Liebe Macht Kunst: Künstlerpaare im 2. Jahrhundert 9783412319526, 341208400X, 9783412084004

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Liebe Macht Kunst: Künstlerpaare im 2. Jahrhundert
 9783412319526, 341208400X, 9783412084004

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RENATE B E R G E R (HG.)

LIEBE MACHT KUNST

LIEBE MACHT KUNST Künstlerpaare im 20. Jahrhundert

herausgegeben von RENATE BERGER

§ 2000 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Förderung der Universität der Künste Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme LIEBE M A C H T KUNST : Künstlerpaare im 20. Jahrhundert / hrsg. von Renate Berger. Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 2000 ISBN 3-412-08400-X

© 2000 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln, Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Telefon 0221/91390-0, Fax 0221/91390-11, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten Umschlagabbildung: Frangoise Gilot & Picasso 1952, Foto: Robert Doisneau, Agentur Focus Gestaltung: Karin Krause Satz und Lithographie: Satzpunkt Bayreuth, 95444 Bayreuth Druck und Bindearbeiten: Wilhelm Röck Graph. Betriebe, Weinsberg Printed in Germany ISBN 3-412-08400-X

Inhalt

Vorwort und Dank

IX

Leben in der Legende R E N A T E BERGER

1

MENAGE Ä TROIS DAS PAAR U N D DIE K U N S T DEUTSCHLAND

„...wird es mir eine Freude sein, Ihnen Ihren eigenen Weg zu zeigen" Irma Stern und Max Pechstein IRENE BELOW

35

Eine „symbiotische Arbeitsgemeinschaft" Lucia und Läszlo Moholy-Nagy M E R C E D E S VALDIVIESO

63

Doppelspiele - Uber die fotografische Zusammenarbeit von Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach KATHARINA SYKORA

85

FRANKREICH

Nicht ohne sie ... aber ohne ihn schon gar nicht Dora Maar und Pablo Picasso GABRIELE W E R N E R

107

Metamorphosen der Sinnlichkeit Leonora Carrington und Max Ernst CHRISTINE SCHWAB

127

Inhalt

V

RUSSLAND

Eine „zweistellige Formel" des russischen Neoprimitivismus Natalija Goncarova und Michail Larionov ADARAEV

155

Rollenspiele und der Ernst der (Lebens-) Kunst Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova ADARAEV

191

USA

Medium - Geschlecht - Moderne Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz INES LINDNER

225

Das Paar, das nie eins war: Lee Miller und Man Ray (1929-1932) LINDA HENTSCHEL

247

JAPAN

Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne Okamoto Kanoko und Okamoto Ippei Takamura Chieko und Takamura Kotaro MICHIKOMAE

261

ZWEISAM DAS KÜNSTLERPAAR ALS BILDTHEMA

Leben wie unter dem „Rasiermesser" Marta Hegemann und Anton Räderscheidt HILDEGARD REINHARDT

283

„Es bleibt nur dies: die eine Hand, dies eine Herz" Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen (1928-1931) RENATE BERGER

VI

Inhalt

323

BALANCEN DER MODERNE

Modellhafte Paargemeinschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts KAROLINE KÜNKLER

355

Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft Nutzen, Kosten, Geschlechtermuster CHRISTIANESCHMERL

387

Das Sinnbild Zwilling Kunst, Kreativität und Autorschaft von Künstlerpaaren heute C A R O L A MUYSERS

431

Autorinnen

445

Inhalt

VII

Vorwort und Dank

„I am not talking to you now through the medium of custom, conventionalities, nor even of mortal flesh: it is my spirit that adresses your spirit; just as if both had passed through the grave, and we stood at God's feet, equal - as we are!" lässt Charlotte Bronte Jane Eyre in ihrem gleichnamigen Roman zu Mr. Rochester sagen - 1847. Das ist lange her. Hinter diesen Worten verbirgt sich ein Traum. Er wird im 20. Jahrhundert unter modernen Bedingungen weitergeträumt. Das Paar - Nukleus jeder Verbindung, bedroht von der Zeit, von wechselnden Konjunkturen der Intimität und Identität - ist zum Prüfstein von Ideen geworden, die in der Literatur, in der Kunst eine Existenz besonderer Art führen als Schatten und Widerpart des Lebens. Dem Künstlerpaar als Sonderfall einer Asymmetrie, die die Gleichrangigkeit von zwei Personen schon sprachlich torpediert, kommt insofern Bedeutung zu, als es über Darstellungsmöglichkeiten verfügt, die die Deutung bis heute herausfordern. Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen erschienen (darunter die von Claudia Schmölders herausgegebene Reihe bei Rowohlt), gibt es erst wenige Veröffentlichungen, die sich speziell mit Künstlerpa.a.ren auseinandersetzen. Allerdings existieren inzwischen - umfangreiche Einzeluntersuchungen wie die von Gisela Kleine über Gabriele Münter und Wassily Kandinsky als Kombination von Bio- und Monographie von 1984, die von Michel Snodin und Elisabet Stavenow-Hidemark herausgegebene Studie über Carl und Karin Larsson von 1998 oder Karoline Hilles jüngste Publikation über Hannah Hoch und Raoul Hausmann (2000) - Sammelbände, in denen Paare aus dem Bereich der Literatur, der Kunst und Wissenschaft vorgestellt werden wie in dem von

Whitney Chadwick und Isabelle de

Courtivron herausgegebenen Band „Significant Others - Creativity & Intimate Partnership" von 1993 oder das Sonderheft „Eins und eins - das macht zwei? Kritische Beiträge zum Künstlerpaar" von Frauen Kunst Wissenschaft, Juni 1998 - Ausstellungen wie die 1985 in der Schweiz von Sandor Kuthy initiierte Reihe „Künstlerpaare - Künstlerfreunde, Dialogues d'artistes - „resonances", in der es u. a. um Camille Claudel und Auguste Rodin, Sophie Taeuber und Hans Arp, Sonia und Robert Delaunay ging, oder die 1994 vom Jenaer Kunstverein ausgerichtete Vorstellung zeitgenössischer Künstlerpaare Vorwort und Dank

IX

- journalistische Beiträge wie der von James Lord über Pablo Picasso und Dora Maar von 1994 oder die beiden im Kunstforum international erschienenen Bände „Künstlerehen" (1978) und „Künstler-Paare" (1990). Was fehlt, ist ein speziell Künstlerpaaren gewidmeter Band, der nicht nur Einzelfälle in der Art von Phyllis Roses „Parallel Lives" (1984) vorstellt, sondern sich da-rüber hinaus mit Arbeits- und Beziehungsmustern von Künstlern und Künstlerinnen, mit dem Künstlerpaar als Thema der Kunst, vor allem aber mit übergreifenden Fragestellungen beschäftigt und einen Beitrag zur Mentalitäts-, zur Kunst- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts leisten kann. Nach einer Einführung in das Thema ist der erste Teil Künstlerpaaren unterschiedlicher kultureller Herkunft aus Deutschland, Frankreich, Russland, den USA und Japan gewidmet. Dabei handelt es sich nicht nur um erotische, sondern auch um freundschaftliche Verbindungen, die ein breites Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Im zweiten Teil geht es um das Paar als Gegenstand der Kunst, um Künstlerpaare, bei denen sich nur der Mann oder die Frau mit Paarkonstellationen auseinandersetzt, ohne dass eine spürbare Resonanz bei dem jeweiligen Gegenüber festzustellen ist. Im dritten Teil werden die über den Einzelfall hinausreichenden Voraussetzungen kreativer Freundschaften, Symbiosen oder rein professioneller Partnerschaften über einen größeren Zeitraum hinweg zum Thema. Hier ist auch der Ort für übergreifende Fragestellungen, vor allem aber für eine Bilanz, wie sie Christiane Schmerl in ihrem um Paare aus Wissenschaft und Literatur erweiterten Beitrag unter dem Titel „Kosten, Nutzen, Geschlechtermuster" gezogen hat. Freundschaftliche oder erotische Verbindungen ziehen nicht automatisch künstlerische Duldung, wechselseitige Inspiration und Förderung oder gar Zusammenarbeit nach sich. Doch immer stellen sie eine Herausforderung dar, da Menschen sich selten im gleichen Rhythmus entwickeln. Diese Herausforderung kann ignoriert oder angenommen werden; man kann ihr unterschiedlich begegnen: in der Kunst selbst oder in der Schrift, ζ. B. in Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts w a r es Rainer Maria Rilke, der als entschiedener Fürsprecher zweier, gleichsam nebeneinander hausender Einsamkeiten auftrat, wobei Distanz und wechselseitiger Respekt die Pfeiler für eine immer wieder neu zu schlagende Brücke zwischen den Beteiligten bilden. Eine ähnlich differenzierte Stellungnahme lässt für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts m. W . auf sich w a r ten; doch die Idee der Unvereinbarkeit sexueller, generativer und künstlerischer Impulse im Rahmen einer - wie immer gearteten - Verbindung gewinnt in der Bildwelt der zwanziger Jahre neue Brisanz - so bei Anton Räderscheidt, dessen Serie einsamer Paare mit Rilkes Idee von einer zeitweisen „Brücke" bricht, und bei Hanna Nagel, die ihre Vorstellungen bereits als Studentin in faszinierender Vorausschau durchspielt. X

Vorwort und Dank

Alle Paare sind auf ein Drittes bezogen. Dieses Dritte nimmt den Charakter einer unumgänglichen Instanz an; es kann die Kunst, die Welt, eine Person, ein Vorhaben, ein Traum, Ideal oder - wie Katharina Sykora für Grete Stern und Ellen Auerbach betont - ein Spiel sein. Ohne dies Dritte ist kein Paar denkbar - und zwar unabhängig davon, ob es sich um hetero- oder homosexuelle, freundschaftliche oder rein professionelle Bindungen handelt. Linda Hentschel zeigt, wie eine Künstlerin selbst zur Dritten werden kann, durch die hindurch oder über die hinweg der eigentliche Rangabgleich zwischen Männern stattfindet und homosoziale Bindungen gestärkt werden. Für Klaus Theweleit ist ein künstlerischer Neubeginn, ein Wechsel der Arbeitsfelder bei Männern fast immer mit einem Wechsel der Muse oder Zuarbeiterin verbunden. Die „Tendenz zur seriellen Reihenbildung" bestätigt sich vielfach (wenn auch nicht ausschließlich, wie man bei Hannah Hoch im Hinblick auf Raoul Hausmann und Til Brugman erkennen kann) am Beispiel von Künstlern, während Künstlerinnen die Tendenz erkennen lassen, statt der eigenen Kunst ihre Gefährten als „Projekt" zu behandeln und deshalb für längere Zeiträume planen. Ein männliches Äquivalent zur Muse, einen befreienden „Personalwechsel" wie im männlichen Fall scheint es für Künstlerinnen entweder gar nicht oder nur als Verwitwete zu geben. Falls die Inspirationskraft eines Mannes doch hinreicht, wird sie verborgen oder symbolisch verfremdet. Fast immer kommt es zu Begegnungen und interessanten Kollisionen, die ohne die Notwendigkeit, sich mit-, neben- oder entfernt von einander ins Benehmen zu setzen, nie zustandegekommen wären, wobei Künstlerinnen eher in der Bildwelt von Männern, Künstler eher in der Literatur von Frauen Spuren hinterlassen haben. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein scheinen Künstler das Paarthema lieber darzustellen als zu verbalisieren, während Künstlerinnen es eher verbalisieren als darstellen. Dass eheliche Verhaltensmuster nicht an die Ehe gebunden sind und ein allmählich entstehendes Gewebe an künstlerischen Verbindlichkeiten, Verknüpfungen oder Abgrenzungen zwischen zwei Personen durchdringen, oft sogar auf Kosten der Kunst (meist der Partnerin) dominieren, lässt - wie Ines Lindner zeigt - die Bedeutung des Mediums bzw. der Medien, in denen sich das Paar artikuliert, klar hervortreten: Hier finden sich die Schnittstellen für Phänomene, die als „gendered creativity" noch einer genaueren Betrachtung bedürfen. Nicht nur die Spurensicherung, auch sämtliche Überlegungen zur (Re-) Konstruktion von erdachten und gelebten Mustern, wie sie Ada Raev für die russische Avantgarde oder Gabriele Werner am Beispiel von Dora Maar und Pablo Picasso vorstellen, führen uns immer wieder auf zeitgenössische Kommentare, Wertvorstellungen und Entscheidungen im Hinblick auf die Nachlass- und Werkbetreuung im Umkreis von Archiven, Museen, Ausstellungen zurück: Orte, an denen sich Ideologie im Hinblick auf Künstler und Künstlerinnen materialisiert. Dadurch wird sie überprüfbar. Vorwort und Dank

XI

Mich hat die Vielfalt des Ersehnten und bisweilen auch Verwirklichten ebenso überrascht wie das Vorbeileben an Möglichkeiten, die zum Greifen nahe lagen. Und an Träumen. Doch ganz gleich, ob ein Paar sich begegnet oder verfehlt, erst im WIE verschließen oder öffnen sich Welten: der Sprache - des Bildes und nicht zuletzt der Recherche, denn alle Autorinnen haben ein Abenteuer hinter sich. Schon ihre Erfahrungen, was den Umgang mit weiblichen Nachlässen angeht, könnten einen Band mit (Kriminal-) Geschichten füllen. Mein Dank gilt in erster Linie Dr. Roswitha Terlinden von der Evangelischen Akademie Tutzing, die die vorbereitende Tagung ermöglicht und begleitet hat. Dem Präsidenten der Universität der Künste, Prof. Lothar Romain, und Heidi Langner von der Fakultät Gestaltung danke ich für materielle und ideelle Unterstützung; ohne ihr Engagement hätte sich das Vorhaben in der jetzigen Form nicht verwirklichen lassen. Dr. Carola Muysers und PD Dr. Ada Raev gaben wertvolle Hinweise; Thomas Piper machte sich um die Endredaktion, Katharina Mühlenhardt um die Bildbeschaffung verdient; Irene Fischer-Nagel war von nie nachlassender Geduld und Kooperationsbereitschaft. Ihnen allen sei herzlich gedankt, besonders aber Folker Flier, der wieder einmal für die digitale Logistik gesorgt hat - und die des Lebens. Berlin, im August 2000

XII

Vorwort und Dank

Renate

Berger

Leben in der Legende

RENATE BERGER

Was ist ein Paar? Definitionsversuche erscheinen so fruchtlos wie eine Antwort auf die Frage, was Kunst ist. Ich gehe deshalb davon aus, dass ein Paar bildet, wer als Paar auftritt, dass es sich um eine Frau und einen Mann handeln kann, aber nicht muss was die Kombinations- und Artikulationsmöglicheiten im Hinblick auf eben jenen Faktor erweitert, der den größten Einfluss auf die Paarbildung hat: ein weibliches, ein männliches oder zwischen beiden Formen navigierendes, kurz: ein biologisch kenntliches und halbwegs klassifizierbares Wesen zu sein. Paare fordern zur Legendenbildung heraus. Sie erzählen immer eine Geschichte. Wie von selbst finden sie zur Textur, die für Else Lasker-Schüler und Karl Kraus im Tibetteppich ihren vollkommensten Ausdruck fand: „Meine Seele, die die deine liebet, ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet. Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben. Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit Maschenabertausendweit. Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?" 1 Im Text nimmt das Wort die Stelle der Masche ein. Durch das Verknüpfen von Ereignissen entstehen rhetorische Muster, die der Legende nicht nur „verliebte Farben", sondern Rückhalt geben: Sinn, Struktur, Kohärenz und - eine Zukunft, die sich „maschenabertausendweit" im Grenzenlosen verliert. W o Maschen ein Gewebe bilden, ist die Laufmasche nicht fern. Als Agentin der Auflösung kann sie für vieles stehen: für den Zerfall von Bindungen, für das Vernichten von Material, das Aufschluss über die Beteiligten geben kann. Im Autodafe von Briefen, Tagebüchern, Gemälden durch Dritte oder das Paar selbst können zu LebzeiLeben in der Legende

1

ten oder posthum Korrekturen an gemeinsam „buntgeknüpften Zeiten" stattfinden, die die Nachwelt um so faszinierter zurücklassen, je überzeugender ein Paar seine Legende formuliert oder ins Bild gesetzt hat. Wie entstehen solche Legenden? Aus welchen Elementen setzen sie sich zusammen? Was sichert ihr Uberleben? Welche Bilder formen sich für die Nachwelt? Was ändert sich für eine Künstlerin oder einen Künstler während jener Lebensstrecke, in der beide der Außenwelt als Paar erscheinen? Jeder Mensch muss sich auf eine zweite Person beziehen, um ein Paar zu bilden. Das Paar wiederum ist nicht denkbar ohne Bezug auf ein Drittes: Ich-Du-Wir, wir und die Welt, Er-Sie-Es. Dies Dritte stellt eine flexible Instanz dar, die das Paar als Paar herausfordert. Dabei nimmt es vielerlei Gestalt an: zum Beispiel in der Kunst. Historisch betrachtet, hat das Künstlerpaar eine lange, weitgehend unaufgeklärte Geschichte. Als Motiv ist es in Literatur und Kunst bis heute eine eher vereinzelt auftretende, selten im Zusammenhang kommentierte Erscheinung geblieben. 2 Im 18. bis ins 19. Jahrhundert hinein kreisen Künstlernovelle und -drama um den Konflikt zwischen widersprüchlichen Anforderungen von Kunst und Leben: stets am Beispiel von Männern, die in Protagonistinnen des anderen Geschlechts nicht nur eine Muse oder Zuarbeiterin, sondern auch einen Prüfstein oder eine Gefahr für ihr Wollen und Werden sahen. 3 Und sie kreisen um die Figur des Genies. Die Stilisierung von Künstlern zu Einzelnen und darüber hinaus Einsamen, die alles nur der eigenen Kraft verdanken, hat dazu geführt, dass vampiristische bzw. schmarotzende Züge kaum beachtet, verharmlost oder unterschlagen wurden. Dabei erlaubt der funktional dosierte und differenzierte Kontakt des Künstlers zu Frauen einen Verbrauch an weiblicher Energie, der Mütter, Schwestern, Geliebte, Ehefrauen, Töchter vor aller Augen ebenso drainiert wie Modelle, Ernährerinnen, Mäzeninnen - es ist, als stünde Künstlern ein unerschöpfliches Reservoir an fremder, meist weiblicher Arbeitskraft zur Verfügung. Dennoch hat allein die Muse bescheidene Akzeptanz gefunden. Dem inspirierenden, nicht dem schaffenden weiblichen Menschen wurde hier ein Ghetto für indirekte, dazu eines männlichen Mediums bedürfender Kreativität errichtet, wobei sich bereits das Ergebnis weiblicher Kontrolle entzieht. Auffallend ist, dass selbst die sich als Einzelgänger verstehenden und als große Einzelne, ja Einsame inszenierenden Künstler so gut wie immer von einem Kranz von Zuarbeiterinnen umgeben sind. Zwar ist eine betriebsamer geschützte, von Helferinnen und Helfern umwimmelte „Einsamkeit" als die eines Künstlers, vor allem eines erfolgreichen Künstlers, kaum denkbar; dennoch bleibt - wie wir sehen werden - Einsamkeit ein zentrales Problem für alle, Männer wie Frauen, die ihr künstlerisches Potential entwickeln wollen, und es lohnt sich, danach zu fragen, welche Rolle ihr in kreativen Verbindungen zukommt.

2

Renate Berger

Woher nehmen und nicht stehlen? Was steht an Informationen zur Verfügung, sobald es um Künstlerpaare geht? Dokumente, Nachlässe mit ihrer speziellen Problematik, Beobachtungen und Erinnerungen Dritter, Werke in Museen und Privatsammlungen, eine Position oder Nicht-Position auf dem wechselhaften Kunst- und Museumsmarkt. Vieles ließe sich aufzählen, doch dürfen wir in allen Fällen davon ausgehen, dass wir es bei Künstlerpaaren mit einer unterschiedlich dokumentierten, konstruierten und kommentierten Geschichte zu tun haben. Welche Probleme sich im Hinblick auf die Erforschung des einzelnen und des gemeinsamen Lebens, auf die Rezeption eines männlichen oder weiblichen (Evres stellen, soll an drei Beispielen gezeigt werden.

Charlotte Berend-Corinth (1880-1967) und Lovis Corinth (1858-1925) Der Generationsunterschied zwischen Lovis Corinth und Charlotte Berend (Abb. 1) führte dazu, dass sie als Witwe nicht nur einen Teil seiner schriftlichen Hinterlassenschaft ordnete und publizierte, sondern auch einen umfangreichen Werkkatalog herausgab, der mehr als zehn Jahre ihrer produktivsten Zeit verschlang, eine Grundlage für die museale Bearbeitung legte und den Wert der Exponate steigerte. 4 Obwohl ihr Sohn Thomas eine große Dokumentation über Corinth veröffentlichte, in der neue Informationen über die Malerin Berend auftauchten, gibt es bis heute keine annähernd vergleichbare Grundlage zur Erforschung ihres (Euvres. 5 Die Kränkung, für ihre Lebensleistung im Dienste Corinths in seinen autobiographischen, von Histörchen wimmelnden Hinterlassenschaften mit wenigen Zeilen abgefunden zu werden und dem schreiend vorgebrachten Hinweis des Malers, (mit Ausnahme seines Vaters) nie jemanden geliebt zu haben und stets unglücklich gewesen zu sein, 6 überwindet sie durch das von etlichen Frauen in ähnlicher Situation gewählte Muster des Besserwissens und vermutet hinter männlichem Schweigen oder trotzigem Auftrumpfen einen die weibliche Interpretation des gemeinsamen Lebens bestätigenden Subtext, wobei sich Berend freilich nur auf tiefe und dankbare Blicke des Gatten zu stützen vermag. Ihr verengtes Gesichtsfeld als Malerin, Autorin und Herausgeberin ergibt sich einerseits aus ihrem frühen Status als Schülerin Corinths, andererseits aus dem der Künstlerwitwe. Während sie ihren Einsatz als Modell, Muse, Hausfrau, Mutter, Sekretärin, Pflegerin etc. des zu immer neuen Leistungen inspirierten „Meisters" überdenkt, enthüllt Berend unbeabsichtigt den Groll, auch die Erbitterung des Malers darüber, als Familienvater unablässig produzieren zu müssen. Leben in der Legende

3

Abb. 1 Charlotte Berend-Corinth und Lovis Corinth vor „Das HI. Martyrium" Fotografie, ο.J.

Zwei Erinnerungsbücher bietet sie auf, um der Perspektive ihres alten, verwöhnten, egozentrischen und von Selbstmitleid erfüllten Mannes, der der jungen Künstlerin in seinem Leben lediglich eine Nähr-, Betreuungs- und Satellitenfunktion im Hinblick auf das eigene Schaffen zubilligt, ihre

Interpretation entgegenzusetzen, die be-

stimmte Aussagen oder Handlungen Corinths als nicht so gemeint verharmlost. 7 Da er seinen „Dank" an sie nur widerwillig ausdrücken und sich bloß zu ein paar dürren Zeilen herbeilassen mag, kann diese Kränkung nur durch eins kompensiert werden: Der Gefährte wird allen Ernstes als „Genie" bezeichnet und als solches entschuldet. Entschuldet, nicht entschuldigt, denn ein zäher, von der Autorin durchaus nicht verschwiegener Kleinkrieg durchzieht den Alltag des Paars. Das Mann-FrauGefälle wird durch den Generationsunterschied und die Tatsache, dass Lovis Corinth und die Kaufmannstochter Charlotte Berend sich zunächst als Lehrer und Schülerin begegnen, bekräftigt, um durch eine konventionelle Arbeitsteilung noch vertieft zu werden, und fast scheint es, als dienten Berends kleine Fluchten, die sich 4

Renate Berger

zeitweise in räumlicher Distanz oder Liebschaften, schließlich in einem völligen Zusammenbruch äußern, lediglich dazu, Entlastung von einer nicht permanant erträglichen, aber grundsätzlich bejahten Konstellation zu suchen, die nach Corinths Tod trotz kritischer Untertöne verklärt und nur durch den Fremdkörper der eigenen Arbeit, eigener Ambitionen und Träume irritiert wird. Berends Malerei hat streckenweise U-Boot-Charakter. Sie darf sich nicht störend im gemeinsamen Alltag bemerkbar machen, sondern ist der Nacht oder dem Hausdienst abgerungenen Stunden vorbehalten. Seine Befürchtung, die unvermeidlichen Enttäuschungen einer Künstlerinnenkarriere mittragen zu müssen, hat Corinth schon am Anfang ihrer Verbindung geäußert und Charlotte Berends Betreuungseifer sofort in ihm genehme Bahnen gelenkt.8 Der Walchensee, an dem sie der Familie ein Haus baut, wird von ihm mit Malverbot für seine Frau belegt, ein, wie sich herausstellte, lukrativer Schachzug, von dem sie wenigstens finanziell

profitieren sollte. Es ist eines der letzten

Beispiele in der Kette vergoldeter Kränkungen. Das Binnenverhältnis des Paars setzt den Rahmen für weibliche Kreativität. Ihre Bedingungen bleiben für die Öffentlichkeit undurchschaubar. Äußerlich sind durchaus Erfolge zu verzeichnen: Charlotte Berend hat Aufträge, sie stellt aus, ist Mitglied von Vereinigungen (Abb. 2), macht ihren Einfluss geltend, doch der Kern ihres Bemühens ist auf Corinth und ein Drittes, seinen Erfolg hin verschoben. Auch hier richtet sich die Arbeitsteilung des Paars nach männlichen Bedürfnissen. Die Interpretation dessen, was eine Frau, was ein Mann sei bzw. zu tun habe, eine Genieverehrung ohne Genie steuert noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Umgang mit kreativen Bedingungen und sieht für Künstlerinnen deshalb anders aus als für Künstler. Die Uberblendung von Sex und Gender führt dazu, dass Voraussetzungen künstlerischer Praxis mit „Männlichkeit" harmonieren und mit „Weiblichkeit" kollidieren. Zurück bleibt - eine Muse, die die Bildwelt Corinths in unablässiger Performanz beherrscht und monotonisiert - eine Restauratorin, die Bild um Bild des Verstorbenen der Nachwelt erhält - eine Autorin, die sorgfältig an der Rekonstruktion von „Gemeinsamkeiten" arbeitet und ihre Lebensleistung für Corinth gewürdigt wissen will - eine Witwe, die im Dienst am Verstorbenen aufzugehen scheint, Ausstellung um Ausstellung organisiert und den Marktwert des Nachlasses zu steigern sucht - ein weiblicher Pygmalion, der den selbst geschaffenen Götzen anbetet und einem überalterten, matt gewordenen Geniekult neuen Schwung zu geben sucht, 9 indem sie Demütigungen als Notwendigkeiten erscheinen lässt. Dabei ist fraglich, ob sie ihrem Mann mit dem Werkkatalog nur einen Gefallen erwies. Corinths Fleiß, das quantitative Ausmaß, aber auch die fatalen Schwächen seines CEuvres L e b e n in der L e g e n d e

5

Abb. 2

Vorstand der Berliner Secession. Fotografie, o.J.

werden ebenso deutlich wie die Irritation des Malers im Hinblick auf sein omnipräsentes, sich stets in neuen Posen windenden Modell: Charlotte Berend. Die Asymmetrie einer Paarkonstellation dieses Typus zeigt sich vom ersten Treffen an und wird durch ein Geflecht von ideellen und materiellen Interessen begünstigt, die dazu führen, dass für die Rekonstruktion des männlichen Parts eine üppige, durch Kataloge, Dokumentationen, Ausstellungen und Publikationen auch inhaltlich fundiertere und ständig aktualisierte Basis vorliegt, während die Rekonstruktion des weiblichen Parts nicht nur durch (Kriegs-)Verluste, Vernachlässigung oder Desinteresse, sondern auch durch das Fehlen einer professionellen Nachlassbetreuung erschwert wird. Auch methodisch gibt es Probleme, wenn ein paar Bemerkungen des Mannes über seine Frau, die sich dazu noch auf den Betreuungs- und Versorgungsaspekt beschränken (wobei manche nur durch Charlotte Berend selbst überliefert sind) gleich mehrere Publikationen, darunter ein in Jahren erarbeiteter, fulminanter Werkkatalog, der Witwe gegenüberstehen, die sowohl das männliche Lebenswerk als auch ihre Interpretation des Zusammenlebens geltend machen will. 6

Renate Berger

Welten trennen das, was einem Künstler im Hinblick auf eine Künstlerin erwähnenswert scheint, von dem, was einer Künstlerin im Hinblick auf einen Künstler im Gedächtnis bleibt. Hinter der männlich-minimalistischen und der weiblich-redundanten Version des Gedenkens stehen geschlechtsbezogene Auffassungen vom Stellenwert sowohl der „Gemeinsamkeit" als auch der Position, die Künstlerin und Künstler innerhalb und außerhalb einer Paarbeziehung einnehmen. Diese Diskrepanz hat Folgen für die Rezeption, Folgen für die wissenschaftliche Erschließung männlicher bzw. die zögerliche, oft dilettantische „Bearbeitung" weiblicher Nachlässe.

Fran?oise Gilot (* 26.11.1921) und Pablo Picasso (1881-1973) Auch hier stoßen wir auf eine Asymmetrie im Hinblick auf das Wissen über Gilot und Picasso, die Zugänglichkeit ihrer Werke, ihre rezeptive Bewertung. Es bedeutet schon viel, wenn diese Asymmetrie nicht als naturwüchsig gegeben, sondern als bewusst herbeigeführt erkannt und benannt wird. Der Altersunterschied zwischen Fran§oise Gilot und Pablo Picasso betrug vierzig Jahre. Wie viele Künstler in vergleichbarer Lage hat auch Picasso keine substantiellen Äußerungen über seine Gefährtinnen bzw. die Künstlerinnen unter ihnen hinterlassen. Gilots Erinnerungen an die gemeinsame Zeit entstehen ebenfalls nach einer Trennung, doch anders als bei Charlotte Berend wird sie nicht durch den Tod, sondern zu Lebzeiten des Paares herbeigeführt. Gilot ist Mitte dreißig, als sie ihre Sicht der Jahre zwischen 1943 und 1951 formuliert, jener Zeitspanne, in der sie als junge Künstlerin mit Picasso bekannt, schließlich in sein Leben und seine Gewohnheiten integriert und Mutter von zwei Kindern wird. Auch hier stehen dem Schweigen eines berühmten Künstlers schriftlich fixierte und publizierte Aussagen einer weniger bekannten Künstlerin im Stil der „Leben mit..."-Publikation gegenüber, die ich Vitagraphie nennen werde, da Elemente unterschiedlicher Gattungen vom Tage- und Erinnerungsbuch bis zur Autobiographie und Biographie einfließen. Zur Vitagraphie, unter die solche „Leben mit..."Niederschriften fallen, gehört, dass aus der Perspektive des weiblichen Parts über eine Paarkonstellation berichtet wird. Im Zentrum dieses Typus steht immer ein als bedeutend empfundener Mann. Das gilt für die Erinnerungen von Modellen (z.B. Fernande Oliviers „Picasso und seine Freunde", 1933) ebenso wie für Erinnerungen von Ehefrauen ohne künstlerische Ambitionen (z.B. Nina Kandinskys „Kandinsky und ich, Mein Leben mit einem großen Künstler", 1976) oder Künstlerinnen selbst, die entweder gar keinen oder - wie Charlotte Berend - einen als unzureichendend empfundenen Raum in Schilderungen des Gefährten einnehmen und ihren Stellenwert als Geliebte, Begleiterin und PortraiLeben in der Legende

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tistin nicht dem Urteil Dritter, sondern selbst markieren möchten, wie es Lou AlbertLasard 1952 in „Wege mit Rilke" getan hat. Es entsteht der Eindruck, als reagierten Künstlerinnen tendenziell mit Büchern, Künstler tendenziell mit Bildern auf die Paarkonstellation. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein scheinen Künstlerinnen männlichem Schweigen und Verschweigen eher sprachlich zu begegnen, während die um das sexuelle Gegenüber kreisende Bilderflut von Künstlern kaum eine Entsprechung von weiblicher Seite findet und mit einem Tabu belegt scheint; so, als habe sich das Schweigen von Künstlerinnen auf ihr Medium übertragen, als entzöge sich das Leben als Paar für sie weitgehend der Darstellung mit visuellen Mitteln. Möglicherweise liegt auf beiden Seiten ein Tabu im Hinblick auf die Artikulierbarkeit von Erfahrungen vor, wobei die Vermutung nahe liegt, dass Männer sich (bei hoher künstlerischer Aktivität) eher durch Schweigen, Frauen (bei hoher sprachlicher Aktivität) dem Gefährten die Präsenz in ihrem Werk entziehen. Natürlich gibt es Ausnahmen, doch die Diskrepanz zwischen der von weiblicher Seite aufgewandten sprachlichen und der von männlicher Seite spürbaren visuellen Energien, mit der das Paarthema bedacht wird, bleibt unübersehbar. Wie Charlotte Berend schreibt sich auch Gilot mit zwei Publikationen - „Leben mit Picasso", 1964 und „Matisse und Picasso, Eine Künstlerfreundschaft", 1990 - in das künstlerische Umfeld des einstigen Gefährten ein und schafft sich so einen zwar vorhandenen, aber Künstlerinnen gerade von wissenschaftlicher Seite nicht selten verweigerten Kontext. Picasso, der stundenlang über die eigene Arbeit reden konnte und die junge Malerin als „Hagiographin" vorgesehen und sie zum Schreiben über ihn und sein Werk ermutigt hatte, suchte das Erscheinen von Fernande Oliviers Buch ebenso zu verhindern wie Frangoise Gilots Erinnerungen im Stil einer Vitagraphie. Trotz seines weltweiten Ansehens verlor Picasso den Prozess gegen ihren Verleger. Gilot bezahlte für das Wagnis, keine Hagiographie in der Tradition Jocobus de Voragines geschaffen, sondern sich zu „selbstgewählten Bedingungen" geäußert zu haben, mit der Kündigung von Seiten ihres Kunsthändlers, der auch Picasso vertrat und im absehbaren Konflikt um seine Interessen fürchtete. Doch nicht nur Daniel Henry Kahnweiler, auch andere Händler hielten sich bewusst zurück.10 „Leben mit Picasso" erlaubt nicht nur, Einblick in die Lebensmöglichkeiten einer jungen Künstlerin im Frankreich der vierziger und fünfziger Jahre zu nehmen, es erhellt auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen eines betagten, allseits gerühmten Malers, der es verstand, seine künstlerischen Maximen ohne Belehrung mitzuteilen und dafür Gilots Jugend, Kraft und ihre Betreuungsfähigkeit in einer Form in Anspruch nahm, die die Legende von der Alterslosigkeit Picassos für immer zerstörte.11 Noch zu Lebzeiten schien Picasso als letztes Beispiel eines zwar fragwürdigen, doch immer wieder auflebenden Geniekults zu taugen. Anders als bei Berend geht es für 8

Renate Berger

Gilot nicht länger um Rechtfertigungen kränkender oder unzuträglicher Verhaltensweisen, sondern um Notate eigenen und fremden Handelns, die sich durch eine im Kontext der Vitagraphie eher selten anzutreffende Distanz der eigenen Person und anderen Menschen gegenüber auszeichnet. Der Geniekult erledigt sich durch die Erweiterung des Blickfelds, das Picassos Untergebene, Helfer, Händler und Kollegen einbezieht, durch nüchterne Beobachtungen gleichsam von selbst und dient nicht länger als Vorwand, um weibliche Unterwürfigkeit oder das Delegieren von Kreativität und Verantwortung an den Partner zu rechtfertigen.

Josephine Verstille Nivison (1883-1968) und Edward Hopper (1882-1967) Das Einschreiben in die Legende vom großen Einsamen, der seine Wegbereiterinnen und -begleiterinnen durch Schweigen eliminiert, wird, obwohl viele Künstlerinnen diesen Akt der Selbstbehauptung erst nach der Trennung oder nach dem Tod des Gefährten vollzogen, von der Forschung nur zögernd als Korrekturfaktor wahrgenommen und überprüft. Männliche Kreativität dient noch der Boheme des 19. Jahrhunderts dazu, die wenigen zum Schutz von Frauen verbliebenen Regeln aufzukündigen, während das Spektrum weiblicher Leistungen nicht nur erweitert, sondern als Tribut eingefordert wird, der seinen Reiz erst durch das Ausbleiben männlicher Gegengaben erhält. Nicht nur das Bürgertum, auch die sich als kühn und avantgardistisch gerierende Boheme gefällt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Exzessen patriarchaler Einseitigkeit. Die Obdachlosigkeit weiblicher Kreativität ist offenkundig. Künstlerinnen finden sich oft in der Situation wieder, an ihrer Ausgrenzung mitzuwirken, sobald sie sich unkritisch den Strukturen und Werten der Boheme überlassen, während der von Konventionen beschützte Bohemien nicht einmal handeln muss, um sein Ziel zu erreichen; es genügt ja, wenn er sich passiv dem von Menschen in seiner Umgebung geteilten Konsens über die Bewertung von Künstlerinnen überlässt. Offensichtlich ist mit einer Langzeitwirkung patriarchalischer Strukturen und Uberzeugungen zu rechnen, die Männer und Frauen vom Beginn ihres Lebens an erfasst und jede echte, meist der Kindheit und Adoleszenz gehörende Rebellion gegen Sexismus bei beiden Geschlechtern verschüttet. Wie anders ist sonst zu erklären, dass nach einem oft hart erkämpften Beginn, nach einer Zeit der Träume und der unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten, nach einer Zeit der Praxis und des Durchsetzens selbst Künstlerinnen in Verhaltensmuster zurückfallen, die das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern in der Kunst bekräftigen? Künstlerinnen, die mit einem Künstler gelebt und neben ihm gearbeitet haben, geraten spätestens dann ins Blickfeld, wenn sich jemand mit dem Werk des Mannes befassen will. Das dritte Beispiel bezieht sich deshalb auf Erfahrungen einer WissenLeben in der Legende

9

schaftlerin, die lediglich einen Werkkatalog erarbeiten wollte. Dieser Fall zeigt, dass sich zur Zeit ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Frage nach den Voraussetzungen

männlicher und weiblicher Kreativität vollzieht, und lässt eine erweiterte

und differenzierte Wahrnehmung, einen in Forscherkreisen ungewöhnlichen Mut zum Benennen von Problemen im Hinblick auf Künstlerpaare erkennen. In „Edward Hopper, An Intimate Biography", zieht Gail Levin 1995 erstmals die Konsequenz aus Beobachtungen, die andere vor ihr gemacht, verschwiegen oder nur schamvoll angedeutet haben, um ihren Zugang zu Quellen und Werken nicht zu gefährden. Bei ihren Recherchen über Edward Hopper erfuhr Levin nicht nur etwas über die komplexe Materiallage, über die Art, wie sein Nachlass vom Whitney Museum of American Art aufgenommen und behandelt worden war, sondern sie stieß auf etwas, das allen einen Schrecken einzujagen imstande ist, die glauben, künstlerische Nachlässe seien in Museen sicher.12 Hoppers Witwe Josephine Nivison hatte den Wunsch ihres Mannes respektiert und den Hauptteil seines CEuvres dem Whitney Museum und dem Kurator Llyod Goodrich ein Werkverzeichnis übergeben. Nivison war Malerin und hatte rund vierzig Jahre neben ihrem nur ein Jahr älteren Mann gearbeitet, ihm zu Beginn ihres gemeinsamen Lebens Ausstellungsmöglichkeiten und wichtigte Kontakte vermittelt und ein Verzeichnis seiner Werke angelegt (Abb. 3). Außerdem führte sie mehr als dreißig Jahre Tagebuch. Das Museum war mit dem Umfang der Hinterlassenschaft, der auch Werke und Materialien der neun Monate nach ihrem Mann verstorbenen Jospehine Nivision enthielt, überfordert und ließ sich nur durch öffentlichen Druck davon abhalten, den bereits begonnenen Verkauf von Arbeiten aus Hoppers Nachlass zu stoppen. Als Gail Levin das Werkverzeichnis bearbeitete, fand sie weder die üblichen, ein Leben dokumentierenden Briefe, Fotografien etc., noch Werke von Nivison vor, die die Künstlerin selbst der Obhut des Museums anvertraut hatte. Levin stellte fest, dass John I. H. Baur und sein Amtsvorgänger Lloyd Goodrich Nivisons Arbeiten „als des Museums nicht würdig" abgelehnt und dafür gesorgt hatten, „daß einige der Gemälde verschenkt" und „die übrigen [...] schlicht aussortiert" wurden: „Man sah nicht einmal Bedarf für Archivphotographien [...] Insgesamt fanden nur drei von Jos Werken Eingang in die ständige Sammlung des Whitney Museums, von denen keines je gezeigt wurde. Als ich 1976 mit der Arbeit begann, waren alle drei unwiederbringlich verloren. Andere entgingen der Vernichtung, weil man sie fälschlicherweise für Werke Edwards hielt, darunter ein paar von Jos Zeichnungen, mehrere kleine Ölbilder und einige Aquarelle". Als Kustodin der Sammlung Hopper konnte Levin ein von Nivison gemaltes Portrait für den Bestand gewinnen, das niemals in die ständige Sammlung aufgenommen, aber wenigstens nicht beseitigt worden war.13 Die Ironie der Tatsache, dass nur privat verschenkte oder verkaufte Werke Nivisons erhalten blieben, während der Teil ihres (Euvres, den sie aus Mangel an Alternativen vor ihrem Tod dem angesehenen Whitney Museum of American Art anvertraut 10

Renate Berger

Abb. 3 Louise Dahl-Wolfe Edward und Josephine Hopper vor „Calvin H o w e and His Two Sisters" 1932 Fotografie

hatte, „aussortiert" wurde, ohne dass die Verantwortlichen es für nötig hielten, das Eliminierte zu dokumentieren, veranlasste Levin, Museumspraktiken nicht allein im Hinblick auf den ebenfalls tangierten Maler (für ihn blieb der Schaden gering) infrage zu stellen, sondern auch nach den Ursachen für die Vernichtung eines weiblichen Nachlasses zu fragen, der - unabhängig von seinem künstlerischen Rang - Aufschluss über das lebens- und kulturgeschichtliche Umfeld Edward Hoppers zu geben vermochte. Wie durch ein Wunder entging wenigstens Nivisons Tagebuch dem Zugriff der „Kuratoren". Für Levin wurde es zur kritisch überprüften Quelle, die zur Erschließung des Hopperschen (Euvres beitrug, und darüber hinaus zeigte, dass die Verflochtenheit von zwei Leben neue Formen der Darstellung und Deutung verlangte. Die Bio- und Monografie eines Künstlers ausgerechnet über eine unmittelbar bzw. intim beteiligte Person hinweg zu schreiben, die die Bildwelt des Mannes sichtbar bevölkert, wurde ebenso zum Problem wie die Tatsache, dass im Nicht-Benennen Leben in der Legende

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oder Ignorieren der Anteile Dritter (oft Frauen) am Werk eine Fortsetzung jenes Schweigens lag, das mit wissenschaftlicher Redlichkeit unvereinbar war. Deshalb musste Levin sich zuerst mit der unterschiedlich verlaufenden Entwicklung und der komplexen Nachlasslage von Hopper und Nivison auseinandersetzen. Dabei ging es um - die Arbeitsteilung des Paars selbst, das in die Förderung eines Künstlers durch seine Frau und die Geringschätzung einer Künstlerin durch ihren Mann mündete, d.h. den männlichen Aufstieg synchron zum weiblichen Abstieg verlaufen ließ - die Bewertung zu Lebzeiten und posthum durch Kunsthistoriker und Kritiker - Art und Umfang des erhaltenen Materials bzw. die Entscheidung von Museumsleitern für Erhalt, Verkauf oder Vernichtung des weiblichen Nachlasses14 - den unterschiedlichen Umgang von „Kuratoren" mit Werken männlicher oder weiblicher Provenienz über der Tod der Beteiligten hinaus in wissenschaftlicher, restauratorischer, ausstellungstechnischer und finanzieller Hinsicht. Wer nach angemessenen Darstellungsformen für die Kreativität von z w e i miteinander verbundenen Personen sucht, muss sich als erstes Rechenschaft über die Ursachen mangelnder wissenschaftlicher Sorgfalt geben, muss Regeln, Methoden, sexualisierte Handlungs- und Deutungsmuster auf ihre Leistungsfähigkeit bzw. Fehlerquellen hin prüfen. Die drei oben erwähnten Paare stehen für eine Konstellation, in der dem Beschweigen des Anteils, den Künstlerinnen am Werk ihrer Männer nahmen, mit dem Typus der Vitagraphie begegnet wird. Dort stellen Künstlerinnen genau jene Themen in der Mittelpunkt, die in männlichen Darlegungen ausgespart bleiben, d.h. sie kompensieren ihre Nicht-Anwesenheit oder Marginalisierung im männlichen Text mit Hilfe eines Horror vacui, der sie bei der Lektüre zu erfassen scheint und sie verleitet, jener in so vielen „Erinnerungen" männlicher Provenienz auftauchenden Leerstelle mit opulenten Vitagrahien zu begegnen. In den angesprochenen Paarkonstellationen äußert sich das männliche Interesse an der Arbeit von oft um vieles jüngeren Künstlerinnen eher zu Beginn einer (noch leicht aufkündbaren) Verbindung. Corinth hält seine Schülerin und künftige Frau zum Zeichnen an; Picasso besucht die Galerie, in der Gilot mit einer Freundin ausstellt; Hopper beobachtet aufmerksam Nivisons Aktivitäten und gibt sich wenigstens den Anschein, ihre Förderung seinerseits mit Unterstützung beantworten zu wollen. Nachdem das Zusammenleben durch Heirat oder Kinder gesichert scheint, findet eine magische Wende statt. Sie lässt Corinth bis an die Grenze zur Albernheit den Vorrang seiner Arbeit behaupten und führt sogar dazu, dass er als Jurymitglied einem Werk Charlotte Berends seine Zustimmung versagt, obwohl keine Geringeren als Max Liebermann und Ferdinand Hodler (der nicht wusste, dass es sich bei der Malerin um Corinths Frau handelte) für die Aufnahme ihres Werks in die Ausstellung stimmten.15 12

Renate Berger

Diese Haltung ist durchaus nicht nur der Furcht vor Nepotismus geschuldet, wie man vermuten könnte, denn Kumpanei unter Freunden, sogar unter Konkurrenten, selbst die gezielte Intrige war dem Secessionsmitglied Corinth nicht fremd und wurde auch von seiner Frau als unumgänglich bejaht. Corinths Groll, seine - vor allem in den Lebenserinnerungen aufscheinende - Widersprüchlichkeit- und verbissene Wut nehmen im Alter zu. Dass seine Pflege Berends Kräfte dezimiert und sie nicht zur eigenen Arbeit kommen lässt, ist ihm selbstverständlich. Die Abneigung, etwas für die Künstlerin an seiner Seite zu tun, ist auch bei Hopper spürbar. Nach Gail Levin wurde Nivison nicht nur von anderen unterschätzt; auch ihrem Mann war es später „unmöglich, sich vorzustellen, irgend etwas von Jo Geschaffenes könne bedeutsame Wirkung haben". 16 Picasso hatte zumindest für Dora Maar ein Wort bei seinem Kunsthändler eingelegt: vergebens. Für Fran9oise Gilot versucht er es gar nicht erst und ist erstaunt, als Kahnweiler sie von sich aus unter Vertrag nimmt. 1 7 Es gab Gespräche über seine, über ihre Malerei. Gilot profitierte von Picassos Gabe, Kritik weder direkt noch in persönlicher Form zu äußern, sondern gleichnishaft und allgemein. Auch für Picasso stand die Betreuung durch Frauen, ihr Einsatz für seine Geschäfte an erster Stelle. Als lebendes Antidepressivum vollzog Fran£oise Gilot - wie Charlotte Berend vor ihr - beinahe täglich ein Ritual, das die Kreativität des alten, an Verstimmungen und zeitweisem Burn-out krankenden Partners stimulieren sollte. 18 Im frühen 20. Jahrhundert gehören Künstler zu den hartnäckigsten Befürwortern geschlechtsbezogener Arbeitsteilung. Die Attitüde der Rebellion, die sie gewöhnlich zur Schau tragen, endet meist in der eigenen, von aktuellen Geschlechterdebatten unberührten Häuslichkeit. Max Beckmann bestand auf dem Malverbot für Minna Tube, die er als Mitschülerin an der Großherzoglich-sächsischen Kunstschule in Weimar kennengelernt hatte und erwartete von ihr, ihr „Talent mit in seine Arbeiten hinein" zu legen. 19 Ein wahrer Champion weiblicher Unterordnung und künstlerischen Verstummens in der Ehe fand sich auch in Stefan Zweig, der an der Seite des von ihm verehrten Dichters Emile Verhaeren eine begabte Malerin, Marthe Verhaeren, vorfand, die ganz in seinen Schatten zurücktrat, heimlich malte und jeden Anspruch auf öffentliche Geltung aufgab. 2 0 Als vermögender Mann hatte Stefan Zweig ebensowenig wie unzählige andere Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts etwas gegen die Zuarbeit von Geliebten und Ehefrauen einzuwenden, vorausgesetzt, sie entlastete ihn von paternalen Pflichten und kam dem eigenen Fortkommen zugute. Künstler fanden nichts dabei, sich von Frauen fördern, unterhalten, finanzieren zu lassen und sich nur dort von der Tradition zu lösen, wo sie unbequem, d.h. von maskulinem Werten (Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein) durchdrungen war - im Gegenteil. Die Tatsache, dass Frauen nach diesen, als „männlich" begriffenen Wertvorstellungen handelten, wurde als Beweis weiblicher Domestikation genossen und glorifiziert. Denn selbst ein Millionär wie SteLeben in der Legende

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fan Zweig erwartete, dass Friderike Maria Zweig ihn zwar in allem unterstützte, gleichzeitig aber ihren und den Unterhalt ihrer Töchter aus erster Ehe „nebenbei" und allein verdiente. Patriarchale Anmaßung und die Beanspruchung weiblicher Kraft mussten nicht länger mit paternaler Fürsorge beantwortet werden. Nicht weibliche Arbeit, sondern die Früchte dieser Arbeit - Respekt, öffentliche Anerkennung - sind Künstlern jetzt ein Dorn im Auge. Sichtbare Unterstützung von weiblicher Seite vertrug sich nicht mit der Ideologie des großen Einzelnen, der alles nur sich zu verdanken schien. Die peinliche Geschwätzigkeit, mit der Stefan Zweig Marthe Verhaerens Selbstauslöschung als „immer neu beglückte Fähigkeit der aufopfernden Anonymität" feiert, ist ein Beispiel dafür, und natürlich findet sich kein Wort der Kritik an Verhaeren selbst, der als Held gefeiert wird.21 Tendenziell lässt sich feststellen, dass Künstler im Zusammenleben mit Künstlerinnen ihre Anstrengungen minimieren, während Künstlerinnen sie im Zusammenleben mit Künstlern maximieren. Die Extensivierung weiblicher Arbeit bei gleichzeitig qualitativer Intensivierung wird mit einer Verringerung männlicher Pflichten und Leistungen beantwortet. Für den schonenden und respektvollen Umgang mit männlicher Kreativität von weiblicher Seite fehlt von Seiten der Künstler meist jene mentale Entsprechung, die einen neuen Umgang mit weiblicher Kreativität den Boden bereiten könnte.22 Diese Diskrepanz bewirkt eine wachsende Zersplitterung und Rollendiffusion, deren sich Künstlerinnen wohl bewusst sind. Tatsächlich verfügen die wenigsten unter ihnen während des Zusammenlebens mit einem Künstler über mehr Inspiration, Ungestörtheit, Freiräume, kreative Energie oder wenigstens finanzielle Mittel, sondern begnügen sich mit den dem männlichen Arbeitsrhythmus abgetrotzten Restzeiten, was ihnen die Geringschätzung ausgerechnet jener Männer einträgt, die vom weiblichen Einsatz und einer hartnäckig eingeforderten Rundumbetreuung profitierten. Edward Hopper versucht, Problemen, die sich ihm als langjährigem Junggesellen in einer späten Ehe stellen, mit Witz zu begegnen. Seine Themen: Eifersucht, Sexualität, weibliche Pflichten. Die Zeit, in der fehlende Jungfräulichkeit eine Ehe gefährden konnte, war vorbei; nun macht gerade ihr Vorhandensein die Frau zum Gespött und wird vom Gatten auf einer Bleistiftzeichnung um 1932, die Nivison ängstlich an einer Männergruppe vorbeihastend zeigt, so kommentiert: „There's a virgin - give her the works". 23 In „The Great God Arthur - Status Quo" (um 1935) konkurriert der Künstler mit einem Kater um die Aufmerksamkeit seiner Frau, was misslingt, da das Bündnis mit dem Tier sich - im Gegensatz zur Ehe - bewährt. In „Meal Time" (um 1935, Abb. 4) fordert Hopper reguläre Mahlzeiten, in „The Sacrament of Sex (Female Version)" (um 1935, Abb. 5) sexuelle Befriedigung ein, indem er sich mal als Verhungernder, mal als Bittsteller im Schlafzimmer seiner Frau präsentiert. Dabei umrundet ein Heiligenschein die Glatze des als Liebhaber nicht sonderlich attraktiven, von Begierde gepeinigten Gefährten, der sich in dem sakralen, nur durch einen Nachttopf profanierten Szenario spürbar unwohl fühlt. 14

Renate Berger

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Edward Hopper. Meal Time, um 1935. Bleistift auf Papier, 2 0 , 3 x 2 3 , 8 cm

Bürgerliche Werte griffen im künstlerischen Milieu vor allem dann, wenn sie das anonyme

Zuarbeiterinnenmodell stützten. D e r Hass auf Künstlerinnen bzw. Ehefrau-

en, die ihren Dienst an Mann und W e r k wenigstens von der sie ständig behelligenden Nachwelt gewürdigt wissen wollen, ist bis heute spürbar. 1990 plädierte Henrik M . Broder für die Verbrennung von Künstlerwitwen. Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit, die gezielte Verbrennung junger Inderinnen, die in unseren Tagen stattfindet, sind nichts gegen einen „ W i t z " , den sich der antisemitischen Äußerungen gegenüber stets empfindsam gebende B r o d e r im Schutz der Süddeutschen Zeitung leistete. Frauenhass und männliche Vernichtungsphantasien sind eben nicht in gleichem M a ß e justiziabel wie A n t i s e m i t i s m u s ; s c h o n deshalb lässt B r o d e r ihnen m i t s p ü r b a r e m B e h a g e n freien Lauf. W e r in unserem Land die massenhafte Vergasung von Juden leugnet, kann juristisch belangt werden; wer Hexenverbrennungen bzw. das noch heute stattfindende Verbrennen von Mädchen und Frauen verharmlost bzw. als Zeitungsente der „ E m m a " abtut, hat nichts zu befürchten und gilt als seriöser Journalist. Mit seiner hämischen Entgleisung riskierte Leben in der Legende

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Abb. 5 Edward Hopper. The sacrament of sex (female version), um 1935. Bleistift auf Papier. 21,6X27,9 cm

Broder nichts. Er verbuchte Vernichtung durch Verbrennen als ethnische Eigenart, als Brauchtum der Vergangenheit. Indien ist fern, der Femizid vergangener Zeiten, der Femizid unserer Tage mag einem auf die eigene Geschichte fixierten, als Mann verschonten, dazu schlecht informierten Schreiber so fern liegen wie der Mond. Ungeheuerlichkeiten finden aus dieser Sicht nur dort statt, wo sie Broder selbst oder den jüdischen Leidensweg betreffen. 24 Witwern großer Frauen begegnet man mit Respekt. Auch wenn sich der Wechsel der Musen bei dem meisten Partnern von Künstlerinnen nahtlos bzw. kurzfristig und - nach Theweleit und Gabriele Werner - synchron zu kreativem Neubeginn vollzieht 25 und die Möglichkeit genutzt wird, die neue Muse mit der Verehrung der verstorbenen Künstlerin und einstigen Gefährtin auf Abstand zu halten, wie es für Hans Arp verbürgt ist, der Sophie Taeuber um dreiundzwanzig Jahre überlebte, empfinden sie im Einzelfall durchaus die Verpflichtung, für den Nachruhm der Toten zu sorgen. Um Verhaltenmuster von Museumsleitern Künstlerinnen gegenüber außer Kraft zu setzen, verfügte Hans Arp, dass seine Arbeiten nur mit denen von Sophie Taeuber gezeigt werden dürfen. 26 16

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Der Wendepunkt im Verhältnis zur eigenen Arbeit und der der Partnerin bzw. des Partners tritt selten abrupt mit der Eheschließung bzw. dem räumlichen Zusammenleben ein, obwohl beides häufig einen Wendepunkt markiert. Oft wird die künftige Aufgabenteilung von Männern spielerisch erprobt: vor dem Zusammenleben. Bleiben diese Tests von weiblicher Seite unwidersprochen, wird sie im künftigen Alltag zum Gesetz. Wie Picasso Gilot, so forderte auch der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Corinth seine Schülerin zum Heizen des Atelierofens, zur Betreuung von Atelierbesucherinnen, schließlich zum Zubereiten von Mahlzeiten auf, was die aus wohlhabendem Hause stammende Charlotte Berend als „Ehre" und nicht als Probelauf für künftige Brauchbarkeit wertete. Als W i t w e bemäntelt sie ihre Unfähigkeit, dem älteren Mann nicht nur Achtung für ihr Werk, sondern auch die zeitlichen Voraussetzungen dafür abgerungen zu haben, mit der vom Publikum nicht unbedingt geteilten Uberzeugung, Corinth sei ein „Genie". Einst verwaltete sie, wachte über Finanzen, Verträge, Steuern - nahm den Kampf mit zermürbenden Alltagsgeschäften auf - zwar nicht widerstandslos, doch mit dem verqueren Stolz einer Düpierten. 27 Auch Fran^oise Gilot, die sich lange gegen ein Zusammenleben gesträubt hatte, wurde früh auf die Probe gestellt und nach ihrem Einzug ins Picassos Behausung mit seiner Korrespondenz, seiner Betreuung und dem Anfertigen von Zustandskopien einiger Gemälde betraut, denn Picasso liebte es, sich verschiedene Wege offen zu halten und nicht für eine Version entscheiden zu müssen. Er benutzte Gilot als Malerin wie ein Schriftsteller seine Sekretärin. Außerdem sparte er Zeit. 28 Obwohl Josephine Nivison über eine Collegeausbildung verfügte, berufliche Erfahrungen gesammelt und Ausstellungen beschickt hatte, bevor sie als Vierzigjährige heiratete, betrachtete sie die Förderung von Edward Hopper sofort als Aufgabe. Dass er sich schon bald jeder Unterstützung für die Malerin an seiner Seite enthielt, blieb eine lebenslange Kränkung, die mit verdoppelter Anstrengung und Loyalität von Seiten Nivisons belohnt wurde. Wie viele Künstlerinnen löste sie sich trotz gegenteiliger Erfahrungen nie von der Illusion, das unter Männern gültige do ut desPrinzip ließe sich auf die Ehe übertragen. Gilot hingegen gewann den Kampf. Als sie Picasso gegenüber Unzufriedenheit mit ihrem ins Raster seiner Gewohnheiten befangenen Leben äußerte, riet er zu einem Kind; es brächte, argumentierte er, soviele Probleme mit sich, dass die übrigen ihren Stachel verlieren würden. Natürlich traf diese Vermutung nicht zu. Zwar entschied sich Gilot damals für ein Kind, aber aus eigenen Gründen. Als Heranwachsende hatte sie den Bruch mit ihrem Vater in Kauf genommen, der sie Jura studieren lassen wollte und ihre Ideee, Malerin zu werden, mit der Drohung beantwortete, Frangoise mitsamt ihrer Großmutter, die den Wunsch begreiflich fand und zu ihr hielt, in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Frangoise kam solcher Internierung zuvor, indem sie sich freiwillig einer Untersuchung stellte. Der Vater blieb unversöhnt. Die Tochter durfte danach im Haus ihrer Großmutter ein Atelier beziehen. Als sie die Großmutter nach langer Leben in der Legende

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Bedenkzeit verließ und zu Picasso zog, verfügte Gilot selbst über keinerlei Mittel, war aber trotz ihrer Jugend erprobt in der Auseinandersetzung mit väterlicher Anmaßung. Was wie ein Verlust ausschaut, entpuppt sich als Gewinn. Als Gilot Picasso verließ, verlor sie nicht nur ihre Bücher und Zeichnungen, Geschenke des Malers, Briefe, die Henri Matisse ihr geschrieben hatte, Teile ihres persönlichen Eigentums, ihren Händler Kahnweiler und ihre Chancen auf dem Kunstmarkt (Picassos Einfluss reichte weit), sondern gewann zurück, was sie für ihre künftige Entwicklung brauchte: psychischen Freiraum. Zukunft. Und Zeit. Nachdem Picasso, enttäuscht von ihrer Flucht in eine Existenz ohne ihn, „alle Brücken zu jener Vergangenheit, die ich mit ihm geteilt hatte" verbrannte, gelang es Gilot, „mich selbst zu entdecken und aus eigener Kraft weiterzuleben. „Dafür", so lautet der letzte Satz ihrer Erinnerungen, „werde ich ihm stets dankbar sein." 29 Das Arbeitsethos eines Picasso hatte sich früh, das Ethos eines Corinth oder Hopper in Jahren des Alleinseins gebildet; es war nicht nur erprobt und Teil der täglichen Routine, sondern wurde auch zum Maß, mit dessen Hilfe man andere einschätzte. Hier konnten die Gefährtinnen nur verlieren. Zwar erweisen sie sich von Anfang an als rührige Wegbereiterinnen männlicher Karrieren, doch aus der Sicht ihrer Gefährten wurden sie in der Rolle der Künstlerin als schwach, ablenkbar, inkonsequent, nicht durchsetzungsfähig genug erlebt, da sie den Wettlauf mit der Zeit bei wachsenden Pflichten zwar Tag für Tag neu aufnahmen, aber - sichtbar für alle - nur allzuoft verloren, solange ihrem Engagement von männlicher Seite mit weiteren Anforderungen begegnet wurde und nicht mit Entlastung, wie Künstler sie für sich in Anspruch nahmen.30 Frauen allgemein, Künstlerinnen im besonderen wird eins zum Verhängnis: ihre Nützlichkeit und funktionelle Austauschbarkeit. Sie übernehmen die gleichen Dienste und Pflichten wie alle übrigen Frauen. Was sie von Nicht-Künstlerinnen unterscheidet, ist für Künstler auf lange Sicht, d.h. wenn die Inspirationskraft der Gefährtin nachlässt, irrelevant. Wie der Andrang beliebiger Zuarbeiterinnen zeigt, sind Künstlerinnen für Künstler in der Regel als Individuen ersetzbar und das seriell.31 Unverzichtbar ist allein ihre Rolle, die schon jungen Künstlerinnen eine hypertrophe „Mutterschaft" für den Mann und sein Werk, evtl. auch Kinder abverlangt. Eine Art Kastration durch Vermutterung zeichnet sich ab. Anderereits ist die Zuarbeiterin versucht, im Künstler an ihrer Seite nicht den Menschen, sondern eine Kreuzung aus Vorgesetztem und Projekt zu sehen: lebenslänglich. Künstler wiederum schätzen die reproduktive Emsigkeit an Frauen ihres Umfelds, solange sie sich als karrierefördernd erweist. Wenn Hans Arp „bei Spaziergängen dichtete", so hielt Marguerite Hagenbach „Stift und Papier bereit und überließ ihm ihren Rücken als Pult. Oder er wiederholte die Worte so lange, bis seine [neue] Gefährtin diese auswendig kannte, um sie dann zu Hause für ihn aufzuschreiben. Später übernahm sie gemeinsam mit seinem Bruder und dessen Tochter Ruth die immer größer werdende Verwaltungsarbeit." 32 18

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Abb. 6

Lovis Corinth. Mädchen mit Stier, 1902. Hamburg, Kunsthalle

Es gibt zahllose Zeugnisse darüber, dass radikale Attitüden der Boheme, der Avantgarde von Sexismen durchflochten sind. Das futuristische Manifest (1909) ist nur ein Beispiel dafür. Noch im 20. Jahrhundert greifen überkommene, einst unter dem Banner der Emanzipation entwickelte Muster, die in Friedrich Schlegels „Lucinde" (1799) ihren Anfang genommen hatten. Der Künstler Julius lernt eine unabhängig lebende Dilettantin kennen, die sich einigen der Frauen damals zugebilligten künstlerischen Aktivitäten widmet. Ihr verdankt er seine sexuelle Befreiung, was ihn ruhig und konzentriert arbeiten lässt, während Lucinde ein Kind erwartet und schließlich zur Welt bringt. Zwar avanciert sie zur „Priesterin der Nacht", doch von ihrer Kunst ist bald nicht mehr die Rede. Spuren einer weiterreichenden Entwicklung von Lucinde jenseits der sexuellen Bezauberung verlieren sich gegen Ende des Romans. 33 Männerliebe scheint für Künstlerinnen auch später nicht dieselbe inspirierende, befreiende Wirkung zu haben wie Frauenliebe für Künstler. Als Corinth sich in seine Schülerin verliebt, malt er sie anfangs arbeitend, löst sie allmählich von den Werkzeugen der gemeinsamen Profession, Pinsel und Palette, um sie als seine Frau im wörtlichen Sinne bloß zu stellen, während er sich im Schutz seiner Kleidung und Malutensilien dem Spiegel, schließlich dem Publikum präsentiert. Corinth riskierte Leben in der Legende

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Abb. 7 Lovis Corinth Selbstportrait mit Rückenakt, 1903 Zürich, Kunsthaus

nichts; doch für eine Künstlerin gehörte 1903 Mut dazu, sich in dieser Pose als Akt darstellen zu lassen (Abb. 7). Im Abstand von wenigen Jahren markiert Corinth einen Domestikationsprozess, der von der Malschülerin über das verliebte Mädchen hin zur jungen Frau (die den Stier - eine von Corinth als schmeichelhaft empfundene Imagination seiner selbst - am rosa Band hält - Abb. 6) und schließlich zur Geliebten führt, die er im Schutze seines Vorbildes Rembrandt ein Genussschema preßt (Abb. S. 371), um sie dann - aller beruflichen Attribute entkleidet - wie ein Berufsmodell öffentlicher Beschau preiszugeben. Charlotte Berend passt sich dem veralteten Maler-ModellSchema an, und Corinth ist es nicht gegeben, ohne ständige Rückversicherung bei den Alten, d.h. kreativ mit der neuen Paarkonstellation umzugehen. Die Stereotype, deren er sich bedient, haben längst an Durchschlags- und Uberzeugungskraft verloren. Unbemerkt von Corinth wird nicht weibliche Nacktheit, sondern ihre Einbindung in das Paarbildnis, nicht der weibliche Akt an sich, sondern der altbackene Habitus des Malers zum Problem. Das Risiko liegt allein bei der Künstlerin, denn die umgekehrte Situation wäre im wilhelminischen Deutschland kaum denkbar: Ein nackter, mit der Kehrseite zum Publikum gedrehter, seiner Pinsel beraubter und zum Berufsmodell re20

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Abb. 8 Charlotte Berend-Corinth Selbstportrait mit Modell 1931 Berlin, Nationalgalerie

duzierter Corinth, wohnte gesichtslos dem Triumph seiner bekleideten, d.h. vor zudringlichen Blicken geschützten Ehefrau bei, die dem Publikum alle Werkzeuge ihres Ruhms mit wichtigtuerischer Miene entgegenreckte. Die junge Malerin tut emsig mit. Bis zu Corinths Tod wird sie posieren, denn sie versteht solche und vergleichbare Werke weniger als Entgleisungen, sondern als Feier ihrer durch öffentliche Aufmerksamkeit versüßten Unterwerfung unter ein männliches Konzept. Der Stereotypie dieses Konzepts hat sie nichts entgegenzusetzen. Als erotisierendes Modell, als Inspirations- und Motivationsquelle fällt Corinth für sie und darin ist er austauschbar - nicht nur wegen seines Alters, sondern prinzipiell aus.34 Denn ein vergleichbares Herumwirtschaften mit intimen und traditionellen Konnotationen weiblicherseits würde im Falle eines Mannes, eines Künstlers, als trivial, mehr noch: als respektlos empfunden und für Künstlerinnen jener Zeit mit unvergesslichen Sanktionen bedacht worden sein. Charlotte Berends Versuch, die Maler-Modell-Situation in reiferen Jahren wenigstens innerhalb des eigenen Geschlechts für sich nachzuholen - im „Selbstportrait mit Leben in der Legende

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Modell" von 1931 (Abb. 8) - zeigt in seiner spannungslosen Blässe, dass sich ein für Männer wirksames Schema nicht mit Gewinn auf die weibliche Situation übertragen lässt. Künstler im intimen Kontext einer Künstlerin gelten bis weit ins 20. Jahrhunderts hinein als nicht darstellbar und vor allem: nicht ausstellbar.

Weiße Blätter Künstlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts durften ihre Unvoreingenommenheit und ihre vermeintliche Emanzipiertheit demonstrieren, indem sie sich in traditionelle, mit zeitgenössischen Mitteln aufgefrischte Geschlechtsmuster einweben ließen, wie es in den 20er Jahren im Habitus der „neuen Frau" mit Bubikopf oder Zigarette geschah. Die Phantasielosigkeit, mit der das Immergleiche zwar optisch variiert, im Kern jedoch reinszeniert wurde, wenn auch nicht länger unter mythologischem Vorwand wie bei Corinth, sondern mit ausgewählten Versatzstücken von Modernität, zeigt, wie statisch die Verhältnisse tatsächlich waren und welche Bedeutung die Ver-

Abb. 9 Frida Kahlo Frida Kahlo und Diego Rivera, 1931 Öl auf Leinwand 100x79 cm San Francisco Museum of Modern Art 22

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Abb. 10 Hugo Erfurth Marie von Malachowski und Heinrich Nauen, 1905 Hochzeitsfotografie

öffentlichung von Intimität seit Schlegels „Lucinde" für den Aufbau und die Kräftigung maskuliner und die Destabilisierung weiblicher Identitäten hatte. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verabschieden sich nur wenige Künstlerinnen im Paarbildnis (selten wenden sie sich überhaupt diesem Bildthema zu) oder in der Portraitfotografie vom Schema des dominierenden, mit Insignien seines Berufes versehenen Mannes, der mit einer lediglich als „Frau" erscheinenden Künstlerin konfrontiert wird. Ein Beispiel ist Frida Kahlos Doppelportrait mit Diego Rivera von 1931 (Abb. 9). Die Malerin macht sich kleiner als sie ist, d.h. sie offenbart einen verinnerlichten Bedeutungsmaßstab und stellt sich mit winzigen Füßen in den „Schutz" einer fremden Palette. Minimierung ist weiblich, Uberdimensioniertes männlich konnotiert; im schiefgelegten Kopf zeigt sich die typische Haltung der zum Schweigen, Stillhalten und „Lauschen" bestellten Frau. Während Künstler auch in erotischen oder sexuell inspirierten Arbeitssituationen ungern auf Pinsel, Palette, Leinwand oder Stift verzichten (Abb. 7, 10), nehmen Malerinnen in der Rolle einer Braut bzw. Geliebten selten die Werkzeuge und Arbeitsmittel ihrer Kunst ins Bild; sie amputieren sich gleichsam selbst und erscheinen auch anderen Leben in der Legende

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Abb. 11 Franz Lerch Maler mit Frau [Steffi Kraus], 1934

als Amputierte wie bei Anton Räderscheidt auf einem „Selbstbildnis" von 1926 (Abb. S. 308, 312, 313). Aus der Sicht des jeweils anderen Geschlechts erscheinen Frauen tendenziell als Objekt der Begierde, Männer als lebenslange „Aufgabe". Das Vorstrecken von Pinsel und Palette - wie es Corinth im „Familienbild" von 1909 mit gewohnter Penetranz wiederholt - reagiert bereits auf eine neu auszuhandelnde Balance weiblicher Pflichten dem Mann, seiner Arbeit und dem Nachwuchs gegenüber. Charlotte Berend wird als Mutter, nicht mehr als Geliebte und schon gar nicht als Künstlerin präsentiert; ihre Aufmerksamkeit hat sich früher von der (eigenen) Kunst auf den Gatten, jetzt vom Gatten auf das Neugeborene verlagert. Die Not des Malers wird durch seine Körpersprache deutlich, wie überhaupt ein Macht- und Bedeutungsgefälle zwischen gegen- oder gleichgeschlechtlichen Künstlerpaaren auf Gemälden und Fotografien durch Gesten - vor allem Berührungen - zum Ausdruck kommt. 24

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Abb. 12 August Sander Marta Hegemann und Anton Räderscheidt, 1927. Fotografie

Dazu gehört: - der Griff an die Brust (1902 bei Corinth - Abb. S. 371), 1934 bei Franz Lerch (Abb. 11) - der Griff in den weiblichen Nacken (1927 durch Anton Räderscheidt oder Picasso Abb. 12-13) 35 - das Umfassen des weiblichen Körpers (1928 durch Til Brugman - Abb. 14) - oder die im Scherz aufgesetzte Faust (1946 durch Max Ernst - Abb. 15). Die Harmonie und Gelassenheit, mit der die 24jährige Anna Ancher sich und ihren Mann Michael „Beim Betrachten des Tagewerks" 1883 zeigt, gehört einer vergangenen Epoche an und scheint im 20. Jahrhundert unwiederbringlich verloren (Abb. 16). In den vierziger Jahren entsteht „Birthday" (1942, Abb. 17). Ist es Zufall, dass das Gemälde von einer Amerikanerin stammt? Dorothea Tanning weiß, „es gibt viele Türen, die für uns alle einen Spalt offenstehen. Tretet ein! Ich bin eingetreten", wird Leben in der Legende

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Abb. 13 Lee Miller Pablo Picasso und Lee Miller nach der Befreiung von Paris, 1944 Fotografie

sie später kommentieren, doch ihr Entschluss, dass sie „mit vierundzwanzig Jahren ein Leben voller Mentoren wählte", „kaum jemals wieder mit einem Menschen meiner Generation, noch weniger meines Jahrgangs gedacht und gehandelt" hat und glaubt, „Klassen übersprungen" zu haben, zeigt, dass sie es genoss, von „Stürmen geschützt [...] begehrt dazu und gebraucht, umsorgt" zu werden. 3 6 Entscheidend für eine Künstlerin ihrer Generation war das Bewusstsein, wählen zu können. Doch die Wahl- und Aufbruchsstimmung vor ihrer Begegnung mit Max Ernst sollte nicht ewig währen. Bald bezieht Tanning sich nicht länger auf die zur Welt hin geöffneten Türen, sondern sucht nur noch nach einem „Platz", einer „Ecke". Die Mahnung ihres Mannes, niemals stehenzubleiben, schlägt sie in den Wind. Dafür greift sie beherzt in das „Fädengewirr" seines Lebens und knüpft daran das eigene Fortkommen - .maschenabertausendweit'. 3 7 Der weibliche Traum von der Vereinbarkeit künstlerischer und generativer Ambitionen hatte in Anton Räderscheidts Paarserie der 20er Jahre einen kafkaesk abgesperrten Beobachter gefunden. Der Maler setzt sich als Rückenfigur ins Bild und sieht mit zusammengelegten Händen zu, wie Marta Hegemann den symbolischen Drahtseilakt vollzieht, ohne mehr als voyeuristische Beachtung hervorzurufen (Abb. 26

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Abb. 14 Hanna H o c h und Til Brugman, 1928 Fotografie Den Haag, Reichsmuseum Bildende Kunst, Van Doesburg-Archiv

S. 298). Es gibt niemanden und nichts, was der Artistin beim Balancieren hülfe; w i e unzählige Modelle vor und nach ihr, muss sie ihre Schritte, vom Manne beschaut, in einseitiger Nacktheit vollziehen. Noch gibt keinerlei Handreichung, wenn eine Frau einen Drahtseilakt vollzieht. N o c h sind Künstlerinnen nicht darauf vorbereitet, ihren nach Erleichterungen des eigenen Weges suchenden Männern den bedingungslosen Zugriff auf weibliche Ressourcen zu versagen, ihrerseits Gegengaben zu fordern oder, wenn sie ausbleiben, das, was sie ohne Hilfe der von ihnen unterstützten Gefährten leisteten, auch konsequent, d.h. allein zu nutzen. Welcher Künstler mag Brücke sein, w e r hält die Hände nicht zurück, wie es Räderscheidts Alter Ego angesichts der mühsam balancierenden Frau tut? Was erwartet junge Künstlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts überhaupt, w e n n sie ihre Familien verlassen, eine Ausbildung durchgesetzt und ihren oft vornehmen Status gegen den eines „Malweibes" eingetauscht haben? Für Gwendolen John ist es ein Zimmer, der eigene Körper als Kern des Kommenden, dazu ein beinah leeres, mit ersten Leben in der Legende

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Abb. 15 Lee Miller. Dorothea Tanning und Max Ernst, 1946. Fotografie

Strichen bedachtes Zeichenblatt: ein Beginn in Schwarz-Weiß, geeignet u n d bereit, alle Farben dieser Welt a u f z u n e h m e n . Was noch? Eine Mansarde in Paris. Blumen auf dem schmalen Tisch wecken die Illusion, man sei besucht u n d mit A u f m e r k s a m k e i t bedacht w o r d e n . Ein Stuhl genügt, d e n n Gäste bleiben aus (Abb. 18). Was wird die Z u k u n f t bringen? W e d e r Beifall noch K o m m e n t a r , keinen A n s t u r m männlicher Musen, aber bisweilen doch einen aufrichtigen B e w u n d e r e r des W e r k s u n d der H a n d , die es hervorbrachte. Was wir vor uns haben, ist nichts weniger als der Schauplatz weiblichen W e r dens, einsamer, n u r v o m Sonnenlicht gebilligter Riten. Dabei wird es lange bleiben. U n d d o c h k o n n t e es nicht so oder nur so weitergehen. Das Leben selbst sträubt sich gegen Verzicht gerade dort, w o er keinem M a n n abverlangt wird. W a r u m der Künstlerin? 28

Renate Berger

Abb. 16 Anna Ancher. Beim Betrachten des Tagewerks, 1883 [mit Michael Ancher]

Die gewöhnlichen „Lösungen" blieben unbefriedigend: - die Festlegung, dass Werken männlicher Abkunft erste, Werken weiblicher Abkunft zweite Priorität zukomme bei gleichzeitiger Tabuisierung bestimmter Themen für die Künstlerin - ein beziehungsbedingter Wechsel des Genres, d.h. wenn der Mann malt, wendet sich die Frau einem anderen Genre, etwa der Bildhauerei zu 38 - die Aufgabe der rein künstlerischen für die Auftrags- und Brotarbeit zugunsten des Mannes - der Wechsel von der „hohen" Kunst in angewandte Bereiche, um dem Gatten den nötigen finanziellen Rückhalt für freie Arbeiten zu schaffen, denen er kompromisslos nachgehen kann - die Aufgabe der rein künstlerischen Tätigkeit für die Auftrags- und Brotarbeit zugunsten des Mannes - das Beibehalten eines Brotberufs neben der Kunst, um dem Ehemann die Sorge für den gemeinsamen Lebensunterhalt abzunehmen - missmutige Duldung oder Desinteresse im Hinblick auf Künstlerin und Werk, mangelnde Unterstützung des Mannes Leben in der Legende

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Abb. 17 Dorothea Tanning Birthday, 1942

- Anfälle von Amnesie oder Lakonie bei sonst redseligen Künstlern, sobald es um die Erwähnung weiblicher, oft jahrzehntelanger Zuarbeit geht - heimliche, vor dem Gatten und der Öffentlichkeit verborgene künstlerische Arbeit - partielles oder grundsätzliches Mal- bzw. Berufsverbot von selten des Ehemannes. - völlige Aufgabe der Kunst. Deshalb wird die Frage, wie sich Kunst und Leben, Leidenschaft und Konkurrenz in der Konstellation des Künstlerpaars zueinander verhalten, immer dann brisant, wenn Wertsysteme zerbrechen und geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen infrage gestellt werden wie nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. 30

Renate Berger

Abb. 18 Gwendolen John A Corner of the Artist's Room in Paris, 1907-1909 Sheffield, City Art Gallery

Auffällig ist, dass weder der Nutzen, den Künstlerinnen für Künstler haben, noch ihr Mitwirken an androphilen oder sexistischen Sehweisen und Strukturen, noch ihre Selbstaufgabe das Unbehagen von Künstlern gegenüber einer nicht länger für männliche Belange eingespannten Kreativität zu mildern vermögen. Sigmund Freuds Brautbriefe, Gustav Mahlers oder Oskar Kokoschkas Briefe an Alma Schindler machen deutlich, wie sensibel Künstler und Intellektuelle noch um die Jahrhundertwende auf minimale Verschiebungen im Machtgefüge zwischen den Geschlechtern reagierten, wie wenig vorbereitet sowohl Männer als auch Frauen darauf waren, miteinander konkurrieren zu müssen. Für beide Geschlechter sollte die monokulturelle Erfahrung (Männer konkurrieren mit Männern, Frauen mit Frauen), die im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder durchbrochen und unter Angestellten oder Intellektuellen der 20er Jahre endgültig zum Anachronismus geworden war, durch neue Erfahrungen ergänzt werden. Ein kultivierter Umgang mit Rivalität zwischen Künstlern und Künstlerinnen ließ dennoch auf sich warten. Leben in der Legende

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Oskar Molls launige Bemerkung, „that he had to marry away competition", d.h. das Konkurrenzproblem durch Heirat zu lösen (mit Margarete Moll, einer Schülerin Corinths), entsprach einer bereits im 18. Jahrhundert praktizierten und bis ins 20. Jahrhundert favorisierten Strategie, da zahllose Künstler ihre Elevinnen oder Mitschülerinnen durch Heirat dem Markt entzogen, ohne dass jemand die männliche Liebe zur Kunst deshalb infrage gestellt hätte. 39 Doch bereits die Generation von Clara Westhoff und Rainer Maria Rilke, Paula Becker und Otto Modersohn dachte anders darüber. Heirat war keine Entschuldigung für unzureichende Leistungen, Mangel an Kühnheit, Unterordnung, Selbstaufgabe. Die radikalste, bildlich geführte Auseinandersetzung mit Anforderungen, die die Folgen einer gelebten Sexualität einem jungen, unvermögenden Künstlerpaar aufzwingen, findet sich m.W. gegen Ende der zwanziger 20er Jahre bei einer sich noch in der Ausbildung befindlichen Studentin·. Hanna Nagel. Auch für sie sind weiße Blätter ein Symbol ihrer Zukunft als Künstlerin (Abb. S. 333).40 Im Gegensatz zur Mehrzahl der Künstlerpaare gelang es - wie Beispiele aus England oder Frankreich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigen, schreibenden oder wissenschaftlich arbeitenden Paaren unter bestimmten Voraussetzungen durchaus, individuelle Lebensentwürfe zu verwirklichen. 41 In den Künsten finden wir selten Vergleichbares; man hat sogar den Eindruck, als seien Künstlerpaare besonders resistent gegenüber emanzipatorischen oder auch nur liberalen Ideen. Der Umgang mit Intimität und Rivalität, mit privaten und öffentlichen Aspekten einer gemeinsamen Lebensstrecke, kann dennoch zu Überraschungen führen. Selbst dort, wo die Tradition herrscht, wird sie manchmal auf unverhoffte Art durchschaut. Ein Beispiel dafür hat Fran£oise Gilot in ihre Erinnerungen aufgenommen. „Es muß für die Kinder oft einsam gewesen sein", schreibt sie rückblickend. „Sie sahen ihren Vater fast nie und ihre Mutter verbarrikadierte sich hinter der Tür ihres Ateliers, sooft sie ein paar Stunden für sich erübrigen konnte. Einmal, als ich an einem Bild malte, das mir große Schwierigkeiten machte, hörte ich ein leises, schüchternes Klopfen an der Tür. ,Ja', rief ich und arbeitete weiter. Ich hörte Claudes Stimme, leise, von der anderen Seite der Tür. ,Mama, ich liebe dich.' Ich wäre gern hinausgegangen, doch ich konnte den Pinsel nicht weglegen, nicht in diesem Augenblick. ,Ich habe dich auch gern, mein Liebling', sagte ich und blieb an meiner Arbeit. Einige Minuten vergingen. Dann hörte ich ihn wieder. ,Mama, ich mag deine Bilder.' ,Danke schön, Liebling', sagte ich. ,Du bist ein Engel.' Nach einer weiteren Minute sagte er noch einmal: ,Mama, was du machst, ist sehr schön. Es ist Phantasie darin, aber es ist nicht phantastisch'. Mir stockte die Hand, doch ich sagte nichts. Er muß mein Zögern gespürt haben. Er sagte jetzt lauter: .Deine Bilder sind besser als die von Papa'. Ich ging zur Tür und ließ ihn herein." 42

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Renate Berger

Anmerkungen 1

Else Lasker-Schüler. „Ein alter Tibetteppich". Richard W e i ß , Else Lasker-Schüler. In: Die Fackel, hg. von Karl Kraus, N r . 321 / 3 2 2 , 29.4.1911, S. 48.

2

An neueren Veröffentlichungen zu Paaren in Literatur, Wissenschaft und Kunst sind u.a. zu nennen: Gerda M a r k o : Schreibende Paare, Zürich/Düsseldorf 1999. Ulla Fölsing: Geniale Beziehungen, berühmte Paare in der Wissenschaft, München 1999. Künstlerehen, in: Kunstforum Bd. 2 8 , 4 / 7 8 ; KünstlerPaare u.a.m., in: Kunstforum, Bd. 106, März/April 1990; W h i t n e y Chadwick/Isabelle de Courtivron (Hg.): Significant Others - Creativity & Intimate Partnership, L o n d o n 1993; A K Künstlerpaare, Stadtmuseum Jena u.a., Jena 1994; Eins und eins - das macht zwei? - Kritische Beiträge zum Künstlerpaar, in: Frauen Kunst Wissenschaft, H . 25, Juni 1998.

3 Vgl. dazu Helene Goldschmidt: Das deutsche Künstlerdrama von G o e t h e bis R . Wagner, W e i m a r 1925; Erna Levy: Die Gestalt des Künstlers im deutschen Drama, Berlin 1929; Maurice Beebe: Ivory T o w e r s and Sacred Founts. T h e Artist as H e r o in Fiction from G o e t h e to J o y c e , N e w Y o r k 1964. Zu den Ausnahmen, die bildende Künstlerinnen in den Mittelpunkt stellen, vgl. Renate Berger, Malerinnen auf dem W e g ins 20. Jahrhundert, Köln 1982, S. 2 1 1 - 2 2 3 . 4

Charlotte B e r e n d - C o r i n t h : D i e Gemälde von Lovis Corinth, München 1958.

5

Lovis Corinth, Eine Dokumentation, zusammengestellt und erläutert von T h o m a s Corinth, Tübingen 1979. Vgl. A K Charlotte Berend-Corinth, Kunstverein Erlangen u.a., Erlangen 1980; Irmgard Wirth: Charlotte Berend- Corinth, Berlin 1969. Ein großer Teil ihrer W e r k e ging während des Krieges verloren.

6

Charlotte B e r e n d - C o r i n t h [a]: Mein Leben mit Lovis C o r i n t h , H a m b u r g - B e r g e d o r f 1948, S. 134.

7 Vgl. dazu Lovis Corinth: Selbstbiographie, Leipzig 1926, S. 168, 171, 177, 180 [Auch diese Publikation wurde von Berend gesichtet, betreut und auf den W e g gebracht.]. B e r e n d - C o r i n t h 1948; Charlotte [Berend-] Corinth: Lovis, München 1958. 8

Charlotte B e r e n d - C o r i n t h [b]: Mein Leben mit Lovis Corinth, München 1958, S. 139.

9

Käthe Kollwitz verabschiedet sich im Mai 1922 mit Blick auf eine junge Künstlerin endgültig von der Vorstellung: „ D a ß aus Mädchen bis zur heutigen Erfahrung kein Genie hervorgegangen ist, ist mir jetzt auch gleichgültig. N i c h t nur Genies haben das Recht, sich so eingängerisch zu benehmen. W o gibt es denn jetzt unter den Malern ein Genie? Auch die männlichen Künstler können froh sein, achtungswerte Leistungen hervorzubringen, gute Künstler-Handwerker zu sein. Das können Frauen auch." In: Käthe Kollwitz, D i e Tagebücher, hg. von Jutta B o h n k e - K o l l w i t z , Berlin 1989, S. 534.

10

Fran^oise G i l o t / C a r l t o n Lake: Leben mit Picasso, München 1980, S. 312.

11

Ibid. S. 133 ff.

12

Gail Levin: Edward H o p p e r , Ein intimes Portrait, München 1998, S. 1 7 - 1 8 .

13

Levin 1998, S. 18.

14

Ibid.

15

B e r e n d - C o r i n t h 1958 [b], S. 1 5 6 - 1 5 7 .

16

Levin 1998, S. 15.

17

G i l o t / L a k e 1980, S. 2 4 4 - 2 4 5 .

18

Die umständlichen Rituale der Ermunterung beschrieben B e r e n d - C o r i n t h 1958 [b], S. 3 4 - 3 6 [mit dem Kommentar: „So tat ich es schon oftmals so wie eine gut einstudierte Rolle. D e r Effekt für ihn blieb der gleiche gute; aber für mein Gefühl, da war es von Schaden, denn innerlich griff eine gewisse Kälte Platz. Es wurde zur Gewohnheit, was ich einst aus Liebe geformt hatte".] und G i l o t / L a k e 1980, S. 1 3 3 - 1 3 5 . Beide zeigten rasch Ermüdungserscheinungen angesichts des permanenten „Jammerns" ihrer Partner und der Stereotypie des Rituals.

19

Berger 1982, S. 236.

20

G o t t f r i e d Sello: Malerinnen aus fünf Jahrhunderten, H a m b u r g 1988, S. 100; Berger 1982, S. 2 3 3 - 2 3 5 .

21

Berger 1982, S. 235. In Corinths Selbstbiographie, 1926,S. 167 heißt es: „Alles, was ich in meinem Leben errungen habe, danke ich zuerst meinen Eltern, die mich erzeugten, und dann mir selbst, nur mir selbst."

22

Berend-Corinths Fazit lautet 1927: „Ich behaupte sogar, daß große Leistungen von einem M a n n nur ausgeführt werden, wenn eine Frau neben ihm steht, ohne sich vordrängen zu wollen, nicht einen Schritt - eher noch hinter ihm mag sie verbleiben [...] Ich behaupte ferner, daß auch eine Frau mehr Leistungen von W e r t hervorbringen würde, wenn ein Mann so neben ihr stünde, aber - er möge mir verzeihen dafür ist der Mann noch nicht reif! Tatsächlich, es gibt keine Frauenemanzipation - es gibt nur eine E n t wicklung beim Manne, auf die zu hoffen wäre." B e r e n d - C o r i n t h 1958 [b], S. 115

L e b e n in der L e g e n d e

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23 Diese und die beiden weiteren Zeichnungen finden sich in: Levin 1998, S. 255, 251-253. 24 In: Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 5.10.1990. Herablassung, Trivialisierung und anekdotische Verharmlosung finden sich auch bei Dietmar Grieser: Musen leben länger, Begegnungen mit Dichterwitwen, München/Wien 1981. Zum Witwenstatus aus der Sicht einer Künstlerin vgl. Dorothea Tanning: Birthday, Lebenserinnerungen, Aus dem Amerikanischen von Barbara Bortfeldt, Köln 1990, S. 165 f. 184. 25 Vgl. den Beitrag von Gabriele Werner über Dora Maar und Pablo Picasso in diesem Band. Klaus Theweleit: I. Lexicon of love (Auszüge), in: AK „Künstlerpaare", Jena 1994, S. 19-34. 26 „In drei Stiftungen ist Sophie Taeuber mit ihrem Werk präsent, in der Fondazione Marguerite Arp in Locarno (Schweiz), in der Fondation Arp in Clamart (Frankreich) und in der Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber e.V. im Bahnhof Rolandseck (Deutschland). Seine Arbeiten, so bestimmte es Hans Arp, dürfen nur gemeinsam mit denen von Sophie Taeuber gezeigt werden. Mit dieser Bedingung legte er letztlich den Grundstein dafür, dass die eigenständige Künstlerin, eine der ersten Vertreterinnen der Konkreten Kunst, eine der ersten Ausdruckstänzerinnen, Professorinnen und Architektinnen, zur .verkannten Muse ihres Mannes' wurde." Roswitha Mair: Von ihren Träumen sprach sie nie, Das Leben der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, Freiburg i.Br. 1998, S. 212, vgl. S. 210. 27 Berend-Corinth 1958 [b], S. 88, 50, 54 ff., 58. Solche Hinweise durchziehen das ganze Buch. 28 Gilot/Lake 1980, S. 126,211, 187. 29 Ibid. S. 312-313. 30 Künstlerinnen, die sich auf das Zuarbeitsmodell einlassen, arbeiten nur mit „Restzeiten". So auch Berend-Corinth. Gilot erwähnt noch eine andere Erklärung für die darstellende Abstinenz: „Bei all meinen Pflichten gelang es mir zwischendurch, Zeit für meine eigene Malerei zu finden. Seit ich in die Rue des Grands-Augustins [zu Picasso] gezogen war, hatte ich etwa drei Jahre lang nicht mehr gemalt, sondern nur noch gezeichnet. Ich hatte geglaubt, ich könne neben Pablo nicht mehr malen, ohne seinen Einfluß zu reflektieren, daß es mir aber möglich sei, meinen eigenen Stil weiter zu entwickeln, wenn ich mich auf das Zeichnen beschränkte, da ich dabei leichter merken würde, ob und wie ich von Pablos Werk beeinflußt würde, weil ich das Ganze besser überblicken konnte. 1948 begann ich Gouachen zu machen, und erst 1949 malte ich wieder in Öl." Gilot/Lake 1980, S. 213. 31 Vgl. dazu Tanning 1990, S. 170-171. 32 Mair 1998, S. 210. 33 Renate Berger: „...denn meine Wünsche streifen das Unmögliche...". In: Bärbel Kovalevski (Hg.): Zwischen Ideal und Wirklichkeit, Künstlerinnen der Goethezeit zwischen 1750 und 1850, Ostfildern-Ruit 1999, S. 14 f. 34 Einen Erklärungsversuch unternahm Gisela Breitling: Uber die Abwesenheit der Männer in der erotischen Kunst von Frauen. In: Gisela Breitling: Der verborgene Eros, Weiblichkeit und Männlichkeit im Zerrspiegel der Künste, Frankfurt a.M. 1990, S. 196-208. 35 Vgl. Apropos Lee Miller, Frankfurt a.M. 1995, S. 82. 36 Tanning 1990, S. 211 f. 37 Ibid. S. 162, 166, 184. 38 So Margarete Moll. Fran^oise Gilot wich zeitweise aufs Zeichnen aus, bevor sie sich wieder der Malerei zuwandte. In Siegfried und Dorothea Salzmann: Oskar Moll, Leben und Werk, München 1975, S. 3 8 43 findet sich ein Text von Marg [= Margarete] Moll: Unser gemeinsamer Weg (1956) im Stil einer Vitagraphie; „unser" Weg war im wesentlichen Oskar Molls Weg. Vgl. Marg Moll: Fragmente, Erinnerungen, Plastik, hg. von Iris F. Würtz, Düsseldorf o.J., o.S. Auch Margarete Moll war zeitweise Schülerin ihres Mannes. 39 Berger 1999, S. 18. 40 So in ihrer Lithographie „Lasst euer Licht für meinen armen Docht leuchten" (1928), Abb. in diesem Band, S. 333. 41 Vgl. den Beitrag von Christiane Schmerl in diesem Band. 42 Gilot/Lake 1980, S. 213-214.

