch wahre psychoneurale Identitätsaussagen gefunden werden, die unsere Begrifflichkeiten von der Welt radikal verändern würden. Da uns allein die Vorstellung solcher Identitäten erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ist McGinn der Überzeugung, dass die tatsächlichen Zusammenhänge des phänomenalen Bewusstseins für den Menschen prinzipiell unerkennbar sind. 404 Ich halte diese Bedenken für durchaus berechtigt. Wir erkennen, dass jede Tierart unseres Planeten ihrer natürlichen Geistesfähigkeit nach nicht befähigt ist, zu 403 Hartmann, Nicolai: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. 5. Auflage. Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1965, S. 249. 404 McGinn, Consciousness and its objects, S. 26–55.

314 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

begreifen, was wir begreifen. Selbst die intelligentesten Arten haben keine Vorstellung von kosmologischen Zusammenhängen oder abstrakten philosophischen Überlegungen. Erscheint es da nicht wie eine sehr gewagte These, dass es für das intelligenteste dieser Tiere, nur weil es das intelligenteste ist, keine prinzipiellen kognitiven Grenzen gibt? Wäre nicht vorstellbar, dass wir aus einer Perspektive erhabener Kognition – ganz gleich, ob es eine solche gibt – bei unseren Versuchen, die Wirklichkeit zu ergründen, ebenso unbeholfen erscheinen wie die Bücherlaus, die geflissentlich an einer Ausgabe von »Das Kapital« knabbert? Auch Frank Jackson ist dieser Meinung: »The wonder is that we understand as much as we do, and there is no wonder that there should be matters which fall quite outside our comprehension. Perhaps exactly how epiphenomenal qualia fit into the scheme of things is one such.« 405 Bis hierhin also der legitime und wichtige Hinweis, demzufolge die menschliche Kognition ihrer Natur nach nicht den Anforderungen einer ganzheitlichen Erkenntnis der Welt genügen könnte – doch Jackson glaubt auch den Grund dafür zu kennen: »[…] consider the antecedent probability that everything in the Universe be of a kind that is relevant in some way or other to the survival of homo sapiens. It is very low surely. But then one must admit that it is very likely that there is a part of the whole scheme of things, maybe a big part, which no amount of evolution will ever bring us near to knowledge about or understanding. For the simple reason that such knowledge and understanding are irrelevant to survival.« 406 »We are the products of Evolution. We understand and sense what we need to understand and sense in order to survive. Epiphenomenal qualia are totally irrelevant to survival. At no stage of our evolution did natural selection favour those who could make sense of how they are caused and the laws governing them, or in fact why they exist at all. And that is why we can’t.« 407 Zunächst konstatiert Jackson also, dass nicht alle Gegebenheiten des Universums auf die evolutive Genese des Menschen eingewirkt haben und dass es dementsprechend einen großen Tatsachenraum gibt, der für den Menschen evolutiv irrelevant war und ist. Aus diesem unstrittigen Sachverhalt leitete er dann aber den Grund der epistemischen Beschränkung des Menschen im Allgemei405 406 407

Jackson, Epiphenomenal Qualia, S. 135. Jackson, Epiphenomenal Qualia, S. 135. Ebenda, S. 135.

315 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

nen und bezüglich der Qualia ab: »Wir sind die Produkte der Evolution. Wir verstehen und nehmen wahr, was wir verstehen und wahrnehmen müssen, um zu überleben. Epiphänomenale Qualia sind für das Überleben vollkommen irrelevant. […] Und daher können wir sie nicht verstehen.« 408 Gegen diese Schlussfolgerung habe ich Einwände. 7.6.1.2.2.1 Biologische, kulturelle und philosophische Evolution – ein Exkurs Selbstverständlich ist es richtig, dass sich unser überaus energieaufwendiges Gehirn nicht zufällig entwickelt hat. Es musste dem Menschen bzw. seinen entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren deutliche Vorteile im Kampf ums Überleben eingebracht haben. Ein Verständnis für das Zukünftige, das strategisches Vorausplanen ermöglichte, abstraktes Vorstellungsvermögen, erfinderische Kreativität, Kommunikationsfähigkeit und Empathievermögen, das eine Einschätzung der Motivation, der Ängste sowie der Gewalt- oder Kooperationsbereitschaft des Gegenübers ermöglichte, sind nur einige Aspekte, die selektive Wirksamkeit besitzen. Da es sich hierbei um Eigenschaften handelt, die eine beträchtliche kognitive Leistung erfordern, hatten Individuen mit besonders leistungsfähigen Gehirnen einen Überlebensvorteil, der wiederum dazu führte, dass sie die entsprechenden genetischen Veranlagungen überdurchschnittlich häufig weitergeben konnten. Diese und andere Zusammenhänge führten im Laufe der Jahrmillionen zur Entwicklung des großen und komplex gebauten Gehirns des modernen Menschen. Meiner Ansicht nach sind nun aber drei Aspekte zu berücksichtigen. Einerseits entwickelte sich durch den hohen kognitiven Anspruch der Eigenschaften ein Denkapparat, der in seiner Funktion bedeutend mehr abdeckt als die ihn bildenden Anforderungen. Zur Verdeutlichung könnte man sich analog zum Gehirn ein Werkzeug vorstellen, das aufgrund eines bestimmten Anpassungsdrucks gefertigt wird: ein scharfer Steinkeil zum Öffnen harter Früchte bei sonstiger Nahrungsknappheit im Habitat. Dieses Werkzeug hat die »Fähigkeit« harte Früchte zu öffnen und so das Nahrungsangebot zu erweitern, doch es hat – für den Entwickler vielleicht völlig überraschend – darüber hinaus die Fähigkeit, Artgenossen zu bedrohen und zu vertreiben, die die geöffneten Früchte stehlen wollen. Ich 408

Eigene Übersetzung.

316 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

möchte mit diesem Beispiel nicht die urzeitliche Entwicklung erster Waffen beschreiben, sondern darauf hinweisen, dass evolutive Erzeugnisse häufig ganz automatisch »periphere Fähigkeiten« besitzen, die nichts mit den Einflüssen zu tun haben, die zu ihrer Entwicklung geführt haben. Wenn man nun das funktionelle Spektrum eines Faustkeils mit dem des menschlichen Gehirns vergleicht, so bekommt man eine vage Vorstellung davon, wie viele periphere Fähigkeiten und mit ihnen neue Erkenntnisse über die Welt die Entwicklung unseres Denkapparats generierte. Der zweite Aspekt betrifft nicht das Gehirn, sondern die entwickelten Fähigkeiten selbst. Die Kompetenz »harte Früchte öffnen können« ist relativ beschränkt auf den Aspekt, der zu ihrer Entwicklung geführt hat: das Öffnen von harten Dingen mit scharfen harten Dingen. Es ist jedoch auch möglich, dass sich aufgrund einer oder mehrerer spezifischer Anpassungsdrücke eine Eigenschaft ausbildet, die wesentlich universeller ist, sodass sich aus ihr ein weites Fähigkeitsspektrum ableitet, das mit dem ursprünglichen selektiven Prozess in keinem direkten Zusammenhang steht. Zur Verdeutlichung könnte man folgendes Beispiel konstruieren: Für unsere Vorfahren war es von Vorteil, sich schnell einen wetterfesten Unterschlupf bauen zu können. Hierbei waren jene Individuen begünstigt, die kreativ mit den zur Verfügung stehenden Materialien umgingen und die im Geiste vorab einen Plan fassen konnten, nach dem der Verschlag sodann gebaut wurde. So entwickelten sich allmählich Begabungen, die man als »situative Kreativität« und »abstraktes Denkvermögen« bezeichnen könnte. Diese beiden Eigenschaften sind nun aber viel allgemeiner und dadurch universeller als die ursprünglich selektierte Fähigkeit »Hütte bauen können«, die sich unter dem Anpassungsdruck widriger Wetterbedingungen ausbildete. Gerade das abstrakte Denkvermögen ist nicht bloß für jedes andere Bauvorhaben elementar, sondern bedingt unter anderem Fähigkeiten wie Routenplanung, Ereignisvorhersage, schnelle Bewertung komplizierter Sachverhalte, Anfertigung von Zeichnungen sowie Sprach- und Schriftentwicklung. Diese stark vereinfachte Darstellung soll also verdeutlichen, dass sich aus spezifischen selektiven Drücken Fähigkeiten entwickelten, die so allgemeinnützlich und weitreichend sind, dass sich automatisch weitere »sekundäre Fähigkeiten und Erkenntnisse« aus ihnen ableiteten. 409 409

Bei den beschriebenen Beispielen erhebe ich keinerlei Anspruch auf entwicklungs-

317 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Sowohl die Erzeugnisse des ersten Aspekts (»periphere Fähigkeiten« des Gehirns) also auch die Erzeugnisse des zweiten Aspekts (»sekundäre Fähigkeiten« als Ableitung »universeller Fähigkeiten«) sind ab dem Zeitpunkt ihrer Ausbildung natürlich auch den Mechanismen der natürlichen und sexuellen Auslese unterworfen. Doch deutet ihre gleichsam »automatische Mitentwicklung«, ohne die Notwendigkeit einer Anpassung an die Umwelt, auf eine gewisse Eigendynamik bei der Leistungsausbildung des Homininigehirns hin. Diese Eigendynamik macht die Erklärung Frank Jacksons, nach der der Mensch nur das kann und erkennt, was (originäre) evolutive Relevanz besaß, zumindest sehr fragwürdig. Mein Hauptargument gegen die Schlussfolgerung Jacksons ergibt sich jedoch aus dem dritten Aspekt: Mit der Beherrschung des Feuers zur Nutz- und Haltbarmachung von Nahrung, zur Abschreckung von Prädatoren und zur Verlängerung der Licht- und damit der Wachphasen gewann das Leben unserer Vorfahren etwas Sicherheit und neue Freiräume. Sie begannen sich nach Sonnenuntergang um das schützende und wärmende Lagerfeuer zu versammeln und sich Geschichten zu erzählen – Geschichten von ihren eigenen Erlebnissen und von solchen, die so interessant, spannend und lehrreich waren, dass man sie von Generation zu Generation überlieferte. Mit dieser simplen Art der Wissensvermittlung war der Grundstein für eine Entwicklung gesetzt, deren Dynamik die biologische Evolution weit überflügeln und die das Antlitz der Erde radikal verändern sollte: die kulturelle Evolution. In einem Bruchteil der Zeit, die seine biologische Genese in Anspruch genommen hatte, erhob sich der Mensch über seine »angeborene Erkenntnisfähigkeit«. Denn durch das mündliche und später schriftliche Überliefern, Anhäufen und Verknüpfen von Erfahrungswissen musste der einzelne Mensch nicht mehr bei Null beginnen, sondern konnte auf die Erfahrungen und Erkenntnisse seiner Vorfahren aufbauen, sie erweitern und seinerseits an die nächste Generation weitergeben. So etablierte sich das Erkennen und Verstehen der Welt aus den Prozessen des Überlebenskampfs des Einzelnen zum kollektiv erarbeiteten Kulturschatz. Dieser rasante Erkenntniszuwachs war nicht mehr angetrieben von natürlichen Widrigkeiten, Überlebenstrieb und Fortpflanzungserfolg, sondern von Neugier, Ideologie und dem Drang nach Macht; er folgte nicht geschichtliche Richtig- bzw. Vollständigkeit, sie dienen lediglich der Veranschaulichung meiner Überlegungen.

318 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

mehr dem intentionslosen und unbewussten Prinzip der automatisierten Auswahl zufälliger Erscheinungen, sondern wurde ganz bewusst, teils fieberhaft vorangetrieben, gerichtet auf Ziele in der Zukunft. Die biologische Evolution hat den Menschen und seine kognitive Leistungsfähigkeit in den letzten 1000 Jahren nicht merklich verändert und doch ist sein Erkenntnisraum in dieser Zeitspanne in alle nur erdenklichen Richtungen geradezu explodiert. Daher hat Jackson zwar Recht, wenn er schreibt: »At no stage of our evolution did natural selection favour those who could make sense of how they [Qualia] are caused and the laws governing them, or in fact why they exist at all.« 410 Demgemäß gilt allerdings auch: »At no stage of our evolution did natural selection favour those who could make sense of how our solar system, chloroplasts or gravity works.« Mit der Tatsache, dass wir unser Sonnensystem, die Fotosynthese, die Wirkungsweise der Gravitation und zahllose andere Erscheinungen der Welt begreifen, die für unsere biologische Genese irrelevant waren, verliert Jacksons Erklärung ihre Gültigkeit. Die kulturelle Evolution bedient sich des Potenzials der viel älteren und langsameren Entwicklungen der biologischen Evolution, des Potenzials unseres vielseitigen und reflexiven Denkapparats, wie ich ihn oben im Zuge der Aspekte eins und zwei skizziert habe. Kulturelle Entwicklung ermöglichte die systematische Suche nach Erkenntnis, die sich zur wissenschaftlichen Methode entwickelte und zur Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen führte. Mit der digitalen Vernetzung der letzten 25 Jahre schließlich, die globalen Daten- und Gedankenaustausch in Echtzeit ermöglicht, ist das epistemische Potenzial der Menschheit weitgehend zusammengeschaltet – wir leben wahrlich in spannenden Zeiten. Das neuzeitliche Erkenntnisverfahren ist zwar an die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise des evolutiven Produkts »Gehirn« gekoppelt, nicht aber an die evolutiven Wirkfaktoren seiner Entwicklung. Um es ganz einfach zu sagen: Spätestens durch unsere Kulturfähigkeit erkennen und verstehen wir weit mehr als das, was für unsere biologische Entwicklung relevant war. Daher halte ich es für unzulässig, die epistemischen Grenzen der Menschheit in direkter Weise an die Prozesse der Hominisation zu koppeln. Unsere Erkenntnisgrenzen sind unklar, denn wir sind schon lange nicht mehr nur das Produkt unserer biologischen Entstehung, sondern ebenso das unse-

410

Jackson, Epiphenomenal Qualia, S. 135.