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Renate Berger

„... wird es mir eine Freude sein, Ihnen Ihren eigenen Weg zu zeigen"

Irma Stern und Max Pechstein*

IRENE B E L O W

„Mein liebes Frl. I. Stern. Also nun hören Sie. Vorgestern erhielt ich endlich von London die Nachricht, daß meine Einreiseerlaubniß bewilligt sei... Nun regnet es wohl bei Ihnen... Nun hatte ich, da sich die Angelegenheit mit London so hinzog ... mich ... entschlossen ... zu warten, bis es wieder schön wird in Kapstadt. Sollten Sie und ihre werten Eltern dann noch geneigt sein, mich und meine Frau zu begrüßen, so würde ich dann im Herbst kommen... Bis dahin, oder bis zum nächsten Schreiben meine besten Grüße, auch an ihre werten Eltern von Ihrem HMPechstein und Gattin." 1 Mit diesem Brief teilte Max Pechstein 1924 der in Kapstadt lebenden Freundin Irma Stern mit, daß sein seit Monaten geplanter Besuch in Südafrika noch einmal verschoben werden mußte. Die Reise hat auch später nicht stattgefunden, aber im Geiste weilte Pechstein häufig in Kapstadt bei der 11 Jahre jüngeren Künstlerin, mit der ihn seit 1917 eine freundschaftliche Beziehung und zunehmend größere Vertrautheit verband. Als Paar sind die südafrikanische Malerin Irma Stern und Max Pechstein bisher allerdings nicht gesehen worden - weder in der Literatur über Irma Stern, in der die Beziehung zwischen beiden Künstlern in der Regel zumindest kurz erwähnt wird, 2 noch in der über Pechstein. Dort erscheint sie gar nicht, auch nicht in den nach dem zweiten Weltkrieg verfaßten Erinnerungen des Malers. In Deutschland ist Irma Stern erst in jüngster Zeit durch eine umfangreiche Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld wieder ins Blickfeld gerückt - als Künstlerin, die in Afrika und Europa gleichermaßen verankert war und einen Austausch zwischen den Kontinenten herstellte. 3 Irma Stern ist damit zugleich ein Beispiel für den komplexen Vorgang der Ausgrenzung von nicht in Europa oder den USA entstandener Kunst der Moderne und der Marginalisierung der Kunst von Frauen in der westlichen Kunstgeschichtsschreibung. 4 Eine andere Perspektive auf ihr Leben und ihre Arbeit soll hier verfolgt werden: die Frage nach den Voraussetzungen ihres Erfolgs in den zwanziger Jahren als Avantgardekünstlerin - erst in der Metropole Berlin, dann in ganz Europa Irma Stern und Max Pechstein

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und parallel in Südafrika. Die Begegnung und Freundschaft mit Max Pechstein war für Irma Sterns erfolgreichen Eintritt in das Berliner Kunstleben konstitutiv. An der Beziehung zwischen den beiden läßt sich verfolgen, wie und warum ein prominenter Künstler der Klassischen Moderne eine jüngere Kollegin nach Kräften unterstützte, und wie es einer jungen, unbekannten Malerin gelang, die Spielregeln eines männlich dominierten Kunstbetriebs zu erlernen, sich dort zu behaupten und eine Selbstkonzeption als moderne avantgardistische Künstlerin zu entwickeln. An Irma Stern läßt sich exemplarisch untersuchen, „welche Umstände einzelnen Frauen trotz struktureller Benachteiligung den Weg in die Professionalisierung ermöglichten". 5

Irma Stern Irma Sterns Leben war geprägt durch wechselnde Aufenthalte in Europa und Afrika. G e b o r e n wurde sie 1894 in dem kleinen O r t Schweizer-Reneke (150 weiße B e w o h ner) in der damals burischen Südafrikanischen Republik im westlichen Transvaal als erstes Kind deutsch-jüdischer Einwanderer. D e r Vater, ein unmusischer man,

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Selfmade-

Sohn eines jüdischen Viehhändlers im Hessischen, war zusammen mit seinem

Bruder als Kaufmann und Farmer erfolgreich. Ihm gelang der ö k o n o m i s c h e und gesellschaftliche Aufstieg über den U m w e g in die Kolonien, und so wuchsen Irma Stern und der fünf Jahre jüngere Bruder in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen auf. D i e bei Irma Sterns Geburt erst 19 Jahre alte Mutter war vom Vater grundverschieden. W i e in vielen jüdischen Familien im Kaiserreich üblich, war die Mutter an bildungsbürgerlichen Idealen orientiert und strebte nach gesellschaftlicher A k z e p tanz durch eine gute Ausbildung ihrer Kinder. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Irma Stern in Afrika und in Europa gelebt: 1901 hatte die Familie wegen des Burenkriegs erstmals länger Südafrika verlassen und sich in Berlin niedergelassen. V o n Berlin aus folgten drei längere Aufenthalte im Transvaal in den Jahren 1903/04,1909/10 und 1913/14. D e r Erste Weltkrieg machte dann jeden K o n t a k t mit Südafrika unmöglich. Erst 1920 konnte die Familie zurückkehren. In Kapstadt hatte Irma Stern von 1920 bis zu ihrem T o d 1966 ihren festen Wohnsitz, doch sie wechselte auch weiterhin zwischen unterschiedlichen Kulturen hin und her: Bis 1933 hielt sie sich jedes zweite J a h r in Deutschland auf, später dann in Italien, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem in Frankreich und Spanien. In den Jahren, in denen sie nicht nach Europa kam, arbeitete sie auf ausgedehnten Reisen erst in entlegenen Gebieten Südafrikas, später mehrfach auf Madeira, Sansibar und im K o n g o . Schon diese kargen Angaben zeigen, in wie unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten Irma Stern sich bewegt hat. Ü b e r 800 bisher bekannte Gemälde, eine nicht annähernd erfaßte Zahl von Zeichnungen, Aquarellen und Graphiken, dazu Skulpturen und Keramiken geben heute eine 38

Irene Below

Vorstellung ihres umfangreichen Schaffens. Zusammen mit dem schriftlichen Nachlass, dem Wohnhaus in Kapstadt mit umfangreicher Bibliothek und Kunstsammlung heute das von der Universität Kapstadt betreute Irma Stern Museum - zeigt die Hinterlassenschaft einer überaus produktiven Künstlerin, die bis heute als „die führende, künstlerische Pionierin der Moderne im südafrikanischen Kontext" gilt. 7

Irma Sterns W e g zur Kunst Fotos aus den Jahren zwischen 1915 und 1925 - meist Szenen während des Studiums oder bei der Arbeit 8 - zeigen eine jugendliche, nicht allzu große, üppige, aber noch nicht dicke Gestalt. Auf frühen Porträts sieht man ein sehnsüchtig verträumtes, aber auch energisches Gesicht - umrahmt von dunklem Haar (Abb. 1). Auf einem Foto, das

Abb. 1 Irma Stern Portraitfotografie um 1920 Kapstadt, South African Library Irma Stern und Max Pechstein

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Abb. 2 Library

Irma Stern mit Zigarette im Atelier. Fotografie, um 1922. Kapstadt, South African

vermutlich um 1922 in ihrem Kapstädter Atelier aufgenommen wurde (Abb. 2), präsentiert sich Irma Stern selbstbewußt im Malerkittel mit Zigarette in der rechten und Palette in der linken Hand vor zwei eigenen Arbeiten - einer Plastik links und einem Gemälde rechts, an dem sie offenbar gerade arbeitet. 9 Auf diesem und auf einem zweiten Foto offenbar aus derselben Serie, das sie ebenfalls im Atelier, aber jetzt mit Pinsel und Palette vor dem Gemälde eines jungen Mädchens zeigt, inszeniert sie sich als moderne Künstlerin. Sie definiert sich über ihren Beruf, dem sie mit Ernst und Entschiedenheit nachgeht. Die Zigarette charakterisiert sie als freie, über den Konventionen und geschlechtlichen Zuschreibungen stehende Intellektuelle. 1 0 Mit der Zigarette nimmt sie ein Motiv auf, das auf Selbstbildnissen und Fotos von Künstlern seit Munch häufig als Attribut zu finden ist. 11 Im Expressionismus wird Rauchen offenbar auch mit rauschhafter Kreativität konnotiert. Irma Stern zeigt sich auf den beiden Aufnahmen als Malerin von expressionistischen Stilleben und Porträts, aber auch als Bildhauerin, die als Thema Köpfe von „Eingeborenen" gewählt hat. Die Modernität ihrer Malerei und die Themenwahl hatten bei ihrer ersten Ausstellung in Kapstadt im Jahr 1922 das Publikum schockiert und zu regelrechten Tumulten geführt. 1 2 40

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Nach der zweiten Ausstellung in Kapstadt 1925 trat die nun 32jährige Malerin in der Kapstädter Zeitung Cape Argus mit zwei ganzseitigen Artikeln an die Öffentlichkeit. Aus zwei unterschiedlichen Perspektiven kommentierte sie ihre Arbeiten. Unter dem Titel „My exotic models" reagierte sie auf die massive Kritik an ihren Bildthemen und beschrieb ihr Interesse an der vielgestaltigen südafrikanischen Bevölkerung, insbesondere an „our black brotherfolk" in den von Weißen nicht kolonisierten Gebieten. Im zweiten Artikel mit dem Titel „How I began to paint" stellte sie dem konservativen Kapstädter Publikum ihren künstlerischen Werdegang, die Ausbildung ihrer modernen Bildsprache und ihre Erfolge in Europa vor. 13 Sie schildert zunächst ihre Kindheit im südafrikanischen Buschland, die überwältigende farbenprächtige Natur, das besondere Licht und die „dunklen Gestalten der Eingeborenen". Die frühen Eindrücke des Kindes von der weiten Steppenlandschaft und deren Bewohnern sowie die Vertiefung dieser Eindrücke bei späteren Aufenthalten charakterisiert sie als die eine Wurzel ihres künstlerischen Strebens, die schulische und künstlerische Ausbildung in Berlin und an der Weimarer Kunstakademie als die andere. Sie stellt dar, wie sie nach Enttäuschungen und Zweifeln in der Ausbildung und nach einem Zerwürfnis mit ihrem letzten Lehrer Martin Brandenburg über das Bildnis eines kleinen Mädchens - das sie „pathetic child" nennt 14 - seit dem Jahr 1916 selbstständig weitergearbeitet und schließlich ihren Durchbruch und Erfolg gefunden hat: „Einige Zeit später stellte mich ein Berliner Kunstsammler ... Max Pechstein vor, dem anerkannt führenden Kopf der modernen Malerei in Deutschland. Diesem wahrhaft großzügigen und edelmütigen Künstler verdanke ich mehr als sonst irgend jemandem. Er ebnete mir den Weg in die Öffentlichkeit - ein Schritt, der aufgrund der enormen Konkurrenz unbeschreiblich schwer ist. Ich hatte Herrn Pechstein einige meiner Zeichnungen und Gemälde gezeigt, um seine Meinung dazu zu hören. Zu meiner größten Freude gefiel ihm alles. Mein Alleingang hatte mir sehr viel mehr gegeben, als alles, was ich je unter Anleitung eines Lehrers hervorgebracht hatte, insbesondere mein unglückseliges ,Pathetic child' und meine Eingeborenenköpfe... Am nächsten Tag kam er zu Besuch in mein Atelier. Er verbrachte den ganzen Nachmittag damit, sich meine Arbeit anzusehen, und als er ging, war es, als ob wir uns schon seit vielen Jahren gekannt hätten, so gute Freunde waren wir geworden. Ohne einen weiteren Aufschub stellte Herr Pechstein den Kontakt zwischen mir und Herrn Gurlitt her, dem Eigentümer des prominentesten Kunstsalons in Berlin. Nachdem er meine Arbeiten angesehen hatte, arrangierte er sofort die erste Ausstellung für mich. Ich zeigte ungefähr dreißig große Ölgemälde und eine große Auswahl von Zeichnungen und Aquarellen. Diese Ausstellung war sicherlich mein Sprungbrett in die Kunstszene Mitteleuropas. Von allen Seiten kamen plötzlich Einladungen auf mich zu, meine Bilder auszustellen. Ich wurde auch dazu aufgefordert, Mitglied der „Novembergruppe" zu werden, einer Gruppe moderner Künstler, die sich von der Berliner „Sezession" abgeIrma Stern und Max Pechstein

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spalten hatten. Ich empfand das als sehr schmeichelhaft, da ich neben einer Bildhauerin die einzige Frau war, die das Angebot erhalten hatte, der Vereinigung beizutreten.... " 15 Auf den ersten Blick aktualisiert diese Geschichte eine klassische Legende, die seit Giottos Entdeckung durch Cimabue in der Künstlerbiographik immer wieder neu erzählt wird: Ein älterer, schon arrivierter Künstler entdeckt das Naturtalent eines jüngeren und unterstützt und fördert diesen auf seinem Weg. 1 6 Ungewöhnlich ist daran, daß die Geschichte von einer Künstlerin handelt und auch von dieser selbst erzählt wird. Ihr habe „der anerkannt führende Kopf der modernen Malerei in Deutschland" den sonst „unbeschreiblich schweren" Weg in die Kunstszene mit ihrer „enormen Konkurrenz" geebnet. Durch die Bemerkung über ihre Gründungsmitgliedschaft in der Novembergruppe und die geringe Frauenpräsenz in dieser „Gruppe moderner Künstler" gab die Autorin Irma Stern zu verstehen, daß sie sich im Klaren war, daß für eine Frau ein solcher Einschluß in die von Männern dominierte Künstler- und Kunstwelt der Metropole Berlin auch nach der Revolution von 1918 ungewöhnlich war. Sie war stolz darauf, daß sie sich auf einem männlich besetzten Terrain behaupten konnte. Ausbildungsbeschränkungen und Behinderungen für Frauen kommen in Irma Sterns Text auch an anderer Stelle vor und machen deutlich, wie bewußt ihr die Konstruktionen der Geschlechterdifferenz im Kunstbetrieb waren. In der ersten privaten Kunstschule etwa, die sie in Berlin seit 1912 besuchte, 17 fühlte sie sich mit ihrer Arbeit nicht ernst genommen: „Was ich erhielt war Lob und, im besten Fall, ein paar zaghafte Vorschläge, wie ich meine Zeichnungen elegant zum Abschluß bringen konnte, alles völlig unangebracht in meinen Augen." 1 8 Bei der Suche nach einer besseren Ausbildungsmöglichkeit habe sie „überall die gleiche Routine" gefunden und vom Besuch einer staatlichen Kunstakademie geträumt, „um so mehr, als es eine Regel gab, die den Eintritt von Frauen untersagte". 19 Sie entdeckte eine Ausschreibung der Großherzoglichen Akademie Weimar für deren spezielle Frauenklassen und nach der erfolgreichen Bewerbung war sie überglücklich. Doch auch dort habe sie anfänglich „blankes Entsetzen" gepackt, als sie Gipsabgüsse abzeichnen sollte. Sie wollte frei in der Natur arbeiten und tat dies auch - vor allem auf einer langen Reise in ihre Heimat Südafrika in den Jahren 1913/14. Obwohl sie dann doch in Weimar und später auch in Berlin gute Lehrer fand, wurde ihr spätestens durch den Konflikt mit Martin Brandenburg über das Mädchenbildnis klar, „daß wenn ein Künstler die technischen Tricks und Kniffe des Künstlerhandwerkes beherrschte, ihn kein Lehrer wirklich weiterbringen konnte. Seinem inneren Ruf folgend, muß ein jeder ganz allein den eigenen Weg gehen". 20 Damit war für Irma Stern klar, daß äußere Beschränkungen nur ein Hindernis unter anderen für eine erfolgreiche künstlerische Karriere sind. Als wichtigste Voraussetzung sieht sie nun die Entwicklung eines eigenständigen Selbstverständnisses als Künstlerin. In das Zentrum der Überlegungen tritt damit für Irma Stern ab 1916 die Arbeit an ihrer künstlerischen Selbstkonzeption.

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Die 1926 publizierten Texte sind die ersten, in denen sie ihr Selbstverständnis einer größeren Öffentlichkeit mitgeteilt und so die Rezeption ihrer Arbeit zu bestimmen gesucht hat. In den folgenden Jahrzehnten hat sie vor allem in Südafrika, aber auch in Deutschland durch unterschiedliche Kommentare in Interviews, Zeitungsartikeln und zwei Büchern ihren Selbstentwurf fortgeschrieben und modifiziert. In Südafrika kam es - je berühmter sie wurde - zu einer Flut von Veröffentlichungen in der Tages- und Wochenpresse, die heute die Formen und den Wandel ihrer Selbstinszenierung bis zu ihrem Tod im Jahr 1966 nachvollziehbar machen. 21 Die nach dem Konflikt mit Brandenburg entstandene Erkenntnis, daß „seinem inneren Ruf folgend ... ein jeder ganz allein seinen eigenen Weg gehen" muß, hat in Irma Sterns Biographie eine lange Vorgeschichte nicht nur der Ausbildung, sondern auch der Auseinandersetzung mit gängigen Vorstellungen vom Wesen einer Künstlerin. Als junges Mädchen hatte sie begonnen, ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Lebenswelten in Tagebüchern zu artikulieren und sich über sich selbst, ihre Wünsche, Möglichkeiten und Spielräume klar zu werden: „Die Sonnenuntergänge sind einfach himmlisch hier; am liebsten möchte ich sie in mein Skizzenbuch hineinzaubern. Ich werde es nicht versuchen sie zu malen, denn wenn man einen Schmetterling anfaßt, so verliert er den Schmelz und den Gold-Staub. Wenn ich galoppierend auf dem Pferde sitze und meine Röcke und Zöpfe fliegen, dann merke ich erst, daß ich in meiner Heimat bin... Alle Bücher, die ich zu lesen anfange, werden mir weggenommen. Sie passen nicht für mich. Es ist einfach ekelhaft. Wenn ich die Schule absolviert habe, werde ich auf die Malakademie gehen. Dann werde ich endlich ordentlich malen können." 2 2 Der Wunsch der 15-jährigen, Künstlerin zu werden, erscheint in dieser in Südafrika geschriebenen Tagebucheintragung als klischeehafte Vorstellung eines Mädchens, das mit diesem Beruf ihre Sehnsucht nach Freiheit und Ungebundenheit in einer gesellschaftlich akzeptablen Weise zu verbinden sucht. 23 Die lebendige Schilderung eines Besuchs im Atelier der Malerin „Frl. v. Kostinobel" ein Jahr später im September 1911 zeigt, wie gut Irma Stern die Reservate weiblicher Kunstproduktion zu beobachten und beschreiben wußte. 2 4 Solche Erfahrungen werden ihr Bewußtsein für unterschiedliche Formen von Professionalität geschärft haben. Lisa Tickner hat die aktive Entwicklung künstlerischer Identität am Beipiel englischer Avantgarde-Künstler in den Jahren zwischen 1900 und 1920 verfolgt und aufgezeigt, wie stark sie etwa von Epstein, Gaudier-Brzeska und anderen an die Vorstellung von Männlichkeit gekoppelt wurde. 2 5 Für die deutschen Expressionisten ist dies weniger gut untersucht, aber auch hier gilt offenbar, daß „gesellschaftliche Marginalität für den männlichen Künstler der Avantgarde eine heroische, kulturell privilegierte Form des Daseins" war, „während die Marginalität des weiblichen Künstlers oder des Modells, mit allen besonderen historischen Implikationen für Geschlecht und Sozialität, einen Ausschluß bedeutet aus der großen Unternehmung Kultur". 26 Wenn Künstlerinnen trotzdem eine Chance haben wollten, kam es darauf an, diesen Ausschlußmechanismen etwas Irma Stern und Max Pechstein

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entgegenzusetzen und im Kontext der aktuellen Debatten eigene Vorstellungen und Mythen über künstlerische Arbeit zu entwickeln. „Ein Künstler zu werden, war nicht nur eine soziale Frage der Ausbildung und der Chancen, vor allem war es eine Sache des Ehrgeizes und der Vorstellung [Hervorhebung im Original I.B.], die man von sich als Künstler hatte." 27 Dies galt für Künstlerinnen in ungleich höherem Maße. Irma Stern scheint sich früh über die Ausschlußmechanismen, die eine Marginalisierung von Künstlerinnen im Rahmen avantgardistischer Kunst zur Folge hatten, im klaren gewesen zu sein. Sie suchte Strategien zu entwickeln, um den geschlechtlichen Zuschreibungen zu entkommen. Dabei fand sie in Max Pechstein einen Partner, der sie bei ihrer künstlerischen Arbeit beriet und in die offenen und geheimen Spielregeln des Berliner Kunstbetriebs einführte. Vor allem aber war er in der Lage, die Herausbildung der künstlerischen Identität der jungen Malerin zu fördern und einen aktiven Prozeß der Selbstkonzeption als „moderne" Künstlerin zu unterstützen. Dies zeigt ein bisher kaum beachteter Briefwechsel zwischen Irma Stern und Max Pechstein aus den Jahren 1917 bis 1926. Er ist zugleich ein Zeugnis der wachsenden Freundschaft zwischen Irma Stern und Pechstein und macht deutlich, daß auch Pechstein aus der Begegnung mit der jungen, gebildeten Südafrikanerin in einer krisenhaften Lebenssituation neue Perspektiven entwickelte. Doch bevor ich näher auf den Briefwechsel eingehe, zunächst einige kurze Hinweise zu Max Pechsteins Werdegang bis zu der Begegnung mit Irma Stern.

Max Pechsteins künstlerischer Weg Als Max Pechstein - im Frühjahr 1917 von der Armee freigestellt - nach einem Erholungsaufenthalt in Ahrenshoop im Frühsommer nach Berlin zurückkehrte 28 und Anfang Juni von der 11 Jahre jüngeren Irma Stern zum ersten Mal aufgesucht wurde, war er 34 Jahre alt. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer tiefen persönlichen und beruflichen Krise. Aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte er einen langen Weg zurückgelegt, bis aus ihm der erfolgreiche Maler geworden war, als der er um 1918 allgemein galt. Das Foto von Waldemar Titzenthaler aus dieser Zeit zeigt ihn nachdenklich, aber offen und gesprächsbereit am Tisch mit Katze und Teekanne mit Teeschale (Abb. 3). 29 In dem sparsam eingerichteten Atelier wird er flankiert von einer afrikanischen Figur links, die seit 1913 auf mehreren Stilleben zu finden ist, 30 und einem Kopf rechts, an dem er offenbar gerade arbeitet. In einem Brief vom 6. August 1919 an Georg Biermann, den Autor der PechsteinMonographie, die 1919 die Reihe „Junge Kunst" eröffnete, hat Pechstein - ähnlich wie später Irma Stern im Cape Argus - seinen Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt beschrieben: „.. eins ist vor allem, was mich geführt: Mich verbindet ein inniges Gefühl mit der Natur und ich kann mir ohne dies ein Schaffen für meine Person 44

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Abb. 3

Waldemar Titzenthaler. Max Pechstein. Fotografie, um 1918/19

nicht denken". 3 1 Die Hürden auf seinem Weg waren ganz andere als die bei Irma Stern - vor allem bedingt durch seine einfache Herkunft aus einer Handwerkerfamilie. Er mußte eine Vielzahl äußerer Beschränkungen überwinden. In seiner unmittelbaren Umgebung gab es weder Geld noch einen Menschen, der ihm etwas über Kunst oder künstlerische Ausbildungsgänge sagen konnte. Nach einer Malerlehre - einer vierjährigen Leidenszeit - und einer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Dresden kam er an die dortige Akademie. Trotz aller Unterstützung durch einen verständnisvollen Lehrer fühlte er sich angeekelt durch „dies hirnlose Nur-fertigmachen des langweiligsten erbrüteten Gedankens... Ich suchte erneut Erleben und fand es in einem Tulpenbeet Frühling 1906. Glücklich wiedergefundene Kindersprache. Ich saß wieder am Quell." 3 2 Wichtiger als die eher beiläufig erwähnte Zusammenarbeit mit den Malern der Brücke scheinen in diesem Text ein Reisestipendium nach Italien und ein Parisaufenthalt im Jahr 1907: „prüfend und restlos genießend finde ich bei den Primitiven meine Sehnsucht bestätigt". 33 Sein schon in Dresden vorhandenes Interesse an außereuropäischer Kunst nahm zu. Figuren, Masken und Gebrauchsgegenstände aus Afrika, Asien, der Südsee und dem Vorderen OriIrma Stern und Max Pechstein

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ent auf Stilleben bezeugen, daß Pechstein schon vor der Abreise nach Palau trotz aller Geldnöte eine kleine Sammlung zusammengetragen hatte. 34 Seit der Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1908 lebte Pechstein nach Möglichkeit im Sommer auf dem Land oder am Meer - an den Moritzburger Seen mit Heckel und Kirchner, mehrfach in Nidden auf der kurischen Nehrung und im italienischen Monterosso al Mare. „Hier lebe ich mit den Fischern und arbeite von Sonnenaufgang bis Untergang" schrieb er über seinen ersten Aufenthalt in Nidden 1909. 35 1 911 heiratete er Charlotte Kaprolat, 1913 wurde der erste Sohn Frank geboren, und 1914 konnte er schließlich durch Unterstützung seines Kunsthändlers Wolfgang Gurlitt mit seiner Frau die Reise nach Palau realisieren und sich so seinen „Herzenswunsch, in der Südsee zu arbeiten", erfüllen. „Hier ist die Einheit Mensch und Natur, arbeiten, schlafen, alles ist eins, ist Leben. Zu früh werde ich aus meinem Traum herausgerissen..." 36 durch den Kriegsbeginn und japanische Soldaten, die ihn und seine Frau im November 1914 nach Nagasaki brachten. Von dort kam Pechstein nach einer abenteuerlichen Reise 1915 wieder nach Europa, wurde zum Militär eingezogen und mußte dann „als Infanterist im Frühling 1916 an die Front im Westen, wo ich die Kämpfe an der Somme mitgemacht, bis ich im Frühling 1917 nach Berlin zurückkehren darf, um mich heißhungrig auf die lang entbehrten Farben zu stürzen." 3 7 Die Vertreibung aus seinem Paradies und die Kriegserfahrungen waren für Pechstein ein Einschnitt und führten zu einer tiefen Verunsicherung in der Arbeit. In dem Brief an Biermann heißt es: „Noch scheuchen Träume nachts den Schläfer hoch, die Nerven wollen sich noch nicht wieder an die Ruhe eines bürgerlichen Daseins gewöhnen. Alles ist neu: „Wie habe ich doch früher meine Leinwände grundiert und was nahm ich für Farben? Allmählich stellt sich das Gedächtnis für die eigenen Dinge wieder ein und ich male die ersten Bilder, die mich schon im Felde begleiteten... Mühselig muß ich mein Handwerk wieder lernen. Es war ein dicker Strich, den der Schützengraben durch mein Leben gezogen, denn während ich die gesamte Zeit von einem Frontteil zum andern wanderte, blieb mir nicht einmal genügend Zeit, um den Körper auszuruhen. Die Sinne waren abgestumpft. Oft fürchtete ich seelisch zugrunde zu gehen. ... Nun ist der wilde Traum zu Ende. Wieder ist Sommer... Ich lebe im Rausche, Arbeit, Meer, Frau - Kind - , kaue die Luft und möchte die Pinsel zerbrechen vor Wonne des Schaffens". 3 8 Während Pechstein als Maler wieder Fuß faßte und sich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs als linker Sozialdemokrat unter anderem durch die Gründung der Novembergruppe und die Mitarbeit im Arbeitsrat für Kunst für eine Neugestaltung des gesamten Kunstbetriebs engagierte, 3 9 nahmen die privaten Schwierigkeiten kein Ende. In der Krisenzeit nach Kriegsende war Pechstein ständig in Geldnöten. Die zunehmenden Alltagssorgen waren offenbar auch ein Grund für die zunehmende Entfremdung zwischen dem Ehepaar Pechstein, die mit den Wirren seit der Abfahrt aus Palau begonnen hatte. 1921 zogen Lotte und Max Pechstein die Konse46

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Abb. 4 Max Pechstein Selbstbildnis mit Tod um 1920 Öl auf Leinwand 8 0 x 7 0 cm Privatbesitz

quenzen daraus und ließen sich scheiden. 1922 kam es zum Bruch mit dem langjährigen Galeristen Wolfgang Gurlitt, Pechstein klagte gegen ihn auf Herausgabe seiner Arbeiten. 4 0 Mit dem „Selbstbildnis mit Tod" (Abb. 4), das allgemein um 1920 datiert wird, 4 1 setzte Pechstein seine als lebensbedrohlich empfundene Situation in ein Bild um. Man sieht in der Mitte den Kopf des Künstlers. Mit einem halb nachdenklichen, halb verstörten und aufgewühlten Gesichtsausdruck blickt er auf den Betrachter. Rechts wird er flankiert von der Halbfigur eines Totengerippes, das sich ihm zugewendet hat. An dessen Schädel sieht man ein Einschußloch, und das Skelett hält mit seiner Linken dem Maler die Kugel hin, die den Einschuß verursacht hat. In Opposition zu dem Skelett sieht man links hinter dem Künstler Kopf und nackte Brust einer jungen Frau mit großen, mandelförmigen Augen und langem dunklem Haar. Sie hält in ihrer Linken eine Zigarette, von der starker Rauch aufsteigt. Pechstein scheint vor der Wahl zwischen den Einflüsterungen und Verlockungen des Todes und denen eines sinnenfrohen Lebens zu stehen, das die junge, emanzipierte Frau verkörpert. Die junge Frau ähnelt in der expressiv verallgemeinerten Darstellung in ihrer Physiognomie Irma Stern. Sie stand ihm in dieser schwierigen Zeit als jüngere Kollegin, zunehmend auch als Freundin zur Seite und beflügelte Pechsteins pädagogische Talente, aber auch seine erotischen Phantasien. Irma Stern und Max Pechstein

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Der Briefwechsel Der Briefwechsel, der den Zeitraum von 1917 bis 1926 umfaßt, besteht aus zehn Briefen von Max Pechstein, einer Postkarte von Pechsteins erster Frau Lotte und sechs Briefen, Entwürfen oder Abschriften, die Irma Stern von ihren ersten Briefen angefertigt hat. 42 Irma Stern war 23 Jahre alt, als sie 1917 den 11 Jahre älteren Max Pechstein zum ersten Mal aufsuchte, und 32, als sie den vermutlich letzten Brief von Pechstein zu ihrer Hochzeit mit ihrem ehemaligen Hauslehrer, dem inzwischen an der Kapstädter Universität lehrenden deutschen Germanisten Johannes Prinz erhielt. An den Briefen lassen sich deutlich unterscheidbare Phasen der Nähe und Vertrautheit ablesen.

Kontaktaufnahme und Annäherung Der erste Brief stammt von Max Pechstein und wurde am 9. Juni 1917 - unmittelbar nach dem ersten Besuch Irma Sterns bei Pechstein - geschrieben. Sie hatte ihm ihre Arbeiten gezeigt und, wie sie in einem späteren Brief erwähnt, bei dieser Gelegenheit bei ihm auch „einige Stücke primitiver Kunst" gesehen. 43 Pechstein nimmt offenbar an, daß die junge Kollegin dabei sei, Berlin zu verlassen. Vor ihrer Abreise will er sie ermutigen und bestärken. Es sei ihm „ein Bedürfnis gewesen", ihr „einige Hemmungen bei Ihrem Schaffen beseitigen zu helfen" und dadurch „Arbeitsfreude im Garten der Kunst" auszulösen. Er erklärt seine Bereitschaft, ihr auch weiterhin „beim Uberwinden der einen oder andern auftauchenden Frage behilflich" zu sein. „Denn ich bin überzeugt, daß Sie Ihre eigene Sprache auch noch befähigen wird, ganz eigene Dinge zu sagen. Bei der Ansicht Ihrer Arbeiten fühlte [ich] verschiedene male den Ton, nur muß er sich rein und klar herausarbeiten, und das wird geschehen, sobald Sie sich vorläufig ganz unbekümmert um alle Probleme der Natur in die Arme werfen, dann später wird es mir eine Freude sein Ihnen in Ihren eigenen Werken Ihren eigenen Weg zu zeigen, wie Sie ihn gegangen, und vor Allem, wie er zu einem ganz starken Wert gelange..." Und er ermuntert sie, sich „viel Ruhe" zu nehmen, „um sich zu klären,... man empfängt als ruhig Genießender Werte für seine Kunst. Erleben heißt dann auch schon Gestalten, weil dann das Instrument im Innern nur auf den bestimmten einen Klang reagiert". Elementare Naturerlebnisse empfielt er ihr - „recht viel Sonnenauf- und Untergänge, die Kraft des Grün eines Baumes, die Größe und Einheit eines arbeitenden Menschen... Kurz werden Sie nur reines Instrument, welches der Kunst dienend, alles Kunst werden läßt". 44 Offenbar hat Pechstein den richtigen Ton getroffen. Irma Stern, der der Brief zu ihren Großeltern nach Einbeck nachgeschickt wurde, hat ihm rasch geantwortet. Dieser Brief ist zwar nicht erhalten, doch Pechstein entschuldigt sich in seinem nächsten Schreiben vom 18. August, daß er so lange nicht auf diesen Brief und „Ihre von ruhiger sicherer Arbeit volle Schilderung der kleinen Stadt" geantwortet habe. Er versichtert, 48

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„daß mein langes Schweigen nicht in schwindendem Interesse lag, sondern in den Mißlichkeiten, welche eine Mannsperson in jetzigen Zeiten behelligen, und welche mich auch von meiner geliebten Tätigkeit zum Teil fernhalten und andernteils dieselbe empfindlich stören. Die Kunst ist die eifersüchtigste Dame und verlangt unbedingte Hingabe, sogar heftige, die Person aufreibende. Nun muß ich mich bescheiden und harren bis ich frei bin, ihr wieder mit Allem zu dienen. Denn nur mit dem Herzen gemalte Huldigungen finden Gnade vor ihren Augen". 4 5 Was ihn daran hindert, frei zu arbeiten, sagt er nicht genauer - vermutlich die Notwendigkeit, seinen und der Familie Lebensunterhalt durch verkäufliche künstlerische Arbeiten zu verdienen. In dieser Zeit mußte er seine Schulden an Wolfgang Gurlitt durch Auftragsarbeiten in dessen Haus und Galerie und durch graphische Mappenwerke abtragen, deshalb konnte er auch nicht ans Meer fahren. 46 Er freut sich, weil Irma Stern „wieder auf dem besten Wege" sei, ihre „eigene Sprache zu reden" und hofft, bald wieder von ihr zu hören oder sie zu sehen. Zeugt dieses Schreiben von einem offenen, freundschaftlichem Interesse an der ihm erst seit kurzem bekannten jungen Künstlerin, so wirkt die rasch hingeworfene Federzeichnung (Abb. 5), die dem Brief vorangestellt ist und mit der sich Pechstein offenbar auf die Adressatin einstimmte, erstaunlich intim. Sie zeigt ein Paar - rechts im Hintergrund eine bekleidete, sitzende männliche Gestalt, die etwas - vielleicht eine Teetasse - in beiden Händen hält. Der in Art einer Negermaske stilisierte, nach links gewendete Kopf blickt vor sich auf den mächtigen Schenkel der vor ihm im Vordergrund ruhenden, leicht nach links gewendeten, nackten weiblichen Gestalt. Der fast zierliche Oberkörper mit den eher kleinen Brüsten ist hoch aufgerichtet, der große Kopf mit einer ausgeprägten geraden Nase, vollen Lippen und großen Augen scheint gelassen geradeaus zu blicken. Mit ihrer rechten Hand stützt die junge Frau sich auf, ihre Linke führt sie über den Körper nach links und wirkt dadurch und durch den Blick nach vorn in ihrer Nacktheit selbstbestimmt und abgeschirmt. Die Zeichnung läßt erkennen, daß die junge Malerin für Pechstein als Frau präsent und attraktiv war, denn in den beiden Gestalten lassen sich unschwer Ähnlichkeiten zu Irma Stern und Pechstein erkennen. Pechstein hat seine Briefe an Freunde und Bekannte häufig illustriert, hin und wieder auch mit erotischen Szenen. Auch wenn er Szenen wählte, auf die er im Text nicht Bezug nahm, waren sie immer eine Botschaft an den Empfänger und charakterisierten die Beziehung Pechsteins zu diesem. 47 Die Kollegin wird in der Phantasie zu einem weiblichen Akt, in dessen Betrachtung ihr Gegenüber sich fast andächtig versenkt. Pechstein spielt mit dem Motiv Maler und Modell, vielleicht auch mit überlieferten Allegorien der Malerei - die eifersüchtigste und unbedingte Hingabe verlangende Konkurrenz offenbar auch zu allen leibhaftigen Frauen. 48 Der verbale Austausch wird von einem nonverbalen begleitet, der das Verhältnis der Geschlechter im Leben und in der Kunst umkreist, und Pechstein setzt voraus, dass Irma Stern die Vielschichtigkeit seiner Zeichnung nicht falsch versteht. Irma Stern und Max Pechstein

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Abb. 5 Max Pechstein Federzeichnung im Brief an Irma Stern vom 18.8.1917 Kapstadt, South African Library

Es dauerte zweieinhalb Monate bis zum nächsten Brief. Er stammt von Irma Stern und ist wie die folgenden vier Briefe als Kopie erhalten. Sie lud ihn ein, ihre im Sommer entstandenen Arbeiten anzusehen und bedankte sich für seinen letzten Brief und „für die nette Idee mir eine Zeichnung darin zu senden". 49 Am 9. Dezember 1917 kündigte Irma Stern dann ihrer einige Jahre jüngeren Einbecker Freundin Trude Ammon Pechsteins Besuch an: „ich war wirklich nicht so recht in der Stimmung Briefe zu schreiben - immer krank - immer deprimiert - immer ohne rechte Arbeitslust - da kannst Du Dir so ungefähr ein Bild von mir machen! - Doch nun bin ich wieder ziemlich gesund - fange an zu arbeiten und in zwei Tagen kommt Pechstein zu mir - der vorher so in Arbeiten verbuddelt war, daß er nicht kommen konnte". 5 0 Der Besuch Pechsteins scheint sehr ermutigend gewesen zu sein. Irma Stern bedankt sich kurz darauf brieflich. Pechstein habe „mit ein paar Worten alle dunkle Stunden des Zweifeins und des inneren Sich zerreißens niedergestürzt". Als Dank schicke sie ihm 50

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einen Stein mit „Buschmannzeichnungen", also Felszeichnungen der afrikanischen San-Ureinwohner für seine Sammlung: „Er ist ein Kolloss - stammt aus Transvaal von einer Farm - die nach den Steinen genannt ist - Blink klipp". Sie schicke ihm den Felsbrocken per Paketpost und wolle ihm dies ankündigen, damit er nicht denke „es wäre ein Irrtum - wenn man ihn Ihnen ins Haus schleppt". 51 Irma Stern konnte sicher sein, daß sie mit diesem kostbaren Geschenk das Richtige traf - denn sie hatte bei ihrem ersten Besuch Pechsteins Sammlung und damit sein Interesse an „den Primitiven" kennengelernt. Sie wußte auch, daß frühe afrikanische Felszeichnungen in Europa bei denen, die sich für außereuropäische Kunst interessierten, hoch im Kurs standen. 52 Mit ihrem Geschenk dokumentierte sie ihre Ubereinstimmung mit Pechstein in der Begeisterung für außereuropäische Kunst und in einem Kunstverständnis, das das Ursprüngliche sucht. Zugleich konnte sie Pechstein etwas Authentisches aus ihrer Heimat schenken, das sie - vermutlich bei ihrem letzten Aufenthalt in Südafrika 1913/ 14, also lange vor der Begegnung mit Pechstein - für sich entdeckt und nach Europa gebracht hatte. Dieses Interesse an den heimischen Felszeichnungen in der Umgebung von Schweizer-Reneke ist umso bemerkenswerter, als diese zu jener Zeit in Südafrika nur von wenigen geschätzt wurden. Erst seit dem Ende der Apartheid stehen sie wieder im Zentrum des öffentlichen Interesses und der Forschung. 53 In demselben Brief, in dem Irma Stern ihr Geschenk ankündigt, spricht sie auch über den Stand ihrer Arbeit. Sie teilt Pechstein mit, sie habe Anregungen von ihm aufgenommen, „viel an den Bildern geändert" und sei „selber erstaunt - wie anders sie wirken". Und sie habe sich „lithographische Tusche geholt" und fragt nun, ob es richtig sei, daß die nicht „so recht kräftig schwarz wird" und ob das „beim Drucken behoben" werde. 5 4 Pechstein antwortet umgehend und bedankt sich für die „in Aussicht gestellte Buschmannarbeit". Es sei ihm „eine Freude zu denken, ich werde ein derart altes Stück der Darstellung besitzen. Doch seien Sie versichert, ich fand mich schon genügend mit dem Gedanken belohnt, daß Ihnen meine wenigen Worte, den Glauben an sich selbst wieder aufgerichtet haben". 55 Dann berät er sie als erfahrener älterer Kollege, wo sie den besten Ton erhalte und wie sie mit der lithographischen Tusche umgehen müsse, um tiefes Schwarz zu erhalten. Und er drückt seine Hoffnung aus, sie im kommenden Jahr bald zu sehen. Dann könne man alles „ausführlicher bereden, was Ihnen irgendwie zweifelhaft dünkt". 5 6 Schon in einem Brief vom 16. Januar 1918 an die Freundin Trude in Einbeck heißt es: „Ich habe nun jeden Tag gearbeitet - z.T. die Fehler der Sommerbilder verbessert - z.T. auch ganz neue gemacht (Bilder wohl verstanden) - und morgen kommt Pechstein zu mir. Er ist riesig nett zu mir". 5 7 Der Eindruck, daß sie einen Gesprächspartner gefunden hatte, der an ihr und ihrer Arbeit interessiert war und ihre Gefühle und Erfahrungen verstehen konnte, drückt sich bald danach in einem „Plauderbrief" aus: „Mir kommt es öfter jetzt - daß ich mich bei der Arbeit mit Menschen unterhalte und zwar recht lebhaft - im Geiste natürlich" nur, deshalb sei sie darauf gekommen Irma Stern und Max Pechstein

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zu schreiben. Dann charakterisiert sie die Wurzeln ihrer Produktivität: In einer unfreien, durch Vorschriften eingeengten Welt ermöglichen Phantasie und Imagination die Reise in eine von einfachen Naturerfahrungen bestimmte Gegenwelt. Die Bilder entstünden dabei wie in Trance, in einer Art Arbeitsrausch: „Ich lebe hier wie auf einer Insel - irgendwo - gänzlich zeitlos - nur wenn die Sonne ein paar Strahlen uns schenkt - dann kommt mir der Gedanke - mal kann es ja auch wieder anders werden - freier - schöner und glücklicher und dann versinke ich wieder in meine Welt - freue mich an den wunderschönen Farben und daran - daß man doch noch frei leben kann - frei denken kann - ohne daß einem irgend ein Gesetz dazwischen kommen kann und ich reise - fahre in das blaue - reißende Meer - in dem des Nachts es anfängt zu glühen - so märchenhaft - daß man sich hinab sehnt mit aller Gewalt - dann lebe ich einen Tag in einem bunt - blühenden Obstgarten - fühle die reine - herbe Luft - und das Liebkosen der Sonne und des Windes - des blauen Himmels und der vielen - vielen zum Himmel strebenden - blühenden Bäume - Wenn ich mich dann müde gesehnt habe und ein Bild vor mir steht - dann kommt es mir seltsam vor daß es da ist - wirklich da - Und gleich kommen die Pläne und neue Gedanken - nehmen Gestalt an und fallen über mich her des Nachts - so daß ich schlaflos daliege und das Tageslicht herbeisehne und so geht es nun schon lange - da habe ich nicht aufhören können zu arbeiten u. bin sehr froh u. glücklich darüber..." 5 8 Die nächsten beiden Briefe sind die letzten, die Irma Stern sich kopiert hat. Sie bringen zum Ausdruck, daß der Kontakt enger geworden ist. Irma Stern schreibt: „Ich hatte das Gefühl - daß Sie meine Briefe nicht mögen, weil Sie nichts davon erwähnt hatten - aber ich mag Ihnen wirklich nicht am Telephon sagen - wie dankbar ich Ihnen bin für alle Hilfe - die Sie mir gegeben haben! - Ich denke immer daran - wie wunderschön Sie mir bei meinen Arbeiten gezeigt haben - was wahr ist u. was nur Konvention ist und dann auch - wie Sie mir bei den andern Menschen geholfen haben - mir den Weg geebnet haben. Ich weiß - wie schwer es ist - ganz alleine irgend etwas durchzusetzen..." 59 Im selben Brief lädt sie Pechstein zum Tee ein, da sie für die Sommermonate wieder nach Einbeck reist. Offenbar ist die Beziehung inzwischen so unkompliziert, daß sie ihre Briefe nicht mehr vorschreiben oder kopieren muß. Auch haben die Kontakte jetzt wohl überwiegend mündlich oder telefonisch stattgefunden - zumindest, wenn beide in Berlin waren. Irma Stern hatte inzwischen dank Pechsteins Fürsprache die ersten Hürden beim Einstieg in die Berliner Kunstszene erfolgreich überwunden. Mit Gurlitt hatte sie ihre erste Einzelausstellung - voraussichtlich für November/Dezember 1918 - vereinbart 60 , und die Jury der Freien Sezession hatte zwei ihrer Bilder für die Ausstellung angenommen. 61 Das erste Jahr der Begegnung mit Pechstein hatte den Durchbruch gebracht. Nicht zuletzt dank der Ermutigung, ihren eigenen Weg zu suchen, war sie mit ihrer Arbeit gut vorangekommen. Sie hatte genügend Selbstbewußtsein entwickelt, um sich mit ihren Arbeiten in der avantgardistischen Kunstszene Berlins präsentieren und auch 52

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erfolgreich behaupten zu können. Diese Fortschritte haben Max Pechstein - wie er mehrfach schreibt - Freude gemacht und die Verunsicherung über seine Kunstauffassung und sein eigenes Schaffen verringert. Sie bestätigten zudem seine Kritik an den etablierten Kunstschulen und seine Vorstellungen über eine zeitgemäße Kunstausbildung. 62 Darüber hinaus erhielt er Informationen aus erster Hand über Afrika und dessen frühe Kunst. Vor allem aber werden ihm die Bewunderung, die Gespräche und die geistige Ubereinstimmung mit einer gebildeten, jungen Kollegin seine Suche und Neuorientierung in der Kunst erleichtert haben.

Freundschaft In den folgenden zwei Jahren, aus denen nur mehr die Briefe Max Pechsteins erhalten sind, entwickelt sich die Beziehung weiter zu einer tiefen Freundschaft. Dies wird schon aus dem Wandel der Anrede und Grußformel ersichtlich. Aus dem „sehr verehrten Frl. Irma Stern" im ersten Jahr wird zunächst „mein sehr verehrtes Frl. I. Stern" 63 und dann immer „liebes" oder „Mein liebes Frl. I. Stern". 64 Dabei mag auch Irma Sterns Fürsorge für das Wohlergehen der ganzen Familie Pechstein während der letzten Kriegsmonate eine Rolle gespielt haben. Von Einbeck aus schickte Irma Stern Nahrungsmittel an die Pechsteins im unterversorgten Berlin. Das geht aus den beiden Briefen Pechsteins vom Juli 1918 hervor, den zweiten illustriert Pechstein passend mit der aquarellierten Federzeichnung einer nackten stillenden jungen Mutter. 65 Pechstein wirkt deprimiert und leidet darunter, daß er auch diesen Sommer wieder in Berlin verbringen muß. Sie könne ihm glauben, „daß dies meine Stimmung nicht rosig macht. Es bleibt mir nichts Anderes übrig als mich hineinzuwühlen in vergangene Zeiten und rückschauend zu genießen..." 66 Einem seiner Briefe ist eine Karte seiner Frau Lotte beigefügt, auf der diese sich ebenfalls für die „liebenswürdigen Sendungen" bedankt. Sie werde mit Sohn Frank Berlin verlassen: „Es wäre sehr lieb von Ihnen wenn Sie ein wenig an P. denken würden". 6 7 Offenbar machte sich Lotte Pechstein Sorgen um den Gemütszustand ihres Mannes. Die psychische Verstimmung scheint sich nur langsam gelegt zu haben. Pechstein hatte schon in seinem Brief vom 16. Juli von den Mühen der Herrichtung der neuen Wohnung und dem für Anfang August drohenden Umzug geschrieben. Im nächsten Brief von Ende August hat er den Umzug in die Kurfürstenstr. 126, seine Adresse bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, glücklich hinter sich gebracht „und muß gestehen, daß diese Veränderung sehr wohltuend auf mich gewirkt hat." Trotzdem leide er am „Fehlen der lieben, alles fördernden Sonne... Man findet bei Sonnenschein eher sein inneres Gleichgewicht... als bei andauernder Kühle und Regen..." 68 Es spricht einiges dafür, daß der Kontakt mit Irma Stern dazu beigetragen hat, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. In den folgenden Monaten könnte das Selbstbildnis mit Skelett entstanden sein. Irma Stern und Max Pechstein

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Mit dem Brief vom 24. August endete für zwei Jahre der briefliche Kontakt. An dessen Stelle trat nun der direkte Austausch und die Begegnung, über die weniger Quellen vorhanden sind. Aus ihnen geht hervor, daß Pechstein Irma Stern weiterhin den Weg in das Berliner Kunstleben ebnete und sie mit den Spielregeln des Kunstbetriebs vertraut machte. Er war vermutlich beteiligt an der Einladung Irma Sterns zur Gründungsversammlung der Novembergruppe am 3. 12. 1918, dem „Zusammenschluß der radikalen bildenden Künstler, Maler, Bildhauer, Architekten zur Vertretung und Förderung ihrer künstlerischen Interessen." 69 Unter den 20 versammelten Malern, Bildhauern und Architekten war Irma Stern die einzige Frau. 70 Sie stellte 1919, 1920 und 1927 mit der Gruppe aus.71 Nicht im November und Dezember 1918, wie ursprünglich geplant, sondern im Juni und Juli 1919 fand Irma Sterns erste Einzelausstellung in der Galerie Gurlitt statt. Sie zeigte dort 32 Ölbilder sowie 70 Zeichnungen und Aquarelle. Im Nachlaß ist ein handschriftliches Verzeichnis der ausgestellten Arbeiten erhalten mit dem Vermerk „Gurlitt-Ausstellung 1919, Mai-Juni - von Pechstein ausgesucht". 72 Die Ausstellung fand in der Presse ein freundliches Echo - insbesondere bei Kritikern, die auch Pechstein besonders schätzten. 73 In einer (anonymen) Besprechung in der Chemnitzer Allgemeinen Zeitung wurde Irma Stern als Pechstein-Schülerin bezeichnet und ihre Arbeiten wurden als Ausdruck linksradikaler politischer Bestrebungen gesehen: „Irma Stern Berlin blickt die liebe Welt spartakistisch an. Sie ist Pechsteinschülerin und malt mit grellen, giftgrünen, feuerroten Tuschen ihre expressionistische Weltformung ,.." 74 Nach der erfolgreichen Ausstellung beteiligte sich Irma Stern 1920 zum zweiten Mal an der Ausstellung der Freien Sezession und an der Ausstellung der Novembergruppe. Im selben Jahr erschienen in Berlin zwei lithographische Mappenwerke: „Dumela Morena - Bilder aus Afrika" als Nr. 21 der Gurlitt Presse und „Visionen" im Hesperiden Verlag. Mit diesen Graphikmappen folgte sie einer schon von Pechstein und von seinem Galeristen Gurlitt verfolgten Strategie der Verbreitung von Kunst an weniger zahlungskräftige Interessentinnen. Gerade diese beiden Mappen zeigen aber auch die Eigenständigkeit von Irma Sterns künstlerischer Position im Vergleich zu Pechstein. 75 Sie veranschaulichen, daß Irma Stern zwar Strategien der Vermarktung und Selbstinszenierung - heute würde man wohl sagen: des Selbstmanagements - von Pechstein gelernt und übernommen hatte, in ihren künstlerischen Arbeiten aber zunehmend ihren eigenen Weg fand. Von Pechstein begleitet und gefördert, hatte Irma Stern in den Jahren 1918-1920 den erfolgreichen Einstieg in den deutschen und kurz darauf auch in den europäischen Kunstbetrieb erreicht. Auch nach ihrer Rückkehr nach Südafrika im Spätsommer 1920 blieb sie in Europa präsent - zumindest bis zum faktischen Ausstellungsstop für sie in Deutschland im Jahr 1933. Die Anerkennung, die sie fand, dokumentieren die Teilnahme an Gruppenausstellungen, die zahlreichen Einzelausstellungen sowie eine 1927 in der Reihe „Junge Kunst" erschienene Monographie des Berliner Kritikers Max Osborn. 76 54

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Schon 1919 ist Irma Stern klar, daß sie zwar als Künstlerin in Deutschland präsent sein, jedoch nicht auf Dauer in Deutschland leben möchte. Der Freundin Trude Ammon schreibt sie am 17. Februar 1919: „Ich lebe so in den Tag hinein mit unendlich vielen Plänen für die kommende Zeit - der .Abbruch meiner Beziehungen' hier - die Pläne für Afrika - bald wird sich das große Tor wohl für uns öffnen - das uns so fest die Jahre durch eingekerkert hatte - dann fliegen wir der Sonne entgegen — Vielleicht schon im Herbst. - Und derweil knüpfe ich Verbindungen - an alle Kunstausstellungen - die für mich in Frage kommen. Augenblicklich habe ich eine graph. Ausstellung in Chemnitz". 7 7 Dieser Brief läßt erahnen, daß Irma Stern sich auch deshalb nach Afrika sehnt, weil ihre privaten Lebensumstände nicht so glücklich waren wie ihre künstlerische Karriere. Ein nach ihrem Tod in ihrem Haus gefundenes Tagebuch, das den Zeitraum von 1919 bis 1924 umfaßt, ist ein Schlüsselwerk für Irma Sterns Selbstverständnis als Künstlerin, aber zugleich auch für ihr Leben. In Märchenform wird zu Beginn die Berufung zur Künstlerin erzählt. Zu dieser Berufung gehört, daß die Künstlerin zur Einsamkeit verdammt ist. Mehrere Bild-Text-Seiten veranschaulichen diese Einsamkeit, sowie Schmerz und nicht realisierbare Liebe. 78 In diesem Tagebuch stellt Irma Stern auch ihren Abschied von Europa dar (Abb. 6). Die Künstlerin verläßt mit entschiedenem und schnellem Schritt - die Malutensilien in den Händen - die graue Stadt, in der Flammen lodern, und kehrt in die ruhige sonnenbeschienene Landschaft Afrikas zurück: „und flüchtete aus dem brennenden Europa in das Land der starken Farben". 79 Es hat den Anschein, als sei Max Pechstein von Irma Stern zumindest teilweise in diese persönlichen Schwierigkeiten und Herzensangelegenheiten eingeweiht worden. In einem Brief, den er ihr nach Erhalt der Mitteilung über ihre Abreise nach Afrika am 11. September 1920 aus Nidden schickt, zeigt er sich als vertrauter und einfühlsamer Freund. „Von Herzen wünsche ich ihnen ein Verschontsein von allen störenden äußeren Schwierigkeiten und ich hoffe auch, daß Sie wissen, ich werde mich stets freuen, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, einen Rat geben". Und falls sie in Zukunft Probleme welcher Art auch immer habe, „schreiben Sie es sich ruhig mir gegenüber herunter, denn Freundschaft besteht im Verstehen gegeneinander. Mit meinem Freund Alex [Alexander Gerbig, I.B.] verbindet mich eine 21jährige Freundschaft, und so hoffe ich auch, daß die Unsrige sich zu einer ebenso dauerhaften und ungetrübten gestalten möge..." In demselben Brief wird auch deutlich, wie stark die Sehnsucht, Europa zu verlassen, die beiden verbindet: „...mein Herz" - so Pechstein - „ weilt immer noch, über allen Geschehnissen der letzten unglücklichen Jahre hinweg in den Tropen. Ruhelos, gleich Adam aus dem Paradies vertrieben erscheint mir jetzt noch mehr denn früher, vor meiner Reise, Europa als das Widersinnigste und Gräßlichste für einen Menschen. Ein Sklavendasein. Aufs äußerste unwürdig sind diese Staaten und Machtverhältnisse... Stürzt dies beschämende Gefühl zu stark auf mich, kenne ich nur die See als TrostmitIrma Stern und Max Pechstein

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Abb. 6 Irma Stern: „und flüchtete aus dem brennenden Europa in das Land der starken Farben". Tagebuch 1920, S. 29-30. Kapstadt, Irma-Stern-Museum

tel, und beruhige mich an der Reinheit ihrer grollenden Stärke... " Eine Federzeichnung dieses tröstenden, wild wogenden Meeres gibt Pechstein Irma Stern mit auf den Weg. 8 0 Dieser Brief zeigt die Offenheit und Zugewandtheit, die sich zwischen Pechstein und Stern gebildet hatten. Aus den Arbeitskontakten und Begegnungen ist offenbar eine von Achtung und wechselseitiger Fürsorge getragene Freundschaft entstanden. Sie hatte auch in den nächsten Jahren Bestand. Wenn Irma Stern in Berlin war, sahen sie sich, aber auch der briefliche Kontakt wurde weitergeführt. Pechstein teilte seine privaten Nöte mit und kommentierte interessiert Irma Sterns Berichte über ihre Erfahrungen in der provinziellen Kapstädter Kunstszene. Gleichzeitig verfolgte er seine Pläne weiter, Europa wieder - diesmal in Richtung Afrika - zu verlassen. 81 Das letzte Zeugnis der Freundschaft stammt vom 6. Mai 1926. Pechstein schickte „Herzlichste Glückwünsche zur Vermählung" und dazu eine Zeichnung der Kapstädter Bucht mit dem Hochzeitspaar, dem der Maler im Vordergrund des Blattes Blumen zuwirft. 8 2 In Irma Sterns Wohnhaus blieb die Verbundenheit mit Pechstein auch weiterhin sichtbar. In ihrer Bibliothek verwahrte sie die früheste Pechstein-Monographie 83 und die 1919 erschienene Broschüre „An alle Künstler", deren Titelblatt von Max Pechstein 56

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Abb. 7 Max Pechstein Stilleben mit Holzfigur und Amaryllis, 1923 Aquarellierte Lithographie 5 1 x 3 8 cm Kapstadt Irma-Stern-Museum

stammt. Im Atelier hing die aquarellierte Lithographie „Stilleben mit Holzfigur und Amaryllis" von Max Pechstein aus dem Jahr 1923 (Abb. 7).84 Mit diesem Werk knüpfte Pechstein an frühere Stilleben mit außereuropäischen Kunstwerken an - an die frühen Arbeiten aus dem Jahr 1913 und die Stücke aus den Jahren 1917/18 - also dem Zeitraum der ersten Begegnung mit der jungen Künstlerin. 85 Irma Stern nahm die Thematik und Komposition in einer ebenfalls um 1923 entstandenen, programmatisch ihr Kunstverständnis spiegelnden Arbeit auf. Für ihre große Sammlung von Kunstbüchern stellte sie als themenspezifisches Exlibris eine Lithographie (Abb. 8) her, 86 die Pechsteins Stilleben paraphrasiert und die Insignien der Kunst der Moderne vor Augen führt: Handwerk und Intellekt - repräsentiert durch Palette und Bücher, Natur und Kultur - repräsentiert durch Topfpflanze und die Büste einer schwarzen Frau sowie ein Gemälde an der Wand. Als verdeckte Hommage an den Freund erinnert das Exlibris daran, daß Irma Stern dem Austausch mit Pechstein viel verdankt - von den technischen Hilfestellungen bei der Herstellung von Lithotinte bis zur Kommentierung des eigenen Werdegangs. Vor allem aber ermutigte Pechstein Irma Stern, ihren eigenen Weg zu finden und ein Selbst Irma Stern und Max Pechstein

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Abb. 8 Irma Stern Exlibris für Kunstbücher Lithographie 16,5x20,2 cm Kapstadt Irma-Stern-Museum

konzept zu entwickeln, mit dem sie im Kunstbetrieb der zwanziger Jahre nicht nur mithalten, sondern eine eigenständige Position als Frau und moderne Künstlerin entwickeln konnte. Die Arbeiten seit den dreißiger und vierziger Jahren zeigen, wie produktiv und eigenständig sie diesen Weg weiterging.

Anmerkungen

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Ich danke Jackie Loos und Linda Martin, South African Library, Kapstadt, sowie Christopher Peter, Irma Stern Museum Kapstadt, für ihre Unterstützung. Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (3 ) 17. Mai 1924. Zu Leben und Werk Irma Sterns zuerst Max Osborn, Irma Stern, Reihe Junge Kunst Bd. 51, Leipzig 1927. In Südafrika Joseph Sachs, Irma Stern and the spirit of Africa, Pretoria 1942; Neville Dubow, Irma Stern, Cape Town 1974; Karel Schoeman, Irma Stern: The Early Years, 1894-1933, South African Library, Kapstadt 1994; Marion Arnold, Irma Stern: A Feast for the Eye, Fernwood Press, Vlaeberg 1995. Zur Rezeption in Südafrika und in Deutschland vgl. Irene Below, Afrika und Europa. Peripherie und Zentrum. Irma Stern im Kontext. In: Irma Stern 1996, S. 105-131. Für die Beziehung zwischen Irma Stern und Max Pechstein vgl. insbesondere Osborn 1927 und Schoeman 1994. Die unpublizierte Magisterarbeit von Ute Maria Ursula Scholz, Die vormende invloed van die Duitse Ekspressionisme op die skilderkuns van drie Suid-Afrikaanse kunstenaars: Irma Stern, Maggie Laubser en Pranas Domsaitis, Pretoria 1975, beschäftigt sich eingehend mit Irma Stern und Max Pechstein. Die Autorin kannte allerdings den Brief-

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Wechsel nicht. Sie hat 1973 mit Pechsteins 2. Frau Marta in Berlin ein - offenbar nicht sehr ergiebiges Interview geführt; danach hat Marta Pechstein vor ihrer Heirat 1923 Irma Stern in Pechsteins Atelier kennengelernt, vgl. Scholz 1973, S. 29. Für den Hinweis auf die Arbeit danke ich Vera Schorr. 3 Irma Stern und der Expressionismus. Afrika und Europa. Bilder und Zeichnungen bis 1945, Ausstellungskat. Kunsthalle Bielefeld, Hg. Irene Below, Jutta Hülsewig-Johnen, Bielefeld 1996 (Im folgenden Irma Stern 1996). 4 Irene Below, Irma Stern (1894-1966) - Afrika mit den Augen einer weißen Malerin. Moderne Kunst zwischen Europa und Afrika - Zentrum und Peripherie und die Debatte um moderne Kunst in nicht-westlichen Ländern, in: Kritische Berichte 3, 1997, S. 42-68. 5 Corinna Tomberger, „innerhalb dieser umzäunten Enklave...". Nachtrag zur diskursiven Präsentation der Ausstellung „Garten der Frauen. Wegbereiterinnen der Moderne in Deutschland. 1900-1914". In: Kritische Berichte, 4,1998, S. 92. 6 So Irma Stern in einer autobiographischen Aufzeichnung, die sie wohl um 1909 geschrieben hat. Sie befindet sich heute wie der gesamte schriftliche Nachlaß in der Irma Stern Collection der South African Library in Kapstadt (SAL, MSB 31, S. 3 „Vater ist ein sogenannter selfmade-man"), vgl. zum gesamten Bestand Schoeman 1994. Bis zu ihrem 20. Lebensjahr machte Irma Stern zum Teil in ihren Jungmädchentagebüchern, zum Teil parallel dazu Notizen über ihr bisheriges Leben und das ihrer Eltern. Gedacht waren diese Aufzeichnungen für eine Autobiographie, mit der sie sich ihrer selbst zu vergewissern und die Differenzerfahrungen in Afrika und Europa zu verarbeiten suchte. In einer Disposition aus dem Jahr 1914 notiert sie Stichworte zu ihren bisherigen Lebensstationen und Erfahrungen, die paritätisch auf Afrika und Europa verteilt sind. Als weiße Südafrikanerin aus einer deutschen Familie, Jüdin, Künstlerin, Frau und Reisende kam sie in Afrika und Europa immer wieder in Situationen und Umgebungen, in denen sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umwelt als different erlebte. Ihre künstlerischen Arbeiten und ihre Selbstzeugnisse - beginnend mit den Jungmädchentagebüchern - dokumentieren, daß die Erfahrung von Fremdheit und die Bewußtheit der Perspektivität kultureller Muster für Irma Stern konstitutiv waren. 7 Neville Dubow, Irma Stern. Zur Einführung, in: Irma Stern 1996, S. 24. 8 Aus ihrer Studienzeit und den Anfangsjahren ihrer künstlerischen Tätigkeit gibt es nicht viele Fotos anders als in den Jahren seit 1930, als sie in der südafrikanischen Presse sehr präsent war und immer wieder fotografiert wurde. Mehrere Fotos aus der Studienzeit im Album der ehemaligen Kommilitonin in Weimar Erika Zschimmer (Bauhaus-Archiv Berlin Inv.Nr. 97788) sind abgebildet in: Irma Stern 1996. 9 Das Foto (Nr. SAL, I N I L 11982) stammt ursprünglich aus dem ersten von drei Folianten in der South African Library, Kapstadt, in die Irma Stern Kritiken, Dokumente und Fotos von Arbeiten geklebt hat (MSB 31 18.1). Die Datierung stützt sich auf Fotos von 3 unterschiedlichen Tonplastiken, die Köpfe von Schwarzen zeigen und denen auf der Atelierszene ähneln. Eines dieser Fotos ist auf dem Foto signiert und mit 1922 datiert. 10 Irma Stern hat schon früh geraucht. In ihren Jungmädchentagebüchern beschreibt sie Konflikte mit ihrer Mutter über das verbotene Rauchen. In dem Fotoalbum von Erika Zschimmer aus der Weimarer Studienzeit sieht man Irma Stern und ihre Freundinnen, darunter die spätere Bauhäuslerin Marianne Brandt, geb. Liebe, in der Raucherecke der Hochschule, vgl. Below 1996, Abb. S. 106. 11 Vgl. z.B. Edvard Munch, Selbstbildnis mit Zigarette, 1895, Nationalgalleriet Oslo; Max Liebermann, Selbstbildnis, 1909/10, Hamburger Kunsthalle; Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis als Soldat, 1915, Oberlin, Allen Memorial Art Museum; Otto Dix, Selbstporträt als rauchender Soldat, Kreidezeichnung 1917, Staatliche Sammlungen; Berlin. Max Pechstein hat sich häufig Pfeife rauchend porträtiert - am bekanntesten ist sein Selbstbildnis von 1910, vgl. auch das verschollene Selbstbildnis mit Pfeife von 1917 und den Holzschnitt „Selbstbildnis mit Pfeife" von 1921. 12 Vgl. dazu Schoeman 1994, S. 71 ff, Arnold 1995, S. 18, Below 1996, S. 116 f. 13 Irma Stern, My exotic models, in: Cape Argus 3.4.1926; Irma Stern, How I began to paint, in: Cape Argus 19.6.1926. Beide Artikel in deutscher Übersetzung in: Irma Stern 1996, S. 211-221 und S. 207-212. 14 Das kleine Gemälde, das Irma Stern zeitlebens als eines ihrer Schlüsselwerke ansah, zeigt in der Tradition Paula Modersohn-B eckers ein „kleines Mädchen, das auf dem Rand eines Stuhles saß. Es war schmalschultrig und körperlich unterentwickelt wie damals alle Kinder im Kriegsdeutschland. Seine großen Augen waren voller Traurigkeit und ihre kleinen Hände umklammerten ein Sträußchen wilder Blumen. Ich malte es in einer Art Trancezustand, einfach der Inspiration des Augenblicks folgend. Als ich fertig war,

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sah es ganz anders als meine restlichen Arbeiten aus." Zit. nach Irma Stern 1996, S. 211. Eine kleine Schwarzweißabbildung in: Irma Stern 1996, S. 106, eine Farbabbildung in: Arnold, 1995, S. 53. In: Irma Stern 1996, S. 211 f. In der englischen Urfassung kommt deutlicher heraus, daß Pechstein von ihren Arbeiten all diejenigen sehr viel besser gefielen, die sie unabhängig von einem Lehrer geschaffen hatte: „ To my greatest satisfaction he liked everything I had done on my own much better than anything I had done under the supervision of a teacher, particularly my unfortunate „Pathetic Child" and my native heads." Ernst Kris, Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt 1995, S. 47 ff. In ihrer Bewerbung an der Weimarer Akademie gibt Irma Stern ihren bisherigen Werdegang folgendermaßen an: „ Ich, Irma Stern, mos. [mosaischer, I.B.] Konfession, wurde geboren am 2.10.1894 in Schweizer - Reneke als Tochter des Kaufmanns S. Stern und dessen Ehefrau H. Stern, geb. Fels. Von meinem 6. Lebensjahr genoß ich regelmäßigen Schulunterricht, teils durch privat Lehrer, teils auf der Kollmorgen 'sehen höheren Töchterschule zu Charlottenburg. 1911 verließ ich die erste Klasse mit dem Reifezeugnis. Darauf besuchte ich noch ein Jahr lang die Frauenschule dieser Anstalt [Selecta]. Nachdem ich schon früher für mich Zeichenstudien getrieben hatte, trat ich im November 1912 in die Reimann 'sehe Kunstschule zu Berlin ein, wo ich bis jetzt nach Gips- und lebenden Modellen gezeichnet habe." Zit. nach Below 1996, 105. Irma Stern war also von November 1912 bis März 1913 Schülerin an der 1902 von Albert Reimann gegründeten Einrichtung. Reimann emigrierte 1936. Seine Schule scheint als künstlerische und kunstgewerbliche Ausbildungseinrichtung insbesondere Jugendliche aus dem jüdischen Bürgertum aufgenommen zu haben, vgl. Jüdische Lebenswelten, Ausstellungskat. Berlin 1991, Bd. 1, S. 214 f. Irma Stern 1996, S. 209. Ebenda, S. 209. Ebenda, S. 211. Vgl. die Geschichte der Rezeption Sterns in Südafrika in Below 1996 und die Zusammenstellung aller von und über Irma Stern publizierten Schriften in: Lilian S. Daneel, A guide to sources on Irma Stern, Pretoria, 1981. Tagebucheintragung vom 25. Januar 1909 und ähnlich am 30. Juni 1910: „Ich zeichne jetzt sehr viel. ... Wenn ich mit der Schule fertig bin, werde ich in München malen lernen. Dann werde ich eine lange Reise machen für viele Jahre und dann eine noch längere - . . . In Durban werde ich viel zeichnen und träumen. Ein großes Talent möchte ich besitzen!" Zit. nach Stern 1996, S. 192. Die Orthographie, Groß- und Kleinschreibung und Interpunktion in Irma Sterns Texten und Briefen habe ich beibehalten. Während die Trennung einzelner Satzteile durch Gedankenstriche und eigenwillige Wortbildungen offenbar Absicht sind, ging Irma Stern insbesondere in Briefen und anderen privaten schriftlichen Äußerungen mit der Orthographie und der Groß- und Kleinschreibung recht sorglos um. Künstlerin und Malerin galten damals als typische Frauenberufe. 1913 wurden in der Zeitschrift Gartenlaube in einer Werbeanzeige „Was kann unser Sohn, unsere Tochter werden?" Broschüren zur Berufswahl der Kinder bürgerlicher Kreise angeboten. 4 der 32 angeführten Frauenberufe beziehen sich auf eine künstlerische Ausbildung im engeren Sinn: „Künstlerin", „Malerin", „Photographin", „Zeichenlehrerin"; unter den 102 Berufen für Männer ist „Photograph" der einzige künstlerische Beruf, vgl. Marie-Luise Könneker, Mädchenjahre, Darmstadt/Neuwied 1978, S. 151. Vgl. Kapstadt, SA Library MSC 31.1 (1/2), S. 6f Tagebucheintragung vom 3. September 1911: „Sie empfing uns in einem Teagown, welches sehr merkwürdig aussah. Dann tranken wir Tee. Jeder hatte eine v.d. andern verschiedene Tasse. Alte Möbel, Leuchter, Engel, Teppiche u. viele, viele Bilder standen u. hingen herum. Es war sehr gemütlich. Geraucht haben wir auch. Sie malt hauptsächlich Porträts... Hauptsächlich gefielen mir zwei Vignetten. 1. Zwei Schnekken, woraus ein Mann u. eine Frau hervorkommen und sich umarmen, als Schluß eines Buches. 2. Eine Frau in einem sehr fein ausgeführten Kleid mit etwas grausamem Gesichtsausdruck, hat in ihren Händen zwei kleine Männchen. Das Spielzeug heißt es." Bei der Künstlerin handelt es sich offenbar um die Berliner Malerin und Graphikerin Anna Costenoble (1863-1930), AKL, Leipzig 2000, Bd. 21 (Ich danke Birgit Thiemann für diesen Hinweis). Lisa Tickner, Männerarbeit? Männlichkeit und Moderne. In: Beate Söntgen (Hg.), Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, Berlin 1996, S. 254-296. Irit Rogoff, Er selbst - Konfigurationen von Männlichkeit und Autorität in der deutschen Moderne. In: Ines Lindner, Sigrid Schade u.a., Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin 1989, S. 36. Tickner 1996, S. 263.

Irene B e l o w

28 Zu Pechsteins Leben vgl. neuerdings: Max Pechstein. Sein malerisches Werk. Ausstellungskat. BrückeMuseum Berlin, Hg. Magdalena Moeller, München 1996, darin insbesondere Leonie von Rüxleben, Lebensdaten 1881-1955, S. 11—40: zum Palau-Aufenthalt auch Max Pechstein, Das ferne Paradies. Gemälde - Zeichnungen - Druckgraphik, Ausstellungskat. Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen, Ostfildern-Ruit 1995. 29 Das Foto stammt aus einer von Waldemar Titzenthaler 1918/19 fotografierten Porträtserie. Sie zeigen Max Pechstein nach dem Umzug im Sommer 1918 in seinem Atelier und seinem neuen Wohnraum, vgl. dazu weitere Abb. in: Max Pechstein, Sein malerisches Werk. Ausstellungskatalog Brücke-Museum Berlin, Hg. Magdalena Moeller, München 1996, Abb. S. 20. 30 Vgl. Max Pechstein 1996, Abb. 33 Götze mit Fruchtschale 1917, Abb. 35 Exotisches Stilleben 1922, Tafel 105 Stilleben mit Negerplastiken, 1918. Vielleicht handelt es sich bei der Statue auf Tafel 79 Stilleben mit exotischer Schale, 1913, auch schon um diese Figur. 31 Georg Biermann, Max Pechstein, Reihe Junge Kunst Bd. 1, Leipzig 1919, S. 12. 32 Biermann 1919, S. 14. Im Frühjahr hatte Pechstein vor dem Dresdener Zwinger ein Tulpenbeet gesehen, das ihn zu einem Deckenbild auf der Internationalen Raumkunst-Ausstellung anregte, vgl. Pechstein 1996, S. 12. 33 Biermann 1919, S. 14. 34 Nach Wilhelm Hausenstein hatte Pechstein schon als Kind eine ethnologische Sammlung gesehen, Max Osborn berichtet von Besuchen im Dresdener Völkerkundemuseum schon während des Studiums und während des Parisaufenthalts im Trocadero. Vgl. Barbara Lülf, Die Suche nach dem Ursprünglichen. Max Pechstein und Palau, in: Pechstein 1996, S. 86, 88. 35 Biermann 1919, S, 15. 36 Biermann 1919, S. 15. 37 Biermann 1919, S. 16. 38 Biermann 1919, S. 16. 39 Vgl. dazu Andreas Hünecke, Um die Freiheit in der Kunst und um die Menschlichkeit. Max Pechstein in seiner Zeit, in: Max Pechstein 1996, S. 113 ff. 40 Vgl. dazu Max Pechstein, Erinnerungen, Hg. Leopold Reidemeister, München 1963, S. 117: „Mein Kunsthändler Gurlitt, dem ich alles Geschäftliche in die Hände gegeben hatte, versagte und ließ mich zappeln und um das Nötigste bitten. Dazu kam die Entfremdung, die sich zwischen meiner Frau und mir infolge des durch den Krieg bedingten Auseinanderlebens bemerkbar machte. Kleine Wünsche konnte ich nicht erfüllen, da nach wie vor die Münzen für Arbeitsmaterial mir wichtiger waren". Siehe auch Max Pechstein 1996, S. 22 ff. Beide Ereignisse teilte Pechstein Irma Stern mit: „Meine Ehe ist seit Dezember geschieden. Die übelsten Erfahrungen habe ich mit Gurlitt gemacht". Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3 ) 10. September 1922. 41 Max Pechstein 1995, Tafel 57, Kat.-Nr. 23. Max K. Pechstein vertritt heute die Auffassung, daß das Werk auf das Jahr 1921 zu datieren ist. Vgl. zur Ikonographie auch Volker Adolphs, Der irrende Ritter. Zur Ikonographie des Selbstportraits im Expressionismus. In: Ο Mensch! Das Bildnis des Expressionismus, Ausstellungkat. Kunsthalle Bielefeld, Hg. Jutta Hülsewig-Johnen, Bielefeld 1992, S. 82: „Die elementare Bedrohung durch den Tod wird allerdings in Pechsteins Bild durch das Nebeneinander des Skelett-Todes und einer nackten, Zigarette rauchenden Frau ins Anekdotische abgebogen; die mittransportierte Symbolik ist nicht eindeutig, die Frau könnte als traditionelle Allegorie des Lebens und der Liebe Gegenkraft zum Tod sein, andererseits gehört sie als verkommene Gestalt der Halbwelt wie der Tod zu den Verführungen und Gefährdungen des Künstlers." Im eigentlichen Katalogteil wird die Auffassung Max K. Pechsteins, des 1926 geborenen Sohnes aus zweiter Ehe, wiedergegeben, sein Vater habe in der Frauengestalt seine erste Frau und seine Suizidgedanken angesichts der Trennung dargestellt, ebenda S. 313. Diese Vermutung erscheint zweifelhaft, zumal Lotte Pechstein auf anderen Bildern ihres Mannes älter und mit einer anderen Physiognomie gezeigt wird. 42 Der Briefwechsel befindet sich im schriftlichen Nachlaß Sterns in der SA Library, Kapstadt - unter der Inventarnr. MSB 31.2 (2) die Briefe von Irma Stern und unter MSB 31.2 (3) die von Pechstein. Vgl. zu dem Briefwechsel auch Schoeman 1994, S. 54-58 und Below 1996, S. 106 f. Bei den Briefen von Irma Stern handelt es sich um Entwürfe oder Abschriften, einen der Briefe hat sie in zwei Versionen aufbewahrt, vgl. Schoeman 1994, S. 54. Schoeman hat die Briefe allgemein charakterisiert, ebenso die drei von Pechstein beigefügten Zeichnungen, von denen eine koloriert ist. Die Bedeutung des Briefwechsels wird dadurch unterstrichen, daß Irma Stern außer einigen Briefen der Eltern und des Ehemannes Johannes Prinz, mit dem sie von 1926 bis 1934 verheiratet war, nur sehr ver-

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einzelt Briefe aufgehoben hat. Briefe auch der engsten Freunde in Deutschland und Südafrika, mit denen sie zum Teil über Jahrzehnte in brieflichem Austausch stand und die ihrerseits große Konvolute mit Briefen von Irma Stern bewahrt haben, sind im Nachlaß nicht erhalten. Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (2) undatiert (Dezember 1917). Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (3) 9. Juni 1917. Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (3) 18. August 1917. Max Pechstein 1996, S. 18. Vgl. z.B. einen Brief an Eduard Plietzsch mit Liebesszenen vom 17. Januar 1911 abgebildet in: Der junge Pechstein, Ausstellungskat. HfBK/Nationalgalerie Berlin, Berlin 1959; ein Brief an Rosa Schapire vom 10. Dezember 1919, in dem er über seine Beschäftigung mit Farben schreibt, ist mit farbigen Tuschen nahezu gegenstandsfrei laviert und zeigt unten in Federzeichnung offenbar die Familie Pechstein, kenntlich durch die Köpfe von Mutter, Kind und dem Pfeife rauchenden Pechstein selbst., vgl. die Abb. in: Neville Dubow (ed.) Paradise. The Journal and Letters (1917-1933) of Irma Stern, Diep River, 1991, S. 10. Vgl. Rosemarie Trockels Allegorie der Malerei auf dem Plakat der Ausstellung „Leiblicher Logos" und die Überlegungen zur ikonographischen Tradition in: Silke Wenk, Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit, in: Kathrin Hofmann-Curtius, Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 18 f. Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (2), 5. November 1917. Die Briefe an die einige Jahre jüngere Einbecker Freundin Trude Bosse, geb. Ammon, befinden sich in Kapstadt im Irma Stern Museum. Das umfangreiche Konvolut umfaßt 60 Briefe, 5 Karten und ein Telegramm aus den Jahren 1917 bis 1965. Dieser Brief ist auch deshalb interessant, weil Irma Stern der Freundin eine Art Berufsberatung gibt - sie schickt ihr Unterlagen über die Ausbildung zur Zeichenlehrerin, meint aber, wenn diese Malerei studieren wolle „so gebe ich Dir gerne Auskunft über den besten Weg - da weiß ich ja besser drin Bescheid aus eigenen Erfahrungen." (Brief vom 9. Dez. 1917). Über Pechsteins Besuch will sie einer anderen Einbecker Freundin genauen Bericht erstatten: „Dann schreibe ich Grete B. alles, was er gesagt hat und Du lasse Dir, wenn es Dich interessieren sollte - die Stellen vorlesen. - Das ist am einfachsten für mich, nicht wahr?" Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (2), undatiert (Dezember 1917). Die Passage über den Stein ist im Wortlaut zitiert in: Below 1996, S. 106. Vgl. z.B. die im Jahr 1900 erschienene Kunstgeschichte des Direktors der Dresdener Gemäldegalerie Karl Woermann. In Band 1 „Die Kunst der Ur -, Natur- und Halbkulturvölker" waren nicht nur Holzschnitzerein von den Palau-Inseln abgebildet, sondern auch „Buschmannzeichnungen". Die Farm Blink Klipp ist bisher nicht identifiziert. Vieles spricht dafür, daß es eine der Farmen der Stern-Familie im Umkreis von Schweizer-Reneke war. Zu den Bushmen/San-Paintings in SchweizerReneke vgl. M.M. Liebenberg, Schweizer-Reneke, Raad vir Geesteswetenskaplike Navorsing, Pretoria 1990, S. 9 f. In der 1914 erstellten Gliederung für die geplante Autobiographie ist Blink Klipp als Überschrift für ein nicht ausgeführtes Kapitel angegeben. Möglicherweise wollte Irma Stern über ihre Begegnung mit den Felszeichnungen schreiben. Auch in den folgenden Lebensabschnitten hat Irma Stern sich immer wieder mit Felsbildern beschäftigt. Für den bekannten Afrikaforscher Leo Frobenius hat sie in den zwanziger Jahren eine Felsbildkopie angefertigt - es liegt nahe anzunehmen, daß es sich dabei ebenfalls um Zeichnungen aus dieser Gegend gehandelt hat. Frobenius bedankte sich für die Kopie 1931 in einem Schreiben und berichtete ihr von mehreren Ausstellungen „unserer Felsbilderkopien", für die „überall... ein enormes Interesse ... vorhanden gewesen" sei (SA Library Kapstadt, MSC 31.2 (7)). In den fünfziger Jahren hat sich Irma Stern mit staatlicher Erlaubnis darum bemüht, weitere Felsbilder von der elterlichen Farm nach Kapstadt in ihre Sammlung zu holen. Als dies zu Streit mit der Familie des Bruders führte, erwog sie in einem Brief an die Freundin Thelma Gutsche vom 1. Oktober 1954 sogar, aus Berlin den Pechstein geschenkten Stein zurückzuholen. Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (2), undatiert (Dezember 1917) Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3) 31. Dezember 1917. Eine schriftliche Reaktion Pechsteins nach dem Erhalt des Steins hat es nicht mehr gegeben. Auch über den Verbleib des doch offenbar sehr großen Steines habe ich bisher nichts ausfindig machen können. Der Sohn des Künstlers aus 2. Ehe, Max Pechstein, erinnerte sich zwar an den Namen Irma Stern, nicht aber an den Stein mit Felszeichnungen. Möglicherweise hat er den Brand von Pechsteins Wohnung und Atelier 1945 nicht überdauert. Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3) 31. Dezember 1917.

Irene Below

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Kapstadt, Irma Stern Museum, 16. Januar 1918. Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (2) 3. Februar 1918. Die Kopie des Briefes ist unvollständig, die letzte Seite fehlt offenbar. 59 Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (2) 14. Mai 1918. 60 Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (2) 12. Mai 1918: „er (Gurlitt) war riesig nett und meine Angst vor der Besprechung war wirklich überflüssig". Die Ausstellung fand erst im Mai/Juni 1919 statt. 61 Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (2) 14. Mai 1918: „ich bin so schrecklich froh - eben bekomme ich die Nachricht von der Sezession - daß zwei Bilder angenommen sind - und gerade in der Nacht hatte ich geträumt - ich kam in die Ausstellung und suchte u. suchte und fand meine Bilder nicht - da war ich schon ganz traurig. Sonst träumt man immer viel schöner als das Leben ist." Im Katalog Freie Sezession, Berlin 1918 sind folgende Bilder von Irma Stern aufgeführt: Kat. Nr. 167 Mädchenporträt, Kat. Nr. 168 Felder. 1920 war sie wieder an der Ausstellung beteiligt vgl. Katalog Freie Sezession, Berlin 1920, Kat. Nr. 209 Die Brücke. 62 Zu Pechsteins pädagogischen Ambitionen vgl. Max Pechstein 1996, S. 111 f. Pechstein bringt seine Vorstellungen zu einer Reform der künstlerischen Ausbildung nach 1918 in die Programmatik der Novembergruppe ein. Sein Interesse an radikalen Schulreformversuchen der Weimarer Zeit dokumentiert auch die Tatsache, daß er seinen Sohn Frank an die Schule des Kunsthistorikers Alois Schardt in Hellerau schickte, ebenda S. 115. 63 64

Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3) 5. Juli 1918. Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (3) Briefe vom 24. August 1918, 11. Sept 1920, 10. Sept 1922, 15. Juli 1923, 17. Mai 1924. Bei den Grüßen treten an die Stelle von „besten Grüßen" „beste Wünsche und freundschaftlichste Grüße" (5. Juli 1918) „mit freundschaftlichem Gruß" (24. August 1918) und dann „grüße Sie aufs Allerherzlichste als immer der Ihre" (11. Sept. 1920).

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Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (3) 16. Juli 1918. Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3) 5. Juli 1918. Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3) 16. Juli 1918. Die Karte von Lotte Pechstein ist undatiert, doch sie ist durch den Bezug auf die Sendung von Irma Stern als zugehörig kenntlich. Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3) 24. August 1918. Aus der im Januar 1919 verabschiedeten Satzung der Novembergruppe nach Helga Kliemann, Die N o vembergruppe, Berlin 1969, S. 57. Die von Irma Stern erwähnte Bildhauerin - vermutlich Emmy Roeder, die seit 1919 mit der Gruppe ausstellte - war nicht anwesend. Das Protokoll der ersten Sitzung ist abgedruckt in: Kliemann 1969, S. 55. Große Berliner Kunstausstellung, Ausstellungskat. 1919, Abt. Novembergruppe, Nr. 1263 Gewitter; Große Berliner Kunstausstellung, Ausstellungskat. 1920, Abt. Novembergruppe, Nr. 1430 Häuser am Meer; Große Berliner Kunstausstellung, Ausstellungskat. 1927, Nr. 875 Markt in Lourenso Marques, Nr. 876 Zeichnung, Nr. 877 Frauenporträt. 1928 und 1929 stellte Irma Stern ihre Arbeiten unter dem Dach des Frauenkunstverbandes aus.

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In der Geschichtsschreibung der Novembergruppe kam Irma Stern bis zur Ausstellung der Galerie Niemann 1994 nicht vor, dort erscheint sie mit dem Vermerk „Lebensdaten unbekannt", obwohl ihre Lebensdaten im Thieme-Becker und Vollmer zu finden gewesen wären. Kapstadt, SA Library M S C 31.3 (2). Vgl. u.a. Paul Fechter, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 20. Juni 1919; Fritz Stahl, in: Berliner Tageblatt, 13. Juni 1919. Chemnitzer Allgemeine Zeitung, 19. Mai 1919 in: Kapstadt SA Library, M S C 31.18. (1) Irma Stern Kritiken, fol 2 r, Zur politischen Haltung Irma Sterns in dieser Zeit vgl. Below 1996, Anm. 20. Vgl. dazu Below 1997, S. 54-57 (wie Anm.4) Max Osborn hatte 1922 ein Buch über Pechstein geschrieben. Pechstein kündigt es Irma Stern am 10. September an: „Nächstens erscheint hier ein Buch, weiß noch nicht wie es wird, aber schon jetzt verspreche Ihnen ein Exemplar, damit wenigstens etwas von mir den Platz an der Sonne hat, den ich selbst heiss ersehne." Kapstadt, SA Library MSC 32.2 (3) 10. September 1922. Irma Stern Museum, Kapstadt. Dubow 1991 (wie Anm. 40) ist eine Faksimile-Edition des Tagebuches. Zu der Selbstkonzeption als Künstlerin im Tagebuch vgl. Below 1997, S. 57/58. Irma Stern Museum Kapstadt, Tagebuch, S. 29/30. Kapstadt, SA Library MSC 31.2 (3) 11. September 1920.

Irma Stern und Max Pechstein

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Vgl. Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (3) Briefe v o m 10. September 1922, 15. Juli 1923, 17. Mai 1924, dazu ein in N e w Y o r k im August 1922 begonnener Kettenbrief, den Pechstein an Irma Stern weitergeschickt hat.

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Kapstadt, SA Library M S C 31.2 (3) 6. Mai 1926.

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Walther H e y m a n n , M a x Pechsteins, München 1912. In Irma Sterns Bibliothek befindet sich die

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Vgl. Günter Krüger, Das druckgraphische W e r k M a x Pechsteins, T ö k e n d o r f 1988, L 400, S. 311. F ü r

2. Auflage von 1916. den Hinweis danke ich M a x K. Pechstein. 85

Zu Pechsteins Stilleben vgl. M a x Pechstein 1996, S. 54 und S. 88 f.

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D i e Lithographie hat die Maße 16,5 £ 20,2 cm. Sie befindet sich in einem Teil der Kunstbücher, einzelne Exemplare signiert. Vgl. dazu auch: Irma Stern Bookplates Exlibris with an introductory note b y Irene B e l o w , Hg. T h e Society of Bibliophiles in Cape T o w n , Cape T o w n 2000, zu beziehen über Verlag Claus Wittal Wiesbaden.

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Irene Below

Eine „symbiotische Arbeitsgemeinschaft"

Lucia und Laszlo Moholy-Nagy

M E R C E D E S VALDIVIESO

In ihrem kleinen Buch „Marginalien zu M o h o l y - N a g y " , das Lucia Moholy im Jahre 1972 veröffentlicht, schreibt sie: „Zwischen M o h o l y - N a g y und mir hatte sich bald eine Art symbiotischer Arbeitsgemeinschaft herausgebildet, die dem Reichtum seiner sprießenden Ideen einen fruchtbaren Boden bereiten half. Das Zusammenwirken von kühner Phantasie und leidenschaftlichem Realisierungsdrang einerseits sowie abwägender Grundhaltung andererseits trug in sich die Keime eines Kollektivs, aus dem, von des Künstlers ureigenster Begabung getragen, gemeinsames Denken fruchtbar werden und sich ausweiten konnte. Die sprachliche Formulierung blieb meist mir vorbehalten. So habe ich, natürlich unter Berücksichtigung gemeinsam gezogener Grenzen, die Texte für Bücher, Essays, Artikel, Besprechungen und Manifeste während einer Reihe von Jahren laufend bearbeitet und, wenn ich einen Satz aus M o h o l y - N a g y s Vorwort zu Bauhausbuch 14 [Neudruck 1968] zitieren darf, ,... in Gedanken und Formulierung vielfach geklärt und bereichert'." 1 Lucia Moholy bezieht sich auf die Dankesworte, die Laszlo M o h o l y - N a g y seinem 1929 erschienenen Buch „von material zu architektur" voranstellt: „manuskript und korrekturen des buches wurden von meiner frau lucia moholy durchgearbeitet, in gedanken und formulierung vielfach geklärt und bereichert". 2 Dieses ist jedoch der einzige Hinweis in zahlreichen Veröffentlichungen des Künstlers, der die Zusammenarbeit mit Lucia Moholy attestiert. Im 1968 erfolgten Neudruck des Buches wurde auch dieser kleine Hinweis auf die Zusammenarbeit, wie Lucia Moholy in ihren „Marginalien..." selbst anmerkt, weggelassen. Dies Weglassen ist symptomatisch für die Rezeption der Zusammenarbeit zwischen Laszlo und Lucia Moholy-Nagy.

Lucia und Laszlo Moholy-Nagy

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Zusammentreffen in Berlin „Im April 1920 lernte ich M o h o l y - N a g y kennen.", beginnt Lucia Moholy ihr Buch „Marginalien zu M o h o l y - N a g y " und fährt fort: „Nach einem in der Buchhandlung Adolf Saal in Hamburg mit anstrengender Arbeit verbrachten Winter machte ich, gemeinsam mit meiner Kollegin Lies Fuchs, eine Frühlingswanderung durch die Lüneburger Heide. Bei einem anschließenden Besuch in Berlin führte mich mein erster Weg in die Kurfürstenstraße, w o ich einen Freund, Friedrich Vorweg, besuchen wollte. Bei ihm traf ich einen jungen Ungarn: Läszlo Moholy-Nagy. Er war im Winter nach Berlin gekommen, anfangs von dem Quäker-Ehepaar Reinhold und Gerda Schairer betreut und später in einer Pension untergebracht worden, wo Vorwerk, der den Quäkern nahestand, sich seiner annehmen konnte. [...] Eine zeitlang wohnten wir in der gleichen Pension; dann zogen wir in die Witzlebenstraße, wo wir bei einem Β eamtenpaar zwei Zimmer gemietet hatten. A m 18. Januar 1921 - das Datum wird neuerdings oft auf 1922 verlegt - wurden wir in Charlottenburg standesamtlich getraut. Später siedelten wir in die Lützowstraße über." 3 Bevor wir mit dem 1920 begonnenen gemeinsamen Lebensweg und der Zusammenarbeit zwischen Lucia und Läszlo Moholy-Nagy fortfahren, scheint ein kleiner Exkurs über ihr vorheriges Leben angebracht. Läszlo M o h o l y - N a g y wird 1895 in Bäcsborsod, Südungarn, geboren. Trotz seiner künstlerischen Neigung zum Zeichnen und Schreiben beginnt er in Budapest ein Jurastudium, das 1915 durch seine Berufung zum Kriegsdienst in der österreich-ungarischen Armee unterbrochen wird; als Artillerie-Offizier wird er an der russischen Front schwer verwundet. Seine ersten künstlerischen Arbeiten, die die Kriegserlebnisse zum Thema haben, entstehen auf Feldpostkarten. Nach seiner Entlassung aus der Armee gibt er - nach schweren inneren Konflikten - sein Jurastudium zugunsten der Malerei auf. In Budapest tritt er in Kontakt zu den Künstlern der MA-Gruppe. 4 Nach der Zerschlagung der ungarischen Räterepublik emigriert Lazio M o h o l y - N a g y 1919 zunächst nach Wien und übersiedelt nach wenigen Wochen krank und mittellos nach Berlin, w o er - wie Lucia Moholy berichtet - von dem Pädagogen Reinhold Schairer und dessen Ehefrau aufgenommen wird. Lucia Moholys Lebenslauf ist bis dahin weniger dramatisch verlaufen. Ihr Weg entspricht zunächst dem einer „Tochter aus gutem Hause". Lucia Schulz, so ihr Geburtsname, wird 1894 in Karolinenthal, einem Vorort von Prag, geboren als Tocher eines angesehenen Rechtsanwaltes, der sich - so ihr Biograph Rolf Sachsse - „aktiv für die Belange der Tschechen im damals österreichischen Prag einsetzt". 5 Sie wächst zweisprachig auf - ihre Mutter ist deutscher Abstammung - , lernt auch Französisch und Englisch und besucht das deutschsprachige Lyzeum in Prag, das sie 1910 mit dem Abitur abschließt. 1912 erhält sie die Lehrbefähigung als Englischlehrerin. Sie besucht philosophische und kunstgeschichtliche Vorlesungen an der Prager Universität und 66

Mercedes Valdivieso

arbeitet in der Kanzlei ihrers Vaters. 6 Im Jahre 1915, mit 21 Jahren, durchbricht sie den geordneten Lebensweg, der für eine „Tochter aus gutem Hause", trotz Berufsausbildung für die „Notzeiten", in die Ehe einzumünden hatte. Sie verlässt das Elternhaus. In ihrem Tagebuch begründet sie in einer Eintragung vom 3.2.1915 (Wiesbaden), die sie bezeichnenderweise und etwas jungmädchenhaft-poetisch „Mein erster Flug in die Welt" betitelt, diesen Entschluß: „Jahrelang schon hatte ich eine Stellung gesucht, einigemal w a r ich nahe daran, eine anzunehmen und immer gab es ein Hindernis; und ich wollte doch so furchtbar gerne fort: 1.) weil ich mit Gisa [ihrer Schwester] nur sehr ungern zusammen lebte; 2.) weil ich mich in Prag entsetzlich zu langweilen glaubte; immer dieselben 20 Gesichter, niemals ein neues, niemals ein Wort mit einem Freund, oh! wie öde! der 3. Grund war vielleicht der stärkste von allen: ich verachtete meinen Vater (ich schreibe unwillkürlich alles in vergangenen Zeiten, weil es mir so furchtbar ferngerückt erscheint) und deshalb konnte ich den Gedanken nicht ertragen, von ihm mich erhalten zu lassen. Die Arbeit, die ich bei ihm in der Kanzlei leistete, tat ich mir, um wenigstens meine direkten Ausgaben mit selbstverdientem Gelde bestreiten zu können. Sonst war mir die Arbeit dort verhaßt. Denn mit meinem Vater zu arbeiten, ist kein Vergnügen; aus Lachen und Albernheiten besteht alles, was nicht mechanische Arbeit ist." 7 Sie schreibt weiterhin, ihr eigentliches Berufsziel sei, Fotografin zu werden: „Es erwachte bei mir ein Interesse für die Photographie. Ich bin passive Künstlerin; ich kann Eindrücke aufnehmen und wäre sicherlich befähigt, alles von der schönsten Seite aufzunehmen und sie durch angelernte chemische Prozesse durchgehen und dann so erscheinen zu lassen, wie sie auf mich wirken. Ich bin nicht schöpferisch, nicht produktiv aus mir selbst, wohl aber von sehr feiner Aufnahmefähigkeit, rezeptiv. Da zur Ausübung der Photographie entweder eine 3jährige Lehrzeit oder l - 2 j ä h rige Studienzeit erforderlich ist, kann ich den Plan nicht so bald zur Ausführung bringen, wie ich möchte. Meine vorläufige Absicht ist nämlich die, während des Studiums (halbtätige Frequenz vorausgesetzt) Geld zu verdienen (durch Schreibarbeit, Stunden, etc.). Freilich ist die Möglichkeit der Durchführung sehr fraglich. Ich stehe diesbezüglich mit mehreren Schulen in Korrespondenz. Da ich aber so lange nicht warten will, besonders da die Sache so unbestimmt ist, annocierte ich im „Berliner Tageblatt" und erhielt eine Aufforderung von der Wiesbadener Verlagsanstalt, als Redaktionssekräterin einzutreten. Nachdem meine Gehaltsansprüche per 150 M k . genehmigt worden waren, teilte ich meinen Eltern den fertigen Entschluß mit, und 5 Tage später reiste ich ab." 8 Daß ihr Weggang vom Elternhaus nicht ganz reibungslos verläuft, geht aus einem später verfaßten autobiografischen Text 9 hervor: „Zur Zeit als ich mein Elternhaus verließ, war es für ein junges Mädchen gar nicht selbstverständlich, sich auf eigene Füße zu stellen. Noch heute höre ich meinen Vater Lucia und Läszlö Moholy-Nagy

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klagen, mein Weggang könnte Schlüsse auf den Geschäftsgang seiner Anwaltsbüros zulassen." 10 In Lucia Moholys Tagebucheintragungen spiegeln sich auch die Ängste, die Einsamkeit und die Probleme, die ihr Eintritt in die Unabhängigkeit mit sich bringt und auch ein ganz konkretes Problem: „Aber eines ist schlimm, ja sehr schlimm sogar: Der Direktor macht schon seit dem ersten Tage dringende Annäherungsversuche und ich weiß nicht, ob es nicht bis zum 14. so weit sein wird, daß ich selbst wöchentlich kündige. Ich weiß es nicht, aber möglich ist es." 11 „Ich beginne zu fühlen, wie schwer es für ein Mächen ist, ganz allein zu stehen!", resümiert sie ihren „ersten Flug in die Welt". Wie man aus ihrem beruflichen Werdegang ersieht, kann sie ihre Pläne, neben dem notwendigen „Broterwerb" eine Ausbildung als Fotografin zu beginnen, nicht ausführen. Sie geht nach einem Jahr Aufenthalt in Wiesbaden nach Leipzig, wo sie zunächst im Verlag B. G. Teubner und später beim Hyperion Verlag arbeitet. Während ihrer Tätigkeit bei der Leipziger Geschäftsstelle des Hyperion Verlages übernimmt sie laut eigener Aussage „dessen gesamte Leitung mit Ausnahme der Auslieferung und Buchhaltung" und betreut „alle Stadien der Herstellung bis zur Vollendung des Einbandes". 12 Im Frühjahr 1918 gibt sie ihre Verlagstätigkeit auf und betreut auf dem pommerschen Gut von Thadden russische Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt worden waren. Den Sommer 1918 und 1919 verbringt sie auf dem Barkenhof Heinrich Vogelers in Worpswede. 13 Ende des Jahres geht sie nach Hamburg und beginnt ihre Tätigkeit in der Buchhandlung von Adolf Saal, wo sie bis März 1920 arbeitet. An dieser Stelle beginnt ihr gemeinsamer Lebensweg mit Moholy-Nagy, den sie im Frühjahr 1920 bei einem Besuch in Berlin kennenlernt und im Januar des folgenden Jahres heiratet. Durch ihre Arbeit beim Rowohlt Verlag sichert sie den gemeinsamen Lebensunterhalt.

Der Beginn der „symbiotischen Arbeitsgemeinschaft" In den nächsten Jahren beginnt das Paar die von ihr als „symbiotische Arbeitsgemeinschaft" bezeichnete gemeinsame Tätigkeit, in der sich ihre antagonistischen Charakterzüge zu komplementieren scheinen. Lucia Moholys Mitarbeit an den von Läszlo Moholy-Nagy veröffentlichten Texten geht weit über bloße Sprach- und Stilkorrekturen hinaus. 14 „Was er benötigte, war nicht nur die Umsetzung seiner stockenden Sprachversuche in eine fließende Schriftsprache, oder das Finden des adequaten Ausdrucks für einen oft erst im Entstehen befindlichen Gedanken, sondern auch das Miterleben des imaginativen Vorgangs, den zu Ende zu führen, er häufig mir überließ. Die Aus68

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gangsidee kam von ihm, die Argumentation war uns beiden gemeinsam, die Formulierung war mein", erinnert sich Lucia Moholy Jahre später. 15 Diese Mitwirkung von Lucia Moholy und ihre intellektuelle Führungsrolle wird auch von Zeitgenossen bestätigt. So schreibt Sophie Lissitzky-Küppers: „Nach der Arbeit traf man sich mit den Kameraden, entweder im .Romanischen Cafe' oder im Atelier Läszlo Moholy-Nagys, dessen kluge Frau Lucia großen Anteil an der schriftlich-theoretischen Arbeit ihres Mannes nahm und ihm viel half." 16 Auch Moholy-Nagys zweite Ehefrau Sibyl, der man kaum Parteilichkeit zugunsten von Lucia Moholy vorwerfen kann, schreibt in dem Buch „Läszlo Moholy-Nagy. Ein Totalexperiment" in diesem Sinne: „Einem Maler von so besessener Vision fiel es nicht leicht, sich in Worten auszudrücken. Er brauchte Hilfe, den geduldigen Einfluß eines geübten Intellekts. Dieser Einfluß kam von Lucia, einer jungen Akademikerin, die Moholy während seines ersten Jahres in Berlin kennenlernte. Der fieberhaften Sinneswahrnehmung seiner neuen Vision fügte sie außergewöhnliche Intelligenz und nüchterne Arbeitsdisziplin hinzu. In Zusammenarbeit mit ihr erwarb Moholy die Fähigkeit, logisch und verständlich zu denken und sich auszudrücken. [...] Ihre Verbindung beruhte auf einer gemeinsamen Vision der Totalität revolutionärer Gestaltung und auf der unbegrenzten Bereitschaft, zu arbeiten und Opfer zu bringen. Während dieser langen Wanderungen, auf denen er die Landschaft wiederentdeckte, begann Moholy zu fotografieren.[...] Anfänglich lernte Lucia, die Wahrnehmung auf seine Weise zu interpretieren, später fügte sie dieser Vision das systematische Wissen des Handwerks hinzu, bis sie eine der hervorragendsten Photographen Europas wurde." 1 7

Die Fotogramme Durch seine Frau lernt M o h o l y - N a g y nicht nur „logisch und verständlich zu denken und sich auszudrücken", auch seinen ersten Kontakt mit der Fotografie hat er ihr zu verdanken. Wie Lucia Moholy in den „Marginalien..." schreibt, entsteht die Idee, Fotogramme zu machen, während des Sommers 1922: „Ich entsinne mich deutlich der Situation seiner Entstehung. Auf einem Spaziergang in der Rhön im Sommer 1922 erörterten wir die Problematik der Produktion-Reproduktion, 18 die unabhängig von den Ideen Schads, Man Rays und Lissitzkys (hier wäre hinzuzufügen: und anderer) zum Ausgangspunkt unserer Photogramm-Tätigkeit wurde ..." 19 Sie benutzt hier den Plural „wir", ebenso in einem anderen Ausschnitt, w o sie davon spricht, daß sie zunächst Auskopier- oder Tageslichtpapier für die ersten Fotogrammversuche benutzten. 20 Da - im Gegensatz zur Fotografie, bei der ein schon vorhandenes Negativ in der Dunkelkammer reproduziert wird - das Fotogramm ein Unikat ist und erst durch den Lucia und Läszlo Moholy-Nagy

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Belichtungsprozess entsteht, ist es schwer vorstellbar, daß sich Lucia Moholy bei der gemeinsamen Laborarbeit nur auf die technische Ausführung beschränkt haben soll, quasi als Befehlsempfängerin ihres Mannes. 21 Der Künstler scheint jedoch die Mitwirkung von Lucia Moholy an den Fotogrammen vergessen zu haben. So benutzt er in einem an Gropius gerichteten Brief von 1935 22 , in dem er über die Entstehung der Fotogramme berichtet, ausschließlich den Singular, ebenso in seinem posthum erschienenen Text „Abstract of an Artist". 2 3 Auch von manchen Kunstkritikern wird Lucia Moholys Mitwirkung an den Fotogrammen nicht wahrgenommen. 2 4 In dieser Hinsicht stellen zwei Publikationen zu Läszlo M o h o l y - N a g y besonders ärgerliche Beispiele dar. Im Ausstellungskatalog von 1991 25 wird in den darin erschienen Artikeln Lucia M o h o l y nur ein einziges Mal erwähnt, um darauf hinzuweisen, daß sie ihn in die Mazdaznan-Lehre einführte. Auch im Ausstellungskatalog von 1997 zu den Fotogrammen 2 6 erfährt man mit keinem Wort, daß sie Fotografin war und noch weniger über ihre Mitarbeit an den Fotogrammen. 2 7

Abb. 1 Lucia und Läszlo MoholyNagy Doppelportrait, um 1923 Fotogramm Berlin, Bauhaus Archiv 70

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Als Beweis für diese Zusammenarbeit bleiben uns nur ihre eigenen Aussagen sowie ein Fotogramm, das die beiden im Doppelportrait (Abb. 1) zeigt und das Andreas Haus mit folgender Bildunterschrift versehen hat: „Ein kleines Denkmal der fotografischen Zusammenarbeit." 2 8

Die Bauhauszeit Im April 1923 wird M o h o l y - N a g y als Meister von Gropius ans Bauhaus in Weimar berufen. Er übernimmt den Vorkurs von Itten, der das Bauhaus verlassen hat, sowie den Ausbau der Metallwerkstatt. Lucia Moholy begleitet ihn lediglich als „Ehefrau". Während der fünf Jahre, die sie mit ihm am Bauhaus verbringt, stellt sie ihre umfangreiche Verlagserfahrung sowie ihre fotografischen Kenntnisse in den Dienst des Bauhauses, ohne jemals eine offizielle Stellung innezuhaben. Von den Ehefrauen der Meister wurde anscheinend freiwillige Mitarbeit erwartet, wie aus Ise Gropius' Tagebuch, das diese während der ganzen Zeit am Bauhaus führt, hervorgeht. 29 Sie selber hatte als Frau des Direktors nicht nur zahlreiche Repräsentationsaufgaben zu erfüllen (Betreuung der vielen Bauhausbesucher, Einladungen an Meister und Studenten), sondern übernahm darüber hinaus auch die Verantwortung für den „Kreis der Freunde" und einen guten Teil der Öffentlichkeitsarbeit. Häufig beklagt sie sich in ihrem Tagebuch über die viele Schreibmaschinenarbeit, die sie, quasi als Gropius Privatsekräterin, übernehmen mußte: „trotz des sonntags arbeit von morgens bis abends, aufsätze, artikel, etc." [6.2.27] „ich versage ab und zu wegen müdigkeit und wünschte mir etwas weniger schreibmaschinenarbeit." [29.6.27] 30 Lucia Moholy selbst macht in ihren unveröffentlichten Aufzeichnungen auf das Desideratum aufmerksam, die Mitarbeit der Meisterfrauen am Bauhaus aufzuzeigen: „Es wäre nicht abwegig, wenn jemand sich entschlösse, etwas über die Rolle der Meisterfrauen zu schreiben, der Frauen der Bauhausmeister nämlich, die keinen offiziellen Status hatten und doch maßgeblich an der Geschichte und der Nachgeschichte des Bauhauses beteiligt gewesen sind [...] die - je nach Temperament, in leiser, zurückhaltender, zäh-konsequenter oder aktiv-agressiver Weise zur Auswirkung kommen konnte und gekommen ist. [...] über die Meister selbst ist zu viel geschrieben worden, als daß hier von ihnen im [?] die Rede sein müßte." 3 1 Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Weimar macht sie zunächst eine einjährige Lehre beim Weimarer Berufsfotografen Otto Eckner, um ihre bis dahin autodidaktischen Kenntnisse in der Fotografie zu erweitern. Im Wintersemester 1925/26 und im Sommersemester 1926 besucht sie die Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig, wo sie sich auf das technische Lehrangebot konzentriert. Die erworbenen Kenntnisse dienen nicht nur der Erfüllung ihres ursprünglichen Berufswunsches, als Fotografin zu arbeiten, sondern sind auch dazu bestimmt, die unmittelbaren Bedürfnisse des Bauhauses zu erfüllen. Lucia und Läszlö Moholy-Nagy

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Neben den fotografischen Reproduktionen der Gemälde und Entwürfe der Bauhausmeister - auch der zusammen mit ihrem Mann erstellten Fotogramme die diese für die publizistische Verbreitung ihrer Werke brauchen, widmet sie sich der Sachfotografie. Ihre Ankunft am Bauhaus fällt mit einer Zeit großer öffentlicher Aktivität zusammen. Man will versuchen, durch die Lizenzvergabe von Entwürfen an die Industrie größere Unabhängigkeit von den öffentlichen Geldern zu erreichen. Sie fotografiert die in den Werkstätten (Tischlerei, Metall- und Keramikwerkstatt) produzierten Objekte für die Kataloge, Broschüren und Musterbücher, mit denen das Bauhaus während der Jahre 1923 und 1924 auf verschiedenen Messen für seine Entwürfe um industrielle Verwerter wirbt (Abb. 2). Bei diesen Sachaufnahmen verzichtet sie bewußt auf jegliche „künstlerische" Inszenierung der Gegenstände. Diese werden zumeist auf einer durchsichtigen Glasplatte vor einem neutralen Hintergrund, der bei der Reproduktion wegretuschiert wurde, nebeneinandergereiht. Mit einem beabsichtigten Willen zur Sachlichkeit macht Lucia Moholy die abgebildeten Gegenstände zu den absoluten Protagonisten ihrer Fotografien, für die eine fast wissenschaftliche Genauigkeit charakteristisch ist. Die gleiche Leidenschaftslosigkeit kennzeichnet auch ihre Portraitaufnahmen, die sie von den Bauhausmeistern, ihren Ehefrauen, den Besuchern des Bauhauses und von

Abb. 2 Lucia Moholy. Teekanne, Sahnegießer, Zuckerschale (Marianne Brandt), um 1924. Fotografie. Berlin, Bauhaus Archiv 72

Mercedes Valdivieso

Abb. 3 Lucia Moholy Portrait Läszlö Moholy-Nagy „Figur", 1926 Fotografie. Berlin, Bauhaus Archiv

F r e u n d e n macht. Mit A u s n a h m e des b e r ü h m t e n G a n z k ö r p e r p o r t r a i t s , das Läszlö M o h o l y - N a g y im M o n t a g e a n z u g zeigt oder den Portraits der Meister in ihren A t e liers, beschränkt sie sich bei Personen fast ausschließlich auf G e s i c h t s a u f n a h m e n (Abb. 3 u n d 5). Wie die Gegenstände aus den Bauhauswerkstätten w e r d e n auch die M e n schen entweder in Frontalansicht, in strenger Profilansicht oder schräg von o b e n vor einem neutralen H i n t e r g r u n d schattenlos u n d den R a u m ausfüllend abgebildet. Als das Bauhaus 1926 in die neuen von G r o p i u s e n t w o r f e n e n G e b ä u d e nach Dessau u m z i e h t , w e r d e n diese v o n Lucia M o h o l y in zahlreichen Fotografien d o k u m e n t i e r t (Abb. 4). A u c h die Meisterhäuser w e r d e n in A u ß e n - wie auch I n n e n a u f n a h m e n vielfach abgebildet (Abb. 6). Diese A u f n a h m e n w a r e n zu Publikationszwecken bestimmt u n d f a n d e n eine weite Verbreitung s o w o h l in den zahlreichen Pressemedien, die über das Bauhaus berichteten 3 2 , als auch in den eigenen Publikationen des Bauhauses. Lucia und Läszlö Moholy-Nagy

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Abb. 4 Lucia Moholy Bauhausgebäude Dessau, „Blick aus dem Vestibülfenster zum Werkstattflügel", 1926 Fotografie Berlin, Bauhaus Archiv

Während der fünf Jahre, die Lucia Moholy am Bauhaus verbringt, wird sie quasi zur „offiziellen Fotografin" der Schule. Es entstehen insgesamt mehr als 500 Aufnahmen, die das Bild nicht nur der Dessauer Bauten, sondern auch der Werkstattprodukte bis in unsere Tage prägen sollen. 33 Die Zusammenarbeit mit ihrem Mann wird auf fotografischem Gebiet weitergeführt. Es entstehen weiterhin gemeinsame Fotogramme während dieser Zeit, die auch zu Publikationszwecken, allerdings nur unter Läszlo M o h o l y - N a g y s Namen, reproduziert werden. Ab dem Sommer 1925 beginnt auch er mit einer Leica zu fotografieren, die kurz zuvor auf der Leipziger Frühjahrsmesse auf den Markt gekommen war. Da jedoch die Dunkelkammerarbeiten ausschließlich von Lucia Moholy ausgeführt werden, kann man auch hier von einer gewissen Mitarbeit sprechen. 34 Neben den fotografischen Arbeiten Moholys ist auch ihre Verlagserfahrung für das Bauhaus und ihren Mann von unschätzbarer Bedeutung. 1925 erscheinen die ersten acht Bände der Bauhausbücher 3 5 und ab Ende Dezember beginnt man auch mit der Herausgabe der Zeitschrift „bauhaus". 3 6 Die erste Nummer erscheint am 74

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Abb. 5 Lucia Moholy Portrait Florence Henri „en face", 1927 Fotografie Berlin, Bauhaus Archiv

4.12.1926 anläßlich der offiziellen Einweihung der Bauhausgebäude in Dessau. Es werden mehrere von ihr aufgenommene Fotos abgebildet unter Angabe ihrer Autorschaft. Was ihre redaktionelle Mitarbeit anbelangt, fehlt jedoch jeglicher Hinweis. Im Impressum auf der erste Seite heißt es: „schriftleitung: waiter gropius und 1. moholy-nagy". Identische Angaben findet man auch bei den Werbeblättern zu den Bauhausbüchern. Viele Jahre später sollte Lucia Moholy bedauern, nicht darauf bestanden zu haben, daß auch ihr Name genannt wurde: „Es ist richtig wenn ich sagte, alles was ich in meiner Verlagsarbeit gelernt habe, kam nun bei der Arbeit an dem Bauhaus auch zugute; denn weder Gropius noch MoholyNagy, die als Herausgeber zeichneten, hatten auf diesem Gebiet die nötigen Kenntnisse. Daß ich nicht darauf bestand, daß mein Name als Redakteurin genannt wurde, war eine naive Unterlassung, die sich später schwer rächen sollte; als es nach MoholyNagy's Tode (1946) darum ging, die Bauhausbücher neu aufzulegen, wurde nicht meine Zustimmung eingeholt, sondern die seiner zweiten Frau, die mit dem ursprünglichen Bauhausbuch nicht das Geringste zu tun gehabt hatte. Lucia und Läszlo Moholy-Nagy

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Abb. 6 Lucia Moholy. Meisterhaus Dessau, Wohnzimmer Moholy-Nagy, 1927/28. Fotografie. Berlin, Bauhaus Archiv

Aber nicht nur für die Redaktion und Herstellung der Bauhausbücher war ich weitgehend verantwortlich, auch die Autorschaft der von M o h o l y - N a g y gezeichneten Texte - sowohl Artikel als auch Bücher - wäre ohne intensive Mitarbeit meinerseits nicht denkbar gewesen, da M . - N . der deutschen Sprache damals nur ungenügend mächtig war." 3 7 Der Grund für diesen mangelnden Ehrgeiz Moholys, an die Öffentlichkeit zu treten, liegt wohl zum einen an der oft belegbaren frauenspezifischen Neigung, die eigene Arbeitskraft der „gemeinsamen Aufgabe", die zumeist die des Partners ist, zu opfern. Ein anderer Grund ist in der Struktur des Bauhauses selber zu suchen, die dem mittelalterlichen Gedanken der Bauhütte folgend, die anonyme Gemeinschaftsarbeit über die individuelle Leistung stellte, auch wenn dies in der Praxis meist nur auf die Arbeit der Frauen 38 angewendet wurde, wie im Fall von Lucia Moholy. In diesem Sinne ist wohl folgende Aussage über ihre Arbeit am Bauhaus zu interpretieren: „Ich glaube mit gutem Gewissen sagen zu dürfen, daß gewöhnlich Ehrgeiz bei mir damals keine, wenn überhaupt - oder nur eine verschwindend geringe Rolle gespielt 76

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hat, mir lag an der Sache. An ihr war ich im Tiefsten beteiligt, und ihr gegenüber war ich entsprechend kritisch. Die ,Sache' bestand damals aus drei Komponenten: a) Streben und Ziele des Künstlers M.-N. b) Streben und Ziele des Bauhauses c) meine eigene Arbeit im Dienste von a) und b) Daß von diesen drei Komponenten oft jeweils zwei, mitunter auch alle drei zusammenfielen, versteht sich fast von selbst." 39 Moholy sollte später nicht nur das Auslassen ihres Namens bei den Bauhausveröffenlichungen bedauern, sondern auch die Verwendung der von ihr am Bauhaus erstellten Bilder, die jahrelang ohne ihre Erlaubnis und häufig auch ohne Nennung der Urheberin veröffentlicht wurden. 4 0

Die Zeit nach dem Bauhaus Als Gropius das Bauhaus 1928 verläßt, gehen auch kurz darauf Laszlo und mit ihm Lucia Moholy-Nagy. Beide lassen sich in Berlin nieder. Im Gegensatz zu anderen Ehefrauen von Meistern, wie zum Beispiel Nina Kandinky, die die Bauhauszeit als eine der „interessantesten und intensivsten Phasen unseres Lebens" in ihrem Erinnerungbuch „Kandinsky und ich" 41 bezeichnet und das kulturelle Leben in Dessau, besonders die Musikszene 42 , lobt, hat sich Lucia Moholy am Bauhaus nicht sehr wohl gefühlt, wie aus ihrem Tagebuch hervorgeht: „dessau ist wie ein ort, in dem man - auf der reise - den anschluß versäumt hat und auf den nächsten zug warten muß. nichts weiter als ein warten auf den nächsten zug. man wäre in dieser Stadt sonst nie ausgestiegen." 43 [5.5.1927] Im selben Tagebuch findet man als Eintragung einen an ihren Mann gerichteten Brief, in dem sie von ihrem vitalen Bedürfnis spricht, nach Berlin zurückzukehren: „an laci, 24 mai 1927 lieber laci - warum kannst du dich nicht entschließen, mir zu glauben, daß es die großstadt ist, die mich anzieht? - ich bin seinerzeit mit widerstreben nach weimar mitgegangen, mit widerstreben dann nach dessau - ich kann es nach den 4 jähren einfach nicht mehr aushalten, trotzdem ich zwischendurch verreist war - es summiert sich die zeit doch, und es ist anders, als wenn einer ab und zu mal fleisch braucht, weil er nicht alle tage spinat essen mag. glaube mir - ich brauche den wirbel der umgebung - und da ich mir nicht oft die fahrt leisten kann, nur um in der Stadt zu sein, muß ich sehen, das mit einer arbeit zu verbinden. - ziel ist es für mich nicht, von dir fortzugehen - sondern dich wiederzufinden,"44 Die Rückkehr nach Berlin wird nicht dazu beitragen, sich „wiederzufinden", wie Lucia Moholy es sich erhofft. Das Ehepaar trennt sich. Die Mitarbeit bleibt jedoch teilLucia und Läszlö Moholy-Nagy

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weise noch eine zeitlang bestehen, da sie weiterhin als „Hausfotografin", wie sie es selber ausdrückt, für ihren Mann arbeitet. 45 1934 wird die Ehe in London geschieden, wohin beide, unabhängig voneinander vor dem Naziterror geflohen sind.46 Lazio Moholy-Nagy gelingt es, mit seiner zukünftigen zweiten Frau Sibyl und dem gemeinsamen Kind 1937 in die USA auszuwandern, wo er das „New Bauhaus" in Chicago leiten wird. Lucia Moholys Auswanderungsversuche bleiben dagegen erfolglos. 47 Sie arbeitet zunächst als Portraitfotografin und Autorin 48 in London und später an verschiedenen Verfilmungsprojekten, unter anderem ab 1946 für die UNESCO. Nach ihrer Pensionierung geht sie nach Zollikon/Schweiz, wo sie 1989 stirbt. Läszlo Moholy-Nagy war bereits 1946 in Chicago gestorben.

Die Umkehrung des dualistischen Geschlechterkonzepts Die nüchterne und streng „sachliche" Art und Weise - um den Ausdruck zu gebrauchen, der auf ihre Fotografien angewendet wird - mit der Lucia Moholy in den bereits zitierten „Marginalien..." die erste Begegnung mit Läszlo beschreibt, 49 die immerhin beeindruckend genug gewesen sein muß, um nur acht Monate später zur Heirat zu führen, diese Sachlichkeit ist wohl kennzeichnend für ihren Charakter. Während zeitgenössische Berichte den Künstler als einen temperamentvollen, stürmischen Mann beschreiben, der Mühe hatte, die Vielfalt seiner Gedanken, Ideen und Gefühle geordnet zu artikulieren, wird sie immer wieder als zurückhaltend und klug beschrieben. 50 Ihre Zurückhaltung wird von manchen ihrer Zeitgenossen jedoch auch, so zum Beispiel von Ise Gropius, als gefühlskalt empfunden, wie aus einigen Anmerkungen in deren unveröffentlichen Tagebüchern hervorgeht: „Schade, daß Frau Moholy und Frau Muche so wenig heiter und offen sind; man wird nie so ganz warm mit ihnen, obwohl wir uns fast täglich sehen." [21.5.1925]51 „(...) Ihre Ernsthaftigkeit und ihr Schweigen haben etwas Bedrückendes, man wird nicht froh mit ihr." [17.6.1925] 52 „(...) zwischendurch Frau Moholy gesprochen wegen der Wohnungsfrage. G. leidet unter ihrer allzugroßen Sachlichkeit, die nie einen wärmeren herzlicheren Ton aufkommen läßt." [2.7.1925] 53 Die Arbeitsgemeinschaft zwischen Lucia und Läszlo Moholy-Nagy stellt ein deutliches Gegenbeispiel zu dem damals auch am Bauhaus weit verbreiteten dualistischen Geschlechterkonzept dar, wonach Frauen intuitive und Männern intellektuelle Fähigkeiten zugeordnet wurden. 54 Wie sehr dieses Klischee auch von den Frauen am Bauhaus verinnerlicht und anscheinend kritiklos übernommen wurde, zeigt sich an folgenden Beispielen. Die Bauhausweberin Helene Nonne-Schmidt beginnt ihren 1926 veröffentlichten Artikel, den sie „Das Gebiet der Frau am Bauhaus" betitelt, mit folgender Feststellung: 78

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Abb. 7 Lucia Moholy Selbstportrait, 1926 Fotografie Berlin, Bauhaus Archiv

„Man unterscheidet in der Hauptsache zwei Typen von Begabung, die intuitive und die intellektuelle, wobei es wie überall Misch- und Grenztypen gibt." 55 Es wird schnell deutlich, welche von beiden Begabungstypen Nonne-Schmidt Frauen zuordnet: „Die bildnerisch arbeitende Frau wendet sich meistens und am erfolgreichsten der Fläche zu. Das erklärt sich aus der ihr fehlenden, dem Manne eigentümlichen räumlichen Vorstellungskraft. Natürlich gibt es auch hier individuelle und graduelle Unterschiede, wie ja auch die Wesensart der beiden Geschlechter selten rein maskulin oder feminin ist, denn gleich dem Kinde sieht sie das Einzelne und nicht das Allgemeine. Man kann das nicht als Mangel ansprechen, denn es ist einfach ihr ,So' Sein und gibt ihr den größeren Reichtum an Nüancen, der dem umfassenderen Blick verloren geht. Nur sollte man sich nicht darin täuschen, daß dieses Wesen sich ändern wird, trotz aller Errungenschaften der Frauenbewegung, trotz aller Studien und Versuche: Ja, es sind sogar Anzeichen vorhanden, daß die Frau diese ihre Beschränkung in Rechnung stellt mit dem Bewußtsein, gerade darin ein großes Plus zu besitzen. Der Mangel an Intellekt findet seinen Grund in einer größeren Ursprünglichkeit und Harmlosigkeit, die dem Leben selber am nächsten ist." 56 Lucia und Läszlö Moholy-Nagy

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Nach diesen pseudopsychologischen Überlegungen k o m m t Nonne-Schmidt zu dem gleichen Ergebnis wie zuvor die Direktion des Bauhauses: Das Gebiet der Frau am Bauhaus sei die Weberei. Weit davon entfernt, einen D r u c k von Seiten der Bauhausleitung bei der Wahl der Werkstatt zu spüren 5 7 , glaubt Nonne-Schmidt, daß Frauen sich aufgrund ihrer natürlichen Begabungen f ü r die Weberei entschieden: „Innerhalb des Bauhauses nun und seiner Werkstätten wendet sich die Frau überwiegend der Arbeit in der Weberei zu, und sie findet dort die weitesten Möglichkeiten für sich. Die Weberei ist die Verbindung unendlicher Vielheiten zur Einheit, das Kreuzen vieler Fäden z u m Gewebe. Es ist einleuchtend, wie sehr dieses Arbeitsgebiet der Frau und ihrer Begabung entspricht." 5 8 Im gleichen Tenor äußert sich auch die Webereileiterin Gunta Stölzl in einem ebenfalls 1926 veröffentlichten Artikel über das Wesen des weiblichen Charakters:

Abb. 8 Lucia Moholy Selbstportrait allein um 1930 Fotografie Berlin, Bauhaus Archiv 80

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„Die Weberei ist vor allem das Arbeitsgebiet der Frau. Das Spiel mit Form und Farbe, gesteigertes Materialempfinden, starke Einfühlungs- und Anpassungsfähigkeiten, ein mehr rhythmisches als logisches Denken sind allgemeine Anlagen des weiblichen Charakters, der besonders befähigt ist, auf dem textilen Gebiet Schöpferisches zu leisten." 59 Die Ehe- und Arbeitsgemeinschaft von Lucia und Läszlo Moholy-Nagy stand im vollen Widerspruch zu diesen „Geschlechtstheorien", da Ratio und Intellekt eher Lucia, Emotionalität und Intuition eher Lazio zugeordnet wurden. Ihre sehr unterschiedlichen Charaktere, die sich zunächst zu komplementieren schienen und ihre 1920 in Berlin begonnene Lebensgemeinschaft auch zu einer fruchtbaren Arbeitsgemeinschaft werden ließen, war wohl auch einer der Gründe für ihre Trennung, wie Lucia Moholy vierzig Jahre später rückblickend schreibt: „Während wir uns seinerzeit gemeinsam an großen Ideen berauscht hatten, boten die Jahre am Bauhaus Gelegenheit, Gesagtes und Geschehenes auf ihren Realitätsgrad hin zu überprüfen. Solange wir innerhalb der B.H.-Gemeinschaft lebten und allgemeine Kritikfreudigkeit gewissermaßen zum guten Ton gehörte, wurden auch meine mitunter skeptischen Kommentare, nicht nur geduldet, sondern als Mitarbeit gewertet. Im privaten Bereich sah das bald etwas anders aus. Was von den einstigen ,Notizen' des rationalen Denkens in einer ihm fremden Sprache akzeptiert, besser aufgesogen wurde, erschien dem reifen Mann, nachdem er es assimiliert hatte, als lästige Bevormundung, die er glaubte, um seinem Selbstbewußtsein gerecht zu werden, zurückweisen zu müssen." 60 Auch Läszlo sah in ihren gegensätzlichen Temperamenten den Grund für das Scheitern ihrer Ehe, wie aus einem etwas pathetischen Gespräch hervorgeht, das seine spätere Ehefrau Sibyl nachträglich wiedergibt: ,„Eine gute Lehrerin - das war meine Frau. Ihr Geist war wie ein Leuchtfeuer, das mein eigenes emotionales Chaos erhellte. Sie lehrte mich das Denken. Die Disziplin, die ich heute habe, verdanke ich ihr. Aber es war nicht genug. Ich lernte, mit meinen Emotionen allein zu bleiben. Und da ist die gute Geliebte - schön, entspannend bis zur Betäubung. Es ist wie Trinken. Es wirkt nur während des Rausches. Nachher ist die Isolation um so bitterer. Keine Frau begreift einen Mann in seiner Totalität. Es ist ewige Selbstbezogenheit: ihr Ego, ihr Aussehen, ihre Karriere'. Er hielt einen Augenblick inne. ,Frauen haben keine Geduld. Sie können einen Mann nicht wachsen lassen.'" 61 Die Frage bleibt offen, ob diese unterschiedlichen Charaktere bei umgekehrtem Vorzeichen, d.h. „Emotionalität" bei Lucia und „Ratio" bei Läszlo, dieselbe negative Wirkung gehabt hätten. Vielmehr scheint einer der Gründe für ihre Trennung in der Umkehrung damals vorherrschender Geschlechterverhältnisse zu liegen. Daß die Folgen der Auflösung dieser Lebens- und Arbeitsverbindung für Lucia Moholy weit schwerer waren als für Läszlo Moholy-Nagy, der in seiner zweiten Ehefrau Sibyl 6 2 bald eine neue „Mitarbeiterin" fand, ist wohl der Preis, den sie für ihre Selbstaufgabe zugunsten der „symbiotischen Arbeitsgemeinschaft" zahlen mußte. Lucia und Läszlo Moholy-Nagy

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Anmerkungen B A = Bauhaus-Archiv, Berlin L M = Nachlaß Lucia Moholy 1 Lucia Moholy: Marginalien zu Moholy-Nagy. Marginal Notes. Dokumentarische Ungereimtheiten...Documentary Absurdities..., Krefeld 1972, S. 11. 2

Läszlo Moholy-Nagy: vom material zur architektur, Passau 1929 (Bauhausbuch 14).

3 Lucia Moholy 1972, S. 7. 4 Die M A - G r u p p e (ma = heute) war eine avantgardistisch und Sozialrevolutionär eingestellte Künstlergruppe kubistisch-expressionistischer Orientierung, die unter der Leitung von Lajos Kassäk die gleichnamige Zeitschrift „ M A " herausgaben und die Berliner Zeitschriften „Der Sturm" und „Die T a t " vertrieben. 5 Rolf Sachsse: Lucia Moholy, Düsseldorf 1985, S. 6. 6 Sachsse 1985, S. 7 schreibt, sie hätte als Lehrerin und Übersetzerin gearbeitet. Dieses widerspricht jedoch den Tagebucheintragungen von Lucia Moholy. Die unveröffentlichen Tagebücher von Lucia M o holy befinden sich im B A : L M , Mappe 134 (Prag, 1.1.1907-31.12.1913), Mappe 135 (Prag, Wiesbaden, 9.1.1914-16.9.1915), und Mappe 136 (Dessau, Berlin, 12.4.1927-27.6.1928). 7 B A , L M , Mappe 135. 8

Ibid.

9 Im B A , L M befindet sich in den Mappen 3 und 4 ein handschriftlich verfasster autobiografischer Textentwurf von Lucia Moholy, den sie „Frau des 20. Jahrhunderts" überschreibt und der anscheinend in den 60er Jahren geschrieben und in den 70ern überarbeitet wurde. 10

B A , L M , Mappe 4, S. 1 (vgl. Anm. 9).

11

B A , L M Mappe 135 (vgl. Anm. 6). Es ist im akademischen „Schreibgenre" anscheinend nicht üblich, auf solche „Nebensächlichkeiten" einzugehen; Lucias Biograph, Rolf Sachsse, der diese Tagebucheintragung kannte, da er Teile daraus zitiert, läßt es unerwähnt. Es erscheint jedoch wichtig, auf diese Problematik, mit der auch schon die „neue Frau" zu kämpfen hatte, aufmerksam zu machen, vor allem auch angesichts der Tatsache, daß selbst die Betroffenen im Alter diese häufig zu vergessen/zu verdrängen scheinen, nach dem Motto: „Wir hatten als Frauen keine Probleme. Es war alles selbstverständlich."

12 B A , L M , Mappe 4, S. 4 - 5 (vgl. Anm. 9). 13 14

Vgl. Sachsse 1985, S. 8 - 9 . Vgl. Lothar Schreyer: Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, Hamburg/Berlin 1956, S. 238.

15 B A , L M , Mappe 4, S. 3 0 - 3 1 (vgl. Anm. 9). 16 Sophie Lissitzky-Küppers (Hrsg.): El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1967, S. 2 2 - 2 3 . 17

Sibyl Moholy-Nagy: Läszlo Moholy-Nagy, ein Totalexperiment, Mainz 1972 (1950, 1969 engl. Ausg.), S. 32.

18

Im Juli desselben Jahres erscheint in der Nummer 7 der Zeitschrift „De Stijl" der Aufsatz „Produktion - Reproduktion" unter Läszlo Moholy-Nagys Namen.

19

Lucia Moholy 1972, S. 15-16.

20

Ibid., S. 17.

21

In einem Brief an Andreas Haus (25.5.77; B A , L M , Mappe 84) schreibt Lucia Moholy: „Da ist vor allem ihre Frage nach meinem Anteil an Moholy-Nagys photographischen Arbeiten, wobei wir vor allem die Photogramme im Auge hatten. Ganz allgemein mag hier gelten, daß ein Photogramm in der Regel ohne Labor-Arbeit nicht realisiert werden kann und eben diese - gesamte - Laborarbeit ausschliesslich mir überlassen war. Schon daraus allein lässt sich vielleicht vielerlei ableiten." Andreas Haus ( M o h o l y - N a gy. Fotos und Fotogramme, München 1978, S. 80) schreibt diesbezüglich: „Daß Lucia Moholy, die ihr Talent zum Fotografieren später großartig bewiesen hat, über den technischen Sachverstand auch zur Erweiterung der gestalterischen Möglichkeiten beigetragen hat, versteht sich fast von selbst."

22

Abgedruckt in Haus 1978, S. 7 9 - 8 0 .

23

Läszlo Moholy-Nagy: The new vision and abstract of an artist, N e w Y o r k 1946, S. 79.

24

Eine der erfreulichen Ausnahmen bilden die Beiträge zu dem Moholy-Nagy-Symposium von 1995 in Bielefeld (G.Jäger, G. Wessing (Hrsg.): über moholy-nagy. Ergebnisse aus dem Internationalen Läszlo M o h o l y - N a g y Symposium, Bielefeld 1995, zum 100. Geburtstag des Künstlers und Bauhäuslers, Bielefeld 1997)

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M e r c e d e s Valdivieso

25

Laszlö M o h o l y - N a g y , Ausst. Kat. Friedericianum Museum, Kassel 1991 (Musee Cantini/Marseille, I V A M / V a l e n c i a ) . N u r im chronologischen Anhang zur Biografie wird die Mitarbeit von Lucia M o h o l y bei den F o t o g r a m m e n erwähnt.

26

Laszlö M o h o l y - N a g y . F o t o g r a m m e 1 9 2 2 - 1 9 4 3 , Ausst. Kat. Museum Folkwang, Essen und C e n t r e Pompidou, Paris ( C A R S / M a d r i d , Fundacio Tapies/Barcelona) 1997.

27

Diese Auslassung von Lucia M o h o l y s Mitarbeit an den F o t o g r a m m e n ist wohl nicht auf Unkenntnis zurückzuführen, da in der Bibliografie sowohl H a u s ' B u c h (1978) zu den Fotogrammen als auch Lucia M o h o l y s „Marginalien" (1972) zitiert werden.

28

Haus 1978, S. 19.

29

Tagebuch Ise Gropius 1 9 2 4 - 1 9 2 8 . Ergänzungen zum Tagebuch (wahrscheinlich nach Gropius T o d entstanden), B A , S. 29: „Auch erlaubte das magere Budget der Schule nie genügend Sekräterinnenhilfe und unter großem D r u c k halfen die Frauen der jüngeren Meister aus."

30

Ibid.: „In diesen ersten Monaten war mein persönlicher K o n t a k t mit der Schule nur oberflächlich. Ich trat nicht in eine der Werkstätten ein, da meine besondere Begabung auf dem literarischen Gebiet lag, was mich z u m natürlichen Mitarbeiter meines Mannes machte, der immer eine große Menge von Artikeln, Berichten und Erklärungen herstellen musste. Die Tatsache, daß ich mit der Schreibmaschine hantieren konnte, war ein großer Glücksfall für uns und während all unserer Reisen war ich immer von meiner kleinen Schreibmaschine begleitet."

31

B A , L M , Mappe 4, S. 1 6 - 1 7 (vgl. A n m . 9).

32

Tagebuch Ise Gropius (vgl. A n m . 29): „die anfragen in den blättern mehren sich, es können gar nicht fotos genug erstellt werden, frau moholy ist überbeschäftigt und arbeitet tag und nacht um alles zu schaffen, was an fotos von ihr bestellt wird." (26.11.1926).

33

In ihrer Werkkartei verzeichnet Lucia M o h o l y 560 Aufnahmen, die am Bauhaus entstanden sind. I m Nachlaß im B A befindet sich der wichtigste Teil davon: Bauhausgebäude (19), Meisterhäuser (42), P o r traits von Bauhäuslern (64), Werkstatt- und Vorkursaufnahmen (105). Bei den ca. 330 fehlenden A u f nahmen handelt es sich um: ca. 30 Portraitfotos der Bauhausmeister, ca. 50 Werkstattaufnahmen, 25 Architekturaufnahmen, ca. 2 0 0 W e r k e der Bauhausmeister und 30 Arbeiten von M o h o l y - N a g y nach 1928. I m B A befinden sich, neben den 2 3 0 Negativen mit direktem Bezug zum Bauhaus, 3 0 0 Portraits aus derselben Zeit von Freunden und Bekannten sowie 500 aus den 30er bis 50er Jahren. Als weitere wichtige Sammlungen sind zu benennen: Schweizerische Stiftung für Photographie, Zürich (Frühwerk) und L o n d o n e r National Portrait Gallery (Portraits der 30er Jahre). (Vgl. S. Hartmann: „Anmerkungen zum fotografischen N a c h l a ß " , in: Lucia M o h o l y . Bauhaus-Fotografin, Ausst. Kat. Bauhaus-Archiv, Berlin 1995, S. 1 1 3 - 1 1 6 ) .

34

Es gibt zahlreiche Belege dafür, daß Laszlö M o h o l y - N a g y die Dunkelkammerarbeiten seiner Frau allein überließ, sowohl von Lucia M o h o l y selbst als auch von Zeitzeugen. So berichtet der Kunsthistoriker A n dreas Haus in einem an Lucia M o h o l y gerichteten Brief vom 4.11.1977 ( B A , L M , Mappe 84) von einer Begegnung mit Herbert Bayer und seiner Aussage: „Wir ließen unsere Frauen, die Photographinnen waren, für uns arbeiten." In einem Brief von X a n t i Schawinsky an Sibyl M o h o l y vom 2 5 - 8 - 1 9 4 8 schreibt dieser: „in weimar und in dessau saß lucia oft im atelier, und es wurde gesagt, daß sie auf ihn aufpaßt, daß er fleißig malt, sie war eine ernsthafte person, die man selten lachen sah. moholys photographie war gewiß zum teil auf ihre technische mitarbeit gestützt, sie nahm ihm die dunkelkammer-arbeit ab, und ich glaube, daß sie einen gewissen anteil am weitruf moholys als photograph verdient, die meisten photos von bedeutung fallen in jene zeit." In: K. Passuth: M o h o l y - N a g y , Weingarten 1986 (Budapest 1982), S. 425. M a x Gebhard (Lusk 1980, S. 1 8 1 - 1 8 2 ) erinnert sich rückblickend: „Wie ich auch meine, daß bei den fotografischen Arbeiten M o h o l y - N a g y s , bei den Fotogrammen wie auch den Fotografien, die im Laufe vieler Jahre entstanden sind, Lucias Arbeit mitentscheidend war. Ich habe mehrmals erlebt, daß sie mit einem noch nassen F o t o aus der Dunkelkammer ins Atelier kam und beide darüber sprachen."

35

V o n den fast 50 geplanten Bänden wurden schließlich nur 14 zwischen 1925 und 1931 realisiert. Zu den Bauhausbüchern vgl. A. Findeli: „Laszlö M o h o l y - N a g y und das Projekt der Bauhausbücher", in: U . Brüning (Hrsg.): Das Α und Ο des Bauhauses, Ausst. Kat. Bauhaus-Archiv, Berlin 1995, S. 2 2 - 2 6 .

36

Zu der Zeitschrift „bauhaus" vgl. J . Raupp: „Architektur und Anekdoten: D i e Zeitschrift „bauhaus" -

37

B A , L M , Mappe 3 (vgl. A n m . 9).

vom Fachperiodikum zum Publicityorgan", in: U . Brüning 1995, S. 2 7 - 3 2 . 38

Zur Rolle der Frau am Bauhaus vgl. Anja Baumhoff: Gender, Art, and Handicraft at the Bauhaus, Diss. J o h n Hopkins University, Baltimore, Maryland 1994 (maschinenschriftliches Skript im B A ) .

Lucia und Laszlö Moholy-Nagy

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39 BA, LM, Mappe 4, S. 17-18 (vgl. Anm. 9) 40 Als Lucia Moholy 1933 Berlin verlassen musste (vgl. Anm. 46), musste sie ihre gesamten Glasnegative wegen ihrer Zerbrechlichkeit zurücklassen. Erst 1957 konnte sie nach Einschaltung von Rechtsanwälten einen Teil der Negative, die Gropius 1937 nach U S A mitgenommen hatte, zurück erhalten. Vgl. Lucia Moholy: „The Missing Negatives", in: The British Journal of Photography, London 130. Jg., 1983, Nr. 1, S. 6 - 8 u. 18 (abgedruckt in Ausst. Kat. Lucia Moholy 1995, S. 108-110); M. Valdivieso: „Lucia Moholy. El ojo anönimo que retrato la Bauhaus", in: La Balsa de la Medusa, Nr. 40, 1996 (Madrid), S. 63-88. 41 Nina Kandinsky: Kandinsky und ich, München 1976, S. 98. 42 Ibid, S. 121 ff. 43 BA, LM, Mappe 136 (vgl. Anm. 6). 44 Ibid. 45 Lucia Moholy: „Der praktische Arbeitszusammenhang blieb noch eine zeitlang bestehen, verschob sich jedoch auf eine andere Ebene. Ich war nach wie vor ,Hausphotographin' - machte u.a. die vielfach reproduzierten Aufnahmen von M . - N ' s Bühnenbildern zu H. Erg. und Mad. Butt, in der Kroll-Oper, Berlin, den [?] und [?]-Ausstellungen in Zehlendorf (auch die Originalnegative sind verschwunden) aber der frühere Rhythmus des gemeinamen Denkens und Schreibens hatte gelitten. Aus dieser Situation ergab sich in der Folge die Wahl neuer Gesprächspartner." (BH, LM, Mappe 4, S, 35-36; vgl. Anm. 9). 46 Lucia Moholys neuer Lebenspartner, der Berliner Reichstagsabgeordnete der KPD Theodor Neubauer, wurde nach dem Reichstagsbrand von der Gestapo verhaftet und 1945 hingerichtet. Daraufhin floh sie nach Prag und weiter nach Paris und London. Vgl. Bericht über ihre Emigration in einem Brief an Heinrich Jacoby (1947), abgedruckt in: Ausst. Kat. Lucia Moholy 1995, S. 81-83. 47 Im Nachlass (BA) von Lucia Moholy befinden sich zahlreiche Belege (Korrespondenz zwischen Lucia Moholy und Läszlo M o h o l y - N a g y sowie zwischen ihr und Walter Gropius), die ihre Auswanderungsversuche in die U S A dokumentieren. In der Mappe 150 (BA, L M ) findet man z.B. einen von Läszlo Moholy-Nagy unterschriebenen Arbeitsvertrag (15.9.1940-15.9.1943) für die von ihm geleitete School of Design, Illinois, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. 48 Vgl. Bibliographie in: Sachsse 1985, S. 202-204. 49 Vgl. Anm. 3. 50 Der Bauhausschüler Max Gebhard schreibt rückblickend: „Ich war von Anfang 1927 bis Mitte 1928 am Bauhaus [...] Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Künstlerpersönlichkeiten war für mein Empfinden sehr gut. Im Atelier gab es oft Dispute über die vorliegenden Arbeiten, über Aufträge, die Moh o l y - N a g y mitbrachte und kritische Einschätzungen von Entwürfen. Zu den sehr lebhaften, meist sehr impulsiv vorgetragenen Äußerungen M o h o l y - N a g y s standen die ruhigen, sachlich vorgetragenen Bemerkungen Lucia Moholys in einem sympathischen Kontrast." „Erinnerungen des Bauhäuslers Max Gebhard an M o h o l y - N a g y " , in: I.-Ch. Lusk: Montagen ins Blaue. Läszlo M o h o l y - N a g y . Fotomontagen und -collagen 1922-1943, Ausst. Kat. Werkbund-Archiv, Berlin 1980, S. 181-182) 51 Ilse Gropius: Tagebücher, BA. 52 Ibid. 53 Ibid. 54 Vgl. A. Baumhoff: „Zwischen Berufung und Beruf: Frauen am Bauhaus", in: Berlinische Galerie (Hrsg.): Profession ohne Tradition, Ausst. Kat., Berlin 1992, S. 113-120; dies. 1994; dies.: „,Ich spalte den Menschen.'Geschlechterkonzeption bei Johannes Itten", in: Das frühe Bauhaus und Johannes Itten, Ausst. Kat. Kustsamlung zu Weimar/Bauhaus-Archiv, Berlin/Kunstmuseum Bern, 1994-1995, S. 9 1 99; Susanne Deicher (Hrsg.): Die weibliche und die männliche Linie. Das imaginäre Geschlecht der modernen Kunst von Klimt bis Mondrian, Berlin 1993. 55 L.N. (Helene Nonne-Schmidt): „Das Gebiet der Frau im Bauhaus", in: Vivis Voco. Zeitschrift für das Deutschtum, Bd. V, Heft 8/9, August/September 1926 (Leipzig). 56 Ibid. 57 In einem Umlauf an den Meisterrat vom 15.3.1921 (Bauhaus Archiv, Berlin) empfiehlt Gropius, besorgt über den hohen Anteil von Frauen am Bauhaus, keine „unnötigen Experimente" zu machen und die Frauen nach dem Vorkurs in die Weberei zu schicken oder in die Töpferei oder Buchbinderei. Vgl. M. Droste: „Beruf Kunstgewerblerin. Frauen in Kunsthandwerk und Design 1890-1933", in: Landesgewerbeamt Baden-Württemberg, Design Center Stuttgart (Hrsg.): Frauen im Design. Berufsbilder und Lebenswege seit 1900, Ausst. Kat. Stuttgart 1989, S. 189. 58 H. Nonne-Schmidt 1926.

M e r c e d e s Valdivieso

59 Gunta Stölzl: „Weberei am Bauhaus", in: Bauhaus-Heft der Zeitschrift „Offset Buch- und Werbekunst", Heft 6, 1926 (Kraus Reprint München 1980, S. 405-406). 60 BA, Mappe 4, S. 33-34 (vgl. Anm. 9). 61 Sibyl Moholy 1972, S. 70. 62 Zu Sibyl Moholy-Nagy vgl.: Judith Paine: „Sibyl Moholy-Nagy: A Complete Life", in: Archives of American Art Journal, Bd. X V , Nr. 4, S. 11-16; Suzanne Stephens: „Voices of Consequence: Four Architectural Critics", in: Susana Torre (Hrsg.): Women in American Architecture: A Historic and Contemporary Perspective, New York 1977, S. 140-141.

Lucia und Läszlö Moholy-Nagy

85

Doppelspiele Über die fotografische Zusammenarbeit von

Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

KATHARINA S Y K O R A

„Jede

Freundschaft

muß sich, weil es gegen

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es auch liegen, Vorbilder ne Chance weist,

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kann, und der in den großen

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Mit meinem T h e m a stelle ich zwei Fotografinnen vor, die in den Jahren 1929 bis 1933 in Berlin befreundet waren, zusammen lebten und arbeiteten, und die sich einander bis zum T o d Grete Sterns 1999 eng verbunden fühlten, obwohl sie nach ihrer E m i gration aus dem nationalsozialistischen Deutschland geografisch und zeitlich über große Strecken voneinander getrennt waren. Dabei möchte ich die Freundschaft als verbindende Kraft des Künstlerinnenpaars in den Blick nehmen und das Spezifische ihrer Arbeitsweise und ihrer Fotografien bzw. Collagen unter dem Aspekt des Spiels bzw. des Spielerischen zu fassen versuchen. Also keine Leidenschaft? Keine K o n k u r renz? D o c h , aber eine spielerische Leidenschaft und eine spielerische Konkurrenz, also eine mit selbstreflexivem Charakter. In meinem Eingangszitat aus Silvia Bovenschens Aufsatz „Uber die Bewegungen der Freundschaft" klingen bereits zwei Besonderheiten der Freundschaft unter Frauen an: erstens, dass ihr in der männlich geprägten Gesellschaft kaum Bedeutung beigemessen wird, sie weitgehend unsichtbar bleibt und zweitens, dass sie „vorbildlos" ist, was jedoch nicht nur im Sinne der Geschichtslosigkeit, d.h. eines Mangels zu verstehen ist, sondern auch als Freiheit zum Experiment im Umgang miteinander. Freundschaft zwischen Frauen muss sich also ihre Koordinaten in wesentlich höherem Maße selbst schaffen als die Männerfreundschaft. Sie hat daher stärker prozessualen Charakter, ja Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

87

man könnte sagen, dass die Konstante der Freundschaft unter Frauen gerade das Transitorische ihrer Praxis im Sinne der Beweglichkeit ist. Doch diese Beweglichkeit hat auch deutliche Grenzen. Sie muss ein Dazwischen permanent neu definieren und leben, das von Sexualität und Erotik auf der einen Seite und der rein zweckgerichteten Solidargemeinschaft auf der anderen Seite abzugrenzen ist. Die Freundschaft ist somit als ständig sich verändernde, partielle Teilhabe an beiden benachbarten Beziehungsformen zu denken, der sexuellen Beziehung hier und der Zweckbeziehung dort, ohne dass sie mit einem der beiden Pole kongruent werden darf. Nicht ganz so intim wie die Liebe und nicht ganz so rationalisierbar wie die reine Nutzgemeinschaft vagabundiert sie zwischen diesen Grenzen. Doch auch dieses Vagabundieren innerhalb gesetzter Grenzen hat Regeln, diese jedoch sind von den beteiligten Personen weitgehend selbst gesetzt. Genau an diesem Punkt kommt die Nähe von Freundschaft und Spiel in den Blick. Mit Johan Huizinga möchte ich in meinem Zusammenhang Spiel als Kulturerscheinung bezeichnen, die durch Freiheit und Regel zugleich charakterisiert ist und die gleichermaßen durch ihren Status außerhalb gesellschaftlicher Bedingtheit und als Voraussetzung für Vergesellschaftung bestimmt ist.2 Diesen Charakter des Spiels als „Doppelspiel" möchte ich präzisieren. Er betrifft einerseits eine Teilhabe des Spiels am gesellschaftlichen System und eine Distanz zu ihm, indem es immer nur tut „als ob" und damit gesellschaftliche Regeln parodistisch nachahmt und uminterpretiert. Das Doppelspiel betrifft außerdem eine Komplizenschaft, die immer mindestens zwei Personen voraussetzt, die die Regeln des Spiels aufstellen, sich an sie halten oder sie zum Einsturz bringen können. Damit kommt dem Spiel gleichzeitig ein sozialer Modellcharakter kommunikativen Handelns zu. Und so beschreibt Huizinga das Moment des Außergesellschaftlichen im Spiel einerseits als etwas „von einer determiniert gedachten Welt reiner Kraftwirkungen her betrachtet, im vollsten Sinn des Wortes [...] Überflüssiges. [...] Wir spielen und wissen, daß wir spielen, also sind wir mehr als bloß vernünftige Wesen, denn das Spiel ist unvernünftig."3 „Dieses Etwas", so schreibt er weiter, „steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß. Es schiebt sich zwischen ihn als eine zeitweilige Handlung ein. Diese läuft in sich selbst ab und wird um der Befriedigung willen verrichtet, die in der Verrichtung 4 selbst liegt. " Soweit zur Selbstgenügsamkeit des Spiels. Auf den sozialen Charakter des Spiels hinweisend, ergänzt Huizinga jedoch: „ es befriedigt Ideale des Ausdrucks und des Zusammenlebens. "5 Dem außergesellschaftlichen Surplus des Spielerischen fügt Huizinga daher auch das der Regel und Ordnung im Spiel hinzu, das Spiegelbild oder Vorbild des Gesellschaftlichen sein kann aber nicht sein muß: „Innerhalb des Spielplatzes herrscht eine eigene und unbedingte Ordnung, [... herrschen] eigene Spielregeln. Sie bestimmen, was innerhalb der zeitweiligen Welt [...] gelten soll. "6 Was sich zu Beginn meiner Ausführungen bereits ankündigte, wird jetzt evident: Die der Freundschaft inhärente Struktur von äußeren Grenzen und innerer frei und selbst gestalteter Regel wird hier als eine dem Spiel vergleichbare Struktur verstehbar. 88

Katharina Sykora

Abb. 1 Ellen A u e r b a c h Ringl mit Brille, 1 9 2 9 Essen Fotografische Sammlung Museum Folkwang

Da Freundschaft und Spiel die Zusammenarbeit und das Zusammenleben von Ellen Rosenberg und Grete Stern maßgeblich geprägt haben, möchte ich die Zeit, die sie von 1929 bis 1933 in Berlin gemeinsam verbrachten, unter diesen Prämissen genauer betrachten. Beide Kategorien scheinen mir auch als Herausforderung interessant, wenn ich die Frage von Whitney Chadwick und Isabelle de Courtivron zu beantworten versuche, die sie in ihrem Buch über Kreativität und Partnerschaft mit dem Titel „Significant Others" stellten. Dort fragten sie: „ If the dominant belief about art and literature is that they are produced by solitary individuals, but the dominant social structures are concerned with familial, matrimonial and heterosexual arrangements, how do two creative people escape or not the constraints of this framework and construct an alternative story?". 7 Ich denke Ringl+Pit alias Ellen Rosenberg und Grete Stern alias später verheiratete Ellen Auerbach und Grete Coppola können hier mit ihrem Spiel im Doppel einige schöne und vor allem witzige Alternativen anbieten. Die 1904 geborene Grete Stern und die zwei Jahre jüngere Ellen Auerbach stammen beide aus liberalen bürgerlichen Familien, die ihnen Mitte der zwanziger Jahre eine künstlerische Ausbildung möglich machten. Grete Stern studierte von 1923 bis 1925 grafische Künste an der Kunstgewerbeschule am Weißenhof in Stuttgart. Ellen AuerRingl + Pit alias G r e t e Stern und Ellen A u e r b a c h

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Abb. 2 Grete Stern. Pit mit Schleier [Detailabzug], 1931. Essen, Fotografische Samm lung, Museum Folkwang

bach studierte 1924 bis 1927 Bildhauerei an der badischen Landeskunstschule in Karlsruhe und wechselte 1928 an die Akademie der Künste in Stuttgart. Beide jungen Frauen zog es jedoch zur Fotografie. Grete Stern wollte nach einer kurzen Phase der Berufstätigkeit als freie Werbegrafikerin in Wuppertal ihre Kenntnisse auf das damals für die Zeitschriftenwerbung immer wichtiger werdende fotografische Medium ausdehnen. Und Ellen Auerbach, die 1928 von ihrem Onkel eine 9 x l 2 - K a m e r a geschenkt bekommen hatte, sah im fotografischen Metier eine bessere Chance finanzieller Unabhängigkeit als in der Bildhauerei. Beide Frauen verstanden die Fotografie also als Beruf und Basis einer selbständigen Existenz, eine Vorstellung, die gerade in den zwanziger Jahren viele Frauen Fotografinnen werden ließ. Die Ausweitung der illustrierten Zeitschriften zu Massenpublikationen, in denen das fotografische Bild quantitativ einen wesentlich höheren Anteil als der Text innehatte und in denen die Bild-Werbung einen großen Stellenwert einnahm, schien zahlreiche neue Berufszweige zu eröffnen: die Reportagefotografie, das Prominentenporträt, die 90

Katharina Sykora

Werbefotografie. Grete Stern und Ellen Auerbach zog es wie viele in die einzige moderne Metropole Deutschlands, w o sich zudem die Presse und damit die potentiellen Auftraggeber konzentrierten: nach Berlin. Grete Stern trifft dort 1927 ein und will durch die Vermittlung ihres Bruders, der in der Filmbranche arbeitet, bei dem Fotografen O t t o U m b e h r lernen. Dieser nimmt jedoch keine Schüler und Schülerinnen an und empfiehlt sie an Walter Peterhans weiter, der sie als einzige Schülerin in sein Atelier aufnimmt. Ellen Auerbach k o m m t zwei Jahre später, Anfang 1929, nach Berlin, und es gelingt ihr, die zweite Schülerin von Peterhans zu werden. Dieser wird jedoch im Mai desselben Jahres an das Bauhaus in Dessau berufen, um dort die erste Fotoklasse einzurichten. U n d so übergibt er den Unterricht Ellen Auerbachs weitgehend an seine Assistentin Grete Stern. Ellen Auerbach berichtet über die sich nun rasch zwischen den beiden Frauen entwickelnde Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft: „Peterhans der Arbeit

schlug vor, ich solle mich Grete, anschließen.

und die Gründung derspitznamen Peterhans unserer hans immer

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In diesem kurzen Statement verbergen sich verschiedene Fakten und Mythen. Z u m einen wird im selbstverständlichen T e n o r des „ W i r " die bereits 1929 sehr enge und gleichberechtigte Arbeits- und Lebensgemeinschaft der beiden jungen Frauen deutlich. Hintergrund für die Übernahme der Geräteausrüstung und des Ateliers von Peterhans war eine kleine Erbschaft Grete Sterns. Dass Grete Stern jedoch Ellen Auerbach nicht nur als gleichberechtigte fotografische Partnerin aufnahm, sondern auch Tisch und W o h n u n g großzügig mit ihr teilte und ihr hierdurch die lang ersehnte U n a b hängigkeit von der Familie ermöglichte, zeugt von großer freundschaftlicher Zuwendung.

Darüber

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spricht

das

Statement

Ellen

Auerbachs

bereits

vom

Spielcharakter ihrer Arbeitsgemeinschaft. D e n n dass sie ihre Spitznamen zum offiziellen Firmenlogo erhoben, heißt zum einen, dass sie bereits ein hoher Grad an Vertrautheit verband, so dass sie untereinander ein Rollenspiel entwickelt hatten, in dem sie neben den bürgerlichen jungen Frauen Grete und Ellen auch die wildgewordenen Kinder Ringl+Pit sein konnten. Zum anderen bedeutete dies aber auch eine gemeinsame Unbekümmertheit, die sich nach außen wandte, indem sie die Kindernamen, die ja durch ein intimes Spiel zwischen beiden erst ihre lebendige Aktualisierung erfuhren, zum festen öffentlichen Zeichen ihrer gemeinsamen Arbeit machten. U n d zum dritten schwingt in Ellen Auerbachs Bericht natürlich auch eine Art persönlichen Ursprungsmythos' mit, indem sie sich durch die Anerkennung von Peterhans als begabte F o t o -

Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

91

grafin auswies und damit indirekt zur ebenbürtigen Partnerin der zwei Jahre älteren und in der Ausbildung fortgeschritteneren Grete Stern machte. Die Inthronisation als Künstlerin bedurfte auch hier noch einer männlichen Autorisierung. Ihr Lehrer Peterhans und dessen fotografische Vorgehensweise haben - folgt man den Selbstzeugnissen beider Künstlerinnen - ihre gemeinsame Arbeit technisch-ästhetisch am stärksten geprägt. Das lässt sich durchaus an ihren Fotografien bestätigen. Absolute Präzision vom Arrangement der Personen und Dinge vor der Kamera, über die differenzierte Beleuchtung, die sorgfältige Negativentwicklung bis hin zum exakten Abzug war ihr gemeinsamer Stolz. Darin drückt sich viel von der Freude an der Beherrschung des Mediums aus, die ihnen in einem zweiten Schritt dann die Souveränität des freien Umgangs mit der Fotografie ermöglichte. Darüber hinaus klingt aber auch der Stolz der jungen Frauen auf ihre Professionalität und Selbständigkeit durch. Diese durch die enge Freundschaft ermöglichte gemeinsame Professionalisierung nivellierte dennoch nicht die individuellen Unterschiede der beiden Fotografinnen. Grete Stern war wohl diejenige, die aufgrund ihrer Grafikausbildung die formalen Arrangements und die typografischen Anteile ihrer Fotografien stärker bestimmte,

Abb. 3 Ellen Auerbach Der Raucher 2 [Walter Auerbach] 1932 Essen Fotografische Sammlung Museum Folkwang 92

Katharina Sykora

während Ellen Auerbach eher die innovativen Einfälle eines bestimmten Bildwitzes bzw. der Bildparodie zuzusprechen sind, die in den Arrangements und Verkleidungen der von ihnen Porträtierten, besonders aber in einigen Werbefotografien, zum Tragen kamen. Ellen Auerbach hat diese verschieden gelagerten Fähigkeiten auch als Reflexe ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten charakterisiert; „ Ringl war viel ernster als ich, viel seriöser. leb war frivolöser. "9 Ihren unterschiedlichen Charakter haben beide Fotografinnen sehr schön in ihren gegenseitigen Porträts zum Ausdruck gebracht. Ellen Auerbach hat Grete Stern sehr nah und dennoch den Blick ernst nach innen gekehrt wiedergegeben. Durch die im starken Helldunkelkontrast markante Hervorhebung der runden Brille, der vollen Lippen und der kecken Haarsträhne verleiht sie ihr dennoch etwas Modernes, fast Freches. Grete Stern wiederum hat sich ganz auf Ellen Auerbachs Lust an der Maskerade eingelassen, als sie die Freundin mit Netzschleier und Federhut so ins Bild rückt, dass diese durch die leicht schräge Untersicht einen parodistisch elegischen Damenblick in die Kamera werfen kann. Dass beide ihre Ästhetik dem „Neuen Sehen" ihrer Zeit verdanken, davon zeugen die

Abb. 4 Grete Stern Horazio Coppola, 1931 Essen Fotografische Sammlung Museum Folkwang Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

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für Porträts ungewöhnliche diagonale Positionierung der Gesichter im Bildrahmen und die sehr detailliert ausgeleuchteten Oberflächenstrukturen der Haut und der unterschiedlichen Stoffe. Doch Grete Stern und Ellen Auerbach machten nicht nur Porträts voneinander, sondern auch von Personen ihres näheren und weiteren Freundeskreises, der sich vorwiegend aus Künstlern und Schauspielern vom Theater und Film zusammensetzte. Der Mikrokosmos der Arbeitsgemeinschaft im Nukleus des Wohnateliers erweiterte sich durch diesen Teil ihrer Arbeit exzentrisch nach außen. A m Übergang von diesem Innen und Außen lassen sich zwei Personen situieren, die gleichsam wie Satelliten um das Duo kreisten. Walter Auerbach, als Bühnenbildner vom Theater kommend, war zunächst der Freund Grete Sterns, dann Ellen Rosenbergs und deren späterer Ehemann. Horazio Coppola, Fotograf und Bauhausstudent, war der Freund und spätere Mann Grete Sterns. In Ellen Auerbachs Porträt „Der Raucher 2" fällt auf, wie sie ihren Freund leicht parodierend in der Pose eines proletarischen Machismo aufnimmt, so wie sich auch Bertold Brecht und andere linke Künstler gerne inszenierten: mit kurz geschorenem Haar oder kahlem Schädel und lässig im Mundwinkel klemmender Zigarette. 10 Grete Stern hat Coppola hingegen frontal, mit ernstem Blick in die Kamera fotografiert und die markanten Züge klar ausgeleuchtet. August Sander - neben Peterhans und Outerbridge eines der Vorbilder Grete Sterns - mag hier Pate gestanden haben, obwohl er seine Porträts selten so nahe an die Betrachter herangerückt hat. Die auf die Spitze getriebene „Sachlichkeit", die Grete Stern hier von der Peterhans'schen Akribie im Umgang mit dem Stilleben auf das Bildnis ihres Freundes überträgt, birgt meines Erachtens ebenfalls eine augenzwinkernde Relativierung von soviel Ernsthaftigkeit. Das deutliche Zitat kriminalistischer Fotografie, das in der Kombination aus strengem „en face" und sachlicher Ausleuchtung einer imaginierten Verbrecherkartei entnommen sein könnte, läßt auf den zweiten Blick einen subtilen Bildwitz aufscheinen. Er ist zwar anders als derjenige Ellen Auerbachs, steht diesem aber in nichts nach. Doch das Ziel des Ateliers Ringl+Pit war weniger, Porträt-Atelier zu werden. Vielmehr wollten die beiden Fotografinnen sich mit Sachfotografien innerhalb der damals prosperierenden Werbebranche etablieren. Finanzieller Druck bestand nicht. Dies war die Voraussetzung für ein relativ freies Experimentieren, aus dem zum Teil ganz der Bauhausästhetik entsprechende Stilleben, aber auch eigenständige Bildideen hervorgingen. Grete Stern besuchte zu Beginn der dreißiger Jahre von Berlin aus das Bauhaus und nahm dort weiterhin an dem zunehmend systematisierten Unterricht von Peterhans teil. 11 „Das Ei des Kolumbus" könnte genauso gut von einem anderen Fotoschüler des Bauhauses stammen. Die in Aufsicht gezeigten, durch Glasscheiben in unsichtbare Schichten gelegten Stoffe und Gegenstände sind in einem perfekt austarierten Arrangement ins Bild gesetzt und so ausgeleuchtet, dass die Oberflächenspezifik jeden Materials optimal zur Geltung kommt. Dass die Gegenstände vorwiegend um ihrer Form und Materialität willen aufgenommen wurden, führte in der Bauhausfoto94

Katharina Sykora

grafie oft zu einer sehr ähnlichen Bildlösung und zu einer identischen Gegenstandswahl. Der angestrebte Kontrast zwischen glatt und rau etwa hat zahllose Bauhausfotos hervorgebracht, in denen Textilien und Eier kombiniert wurden. In der fotografischen Fachliteratur der neunziger Jahre ist daher retrospektiv ironisch vom „ F o t o - E i " die Rede. 1 2 Grete Stern und Ellen Auerbach aber zeigten mit ihrem Titel „Ei des Kolumbus" bereits 1930 eine souveräne Distanz zu ihrem künstlerischen wie persönlichen Vorbild, sprich der Bauhaus-Ästhetik und Peterhans. Dasselbe mag für das Textilfoto „Fragment einer Braut" gelten. Auf den ersten Blick ist es das technisch perfekte Foto eines weißen Tüllfetzens. In der Kombination mit dem Titel sind jedoch Anklänge an die Metaphorik des Surrealismus unübersehbar. Wie gesagt, Ziel der Fotografinnen war die Werbefotografie; beide erarbeiteten zusammen Produktfotos, die sie dann zu verkaufen hofften. Sie hatten also keine Aufträge, sondern arbeiteten frei für einen damals zum Teil noch unübersichtlichen Markt. In Deutschland hatte erst gegen Ende der zwanziger Jahre eine Strukturierung von Angebot und Nachfrage auf dem Gebiet der Gebrauchsfotografie eingesetzt. Viel später als etwa in den U S A entstanden Bild-Agenturen, die als Mittler zwischen Fotografinnen und Illustrierten fungierten. 1931/32 gelang es Ellen Auerbach, die Agentur „Mauritius" als Vertreterin der Fotos von Ringl+Pit zu gewinnen. „Mauritius" kaufte jedoch keine Fotos, sondern nahm sie nur in Kommission, um sie ihrerseits dann den Zeitschriften anzubieten. Ein unsicheres Geschäft also, in dem beide Fotografinnen vielleicht auch aus mangelnder Notwendigkeit - nicht sehr gut waren, wie Ellen Auerbach berichtet. Die wenigen nachweisbaren Veröffentlichungen ihrer Fotos kamen daher auf Empfehlungen von Bekannten zustande und hatten keinen kommerziellen Hintergrund. So publizierten sie in den Fachzeitschriften „Gebrauchsgrafik" und „Cahiers d'Arts". Dort wurde ihre technische Professionalität und ästhetische Modernität gelobt, nicht ohne sie jedoch gleichzeitig wieder ins geschlechtsspezifische Abseits angeblich weiblicher Vorlieben für schöne Materialien im Sinne einer seelenvollen Belebung der Dinge zu schieben. So schreibt der Autor Traugott Schalcher 1931 zu den „Fotostudien von Ringl+Pit" in Heft 2 von „Gebrauchsgrafik" paternalistisch:

„Dennoch suchen Ringl+Pit das Extravagante nicht. Es spukt nur gelegentlich in ihren Köpfen, so wenn sie ein photographiertes Stück Gewebe als „Fragment einer Braut" bezeichnen. [...] Mit dem angeborenen Instinkt der Frau für die Finessen der Textilien behandeln sie einen Ballen Samt, ein Stück Streifenstoff oder ein Schächtelchen Nähseide so lange mit restloser, hingebungsvoller Liebe, bis das Ding ihnen seine Seele im Bilde schenkt. "13 Zwei Fotografien wie „Handschuh-Reklame" und „Handschuh", die in diesem Arbeitszusammenhang eines Experimentierens im vorkommerziellen Vakuum des Studios Ringl+Pit entstanden sind, lassen exemplarisch die extremen Pole sichtbar werden, zwischen denen sich das Fotografinnen-Team ästhetisch bewegte. Einmal haben wir es mit dem relativ braven Arrangement eines Schaufensterpuppenkopfes mit Ringl + Pit alias G r e t e Stern und Ellen A u e r b a c h

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Hut und Gesichtsschleier zu tun, vor dem gekreuzt ein Paar heller Lederhandschuhe auf einer grobgewebten Bastdecke ausgebreitet ist. Lediglich die gekippte Aufsicht und die Beleuchtung gibt dem Ganzen einen Anflug des Ungewöhnlichen, Unheimlichen. Die Aufnahme Ellen Auerbachs hingegen verändert die Form und Struktur eines Handschuhs so extrem und lässt diesen optisch zudem raumlos vor unserem Auge schweben, dass kaum mehr von einer Produktfotografie die Rede sein kann. Kurzum: Trotz der gemeinsamen ästhetischen Fundierung in der von Peterhans geprägten Fotolehre haben wir es bei Ringl+Pit keineswegs mit einem homogenen „Stil" oder einer durchgängigen Inszenierungsstrategie der Gegenstände zu tun. Gerade die Experimen-

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Katharina Sykora

Abb. 5 Ringl+Pit Komol-Werbung, 1932 Essen Fotografische Sammlung Museum Folkwang

tierfreude, die eine relativ große Vielfalt von Bildlösungen hervorbrachte, war charakteristisch für sie. Und sie war vielversprechend, denn sie begann, den Fotografinnen zunehmend - wenn auch für beide, wie sie sagen, überraschend - Erfolg zu bringen. Dass Ringl+Pit langsam auf sich aufmerksam machten, zeigt zum einen die Tatsache, dass sie bei einer öffentlichen Reklameausschreibung der Haarfärbemittelfirma Komol mit ihrem Fotoentwurf (Abb. 5) den Wettbewerb gewannen und das Foto angekauft wurde. Die Komplexität des Bildaufbaus hat wohl überzeugt. Susanne Baumann hat das Foto als eine Art Suchbild charakterisiert, das in der vielfachen Schichtung von gegenständlichen und abstrakten Partikeln den Betrachterblick von der Typografie zum auf das Gitter applizierten Haarteil und wieder zurück changieren lässt, so dass sein Blick die Werbebotschaft gleichsam aktiv selbst konstruiert. 14 Obwohl die tatsächliche Verwendung des Fotos als Werbung nicht belegt ist, errang es in Fachkreisen Anerkennung: 1933 erhielten Ringl+Pit für das Komol-Foto den ersten Preis der „Deuxieme Exposition Internationale de la Photographie et du Cinema" in Brüssel.

Abb. 6 Ringl+Pit. Petrole Hahn-Werbung, 1932. Essen, Fotografische Sammlung, Museum Folkwang Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

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Das Werbefoto für das Haartonikum „Petrole Hahn" war einer der ersten konkreten Kundenaufträge, die die Agentur „Mauritius" an Ringl+Pit vermittelte. An ihm lässt sich sehr schön die unmittelbare Zusammenarbeit der beiden Fotografinnen zeigen. Die für die zwanziger Jahre recht altmodisch anmutende Wachspuppe haben die beiden Fotografinnen sorgfältig so arrangiert und ausgeleuchtet, dass ihr Inkarnat und ihr Blick beinahe einen lebendigen Charakter erhielten. Das Verwirrspiel zwischen „echter" und „unechter" Wachspuppe, ein in den Zwanzigern sehr beliebtes Thema der Fotografie, das immer auch über „Falschheit" und „Wahrheit" von Weiblichkeit schlechthin reflektierte, trieben die beiden hier noch weiter, indem die Hand, die die Flasche vorzeigt, tatsächlich die einer der beiden Fotografinnen war (Abb. 6). Ellen Auerbach und Grete Stern blieben allerdings darüber uneinig, wer nun das Foto gemacht hatte, das heißt, wer den Auslöser bedient hatte, und wessen Hand auf dem Bild zu sehen sei. Gleichzeitig war dies aber auch nicht von Bedeutung. Denn sowohl das Arrangement der Gegenstände wie auch das Einrichten des Lichts und der Kameraeinstellung war gemeinsame Sache. In dem Interview, das Juan Mandelbaum 1992 mit beiden machte, hört sich das so an: Ellen Auerbach: „ What we did was first we put my mother's night gown (over the head of the mannequin) which I kept because I liked its shape, and arranged the hackground so that we could get through with our hand holding Petrol Hahn [...]. And I remember that we would do that several times. We are still not united about who's hand it is. I could swear it's hers, and a hand reader could probably see to this day who's hand it is but we don't care [...]. Who's ever hand it was didn't press the shutter but the picture was made completely together." Grete Stern: „ Together, yes, exactly. "15 Diese vielversprechenden Anfänge einer erfolgreichen Umsetzung der spielerischen fotografischen Arbeit der Freundinnen im Binnenraum ihres Ateliers und die ersten Schritte zur öffentlichen Anwendungspraxis wurden 1933 abrupt unterbrochen. Da beide politisch wach waren und sich in kritischen linken Kreisen bewegten, wurde ihnen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten rasch klar, dass sie als Jüdinnen nicht in Deutschland bleiben konnten. Ellen Rosenbach emigrierte nach Palästina und dann mit einem Zwischenaufenthalt in England weiter in die USA, wo sie heute in New York City lebt. Grete Stern emigrierte nach London, wo sie ein Porträt-Atelier eröffnete und übersiedelte nach der Geburt der Tochter mit ihrem Mann Horazio Coppola nach Bueons Aires, wo sie bis 1999 lebte. Ellen Auerbach hat nur noch phasenweise, Grete Stern hat kontinuierlicher weiter fotografiert. Nie mehr sind sie aber eine vergleichbar intensive freundschaftliche Arbeitsgemeinschaft eingegangen. Mit diesem von den äußeren politischen Bedingungen oktroyierten Bruch der Beziehung möchte ich meine Erzählung aber keineswegs enden lassen.16 Ich möchte meinen Blick auf dieses Künstlerinnenpaar vielmehr nochmals von einer anderen Perspektive her aufgreifen. Hatten wir bisher gleichsam eine aufsteigende Linie ihrer Professionalisierung skizziert, die von zunehmender öffentlicher Anerkennung geprägt war und die 98

Katharina Sykora

Abb. 7 Ellen Auerbach. Ringl lesend, 1931. Berlin Bauhaus Archiv [Mit freundlicher G e nehmigung von Ellen Auerbach]

erzwungene Emigration auch als Bruch einer vielversprechenden gemeinsamen Karriere lesbar macht, so möchte ich mich nun einem Zeugnis der spielerischen Zusammenarbeit und Freundschaft der beiden widmen, das nie für die Öffentlichkeit bestimmt war und daher mehr über die Binnenstruktur der Beziehung aussagen kann. Es handelt sich dabei um ein Album, das Ellen Auerbach Grete Stern 1931 zum Geburtstag geschenkt hat und in das neben Fotografien des gemeinsamen Lebens und Arbeitens auch Texte, Zeichnungen und Collagen aufgenommen wurden. In Form und Inhalt lehnt sich das Album deutlich an die aus den Freundschaftsbüchern des 18. Jahrhunderts entwickelten und seit dem 19. Jahrhundert trivialisierten Poesiealben junger Mädchen an. Ellen Auerbach nennt das Album „Die RinglPitis" und schafft damit gleichsam ein witzig-intimes Gegenstück zum öffentlichen Logo der Firmengrafik. Aus dem Ringl+Pit ist hier die Symbiose der Ringlpitis geworden, ein Zusammenwachsen, das in den Fotos des Albums in liebevollen und manchmal witzigen Inszenierungen des gemeinsam gelebten Alltags festgehalten wird. Besonders schön auch in ihrer liebevollen Intimität sind solche Fotos, wo Ellen Auerbach die Freundin im gemeinsamen Umfeld des Wohnateliers situiert. Hier wird kein abgetrenntes fotografisches Gegenüber geschaffen. Denn so wie Grete Stern als Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

99

Abb. 8 Ellen Auerbach. Ringl im karierten Bett schlafend, 1931. Berlin, Bauhaus Archiv [Mit freundlicher Genehmigung von Ellen Auerbach]

Teil des gemeinsamen Binnenraums gezeigt ist, so inszeniert sich auch die Kamera nicht als ein Blick von außen, sondern positioniert sich im Raum selbst. Man könnte dies vielleicht folgendermaßen formulieren: Das, was das additive Pluszeichen von Ringl+Pit im Logo markiert, ist die Kamera, das Instrument professioneller Zusammenarbeit. Hier, in den Ringlpitis, ist die Kamera aus dieser Zweckfunktion entbunden und wird zum Instrument eines permanenten Wechselspiels. So tritt sie gleichsam als Mitbewohnerin ihrer Lebensgemeinschaft auf, und zwar einmal als Verkörperung der Perspektive Ringls, einmal als die Pits, und einmal als das dritte Auge der Kamera (im Fall des Selbstauslösers). 100

Katharina Sykora

Doch die Fotografie tritt in den Ringlpitis auch grundsätzlich als Medium zurück. Neben ihr werden im Album die Zeichnung und die Collage zu ebenbürtigen Techniken. Diese sind wesentlich stärker Trägerinnen des Bildwitzes. Zum einen, weil sie - wie erwähnt - Zitatcharakter der Poesiealbumästhetik haben und zum anderen, weil sie in höherem Maße Erzählmomente ins Bild bringen. Zunächst einmal werden dabei die Lieblingsgewohnheiten Grete Sterns aufs Korn genommen: das Lesen und das Schlafen. In den Textteilen der Ringlpitis ist dabei durchgängig in Erstklässlerschreibweise ein Schreibfehler an den anderen gereiht. Die spielerische Regression in die Rolle des Kindes, das die Ordnung - hier die Sprachordnung - missachtet, ist ein wichtiges und konstantes Grundmuster der Ringlpitis. Neben den Fotos, Collagen und Zeichnungen gibt es jedoch auch ganze Textseiten, die teils Moritatencharakter, teils Poesiealbumcharakter haben; zwei davon beziehen sich direkt auf unterschiedliche Charakterisierungen von Ellen Auerbach und Grete Stern in Bezug auf ihre professionelle Zusammenarbeit. So stellt sich Ellen Auerbach in einem fiktiven, an einen Baum angeschlagenen Inserat in einer Selbstparodie als Lehrling vor, der sich als fantastisches „Mädchen für alles" anbietet: „ bin: knapp 1!4 100 Jahre, von unbedeutendem mich verbessern.

Selbiger Wunsch entspringt, zu nieder eingeschätzten

folgen lassen: bin tip top schrift setzschneid in deckweiß,

bin hochgradig fallsüchtig,

teten um Fülle und Schrille beneidet. zahm und fresse, wenn überhaupt,

zusammen

Gewicht, leicht knochenüberschüssig, und babber.

möchte

Qualitäten,

die

Prima tüpfler und sauer auch

weine fließend, stimmlich werde von Bin, wenn einmal eingelebt

Kapezi-

schwer zu tilgen,

aus der Hand. Atteste liegen nach wie vor."