319 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

rer kulturellen Evolution. Diese Tatsache ist es, die uns auf dem Planeten so einzigartig und für den Planeten so gefährlich macht. In Anbetracht der großen Probleme, die der Mensch mittels seiner kulturellen Fähigkeiten in den letzten Jahrhunderten für sich und seine Umwelt verursacht hat, drängt sich das Bild eines Kindes auf, das eines Morgens mit magischen Fähigkeiten erwacht: Mit stürmischem Enthusiasmus wird alles ausprobiert, um die eigenen Grenzen neu auszuloten, Reichtum und Ruhm spiegeln sich in vor Erregung glänzenden Augen, die Konsequenzen werden nicht bedacht oder spielen eine untergeordnete Rolle. Die Menschheit hinterlässt dem Menschen Fähigkeiten, die ihn heillos überfordern. Durch die kulturelle Evolution häufen sich die geistigen Leistungen zahlloser Generationen zu einem gigantischen Wissensschatz, der den jeweils aktuell lebenden Individuen wie selbstverständlich zur Verfügung steht. Dieser Wissensreichtum vermittelt große Handlungsmacht und große Macht erfordert bekanntlich große Verantwortlichkeit. Nun werden die Menschen der Gegenwart aber mit derselben biologischen Disposition zu denken, zu entscheiden und zu handeln geboren, wie die Menschen vor zehntausend Jahren, eine Disposition, die nicht von Verantwortungsbewusstsein, sondern von biologischem Eigennutz geprägt ist. Der natürliche Egoismus ist im Kontext des individuellen Kampfes ums Überleben und um erfolgreiche Fortpflanzung, also im Kontext der biologischen Evolution, der er entstammt, vollkommen sinnvoll und daher nicht per se zu verurteilen. Erst in Verbindung mit den kulturell vermittelten Fähigkeiten des letzten Jahrhunderts entsteht das Problem, weil sie die moralischen Fähigkeiten des Menschen offensichtlich übersteigen. Hieraus ergibt sich die nüchterne Frage, ob die Art des Homo sapiens schließlich die nötige emotionale Reife entwickelt, die verhindert, dass einige ihrer kulturellen »Errungenschaften« zu ihrem jähen Aussterben führen. Denn die Prozesse der kulturellen Evolution sind so dynamisch und potent, dass sich der einstmals individuelle Überlebenskampf binnen weniger Jahrhunderte auf Speziesebene und im Kontext der Umweltzerstörung auf die Ebene irdischen Lebens ausweitete. Im Vergleich dazu erscheinen die biologischen Entwicklungsprozesse geradezu statisch, weshalb von dieser Seite keinerlei Abhilfe zu erwarten ist. Wird die kulturelle Evolution als Aufgang des Menschengeschlechts also gleichfalls seinen Untergang markieren? Es hängt davon ab, ob sich ein dritter Entwicklungsprozess zu einem wirksamen Element der menschlichen Natur etabliert – man könnte ihn die »Philosophische 320 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

Evolution« nennen. Weitsicht, Besonnenheit, Toleranz, planetare Identität und ein philanthropisches Wertverständnis sind Eigenschaften, die erlernt, als Haltungen verinnerlicht und in das kulturelle Erbe integriert werden könnten, um die prekäre Entwicklung der kulturellen Evolution zu stabilisieren. Diese Umstände, so denke ich zugegebenermaßen etwas idealistisch, verlangen nach einer globalen Resolution moralischer Maxime, nach einer gesellschaftswirksamen Autorität der Philosophie, die die Faktoren individueller Fitness neu entwirft und mittels der der Mensch sein infantiles Selbst überwindet, um als erwachsene und endlich auch etwas weise Spezies sein epistemisches Potenzial noch viele Jahrtausende ausschöpfen zu können. Nach diesem Exkurs möchte ich nun zum letzten und fundamentalsten Szenario begrenzter menschlicher Erkenntnis kommen. 7.6.1.2.3 Strukturelle Erkenntnisblockade Neben zu hoher Komplexität und ungeeigneter Kognitionsweise halte ich noch eine dritte Blockade für denkbar, aufgrund der wir das Zustandekommen unserer Gedanken und phänomenalen Erlebnisse und damit auch das Zustandekommen der Romantischen Liebe nicht begreifen können. Im Gegensatz zu den oben besprochenen Szenarien betrifft diese Erkenntnisgrenze keine spezifische Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit des Menschen, sondern ist grundlegend und gilt für jedes Wesen des Universums: Möglicherweise ist es für ein erkenntnisbegabtes System prinzipiell unmöglich, sich selbst vollständig zu begreifen, weil das Erkennende selbst Teil des zu Erkennenden ist – cognoscens cognoscendum est. Durch unsere Wahrnehmung und bewusste Kognition erkennen wir die Welt um uns herum. Als Teil dieser Außenwelt erkennen und verstehen wir auch den Aufbau und einen beträchtlichen Teil der Funktionsweise unseres eigenen Körpers. Je weiter wir aber den Blick in Richtung des reflexiven Selbst, in Richtung des bewussten Erkenntnisapparats lenken, desto schwerer scheinen wir zu verstehen. Selbst wenn wir also imstande wären, die Komplexität der zerebralen Vorgänge in ein verständliches Modell zu integrieren und selbst wenn wir imstande wären eine adäquate Art der Kognition zu entwickeln, so wäre es nach dem Szenario der strukturellen Erkenntnisblockade immer noch unmöglich, das phänomenale Erleben und das reflexive Bewusstsein – die zentralen Elemente unseres Erkenntnisapparats – zu begreifen. Als bildhaftes Analogon könnte man sich ein kontinuierliches (also nicht aus Ein-

321 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

zelteilen zusammengesetztes) Band vorstellen, dessen eines Ende eine Leseeinheit bildet. Mit diesem Scanner fängt das Band nun am gegenüberliegenden Ende an, sich selbst abzulesen und auf diese Weise zu verstehen. Die Methode funktioniert tadellos. Doch gerade, als sich das Band beinahe vollständig gescannt hat, gerät der Lesevorgang plötzlich ins Stocken und bricht ab. Der Grund dafür ist leicht zu verstehen: Die Schlaufe, in die sich das Band legen musste, um sich selbst abzulesen, war zu Beginn noch weit und umfasste viel Zwischenraum. Je weiter aber der Prozess voranschritt, desto kleiner und enger wurde sie. Ab einem gewissen Punkt, als schon gar keine Schlaufe mehr zu erkennen war, konnte sich das Band nicht enger beugen und der Lesevorgang brach ab. Wann genau dieser Punkt erreicht ist, hängt von der Geschmeidigkeit des Bandes ab. Entscheidend aber ist, dass dieser Punkt zwangsläufig vor dem Punkt der vollständigen Selbsterkenntnis eintritt, da sich das Band nicht »durch sich selbst hindurchbeugen« kann. Im letzten Moment folgt ein Teil der Erkenntniseinheit der engstmöglichen Beugung, ohne sich selbst zu erkennen. In der Tat erscheint unklar, wie eine Funktion des Systems, die Erkenntnisfähigkeit instantiiert, ihre eigene Existenz, die ausschließlich in eben dieser Erkenntnisfunktion besteht, selbst erkennt. Wie eine Retina, die versucht ein Bild ihrer selbst auf sich zu projizieren und dabei doch immer an sich vorbeischauen muss, könnten auch die funktionalen Zusammenhänge unserer phänomenalen Wahrnehmung und unserer bewussten Kognition für unseren Erkenntnisapparat unerkennbar sein. Sollten solche prinzipiellen strukturellen Erkenntnisblockaden bestehen, so ist es vollkommen irrelevant wie leistungsfähig, wie erfinderisch und wie hoch entwickelt ein Wesen und seine Erkenntnisbegabung sein mögen, es bliebe zwangsläufig ein epistemisch blinder Fleck und die Erklärungslücke des KörperGeist-Problems wäre unüberbrückbar im Fundament der natürlichen Welt verankert.

7.6.2 Ontologisches Fazit Unter 7.5.1.1 habe ich bereits ausführlich dargelegt, aus welchen Gründen ein dualistischer oder gar pluralistischer Ansatz zur Erklärung der Erscheinungen der Welt vermieden werden sollte: Zu groß ist die Menge an unbegründeten, teils unüberprüfbaren Postulaten, 322 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

zu schwer wiegt das Problem der Kausalität zwischen den Welten grundverschiedenen Seins und zu wenig substanziell auf der anderen Seite ist das Argument menschlicher Intuition. In diesem ontologischen Fazit werde ich mein Plädoyer gegen den Dualismus daher nicht wiederholen. Stattdessen möchte ich erörtern, ob die Ergebnisse des epistemologischen Fazits mit der präferierten Ontologie eines naturalistischen Monismus vereinbar sind, um anschließend noch einmal die Argumente gegen den Funktionalismus zu prüfen. 7.6.2.1 Naturalistischer Monismus und die Lösung des Körper-Geist-Problems Es ist in wenigen Worten gesagt: Sollte es dem Menschen gelingen, aufgrund wissenschaftlicher Revolutionen ein tatsächliches Verständnis der Wirkzusammenhänge zwischen Körper und Geist zu erlangen und damit die explanatorische Lücke zu schließen, so wäre der naturalistische Monismus maximal gestärkt. Die Existenz der Romantische Liebe wäre ergründet und jede dualistische Theorie der Philosophie des Geistes würde – wie die Phlogistontheorie heute – als naiver Versuch der Menschen, sich auf die Erscheinungen ihres Seins einen Reim zu machen, belächelt werden. Ich wende mich daher den Szenarien des epistemischen Pessimismus zu. 7.6.2.2 Naturalistischer Monismus und Komplexität als Erkenntnisblockade Sollte es tatsächlich bloß die zu hohe Kausalkomplexität der zerebralen Erregungen sein, die uns das Verstehen der Qualia der Romantischen Liebe verwehrt, so ergibt sich ebenfalls kein Problem mit dem naturalistischen Monismus. Komplexität ist eine bekannte Erscheinung der dinglichen Welt, und dass unsere Rechen- und Erkenntnisleistung im Umgang mit dieser Erscheinung begrenzt ist, kann nicht verwundern, geschweige denn Anlass zur Einrichtung einer zweiten Seinsebene geben. In diesem Fall würden Mary und der Laplacesche Dämon, deren Kognition und Erkenntnisgewinn ihrer Art nach der menschlichen entsprechen, deren Wissen und Kognitionsleistung aber beliebig groß sind, die »Farben der Liebe« klar vor ihren Augen sehen, selbst wenn sie ihr gesamtes Leben in grauer Einsamkeit verbrachten.

323 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

7.6.2.3 Naturalistischer Monismus und die kognitive Erkenntnisblockade Die Vorstellung, dass der Mensch aufgrund der Natur seines Denkens nicht begreifen kann, wie seine Empfindungen mit der dinglichen Welt in Verbindung stehen, kann für einen Physikalisten unangenehme Konsequenzen haben. Die Gedanken eines solchen Philosophen könnten folgendermaßen vorgestellt werden: »Wer sollte die Verbindung zwischen Körper und Geist verstehen, wenn nicht einmal der übermenschliche Laplacesche Dämon, der alles weiß und dessen Intelligenz unvorstellbar hoch ist, dazu imstande ist? Es müsste ein Wesen sein, das selbst diese erhabene Kreatur noch weit überragt – ein ›Supralaplacescher Dämon‹ also. Dieses Geschöpf wäre nicht bloß allwissend und verfügte über unbegrenzte Intelligenz, mittels der es die Prozesse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem ganzheitlichen Modell der Realität integriert, sondern es würde sich auf so grundlegende Weise von uns unterscheiden, dass wir nicht einmal imstande wären, uns diesen Unterschied vorzustellen. Sein Denken und Erkennen würde keinen uns begreiflichen Strukturen folgen – vielleicht nicht einmal den Konklusionsgesetzen der Logik. Es sähe eine andere Wirklichkeit, eine vollständigere, eine wahrere Wirklichkeit und könnte die Natur unserer phänomenalen Erlebnisse, die wir selbst niemals begreifen werden, mit einem Blick durchschauen.« Der Physikalist legt die Stirn in Falten und sagt still zu sich selbst: »Solch ein Wesen kann es nicht geben, denn die Existenz eines solchen Wesens zu erwägen wäre, als glaube man an Gott. Dieses Szenario ist transzendent und der Supralaplacesche Dämon ist übernatürlich. Ich aber bin Physikalist und vertrete eine monistische Ontologie, die solche Erscheinungen verbietet.« Zufrieden mit seinem Fazit verwirft er den Gedanken und widmet sich wieder seinen Studien. Nach einigen Monaten aber, als er verschlafen die Tageszeitung aufschlägt, erstarrt er. Auf der Titelseite des renommierten Blattes ist in fetten Lettern die folgende Schlagzeile zu lesen: »Wissenschaftler aller Disziplinen einig: Ungeeignete Kognitionsweise – der Mensch wird das Zustandekommen seines qualitativen Bewusstseins niemals verstehen können«. Ungläubig liest der Philosoph den Artikel mehrfach durch und muss schließlich eingestehen, dass der Beweis einwandfrei ist und es keinen Zweifel an der Konklusion geben kann. Konsterniert beginnt er sein Bild von der Welt neu zu ordnen: »So bitter es ist, wenn die Kluft zwischen Körper und Geist so fundamen324 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

tal ist, dass nur ein göttliches Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten sie überschreiten kann, dann muss ich meinen monistischen Standpunkt aufgeben und fortan eine dualistische Ontologie vertreten.« Nachfolgend möchte ich erörtern, ob diese Schlussfolgerung des fiktiven Physikalisten tatsächlich notwendig ist, ob also das epistemische Szenario der kognitiven Erkenntnisblockade einen Dualismus nezessiert. Es ist jedenfalls richtig, dass in diesem Fall weder Mary noch der Laplacesche Dämon Rat wüssten, sondern nur der »Supralaplacesche Dämon« ein Verständnis der Zusammenhänge entwickeln könnte. Somit stellt sich die Frage, welchen ontologischen Status eine solche Kreatur haben kann – oder universeller gefasst: Was ist natürlich? Das Übernatürliche nämlich, daran kann kein Zweifel bestehen, erzwingt den Dualismus. Die Prüfung sollte auf einigermaßen sicherem Terrain beginnen: bei uns selbst. Die epistemische Leistung des Menschen, also unser Erkennen bzw. Nicht-Erkennen der Welt, ist mit einem naturalistischen Monismus vereinbar. Als Tier des Planeten Erde sind wir samt unserem Gehirn gewöhnlicher Teil der Natur. An uns ist offensichtlich nichts Übernatürliches, das einen Dualismus erzwingt. 411 Auch die nächsthöheren Erkenntnisstufe kann nicht als problematisch gelten. Unter 7.5.3.3.2.1 habe ich zwar aufgezeigt, dass die epistemischen Leistungen der Physiologin Mary die des Menschen so hoch überragen, dass wir uns kein Urteil darüber erlauben können, welche Einsichten in die (phänomenale) Welt sie tatsächlich hätte. Unter 7.6.2.2 wurde jedoch klar, dass ihre Existenz (bzw. die des Laplaceschen Dämons) nicht mit einem Naturalismus kollidieren würde, da die Art des Erkenntnisgewinns der menschlichen Kognition entspricht. Die Integration enormer Komplexität ist übermenschlich, nicht aber übernatürlich und steht damit nicht im Widerspruch zu einer naturalistischen Position. Wie verhält es sich nun aber mit der dritten Erkenntnisstufe, wie sie der »Supralaplacesche Dämon« aus der Geschichte des Physikalisten verkörpert? Ein solches Wesen ist sicherlich ebenso übermenschlich wie Mary, doch muss es auch übernatürlich sein? Keineswegs. Zu diesem Fehlschluss kommt man nur 411 Gewiss würde ein Dualist hier widersprechen und sagen, dass gerade das qualitative Bewusstsein des Menschen eine zweigeteilte Ontologie verlangt. Hier geht es aber nicht um philosophische Überzeugungen, sondern darum, ob eines der epistemischen Szenarien einen Dualismus als sichere Konsequenz hätte. Der Erkenntnisapparat des Menschen beweist keinen Dualismus, andernfalls wäre der Streit um das Leib-Seele-Problem bereits entschieden.