In diesem bildlich-verbalen Rollenspiel kann Ellen Rosenberg alias Pit alias der zahme, aus der Hand fressende Lehrling mit schriller Stimme und immerwährendem Attest auch zart ihre eigenen Unsicherheiten und Wünsche formulieren, etwa wenn sie sagt, sie unterschätze sich oder werde unterschätzt. Im bunten Changieren eines ständigen „als ob" wird all dem jedoch völlig der Geständnis- oder Bekenntnischarakter genommen. In den moritatenhaften Ratschlägen vom großen Ringl an sein Volk wiederum wird mit der rhetorischen Verbeugung vor dem großen Meister/der großen Meisterin von Ellen Auerbach gleichzeitig der Fotounterricht Grete Sterns ironisiert, wenn es heißt: „ Tue in jede Speise etwas Zucker und etwas Salz! Man kann die nicht oft genug nachprüfen! kessel mit Makkeronen versäumen

benutze

ihm nicht mit Feuerzeug

Geschäftsunterredungen

Toiletten!

Reichsmark

ob danach die Türe geschlossen

so ist es unhöflich,

entscheidenden

Dich mit Kurzsichtigkeit,

anfüllst. Menschen, die ihre Finger zwischen

nicht zu fragen,

Pfefferminze,

Entschuldige

fünf über den vereinbarten

Türen

klemmen,

war. Reicht Dir

jemand

zu dienen. Halte Dich

möglichst im Hintergrund,

Versuche unter allen Umständen,

Schärfeeinstellung wenn Du den Tee-

wenn

Deinen Lieferanten

bei

vorhanden, mindestens

Preis aufzurunden ".

Ringl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

101

In der Mischung aus Hausfrauenrezept und Fotografieranleitung treffen hier völlig inkompatible Ingredienzien zu einem dadaistischen Potpourri zusammen. Die großen Lehrgebäude bringen Nonsens hervor, ihr bester Effekt ist das Lachen über sie. Im Gestus des frechen Pit kann Ellen Auerbach Grete Stern hier noch in der Kritik das Angebot eines befreienden Lachens über sich selbst machen. So sind auch kritische Worte formulierbar, ohne zu verletzen. Doch auch im Ringlpiti-Album wird die Freundschaftsdyade nicht zum hermetischen Modell. Liebe und Sexualität werden - wieder ganz auf der Höhe parodistischer Poesiealbumromantik - durchaus thematisiert, wenn beispielsweise ein kecker Cupido, im biedermeierlichen Gewand des Scherenschnitts verkleidet, zum Vogelamor wird:

Abb. 9 Ellen Auerbach. Der große Rheinlachs [Walter Auerbach], 1931. Berlin, Bauhaus Archiv [Mit freundlicher Genehmigung von Ellen Auerbach] 102

Katharina Sykora

„ Das ist die Amsel, wo so fröhlich in den grauen Feldern zwitschert und mit seinem Schwänzlein wippt um ein Wohlgefallen in den Herren der Heerscharen.", oder wenn ein Liebesgedicht als holpriger Kindergartenvers vorgetragen wird: „ Ein Frühlingsliebesgedicht: Der Frühling: Die brache Scholle liegt im Feld; im Winter aber ist es kälter als im Frühling wo so linde weht ein rauher Merzenwind, da weinen die Vöglein zusammen. Es muss doch Frühling werden!!" Was sich hier langsam anbahnt, ist die Integration der als Satelliten um das Duo kreisenden männlichen Figuren in den imaginären Binnenraum des Rollenspiels. Diese Einbindung ist nur möglich, wenn der jeweilige Freund seinerseits eine der Schachfiguren im Spiel von Ringl+Pit wird. Und tatsächlich darf Walter Auerbach beim Indianerspiel mitmachen. Als Häuptling „Chi" bekommt er zunächst den Spitznamen seiner Mutter verliehen und erhält so die Initiation. Zudem muss er sich den Fieberträumen der Kinderseuche namens Ringlpitis unterwerfen, gegen die er sich nicht als immun erweisen darf. Erst dann bekommt Walter Auerbach seine eigentliche Rolle zugewiesen: Gleichsam als allseits bekömmliches gefundenes Fressen, darf er als gewichtiger Lachs auf den gedeckten Tisch der Damen. Dabei trägt er eine Geschenk-Banderole um den Bauch, deren Inschrift lautet: „Ei, deutsches Volk, vergiß es nicht, zum Festgericht ein Fischgericht." Der Eintritt in die Lebenswelt und in die Spielwelt von Ringl+Pit bedeutete aber - wie auch schon für die beiden Feundinnen - nicht nur wärmende Umarmung, sondern auch Kritik: Denn wer mitspielt, muss sich an die internen Regeln halten. Das hat für unseren Großlachs durchaus konkrete Folgen, wie die letzten beiden Moritatentafeln zeigen (Abb. 10). An dieser Stelle möchte ich den Kreis schließen und zu meiner Anfangsthese vom strukturellen Prinzip des freundschaftlichen Spiels zurückkommen, das ich für die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Ellen Auerbach und Grete Stern als signifikant erachte, und das in mehrfacher Weise traditionelle Geschlechterrollen und festgefahrene Praxen von Kreativität subvertiert. Ein letztes Foto zeigt beide bei der gemeinsamen Arbeit, ein Foto Walter Auerbachs wird gerade unter die Trockenpresse getan. Und in der komplexesten Collage der RinglPitis zeigen sich Ringl+Pit in einer neuen Metamorphose: nämlich, wie der Titel sagt, als „Der Kraftmensch und das fliegende Etwas", ein Paar, das eindeutig artistische wie schaustellerische Qualitäten aufweist, nicht zuletzt die der eigenen Verdoppelung. Das alles findet in einem imaginären Luftzirkus statt, dessen eigentlicher Raum die Papierseite des Ringlpiti-Albums ist. Beide Bilder resümieren in meinen Augen exemplarisch die Bedingungen der spielerischen Kreativität, die die Freundschaft von Ringl+Pit freigesetzt hat: Mit Huizinga gesprochen treffen für die Zusammenarbeit von Ellen Auerbach und Grete Stern von 1929-33 alle Idealbedingungen des Spielerischen zusammen: 1. eine gewisse Abgeschlossenheit, die das Spielfeld markiert. Dies bezieht sich auf die Atelier-Wohnung bzw. das Foto/die Collage als Bühne, auf denen nach bestimmten Ringl + Pit alias G r e t e Stern und Ellen A u e r b a c h

103

VBKWANDLUnc, m ES GEWÖHNLICH EN FISCHES Li ,



Abb. 10 Ellen Auerbach. Verwandlung eines gewöhnlichen Fisches in einen prima Edelrheinlachs]

104

Katharina Sykora

1 9 3 1 . Berlin, B a u h a u s A r c h i v [Mit f r e u n d l i c h e r G e n e h m i g u n g von Ellen A u e r b a c h ]

Ringl + Pit alias G r e t e Stern und Ellen A u e r b a c h

105

Abb. 11 RinglPiti [Selbstauslöser]. 1931. Berlin, Bauhaus Archiv. [Mit freundlicher Genehmigung von Ellen Auerbach]

Spielregeln und in bestimmten verabredeten Rollen agiert werden konnte. Und das bezieht sich auf einen beschränkten Kreis von Spielfiguren, der jedoch nicht von vornherein fixiert, sondern durchaus flexibel erweiterbar ist, vorausgesetzt, die Rollenbesetzung passt ins Spiel und die Regeln werden eingehalten. Und dies bezieht sich schließlich auch auf die zeitliche Begrenzung, denn Spiele lassen sich nicht ins Unendliche dehnen. 2. das Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Dies war im Fall von Ringl+Pit auch eine ökonomisch fundierte Freiheit, die jedoch - und das ist sicher eine große Ausnahme - in ein freies Geben und Nehmen im Umgang miteinander führte. Die internen Regeln wurden von beiden aufgestellt und waren in der spielerischen Kritik aneinander auch immer wieder revidierbar. 3. ist das Spiel durch den Modus des Außergesellschaftlichen charakterisiert, durch das „Heraustreten Aktivität

aus dem gewöhnlichen

mit einer eigenen Tendenz",

Leben'

wie Huizinga

in eine zeitweilige schreibt. 17

Sphäre

von

Genau dieser Schritt

in die Sphäre des Spiels ermöglichte Ringl+Pit eine „andere" Form von gemeinsamer 106

Katharina Sykora

Abb. 12 Ellen Auerbach. Der Kraftmensch und das fliegende Etwas, 1931 [Fotocollage aus den RinglPitis. Grete Stern, Buenos Aires]

schöpferischer Arbeit jenseits geschlechtsspezifischer Hierarchien und individueller Autorschaft. Dass deren Wirkung nach außen nur vermittelt durchschlagen konnte, mag damit zusammenhängen, dass die Arbeitsgesellschaft gewöhnlich nur das agonale Spiel, d.h. den Wettkampf und die Konkurrenz kennt, das zudem durch den Geschlechterantagonismus untermauert wird. W i r können davon ausgehen, dass nicht nur wegen der äußeren politischen Bedingungen von einem Abbruch des Spiels 1933 die Rede sein kann, sondern dass in den inneren Bedingungen des Spielerischen selbst eine früher oder später notwendig eintretende Zäsur angelegt ist, die sagt „Les jeux sont faits". Gehen wir von diesem Ergebnis aus, so bleibt dennoch ein Rest, der über die Dauer des Spiels hinaus bedeutsam ist. D e n n „ die Spielgemeinschaft

hat allgemein

auch nachdem

das Spiel abgelaufen

nahmestellung

zu befinden,

den allgemeinen zelnen

Normen

Spiels hinaus".

die Neigung,

ist [...]. Das Gefühl,

zusammen zu entziehen,

eine dauernde

sich gemeinsam

sich von den andern behält

seinen

Zauber

zu

werden,

in einer

abzusondern über die Dauer

Aus-

und

sich

des

ein-

18

Etwas von diesem Zauber des Spielerischen schien tatsächlich auch immer wieder aufzuflackern, wenn Grete Stern und Ellen Auerbach sich in ihrer nun über sechzigRingl + Pit alias Grete Stern und Ellen Auerbach

107

jährigen Freundschaft wiedersahen. Dann ging - zumindest verbal - ein Ping Pong los, das die Koordinaten von Leidenschaft und Konkurrenz subvertiert zugunsten eines „spielerischen Streits in voller Zuneigung". Und das hört sich so an: Ellen:

„People always ask us: ,How could you work together?' It never seemed a problem.

We would put something - something would happen and she would

say ,Όοη't you think it should be a little more to the left?' And then I would say ,But this should be a little darker'. - But you know, we have known each other for 60-62 years and you know, I do not remember

a single

disagree-

ment between us. Do you?" Grete: „Never, no, not at all." Ellen: Grete: Ellen:

„We could start a fight

now!"

„What?" „We could start a fight

now!"

Grete: „All right, if you want to" (sie lacht). Ellen:

„See, how can you fight with a person like that?"

19

Anmerkungen 1 Silvia Bovenschen: D i e Bewegungen der Freundschaft. Versuch einer Annäherung, in: N e u e R u n d schau, Bd. 4, Frankfurt am Main 1986, S. 103. 2 J o h a n Huizinga: H o m o ludens. V o m Ursprung der Kultur im Spiel, R e i n b e k bei H a m b u r g 1956. 3

Ebda., S . l l .

4

Ebda., S. 17.

5

Ebda.

6

Ebda., S. 17/18.

7 W h i t n e y Chadwick und Isabelle de Courtivron: Introduction, in: Dies. (Hrsg.): Significant Others, Creativity & Intimate Partnership, L o n d o n 1993, S. 7. 8 Ellen Auerbach, B e r l i n - T e l A v i v - N e w Y o r k , Ausstellungskatalog, Akademie der Künste, Berlin 1998, S. 10. 9 10

Susanne Kippenberger: Das surrealistische Spiel mit der Werbung, in: D e r Tagesspiegel, 28.4.1993. Ellen Auerbach und G r e t e Stern haben beide Brecht im L o n d o n e r Exil in dieser Selbststilisierung fotografiert.

11

Ein dicker Stoß von detaillierten technischen Aufzeichnungen Grete Sterns im Bauhaus Archiv Berlin zeugt von der Intensität, mit der sich Grete Stern der Bauhauslehre von Peterhans unterzog.

12

Louis Kaplan: F o t o - E i , in: Das Bauhaus Archiv und Jeannine Fiedler (Hrsg.): Fotografie am Bauhaus, Berlin 1990, S. 2 5 4 - 2 6 4 .

13

Fotostudien von R i n g l + P i t , T e x t von Traugott Schalcher, in: Gebrauchsgrafik, H e f t 2, 8. Jg., 1931, S. 34.

14

Susanne Baumann: K o m o l und Heliocithin - Reklameentwürfe des Studios Ringl+Pit. In: U t e Eskildsen

15

Typoskript eines Interviews für einen Film über Ellen Auerbach und Grete Stern von Juan Mandel-

16

D i e Frage nach Art und Weise der „Parallelerzählungen", die wir zu denjenigen der Fotografinnen (Au-

(Hrsg.): R i n g l + P i t , Ausstellungskatalog, Fotografisches Kabinett im Museum Folkwang, Essen, 1993. baum, 1992, o.S., Bauhaus Archiv, Berlin. tobiografie) und der Kunstgeschichte (ästhetisch-kulturhistorische Analyse) schaffen, ist für das T h e m a der Künstler/Innen-Paare zentral. 17

Huizinga 1956, S. 15.

18

Ebda., S. 19.

19

Interview mit Juan Mandelbaum; (siehe A n m . 15).

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Katharina Sykora

Nicht ohne sie ... aber ohne ihn schon gar nicht Dora Maar und Pablo Picasso Eine Lektürestudie

GABRIELE W E R N E R

Während Epochen in Stile und Künstleroeuvres in Früh-, Haupt- und Spätwerk eingeteilt werden, sind es bei Picasso Frauen, die sein Leben, seine „Perioden" und Ismen gliedern. 1 So entsteht anhand und mit Hilfe der Picasso-Literatur zwangsläufig der Eindruck, eine neue Frau hätte für Picasso nur den Zweck, sich eines alten künstlerischen Ausdrucksmittels zu entledigen. Jede Frau in Picassos Leben w i r d so auf den Status der Muse-Modell-Geliebten reduziert; ihre Existenz einzig auf Picasso hin konzipiert und nur deshalb wichtig. Da sich bei Picasso die Beziehungen häufig überschnitten, können (Euvre-Beschreibungen, deren Gewichtung im Biographischen liegen, Stilablösungen, zeitgleiche Stildivergenzen und natürlich auch Bildinhalte und Themen mit einem Ringen u m die Frau begründen. Das führt einerseits zu einer Konstruktion des Künstlers Picassos, der sich weniger durch seine intellektuelle und analytische Arbeit auszeichnet, als vielmehr durch seine hypermaskuline Sinnlichkeit. Andererseits w i r d die Frage fast schon unmöglich, ob er bei der Wahl seiner Modelle der Einfachheit halber auf die naheliegenden zurückgriff und hier ausnahmsweise einmal keine Phantasie aufwendete, sondern ihre Verfügbarkeit z u m Anlaß, zur Ober- und Projektionsfläche seiner Stilstudien nutzte. Diese Frage geht davon aus, daß keine, auch keine autobiographische Uberlieferung etwas über eine tatsächlich gelebte Beziehung aussagt. 2 Sie zeigt auch die notwenig distanzierte Position an, die bei dem Blick auf eben jene Texte einzunehmen ist, die eine so enge psychosoziale Verquickung des Paares konstatieren, daß Kunst und Leben untrennbar gleich gemacht sind. Retrospektiv über Künstlerpaare zu schreiben, bedeutet zunächst und zuallererst, sich durch die Texte hindurchzuarbeiten, die die Rezeption bereithält. Eine solche Arbeit entschlüsselt, w i e und als was in heterosexuellen Konstellationen die Positionen und Funktionen des Weiblichen und des Männlichen hergestellt w e r den. Historisch und wissenschaftlich sind diese Muster interessant, da sie es sind, die sich tradieren oder dort, w o sie nicht bedient werden (können), Verwirrung stiften.

Dora Maar und Pablo Picasso

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Dora Maar, 1907 in Paris als Henriette Theodora Markovitch geboren, gehörte zu den Frauen innerhalb der surrealistischen Bewegung, die nicht vorrangig über eine Liebesbeziehung Zugang zur Gruppe der Surrealisten bekamen, sondern zu jenen, die durch ihre Arbeit, in ihrem Falle als Fotografin, mit ihnen in Kontakt kamen. 3 Paul Eluard machte 1935 Dora Maar mit dem 54-jährigen Picasso bekannt, und im Sommer 1936 wurde er ihr Geliebter. Die Beziehung der beiden dauerte bis 1943, auch wenn sie sich bis 1946 hin und wieder gesehen haben. Mit dem Jahr 1946 beginnt das, was man vielleicht als das sukzessive Abwesend-Machen der Dora Maar beschreiben könnte, begleitet von Erzählungen über einen Nervenzusammenbruch zu Beginn des Jahres 1945, einer Analyse bei Jacques Lacan und einer nachfolgenden extremen Religiosität. Bis 1948 war sie mit Arbeiten an Gruppenausstellungen der Surrealisten vertreten; 4 die ersten Einzelausstellungen folgten dann erst wieder Ende der 1950er Jahre. Danach klafft eine 20 Jahre währende Lücke, bis zur Ausstellung „L'altra Metä dell'Avanguardia" in Mailand 1980. 5 Die scheinbare völlige Zurückgezogenheit in ihrem Haus in Menerbe, das sie von Picasso 1945 geschenkt bekommen hatte, in dem sie keine Besucher empfangen, weder Briefe noch Telefonate beantwortet haben soll, wurde nicht nur mit „Menschenfeindlichkeit" begründet, sondern auch mit ihrem „halbklösterlichen" Leben. 6 Im Zuge der Aufarbeitung der Geschichte der Frauen innerhalb der surrealistischen Bewegung, mit Beginn der 80er Jahre, veränderte sich dieses Bild teilweise. Oder besser: Es gibt nun zwei Erzählungen. Die eine geht über Dora Maar als Malerin und Fotografin, deren (Euvre und Sammlung 1998/99 bei Drouot Richelieu in Paris versteigert wurde, und es gibt weiterhin die zweite, als Muse-Modell-Geliebte von Picasso und als seine fotografische Registriermaschine der Stadien seines Gemäldes „Guernica" in den Monaten Mai und Juni 1937. Dora Maar starb am 16. Juli 1997 in Paris. Ich möchte nachfolgend einige der Muster diskutieren, die zur Verfertigung des Bildes von Dora Maar und zur Beschreibung der Beziehung zwischen Dora Maar und Pablo Picasso bedient wurden und werden. Dazu gehört auch, die Überlieferungen genauer anzuschauen, die Dora Maars erstes Auftreten schildern, heißt es doch, danach zu fragen, mit welchen Bildern des Weiblichen sie konfrontiert war, als sie die surrealistische Gruppe um Andre Breton und Picasso kennenlernte. Ein weiteres Muster soll unter dem Stichwort „Kunst als Autobiografie" diskutiert werden und aufzeigen, welche Funktionen Dora Maar in der Rezeption für das (Euvre Picassos erhalten hat. Ein dritter Teil wird sich mit einer Quelle befassen, die ausführlicher das gemeinsame Leben der beiden schildert und der Frage nachgehen, w e m diese Schilderung dienlich ist und wofür.

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Gabriele W e r n e r

Dora Maar betritt die Szene Im ersten Auftreten von Dora Maar verbinden sich Mythos und Realität. Schon seit 1931 in ihrem Fotostudio in Neuilly, gemeinsam mit Pierre Keffer, berufstätig, wird ihr Initiationsritual in die surrealistische Kunstszene um Andre Breton standesgemäß in ein Cafe verlegt. In einer der früheren Chroniken des Surrealismus, Marcel Jeans „Histoire de la peinture surrealiste", ist folgende Episode beschrieben: „Mais un jour de 1936 on vit arriver Dora Maar au Cafe de la place Blanche, les cheveux depeignes et lui tombant sur la figure et les epaules, comme ceux d'une noyee." 7 Cafes waren nicht nur die üblichen Treffpunkte der Surrealisten. Sie hatten auch ihre eigene Mythologie. Louis Aragon hat sie in seinem Roman „Le Paysan de Paris" (1926) in knappe Worte gefaßt: „Und die Liebe: die Liebe in diesem Cafe, wie seltsam leicht könnte sie es sich darin machen! in diesem Cafe, in dem alles für die Blicke eingerichtet ist." 8 Die Figur der Dora Maar steht mit ihrem ersten Auftreten für etwas Bestimmtes, das nicht notwendig sie meint, gewiß aber ein zusammengesetztes Bild des Weiblichen, wie es innerhalb der surrealistischen Theorie entworfen wurde. Sowohl bei Jean als auch noch 1990 bei Edouard Jaguer gibt es eine Richtung des Blicks, der Dora Maar als begehrtes Objekt situiert. Bei Jaguer, der das Ritual vorverlegt und an einem anderen Ort stattfinden läßt, wird sie von Beginn an für Picasso bedeutend gemacht: „C'est d'ailleurs bien une jeune photographe que Paul Eluard presentera ä Picasso, un beau jour de 1935, aux Deux-Magots". 9 Bei Jean ist es zunächst die versammelte Mannschaft der Surrealisten, dann aber flugs Picasso, für die Dora Maar Aufsehen erregen soll. So heißt es im Anschluß an ihren Auftritt als Wasserleiche bei Jean: „A la table des surrealistes tout le monde - ou presque - se recria d'admiration. Dora Maar ... avait fait ensuite la connaissance de Picasso et prenait dejä une allure tres epoque bleue"'. 10 Cafes sind die Orte, an denen sich, wegen der Flüchtigkeit der Begegnungen und der schnellen, unvermuteten Augen-Blicke, der surrealistische „objektive Zufall" herbeiführen läßt. Auch wenn der Surrealist fest auf seinem Stuhl sitzt, so betrachtet er die Welt doch als Flaneur, der sich nicht mehr der Zufälligkeit der Eindrücke überläßt, sondern sich an Orte begibt, wo sich das Zufällige mit hoher Wahrscheinlichkeit ereignet oder provozieren läßt. 11 In diesem Muster hat die erste Schilderung Dora Maars ihre Funktion innerhalb der surrealistischen Theorie. Es ist bei Jean und Jaguer außerordentlich wichtig, nicht zu schreiben, daß Dora Maar vor der Begegnung mit Picasso eine Liaison mit Georges Bataille, dem Surrealisten der anderen Art und Kontrahenten Bretons, und 1934 ihre erste Ausstellung in Paris hatte. Sie muß unvorhergesehen und wie zufällig „eines schönen Tages" erscheinen, um in die mythische Rolle der schicksalhaften Frau für den Mann erhoben werden zu können. Maar ist in ihrer Funktion „Nadja" ähnlich gemacht. Die Frage Bretons, mit der er seinen Roman Dora Maar und Pablo Picasso

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(1928) beginnen läßt: „Wer bin ich?" hat am Ende eine Antwort erhalten: „Wer da? Bin ich es allein? Bin ich es selbst?". 12 Retrospektiv wird diese Ichfindung des Mannes durch die Frau auch zwischen Dora Maar und Pablo Picasso inszeniert. In die Zeit der Beziehung fallen zwei entscheidende Ereignisse, die ein für alle Mal die Frage, wer Picasso sei, bis heute beantworten sollen. 1937 entsteht das Historienbild „Guernica", und 1939 kauft das N e w Yorker Museum of Modern Art das Gemälde, das zum „Schlüsselbild der Moderne" 1 3 avancierte, Picassos „Demoiselles d'Avignon", von ihm zwar schon 1907 gemalt, erst durch den Ankauf aber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. So wie „Nadja" für Breton das „Objekt einer auf Erkenntis der eigenen Besonderheit gerichteten .aventure spirituelle"' 1 4 ist, so wird Dora zum Synonym für Picassos Namen und als solches zum Objekt einer Erkenntnis gemacht, der nämlich über Picassos Besonderheit und seine ästhetischen „Abenteuer". Für Jean und Jaguer scheint im Zusammenhang des ersten Auftretens von Dora Maar ihre Frisur von eigentümlicher Bedeutung. Jeans Beschreibung erinnert an die gefallene Unschuld der Symbolisten, an die Fluten, Ozeane und Gewässer in surrea-

Abb. 1 Pablo Picasso. Bagneuses, Sirenes, femme nu et Minotaure, März 1937. Tusche und Ripolin auf Karton. 2 2 , 4 x 2 6 , 6 cm 112

Gabriele Werner

listischen Texten, die immer „die Frau" sind, und an jene unordentlichen Haare, dieimmer eine besondere sexuelle Attraktion sind, egal, ob „die Frau" im Surrealismus als Natur konnotiert ist oder nicht. 15 Und mehr noch: Folgt man dem Bild der Ertrinkenden, so führt der Weg in die Kunst Picassos, genauer in eine Werkgruppe aus dem Jahr 1937 und hier zur Gouache „Baigneuses, Sirenes, femme nu et Minotaure" vom März 1937 (Abb. 1). Ludwig Ullmann stellt dieses Blatt sowohl in den Zusammenhang mit anderen Arbeiten Picassos, die unmittelbar nach der francistischen Malaga-Offensive enstanden sind, als auch mit der Vorgeschichte von „Guernica". 16 Aus einer Wasserfläche rund um ein kleines Boot, in das der Minotaurus eine nackte Frau trägt, recken vier weibliche Gestalten ihre Köpfe zum Minotaurus auf. Ein geflügeltes - in Modifikationen auch die anderen - Wasserwesen hat bzw. haben besondere Ähnlichkeiten mit Porträts, die Picasso von Dora Maar in den Anfangszeiten ihrer Beziehung anfertigte. Wie immer Dora Maar an dem Tag im Jahre 1936 ausgesehen haben mag, die Möglichkeit, ein Ereignis mit einer Fiktion, einem Bild, zu verknüpfen, läßt zumindest die Frage entstehen, ob Marcel Jean Dora Maar nicht von vornherein als Bild von Picasso in die Geschichte der Surrealisten eingeführt hat. Jaguers Text scheint dieses Bild revidieren zu müssen, vielleicht um die Person Dora Maar hinter der Projektionsfläche Dora Maar hervorzuholen. Denn zunächst scheint es völlig fehl am Platz, daß er in seinem Text zur Ausstellung betont, Dora Maar habe in der Zeit, als sie Picasso kennenlernte, ihre Haare kurz getragen und später die längeren in einem Zopf oder mit einem Haarnetz gebannt. In dieser Zeit, so Jaguer, sei die Legende entstanden, Dora Maar habe ihre Haare nach der Manier der 10 Jahre späteren Existentialistinnen vom Saint-Germain-des-Pres getragen. Aber die eigentliche Wendung nimmt der Text, wo Jaguer schreibt, man habe mitunter über den „Aspekt des Pathetischen" gesprochen, den Picasso bei Dora Maar suchte, der aber nichts mit ihren langen Haaren zu tun gehabt habe. 17 Anstatt wie Jean über pathetische Auftritte zu schreiben, zieht es Jaguer vor, die Leidenschaftlichkeit der Person für die Geschichte zu erhalten - die nicht der Äußerlichkeit einer Inszenierung bedarf (Abb. 2). Doch auch dieses, in kennerschaftlicher Manier vorgetragene Wissen, das autoritär Authentizität beansprucht, ist wiederum verknüpfbar mit Bildern, mit Fotografien Dora Maars aus den 30er Jahren (Abb. 3) und mit den früheren Porträts, die Picasso in den Jahren 1936 und Anfang 1937 von Dora Maar anfertigte, bevor sie im Sommer 1937 als Picassos „La femme qui pleure" in die (Kunst-) Geschichte einging. Wenn also die Chronisten der surrealistischen Bewegung Dora Maar in die Geschichte einführen, so einerseits für Picasso und andererseits mit genau den Bildern des Weiblichen, die diese Bewegung medial bedient hat. Doch gibt es m.E. noch einen anderen Aspekt, weshalb Dora Maar von Beginn an als Teil dieses Paares konstruiert wurde. Sie betrat die Szene ausgebildet in einem Medium, in dem Picasso nicht immer schon da war, der Fotografie. 18 Hier hatte sie ihr Dora Maar und Pablo Picasso

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Abb. 2 Anonym Portrait de Dora Maar Ende 1930 Originalfotografie 1 9 , 3 x 1 4 , 3 cm

Einkommen, seit 1927 beruflichen Kontakt zu Henri Cartier-Bresson, seit 1931 auch zu Brassa'i und seit 1932 Ausstellungen und Veröffentlichungen aufzuweisen. An der Academie Julian hatte sie von 1926 bis 1927 Malerei studiert; ihre Arbeiten, die sie seit 1935 für Ausstellungen der Surrealisten zur Verfügung stellte, waren jedoch Fotografien. In der Fotografie aber konnte sich Picassos „Einfluß" nicht nachweisen lassen. So entstand eine andere Art Erzählung, die Dora Maar in das Dreieck FotografiePicasso-Malerei positioniert. Bei dieser Standortbestimmung geht es oft genug weniger darum, Dora Maar als eigenständige Künstlerin, die mit unterschiedlichen Medien arbeitete, der Kunstgeschichte zuzuführen. Vielmehr läßt sich herauslesen, wie ein Autor vermittels seiner Rede über Dora Maar und ihre Kunst die eigene Position zu Picasso definiert. So entsteht ein ganz neues Dreiecksverhältnis: Autor-Dora M a a r Pablo Picasso. 114

Gabriele Werner

Abb. 3 Man Ray Dora Maar, 1936 Solarisierter Silberdruck, 6 , 5 x 5 , 3 cm Paris, Collection Lucien Treillard

Man Ray 1 9 ist dafür ein Beispiel. In seiner Autobiografie „Seif Portrait" (1963) gibt es zahlreiche Verweise auf Picasso und auch dort, wo Man Ray über seine Begegnung mit Dora Maar schreibt, geht es eigentlich um Picasso. „Ich lernte Dora Maar in den dreißiger Jahren kennen, ein schönes Mädchen und eine ausgezeichnete Photographin, deren Arbeiten mitunter von großer Originalität und einer surrealistischen Vorgehensweise zeugten. Picasso verliebte sich in sie. Eines Tages sah er in meinem Atelier ein Portrait, das ich von ihr gemacht hatte, und bat es sich aus: er wollte mir dafür etwas von sich schenken. Ich war erfreut über sein Interesse, schenkte ihm das Bild und vergaß die Sache wieder, bis er einen Monat später mit einer Rolle unter dem Arm in meinem Atelier auftauchte. Es war einer der ersten Drucke seiner großen Radierung Tauromachie

mit einer persönlichen Widmung.

Picasso vergaß nie etwas." Und einige Zeilen weiter, unterbrochen von eben jenem Portrait, das Man Ray von Dora Maar gemacht hatte (Abb. 3), heißt es weiter über die Dora Maar und Pablo Picasso

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Zeit vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: „Dora, die Picasso in Paris bei der Arbeit an seinem Guernica-Bild photographiert hatte, legte jetzt die Kamera beiseite und wendete sich der Malerei zu, genau entgegengesetzt zu dem, was ein Picasso-Biograph geschrieben hat: die Malerin habe Picassos Bilder gesehen, die Pinsel weggeworfen und sich der Photographie zugewandt." 2 0 Folgt man nun Man Rays Sätzen Schritt für Schritt, so ergibt sich ein ganz anderes Muster als bei den Chronisten der surrealistischen Bewegung. Dora Maar wird hier eingeführt als der junge Nachwuchs, auf den der väterliche Förderer wohlwollend schaut. Sodann wird suggeriert, daß eine Fotografie als Kupplerin zwischen Dora Maar und Picasso fungierte, eine Fotografie von Man Ray. Und nicht nur das. Für das Foto war eine große Radierung Picassos mit persönlicher Widmung ein angemessener Tausch Man Ray kann sich als Künstler neben Picasso behaupten. In Man Rays Autobiografie ist Picasso immer wieder das Sprungbrett, von dem sich Man Ray abheben muß, um seinen Stellenwert als Maler neben dem als Fotograf zu behaupten. Auf diesem Hintergrund liest sich die Passage zu Dora Maars Hinwendung zur Malerei auch mit folgender Botschaft: Wenn sich sogar die Geliebte Picassos traut, sozusagen im unmittelbaren Dunstkreis des größten Künstlers des 20. Jahrhunderts mit der Malerei zu beginnen, dann brauche der Maler Man Ray nichts fürchten. Und im nächsten Absatz wandelt Man Ray auch seinen Satz: „Photographie ist keine Kunst" ab. Nunmehr lautet er: „Kunst ist keine Photographie". Die besondere Pointe bei dieser Umwandlung ist, daß die Fotos, die Dora Maar tatsächlich von den Stadien des Gemäldes „Guernica" gemacht hat, weniger von Picasso beim Malen des Bildes, hier in einen argumentativen Zusammenhang gebracht werden, der sehr wohl den von Man Ray verneinten Konflikt zwischen Malerei und Fotografie offenlegt. Man Ray läßt den Eindruck entstehen, als hätte Dora Maar durch den Sucher der Kamera die Mängel der Fotografie gegenüber der Malerei erkannt. Im Text von Man Ray wird Dora Maar schlußendlich als „eine Frau unter Einfluß" 21 gegen die Position des Mannes ohne Einfluß gestellt, der sich seinem Vorbild gefahrlos anverwandeln kann. Man Ray nutzt das Beziehungsgeflecht eines Künstlerpaares, um sein eigenes Verhältnis mit und zu Picasso zu dokumentieren; daß er sich durch seine Identifikation mit der Position Dora Maars als ebenso Picasso Begehrender zu erkennen gibt, ist ein Muster, das in dem Dreiecksverhältnis Autor-Dora Maar-Picasso häufiger anzutreffen ist. Ich werde darauf im dritten Teil zurückkommen.

Kunst als Autobiografie Ulrike Bergermann hat in ihrem Aufsatz über Picassos Bildnis von Gertrude Stein das Problem diskutiert, wo sich der Autor eines Porträts befindet, vor der Leinwand als Modell oder hinter der Leinwand als Maler des Modells. 22 Wie sie beziehe auch ich mich mit dem Schlagwort „Kunst als Autobiografie" auf Rosalind Krauss' kritische 116

Gabriele Werner

Ausführung über eine kunsthistorische Methode, Kunst nicht nur mit Hilfe biografischer Daten, sondern durch eine psychogene Biografie hindurch deuten zu wollen. 2 3 „Auto"biografie meint dann nicht eine Werkerklärung durch den Autor selbst, sondern eben jene Methode, die Arbeiten eines Künstlers (und einer Künstlerin) gestützt auf biografische Daten, Psychologisierungen privater Begebenheiten und Befindlichkeitsstudien interpretieren zu wollen. Es ist diese Methode, die zur Einteilung des CEuvres Picassos nach der Chronologie seiner Frauen führte. U m aus diesem, man möchte fast sagen, picassoesquen Dilemma auszuscheren, schlägt Bergermann vor, sich auf die lateinische Wurzel von Autor, auctor, zu besinnen, da hierbei doch auch das Muster, das Vorbild oder der Anstifter mitbenannt werde. Und als Ergänzung zu dieser Überlegung führt Bergermann Karin Cope an, die in dem Modell nicht nur „eine außerhalb des Werks stehende Muse" sieht, „but a name of a force or problem that animates a particular body of work". 2 4 Im Hinblick auf die Funktion und Bedeutung Dora Maars für Picassos Arbeiten seit dem Sommer 1937 und vor allem für sein Gemälde „Guernica" scheint allerdings genau hier das Problem zu liegen. Dora Maar gilt als Anstifterin, ihre Psyche als Vorbild für bestimmte Bilder des Weiblichen und ihr Dasein als jene Kraft, die neben „Guernica" zu einer umfangreichen Bildnisserie geführt hat. Statt also eine autobiografische Lesart zu konterkarieren, bestätigen die Begriffserweiterung und die hervorgehobene Stellung des Modells diese. Die Allianz der beiden Personen ist derart verzurrt, daß ein Ausweichen aus einer autobiografischen Lesart von Picassos Arbeiten aus dieser Zeit kaum möglich scheint. Angereichert wird die von dieser Zeit an zur Liaison dangereuse stilisierte Beziehung durch Marie-Therese Walter, und zwar nicht deshalb, weil sie damals ebenso wie Dora Maar Teil von Picassos Leben war. Dora Maar und Marie-Therese Walter funktionieren - und dies können sie nur gemeinsam - sinnstiftend für eine Erzählung über Picassos zerrissene Psyche in der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs. 2 5 Wie die Verquickung aus Persönlichem, Zeitgeschichtlichem und Bildern des Weiblichen zur Begründung künstlerischer Kreativität zu einer schwer bekömmlichen Gemengelage gerät, 26 läßt sich bei Pierre Daix nachlesen: „In seiner Ehekrise Ende der Zwanzigerjahre schmiedet Picasso sich einen Wortschatz und eine Syntax, die über die Masse hinausgehen. Einerseits mit der Gewalttätigkeit des Mordes der Gottesanbeterin oder andererseits der unvergleichlichen Leichtigkeit eines Akrobaten. Seine Malerei ist damit allem offen, von der H y m n e an die Jugend der Marie-Therese bis zu den Entsetzensschreien angesichts der Verbrechen des drohenden Krieges. Marie-Therese und Dora sind auf außergewöhnliche Weise dargestellt in hundertfacher verschiedener Zusammensetzung von Formen, Farben, Kontrasten und Gesängen, die sie ihrem Geliebten eingeben, so dass schliesslich die Gesamtheit ihrer Erscheinungen das Modell, das sie waren, darstellt. Und doch sind sie in jedem Bildnis vollständig da, weil sich die Darstellung jedesmal neu gestalDora Maar und Pablo Picasso

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tet, um bis in die Seele einzudringen, bis zu ihren unerhörten Geständnissen und zu ihren Seelenqualen. Für ihren Maler sind sie eine Herausforderung des Lebens, der Liebe und einer Zeit von Krieg und Demütigung. Die Malerei schuldet es sich selbst, diese Herausforderung aufzugreifen." 2 7 Picasso als Medium der Frauen? Eine Malerei, die sich von der pinselführenden Hand selbständig macht? Sicher, Andre Breton hatte in dem „Ersten Manifest des Surrealismus" (1924) geschrieben: „Ich fordere, daß man schweigt, wenn man nicht mehr fühlt". 2 8 In Daix' Text aber verbergen sich kapitale Künstlermythen und Genie-Phantasmen. Dem Konzept männlicher Kreativität unterliegt die Vorstellung, eine (halbwegs) naturalistische Kunst sei unmittelbar und konzeptionslos, der Künstler spiegele sich, wo nicht im Göttlichen, so doch in einer transzendentalen Instanz 29 - hier siedelt die Vorstellung vom männlichen surrealistischen Künstler als „bescheidener Registriermaschine" 30 und von Picasso als eindringlichem Lauscher. Sicher, Andre Breton hat an gleicher Stelle auch geschrieben: „Und ist es schließlich nicht das Wesentliche, daß wir Herr über uns selbst und auch über die Frauen, über die Liebe sind?". 31 Aber erst die Bedeutungsproduktion der Kunstgeschichtsschreibung hat Kunst als angewandte Psychologie betrachtet, sich auf die Suche nach einer Psychogenese des Künstlers begeben und das psychisch Unheile als besondere Qualität eines Werkes ausgemacht. 32 Mittels dieser Lesart werden nicht nur Logik und Vernunft, die bei den Verfahrensweisen der Formauslösungen auch herrschten, aus der Kunst Picassos ausgetrieben. Daix' Beschreibungen machen noch ein weiteres Problem kunstgeschichtlicher Erklärungsversuche deutlich. Wenn es ein Hauptanliegen der Kunst des 20. Jahrhunderts ist, sich der (vollständigen) Übersetzbarkeit der Bilder in Sprache zu verweigern, z.B. durch den Entzug mimentischer Gegenständlichkeit, so haben Kunstgeschichte und Kunstkommentar Mittel gefunden, sich dieser Verweigerung zu verweigern. Mit ihren nach- und wiedererzählenden Beschreibungen remythologisieren sie eine Kunst, die schon längst begonnen hatte, den diskursiven und damit auch narrativen Raum zu unterlaufen. 33 Die Wirkungsmacht eines Textes, der in der psychischen Befindlichkeit die Bedingung für Kreativität und Kunst sucht, liegt sicher in der Neugierde und dem Wunsch, zumindest durch die Erzählung einen Fuß in die Tür zu den Privatgemächern zu erhalten, sprich, den Autor eines Werkes aufzuspüren - und „Autor" wird in dieser Erzählung zum Synonym für „Authentizität". U m diesen Eindruck entstehen zu lassen, müssen zwei Voraussetzungen unwidersprochen angenommen werden. Zum Einen muß die Gleichsetzung von Frau und Bild des Weiblichen - Dora Maar ist ihr Bildnis - funktionieren. Dieses ist die Vorbedingung für die zweite Voraussetzung, die nämlich, daß, wenn ein Geliebter seine Geliebte malt, dabei immer etwas Intimes zu Tage befördert wird. Dieses Intime muß aber als etwas erscheinen, das der Geliebte und nur er sieht. Doch dort, wo es um Blick und Bild geht, geht es um Handlungen und um Repräsentationen. Der Blick ist Handlung, weil das Männliche als Träger des Blicks das Weibliche als Bild her118

Gabriele Werner

stellt, 34 und dieses Bild ist nicht Abbild eines vorgängigen Urbildes, sondern hergestellte Darstellung und insofern Repräsentation. Daix' Erzählung über Picassos und Dora Maars persönliche Verflechtungen gibt demnach weniger den Blick frei auf die intimen Geheimnisse einer Beziehung, sondern auf die theoretische Verfertigung der Bilder des Weiblichen und des Männlichen auf dem Felde der Bildproduktion. Das gleiche Muster ist auch dort anzutreffen, w o die Rückführung auf Dora Maar und Marie-Therese Walter weit weniger plausibel erscheint. „Guernica" ist von Klaus Herding zu Recht als Historienbild bezeichnet worden, 3 5 weil es die Bombardierung der baskischen Stadt am 28. April 1937 zum Anlaß hat. Die nachträgliche Suche nach den Bildnissen von Marie-Therese Walter und Dora Maar in diesem Gemälde ist die Transformation eines Formproblems und einer politischen Aussage in die Psychogenese des Künstlers - und der Modelle. Zwei Beispiele: „(5.4.1936) During this period, according to Framboise Gilot, his responsibilities toward his new family had begun to weigh on him. Instead of continuing to provide relief from the tension of his difficult marriage, his mistress and now the child became an emotional burden. N e w tensions then accrued, within a month they returned to Paris, where Dora Maar, a new paramour who represented for Picasso freedom once again from familial responsibilities, awaited him. The year-old-image of the dead horse and foal in the cary may well have carried some of this actual estrangement into the first sketches for Guernica." 36 Mit Hilfe von vier Frauen, der 1934 verlassenen Ehefrau Olga Kokiowa, der Geliebten und Mutter der gemeinsamen Tocher Maya, MarieTherese Walter, der zweiten Geliebten Dora Maar und der Nachfolgerin Dora Maars, Frangoise Gilot, werden bei Herschel B. Chipp Einzelmotive des Gemäldes erklärt und das Bild so auf ein Psychogramm familiärer Probleme reduziert. Weniger ein Abarbeiten an „der Frau" - besser den Frauen - als ihre Zuarbeit sieht Pierre Daix: „On ne saura probablement jamais ce que Guernica doit ä Dora Maar qui a pris la releve, dans ces moments cruciaux, des deux ou trois femmes intelligente sur lesquelle Picasso avait pu s'appuyer dans les grands tournants de son existence ... Elle a vecu aussi intensement que lui l'evenement et eile va photographier les etapes de la grande toile, remplissant ainsi un des voeux les plus chers de Picasso de pouvoir conserver toutes les peintures enfouies sous les versions finales. J'ai toujours pense que l'idee originelle dans Guernica, de la femme porteuse de fanal au centre du tableau etait un hommage ä tout ce qui les unissait face ä la tragedie comme dans cette reponse de la peinture ä la tragedie. C'est son image que relaie celle du Marie-Therese, premiere porteuse de la lumiere dans le roman du Minotaure. Guernica s'elabore aux Grands-Augustins et portera temoignage de l'atelier que Dora a choisi." 37 Daix variiert das Muster MuseModell-Geliebte. Die Frage, ob es Intelligenz braucht, um Picasso sich anlehnen zu lassen, oder ob er eine intelligente Lehne für seine entscheidenden Momente einer Wandlung braucht, wird von Daix einige Seiten weiter beantwortet: „Dora, de son cote outre qu'elle etait visiblement seduite par l'homme, avait conscience d'etre associee ä Dora Maar und Pablo Picasso

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l'artiste et de participer ä une aventure sans precedent oü la modernite - assumait desormais les plus hautes ambitions du grand art du passe." 38 Intelligenz also heißt zu erkennen, welchem Künstler, welcher Zukunft man da als Lehne dient. 39 Da kein Beleg dafür angeführt wird, daß Dora Maar tatsächlich in dieser Weise gedacht hat, läßt sich nur schlußfolgern, daß hier ein Identifikationsmuster übertragen wird, das zwischen männlichem Künstler und männlichem Kunsthistoriker herrscht, die Partizipation am Genie durch die schriftliche Verfertigung desselben. 40 Ich möchte folgende These vorstellen: Kunst als Autobiografie hat mit zwei Leerstellen zu kämpfen. Einerseits wird ein Autor konstruiert, der - nach Foucault - immer schon abwesend ist, und durch eine psychologisierende Projektion auf die künstlerische Arbeit ersetzt wird. 4 1 Andererseits ist auch das Modell abwesend und unterliegt als Autor(in), im Sinne des erweiterten Begriffs, ebenfalls der psychologisierenden Projektion. Die unüberbrückbare Differenz zwischen der Dargestellten und der Darstellung wird durch den Text aufgelöst, in dem das Vorhandene, das Bild, mit der nicht vorhandenen, der imaginierten Person, gleichgesetzt wird. Daß dies möglich ist, liegt an einer bestimmten Künstlerlegende, die eigentlich eine Künstlerinnen-Erzählung ist. Gemeint ist die Legende von der Tochter des korinthischen Töpfers Debutades. Sie schafft sich ein überdauerndes Bild ihres in den Krieg ziehenden Geliebten, in dem sie die Umrisse des Schattens nachzeichnet, den sein Profil im Schein einer Kerze auf die Wand wirft. 4 2 Für den Kontext dieses Aufsatzes, das heißt für die Konstruktion der Beziehung zwischen Dora Maar und Pablo Picasso ist jener Aspekt wichtig, auf den Karin L. Kleinfleder verweist. Für sie repräsentiert die Debutades-Legende ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen Künstler und Modell, und dieses ist es, welches ich in denTexten wiederzufinden meine, die die Kunst Picassos über seine Beziehungen zu Dora Maar (und anderen Frauen) versucht zu erklären: „At the heart of the story lies the desire to reproduce reality, to create a bond that would be faithful to the modell; it is the desire, in other words, that underlies the mimetical ideal. It is a desire that also reflects a metaphysical ideal; a desire, that is, to render present what is absent." 43 Dieses Begehren, im Bild Realität zu reproduzieren und gleichzeitig ein Ideal zu produzieren, erhält in der Literatur dort Gestalt, wo die Bildnisse mit dem Titel „Dora Maar" als Spiegel der Beziehung und als Widerspiegelung der Stimmungslage der Betitelten gelesen werden. Eigenschaften wie Leidenschaftlichkeit, Jähzorn oder Eifersucht 44 können jedoch schlecht an jene Bleistiftskizzen geknüpft werden, die eine Dora Maar mit sanften, großflächigen Gesichtszügen und müde sinnlichen Augen zeigen. Hierfür brauchte es die Bilder des Weiblichen, die nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Uber das Künstlerpaar Dora Maar - Pablo Picasso sagen diese Bilder wenig aus. 45 Aufschlußreicher könnte stattdessen ein Gemälde von Dora Maar selbst sein. „Femme qui pleure sous la lampe" (Abb. 4) ist zwar undatiert, könnte aber Ende der dreißiger Jahre entstanden sein. Es führt auf ganz andere Weise die beiden Protagonistinnen von „Guernica" zusammen, 4 6 120

Gabriele W e r n e r

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Abb. 4 Pablo Picasso Dora Maar, Femme qui pleure sous la lampe Öl auf Leinwand 55x38 cm

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indem Dora Maar die Gewichtungen umdreht. Picassos übergroße, alle anderen überragende Lichtbringerin wird zu einer kleinen, gelben Leuchte an einer Schnur, gegen die sich die Weinende effektvoll in Szene setzen kann. Bei allem Witz bleibt eine A n m u t u n g von Bitterkeit, die Frau weint unter der Lampe.

Pablo Picasso und Dora Maar Der Titel des Buches von James Lord „Picasso und Dora Maar. Eine persönliche Erinnerung", in englischer Sprache 1993 und in der deutschen Übersetzung erstmalig 1994 erschienen, verspricht einzulösen, was dieser Aufsatz bislang schuldig geblieben ist, nämlich A u s k u n f t zu geben über die tatsächliche Beziehung der beiden. Dora Maar und Pablo Picasso

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Lord, damals amerikanischer Armeeangehöriger, trifft Picasso, „den größten noch lebenden Künstler" und Dora Maar zum ersten Mal im Winter 1944 in Paris. Das Buch endet mit einem Tagebucheintrag vom Mai 1989: „Heute nacht träumte ich von Dora. Es ist lange her, seit ich zuletzt von ihr träumte. In diesem Traum erinnerte seltsamerweise nichts an Picasso. Als hätte er nie existiert." 47 Zwischen diesen beiden Aussagen liegen 374 Seiten und 45 Jahre Ringen um Picasso und die Freundschaft mit Dora Maar. Dies ist nicht der Ort, um das gesamte Buch zu begutachten oder dem Bedürfnis nach den kleinen und größeren Klatsch- und Tratschgeschichten nachzugehen. Stattdessen will ich beispielhaft zeigen, wie Lord „Wortschatz und Syntax" der Beziehung zwischen Dora Maar und Picasso weiterschreibt. Ein Einstieg hierfür ist schon der Begleittext im Buchdeckel, den der Fischer-Verlag der Taschenbuchausgabe von Lords Buch beifügte. In ihm heißt es: „Nachdem Picasso sie [Dora Maar, G.W.] wegen Frangoise Gilot verlassen hat, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch und zieht sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück. Lediglich Lord läßt sie zu sich, und der homosexuelle James Lord und die verlassene Geliebte Picassos gehen eine Beziehung ein, in der .Picasso allgegenwärtig' ist". Bei allem Respekt für die tatsächlich gewachsene gesellschaftliche Akzeptanz männlicher Homosexualität läßt der Hinweis, Lord sei schwul, aufmerken. Lord selbst führt ein Thema in das Dreiecksverhältnis Autor-Dora Maar-Picasso ein, das bei Man Ray unausgesprochen aufglimmte, das Begehren des Autors, sich an der Geliebten Statt zu wähnen. Eigene sexuelle Phantasien und Spekulationen über Picassos homosexuelle Erfahrungen, schließlich „verschlang der Minotaurus sowohl Jünglinge als auch Mädchen", sind als Selbstverständlichkeit in die Erzählung eingewoben. 48 Aber dieses Vermittlungsinteresse muß nicht mit dem des Fischer-Verlags identisch sein; allerdings entsteht ein weiteres, bekannteres Bild. Nach Picasso kann eine Frau nurmehr in Einsamkeit leben, und wenn es einen Mann in ihrem Leben gibt, so keinen, mit dem eine sexuelle Beziehung möglich ist. Es steht zu befürchten, daß hierin die Intention einer Rede über Lords Homosexualität liegt, und Lord selbst trägt nicht nur dazu bei, daß sich dieses Bild von Dora Maar fortsetzt, sondern gibt auch den Zweck dafür an. Zunächst läßt er den Sammler und Kritiker Douglas Cooper zu Worte kommen, um mit diesem literarischen Mittel die Lebensgeschichte von Dora Maar in seine eigene Erzählung einzuflechten. Nach dem Nervenzusammenbruch und der Analyse bei Jacques Lacan sei die altvertraute Dora der glücklichen Tage wieder zum Vorschein gekommen. „Aber natürlich hatte kein Mann Picassos Platz eingenommen; ihm war das auch am liebsten. Er mochte es, wenn seine einstigen Geliebten in Einsamkeit nach ihm schmachteten, so daß seine gelegentlichen Besuche ihnen wie eine himmlische Gnade erscheinen mußten. Obwohl eine vitale Frau Mitte Vierzig und versiert in sinnlichen Raffinessen, war Dora wahrscheinlich sieben lange Jahre allein gewesen." 49 Und dann kommt er zum Zweck dieser speziellen Lebensbeschreibung: „Ja, dachte ich, einsam ist sie wohl, aber rein und unversehrt in ihrer Einsamkeit, verlockend, wie all die Porträts, die Picasso von ihr malte, weil auch die Einsamkeit sein Werk war, seine Größe, das unvergängliche Gepräge seiner Genialität. War

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Gabriele W e r n e r

Abb. 5 Pablo Picasso Dora Maar en sphinge (femme oiseau ou peutetre femme chouette) posee sur une branche 26. Mai 1942 [Ausschnitt]

sie nicht zu Recht [...] noch immer etwas wie eine Göttin? Eine Unsterbliche, deren Bildnis in den bedeutenden Museen der Welt verwahrt wird?" 50 Zum Bilde gemacht zu werden heißt auch, daß der physische Leib und der Körper des Begehrens absent gemacht oder transzendiert werden. In der Verbindung aus Spur und Repräsentation liegt die „Wirkungsmacht von fast magischer Dimension" der vera iccon. 51 Wahrheit aber können die Portraits in den Museen nur erhalten, wenn das Leben nicht hineinpfuscht (Abb. 5). Schon Lords erste Begegnung mit Dora Maar ist die Begegnung mit einem Bild. „Während ihres Sprechens bemerkte ich, daß mir bislang die einzigartige Schönheit ihrer Stimme nicht aufgefallen war, der außergewöhnliche Tonfall, wie Vogelgesang...". 52 Und später dann ein weiteres Mal: „Und es schien, als habe ich noch nie zuvor das köstliche Tremolo ihrer Stimme gehört, einzigartig, bezaubernd wie Vogelgesang". 53 Nach welchem Bild Lord Dora Maar sieht, wird im Laufe der Erzählung aufgelöst. 54 In einem Skizzenbuch Picassos, das sich in Dora Maars Besitz befand, Dora Maar und Pablo Picasso

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Abb. 6 Dora Maar Portrait d'Ubu, 1936 Originalfotografie 24X18 cm Mailand, Galerie Schwarz

und das sie Mitte der fünfziger Jahre Daniel-Henry Kahnweiler zum Kauf anbot, befindet sich die Zeichnung von Dora Maar mit Vogelkörper, von „Dora als Harpyie". Nie ohne ihn, dieses Bild steht bis heute. Victoria Combalia schreibt in ihrer Einleitung zum Auktionskatalog zu den Fotografien von Dora Maar über sie: „Dora devint en 1936 la compagnie de Picasso, qui accentue dans ses premiers portraits ses yeux etoiles, ses mains elegantes aux ongles rouges effiles et son immobilite de sphinge. La relation entre le peintre et la photographe ne pouvait etre que tourmentee car Dora n'etait pas seulment seductrice, mais aussi distante, legerement hautaine et melancolique, et eile possedait ses idees propres. C'est bien la Femme-Oiseau dessinee par Picasso". 55 Als abschließender Kommentar zur Unmöglichkeit, mit Hilfe der Lektüren wirklich etwas über eine Beziehung und die an ihr beteiligten Personen zu erfahren, bleibt vielleicht nur Dora Maars „Portrait Ubu", dieses nicht zu identifizierende Wesen, das sie 1936 fotografierte (Abb. 6). 124

Gabriele Werner

Anmerkungen 1 Das prägnanteste Beispiel für diese Art Künstlerbiografie ist Pierre Daix: Picasso Createur, La vie intime et l'CEuvre, Paris 1987. 2 D a dieser Aufsatz methodisch zwischen einer hermeneutischen Textinterpretation und einer diskursanalytischen T e x t - D e k o n s t r u k t i o n siedelt, sei auf einen Aufsatz verwiesen, der hervorragend die unterschiedlichen methodischen Ansätze innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht als sich ausschließende, sondern unter dem Aspekt der jeweiligen N u t z e n und Mängel diskutiert. U t e Daniel: C l i o unter Kulturschock, Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde, 29. Jg., Sondernummer 1999, S. 7 - 2 2 . 3 Zur Analyse der unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten von Frauen in die surrealistische Bewegung um Andre B r e t o n vgl. Laura Cottingham: Betrachtungen zu Claude Cahun. In: H e i k e Ander, D i r k Snauwaert: Claude Cahun, Bilder, in Zusammenarbeit mit Kunstverein München, Gesellschaft der Freunde der N e u e n Galerie Graz, Fotografische Sammlung, Museum Folkwang Essen, München 1997, S. X I X - X X I X . 4 Mit welchen Arbeiten sie an den Ausstellungen beteiligt war, ist dokumentiert in Arturo Schwarz (Hg.): Die Surrealisten, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 1989, S. 369 ff. 5 Die Ausstellungsstationen sind im tabellarischen Lebenslauf nachzulesen, der dem Auktionskatalog: D o r a Maar, Les Photographies de D o r a Maar, une histoire des oeuvre, D r o u o t Richelieu Paris, 20.11.1998, S. 7 - 1 0 , beigefügt ist. 6 Vgl. W h i t n e y Chadwick: W o m e n Artists and the Surrealist Movement, N e w Y o r k 1991, S. 52. F ü r das Bild der D o r a Maar nach ihrer Zeit mit Picasso ist nicht nur die Konstruktion ihrer Asexualität notwendig, um seine Potenz und Macht zu dokumentieren. A u c h die Rede über ihre Religiosität ist offenbar ohne ihn nicht zu führen. So werden D o r a Maar (gespielt von Julianne M o o r e ) in dem Film von James Ivory „Mein Leben mit Picasso" (1996) folgende W o r t e in den Mund gelegt: „...denn was danach k o m m t , ich meine nach ihm, ist nur noch Leere - denn nach Picasso k o m m t nur noch G o t t . " Das D r e h buch zu Ivorys Film beruht nicht auf der Autobiographie von Frangoise Gilot: Leben mit Picasso, F r a n k f u r t / M . / H a m b u r g 1967, sondern auf Arianna Stassinopoulos Huffingon: Picasso, M ü n c h e n 1988. 7

Marcel Jean: Histoire de la peinture surrealiste, Paris 1959, S. 280.

8

Louis Aragon: D e r Pariser Bauer, aus dem Französischen von Lydia Babilas, Frankfurt/M. 1996, S. 67.

9

Edouard Jaguer: D o r a Maar, CEuvre Anciennes, Galerie 1 9 0 0 - 2 0 0 0 , Paris 1990, S. 3.

10 Jean 1959, S. 280. 11

Vgl. Peter Bürger: D e r Französische Surrealismus, Studien zum Problem der avantgardistischen Literatur, F r a n k f u r t / M . 1971, S. 114.

12 13

Andre B r e t o n : Nadja, Ü b e r s e t z u n g und N a c h w o r t von M a x H ö l z e r , F r a n k f u r t / M . 1986, S. 7; S. 111. Klaus Herding: Pablo Picasso, Les Demoiselles d'Avignon, D i e Herausforderung der Avantgarde, (Reihe kunststücke, hrsg. von Michael Diers), F r a n k f u r t / M . 1992, S. 5, mit einem Fußnotenverweis auf Quellen, die diese Auffassung hervorgebracht haben.

14 15

Bürger 1971, S. 137. N o c h heute ist die reichhaltigste Quelle für die diversen Bilder des Weiblichen innerhalb des Surrealismus Xaviere Gautier: Surrealismus und Sexualität, Inszenierung der Weiblichkeit, W i e n / B e r l i n 2 1 9 8 0 .

16

Ludwig Ullmann: Picasso und der Krieg, Bielefeld 1993, S. 78, A b b . 93 Ullmann betitelt das Blatt (Zervos I X , 97) mit: „Minotaurus, eine T o t e in ein B o o t tragend", verweist aber zugleich darauf, daß der physische Zustand der Frau, die vom Minotaurus getragen wird, nicht eindeutig ist.

17 Jaguer 1990, S. 4. 18

Zwar hat Picoasso selbst fotografiert und die Fotografie für seine Arbeiten genutzt, folgt man aber den Argumenten von Anne Baldassari, so war ihm die Fotografie nur Mittel zum Z w e c k seiner Malerei oder Werkzeug des Sehens. F ü r die Fotoexperimente in der Zeit, in die seine Beziehung mit D o r a Maar fiel, läßt sich zumindest sagen, daß sie eher von malerischer und zeichnerischer A r t waren, die Fotoplatte Mal- und Zeichengrund für Rayogramme. A n n e Baldassari: Picasso und die Photograhie, D e r schwarze Spiegel, M ü n c h e n / P a r i s / L o n d o n 1997.

19

Ausgerechnet er ist es auch, der 1937 in den „Cahiers d ' A r t " einen Artikel über Picasso als Fotografen verfasste und zwar als Picasso sich, wie es M a n R a y auch häufig tat, mit Texturen beschäftigte. Vgl. Ausst.-Kat., Pablo Picasso, Das Plastische W e r k (Nationalgalerie Berlin, Kunsthalle Düsseldorf), Stuttgart 1983, S. 165.

Dora Maar und Pablo Picasso

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Zitiert nach der deutschsprachigen A u s g a b e M a n R a y : Selbstportrait, E i n e illustrierte A u t o b i o g r a p h i e ,

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I c h b e m ü h e h i e r d e n T i t e l eines F i l m s v o n J o h n C a s s a v a t e s „ A W o m a n u n d e r the I n f l u e n c e " ( 1 9 7 4 ) ,

aus d e m A m e r i k a n i s c h e n ü b e r t r a g e n v o n R e i n h a r d Kaiser, M ü n c h e n 1 9 8 3 , S. 2 1 4 - 2 1 6 . weil in i h m das M u s t e r , das bei M a n R a y z u T a g e tritt, (in einer alltäglichen E h e s i t u a t i o n ) v o r g e f ü h r t wird. 22

U l r i k e B e r g e r m a n n : D a s B i l d v o n G e r t r u d e Stein v o n P a b l o Picasso, Picassos P o r t r ä t und Steins F r a g e nach der A u t o r s c h a f t . In: K a t h r i n H o f f m a n n - C u r t i u s , Silke W e n k ( H g . ) : M y t h e n v o n A u t o r s c h a f t u n d W e i b l i c h k e i t i m 2 0 . J a h r h u n d e r t (unter M i t a r b e i t v o n M a i k e C h r i s t a d l e r u n d Sigrid Philipps), M a r b u r g 1 9 9 7 , S. 1 1 6 - 1 2 9 .

23

R o s a l i n d E . Krauss: T h e O r i g i n a l i t y o f the A v a n t - G a r d e and O t h e r M o d e r n i s t M y t h s , C a m b r i d g e , L o n d o n 1 9 8 6 , S. 2 4 - 2 8 .

24

K a r i n C o p e : Painting A f t e r G e r t r u d e Stein. In: J u d i t h B u t l e r , B i d d y M a r t i n ( H g ) : diacritics, a review o f c o n t e m p o r a r y criticism, B d . 2 4 , N r . 2 - 3 (critical crossing), 1 9 9 4 , S. 1 9 0 - 2 0 3 .

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I n seinem B u c h „Picasso, P o r t r a i t des K ü n s t l e r s als j u n g e r M a n n , E i n e interpretierende B i o g r a p h i e " , M ü n c h e n 1 9 9 6 (aus d e m A m e r i k a n i s c h e n v o n K l a u s F r i t z u n d R e n a t e W e i t b r e c h t ) , b e s c h r e i t e t N o r m a n M a i l e r genau diesen I n t e r p r e t a t i o n s w e g : „ D i e P h y s i o g n o m i e seiner P s y c h e w i r d in j e d e m dieser P o r träts v o n O l g a , D o r a und J a q u e l i n e s i c h t b a r " (S. 128).

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A l s G e g e n l e k t ü r e sei e m p f o h l e n : K a t h r i n H o f f m a n n - C u r t i u s : F r a u e n b i l d e r O s k a r K o k o s c h k a s . I n : Ilsebill B a r t a , Z i t a B r e u , D a n i e l e H a m m e r - T u g e n d h a t , U l r i k e J e n n i , I r e n e N i e r h a u s , J u d i t h S c h ö b e l ( H g . ) : F r a u e n B i l d e r . M ä n n e r M y t h e n , K u n s t h i s t o r i s c h e B e i t r ä g e , B e r l i n 1 9 8 7 , S. 1 4 8 - 1 7 8 .

27

Pierre D a i x : Picasso, der M a l e r und seine M o d e l l e , G a l e r i e B e y e l e r , B a s e l 1 9 8 6 , S. 7.

28

A n d r e B r e t o n : E r s t e s M a n i f e s t des Surrealismus. In: Als die Surrealisten n o c h R e c h t hatten, T e x t e u n d

29

V g l . Sigrid Schade: U n b e w u ß t e Ä s t h e t i k - Ä s t h e t i k des U n b e w u ß t e n , Z u r p s y c h o l o g i s c h e n u n d p s y c h o -

D o k u m e n t e , herausgegeben u n d eingeleitet v o n G ü n t e r M e t k e n , H o f h e i m 2 1 9 8 3 , S. 2 5 . analytischen D e u t u n g v o n K u n s t u n d Kreativität, E i n L i t e r a t u r b e r i c h t . In: fragmente, Schriftenreihe z u r psychoanalyse, B d . 2 0 / 2 1 (gegen-bilder, ü b e r kunst u n d kreativität), hrsg.: wissenschaftliches Zentrum I I , g e s a m t h o c h s c h u l e kassel, S e p t e m b e r 1 9 8 6 , S. 3 3 2 ; D i e s . : D i e K u n s t des K o m m e n t a r s . I n : K u n s t f o r u m international, B d . 100, A p r i l / M a i 1 9 8 9 , S. 3 7 4 . 30

B r e t o n ( 1 9 2 4 ) 1 9 8 3 , S. 3 7 .

31

Ibid., S. 31.

32

V g l . S c h a d e 1 9 8 6 , S. 3 2 9 ; S. 3 3 4 .

33

Vgl. Sigrid Schade: I n s z e n i e r t e P r ä s e n z , D e r R i ß i m Z e i t k o n t i n u u m ( M o n e t , C e z a n n e , N e w m a n ) . In: G e o r g C h r i s t o p h T h o l e n , M i c h a e l O . Scholl: Z e i t - Z e i c h e n . A u f s c h ü b e u n d I n t e r f e r e n z e n z w i s c h e n E n d z e i t u n d E c h t z e i t , W e i n h e i m 1 9 9 0 , S. 2 1 5 .

34

Vgl. L a u r a M u l v e y : Visuelle L u s t u n d narratives K i n o . In: G i s l i n d N a b a k o w s k i , H e i k e Sander, P e t e r G o r s e n ( H g . ) : F r a u e n in der K u n s t , B d . 1, S. 30—46; K a j a Silverman: D e r B l i c k . In: J ö r g H u b e r , M a r t i n H e l l e r ( H g . ) : I n t e r v e n t i o n e n 6, K o n t u r e n des U n e n t s c h i e d e n e n , Basel, F r a n k f u r t / M . 1 9 9 7 , S. 2 3 9 - 2 5 5 .

35

H e r d i n g 1992, S. 6.

36

H e r s c h e l B . C h i p p : P i c a s s o ' s G u e r n i c a , w i t h a c h a p t e r b y J a v i e r Tusell, B e r k e l e y 1 9 8 8 , S. 7 1 - 7 2 .

37

D a i x 1 9 8 7 , S. 2 6 3 .

38

Ibid., S. 2 6 6

39

D o r a M a a r ist n i c h t die einzige F r a u in Picassos L e b e n , der diese b e s o n d e r e Standfestigkeit z u g e s c h r i e b e n wird. N o r m a n M a i l e r l o b t auch Picassos G e l i e b t e aus den z e h n e r J a h r e n , F e r n a n d e O l i v i e r , in ents p r e c h e n d e r W e i s e : „ D a sie i h m genug Selbstvertrauen gab, u m als M a n n an sich z u glauben, gewann er auch den für äußersten E h r g e i z u n v e r z i c h t b a r e n R ü c k h a l t in der gesellschaftlichen W e l t . N a t ü r l i c h verdient diese F r a u unsere bedingungslose A u f m e r k s a m k e i t . " M a i l e r 1 9 9 6 , S. 128.

40

Gabriele Werner:

Einleitung

zu Abschnitt

I, S p i e g e l u n g e n :

Identifikationsmuster

patriarchaler

K u n s t g e s c h i c h t e . I n : I n e s L i n d n e r , Sigrid S c h a d e , Silke W e n k , G a b r i e l e W e r n e r ( H g . ) , B l i c k - W e c h s e l , K o n s t r u k t i o n e n v o n M ä n n l i c h k e i t u n d W e i b l i c h k e i t in K u n s t u n d K u n s t g e s c h i c h t e , B e r l i n 1 9 8 9 , S. 1 8 - 1 9 . 41

M i c h e l F o u c a u l t : W a s ist ein A u t o r ? . In: D e r s . , S c h r i f t e n z u r Literatur, F r a n k f u r t / M . 1 9 8 8 , S. 2 0 : „ Z w a r versucht man, diesem V e r n u n f t w e s e n [d.i. der A u t o r , G . W . ] einen realistischen Status z u geben: i m I n dividuum soll es einen ,tiefen' D r a n g geben, s c h ö p f e r i s c h e K r a f t , einen . E n t w u r f ' und das soll der U r s p r u n g s o r t des Schreibens sein, tatsächlich aber ist das, was m a n an einem I n d i v i d u u m als A u t o r b e z e i c h n e t ( o d e r das, was aus e i n e m I n d i v i d u u m einen A u t o r m a c h t ) n u r die m e h r o d e r m i n d e r p s y c h o -

126

Gabriele W e r n e r

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43 44 45

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logisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt, der Annäherung, die man vornimmt, der Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt, oder der Ausschlüsse, die man macht." Zur Umformung der Debutades-Legende zum Künstlermythos im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung um die Hierarchien zwischen plastischer Kunst und Malerei vgl. Silke Wenk: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit. In: Kathrin Hoffmann-Curtius, Silke Wenk 1997, S. 17-23. Karin L. Kleinfelder: The Artist, his Model, her Image, his Gaze, Picasso's pursuit of the Model, Chicago, London 1993, S. 51. Vgl. Daix 1987, S. 266. Einen ganz anderen möglichen Kontext zur Interpretation der divergenten Bilder der Dora Maar bietet Jutta Held: „Es ist auffällig, wie sehr in den dreißiger und vierziger Jahren die bildlichen Stellungnahmen zu Krieg und Faschismus mit der Geschlechterproblematik verquickt, ja zu einer Frage der Sexualität zu werden scheinen und um das imaginäre Weibliche kreisen. (...) Widerstandskampf erscheint im Zeichen und unter dem Bild der Frau". Dies., Die „Feminisierung" der Avantgarde, Zur Kunst der Resistance: Eluard und Henri Laurens. In: kritische berichte, Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaftenjahrgang 18, Heft 1, 1990, S. 21-38. Zur Ähnlichkeit der „Lichträgerin" mit Marie-Therese Walter vgl. Ulimann 1993, S. 130. James Lord: Picasso und Dora Maar, Eine persönliche Erinnerung, Fischer Taschenbuch: Frankfurt/M. 1998, S. 29; S. 403 Lord 1998, S. 114-115. Ibid., S. 134. Ibid., S. 134. Vgl. Gerhard Wolf: Gestörte Kreise, Zum Wahrheitsanspruch des Bildes im Zeitalter des Disegno. In: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahring-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens, Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 57-60 (Kap. IV, Aporie des wahren Bildes Christi). Ibid., S. 82. Ibid., S. 125. Ibid., S. 260. Victoria Combalia: Les Photographiers de Dora Maar, Paris 1998, S. 15.

Dora Maar und Pablo Picasso

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Metamorphosen der Sinnlichkeit

Leonora Carrington und Max Ernst

CHRISTINE S C H W A B

Ein im Jahre 1987 von Tilman Spengler gedrehter Dokumentarfilm mit dem doppelbödigen Titel „Verfolgte Träume - Das Leben der Leonora Carrington" porträtiert die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 70-jährige surrealistische Malerin und Schriftstellerin an verschiedenen Schauplätzen New Yorks. 1 Im Laufe der Interviewpassagen stellt Spengler der Künstlerin jene wiederkehrende Frage, die sie zunehmend unwilliger beantworten wird: „Was haben Sie von Max Ernst gelernt?" Carrington reagiert ebenso schlagfertig wie ausweichend: „Ich war immer ziemlich verfressen - und so erfuhr ich viel über die Kunst der Küche, die in England bekanntlich miserabel war. Ein wenig habe ich auch über Wein gelernt, das meiste allerdings wieder vergessen." Uber die Kochkunst im internationalen Vergleich will der Interviewer vermutlich nicht zuallererst etwas erfahren, so muss er insistieren: „Und die Malerei?" Auch hier verweigert sich Carrington den Absichten des Fragenden: „Ich weiß nicht, mein Malen ist organisch gewachsen. Ich hatte nicht das Gefühl, ein Genie zu werden, nur weil ich Max kennengelernt hatte. Verstehen Sie, bevor ich Max kennenlernte, gehörte meine ganze Energie der Malerei, dann habe ich mich in ihn verliebt, und die Malerei habe ich weitergeliebt." Diese Sätze sollen die einzigen sein, die während des Films an Carringtons gemeinsame Zeit mit Max Ernst erinnern. Ein halbes Jahrhundert zuvor, 1937, hatte die junge Kunststudentin den sehr viel älteren Max Ernst in London kennengelernt. Sie verliebte sich in ihn, ließ alles hinter sich und folgte ihm nach Paris, damals immer noch Zentrum der künstlerischen Avantgarde. Dabei hätte das Leben der Leonora Mary Carrington auch ganz anders und äußerst bequem verlaufen können: Am 6.April 1917 wird sie in der nordenglischen Grafschaft Lancashire als zweites Kind in eine Großindustriellenfamilie hineingeboren. Ihr Vater, Harold Wilde Carrington, durch eigene Kraft erst kürzlich zu Reichtum gelangt, ist Präsident eines Chemiekonzerns, besitzt eine Textilfabrik und widmet sich ganz der Leitung der Unternehmen. Auch ihre Mutter, Maureen Moorhead, die einer südirischen Landarztfamilie entstammte, ist zunächst wenig präsent: „Meine Mutter sah ich am Tag nur ein Leonora Carrington und Max Ernst

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einziges Mal: wenn ich von meiner Gouvernante zu ihr zum Tee geführt wurde". 2 Carrington hat drei Brüder, viel Spielzeug 3 und wird ganz im Stile der britischen Oberschicht erzogen, die den eher anstrengenden Part der Kleinkindversorgung, -pflege und Erziehung an Gouvernanten, Hauslehrer und anderes Personal delegiert.

Rebellion Als Heranwachsende w i r d Carrington, anders als ihre Brüder, auf verschiedene Klosterschulen geschickt und von diesen schnell verwiesen, weil sie sich den Ausbildungsidealen der N o n n e n entzieht - sie schreibt in Spiegelschrift, die Erzieherinnen halten sie für debil - und nur ein einziges Interesse erkennen lässt, das für die Malerei. Die Carringtons suchen nach A u s w e g e n und ermöglichen ihr zwischen 1932 u n d 1934 den Besuch privater Kunstschulen in Florenz und Paris, ohne dabei jedoch eine Heirat ihrer einzigen Tochter aus den A u g e n zu verlieren. In Paris muss sie eine finishing school besuchen, eine immer noch existierende Einrichtung, in der höheren Töchtern gewissermaßen im Intensivkurs der letzte Schliff in Sachen guter Manieren vermittelt w i r d . 1934 präsentieren die Carringtons mit großem A u f w a n d ihre Tochter am H o f e von George V. der Gesellschaft, ein Ereignis, das Carrington wenige Jahre später in ihrer Erzählung „Die Debütantin" w i r d aufleben lassen. Sie langweilt sich auf all den Bällen, Gartenparties und insbesondere beim Pferderennen in Ascot, w o Frauen der Besuch der Ställe und das Wetten verboten waren, und liest demonstrativ in einem Buch von H u x l e y . N a c h Ende der Festivitäten, z u r ü c k in Nordengland, erklärt sie ihren Eltern: „I had decided, I've done all this nonsense, n o w I'm going to do w h a t I want."4 1936 gehört Carrington z u m ersten Ausbildungsjahrgang der in London von Amedee Ozenfant gerade gegründeten Kunstschule. Ozenfant, ein Maler, der eine kubistische Phase durchlaufen hatte, sich nun als Purist verstand und später mit Le Corbusier zusammenarbeiten wird, legt bei der Ausbildung großes Gewicht auf das Vermitteln handwerklichen Grundwissens, wie etwa Kenntnisse der Eigenschaften des verwendeten Materials und lässt vor allem mit sehr hartem Bleistift zeichnen, beispielsweise einen Apfel über ein halbes Jahr. 5 Die Privatakademie mochte vielleicht einige Grundlagen vermitteln, doch letztlich bot sie der jungen Carrington kaum Anregungen. Wie sich eine Studienkollegin, Ursula Goldfinger, erinnert, blieben Carringtons erste freie Arbeiten vom puristischen Stil Ozentfants auch gänzlich unbeeinflusst. Ein wahrscheinlich 1936 entstandenes Gemälde zeigt das expressionistisch anmutende Porträt einer Freundin, Jane Powell, vor einer Steinmauer. Powell hat eine Zigarette im Mund und ein Buch in den Händen, nicht irgendein Buch, sondern Jean Cocteaus 1929 erschienenen Roman „Les Enfants terribles", in deutscher Ubersetzung „Kinder der Nacht", dessen Einfluss 130

Christine S c h w a b

auf die lesende Jugend damals gewaltig gewesen sein muss und ohne Frage auch der jungen Carrington sehr gefallen hat. 6 Inzwischen scheint Carringtons Mutter die Lebensplanung ihrer Tochter akzeptiert zu haben, und sie schenkt ihr zu Weihnachten einen Bildband von Herbert Read über den Surrealismus. Darin reproduziert findet Leonora eine Arbeit, die sie, wie sie später sagt, tief beeindruckte: „And in the book I saw ,Deux enfants menaces par un rossignol', and it totally shocked me. This, I thought, I know what this is. I understood it." 7 Das fragliche Bild, eine Assemblage aus dem Jahre 1924 mit auf die Leinwand montierten Holzelementen, entstammt den Händen Max Emsts und zeigt eine alptraumhafte Szenerie: Eine weibliche Figur in langem Gewand, einen Dolch in der rechten Hand, flieht mit weitausholenden Gesten, eine zweite liegt am Boden, eine dritte wird von einer männlichen Gestalt eng umklammert und entführt - oder gerettet. A m dunklen Himmel fliegt ein Vogel. Ist es die Nachtigall, jener unscheinbare Vogel, der des Nachts durch seinen Gesang betört, der die beiden Kinder bedroht? Über die Wahrnehmung dieses einzigen Bildes, so stellt es sich in ihrer Erinnnerung dar, glaubt Carrington auch, den Künstler bereits genau zu kennen. Anlässlich seiner Einzelausstellung 1937 weilt Max Ernst in London, und Ursula Goldfinger gibt ein Abendessen in intimer Runde, wozu auch ihre Freundin Leonora und als Überraschungsgast Max Ernst eingeladen sind. Carrington ist vor dieser ersten Begegnung mit dem von ihr bewunderten Künstler sehr, sehr aufgeregt. Unnötigerweise. Trotz des großen Altersunterschieds und sprachlicher Barrieren - Ernst spricht kaum Englisch und Carrington nicht sehr gut Französisch - verstehen die beiden sich auf Anhieb. 8 Es ist Liebe auf den ersten Blick, und jene surrealistische Theorie Andre Bretons einer als einzigartig gedachten Wahlverwandtschaft und (hetreosexuellen!) glücklichen und umfassenden Paarbildung scheint eingelöst: „Du weißt, daß ich dich, als ich dich zum ersten Mal sah, ohne Zögern sofort wiedererkannt habe." 9 Carrington ist wunderschön und von so lebendiger Ausstrahlung, dass es dem nur um drei Jahre jüngeren Jimmy Ernst, als er der Geliebten seines Vaters zum ersten Mal in Paris begegnet, „schwer fiel, zusammenhängend mit ihr zu reden". 10 Auch Max ist nicht unattraktiv und hat Charme. Sie verbringen in intensivem künstlerischen Austausch einen Tag auf dem Lande, reisen wenig später nach Cornwall, wo sie zwei Wochen u.a. mit Nusch und Paul Eluard, Roland Penrose und der Fotografin Lee Miller verbringen, die das Paar als erste im Bild festhält (Abb.l). Carringtons Vater ist außer sich über die Liebesbeziehung seiner Tochter, und zum ersten Mal spielt der mächtige Fabrikant seine väterliche Autorität auf einer ganz anderen Ebene aus: Er zeigt Max Ernst wegen Pornographie an. Es wird eine zweifache Niederlage. Weder folgt die Justiz seiner Anklage, noch kann er erreichen, dass Leonora sich von Max trennt. Die Begegnung mit dem surrealistischen Künstler Max Ernst hatte der jungen Malerin eine „ganze Welt" geöffnet. 11 Sie handelt schnell, verlässt ihre Familie und England für immer und zieht nach Paris, wo sie zunächst in der Rue Jacob eine Wohnung mieLeonora Carrington und Max Ernst

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Abb. 1 Lee Miller. Max Ernst, E.L.T. Mensens und Leonora Carrington in Cornwall, 1937. Fotografie. Chiddingly, East Sussex, Lee Miller Archives

tet, um mit ihm zusammenzuleben. Eine mutige Entscheidung, auch vor dem Hintergrund größter finanzieller Unsicherheiten, denn Vater Carrington hatte seine Tochter kurz zuvor enterbt. Max Ernst war 46 Jahre und konnte auf ein in jeder Hinsicht reiches Leben zurückblicken. Er hatte die Schrecken des Ersten Weltkriegs erlebt, sich wegen dadaistischer Umtriebe mit seinem Vater überworfen, zwei Ehen hinter sich und galt mit seinem umfangreichen, sehr komplexen und technisch innovativen Werk als anerkannter Künstler, ohne allerdings über ein regelmäßiges Einkommen oder bemerkenswertes Kapital zu verfügen. Seit er 1922 nach Paris gezogen war, verdingte er sich gelegentlich 132

Christine Schwab

als Fabrikarbeiter. Er ließ finanzielle Engpässe immer wieder durch Freunde und Verkäufe seiner Arbeiten an sie überbrücken. Im Vergleich zu Carringtons großbürgerlicher Herkunft wächst der 1891 im rheinländischen Brühl geborene Maximilian Maria Ernst in eher bescheidenen Verhältnissen auf. In seinen erstmals 1962 publizierten „Biographischen Notizen", einer Textsammlung deren Untertitel „Wahrheitsgewebe und Lügengewebe" die literarische Uberformung seines Lebensberichtes andeutet, gibt er Einblick in die Jahre seiner Kindheit und Jugend und beschreibt sein Elternhaus so: „Philipp Ernst, Taubstummenlehrer von Beruf, Maler von ganzem Herzen, strenger Vater, wohlgewachsen, streng katholisch, stets gut gelaunt. Luise, geb. Kopp, hübsch, wohlgewachsen, helläugig, weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie das schwarze Meer. Liebevoll, Sinn für Humor und Märchen. Mäßiges Einkommen. Viele Kinder, viele Sorgen, viele Pflichten." 12 Für den Geist der Jahrhundertwende stehen die Eltern repräsentativ: Die Mutter verkörpert das emotionale Element, tradiert die Welt der Märchen und besonders den Humor. Der Vater gibt in seiner Eigenschaft als Sonntagsmaler ein Vorbild für den weiteren Weg des Kindes, andererseits in seiner Strenge und Gläubigkeit „Tugenden", an denen es sich abzuarbeiten gilt. Früh regen sich in ihm Zweifel am wilhelminischen Wertekanon: „Das gute Beispiel. Max, der Erstgeborene, hat die Verantwortung, Lob und Tadel, für alles, was er und die Spätgeborenen der Familie begehen. Das gute Beispiel, Pflicht, Pflicht und wieder Pflicht. Das Wort wird ihm früh verdächtig, früh verhaßt." 1 3 Sicher angeregt durch seinen Vater, der auf den Spuren der deutschen Romantik dilettierte, begann Max Ernst bereits als Schüler zu malen, und schon bald regte sich deutliche Kritik in ihm, nicht nur am wilhelminischen Wertekanon, sondern auch an der etablierten, blutleeren Kunst der Vorkriegszeit und besonders am geschmacksbildenden Einfluss der Stützen der Gesellschaft und mächtigen Kunstkritiker. Diese Kritik machte er z.B. in einem Artikel in einer Bonner Zeitung öffentlich. Noch heute liest sich dieses 1912/13 geschriebene Pamphlet gegen den damaligen Kunstbetrieb zeitlos und frisch : „Alle verstehen sie was von Kunst: Der Philologe, der Theologe, der Kritiker, der Jurist, der Kommis, der Kunsthistoriker und der Herr Bürgermeister. Alle haben ja ihren ,Geschmack'... Was der Bürgermeister will, das tun die Kritiker der großen und kleinen Tageszeitungen... Die Kunstrichter sprechen von dem ,Können', sie klagen, daß dieses Können den J u n g e n ' ganz verlorengegangen sei. ... Können hieße r i c h t i g zeichnen und malen zu können, so wie ein photographischer Apparat es nach der Erfindung der Farbenphotographie auch ,kann'... Können heißt Gestaltenkönnen. Können setzt voraus, daß man das innere Leben der Linie und der Farbe empfinden kann. (Linie und Farbe auch losgelöst vom Gegenstand. Absolute Malerei im Sinne der Absoluten Musik.) Können setzt voraus, daß man Erlebnisse hat. Dem Künstler können die alltäglichsten und die seltensten Dinge zum Erlebnis werden, ein Farbenkatalog, eine Linienverschlingung". 1 4 Leonora Carrington und Max Ernst

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Paris Max Ernst hatte Carrington bereits während der gemeinsamen Tage in Cornwall mit einigen surrealistischen Künstlerinnen und Künstlern bekannt gemacht, die sie ohne ihn vermutlich nicht oder nicht so schnell kennenglernt hätte, und auch in Paris eröffnet er ihr den Zugang zum inner circle der Bewegung. Die Surrealisten bildeten eine informelle Gruppe, die zwar gemeinsam Schriften veröffentlichte, in der jedoch viel Bewegung herrschte. Carrington gelang dank ihrer Vitalität, Kreativität und Willensstärke, eine von der Position Max Ernsts unabhängige, dauerhafte Anerkennung in diesem Künstlerkreis, und wie sie später beweisen wird, auch gänzlich ohne den Künstler an ihrer Seite. Sie besitzt alle Eigenschaften, die von den Surrealisten geschätzt werden. Schnell findet sie Akzeptanz in der Gruppe um Andre Breton, der sie - als einzige Künstlerin - in seinem „Dritten Surrealistischen Manifest" 1942 als „wachsten und kühnsten Geist unserer Tage" erwähnt. 15 „Der Papst" Breton, wie ihn Leonora nannte, dessen künstlerischer Sachverstand stark angezweifelt werden darf, begeisterte vor allem Carringtons Schönheit, ihre Kochkünste und provozierenden Auftritte in der Öffentlichkeit. Während eines Essens in einem Restaurant irritiert sie die Mitspeisenden, indem sie plötzlich ihre Füße mit Senf bestreicht, und anlässlich eines Festes im Modehaus Rochas entkleidet sie sich ganz. Es sind dies kurze, spektakuläre „Aktionskünste" am Rande (die allerdings das Genre der Happenings vorwegnehmen) und nicht Carringtons alleiniges Tätigkeitsfeld. In der Pariser Wohnung malt sie und findet erstaunlich schnell zu eigenen Ausdrucksformen, wie Jimmy Ernst bei einem Besuch feststellt: „Nie zuvor hatte ich Leonora Carringtons Arbeiten gesehen, und noch nie Bilder in diesem eigenartigen surrealistischen Stil. Phantastische Mondlandschaften, von tiefgrünen Gewässern durchbrochen, bevölkert mit mysteriösen Jungfrauen und unmißverständlich sinnliche Pferdewesen." 16

Pferde, Vögel und Windsbräute Schon 1938 ist Leonora auf zwei großen Surrealismusausstellungen in Paris und Amsterdam mit mehreren Arbeiten vertreten, von denen eine damals besondere Anerkennung fand, das Selbstporträt „A l'auberge du Cheval d'Aube" (Abb.2). Das Gemälde bildet den Beginn und Auftakt einer längeren, in Bild und Wort immer wieder variierten Auseinandersetzung mit dem Motiv des Pferdes. Inmitten eines kargen, terrakottagefliesten Raumes sitzt Carrington in enger weißer Hose mit wehenden Haaren auf einem Sessel. Oberhalb von ihr wirft ein weißes Schaukelpferd seinen Schatten an die Wand. Dieses Artefakt scheint sich im nächsten Moment in ein lebendiges Tier zu verwandeln, denn in gleicher Bewegungsrichtung galoppiert in einiger Entfernung ein weißes Pferd durch den Garten, auf den ein Fenster den Blick freigibt. (Hier wird Carringtons Vorliebe für 134

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Abb. 2 Leonora Carrington. Selbstportrait „A l'auberge du Cheval d'Aube", 1936/37. Ö l auf Leinwand, 6 5 x 8 1 , 5 cm. N e w York, Sammlung Pierre Matisse

die Malerei der italienischen Renaissance erstmals spürbar.) Das dritte Wesen im Raum ist eine Hyäne, offenkundig ein Muttertier mit drei prallen Eutern und hellen Augen. Ausgerechnet diese Räuberin der Savanne, der als aus dem Hinterhalt agierender Aasfresserin (fälschlicherweise) und wegen ihrer „Häßlichkeit" gemeinhin keine positiven Eigenschaften zugeschrieben werden, ist auch Verbündete der „Debütantin" 17 (In der Geschichte soll die Hyäne anstelle der Erzählerin zum Ball gehen, sie frisst das Dienstmädchen und trägt dessen Gesicht als Maske, wird aber wegen ihres Gestanks von der Mutter enttarnt) und Carringtons eigene, sich einer eindeutigen Entschlüsselung entziehende Erfindung und Symbolfigur. Auch in dem Bild scheinen Frau und Hyäne - durch geheime Zeichensprache - im Einvernehmen. Wie lassen sich Pferd und Schaukelpferd deuten? Hier geben Carringtons autobiografisch gefärbte Erzählungen und andere Dokumente Hinweise, wie z.B. eine Fotoreihe, die Max Ernst in der Pariser Wohnung auf einem Schaukelpferd sitzend zeigen, welches Leonora auf einem Pariser Flohmarkt gekauft hatte und das in England im elterlichen Schloss zurückgelassene Original namens „Tartar" ersetzen und Erinnerungen an ihre Kindheit wach halten sollte. Leonora Carrington und Max Ernst

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Das Bemühen, Erlebnisse und Prägungen aus der Kindheit als wesentliche Inspirationsquelle geltend zu machen, durchzieht übrigens auch das künstlerische und schriftliche Werk Max Emsts. In „Die ovale Dame" erklärt Carrington alias Lukrezia: .„Tartar ist mein Liebling', sagte sie und streichelte die Schnauze des Pferdes. ,Er haßt nämlich meinen Vater/" 1 8 Und der Vater, als strenger und sanftmütiger Greis beschrieben, dem keines der verbotenen Ereignisse im Hause entgeht und unschwer als Harald Wilde Carrington zu erkennen, hasst das hölzerne Spielzeug: „Was ich nun tun werde, geschieht einzig und allein zu Deinem Besten, kleines Mädchen... Du bist zu alt, um noch mit Tartar zu spielen. Tartar ist etwas für Kinder. Ich werde ihn also verbrennen, so daß nichts mehr von ihm übrigbleibt." 1 9 A m Ende der Geschichte dringen Laute in Lukrezias Ohren „wie wenn ein Tier unerhörte Qualen litte..." 20 Im individuellen Symbolsystem der Künstlerin scheint das Schaukelpferd eine Phase des Phantasienreichtums, der Ungestörtheit und unbeschwerter Kindheit zu verkörpern, von der endgültig Abschied zu nehmen schmerzlich ist und schwerfällt, zumal eigene Lebensentwürfe keine Unterstützung finden und ein anderer, unliebsamer Weg, der von Klosterschulen und einer standesgemäßen Ehe, vorgegeben ist. Das lebendige weiße Pferd draußen im Freien ist von komplexerem Symbolgehalt und wird in neuerer Literatur als Figur der keltischen Mythologie - in deutlicher Abkehr von Freudianischen Vorstellungen - interpretiert, die sich auf der „grünen Insel" Irland am besten tradiert hatten und die Carrington durch Erzählungen ihrer irischen Mutter und des ebenfalls irischen Kindermädchens in der Kindheit zugetragen worden waren. 2 1 Das weiße Pferd ist schneller als der Wind, fliegt durch die Lüfte, verkörpert die keltische Vorstellung der Anderwelt, Tod u n d Wiedergeburt. 2 2 Dieses Wissen um die keltischen Wurzeln für Carringtons Motivwahl, in dem physikalische Bewegung - schneller als der Wind und Fliegen wie ein Vogel - und Entgrenzung (Tod und Leben sind in der Pferdegestalt vereint) sind, mag erhellen, warum Pferde im Frühwerk der Malerin so beherrschend sind, traf das Thema doch auch auf das Interesse ihres Partners. Als Tochter einer betuchten englischen Familie war für Carrington der Reitsport ein selbstverständliches Vergnügen von gesellschaftlichem Rang, dessen Beherrschen von Frauen und Männern gleichermaßen erwartet wurde. Doch wie bei vielen Mädchen war ihre Beziehung zu Pferden sehr viel inniger, und Leonora wünschte sich als Kind, ein Pferd zu sein. In anderen Darstellungen Carringtons tauchen auch braune Pferde auf, wie z.B. in einem unvollendeten Doppelportät von 1940, das Max in einem Federgewand und sie sitzend vor einem braunen Ross zeigt. Das Pferd, ob weiß ob braun, mag auch die Periode zwischen Kindheit und Erwachsensein versinnbildlichen, sicher eine unbestimmte Sehnsucht und den Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit. Die vielschichtige Metapher des Pferdemotivs wird in einem ganz anderen Medium später aufgegriffen, und es sei als Exkurs an zwei Filme amerikanischer Produktion 136

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erinnert, in denen die intensive, auch sexuell konnotierte Beziehung zwischen Frau und Pferd eine wichtige Rolle spielt: In Alfred Hitchcocks „Marnie" (1964) findet die in früher Kindheit traumatisierte, sich vor Männern ekelnde Kleptomanin Zuflucht vor männlichen Nachstellungen und nach erfolgreichen Diebstählen auf ihrem geliebten Pferd, in wildem Galopp, Momente des Glücks und der Ruhe. Bei einem Sturz bricht sich ihr Pferd einen Lauf, und in einer Schlüsselszene des Films erschießt Marnie das Tier, um es von seinen Qualen zu befreien, eigenhändig. Danach nimmt die Handlung eine entscheidende Wende, die schmerzlichen Urgründe ihrer Frigidität und ihres Ringens um mütterliche Zuwendung werden dank des hartnäckigen Insistierens von Sean Connery aufgedeckt. Er befreit sie von ihren Psychosen. 2 3 In „Giganten" (1955) gibt Liz Taylor die Gestalt der Leslie Benedict. Sie ist selbstbewußt, eine wilde Reiterin und verliebt sich in Jordan Benedict (Rock Hudson), Besitzer riesiger Ländereien in Texas. Leslie folgt ihm in die Einöde, ohne sich jedoch in der Ehe domestizieren zu lassen. Ihr schwarzes Pferd reist mit und scheint Charaktereigenschaften zu symbolisieren, die sie von der Dumpfheit der Texaner abgrenzen und schnell zur Vetrauten des Outsiders Jett Rink (James Dean) werden lassen. In beiden Filmen steht der sehr leidenschaftlich ausgeübte Reitsport der Protagonistinnen für eine Sphäre außerhalb männlichen Zugriffs, bei Marnie als Surrogat für Sexualität, bei Leslie als Rebellion gegen Gefühlskälte und männliche Vorherrschaft. In Interviews der letzten Jahre mochte sich die Künstlerin zu diesem, ihr Frühwerk doch so beherrschenden Pferdesujet nicht äußern. Zu sehr ist es mit Max Ernst verbunden.