325 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

dann, wenn man die menschliche Kognitions- und Erkenntnisweise als natürliches Ideal auszeichnet. Dadurch aber beschränkt man künstlich gerade das, dessen Grenzen man zu erforschen sucht – nämlich den Raum der natürlichen Wirklichkeit. Wir sind nur eine von womöglich vielen intelligenten Lebensformen im Universum und unser Status des kognitiven Planetenprimus darf nicht dazu verleiten, unseren Erkenntnisapparat als einzigartig und vollkommen zu repräsentieren. Und schon gar nicht dürfen wir ihn, ausgehend von diesem Fehlschluss, als Referenz für ein ontologisches Urteil über die Welt verwenden. Es ist wohl ein Artefakt der anthropozentrischen Eitelkeit, dass es uns so schwer fällt, unsere Kognitionsweise zu relativieren. Dabei ist nicht einmal der fundamentalste Teil unseres konkludierenden Denkens, die Logik, über jeden Zweifel erhaben, worauf schon Friedrich Nietzsche hingewiesen hat: »Das logische Denken, von dem die Logik redet, ein Denken, wo der Gedanke selbst als Ursache von neuen Gedanken gesetzt wird –, ist das Muster einer vollständigen Fiktion: ein Denken der Art kommt in Wirklichkeit niemals vor, es wird aber als Formen-Schema und Filtrir-Apparat angelegt, mit Hülfe dessen wir das thatsächliche, äußerst vielfache Geschehen beim Denken verdünnen und vereinfachen: […] Heute freilich faselt man gar von einem empirischen Ursprung der Logik: aber was nicht in der Wirklichkeit vorkommt, wie das logische Denken, kann auch nicht aus der Wirklichkeit genommen sein, ebenso wenig als irgend ein Zahlengesetz […]. Die arithmetischen Formeln sind ebenfalls nur regulative Fiktionen, mit denen wir uns das wirkliche Geschehen, zum Zweck praktischer Ausnützung, auf unser Maaß – auf unsere Dummheit – vereinfachen und zurechtlegen.« 412 Unser Denken ist bloß die uns inhärente Art, mit der natürlichen Wirklichkeit umzugehen. Wie unsere Wahrnehmung kann es sich auf nichts Fundamentaleres stützen als auf intersubjektive Bestätigung innerhalb der eigenen biologischen Art. Demzufolge hat auch das objektive Ideal der wissenschaftlichen Methode einen subjektiven Kern. Interessanterweise lassen sich gerade im Allerheiligsten der reduktiv-physikalistischen Positionen, der modernen Physik, zahlreiche Indizien dafür finden, dass die natürliche Welt Entitäten integriert, die mittels unserer Art der Kognition nicht begriffen werden können: Man bedenke relativistische Effekte, durch die sich die Zeit bei hohen Geschwindigkeiten und starker Schwerkraft dehnt und da412

Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Fragmente 1884–1885. KSA 11, 38 [2].

326 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

durch langsamer abläuft; man bedenke das quantenmechanische Doppelspaltexperiment, das der Messung resp. der Beobachtung des Messenden durch den Kollaps der Wellenfunktion physikalische Kausalität beimisst oder die Quantenverschränkung, deren Kollaps in kausaler Abhängigkeit, jedoch unabhängig von der räumlichen Entfernung instantan, also ohne Zeitverlust erfolgt; man bedenke, dass die (supersymmetrische) Stringtheorie 10 Dimensionen als grundlegende Struktur der Realität postuliert. Diese und weitere Phänomene und Modelle haben sich bloß deshalb einigermaßen ins wissenschaftliche Bild von der Welt einfügt, weil wir uns an sie gewöhnt haben, nicht weil wir sie tatsächlich verstehen. Denn eigentlich widerstreben sie unserem intuitiven Verständnis von natürlich und geraten manchmal sogar mit unserer Logik in Konflikt – oder könnte jemand von sich behaupten, zusätzliche Dimensionen, expandierenden Raum, Gravitation vermittelnde Raumkrümmung bis hin zur Singularität eines Schwarzen Loches oder die Unschärferelation tatsächlich denken zu können? Wir haben schlicht hingenommen, dass wir die Welt im ganz großen und ganz kleinen Maßstab sowie unter extremen Bedingungen zwar kennenlernen und uns mit ihren Eigenarten vertraut machen, sie aber nicht in ihrer tieferen Natur begreifen können: Wir rechnen und messen, daraufhin zweifeln und staunen wir – und wenn wir mit Zweifeln und Staunen fertig sind, dann nicken wir verständig. Dem Natürlichen eine weitere Sphäre zuzugestehen, als unser intuitives Begreifen umfasst, ist, als Teil der Methode der modernen Physik, also gar nichts Neues. Anstatt eine mysteriöse ontologische Dichotomie der Welt zu postulieren, sollten wir dem natürlichen Ereignisraum also besser eine gehörige Portion Bizarrheit zutrauen 413 – wobei die Folgen einer kognitiven Erkenntnisblockade nicht einmal besonders seltsam wären: Ihre Existenz hieße lediglich, dass ein ganzheitliches Erkennen der natürlichen Wirklichkeit übermenschliche und damit überphysikalische (und eben keine übernatürlichen) Anforderungen stellt. Selbst die tatsächliche Existenz eines Wesens, das alleinig imstande ist, die explanatorische Lücke zu schließen, kann keinen Dualismus beweisen, da die Überlegenheit dieser Kognition ebenso natürlich sein kann, wie die Überlegenheit unserer Kognition 413 Beispielsweise die Möglichkeit, durch das ganzheitliche Verstehen aller benötigten physischen Informationen phänomenale Erfahrung zu generieren, obwohl die entsprechenden Qualia nicht erlebt wurden.

327 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

im Vergleich mit der einer Kaulquappe. Dieser Umstand kann allenfalls die menschliche Eitelkeit, nicht aber den Naturalismus erschüttern. Die Konklusion des fiktiven Physikalisten ist demgemäß nicht nur nicht notwendig, sondern nicht zulässig, denn das Natürliche integriert mühelos das Unbegreifliche. Das Gesagte darf auch als Widerspruch gegen die Aussage Antti Revonsuos verstanden werden, der die Erwägung einer generellen Begrenztheit menschlicher Erkenntnis als »Mystifizierung des LeibSeele-Problems« darstellt. 414 Nach meinem Verständnis ist an einer sachlichen Reflexion der eigenen Erkenntnisfähigkeit innerhalb des natürlichen Monismus nichts Geheimnisvolles oder Nebulöses. Erst das Übernatürliche oder »Nebennatürliche« eines Dualismus impliziert das Mysteriöse. Und noch eine Begrifflichkeit, die mit den Termini »übermenschlich«, »übernatürlich« und »natürlich« in Verbindung steht, bedarf meiner Ansicht nach einer Schärfung: »Physik« bezeichnet eine menschliche Wissenschaft, mittels der die natürlichen Zusammenhänge der Welt erforscht werden. Aufgrund der klangsinnlichen Nähe, so denke ich, wird bei der Verwendung des Begriffs »Physikalismus« oft der Sinn »das durch die physikalische Wissenschaft Verstehbare« assoziativ mitgedacht. Dies würde aber einen (optimistischen) Reduktionismus bedeuten, nach dem alle Systeme und ihre Phänomene letzten Endes teilchenphysikalisch erklärt werden können. Wenn also wie hier die Position eines natürlichen Monismus ohne epistemische Prämisse vertreten wird, erscheint mir der offenere Begriff Naturalismus treffender. 7.6.2.4 Naturalistischer Monismus und die strukturelle Erkenntnisblockade Aus dem Szenario struktureller Prinzipien, die es erkenntnisbegabten Wesen verbieten, sich vollständig selbst zu begreifen, ergibt sich die fundamentalste der besprochenen Erkenntnisblockaden. Während der »Supralaplacesche Dämon« im Szenario der kognitiven Erkenntnisblockade noch den Durchblick hatte, ist nun selbst er der Struktur seines Erkenntnisapparats unterworfen und damit außerstande seinen eigenen Geist zu begreifen. Diese epistemische Blockade ist so weitreichend, dass sie ein ganzheitliches Erkennen der Welt für alle 414 Vgl. Revonsuo, Wie man Bewusstsein in der kognitiven Neurowissenschaft ernst nehmen kann, S. 508.

328 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

rezenten und zukünftig existierenden Lebensformen des Universums prinzipiell ausschließt. Denn jedes Wesen der natürlichen Welt ist selbst Teil derselben und auf diese Weise gewissermaßen sein eigener blinder Fleck. Spätestens unter solchen Bedingungen müssten sich doch aber theoretische Schwierigkeiten für den naturalistischen Monismus ergeben – man ahnt es bereits: Auch hier lautet meine Antwort »nein«. Die strukturelle Erkenntnisblockade, wie ich sie unter 7.6.1.2.3 beschrieben habe, ist kein übernatürliches Prinzip, sondern eine der Struktur erkenntnisbegabter Wesen inhärente Gegebenheit der natürlichen Wirklichkeit. Selbst wenn also die Welt derart gebaut ist, dass sie ihr vollständiges Erkennen prinzipiell verbietet, bleibt sie natürlich und ontologisch einfach. Die ontologische Reflexion der Szenarien des epistemologischen Fazits befördert eine wichtige Einsicht, die ich folgendermaßen formulieren möchte: Die Erkenntnis der Wesen der Welt ist für das Wesen der Welt irrelevant. Daher sind Aussagen über ihre ontologische Beschaffenheit, die sich auf erkenntnistheoretische Argumente stützen, letztlich ohne Substanz. Die unzulässige Ableitung eines ontologischen Lehrsatzes aus einer epistemologischen Reflexion nenne ich nachfolgend den epistemischen Fehlschluss. Im nun folgenden letzten Teil meines ontologischen Fazits werde ich ihn als abschließende Entgegnung auf die naturalismus- bzw. funktionalismuskritischen Argumente anführen. 7.6.2.5 Der epistemische Fehlschluss Ich rufe die einschlägigen Argumente gegen einen (funktionalistischen) Naturalismus noch einmal in Erinnerung: die levinesche Erklärungslücke, die auf eine Kontingenz der Identitäten hinweist und so zu den »Vorstellbarkeitsargumenten« invertierter und fehlender Qualia führt, sowie das jacksonsche Argument unvollständigen Wissens, das das argumentative Prinzip des nagelschen »FledermausArguments« integriert. Die Einwände wurden durch das bisher Gesagte nach meinem Dafürhalten zwar ausreichend zurückgewiesen: Der Erklärungslücke und der Vorstellbarkeit invertierter und fehlender Qualia wurde durch die nomologische Argumentation Chalmers’, erweitert durch meine Kritik bezüglich der Legitimation der Hypothese der Materialabhängigkeit, begegnet. Das Argument unvollständigen Wissens konnte einerseits durch die mcginnschen und churchlandschen Überlegungen geschwächt werden, nach denen 329 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Mary lediglich einen neuen epistemischen Zugang zu derselben natürlichen Entität erhält. Andererseits habe ich darauf hingewiesen, dass schon die Prämisse des Arguments (»alles Physische wissen und verstehen«) unser Vorstellungsvermögen übersteigt, wodurch Mary als ein Wesen entlarvt wurde, über dessen Erkenntnis nur spekuliert werden kann. Den antinaturalistischen Argumenten kann aber noch genereller widersprochen werden. Unter 7.5.3.3.2.1 hatte ich eine dritte Entgegnung auf das Argument unvollständigen Wissens angekündigt. Sie klang oben schon an und lässt sich wie folgt formulieren: Ob es Mary nur so vorkommt, als erhielte sie neues Wissen; ob Mary tatsächlich Erfahrungswissen mittels Kognition generiert; selbst wenn Mary trotz vollständigen Wissens, keine Vorstellung davon hat, wie es ist, rot zu sehen – keines der denkbaren Szenarien des Mary-Arguments hat Aussagekraft über die ontologische Beschaffenheit unserer Welt. Nicht nur könnte es ein Wesen mit anderer Kognitionsweise geben, das zu einer theoretischen Ableitung der phänomenalen Zustände imstande ist. Das ontologische Modell des Naturalismus bliebe auch dann unversehrt, wenn selbst ein solch überlegener Geist an diesem Vorhaben scheitern würde. Denn Wissenschaft und Erkenntnis, ganz gleich welcher Spezies, besitzen letztendlich keine ontologische Entscheidungskraft. Noch einmal: Die Erkenntnis der Wesen der Welt ist für das Wesen der Welt irrelevant. Die dritte Entgegnung auf das Argument unvollständigen Wissens ist also der oben beschriebene epistemische Fehlschluss, ist das unzulässige Ableiten ontologischer Aussagen aus erkenntnistheoretischen Überlegungen. Auch das Argument der explanatorischen Lücke und die daraus resultierenden Vorstellbarkeitsargumente basieren auf dieser fehlerhaften Konklusion: Die Kontingenz der Identität phänomenaler und funktionaler Zustände leitet sich vom menschlichen Scheitern ab, die erforderliche Reduktion zu erkennen und zu begreifen. Die Identität wird also bezweifelt, weil unser Denkapparat nicht hinreicht, sie analytisch zu verstehen. Die explanatorische Unvollständigkeit ist daher per se keineswegs etwas Fundamentales, sondern kann nicht mehr bezeichnen als den subjektiven Umstand menschlicher Unzulänglichkeit. Selbstverständlich ist es legitim und wichtig auf das Erkenntnisdefizit des Menschen hinzuweisen, sei es grundlegend oder temporär. Leider werden diese Hinweise aber allzu oft als stechende Argumente der ontologischen Debatte gehandelt, als schwerwiegende Probleme, denen sich der naturalistische Monismus stellen muss. 330 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

Mithin ist zu konstatieren, dass sich die aufgeführten Argumente bezüglich ihrer Struktur durchaus ähnlich sind: Sie schließen von einem epistemischen Defizit eines realen oder fiktiven Wesens auf eine ontologische Dichotomie und begehen damit den epistemischen Fehlschluss. Mit diesem Hinweis ist der Naturalismus natürlich nicht bewiesen, jedoch verlieren die antinaturalistischen Ausführungen, die auf den ersten Blick so zwingend erscheinen, ihre überhöhte Bedeutung als Aussagen über das Wesen der Wirklichkeit. An dieser Stelle der Reflexion tritt nun eine ganz neue Frage zutage, die man salopp so ausdrücken könnte: Wer muss eigentlich was beweisen? Sind es die Vertreter des Naturalismus, die beweisen müssen, dass das Physikalische das Phänomenale nezessiert? Oder sind es die Dualisten die beweisen müssen, dass das Phänomenale außerhalb des natürlichen Ereignisraums existiert? Die Frage nach der philosophischen Beweislast scheint mir ungeklärt. Ich möchte ihr zu Beginn des abschließenden Fazits nachgehen.