Südfrankreich Im Winter 1938 starten die beiden zu einem Neubeginn, verlassen Paris und ziehen in die Provence in den kleinen Ort St.-Martin-d'Ardeche. Im Rückblick kommt diesem Weggang aus Paris Symbolcharakter zu: Nichts mehr wird danach so sein, wie es war. Streitigkeiten um politische Positionen 24 hatten zu einer offiziellen Trennung Emsts von der Surrealistengruppe geführt, und sicher waren auch die ständigen Konfrontationen des Paares mit der von Ernst verlassenen, unglücklichen Marie-Berthe Aurenche ein Anlass für den Umzug. 2 5 Und das Bedürfnis nach Ruhe und ungestörter Zweisamkeit, wie J i m m y die Erklärungen seines Vaters erinnert: „Alles, was ich jetzt möchte, ist, Paris für lange Zeit hinter mir zu lassen und mit Leonora in Ardeche zu leben ... und sie zu lieben ... wenn die Welt uns nur läßt." 26 „Hier, so hoffe er, würde er für sich und seine große Liebe - wie er wörtlich sagte - ,ein kleines bißchen Frieden' finden. Und hier entstand eins seiner stärksten Werke aus jener Zeit, eine große Leinwand mit dem passenden Titel „Un peu de Calme" (Ein wenig Ruhe)". 2 7 Leonora Carrington und Max Ernst

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Sehr viel distanzierter und mit entbehrlichen Informationen über die genaue geographische Lage des Ortes gespickt, beschreibt Ernst in den „ Biographischen Notizen" diese Zäsur: „Verläßt die Surrealistengruppe. Zieht mit Leonora Carrington nach Saint-Martin-d'Ardeche bei Pont Saint-Esprit, etwa 50 km nördlich von Avignon. Kauft ein Haus und schmückt es mit Wandgemälden und Flachreliefs. Illustriert ihre Novelle ,La Dame ovale'". 28 Für die Schilderung sehr privater Ereignisse (wie Heirat und Liebe) fand der sonst so eloquente Künstler in seinen Notizen stets nur Sätze einer kurzen Erwähnung. Deshalb überrascht es nicht, dass er diesen Lebensabschnitt zu einer Fußnote schrump-

Abb. 3 Lee Miller. Leonora Carrington und Max Ernst in St.-Martin-d'Ardeche, 1939. Fotografie. Chiddingly, East Sussex, Lee Miller Archives 138

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fen läßt. Vielleicht sind es auch die späteren Ereignisse und Wirren, die Emsts Erinnerung rückblickend trüben. Wie hilfreich, dass die in St. Martin entstandenen Kunstwerke und Erzählungen des Paares, Fotografien und die Erinnerungen anderer jenen Lebensabschnitt in Südfrankreich zu komplettieren vermögen. Max hatte das bäuerliche Anwesen, eine verlassene, baufällige Häusergruppe mit Gebäuden aus dem 17. und 18. Jahrhundert auf früheren Reisen (Marie-Berthe Aurenche war in dieser Gegend geboren) entdeckt. Vielleicht ist die Frage, wer der rechtmäßige Besitzer oder die rechtmäßige Besitzerin dieses Landsitzes war, marginal. Doch die späteren, konträren Aussagen der beiden Bewohner und be-

Abb. 4 Lee Miller. Leonora Carrington und Max Ernst in St.-Martin-d'Ardeche, 1939. Fotografie. Chiddingly, East Sussex, Lee Miller Archives Leonora Carrington und Max Ernst

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sonders die immense Wertsteigerung, die die alten Häuser inzwischen erfahren hatten, machen Nachforschungen über diese Immobilie interessant. Max Ernst behauptet, er habe das Haus gekauft, worin ihm alle Biografen und schließlich die gesamte Kunstgeschichtsschreibung folgen. Carrington hingegen gibt in einem späteren Interview eine andere, ebenso glaubwürdige Version: „I had bought a little house in Saint-Martind'Ardeche. I forget where I got the money from. Most likely I conned m y mother." 2 9 Tatsächlich ist es aber Carringtons Name, der in das Grundbuch eingetragen ist. 30 1938 beginnt für die beiden eine kurze Zeit glücklichen Landlebens und gemeinsamer künstlerischer Produktivität in w a r m e m Klima, unter südfranzösischer Sonne. Von den Bewohnern des Dorfes als Ausländer und Fremdlinge kritisch beäugt, leben sie fast gänzlich auf sich zurückgezogen, abgesehen von Gästen, die sich während der Sommermonate nach St. Martin aufmachen: Leonor Fini, Roland Penrose verbringen dort sinnenfreudige Aufenthalte. Auch Peggy Guggenheim besucht das Künstlerpaar und kauft Carringtons Bild „The Horses of Lord Candlestick". 3 1 Lee Miller verdanken wir, wie schon in C o r n w a l l 1937, eine Reihe von Fotos, deren Wert mehr als dokumentarisch sind: Ein optisch sehr kontrastreiches Paar (jung und alt, dunkel und hell) präsentiert sich in einer Art Rollenspiel in gegenseitiger U m a r m u n g der Kamera von Lee Miller (Abb. 3 und 4). Als Engländerin, noch dazu in der völlig verregneten, kalten und spröden nördlichen Region des Landes aufgewachsen, w a r für Carrington der ganz andere Lebensrhythmus in der damals noch ursprünglichen, verschlafenen Provence in jeder Hinsicht anregend: „I was living much more intensely than I'd ever really lived before, because w e were going all over Provence, Avignon - marvelous places and wines and foods ... It was a kind of paradise time of m y life", 3 2 schwärmt sie über diese zunächst unbeschwerte Zeit.

Ein „palais ideal" Sie genießen die Sonne, das Schwimmen in der kühlen Ardeche. Die Künstlerin schreibt und malt, sie kocht, versorgt die Haustiere (Abb. 5) und betätigt sich erfolgreich als Winzerin, denn zum Anwesen gehört auch ein kleiner Weinberg. Auch Max Ernst malt und schreibt. Seine Hauptarbeit in St. Martin w i r d allerdings darin bestehen, die alten Häuser zu renovieren und sie mit zahlreichen Zementreliefs und Gipsfiguren an den Fassaden und im Innenhof zu gestalten. Schon in den Jahren zuvor hatte er sich sporadisch der Plastik gewidmet. N u n tut er es erstmals in großem Stil. „Die Plastik entsteht in einer U m a r m u n g , mit beiden Händen, w i e die Liebe. Immer, wenn ich mich der Plastik zuwende, habe ich das Gefühl, in Ferien zu sein. Malen wie Schachspielen erfordern größte Konzentration. W e n n ich plastisch arbeite, entspanne ich mich. Es macht mir das gleiche Vergnügen w i e damals, als ich als Kind 140

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Abb. 5 Leonora Carrington in St.-Martin-d'Ardeche, 1938. Brühl, Max Ernst Kabinett

im Sand Burgen baute. Wenn ich mit der Malerei in eine Sackgasse komme, was immerwieder passiert, bleibt die Skulptur als Ausweg übrig, denn die Skulptur ist noch mehr ein Spiel als die Malerei", wird Ernst später die Bedeutung plastischen Arbeitens erklären. 33 Eine Aufnahme zeigt ihn bei der Ausführung der Skulpturen, sonnengebräunt, wie einen Bauarbeiter mit nacktem Oberkörper und Strohhut, Spatel und Kelle in Händen, vor der großen Relieffigurengruppe an der Hausfassade (Abb. 6). Diese Dreiergruppe von Mischwesen, die die auf die Gebäude Zuschreitenden gewissermaßen begrüßt, zeigt links den Torso einer Figur mit emporgehobenen Armen und weitaufgerissenem Mund, die an das Kriegsmahnmal von Ossip Zadkine erinnert, rechts eine als weiblich zu identifizierende ganzfigurige Gestalt mit überlängten Gliedmaßen und Hals, graziler und tänzelnder Gebärdensprache, die an Cranachs weibliche Aktdarstellungen denken lässt. Sie hat einen Tierkopf, den Kopf eines Lamas, Leonora Carrington und Max Ernst

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Abb. 6 Lee Miller Max Ernst bei der Arbeit am Fassadenrelief in St.-Martin-d'Ardeche 1938 Fotografie

um den sich ein fischähnliches Wesen schlingt, und trägt auf ihrer linken Hand einen kleinen Löwen, der schon in einer Illustration für das Magazin Cahiers

d'Art auf-

taucht. In der dritten Figur, unterhalb der rechten Plastik variiert Max Ernst sein zweites Ich, den Vogel „Loplop". „Loplop" hat hier kräftige, fast fleischige Flügel (der rechte ist wie zum Gruß erhoben) und einen menschlichen Körper, zwischen dessen Beinen - anstelle des Geschlechts - ein das Feigenblatt parodierender auffälliger Blätterkranz platziert ist. Die Darstellung seines Kopfes hat keine Ähnlichkeit mit Mensch oder Tier, sondern sein Vorbild in Ausdrucksformen und Mythen außereuropäischer Kulturen, deren Präsentation im anthroplogischen Museum in Paris und in wissenschaftlichen Publikationen Max Ernst bekannt waren, und die ihn zeitlebens inspirierten. Das Modell für den Kopf des Vogelwesens ist „Tiki", eine Gestalt der Götterwelt der Maori, die auch in späteren Plastiken Emsts wiederkehrt. „Tiki" wird beim Geschlechtsverkehr mit der ersten Frau von deren Vagina abgebissen, doch wie tröstlich, aus ihm entwickelt sich in ihrem Körper ein Embryo und

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daraus der Mann. Was neben der beängstigenden Vorstellung einer Vagina dentata für die Maori das „Geheimnis" der Zeugung erklärt, mochte sich damals in virulente Freudsche Vorstellungen von Geschlechterdualismus und männlicher Kastrationsangst fügen, über die die Surrealisten auf dem Laufenden waren, und die einen möglichen Interpretationsansatz bieten, wie ihn etwa Günther Metken in seiner Beschreibung durchgängig verfolgt. 3 4 Vielleicht darf die Reliefgruppe mit ihren erotischen Anspielungen und dem Verweis auf die sexuelle Symbolwelt einer fremden „primitiven" Kultur, von der man sich freie Liebe ohne gesellschaftliche Normierungen vorstellte, auch als Max Ernsts künstlerisches Dokument sexueller Freiheit und „überwältigender Leidenschaft" - fern von Kastrationsangsttheorien - verstanden werden. 35 Im Ausleben außerehelicher und nichtehelicher Beziehungen war Max bereits vor der intensiven Freundschaft mit Leonora nicht ungeübt. Während seiner Ehe mit Luise Strauß in Köln hatte er eine später in Paris fortgeführte Liaison mit der geheimnisvollen Russin Gala Eluard, deren Mann Paul das Verhältnis um den Preis gesellschaftlicher Erneuerung duldete. Auch die Schneiderin und Malerin Leonor Fini, der Carrington in Paris schnell zur Freundin wurde, sei als Geliebte von Ernst genannt. Im Kreise der Surrealisten wurde die Institution der Ehe intensiv diskutiert, und bereits 1931 hatte Ernst unter dem Titel „Pollutionsgefahr" eine beißende Kritik am Einfluss des Klerus auf sexuelle Praktiken, die Trennung von Erlaubtem und Verbotenem, die dem Diskurs der späten 60er Jahre vorauseilt, formuliert: „Die triste eheliche Pflicht wurde erfunden, um die Multiplikationsmaschine in Schwung zu bringen, um der Kirche verblödbare Seelen zuzuführen und den Vaterländern Kreaturen, die den Anforderungen der Produktion und des Militärdienstes gewachsen sind. Der triste eheliche Akt, wie ihn die Kirchenleute denen durchlassen, die sich in der Liebe vereinigen wollen, bleibt nur eine täuschend ähnliche Photographie der Liebe selbst. Die wiederkehrende Liebe wird ihren Ursprung in einem kollektiven Unterbewußtsein nehmen und muß, dank der Entdeckungen und Anstrengungen aller, an die Oberfläche des kollektiven Bewußtseins gelangen. Unter der Fuchtel der klerikalen und kapitalistischen Ordnungshüter geschieht dies nicht". 3 6 Auch Carrington hinterließ im und am Haus ihre Spuren. Sie bemalte Mobiliar und Innenwände des Hauses 3 7 und modellierte im Innenhof zwei große Pferdeköpfe aus Stein (Abb. 7), ihre ersten dreidimensionalen Arbeiten, bei deren technischer Ausführung Max ihr vermutlich beratend zur Seite stand. In St. Martin entstand auch ein gewissermaßen mobiles Gemeinschaftswerk des Paares, „Die ovale Dame", ein Band mit Erzählungen Carringtons, den Ernst mit Collagen illustrierte, und für den er das Vorwort schrieb. Eine dieser acht Collagen verbildlicht eine kurze Textpassage aus „Die ovale Dame": Eine Elster namens Mathilde fliegt herbei und „setzte sich auf den Kopf Tartars, der immer noch leise vor sich hin galoppierte". 38 In der Darstellung Emsts Leonora Carrington und Max Ernst

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Abb. 7 Lee Miller. Max Ernst zwischen den Pferdeköpfen, 1939. Fotografie. Chiddingly, East Sussex, Lee Miller Archives

verschmelzen Pferd und Vogel zu einem Einhorn. 39 Während er mit den Illustrationen auf seine virtuos beherrschte Collagetechnik früherer Jahre, die die Schnittstellen des Materials verbirgt, zurückgreifen konnte, erprobt er in dem vorangestellten Text - bis dahin hatte er vorwiegend kunsttheoretische Abhandlungen und gesellschaftskritische Texte verfasst - erstmals das Genre der Erzählung. „Loplop stellt die Windsbraut vor" lautet die kurze, dem Band vorangestellte Geschichte: Als Vogel Loplop und als „stolzer" Mann durchschreitet Max Ernst den sonnigen Ort. „Wilde Liebkosungen haben auf seinem herrlichen perlmuttenen Leib ihre leuchtenden Spuren hinterlassen" 40 schreibt er, und weiter heißt es: „Er hat keine Angst. Er kommt aus dem Haus der Angst", 4 1 nämlich Carringtons gleichnamiger 144

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Erzählung, in dem die Protagonistin zu einem geheimem, mysteriösen Pferdetreffen eingeladen ist. Aus dem Inneren eines Hauses begrüßen jene Pferde das vorübergehende Paar als Verwandte: „Guten Tag, Cousin, guten Tag, Cousine. Mag der gute Wind euch herbeiwehen." 4 2 Und Loplop stellt den Pferden die Windsbraut vor: „Sie ist geschnitzt aus ihrem lichten Leben, aus ihrem Geheimnis, aus ihrer Poesie. Sie hat nichts gelesen, doch sie hat alles getrunken. Sie kann nicht lesen. Und doch hat die Nachtigall sie auf dem Stein des Frühlings sitzen und lesen sehen. Und obwohl sie nicht laut las, hörten ihr die Tiere und die Pferde bewundernd zu." 4 3 Trotz der surrealen, deutlich von Carrington inspirierten literarischen Kunstgriffe, die eine eindeutige Interpretation verbieten, und ihrer Widerspieglung surrealistischer Weiblichkeitsentwürfe des Irrationalen, liest sich Max Emsts kleine Prosa wie eine Liebeserklärung mit rückblickenden und visionären Zügen. Die im Text erwähnte Nachtigall erinnert an jene Assemblage, die Carrington einst so sehr gefallen hatte; in der Schilderung ihrer Verbundenheit mit der Tierwelt ruft Ernst die Fähigkeiten der christlich-mythologischen Gestalt des Franz von Assisi wach, nimmt jedoch auch spätere Ereignisse (Leonoras Flucht nach Spanien) vorweg. Und er greift ihr Pferdethema auf, verbindet das Alter Ego seiner Gefährtin mit einem Sujet, mit dem er sich bereits während der späten zwanziger Jahre in einer technisch sehr unterschiedlich ausgeführten Bildserie auseinandergesetzt hatte, der „Windsbraut". Das gleichnamige Gemälde Oskar Kokoschkas (entstanden 1913/14), für das ein Gedicht Georg Trakls den Titel lieferte, und in dem Kokoschka Verlustängste und eine bevorstehende Trennung von seiner Geliebten Alma Mahler verarbeitete, mag auch Max Ernst, der ständig alle Bildwelten durchforstete, als Motivvorlage gedient haben. Die Vorstellung der „Windsbraut" ist eine deutsche Schöpfung und vermischt ein reales Naturphänomen, das eines plötzlich auftretenden, gefährlichen Wirbelsturms, einer Windhose, mit Elementen einer Volkssage, nach der „ein Edelfräulein, welches die Jagd über alles liebte und gleich dem wilden Jäger verwünscht ward, in alle Ewigkeit mit dem Sturme dahinzufahren". 4 4 Während Kokoschkas Darstellung das vom Wind emporgetragene Liebespaar als menschliche Figuren mit individuellen Zügen des Künstlers und Malers zeigt, wählte Ernst für seine Windsbraut-Interpretationen ein durch die Luft wirbelndes Pferdepaar (besonders in der Version in Karlsruhe und München), und ausnahmsweise führt der Titel hier nicht gänzlich in die Irre, sondern korrespondiert mit den Bildinhalten. Im Versuch, Emsts permanente künstlerische Verwandlung auch abseits des technischen Experiments auf eine Inhaltlichkeit festzulegen, wurde seine Windsbraut-Serie als Reflex auf seine Begegnung mit Marie-Berthe Aurenche 1927 und die beiden Pferde als Inkarnation „der Wildheit, des Animalischen und hemmungslosen Triebverhaltens" gedeutet. 4 5 Für seine leidenschaftliche Beziehung mit Leonora, und unter dem Einfluss ihrer künstlerischen Produktion, in der die Pferde allerdings nie die Bodenhaftung verlieren, Leonora Carrington und Max Ernst

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reaktivierte Max diesen Topos „und vollzog zugleich einen Akt der Aneignung durch Wieder-Gabe". 4 6 Max Ernst bricht hier nicht mit einer Tradition, die männliche Leidenschaft stets auf den weiblichen Körper projizierte oder sie symbolkräftig verschlüsselte. Leonora ist es, in der wilde Naturgewalt und Sinnlichkeit verschmelzen. Dennoch: Für die realen Personen und in den Kunstfiguren - Vogel und Windsbraut - ist die Schwerkraft in doppelter Weise aufgehoben. Die Ekstase, das gemeinsame Glück in St. Martin finden ein plötzliches Ende. Die provencalische Dorfidylle bleibt von den Auswirkungen des 2. Weltkrieges nicht verschont, und auch Künstler genießen keinen Sonderstatus. Jimmy Ernst, der damals schon in N e w York lebte, hatte seinen Vater in Briefen früh aufgefordert, Europa zu verlassen „bevor es zu spät sei", 47 doch dieser schickte ihm kommentarlos jene Fotos, die ihn bei der Ausführung der Skulpturen zeigen.

Trennung Durch diese Warnungen nicht gänzlich unvorbereitet, wird Ernst, der zwar mit deutschem Pass, aber seit immerhin 17 Jahren in Frankreich lebte und in Deutschland als „Entarteter" galt, als politisch Verdächtiger und „feindlicher Ausländer" im Winter 1939 verhaftet. Er wird in „Les Milles", einer ehemaligen Ziegelfabrik bei Aix-en-Provence interniert, deren Lagerleben Lion Feuchtwanger in „Der Teufel in Frankreich" eindringlich schilderte. 48 U m in seiner Nähe zu sein, bezieht Carrington unweit des Lagers Quartier; sie versorgt ihn auch mit Malutensilien. Während der wochenlangen Trennung von ihrem Geliebten malt Leonora das „Porträt von Max Ernst" (Abb. 8) in arktischer Landschaft, eigentlich ein Doppelporträt. „Loplop" wandelt, eine Laterne tragend, in ein rotes Federkleid gehüllt, dessen Ende die Form eines Fischschwanzes zeigt, schlafwandlerisch über die Eisschollen. Seine Haare sind weiß, die Lippen rot, die Augen traurig. Im Hintergrund parallel zu der Vogelgestalt ist ein weißes Pferd zu sehen, zu Eis erstarrt und mit den weißen Augen eines gekochten Fisches. Allein ein kleines skurriles Element, die gestreifte Socke am Fuße des Mannes erheitert das apokalyptische Szenario. Auf Betreiben Paul Eluards wird Ernst zwar zu Weihnachten freigelassen, doch im Mai 1940, ausgerechnet von einem Taubstummen des Dorfes, wie er interessanterweise (sein Vater war Taubstummenlehrer) notiert, denunziert und erneut, diesmal in Handschellen, abgeholt und zunächst in ein anderes Departement gebracht. Wenig später gehört der Häftling zu den viel zu vielen Insassen jenes „Geisterzuges", der sich Richtung spanische Grenze bewegt und angeblich die Gefangenen vor den vorrückenden Nazitruppen retten soll. 49 Es ist diese zweite Verhaftung und Abwesenheit Emsts, die Carrington jegliches Gleichgewicht raubt. In der Einschätzung der politischen Entwicklungen stand sie ihrem 146

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Abb. 8 Leonora Carrington Portrait von Max Ernst 1939 Ö l auf Leinwand 5 0 , 2 X 2 6 , 7 cm N e w York, Sammlung Young-Mallin

Leonora Carrington und Max Ernst

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Gefährten an Blauäugigkeit in nichts nach. Bislang hatte sich die junge Frau erfolgreich gegen die Ansprüche ihrer Erzieher und Eltern durchgesetzt, einen eigenen Weg gefunden, doch nun sah sie sich mit einer anderen, wenig greifbaren Macht konfrontiert. Im räumlichen, zeitlichen und auch emotionalen Abstand, 1943, versuchte Carrington, die Umstände ihrer Flucht aus St. Martin und ihren anschließenden Aufenthalt in einer Psychiatrischen Anstalt im nordspanischen Santander in ihren „En bas" („Unten") betitelten Notizen zu rekonstruieren. 50 Nachdem Max zum zweiten Mal inhaftiert wurde, weinte sie stundenlang unten im Dorf. Anschließend kehrt sie in ihr Haus zurück. Die gewaltsame Trennung eröffnet ihr auch erstmals in ihrem Leben den Blick auf „die Ungerechtigkeit der Gesellschaft". 51 Sie isst sehr wenig und bringt sich zum Erbrechen: „Damals hoffte ich, durch die heftigen Krämpfe, die meinen Magen gleich einem Erdbeben zerrissen, mich von meinem Schmerz ablenken zu können." 52 Alle Restenergien pysischer Kraft bringt sie auf, um ihren Weinberg und das Kartoffelfeld zu bestellen. Die örtlichen Bauern bewundern ihre ungeahnten Fähigkeiten, und Carrington verschafft diese körperliche Anstrengung für kurze Zeit Ablenkung, sie fühlt sich - durch Schweißausbrüche - gereinigt und durch die Sonne „so kräftig wie niemals vor oder nach dieser Zeit". 53 Auf diese Weise vergehen Wochen, bis ein befreundetes Paar, auf der Flucht aus Paris, in St. Martin eintrifft. Ihre Freundin, Catherine Yarrow, geübt im Besuch von Psychoanalytikern, glaubt in Carringtons Verhalten „den unbewußten Wunsch, [sich] zum zweiten Mal von [ihrem] ,Vater' zu befreien: von Max", zu erkennen und überzeugt sie von der Notwendigkeit, nach Spanien zu fliehen. 54 Für eine lächerliche Summe und unter starkem Alkoholeinfluß, wie gerne berichtet wird, verkauft Leonora das Haus nebst allem Inventar an einen Dorfbewohner; die drei fahren los. Unterwegs, während einer Autopanne, erlebt Carrington den Zustand völliger Entgrenzung: „Auch ich war in meinem Innern blockiert, durch Kräfte, die meinem bewußten Willen nicht zugänglich waren, und ich war überzeugt, daß die Macht meiner Angst sich auf den Mechanismus des Autos übertragen und ihn gelähmt hatte. Dies war das erste Mal, daß ich mich mit der Welt außerhalb meines Körpers identifizierte. Ich war das Auto". 5 5 Während der weiteren Fahrt durch die Pyrenäen verliert sie die Kontrolle über ihren Bewegungsapparat und entdeckt bei Spaziergängen in den Bergen jene übersinnlichen Potenziale, die Ernst in seiner Erzählung „Loplop stellt die Windsbraut vor" beschwor: „Es war die Haut, durch die ich mich mit ihnen [Pferden, Ziegen, Vögeln], verständigte, in einer Berührungssprache, die zu beschreiben mir sehr schwer fällt". 56 Inzwischen ist Max die Flucht aus der Internierung gelungen. In St. Martin findet er ein verlassenes Haus vor, dessen Besitzer er nicht mal mehr ist. Er schreibt: „Leonora, die in der Abwesenheit von Max den Verstand verloren hat, ist nach Spanien geflohen. Dort wurde sie als Schizophrene in einer Irrenanstalt in Santander inter148

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niert". 5 7 Die Geliebte ist fern - mittlerweile wird er von der Gestapo gesucht. Ernst beschließt die Flucht in die USA. 1941 in Marseille trifft er Peggy Guggenheim, die für ein amerikanisches Komitee zur Rettung verfolgter europäischer Intellektueller arbeitet. Guggenheim hatte bereits bei einer früheren Begegnung ein Auge auf Max Ernst geworfen, sie war rundum fasziniert von ihm: „Ich ... hatte von seiner Schönheit, seinem Charme und von seinen Erfolgen bei Frauen gehört, abgesehen davon, daß ihn seine Malerei und seine Collagen bereits berühmt gemacht hatten. Als wir einander vorgestellt wurden, stellte ich fest, daß er für sein Alter noch sehr gut aussah: Er hatte schlohweißes Haar, große blaue Augen und eine edle Hakennase, die ein wenig an einen Vogelschnabel erinnerte. Sein Körper war zart gebaut. Er sprach sehr wenig". 5 8 Für den Künstler geht es um Leben und Tod, und er und die dynamische amerikanische Kunstsammlerin gehen eine intime Verbindung ein. Wenige Wochen vor dem geplanten Abflug nach N e w York in Lissabon, damals Auffangbecken und Zwischenstation europäischer Flüchtlinge, begegnet Max zufällig Leonora. Sie hat die Flucht aus Frankreich und den monatelangen grauenvollen Aufenthalt in der Nervenheilanstalt, den ihr Vater veranlasst hatte, überstanden und will, muß Europa verlassen, um weiteren Zugriffen des alten Carrington zu entgehen. „Ich habe Leonora wiedergefunden. Sie ist in Lissabon", 59 gesteht Ernst hilflos seiner neuen Lebensgefährtin. Doch die letzten Monate sind nicht spurlos an Leonora Carrington vorübergegangen. Sie ist vorsichtiger geworden. Bedrängnis und Ausnahmezustand erzwangen damals alle möglichen engen Kontakte, auch Ehen, und um ein Einreisevisum zu erhalten, heiratet Carrington den mexikanischen Diplomaten Renato Leduc, den sie noch aus Paris kannte. Auch Leduc ist sehr viel älter als sie. Beide scheinen über eine bloße Zweckehe hinaus Gemeinsamkeiten zu haben, die Max Ernst, der sich in ähnlicher Situation befand, verunsichert haben mögen. (Nach ihrer Scheidung 1943 bleiben Carrington und Leduc in freundschaftlicher Verbindung.)

Neue Welt Getrennt und doch mit gemeinsamem Ziel verlassen Leonora und Max 1941 Europa. Mit dem Guggenheim-Clan fliegt Max nach N e w York, Leonora folgt in Begleitung ihres Mannes auf dem Schiffswege, wobei sie auch zahlreiche Ernst-Kunstwerke nach Amerika rettet. N e w York, wohin sich viele Surrealisten flüchteten, ist auch der Ort, in dem Carrington und Ernst ihre Freundschaft endgültig beenden werden; sie brauchen dafür fast soviel Zeit, wie ihre Beziehung gedauert hat. Sehr zur Qual Peggy Guggenheims treffen sich die beiden, wie schon in Lissabon, häufig. Max Emsts Verhalten „gewöhnlich wirkte er kalt wie ein Fisch" 60 und Gespräche mit Andre Breton bestätigen GugLeonora Carrington und Max Ernst

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genheim in ihrer Vermutung, „daß Leonora die einzige Frau war, die Max je geliebt hat". 61 Guggenheims Ängste werden durch ein oft bemühtes Zitat Jimmys bekräftigt, in dem er die extremen Gefühlsschwankungen seines Vaters nach gemeinsamen Stunden mit Carrington beschreibt. Von Inhalten der Gespräche, die Max und Leonora in N e w York führten, drang niemals ein deutliches Wort in die Öffentlichkeit. Beide übten sich in Diskretion und vielleicht sind sie in ihrer Verschwiegenheit echte Vertreter des Surrealismus, der an rationalen Erklärungen und einer letztlichen Wahrheitsfindung nie interessiert war. Als Carrington sehr viel später zu diesem Lebensabschnitt befragt wird, sagt sie, ohne dabei den Namen Max Emsts zu nennen: „There is always a dependency involved in a love relationship. I think if you are dependent, it can be extremely painful. I think that a lot of women (people, but I say women because it is nearly always women on the dependent side of the bargain) were certainly craped, dwarfed sometimes, by that dependency. I mean not only the physical dependency of being supported, but an emotional and opinion dependency." 6 2 Die Enttäuschung, nicht mehr zueinander finden zu können, verarbeiteten beide jedoch künstlerisch, Leonora qua Text und Bild. Sie schreibt die Erzählung „Warten" (1941), die von einer verlorenen Liebe namens Fernando handelt. Es ist eine H o m mage an Max: „Ich würde seine Geräusche und seinen Geruch noch hundert Jahre, nachdem er vorübergegangen ist, erkennen. Ich kenne sogar den Geruch seines Blutes" 63 heißt es darin. Recht unverschlüsselt schildert sie ihren Schmerz und ihre Zerrissenheit in „Der oberste der Vögel", publiziert in einer Sondernummer von „View" 1942/43, in der das Alter Ego der beiden, Pferd und Vogel, in einer unterirdischen Hexenküche noch einmal zusammenfinden. Der Vogelobere, „Schnabelmax", rührt in „seinem Topf, der die Form eines Menschen hat", 64 er „fesselt die F U R C H T mit ihrem Schwanz an die Flammen des Feuers und taucht seine gefederten Arme in die Farbe. Mit der rasenden Geschwindigkeit eines Schreis malt jede Feder sofort ein anderes Bild". 6 5 A m Ende bleibt in der Küche der Tod zurück: „Im Feuer auf dem Boden des großen schwarzen Topfes liegen - wie augenlose Zebras - nur sieben kleine Fische und ersticken." 6 6 In diesem letzten Satz werden entfernte Verwandte des Pferdes mit Fischen, Symbol des Lebensursprungs, das auch in den Skulpturen in St. Martin auftaucht, konfrontiert. 1941 beschließt Carrington ihr malerisches Frühwerk, die Pferdebildserie (Abb. 9). In einer Vulkanlandschaft tummeln sich zahlreiche Huftiere. Was seit Baidung Grien viele andere vor ihr und Carrington selbst bis dahin nur angedeutet hatten, die dem Tier zugeordnete sexuelle Energie, zeigt sie in diesem Gemälde in aller Drastik: einen schwarz-weiß gefleckten Hengst mit erigiertem Penis auf einer braunen Stute. Etwas abseits dieses kopulierenden Pferdepaares steht ein drittes Pferd allein unter einem Torbogen und beobachtet die Szenerie wie ein Zaungast. 150

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Abb. 9 Leonora Carrington. Pferde, 1941. Ö l auf Leinwand. 6 6 , 5 x 8 1 , 5 cm. Paris, Galerie 1900-2000

Noch viel stärker als bei Leonora ersetzen bei Max Bilder die Worte. „Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Max Ernst immer wieder seine verlorene Geliebte malte." 67 In einer Reihe von im Abklatschverfahren entstandenen, bedrohlich wirkenden Gemälden jener Jahre ist Leonora erkennbar oder erahnbar, wie, um nur einige zu nennen, z.B. in „Leonora im Morgenlicht", „Alice im Jahr 1941" oder dem noch in St. Martin begonnenen „Europa nach dem Regen". Im Bild „Der Gegenpapst" (Abb. 10), das auf die reformatorische Illustration „Der Papstesel" von Johann Wolf rekurriert, 68 verdreifacht der Künstler seine „Windsbraut" in einer kriegerischen Atmosphäre von Kampf und Verwesung: links am Rand die korallenriffartig skelettierte Figur eines Pferdes, rechts oben ein bleiches Frauengesicht mit den Zügen Leonoras in enger Nähe zu einer Chimäre in Ritterrüstung, der Körper weiblich, der Kopf der eines Pferdes. Zwischen die beiden drängt sich eine weibliche Gestalt mit blondem langen Haar, deren Gesicht verdeckt ist. In ihr mag man die Tochter Peggy Guggenheims, Pegeen Vail, erkennen. 69 Am Boden liegen Kadaver, tote Vögel. Leonora Carrington und Max Ernst

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Abb. 10 Max Ernst Der Gegenpapst, 1941/42 Ö l auf Leinwand 1 6 0 x 1 2 7 cm Venedig, Sammlung Peggy Guggenheim

Seine neue Verbindung mit Peggy Guggenheim ermöglicht Max Ernst erstmals ein Leben in gesicherten finanziellen Verhältnissen, weshalb er sich trotz minimaler Verkäufe und vernichtender Kritik (z.B. von Clement Greenberg) während der ersten Jahre in den U S A seiner Sammelleidenschaft für Figuren der Hopi-Indianer ganz hingeben kann. Ein Foto, 1942 aufgenommen von James Thrall Soby, zeigt Ernst sitzend hinter den indianischen Kunstwerken. Er trägt eine weiße Jacke aus Federn, in modifizierter Form jene Bekleidung, in der Carrington ihren Geliebten Jahre zuvor porträtiert hat. Der auch künstlerisch geführte Dialog findet ein Ende, als Leonora 1943 mit ihrem Mann nach Mexiko zieht. Kein Zufall wird das Paar je wieder zusammen führen. Carrington lernt in Mexico City den ungarischen Fotografen Chiki Weisz kennen, mit dem sie zwei Söhne haben wird. Im selben Jahr begegnet Max einer neuen Liebe, der amerikanischen Malerin Dorothea Tanning, einer jungen Frau mit dunklem Haar. Zusammen mit Man Ray und „Juliet" heiraten Tanning und Ernst 1946 in Beverly Hills; die Ehe dauert 30 Jahre, bis zu seinem Tod. Obwohl Ernst schon 1942 ein neues Malverfahren - das Dripping 152

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entdeckt hatte, das auf die neue, amerikanische Künstlergeneration revolutionär wirkte und namentlich Jackson Pollock stark beeinflusste, blieb er seinen Ursprüngen treu: Als unbekannter Wegbereiter der Hippies taucht er lange Zeit tief ein in Kunst und Kultur der nordamerikanischen Indianer. Distanziert beschreibt er weitere Entwicklungen und seine eigene, späte öffentliche Würdigung. Er stirbt am 1. April 1976, wenige Stunden vor seinem 85.Geburtstag, im nächtlichen Paris. Auch Leonora Carrington verließ die Pfade des Surrealismus nicht. In Mexico City, wo sie heute wieder lebt, fand sie schnell Anschluss an die dortige surrealistische Künstlergruppe, in der auch viele europäische Flüchtlinge zusammentrafen. Neben ihrer von der Renaissancekunst inspirierten, noch immer von Tieren und in ständiger Metamorphose begriffenen Mischwesen bevölkerten Malerei, entstanden Skulpturen, Romane, Theaterstücke und ein großes Wandgemälde. Ihre Suche nach allem im Prozess der Zivilisation Verlorenen fand in Mexiko einen besonderen Nährboden. Nach anfänglicher Fremdheit in diesem katholisch-patriarchal geprägten Land beschäftigte sie sich intensiv mit der Kultur der indianischen Ureinwohner, setzte sich für deren Rechte ein und engagierte sich in der Frauenbewegung. Selbstverständlich entgingen die Weltreligionen und die Esoterik, lange bevor die Beschäftigung mit Okkultismus Mode wurde, nicht Carringtons Neugier, und vielleicht ist es diese Aufmerksamkeit für das Verborgene, für Grenzbereiche menschlicher Wahrnehmung, die sie seit den achtziger Jahren auch in Nordamerika und Europa bekannter werden ließ. Leonora Carrington ist noch immer „unterwegs" und konnte in einem 1993 geführten Interview als bereits 76-jährige von sich sagen: „I'm interested in the present, not the past". 7 0

Anmerkungen 1 Verfolgte T r ä u m e - D a s Leben der Leonora Carrington, B R D , 1987, Bayerischer Rundfunk, 42 Minuten, Tilman Spengler. 2

Apropos L e o n o r a Carrington, hg. von Tilman Spengler, Frankfurt am Main 1995, S. 17.

3 Viele Aufnahmen zeigen die kleine Leonora allein beim Spiel. 4 A K Leonora Carrington, T h e Mexican Years 1 9 4 3 - 1 9 8 5 , T h e Mexican Museum, San Francisco 1991, S. 34. 5 A K L e o n o r a Carrington 1991, S. 34. 6

W h i t n e y Chadwick, W o m e n Artists and the Surrealistic Movement, L o n d o n 1985, S.68.

7

A K L e o n o r a Carrington 1991, S. 34.

8

Ibid., S. 36.

9

A K Androgyn, Sehnsucht nach Vollkommenheit, N e u e r Berliner Kunstverein, Kunstverein Hannover, Berlin 1987, S. 146.

10 J i m m y E r n s t , N i c h t gerade ein Silleben, Erinnerungen an meinen Vater M a x Ernst, K ö l n 1985, S. 159. 11

A K L e o n o r a Carrington 1991, S. 36.

12

A K M a x Ernst, Retrospektive zum 100. Geburtstag, hg. von Werner Spies, Tate Gallery, L o n d o n 1991, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1991, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1991, Centre Georges Pompidou, Paris 1992, München 1991, S. 281.

13

A K M a x Ernst 1991, S. 281.

14

Ibid., S. 288.

Leonora Carrington und Max Ernst

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15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Andre Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 119. Jimmy Ernst 1985, S. 159. Leonora Carrington, Die ovale Dame, Magische Erzählungen, Frankfurt am Main/Paris 1982, S. 13-17. Carrington 1982, S. 25. Ibid., S. 28. Ibid., S. 29. Marina Warner, Die Göttin erhebt sich, in: Apropos Leonora Carrington, 1995, S. 124-125. Chadwick 1985, S. 79. Zu neuen Interpretationen des Films vgl.: Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle, Sigrid Weigel: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln, Weimar, Wien 1999. Ernst solidarisierte sich mit Eluard, der wegen seiner stalinistischen Position von Breton aus der Gruppe ausgeschlossen worden war. Max Emsts zweite Ehefrau Marie-Berthe Aurenche zeigte Anzeichen religiöser Verwirrung. Jimmy Ernst 1985, S. 193. Ibid., S. 189. AK Max Ernst 1991, S. 316. AK Leonora Carrington 1991, S. 36. Silvana Schmid, Loplops Geheimnis, Max Ernst und Leonora Carrington in Südfrankreich, Köln 1996, S. 59. Peggy Guggenheim, Ich habe alles gelebt, Die Memoiren der Femme Fatale der Kunst, Bergisch Gladbach 1995, S. 200. AK Leonora Carrington 1991, S. 36. AK Max Ernst, Die Retrospektive, hg. von Werner Spies, Berlin, München 1999, S. 198 Günter Metken, Paramythen, Max Emsts Haus in St.-Martin-d'Ardeche, in: Pantheon Nr. 32, 1974, S. 289-297. Metken gibt hier eine ausführliche Beschreibung und Deutung aller Skulpturen. AK Max Ernst 1991, S. 307. Ibid., S. 307. Schmid 1996, S. 20. Carrington 1982, S. 20. Ulrich Reißer, Max Ernst und seine Serie der Windsbräute, Paradoxon des Zufalls, Motivgeschichtliche und ikonographische Aspekte, in: Pantheon Nr.5, 1993, S. 151-161, S. 155. Carrington 1982, S. 9. Ibid., S. 9. Ibid., S. 9. Ibid., S. 10. Reißer 1993, S. 156. Ibid., S. 158. Sarah Wilson, Die Begegnung mit Albion und Alice, Max Ernst und England, in: AK Max Ernst 1991, S. 363-373, S. 366. Jimmy Ernst 1985, S. 267. Lion Feuchtwanger, Der Teufel in Frankreich, Erlebnisse, Frankfurt am Main 1989. AK Max Ernst 1991, S. 319. Leonora Carrington, Unten, Frankfurt am Main 1981. Carrington 1981, S. 10. Ibid., S. 10 Ibid., S. 10. Ibid., S. 12. Ibid., S. 15. Ibid., S. 19. AK Max Ernst 1991, S. 319. Guggenheim 1995, S. 201. Ibid., S. 218. Ibid., S. 247. Ibid., S. 228.

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Christine S c h w a b

62 Susan Rubin Suleiman, Leonora Carrington and Max Ernst, The Bird Superior meets the Bride of the Wind, in: Significant Others, Creativity & Intimate Partnership, hg. von Whitney Chatwick und Isabelle de Courtivron, London 1993, S. 115. 63 Carrington 1981, S. 67. 64 Leonora Carrington, Der oberste der Vögel, in: Apropos Leonora Carrington, S. 64. 65 Ibid., S. 64, 65. 66 Ibid., S. 66. 67 Wilson 1991, S. 369. 68 Angelica Zander-Rudenstine, The Antipope, in: Peggy Guggenheim Collection Venice 1985, S. 317. 69 Ibid., S. 317. 70 Suleiman 1993, S. 101.

Leonora Carrington und Max Ernst

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Eine „zweistellige Formel" des russischen Neoprimitivismus

Natalija Goncarova und Michail Larionov

ADA RAEV

Eine Besonderheit der russischen Avantgarde besteht darin, dass sie nicht nur durch eine Reihe von Künstlerinnen nachhaltig geprägt worden ist, sondern ihre Ausstrahlung gerade auch dem Wirken von Künstlerpaaren verdankt. Zwar sind in Rußland auch schon für das 19. Jahrhundert vereinzelt Konstellationen bekannt, wo Kunststudentinnen ihren Lehrer geheiratet haben, doch führten solche Verbindungen entweder dazu, dass sich die Frauen mit der Eheschließung ins Privatleben zurückzogen und ihre künstlerische Tätigkeit aufgaben, 1 oder es gelang ihnen weit weniger als dem Ehemann, sich ins zeitgenössische Kunstleben zu integrieren und sich ein Nachleben in der kollektiven Erinnerung zu sichern. 2 Dagegen gibt es in der Generation der Avantgardekünstler auffallend viele Künstlerpaare, die allerdings nicht in allen Fällen durch den Vollzug der Eheschließung miteinander verbunden waren, sondern in freier Partnerschaft zusammenlebten und neben jeweils eigener künstlerischer Arbeit, in der sich nicht selten das Schaffen des Partners/der Partnerin im Sinne von Rezeption bzw. Abgrenzung spiegelt, auch gemeinsame Projekte realisierten. 3 Eines dieser Paare sind Michail Fedorovic Larionov (1881-1964) und Natalija Sergeevna Goncarova (1881-1962). Beide nehmen in der umfangreichen Literatur über die russische Avantgarde seit langem einen festen Platz ein und sind in Rußland wie im Westen als ihre Mitbegründer Innen und Aktivistinnen anerkannt. Ungeachtet der Tatsache, dass beide seit ihrer Studienzeit in Rußland (Abb. 1) und später in Frankreich fast sechzig Jahre lang mehr oder weniger eng Seite an Seite gearbeitet haben, ist der Blick auf ihr Werk und ihre Persönlichkeit aber ganz unterschiedlich zentriert. Mal erscheinen sie als herausragende Einzelpersönlichkeiten, denen Monographien gewidmet sind, 4 mal treten sie als Protagonistinnen der einander schnell wechselnden und von ihnen mit initiierten Künstler- und Ausstellungsvereinigungen wie „KaroBube", „Eselsschwanz" oder „Zielscheibe" auf, 5 oder sie werden als wichtige Vertreterinnen einer bestimmten Kunstgattung wie der Malerei, der Szenographie oder der Buchkunst 6 gewürdigt. Sie werden einem der Ismen, insbesondere dem Neoprimitivis Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Abb. 1 Michail Larionov als Student der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Bildkunst, um 1901. Fotografie Natalija Goncarova als Studentin der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Bildkunst, um 1901. Fotografie

mus, dem Rayonismus und dem Futurismus zugeordnet; und Natalija Goncarova macht als eine der „Amazonen" der russischen Avantgarde in der feministisch orientierten Künstlerinnenforschung eine gute Figur. 7 Dabei hat die Kunstgeschichtsschreibung den Umstand, dass beide über Jahre hinweg dezidiert als Künstlerpaar öffentlich in Erscheinung getreten sind, zwar nicht geleugnet, aber erstaunlicherweise kaum problematisiert. Dies verwundert um so mehr, als es seit der 1913 erschienenen Doppelmonographie „Natalija Goncarova. Michail Larionov" von Eli Eganbjuri (Pseudonym von Il'ja Zdanevic) 8 und der ein Jahr später in Paris veranstalteten ersten gemeinsamen Ausstellung 9 immer wieder Doppelausstellungen von Larionov und Goncarova gegeben hat. Die letzte wurde vom 4. Oktober 1999 bis zum 20. Januar 2000 in der Moskauer Tret'jakov-Galerie auf der Grundlage von Teilen der der Russischen Föderation übereigneten Sammlung Aleksandra Klavdievna Tomilinas (der zweiten Frau Larionovs, die er 1962 in Paris geheiratet hat) gezeigt, doch spielt die Paarkonstellation in den Katalogtexten auch hier keine Rolle. Lediglich einige sehr knapp gehaltene und somit leider gänzlich aus dem Zusammenhang gerissene Briefzitate belegen, dass sich Natalija Goncarova und Michail Larionov auch in den 1930er/40er Jahren sowohl rückblickend als auch im Zusammenhang mit ihrem aktuellen Schaffen künstlerisch noch immer verbunden fühlten. 10 Nimmt man dagegen Memoiren von Zeitgenossinnen zur Hand, 158

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dann stößt man sehr wohl auf Reflexionen über Larionov/Goncarova als Künstlerpaar. Dem Charakter dieser literarischen Gattung entsprechend überwiegen darin an konkrete Situationen geknüpfte Äußerungen über die unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden, während Vergleiche ihres Werkes in diesem Kontext eher selten angestellt werden. 11 Erst in der feministischen Forschung wurde ein Zusammenhang zwischen der auffallenden Präsenz von Künstlerinnen in der russischen Avantgarde und dem Umstand vermutet, dass eine Reihe von ihnen in Partnerschaft mit Künstlern lebten und arbeiteten, zum Teil sogar an gemeinsamen Projekten. So formulierte Regine Dehnel den Titel eines Aufsatzes zu diesem Thema als Frage: „Frau. Kollegin. Konkurrentin? Künstlerpartnerschaften in der russischen Avantgarde". 1 2 Larionov und Goncarova selbst haben durch ihre späte Heirat am 2. Juni 1955, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn ihres gemeinsamen Lebens, ihre Identität als Künstlerpaar noch einmal deutlich gemacht. Dieser Schritt rief im Freundes- und Bekanntenkreis der beiden einiges Erstaunen hervor, denn privat gingen sie schon seit Anfang der 1920er Jahre getrennte Wege, 13 allerdings ohne die gemeinsame Wohnung in der Rue Jacques Callot 16, die sie im Mai 1919 bezogen hatten, ganz aufzugeben und die Freunde untereinander „aufzuteilen". Die Antwort auf die Frage nach dem ungewöhnlichen Zeitpunkt ihrer Eheschließung ist gleichzeitig der Schlüssel zum Verständnis dieser außergewöhnlichen Künstlerpartnerschaft. Bei der Entscheidung für die Eheschließung spielte zweifelsohne der Aspekt der materiellen Absicherung eine wichtige Rolle, um so mehr, als sich keiner von beiden in den Jahren künstlerischer Aktivitäten um langfristig Gewinn bringende Investitionen bemüht hatte. Die rechtliche Fixierung ihrer Verbindung zeigt aber auch, dass sie eben ihr künstlerisches Lebenswerk als das sie eigentlich Verbindende ansahen, denn im Falle des Todes von einem der beiden sollte der Partner/die Partnerin den Zugriff auf das Oeuvre des/der anderen haben. Als Indiz für die Berechtigung zu dieser Interpretation seien zwei Auszüge aus Briefen Michail Larionovs an Natalija Goncarova vom August 1934 zitiert. Am 11. August schreibt Larionov, offensichtlich nach einem Streit: „Muruschka [wohl mit .Ameischen' zu übersetzen, denn Goncarova redete Larionov in Briefen ihrerseits mit .Ameise' an A. R.], nimm es Dir nicht so zu Herzen und werde nicht müde, wie ich Dich auch beleidigen mag, ich liebe Dich sehr und kann ohne Dich nicht sein. Und dann haben wir beide noch sehr viel zu tun." 14 Sieben Tage später heißt es: „... Wirf meine Briefe nicht weg, ich sammle Deine, und nach der Rückkehr führen wir sie zusammen: vielleicht ergibt sich daraus etwas sehr viel Klareres, als uns selbst bewußt ist, verschiedene Dinge unseres Handwerks." 1 5 Der mit beiden über Jahrzehnte verbundene und ebenfalls in Paris lebende Dichter und Künstler Jurij Annenkov hat die Heirat von Larionov und Goncarova treffend als Epilog ihrer Gemeinsamkeiten bezeichnet. Für ihn stand außer Frage, dass den beiden immer und vor allem die Kunst Antrieb in ihrem Leben gewesen war. Er konstatierte in den verschiedenen Phasen ihres Schaffens eine Parallelentwicklung im Sinne ausgeprägter Individualität in einem jeweils gemeinsamen Kontext. 16 Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Ich möchte im folgenden das Künstlerpaar Larionov-Goncarova aus dreierlei Perspektiven vorstellen: aus der Sicht von Kunsthistorikerinnen, aus der Sicht von Zeitgenossinnen, die Michail Larionov und/oder Natalija Goncarova als Künstlerkolleginnen und Kritiker unterschiedlich nahe gestanden haben, sowie im Hinblick auf ihren künstlerischen Werdegang und ihr CEuvre. Dabei können und sollen nicht alle Phasen ihrer gemeinsamen und später auch separaten Arbeit gleichermaßen beleuchtet werden. Eine solch mehrgleisige und dabei fokussierte Annäherung an das Künstlerpaar Larionov-Goncarova bietet die Chance, Aufschlüsse über jene Faktoren - individuellmentale, soziale, ökonomische, ideologische, ästhetische - zu gewinnen, die das Modell „Künstlerpartnerschaft" im konkreten Fall attraktiv und lebbar gemacht, aber aus zeitgenössischer wie nachträglicher Sicht zu unterschiedlichen Interpretationen geführt haben. Dabei wird es sich im ersten Teil als sinnvoll und hilfreich erweisen, auf in Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts gängige Vorstellungen über das Verhältnis der Geschlechter und den ihnen zugedachten Bezug zur Sphäre des Künstlerischen einzugehen, die in postsowjetischer Zeit eine (fatale) Renaissance erleben und einer kritischen Reflexion bedürfen.

Kunsthistorikerinnen über Natalija Goncarova und Michail Larionov In den Fällen, wo Kunsthistorikerinnen auf die Paarbeziehung zwischen Natalija Goncarova und Michail Larionov eingehen und sie als konstituierend oder zumindest als relevant für das Schaffen der beiden Partner ansehen, sind von Geschlechterstereotypen bestimmte Pauschalurteile nicht zu übersehen. Anhand von drei Beispielen aus den 1960er, 1980er und 1990er Jahren sollen solche Wertungsmechanismen verdeutlicht werden. Vorausgreifend läßt sich konstatieren, dass es jeweils die Art der Erzählung und die Wahl bestimmter Sprachbilder ist, die das bei den Autorinnen durchaus vorhandene Bemühen, aufgrund von gegebenen Fakten beiden Künstlerinnen gegenüber ihre Wertschätzung auszudrücken und ihnen „Gerechtigkeit" widerfahren zu lassen, im eben genannten Sinne unterlaufen. Camilla Gray, die Autorin eines der frühen im Westen erschienenen Standardwerke über die Kunst der russischen Moderne und Avantgarde, geht so beiläufig wie selbstverständlich von einer traditionellen Lehrer-Schülerin-Konstellation aus, obwohl Goncarova und Larionov im gleichen Jahr geboren wurden und beide als Studierende an der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Baukunst immatrikuliert waren - Larionov seit 1898 in der Malereiabteilung, Goncarova seit 1901 in der Bildhauerklasse. Der Umstand, dass sich Goncarova parallel auch mit Malerei beschäftigte und von ihm darin bestärkt wurde, mag Camilla Gray zu folgender Formulierung veranlaßt haben: „Michail Larionoff, der in den Jahren 1907-1913 eine Anzahl kleiner Ausstellungen veranstaltete, und Natalia Gontscharowa, seine begabte Schülerin, sind für 160

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die moderne russische Kunst von entscheidender Bedeutung. Ihr Gesamtwerk zeigt nicht die einheitliche und logische Entwicklung wie dasjenige Kasimir Malewitschs und Wladimir Tatlins, doch kann man sich schwerlich vorstellen, wie diese Künstler ohne die beiden anderen zu ihren revolutionierenden Ergebnissen gelangt wären. Larionoff und N. Gontscharowa waren die Vermittler der fortschrittlichsten Gedanken und Strömungen zwischen dem Westen und Rußland bis zum Jahre 1914, in dem sie als Bühnenbildner Djagileffs ihre Heimat verließen." 17 An dieser Stelle sei vorausgreifend ausdrücklich angemerkt, dass es Natalija Goncarova war, die von Djagilev auf Empfehlung von Aleksandr Benua (Benois) mit der Ausstattung der Ballett-Oper „Der goldene Hahn" für Paris betraut wurde. Larionov, der zusammen mit anderen Künstlern bei der Ausführung der Dekorationen behilflich war, begann erst ein Jahr später als seine Lebensgefährtin eigenständig für die „Ballets Russes" zu arbeiten. In seinem 1984 auf Deutsch erschienenen Buch über die Geschichte der russischen Druckgraphik zu Beginn des 20. Jahrhunderts schreibt Jevgenij Kovtun dergestalt über das Verhältnis von Natalija Goncarova und Michail Larionov, dass Larionov trotz der formal behaupteten Gleichrangigkeit insgesamt als der aktive und normsetzende Part erscheint: „Ihre Namen wurden schon vor der Revolution unzertrennlich, und gegenwärtig erscheinen sie uns wie eine zweistellige Formel: .Larionow-Gontscharowa', die in der russischen Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts dauerhaft Fuß gefaßt hat. Eine so enge Zusammenarbeit mit einem Künstler von derart stark ausgeprägter schöpferischer Individualität hätte für die Gontscharowa verhängnisvoll sein können, wenn ihr künstlerischer Wille, ihr Temperament nicht ebenso stark gewesen wären. Die Berührung mit der Kunst Larionows schliff, wie ein Juwelier den Diamanten, das Schaffen der Gontscharowa, diese Berührung war behilflich, dass die eigenständigen Grundlagen ihres Werkes hervortraten. Larionows unfehlbares Kunstempfinden, das Unvermögen, .seine Lyra falsch zu spielen' - diese Eigenschaften seiner Begabung schätzte die Gontscharowa nicht nur hoch ein, sondern sah sie auch für ihre eigene künstlerische Entwicklung als lebensnotwendig an. [...] In dem langjährigen ,Duett' ihrer Zusammenarbeit muß man dennoch Larionow den ,Hauptpart' zubilligen." 1 8 Hinter diesen Sprachbildern verbirgt sich zweifelsohne die mit dem Künstlermythos verknüpfte Dichotomie von „männlich" und „weiblich" und den entsprechenden Verknüpfungen mit Begriffen aus den Bereichen der Kultur (Juwelier) und der Natur (Diamant), von „Aktivität" und „Passivität". Einem anderen Autor, Anatolij Strigalev, dient die Paarkonstellation sogar dazu, über das (Schein-) Lob der Goncarova eine als gegeben angenommene und keinen Moment in Zweifel gezogene Überlegenheit Larionovs zu untermauern. Letztere wird bereits mit dem Titel des Aufsatzes „Michail Larionov - Autor und Praktiker einer pluralistischen Konzeption der russischen Avantgarde" suggeriert und dann unter anderem folgendermaßen begründet: Natalija Goncarova und Michail Larionov

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„Vor allem als ,Vorwurf' an Larionov wegen seiner .Frechheit' hat es sich eingebürgert, ihm die angeblich talentiertere Goncarova gegenüberzustellen. Ohne sich der Verführung einer Diskussion dieses künstlichen Dilemmas hinzugeben, muß etwas anderes gesagt werden: die von Natur aus hochbegabte Natalija Goncarova entwickelte sich als Künstler und als Persönlichkeit in hohem, womöglich in bestimmendem Maße unter dem zielgerichteten und für sie professionell förderlichen Einfluß von Larionov. Sie erlangten und realisierten eine gewisse Kongenialität und waren einer für den anderen über einen langen Zeitraum das .zweite Ich'. Neben dem eigenen Schaffen wurde das Schaffen einer so großen und eigenständigen Künstlerin wie Natalija Goncarova zur Basis des Larionov'schen Konzepts der Avantgardekunst, zu seinem praktischen Instrument und teilweise auch zu seinem Resultat." 19 Es stimmt schon bedenklich, auf solche Formulierungen zu einem Zeitpunkt zu stoßen, nachdem einerseits zahlreiche Ausstellungen den bedeutenden und eigenständigen Anteil von Künstlerinnen an der russischen Avantgarde wieder ins Bewußtsein gebracht und andererseits die feministische Forschung den männlich konnotierten Künstlermythos als Konstruktion entlarvt hat, der seinen Sinn erst aus der Gegenüberstellung mit einer imaginierten, als minderwertig definierten „weiblichen Kreativität" gewinnt. 20 Eine Erklärung für eine solche Argumentation aus der Feder eines russischen Wissenschaftlers, der der älteren Generation angehört, bietet die Rezeption solcher Autoren der Jahrhundertwende, deren Schriften Jahrzehnte politisch als nicht opportun galten, und die nun unkritisch als Autoritäten angesehen werden. Nicht nur im Kreis der russischen religiösen Philosophen des beginnenden 20. Jahrhunderts war die Geschlechterfrage und ihr Zusammenhang mit dem Künstlerischen ein höchst aktuelles Thema. Provoziert wurde die Diskussion zweifelsohne durch die wachsende Präsenz von Frauen im intellektuellen und künstlerischen Leben Rußlands, die gerade von vielen Intellektuellen als Beunruhigung und Bedrohung empfunden wurde. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Resonanz von Otto Weiningers Buch „Geschlecht und Charakter" (1903). Der Schriftsteller Andrej Belyj vermißt bei Weininger zwar einen methodischen Ansatz und vermutet, dass dieser mit seiner Schrift auch eine persönliche Rechnung mit Frauen begleichen wollte, schließt sich ihm aber in der Definition der Frau als auf den Mann bezogen an: „Wir sagen nur, dass der Blick auf die Frau als auf ein Wesen, das des Schaffens bar sei, der Kritik nicht standhält. Die Frau schafft den Mann nicht nur durch den Akt der Geburt des Geistigen in ihm. Die Frau befruchtet das Schaffen des Genies; man muß sich nur den Einfluß der Frauen auf den Entwicklungsverlauf des Genies von Goethe, Bayron, Dante vergegenwärtigen. Was wäre Dante ohne Beatrice? Goethe hätte ohne die Frauen seinen „Werther" nicht geschrieben. Wagner hätte „Tristan und Isolde" nicht gegeben. Einerseits begegnen wir fast keinen genialen Frauen. Andererseits hätte die Menschheit ohne den Einfluß der Frau auf den Mann nicht jene Genies, auf die sie mit Recht stolz ist und deren Existenz Weininger auf den Gedanken der Überlegenheit des männlichen Prinzips bringt." 21 162

Ada Raev

Ähnliches ist auch bei Petr Uspenskij zu lesen, dessen Überlegungen unter dem Titel „Kunst und Liebe" aus dem Jahr 1911 offensichtlich auf das Eindringen von Frauen in traditionell männlich besetzte Sphären in der Gesellschaft reagieren und von Besorgnis über den Fortgang der bereits begonnenen Rollenverunklärung geprägt sind. Als Gegenreaktion wird auch von Seiten der russischen Denker gern ein biologistisches Modell bemüht, in der Hoffnung, auf diese Art die vermeintlich anthropologisch begründete Gültigkeit der herrschenden Verhältnisse wirkungsvoll und auf „ewig" festzuschreiben: „Jegliches Schaffen [diese und die folgenden Hervorhebungen stammen von P. Uspenskij - A. R.] ist immer eine bewußte oder unbewußte Angelegenheit beider Geschlechter. Eine Seite dieser Tatsache ist uns gut bekannt. Wir wissen, dass die Frau allein keine Kinder haben kann. Die schöpferische Kraft des Mannes ist notwendig. Die Befruchtung ist notwendig. Das wissen wir. Aber wir wissen nicht, dass die ganze schöpferische Tätigkeit des Mannes von der Frau kommt. So wie von der äußeren, physischen Seite - zum Ziel der Geburt von Kindern - der Mann die Frau befruchtet, ihr den Keim neuen Lebens einimpft, so befruchtet von der inneren, geistigen Seite die Frau den Mann, impft ihm den Keim neuer Ideen ein. [...] Aber was wäre, wenn die Frau alle Sümpfe trocken gelegt hätte, die je trocken gelegt wurden, wenn sie alle Bilder gemalt hätte, über die es sich zu sprechen lohnt? Natürlich, niemand wird der Frau das Recht nehmen, Kinder zu haben. Aber warum sollte man ihr die Rolle im Schaffen des Mannes nehmen? Wo doch der Mann für die Frau, wegen und unter dem Einfluß der Frau arbeitet. Und die Frau offenbart sich in seinem Schaffen."22 Die Argumentation Uspenskijs wie auch anderer religiöser Philosophen bleibt widersprüchlich. Neben einer als naturgegeben und ewig definierten Grenzziehung zwischen den kulturellen Positionen der Geschlechter wird deren Ausrichtung, zum Beispiel über die Institution der Ehe, auf ein imaginäres Ganzes hin (das Leben) angemahnt, was den Eindruck von Gleichheit und gegenseitiger Einflußnahme erweckt: „Der Mann und die Frau müssen sich gegenseitig ergänzen und sich gegenseitig ideell stimulieren und so gemeinsam den harmonischen Menschen' bilden, der das Leben schaffen kann. Eine harmonische Ehe wird aus psychologischer Sicht nur eine solche sein, wo eine Seite auf die andere befruchtend einwirkt, indem sie im Maßstab des persönlichen Lebens das Wirken der einen Hälfte des menschlichen Geschlechts auf die 23 andere wiederholt," Die russischen Philosophen der Jahrhundertwende setzten alles daran, in ihren Traktaten die Überlegenheit des „männlichen Schöpfers" zu untermauern und die „männliche Natur" des Geniebegriffes zu definieren, auch wenn sie den westlichen Dualismus zu mildern und in einem Modell des (Männlich-) Androgynen aufgehen zu lassen suchten. Aus den auf Plato zurückgehenden Erosvorstellungen und der dazugehörigen Terminologie, ergänzt durch das schon erwähnte biologistische Vokabular, wird der „männliche Künstler" gerade über eine Paarkonstellation konstituiert, aber eben gebunden an die gleichzeitige Unmöglichkeit des „weiblichen Künstlers" in dieNatalija Goncarova und Michail Larionov

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ser Verbindung. Sergej Bulgakov zum Beispiel, ein Priester und schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts anerkannter Philosoph, geht von folgender Voraussetzung aus: „Das vollständige Bild vom Menschen ist der Mann und die Frau vereint, in der geistig-körperlichen Ehe. Jeder für sich genommen ist ein Halbmensch, stellt allerdings eine selbständige Persönlichkeit, eine Erscheinungsform dar, hat sein geistiges Schicksal. In den Tiefen des Geistes aber bleibt jeder Mensch zweigeschlechtlich, weil sein Leben sonst unmöglich wäre. [...] Das männliche Element, das sonnige, geniale, logische, ist bedeutsam, ihm gehört das Thema, das Motiv, der Impuls, mit ihm ist die Schau der sophiologischen Wesenheiten, die Betrachtung der Ideen verbunden. Doch mit ihm beginnt lediglich der Schöpfungsakt; die Schöpfung selbst wird vom dunklen weiblichen Schoß ausgetragen, der ,Erde der Seele'." 24 Nachdem der Geist als „männlich" und die Natur (hier die Erde) als „weiblich" konnotiert worden sind, wird auf der Ebene der kulturellen Produktion mit der Gegenüberstellung der Begriffe „Genialität" und des „Talentes" noch einmal eine wertende Unterscheidung vorgenommen und das „Weibliche" damit ein zweites Mal als das qualitativ Minderwertige ausgewiesen. Die Metapher von der „geistigen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen" gewährt nur auf den ersten Blick die Chance der Gleichwertigkeit beider Geschlechter, denn die zur Erklärung der Metapher herangezogenen Kategorien der „Genialität" und des „Talentes" sind kategorisch (nicht erst von Bulgakov) in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt und werden in der weiteren Argumentation „dem Mann" und „der Frau" zugeordnet, so dass die zuvor postulierte „Zweigeschlechtlichkeit" des Schaffens wieder einseitig und damit endgültig zugunsten des Mannes uminterpretiert wird. „Genialität" definiert Bulgakov als „schöpferische Initiative, als Aneignung neuer Themen, Aufgaben, Möglichkeiten", als „geistigen Flug zu einem .klugen Ort', w o man ewige Ideen schaut", als „Blitz, der die Kruste des Seins durchdringt". Die Geschlechterproblematik beschäftigte auch Nikolaj Berdjaev in seinem 1916 verfassten umfangreichen Aufsatz „Smysl tvorcestva" („Der Sinn des Schaffens"). Darin sind verschiedene philosophische Konzepte (von Plato über Jakob Boehme und Kant bis Vladimir Solov'ev) in einem gleichsam nahtlosen, beschwörenden Text miteinander verwoben. Schöpferische Tätigkeit, insbesondere das künstlerische Schaffen, erscheint bei ihm als moralische Pflicht des Menschen und als Möglichkeit für den Anbruch einer neuen, schöpferischen religiösen Epoche. Mit dem Verweis auf nicht nur anthropologische, sondern kosmische Gegebenheiten hinsichtlich des Geschlechts werden Männern und Frauen auch von ihm höchst unterschiedliche Ausgangspositionen zugeschrieben, die für die Frauen von vornherein keinen Handlungsspielraum zulassen: „Das Geschlecht ist die Quelle des Seins; die geschlechtliche Polarität ist die Grundlage des Schaffens. [...] W o sich der Mensch hinwendet, überall hin folgt ihm die Energie des Geschlechts und drückt jeder seiner Handlung ihren Stempel auf. Der Gesichtspunkt des Geschlechtes ist in allem enthalten. Und in der Erkenntnis gibt es 164

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die männliche Aktivität und die weibliche Passivität. [...] In der Weltordnung ist das Männliche eben vornehmlich die anthropologische, die menschliche Komponente, das Weibliche - die natürliche, die kosmische Komponente. Der Mann-Mensch ist über die Frau mit der Natur, mit dem Kosmos verbunden, außerhalb des Weiblichen wäre er von der Seele der Welt, von der Mutter-Erde abgeschnitten. Die Frau wäre außerhalb der Verbindung zum Mann nicht eigentlich ein Mensch, in ihr ist das dunkle, naturhafte Element, das unpersönliche und unbewußte, zu stark. Im weiblichen Element, wenn es vom männlichen getrennt ist, gibt es keine Persönlichkeit." 25 Man kann sich unschwer vorstellen, was für ein Druck von derartigen Vorstellungen, die ja auch im Alltagsbewußtsein der Zeitgenossinnen tief verankert waren und, wie oben gezeigt, eine bis heute andauernde Langzeitwirkung entfalten, auf junge, künstlerisch tätige Menschen beiderlei Geschlechts ausging, insbesondere dann, wenn sie sich zum Zusammenleben und damit für das Modell eines Künstlerpaares entschlossen. 26 Ekaterina Djogot nimmt in ihrem Beitrag zum Katalog der vom GuggenheimMuseum organisierten Ausstellung „Amazonen der Avantgarde" das Beispiel Larionov/Goncarova zum Anlaß, für einen wissenschaftlich produktiven Ansatz im Umgang mit Künstlerpartnerschaften zu plädieren. Sie charakterisiert diese Form des Zusammenlebens und -arbeitens als ein höchst kompliziertes Gefüge, das jedem der Partner unterschiedliche Rollen, Aktivität und Passivität, ermöglicht und abverlangt, wenn die Gemeinschaft für beide Seiten produktiv sein soll. Die soziale Herkunft als Fundament der Beziehungen, so Djogot, trug im Falle von Larionov/Goncarova dazu bei, das „normale" hierarchische Verhältnis, wie es in einer zweigeschlechtlichen Beziehung üblich war, zu neutralisieren: „Dank ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit und gehobenen sozialen Stellung (sie gehörte dem alten Adel an) konnte sich Gontscharowa in ihrer Beziehung zu Larionow (dessen Herkunft weitaus bescheidener war) von Anfang an als Gleichberechtigte verhalten." 27 Möglicherweise, so möchte man hinzufügen, wurde diese Konstellation noch dadurch begünstigt, dass es eben nicht zu einer Eheschließung kam und somit beide Partner weder äußerlich, noch innerlich unter dem Druck standen, sich in eine oder mehrere der gängigen geschlechtsspezifischen Rollen des Ernährers, der immer zur Verfügung stehenden Ehefrau und Hausfrau (die Vater- und Mutterrollen entfielen, da Larionov und Goncarova keine Kinder hatten) zu begeben. Für die Beschreibung der Balance in künstlerischer Hinsicht kommt man nicht mit wenigen Schlagworten aus, denn Larionov und Goncarova realisierten jede(r) auf ihre Art, nicht selten gemeinsam, aber auch arbeitsteilig, das der Avantgardegeneration eigene Kunstverständnis, in dem Werk, Theorie und ästhetische Aktion zusammengehören (Abb. 2). Solch gleichsam symbiotisches Agieren Schloß Konflikte und das Wirksamwerden von verbreiteten Klischees nicht aus, wie man aus Sekundärquellen zuweilen erfahren kann. Aber erst die Betrachtung der einzelnen künstlerischen Aktivitäten im sozialen und ästhetischen Gesamtzusammenhang schafft die Voraussetzungen für eine angemessene Darstellung

Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Abb. 2 Ausschnitt aus der Zeitschrift „Teatr ν karikaturach" (Moskva, 21. September 1913, Nr. 3, S. 9), in der unter der Überschrift „Grimassen in der Kunst" Fotos, die Natalija Goncarova und Michail Larionov in der Maske von Rollen für futuristische Stücke zeigen, nebeneinander abgebildet sind

und Einschätzung eines Künstlerpaares und der Spielräume für beide Partner. Dazu heißt es bei Ekaterina Djogot: „Die Rollen in Gontscharowas und Larionows künstlerischer Allianz waren klar definiert. In Rußland war Larionow eine Legende in Künstlerkreisen, doch Gontscharowa hatte größeren Erfolg auf dem Kunstmarkt und in den Medien. Sie war eine unermüdliche .Bildermacherin' und zeigte auf ihrer Moskauer Retrospektive im Jahre 1913 fast 800 Werke, doch Larionow hielt ihr vor, nicht hart genug zu arbeiten. Larionow war als Maler weniger arbeitsbesessen, denn er übernahm im Gegensatz zu Gontscharowa auch andere wichtige Rollen, etwa die des Ausstellungsorganisators, Theoretikers (mit Hilfe von Ilja Sdanewitsch) und Erfinders radikaler Ideen (z.B. Rayonismus, rayonistisches Theater und Gesichtsmalerei). Der Imperativ der Theorie spornte Larionow nicht nur dazu an, im Zusammenschluß mit talentierten Studenten wie Michail Le Dantui als Pionier einer neuen künstlerischen Bewegung aufzutreten, sondern machte ihn auch zum Entdecker objektiv existierender Tendenzen, der seine Erkenntnisse in den Werken naiver Künstler wie dem Georgier Niko Pirosma166

Ada Raev

naschwili bestätigt sah. Mit ihrem leidenschaftlichen Individualismus hatte Gontscharowa einiges mit diesen Künstlern gemeinsam: Als Larionows intuitive Alliierte war sie nicht unbedingt eine Adeptin seiner Theorien." 28 Eher das Gegenteil scheint der Fall gewesen zu sein. 1912 tat sie in einem offenen Brief ihre persönliche Meinung zum Verhältnis von Theorie und Praxis kund: „Es ist grauenhaft, wenn in der Kunst die Hervorbringung von Theorien an die Stelle schöpferischer Arbeit tritt. Ich behaupte, dass die genialen Kunstschaffenden nicht Theorien als Theorien hervorbrachten, sondern Dinge schufen, auf deren Grundlage sie Theorien konstruierten, die dann wiederum zum Ausgangspunkt meist nicht sehr hochwertiger Werke wurden." 29 Sie wandte sich damit nicht gegen die Theoriebildung als solche (trat sie doch auch selbst wiederholt mit Artikeln an die Öffentlichkeit), plädierte aber für eine aus ihrer Sicht unerläßliche Rückkoppelung von theoretischen Postulaten und bildkünstlerischer Praxis.

Künstlerkolleginnen und Kritiker über Natalija Goncarova und Michail Larionov als Künstlerpaar

In den Erinnerungen von Künstlerkolleginnen figurieren Larionov und Goncarova als gegensätzliche Charaktere: er - als der dynamische und leutselige Hans-Dampfin-allen-Gassen, als temperamentvoller, sprühender und begeisterungsfähiger Gesprächspartner, zu Scherzen aufgelegt, als passionierter Sammler, der sinnliche Genüsse wie etwa gutes Essen zu schätzen wußte; sie - als eine eher zurückhaltende, strenge Erscheinung, die aber keinesfalls den Eindruck erweckte, als sei sie, dem konventionellen Rollenverständnis entsprechend, nur der Schatten ihres Gefährten, dazu war die von ihr ausgehende Konzentration zu groß, die von vielen erwähnt wird. Die Tatsache, es mit einem Künstlerpaar (Abb. 3 und 4) zu tun zu haben, wird von den Memoirenschreiberinnen als „normal" angesehen, doch läßt sich in der Art und der Ausführlichkeit der Schilderung häufig eine vom Geschlecht des Verfassers/ der Verfasserin abhängige Fixierung auf einen der beiden Partner feststellen. Diese ist um so stärker ausgeprägt, wenn es sich um Begebenheiten aus der Kindheit handelt. Für den männlichen Schreiber steht Larionov im Vordergrund, während sich die Schreiberin in das Bild von Goncarova versenkt, wobei die Suche nach Vorbildern in beiden Fällen ganz offensichtlich das Interesse gelenkt hat. Alternierende Zitate aus den Erinnerungen des Malers und Graphikers Sergej Romanovic (1894— 1968) und der Malerin und Bühnenbildnerin Valentina Chodasevic (1894-1970) sollen dies zeigen. Sergej Romanovic begegnete Larionov/Goncarova zum ersten Mal im Frühjahr 1906 anläßlich eines Besuches des Künstlerpaares bei Larionovs Mutter (wohl in Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Abb. 3

Michail Larionov, um 1913. Fotografie

Tiraspol, der Heimatstadt Larionovs), die mit der Mutter des Autors in einem Hauswohnte: „Ich, damals ein zwölfjähriger Junge, wußte, dass ich richtige Künstler sehen würde. Auf dem Hof spielte ein Leierkasten. Als der Leierkastenmann, den Goncarova gezeichnet hatte, ging, blieben sie noch ein Weilchen auf der Terrasse. Uber den Hof liefen Gänse, und der Maler betrachtete sie mit konzentrierter Aufmerksamkeit, die mich verwunderte. Er war groß gewachsen, gut gebaut, schön gekleidet und hatte entfernte Ähnlichkeit mit ägyptischen Figuren auf alten Darstellungen: in normaler Position standen seine Füße meist parallel, und die Hände beugten sich beim Gestikulieren im rechten Winkel. Er war blond, mit hellen grau-blauen Augen. Der Blick seiner manchmal wie durchsichtig scheinenden Augen hatte die Eigenschaft, sich gleichsam zu verdunkeln oder aufzuhellen. Wenn sein Lehrer sich an sein Außeres erinnerte, pflegte er zu sagen: ,Er hatte Augen wie hellblaues Feuer.'" 3 0 Uber Goncarovas Anwesenheit fällt kein weiteres Wort. 168

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Abb. 4 Natalija Goncarova um 1913 Fotografie

Valentina Chodasevic war noch jünger, als sie Larionov und Goncarova während eines Sommeraufenthaltes mit den Eltern kennenlernte. Ihre Schilderung ist ausführlicher, bildhafter, und beleuchtet auch die Atmosphäre, in der der Besuch stattfindet. Vor dem Eintreffen der beiden Gäste hört das Mädchen ein Gespräch, das nicht für ihre Ohren bestimmt war, später beobachtet sie sehr genau das Verhältnis der beiden Künstler zueinander: „Mama fragt: ,Ist sie seine Frau?'. Der Vater: ,Ich weiß nicht - das ist nicht wichtig, sie leben wohl zusammen. Beide sind sehr begabt - sie stammt von denselben Goncarovs ab wie Puskins Frau.' [...] Wie interessant! Eine junge Künstlerin! Sogar eine Natalija Goncarova! [...] Beim Mittagessen betrachtete ich heimlich die Künstler. Beide sind sie jung, hochgewachsen. Er - breitschultrig, hellblond, kleine, helle, fröhliche Augen, die sich beim Lachen in schlaue Schlitz-Striche verwandeln. Er ist laut, lispelt ein wenig und unterbricht sich selbst, kommt den Gedanken mit Worten zuvor. Er warf sich plötzlich auf jemanden, indem er ein Wort aufgriff, und wird nicht mehr von ihm ablassen! Er erläutert dem Gesprächspartner, oder, genauer gesagt, dem Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Zuhörer, egal ob dieser es wünscht oder nicht, seine neuesten Ansichten über die Malerei. Manchmal wollte der Vater etwas einwenden, aber ... wie bloß! Uber ihn ergoß sich ein solcher Schwall an Uberzeugungen, dass er, ohne zuzustimmen, aufgab... Es war ohnehin unmöglich, Larionov umzustimmen. Plötzlich, als ob er zu sich kommt, schaut er Goncarova ernst und fragend an, verstummt für eine Sekunde, und wieder ein Wortbombardement! Sie bewegt ein wenig die Brauen und verfolgt aufmerksam und geduldig sein Tun." 3 1 Im Folgenden konzentriert sich die Erzählerin, ihrer Erinnerung folgend, ganz auf das Außere der Künstlerin: „... schmal in den Hüften, schlank, ohne Ziererei, und alles - im Ernst. Ein kleiner Kopf auf einem hohen Hals. Das Gesicht - ohne Kleinigkeiten, sehr genau gezeichnet. Die Mimik karg, die Haare schwarz oder fast, gerade gescheitelt, straff am Kopf zusammengenommen, den Hinterkopf nachzeichnend, und unten, am Hals, zu einem kleinen, fast unsichtbaren Knoten geschlungen. Die Brauen sehr schwarz, schmal, ruhig. Das Oval des Gesichtes klar. Eine kleine Nase mit entschieden geschnittenen Nüstern. Die Augen - hellbraun, nicht groß, aufmerksam blickend, von den schwarzen Fransen der Wimpern gerahmt. Der Mund ist nicht klein. Die gerade Linie des Zusammentreffens von Ober- und Unterlippe verleiht einen Ausdruck der Strenge. Die Mundwinkel - jugendlich gerundet und nach oben gezogen. Nichts Schmückendes: weder in der Kosmetik, noch in der Kleidung. Die Haut ist glatt, rein. Sie ist in allem sehr russisch. Schön würde man sie nicht nennen, aber ... Argunov oder Levickij hätten sie wunderbar gemalt. Gekleidet ist sie nicht modisch, sehr schlicht und elegant, so wie es sich eine Frau mit guter Figur erlauben kann." 3 2 Bei der anschließenden Bootspartie auf dem nahe gelegenen Teich wiederholt sich die Konstellation, die das Mädchen beim Mittagessen beobachtet hat. Der am Steuer sitzende Larionov redet ohne Unterlaß, wendet sich ständig an Goncarova mit Ausrufen der Begeisterung: „Ich sitze neben Goncarova auf der Mittelbank und bin glücklich - so sehr gefällt mir Natalija Sergeevna. Es schien, als würde sie nach Reinheit duften. Sprechen tut sie nicht schnell, nachdenklich, mit bestätigender Intonation, mit einer ziemlich tiefen, matten Stimme. In ihr ist, wie in den Ikonen - Strenge." 33 Diese Assoziation von Valentina Chodasevic ist ganz offensichtlich mehr als ein stilvolles Sprachbild, denn es wird unabhängig von ihr auch von anderen Autorinnen verwendet, die über Goncarova geschrieben haben. Zwar stand die Einhaltung der Riten des orthodoxen Glaubens für die Künstlerin im Alltagsleben nie im Vordergrund, er scheint ihr aber ein auch bei anderen russischen Künstlerinnen ihrer Generation zu beobachtendes Ethos der völligen Hingabe an eben die Kunst vermittelt und ermöglicht zu haben, das sowohl ihren Habitus als auch ihre künstlerischen Bezugspunkte (Ikonenmalerei, bäuerliche Volkskunst) prägte. Umgekehrt könnte man formulieren, dass auch Larionovs charakterlich bedingtes ungebändigtes Gebaren durchaus etwas gemeinsam hat mit der Rhetorik seiner Bilder aus der städtischen Provinz. Da es sich in beiden Fällen um traditionell männliche und weibliche Verhaltensmuster handelt (wenn man die 170

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soziale Konnotierung einmal beiseite läßt), verwundert es nicht, dass diese Polarisierung bei der Wahrnehmung dieses Künstlerpaares als „normal" empfunden wurde. Nach einer kindlichen, aber zärtlichen Szene der Annäherung - Valentina Chodasevic berührt im kühlen Wasser die armbandgeschmückte Hand der neuen Bekannten - fügt sich der Gesamteindruck der Begegnung, aus der eine Freundschaft erwachsen sollte: „Mir gefielen beide, aber es zog mich mehr zu Goncarova - sie ist doch eine Künstlerin." 3 4 Sowohl Sergej Romanovic als auch Valentina Chodasevic lernten das Künstlerpaar, ihr Atelier und die Arbeitsbedingungen dann näher kennen. Dem inzwischen 18-jährigen Kunststudenten blieb folgende Situation in Erinnerung, die die frühere Erfahrung bestätigte: „Wir [S. Romanovic und ein Freund - A. R.] kamen und brachten jeder eine Skizze mit, die wir im Aleksandr-Garten angefertigt hatten. Natürlich waren wir sehr aufgeregt, aber das ging schnell vorbei - so herzlich, so einfach und gesellig verhielt sich uns gegenüber dieser dreißigjährige, arbeitserfahrene Künstler. [...] Besonders eindringlich ermunterte er uns, Skizzen zu machen. Zur Bestätigung seiner Meinung wandte er sich an Natalija Goncarova, fragte: ,Es ist doch so, Natalin'ka, nicht wahr?' Und für gewöhnlich wurde seine Meinung entweder mit einem Kopfnikken oder mit wenigen Worten bestätigt." 35 Es folgten Besuche im Atelier des Künstlerpaares, das sich im Haus der Goncarovs auf der Dreiteichgasse (Trechprudnyj pereulok) befand: „Die Wohnung bestand aus drei Zimmern, wenn man auch die Küche dazuzählt, die manchmal auch Natalija Goncarova als Atelier diente. Das andere Zimmer war das Schlafzimmer, das dritte, das hellste und größte, war das Atelier. Die ganze Wand entlang zog sich in bestimmter Höhe ein hohes Regal, in dem mit Bilder wie in einem Bücherregal mit dem Rahmen zum Betrachter standen. Der Fußboden war mit Bastmatten ausgelegt. Möbel gab es mit Ausnahme eines Tisches und einiger Stühle nicht." 36 Im Winter 1912/13, als die Publikation der oben erwähnten Doppelmonografie „Natalija Goncarova. Michail Larionov" und das Erscheinen des Manifestes „Die Rayonisten und die Zukünftler" bevorstand, für die Larionov auch selbst schrieb, wiederholte sich folgende Szene: „Manchmal schickte ihn Natalija Goncarova, die seinen geselligen Charakter und seine Fähigkeit, sich für den Gesprächspartner zu begeistern, kannte, nach oben, in die Wohnung der Goncarovs, damit er sich sammeln und das für die Bücher Angedachte aufschreiben konnte." 3 7 Goncarova wachte also neben ihrer eigenen Arbeit, die der Autor mit keinem Wort erwähnt, über die Realisierung der beide betreffenden Projekte. Dafür beeilt er sich, die Mitarbeit Larionovs an den von Sergej Djagilev Goncarova übertragenen Dekorationen für die Ballett-Oper „Der goldene Hahn" von Nikolaj Rimskij-Korsakov, die 1914 in Paris unter großem Beifall uraufgeführt wurde, möglichst aufzuwerten und den Erfolg Goncarovas auf diese Weise Larionovs Schaffen gleichsam einzuverleiben: „So begann die Zusammenarbeit Larionovs und Goncarovas mit Djagilev. Sogar in der ersten Inszenierung war seine Rolle nicht nur die des Organisators, sondern auch des

Natalija Goncarova und Michail Larionov

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nächsten Ratgebers und Mitarbeiters. Er war nicht in der Lage, wenn er mit einer interessanten Sache in Berührung kam, sich ihr nicht mit ganzer Seele hinzugeben." 3 8 Die aus einer Familie mit großzügigen finanziellen Mitteln stammende Valentina Chodasevic erlebte das Haus aus roten Ziegeln in der Dreiteichgasse sowohl von der Ausstattung als auch von der Präsenz seiner beiden Bewohnerinnen her etwas anders: „Es gab kein Atelier - nur ein leeres Zimmer in einer düsteren Wohnung. Es verwunderte, dass es nur eine Staffelei gab. Darauf stand für gewöhnlich - eine Arbeit von Goncarova. Ich erinnere mich an Larionov, der mit einem Pinsel in der Hand quer durch das ganze Zimmer auf eine Leinwand zustürzte, die nachlässig zurechtgeschnitten und direkt an die Wand mit den verblichenen und farbverschmierten Tapeten gepinnt war. Ich setze mich auf einen Hocker, etwas entfernt, und schaue schweigend zu. Von Zeit zu Zeit erinnert sich Michail Fedorovic an mich und sagt: ,Nun, schau her, schau, und lerne... Gefällt es dir? Ist es gut?' Die Türen aus dem Zimmer führen in einen Vorraum und in einen Korridor, wohin Natalija Sergeevna geht und mit heißem Wasser und Tee zurückkommt. Zum Teetrinken und für Leckereien gibt es einen kleinen Tisch, aber häufig setzten sich die zu Besuch kommenden Freunde auf ein Stück Papier auf den Fußboden. Teller sind wenige vorhanden, es gibt Gläser und lustige farbige Tassen. Hier herrscht die Kunst - eine freche, wirkliche, junge, und ihr gelten alle Gedanken, Gespräche, Dispute." 3 9 Als unvoreingenommener Beobachter, was die Paarbeziehung angeht, erweist sich in seinen Erinnerungen der Tänzer und Choreograph Michail Fokin (1880-1942), der ebenso wie Goncarova und Larionov einen nicht unbedeutenden Anteil an den internationalen Erfolgen der berühmten „Ballets Russes" unter der Leitung von Sergej Djagilev hatte. Zwar stand er Goncarova, der 1913 der Ruf vorauseilte, eine wilde Futuristin zu sein, als Vertreter eines exotisch gefärbten Ästhetizismus zunächst skeptisch gegenüber, als sich herausstellte, dass sie die Ausstattung der Ballett-Oper „Der goldene Hahn" übernehmen sollte. Kein Problem ergab sich dagegen für ihn aus dem Umstand, dass sie die Ausführung der Dekorationen in Zusammenarbeit mit Michail Larionov und anderen Künstlern realisierte. Sowohl während eines ersten Atelierbesuches gemeinsam mit seiner Frau, Sergej Djagilev und Aleksandr Benua (Benois), der die Künstlerin vorgeschlagen hatte, als auch im Verlauf der Produktion der Dekorationen nahm Fokin Goncarova und Larionov selbstverständlich als Künstlerpaar im Sinne einer kreativen Gemeinschaft aus gleichgewichtigen Partnern wahr. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Michail Fokin und Vera Fokina als Tanzpaar nicht selten gemeinsam auftraten und erst der volle Einsatz beider Partner das Gelingen der Kunstprodukte, in ihrem Falle der Pas-de-Deux, bewirkte. Jedenfalls erlebte er Goncarova und Larionov als zwei Individualitäten mit einem gemeinsamen Nenner, der Kunst: „Ich kann mich noch an den Eindruck erinnern, den die Gontscharowa und Larionow auf mich machten. Nach all den schrecklichen Dingen, die wir über die Moskauer Futuristen gehört hatten, kam ich in die Gesellschaft netter, bescheidener und ernst172

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Abb. 5 Natalija Goncarova und Michail Larionov. Fotografie. [Auf der Rückseite befindet sich die Aufschrift: „N. S . Goncarova und M. F. Larionov in dem Raum, w o die Dekorationen für das Opernballett ,Der goldene Hahn' von Nikolaj Rimskij-Korsakov gemalt wurden. 1914"]

hafter Menschen. Ich entsinne mich, wie liebevoll Larionow von der Schönheit der japanischen Kunst sprach, mit der er sich zu dieser Zeit beschäftigte. Ich entsinne mich ebenfalls, wie ernsthaft die Gontscharowa jedes Detail der Aufführung in Erwägung zog. Wieviel Besonnenheit, Konzentration und Ehrlichkeit lag in allem, was sie sprach. Von ihren Bildern war ich zunächst erschüttert. [...] Aber allmählich fand ich Geschmack an der Malerei dieser schmalen, anregenden Frau. [...] Ich fuhr in der festen Überzeugung davon, dass die Gontscharowa etwas Unerwartetes, Farblich-Schönes, zutiefst Nationales und zugleich Märchenhaftes gestalten würde." 4 0 An der nächsten Arbeitsphase beeindruckte Michail Fokin gerade das Zusammenwirken beider Maler (Abb. 5), die gemeinsame völlige Hingabe an die Aufgabe: „Die Gontscharowa fertigte nicht nur schöne Bühnenbilder und Kostümzeichnungen an, sie arbeitete auch mit einer unwahrscheinlichen, unvorstellbaren Liebe am .Goldenen Hahn'. Rührend war es mit anzusehen, wie sie zusammen mit Larionow eigenhändig alle Requisiten bemalte. Jeder Gegenstand war ein Kunstwerk. Und wie umfangreich war diese Arbeit. Als ich den Enthusiasmus dieser beiden Künstler sah, mußte ich über meine anfängliche Angst und über das Gerücht von den fliegenden Wasserkaraffen lachen." 4 1 Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Die Dichterin Marina Cvetaeva (1892-1941), deren Prosatexte immer wieder um die Frage nach den Triebkräften künstlerischer Kreativität und der (Un-) Möglichkeit von Paaren kreisen, verfaßte 1929 einen umfangreichen Essay mit dem Titel „Natalija Goncarova (Zizn' i tvorcestvo)" [„Natalija Gontscharowa (Leben und Werk)"], der dank der Bemühungen von Fritz Mierau um Literatur und Kunst der russischen und sowjetischen Avantgarde auch in deutscher Ubersetzung vorliegt. 4 2 Der Text fußt auf Gesprächen mit der Künstlerin, 4 3 spiegelt aber gleichzeitig auch die Auffassungen der Egozentrikerin Cvetaeva von künstlerischem Schaffen. Was die Dichterin an der Malerin, die zunächst ein naturwissenschaftliches Studium begann und dann eigentlich Bildhauerin werden wollte, vor allem faszinierte und sie, die in ihrer Kindheit im Nachbarhaus der elf Jahre älteren Goncarova in der Dreiteichgasse in Moskau gewohnt hatte, ihr besonders nahe erscheinen ließ, war die unbedingte, gleichsam religiöse Hingabe an das Kunstschaffen als Lebensinhalt, der alles andere in den Hintergrund treten ließ. „Ich liebte eines nur - tätig sein", 44 läßt Cvetaeva ihre Wahlverwandte Goncarova sagen und fügt von sich hinzu: „Das ist in aller Bescheidenheit und Direktheit höchstes Bekenntnis - zur Berufung." 4 5 Auf mehreren Dutzend vorausgegangenen Seiten kann man über die Vorfahren von Natalija Goncarova, darunter über die namensgleiche schöne Ehefrau von Aleksandr Puskin lesen, aber auch über die männliche Linie der Familie, die sich durch aufklärerische Gesinnung und Tatkraft für Rußlands Weg nach Europa auszeichne (nach ihrem Schlage, der männlichen Linie, sei die Künstlerin geraten!), ehe plötzlich der Satz kommt: „Über Gontscharowa zu sprechen, ohne über Larionow zu sprechen, ist unmöglich. Zum ersten und zum wesentlichen: Larionow war der erste, der Gontscharowa sagte, dass sie Malerin ist, der erste, der ihr die Augen öffnete, nicht für die Natur, die sie sah, sondern für diese ihre eigenen Augen. ,Sie haben Augen für die Farben, und Sie beschäftigen sich mit der Form. Offnen Sie die Augen für die eigenen Augen.'" 4 6 Bei flüchtigem Lesen mag man diese Passage als den Formulierungen von Evgenij Kovtun sehr ähnlich empfinden, der Cvetaevas Text natürlich gekannt und selbst zitiert hat. Der Unterschied ist fein, aber entscheidend, und es handelt sich eben nicht um eine Paraphrasierung, sondern um eine unterschwellige, geschlechtsspezifische Diskreditierung Goncarovas durch Kovtun. In seiner Formulierung erscheint der männliche Künstler gleich in zweifacher Hinsicht als der entscheidende Part: Er (der Juwelier) vollzieht als intelligible Instanz durch seine Schöpferkraft die Erweckung der unbewußten Natur (des ungeschliffenen Steins, der bildnerischen Begabung der Noch-nicht-Künstlerin) zum kulturellen Produkt (zum funkelnden Diamanten, zur Künstlerin), das sich auch im weiteren nur durch sein Zutun, durch seine Führung auf dieser kulturellen Ebene behaupten kann. Cvetaevas Formulierung ist dagegen ganz anders gerichtet. Bei ihr erscheint Goncarova von vornherein als eigenständige, schöpferische Persönlichkeit, die ihren eigenen Blick hat (eine im europäischen Künstlermythos männlich konnotierte Eigenschaft, oder besser gesagt: ein Privileg des männlichen 1 74

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Künstlers, des männlichen Subjekts überhaupt). Larionov befördert in Cvetaevas Auslegung Goncarovas Selbsterkenntnis und vermittelt ihr nicht etwa fremdes Wissen. Als Bestätigung ihrer Einschätzung führt Cvetaeva eine Episode aus der ersten Zeit der Bekanntschaft der beiden Kunststudierenden an, jene Tage, nachdem Goncarova den Rat von Larionov gehört hatte, sich der Malerei zuzuwenden und erste Versuche beiden wenig befriedigend erschienen: „Und da - Krach und Streit zwischen den beiden Künstlern, die sich drei Tage lang nicht sehen - vergessen wir nicht, wie viel das ist am Anfang von Freundschaft und Leben. - ,Ich komme an - die ganze Wand voller Wunder. - ,Wer hat das gemacht?' - ,Ich . . . ' ' Seit dieser Zeit - ging es. Magische drei Tage, da Gontscharowa, niemanden erwartend, auf nichts zählend, aus Verbitterung, aus Zorn - das Herz raste ihr! - wie auf Bestellung auf einmal begriff, worum es geht, wie auf Bestellung auf einmal eine ganze Wand füllt mit dem ersten eigenen Ich. (Eine andere hätte dagesessen und geheult.) Der Freundschaft verpflichtet für das Begreifen ihrer selbst als Malerin, dem Streit - für die erste malerische Tat." 47 Cvetaeva selbst hat ihr ganzes Leben lang zu anderen kreativen Menschen beiderlei Geschlechts immer wieder äußerst spannungsvolle Beziehungen aufgebaut, in denen sowohl zärtlich und überschwänglich empfundene Ubereinstimmung als auch unerbittlicher Widerspruch ihren Platz hatten. Aus ihrer persönlichen Überzeugung und Erfahrung heraus erscheint ihr die überlieferte erste Äußerung einer Streitkultur als verläßliches Unterpfand für die Tragfähigkeit einer Beziehung, in deren Zentrum wie bei Larionov und Goncarova die Kunst stand. Cvetaeva beschreibt sie auch im weiteren als ein symbiotisches Modell, in dem es a priori keine „Führungsrolle", dafür aber ein ständiges Aufeinanderbezogensein beider Partner gibt. Sie läßt Goncarova sagen: „Seitdem wir uns begegnet waren, Larionow und ich, hatten wir uns nicht mehr getrennt. Einen Monat, zwei - das ist viel... In der Sommerzeit gingen wir verschiedene Wege, er zu sich, aufs Dorf, ich quer durch Rußland." 4 8 Die zum Schutz ihrer Kreativität phasenweise geradezu einsiedlerisch lebende und dabei Freunde vernachlässigende Cvetaeva, die gleichzeitig bereit war, sich besinnungslos in Liebesabenteuer zu stürzen, hatte alles andere im Sinn, als die Symbiose von Larionov und Goncarova als biedermeierliche Idylle der Zweisamkeit zu feiern. Da sie selbst kaum etwas mehr fürchtete als Einengung und die Aufgabe der eigenen Persönlichkeit in Beziehung zu anderen, ihr nahestehenden Menschen, verleiht sie den erwähnten getrennten Sommeraufenthalten der beiden Künstler programmatische Bedeutung: „Gontscharowa und Larionow, die sich nie trennten, gehen im Sommer verschiedene Wege, weil der Sommer - Fang heißt, und auf Fang geht es getrennt. Damit dann etwas ist, das man teilen kann. .Niemals im Leben' und im gleichen Atemzug: ,im Sommer trennten wir uns'. Ja, denn der Sommer ist nicht das Leben, steht außerhalb des Lebens, wird nicht gezählt, und er allein zählt. Nun, so sonderbar das sein mag: sie leben zusammen in Einsiedelei und nomadisieren getrennt." 49 Im Unterschied zu Kovtun, der seine zunächst Gleichheit versprechende Metapher von der „zweistelligen Formel" wenige Zeilen weiter bereits wieder in ein hierarchi-

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sches Verhältnis zurückführt, ist Cvetaeva mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit darum bemüht, im Falle von Goncarova und Larionov ein komplex ausbalanciertes Modell von Paarigkeit zu konstruieren. Der Umstand, dass im Gerede der Zeitgenossen mal er, mal sie als der/die Größere genannt werden, ist ihr nur Bestätigung für ihre Gleichgewichtigkeit. Als Voraussetzungen nennt sie die unbedingte Leidenschaft für und Hingabe an die Kunst, die Gleichrangigkeit der unterschiedlichen Begabungen und die Bereitschaft und persönliche Größe, den anderen in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren, zu verstehen und sogar als Maßstab zu nehmen. Gelassen läßt Cvetaeva Goncarova über ihren künstlerischen Gefährten sagen: „Larionow, das ist mein Gewissen in der Arbeit, mein Kammerton. Es gibt Kinder, die von Geburt an alles wissen. Prüfstein für alles Falsche. Wir sind sehr [Hervorhebung von Goncarova/Cvetaeva - A. R.] verschieden, aber er sieht mich aus mir heraus, nicht aus sich heraus. So wie ich - ihn." 50 In diesem symbiotischen Sinne könnte man auch das heute zur Sammlung Ludwig gehörende Bildnis deuten, das Natalija Goncarova 1913 von Michail Larionov gemalt

Abb. 6 Natalija Goncarova Porträt Michail Larionov 1913 Öl auf Leinwand 105X78 cm Köln, Sammlung Ludwig 176

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hat (Abb. 6). Stilistisch changiert es zwischen neoprimitivistischer Formzuspitzung und Zeichenhaftigkeit einerseits und jener Auflösung des Gegenständlichen, die die gemalten farbigen Lichtstrahlen der rayonistischen Methode mit sich bringen. Daraus ergibt sich im Sinne des Cvetaeva-Zitats eine faszinierende Mehrdeutigkeit des Motivs, das auch als verkapptes Doppelbildnis lesbar ist. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man nämlich links noch die Andeutung eines zweiten Profils mit schnellem Blick und hochgezogener Braue. Und schon schiebt sich neben die kräftige Männerbrust mit der silbrig-dezenten, aber dennoch kühn gemusterten Krawatte eine hochgezogene Damenschulter mit einem gefältelten Ärmel, steht ein gefiederter Damenhut im Dialog mit dem schwarzen Herrenhut. Aus dem magischen „Auge in Auge" fügt sich für einen Moment ein drittes Gesicht, ehe in der Wahrnehmung des Betrachters beide wieder auseinander rücken und die Physiognomie des Porträtierten (Larionovs) in den Vordergrund rückt, ehe das Vexierspiel von vorn beginnt. Als Cvetaeva Goncarova und Larionov persönlich kennenlernte, war ihre Liebesbeziehung längst zuende, doch sprachen beide mit Hochachtung voneinander - was die Kunst angeht; das Private wurde nicht kommentiert, überhaupt gar nicht angesprochen. Larionov berichtet Cvetaeva strahlend von der Eröffnung einer Ausstellung, wo Goncarovas Arbeiten hervorragend piaziert waren, während seine eigenen aufgrund der weniger günstigen Hängung kaum zur Geltung kamen. Sein Resümee: „Na ja, aber - Gontscharowa !..." 51 Äußerungen anderer Memoirenschreiber lassen erkennen, dass das keine zur Schau gestellte Pose der Selbstlosigkeit, sondern von Anfang an Larionovs Verhältnis zu Goncarovas Arbeiten gewesen ist, die er immer bereit war zu fördern, sei es durch Gespräche, durch organisatorische Aktivitäten, durch seine Fähigkeit, ihr Ubergewicht in der Produktion von Bildern auszuhalten. Angesichts dieser Erfahrung ist dann die oben zitierte Briefstelle von Goncarova, wo sie schreibt, sie wisse auch ohne seinen Hinweis, dass sie als Künstlerin sein Produkt sei, nicht so sehr eine bei Frauen häufig anzutreffende Neigung zur Selbstminderung, sondern die Anerkennung der langjährigen Loyalität und Unterstützung durch einen als gleichwertig erkannten Künstler. Das bis heute andauernde Schweigen über die intime Beziehung zwischen Larionov und Goncarova und ihr Erlöschen in den ersten Jahren in Frankreich von Seiten der Betroffenen selbst wie von Seiten derjenigen, die über sie geschrieben haben, ist möglicherweise weniger eine Besonderheit dieses Künstlerpaares, als die Folge des Wirkens einer kulturellen Konstante in der russischen Gesellschaft. Es kann kein Zufall sein, dass es auch in Bezug auf andere prominente russische Künstlerpaare außerordentlich schwierig ist, Material über das Gefühlsleben der Partner und eventuelle erotische Beziehungen außerhalb der Paarkonstellation zu finden. Es macht natürlich keinen Sinn, deshalb auf programmatische Enthaltsamkeit zu schließen oder vom bewußt realisierten Modell einer Kameradschaftsbeziehung auszugehen, in dem die sexuellen Momente gegenüber anderen Aspekten der Paarkonstellation einen untergeordneten Stellenwert haben. Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Ausgehend von der Feststellung des russischen Sexualwissenschaftlers und Psychologen Igor' Kon', dass die Russen ihre eigene, spezifische erotische Kultur hätten, 52 haben sich amerikanische Historikerinnen, Slavistinnen, Literaturwissenschaftlerinnen und Kunsthistorikerinnen auf Spurensuche begeben und sind fündig geworden. Sie stießen auf eine bis in die altrussische Zeit zurückreichende Tabuisierung des direkten Redens über Sexualität, die mit der Aufklärung dahingehend eine Verschärfung erfuhr, als man Rußland als O r t der „Reinheit" im Gegensatz z u m vermeintlich korrumpierten und sexbesessenen Westen definierte. Selbst im Zuge der von einer Liberalisierung der sexuellen Reglementierungen begleiteten Frauenfrage in der Mitte des 19. Jahrhunderts blieb eine fundamentale kulturelle Ubereinkunft bestehen: In Anlehnung an die christliche Tradition wurde Sexualität weiterhin als etwas „Sündhaftes" und „Unreines" angesehen und erschien zudem nur in der Behandlung als etwas extrem Privates akzeptabel. 5 3 Problematisch wurde es immer dann, wenn die explizite Rede über Themen mit geschlechtsspezifischen Implikationen begann. Mit anderen Worten: lebbar waren auch noch die ungewöhnlichsten Beziehungen und sexuellen Praktiken, so lange alle Seiten darüber Stillschweigen bewahrten. So muß man sich also nicht wundern, wenn man nur über U m w e g e und Zufälle an Informationen über die Intimsphäre von prominenten russischen Intellektuellen und Künstlerinnen kommt, denn die Erben und Familienangehörigen üben zum Teil bis heute eine (aus ihrer Sicht gut gemeinte) Filterfunktion im oben genannten Sinne aus. Insofern enthält der Katalog „Amazonen der russischen Avantgarde" einen aufschlußreichen Text von Natalija Goncarova, der darüber Auskunft gibt, dass sich die im Alltag reserviert und nonnenhaft streng wirkende Künstlerin durchaus nicht als geschlechtsloses Wesen betrachtete, Sexualität aber, mit Schamgefühlen verbunden, als existentielles Problem erfuhr. Einer Beichte gleich heißt es in dem A u s z u g aus einem auf ca. 1911 datierten A l b u m von Natalija Goncarova: „Eifersucht beharrt auf Sinnlichkeit, d.h. auf dem sexuellen Trieb. Dieser Trieb, der fast ohne jeden Anlaß gegenüber Menschen geweckt wird, die sonst völlig uninteressant sind, ist ein quälendes Gefühl. E s wäre interessant zu erfahren, was geschähe, wenn dieser Trieb jedes Mal befriedigt würde. Vielleicht würde er dann nicht so häufig geweckt und stünde nicht immer als unlösbare Frage da, etwas, das fast jeden Augenblick das Glück eines ganzen Lebens zerstören könnte. E s könnte die Liebe zerstören, die dir so wertvoll ist, dir G o t t weiß was zufügen, ohne etwas dafür zu geben. U n d selbst ohne solch quälende Folgen stört er doch das Leben, den U m g a n g mit den Menschen. Es hindert einen, sich Menschen des anderen Geschlechts zu nähern, ja stößt einen häufig auch von den eigenen Freundinnen ab. Vielleicht bin ich allein ein so verderbtes M o n s t e r ? " 5 4 Ohne Überleitung ist diese Passage in Erörterungen über die eigene künstlerische Standortbestimmung (zwischen Cezanne und der Ikonenmalerei) eingebettet, der sich lange Zitate von Äußerungen und Ratschlägen Michail Larionovs an Goncarova über künstlerische Arbeitsformen und Aufgabenstellungen anschließen, die sie auf seine Bitte hin 178

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niedergeschrieben hat. Es mag wie eine Überinterpretation anmuten, aber ist es nicht so, dass die Struktur des Textes im Kleinen die Gesamtkonstellation der Paarbeziehung Larionov-Goncarova spiegelt, in der es natürlich eine erotische Komponente gegeben hat, die auch als Gefahr und als ihrerseits gefährdet wahrgenommen, jedoch im Selbstverständnis beider von künstlerischer Dialogfähigkeit überlagert und letztlich dominiert wurde? Marina Cvetaeva läßt den Widerspruch zwischen zerbrochener persönlicher und anhaltender künstlerischer Partnerschaft, die auf Verschiedenheit basiert, stehen, wägt mit Wortakrobatik ab, ob sich daraus ein Defizit ergeben muß. Ihre Antwort fällt optimistisch und zukunftsweisend aus: „Warum lassen, die die besten Freunde sind, für immer voneinander? Der eine wächst - der andere wächst über ihn hinaus; einer wächst - einer läßt nach, einer wächst - einer läßt ab. Sie haben es nicht sein lassen, nicht nachgelassen, nicht abgelassen. Es ist nicht üblich, so über Lebende zu sprechen. Aber Gontscharowa und Larionow sind nicht schlechthin lebendig, sondern für lange Zeit lebendig. Nicht nur unter uns, sondern auch uns ein Stück voraus. Uns voraus in Zeit und Weg." 5 5 Für Cvetaeva eignet also dem Lebensmodell von Larionov und Goncarova etwas Ideales, Vorbildhaftes an. Worüber sie schweigt, womöglich, weil es in den Gesprächen mit Goncarova und Larionov gar kein Thema gewesen ist, ist der Schmerz über die persönliche Trennung, die sehr wohl Auswirkungen auf das Schaffen der beiden Künstler hatte. Für eine eher außenstehende Beobachterin wie Nina Berberova stellte sich die Situation (wohl in den dreißiger Jahren) folgendermaßen dar: „Als Künstler war Larionow mindestens so begabt wie seine Frau, die berühmte Malerin Gontscharowa, aber während sie sich abmühte und arbeitete und für ihren Lebensunterhalt sogar die Pariser Restaurents bemalte, verausgabte er sich, verlor und verzettelte er sich in endlosen Gesprächen, Streitereien, Streichen, Possen und in seinem Hin- und Hergelaufe." 56 Was Larionov über soziale Kontakte zu bewältigen suchte, machte Goncarova mit sich selbst aus, wie fragmentarisch erhaltene Tagebuchaufzeichnungen vom Anfang der 1920er Jahre erkennen lassen: „Schwermut, wahnsinnige Schwermut und Leere. Nur meine Seele weiß, was zu sagen und wie es zu sagen ist. Ich kann mich an das Ende meiner Tage stellen und ich sehe den ganzen noch bevorstehenden Weg als durchschrittenen. Ich sehe den morgigen und übermorgigen Tag als gestrigen und irgendeinen und lange vergangenen und ich weiß, dass es nach allen Tagen einen gibt, der all den gleichförmigen Tagen in nichts gleicht - das ist der letzte Tag - die letzte Stunde - der letzte Augenblick - ein-und derselbe für alle, die sich nicht ähnlich und nicht gleich sind. Was für eine Schwermut und was für ein Wahnsinn - ich habe keine halbe und keine ganze Seele, und nicht zwei Hälften einer Seele, aber manchmal zwei Drittel und zwei Drittel Seelen. Mehr als eine und doch nicht eine ganze - menschliche." 57 Eine Tagebuchaufzeichnung von 1924 läßt erkennen, dass die wohl jedem kreativen Menschen bekannten Selbstzweifel Goncarovas sehr wohl etwas mit der persönlichen Trennung von Larionov zu tun hatten (obwohl sich beide ja häufig begeg-

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neten), und sie es lernen mußte, ohne inneren Bezugspunkt zurechtzukommen: „Bei uns in der Rue du Seine 43 ist S. abgestiegen, und ich übernachte allein im Atelier. Wie merkwürdig still und traurig es den ganzen Tag ist. Ein solches Gefühl der Einsamkeit hatte ich wohl noch nie. Mischa ist beschäftigt und kommt nicht vorbei, wenn ich vorbeigehe, treffe ich ihn nicht an, und er denkt auch gar nicht an mich. Orja [Orest Rozenfel'd] läßt sich sehen, aber - ich trage in meiner Seele wegen irgend etwas einen Verdruß gegen ihn mit mir herum. U n d dann ist er auch mit Versammlungen beschäftigt. Aber allein zu sein ist auch eine wunderbare Sache." 5 8 N e b e n Äußerungen über Larionov und Goncarova, die versuchen, doch eine Binnenzeichnung ihrer Beziehung vorzunehmen, gibt es auch solche, denen ein bewußt „äußerlicher" Blick zugrundeliegt. Ein Beispiel dafür sind die Worte des ebenfalls in Paris ansässigen russischen Bildhauers Osip Cadkin (Ossip Zadkine), der das Paar in der Öffentlichkeit als eine gemeinsame, entindividualisierte Größe wahrnahm: „Je les ai rencontres aux jeudis de la Closerie des Lilas, telles deux statues dressees; on leur jetais un regard plein de curiosite, comme sur deux Scythes apparus par miracle aux fetes d'un Basileus byzantin." 5 9 In diesem kuriosen Bild hebt Cadkin also vor allem jenen Rest von kultureller Fremdheit hervor, der für viele russische Emigranten in Paris charakteristisch war, und den Goncarova auch selbst thematisiert hat, verbunden mit der H o f f n u n g , in die Sowjetunion zurückkehren zu können. U b e r Larionov ist zudem überliefert, dass er trotz seiner Kontaktfreudigkeit Französisch nur mit einem sehr starken russischen Akzent sprach. Die angeführten Äußerungen von Künstlerkolleginnen haben gezeigt, dass ihre Verfasserinnen die Paarsituation von Goncarova/Larionov sehr wohl zur Kenntnis genommen und die Rollenverteilung als relevant für das künstlerische Arbeiten und die Repräsentation beider Künstler in der Öffentlichkeit erkannt haben. Für die Kunstkritik in der russischen Phase von Larionov und Goncarova spielte diese Frage insofern noch keine Rolle, als es erst 1914 in Paris erstmals zu einer Doppelausstellung kam. 1913 allerdings erschien in Moskau Eli Eganbjuris (Il'ja Zdanevics) Doppelmonographie über Michail Larionov und Natalija Goncarova. Der möglicherweise unter Larionovs Einfluß entstandene Einführungstext läßt eine Strategie erkennen, die ein Jahr später auch Apolllinaire in seiner Rezension der in der Galerie Paul Guillaume gezeigten Ausstellung von Goncarova und Larionov verfolgte. Beide Autoren bedienen sich dabei seit dem 19. Jahrhundert verbreiteter geschlechtsspezifischer Begriffspaare, die teilweise mit einer Konnotation des Nationalen verbunden werden. Eganbjuri beschreibt zunächst auf gut 20 Seiten ausführlich und voll des L o b e s Goncarovas Entwicklung, ausgehend von der Rezeption des französischen Impressionismus, verschiedener Traditionsstränge der nichtakademischen russischen Kunst, betont ihre außerordentlichen Aktivitäten in der Tafelmalerei, erwähnt Plastiken [von denen keine überliefert ist - A.R.], würdigt ihr Engagement in der Buch- und Bühnenkunst, hebt die aus ihren Arbeiten sprechende Kraft und Dekorativität hervor, feiert 180

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die Künstlerin als eine „Befreierin des russischen Geistes", zitiert einen offenen Brief von ihr zu Fragen der modernen Kunst. Ihre Kunst, so faßt er zusammen, sei national und synthetisch, weshalb die französischen Einflüsse hatten transformiert werden können. Aber: „Synthese konnte ihrem Wesen nach nicht revolutionär sein. Dabei war eine Kraft vonnöten, die einem Wirbelsturm gleich über das stehende Gewässer der russischen Malerei kommen und das tote Wasser hinwegfegen würde, es war ein Mensch mit analytischem Denken vonnöten. Als ein solcher erschien Michail Fedorovic Larionov, obwohl ihm die synthetischen Grundlagen immer eigen waren und sind." 60 Somit erfährt Goncarova eine doppelte „Minderung": Ihr wird die Rolle der „gesetzmäßigen" Trägerin und Vollenderin des Vergangenen und damit lediglich ein Teil dessen zuerkannt, was den „neuen Menschen" Larionov ausmache. Die Zukunft wird also männlich konnotiert. Auch in Apollinaires knappem Text wird Goncarova und Larionov ein ausgeprägtes Ego zuerkannt und jeweils ein bestimmter Bereich der modernen Kunst zugewiesen, doch klingt in den Formulierungen zwischen den Zeilen eine Abstufung der Wertschätzung an. Wenn Apollinaire über Goncarova schreibt, ist vom „Einfluß der großen französischen Maler" und davon die Rede, dass der „Kontakt mit der echten westlichen Tradition" sie dazu „inspiriert" habe, „die Geheimnisse der reichen östlichen Tradition" herauszufiltern. Als „große russische Künstlerin" erscheint sie also in doppelter Hinsicht als begnadete Rezipientin und ihr Oeuvre „als Verherrlichung der unendlich noblen und unendlich wahren künstlerischen Ziele, die dank Cezanne dem Impressionismus in Frankreich gefolgt sind". In diese Richtung geht auch das abschließende Urteil Apollinaires: „Die Persönlichkeit der Gontscharowa zeigt sich in allen ihren Arbeiten. Sie besitzt die einmalige Gabe, immer wieder neue dekorative Elemente zu entdecken und die künstlerische Bedeutung der modernsten Themen und Gefühle richtig einzuschätzen. Die Bewegung in ihrer Kunst ist ein Tanz, der von der Leidenschaft rhythmisiert wird." 6 1 Michail Larionov dagegen wird als impulsgebendes Subjekt, als „sehr große Persönlichkeit" von internationaler Ausstrahlung [man beachte die Steigerung und den erweiterten geographischen Radius - A. R.] eingeführt: „Michail Larionov hat andererseits nicht nur der russischen Malerei, sondern auch der europäischen Malerei insgesamt eine neue, raffinierte Kunstrichtung gebracht, den Rayonismus." 6 2 Da, wo Goncarova mit „Leidenschaft", mit einer Kategorie des Emotionalen in Verbindung gebracht wird, erfolgt bei Larionov der Verweis auf rationalistische und damit moderne Momente. Er sei in der Lage, „die Schatten des Gefühls und der Wahrnehmung auszudrücken, die er mit einem Grad an Genauigkeit erkundet, die seine leuchtende, sehr nüchterne und exakte Kunst zu einer echten ästhetischen Entdeckung macht. Einige seiner Arbeiten werden einen ersten Platz in der zeitgenössischen Malerei einnehmen." 63 Dabei fällt völlig unter den Tisch, dass auch Goncarova rayonistisch gemalt und mehr noch als Larionov die Welt der modernen Technik zum Gegenstand einiger Natalija Goncarova und Michail Larionov

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ihrer Bilder gemacht hat. Die Nichterwähnung dieser Seite ihres Schaffens ist verständlich und notwendig, um die Verknüpfung von „männlich-rational-modern" und „weiblich-emotional-traditionsorientiert" vornehmen zu können. Eine Ausnahme bildet die Einschätzung des Künstlerpaares durch Juri) Annenkov, der, umgekehrt, die Ausprägung der künstlerischen Individualitäten von Goncarova und Larionov vor allem auf der Basis vorhandener Gemeinsamkeiten erklärt. Seine Sicht soll in den abschließenden Abschnitt integriert werden.

Natalija Goncarova und Michail Larionov Künstlerischer Werdegang und CEuvre Jurij Annenkov (1889-1974) hebt gleich zu Beginn seines Textes über Larionov und Goncarova eine Reihe von Ubereinstimmungen hervor: das Geburtsjahr 1881, die Ubersiedlung nach Moskau 1891, den Eintritt in die Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Baukunst; als Epilog dann die Heirat. Auch wenn Natalija Goncarova zunächst außer Malerei auch noch Bildhauerei studierte, steht für ihn außer Frage: „Insgesamt verlief die Entwicklung ihrer Kunst auf parallelen Wegen und unterteilte sich - bei beiden - in drei Perioden." 64 Als Kriterium der von ihm postulierten Chronologie dient ihm die für das 20. Jahrhundert in der Tat relevante, aber natürlich nicht erschöpfende Unterscheidung zwischen figurativer und abstrakter Malerei, so dass sich eine 1. Phase für die Jahre zwischen 1900 und 1909 ergibt, eine 2. rayonistische Phase für den kurzen Zeitraum zwischen 1909 und 1914 und eine 3., wiederum figurative, auf die Szenographie erweiterte, nun aber mit spürbareren Unterschieden - primitivistischnaiv geprägt, von einer besonderen Musikalität bei Larionov und kubistisch beeinflußt bei Goncarova, begleitet von vereinzelten Ausflügen in die Gegenstandslosigkeit. Bezüglich der Stellung Larionovs und Goncarovas in der Geschichte der modernen russischen und europäischen Kunst geht Annenkov aus objektiven Gründen von der Paarigkeit der beiden Künstler aus: „Die erste Leidenschaft Larionovs und Goncarova war, wie ich schon gesagt habe, der Lubok, die volkstümliche dekorative Kunst, und eben ihre primitiven Formen und Bilder führten diese Künstler zur Abstraktion. Eine vollkommen natürliche, logische und von jeglichem Snobismus freie Evolution." 65 Weiter wird ihnen eben als Künstlerpaar mit einer gemeinsamen Entwicklung eine führende Stellung in der frühen Phase der russischen Avantgarde zuerkannt: „Die Namen Larionovs wie Goncarovas stehen chronologisch auf den ersten Plätzen dieser Revolution der künstlerischen Kultur." 66 Die von Annenkov betonte Parallelentwicklung, ausgehend von einer gemäßigten Variante des Impressionismus, wie sie den Studentinnen an der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Baukunst durch Lehrer wie Valentin Serov, Isaak Levitan, Konstantin Korovin oder Paolo Trubeckoj in der Plastik vermittelt wurden, bot den182

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Abb. 7 Michail Larionov. Soldaten, 1. Version, 1910-11. Öl auf Leinwand, 7 2 x 9 3 cm London, Dessau Family Trust, Grosvenor Gallery

noch genug Spielraum für die Ausprägung einer jeweils individuellen Version neoprimitivistischer Kunst. Diese weist sowohl bei Larionov als auch bei Goncarova biographische, bis in die Kindheit und die Anfänge ihrer Ausbildung zurückgehende Bezüge auf und ist durch die Auswahl ganz bestimmter Vorbilder durch beide Künstler aus dem weit gefächerten Spektrum des Lubok (hier als Sammelbegriff für die einheimischen populären Künste gemeint) bestimmt worden. Larionovs Bildwelt entstammt ikonographisch zu einem großen Teil der Welt der städtischen Provinz (Abb. 7) und enthält Reminiszenzen der dort verbreiteten Folklore in Form von Ladenschildern, Volksbilderbögen, Zaunschmierereien und der Malerei der Soldaten in den Kasernen (zwischen 1910 und 1913 mußte Larionov nach seiner späten Exmatrikulierung in Etappen doch noch seinen Wehrdienst absolvieren). Technisch gesehen kam offensichtlich auch der an der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Baukunst absolvierte Vorkurs seiner persönlichen Begabung entgegen und hinterließ so bleibende Spuren, denn Larionov bevorzugte Zeit seines Lebens eine lockere, skizzenhafte, zuweilen fast kalligraphische Art der Formgebung und angeNatalija Goncarova und Michail Larionov

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schnittene Bildausschnitte, wie er sie in Skizzen und Studien seiner ersten Jahre praktiziert hatte. In diesem Sinne könnte man seine häufig kleinformatigen Bilder und auch seine vielen Zeichnungen der Spätzeit mit einer zarten, melodiös-bewegten Linienführung als „weiblich" bezeichnen, ganz im Unterschied zu Goncarovas entschiedenen und zuweilen bewußt grob angelegten Figuren und Bildstrukturen, denen eher eine „männliche" Ausstrahlung anhaftet. Goncarova verfügte, wie viele wohlhabende Russinnen jener Zeit, über eine innige Bindung an das dörfliche Leben, da sie in ihrer Kindheit viel Zeit auf dem Landsitz Ladyzino verbrachte, wo die Großeltern eine Leinenmühle besaßen. Die dort gewonnenen Eindrücke von der immer wiederkehrenden Arbeit insbesondere der Bauersfrauen wie Ernte, Wäschewaschen, Leinenbleiche usw. hat sie später in ihren Bildern (Abb. 8) verarbeitet. Nicht folgenlos geblieben ist auch ihre Bildhauerausbildung, obwohl keine Plastiken von ihr erhalten sind. Trotz ihrer Erfolge in der Schule 67 soll sie die Bildhauerei auf den Rat von Larionov hin aufgegeben haben. Interessanterweise soll er sich zu dieser Zeit seinerseits in dieser männlich konnotierten Kunstgattung versucht haben (offensichtlich ohne besondere Wirkung). In Goncarovas neoprimitivistischen Bildern findet man nicht die seinerzeit so geschätzten grazilen und nervösen Fi-

Abb. 8 Natalija Goncarova. Wäscherinnen, 1911. Öl auf Leinwand, 192x146 cm. St. Pe tersburg, Staatliches Russisches Museum 184

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guren ihres Lehrers Trubeckoj, die das Auge des Betrachters durch ein sensibles Licht auf einer reich strukturierten Oberfläche fesseln. Man trifft vielmehr auf kompakte Statuetten und Idole aus der heidnischen Frühzeit, und auch die Figuren der Fischer, Bäuerinnen und Bauern in ihren Bildern wirken in ihrer programmatischen Kantigkeit und gesuchten Grobschlächtigkeit wie aus Holz gehauen, auch wenn sie teilweise in der Fläche verbleiben. Später mag es ihr die frühe Erfahrung mit der Plastik auch erleichtert haben, in ihrer Malerei die Rezeption des Kubismus und des Futurismus mit der Verarbeitung russischer Quellen zu verknüpfen und eigene, unverkennbare Ausdrucksformen zu entwickeln. 1907/08 setzten sich Larionov und Goncarova im Umkreis der Zeitschrift „Das goldene Vlies" mit Gaugin und van Gogh, mit Cezanne, Matisse und Derain auseinander, ehe wenig später Picasso und Braque und das Interesse für die einheimische primitive Kunst hinzukamen. Davon kann man sich unter anderem in einem Stilleben von Natalija Goncarova mit dem Titel „Atelier" (Abb. 9) überzeugen, das über die genannten Bezüge hinaus auch ein Bekenntnis zur Kunst ihres Lebensgefährten enthält. Unter den programmatisch arrangierten Gegenständen wie Sessel, Tischchen, Früchte, einer Muttergottes-Ikone und einer kleinen Statuette befindet sich auch eine Zeichnung mit einer bewegten Frauengestalt, die sich als Werk Michail Larionovs - eine Studie zu seinem „Provinzdämchen" von 1908 - identifizieren läßt. 68

Abb. 9 Natalija Goncarova Im Atelier der Künstlerin 1908 Öl auf Leinwand 1 0 9 x 9 7 cm Tula, Regionales Kunstmuseum

Natalija Goncarova und Michail Larionov

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In ihrer Hinwendung zur einheimischen Folklore und primitiven Kunst ergänzen sich Larionov und Goncarova analog zu ihrem persönlichen Charakter. Aus ironischer Distanz, aber auch mit unverhüllter Freude nahm Larionov immer wieder die Vorstadtkultur mit ihren Banalitäten und Frivolitäten ins Visier und kostete sie in ganzen Folgen genüßlich aus. Mit seinen Friseur- und Soldatenbildern, mit seinen Venusdarstellungen aus verschiedenen Kulturkreisen und türkischen Phantasiemotiven inszenierte er vor allem männliche Räume, Perspektiven und Wunschvorstellungen, mal mit einem Augenzwinkern, mal mit drastischen Übertreibungen bis an die Grenze zur Pornographie, ohne Scheu vor dem aus bürgerlicher Sicht Ungehörigen. Dabei schöpfte er aus allen möglichen Quellen der nichtakademischen Kunst, die er selbst mit Leidenschaft, so weit das möglich war, auch sammelte - Kinderzeichnungen, volkstümliche Druckgraphik, bemalte Tabletts, Lebkuchenformen, Ladenschilder, Zaunschmierereien und anderes mehr. Selbst vor der Ikonenmalerei machte er nicht halt. Im Falle seines Selbstbildnisses von 1910-12 mochten es nicht alle sofort haben glauben wollen, dass sie es mit der fröhlich-respektlosen Überschreibung des Halbfigurenschemas von Heiligendarstellungen auf Ikonen zu tun hatten. Anstelle eines asketischen Heiligen sahen sie sich in derselben frontalen Haltung und von Lichtstrahlen übergössen einem grinsenden jungen Mann mit halb geöffnetem Hemd gegenüber. Anstelle der Namensbezeichnung des Heiligen oder eines Attributes erscheinen ungelenke Schriftzüge, die darüber belehren, dass es sich bei dem irgendwie skandalösen Bild um ein Selbstporträt des Malers handelt. Ganz anders Goncarova, deren Auftreten bei Marina Cvetaeva ähnliche Assoziationen weckte wie bei Valentina Chodasevic: „Erstens: Mannhaftigkeit. - Die einer Äbtissin. Einer jungen Äbtissin. Geradheit der Züge und des Blickes, Ernsthaftigkeit, oh, nicht Strenge! - im ganzen Gebaren." 6 9 Unter den russischen Avantgardekünstlerinnen war Natalija Goncarova diejenige, die sich am intensivsten zur Ikonenmalerei in Beziehung setzte. Ihr Bild „Frau in der Kirche", das bis zu ihrem T o d über ihrem Bett hing, kann man motivisch und malerisch-kompositorisch durchaus als Metapher für die russische Kunst der Moderne betrachten. Vor dem Hintergrund einer Mariendarstellung mit dem Gestus der Fürbitte erscheint eine sonntäglich in ein hellblaues Kleid mit Spitzenjabot gekleidete Frau. Reale räumliche Verhältnisse treten hinter programmatischer Flächigkeit zurück, so dass die in einer Art Bedeutungsperspektive gesehene Hintergrundfigur der Gottesmutter mit den riesigen Augen im ersten Gesicht die Stimmung der lichtüberfluteten Kirchgängerin ebenso zu dominieren scheint wie die Atmosphäre des Bildes insgesamt. Goncarova läßt Elemente verschiedener malerischer Systeme aufeinandertreffen - eine vom Impressionismus herkommende Fragmentierung des Bildausschnittes, Ansätze einer kubistischen Formauffassung, Flächigkeit und Lichtbahnen, wie sie für die Ikonenmalerei konstituierend sind. Auf diese Weise macht sie sichtbar, wie „lebendig" die Ikone und die über sie vermittelten Werte für die Zeitgenossinnen immer noch waren. Dies um so mehr, als 186

AdaRaev

die Kirchgängerin im Bild ja gar nicht (mehr) vor der Ikone betet, sondern wie von ihr erfüllt „in die Welt" geht. Man könnte sich nun Gedanken darüber machen, ob es Zufall ist, dass sich Larionov als männlicher Künstler unbekümmert die Freiheit nahm, gerade aus den „Niederungen" der russischen visuellen Kultur zu schöpfen, und Goncarova sich umgekehrt zu der normativen Welt der Ikonenmalerei in Beziehung setzte. Aber täuschen wir uns nicht. Nach außen hatte Natalija Goncarova wie ihre männlichen Kollegen viele Gesichter, und das aus gutem Grund. Nicht nur einmal in ihrer russischen Zeit hatte sie erfahren müssen, dass es durchaus nicht dasselbe ist, wenn ein Mann und eine Frau das Gleiche tun. Zwischen 1910 und 1913 mußte sie sich zum Beispiel wegen ausgestellter Aktstudien den Vorwurf der Pornographie gefallen lassen oder wurde für Bilder mit Propheten der Blasphemie bezichtigt. Wohl aufgrund solcher Erfahrungen beteiligte sich die ansonsten eher zurückhaltende Künstlerin gemeinsam mit Larionov an futuristischen Aktionen wie lautstarken Disputen und programmatischen Gesichtsbemalungen und trat schließlich 1913 mit einer fast 800 Bilder umfassenden Einzelausstellung an die Öffentlichkeit. Dabei war ihr offensichtlich klar, dass das selbstbewußte, kompromißlose und provokante Auftreten von Frauen nur eine Seite der Medaille ist. In einem polemischen Text entwarf sie 1914 zudem eine Alternative zu althergebrachten Stereotypen in einer Paarbeziehung, wohl wissend, dass die Gesellschaft insgesamt für solche Modelle noch nicht reif war: „Wenn die Männer noch immer von Turgenevschen Fräulein träumen, werden sie ganz und gar verzichten müssen. Der ganze Charme dieser jungen Mädchen besteht in ihrer unbewußten Einfachheit, während doch im modernen Leben die Einfachheit nur eine bewußte sein kann. In diesem Fall ist eine bewußte Nichteinfachheit vorzuziehen. Das Leben, wie es sich heutzutage abspielt, muß einen stark räuberischen und einen weniger räuberischen Typus hervorbringen, der sich leicht in einen nicht sehr anziehenden Raubvogel verwandeln kann. Die Träume der sehr ernsten Turgenevschen Frauen sind mehr am Gefühl als am wahren Leben orientiert. Sie haben ihnen ein totales Fiasko beschert, und in unseren heutigen Tagen gibt es als Reaktion darauf einen sehr angenehmen dekadenten Typus mit einer Nuance von nicht ernsthafter Sentimentalität und einer ernsten Sensibilität. Übrigens, ebenso wie sich die Turgenevschen Frauen nur in hochgestellten, adligen Kreisen bewegten und das Leben seinen Gang ging, genauso bewegen sich die dekadenten Mädchen unserer Zeit nur in einem ästhetisierenden Kreis und können keinen Einfluß auf den Verlauf des Lebens nehmen, der die Arbeiterinnen aller sozialen Kategorien betrifft." 70 So war also die künstlerisch konstante, aber privat wechselvolle Paarbeziehung von Natalija Goncarova und Michail Larionov eingebettet in die sozialen Möglichkeiten und mentalen Spielräume der russischen künstlerischen Kultur ihrer Zeit und gleichzeitig eine im hohen Grade individuelle Lösung, die beiden Seiten Zugeständnisse abverlangte, aber auch Rückversicherung bot. Natalija Goncarova und Michail Larionov

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Anmerkungen 1 Vera Egorovna M e j e r ( 1 8 4 8 - 1 9 1 9 ) ζ. B . studierte als T o c h t e r eines Künstlers an der Petersburger A k a demie der Künste. I m Alter von 12 Jahren reichte sie 1860 ihr „Selbstbildnis" ein und erhielt dafür eine Silbermedaille 2. Ranges. Später heiratete sie den an der Akademie unterrichtenden Maler Pavel Pavlovic Cistjakov ( 1 8 3 2 - 1 9 1 9 ) und gab nach der Eheschließung das Malen auf. Vgl.: K.V.Michajlov, G . V. Smirnov: Zivopis' X V I I I - nacala X X veka. Iz fondov Gosudarstvennogo Russkogo Muzeja (Die Malerei des 18. - Anfang des 20. Jahrhunderts. Aus den Beständen des Staatlichen Russischen Museums). Leningrad 1978, S. 1 3 1 - 1 3 2 . 2

O l ' g a Lagoda-Siskin ( 1 8 5 0 - 1 8 8 1 ) studierte 1875/76 an der Petersburger Akademie der Künste und bei dem Landschaftsmaler Ivan Ivanovic Siskin ( 1 8 3 2 - 1 8 9 8 ) , dessen Gattin sie wurde. W i e ihr Mann beteiligte sie sich an den Ausstellungen der „Wanderer". D e n Bekanntheitsgrad ihres Mannes erreichte sie nicht, doch befinden sich W e r k e von ihr im Staatlichen Russischen M u s e u m in St. Petersburg und in der Tret'jakov-Galerie in Moskau. Sie wurde sowohl in zeitgenössischen Kritiken, ζ. B . von Vladimir Stasov, als auch in Darstellungen der russischen Kunst erwähnt, allerdings in gesonderten Kapiteln über Künstlerinnen und nicht im Zusammenhang mit ihrem Mann. Vgl.: U . T h i e m e / F . Becker: Allgemeines Lexikon der Bildender Künstler. Bd. 22. Leipzig 1928, S. 219. Ekaterina Ivanovna Beklemiseva ( 1 8 6 5 - 1 9 1 2 ) war die Ehefrau des bekannten Petersburger Bildhauers Vladimir Aleksandrovic Beklemisev ( 1 8 6 1 - 1 9 2 0 ) , der 1 9 0 0 - 1 9 0 2 und 1 9 0 6 - 1 9 1 1 die Akademie als R e k tor leitete. Interessanterweise trat Ekaterina Beklemiseva, die sich seit 1889 an den Ausstellungen der Akademie der Künste beteiligte, in der Öffentlichkeit häufig unter dem Pseudonym „Miseva" auf. Das läßt auf Emanzipationsbestrebungen schließen. Gleichzeitig dürfte sie aber auch von dem Prestige ihres Mannes profitiert haben, was sich darin äußerte, dass eine Reihe ihrer Arbeiten für das Museum der Petersburger Akademie der Künste angekauft wurde und die Akademie im J a h r 1913, ein J a h r nach ihrem T o d e , eine Einzelausstellung der Bildhauerin veranstaltete. Vgl.: Chudozniki narodov SSSR. B i o - b i b l i o graficeskij slovar' (Die Künstler der V ö l k e r der U d S S R . Bio-bibliographisches W ö r t e r b u c h ) . Bd. 1, Moskva 1970, S. 3 3 1 - 3 3 2 .

3 D a z u gehören Michail Vasil'evic Matjusin ( 1 8 6 1 - 1 9 3 4 ) und Elena Genrichovna G u r o ( 1 8 7 7 - 1 9 1 3 ) , Aleksej Eliseevic Krucenych ( 1 8 8 6 - 1 9 6 8 ) und O l ' g a Vladimirovna Rozanova ( 1 8 8 6 - 1 9 1 8 ) , Aleksandr Michajlovic R o d c e n k o ( 1 8 9 1 - 1 9 5 6 ) und Varvara Fedorovna Stepanova ( 1 8 9 4 - 1 9 5 8 ) , Aleksandr Davidovic Drevin ( 1 8 8 9 - 1 9 3 8 ) und Nadezda Andreevna Udal'cova ( 1 8 8 6 - 1 9 6 1 ) , Ivan Semenovic Efimov ( 1 8 7 8 1959) und Nina Jakovlevna Simonovic-Efimova ( 1 8 7 7 - 1 9 4 8 ) , Ivan Al'bertovic Puni ( 1 8 9 2 - 1 9 5 6 ) und Ksenija Leonidovna Boguslavskaja ( 1 8 9 2 - 1 9 7 2 ) , Gustav Gustavovic Klucis ( 1 8 9 5 - 1 9 4 4 ) und Valentina Nikiforovna Kulagina, Vladimir Evgrafovic Tatlin ( 1 8 8 5 - 1 9 5 3 ) und Valentina Michajlovna Chodasevic ( 1 8 9 4 - 1 9 7 0 ) , Vladimir Vasil'evic Lebedev ( 1 8 9 1 - 1 9 6 7 ) und Sarra Dmitrievna Lebedeva ( 1 8 9 2 - 1 9 6 7 ) , um nur die bekanntesten zu nennen. Vgl.: Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Die Ikonographie der Gleichheit und die Künstlerinnen der russischen Avantgarde. In: kritische berichte, 1992, Heft 4, S. 5 - 2 5 . 4

Vgl.: Waldemar George: Nathalie Goncharova. Paris 1956; M a r y C h a m o t : Gontcharova. Paris 1972; M a r y C h a m o t : Goncharova. Stage Design and Paintings. L o n d o n 1979; Waldemar George: Larionov. Paris 1966, Luzern und Frankfurt a. M . 1968; A n t h o n y Parton: Mikhail Larionov and the Russian Avantgarde. L o n d o n 1993.

5

Gleb

G.

Pospelow:

Karo-Bube.

Aus

der

Geschichte

der

Moskauer

Malerei

zu

Beginn

des

20. Jahrhunderts. Aus dem Russischen übersetzt von Irene Faix. Dresden 1985. 6

Vgl.: Susan P. C o m p t o n : T h e W o r l d Backwards: Russian Futurist B o o k s 1 9 1 2 - 1 9 1 6 . L o n d o n 1978; E v genij F. Kovtun: Russkaja futuristiceskaja kniga (Das russische futuristische Buch). Moskva 1989.

7

Vgl.: Künstlerinnen der russischen Avantgarde/Women-artists of the Russian Avantgarde 1 9 1 0 - 1 9 3 0 . Katalog. Galerie Gmurzynska, K ö l n 1979/80; Hanna Gagel: Natalija Gontscharowa - „die inneren und äußeren Substanzen zu erfassen". In: kritische berichte, 1988, Heft 1, S. 4 6 - 5 6 ; Mjuda N . Jablonskaja: Russische Künstlerinnen . 1 9 0 0 - 1 9 3 5 . Hrsg. von A n t h o n y Parton. Bergisch-Gladbach 1990.

8 Eli Eganbjuri: Natalija Goncarova. Michail Larionov. Moskva 1913. 9

Exposition de Natalie de Gontcharova et Michel Larionow. Catalogue. Galerie Paul Guillaume Paris

10

Vgl. die beiden Kataloge zur Ausstellung: Michail Larionov. Natalija Goncarova. Sedevry iz parizskogo

1914. nasledija. Zivopis' (Michail Larionov. Natalija Goncarova. Meisterwerke aus dem Pariser Nachlaß. M a lerei). Staatliche Tret'jakov-Galerie Moskau 1999 und M. Larionov N . Goncarova. Parizskoe nasledie ν

188

Ada Raev

Tret'jakovskoj galeree (Μ. Larionov Ν. Goncarova. Der Pariser Nachlaß in der Tret'jakov-Galerie) Moskva 1999. Über das komplizierte Schicksal dieser Sammlung und damit über bedeutende Teile des Oeuvres von Larionov und Goncarova und ihres persönlichen Besitzes vgl. auch: Gleb Pospelov: Nasledstvo Goncarovoj i Larionova (Das Erbe Goncarovas und Larionovs). In: Nase nasledie, 1990, Nr. 1 (Heft 13), S. 152-158. 11 Unlängst ist in russischer Sprache im Rahmen einer Buchreihe von Künstlermemoiren eine Zusammenstellung von Auszügen aus Erinnerungen, die Larionov und Goncarova betreffen, erschienen: Natal'ja Goncarova. Michail Larionov. Vospominanija sovremennikov (Natalija Goncarova. Michail Larionov. Erinnerungen von Zeitgenossen). Zusammengestellt von G. F. Kovalenko. Moskva 1995. 12 Vgl.: Regine Dehnel: Frau. Kollegin. Konkurrentin? Künstlerpartnerschaften in der russischen Avantgarde. In: Katharina Sykora, Annette Dorgerloh, Doris Noell-Rumpeltes, Ada Raev (Hrsg.): Die neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre. Marburg 1993, S. 51-65. 13 Gleb Pospelov schrieb darüber 1990: „Nicht allen ist wohl bekannt, dass der persönliche Bund von Larionov und Goncarova schon bald nach ihrer Ubersiedlung nach Frankreich zerfallen ist. Bestehen blieb der häusliche Herd und eine äußerst enge künstlerische Gemeinschaft, obwohl beide schnell neue Bindungen eingingen." - Zitiert und übersetzt nach: Pospelov 1990, S. 154. Ekaterina Djogot deutet an, dass es wohl Natalija Goncarova gewesen ist, die als erste einen neuen Partner gefunden hat. Gleb Pospelov nennt den russisch-jüdischen Rechtsanwalt Orest Ivanovic Rozenfel'd, einen ehemaligen Menschewiken, der in der französischen Emigration eng mit dem Sozialistenführer Leon Blum zusammenarbeitete und die sozialistische Zeitung „Populaire" finanzierte. Er ließ aber auch Natalija Goncarova und Michail Larionov materielle Unterstützung zukommen. Michail Larionov unterhielt dagegen langjährige Beziehungen zu der Treppennachbarin in der Rue Jacques Callot, Aleksandra Klavdievna Tomilina. Sie war ebenfalls russischer Herkunft und arbeitete in einer der Pariser Bibliotheken. Besonders in den 1920er Jahren diente sie Larionov als Aktmodell, was die scharfzüngige, ebenfalls in Paris lebende russische Schriftstellerin Nina Berberova zu folgendem sarkastischen Bild veranlaßte: „... oder er saß in der Ecke am Fenster und malte eine gelbliche Frau mit gelblichen Haaren im gelblichen Licht der Pariser Tage". Nina Berberova: Ich komme aus St. Petersburg. Autobiographie. Deutsch von Christine von Süß. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 340. Auch Aleksandra Tomilina akzeptierte bis zu ihrem Lebensende die kreative Verbindung zwischen Larionov und Goncarova und bewahrte das Oeuvre beider mit derselben Sorgfalt auf, wovon man sich in der letzten Ausstellung beider Künstler in der Tret'jakov-Galerie in Moskau überzeugen konnte. Auch wenn in Briefen immer wieder der jeweils andere Partner/die Partnerin mit Grüßen bedacht wurde, heißt das natürlich nicht, dass es keine Spannungen gegeben hat, aber die hat offensichtlich jeder für sich und auf seine Weise ausgetragen. 14 Brief von Michail Larionov an Natalija Goncarova vom 11. August 1934 auf dem Weg von Paris nach Bormes. Zitiert und übersetzt nach: Michail Larionov. Natalija Goncarova, Moskva 1999, S. 182. 15 Brief von Michail Larionov an Natalija Goncarova aus Bormes nach Paris vom 18. August 1934, ibid. 16 Vgl.: Jurij Annenkov: Michail Larionov i Natalija Goncarova (Michail Larionov und Natalija Goncarova). In: Dnevnik moich vstrec. Zikl Tragedij (Tagebuch meiner Begegnungen. Zyklus der Tragödien). Bd. 2, Leningrad 1991, S. 191-208. 17 Camilla Gray: Die russische Avantgarde der modernen Kunst 1863-1922. Köln 1963, S. 82. 18 Jewgeni F. Kowtun: Die Widergeburt der künstlerischen Druckgraphik. Aus der Geschichte der russischen Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Dresden 1984, S. 55. 19 Zitiert und übersetzt nach: Anatolij Strigalev: Michail Larionov - avtor i praktik pljuralisticeskoj koncepcii russkogo avangarda (Michail Larionov - Autor und Praktiker einer pluralistischen Konzeption der russischen Avantgarde). In: Voprosy iskusstvoznanija (Fragen der Kunstwissenschaft). VIII (1/96). Moskva 1996, S. 473. Nun sei der Gerechtigkeit halber aber auch angemerkt, dass Goncarova (wie andere Künstlerinnen auch) durch spätere Aussagen selbst Anlaß zu solchen Deutungen gegeben hat, etwa wenn sie Larionov am 17. Mai 1946 in einem Brief aus Paris nach London schreibt: „... Bitte, Ameise, vor mir mußt Du Dich nicht brüsten - ich weiß sehr wohl, dass ich Dein Werk bin und dass ohne Dich gar nichts wäre." - Zitiert und übersetzt nach: Michail Larionov. Natalija Goncarova, Moskva 1999, S. 182. (Uber den möglichen Kontext dieser Aussage siehe weiter im Haupttext.) 20 Sigrid Schade, Silke Wenk: Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz. In: Hadumod Bußman, Renate Hof (Hrsg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995, S. 340^t07.

Natalija Goncarova und Michail Larionov

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21

Andrej Belyj: Wejninger ο pole i Charaktere (Weininger über Geschlecht und Charakter). In: Derselbe: Arabeski (Arabesken). Moskva 1911, S. 2 8 4 - 2 9 0 . Zitiert und übersetzt nach: R u s s k i j E r o s ili Filosofija ljubvi ν Rossii (Der russische Eros oder die Philosophie der Liebe in Rußland). Zusammengestellt und eingeleitet von Vjaceslav P. Sestakov. Moskva 1991, S. 104.

22

Petr Uspenskij: Iskusstvo i ljubov'. Fragment (Kunst und Liebe. Ein Fragment). In: Derselbe: Tertium Organum. Kljuc k zagadkam mira (Tertium Organum. Schlüssel zu den Welträtseln). Sankt Peterburg 1911, S. 1 2 2 - 1 3 0 . Zitiert und übersetzt nach: Sestakov 1991, S. 2 2 5 - 2 2 6 .

23

Uspenskij 1911, zitiert und übersetzt nach Sestakov 1991, S. 227.

24

Sergej Bulgakov: Svet nevecernij I I I . 2. Pol ν celoveke (Nichtabendliches Licht III. 2. Das Geschlecht im

25

Zitiert und übersetzt nach: Nikolaj Berdjaev: Filosofija tvorcestva, kul'tury i iskusstva ν dvuch tomach

Menschen). Zitiert und übersetzt nach: Sestakov 1991, S. 3 1 3 - 3 1 4 . (Die Philosophie des Schaffens, der Kultur und Kunst in zwei Bänden). Mit einem V o r w o r t und A n merkungen von R . A. Gal'ceva. Bd. 1, Moskva 1994, S. 1 8 0 - 1 8 3 . Deutsche Ausgabe: N i k o l a j Berdjajew: D e r Sinn des Schaffens. Versuch einer Rechtfertigung des Schaffens. Deutsch von Reinhold Walter. N e u e Ausgabe. Tübingen 1927. 26

Selbst eine so couragierte und der theoretischen Reflexion gegenüber aufgeschlossene Künstlerin wie Marianne Werefkin sah sich dazu veranlaßt, ihre menschlich unglückliche Beziehung zu ihrem Schüler (!) und Lebensgefährten Alexej Jawlensky aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus zu begründen, das seine Ursachen in der tief verinnerlichten eben beschriebenen Geschlechterkonstruktion hat: „Ich bin Frau, bin bar jeder Schöpfung. Ich kann alles verstehen und kann nichts schaffen ... M i r fehlen die W o r te, um mein Ideal auszudrücken. Ich suche den Menschen, den Mann, der diesem Ideal Gestalt geben würde. Als Frau, verlangend nach demjenigen, der ihrer inneren Welt Ausdruck geben sollte, traf ich Jawlensky und beschäftigte mich mit ihm ... Ich suchte die andere Hälfte meiner selbst.... In Jawlensky meinte ich sie erschaffen zu können ... Rein göttlicher Wunsch. A u f der Erde nicht erfüllbar." - W e r e f kin-Archiv. Zitiert nach: Bernd Fäthke: Marianne Werefkin. Leben und Werk. München 1988, S. 3 3 - 3 4 .

27

Jekaterina D j o g o t : Kreative Frauen, kreative Männer und Paradigmen der Kreativität: W a r u m gibt es grosse Künstlerinnen? In: A m a z o n e n der Avantgarde. Alexandra Exter, Natalja Gontscharowa, L j u b o w Popowa, Olga Rosanowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa. Hrsg. von J o h n E. B o w l t und Matthew Drutt. Deutsche Guggenheim Berlin 1999, S. 113.

28

Ibid., S. 113/114.

29

D e n am 13. F e b r u a r 1912 verfaßten „Brief an den H e r a u s g e b e r " schickte Goncarova zunächst an die Zeitung „ R u s s k o e s l o v o " („Russisches W o r t " ) , w o er j e d o c h nicht gedruckt wurde.

Ein Teil des

Wortlautes erschien am 3. M ä r z 1912 in der M o s k a u e r Zeitung „Protiv tecenija" ( „ G e g e n den S t r o m " ) . M a n u s k r i p t - A b t e i l u n g der russischen Staatsbibliothek, I n v . - N r . f. 2 5 9 , R . S., 13. ed., s. 4). H i e r zitiert nach: Jelena Basner: „Wir, die wir uns z u m Neoprimitivismus als Religion des Künstlers bekennen, sagen ...". D i e Begründer des Neoprimitivismus über sich und ihr W e r k . In: J e w g e n i j a P e trowa, J o c h e n Poetter: Russische Avantgarde und V o l k s k u n s t . Stuttgart 1993, S. 31. 30

Sergej Romanovic: Kakim ego sochranila pamjat' (Wie ihn das Gedächtnis bewahrt hat). Zitiert und

31

Valentina Chodasevic: Natalija Goncarova i Michail Larionov. Zitiert und übersetzt nach: Valentina

32

Chodasevic 1987, S. 34.

33

Chodasevic 1987, S. 35.

übersetzt nach: Natal'ja Goncarova, Michail Larionov 1995, S. 103. Chodasevic: Portrety slovami (Porträts in Worten). M o s k v a 1987, S. 3 3 - 3 4 .

34

Ibid.

35

Romanovic, zitiert und übersetzt nach: Goncarova, Larionov 1995, S. 104.

36

Romanovic, zitiert und übersetzt nach: Goncarova, Larionov 1995, S. 105.

37

Romanovic, zitiert und übersetzt nach: Goncarova, Larionov 1995, S. 108.

38

Romanovic, zitiert und übersetzt nach: Goncarova, Larionov 1995, S. 110.

39

Chodasevic 1987, S. 35.

40

Michail Fokin: Gegen den Strom. Erinnerungen eines Ballettmeisters. Hrsg. von Lydia Wolgina und U l rich Pitzsch. Berlin 1974, S. 258.

41

Ibid.

42

Marina Cvetaeva: Natalija Goncarova (Zizn' i tvorcestvo). (Natalija G o n t s c h a r o w a (Leben und W e r k ) ) . Deutsch von Hans Loose. In: Marina Zwetajewa. Gedichte. Prosa. Russisch und deutsch. Hrsg. von Fritz Mierau. Leipzig 1987.

190

Ada Raev

43 Die handschriftliche Fassung des Essays hatte Marina Cvetaeva k u r z nach der Niederschrift Natalija Goncarova als Geschenk übergeben. Vgl.: Pospelov 1990, S. 153. 44 Cvetaeva 1987, S. 219. 45 Ibid. 46 Ibid, S. 223. 47 Ibid. 48 Ibid., S. 227. 49 Ibid. 50 Ibid., S. 283. 51 Ibid. 52 Vgl.: Igor' K o n ' : Seksual'naja revoljucija ν kavyckach i bez kavycek (Die sexuelle Revolution in A n f ü h rungsstrichen u n d ohne Anführungsstriche). Ein Gespräch u n d K o m m e n t a r , vorbereitet von Aleksej Samojlov. In: Avrora (Aurora). 1991, H e f t 7, S. 63-80. 53 Vgl.: Jane C o s t l o w , Stephanie Sandler, Judith Volwes (Hrsg.): Sexuality and the B o d y in Russian C u l ture. Stanford 1993. 54 Das undatierte M a n u s k r i p t mit dem Titel „ A l ' b o m " befindet sich im Archiv der C h a r d z i e v - C a g a - K u l turstiftung A m s t e r d a m (Box 78). Zitiert nach: A m a z o n e n der Avantgarde 1999, S. 309. 55 Cvetaeva 1987, S. 283 u n d 285. 56 Berberova 1992, S. 340-341. 57 Tagebuchaufzeichnung Natalija Goncarovas, wahrscheinlich zwischen 1921? u n d 1923, zitiert u n d übersetzt nach: Michail Larionov/Natalija Goncarova 1999, S. 195-196. 58 T a g e b u c h a u f z e i c h n u n g Natalija G o n c a r o v a s v o m 15. F e b r u a r 1924, zitiert u n d ü b e r s e t z t nach: Ibid, S. 196. 59 Ossip Zadkine: D e u x monolithes. Zitiert nach: N . G o n t c h a r o v a et M. Larionov: 50 ans ä Saint-Germain-des-Pres; temoignes et d o c u m e n t s recueillis et presentes par Tatiana Loguine. Paris 1971, S. 143. 60 Zitiert u n d übersetzt nach: Eli Eganbjuri: Natalija Goncarova. Michail Larionov. Moskva 1913, S. 24. 61 Diese Passage u n d die vorangegangenen F o r m u l i e r u n g e n aus: Guillaume Apollinaire: „Expositions Nathalie de G o n t c h a r o v a et Michel Larionov. In: Les soirees de Paris, N r . 26, 1914, T. 2, S. 370-371. Derselbe W o r t l a u t fungiert auch als V o r w o r t z u m Katalog N . G o n t c h a r o v a et M. Larionov. Paris, Galerie Paul Guillaume 1914. D e u t s c h zitiert nach: H a j o Düchting: Apollinaire zur Kunst. Texte u n d Kritiken. 1905-1918. Köln 1989, S. 267. 62 Ibid. 63 Ibid. 64 Zitiert u n d übersetzt nach: A n n e n k o v 1991, S. 191. 65 Ibid., S. 196. 66 Ibid. 67 1903 stellte sie auf der Ausstellung freier Arbeiten der M o s k a u e r Schule f ü r Malerei, Bildhauerei u n d Baukunst, zu der offensichtlich kein Katalog erschien, Plastiken aus. Vgl.: Michail Larionov - Natalija Goncarova, Moskva 1999, S. 217. 68 Michail Larionov: Provinzkokotte. 1909, O l auf Leinwand, 81 χ 65 cm. Kazan', K u n s t m u s e u m . Vgl. Abb. 7 in: P a r t h o n 1993. Z w a r ist Larionovs Bild später datiert als Goncarovas Stillleben, doch läßt sich der Widerspruch nach zwei Seiten hin auflösen: Gerade die Datierungen der f r ü h e n W e r k e beider Künstler sind nicht immer unumstritten, außerdem wäre die von Goncarova zitierte Zeichnung Larionovs mit großer Wahrscheinlichkeit vor der Leinwandfassung entstanden. 69 Cvetajeva 1987, S. 163. 70 Zitiert u n d aus d e m Französischen übersetzt nach: D e Tourgeniev au tango. Essai d ' e n q u e t e r sur „l'eternel feminin". In: Moskovskaja gazeta (Moskauer Zeitung), 1914, N r . 231,27. Januar. In: Nathalie G o n t charova. Michel Larionov, Paris 1995, S. 194.

Natalija Goncarova und Michail Larionov

191

Rollenspiele und der Ernst der (Lebens-) Kunst

Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

ADA RAEV

Seit der Ausstellung „Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa. Werke aus sowjetischen Museen, der Sammlung der Familie Rodtschenko und aus anderen Sammlungen", die 1982/83 im Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg und 1983 in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden gezeigt wurde, ist das Künstlerpaar auch im Westen, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, bekannt geworden. Im Vorwort des Kataloges zu dieser Ausstellung heißt es allerdings: „Sie [die Ausstellung - A.R.] bietet willkommene Gelegenheit, sich ausführlich über die Leistung und den Rang vor allem von Alexander Rodtschenko zu informieren, dessen Arbeiten unter den über 400 Exponaten auch zahlenmäßig dominieren." 1 Ungeachtet dieser häufig anzutreffenden und gleichsam als „Normalfall" vorausgesetzten Konstellation bei der Repräsentation einer Künstlerpartnerschaft erscheinen beide seitdem geradezu als Vorzeigepaar des Konstruktivismus, mit dem man gemeinhin auch das (zeitweise) Verschwinden der Geschlechterproblematik in der Kunst und die Realisierung von Unabhängigkeit und Kameradschaft in den persönlichen Beziehungen jenseits der Zwänge ehelicher Gemeinschaften assoziiert. 2 Vergleicht man die Bibliographien von Rodcenko und Stepanova, dann begegnet man allerdings wieder dem hinlänglich bekannten Sachverhalt, dass der langen Literaturliste über den männlichen Partner eine sehr viel kürzere seiner Partnerin gegenübersteht, 3 auch wenn über letztere inzwischen eine eigene Monographie erschienen ist. 4 Ihr Verfasser ist derselbe Aleksandr Lavrent'ev, der Enkel Stepanovas und Rodcenkos, der im Katalog der Ausstellung „Alexander M. Rodtschenko. Warwara F. Stepanowa. Die Zukunft ist unser einziges Ziel...", die 1991 zuerst im Osterreichischen Museum für Angewandte Kunst in Wien und anschließend im Moskauer Staatlichen Museum für bildende Künste „A. S. Puskin" in Moskau gezeigt wurde, eine neue Lesart des Künstlerpaares Rodcenko/Stepanova nahegelegt hat: „Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa - das waren zwei Leben, aber eine Kunst, ein Stil, ein Atelier. Rodtschenko und die Stepanowa waren sowohl ein Ehepaar als auch ,das kleinstmögliche schöpferische Kollektiv'.

Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

193

Von Zeit zu Zeit arbeiteten sie an gemeinsamen Themen. Dann wieder arbeiteten sie getrennt, und jeder hatte seinen eigenen Bereich, seine eigene Thematik und Technik. Für Rodtschenko waren das die Malerei, das Design, die Fotografie, der Film und das Theater. Das künstlerische Profil der Stepanowa war durch ihre Arbeiten in der .poetischen' Grafik, der Mode- und Textilgestaltung sowie der Buchgestaltung geprägt." 5 Warum Lavrent'ev Stepanovas Malerei zwischen 1919 und 1921 und deren Wiederaufnahme in den dreißiger Jahren sowie ihre szenographische Arbeit für Mejerchol'd und das Agitationsstück „Abend des Buches" hier beiseite läßt, ist nicht ganz verständlich, denn im Katalog der in Wien und Moskau gezeigten Ausstellung kommt beides angemessen zur Geltung. Uber die Rollen- und Aufgabenverteilung im „schöpferischen Kollektiv" seiner Großeltern urteilt Aleksandr Lavrent'ev folgendermaßen: „Rodtschenko war der .künstlerische Leiter' dieses kleinen Kollektivs. Er fertigte die Entwurfsskizzen mit phantastischer Leichtigkeit und Eleganz. Für jedes beliebige Thema schuf er eine ganze Palette von kompositionellen Ideen - etwa für Einbände und Plakate - , und er entwarf unzählige Varianten für die konstruktiven Lösungen von Gegenständen. Anschließend machte die Stepanowa dann die Projektzeichnungen sowohl für sich als auch für ihn. Sie leitete außerdem die Organisation des Ateliers, führte die Auftragsbücher und verhandelte mit den Verlagen." 6 Unschwer kann man in dieser Einschätzung den langlebigen Mythos des männlichen Künstlergenies erkennen, der sich über die „inventio", die Erfindung definiert, während der Künstlerin die letztlich herabmindernde Rolle der wenn auch geschickt und umsichtig agierenden Ausführenden und Multiplikatorin zugedacht wird. In den folgenden Betrachtungen soll untersucht werden, inwiefern diese Charakteristik Aleksandr Lavrent'evs aufrecht erhalten werden kann, nicht zuletzt auf der Grundlage jener Prämissen, die sich das Künstlerpaar zu Anfang seiner Beziehung im gegenseitigen Einvernehmen selbst gegeben hat, und gleichzeitig im Kontext eines sich verändernden Kunstbegriffes korrigiert und modifiziert werden muß. Als aufschlußreich erweisen sich dabei die in verschiedenen Medien - in Gedichten, Geschichten, Vignetten, Karikaturen und Fotos - imaginierten und dokumentierten Rollenspiele, auf die sich Rodcenko und Stepanova im Unterschied zu anderen russischen Künstlerpaaren ganz bewußt und in ästhetisierter Form eingelassen haben. Die Möglichkeit eines solchen Zuganges eröffnet sich vor allem dank der wiederum von Lavrent'ev und seiner Mutter Varvara Rodcenko in den letzten Jahren publizierten Aufzeichnungen aus verschiedenen Lebens- und Schaffensphasen sowohl von Stepanova als auch von Rodcenko, 7 ergänzt durch die unlängst erschienenen Erinnerungen von Varvara Rodcenko an ihre Eltern. 8 Rollenspiele und Maskeraden haben nicht nur von Anfang an die Beziehung zwischen Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova begleitet, sondern sie in gewisser Hinsicht auch strukturiert und ihr Außenbild geprägt. Vor ihrem Hintergrund entwickelten sich folgerichtig auch die alltäglichen Ausprägungen und Rituale im Zusammenleben und der 194

Ada Raev

Abb. 1

A l e k s a n d r R o d c e n k o . V a r v a r a S t e p a n o v a im Atelier, 1 9 2 4 . F o t o g r a f i e

künstlerischen Arbeit, zunächst in wechselnden Unterkünften, seit 1922 in der gemeinsamen Atelierwohnung in der Mjasnickaja ulica 4, wo die Familie Rodcenko noch heute ansässig ist und das Erbe des inzwischen berühmten Künstlerpaares verwaltet. Uber das gemeinsame Atelier als Ort und Spiegel der gelebten Paarbeziehung Rodcenko/Stepanova heißt es bei Aleksandr Lavrent'ev: „Das ganze Leben dieser Künstler spielte sich in ihrem Atelier ab. Es war gleichzeitig Zuhause und Arbeitsplatz. Der Atem der Zeit war in dem Atelier spürbar. [...] Der Arbeitstisch und die Staffelei bildeten den Mittelpunkt des Ateliers. Auf Rodtschenkos Tisch zum Beispiel lagen fast immer ein Stapel kariertes Schreibpapier für Skizzen, Buntstifte und Aquarellfarben sowie Retuschiertusche für Fotoarbeiten. Der Tisch war gleichzeitig Werkbank. Auf ihrem breiten, auf zwei Böcken stehenden Tisch hatte die Stepanowa entweder ihre Zeichenplatte aus Holz schräg aufgestellt und in einer flachen Schachtel Dreiecke, Lineale, Zirkel und Reißfedern untergebracht, oder es stand eine Schreibmaschine oder Nähmaschine darauf. Daneben befanden sich Tusche- und Gouache-Näpfe und auf der Ecke eine große, offene Schachtel Papirossy, denn die Stepanowa rauchte oft am Arbeitsplatz." 9 Schaut man sich die in den zwanziger und dreißiger Jahren aufgenommenen Fotos des Ateliers an, mal mit Varvara Stepanova, mal ohne sie, zuweilen mit beiden gemeinsam oder mit Gästen, dann fällt auf, dass an den Wänden des Ateliers im „Normalzustand" Aleksandr R o d c e n k o und Varvara S t e p a n o v a

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Abb. 2

Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova, 1922. Fotografie

immer Arbeiten von Rodcenko hängen (Abb. 1), während es sich bei den Ausnahmen um solche Fotos handelt, auf denen entweder Stepanova ausdrücklich vor bestimmten eigenen Werken (ζ. B. ihren Stoffentwürfen) posiert oder sich beide als Künstlerpaar inszenieren (Abb. 2). Diese Beobachtung wäre also ein erstes Indiz für die von Lavrent'ev, aber auch von anderen Autorinnen formulierte ideelle Führungsposition Aleksandr Rodcenkos innerhalb der künstlerischen Gemeinschaft Rodcenko/Stepanova. 1 0 Briefe, Gedichte, Prosatexte, Vignetten und Porträts aus der frühen Zeit der Bekanntschaft von Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova zeigen die Genesis dieses eigentlich traditionellen Modells, das im Dialog zwischen zwei romantischen, geradezu bühnentauglichen Phantasiefiguren seine Wurzeln hat und später weiterentwickelt wurde. Die Herkunft Rodcenkos und die familiäre Situation Stepanovas zum Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft erklären neben der damals verbreiteten Vorliebe für symbolistische Mystifikationen des Persönlichen, warum für beide ein verfremdendes Rollenspiel die geeignete Form war, der sich anbahnenden Beziehung den Rahmen zu geben. 196

Ada Raev

König Leander der Feurige und Königin Naguatta Aleksandr Michajlovic Rodcenko (1891-1956) und Varvara Fedorovna Stepanova (1894-1958) lernten sich 1913 in der Kunstschule von Kazan' kennen, gingen zunächst jedoch bald schon wieder getrennte Wege, da Varvara Stepanova die Schule ohne Abschluß verließ und nach Moskau übersiedelte. Dort machte sie sich beruflich selbständig, d.h. sie arbeitete als Buchhalterin in einer metallverarbeitenden Fabrik, obwohl sie in fiktiver Ehe mit dem Architekten Dmitrij Fedorov verheiratet war. 11 Zwischenzeitlich reiste sie auch nach Kostroma, wo ihre Mutter und ihre Schwester ansässig waren, doch fühlte sie sich dort als verheiratete Frau als ungebetener Gast und zusätzliche Esserin. Aus diesen kurzen Angaben geht hervor, dass Varvara Stepanova im Unterschied zu anderen Künstlerinnen ihrer Generation, wie z.B. Ljubov' Popova, nicht aus sehr wohlhabenden Verhältnissen stammte. Dasselbe gilt auch für Aleksandr Rodcenko, der der Sohn eines Theaterdekorateurs und einer Wäscherin war. Die buchstäblich im Theater verbrachte Kindheit Rodcenkos, seine frühe Erfahrung mit dem Imaginären, lieferte denn auch den Nährboden für die theatralisierte Fernbeziehung, die Rodcenko und Stepanova durch die Ubersiedlung Stepanovas nach Moskau und die Einberufung Rodcenkos zum Wehrdienst eingingen. Es war aber nicht das gesteigerte Leben im Theater, das Rodcenko seit seiner Kindheit inspirierte, sondern umgekehrt eine häufig wiederkehrende Empfindung der Einsamkeit, wie er in seiner 1940 verfaßten Autobiographie erklärt: „Auf der Kommode brennt die Petroleumlampe. In der Wohnung ist außer mir niemand. Mutter und Vater sind im Theater, der Bruder ist häufig außer Haus, um sich zu amüsieren. Ich bin allein, etwa sieben, acht Jahre alt. Die Lampe steht nicht auf dem Tisch, sondern auf der Kommode, damit ich sie nicht umstoße und nicht einen Brand entfache. Es ist still und langweilig. Um uns herum wohnt doch niemand. Es ist eine Dienstwohnung, die einzige über der Bühne. Ich kann nirgendwohin und zu niemandem gehen. Auf die Bühne kann ich nicht, weil es die Mutter nicht erlaubt: man könnte mich zerquetschen beim Kulissenwechsel. Aber es ist langweilig... Was soll ich tun?... Ich habe nichts zum Spielen und allein ist es langweilig. Ich sitze auf dem Sofa und schaue in die Lampe. Und sie brennt so langweilig, es ist so freudlos von ihrem Licht... Was bleibt, ist zu phantasieren und im herunterhängenden Handtuch oder Schwamm den Körper eines Leichnams und in den dunklen Ecken kauernde Ungeheuer zu suchen." 12 Gut zehn Jahre später, so verraten seine Tagebücher, waren es dunkelhaarige, Gedichte schreibende Studienkolleginnen, die seine nun erotisch aufgeladene Phantasie beflügelten, ehe er der ebenfalls brünetten Varvara Stepanova begegnete - sie hießen Anta Kitaeva und Tamara Popova, er sah und zeichnete sie durch den über Beardsley vermittelten Spiegel des Japonismus, wie er auch sein Zimmer in einen exotischen und gleichzeitig von ihm markierten Ort verwandelte: „Ich gestalte mein Zimmer. Ich habe das ägyptische Kostüm an die Wand gehängt, eine neue rote Laterne angebracht, habe Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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Studien, Skizzen und Zeichnungen aufgehängt..." 13 Wenig später heißt es: „Ich habe mir meine Wohnung eingerichtet. Habe einen Bücherschrank aufgestellt, es gibt viele Gedichte, da sind Gamardi, Strindberg, Wilde. An den Wänden japanische Skizzen, Anta im weißen Rahmen ... Mein Tisch ist mit hellgrünem Papier bespannt, darauf liegen Pinsel, Bleistifte, Fläschchen, Farbschachteln, Skizzenbücher, Zeitschriften, ein Porträt von VrubeP, eine Miniaturzeichnung meiner Mutter, ein Bronzebär, ein Papiermesser mit einem Griff aus Melchior, ein Notizbuch für Gedichte, das zur Hälfte mit meiner kleinen Handschrift und mit Federzeichnungen angefüllt ist." 14 Die Gewohnheit, Räume nach seinen Vorstellungen zu gestalten und sie mit seinen Schöpfungen zu füllen, sollte Rodcenko, wie bereits angedeutet, auch später beibehalten. A m 24. Dezember 1912 konstatierte er resigniert: „Mein zweiundzwanzigstes Lebensjahr... Allein... Mit meinen Entwürfen, Porträts, Tagebüchern, Gedichten, großen Träumen, unerfüllbaren Wünschen, mit meiner uneinlösbaren Liebe, mit all dem ewigen Bösen..." 15 Im August 1913 ist in eben dem zitierten Notizbuch zum ersten Mal von Varvara Stepanova die Rede, in jenem elegischen, für den Symbolismus charakteristischen Tonfall, den Rodcenko bis dahin gepflegt hatte: „Wie merkwürdig, dass Varja so traurig ist..." 16 Möglicherweise lieferte er selbst mit sadistisch-modischen Repliken wie den folgenden von 1914 Anlässe für die ebenso modische Stimmungslage seiner neuen Freundin: „Um ihr über meine Vergangenheit zu berichten, muß ich ihr unbedingt die Gedanken ebenso herausziehen wie die Sehnen..." 17 Es war allerdings alles andere als eine Position der Stärke, aus der heraus er zunächst agierte, eine solche wollte im „Geschlechterkampf" erst errungen sein. Fast meint man, Nietzsches Zarathustra zu hören: „Wie ein Dompteur darf man den aufmerksamen Blick nicht von ihr lassen, sonst ist sie in jeder Sekunde bereit, einem die Kehle durchzubeißen. Man darf keinen einzigen Fehler begehen, keine einzige schwache Seite preisgeben und muß sie immer in Erregung, in Mißtrauen, im Rätseln und im Ungewissen lassen, sonst beginnt sie, sich neue Abenteuer und Opfer zu suchen." 18 1914 Schloß Rodcenko die Kazaner Kunstschule ab und wurde zur Armee als Sanitäter einberufen; Stepanova siedelte, wie gesagt, nach Moskau über. Die räumliche Entfernung und der Kriegsalltag wurden durch einen Briefroman in Versen und romantischer Prosa überbrückt, deren Helden König Leander der Feurige und seine Geliebte, Königin Naguatta, sind, zuweilen in Pierrot und Columbine verwandelt (Abb. 3 und 4). Stepanovas Gedichte an den Geliebten füllen ein mit „Dem König meiner Träume" überschriebenes Album, während seine Texte von 1914-15 unter dem Titel „Die Labyrinthe König Leanders des Feurigen. Zauberische Handgelenke" zusammengefaßt sind. Leander/Rodcenko läßt an der Verteilung der Rollen von Anfang an keinen Zweifel; er geriert sich als Autor der Beziehung und als Gebieter über die Schönheit, nervös und eifersüchtig darüber wachend, dass die Partnerin seinen Gedanken und Geboten folgt. Schon seinen Entwurf der Leander-Legende schließt er so herrisch wie huldvoll: „Naguatta! 198

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Abb. 3

Abb. 4

Abb. 3 Varvara Stepanova. Porträt der Königin. Vignette für „Vision der Königin", 1914. Tusche auf Papier; 9 , 8 x 9 , 7 cm. Moskau, Rodcenko Archiv Abb. 4 Varvara Stepanova. Porträt Anti. Vignette für „Vision der Königin", 1914. Tusche auf Papier; 9 , 8 x 9 , 7 cm. Moskau, Rodcenko Archiv

Eingehüllt in den schwarzen Samt meines mit goldenen Vögeln bestickten Umhanges schreibe ich Dir eine Widmung. Mögen Deine kleinen Finger mit den blauen Nägeln die Seiten durchblättern, wie die strengen Nonnen im Flüstern der Dämmerung über den Rosenkranz gleiten, wenn im Rauschen der anbrechenden Nacht der schwarze Teufel gewandt über die exotische Sünde flüstert... Mögen Deine verschmitzten Augen, dem stillen Wiegen von Straußenfedern in der untergehenden Sonne gleich, wenn entfernte Flötenlaute und Moschusdüfte herüberwehen, meine merkwürdigen Kapitel sehen, die dem Wahnsinn eines Besessenen gleichen, der Weissagung eines Propheten in der Extase, dem kleinen Ungeheuer, das in meinem lackierten Schloß wohnt, Dir (mir?) selbst gleich, wunderbare Naguatta, wenn Du schwermütig am Teich auf jener Bank träumst, auf der ich Dir das ,Grüne Sonett' schrieb... Die Schönheit ist das einzige, wovor ich mich verneige, aber zunächst, nachdem ich dieses Buch geschrieben habe, widme ich es der Schönheit, und Du bist ihr erstes Werk, wunderbare Naguatta. Nimm mir zur Freude und zum Lohn dieses dünne Buch über mein Leben. Dein Hoher Gebieter und Herrscher und Beschützer Leander der Feurige." 1 9 Und Naguatta/Stepanova verhält sich, in Wilde'sche Worte gekleidet, ganz als Geschöpf seiner „Erweckung", das aber dennoch um seine Zuneigung kämpfen muß (!): „Höre, König, Hoher Gebieter! Im tiefen schwarzen Erdreich ward meine Seele eingeschlossen, durchsichtig, wie kristallene Luft... Sie träumte von einem König, dem alles Untertan ist. Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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[...] Sie suchte ihren König ... lange, lange... [...] Gequält, zerfleddert, verlor sie die Hoffnung... Doch er erschien, der König und Gebieter... Sie erkannte ihn und erstarrte vor Glück und vor Angst... Hätte sie ihn denn nicht erkennen können? Der König verachtete sie. Die Seele war nicht schön... Er ist der verfeinertste Ästhet... In der ewigen Erwartung hatte die Seele die Schönheit vergessen... Sie erstarb aus Furcht zu verlieren... Und entschloß sich... Im Bernsteinleuchter verbrannte die Seele... Der verwunderte König schuf aus der Asche eine neue Seele... Eine wunderbare, liliengleiche, eine merkwürdige, wie ein matter Opal... Viele Tage sind seitdem vergangen. Der König hat sein Wunder vergessen... Doch die Seele hat gewartet wie die Braut auf den Auserwählten... Plötzlich erklangen Saiten Narzissen und Iris erblühten... Die bleiche Seele empfing den König auf der Schwelle des Palastes... Und noch lange verströmten die Blumen ihren Duft... Und die Saiten... sangen Dir einen Hymnus, Leander, mein Gebieter... Zart klingt Dein Name in meinem Herzen... [...]" 20 Die Bewunderung Stepanovas für ihren Lebensgefährten sollte ein Leben lang anhalten, auch in späteren, politisch harten Zeiten, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie die Stärkere war.

Metamorphosen Noch im Reich von König Leander dem Feurigen und Königin Naguatta, in dem Versatzstücke aus der Spätantike, des Mittelalters, des 18. Jahrhunderts und der zeitgenössischen Decadence zu etwas gewollten, arabeskenhaften Sprachbildern verbunden sind, kündigte sich 1915 allmählich ein Wechsel der Rollen und des Ambientes an, der von Stepanova und Rodcenko parallel in verschiedenen Medien vorgenommen wurde, ohne dass die bisherige Konstellation gänzlich aus dem Blick geriet. Im März 1915 nannte Stepanova Rodcenko in einem Brief parallel zu der vertrauten Anrede „Leander" zum ersten Mal mit dem in der Familie üblichen Spitznamen „Anti", 2 1 der in den nächsten Jahren nicht nur in der Kommunikation zwischen beiden vorherrschen sollte, sondern auch als Pseudonym für 1918 in der Zeitschrift „Anarchija" („Anarchie") veröffentlichte Texte diente. Begründet wurde der neue Name nicht, doch legt er durchaus eine konzeptuelle Auslegung nahe. Möglicherweise sollte er 200

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signalisieren, dass Rodcenko sich nun nicht (mehr) als dem Mainstream zugehörig betrachtete, sondern auf einer geistigen Gegenposition im Sinne eines Bekenntnisses zu allem Modernen. Was blieb, ist der unbedingte Anspruch des Elitären, aus dem schon „Leander" seine Überlegenheit gespeist hatte und auch „Anti" seinen Führungsanspruch ableitete. Vielleicht ist es ja auch ein Widerhall des mephistophelischen Geistes, der stets das Böse will und Gutes dabei schafft, denn Rodcenko trug sich mit dem noch vagen, aber provokanten Konzept einer gänzlich neuen Kunst. Ob Stepanova mit ihrer neuen Anrede auf einen Brief Rodcenkos vom 20. M ä r z desselben Jahres geantwortet hat, muß offen bleiben, doch findet sich darin eine geradezu prophetische Formulierung dessen, w o r u m Rodcenkos Schaffen im kommenden Jahrzehnt kreisen sollte, verbunden mit einem Echo der vorangegangenen Poetik: „In einigen Tagen fange ich an zu arbeiten. Ja, ich habe gefunden, was ich malen werde, und wenn mir das, was ich vorhabe, auch gelingt, wird das sehr neu und kühn sein. Ich werde die Malerei (sogar die futuristische) davon befreien, woran sie sich bis jetzt sklavisch hält. [...] Ich habe den einzig originellen Weg gefunden. Ich werde Dinge zu lebenden Seelen und Seelen wie Dinge machen... Ich werde die Träume der Dinge, ihre Seelen, ihre Sehnsucht nach der Ferne, ihre dämmrige Trauer finden. Ich werde in den Menschen Dinge entdecken... Ich werde die Menschen zwingen, für Dinge zu sterben, und die Dinge zu leben. Ich werde den Dingen menschliche Seelen einpflanzen, so dass die Dinge zu Seelen werden." 2 2 Das Wort Design war noch nicht in Gebrauch gekommen, und Rodcenko arbeitete zu dem Zeitpunkt auch noch ganz in der Fläche, aber bereits mit Lineal und Zirkel, die ihm als Hilfsmittel dienten, um dynamische, auf Schwarz-Weiß-Kontraste beschränkte Formenarrangements entstehen zu lassen, in denen man bereits räumlich-plastische Wirkungen ausmachen kann. Ein Jahr später prägte Rodcenkos sich anbahnendes neues, rationales Kunstkonzept auch die Repräsentation der eigenen Person. Eine veränderte Körpersprache, ein angemessenes Kostüm und Requisiten für die neue Rolle finden sich auf einem Foto von 1916 (Abb. 5). Fast möchte man meinen, einen Flieger vor sich zu haben, der in Lederjacke, heruntergeklappter Mütze und mit Pfeife sitzend posiert und den Betrachter fest, nicht ohne visionäre Kraft fixiert. Während der Oberkörper leicht nach links verschoben ist, befindet sich das Gesicht genau auf der Mittelachse der Komposition, so dass der Blick als Inkarnation geistiger Energie und subjektkonstituierendes Moment alle anderen Aspekte in dem Porträtfoto dominiert. Zwei Fotos von Varvara Stepanova, das eine ebenfalls von 1916 (Abb. 6), das andere von 1917, geben Anlaß zu der Vermutung, dass auch sie zu dieser Zeit eine Wandlung durchmachte, die allerdings weniger radikal und zudem für Alternativen offen gewesen zu sein scheint. Die Dramaturgie der Fotos setzt auf Kontraste. Etwas an den rechten Rand gedrängt und in einer Passivität ausstrahlenden Sitzhaltung posiert die junge Künstlerin im dunklen Kleid mit weißem Spitzenkragen, mit einem länglichen GegenAleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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Abb. 5 Aleksandr Rodcenko Moskau, 1915 Fotografie

stand, wohl einem Pinsel oder einem anderen Malutensil, in den Händen. Der Kopf ist vom Betrachter aus nach rechts gewandt, so dass sich der melancholische Blick außerhalb des Bildes zu verlieren scheint. Dem Spitzenkragen mit Blumenmuster entspricht das rechts im Hintergrund sichtbare jugendstilige Tapetenmuster. Die Irritation der beiden Fotos (im zweiten sind Pinsel und Spitzenkragen weggelassen) ergibt sich aus dem Arrangement links hinter der jeweils unentschlossen wirkenden Stepanova. Im ersten Fall ist es eine an Kazimir Malevic gemahnende suprematistische Komposition aus sich überlagernden Flächen, im zweiten ein aus verschiedenen Materialien montiertes Konterrelief, als dessen Erfinder Vladimir Tatlin gilt. Das heißt, die sich im Alltag noch romantisch gebende Stepanova (obwohl die zum Pagenschnitt geschnittenen Haare schon kürzer sind) sieht sich bereits bzw. wird vor den beiden prinzipiellen Möglichkeiten der Avantgardekunst in Rußland gesehen und erscheint insofern durchaus als Pendent zu ihrem sich schon ganz bewußt modern gebenden Partner. 23 202

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Abb. 6 Varvara Stepanova im Atelier, Moskau 1916 Fotografie

Mit anderen Worten, beide durchliefen in den Jahren 1915-16 wie viele andere Avantgardekünstlerlnnen in Rußland eine Ubergangsphase, die aufgrund ihres späteren Geburtsdatums gedrängter ausfiel und gleichsam nahtlos in die nachrevolutionäre Zeit mündete. Obwohl Stepanova und Rodcenko seit 1916 zusammen in Moskau lebten, verlief ihre künstlerische Entwicklung keinesfalls deckungsgleich, wenn auch in wechselseitiger Berührung. Aleksandr Rodcenko beteiligte sich schon 1916 an der von Tatlin organisierten Ausstellung „Magazin" („Der Laden"), unter anderem mit dem kubofuturistischen Gemälde „Tanz". Arbeiten von Stepanova sind dagegen erst seit 1917 faßbar, als sie, angeregt durch Ol'ga Rozanovas futuristische Buchillustrationen, begann, sich mit visueller Poesie zu beschäftigen. Im Kontext der revolutionären Ereignisse und in deren Folge brachten sich beide nicht nur aktiv in die Umgestaltung Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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des kulturellen Lebens und seiner Institutionen ein, sondern entwickelten im Zusammenhang mit den sich ständig verändernden Definitionen des Kunstbegriffes auch neue Formen der Zusammenarbeit und Arbeitsteilung. Und doch ist es bei näherer Betrachtung nicht so sehr das Gleichheitsprinzip, worauf sich ihr Verhältnis auf der Ebene der Kunst gründete, wie Jekaterina Djogot betont: „Von den vielen Rollen, die Stepanowa im künstlerischen Bereich spielte - Künstlerin, Autorin von Erklärungen, Erfinderin neuer künstlerischer Strukturen, Agitatorin für die neue Kunst - war ihre Funktion als Aufzeichnerin seiner zahlreichen Ideen von besonderer Bedeutung. Ohne ihre Tagebücher, in denen sich das Pronomen ,ich' abwechselnd auf ihn und sie bezieht, wären zumindest die Ideen von 1919-21 verlorengegangen. In späteren Jahren übernahm Stepanowa eine weitere Aufgabe und agierte als .Verwalterin' der gemeinsamen Buchentwürfe, was ihre Tochter Warwara dazu veranlaßte, sie als .Sekretariatsroboter' zu bezeichnen." 24 Im gewissen Sinne blieb Rodcenko für Stepanowa also auch weiter der „Hohe Gebieter", nur dass sie zunehmend ohne direkte Anweisungen, aus eigener Überzeugung heraus 25 agierte und parallel auch ihre persönlichen künstlerischen Anliegen verfolgte. Zu diesem Zweck trat sie unter den Pseudonymen „Varst" oder „V. Agrarych" auf. Wohl nicht zufällig sind beide so gewählt, dass sie keine weibliche Endung aufweisen, um gar nicht erst den Gedanken an eine „weibliche" und damit bewußt oder unbewußt als zweitrangig eingestufte Kunst aufkommen zu lassen.