7.6.3 Heuristisches Fazit Dieses Kapitel soll herausstellen, welche philosophische Forschungshaltung für das Verstehen der Zusammenhänge zwischen Körper und Geist und damit für das Erkennen der Romantischen Liebe die potenteste und dadurch vernünftigste ist. Die Frage lautet also: Wie können wir der Wahrheit über die Romantische Liebe am nächsten kommen? 7.6.3.1 Verlagerung der Beweislast Die Vorzüge, mit denen ein funktionalistischer Naturalismus im Vergleich zu anderen Monismen und dualistischen Modellen bezüglich des Verständnisses der Romantischen Liebe aufwartet, habe ich bereits ausführlich dargelegt. Anstatt also beschrittene Pfade auszutreten, möchte ich nachfolgend einen kritischen Blick auf die tradierten Verhältnisse der ontologischen Debatte werfen. Als der Mensch begann, sich Gedanken über den Aufbau der Wirklichkeit zu machen, blickte er einerseits nach außen: Er sah die Dinge der Natur vor sich liegen, vom winzigen Pollenkorn bis hin zu den kosmischen Lichtern. Viele der teils beängstigenden Erscheinungen konnte er nicht erklären und imaginierte ihnen ein Reich der Geister und Dämonen. So suggerierte er sich durch die vermeintliche 331 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Kenntnis des Übernatürlichen ein wenig Sicherheit und Selbstwert. Andererseits schaute der Mensch nach innen: Er erkannte seinen Geist und seine Emotionen und gab ihnen Namen wie »Zorn« und »Liebe«. Diese Phänomene empfand er als grundverschieden von den äußeren Dingen, weshalb er ihnen eine gesonderte Ebene des Seienden zusprach. Der so entstandene Pluralismus, bestehend aus einer dinglichen, einer geistigen und einer göttlich-dämonischen Sphäre, hielt sich über viele Jahrtausende, weil er der Wahrnehmung seiner Schöpfer perfekt entsprach und ihre Psyche beruhigte. Im Zuge der Aufklärung aber begannen die Menschen, die Ebene des Göttlichen kritisch zu hinterfragen und sich allmählich von ihr zu distanzieren – ein langwieriger Prozess, der mit steigender Erklärungskraft der Naturwissenschaften bis in die Postmoderne andauert. Die Vorstellung einer autonomen Sphäre der Gedanken und Empfindungen blieb hingegen vom entmystifizierenden Moment der Aufklärung verschont und gehört auch heute noch zum Weltverständnis der meisten Menschen. Den Grund für diese Abweichung sehe ich in den unterschiedlichen Ursprüngen der ontologischen Auffassungen: Bei unserem Empfinden spielen nicht der Wunsch nach Sicherheit und Existenzsinn oder die anthropozentrische Eitelkeit entscheidende Rollen, sondern unser ureigenes Erleben der Realität. Es ist das außerordentlich starke Gefühl, dass unser geistiges Innenleben auf irgendeine Weise unabhängig vom Rest der Welt stattfindet. Diese Intuition ist älter als jede Philosophie und Theologie und wird uns bis ans Ende unserer Art begleiten. So wird verstehbar, wieso es stets die naturalistischen Positionen waren, die Argumente gegen den Dualismus von Geist und Körper vorbrachten und nicht umgekehrt; so entstand die tradiert-einseitige Debatte, in der naturwissenschaftliche Konklusionen ein ums andere Mal gegen den nicht versiegenden Quell der dualistischen Intuition anschwimmen. Ich gehe nicht so weit, den Dualismus als naiven Irrglauben darzustellen – unter 7.5.1.1 habe ich jedoch geäußert, für wie fraglich ich den subjektiven Eindruck eines Wesens der Welt als ontologisches Urteil über diese Welt halte. Diese Kritik möchte ich hier erweitern. Denn nicht nur wird der dualistischen Intuition zu viel Bedeutung beigemessen, es erhebt sich zudem ein antagonistisches Gefühl und hält schon lange Einzug in unser Bild von der Welt. Es ist die Intuition, nach der das Natürliche das Normale ist, nach der es für die beobachteten Phänomene eine physikalische Erklärung gibt und nach der alles, was außerhalb dieser Natürlichkeit postuliert wird, kritisch betrachtet und gut begründet werden 332 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

muss. Damit ist eine allgemeine Verschiebung der Beweislast hin zu extranaturalistischen Aussagen festzustellen. Allerdings ist diese Umgewichtung nach meinem Verständnis nicht ausreichend in der Debatte um das Körper-Geist-Problem angekommen, denn immer noch sind es die naturalistischen Argumente, die gegen das beinahe statische Bollwerk der Idealisten anrollen. Gerade weil wir wissen, dass die Intuition eines separaten Geistes so stark in uns wirkt, sollten wir sie reflektieren und relativieren. Vielleicht muss für ein Gleichgewicht der explanatorischen Forderungen aber auch die »Intuition des Natürlichen« weiter erstarken. Sollten sich die Intuitionen eines Tages tatsächlich nivellieren, so wäre die Beweislast allerdings nicht bloß ausgeglichen. Denn der enorme Erklärungsbedarf, der mit der Erweiterung der natürlichen um eine geistige Entitätensphäre einhergeht, wird ja ausschließlich von der dualistischen Intuition gedeckt. Würde dieses Gefühl also durch die Intuition des Natürlichen kompensiert, so gerieten die Dualisten in große argumentative Not. In Anbetracht der tiefreichenden onto- und phylogenetischen Wurzeln unserer phänologischen Dichotomie ist ein vollständiger Ausgleich der Intuitionen aber wohl zu bezweifeln. Umso wichtiger ist es, die Einseitigkeit des Diskurses als philosophisches Relikt zu erkennen, das ebenso zu überwinden ist wie die Annahme, nach der der Mensch eine herausragende Stellung im kosmischen Geschehen einnimmt. 7.6.3.2 Eine Heuristik der Romantischen Liebe Bedeutet das Gesagte nun, dass man mit der Benennung von funktionalen Identitäten am Ziel der Reise angelangt ist? Bedeutet es, dass man sich auf eine naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt beschränken kann, bis der Dualismus und mit ihm die Qualia der Romantischen Liebe als überkommene Vorstellungen aus den Köpfen der Menschen verschwinden? Ich möchte einmal den für die Lösung des Körper-Geist-Problems besten und für die Existenz des Phänomens der Romantischen Liebe heikelsten Fall annehmen: Die Liebe ist vollständig auf ihre Physiologie reduziert. Ihre phänomenalen Ausprägungen können für jedermann logisch nachvollziehbar den spezifischen zerebralen Erregungen zugeordnet werden. Die einstige Kontingenz weicht eindeutiger und vernünftig begründeter Determination. Gewiss würde diese Erkenntnis unsere Sicht auf die Wirklichkeit stark verändern und auch gesellschaftlich tief reichende Wirkung haben. Was aber 333 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

würde mit den subjektiven Empfindungen des Menschen passieren? Einige fest entschlossene Vertreter der eliminativistischen Position würden vielleicht behaupten, dass die Qualia als irrelevantes Anhängsel des nun vollständig aufgeklärten Menschen allmählich ihre existenzielle Bedeutung verlieren. Konsequenterweise müsste sich nach dieser Vorstellung selbst das menschliche Bewusstsein, das ja auch nichts weiter ist als ein determiniertes Hologramm der Körpermaschine, langsam auflösen – Aufklärung bis zur Bewusstlosigkeit sozusagen. Dieses Szenario ist nicht nur grotesk, sondern auch unhaltbar, denn Erkenntnis kann zwar im Laufe der Zeit die Bewertung der Wahrnehmung und damit die Intuition über die Welt verändern, nicht aber die Wahrnehmung selbst. Kognitiver Fortschritt kann sein Tempo nicht einfach auf parallele Entwicklungsebenen übertragen, weshalb er kurz- und mittelfristig zwar auf die kulturelle, nicht aber in gleicher Weise auf die biologische Evolution einwirkt, die für die Ausprägung unseres Empfindungsvermögens verantwortlich ist. Ebenso wenig also, wie das relativistische Verständnis der Gravitation uns das Gefühl zu fallen nehmen kann, wird uns ein philosophischer oder naturwissenschaftlicher Durchbruch bezüglich des Problems von Körper und Geist des Phänomens der Romantischen Liebe berauben. Dieser Fakt zeigt die unauflösbare Verbindung des Menschen mit seiner Phänomenologie: Ontologisch mag die Liebe ohne Nennwert sein, existenzialistisch aber ist sie unleugbar und unverwüstlich. Doch zurück zu den tatsächlichen Verhältnissen: Eine Lösung des Körper-Geist-Problems durch eine lückenlose und einleuchtende Reduktion der phänomenalen Zustände ist nicht in Sicht. Es ist sogar sehr fraglich, ob sie jemals in Reichweite menschlicher Erkenntnis kommen wird. Die Vorstellung der geschlossenen explanatorischen Lücke hat aber eine wichtige Einsicht gebracht: Die Erforschung der Romantischen Liebe erschöpft sich nicht in der ontologischen Debatte, denn eine gelungene theoretische Implementierung des Phänomenalen bedeutet für den Menschen immer nur ein kognitives Verständnis, nie aber eine im Subjektiven wirksame Explikation der emotiven und perzeptiven Zustände. Es sollte daher ganz allgemein geklärt werden, welchen explanatorischen Gehalt eine Lösung des Körper-Geist-Problems eigentlich haben soll. Soll sie theoretische Auskunft über eine universelle Wirklichkeit ohne Einbindung des Subjektiven geben oder soll sie die Wirklichkeit verständlich machen, wie sie sich dem Menschen bietet. Ich bin der Auffassung, dass die Frage nach der Wahrheit über die Wirklichkeit von der existenzialen 334 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

Natur des Wesens abhängt, das sie stellt. Eine fiktive Spezies, deren Vertreter sich einig sind, die Gegenwart unsichtbarer Wesen um sich herum zu spüren, muss dieses Phänomen, ganz gleich, ob sie an eine ontologische Sphäre der Geister glaubt oder das Gefühl für ein natürliches Phänomen hält, in ihre Frage nach der Wirklichkeit integrieren. Andernfalls würde sie einen substanziellen Teil ihrer Existenz ignorieren und sich so von vornherein um die Chance auf eine befriedigende Erklärung der Welt bringen. Ebenso ist das Phänomenale nicht aus der Existenz des Menschen zu eliminieren und muss daher Teil seiner Frage nach der Wirklichkeit sein. Und wenn es Teil der Frage ist, dann muss es auch Teil einer überzeugenden Antwort sein. Es stimmt zwar also, was ich unter 7.5.1.1 und 7.6.3.1 gesagt habe: Das menschliche Empfinden der Wirklichkeit kann nicht als Antwort auf die Frage nach der ontologischen Beschaffenheit der Welt hinreichen. Für unsere Frage nach der Wirklichkeit der Welt ist das Phänomenale als substanzieller Kern unserer Existenz jedoch essenziell. Hieraus folgt nicht, dass verschiedene Wesen in verschiedenen Wirklichkeiten leben. Sie müssen aber in Abhängigkeit von ihrer Natur verschiedene Fragen formulieren, um brauchbare Erkenntnis zu gewinnen. Dementsprechend fallen auch die Antworten verschieden aus, vor allem dann, wenn eine ganzheitliche Erkenntnis der Wirklichkeit (noch) nicht möglich ist. Was bedeutet das nun konkret für die Heuristik der Romantischen Liebe? Zunächst bedeutet es die ausdrückliche Verneinung der eingangs gestellten Fragen: Man ist mit einer schlichten Identifikation der Phänomene nicht am Ende der Reise angelangt. Man kann sich nicht auf eine naturalistische Beschreibung der Welt beschränken, bis der Dualismus als ontologisches Modell und die Liebe als menschliches Phänomen aussterben. Hingegen sollte eine vernünftige Forschungshaltung auf diese philosophische Position gründen: Das Universum ist ontologisch einfach, es gibt nichts außer der Ebene des Natürlichen. Der Mensch jedoch ist derzeit und möglicherweise auf alle Zeit nicht in der Lage, alle Ausprägungen des natürlichen Universums in seinen Entwurf von »natürlich« zu integrieren. Das ist auch beim phänomenalen Bewusstsein der Fall, das sein eigener Körper erzeugt. Diese kognitiven, emotiven und perzeptiven Zustände sind real und von seiner Existenz nicht zu trennen, weshalb sie Teil seiner Frage nach der Wirklichkeit sein müssen. Hieraus leite ich die folgende Heuristik ab: Alle Erscheinungen sollten mit den etablierten Methoden der Einzelwissenschaften untersucht und erklärt werden. 335 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

Solche Erscheinungen, die sich diesen Methoden zu widersetzen scheinen, sollten weder ignoriert werden, noch sollten sie zu ontologischen Schlüssen über die Welt verleiten. Vielmehr sollten die allgemeine Absicht und die konkreten Versuche, sie in das naturwissenschaftliche Verstehen zu integrieren, fortwährend anhalten. Da nicht klar ist, wann und ob wir sie integrieren können, sollten sie zudem parallel als eigene Entitäten gesondert vom Natürlichen erforscht und beschrieben werden. Man könnte dieses Verfahren als deskriptiven Dualismus innerhalb eines monistischen Weltbildes bezeichnen, ein wissenschaftlicher Modus, der eine gewisse Spannung erzeugt. Ein zentraler Punkt meiner Heuristik besteht in der Forderung, diese Spannung um das (noch) nicht Wissen auszuhalten, das offene Problem als Teil unserer Erkenntnisnatur zu akzeptieren und der Versuchung zu widerstehen, einem ontologischen Dualismus oder einem simplifizierenden Monismus zu verfallen, um eine vermeintlich aussagekräftigere Position zu beziehen. Denn unter Einbezug der selbstkritischen Reflexion unseres epistemologischen Potenzials können wir der Wahrheit über die Wirklichkeit und der Wahrheit über die Romantische Liebe analytisch näher kommen. Sobald wir einen Aspekt der sich bietenden Wirklichkeit mit aufklärerischer Ignoranz aus dem Explanandum extrahieren, laufen wir Gefahr, uns selbst die Chance auf weitreichendere Erkenntnis zu nehmen. Nähern wir uns den schwierigen Erscheinungen hingegen unvoreingenommen sowohl von empirischer als auch von phänomenaler Seite, ist neue Erkenntnis wahrscheinlich und eine zukünftige Brücke über die explanatorische Lücke – welcher Art auch immer sie sein könnte – zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen. Kein du bois-reymondsches Ignorabimus 415 also und keine hartmannsche Transintelligibilität 416, keine eliminativistische oder dualistische Ungeduld, keine anthropozentrische Eitelkeit: Ich plädiere für einen »Phänointegrativen Naturalismus«, eine Position, die die Erkenntnisfähigkeit des Menschen reflektiert und die phänomenale Natur seiner Existenz integriert, die das offene Problem erträgt und die theoretische Implementierung des Wissens um unser Unwissen als wertvolle Erkenntnis erkennt, die ihre epistemische Zuversicht nicht aus überlieferter Selbstüberhöhung, sondern aus besonnener Beharrlichkeit bezieht, die sich der Wahrheit über die Romantische Liebe und der 415 416

Vgl. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, S. 43 f. Vgl. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, S. 88 ff.