Als Entdecker, Erfinder, Clowns und Konstrukteure auf Zukunftskurs Bereits nach der Februarrevolution engagierten sich Rodcenko und Stepanova gemeinsam bei der Umorganisierung der künstlerischen Vereinigungen. Sie gehörten zu den Gründungsmitgliedern einer Gewerkschaft der Kunstmaler mit drei Föderationen der Altesten, Mittleren und Jungen. Rodcenko wurde Sekretär der „Jungen Föderation" und konnte in ihrem Rahmen Ende 1917 eine erste Einzelausstellung zeigen. Ab 1918 nahmen sie dann in der Regel gemeinsam an den von ihnen mitorganisierten staatlichen Ausstellungen (so an der 5., der 10. und der 19.) teil und belegten, wie Aleksandr Lavrent'ev betont, mit ihren Gemälden und Graphiken zuweilen ganze Räume. Rodcenko gehörte außerdem zum Führungskreis der Abteilung Bildende Kunst im Volkskommissariat für Bildung und war in dieser Funktion auch am Aufbau des Moskauer Museums für Malerische Kultur (einem Museum für moderne Kunst) beteiligt. 1920 gehörten beide zu den Mitbegründerinnen des INChUK (Abkürzung für „Institut für künstlerische Kultur") und betrieben gemeinsam dessen Umorientierung auf konstruktivistische Positionen. Darüber hinaus nahmen beide auch Lehraufgaben an den neu geschaffenen Bildungseinrichtungen wahr - Rodcenko von 1920 bis 1930 als Professor an den VChUTEMAS und VChUTEIN (1922 als Dekan der Fakultät für 204

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Metallverarbeitung), Stepanova von 1920 bis 1925 an der Ν . K. Krupskaja-Akademie für Kommunistische Erziehung. A m 25. August 1919 hatte Aleksandr Rodcenko im Zusammenhang mit dem A u f bau des Museums für Malerische Kultur eine imaginäre Begegnung mit dem Künstlerpaar Goncarova/Larionov, das zu den Wegbereitern der russischen Avantgarde gehörte, inzwischen aber bereits einige Jahre in Frankreich lebte. In seinem Tagebuch ist unter diesem D a t u m zu lesen: „ H e u t e haben wir die Sachen [die Werke] der Künstler Larionov, M. und Goncarova, N . gesichtet. D i e Menge ihrer Arbeiten hat mich in Erstaunen versetzt. Zwei Zimmer, buchstäblich vollgestopft mit Gemälden. Eine solche Produktivität hat mich sehr berührt. Freilich, sie hatten Bedingungen, unter denen diese Arbeiten ohne besondere Anspannung entstanden, man arbeitete einfach ehrlich, das ist heute einfach unmöglich. Ich wollte, dass nach meinem Leben nicht weniger Arbeiten überdauerten als bei diesen beiden." 2 6 Das empfangene Signal blieb nicht folgenlos. Ungeachtet der materiell außerordentlich schwierigen Lebensbedingungen im nachrevolutionären Rußland konzentrierten sich auch Rodcenko und Stepanova in den kommenden Jahren neben ihren institutionellen Verpflichtungen ganz auf ihre künstlerische Arbeit. Wiederholt bekannte R o d e n k o in seinem Tagebuch: „Die Arbeit ist Genuß, das Leben ist Leiden. Ich möchte nur eins: ein Jahr lang wie eine Maschine arbeiten und alles absolvieren, was mir in meinem ganzen Leben gegeben ist..." 2 7 A m 5. Januar 1919 begann Varvara Stepanova ihr Tagebuch zu schreiben, in dem sie über weite Passagen den schwelenden Dissens und die Konkurrenz unter den linken Künstlern im Vorfeld der 10. Staatlichen Kunstausstellung dokumentiert. In aller A u s führlichkeit hält sie dabei die Positionen Rodcenkos fest. Er sah sich zunächst gemeinsam mit Rozanova und Tatlin als Vertreter des „gegenstandslosen Schaffens" im Unterschied zu den Suprematisten (Popova, Malevic , Kljun, Min'kov, Udal'cova, Drevin). Stepanova erwähnt er in seinen Überlegungen nicht. Wie so häufig, verzichtete sie darauf, eine eigene Meinung zu äußern, was nicht heißt, dass sie keine hatte, sondern sich wohl mit seiner Argumentation identifizierte. D a s mag ihr um so leichter gefallen sein, als sie es ja war, die im Tagebuch die Redaktion seiner Aussagen vornahm und somit ihr angemessen scheinende Formulierungen einbringen konnte. Seine Werke (Bilder Schwarz in Schwarz und einige Skulpturen, zusammenlegbare und zerlegbare Kompositionen nach dem Prinzip gleicher Formen) bewunderte sie vorbehaltlos: „Tatsächlich - diese Ausstellung ist ein Wettstreit zwischen Anti und Malewitsch, die anderen sind belanglos. [...] Zunächst über die Arbeiten von Anti... Anti hat herrliche Gemälde ausgestellt, genau jene Art von Malerei, die ,sie' alle suchen und Anti nicht zugetraut hätten. Wodurch seine schwarzen Arbeiten noch bestechen, ist die Tatsache, dass sie ohne Farben sind. Sie sind ausschließlich durch ihre Malerei stark und werden nicht durch nebensächliche Elemente verdeckt, nicht einmal durch Farben. TatsächAleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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lieh, seine ,Schwarzen' sind die Renner der Saison. [...] Antis Arbeiten kann man von drei Gesichtspunkten her betrachten: erstens als neuen Schritt in der Malerei nach dem Suprematismus, zweitens als professionelle Eigenschaft der Malerei und der Faktur und drittens als Beispiel für neue schöpferische Tafelmalerei." 2 8 N a c h außen, d.h. auf der am 27. April 1919 eröffneten 10. Staatlichen Kunstausstellung und im Katalog, traten jedoch beide in Erscheinung. Rodcenkos Katalogbeitrag ist knapp und selbstbewußt mit „ D a s System R o d c e n k o " überschrieben. Sein Anspruch konnte (wie auch früher) maximalistischer nicht sein, ja, er nahm gleich selbst die Einordnung seiner Kunst in den historischen Entwicklungsprozeß vor: „ D a s Scheitern aller ,-ismen' in der Malerei war der Beginn meines Aufstiegs. [...] Die Malerei ist der Körper, das Schöpfertum ist der Geist. Meine Sache besteht darin, N e u e s in der Malerei zu schaffen, und deshalb zeigt sich meine Sache durch die Tat. [...] Christoph Kolumbus war weder Schriftsteller, noch Philosoph, er war einfach nur der Entdecker neuer Länder." 2 9

Ungeachtet des weit gesteckten Horizontes

verblieb

Rodcenko für die nächsten zwei Jahre noch im System der Malerei und der freien Graphik. Es entstanden so wichtige Serien wie „ D y n a m i k der Fläche", „Farbkonzentratio n " , „Linien", „Schwarz auf Schwarz" und sein Triptychon von drei monochromen Bildern in Rot, Gelb und Blau. Auch Varvara Stepanova beanspruchte mit den von ihr gezeigten Beispielen der „Visuellen Poesie" die Position einer Erneuerin, allerdings weniger pathetisch und ohne eine metaphorische Legitimationsfigur zu bemühen. In ihrem mit V. Agrarych unterzeichneten Text „ U b e r die ausgestellten Graphiken" heißt es erklärend: „Ich verbinde die neue Bewegung des gegenstandslosen Verses, als Klänge und Buchstaben mit dem malerischen Eindruck, der dem Versklang zu einer neuen lebendigen visuellen Aussage verhilft. Indem ich durch die malerische Graphik die leblose Eintönigkeit fortlaufender Buchstaben zerstöre, gelange ich zu einer neuen Art des Schaffens. Auf der anderen Seite habe ich durch die Wiedergabe der gegenstandslosen Poesie der beiden Bücher „Zigra ar" und „Rtny chomle" mit Hilfe der malerischen Graphik den T o n als neue Eigenschaft in die Graphik eingeführt und dadurch ihre quantitativen M ö g lichkeiten vergrößert." 3 0 Außerdem enthält der Katalog der 10. Staatlichen Kunstausstellung noch einen weiteren Text von Stepanova, der dem Thema der Ausstellung gewidmet ist: „ U b e r das gegenstandslose Schaffen". Darin gibt es einen bemerkenswerten Satz, der sowohl ihre Orientierung an Rodcenko als auch ihr Bemühen um Eigenständigkeit offenbart, letzteres vor allem im Zusammenhang mit bestimmten Charakteristika ihrer eigenen Werke: „ D a s gegenstandslose Schaffen ist vorläufig nur der Beginn einer neuen großen Epoche, eines bis jetzt noch nie gesehenen Schöpfertums, dem es bestimmt ist, die Türen zu Geheimnissen zu öffnen, die tiefer reichen als die Wissenschaft und Technik." 3 1 Während Rodcenko zu dieser Zeit ausschließlich geometrische Formen einsetzte, die mit Hilfe von Instrumenten für technisches Zeichnen entstanden, legte sich Stepanova diesbezüglich nicht fest. Zwar benutzte auch sie 206

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zuweilen kariertes Papier, Lineal und Schreibmaschine, doch bestand ihr Ziel nicht in der Erlangung mathematisch-geometrischer Perfektion. Indem sie auch den Gestus der Hand gewähren ließ und in der Anordnung der F o r m e n wie bei der Verwendung der Buchstaben logische Zusammenhänge negierte, distanzierte sie sich von einem allzusehr auf Rationalität setzenden Kunstbegriff. In einem 1920 entstandenen, aber damals schließlich nicht veröffentlichten T e x t Stepanovas wird diese Haltung noch einmal vertieft: „Das formale Herantreten, das man jetzt in der Kunst sucht, ist der Tribut an den Materialismus der Zeit. Niemand von uns jedoch richtet sich jemals beim Schaffen nach der Mathematik. Ich verweigere mich dem Gedanken, dass ein Maler oder sogar dass bei jedem Malen man sich zuerst die Aufgaben stellt und dann erst malt. [...] Gründliche Kenntnis schafft noch keinen Erfinder, der mit seiner erfinderischen Einbildungskraft und seinen technischen Fertigkeiten sein W e r k , seine Erfindung, das Unbegreifliche real verwirklicht. [...] In einem W e r k wie auch in einer Erfindung gibt es nur das, was dort wirklich real ist, und genaue Kenntnisse können nichts hinzufügen. Das ist das Unbegreifliche (das W u n der) oder es war etwas Unbegreifliches (ein Wunder), wenn es bereits dessen entkleidet, d.h. erforscht worden ist." 3 2 Dieser T e x t gründet auf einer mehrseitigen Tagebuchaufzeichnung Varvara Stepanovas vom 22. August 1920, die in Bezug auf unser Thema, die Rollenspiele innerhalb des Künstlerpaares Rodcenko/Stepanova, von einiger Brisanz ist. Es bleibt nämlich unklar, ob die geäußerten Gedanken von Stepanova selbst entwickelt wurden, oder als Ergebnis eines Gespräches mit Rodcenko, genauer, eines langen Monologes seinerseits, notiert wurden. Im letzten Absatz der Eintragung heißt es in Klammem: „Aus Gesprächen Antis mit mir, wobei ich einfach geschwiegen und er gesprochen hat." 3 3 Hierbei muß man aber bedenken, dass Stepanova die klarere und gewandtere F o r m u liererin war, so dass die Situation gar nicht so eindeutig ist, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Sie spiegelt eher den symbiotischen Charakter der Beziehung zwischen Stepanova und Rodcenko, in der jeder seine Stärken ausspielte und beide davon profitierten - sowohl im familiären Rahmen, der von beiden als O r t des Austausches und von Anregungen genutzt wurde, als auch nach außen, w o beide je nach den konkreten Erfordernissen entweder eine Meinung vertraten oder aus strategischen Erwägungen als Antipoden auftraten. Für den zur Rede stehenden T e x t sind also zwei Varianten denkbar. I m ersten Falle würde Stepanova eine prinzipielle Gegenposition zu Rodcenkos rationalistischer und willensbestimmter Haltung einnehmen, die sich sowohl mit ihrer Einschätzung seiner künstlerischen Begabung und Neigungen deckt 3 4 als auch in ihren eigenen, zwischen 1919 und 1921 entstehenden Figurenbildern (als Gemälde, Zeichnungen und Linolschnitte) zum Ausdruck kommt. Letztere sind zwar durch Figurenbilder und die reduktionistischen Experimente Rodcenkos mit der Linie inspiriert, aber dennoch eigenständig und von seinem Ansatz abweichend realisiert. R o d c e n k o war sich dieser Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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Abb. 7 Varvara Stepanova Zwei Figuren (weiblich und männlich) Nr. 52, 1920 Linolschnitt auf Papier 16,5x11,5 cm St. Petersburg Staatliches Russisches Museum

Differenz nicht nur bewußt, sondern sah darin zwei miteinander verbundene Ausprägungen der neuesten Kunst: „Ich denke die neuen Sachen ,Lineismus' zu nennen. Eine neue Richtung des gegenstandslosen Schaffens. Für den Ausdruck größerer Konstruktivität und des Gebautseins der Komposition wird auch die Fläche eliminiert, und auch der alte Favorit, die ,Faktur', wird aus Mangel an Bedarf aufgegeben. Die Sachen von Varst kann man als .Neuen Realismus' bezeichnen. Ein aus dem Lineismus hervorgehender neuer Realismus auf dem Gebiet des gegenständlichen Schaffens, eines völlig neuen Verständnisses des Gegenstandes nach dem abstrakten gegenstandslosen Schaffen." 35 Neben ein- und vielfigungen Kompositionen gibt es unter Stepanovas Figurenbildem auch solche mit Paaren (Abb. 7), die sich aus einer männlichen und einer weiblichen Figur zusammensetzen. Eingebunden in einen gemeinsamen Bewegungsimpuls und übergeordnete Formzusammenhänge, befinden sie sich jeweils in einem rhythmisch ausgewogenen und aufeinander abgestimmten, manchmal kontrapunkti208

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sehen Verhältnis. Lediglich aufgrund der von links nach rechts verlaufenden Wahrnehmungskonvention und des dynamischen Schrittmotivs kann man bedingt von einer Führungsrolle der männlichen Figuren sprechen, gleichsam als Analogie zu der von Rodcenko vorgebrachten Verknüpfung von Lineismus und Neuem Realismus. Die eben beschriebene Konstellation leitet uns zum zweiten Fall über, bei dem wir es mit einer subtilen Dramaturgie im öffentlichen Auftreten des Künstlerpaares Rodenko/ Stepanova gerade in Anbetracht der harten Auseinandersetzungen um die Perspektiven der modernen, gegenstandslosen Kunst zu tun hätten. 1920/21 formulierte Rodcenko auch seinen manifestartigen Text über den Lineismus 36 und galt ohnehin schon als Verfechter einer neuen, ganz von der Ratio her bestimmten Kunst. In dieses Bild paßt auch sein Eintreten für die Einrichtung eines Museums für Experimentelle Technik. 37 Wenn Stepanovas Behauptung richtig ist, dass sie nur seine Worte wiedergebe, dann legt Rodcenko intern ein Geständnis ab und offenbart damit eine ganz andere oder besser gesagt parallel laufende, durchaus idealistische Kunstauffassung, von der er aber meint, sie wegen seiner spezifischen Reputation nicht äußern zu können: „Es ist natürlich Unsinn, wenn man über meine Bilder sagt, ich würde darin über Konstruktion, Komposition, über Mathematik oder über ein genaues, kaltes Kalkül sprechen, aber darüber kann man jetzt noch nicht reden. Diese formale Herangehensweise, die man jetzt in der Kunst sucht, ist ein Tribut an den Materialismus. Ich lasse mich doch im kreativen Prozeß nie von der Mathematik leiten und denke mir nicht zuerst Aufgaben aus, die ich dann löse, wie es jetzt üblich ist zu behaupten. Du malst so oder so und weißt anfangs gar nichts, aber wenn sich schließlich etwas fügt, dann beginnst du nachzudenken und denkst sehr viel nach, allerdings darüber, wie es technisch am besten zu machen wäre. Das ist ja gerade das Ding - warum dir ein Werk gelingt und bei einem anderen mit ebensolchen oder besseren technischen Kenntnissen und Möglichkeiten keine Kunst entsteht - das ist eben Genie, Talent." 38 Dieser zugegebenermaßen etwas verwirrende Sachverhalt ist in jedem der beiden Fälle ein Beispiel dafür, dass Rodcenko und Stepanova in künstlerischer Hinsicht die Rollenverteilung in ihrer Paarbeziehung operativ handhabten. Sie legten sich weder den Zwang auf, immer und in allen Fragen einer Meinung zu sein, noch bestanden sie auf Ubereinstimmung von internem und externem Auftreten. Insbesondere Rodcenko scheint zwischen Außen- und Binnenverhalten ganz bewußt unterschieden zu haben, womit sich die impulsive Stepanova eher schwer tat: „... es ist schwierig, etwas über Antis Temperament zu sagen. Zuweilen sieht es so aus, als ob er ein eiserner Mensch ohne jedes Temperament sei, fürchterlich träge und starrköpfig; doch manchmal legt er eine so ungewöhnliche Aktivität an den Tag, dass es scheint, als habe er ganz außerordentliches Temperament. Nach Aussagen von Leuten, die ihn wenig kennen, erscheint er direkt, von unausstehlichem Charakter. Außerdem sei er böse, aber nicht aufbrausend,,macht keinen Schritt zurück', wie er selbst sagt. Nach meinem Dafürhalten ist er nicht böse, sondern wegen verschiedener Anlässe wohl gereizt, da er zu Hause auch sehr zärtlich Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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Abb. 8 Aleksandr Rodcenko Selbstbildnis, 1920 Ö l auf Leinwand und Sperrholz. 4 8 x 3 8 cm Moskau, Rodcenko Archiv

und fröhlich ist und schrecklich herumalbert. Niemand kennt den richtigen Anti, da er keine Freunde hat und von äußerst verschlossenem Charakter und frei von jeglicher Sentimentalität ist." 39 Von 1920 datieren zwei bemerkenswerte Selbstbildnisse von Rodcenko und Stepanova in Büstenform (Abb. 8 und 9). In Ol gemalt, überraschen sie nicht nur mit einem pastosen, geradezu fauvistischen Farbauftrag und schwarzen Konturen, die die grobe Silhouette umfassen, sondern auch durch die Maskerade, die beide gewählt haben: als Clown. Damit reihen sie sich ein in die große Zahl an Künstlerinnenselbstbildnisse in der russischen Moderne und Avantgarde, die durch ein weit gefächertes Rollenspektrum zwischen „hoch" und „niedrig" gekennzeichnet sind. Gerade die Neoprimitivisten im Umkreis des „Karo-Buben" gefielen sich in der Attitüde des ungehobelten, vitalen Außenseiters jenseits der bürgerlichen Konventionen. Diese waren es auch, die Rodcenko und Stepanova von Anfang an durch ihre Kunst überwinden wollten, zunächst von der Position eines sich romantisch-elitär gebenden Ästhetentums aus, dann als kompromißlose Neuerer. Mit der Clownsmaske knüpften sie also auch wieder an ihre frühere Praxis an, in fremde Rollen zu schlüpfen, um im Dialog ihr eigenes 210

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Abb. 9 Varvara Stepanova Selbstbildnis, 1 9 2 0 Ö l auf Sperrholz 7 1 x 5 2 cm Moskau, Rodcenko-Archiv

Credo zu verkünden. Varvara Stepanova verzeichnet in ihrem Tagebuch für diese Zeit auch gemeinsame Besuche im Zirkus, der einzigen Form des Theaters, die Rodcenko damals akzeptierte, da ihm das traditionelle Theater, seine Besucher und die dort üblichen Rituale (zum Beispiel Bälle im Anschluß an die Vorstellung) seit seiner Kindheit als Inbegriff alles Konventionellen galten. Hier erlebte er die Menschen nach seiner Aussage mit wenigen Ausnahmen als „Menschlein". Eine solche sah er insbesondere im Maskenbildner: „Er arbeitete die ganze Zeit, und die Leute verwandelten sich unter seiner Arbeit [den Händen] im Handumdrehen. Er selbst blieb dabei immer derselbe kleine und fröhliche Mann, und das gefiel mir. Die Schauspieler kamen mir auch unwirklich vor, doch meiner Meinung nach .erschreckten' sie den Saal, weshalb sie doch gebraucht wurden." 4 0 Wenn er sich Jahrzehnte später als Clown malte, vereinigte er im Bild von sich selbst also mehrere Momente des Gebrauchtwerdens, des Wirklichen, die ihm als Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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Kind so rar vorgekommen waren, denn der Clown ist vor allem das Produkt der Imagination dessen, der ihn spielt: Er entwirft seine Maske selbst und ist gleichzeitig der Autor, der Regisseur und der Interpret seiner tragikomischen Spiele, die oberflächlich zwar um die Gunst des Publikums buhlen, diesem jedoch in keinesfalls affirmativer Absicht auch den Spiegel vorhalten. In der Maske und im Spiel des Clowns fallen Autor und Werk in eins. Diese besondere Qualität der Kunstfigur des Clowns wird in den beiden Selbstbildnissen von Rodcenko und Stepanova deutlich, und dies in einer Art Wechselspiel. Während die gewählten Bildausschnitte wichtige Charakteristika der Persönlichkeit beider transportieren, sind die grotesk wirkenden Gesichtsmasken aus Zitaten wichtiger Elemente ihrer Malerei komponiert. Der Büstenausschnitt in Rodcenkos Selbstbildnis ist kurz unter der Halspartie abgeschnitten, was die Suggestionskraft des en-face dargestellten Gesichts mit den abstehenden Ohren verstärkt. Die weit geöffneten Augen im Schnittpunkt von Horizontale und Vertikale des Bildformates, also im Zentrum des Bildes, entsprechen den Kreissegmenten vieler seiner Bilder, und auch die Stirn wird von einer großen, geschlossenen Kreisform beherrscht. Die Linie tendiert trotz ihrer Funktion, physiognomische Eigenheiten zu bezeichnen, doch zu geometrischer Strenge, insbesondere in der Nase-Augenpartie, womit der starre und zwingende Blick des Sehers, einer traditionellen Form des Künstlerselbstbildnisses, nunmehr mit modernen Mitteln betont und aktualisiert wird. Dazu steht der schönlinig und sinnlich gezeichnete Mund in einem gewissen Kontrast. Verwandt und doch anders, ja geradezu gegensätzlich, mutet das Selbstbildnis von Stepanova an. Sie entschied sich wohl nicht zufällig für einen größeren Büstenausschnitt und für eine leichte Wendung aus der Mittelachse heraus. Dadurch überwiegt in ihrem Selbstbildnis nicht die Kontemplation, sondern die Aktion, was auch in der Mimik seinen Ausdruck findet. Die Gesamtform des Gesichtes wie die Einzelformen, besonders Mund und Nase, sind kantig und bewußt grob gehalten. Zwei liegende, sich in einem labilen Gleichgewicht kreuzende Linien bezeichnen den Sitz der weit auseinander liegenden knopfartigen Augen; ein Gittersystem auf der Stirn, wie es Stepanova häufig in ihrer visuellen Poesie verwendet hatte, mutet wie ein Stirnrunzeln an, so dass der gestisch-physiognomische Ausdruck als ins Groteske gesteigerte entschlossene und dynamische Handlungsbereitschaft zu lesen ist. Schaut man die beiden clownesken Selbstbildnisse zusammen an, dann konstituiert sich das Bild einer effektiven Doppelrolle, in der das Künstlerpaar in den kommenden Jahren, in der Zeit der gesellschaftlichen Aktualität des Konstruktivismus in der frühen Sowjetunion, brillieren sollte, bestehend aus der Wechselwirkung zwischen suggestiver Ideenproduktion und ihrer entschiedenen, aktivistischen Umsetzung, die zu ihrer Wirksamkeit einander bedurften. Im selben Jahr entstand auch ein erstes fotographisches Selbstbildnis unter dem Titel „Umherziehende Musikanten" (Abb. 10), Abschied und Neuanfang in einem. Abschied deshalb, weil hier noch einmal die romantisch-ritterliche Tradition des Troubadours 212

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Abb. 10 Umherziehende Musikanten 1921. Fotografie [Erstes Doppelporträt von Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova. Im Hintergrund sind einige von Stepanovas Figurenbildern zu sehen.]

aufgegriffen, aber gleichzeitig persifliert wird. Der kniende Sänger, schmachtend und herausfordernd in einem, bringt seiner ihm huldvoll zugeneigten und ergebenen Geliebten ein Ständchen dar - vor der Modernität atmenden Kulisse von Stepanovas dynamisch-expressiven Figurenbildern - Musikanten und Tanzenden. Neuanfang auch deshalb, weil die grotesk verfremdeten Requisiten eine Mischung aus kubistischen und konstruktivistischen Accessoires, um nicht zu sagen, Fetischen sind - eine auf dem Griff stehende Gitarre, ein Riesenpinsel, Lineal, ein umgekippter Stuhl und eine riesige Glühlampe. Wie hatte doch Rodcenko gesagt: Er wolle Dingen eine Seele geben und die Menschen zwingen, Dinge anzubeten. Noch hat Rodcenko nicht selbst fotografiert, doch ein Anfang mit der neuen Technik ist gemacht. Rodcenko hatte es mit seinen radikalen Positionen leichter, sich unter Künstlerkolleginnen durchzusetzen, während die etwas jüngere Stepanova zu Beginn ihrer Existenz als Künstlerin auf Vorbehalte stieß. Das äußerte sich unter anderem darin, dass Aristarch Lentulov mehrere Versuche unternahm, sie mit Unterstützung anderer eheAleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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maliger Mitglieder der von 1910/11 bis 1917 existierenden Künstlergruppe „KaroBube" aus dem 1920 gegründeten Institut für Künstlerische Kultur auszuschließen, wo sie dann die Funktion einer Sekretärin inne hatte (d.h. einer wissenschaftlichen Sekretärin). 41 Es erstaunt, wie ruhig und gelassen sie in ihren Aufzeichnungen auf die entsprechenden Vorkommnisse reagierte und sich nicht hinreißen ließ, diejenigen, die gegen sie wiederholt intervenierten, zu diffamieren. Sie war klug genug, es nicht nur persönlich zu nehmen, sondern darin auch einen Konflikt zwischen verschiedenen Generationen und Richtungen zu sehen und gemeinsam mit Rodcenko einen Gegenangriff zu organisieren: „Gestern war ein .großer Tag'. Bei uns fand eine Sitzung des Rates der Meister, oder wie es jetzt heißt, des Instituts für Künstlerische Kultur, statt, und wir beschlossen, als Antwort auf Lentulovs Vorschlag über meinen Austritt, in dem Raum, wo wir zusammensaßen, eine große Zahl meiner Arbeiten [es handelte sich um die oben erwähnten Figurenbilder - A. R.] auszustellen. Anti hat sie wunderbar aufgehängt - eine Wand ganz voll und noch eine kleine Wand. Es war unmöglich, sie zu übersehen - so leuchteten sie und waren so effektvoll, dass sie den Raum mit Freude erfüllten." 4 2 Es tat ihr gut, von Aleksandr Sevcenko, Robert Fal'k und vor allem von Vasilij Kandinskij Bestätigung und Rückendeckung zu erfahren, obwohl sie sich gerade bei Kandinskij (der ja ein halbes Jahr später in der Tat das I N C h U K verließ, weil er nicht auf konstruktivistische Positionen umschwenken wollte) nicht sicher war, ob dieser mit ihrer verdinglichten Figurenmalerei wirklich etwas anfangen konnte. Was sie in dem Konflikt verdrängte, war die geschlechtsspezifische Färbung der Vorgänge, die für Rodcenko wiederum außer Frage stand. Er erkannte darin außer der „normalen" Geringschätzung dem Werk einer Frau gegenüber noch einen weiteren Aspekt, eine perfide Doppelstrategie, die ihm jedoch letztlich zum Nutzen gereichte, seine Partnerin allerdings doppelt traf: „Anti meint, dass jedes Schlechte auch sein Gutes habe und dass all das, was jetzt auf mich herniedergeht, für ihn nur von Vorteil sei, und dass all diese Schläge natürlich an ihn adressiert seien, seine Position aber nur stärkten, von ihm sei gar nicht mehr die Rede; er sei gewissermaßen anerkannt und ich würde als ablenkende Zielscheibe dienen." 43 In seinen eigenen Aufzeichnungen ging Rodcenko mit keinem Wort auf diese Vorgänge ein, sondern konzentrierte sich darin wie gewohnt ganz auf sein eigenes Schaffen. Nach außen setzte er sich offensichtlich im Rahmen der Möglichkeiten für Stepanova ein, was nicht immer wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Davon zeugt eine Tagebuchaufzeichnung Nadezda Udal'covas vom 20. August 1920: „Rodcenko schleppt Varvara [Stepanova] in die zweite Reihe, doch ist die Kommission mutig genug, sie durchfallen zu lassen." 44 Bei der Kommission, von der hier die Rede ist, handelt es sich um das dem Volkskommissariat für Bildung unterstellte Museumsbüro, das mit der Auswahl von anzukaufenden Bildern für den Staatlichen Museumsfond beauftragt war. Ihm gehörten vor allem linke Künstler (darunter Vasilij Kandinskij, David Sterenberg, Aleksandr Rodcenko u.a.) an. In Anbetracht der schwierigen materiellen Lage der Künstlerinnen (privates Mäze214

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natentum spielte im Land der Sowjets kaum noch eine Rolle) und der sich verschärfenden ästhetisch-ideologischen Meinungsverschiedenheiten im Lager der linken Künstler ist die Erregung Udal'covas verständlich, die ihrerseits immer wieder mit der Reserviertheit gegenüber Werken ihres neuen, aus Lettland stammenden Lebenspartners Aleksandr Drevin konfrontiert wurde. Während das Künstlerpaar Rodcenko/Stepanova auf Erfolgskurs steuerte (auch Werke von Stepanova wurden schließlich angekauft) und insbesondere Rodcenko seine Stellung unter den linken Künstlern durch seine vielfältigen Ideen und experimentellen Entwürfe festigen konnte, sah sich das frisch gebackene Künstlerpaar Udal'cova/Drevin als Anhänger und Verteidiger der Malerei in die Isolation gedrängt. Im Zuge der 19. Staatlichen Kunstausstellung (Herbst 1920), wo sie gemeinsam in einem Raum mit Rodcenko zahlreiche ihrer Figurenbilder und -graphiken zeigte, stabilisierte sich Stepanovas Situation. Sie wurde nach all den Querälen schließlich als eine Art Gegenpol zu Rodcenko akzeptiert: „Der Eindruck von der Ausstellung ist offensichtlich kolossal. Viele interessieren sich für Rodcenko, einige für Varst". 45 Es gab einzelne Stimmen, die ihre Art der Malerei als „weiblich" diskreditieren wollten: „Semsurin fand, dass bei mir die Farbe überarbeitet sei, im scharfen Gegensatz zu Anti (Tubenfarbe sei das Merkmal des Neuerers), aber sie mache, dass die Sujets der Bilder langweilig seien. Letzteres sei, nach seiner Meinung, überhaupt ein Merkmal der Kunst von Frauen." 4 6 Stepanova ließ diese Interpretation unkommentiert stehen, fuhr aber mit einer Einschätzung Chagalls fort, die wohl ihrer eigenen Auffassung über das Verhältnis ihrer und Rodcenkos Kunst entsprochen und sie gestärkt haben dürfte, um so mehr, als sich Chagall für ihre weiteren Vorhaben interessierte: „Chagall sah den kolossalen Unterschied zwischen unseren Arbeiten in der Offenbarung des Persönlichkeitscharakters des Künstlers. Bei mir ein ungestümes, unruhiges Temperament, unausgeglichen, mit einem gewissen Anteil von Chaos, bei Anti: kalt, ruhig, analytisch, mit dem Streben nach Abstraktion." 4 7 Mit dem Ubergang zum Konstruktivismus, der mit der Ausstellung „ 5 x 5 = 25" 4 8 vollzogen und mit einer Absage an die Malerei überhaupt einherging, ergab sich für Rodcenko, Stepanova und Gleichgesinnte die Notwendigkeit, nunmehr als „Konstrukteure" zu agieren. Was nach außen mit entschiedenen Proklamationen verkündet wurde, fiel in der Praxis ungleich schwerer, wie Varvara Stepanova ihrem Tagebuch anvertraute: „Es ist nicht so einfach, die Agitation für den Konstruktivismus durchzuführen, aber noch schwerer ist es, tatsächlich die Kunst aufzugeben und die Arbeit in der Produktion zu beginnen." 4 9 „Konstrukteur" zu sein bedeutete vor allem, in angewandten Bereichen und damit medienübergreifend zu arbeiten. Die ausschließliche Verwendung der männlichen Form im Sprachgebrauch ist für russische Verhältnisse so neu nicht, auch wenn jetzt vielleicht die per Gesetz proklamierte Gleichberechtigung der Geschlechter angeblich darin aufgehoben sein sollte. Sie knüpft auch an die vorrevolutionäre Praxis an, nach der es Frauen bewußt vermieden, sich „Künstlerin" zu Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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nennen, weil weibliche Berufsbezeichnungen häufig mit Herabminderung und unterstellter Zweitklassigkeit assoziiert wurden. Varvara Stepanova hat sich dieses Rollenwechsels in mehreren Karikaturen 50 angenommen, auch und vor allem am Beispiel Rodcenkos und ihrer selbst, was ein zusätzlicher Hinweis auf die Ungewöhnlichkeit dieses Schrittes ist. Anknüpfend an ihre Figurenserie (bei der ihr ein von vielen gar nicht bemerktes humoristisches Element ebenfalls wichtig war) gestaltet sie die Karikaturen wie Anziehpuppen auf Bilderbögen: Figuren in einfacher, etwas schematischer Umrißzeichnung, mit ausdrucksvoller Gestik und sprechenden Attributen aus der künstlerischen Praxis des jeweiligen Modells. Auch die Geschlechtszugehörigkeit fand in Verbindung mit individuellen körperlichen Merkmalen der Karikierten visuell Berücksichtigung. Der athletisch gebaute Konstrukteur Rodcenko zum Beispiel trägt einen Overall, ähnlich dem von ihm selbst entworfenen und von Stepanova genähten Modell, in dem er auch mehrmals fotografiert ist. Mit Zirkel in der rechten und einer „Linie", die als solche bezeichnet ist, in der linken Hand mutet er in seiner gesammelten Haltung ein wenig wie ein Äquilibrist vor dem Auftritt an, das Gesicht zur Seite gewandt. Das Gelingen seines Vorhabens, so die Botschaft, hängt vor allem von der Konzentration und dem Willen ab, dem die Instrumente in den zarten Händen gehorchen werden. Bei aller körperlicher Attraktivität wird Rodcenko also als „Kopfarbeiter" und damit in einer modernen Variante des Künstlergenies gezeigt. Sich selbst verkörpert Stepanova in einer weiblichen Figur aus dem von ihr ausgestatteten Stück „Der Tod des Tarelkin" für das Mejerchol'd-Theater: untersetzt, im gestreiften Rock, die überdimensionierten Arme herausfordernd in die breiten Hüften gestützt - als Produkt ihrer Arbeit im Zusammenwirken mit dem Regisseur, der allen Naturalismus aus dem Theater verbannen wollte. Ihr Selbstbild signalisiert ein hohes Maß an sozialer Kommunikation - eine Eigenschaft, die nicht nur für ihr eigenes künstlerisches Schaffen in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen sollte. Davon profitierten auch die gemeinsamen Projekte mit Aleksandr Rodcenko und sogar dessen eigene und solche, an denen Dritte beteiligt waren. Stepanova, so belegt die Entstehungsgeschichte vieler Buch- und Zeitschriftengestaltungen, aber auch von Projekten der politischen Agitation (zum Beispiel der „Abend des Buches" für den Sowjetischen Staatsverlag) und von Filmen, war eine so energische wie umsichtige Organisatorin, die es vermochte, zwischen den Ideen und Energien höchst unterschiedlicher Menschen ergebnisorientiert zu vermitteln, ohne dabei die individuellen künstlerischen Aktivitäten zu vernachlässigen. Sie steht damit für einen modernen Künstlertyp, der im Interesse komplexer künstlerischer „Endprodukte" vielfältige Kooperationsformen entwickelt, sich dabei auf immer neue konzeptuelle und technische Gegebenheiten einstellt und mental in der Lage ist, sich mit kollektiver Autorschaft zu identifizieren. 51 So fotografierte Stepanova selbst zwar nur selten, doch war es ihr kein Problem, fotografisches Material in die Buch- und Zeitschriftengestaltung einzubeziehen und mit modernem Schriftdesign zu verbinden.

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Rodcenko und Stepanova - das ideale Künstlerpaar mit immerwährendem inneren Gleichgewicht? Ahnlich wie bei Natalija Goncarova und Michail Larionov hielt auch bei Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova die künstlerische Verbundenheit ein ganzes Leben lang, gestützt durch eine spezifische Ausprägung und Organisation des alltäglichen Lebens, das seinen Mittelpunkt in der gemeinsamen Atelierwohnung hatte. Das heißt nicht, dass ihre Liebesbeziehung von Wandlungen und Krisen unberührt geblieben ist, wie die persönlichen Dokumente, vor allem die Notizen Rodcenkos aus den dreißiger Jahren, aber auch Fotos Stepanovas aus dieser Zeit mehr ahnen als deutlich erkennen lassen. Gleichzeitig spürt man das beidseitige Bemühen, die künstlerischen Aktivitäten und Leistungen des/der Anderen davon unberührt zu lassen und überhaupt den Eindruck von Normalität aufrechtzuerhalten. Bis 1925 konnten sich beide ganz auf die künstlerische Sphäre und die sich im Kontext konstruktivistischer Vorhaben stetig erweiternden kreativen Verbindungen konzentrieren. Dabei kam es natürlich auch zu Allianzen jenseits der Zweierbeziehung Rodcenko/Stepanova, etwa wenn Rodcenko gemeinsam mit Vladimir Majakovskij Plakate für M O S S E L ' P R O M schuf oder er dessen Poem „Pro eto" („Darüber") mit Fotomontagen illustrierte, für die wiederum Fotos von Majakovskijs Geliebter Lilja B n k Verwendung fanden. Stepanova wiederum integrierte sich mit ihren Stoffentwürfen für die Erste Staatliche Kattunfabrik in gänzlich neue Zusammenhänge und arbeitete dabei in Konkurrenz mit Ljubov' Popova. Anfang 1925 änderte sich die familiäre Situation des Paares durch die Geburt der Tochter Varvara am 14. Januar. Aus den publizierten Aufzeichnungen von Rodcenko und Stepanova geht nicht hervor, inwiefern sie sich mit der neuen Situation im Vorfeld auseinandergesetzt haben. Aus einem Brief Stepanovas aus dem Krankenhaus vom 16.-17. Januar kann man schließen, dass besonders aus der Sicht Rodcenkos offensichtlich alles so weitergehen sollte wie bisher, obwohl natürlich erste Hindernisse auftraten: „Lieber Mulicka, endlich kann ich Dir in Freiheit schreiben. Ich stehe um 6 Uhr auf und lege mich um 12 Uhr schlafen, habe aber die ganze Zeit alles mögliche zu tun - mal steht das Stillen alle zwei Stunden an, mal muß man essen, mal ist Visite, und erst heute darf man das erste Mal ein wenig aufstehen. Gestern habe ich es nicht geschafft, die Bücher anzuschauen, die Brust hat mich sehr gequält. Und jetzt bin ich ganz erschüttert von Deinem ungemein überzeugten Blick auf das Leben. Das neue Leben, über das Du geschrieben hast, hat wahrscheinlich die gestrige erhöhte Temperatur um zwei Grad gesenkt, und ich befinde mich heute in einem seligen Zustand." 52 Anderthalb Monate später reiste Aleksandr Rodcenko für gut drei Monate nach Paris, um die sowjetische Abteilung für die „Exposition Internationale des Arts Decoratifs et Industrieis" mit vorzubereiten, auf der sowohl er selbst als auch Stepanova mit wichtigen Arbeiten vertreten waren - er mit dem berühmten „Arbeiterclub", mit Werbeplakaten, Büchern, Zeitschriften und Architekturprojekten, sie mit zahlreichen Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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szenographischen Arbeiten für den „Tod des Tarelkin", mit Stoffentwürfen, ebenfalls mit Plakaten und polygraphischen Exponaten. Stepanova hütete gemeinsam mit der Mutter Rodcenkos, mit der das Paar seit drei Jahren zusammenlebte, die kleine Tochter. Täglich gingen Briefe von Paris nach Moskau und umgekehrt, man informierte einander über Persönliches, vor allem aber über den Fortgang der Arbeit. 53 Stepanova, so spürt man, wäre nur allzu gern dabei und vermutlich aktiver im Hinblick auf zu knüpfende Kontakte, während sich Rodenko zunächst fremd und etwas unsicher fühlte, nicht zuletzt deshalb, weil er kein Französisch sprach. Eine Begegnung mit Theo van Doesburg, der seinerseits natürlich kein Russisch sprach, fand dann auch schnell ein Ende im beidseitigen Schweigen. Dieses Defizit erwies sich gleichzeitig als Vorteil, bestimmte Rodcenkos Position als distanzierten Beobachter, geschützt durch ein neues, für ihn ganz ungewöhnliches, bürgerliches Outfit - im Anzug, mit Weste und Hut, wie ein Foto zeigt, in das sich Stepanova zu Hause geradezu verliebte. Was ihm als besonders befremdlich, aber doch auch als optische Herausforderung ins Auge fiel, war die erotisch-kommerzielle Komponente der französischen Hauptstadt, verkörpert in der mit immer neuen Einfällen und Mitteln realisierten Fetischisierung der Frau: „Der Kult der Frau als Ding. Der Kult der Frau wie der des Roqueforts und der Austern - er geht so weit, dass jetzt ,häßliche Frauen' in Mode sind, Frauen wie verschimmelter Käse, mit dünnen und langen Hüften, busen- und zahnlos und mit schrecklich langen Armen, mit roten Flecken übersät, Frauen wie bei Picasso,,Negern' ähnlich, Frauen wie .Kranke', Frauen wie ,der Abschaum der Stadt'. Und wieder der Mann, der schafft und baut, der,diese große Ansteckung', diese .weltweite Syphilis der Kunst' begehrt." 54 Auch andere Symptome der so effektiven kapitalistischen Welt (wurde doch sein „Arbeiterclub" erst in Paris von französischen Arbeitern nach seinen Entwürfen gebaut) ließen ihm die russischen, „einfachen" Verhältnisse aus der Feme attraktiv erscheinen. Unter diesen Umständen machte er Stepanova einen ironischsentimentalen Heiratsantrag: „Dein Kater sitzt im neuen Wams, betrachtet sich im Spiegel und sagt: .Damit Du, wenn ich zurückkomme, Dich von F. [D. Fedorov A. R.] scheiden läßt und Deinen Familiennamen trägst'. Mir scheint, ich verliebe mich aufs neue in Dich, habe mich wieder an Dich in Kazan erinnert..." 55 Nach der Rückkehr blieb alles beim Alten, das heißt, die künstlerische Arbeit bestimmte weiterhin den Lebensrhythmus und -inhalt der Familie. Die frühen Kindheitseindrücke von Varvara Stepanova der Jüngeren fügen sich nicht zufällig zu folgendem Bild: „Die ersten Erinnerungen - das große Zimmer-Atelier. Darin stehen mehrere hölzerne Tische, mit weißer Ölfarbe angestrichen, ein großer Divan, Regale mit Büchern. An einem Tisch arbeitete die Mutter, Varvara Fedorovna Stepanova. Sie rauchte, schnitt Druckfahnen und warf die Reste in einen Korb unter dem Tisch. Unter dem Tisch gab es immer viele Papier- und Fotoreste. Daraus konnte man Puppen, Häuschen ausschneiden, und ich versuchte sogar eine Montage .Früher und heute' zusammenzukleben, wie es Mama macht... Wenn Leute aus der Redaktion kamen, bat 218

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man mich, in mein Zimmer zu gehen... Deshalb erinnere ich mich mehr an Dinge als an die Menschen, die zu uns kamen." 5 6 Möglich war dieses Aufgehen des Lebens des Künstlerpaares Rodcenko/Stepanova in der Arbeit, also die Einlösung des konstruktivistischen Ideals der Lebensgestaltung durch die ästhetische Produktion notwendiger Gegenstände, paradoxerweise dank patriarchalischer Familienverhältnisse, in denen verschiedene Generationen unter einem Dach leben. In den Erinnerungen der Tochter ergab sich daraus folgende Rollenverteilung unter den weiblichen Familienmitgliedern: „An die Großmutter, Ol'ga Evdokimovna Rodcenko [...], an Mama und an Vater erinnere ich mich noch vor der Schule. Sie hatte einen weichen Rock, in den man sich mit Anlauf .stürzen' konnte, und die weichen Hände umarmten und streichelten einen... Sie begleitete mich in die Schule und wartetet mit den Sachen im Flur. Sie langweilte sich ohne Kinder und freute sich über meine Geburt. Von ganz klein an fütterte sie mich und kümmerte sich um mich. Sie selbst hatte 10 Kinder großgezogen - sie war Kinderfrau, und drei waren ihre. Ich nannte sie ,Mama', und als sie starb, war ich sieben Jahre alt. Stepanova begleitete mich auf der Straße, und ich fragte sie: ,Varvara, darf ich Dich ,Mama' nennen?'" 5 7 Viel später, seit der Zeit der Evakuierung, als Varvara mit dem Studium begann, wurde der Vater zu einer wichtigen Bezugsperson für sie, der seinerseits die Tochter neben, mehr noch anstelle seiner Frau, auf der wie gehabt alle Alltagsangelegenheiten und das Geldverdienen lasteten, als wichtigste Adressatin seiner Gedanken, Befürchtungen und Projektionen entdeckte. Die Tagebucheintragung Rodcenkos vom 5. September 1943, einem der vielen, ausweglos erscheinenden Kriegstage, könnte deutlicher nicht sein: „Varva ist mit allem unzufrieden, stellt alles infrage, wir streiten und beschimpfen uns nur. Ich lebe jetzt nur in der Erwartung von Mulja. Sie hat sich als am nahestehendsten und verwandtesten von allen herausgestellt." 58 Dazwischen lagen jene bereits angedeuteten Krisenmomente des Paares Rodcenko/ Stepanova, die in die Endzwanziger und den Anfang der dreißiger Jahre fallen. Es greift augenscheinlich zu kurz, will man darin nur die „normale" Ermüdung eines mehr als ein Jahrzehnt miteinander verbundenen Paares sehen. Jekaterina Djogot verweist auf einen im Kreis der Konstruktivisten ungelösten Widerspruch zwischen dem vom Ansatz her von traditionellen sexuellen Konnotationen befreiten ästhetischen Produkt einerseits und der Rolle persönlicher, sehr wohl erotisch aufgeladener Beziehungen im ,neuen Leben' (ein von Sergej Tret'jakov geprägter Begriff) andererseits. Letztere nahmen zudem im Kreis der Lef-Gruppe äußerst spannungsgeladene Formen an, denkt man an die jahrelange komplizierte Dreier-Beziehung zwischen Osip Brik, Lilja Brik und Vladimir Majakovskij. Rodcenko und Stepanova, die nach 1925 auf einer Ebene ein Leben als Kleinfamilie lebten, wurden durch den intensiven kreativen Austausch mit anderen linken Künstlerinnen und Theoretikern, eingeschlossen Fotografinnen, Regisseurinnen und Schauspielerinnen, in ein kompliziertes Beziehungsgefüge eingebunden. Neben Wochenendzusammenkünften außerhalb Moskaus, zum Beispiel in Puskino, war gerade ihr Atelier der Treffpunkt für Zusammenkünfte, die Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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spiritistischen Seancen glichen oder in Form von Mah-Jongg-Partien und Kartenspielen abgehalten wurden, wo nur bedingt zwischen professionellen und persönlichen Angelegenheiten unterschieden wurde. Eine der Beteiligten an diesen Runden, Elizaveta Lavinskaja, die Nachbarin Rodcenkos und Stepanovas in der Mjasnickaja ulica, schrieb in ihren Memoiren mit kritischem Blick zurück: „Warwara Stepanowa tat so, als wäre sie eine Heilige; sie suchte höchstpersönlich Geliebte für Rodtschenko heraus und wurde dann hysterisch... Natürlich blieben sie nicht alle bei der Kunst und erniedrigten und beschmutzten die Idee der Liebe." 5 9 Was die Verfasserin damit konkret meint, bleibt offen, doch bezeugt sie mit ihren Andeutungen jene erotischen Spannungen, die auch aus dem ,neuen Leben' nicht auszublenden waren. Als Aleksandr Rodcenko 1939 seine Erinnerungen über Vladimir Majakovskij aufschrieb, deutete er sein eigenes erotisches Begehren aus der Zeit (1927) ebenfalls nur an und zog sich auf eine passive, entsagende Position zurück. 6 0 Ekaterina Djogot wertet den Charakter der hier nur angedeuteten gruppendynamischen Vorgänge, in denen das Erotische und das Zufällige wie bei den Surrealisten eine große Rolle spielte, als Ersatz für die anarchische kreative Substanz, die die Jahre unmittelbar nach der Revolution bestimmt hatte. Auch die konstruktivistischen Werke jener Jahre offenbaren ein nicht zu übersehendes erotisches Potential, zu dessen Erschaffung gerade mit der Fotografie, der sich Rodcenko seit Mitte der 1920er Jahre verschrieben hatte, ein wandlungsfähiges und Experimenten offenes Medium zur Verfügung stand. Rodcenko beschäftigte sich 1927-28 nicht nur mit der Objektfotografie, der er erstaunliche sinnliche Effekte abzugewinnen verstand. In diesen Jahren entstand auch eine Reihe von Fotografien Varvara Stepanovas, in denen erotische Momente wie die Hervorhebung weiblicher Rundungen, geschlossene Augen, liegende Position, fliegendes Haar und Verunklärung der Gesichtszüge, eine durch die Finger gleitende Perlenkette u.a. in den Vordergrund der Inszenierung gerückt sind - unter Beteiligung von Modell und Fotograf. Nichts wäre jedoch in diesem Falle verfehlter, als aus der Kunst unmittelbar auf das Leben schließen zu wollen. Gerade über die Fotografie entwickelte sich für Rodcenko Anfang der dreißiger Jahre eine dramatische Liebesaffäre mit der jungen Fotografin Evgenija Lemberg, die wie er häufig im Land zu Reportagen unterwegs war. 1934 wurde sie bei einem Zugunfall getötet, dem auch Rodcenko zum Opfer gefallen wäre, hätte er sich nicht zu einem längeren Aufenthalt auf der Krim, wo sie sich einige Zeit gemeinsam aufhielten, entschlossen. Im Briefwechsel mit Stepanova ist zwar von der neuen Geliebten die Rede, von beiden Seiten jedoch völlig neutral, was wohl insofern kein Problem darstellte, als beide, Stepanova und Rodcenko, immer wieder mit Evgenijas Vater, dem Kameramann Aleksandr Lemberg zu tun hatten und Evgenija häufig in der Familie Rodcenko/Stepanova verkehrte. Lediglich im Tagebuch Rodcenkos finden sich so lapidare wie bedeutungsschwere Bemerkungen, zunächst Anfang Februar 1934, als Rodcenko einen Trennungsversuch von Evgenija Lemberg unternahm: „Eine gewisse Einsamkeit aus einem nicht ganz geordneten persönlichen Leben zwingt zum 220

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Schreiben... Man weiß gar nicht, was eigentlich interessant ist: das persönliche Leben zusammen mit der Arbeit oder nur die Arbeit. [...] Über die Liebe zu schreiben habe ich keine Lust, es sei denn so, wie die Briefe an sie geschrieben sind..." 61 Gut zwei Wochen später heißt es: „Unfähig zu arbeiten wegen des gespaltenen Gefühls zwischen dem Atelier, der Arbeit, Varvara und Zenja." 62 Im April folgte die gemeinsame Reise Rodcenkos und Lembergs auf die Krim, w o erst unlängst veröffentlichte Aktfotos entstanden - einerseits eine Weiterführung der vorangegangenen fotografischen Experimente, andererseits die ästhetische Dokumentation und Sanktionierung einer neuen Verbindung. 6 3 Im Tagebuch ist zu lesen: „Jetzt ist es die Frage, ob ich über sie schreiben werde." 6 4 Die bisherigen Veröffentlichungen lassen die Antwort offen. Zweieinhalb Jahre später bekannte Rodcenko die ganze Tragweite der Affäre: „Uber die Frauen schreiben mag ich nicht, doch gibt es ohne die Frauen weder Romantik noch Gefühle. Die Liebe Varvaras zu mir ist außerordentlich tief... Doch zu Varvara als Frau kommen die Gefühle nach Zenja doch nicht zurück." 6 5 Noch Jahre später berichtet er immer wieder, dass er von Zenja geträumt habe. Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen von Stepanova aus dieser Zeit liegen nicht vor, doch die schweigende Muse (der Fotografie) erweist sich für den wissenden Betrachter als beredt. Auf einem wohl von Aleksandr Rodcenko im Atelier aufgenommenen Foto aus den dreißiger Jahren (Abb. 11) begegnet eine andere Varvara Stepanova als sonst im Herrenjacket, mit runder, dunkel gerandeter Brille, am linken Bildrand an eine Wand gelehnt stehend. Hinter ihr zeichnet sich ihr eigener Schatten ab, vor ihr öffnet sich der Raum in dieTiefe des Ateliers mit „seinen" Bildern. Was am meisten berührt, ist die für sie ungewohnt passive Haltung mit den vor dem Körper gefalteten Händen und - das Gesicht. Es erscheint schmaler als früher, unerwartet mädchenhaft, aber dabei von einem Ernst, der einem einen Stich ins Herz gibt. Kein Lächeln. Auch wenn der klare und ein wenig verlorene Blick aus dem Bild herausgeht, es ist vor allem ein Blick nach innen, und dort ist Schmerz zu vermuten, den es auszuhalten gilt. Ob sich Varvara Stepanova über die Entfremdung ihres Mannes zu sich Rechenschaft ablegte oder nicht, sie blieb mit ihren zärtlichen und fürsorglichen Gefühlen für Aleksandr Rodcenko und in ihrer Arbeit, die sie sich manchmal im Übermaß (wie er meinte) organisierte, ungebrochen bis zum Schluß. Wie am Anfang der Beziehung galten ihre Aufmerksamkeit und ihre Kraft immer auch seinem Werk, so wie er es einst selbstherrlich eingefordert hatte: „Mein Weg ist nicht verschlossen, aber wer auf meinem Weg geht, wird nur ein Untertan sein." 66 Bei aller Loyalität hatte sich Stepanova aus der Ausschließlichkeit dieser Zuschreibung befreien können. Als Aleksandr Rodcenko 1951 aus der Moskauer Sektion des sowjetischen Künstlerverbandes ausgeschlossen werden sollte, schrieb sie einen langen Brief mit der Aufzählung seiner Verdienste um die sowjetische Kunst und betonte darin gleichzeitig das Gewicht ihrer langjährigen Zusammenarbeit: „Mit dem Künstler Rodcenko arbeiten wir mehr als 20 Jahre gemeinsam an der Gestaltung von künstlerischen Alben und Büchern - mir ist Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

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Abb. 11 Aleksandr Rodcenko Varvara Stepanova 30er Jahre Fotografie

unverständlich, wodurch eine so ungerechte Haltung einem Künstler gegenüber begründet ist, der sein ganzes schöpferisches Leben der sowjetischen Kunst gegeben hat [...]. In diesem Jahr wird A. Rodcenko 60 Jahre alt, er ist faktisch schon ein Künstler der älteren Generation, und kann es denn sinnvoll und gerecht sein, die Jahre und den angegriffenen Gesunheitszustand nicht zu berücksichtigen und 38 Jahre seiner schöpferischen Tätigkeit durchzustreichen [...], abgesehen davon, dass das im gewissen Sinne auch unsere künstlerische Gemeinschaft zerstört." 67 Rodcenko und Stepanova haben ihre unterschiedlichen Rollen im Leben und in der Kunst zunächst unter romantisch-symbolistischen, dann unter konstruktivistischen Vorzeichen beide mit aller Intensität gespielt und es dabei geschafft, über Jahrzehnte eine funktionierende künstlerische Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. 222

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Anmerkungen 1 Alexander R o d t s c h e n k o und Warwara Stepanowa. W e r k e aus sowjetischen Museen, der Sammlung der Familie R o d t s c h e n k o und aus anderen Sammlungen. W i l h e l m - L e h m b r u c k - M u s e u m Duisburg, Staatliche Kunsthalle Baden Baden 1982/83, S. 9. 2 Aleksandr R o d c e n k o und Varvara Stepanova, die seit 1913 in erster Ehe mit dem Architekten D m i t r i j Fedorov verheiratet war, lebten seit 1916 zusammen, heirateten aber erst 1941 während der Evakuierung in M o l o t o v (heute wieder ,Perm'). 3 Vgl.: J o h n Milner: A dictionary of Russian & Soviet Artists. 1 4 2 0 - 1 9 7 0 . Woodbridge, Suffolk 1993, S. 3 5 2 - 3 5 6 und 4 1 2 - 4 1 3 . 4 Alexander Nikolaewitsch Lawrentjew: Warwara Stepanowa. Ein Leben für den Konstruktivismus. V o r w o r t von J o h n E . Bowlt. Weingarten 1988. 5 Alexander M. Rodtschenko. Warwara F. Stepanowa. D i e Zukunft ist unser einziges Ziel, Hrsg. von Peter Noever. Mit Beiträgen von Alexander N . Lawrentjew und Angela Völker. München 1991, S. 9. 6

Ibid., S. 9 - 1 0 .

7 Varvara Stepanova: Celovek ne mozet zit' bez cuda. Pis'ma. Poeticeskie opyty. Zapiski chudoznicy ( D e r Mensch kann nicht leben ohne Wunder. Briefe. Poetische Experimente. Aufzeichnungen der Künstlerin). Zusammengestellt von Varvara R o d c e n k o . Redaktion: Ο . V. Mel'nikov. Moskva 1994; Aleksandr R o d c e n k o : O p y t y dlja buduscego. Dnevniki. Stat'i. Pis'ma. Zapiski (Experimente für die Z u kunft. Tagebücher. Aufsätze. Briefe. Aufzeichnungen). Zusammengestellt von Varvara R o d c e n k o , Aleksandr Lavrent'ev und unter Mitarbeit von Nikolaj Lavrent'ev. Redaktion: Ο . V. Mel'nikov und V . I. Scennikov. Moskva 1996. 8 Varvara R o d c e n k o : Vospominanija. Dnevniki. Pis'ma (Erinnerungen. Tagebücher. Briefe). Moskva 1998. 9 Alexander M . R o d t s c h e n k o . Warwara F . Stepanowa. D i e Z u k u n f t ist unser einziges Ziel... 1991, S. 10. 10

So formuliert I. S. Presnezowa im o.g. Ausstellungskatalog von 1982/1983 in ihren Betrachtungen über die Arbeit von Stepanova und R o d c e n k o für das Theater: „Erstens arbeiteten Rodtschenko und Stepanowa über jedem Entwurf, über jeder Zeitschrift, jedem Plakat oder Buch zusammen, unabhängig davon, unter welchem Namen diese oder jene Arbeit erschien. Dabei stammten Absicht, Idee und Konzeption des W e r kes fast immer von Rodtschenko. Stepanowa war eine einzigartige Meisterin: Sie konnte die Ideen aufgreifen und sie zum fertigen Entwurf, zur fertigen Zeichnung führen". - Zitiert nach: Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa 1982/1983, S. 69.

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Das Instrument der E h e - es mußte nicht unbedingt eine fiktive sein - war im vorrevolutionären R u ß land keine Seltenheit für Frauen, die sich unabhängig v o m Elternhaus beruflich auf eigene F ü ß e stellen wollten, aber ohne „schützende H a n d " im Sinne einer moralischen Legitimation allein keinen selbständigen Schritt hätten tun können. A u c h N a d e z d a U d a l ' c o v a ( 1 8 8 6 - 1 9 6 1 ) , geb. Prudkovskaja, heiratete 1908 im Alter von 2 2 J a h r e n ihren ersten M a n n , Aleksandr Dmitrievic U d a l ' c o v ( 1 8 8 3 - 1 9 5 3 ) , um nicht als unverheiratete Frau zur Bewegungslosigkeit verurteilt zu sein. Allerdings vertraute sie ihrem T a g e b u c h 1917 an, dass sie ihre außerkünstlerischen K o n t a k t e zu ihrem M a n n , ihrem Vater usw. belasten würden. Seit 1919 lebte sie dann mit dem aus Lettland stammenden Maler Aleksandr D r e v i n ( 1 8 8 9 - 1 9 3 8 ) zusammen. Vgl.: N . Udal'cova: Z i z n ' russkoj kubistki. Dnevniki, stat'i, vospominanija ( N . Udal'cova. Das L e b e n einer russischen Kubistin. Tagebücher, Aufsätze, Erinnerungen). Zusammengestellt von Ε . A . Drevina und V . 1. Rakitin. M o s k v a 1994, S. 32, S. 165 und S. 177. Varvara Stepanova wollte offensichtlich nicht mit ihrem M a n n zusammenleben und keine finanzielle A b h ä n gigkeit a u f k o m m e n lassen. N a c h einer Version fiel D m i t r i j F e d o r o v bereits 1914 im Ersten Weltkrieg. Vgl.: Alexander N i k o l a e w i t s c h L a w r e n t j e w 1988, S. 13. Andererseits findet er in einem B r i e f R o d c e n kos an Stepanova v o m 5. April 1915 E r w ä h n u n g , w o M ö g l i c h k e i t e n für den weiteren Aufenthalt Stepanovas durchgespielt werden. Vgl.: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 41.

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Aleksandr R o d c e n k o : Avtobiograficeskie zametki (Autobiographische Bemerkungen). Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 14.

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Eintragung Aleksandr R o d c e n k o s in einem N o t i z b u c h v o m 22. März 1912. Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 19.

14

Eintragung Aleksandr R o d c e n k o s vom 30. Juli 1912. Ibid., S. 28.

15

Eintragung Aleksandr R o d c e n k o s vom 24. D e z e m b e r 1912. Ibid., S. 31.

16

Eintragung Aleksandr R o d c e n k o s im August 1913. Ibid.

Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

223

17 Aleksandr Rodcenko an Varvara Stepanova aus Kazan', 1914. Zitiert und übersetzt nach: Ibid., S. 39. 18 Ibid., S. 40. 19 Aleksandr Rodcenko: Istorija korolja Leandra Ognennogo (Die Geschichte König Leanders des Feurigen). Zitiert und übersetzt nach: Ibid., S. 34. 20 Varvara Stepanova an Aleksandr Rodcenko im Februar 1915. Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994, S. 21-22. 21 Ibid., S. 26. 22 Aleksandr Rodcenko an Varvara Stepanova aus Kazan' nach Kostroma am 20. März 1915. Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr Rodcenko 1996, S. 41. 23 Es ist unklar, unter welchen Umständen die beiden Fotos entstanden sind. Möglicherweise war es Rodcenko, der die Einstellung inszeniert hatte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht selbst fotografierte. Andererseits gibt es in einem Brief von Stepanova an Rodcenko vom N o v e m b e r 1916 einen Hinweis darauf, dass wiederum sie ihm die Mütze, mit der er auf dem oben genannten F o t o aufgenommen ist, geschickt hatte. Vgl.: Varvara Stepanova 1994, S. 36. 24 Jekaterina Djogot: Kreative Frauen, kreative Männer und Paradigmen der Kreativität: Warum gibt es große Künstlerinnen?. In: Amazonen der Avantgarde. Alexandra Exter, Natalja Gontscharowa, Ljubow Popowa, Olga Rosanowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa. Hrsg. Von J o h n E. Bowlt und Mattew Drutt. Deutsche Guggenheim Berlin 1999, S. 121. 25 Vgl.: Regine Dehnel: Frau. Kollegin. Konkurrentin? Künstlerpartnerschaften in der russischen Avantgarde; A d a Raev: Varvara Stepanova - Konstruktivistin aus Uberzeugung. Beide in: Katharina Sykora, Annette Dorgerloh, Doris Noell-Rumpeltes, Ada Raev (Hrsg.): Die neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre. Marburg 1993, S. 51-65 und S. 67-82. 26 Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr Rodcenko 1996, S. 72. 27 Tagebucheintrag Aleksandr Rodcenkos, Januar 1920. Zitiert und übersetzt nach: Ibid., S. 76. 28 Tagebuchaufzeichnung von Varvara Stepanova vom 10. April 1919. Zitiert nach: Alexander M. Rodtschenko. Warwara F. Stepanowa 1991, S. 124. 29 Ibid., S. 39. 30 Zitiert nach; Alexander Nikolaewitsch Lawrentjew 1988, S. 21-22. 31 Ibid., S.169. 32 Varvara Stepanova: Uber das Erkenntnisvermögen in der Kunst. Zitiert nach: Ibid., S. 171. 33 Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994,5. 124. 34 A m 18. Januar notiert sie in ihrem Tagebuch: „Eine herausragende Eigenschaft Antis ist seine ewige Bewegung, wie in der Kunst, so auch im persönlichen Leben und in der Entwicklung des Charakters. Das ist ein Mensch des Willens, nicht des Gefühls, für den weder Emotionen noch Stimmungen existieren, der weiß, warum er so oder so arbeitet. D e m Schaffen Antis in der Malerei ist Trockenheit eigen - die Linie mit dem Lineal - und das wollte er in den schwarzen [Bildern - A.R.] zurückdrängen, indem er unnatürlich Malerisches hinzufügte, doch zeigten die folgenden Arbeiten, dass das nicht richtig ist, und sie wurden stärker. Jetzt arbeitet er am Problem der Linien. Er hat es zuerst lange mit sich herumgetragen - wie er die Linie im Bild darstellen und verwenden soll - und jetzt, nachdem er sich alles klar gemacht hat, möchte er arbeiten, doch die unerträglichen Lebensbedingungen - das kleine Zimmer und die große Kälte, gestatten es nicht zu arbeiten - " . Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994, S. 96. 35 Eintragung Rodcenkos im Notizbuch vom 15. Januar 1920. Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr Rodcenko 1996, S. 78. 36 Zwar wurde dieser Text erst 1921 in überarbeiteter Fassung im I N C h U K in 100 Exemplaren vervielfältigt, doch schon 1920 verfaßt und mit erklärenden Zeichnungen versehen. Ein Blatt mit entsprechenden Zeichnungen vgl. in: Aleksandr Rodcenko 1996, S. 94. Indem Rodcenko nunmehr die Linie als das wichtigste Gestaltungselement mit verschiedenen Funktionen (als Bezeichnung von Kanten, Abschlüssen, als Gerüst, System, Zeichen für Passage, Bewegung, Berührung, Schnitt usw.) erklärte und auch in seinen Werken einsetzte, postulierte er das Ende der Malerei und der Kunst im Sinne von Dekoration überhaupt: „Bewußtsein, Erfahrung, Ziel, Mathematik, Technik, Industrie und Konstruktion - das ist es, was über allem anderen steht. Es lebe die konstruktive Technik. E s lebe das konstruktive Herangehen an jede Sache. Es lebe der Konstruktivismus." - Vgl.: Alexander M. Rodtschenko. Warwara F. Stepanowa 1991, S. 135. 37 A m 15. Juni 1920 hielt er seine Überlegungen zu einem solchen Museum schriftlich fest, nachdem er schon im vergangenen Winter dafür plädiert hatte. Die Notwendigkeit eines solch ungewöhnlichen Mu-

Ada Raev

seums und seine Bedeutung für die Kunst der Zukunft leitete sich für ihn aus der Überzeugung ab, dass zwischen Technologie und Kunst schon immer ein Zusammenhang bestanden hätte: „Von diesem M u seum wird die Kälte eines Sezierraumes für Leichen ausgehen, die Trockenheit mathematischer F o r meln, der scharfe, mitleidslose Realismus des Analytikers! H i e r ist alles erdacht, auseinandergenommen, vermessen, aufgeteilt, errechnet, bewußt gemacht, auf nackte Formeln gebracht. U n d doch werdet ihr euch, ihr beseelten Lebens- und Gefühlsschöpfer, dieses erdachten Schaffens für eure W e r k e bedienen, wenn ihr in die Zukunft geht, weil es so immer war und sein wird." - Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 8 4 - 8 5 . 38

Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994, S. 123.

39

Zitiert und übersetzt nach: Ibid., S. 101.

40

Eintragung Aleksandr R o d c e n k o in seinem N o t i z b u c h vom 29. Juni 1920. Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 8 7 - 8 8 .

41

A m 11. M ä r z 1920 notierte Varvara Stepanova in ihrem Tagebuch: „Die Opposition der ,Buben' [gemeint sind einige Mitglieder der ehemaligen Künstlergruppe „ K a r o - B u b e " - A. R . ] gegen mich ist so stark, dass, ungeachtet der erneut bestätigten Mitgliederliste, Lentulov Anti direkt erklärt hat, ich möge einen Austrittsantrag stellen, weil im gegenteiligen Falle so lange immer wieder neu gewählt werden würde, bis man mich rausschmisse." - Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994, S. 107.

42

Zitiert und übersetzt nach: Ibid., S. 110.

43

Zitiert und übersetzt nach: Ibid., S. 117.

44

Zitiert und übersetzt nach: N . Udal'cova 1994, S. 61.

45

Tagebucheintrag Varvara Stepanovas vom 23. O k t o b e r 1920. Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994, S. 139.

46

Ibid.

47

Ibid.

48

Die Ausstellung „ 5 x 5 = 2 5 " fand in zwei Versionen (einmal mit Gemälden und einmal mit Arbeiten auf Papier) im September 1921 in Moskau statt. Daran beteiligt waren fünf Künstlerinnen: Aleksandra Ekster, Ljubov' Popova, Aleksandr R o d c e n k o , Varvara Stepanova und Aleksandr Vesnin, die jede(r) einen Katalogumschlag gestalteten und mit einem Text im Katalog vertreten sind. Vgl.: J o h n Milner: T h e Exhibition 5 x 5 = 25. Its Background and Significance. Budapest 1992.

49

Tagebucheintragung Varvara Stepanovas vom 20. März 1922. Zitiert nach: Alexander Nikolaewitsch

50

D i e Karikaturen von Aleksej Gan, Aleksandr R o d c e n k o und von ihr selbst wurden in der Zeitschrift

Lawrentjew 1988, S. 55. „Zrelisce" („Schauspiel"), N r . 7, 1922 unter den dem Konstruktivismus gewidmeten Materialien veröffentlicht. 51

Vgl. auch J o h n E . Bowlts Einschätzung von Stepanovas Kunstauffassung: „ F ü r die extrovertierte und gesellige Stepanowa war K o m m u n i k a t i o n die wahre Rechtfertigung der Kunst. Die rauhen Geräusche ihrer visuellen Dichtung schreien uns an, ihre rhythmischen Figuren laden uns zum Tanz, ihre Plakate und Buchillustrationen vermitteln eine klare und deutliche Botschaft, ihre bildreichen Vorstellungen der Eisenbahn, des Telephons, Radios und Films sind Ausdruck ihrer Faszination von der M a s s e n k o m m u nikation. [...] Brücken zwischen Kunst und Wirklichkeit zu schlagen war Stepanowas Hauptanliegen. Sämtliche Phasen ihrer künstlerischen Karriere können mit diesem auf den Menschen bezogenen Prinzip in Verbindung gebracht werden - sie streckte die Hand aus und sprach Menschen an". - Zitiert nach: Alexander Nikolaewitsch Lawrentjew 1988, S. 7.

52

Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994, S. 186.

53

Ein Teil der Briefe R o d c e n k o s wurde zwei Jahre später in der Zeitschrift „ N o v y j L e f ' " , 1927, N r . 1 ver-

54

Brief Aleksandr R o d c e n k o s an Varvara Stepanova vom 25. M ä r z 1925. Zitiert und übersetzt nach: Alek-

öffentlicht. sandr R o d c e n k o 1996, S. 1 3 8 - 1 3 9 . Die Skepsis bezüglich der allgegenwärtigen E r o t i k hinderte R o d c e n ko allerdings nicht daran, allmählich auch spezielle O r t e erotischer Versprechen aufzusuchen: Bilder nackter Frauen im Stereoskop anzuschauen, sich an Spielautomaten zu versuchen und ins Variete zu gehen, w o ihn das endlos-folgenlose Defilee fast nackter D a m e n beeindruckte und verwunderte. 55

Brief Aleksandr R o d c e n k o s an Varvara Stepanovas vom 15. April 1925. Ibid., S. 147.

56

Varvara R o d c e n k o : Avtobiograficeskie zapiski (Autobiographische Aufzeichnungen). Zitiert und übersetzt nach: Varvara R o d c e n k o 1998, S. 15.

57

Ibid., S. 1 5 - 1 6 .

Aleksandr Rodcenko und Varvara Stepanova

225

58

Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 356.

59

Elizaveta Lavinskaja: Vospominanija ο vstrecach s Majakovskim (Erinnerungen an Begegnungen mit M a jakovskij). In: Majakovskij ν vospominanijach rodnych i druzej (Majakovskij in Erinnerungen von Angehörigen und Freunden). Moskva 1968, S. 353, hier zitiert nach: Amazonen der Avantgarde 1999, S. 123.

60

So beobachtete er einmal M a j a k o v s k i j bei der U n t e r h a l t u n g am G a r t e n z a u n mit einer aus seiner Sicht schönen, großen jungen Frau mit tiefer Stimme: , „ D i e paßt gut zu V o l o d j a ' - und, ihn beneidend, ließ ich sie schnell allein." - Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 239.

61

Tagebucheintrag Aleksandr R o d c e n k o s vom 4. Februar 1934. Zitiert und übersetzt nach: Ibid., S. 293.

62

Tagebucheintrag Aleksandr R o d c e n k o s v o m 22. Februar 1934. Ibid.

63

Vgl.: Alexander Lavrentiev: Alexander R o d c e n k o . P h o t o g r a p h y 1 9 2 4 - 1 9 5 4 . K ö l n 1995, S. 3 0 2 - 3 0 3 .

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Tagebucheintrag Aleksandr R o d c e n k o s v o m 28. April 1934. Zitiert und übersetzt nach: Aleksandr R o d c e n k o 1996, S. 294

65

Tagebucheintrag Alexandr R o d c e n k o s vom 21. D e z e m b e r 1936. Ibid., S. 295.

66

Tagebucheintrag Aleksandr R o d c e n k o s vom 20. N o v e m b e r 1915. Ibid., S. 32.

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Brief Varvara Stepanovas an die M o s k a u e r Sektion des Verbandes Sowjetischer Bildender Künstler der U d S S R über die Wiederherstellung der Rechte Α. M . R o d c e n k o s als Mitglied derselben. Zitiert und übersetzt nach: Varvara Stepanova 1994, S. 290. 1954 wurde R o d c e n k o als Mitglied der Moskauer Sektion des sowjetischen Künstlerverbandes rehabilitiert.

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Ada Raev

Medium - Geschlecht - Moderne

Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

INES LINDNER

O'Keeffe. Stieglitz. Erste Annäherung Die Rezeption von Georgia O'Keeffe ist von Anfang an extrem durch die Betonung ihrer Weiblichkeit geprägt. Gleich zu Beginn ihrer Karriere in den 20er Jahren gibt es so gut wie keinen Kommentar, der sich nicht mit diesem Thema beschäftigte. Hier knüpft auch die zweite große Rezeptionswelle der 70er Jahre an. Sie fällt mit dem endgültigen Zerfall des Modernismuskonzepts und dem Aufschwung der Frauenbewegung zusammen. Judy Chicago setzt ihr 1979 ein frauenbewegtes Denkmal in der „Dinnerparty". Allerdings ist als sicher anzunehmen, daß O'Keeffe ihrer ernstgemeinten Apotheose als einzig lebende unter den toten Heldinnen von Chicagos Tafelrunde skeptisch gegenüber gestanden haben dürfte. Seit Mitte der 20er Jahre hat sie sich gegen die Interpretation ihres Werks als Ausdruck von Weiblichkeit entschieden zur Wehr gesetzt. Die Kritik hat sich wenig davon beeindrucken lassen. Trotz des unbestreitbaren Erfolgs beim Publikum hat ihr Werk keine angemessene Kritik erfahren, wie Anne Chaves in einer Generalabrechnung anläßlich der großen O'Keeffe Retrospektive 1990 im Metropolitan Museum konstatiert. 1 Die Ursache hierfür sieht sie in der Steuerung der Rezeption durch Alfred Stieglitz, den Fotografen und Kunstvermittler, mit dem O'Keeffe seid 1918 zusammenlebte und später auch verheiratet war. Ihre Kritik gipfelt in dem Vorwurf, er habe ihr Werk als „softporn" vermarktet. Anne Wagner, die vier Jahre später die Konstruktion von Weiblichkeit bei O'Keeffe in den Mittelpunkt einer Studie stellte, 2 betont dagegen, daß O'Keeffe nicht nur das Opfer stieglitzscher Machinationen gewesen sei. Ihr Werk habe seine Form in der Auseinandersetzung, konkret auch in der Reibung mit Stieglitz' Positionen gefunden. Stieglitz' Einfluß auf die sich entwickelnde amerikanische Kunstszene nach dem Ersten Weltkrieg war sehr groß. Er ist als Fotograf, vor allem aber als Betreiber der Galerie „291" in die Geschichte der amerikanischen Kunst eingegangen. In seiner Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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Galerie wurden die neuesten Entwicklungen in der Kunst gezeigt und diskutiert. Sie war Club, Kapelle, Labor und Salon in einem. Er zeigte zunächst Fotografie, dann europäische Moderne. 1915 avancierte die Galerie mit Stieglitz' Herausgabe der protodadaistischen Zeitschrift „291" zum Vorposten der Avantgarde. Stieglitz teilt zwar die radikale Absage an den herrschenden Kunstbegriff, nicht aber die ironische bis nihilistische Grundhaltung der Dadas. Sein Glaube an die Kunst und seinen Auftrag, ihr eine neue Richtung zu geben und für sie zu werben, ist ungebrochen. Das Projekt, das Stieglitz bereits in dieser Zeit zu beschäftigen beginnt, ist die Inauguration einer unabhängigen amerikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts, in der die Fotografie integraler Bestandteil sein soll. Für die Formulierung seines Projekts war die Begegnung mit O'Keeffe ebenso zentral wie für seine Neubestimmung der eigenen künstlerischen Arbeit.

Rahmenbedingurigen der Begegnung von Stieglitz und O'Keeffe Um die Beziehungsdynamik zu verstehen, ist es notwendig, nach einem ersten Blick auf die Protagonisten die biographische Situation der beiden zum Zeitpunkt der Begegnung zu umreißen. Das soll in einem Doppelschritt geschehen. Im ersten werden die äußeren Daten kontrastiv zusammengefaßt. Im zweiten geht es um die einander ergänzenden Voraussetzungen, die die Dynamik in Gang setzten. Wer trifft auf wen? Alfred Stieglitz ist zu Beginn der Beziehung zu O'Keeffe 1917 vierundfünfzig Jahre alt. Er ist Großstädter, Europäer, Avantgardist, Vermittler, Galerist, erfolgreicher Fotograf und Herausgeber einer wichtigen Zeitschrift. Aufstrebende Künstler und Fotografen reisen aus dem ganzen Land an, um ihn in seiner Galerie aufzusuchen und Arbeiten vorzulegen. In der noch kaum entwickelten Kunstszene Amerikas ist er eine Instanz. 3 Georgia O'Keeffe ist zu diesem Zeitpunkt einundreißig Jahre, aus der amerikanischen Provinz, Lehrerin, Malerin und hat außer einigen Versuchen als Künstlerin noch nichts vorzuweisen. Die Geschlechterpositionen sind nach Alter und gesellschaftlichem Stand klar hierarchisch angeordnet. Als Geliebte, Modell und Protegee ist O'Keeffe extrem abhängig. Diese gesellschaftlich kaum auffällige Asymmetrie wird in dieser Beziehung allerdings nicht verewigt. Welche Ökonomie herrscht? Betrachtet man die Produktivität der Beziehung ganz unromantisch als Realisierung geteilter Interessen, stellt sich die Frage: Wie greifen sie ineinander? Stieglitz ist in einer tiefen Krise. Er hat seit Jahren keine eigenen Fotos mehr gezeigt, er hat seine Vermittlertätigkeit für die amerikanische Fotografie in Europa nach Querelen mit Kollegen eingestellt. Der europäischen Moderne, die er danach in seiner Galerie zu zeigen begann, hat er nach dem Einsetzen einer breiteren Rezeption in New 228

Ines Lindner

York den Rücken gekehrt. Das sich anschließende Engagement für die europäische Avantgarde endet 1916, nachdem ein Jahrgang der Zeitschrift „291" vorliegt. Schließlich muß er 1917 nach zwölf Jahren seine Galerie schließen. Er ist dabei, seine Rolle als Schrittmacher der zeitgenössischen Kunst einzubüßen und in Fotografiekreisen als gescheiterter Querulant zu gelten. Er steht vor einer niederschmetternden Bilanz als Künstler, als Vermittler, dazu noch als Ehemann und Vater. Er ist finanziell abhängig von einer Frau, die seine Interessen nicht teilt und zu der er in einem mehr als angespannten Verhältnis steht. Seine Situation ist mit Mitte 50 extrem instabil. Die Prädisposition für den Funkenschlag der Erlösung ist hoch. Im Moment der Begegnung mit O'Keeffe hat er begonnen, auf die nächste Generation zu setzen - und auf die erneuernde Kraft des Amerikanischen. Georgia O'Keeffe ist mit einunddreißig keineswegs ein junges Mädchen. Sie ist selbstständig und lebt von dem Geld, das sie als Kunstlehrerin verdient. Sie ist sich unklar über die Bedeutung, die sie ihrer Malerei zumessen soll. 4 Stieglitz' Ermutigung macht sie entschlossen. Sie folgt seiner Einladung nach N e w York, zieht in das Studio seiner Nichte und kündigt ihren Job. Sie gehört der nächsten Generation an, sie ist Amerikanerin und zeigt nicht die geringste Sehnsucht nach Europa. Die Begegnung mit Stieglitz sichert ihren professionellen Einstieg ab. Stieglitz braucht ein starkes Gegenüber, um seine persönlich wie künstlerisch verfahrene Situation zu klären und noch einmal anzusetzen. O'Keeffe braucht ein einfühlsames Gegenüber, um ihr künstlerisches Selbstbewußtsein zu entwickeln. O'Keeffe paßt in das Konzept des Neubeginns, das ihr eine starke Position einräumt. Sie nutzt sie im Zusammenspiel und der Auseinandersetzung mit Stieglitz, die beide gleichermaßen beflügeln.