336 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

natürlichen Wirklichkeit durch Geduld und die Offenheit einer pluralistischen Forschung nähert und sich nicht übereilt zu schmeichelhaften oder spektakulären Lösungen oder Kapitulationen bezüglich des Problems von Körper und Geist hinreißen lässt. An diese Position ist die Forderung nach einem multidisziplinären Forschungsbewusstsein gebunden. Neurowissenschaften, Künstliche-Intelligenz-Forschung, Soziobiologie, Psychologie und Philosophie sollten sich dem Verstehen des phänomenalen Bewusstseins mit vereinten Kräften widmen. Ein Anfang ist durch die interdisziplinäre Kognitionswissenschaft getan, eine breit angelegte, systematische Vernetzung der Forschungszweige scheint aber noch entfernt. Immer weiter differenziert sich die wissenschaftliche Landschaft in immer neue Teilbereiche. An den Universitäten agieren immer spezialisiertere Experten, die von den Forschungsgegenständen im Nachbarbüro oder Nachbarlabor immer weniger verstehen. Das Ideal des Universalgelehrten, der den gegenwärtigen Forschungsstand der Menschheit überblickt, lag nie ferner. Selbstverständlich ist dieser Zustand in erster Linie der Komplexität der natürlichen Welt geschuldet. Nichtsdestoweniger sollten wir verstärkt versuchen, der Divergenz entgegenzuwirken, indem wir die Erkenntnisse der Forschungszweige unter Einbezug der Erkenntnisse anderer Disziplinen reflektieren, um neuartige Zusammenhänge erkennen zu können. Vielleicht gelangt der Mensch irgendwann an einen Punkt, an dem er die Natur der Welt in ausreichendem Maße entflochten hat, sodass der Differenzierungsprozess selbstständig anhält. Vielleicht ist es ihm dann möglich zurückzutreten, den Blick zu weiten, die Erkenntnisfäden ihrer Abhängigkeit nach zu sortieren und sie anschließend zu einer einheitlichen Wissenschaft zu verknüpfen. Eine Wissenschaft, die neuartige Begriffe integriert, die weder ausschließlich dem Physischen noch dem Mentalen zugeordnet werden können, Begriffe, die die Bausteine einer »explanatorischen Brücke« zum ganzheitlichen Begreifen der Wirklichkeit bilden. Ebenso wäre natürlich denkbar, dass der Vorgang der Vereinheitlichung der Erkenntnisstränge in seiner Komplexität die menschliche Kognition übersteigt, was das Szenario aus 7.6.1.2.2 bestätigen würde. Vielleicht bestehen auch andere Eigentümlichkeiten der Natur und andere Erkenntnisblockaden, die uns das Verstehen der Welt ab einem gewissen Punkt verwehren (vgl. 7.6.2.3 und 7.6.2.4.). Doch gerade weil wir den Erkenntnisgang des Menschen nicht vorhersehen können, sollten wir keine idealistische, sondern eine realistische Heuristik anwenden, deren Axiome sich aus 337 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

der Reflexion erkenntnistheoretischer Eventualitäten ableiten. So bin ich der Auffassung, dass dem Menschen – so er sich nicht zu sehr in Selbstzerstörung zerstreut – durch Anwendung solcher epistemischer, ontologischer und heuristischer Theoreme, wie sie der Phänointegrative Naturalismus expliziert, noch großartige Einsichten in die Wirklichkeit bevorstehen. 7.6.3.2.1 Das Problem der Metaerkenntnis Dem Phänointegrativen Naturalisten, der die nötige Bescheidenheit und Besonnenheit aufbringt, das Wissen um die Ungewissheit der menschlichen Erkenntnisentwicklung als konstruktiven Teil derselben zu akzeptieren und in die wissenschaftsphilosophische Reflexion zu integrieren, stellen sich alsbald zwei weiterführende Fragen: 1. Werden wir es wissen, wenn wir wissen? Wird der Mensch es also bemerken, wenn er die wahre Beschreibung der Wirklichkeit und der Romantischen Liebe formuliert? 2. Wir wissen zwar, dass wir aktuell nicht wissen, ob wir jemals wissen werden. Aber werden wir jemals wissen, dass wir niemals wissen werden? Erkennt der Mensch also die fundamentalen Erkenntnisblockaden, wenn er an sie stößt? Diese Überlegungen fragen nach dem Erkennen der Erkenntnis und instituieren damit gewissermaßen eine Metaebene der epistemologischen Diskussion. Die Antwort auf die erste Frage hängt maßgeblich davon ab, ob das Finden der richtigen Beschreibung unserer phänomenalen Existenz eine im Subjektiven wirksame Explikation ist. In diesem aus heutiger Sicht schwer vorstellbaren Szenario, bei dem eine Lösung des Problems von Körper und Geist ein emotiv-intuitives Begreifen konstituiert, ist die Metaerkenntnis von der Richtigkeit der Beschreibung der Welt natürlich sehr wahrscheinlich. Der andere Fall, bei dem eine korrekte theoretische Implementierung des Phänomenalen nicht über den Bereich der Kognition hinauswirkt, ist hingegen pessimistischer zu bewerten. Denn selbst eine vorbildlich sparsame und logisch vollkommen einwandfreie Theorie wäre nie über den Einwand erhaben, dass damit zwar ein kohärentes und sehr elegantes Gedankengebäude zur Beschreibung unserer Erlebnisse, jedoch keine wahre Beschreibung der Wirklichkeit vorliegt. Denn für jede Theorie gilt: Es gibt keine Instanz, die uns die Richtigkeit der Lösung verbindlich anzeigen könnte. Allerdings steigert sich die allgemeine Anerkennung sehr guter Theorien für gewöhnlich so weit, dass sie praktisch als »wahr« gelten. Auch die Zustimmung für eine schlüssige und er-

338 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

kenntnisträchtige Theorie über den Zusammenhang von physischen und geistigen Zuständen würde über die Jahre gewiss zunehmen. Doch die beständige menschliche Intuition, dass die mentalen Zustände doch in irgendeiner Weise unphysisch sind, würde den Zweifel an der Endgültigkeit der Lösung wohl weiter am Leben halten. Die zweite Frage des Phänointegrativen Naturalisten lautete: Erkennen wir eine fundamentale Erkenntnisblockade, wenn wir vor ihr stehen, sodass wir wissen können, dass wir niemals wissen werden? Ich rufe die Aspekte der oben beschriebenen Blockaden noch einmal in Erinnerung: zu hohe Komplexität, inadäquate Art der Kognition und die strukturelle Blockade hinsichtlich des Erkennens des eigenen Systems. Es ist wahrscheinlich, dass sich in den Fällen zu hoher Komplexität und ungeeigneter Kognitionsweise Indizien ansammeln könnten, die auf die jeweiligen Erkenntnisgrenzen hindeuten – etwa wenn die Gesamtprozesse des menschlichen Gehirns sich trotz fortschreitender Technologie nicht durch Computermodelle ausdrücken lassen (zu hohe Komplexität) oder wenn immer mehr bizarre Eigenschaften der fundamentalen Natur, die unsere Vorstellungsfähigkeit überschreiten und mit den Begriffen unserer Logik kollidieren, empirische Bestätigung finden (inadäquate Kognition). Gewissheit über eine grundlegende Erkenntnisblockade wird es aber wohl nie geben. Denn die Geschichte zeigt, dass der wissenschaftliche Forschungsweg hinter jeder Biegung eine bahnbrechende Entdeckung bereithalten kann, die eine Theorie begründet, mittels der sich die Sicht auf die Welt verändert und unlösbar geglaubte Probleme mit einem Mal zur Nebensache werden. Auch hier fehlt uns also die außerwissenschaftliche Instanz, die unsere Vermutungen substantiiert. Eine strukturelle Erkenntnisblockade scheint mir noch schwieriger zu durchschauen. Denn wie sollte es möglich sein, eine innersystemische Beschränkung zur Erkenntnis des Systems innerhalb desselben Systems zu erkennen? Ich vermute, dass die Symptome dieser Blockade kaum Rückschlüsse auf Art und Ort der Beschränkung zulassen würden. Die Kenntnis vom eigenen »epistemisch blinden Fleck« ist wohl aus denselben strukturellen Gründen unmöglich, aus denen er überhaupt erst besteht. Vermittels der vorliegenden metaepistemischen Betrachtung möchte ich dem du bois-reymondschen »Ignoramus et ignorabimus« (Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen) die folgende Formulierung entgegenhalten: Ignoramus et nos ignorare ignorabimus – Wir wissen es nicht und wir werden niemals wissen, dass wir es niemals wissen werden. 339 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

In Anbetracht der beschriebenen Schwierigkeiten, sichere Kenntnis davon zu erhalten, wie nah unsere Überlegungen der Wahrheit stehen, muss man konsequenterweise auch das folgende Szenario bedenken: »Wir wissen schon jetzt alles, was es zur Verbindung von Körper und Geist zu wissen gibt. Vielleicht sind wir mit unseren Theorien sogar schon über das Ziel hinausgeschossen.« All unser forschendes Denken gründet auf der Logik. Unter 7.6.2.3 habe ich durch ein Zitat Friedrich Nietzsches darauf hingewiesen, dass dieser Kern unserer Kognition womöglich kein so unerschütterliches Fundament bildet, wie ihm gemeinhin zugesprochen wird. Demgemäß wäre denkbar, dass wir mittels unserer logischen Betrachtungsweise einen explanatorischen Gehalt des Körper-Geist-Problems supponieren, der in Wahrheit gar nicht existiert. Die Frage nach den Kausalprozessen zwischen funktionalen und phänomenalen Zuständen könnte einem verständigeren Wesen ebenso gegenstandslos erscheinen, wie uns etwa die Frage »Wie laut sind Rauten?« Dieses Wesen würde uns in Erwartung der Pointe einen Moment lang auffordernd angrinsen und sobald es bemerkt, dass wir nicht scherzen, irritiert auf die Anzeige der funktionellen Magnetresonanztomographie deuten und sagen: »So, so geht das. Dahinter gibt es nichts zu wissen, eure Frage ist absurd!« Auch dieses Szenario ist legitimer Bestandteil der erkenntnistheoretischen Reflexion des Körper-Geist-Problems. Allerdings halte ich es für falsch und fahrlässig, forschungspraktische und/oder wissenschaftstheoretische Vorgehensweisen von ihm abzuleiten. Die interdisziplinäre Vernetzung steht noch ganz am Anfang. Wenn man bedenkt, welch kolossale theoretische und technische Fortschritte die Naturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, wäre es epistemischer und heuristischer Irrsinn, jetzt das Erkenntnismaximum des Menschen anzunehmen und alle weiteren Bemühungen einzustellen. Die Wissenschaftsgeschichte weiß von wesentlich statischeren Forschungsperioden zu berichten, in denen überraschende Entdeckungen einen weitreichenden theoretischen und forschungspraktischen Perspektivwechsel induzierten. Bemerkenswert ist, dass trotz dieser geschichtlichen Erfahrungen und trotz der wissenschaftlich hochdynamischen Zeit, in der wir leben, die These, nach der das Körper-Geist-Problem nur deshalb nicht gelöst ist, weil wir es nicht als bereits gelöst erkennen, eine anhaltende Attraktion auf einen Teil der naturalistischen Gemeinde auszuüben scheint. Mit dieser These sind gemeinhin Positionen verbunden, die dem qualitativen Empfinden des Menschen jegliche Bedeutung als Explanan340 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

dum entziehen. Zum Abschluss meines heuristischen Fazits möchte ich die Affinität zu solch »phänonegierenden« Naturalismen untersuchen. 7.6.3.2.2 Die Motive »phänonegierender Naturalisten« Mit glühendem Eifer durchläuft der Mensch die ersten Jahrtausende seiner kulturellen Evolution und erhebt sich dadurch aus der Unbedeutsamkeit seines biologischen Seins. Er strebt nach immer höherem Wissen und zeichnet seine Vernunftbegabung als Trennlinie zwischen sich und die übrigen Tieren der Erde. Während der Aufklärung befreite er sich mittels dieser Vernunft von den Zwängen seiner mystischen Imaginationen und intensivierte seine Bemühungen um naturwissenschaftliche Erkenntnis. Der Tradition der Abkehr von den menschlich-intuitiven Vorstellungen über die Welt folgend, erklärten alsbald nicht nur die Eliminativisten, sondern im Stillen auch viele Vertreter eines radikalen Reduktionismus und Emergentismus die phänomenale Natur des Menschen für irrelevant oder gar nicht existent. Wie bereits dargelegt, halte ich die »phänonegierende Methode«, ganz unabhängig davon, wie und ob sich die Diskussion um das Problem von Körper und Geist entscheiden wird, für unvernünftig, da durch das künstliche Kupieren des Explanandums keine substanzielle Antwort mehr auf die Frage nach der existenzialen Wirklichkeit des Menschen gegeben werden kann. Trotz dieser Umstände sind phänonegierende Naturalismen für viele Philosophen weiterhin reizvoll, was mir die Frage nach ihren Motiven aufwirft. Ich sehe drei mögliche Beweggründe, von denen ich einen gerade schon angesprochen habe: die aufklärerische Abkehr vom intuitiven Verständnis der Welt. Nie wieder möchte der Naturalist so naiv sein, wie die pluralistischen Strömungen des Mittelalters ihm aus heutiger Sicht erscheinen. Weil die subjektive Wahrnehmung und das Unwissen über die natürlichen Erscheinungen den erforderlichen Raum für die mystischen Weltentwürfe gaben, soll nun nichts mehr der menschlichen Intuition und Imagination überlassen werden. Alles muss sich der nüchternen Berechnung unterwerfen und alles, was sich nicht ins Schema solcher Analyse integrieren lässt, soll für nichtig erklärt werden, bevor es erneuten Anlass zu irrationalen Spekulationen gibt. Bloße Ignoranz ist jedoch keine akzeptable Alternative zu voraufklärerischer Naivität. Ein zweiter Aspekt könnte die Lust an einer den Menschen verstörenden Entdeckung sein: Ein phänonegierender Reduktionismus und der resultierende Determinismus üben

341 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

schon immer eine frivole Faszination auf uns aus, weil sie die ultimative Absage an die angeborene Welt- und Selbstwahrnehmung des Menschen bedeuten. Was wäre es für eine Sensation, wenn die Fremdbestimmung unserer Handlungen samt der Irrelevanz unserer Empfindungen allseitig bestätigt würde? Der wohlige Schauer, der theoretische Überlegungen solcher Couleur so fesselnd macht, ist jedoch keine zulässige wissenschaftliche Intention und darf daher keine epistemische und heuristische Relevanz bekommen. Der dritte Anreiz zur Einnahme einer Position des phänonegierenden Naturalismus betrifft einmal mehr das menschliche Selbstwertgefühl: Im Zuge der Säkularisierung nahmen wir uns bekanntermaßen den Sinnaspekt einer nachweltlichen Existenz sowie den schmeichelhaften »kosmotheologischen Sonderstatus«. Nun fühlen wir uns in einem Raum, dessen Grenzen wir erahnen, aber nicht verstehen können, bisweilen sehr klein und unbedeutend. Der aufgeklärte Mensch nimmt diese Schmach jedoch nicht untätig hin, sondern bezieht seinen Selbstwert nun aus weltlichen Erfolgen und Errungenschaften: Jede neu entwickelte Technologie erfüllt uns mit Stolz darüber, zu was wir inzwischen imstande sind, jede wissenschaftliche Erkenntnis lässt uns staunen, was wir alles begreifen. Eine Menschheit, die alle Erscheinungen der Welt durchschaut und deren evolutive Furcht der vollständigen Aufgeklärtheit über die Welt gewichen ist – so könnte man überspitzt deklarieren – braucht keinen Gott mehr. Diese Menschheit ist unter der beruhigenden Imagination eines Sinn und Schutz gebenden Gottes aufgewachsen, hat sich von den mystischen Wirrungen ihrer kulturellen Evolution vollständig emanzipiert und ist nun erwachsen. Sie steht auf eigenen Beinen, aufrecht und mit sicherem Blick auf ihre Welt. Die dritte Motivation besteht also im Verlangen, das Selbstwertgefühl und die Souveränität unserer Spezies, die sich einst aus transzendentem Anthropozentrismus nährten, durch den Triumpf unseres Verstandes über das seelenlose und ängstigende Universum wieder herzustellen. Dieser höchste Erkenntnisstatus einer naturalistischen Weltanschauung ist anerkanntermaßen unerreicht, denn nicht nur die Lösung des Problems um das phänomenale Bewusstsein wäre dafür erforderlich. Auch der fundamentale Feinbau der physikalischen Realität sowie die kosmologischen Singularitäten und Unendlichkeiten müssten mittels theoretischer Vereinheitlichung verstanden sein. Auf die Erkenntnisschwierigkeiten bezüglich des ganz Kleinen und des ganz Großen kann der gekränkte Naturalist keinen Einfluss nehmen – das Problem des Innersten hin342 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Fazit

gegen lässt sich strukturell modellieren: nämlich indem man seine Relevanz oder Existenz negiert und mit aufklärerischem Habitus postuliert, dass wir bloß wieder unserer naiven Subjektivität auf den Leim gehen, die uns das vermeintliche Explanandum vortäuscht. Mit dieser Methode fährt der Naturalist einen sofortigen Triumph über zumindest einen seine Souveränität diskreditierenden Aspekt der Welt ein, wodurch er sich partiell rehabilitiert. Diesen Zusammenhang halte ich für die wirkungsvollste und gleichwohl widersinnigste Motivation zur Annahme eines phänonegierenden Naturalismus: Wir beschneiden uns um den wesentlichsten Teil unserer Existenz, um uns durch das vermeintliche Verstehen unserer Natur selbst aufzuwerten. Wir wollen möglichst wenig Mensch sein, um über uns zu triumphieren. Wir streben unseren Ausgangszustand der biologischen Unbedeutsamkeit an, um in ihm bedeutend sein zu können. Das ist, milde gesagt, paradox. Wer sich selbst überwindet, ist maximal groß – wer sich selbst erniedrigt, um sich zu überwinden, ist ein Narr. Als Naturalisten streben wir nach dem Zustand höchster Erkenntnis, der sich aus dem Begreifen des ganz Kleinen, des ganz Großen und des ganz Inneren konstituiert. Dabei ist es wichtig und legitim, dass wir Selbstbewusstsein und Identität aus unseren wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften schöpfen. Doch dürfen wir uns bei diesem ambitioniertesten aller Vorhaben unter keinen Umständen selbst aus dem Blick verlieren. An keiner Sache wird das so deutlich, wie an der Romantischen Liebe: Negiert man das menschliche Empfinden der Liebe, so verflüchtigt sich damit ihr Wesen, ihre Essenz und man betrachtet bloß noch ihr lebloses Gerippe. Daher plädiert diese ihre Apologie für eine ausgewogene, geduldige und konstruktive Heuristik, die sowohl das phänomenale Bewusstsein des Menschen als auch metaepistemische Reflexionen in ihre Ableitungen implementiert. Trotz unserer zweifellos beachtlichen Erkenntnisse über die Welt gibt es vieles, das uns verwirrt. Manches davon bereitet uns Unbehagen, manches ängstigt uns. So ist die naturalistische Position keine Philosophie für furchtsame, wankelmütige und romantisierende Gemüter. Man benötigt eine gewisse Aufrichtigkeit, Resilienz und Autarkie, um den dualistischen und negierenden Versuchungen zu widerstehen, um das Unwissen und die Unentschiedenheit des Problems auszuhalten und vor allem um die ernüchternden Konsequenzen der natürlichen Realität zu ertragen. Aus der naturphilosophischen Bedrückung lässt sich jedoch 343 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Was ist die Liebe? Epistemische, ontologische und heuristische Betrachtung

auch Erhebendes ableiten. Einen »Trost der naturalistischen Liebe« werde ich im nachstehenden Abschlusskapitel meiner Abhandlung versuchen.

344 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

8 Trost der naturalistischen Liebe

Zum Ausklang meiner Ausführungen möchte ich den theoretischen Untersuchungsfokus etwas lockern, um den naturalistisch liebenden Menschen zu betrachten. Denn die weltanschauliche Verinnerlichung der naturphilosophischen Position kann erheblich belasten: Nicht bloß die Liebe verliert ihren übernatürlichen Status, der naturalistische Monismus integriert weder ein fürsorgendes Gotteswesen noch ein sinnstiftendes Leben nach dem Tod. Stattdessen ziehen wir als einsame Erzeugnisse der unbeseelten Welt sinnlose Ellipsen in einem unvorstellbar großen, lebensfeindlichen Raum. Aus der naturalistischen Liebesphilosophie lässt sich jedoch auch ein tröstender Gedanke ableiten. Bevor ich diesen aber ausführe, möchte ich auf die zunehmende Bedeutung eines wohlbekannten Charakteristikums der Romantischen Liebe hinweisen.

8.1 Die Rettung der Liebe Das Individuum der Postmoderne westlicher Kulturen ist einer anhaltenden Flut von Wahlmöglichkeiten ausgesetzt. Sie manifestieren sich im Kleinen, etwa bei der Auswahl der vielversprechendsten Abendgestaltung, im Mittleren, etwa bei der Auswahl des Urlaubsziels, und im Großen, etwa bei der Wahl des Berufs. Die größte aller Entscheidungen ist jedoch die Wahl eines Partners, mit dem man substanzielle Verbindlichkeiten eingeht und dadurch sein Leben ausgestaltet. Durch die Ausweitung sozialer Vernetzung, den liberalen Umgang mit Sexualität und durch die zunehmende Unverbindlichkeit bezüglich der Partnerwahl ergibt sich für die Menschen unserer Zeit ein ernst zu nehmendes Dilemma. Denn wer kann schon wissen, welch glückbringende Erfüllung diese und welche Leiden jene Beziehung verborgen hält? Die große Wahlfreiheit kann, gerade bei jungen Menschen, deren Prioritäten sich noch nicht klar an genügend Erfah345 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Trost der naturalistischen Liebe

rungen ausdifferenziert haben, große Unsicherheit erzeugen. Wohl niemand hat die Überforderung des Individuums angesichts der unüberschaubaren Menschen- und damit Möglichkeitendiversität urbaner Gesellschaften so treffend und gleichermaßen schön ausgedrückt wie Kurt Tucholsky: Wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehst mit deinen Sorgen: dann zeigt die Stadt dir asphaltglatt im Menschentrichter Millionen Gesichter: Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider – Was war das? Vielleicht dein Lebensglück … Vorbei, verweht, nie wieder. Du gehst dein Leben lang auf tausend Straßen; du siehst auf deinem Gang, die, die dich vergaßen. Ein Auge winkt, die Seele klingt; du hast’s gefunden, nur für Sekunden … Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider; Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück … Vorbei, verweht, nie wieder. Du musst auf deinem Gang durch Städte wandern; siehst einen Pulsschlag lang den fremden Andern. Es kann ein Feind sein, es kann ein Freund sein, es kann im Kampfe dein Genosse sein. Es sieht hinüber und zieht vorüber … Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

346 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Die Rettung der Liebe

die Braue, Pupillen, die Lider. Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück! Vorbei, verweht, nie wieder. 417

Die Welt ist ein unüberschaubarer Raum voller Schönheit, voller Dinge, die unsere Leidenschaft entfachen, die wir besitzen wollen, voller Menschen, deren Geist oder Körper es wert sind, gekostet zu werden. An dieser Überfülle kann ein empfindsamer Geist verzagen. Wenn es aber geschieht, dass ihn ein einzelnes Wesen zu Romantischer Liebe anregt, so vollzieht sich etwas Bekanntes und dennoch Bemerkenswertes: der affektive Fokus des Verliebten verengt sich und seine Welt wird überschaubarer, einfacher, klarer. Es setzt – nicht immer, aber doch häufig – die typische Idealisierung des Geliebten ein, für deren Beschreibung sich der französische Schriftsteller Stendhal der folgenden Analogie bediente: »Wirft man in den Salzbergwerken von Salzburg einen entlaubten Zweig in die Tiefe eines verlassenen Schachts und zieht ihn nach ein paar Monaten wieder hervor, so ist er mit glänzenden Kristallen überzogen. Auch die kleinsten Äste, nicht größer als der Fuß einer Meise, sind mit zahllosen lockeren, funkelnden Diamanten bedeckt. Der kahle Zweig ist nicht wiederzuerkennen. Kristallbildung nenne ich die Tätigkeit des Geistes, der bei jedem Anlass neue Vorzüge an der Geliebten entdeckt.« 418 Mittels dieses Effekts rettet die Liebe den Empfindsamen vor dem Chaos der Postmoderne in eine überschaubare Nahwelt, sie rettet ihn vor dem Wahnsinn einer universalen Sehnsucht und Hinwendung zu allem Schönen und Liebenswerten, sie rettet ihn durch die Glorifizierung des Einzelnen davor, an der Pracht der Welt zu verzweifeln. Sie verhilft ihm in einen Zustand emotiver Gewissheit und leitet ihn dadurch zu einer Entscheidung an, die er ohne sie kaum hätten treffen können: die verbindliche Wahl eines (Lebens-)Partners. Leidenschaftliche Liebe vermittelt dem Menschen damit die notwendige Ausdauer, um das Wesen eines Menschen zu erforschen. Durch die überzeugte Hinwendung sind wir imstande, substanzielle Verbindlichkeiten einzugehen, mittels derer sich im Laufe der Zeit eine Partnerschaft definiert, die auch dann noch stabil ist, wenn die 417 Tucholsky, Kurt: Augen in der Großstadt. In: Exenberger, Hans: Kurt Tucholsky lebt … : Ein heiter-besinnliches Schmunzelbuch mit Tiefgang. 1. Band. Hamburg: Mein Buch oHG Hamburg 2006, S. 21 f. 418 Stendhal, über die Liebe, S. 86 f.

347 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Trost der naturalistischen Liebe

leidenschaftliche Fixierung allmählich schwächer wird. Denn durch Verbindlichkeiten, gemeinsame Erlebnisse und gegenseitige Vertrautheit kann uns der geliebte Mensch tatsächlich so einmalig werden, wie die anfängliche Verliebtheit es uns hat empfinden lassen. Die Überschrift meint also nicht den genitivus objektivus (die Liebe wird gerettet), sondern den genitivus subjektivus: Die Liebe rettet uns vor der Optionenflut postmoderner Gesellschaften. Vor dem Hintergrund der soziokulturellen Entwicklungen unserer Zeit erhält die Romantische Liebe mit dieser alten Funktion neue Relevanz. 419

8.2 Romantische Determination Die lebensweltlichen Konsequenzen eines naturalistischen Monismus sind für den Menschen bisweilen sehr belastend – vor allem dann, wenn in seiner Brust trotz aller naturwissenschaftlicher Ratio ein romantisches Herz schlägt. Denn auch wenn das menschliche Empfinden nicht aus der philosophischen Untersuchung extrahiert werden kann und auch wenn ihm das Entstehen und die Dynamik seiner Liebe immer etwas »mystisch« vorkommen werden, so weiß er doch, dass er durch seine Liebe an keiner übernatürlichen Kraft teilhat, die ihm den Pfad seines Schicksals weist. Er weiß, dass seine Liebe ein Produkt (neuro-)physiologischer Vorgänge ist und ebenso wenig autonom existieren kann wie sein Bewusstsein. Vielleicht weiß er sogar, dass ihm die universale Kausalität der natürlichen Welt jedes seiner Gefühle vorschreibt, sodass er seinen Liebeshandlungen gleichsam unbeteiligt zusieht. Diese Einsichten sind frustrierend, wenn nicht gar ängstigend. Und doch lässt sich gerade in der beklemmenden Determination ein tröstlicher, ja geradezu romantischer Aspekt finden: In einem kausal geschlossenen Universum ohne echten 419 Mit dem Gesagten sind nicht die Überlegungen und Bedenken aufgehoben, die ich unter 3.2.4.1 bezüglich des Eheideals der romantischen Epoche in Verbindung mit den postmodernen Lebensstandards und Freiheiten geäußert habe. Entscheidungen, die einer Beziehung substanzielle Verbindlichkeit verleihen, sollten natürlich auch einer rationalen Prüfung unterliegen. Nichtsdestoweniger verleiht der affektive Fokus dem Liebenden instinktive Handlungsfähigkeit in der Vielfalt postmoderner Freiheit. Weiterhin widerspreche ich hiermit nicht meiner unter 5.2 dargelegten Kritik an den Schlussfolgerungen Keils, Freunds und Fishers, die Verliebtheit als Funktion der Paarungsoptimierung, nicht als solche der Paarbindung interpretieren.

348 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Romantische Determination

Zufall sind nicht bloß die gegenwärtigen Ereignisse durch die Vorkommnisse der Vergangenheit festgelegt, sondern ebenso alle Ereignisse der Zukunft. Sollten wir also tatsächlich mit deterministischem Autopilot als rein reaktive Maschinen ohne Willens- und Handlungsfreiheit über den Planeten wandeln, so wäre die Vorhersage unserer individuellen Zukunft lediglich eine Frage der erforderlichen Informationsverarbeitung. Dieser Umstand ließe ein klassisches Element der Romantischen Liebe wiedererstehen: das füreinander Bestimmtsein. Denn wenn unsere Lebenswege bis ins Feinste determiniert sind, dann ist auch unabänderlich festgeschrieben, dass wir unseren zukünftigen Lebenspartner wie zufällig im strömenden Regen unter dem Dach einer Haltestelle treffen, weil ihm das Auto liegengeblieben und uns der Bus vor der Nase weggefahren ist. Es ist Bestimmung, dass wir über das furchtbare Wetter ins Gespräch kommen und nach einer Weile beschließen, uns erst einmal im Café um die Ecke etwas aufzuwärmen. Es ist kein Zufall, sondern Fügung, dass unsere Sympathie füreinander alsbald in Verliebtheit und schließlich in leidenschaftliche Liebe übergeht. Die nachfolgende Heirat, der gemeinsame Nachwuchs, die Höhen und Tiefs unserer Ehe, das gemeinsame Altwerden – nichts davon ist beliebig, alles war uns vom Universum vorherbestimmt: Es ist das romantische Schicksal zweier Gefangener im vollständig determinierten Weltgefüge. So rettet die Liebe den empfindsamen Naturalisten vor dem Chaos seiner Affekte und seine Philosophie dankt es ihr durch ein reales Äquivalent ihrer einstigen Mystik – ein abschließendes Sinnbild der Einheit von Phänomen und natürlicher Philosophie der Romantischen Liebe.

349 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Literatur

Monografien und Sammelbände Aristoteles: Eudemische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Stuttgart: Reclam Verlag 2017. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. 8. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2010. Aristoteles: Über die Seele. 3. Buch. In: Flashar, Hellmut (Hrsg): Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung. Berlin: Akademie Verlag 2006. Bartholomäus, Wolfgang: Glut der Begierde – Sprache der Liebe. Unterwegs zur ganzen Sexualität. München: Kösel 1987. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. 2., überarbeitete Auflage. Berlin: De Gruyter 2000. Beckermann, Ansgar: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung in die Philosophie des Geistes. 2. Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2011. Bell, Jim: Notions of Love and romance among the Taita of Kenya. In: Jankowiak, W. (Hrsg.): Romantic Passion. A Universal Experience? New York: Columbia University Press 1995, S. 152–165. Bund der Evangelischen Kirche Deutschland (Hrsg.): Die Bibel nach Martin Luther. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2017. Campbell, Neil A.; Reece, Jane B.: Biologie. Herausgegeben von Jürgen Markl. 6. Auflage. Heidelberg und Berlin: Spektrum Verlag 2003. Carter, Sue C.; DeVries, A. Courtney; Taymans, Susan E.; Roberts, R. Lucille; Williams, Jessie R.; Getz, Lowell L.: Peptides, steroids, and pair bonding. In: Carter, Sue C.; Lederhendler, I. Izja; Kirkpatrick, Brian (Hrsg.): The Integrative Neurobiology of Affiliation. Cambridge/Massachussetts/London: The MIT Press 1999, S. 169–182. Chalmers, David J.: Absent Qualia, Fading Qualia, Dancing Qualia. In: Thomas Metzinger (Hrsg.): Conscious Experience. Paderborn: Schöningh 1995, S. 309–328. Chalmers, David J.: Bewusstsein und sein Platz in der Natur. In: Metzinger, Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 119–174. Chalmers, David J.: Consciousness and its Place in Nature. In: Chalmers, David J. (Hrsg.): The Character of Consciousness. Oxford/New York: Oxford University Press 2010, S. 103–139.

351 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Literatur Churchland, Paul M.: The Rediscovery of Light.in: On the contrary – critical Essays 1987–1997. Massachusetts: The MIT Press 1998. Comte-Sponville, André: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte. Übersetzt von Josef Winiger, Nicola Volland u. Una Pfau. Hamburg: Rowohlt Verlag 1996. De Montaigne, Michel: Erstes Buch. Über die Freundschaft. In: Franz, Arthur (Hrsg.): Die Essais. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz. Stuttgart: Reclam Verlag 1984, S. 100–106. Dennett, Daniel C.: Quining Qualia. In: Goldman, Alvin I. (Hrsg.): Readings in Philosophy and Cognitive Science. Massachusetts: Institute of Technology 1993, S. 381–414. De Rougemond, Denis: L’amour et l’Occident. Paris: Bibliothèques 10x18 1974. De Spinoza, Baruch: Die Ethik. Übersetzt von Jakob Stern und revidiert von Michael-Czelinski-Uesbeck. Wiesbaden: Marixverlag 2012. Du Bois-Reymond, Emil: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträthsel. Zwei Vorträge. Zehnter Abdruck. Hamburg: tredition Verlag 1872. Ekman, Paul: Gefühle Lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. 2. Auflage. Heidelberg: Spektrum Verlag 2010. Ernst, Jutta: Edgar Allan Poe und die Poetik des Arabesken. Würzburg: Königshausen/Neumann 1996. Faller, Adolf; Schünke, Michael: Der Körper des Menschen. Einführung in Bau und Funktion. 15. Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2008. Fischbacher, Arno: Geheimer Verführer Stimme – 77 Fragen und Antworten zur unbewussten Macht in der Kommunikation. 2. Auflage. Paderborn: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung 2010. Fisher, Helen: Warum wir lieben. Und wie wir besser lieben können. München: Knaur Taschenbuch 2007. Fisher, Helen: Anatomie der Liebe. München: Droemersche Verlagsanstalt 1993. Flaubert, Gustav (1856): Madame Bovary. Aus dem Französischen von Arthur Schurig, mit Anmerkungen von Kai Kilian. Köln: Anaconda Verlag 2012. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 6. Auflage. Leipzig und Wien: Deuticke 1925. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es – Metapsychologische Schriften. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2009. Freund, Alexandra M.; Keil, Andreas: Ein Grund zu bleiben. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 165–188. Fried, Erich: Was bist du mir? Gedichte von der Liebe. Berlin: Wagenbach 2001, S. 67. Gay, Peter: Die Wiederverzauberung der Welt. In: Kemper, Peter; Sonnenschein, Ulrich (Hrsg.): Das Abenteuer Liebe. Bestandsaufnahme eines unordentlichen Gefühls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 21–23. Gessmann, Martin: Emergenz, in: Gessmann, Martin (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 23., vollständig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2009, S. 190–191.

352 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Monografien und Sammelbände Grammer, Karl; Jütte, Astrid u. Fischmann, Bettina: Der Kampf der Geschlechter und der Krieg der Signale. In: Kanitscheider, Bernulf (Hrsg.): Liebe, Lust und Leidenschaft. Sexualität im Spiegel der Wissenschaft. Stuttgart: Hirzel 1998, S. 9–37. Grammer, K.; Keki, V.; Striebel, B.; Atzmüller, M.; Fink, B.: Bodies in motion: a window to the soul. In: Voland, E.; Grammer, K. (Hrsg.): Evolutionary Aesthetics. Heidelberg/ Berlin/ New York: Springer 2003, S. 295–324. Güzeldere, Güven: Is Consciousness the Perception of What Passes in One’s Own Mind? In: N. Block, Owen Flanagan, G. Güzeldere (Hrsg.): The Nature of Consciousness – Philosophical Debates. Massachusetts: Institute of Technology 1997, S. 789–805. Harris, Helen: Human Nature and the Nature of Romantic Love. Santa Barbara: University of California 1995. Hartmann, Nicolai: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. 5. Auflage. Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1965. Heckmann, Heinz-Dieter: Der Repräsentationalismus als Erwiderung auf das Argument unvollständigen Wissens. Einleitung. In: Heckmann, Heinz-Dieter; Walter, Sven (Hrsg.): Qualia. Ausgewählte Beiträge. 2., überarbeitete Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 311–325. Hegel, Georg W. F.: Werke. Band 10, zweiter Teil. Berlin: Duncker und Humblot Verlag 1837. Hermanni, Friedrich: Das Böse – Eine Theoriegeschichte. In: Wetz, Franz Josef (Hrsg.): Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2008 (= Kolleg Praktische Philosophie, Band 1), S. 65–96. Hume, David nach Tweyman, Stanley: Scepticism and belief in hume’s dialogues concerning natural religion. Boston/ Dordrecht/ Lancester: Martinus Nijhoff Publishers 1986. Huxley, Thomas (1874): On the Hypothesis that Animals are Automata. In: Beakley, Brian; Ludlow, Peter (Hrsg.): The Philosophy of Mind – Classical Problems, Contemporary Issues. Massachusetts: Institute of Technology 1992, S. 133–136. Jaegwon, Kim: Supervenience and Mind: Selected Philosophical Essays. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press 1995 (= Cambridge Studies in Philosophy). Kanitscheider, Bernulf: Das hedonistische Manifest. Stuttgart: Hirzel Verlag 2011. Kierkegaard, Søren (1841): Der Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Übersetzt von Wilhelm Rütemeyer. München: Chr. Raiser Verlag 1929. Kierkegaard, Søren (1844): Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum est. 3. Auflage. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1991 Kierkegaard, Søren (1849): Gesammelte Werke. Die Krankheit zum Tode. Jena: Eugen Diedrichs Verlag 1911. Kopernikus: De revolutionibus orbium coelestium (Die Umschwünge der himmlischen Kreise), gedruckt 1543 in Nürnberg. Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 1962.

353 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Literatur Lampert, Ada: The Evolution of Love. Westport, Connecticut: Praeger 1997. Laplace, Pierre-Simon nach Du Bois-Reymond, Emil: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträthsel. Zwei Vorträge. Zehnter Abdruck. Hamburg: tredition Verlag 1872, S. 15. Lewis, Clarence Irving (1929): Mind and the World Order – Outline of the theory of knowledge. Mineola: Dover Publications. Inc. 1956. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1714): Monadologie. Übersetzt und herausgegeben von Hartmut Hecht. Stuttgart: Reclam Verlag 2008. Locke, John (1690): Versuch über den menschlichen Verstand. Buch I u. II. In: Philosophische Bibliothek. Band 75. Hamburg: Meiner Verlag 2000. Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 12. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2012. Luhmann, Niklas (1969): Liebe als Passion. Übung SS 1969. In: Kieserling, André (Hrsg.): Liebe. Eine Übung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2008. Mahlmann, Regina: Liebe im 19. Jahrhundert. In: Kemper, Peter; Sonnenschein, Ulrich (Hrsg.): Das Abenteuer Liebe. Bestandsaufnahme eines unordentlichen Gefühls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 24–41. Marquard, Odo: Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie. Herausgegeben von Franz Josef Wetz. Stuttgart: Reclam Verlag 2013. McGinn, Colin: Consciousness and its objects. Oxford: Oxford University Press 2004. Mehrabian, Albert: Silent messages. Belmont/ Californien: Wadsworth Publishing Company 1971. Metzinger, Thomas: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung. In Metzinger Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 424–475. Metzinger, Thomas: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV: Das phänomenale Selbst und die Perspektive der ersten Person. Einleitung. In: Metzinger Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 421–423. Metzinger, Thomas: Qualia V: Ontologie des Bewusstseins. Einleitung. In Metzinger Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 177–178. Metzinger, Thomas: Funktionalismus und Bewusstsein I: Fehlende und invertierte Qualia. Einleitung. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 251–252. Metzinger, Thomas: Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009. Miller, Geoffrey F.: Die sexuelle Evolution. Partnerwahl und die Entstehung des Geistes. Heidelberg: Sepektrum 2001. Money, John: Lovemaps – Clinical Concepts of Sexual/Erotic Health and Pathology, Paraphilia and Gender Transposition in Childhood, Adolescence, and Maturity. New York: Irvington 1986.

354 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Monografien und Sammelbände Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Fragmente 1884–1885. Band 5. Hamburg: tredition Verlag 2012. Perper, Timothy: Sex Signals. The Biology of Love. Philadelphia: ISI Press 1985. Pfeifer, Wolfgang: Lieb, in: Pfeifer, Wolfgang (Hrsg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 798– 799. Platon: Symposion. In: Wolf, Ursula (Hrsg.): Platon. Sämtliche Werke. Band 2. Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. 33. Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2011 (= rowohlts enzyklopädie), S. 41–101. Platon: Phaidros. In: Wolf, Ursula (Hrsg.): Platon. Sämtliche Werke. Band 2. Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. 33. Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2011 (= rowohlts enzyklopädie), S. 543–609. Platon: Phaidon. In: Wolf, Ursula (Hrsg.): Platon. Sämtliche Werke. Band 2. Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. 33. Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2011 (= rowohlts enzyklopädie), S. 103–184. Platon: Lysis. In: Wolf, Ursula (Hrsg.): Platon. Sämtliche Werke. Band 2. Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. 33. Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2011 (= rowohlts enzyklopädie), S. 13–36. Proust, Marcel: Eine Liebe Swanns. Aus dem Französischen von Eva RechelMertens. München: Lizensausgabe der Süddeutschen Zeitung 2004. Putnam, Hilary (1967): The nature of mental states. In: Beakley, Brian; Ludlow, Peter (Hrsg.): The Philosophy of Mind – Classical Problems, Contemporary Issues. Massachusetts: Institute of Technology 1992, S. 51–59. Revonsou, Antti: Wie man Bewusstsein in der kognitiven Neurowissenschaft ernst nehmen kann. In: Metzinger, Thomas (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Band 1: Phänomenales Bewusstsein. 2. Auflage. Paderborn: mentis Verlag 2009, S. 505–527. Roth, Gerhard: Sexualität, Verliebtsein und Liebe. In: Kemper, Peter; Sonnenschein, Ulrich (Hrsg.): Das Abenteuer Liebe. Bestandsaufnahme eines unordentlichen Gefühls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 219–228. Russell, Bertrand (1927): The Analysis of Matter. Nottingham: Spokesman Books 2007. Röttger-Rössler, Birgit: Die kulturelle Modellierung des Gefühls. Ein Beitrag zur Theorie und Methodik ethnologischer Emotionsforschung anhand indonesischer Fallstudien. Münster: LiT Verlag 2004 (= Göttinger Studien zur Ethnologie Bd. 13) Röttger-Rössler, Birgit: Kulturen der Liebe. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 59–80. Scheiner, Elisabeth: Über die »Lieblosigkeit« der Biologie. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 35–58.

355 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Literatur Schenk, Herrad: Freie Liebe – wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe. München: Beck Verlag 1987. Schlegel, Friedrich (1799): Lucinde. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1984. Schmidt-Salomon, Michael; Voland, Eckart: Die Entzauberung des Bösen. In: Wetz, Franz Josef (Hrsg.): Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2008 (= Kolleg Praktische Philosophie, Band 1), S. 97–123. Schneider, Elisabeth; Fischer, Julia: Emotion Expression: The Evolutionary Heritage in the Human Voice. In: Welsch, Wolfgang; Singer, Wolf u. Wunder, André (Hrsg.): Interdisciplinary Anthropology – Continuing Evolution of Man. Berlin: Springer Verlag 2011, S. 105–129. Shakespeare, William: Troilus and Cressida. In: Delius, Nicolaus (Hrsg.): Shakespeare’s Werke. Zweiter Band. Eberfeld: Friedrichs-Verlag 1855, S. 9–128. Spree, Axel: Agape, in: Wulff, D. Rehfus (Hrsg.): Handwörterbuch Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 240. Stendhal: Über die Liebe. In: Buchholz, Kai (Hrsg): Liebe. Ein philosophisches Lesebuch. München: Wilhelm Goldmann Verlag 2007, S. 85–94. Stendhal: Rot und Schwarz. Aus dem Französischen von Arthur Schurig. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Verlag 2006. Stone, Lawrence: Passionate attachments in the West in historical perspective. In: Gaylin, W.; Person, E. (Hrsg.): Passionate attachments. New York: Free Press 1988, S. 15–26. Tennov, Dorothy: Love and Limerence. Maryland: Scarborough House 1979. Tucholsky, Kurt: Augen in der Großstadt. In: Exenberger, Hans: Kurt Tucholsky lebt … : Ein heiter-besinnliches Schmunzelbuch mit Tiefgang. 1. Band. Hamburg: Mein Buch oHG Hamburg 2006, S. 21–22. Voland, Eckart: Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz. 4. Auflage. Berlin Heidelberg: Springer Spektrum Verlag 2013. Vollmer, Gerhart: Der Turm von Hanoi – Evolutionäre Ethik. In: Wetz, Franz Josef (Hrsg.): Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2008 (= Kolleg Praktische Philosophie, Band 1), S. 124–151. Von Goethe, Johann Wolfgang (1774): Die Leiden des jungen Werther. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart: Reclam Verlag 2001. Von Goethe, Johann Wolfgang (1809): Die Wahlverwandtschaften. Köln: Anaconda Verlag 2008. Von Goethe, Johann Wolfgang: Goethes sämtliche Werke in vierzig Bänden. Band 22. Cotta’scher Verlag 1840. Wagner, Richard (1865): Tristan und Isolde. Herausgegeben von Egon Voss. Stuttgart: Reclam Verlag 2003. Walter, Henrik: Liebe im Scanner. In: Röttger-Rössler, Birgit; Engelen, Eva Maria (Hrsg.): »Tell me about Love«. Kultur und Natur der Liebe. Paderborn: mentis Verlag 2006, S. 81–97. Wedekind, Claus: Body odours and body odour preferences in humans. In: Dubar, Robin I. M. (Hrsg.): Oxford handbook of evolutionary psychology. Oxford: Oxford University Press 2007, S. 315–320. Weil, Simone: Das Unglück und die Gottesliebe. München: Kösel Verlag 1953. Zetterberg, Hans L.: The secret ranking (1966). In: Plummer, Ken (Hrsg.): Sexualities. Critical concepts in sociology. Volume II. Some Elements for an

356 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Zeitschriftenartikel Account oft the Social Organization of Sexualities London: Taylor & Francis Group 2002, S. 242–257.

Zeitschriftenartikel Aron, Arthur; Fisher, Helen; Mashek, Debra J.; Strong, Greg; Li, Haifang u. Brown, Lucy L.: Reward, Motivation, and Emotion Systems Associated With Early-Stage Intense Romantic Love. In: Journal of Neurophysiology 94 (2005), S. 327–337. Aron, Arthur; Fisher, Helen, Brown, Lucy L.: Romantic Love: An fMRI Study of a Neural Mechanism for Mate Choice. In: The Journal of Comparative Neurology 493 (2005), S. 58–62. Ambady, Nalini; Rosenthal, Robert: Thin Slices of Expressive Behavior as Predictors of Interpersonal Consequences: A Meta-Analysis. In: Psychological Bulletin 111 (1992), 2, S. 256–274. Ambady, Nalini; LaPlante, Debi; Nguyen, Thai; Rosenthal, Robert, Chaumeton, Nigel u. Levinson, Wendy: Surgeons’ tone of voice: A clue to malpractice history. In: Surgery 132 (2002), 1, S. 5–9. Atzmüller, M.; Grammer, K.: Biologie des Geruchs: Die Bedeutung von Pheromonen für Verhalten und Reproduktion. In: Speculum – Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe 18 (2000), 1, S. 12–18. Bartels, Andreas; Zeki, Semir: The neural basis of romantic love. In: Neuroreport 11 (2000), 17, S. 3829–3834. Block, Ned: Troubles with Functionalism. In: Goldman, Alvin I. (Hrsg.): Readings in philosophy and cognitive science. Cambridge/Massachussetts/London: The MIT Press 1993, S. 231–254. Block, Ned; Stalnaker, Robert: Conceptual Analysis, Dualism, and the Explanatory Gap. In: The Philosophical Review 108 (1999), 1, S. 1–46. Buss, David M.: Sex differences in human mate preferences: Evolutionary hypotheses tested in 37 cultures. In: Behavorial and Brain Sciences 12 (1989), S. 1–49. Churchland, Paul: Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes. In: Journal of Philosophy 78 (1981), 2, S. 67–90. Cowley, J. J.; Brooksbank, B. W. L.: Human exposure to putative pheromones and changes in aspects of social behaviour. In: Journal of Steroid Biochemistry Molecular Biology 39 (1991), 4B, S. 647–659. Cutler, W. B., Preti, G., Krieger, A., Huggins, G. R., Garcia, C. R., Lawley, R. J.: Human axillary secretions influence women’s menstrual cycle: the role of donor extract from men. In: Hormones Behavior 20 (1986), S. 463–473. Fischer, Edward F.; Jankowiak, William R.: A Cross-Cultural Perspektive On Romantic Love. In: Ethonology 31 (1992), 2, S. 149–155. Filsinger, E. E.; Monte W. C.: Sex history, menstrual cycle, and Psychophysical Ratings of Alpha Androstenone, a Possible human sex pheromone. In: Journal of Sex Research 22 (1986), S. 243–248.

357 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Literatur Fink, Bernhard; Neave, Nick; Manning, John T.; Grammer, Karl: Facial symmetry and judgements of attractiveness, health and personality. In: Personality and Individual Differences 41 (2006), S. 491–499. Fischer, Edward F.; Jankowiak, William R.: A Cross-Cultural Perspektive On Romantic Love. In: Ethonology 31 (1992), Nr. 2, S. 149–155. Gebauer, Jochen E.; Leary, Mark R.; Neberich, Wiebke: Unfortunate first names: Effects of name- based relational devaluation and interpersonal neglect. In: Social Psychological and Personality Science 3 (2012), 5, S. 590–596. Gingrich, B.; Liu, Y.; Cascio, C.; Wang, Z.; Insel, T. R.: Dopamine D2 receptors in the nucleus accumbens are important for social attachment in female prairie voles (Microtus ochrogaster). In: Behavorial Neuroscience (2000), 114, S. 173–183. Grammer, Karl; Kruck, Kirsten B. u. Magnusson, Magnus S.: The courtship dance: Patterns of nonverbal synchronization in opposite-sex encounters. In: Journal of Nonverbal Behavior 22 (1989), 1, S. 3–29. Grammer, Karl: 5-α-androst-16en-3α-on: A Male Pheromone? A Brief Report. In: Ethology and Sociobiology 14 (1993), 3, S. 201–208. Grammer, Karl; Kruck, Kirsten; Juette, Astrid; Fink, Bernhard: Non-verbal behavior as courtship signals: the role of control and choice in selecting partners. In: Evolution and Human Behavior 21 (2000), S. 371–390. Grammer, Karl; Fink, Bernhard; Møller, Anders P.; Thornhill, Randy: Darwinian aesthetics: sexual selection and the biology of beauty. In: Cambridge Philosophical Society 78 (2003), S. 385–407. Grammer, Karl; Renninger, LeAnn; Fischer, Bettina: Disco clothing, female sexual motivation, and relationship status: Is she dressed to impress? In: Journal of Sex Research, 41 (2004), 1, S. 66–74. Grammer, Karl; Finka, Bernhard; Neave, Nick: Human pheromones and sexual attraction. In: European Journal of Obstetrics & Gynecology and Reproductive Biology 118 (2005), 2, S. 135–142. Greer, Arlette E.; Buss, David M.: Tactics for Promoting Sexual Encounters. In: The Journal of Sex Research 31 (1994), 3, S. 185–201. Jackson, Frank: Epiphenomenal Qualia. In: The Philosophical Quarterly 32 (1982), 127, S. 127–136. Jackson, Frank: Mind and Illusion. In: Royal Institute of Philosophy Supplement 53 (2003), S. 251–271. Jakob, Suma; McClintock, Martha; Zelano, Bethanne u. Ober, Carole: Paternally inherited HLA alleles are associated with women’s choice of male odor. In: Nature genetics 30 (2002), 2, S. 175–179. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift (1784), 12, S. 481–494. Kanitscheider, Bernulf: Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele. Grundzüge einer naturalistischen Philosophie und Ethik. In: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 1. 2003, S. 33–34. Langlois, Judith H.; Roggmann, Lori A.: Attractive Faces Are Only Average. In: Psychological science 1 (1990), 2, S. 115–121.

358 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Zeitschriftenartikel LaPlante, Debi; Ambady, Nalini: On How Things Are Said – Voice Tone, Voice Intensity, Verbal Content, and Perceptions of Politeness. In: Journal of Language and Social Psychology 22 (2003), 4, S. 434–441. Lenochová, Pavlína; Vohnoutová, Pavla; Roberts, S. Craig; Oberzaucher, Elisabeth; Grammer, Karl; Havlíček, Jan: Psychology of Fragrance Use: Perception of Individual Odor and Perfume Blends Reveals a Mechanism for Idiosyncratic Effects on Fragrance Choice. In: PLoS ONE 7 (2012), 3, S. 1–10. Levine, Joseph: Materialism and Qualia: The Explanatory Gap. In: Pacific Philosophical Quarterly 64 (1983), 4, S. 354–361. Marazziti, Donatella; Akiskal, Hagop S.; Rossi, Allesandra; Cassano, Giovanni B.: Alteration of the platelet serotonin transporter in romantic love. In: Psychological medicine 29 (1999), 3, S. 741–745. Miller, Geoffrey; Tybur, Joshua M. u. Jordan, Brent D.: Ovulatory cycle effects an tip earnings by lap dancers: economic evidence for human estrus? In: Evolution and human behavior 28 (2007), S. 375–381. Moore, Monica M.: Non-verbal courtship patterns in women: context and consequences. Ethology and Sociobiology 6 (1985), 4, S. 237–247. Moore, Monica M.: Human nonverbal courtship behavior – A brief historical review. In: Journal of Sex Research 47 (2010), 2–3, S. 171–180. Nagel, Thomas: What is it like to be a bat? In: The Philosophical Review LXXXII 83 (1974), 4, S. 435–450. Oberzaucher, E.; Katina, S.; Schmehl, S. F.; Holzleitner, I. J.; Mehu-Blantar, I.; Grammer, Karl: The Myth of hidden ovulation: Shape and texture changes in the face during the menstrual cycle. In: Journal of Evolutionary Psychology 10 (2012), 4, S. 163–175. Papineau, David: Mind the Gap. In: Philosophical Perspectives 12, Language, Mind and Ontology (1998), S. 373–388. Pitkow, Lauren J.; Sharer, Catherine A.; Ren, Xianglin; Insel, Thomas R.; Terwilliger, Ernest F.; Young, Larry J.: Facilitation of affiliation and pair-bond formation by vasopressin receptor gene transfer into the forebrain of a monogamous vole. In: Journal of Neuroscience 21 (2001), 18, S. 7392–7396. Povinelli, D. J.; Vonk, J.: Chimpanzee minds: suspiciously human? In: Trends in Cognitive Sciences 7 (2003), 4, S. 157–160. Rantala, Markus J.; Coetzee, Vinet; Moore, Fhionna R.; Skrinda, Ilona; Kecko, Sanita; Krama, Tatjana; Kivleniece, Inese; Krams, Indrikis: Adiposity, compared with masculinity, serves as a more valid cue to immunocompetence in human mate choice. In: Proceedings of the Royal Society of London B 280 (2013), 1751, S. 1–6. Renninger, Lee Ann.; Wade, T. Joel u. Grammer, Karl: Getting the female glance: Patterns and consequences of male nonverbal behavior in courtship contexts. In: Evolution and Human Behaviour 25 (2004), S. 416–431. Roberts, S. Craig; Havlicek, Jan; Flegr, Jaroslav; Hruskova, Martina; Little, Anthony C.; Jones, Bemedict C.; Oerrett, David I.; Petrie, Marion: Female facial attractiveness increases during the fertile phase of the menstrual cycle. In: Proceedings of the Royal Society (2004), B 271, S. 270–272.

359 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .

Literatur Rudolph, Udo; Böhm, Robert; Lummer, Michaela: Ein Vorname sagt mehr als 1000 Worte – Zur sozialen Wahrnehmung von Vornamen. Zeitschrift für Sozialpsychologie 38 (2007), S. 17–31. Schoemaker, Sydney: Functionalism and Qualia. In: Philosophical Studies 27 (1975), S. 291–315. Searle, J. R.: Minds, brains, and programs. In: Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), S. 417–457. Seeley, B. A.: What is love, medically speaking? In: Sonoma County Physician (1999). Thornhill, Randy; Gangstad, Steven W.: The scent of symmetry: a human sex pheromone that signals fitness? In: Evolution and Human Behavior 20 (1999), S. 175–201. Tomasello, M.; Call, J.; Hare, B.: Chimpanzees versus humans: it’s not that simple. In: Trends in Cognitive Sciences 7 (2003), 4, S. 239–240. Vollmer, Gerhard: Was ist Naturalismus? Zwölf Thesen zur Begriffsverschärfung. In: Logos, N.F. I (1994), S. 200–219. Wang, Zuoxin; Ferris, Craig F.; DeVries, Geert J.: The role of septal vasopressin innervation in paternal behavior in prairie voles (Microtus ochrogaster). In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 91 (1994), 1, S. 400–404. Wedekind, Claus; Seebeck, Thomas; Bettens, Florence u. Paepek, Alexander J.: MHC-dependet mat preferences in humans. In: Proceedings of the Royal Society: Biological Sciences (1995), 260, S. 245–249. Wobst, Birgit; Zavazava, Nicholas; Luszyk, Dagmar; Lange, Katrin; Ussat, Sandra; Eggert, Frank; Ferstl, Roman u. Müller-Ruchholtz, Wolfgang: Molecular forms of soluble HLA in body fluids: potential determants of body odor cues In: Genetica (1998), 104, S. 275–283. Young, Larry J.; Wang, Zuoxin; Insel, Thomas R.: Neuroendocrine bases of monogamy. In: Trends in Neurosciences 21 (1998), 2, S. 71–75. Young, Larry J.; Nilsen, Roger; Waymire, Katrina G.; MacGregor, Grant R.; Insel Thomas R.: Increased affiliative response to vasopressin in mice expressing the V1a receptor from a monogamous vole. In: Nature (1999), 400, S. 766–768.

360 https://doi.org/10.5771/9783495824078 .