Co-Produktivität Die Intensität der Beziehung von O'Keeffe und Stieglitz wird von Anfang an durch die Diskussion und Neuformulierung ihrer künstlerischen Positionen bestimmt. Die ersten sieben Jahre sind von einer Co-Produktivität gekennzeichnet. Co-Produktivität meint hier nicht bloß „Zusammenarbeit". Die Binnenspannung der Beziehung fördert die Produktivität beider, die ihrerseits die Dynamik der Beziehung wesentlich mitbestimmt. Der Zeitraum dieser Phase erstreckt sich auf die Jahre 1918-1925. Öffentlich sichtbar dokumentiert sie sich erstmals in den fünfundvierzig Aufnahmen des „composit portrait" O'Keeffes, die Stieglitz 1921 zeigt. Es ist seine erste Ausstellung seit acht Jahren. Ihr folgt zwei Jahre später eine große, von Stieglitz präsentierte Einzelausstellung O'Keeffes in den Räumen der Anderson Gallery. Seit ihrer ersten Einzelausstellung 1917 in Stieglitz' Galerie sind sechs Jahre vergangen. 1923 hat Stieglitz ebenfalls eine große Einzelausstellung. 1924 kulminiert die Doppelproduktivität in einer D o p Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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pelausstellung in der Anderson Gallery. Fünfzig Bilder von O'Keeffe und einundsechzig Fotos von Stieglitz werden in zwei Räumen gezeigt. 1925 zeigen sie zusammen mit Stieglitz' „Hauskünstlern" Demuth, Dove, Hartley, Marin und Strand. Die Ausstellung heißt programmatisch „7 Americans". Die Phase endet mit O'Keeffes Raumeroberung Mexikos und Stieglitz' Eroberung einer jungen Adeptin. Die produktive Binnenspannung des Verhältnisses ist zu Ende. Wesentlich für die Co-Produktivität in den ersten Jahren scheint mir die Dynamik, die sich aus den Definitionsversuchen von Selbst und Gegenüber ergibt. Die Entwicklung von O'Keeffe wie Stieglitz wird in dieser Zeit dadurch vorangetrieben, daß der eine auf den Entwurf des anderen reagiert, sich daran abarbeitet und wiederum mit der Reaktion des anderen auseinandersetzt. Zu beobachten ist ein Hin und Her der Entwürfe von sich selbst und dem anderen, indem sich jeder produktiv mit der Reaktion des Gegenübers auseinanderzusetzen scheint. Das Modell des Dialogs eröffnet hier eine Beschreibungsmöglichkeit, die einen besseren Einblick in die Produktivität dieses Austausche gibt. Grundfigur des Dialogmodells ist, daß man bei jeder Äußerung ein Gegenüber im Sinn hat. Der Selbstausdruck ist in der Vermittlung auf einen anderen hin zu verstehen. Man nimmt die Reaktion des anderen voraus und arbeitet damit. Das kann auf die unterschiedlichste Weise geschehen. Über diese Möglichkeit der imaginierten anderen Position entfaltet sich das Eigene in einem vermittelnden Geschehen auf eine Weise, wie sie als „Einfluß" nicht hinreichend zu beschreiben ist. Einfluß ist das Aufnehmen einer als überlegen positionierten Quelle: Positiv, monokausal, passiv. Im Dialogischen aber steckt die Wechsel- und die Widerrede. Ein Vorauseilen und Nachhinken, kurz eine Dynamik, die von der konkreten Positionierung von Personen im diskursiven Feld bestimmt ist.5 Im Dialog zwischen O'Keeffe und Stieglitz verflechten sich von Anfang an künstlerische und geschlechtsspezifisch kodierte Motive. Ihren Ausgang nimmt diese Verflechtung in dem so überaus „quotable quote" Stieglitz', als er die ersten Zeichnungen von O'Keeffe sieht: „A woman on paper at last". 6

Die Stieglitzparadoxe In den dialogisch verstandenen Entwurf des anderen ist die Selbstpositionierung mit eingeschrieben. Zwei Dinge haben mich bei Stieglitz' Bemühen, O'Keeffe zu fassen, als tendenziell paradox berührt. Das eine ist das Paradox in der Zuschreibung einer „weißen Sinnlichkeit". Das andere kommt durch die unablässige Betonung ihrer Weiblichkeit und seiner Identifikation mit ihr zustande. Denn anders als in den gängigen Konzepten der Stilisierung von Weiblichkeit setzt er sich als Mann nicht komplementär davon ab. Die Terme, um die die Paradoxe kreisen, sind weiß/sinnlich und Frau/Mann. 230

Ines Lindner

Meine These ist, daß das, was auf der persönlichen Ebene eher paradox erscheint, auf dem Hintergrund seines Entwurfs einer amerikanischen Kunst durchaus verständlich wird. Amerikanisch, das heißt zunächst und vor allem: nicht europäisch. Diese Differenz formuliert sich maßgeblich von Europa her. Die Begeisterung von Picabia und Duchamp, die nach Kriegsbeginn in N e w York auftauchen, für die materielle Kultur, die Schönheit des plumbings - Klempnerei - ist die Begeisterung für eine schnörkellose Direktheit. Es ist eher ein ironisches Verhältnis zur materiellen Artefaktkultur. Obwohl Stieglitz mit seiner Zeitschrift „291" der protodadaistischen Bewegung 1915/16 ihr wichtigstes Organ gibt, und Duchamps skandalöse „fountain" - echt amerikanisches plumbing - eigenhändig fotografiert, bleibt er vom Geist der avantgardistischen Umtriebe letztlich unberührt. Er teilt die Absage an ein dekadentes europäisches Kunstsystem und schätzt den Enthusiasmus, mit dem sich europäische Künstler für das Amerikanische erwärmen. Während für sie aber der amerikanische Materialismus die Basis einer „Antikunst" abgibt, möchte Stieglitz ganz idealistisch zur positiven Formulierung einer autochthonen amerikanischen Kunst ansetzen. Nachdem der Kontakt zur europäischen Avantgarde abbricht, wechselt er ein weiteres Mal seinen Bezugskreis. Nach Fotografie und Kunst ist es jetzt die Literatur. D . H . Lawrence wird für ihn wichtig. Er ist mit Sherwood Anderson und E.E. Cummings befreundet und diskutiert mit ihnen über die Zukunft einer amerikanischen Kunst und Literatur. Ansatz für seine Konstruktion einer nationalen Kunst ist die Pathetisierung des Amerikanischen im Zeichen von Authentizität. Für Stieglitz fungiert nach der Begegnung mit O'Keeffe das Weibliche als Index des Authentischen. Es inkarniert sich für ihn buchstäblich in O'Keeffe als Frau und Künstlerin. Zwischen Person und Werk nicht unterscheiden zu können, ist ein Effekt dieser Konstruktion. Die ersten Fotos, die er von O'Keeffe macht, zeigen sie vor und zugleich gewissermaßen als Bestandteil ihrer Zeichnungen (Abb. 1). Die Fotografie ist das Medium, das eben dies perfekt inszenieren kann. Körper und Zeichnung verschmelzen in der belichteten Schicht und erscheinen in derselben Ebene. Fotos von O'Keeffe - vor, mit, oder sollte man sagen: in? ihren Arbeiten - stehen am Beginn seines „composit portrait", ein Projekt, das ihn über Jahre beschäftigen wird. 7 Auf geradezu emblematische Weise werden hier Künstlerin und Werk, weiblicher Körper und erotisch aufgeladene Abstraktion aufeinander bezogen: Die Frau figuriert die Abstraktion. Die Abstraktion wird körperhaft. Es ist nicht bloß eine Parallelisierung, sondern eine gegenseitige Beglaubigung, eine mediale Authentifizierung. Die Folie, von der sich der Versuch einer Formulierung dieses Authentischen abhebt, ist die europäische, politische und kulturelle Dekadenz. Stieglitz hatte auf der Suche nach dem Weg zum authentischen Ausdruck bereits zwischen 1912 und 1915, dem Zug der Zeit folgend, Ethnografica und Kinderzeichnungen in seiner Galerie ge-

G e o r g i a O ' K e e f f e und Alfred Stieglitz

231

Abb. 1 Alfred Stieglitz O h n e Titel [Georgia O'Keeffe] 1 9 1 8 Fotografie

zeigt. Die Vorstellung der originären Repräsentation in den Hervorbringungen von Primitiven, Kindern und Verrückten besaß große Anziehungskraft. Dank der Fusion von Idealisierungen und psychoanalytischen Gemeinplätzen gab es die verbreitete Bereitschaft, Frauen ebenfalls einen privilegierten Zugang zum Unbewußten zuzuschreiben - einen ebenso direkten wie unschuldigen Zugriff aufs Elementare. Diesem Zusammenhang verdankt sich wohl auch Stieglitz' wiederkehrende Formulierung über O'Keeffes „Whiteness" und „Purity" bei gleichzeitiger Betonung des Sexuellen. „Whiteness" signalisiert Unschuld, die in Verbindung mit der Betonung des Sexuellen für einen ungehemmten Zugang zu Triebstrukturen steht. Im Rahmen europäischer Metaphorik existiert die Koppelung von weißer

Unschuld

und roter Sinnlichkeit. Während die Fusionsversuche dieser entgegengesetzten Weib232

Ines Lindner

lichkeitsentwürfe in Europa Verderben bringende, dämonische Figuren wie Lulu hervorbringen, ist sie bei Stieglitz empathisch positiv besetzt. Ich glaube, daß sich hier seine Vorstellungen von Weiblichkeit und Amerika schneiden. Das Bild, das hinter der Uberschneidung sichtbar wird, ist das der schönen Wilden, letztlich auch ein Bild aus dem europäischen Repertoire, allerdings als nichteuropäisch kodiert. Die hohe Attraktivität der schönen Wilden für Entdeckungsreisende und ihr Publikum lag in der Verbindung von paradiesischer Unschuld und ungehemmter Sinnlichkeit. Erkennbar bleibt die europäische Topologie, die maßgeblich Rezeption wie Repräsentation außereuropäischer Kulturen strukturiert. 8 Die weiße Sinnlichkeit bezeichnet eine unverdorbene Direktheit, die Stieglitz zu doppeltem Nutzen mit O'Keeffe identifiziert. Als Künstlerin inkarniert sie für ihn am entschiedensten seine Erwartung an eine neue, unverbrauchte amerikanische Kunst. O'Keeffe ist die einzige Frau unter den von ihm protegierten Künstlern. Sie wird, vor allem von Dove, Hartley und Strand, ohne Einschränkungen anerkannt. Hartley äußert: „she is modern by instinct", 9 Dove: „That girl is doing without effort what all we moderns have been trying to do". 1 0 Die Anerkennung ihrer Modernität als überlegen zeigt die programmatische Tragweite der Konstruktion. Obwohl heute nicht ohne weiteres mehr vorstellbar, ist O'Keeffe aufgrund der von Stieglitz propagierten und von seinem Kreis aus vollem Herzen geteilten Auffassung nicht bloß schmückendes, weibliches Beiwerk, sondern ein von allen Künstlern akzeptiertes Mitglied der Gruppe. Was die feministische Kritik als schwere Einschränkung zu sehen geneigt ist, funktioniert erst einmal als positionale Stärkung O'Keeffes. Entscheidend ist, daß ihr künstlerischer Selbstausdruck, durch Stieglitz von Anfang an als Ausdruck ihrer Weiblichkeit vermittelt, seiner Absicht entsprechend in Beziehung zum Nationalen gesehen wird: „In definitely unbosoming her soul she not only finds her own release [psychoanalytisch ausgerichtetes Argument] but advances the cause of art in her country" (nationales Argument), echot eine Kritik von Stieglitz auf die propagierte Sicht auf O'Keeffes Werk. 1 1 Waldo Frank zeigt einige Schwierigkeiten bei der Verbindung des Amerikanischen mit O'Keeffe. Bei ihm taucht sie als „a glorified American peasant" auf, „full of loamy hungers of the flesh" and „given to „monosyllabic speach". 12 - Was O'Keeffe deutlich lieber ist als die endlosen Elogen der Kritik auf ihre Weiblichkeit: „They make me seem like some strange unearthly sort of creature floating in the air - breathing the clouds for nourishment - when the truth is I like beef steak - and like it rare at that." 13 Stieglitz' Pathetisierung von O'Keeffes Reinheit und Sinnlichkeit als authentisch = amerikanisch macht sie zur Kristallisationsfigur für die Absage an die europäische Kunst - auch die Avantgarde. Wenn ich vom doppelten Nutzen seiner Konstruktion gesprochen habe, so deshalb, weil sie auch zur Absage an seine eigenen, morschen Verhältnisse verwendet wird. Im Ritual von Reinigung und Neubeginn überblendet er Abhängigkeiten, Niederlagen Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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und schuldhafte Verstrickung. Die Identifikation mit den durch O'Keeffe repräsentierten Werten als amerikanisch ermöglicht ihm einen neuen Selbstentwurf: Sein programmatischer Schlachtruf bei seinem Widerauftritt nach acht Jahren Abwesenheit als Künstler lautet: „I was born in Hoboken. I am an American. Photography is my passion. The search for truth my obsession". 14 Uberspielt wird hier das Negativ dieser Deklaration: Daß er aus einer noch sehr europäischen, deutsch-jüdischen Familie kommt, daß er die prägenden Jahre seiner Ausbildung in Karlsruhe und Berlin verbracht hat und daß seine „Passion" über Jahre brach lag. Hier überschneidet sich das erste Paradox von „purity" und „unrestrained sexuality", das sich im Bild nationalen Neubeginns integrieren ließ, mit dem zweiten: der exzessiven Betonung ihrer Weiblichkeit, die einer Identifizierung von Stieglitz gleichwohl nicht im Wege steht. In seinen wie in den von ihm inspirierten Rezensionen ist unablässig von O'Keeffes „womanliness" die Rede. Von seinem legendären Ausruf „a woman on paper at last" von 1916, über eine kaum weniger häufig zitierte Briefpassage „The great Child pouring out her Womanself on to paper - pure - true - unspoiled" 1 5 von 1918 bis zu der notorischen Formulierung des Stieglitz-Freundes Rosenfeld in einer Rezension zur ersten großen Einzelausstellung O'Keeffes 1921: „Her art is gloriously female...Her great painfull and ecstatic climaxes make us at last to know something the man has always wanted to know". 1 6 Keine Frage, Stieglitz hat die Sexualisierung der O'Keeffe Rezeption in Gang gesetzt und in der Folge auch nicht entmutigt. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß er diesen Aspekt nicht isoliert hat. Er war Teil einer Faszination, die sich aus vielen Quellen speiste und in der Auseinandersetzung mit O'Keeffe Form gewann. Intensität und Varianz der Fotos des „composit portrait" lassen etwas davon erkennen. Stieglitz inszeniert hier einen Bezug zu ihrer Weiblichkeit, der keineswegs einen männlichen Voyeurismus stabilisiert. Allein ihre Vielfalt und Formstrenge, die mitunter aggressive Direktheit ihres Blicks, die ungeschönt detailscharf registrierte Haut entsprechen keinem gängigen Weiblichkeitsbild. Stieglitz setzt eine geschlechtliche Ambivalenz in Szene, die die Möglichkeit der Identifikation offen hält. Die empathische Identifizierung mit O'Keeffe ist in der Anfangszeit der Beziehung frappant: Mit ihren Zeichnungen, die er als vollkommenen Ausdruck von Weiblichkeit auffaßt, wie in der Folge mit ihr als Person. „How I understand them. They are as if I saw a part of myself"... „We are at least 90% alike, she a purer form of myself". 1 7 Ihr waches Interesse für Kunstfragen, die ihm am Herzen liegen, ihre intensive Suche nach einem künstlerischen Ansatz, nicht zuletzt, daß sie den heraufkommenden T y p einer selbständigen Frau inkarniert, macht sie vor allem verschieden von der Frau, mit der er verheiratet ist, und die Weiblichkeit nicht als Differenz sondern als Dissens für ihn darstellt. Die Verständigungsmöglichkeit wird zur Grundlage von Stieglitz' Identifikation. Es ist überraschend, nach Stieglitz' Betonung von O'Keeffes Weiblichkeit, der 234

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Abb. 2 Alfred Stieglitz Ohne Titel [Georgia O'Keeffe] um 1920 Fotografie

Identifizierung von Körper und Werk, zu sehen, wie wenig weiblich sie mitunter auf den Fotos aussieht (Abb. 2 mit Maiskolben). Viele Fotos spielen mit Androgynitätszeichen. Die häufig in Untersicht aufgenommenen Fotos fixieren sie nicht auf einen Typ. Durchgängig zeigen sie aber eine selbstbewußte Frau, die den Betrachter konfrontiert. Das zweite Paradox der Betonung ihrer Weiblichkeit und Stieglitz' Identifikation entschärft sich im Medium der Fotografie auf eine Weise, die man nach den Äußerungen von ihm und seinem Kreis kaum vermutet hätte. Das „composit portrait" zeigt sich als Feld einer Auseinandersetzung, in der Weiblichkeit nicht auf feminine Züge reduziert erscheint. Das changierende Begehren scheint die Positionen immer wieder neu zu verteilen.

O'Keeffes „getting objective" und Stieglitz' Abstraktion in der Gegenständlichkeit O'Keeffe hat sich auf die Arbeit am „composit portrait" eingelassen, weil dies ihr eine über Stieglitz vermittelte Selbstbegegnung erlaubt: „Whenever she looks at the proofs she falls in love with herself - or rather her selves - there are many". 1 8 Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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Es ist kaum zu übersehen, daß die Präsentation des „composit portrait" zwei Jahre vor ihrer ersten großen Ausstellung der Identifizierung von Körper, Namen und Werk Vorschub geleistet hat. Für O'Keeffe war das in seiner Tragweite wahrscheinlich nicht abzusehen, war doch für sie das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente in Stieglitz' Konstruktion entscheidend. Daß die Kritik ihre Sexualität zum zentralen Gegenstand ihrer Rezeption machte, und damit aus dem Stieglitz'schen Konstruktionszusammenhang löste, kränkte sie zutiefst. Auf der Ebene des Dialogs mit Stieglitz muß festgehalten werden, daß seine Betonung der Weiblichkeit ihrer Kunst, die die Kritik gierig aufgriff, durchaus auf Vorgaben von ihr selbst zurückgeht. Sie war auf der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten eines weiblichen Selbst, bevor sie Stieglitz traf. „The thing seems to express in a w a y what I want to but - it seems rather effeminate - it is essentially a woman's feeling... I wasn't even sure that I had anything worth expressing...". 19 Und Jahre später besteht sie immer noch darauf: „I am trying with all my skill to do painting that is all of a woman, as well as all of me". 20 Aus dieser Suchbewegung konnte sie auf Stieglitz' Interpretation eingehen. Die empathische Verknüpfung von Weiblichkeit, Kreativität und dem Entwurf einer autochthonen amerikanischen Kunst half ihr, ihre Position als Künstlerin zu finden. Die extreme Sexualisierung in der Rezeption ihres Werks muß sie als Dekontextualisierung und Verzerrung erfahren haben. Auf der diskursiven Ebene reagierte sie zunächst damit, das Interpretationsmonopol des Stieglitzkreises zu brechen. Sie versucht, eine Frau zu gewinnen, von der sie erwartete, daß sie die Entstellung durch den männlichen Blick aus der Erfahrung der eigenen Weiblichkeit trotz der starken Vorgaben nicht wiederholen würde. „What I want written - I do not know - 1 have no definite idea of what it should be - ... I feel there is something unexplored about women that only a woman can explore - men have done all they can do about it". 21 Später hat sie die sexuelle Komponente und die Rolle von Weiblichkeit zum großen Bedauern der Feministinnen der 70er Jahre überhaupt bestritten. Offensichtlich versuchte sie sich dagegen zu wehren, in der sexuellen Differenz eingesperrt zu werden, unbeeindruckt sowohl von den hymnischen Tönen der 20er Jahre als auch den politisch motivierten der 70er Jahre. Keine Frage, sie versucht, etwas bisher Unrepräsentiertes zu formulieren, das mit ihrer Körpererfahrung als Frau zu tun hat (Abb. 3). Die Bilder, die sie findet, werden in dieser Perspektive gesehen, aber die Form der Festschreibung scheint für sie überaus quälend. Sie sieht die Arbeit entwertet, die sie als Künstlerin tut. Sie fühlt sich „downwritten" als Frau. Sie will nicht in das Muster. Aber ihre Malerei besteht nicht so sehr auf Differenz als darauf, daß Bilder das Andere der Schrift sind. Bedeutungsfestlegungen weist sie schlicht ab, als hätten ihre Bilder keine emblematische Dimension (Abb. 4) und wären, was sie doch bestritten hat: „unschuldig". Sie hat sich einmal gewünscht, so vulgär zu malen, daß niemand, der 236

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Abb. 3 Schwarze Iris III (Black Iris III), 1926 Öl auf Leinwand 91,4X75,9 cm

New York, The Metropolitan Museum of Art The Alfred Stieglitz Collection, 1969

ihre Sachen bisher mochte, mehr mit ihr sprechen würde. Chave hat das, wie ich glaube zu Recht, mit der Unfähigkeit und dem Unwillen in Beziehung gesetzt, gegebenen Standards in der Malerei zu genügen. 22 „Gloriously vulgar" - diese amerikanische Qualität werden erst die Popartisten demonstrativ hervorkehren. Chave hat O'Keeffes Position als die vor einem doppelt undeutlichen Hintergrund beschrieben. Undeutlich, weil sie weder als Amerikanerin noch als Frau auf eine Tradition zurückgreifen kann. Im Amerika der frühen Zwanziger wird aus diesem doppelten Nachteil unversehens eine Qualität, weil ihre Malerei vor einem maßstabslosen Horizont erscheint. O'Keeffes Versuch, für eine andere Kritik zu sorgen, ist das eine. Die Entwicklung ihrer Malerei zur Gegenständlichkeit läßt sich ebenfalls als Versuch lesen, den Zuschreibungen zu entkommen. Sie begründet selbst diese Verschiebung als Versuch, die sexualisierte Lesweise ihrer Arbeiten einzudämmen. „There will be only two abstract things or three at most - all the rest is objective - as objective as I can make it", kündigt sie ihren Beitrag zur Doppelausstellung mit Stieglitz 1924 an. „... I suppose the reason I got down Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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Abb. 4 Georgia O'Keffee Arazee Nr. III (Jack-inthe-Pulpit, III), 1930 Öl auf Leinwand 101,6X76,2 cm Washington, Alfred Stieglitz Collection Bequest of Georgia O'Keffee

to an effort to be objective is that I didn't like the interpretation of my other things - " ; es folgt eine lange Aufzählung der Sujets in Form botanischer Bezeichnungen, die unverkennbar der freien Assoziation ihrer Interpreten etwas entgegensetzen sollen. 23 Es ginge am Werk O'Keeffes vollständig vorbei, dies als Einschränkung oder Hemmung zu interpretieren, findet sie über diesen Konflikt doch zu einer Formensprache, die in wesentlichen Zügen das Bild ihrer Kunst geprägt hat. In der Formulierung dieser neuen Position antwortet sie Stieglitz auf für ihn überraschende Weise: Sie appropriiert Formen des Fotografischen für ihre Malerei. Ist der Schritt von der Abstraktion zur Figuration auf der einen Ebene als Antwort auf die exzessiv sexualisierte Lesweise zu verstehen, mit der sie sich konfrontiert sah, so zeigt sie sich zugleich als Antwort in der Auseinandersetzung mit Stieglitz. Stieglitz setzt sich seinerseits mit den Möglichkeiten der Abstraktion in der Fotografie auseinander. Zwingend war dabei für ihn, nicht den Kodex der „straight photography" zu verletzen. In der Ausstellung, in der sie die Blumenbilder zeigt, präsentiert er 238

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Fotos von Wolken. Es ist ihre immaterielle Form, „uncharged matter", wie es Stieglitz nennt, die ihn interessiert. Es ist die Möglichkeit, die Abstraktion im Gegenstand selbst anzutreffen, so daß sie sich weder einer Manipulation im Labor - dem Erzeugen malerischer Effekte - noch der Inszenierung der fotografischen Szene - Arrangement, Lichtführung etc. - verdankt. 1918 hatte sich Stieglitz deutlich gegen jede Form von Pictorialismus in der Fotografie erklärt. „The prints are neither paintings (or its equivalents) nor photographs". 2 4 Mit den Wolkenbildern radikalisiert er den Weg in die Abstraktion, ohne doch die Regeln der „straight photography" zu verletzen, in denen das Medium Fotografie programmatisch erstmals zu sich selbst findet.

Fotografie und Malerei: Eine mediale Überkreuzung In der Doppelausstellung von 1924 findet so etwas wie eine Umkehrung der Positionen statt. Während O'Keeffe sich von der Abstraktion als dem Prärogativ der Malerei abwendet, wendet sich Stieglitz ihr zu, ohne den Dingbezug der Fotografie deswegen in Frage zu stellen. Der Tausch der medienspezifischen Positionen geht noch einen Schritt weiter. Der Effekt, den O'Keeffes Blumenbilder erzeugen, verdankt sich einer Praktik der Fotografie, die sie in die Malerei einbezieht. Für eine Objektivierung ihrer Malerei, mit der sie der Einfühlungsprosa zu entkommen trachtet, mit der die Kritik auf ihre abstrakte Malerei reagiert hat, nutzt sie Techniken seines Mediums: das Close-up, die Vergrößerung und eine Malerei, die eine opake Oberfläche erzeugt. Auf diese Weise wird aus dem artigen, frauenspezifischen Sujet Blumenstilleben „charged matter". Denn trotz aller Abwehr geht es in ihrer Malerei auch weiterhin um Formulierungen von Körperempfindungen, die sich mit dem Blumenthema sowohl tarnen als auch präzisieren lassen. Eine Rezension merkt dazu kritisch an: „Willingly or unwillingly, she has bound herself down to a copy book with a fidelity that approaches, and this particularly in her most abstract canvases, the photographic". 2 5 Das Fotografische wird hier nicht bloß an der Gegenständlichkeit festgemacht, sondern ist gewissermaßen in einen genuin malerischen Bereich eingewandert: die Abstraktion. Während die Doppelausstellung die Malerei O'Keeffes und Stieglitz' Fotografien nebeneinander präsentiert, zeigt sie zugleich die Uberkreuzung medialer Möglichkeiten. Es geht dabei weniger um Analogien als um eine Verschiebung in den medialen Konstruktionen. Stieglitz sucht einen Neuansatz für seine Fotografie über die Diskussion der Abstraktion in der Malerei. O'Keeffe klärt ihren malerischen Ausdruck über die Fotografie. Der Dialog der beiden führt zu einer Art Chiasmus der medialen Bezüge. Im Kontext ihrer Biographie wird deutlich, daß diese Verschiebung mit dem Gendering ihrer Positionen zusammenhängt. Beide arbeiten an einer Stabilisierung ihrer künstleGeorgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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rischen Arbeit im Kunstkontext: O'Keeffe durch die Objektivierung ihrer Malweise, Stieglitz dagegen durch eine Entgegenständlichung der Fotografie, die sie zur Ausdruckskunst machen soll.

Die Krise der künstlerischen Fotografie 1912 publizierte Stieglitz eine Ubersetzung von Kandinskys „Das Geistige in der Kunst" in seiner Zeitschrift „Camera work". Während mediengeschichtlich behauptet worden ist, daß die Abstraktion eine Reaktion auf die Fotogafie ist, läßt sich die Krise der künstlerischen Fotografie durchaus in Beziehung zur Abstraktion lesen. Die Mimikritechniken des Pictorialismus, mit dem Fotografen ihren Kunstanspruch durchzusetzen versuchten, können da nicht mehr greifen, wo der Gegenstandsbezug überhaupt aufgegeben wird. Stieglitz' Abwendung von der Fotografie in dieser Zeit hat mit einer tiefen Krise des Mediums zu tun. Die Preise für die dem Pictorialismus verpflichtete Fotografie waren dramatisch gefallen. Fotos einmal hochgeschätzter, von ihm gesammelter Kollegen wurden im Trödel verramscht. Das Problem des Veraltens stellt sich weit dramatischer als in der Kunst. Es muß Stieglitz' Selbstverständnis als Künstler tief verunsichert haben, daß seine eigene Arbeit wegbricht und wertlos wird. Kein überkommener Werkbegriff stützt den Umgang mit dem Medium. Stieglitz verdankt es der Begegnung mit O'Keeffe, daß ein kreativer Schub einen Neuansatz ermöglicht, der in der Arbeit am „composit portait" von ihr greifbar wird. Er stößt seine Fotosammlung Mitte der 20er Jahre ab wie überflüssigen Ballast. 26 Die Arbeit am „composit portrait" war für ihn ein Neubeginn. Sie ist für beide mit einer persönlichen wie künstlerischen Klärung verknüpft.

Das „composit portrait" Obwohl ich Probleme mit der Formulierung Anne Wagners habe, daß es sich hier um eine doppelte Autorschaft handele, bin ich davon überzeugt, daß ohne die ungewöhnliche Form der Zusammenarbeit diese Bilder nicht zustande gekommen wären. O'Keeffe ist eben nicht nur Modell, sondern Gegenüber. Vielleicht ließe sich das Verhältnis eher als das zwischen Schauspielerin und Regisseur beschreiben, aus deren Interaktion eine Szene entsteht. Anders aber als in einer professionellen Situation mit Textvorgabe erfinden beide aus der Intimität der Geschlechterspannung heraus Bildformulierungen, die für die Fotografie etwas Maßstabsetzendes schaffen. Sie sind erotisch, ohne daß sie auf Darstellungskonventionen der Malerei zurückgreifen oder der Tendenz des Mediums Fotografie zum Pornografischen verfallen. 240

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Abb. 5 Alfred Stieglitz. Ohne Titel [Georgia O'Keeffe], um 1919. Fotografie

Zur Vorgeschichte gehört, daß die Vorstellung von einem sich zeitlich erstreckenden Portraitprojekt Stieglitz schon länger beschäftigt hatte. Der Versuch, den er mit seiner Tochter unternahm, scheiterte. Unabdingbar für das Projekt erwies sich die Begehrensstruktur, in der Nähe und Distanz, ein komplexes Sich-Einlassen und Herausbilden die künstlerische Arbeit zur Arbeit an der Formulierung der Beziehung machte. O'Keeffe präzisierte rückblickend für sich selbst, daß Stieglitz' Aufnahmen ihr eine Art Selbstbegegnung ermöglichten: „I can see myself, and it has helped me to say what I want to say - in paint". 2 7 Die Praxis der Inszenierung und Fragmentierung in vielen Fotos erzeugt eine physische Übernähe, die sie zugleich kontrolliert (Abb. 5). Es ist die ständige Probe auf die empathische, direkte Nähe zum Objekt in und mittels der Fotografie. Im dekontextualisierenden Close-up verwandelt sich der Körper in Linien und Flächen. O'Keeffe wird sich in den Blumenbildern den umgekehrten Effekt zu eigen machen. Ihre Verwendung des Close-up wird in Linien und Flächen körperbezogene Erotik evozieren. In Nahsicht und Fragmentierung spitzt sich hier wie da die gegenläufige Verschränkung von Gegenständlichkeit und Abstraktion zu. Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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I

Abb. 6 Alfred Stieglitz O h n e Titel [Georgia O ' K e e f f e ] 1920 Fotografie

Der obsessive Zug in dem seriellen Verfahren des „composit portrait" verhindert eine Erstarrung in der Manier und hält und beschwört den Bezug zu einer Person. Das verhindert den Eindruck, daß es hier um formale Studien ginge. In jedem Foto zeigt O'Keeffe Haltung, eine Anspannung, die scharfe Konturen produziert. In dem Foto im Umhang (Abb. 6) wird diese Form der Stilisierung deutlich ins Androgyne getrieben. Inszeniert wird sie durch Haltung, Rahmung und Untersicht. Umhang und Hut dissimulieren weibliche Attribute. Gleichwohl wirkt sie fragil in dem umschließenden Schwarz des Umhangs und doch auch energisch durch die gespannt aufgerichtete Haltung und die Betonung der Kinnlinie. Vergleicht man frühe, weniger im Sinne von Stieglitz inszenierte Fotos mit Aufnahmen der älteren O'Keeffe, liegt die Feststellung nahe, daß sie die stieglitzsche Sicht zu verkörpern beginnt. Sie selbst hielt sich nicht für schön. Stieglitz findet und erfindet ihre Schönheit. Ihr erotisches Interesse an den Sitzungen als Modell, die wegen der eingenommenen Haltung und langen Belichtungszeit sehr anstrengend gewesen sein müssen, ist die Hervorbringung ihrer selbst. Dies ist nur bedingt psychologisch zu verstehen, vielmehr als ein 242

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ästhetischer Prozeß, in dem ständig der Nahblick des Begehrens medialisiert wird. Sie hat mitunter Probleme, anzunehmen, was Stieglitz an ihr hervorbringt, doch ist sie „geradezu verliebt" in das entstehende Portrait, das sie nicht einfach fixiert, sondern durch die Intimität der Situation und durch die Entfaltung in der Zeit einen Gestaltungsraum läßt, an dem sie aktiv mitwirkt. O'Keeffes Selbstentdeckung in dem Fotoprojekt ist das von einer nicht „downwritten womanhood", facettenreich, erotisch, stark. O ' K e e f f e macht sich über Ausstellungsbesucher lustig, die möchten, daß Stieglitz solche Aufnahmen von Ehefrauen und Freundinnen macht. E s gehört eine sehr erotische, intime Beziehung zu dieser Arbeitsweise, die dem Ehemann wohl kaum gefallen würde, kommentiert sie das Ansinnen. Stieglitz selbst spricht v o m erotischen A k t des Fotografierens. „ T o make love with the camera". 2 8 D i e Wendung läßt sich als Versuch einer Naturalisierung des technischen Mediums lesen. E s ist nicht nur eine Metaphorik des Begehrens, sondern eine des Hervorbringens, eines kreativen Akts. Aus dem technischen Medium wird ein künstlerisches Medium. Die Arbeit am „composit portrait" ermöglicht Stieglitz, die Fotografie in seine Konzeption künstlerischer Kreativität zu integrieren. Kritik aus seinem Umfeld bestätigt ihm anläßlich seiner ersten Präsentation, daß es hier gelungen sei, der Fotografie den Status von Kunst zu geben. „ T o make love with the camera": D e m ist er im buchstäblichen Sinne wohl nirgends näher gekommen als in einer Aufnahme, in der O ' K e e f f e s Körper von den Brüsten bis zu den geöffneten Schenkeln im Anschnitt zu sehen ist. 29 Der Blick wird in das undurchdringliche Schwarz der Scham gezogen. Die Position der Kamera ist zwischen ihren geöffneten Schenkeln. A n den Rändern zeichnet sich jedes Schamhaar ab, ja, der Anflug einer Gänsehaut. Alles ist von der absoluten Schärfe, die Stieglitz' Version der „straight photography" am Körper produziert: „ H e has brought the lens close to the epidermis in order to photograph, and show us the life of the pores, of the hairs along the shinbone, of the veining of the pulse and the liquid moisture on the upper lip" entspricht. 3 0 Aber w o das Geschlecht zu sehen sein müßte, herrscht undurchdringliches Schwarz. Stieglitz hat es getilgt. Der Vorgang scheint in der Verflechtung von Begehren, Sexualität und Bildproduktion einer bis in die Abstraktion getriebenen Körperhaftigkeit wie ein nachträgliches Zurückzucken vor der äußersten Konsequenz. Das Ergebnis verdankt sich einer Manipulation. Stieglitz hat das Geschlecht in der Dunkelkammer durch Solarisation weggebrannt, geschwärzt. Es ist unmöglich, daß er es auf diese Weise für eine öffentliche Präsentation bearbeitet haben könnte. Er war sich vollkommen bewußt, daß bereits die Bilder, die er für die Präsentation des „composit portait" ausgewählt hatte, hart an der Grenze dessen lagen, was er seinen Zeitgenossen zumuten konnte. Die Solarisation markiert weniger eine Dezenz als eine Inkonsequenz, die auf ein ungelöstes Problem verweist. Es scheint mir das Erschrecken vor der Medialität des fotografischen Prozesses selbst zu sein, die die formale Disziplinierung durch Lichtführung und Rand durchschlägt. Auf der Ebene des Blicks läßt sich die Medialität nur unzureichend fassen: Die Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz

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Fotografie funktioniert indexikalisch. Etwas drückt sich ab und wird zum Negativ der Spur, die sich wie Druck und Guß reproduzieren läßt. Stieglitz hat immer neue Abzüge von einem Negativ gemacht, Ausschnitte und Tonigkeit geändert. Dies sind Bearbeitungsprozesse, die unbegrenzte Reproduzierbarkeit voraussetzen. Stieglitz schreibt: „My ideal is to achieve the ability to produce numberless prints from each negative, prints all significantly alive, yet indistinguishable alike, and to be able to circulate them at a price not higher than that of a popular magazine or even a dayly paper". 31 Dieser Mediengewißheit steht aber eine konträre Strategie gegenüber, mit der er den Kunstwerkanspruch zu unterstreichen sucht. In einer Rezension zur ersten Präsentation des „composit portrait" wird erstaunt berichtet, daß Stieglitz den Preis einer der Aktaufnahmen O'Keeffes mit 5 000 Dollar angesetzt habe - eine Summe, die 1921 allenfalls für ein teures Bild erzielt werden konnte, für ein Foto aber völlig undenkbar war. Stieglitz' Preise haben nie etwas mit Gewinnstreben zu tun gehabt. Es war für ihn ein Ehrenpunkt, mit Kunst kein Geld zu machen - weswegen er ein Leben lang finanziell von anderen abhängig war. Stieglitz' Preise sind Bestandteil seiner Strategie, eine materiell orientierte Gesellschaft mit seinen Wertsetzungen zu konfrontieren. Die Botschaft lautet: „Seht her: Ein Kunstwerk". Stieglitz arbeitet wie O'Keeffe vor einem weder durch Tradition noch Selbstverständnis stabilisierten Hintergrund. Während ihre Position als Künstlerin instabil ist, steht der kulturell etablierte Wert ihres Mediums außer Zweifel. Stieglitz arbeitet dagegen in einem Medium, dessen kultureller Wert noch nicht anerkannt ist, ja ganz offen bezweifelt wird. Schlaglichtartig wird das in einer erst posthum publizierten Invektive Mabel Dodges deutlich. 32 Für sie ist es ausgemacht, daß Stieglitz O'Keeffe im Zustand der Frustration hält, um ihre Weiblichkeit zu vermarkten. Dies, so Dodge, verdanke sich nicht nur seiner Eitelkeit, sondern auch seiner Unfähigkeit als Mann und als Künstler. Ihr Text gibt das exakte Negativ zur stieglitzschen Konstruktion sowohl was O'Keeffe betrifft, wie auch zu seiner eigenen Arbeit. O'Keeffes Bilder sind bei Dodge nicht der Ausdruck unverstellter Weiblichkeit, sondern ein Symptom sexueller Frustration. Stieglitz ist niemand, der etwas hervorbringt, nur jemand who „endlessly represent^]". Was mich hier interessiert, ist, daß sie in einer Umkehrfigur denselben Zusammenhang zwischen Medium, Sexualität und Kreativität herstellt wie Stieglitz. Es beleuchtet die Unsicherheiten und Probleme, mit denen Stieglitz zu kämpfen hat. Weil die Fotografie ein Aufzeichnungsmedium ist, faßt der traditionelle Werkbegriff nicht. Es gibt kein Kriterium der Werkentwicklung. Stieglitz hat bereits einmal das, was nur im Analogieschluß „Werk" genannt werden könnte, verloren. Nach den coproduktiven Jahren mit O'Keeffe gibt es einen erneuten Bruch. Das Medium fügt sich nicht ohne weiteres einer Konstruktion von Kreativität, in deren Zentrum die Vorstellung des Erschaffens steht. Dodges Invektive gegen Stieglitz, die ihm einen Mangel an Männlichkeit vorwirft, kulminiert in dem verächtlichen Anwurf: „You are 244

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a camera-man, Stieglitz, and the central objection to photography applies to you. You do not create, endlessly you re-present... You photograph". 3 3 Ich glaube, daß sein Kreativitätskonzept, gestützt auf die Identifikation mit O'Keeffe als Malerin und Frau, eben dies abzuwehren sucht. Dies gelingt im „composit portrait", löst das Problem aber nicht, vor dem er mit der Schwärzung ihres Geschlechts in der einen Aufnahme kapituliert: Daß die Fotografie als Aufzeichnungsmedium sich in die traditionelle Konzeption von Werk und Autorschaft selbst dann nicht einfügen läßt, wenn sie durch eine Feminisierung entschärft wird. Während die Konzeption O'Keeffes einen Zugang zu einem künstlerischen Selbstverständnis eröffnet und eine Werkentwicklung ermöglicht, die ihre Position in der Beziehung wie in der Öffentlichkeit stabilisiert, gerät Stieglitz' Selbstverständnis als Künstler erneut in die Krise. Je sicherer sie sich als Künstlerin ist, desdo mehr pocht sie auf Werk und Autorschaft jenseits jeder Feminisierung. Während O'Keeffe Jahr für Jahr ausstellt, versickert Stieglitz' Produktivität. Seine Arbeit beschränkt sich erneut auf seine Vermittlertätigkeit. Was er früher begriffen hat als alle anderen ist, daß das Kunstwerk ein Kommunikationsanlaß ist. Djuna Barnes wundert sich, w a r u m er sich auch mit Langweilern auf Gespräche einläßt. O'Keeffe ist mehr und mehr entnervt. Stieglitz spricht, schreibt, lanciert Rezensionen, die er wiederum in seinen Ausstellungskatalogen zitiert. „Alfred Stieglitz presents" lautet die Formel, mit der er die Ausstellungen ankündigt. Heute würde man ihn als Kurator bezeichnen. Aber auch in diesem Bereich existiert noch kein professionelles Selbstverständnis. Der zweifelhafte Titel, der ihm in der Presse gegeben wird, ist der eines „Impresario". Im Zusammenhang mit der programmatischen Präsentation der 7. American Show, hat diese Bezeichnung einen eindeutig pejorativen Klang, denn die Kritik ist einhellig der Meinung, daß Stieglitz' Katalog eine propagandistische Einschwörung auf das Projekt einer neuen amerikanischen Kunst darstellt, die von den präsentierten Arbeiten nicht gedeckt wird. „Americanism and emotionalism are self-consciously and unduely emphasized". 3 4

Amerikanische Moderne Die Propagierung seiner Hauskünstler im Kontext seines nationalen Projekts ist dennoch erfolgreich. Dove, Demuth, Marin, Hartley und Strand figurierten als Gründungsväter in der großen Amerika-Ausstellung von Rosenthal und Joachimides im Berliner Gropiusbau, die ziemlich genau die durchgesetzte Version der amerikanischen Kunst im 20. Jahrhundert bebilderte. 35 O'Keeffe war mit einem einzigen Bild vertreten, einem Wolkenkratzerbild, das weniger die Schamgrenze des Modernismus verletzt als ihr übriges Werk. G e o r g i a O ' K e e f f e und Alfred Stieglitz

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D a ß sie das zu Beginn der amerikanischen Moderne virulente Problem von Gegenständlichkeit und Abstraktion durch sexuelle Aufladung der abstrakten F o r m anging, die sie in der Gegenständlichkeit von Blumenstilleben sowohl entfaltete als auch disziplinierte, erschien den Modernisten peinlich und vulgär. Gelang es ihr, zwischen Gegenstand und Abstraktion eine körperhafte Dimension zu entfalten, die das Blut ihrer zeitgenössischen Interpreten erhitzte, so ließ das Clement Greenberg, zentrale Figur für die Kanonisierung des Modernismus, kühl bis ans Herz. D e r Gegenständlichkeit ihrer Blumenbilder wirft er vor, (that it) „adds up to little more than tinted photography, or bits of opaque cellophane". 3 6 Greenberg ist nicht bloß ein Feind des Figurativen sondern jeder Hybridisierung unterschiedlicher Medien. Das aber war vielleicht der entscheidendste Schritt von Stieglitz: Kunst und Fotografie nicht nur zusammen zu zeigen, sondern mit O'Keeffe daran zu arbeiten, die medialen Paradigmen aus ihren Fixierungen zu lösen. In der Konstellation Stieglitz/O'Keeffe wird die Arbeit an den Koordinaten für eine andere Medialität als Prozeß erkennbar. Ich habe versucht zu zeigen, wie das Gendering diesen Prozeß in der Beziehung mitstrukturiert hat. V o m Ende des 20. Jahrhunderts her läßt sich erkennen, welche Tragweite dieser vom Modernismus überdeckte Ansatz der Hybridisierung medialer Paradigmen entfalten sollte. Die Perspektive, die sich durch die Frage nach dem Gendering der Medien ergibt, ist eine doppelte: Zum einen untersucht sie die Praktiken der Hierarchisierung im Verhältnis der Medien und wirft neues Licht auf die Strategien ihrer historischen Durchsetzung und Behauptung. Zum anderen läßt sich das Feld der Bedingungen einer ästhetischen Praxis für Frauen historisch genauer fassen, die Widerstände und die Möglichkeiten, sich mit, in und gegen medienpezifische Zuschreibungskartelle zu artikulieren.

Anmerkungen 1 Anna C . Chave: O ' K e e f f e and the Masculine Gaze, in: Art in America, Januar 1990, S. 115 ff. 2 A n n e M . Wagner: O ' K e e f f e ' s Femininity, in dies.: T h r e e Artists (women). Modernism and the A r t of Hesse, Krasner and O ' K e e f f e , Berkeley 1997. 3 W e s t o n J . Naef: T h e Collection of Alfred Stieglitz. Metropolitan Museum of Art, N e w Y o r k 1978. Das Buch enthält ausführliche Angaben zu biographischen Daten von Stieglitz. 4

Roxana Robinson: Georgia O ' K e e f f e . Α Life, N e w Y o r k 1989. Eine quellengesättigte, 6 0 0 Seiten starke Biographie mit umfangreichem Register.

5 Bachtin hat das in linguistischen Kontexten entwickelte Modell des Dialogs für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht. Vgl. Michael Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971. 6 Das berichtet Anita Politzer als Stieglitz' Reaktion auf O'Keeffes Zeichnungen, die sie ihm ohne Wissen der Freundin am 31.12.1915 vorgelegt hat. Vgl. Anita Politzer an Georgia O ' K e e f f e am 1.1.1916, in: A W o man on Paper: Georgia O'Keeffe. T h e Letters & Memoir of a Legendary Friendship, N e w Y o r k 1988, S. 48. 7

Georgia O ' K e e f f e . A Portrait b y Alfred Stieglitz. T h e Metropolitan Museum of Art, N e w Y o r k 1978. D i e hier wiedergegebenen F o t o s sind hervorragend gedruckt.

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K a r l - H e i n z K o h l (Hg.): Mythen der N e u e n Welt, Berlin 1982 (Ausstellungskatalog). Vgl. auch: Ines Lindner: Die rasenden Mänaden, in: Isebill Barta u.a. (Hg.): Frauen. Bilder, Männer. M y t h e n , Berlin 1987, S. 300 ff.

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Ines Lindner

9 Marsden Hartley in: Barbara Buhler Lynes: O'Keeffe, Stieglitz and the Critics, 1916-1929, Chicago 1991, S. 85. Die kommentierte Sammlung von Kritiken ist ein profundes Quellenwerk. 10 Athur Dove, siehe Buhler Lynes 1991, S. 16. 11 Edmund Wilson, 1925, zitiert nach Anna Chave 1990, S. 118. 12 Waldo Frank: Time Exposures, New York 1926, wieder abgedruckt in: Buhler Lynes 1991, S. 254. 13 Ibid., S. 58. 14 Naef 1978, S. 11. 15 Stieglitz am 31.3.1918 an O'Keeffe. Abgedruckt in: Anita Politzer 1988, S. 159. 16 Paul Rosenfeld: American Painting, zitiert nach Chave 1990, S.123 17 Alfred Stieglitz an Athur Dove, undatiert, zitiert nach Buhler Lynes 1991, S. 32. 18 Stieglitz an Paul Strand 1918, siehe Anne Wagner 1997, S. 81. 19 O'Keefe am 4.1.1916 an Politzer, abgedruckt in: Politzer 1988, S. 121. 20 Vgl. Buhler Lynes 1991, S. 159 21 Buhler Lynes 1991, S. 100. 22 Anna Chaves 1990, S. 118. 23 Anne M. Wagner zitiert diese bemerkenswerte Passage aus O'Keefes Brief an Sherwood Anderson 1924 und resümiert: „the change meant new subjects, certainly, but more important, it provided an evasive strategy". Es folgt eine sehr luzide Analyse der Verschiebung von der Abstraktion zur Figuration als „maskierte Abstraktion". Wagner 1997, S. 61 ff. 24 Naef 1978, S. 222. 25 Kritik in The Art News, 13.2.1926, wieder abgedruckt in: Buhler Lynes 1991, S. 242. 26 Naef 1978, S. 223. 27 Zitiert nach Buhler Lynes 1991, S. 56. 28 Bekenntnis Stieglitz', wiedergegeben in: Dorothy Norman, Encounters: A Memoir, San Diego 1987, S. 102. Vgl. auch Buhler Lynes 1991, S. 45. 29 Das Foto ist das erste und einzige Mal als Tafel 29 in O'Keeffe by Stieglitz, 1978, publiziert. Anne M. Wagner, die eine genaue Beschreibung der Aufnahme gibt, verweist auf die Verweigerung der Abbildungsrechte. Siehe Wagner 1997, S. 93. 30 Paul Rosenfeld in einer Kritik von 1921, zitiert bei Wagner 1997, S. 80. 31 Vgl. Naef 1978. 32 Mabel Dodge: The Art of Georgia O'Keeffe, undatiertes Manuskript aus dem Nachlaß, vollständig publiziert als Anhang in: Wagner 1997. 33 Ibid., S. 48. 34 Rezension im Brooklyn Eagle, 15.3.1925, wieder abgedruckt bei: Buhler Lynes 1991, S. 233. 35 Christos M. Joachimides und Norman Rosenthal: Amerikanische Kunst des 20. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung, Berlin 1995. 36 Clement Greenberg: Review of an Exhibition of Georgia O'Keeffe von 1946 in: Clement Greenberg: Collected Essays and Criticism, Bd. 2, Chicago 1986, S. 87.

G e o r g i a O ' K e e f f e und A l f r e d Stieglitz

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Das Paar, das nie eins war:

Lee Miller und Man Ray (1929-1932)

LINDA HENTSCHEL

Leonora Carrington antwortete im Alter, gefragt nach ihrer Liebesbeziehung mit Max Ernst: „Those were three years of my life! Why doesn't anyone ask me about anything else?" 1 Diese Äußerung der Malerin wurde von ihrer Interviewpartnerin als eine frustrierte Beziehungserfahrung gedeutet. In der Tat ging es um Frustration - um die, mit welcher Häufigkeit Carrington diese Frage gestellt wurde. 2 Den Meister geküsst zu haben, scheint längerwährend als von der Muse geküsst worden zu sein. Diesen Eindruck bestätigen auch die Erzählungen über das Paar Lee Miller und Man Ray. Ihre Liebes- und Arbeitsbeziehung dauerte ebenfalls drei Jahre. 1974,42 Jahre nach ihrer Trennung von Man Ray und zwei Jahre vor ihrem Tod, entstand ein Interview mit Lee Miller anläßlich einer Retrospektive des Meisters. Hier sollte sie „My Man Ray" vorstellen und „valuable sidelights on his work" geben.3 Zu diesem Zeitpunkt sprach Lee Miller schon seit vielen Jahren nur sehr selten über ihre eigene Arbeit als Fotografin. Selbst ihr Sohn Antony Penrose will erst nach ihrem Tod erfahren haben, dass sie nicht nur ein „Photographen-Groupie der zwanziger Jahre" gewesen war (Abb. I). 4 Man Ray hingegen pflegte andere Vorstellungen von Autorschaft. 1963 veröffentlichte er sein „Selbstportrait". 5 Auf über 300 Seiten (re-) konstruiert er dort sein Arbeits- und Liebesleben. Doch fällt in seiner Erinnerung an alte Freundinnen, Kolleginnen, Konkurrentinnen und Partnerinnen eine Lücke auf: Lee Miller. Dreimal findet sie Erwähnung: als Schülerin, als junge Amerikanerin und als spätere Gattin des englischen Malers und Kunstkritikers Roland Penrose. 6 Gemessen an der Ausführlichkeit, mit der er seine früheren Beziehungen zu der belgischen Dichterin Adon Lacroix oder der Sängerin und Schauspielerin Alice Ernestine Prin, genannt Kiki de Montparnasse, darlegt, ist das nicht viel.7 Man Ray gibt keine Hinweise, mit Miller liiert gewesen zu sein.8 Diese Zurückhaltung wurde Ray psychoanalytisch als nie überwundene Trennungserfahrung ausgelegt.9 Das ist möglich, wirft dann aber die Frage auf, worin für ihn der Reiz gelegen haben mag, nach einigen Jahren wieder in Kontakt zu Miller zu treten und bis zu seinem Lebensende mit ihr befreundet ge-

Lee Miller und Man Ray

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Abb. 1 Ein Schnappschuss von Man Ray und Lee Miller an einem Schießstand. Fotografie

wesen zu sein. Er starb 1976 im Alter von 86 Jahren, Lee Miller, 70jährig, ein Jahr später. Waren sein Schweigen über sie und sein Reden über sein „Werk" sowie ihr Schweigen über ihr „Werk" und ihr Reden über ihn unterschiedliche Umgangsformen damit, dass das Paar (sich) nie eins war? Obgleich psychoanalytische Perspektiven auf Begehrensstrukturen in Paarkonstellationen sehr vielversprechend und aufschlußreich sein können, werde ich in diesem Beitrag einen etwas anderen Weg einschlagen. Ich möchte Formen des Schweigens oder Sprechens, des Erinnerns oder Vergessens von Künstlerpaaren weitgehend aus einer diskursanalytischen Sicht betrachten. Es dürfte auch Man Ray bewußt gewesen sein, was Gertrude Stein einmal in Bezug auf seine Fotografien sagte: „Etre ,fait' par Man Ray [...] signifiait que vous etiez ,quel'un'." 1 0 Ein verletztes oder verletzendes Schweigen interessiert mich als eine strategische Auslassung. Ein beredtsames DoppelPorträt lese ich weniger als Zeugnis einer real erlebten Einheit, sondern vielmehr als einen Versuch ihrer nachträglichen Herstellung. Es wird daher nicht darum gehen, mit Hilfe der Aussagen von Lee Miller und Man Ray oder Dritter - seien es Kommentare von Verwandten oder Kunstwissenschaftlerinnen - die sogenannte Wahrheit über ihre Beziehung herauszufinden, sondern zu überlegen, wie Paare durch Geschichtsschrei250

Linda Hentschel

bungen „gemacht" werden. Die Redeformen, die sich um das „Paar" herum gruppieren, sollen nicht nur als Beziehungsstrukturen, sondern vor allem auch als Analysestrukturen untersucht werden. Ziel ist es, dem „Paar" etwas von seiner ursprünglichen Begründung zu nehmen und es in seiner variablen und komplexen Funktion in einem modernen Diskurs um Kunst und Autorschaft zu überdenken. Mit diesem Vokabular spiele ich auf Michel Foucault an. Ich werde einige seiner Gedankengänge über die Funktionen des Autors im bürgerlichen Gesellschaftssystem aufgreifen und versuchen, sie auf die Konstruktionen des Paares zu übertragen. 11 Hintergrund dieser Überlegung ist, dass, wie Foucault bereits darlegte, der „Tod des Autors" im 20. Jahrhundert ein wenig leichtfertig ausgerufen wurde. Auch Publikationen über Künstlerpaare haben bisweilen im Fokus auf die Zusammenarbeit und Beeinflussung, den Arbeitsprozess und -kontext, die Gruppen- und Machtstrukturen eine erhebliche Irritation am Ideal des autonomen Schöpfergeistes gesehen. 12 Dass jedoch mit der Hinwendung zum „Paar" nicht automatisch das Problem der Autorschaft und der damit verbundenen Autoritätsposition gelöst ist, konnten andere Publikationen zeigen, in denen Aspekte der Geschlechterkonstruktionen nicht unausgesprochen bleiben. Ob nun in der Rolle der „Significant Others" 13 oder der „Magnifying Mirrors" 14 wie auch in der Frage, ob „Eins und Eins" 15 zwei machen, wurden Paarkonstellationen häufig auf das ihnen zugrundeliegende und sie strukturierende Machtverhältnis hin beleuchtet. Bekanntermaßen gehört die Konstruktion Maler - Modell und Meister - Schülerin bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zu den dominantesten Begehrens- und Analysestrukturen. Seltener und bislang leider noch die Ausnahme sind Untersuchungen, wie der Maler oder der Filmstar unter weiblicher Regie „gemacht" wird. 16 Nachträglich getilgte, weiblich konnotierte Kreativität wird somit der Rede um Kunst wieder zugeführt. Die Kritik an asymmetrischen Paarkonstruktionen sollte jedoch nicht wieder in den - teilweise unausgesprochenen und uneingestandenen - Mythos des gleichberechtigten Duos mit seiner „Kreativitätshochzeit" 17 münden. Dessen Ideal der Einheit scheint mir in einer allzu auffälligen Nähe zum Ideal des „ganzen Körpers" zu stehen. 18 Das „Paar" wird schnell zu solch einer konservativen, patriarchalischen Subjektkonstruktion, ist es von diesen Phantasmen der Vollkommenheit getragen. 19 Vielversprechender ist, einen Weg zwischen dem „großen Meister" und dem „großen Paar" zu beschreiben. Die „Geburt des Paares" als Analysekategorie hängt, wie am Beispiel von Lee Miller und Man Ray gezeigt werden soll, weniger mit dem „Tod des Autors" zusammen als mit seiner Intimisierung. Daran schließt sich die Frage an, ob das „Paar" vielleicht nicht so sehr aus einer Annäherung der Geschlechterrollen 20 resultiert, sondern eher ein Ergebnis der Angleichung von Leben und Arbeit bzw. der Verschränkung des Öffentlichen mit dem Privaten ist, die der moderne Kunstdiskurs propagiert. 21 Vielleicht gehört deshalb das „Paar" zu jenen recht eigenartigen Autortypen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkt in Erscheinung getreten sind? In Anlehnung an Foucault sei als These vorweggenommen, dass

Lee Miller und Man Ray

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das „Paar" zu einer Reihe von Begriffen gezählt werden kann, die das Privileg des Autors im 20. Jahrhundert irritieren sollen, es aber eigentlich blockieren und damit das umgehen, was im Grunde ausgeräumt sein sollte.22 Wenn also im Folgenden die „Amour fou" zwischen Lee Miller und Man Ray dargelegt wird, so geschieht dies vor dem Hintergrund, die „Funktion Paar" stärker mit Foucaults Überlegungen zur „Funktion Autor" zu verquicken. Die Geschichte der „Parisian Encounters: Great Loves and Grand Passions" 23 werde ich in einem nächsten Schritt als einen reichlich verspäteten Wiederbelebungsversuch des baudelaireschen Dandy-Künstlermythos lesen: „Man must have been the dandy of Montparnasse." 24 Auch Baudelaire verlor sich folgenreich „An eine, die vorüberging". Doch zunächst zur Lebenspassage von Lee Miller und Man Ray Ende der 1920er Jahre.

Die Geburt des Paares Die großen Begegnungen sind immer die, die (fast) nicht zustandekamen. Der Beginn eines intensiven und außergewöhlichen Verhältnisses braucht ein Flair des Schicksalhaften und des Zufälligen.25 1929 kommt die 22-jährige Amerikanerin Lee Miller mit ihrer Freundin Tanja Ramm nach Europa. 26 Es ist ihr zweiter Besuch. Nach ihrem Studium der Theaterbeleuchtung und des Bühnendesign in New York erhält sie von der Zeitschrift Vogue, für die sie als Fotomodell arbeitet, den Auftrag, in Florenz und Rom Modezeichnungen von Renaissance-Kostümen anzufertigen. Das Kopieren erscheint ihr als Zeitverschwendung und zudem als nicht exakt genug, so dass sie stattdessen ihre Arbeit fotografisch erledigt. Über Venedig reist sie nach Paris und begibt sich mit einem Empfehlungsschreiben von Edward Steichen zum Atelier Man Rays - um Fotografin zu werden: „That was when I had that revulsion against classical art and all that sort of thing." 27 Zur Steigerung der Dramatik ist der große Meister - „at the height of his fame as fashion photographer and photographic artist" 28 - nicht anwesend und angeblich verreist. Die enttäuschte Lee Miller geht in ein Cafe, doch dann „schien [Man Ray] über eine Wendeltreppe aus dem Boden hervor aufzutauchen. Er sah aus wie ein Bulle, mit einem enormen Oberkörper und dunklem Haar. Ich sagte ihm keck, ich sei seine neue Schülerin. Er sagte, er nehme keine Schüler, und er fahre ohnehin in Ferien. Ich sagte, ich weiß, ich komme mit Ihnen - und das tat ich. Wir lebten drei Jahre zusammen. Ich war als Madame Man Ray bekannt, weil sie es in Frankreich so halten." 29 Damit löst Miller - mehr oder weniger direkt - Berenice Abbott als Assistentin und Alice Prin (Kiki de Montparnasse) als Geliebte ab.30 Selten im Leben erledigt sich alles beim ersten Mal. Hier hingegen ist es der Beginn einer „symbiotischen Beziehung". 31 Er bringt ihr das Fotografieren bei, sie sitzt ihm Modell; sie ist schön, er innovativ; für ihn ist es die große Liebe, für sie die große Chan252

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ce. 32 Gemäß des traditionellen künstlerischen Vater-Tochter-Verhältnisses und der dem Surrealisten-Kreis eigenen Faszination durch die „femme-enfant" ist e r - w i e Max Ernst - fast zwanzig Jahre älter und auf dem Höhepunkt seiner Karriere; sie ist „instinctively a Surrealist" 33 und „endowed with natural talent". 34 Dieser Dialogtypus macht sie zu einem großen Paar - wenn nicht der Liebe, so der - nicht nur surrealistischen - Erzählung der Kunst der Liebe, die Leben und Arbeit in eins setzen will. 3 5 Antwortet Miller auf die Frage, wer sie sei, eine neue Schülerin, so lautete die Antwort im fiktiven Zusammentreffen zwischen der schönen Unbekannten Nadja und Andre Breton ein Jahr zuvor, 1928: „Ich bin eine wandernde Seele." 36 Ray hatte Fotos für Bretons Roman gemacht. Miller wird bisweilen und vorzugsweise von feministisch

Abb. 2 L e e Miller M a n Ray S h a v i n g um 1 9 2 9 Fotografie

Lee Miller und Man Ray

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orientierter Seite ebenfalls als vorbeiziehendes Subjekt charakterisiert. 37 Das entspricht, obgleich als eine Emanzipationsgeste präsentiert, der Reinszenierung einer surrealistischen Verkörperung. Nach Breton war das (zufällige) Zusammentreffen das Ideal der surrealistischen Kunst- und Lebensform. 38 So ist es vermutlich kein Zufall, dass ausgerechnet ein Zufall zu einer der bekanntesten fotografischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts führt: der Technik der Solarisation. 39 Sie ist das Ergebnis eines „hasard objectif", demnach eine Art surrealistischer Witz, in dem zwei scheinbar nicht miteinander zu vereinbarende Realitätssplitter aufeinanderstoßen und dadurch ,normale' Abläufe außer Kraft setzen. Auch dieses Zusammentreffen ist durch Lee Miller überliefert: Etwas sei ihr in der Dunkelkammer über den Fuß gelaufen, vielleicht eine Maus. Sie habe vor Schreck das Licht angedreht und damit einen Film doppelt belichtet. Ihr Versehen wurde zu seiner Erfindung, die er Solarisation nannte. 40 Diese Akte der Zuschreibung von Autorschaft sind keineswegs Zufallsprodukte. Während Miller eine surrealistische Szenerie entwirft und dem Zufall/Unfall die Funktion des Autors überläßt, verwendet

Abb. 3 Man Ray Lee Miller, 1929 Fotografie 254

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Ray einen Erzähltypus, der ihn nicht nur zum Autor ernennt, sondern zudem die Solarisation aus dem Betrieb der profanen Technik in das Reich der hehren Kunst überführt: „Die sogenannten Tricks von heute sind oft genug die Wahrheiten von morgen." 41 Lohnt es sich da, um Autorschaft zu streiten? (Abb. 2/3). Nicht nur im Fall der Erfindung der Solarisation dient Man Ray die Funktion des Paares als Sicherung seiner Autorschaft. Zusammenarbeit scheint ihm, wie vielen seiner Künstlerkollegen, als Arbeitsteilung sinnvoll. Seit er 1921 von New York nach Paris gekommen war, hatte er sich seinen Lebensunterhalt als Hoffotograf der surrealistischen Gemeinde verdient. Zahlreiche Aufträge für Porträt- und Modeaufnahmen folgten, die Ray nicht nur einen angenehmen Lebensstil ermöglichten, sondern ihn auch berühmt machten. Innerhalb kurzer Zeit war er, um an Gertrude Stein zu erinnern, in Paris ,jemand'. Aber leider kein Künstler, sondern nur Fotograf, so jedenfalls beklagt er sich wiederholt in seinem „Selbstportrait". 42 Eigentlich brachte er sich das Fotografieren nur deshalb selbst bei, um qualitätvolle Abbildungen seiner Kunst

Abb. 4 Man Ray Lee Miller, 1938 Fotografie Lee Miller und Man Ray

255

werke herzustellen. Lee Miller ist daher nicht die erste, die Foto- und insbesondere langwierige Laborarbeiten für Man Ray erledigt, um ihn als Maler freizustellen. In seiner Autobiografie findet dieser Sachverhalt keine Erwähnung. 43 Dies zeigt, dass auch der gefeierte Emanzipationsschritt vom Modell zur Fotografin in vielen Fällen nicht wirklich einer ist (Abb. 4/5).44 In beiden Eigenschaften wird Lee Miller von dem pygmaliongleichen Künstler Man Ray „gemacht". Ob vor oder hinter der Kamera, bleibt Miller - zunächst - Teil eines Systems, das der Aufrechterhaltung männlich besetzter Autorschaft dient. Das Argument der Nachahmung und des Kopierens oder der Reproduktion der Ideen des Meisters, aber auch die feministische Lesart ihrer Arbeiten als ironischer Kommentar sind nur weiterere Bausteine in einem Verfahren, das die weibliche Position im Antworten sucht und das Klaus Theweleit Produktionssexualität nennt.45 Theweleit versteht hierunter die Konstellationen, die den Beziehungen wie dem „Werk" gemeinsam sind. Er betont, dass es

Abb. 5 Lee Miller Nude with Wire Mesh Sabre Guard, 1930 Fotografie 256

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gerade die scheinbar privaten Herstellungsbedingungen von Kunst sind, die unauflöslich in das öffentliche „Werk" selbst eingewebt sind, weil sie es erst ermöglichen. Millers Position in dem mit Ray oder auch spät mit Roland Penrose eingegangenen Verhältnis der Produktionssexualität entspricht der traditionellen Rolle der Reproduktionsarbeit. In diesem Sinne macht Miller Kunst, weil sie sie möglich macht. Nach Theweleits Paartheorie wären dann aber Miller und Ray gar nicht eins. Der Autor legt dar, dass es dieser klassischen Produktionssexualität um die Herstellung und Stabilisierung von sogenannten „male couples" geht. Psychoanalytischen Theorien folgend betont er, dass zur Konstitution eines Paares ein Dreieck nötig ist, damit sich „zwei" überhaupt erst über Abgrenzung definieren können: „Es hängt von der Art und Weise des Redens „der Zwei" ab: ob die Produktionsweise von zwei Männern darauf hinausläuft, die Dritte, den Dritten, das Dritte, in „das Werk" einzubauen, sie dafür zu gebrauchen oder zu verbrauchen. Dann spreche ich vom male couple, einem männlichen Produktionspaar zur Herstellung künstlicher Wirklichkeiten, in der das Männerpaar und ein „Werk" wachsen und überleben und eine ihnen technisch/liebestechnisch verbundene Frau oder mehrere zugrunde gehen. Technisch verbunden heißt: Die Frau übt oft eine Arbeit aus, die mit der Produktionstechnik des Mannes verbunden ist." 46 Auf das Motiv des Frauenopfers als Kunstgründung komme ich im Zusammenhang mit dem Künstlermythos des Dandy ä la Baudelaire zurück. Hier sei zunächst festgehalten, dass Lee Millers Bedeutung für Man Ray sich nicht in der landläufigen Auflistung von Modell, Schülerin, Muse und Geliebte erschöpft. Sie spielte auch eine tragende Rolle als „Dritte" in den „male couples", die Ray einging, allem voran mit Marcel Duchamp. Ray hatte Duchamp bereits 1915 in New York kennengelernt und war ihm 1921 nur wenige Monate später nach Paris gefolgt. Nur mit ihm habe er wirklich zusammenarbeiten können. 47 Interessanterweise nimmt Ray in diesem Paar - wie auch im surrealistischen Zirkel en gros - die effeminierte Rolle des Reproduktionstätigen ein. Vor dieser Folie kann sich wiederum das noch größere „Genie" Duchamp abzeichnen.48 Solchermaßen macht erst das Paar den Autor möglich. Eine „Amour fou" von einer Produktionssexualität zu unterscheiden, fällt da schwer. Vermutlich, so ließe sich im Anschluss an Foucault überlegen, ist die „Liebe" auch wieder nur eine weitere psychologisierende Projektion der Behandlung von Texten und Bildern, die der Autorität des Schöpfers dient.49 Aus der Arbeitsallianz der Werkstätten anonymer Meister im Mittelalter wurde im 19. Jahrhundert der Liebesbund des intimen Paares. Seitdem steht Intimität oft in der Nähe von Authentizität. 1932 zog sich Lee Miller aus der Intimität mit Man Ray zurück; über vierzig Jahre später wird sie als intime Kennerin seines Werkes befragt. Auf diese Weise schnappt die Falle der Produktionssexualität von Autorschaft wieder zu. Ob Lee Millers Schweigen über ihre Arbeit dabei als ein strategisches „selfsilencing" und „closeted self" gelesen werden sollte, das bewußt dem „Tod des Autors" zuarbeitet, sei stark bezweifelt.50

Lee Miller und Man Ray

257

Das Überleben des Autors So, wie Lee Miller gemäß der Produktionssexualität des Paares spricht und Man Rays „Werk" (diesmal verbal) reproduziert, schweigt er über sie und macht aus ihr Kunst. Dies unterscheidet den Künstler von der Position einer Autorin: Auf den Tod ihrer Konkurrentin Katherine Mansfield reagierte Virginia Woolf 1923 mit einer Produktionsblockade: „Katherine won't read it." 51 Die Rolle des Autors ist es hingegen, den Verlust der Geliebten in Kunst zu überführen. Kunstproduktion als Liebesangelegenheit und die damit verbundene Intimisierung des Autors ist einer der großen Mythen der Moderne. Kunst ist das Ergebnis eines metonymischen Verfahrens, „das ,die Frau', die geliebte Frau, im Verlauf des Zusammenlebens zu einem Funktionsteil des Werks umbaut [...]".32 Wichtig ist hierbei, dass der umgebaute Körper der Geliebten zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten auftauchen kann. Aus der Allegorie des 19. Jahrhunderts, jener „versteinerten Weiblichkeit", 53 wurde im 20. Jahrhundert die Künsterkollegin. Man Ray unterscheidet sich von Charles Baudelaire nur insofern, als er mit der schönen Vorübergehenden drei Jahre real liiert war, die der Dandy Baudelaire in seinem Gedicht „A une Passante" imaginär zum Ursprung seiner künstlerischen Arbeit und zur Geburt des Flaneurs erklärte. Das melancholische Andenken an sie setzt ihn in Gang. Auch in Andre Bretons Roman „Nadja" ist es die Begegnung mit einer weiblich konnotierten Seelenverwandten, die ihm den Weg zum Reich des Unbewußten eröffnet. Die Frau als Ursprung und Allegorie der Kunst hat eine lange Tradition, die im Künstlerpaar oft nicht aufgelöst, sondern vom Imaginären ins Reale verschoben wird. Lee Miller füllte die reale und imaginäre Ebene des weiblichen Ursprungs von Kunst aus. Während ihrer Partnerschaft mit Ray ermöglichte u.a. ihre Arbeit sein künstlerisches „male couple" mit Duchamp. Nach der Trennung ging ihr umgebauter Körper in Rays Kunst ein. 54 Anders gesagt: Millers Abwesenheit nobilitierte sie vom Fotomodell zum Kunstobjekt (Abb. 6). Mit „A l'heure de l'observatoire: Les Amoureux" von 1932-34 setzte Man Ray sich ein Andenken, indem er Millers Körper für sein „Werk" umbaute. Diese Verjenseitigung der Geliebten im melancholisch motivierten Kunstobjekt läuft darauf hinaus, die empirischen Charakterzüge des Autors in eine transzendentale Anonymität zu übertragen. 55 Millers fotografierte Lippen malt er freigestellt überdimensional groß im Himmel schwebend. 56 Oft fotografierte Ray „Les Amoureux" mit wechselndem ,Unterteil': Hier posiert ein Modemodell von Harper's Bazaar, dort ein weiblicher Rückenakt oder sein Schachbrett, auf dem er mit Duchamp spielte. Oft erhielt er Verkaufsangebote, die er ausschlug. 57 „Dann hing es, meine Tätigkeit als Photograph dominierend, in meinem Atelier, bis der Krieg kam [,..]." 58 Während und nach dem Krieg ging „Les Amoureux" wie viele weitere Kunstwerke, die vor der Zerstörung bewahrt werden sollten, auf abenteuerliche Reisen. Lee Miller war zu dieser Zeit Kriegsberichterstatterin und Fotoreporterin an der Front. An keiner Stelle erwähnt Man Ray dies. Dieses Schweigen ist kein Zufall, sondern Strategie. Es 258

Linda Hentschel

Abb. 6 Man Ray. A l'heure de l'observatoire: Les amoureux [1932-34]. Für Harper's Bazaar, 1936

entspricht, so Foucault, der Absicht, dem „Werk" einen verborgenen Sinn, implizite Bedeutungen, stillschweigende Determinationen und dunkle Inhalte zu verleihen. Im Schweigen des Autors ist das Verschwinden des Autors „einer transzendentalen Blockierung unterworfen". 5 9 Demzufolge spricht Man Ray: „Ich werde nicht glücklich sein, bevor ich es [Les Amoureux, L. H.] nicht auf einer Doppelseite und in Farbe in einem Buch über den Surrealismus abgebildet gesehen habe. Erst dann werde ich seiner Dauerhauftigkeit ganz sicher sein." 60

Lee Miller und Man Ray

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Anmerkungen 1 Susan Rubin Suleiman, T h e Bird Superior meets the Bride of the Wind: L e o n o r a Carrington & M a x Ernst. In: Significant Others. Creativity & Intimate Partnership. Hrsg. v. W h i t n e y Chadwick und Isabelle de Courtivron. L o n d o n 1993, S. 105. 2

Ebda.

3 M y M a n Ray. A n Interview with Lee Miller Penrose b y Mario Amaya. In: Art in America. Vol. 63, N o . 3, M a i - J u n i 1975, S. 5 4 - 6 1 . Herv. L . H . 4

A n t o n y Penrose, D a s Rätsel Lee Miller. In: apropos Lee Miller. F r a n k f u r t / M 1995, S. 16. „Gegen E n d e ihres Lebens kamen mehrere F o r s c h e r und Kunsthistoriker zu Lee, um sie zu den großen P h o tographien zu befragen, die sie gekannt hatte. Sie gab ihnen bereitwillig A u s k u n f t über Steichen, H o y n i n g e n - H u e n e , H o r s t P. H o r s t , M a n R a y , Capa, E l i s o f o n und andere, [...] aber wenn sie sie nach ihrem eigenen W e r k fragten, leugnete sie, je etwas Bedeutendes gemacht zu haben. Sie war so erfolgreich im Verleumden ihres eigenen W e r k e s , dass wir alle glaubten, sie habe in ihren jüngeren J a h r e n wenig mehr erreicht als ein glamouröses P h o t o m o d e l l zu w e r d e n . " Ebda.

5 M a n R a y , Selbstportrait, Eine illustrierte Autobiographie. M ü n c h e n 1983 (orig. Self portrait. B o s t o n 1963). 6

S. ebda, S. 163, 183, 216.

7 Zu A d o n Lacroix, genannt D o n n a , vgl. R a y 1983, S. 58f; zu Alice Ernestine Prin ebda, S. 1 3 6 - 1 5 3 und Billy Klüver/Julie Matin, Kikis Paris. Künstler und Liebhaber, 1 9 0 0 - 1 9 3 0 . K ö l n 1989. 8

In dem bereits erwähnten Interview mit Lee Miller zitiert Mario Amaya M a n Rays Äußerung, Lee Miller verstehe viel vom K o c h e n oder von Medizin, aber nichts von Kunst. M y Man R a y , 1975, S. 55.

9 10

Penrose 1995, S. 15. Man Ray. Paris 1989, S. 158.

11

Michel Foucault, Was ist ein Autor? In: Ders., Schriften zur Literatur. München 1974, S. 7 - 3 1 .

12

D e r Glaube, der M y t h o s vom männlichen Künstler verliere dadurch an D o m i n a n z , dass statt der „ G e nialität des E i n z e l n e n " das „Klima von B e z i e h u n g e n " untersucht würde und es eine „Befreiung zur Partnerschaft"gebe, ist insbesondere in den beiden Bänden des K u n s t f o r u m international über K ü n s t lerpaare präsent. Vgl. K u n s t f o r u m international, Bd. 106, M ä r z / A p r i l 1990 u. Bd. 107, A p r i l / M a i 1990.

13

Significant Others 1993.

14

Renee Riese Hubert, Magnifying Mirrors. W o m e n , Surrealism & Partnership. L i n c o l n / L o n d o n 1994.

15

Frauen Kunst Wissenschaft, Eins und eins - das macht zwei? Kritische Beiträge zum Künstlerpaar. Halbjahreszeitschrift, Heft 25. Marburg 1998.

16

S. z.B. Ulrike Bergermann, Das Bild von Gertrude Stein von Pablo Picasso. Picassos Porträt und Steins Frage nach der Autorschaft. In: M y t h e n von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Kathrin H o f f m a n - C u r t i u s u. Silke W e n k unter Mitarbeit von Maike Christadler u. Sigrid Philipps. Marburg 1997; Renate Berger, „Try to remember when life was so tender..." R o d o l f o Valentino und N a t a cha Rambova. Zur F o r m u n g des Latin Lover im amerikanischen Stummfilm der zwanziger Jahre. In: Frauen Kunst Wissenschaft 1998, S. 3 2 - 4 7 .

17

Kunstforum international, Bd. 106, S. 86.

18

Diese unkritisch zwischen platonischen, romantischen und symbiotischen Paarmodellen changierenden Verschmelzungsphantasien finden auch heute noch ihren Raum in der Kunstszene. Ein Beispiel dafür sind die „Metaportraits" im R a h m e n des Projektes „ La Folie ä D e u x " von L a w i c k Müller 1997. In den 16 Einzelaufnahmen eines „Metaportraits" verwandelt sich ein Künstlerpaarteil über computergesteuerte Uberblendungstechniken peu ä peu in sein Gegenüber. In der M i t t e ist dann die Illusion von H a r m o n i e vollkommen. Zur Zusammenfassung der ausführlichen kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bildern des „ganzen" oder „fragmentierten" Körpers und den damit verbundenen psychoanalytischen (von Jacques Lacan formulierten) Ansichten zu Identitätskonzepten siehe Sigrid Schade u. Silke W e n k , Inszenierungen des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz. In: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. H g . v. H a d u m o d B u ß m a n n / R e n a t e H o f . Stuttgart 1995.

19

Annegret Friedrich spricht in diesem Zusammenhang von einer „androgynen Totalität" des P a a r - M y thos. Vgl. Annnegret Friedrich, Biographik im Doppelpack - einige polemische Bemerkungen zur K o n junktur des Künstlerpaares. In: Frauen Kunst Wissenschaft 1998, S. 12.

260

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20 Diese Überlegung bezieht homosexuelle und -soziale Partnerschaften mit ein. Zur lesbischen Kultur im Paris der 1920er/30er Jahre siehe Andrea Weiss, Paris war eine Frau. Die Frauen von der Left Bank. Dortmund 1996 (S. auch den gleichnamigen Film der Autorin). 21 Vgl. hierzu Friedrich 1998. 22 Vgl. Foucault 1974, S. 12. 23

24 23

So der Titel einer Kunstbuchkollektion von Charles H o b s o n über berühmte Pariser Paare wie z.B. Napoleon und Josephine, George Sand und Frederic Chopin, Mary Cassatt und Edgar Degas, Auguste Rodin und Camille Claudel. Auf einer historischen Karte sind die mythischen Orte der ersten Begegnung eingezeichnet. Die Publikation ist zu finden unter: http://www.charleshobson.com. Den Hinweis verdanke ich Sigrid Adorf, Bremen. Mario Amaya in: My Man Ray 1975, S. 60. So half das Schicksal auch Lee Miller, Fotomodell zu werden. Conde Nast, zufällig Besitzer der Zeitschriften Vogue und Vanity Fair, rettete Miller 1927 das Leben, als sie gedankenlos vor einem Auto die Straße betrat. Vgl. Penrose 1995, S. 46.

26 Vgl. Jane Livingston, Lee Miller Photographer. L o n d o n / N e w Y o r k 1989, S. 28 f. 27 Lee Miller in: M y Man Ray 1975, S. 59. Es scheint demnach nicht so, wie Man Ray behauptete, dass Lee Miller keine Ahnung von Kunst gehabt hätte: „The reason I didn't have any art opinions was that I had given up art. I had been a student at the Art Students League and was fed up to the teeth with painting [...]. All the paintings had been painted as far as I was concerned and I became a photographer." Ebda, S. 55. 28 29

Mario Amaya in: My Man Ray 1975, S. 55.

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Berenice Abbott war seit 1923 Assistentin von Man Ray, 1924-1929 arbeitete Andre Boiffard in seinem Atelier.

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Penrose 1995, S. 48. In Bezug auf Carrington und Ernst schreibt Susan Rubin Suleiman: „He can't live without her. She becomes part of the Surrealist circle." Suleiman 1993, S. 97. Selten wird bedacht, dass sich nicht nur der jüngeren Künstlerin, sondern auch dem alternden Künstlerkörper damit ein ,neues Leben' offenbart. Livingston 1989, S. 35. Ebda, S. 38.

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Penrose 1995, S. 47 f. Im selben Jahr lehnte Man Ray Marianne Breslauer als Schülerin ab mit dem Argument, sie könne doch bereits fotografieren, und empfahl ihr, das ihm zugedachte Schulgeld für Kleider und die sonstige Vergnügungen in Paris auszugeben.

„[...] all the more because the surrealists, in their eagerness to overcome the separation between art and life, so often used the slogan changer la vie." Hubert 1994, S. 10. Andre Breton, Nadja. Pfullingen 1992, S. 56. Die Fotografie wird in diesem Zusammenhang zum „steadiest commitment in her life" ernannt. Als Grund dafür wird nicht etwa eine künstlerische Motivation angegeben, sondern eine Vergewaltigung in ihrer Kindheit. Livingston 1989, S. 27. Vgl. auch A m y J. Lyford, Lee Miller's Photographie Impersonations 1930-1945. Conversing with Surrealism. In: History of Photography, Bd. 18, Nr. 3, Herbst 1994, S. 2 3 0 - 2 4 1 .

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Auch die „Amour fou" ist solch ein einmaliges Zusammentreffen von „souls and minds as well as bodies". Suleiman 1993, S. 97.

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Bei der Solarisation wird ein bereits entwickelter, aber noch nicht fixierter Film nochmals belichtet. Dadurch kommt es zu einem Umkehrverfahren der Schwarz-weiss-Töne.

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„About the Solarizations, it was all very well my making that one accidental discovery, but then Man had to set about how to control it and make it come out exactly the way he wanted to each time. [...] There were many people later on who copied it, but they never seemed to handle it with the authority that Man did." My Man Ray 1975, S. 57. In anderen Publikationen wird betont, dass dieses Vefahren schon seit langem als „Sabatier-Effekt" bekannt war, jedoch den Ruf eines Unfalles hatte. „Doch nur Man Ray, der erfahrene Künstler und Dadaist, konnte auf die Idee verfallen, auf diese Weise aus einem Zufall, Irrtum oder Fehler Nutzen zu ziehen." Emmanuelle de l'Ecotais, Die Kunst und das Porträt. In: Man Ray, Das photographische Werk. München 1998, S. 121. Ray 1983, S. 208.

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Interessanterweise hat Man Ray gleichzeitig durch immerwährende Reduktion seines fotografischen CEuvres mittels der Reproduktion nur weniger freigegebener Fotografien auch hier so etwas wie ein ein-

Lee Miller und Man Ray

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heitliches „Werk" schaffen wollen. Zudem hat er einige Fotografien signiert, um ihnen den Status des Kunstwerkes zu verleihen. Vgl. Ray 1998, S. 58 f. 43 „Obwohl ich als Photograph immer stärker beansprucht wurde, gelang es mir, meine Zeit so einzuteilen, dass ich einen Teil davon dem Zeichnen und Malen widmen konnte, wenn auch nur als Erholung von der täglichen Routinearbeit." Ebda, S. 244. Herv. L. H. 44 Zum Emanzipationsgestus vgl. Sabina Leßmann, „Das Bewußtsein hat immer einen Leib": Fotografische Selbstbildnisse Lee Millers (1907-1977) und Meret Oppenheims (1913-1985) und die Rolle beider als Aktmodelle Man Rays. In: Frauen Kunst Wissenschaft, Fotografie. Heft 14, Marburg 1992, S. 53-66; Renee Riese Hubert, The Model and the Artist: Lee Miller and Man Ray. In: Hubert 1994, S. 199-229. Hubert geht hier sogar so weit, die Trennung von Ray als Entdeckung der wahren Berufung von Miller als Dokumentarfotografin zu feiern. 45 46 47 48 49 50

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Klaus Theweleit, „Male couple" oder der Künstler und sein Frauenopfer (schriftliches Interview mit Paolo Bianchi). In: Kunstforum international, Bd. 107, 1990, S. 94. Ebda, S. 93. Vgl. Michel Sanouillet, Duchamp und Man Ray: Gekreuzte Blicke. In: Man Ray 1998, S. 211-229. Duchamp entwarf für den Eingang einer neueröffneten surrealistischen Galerie eine Glasscheibe, aus der die Silhouette eines Paares herausgeschnitten war. Vgl. Ray 1983, S. 228. Vgl. Foucault 1974, S. 20 f. Zur These des „self-silencing" als postmoderne Strategie des Tod des Autors vgl. Jonathan Katz, Lovers and Divers: Interpictorial Dialogue in the Work of Jasper Johns and Robert Rauschenberg. In: Frauen Kunst Wissenschaft 1998, S. 16-31. Louise DeSalvo, „Tinder-and-Flint": Virginia Woolf & Vita Sackville-West. In: Significant Others 1993, S. 83. Theweleit 1990, S. 92. Siehe allgemein dazu Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. Köln/Weimar/Wien 1996. „Es wirkt wie eine letzte Huldigung an Lee, gleichsam als Sühne für die Trauer gemalt, die ihn beim Verlust der freiheitsdurstigen Schönheit überwältigt hatte, die er nie ganz erobern konnte." Penrose 1995, S. 48. Herv. L. H. Vgl. Foucault 1974, S. 14. „Die Lippen erinnerten durch ihre Größe ohne Frage an zwei eng aneinander geschmiegte Körper." Ray 1983, S. 245. Ebda. Ebda, S. 247. Herv. L. H. Foucault 1974, S. 14. Ray 1983, S. 248. Herv. L. H.

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Linda Hentschel

Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

Okamoto Kanoko und Okamoto Ippei Takamura Chieko und Takamura Kötarö

MICHIKO MAE

Nach der Öffnung Japans in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in der Meiji-Zeit (1868-1912) der Modernisierungsprozeß rasch und konsequent in Gang gesetzt, um Japan zu einem den westlichen Ländern gleichwertigen Land zu machen. Er führte auch für die Frauen - vor allem durch die Entstehung eines öffentlichen Diskurses und durch den Aufbau eines modernen Bildungswesens - zur Entwicklung eines neuen Lebensgefühls und Selbstverständnisses. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Literatur: einmal durch die vielfältigen Einflüsse der westlichen Literatur und dann durch das Entstehen der modernen japanischen Literatur. Dadurch wurde auch in Japan die Grundhaltung des Individualismus für viele Menschen zum neuen Leitbild. Das radikale Ichbewußtsein vieler japanischer Schriftsteller und Intellektueller richtete sich vor allem gegen das Familiensystem, wie es die damalige japanische Gesellschaft prägte. Auch immer mehr Frauen - man nannte sie „Neue Frauen" - suchten ihre Identität nicht mehr in den traditionellen Frauenrollen, sondern als Individuum, und sie suchten ihren Ort nicht mehr in der patriarchalen Familie, sondern in einer Beziehung zwischen Individuen. Die Verbindung und Wechselbeziehung zwischen den Idealen des Individualismus und der Liebe war für die Zeit der Jahrhundertwende charakteristisch. Dies gilt ebenso für die Krise der Ich-Identität und des Ich-Bewußtseins, wie sie in Europa um die Jahrhundertwende von der Literatur, Philosophie und Psychologie thematisiert w u r de; sie führte zu einer Öffnung und Entgrenzung des Selbst, die zwar den Selbstverlust zur Folge haben konnte, aber auch ein radikales Streben nach Selbstfindung und Selbstverwirklichung bewirkte. Selbstfindungs- und Selbstverwirklichungsprozesse waren allerdings bei Männern und Frauen verschieden. Während es nach dem männlich bestimmten Selbstkonzept um die Entwicklung eines eigenständigen, unabhängigen und autonomen Subjekts ging, suchten Frauen für ihre Selbstverwirklichung eher eine neue Form der Liebe Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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zwischen zwei Individuen, die sich nicht nur gegeneinander abgrenzen, sondern die sich zugleich auch zueinander öffnen und ,entgrenzen', um gerade darin ihr Selbst zu finden. Ein Selbst zu sein bedeutete für sie, ein Gleichgewicht zwischen Abgrenzung und Entgrenzung zu finden. Die beginnende Modernisierung bot auch den Frauen in Japan die Möglichkeit, eine neue Art des Sprechens, Schreibens und ihrer Subjektivität zu schaffen: Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es eine moderne Literatur von Frauen, und mit der Gründung der feministischen Vereinigung und ihrer gleichnamigen Zeitschrift „Seito" im Jahr 1911 gab es ein Forum, das literarische Arbeiten von Frauen veröffentlichte und Frauen zur Emanzipation und Selbstverwirklichung ermutigte. Auch in dieser neuartigen Zeitschrift von Frauen für Frauen, mit der die japanische Frauenbewegung begann, wurde die innere Verbindung zwischen dem Individualisierungsprozeß und der Liebe in ihrer neuen Bedeutung thematisiert. Aber die Mitglieder der Vereinigung Seito sahen nicht nur die neuen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, die sich daraus für die Frauen ergaben; sie erkannten auch die Gefahren, die für die Frauen entstehen konnten: Die individualistische Liebe konnte sich für sie als ein neuer und sogar noch stärkerer Zwang als die alten Rollenmuster erweisen. Für Frauen liegt im Prozeß der Selbstverwirklichung eine tiefe Ambivalenz: Sie müssen einerseits ein starkes Selbstgefühl entwickeln und sich von den anderen abgrenzen, um als eigenständige Person anerkannt zu werden; gleichzeitig brauchen sie die Möglichkeit, ihr Selbst zu entgrenzen, um einer sich verfestigenden Identität zu entgehen, die sie auf die vorgegebenen Weiblichkeitsmuster festlegen könnte. Sie suchen diese Möglichkeit zur Entgrenzung in der Liebe, aber nicht um den Preis der Selbstaufgabe und des Selbstverlustes. Die Liebe birgt in sich immer auch die Gefahr der Vereinnahmung und des Selbstverlustes. Deshalb ist es für Frauen so wichtig, ihr Subjektsein nicht nur in der Liebe zu begründen und zu verwirklichen, sondern auch in der Arbeit. Das gilt in besonderer Weise, wenn diese Arbeit unmittelbar auf die Verwirklichung des Selbstseins bezogen werden kann und wenn darin Selbstsein und Liebe thematisiert werden können: in der Kunst, vor allem in der Literatur. Eine spezifische Problematik in Japan war, daß Vorstellungen wie „Individuum" und „romantische Liebe" erst mit der Modernisierung von der Gesellschaft aufgenommen wurden. Die Wirkung dieser westlichen Ideen entstand daraus, daß sie sich gegen die vormoderne feudalistische Gesellschaftsstruktur richteten. Die Modernisierung brachte allerdings auch in Japan eine neue Geschlechterdifferenzierung und -ideologie mit sich. Weil in der europäischen Moderne die Begriffe „Individuum" und „romantische Liebe" zunächst nach männlichem Muster bzw. männlichen Vorstellungen konzipiert waren, 1 konnten Frauen, die ihre Selbstverwirklichung in der Liebe suchten, in eine neue Zwangssituation geraten. Diese komplexe Konstellation, die auch durch die andere Bedeutung der Moderne in Japan und durch die kulturelle Differenz geprägt war, wird in der folgenden Analyse der beiden Paarbeziehungen implizit berücksichtigt. 264

Michiko Mae

Beide Künstlerinnen, deren Lebensproblem in ihrer Paarbeziehung ich untersuchen werde, gehörten zum Umkreis der erwähnten Zeitschrift „Seitö", hatten aber untereinander keinen direkten Kontakt. Sie verließen noch in der Anfangsphase dieser Zeitschrift deren Umkreis weiblicher Solidarität: die Malerin Takamura Chieko 2 , um in eine Künstlerehe einzutreten, von der sie sich die Möglichkeit einer idealen Verbindung von Liebe, Kunst und Selbstverwirklichung erhoffte; die Schriftstellerin Okamoto Kanoko wegen einer Krise in ihrer Ehe. Die Voraussetzungen für die Realisierung eines Künstlerlebens in der Liebe schienen für beide Paare günstig zu sein, doch das Zusammenspiel von Liebe, Künstlertum und Selbstverwirklichung führte für die eine Künstlerin zur Katastrophe des totalen Selbstverlustes, während es für die andere Künstlerin nach einer zunächst katastrophalen Entwicklung doch noch zu einem späten künstlerischen Erfolg und zu großer öffentlicher Anerkennung führte.

Biographische Grundlagen Takamura Chieko (1886-1938) Die Materiallage zur Herausarbeitung des jeweiligen biographischen Hintergrundes stellt sich bei beiden Künstlerinnen ganz unterschiedlich dar. Während über Okamoto Kanoko sehr viel geschrieben wurde - nicht nur, weil sie Schriftstellerin war, sondern auch weil ihr Mann Ippei, ihr Sohn Taro und sie selbst als Künstler bekannte Persönlichkeiten waren - , gibt es über Takamura Chieko (Abb. 1) nur einige biographische Texte von ihrem Mann Takamura Kötarö, vor allem seinen berühmten Gedichtband „Chieko-sho" (1941). Von Chieko selbst kennt man heute kaum Werke - nur einige wenige Ölbilder im westlichen Stil und über eintausend farbenprächtige Papierschnitte, die sie während ihrer Erkrankung an Schizophrenie angefertigt hat, unter der sie in den letzten sieben Jahren vor ihrem Tod litt. Weniger durch ihr Werk, sondern durch den Gedichtband ihres Mannes wurde und ist sie bekannt. Man kann deshalb ihr Leben nur aus den Zeilen, zwischen den Zeilen und gegen die Zeilen dieses Gedichtbandes lesen und zu verstehen versuchen. Takamura Chieko wurde 1886 als die älteste Tochter einer Sakebrauer-Familie in der Präfektur Fukushima geboren. In jungen Jahren war Chieko eine hervorragende Schülerin, die durch ihr Maltalent die Leute beeindruckte. Sie war für ihre Familie und besonders für ihre Mutter, die wegen des schnell erworbenen Reichtums zwischen Minderwertigkeits- und Uberlegenheitsgefühlen schwankte, ein großer Stolz und auch eine Hoffnung, der Familie zu höherem Ansehen zu verhelfen. Ungewöhnlich für ein Mädchen damals konnte Chieko deshalb an der ersten japanischen Frauenuniversität, der Nihon Joshidaigakko in Tokyo, studieren. Nach dem Studium blieb sie gegen den Willen ihrer Eltern für ihr weiteres Kunststudium in Tokyo. Ihre ganze Leidenschaft Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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Michiko Mae

und ihr Stolz waren auf die Kunst gerichtet, und sie stellte sehr hohe Ansprüche an ihre künstlerische Arbeit. Um 1911, als sie die Titelbilder für die Zeitschrift „Seitö" entwarf, war sie eine in ihrer Zeit moderne und vielversprechende Malerin. Als sie 1914 den Bildhauer, Maler und Dichter Takamura Kötaro (1883-1956) heiratete, brach sie radikal alle Kontakte mit ihren Freundinnen ab, auch ihre enge Freundschaft mit einer der bedeutendsten modernen japanischen Schriftstellerinnen, Tamura Toshiko (1884-1945). Chieko und Kotaro führten ein abgeschiedenes Leben in Armut und Einsamkeit, in dem Liebe und Kunst vereint werden sollten. Etwa ab 1921 war Chieko, die bis dahin sehr sportlich war, immer wieder krank und verbrachte einige Monate im Jahr in ihrer Heimat. 1931 brachen erste Anzeichen von Schizophrenie aus; ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Sie starb 1938 an Lungentuberkulose.

Okamoto Kanoko (1889-1939) Ganz anders als das Leben Chiekos verlief das ihrer Zeitgenossin, der Dichterin und Schriftstellerin Okamoto Kanoko. Es soll im folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, da es ein ungewöhnliches Leben war. Kanoko (Abb. 2) kam aus einer reichen und alten Großgrundbesitzerfamilie in einem Vorort von Tokyo. Sie war intelligent und künstlerisch begabt, im Alltagsleben aber so unfähig und unpraktisch, daß sie selbst wie auch ihre Eltern die Vorstellung hatte, es wäre besser für sie, allein zu leben, etwa als Koto(japanisches Saiteninstrument)-Lehrerin. Aber ein junger Kunststudent wollte sie unbedingt heiraten. Okamoto Ippei (1886-1948) war ein reflexiver urbaner Mensch, sophisticated und fast ein Nihilist. Er war zwar feinfühlig und aufmerksam, aber direkten Gefühlsausdruck empfand er als unästhetisch und abstoßend, Kanoko dagegen war in ihrem Gefühlsleben direkt und hatte einen leidenschaftlichen Charakter. Beide hatten zudem ganz verschiedene Lebensvorstellungen und auch ganz unangemessene Erwartungen an den jeweils anderen, während jeder von ihnen noch seinen eigenen künstlerischen Weg suchte. In ihrem gemeinsamen Alltagsleben prallten sie in gegenseitigem Unverständnis aufeinander: Ippei nahm keine Rücksicht auf das Familienleben und führte ein ausschweifendes Künstlerdasein; in seiner Großzügigkeit gab er für Freunde viel Geld aus, brachte aber fast kein Geld nach Hause. Oft gab es im Haus keinen Strom. Kanoko, die inzwischen einen Sohn hatte, war verzweifelt und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Bis hierher scheint diese Geschichte einen typischen Verlauf zu haben. Dann aber gab es eine überraschende Wende: Ippei merkte, was in seiner Frau vorging. Beide bemühten sich, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, und sie suchten diesen Weg zuerst in der Religion. Nicht das Christentum mit seinen Schuld- und Sühnevorstellungen, sondern der Mahayana-Buddhismus zeigte ihnen - bei allen ihren Fehlern und aller Schuld Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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Abb. 2 Okamoto Kanoko 1933 Fotografie

einen Weg zur Erlösung. Kanoko vertiefte sich so in ihre Buddhismusstudien, daß sie lange vor ihrer Anerkennung als Schriftstellerin zuerst als Buddhismusexpertin bekannt wurde. Auf der Grundlage des Mahayana-Buddhismus entwickelte sie eine eigene Lebensphilosophie, die auch in ihren literarischen Werken zum Ausdruck kommt. Nach 1920 kam es im Verhältnis der beiden zu einer ungewöhnlichen Veränderung: Ippei wurde bewußt, welch außergewöhnlicher Mensch Kanoko war, und er begann mehr und mehr, für sie, für ihr Glück und für ihren künstlerischen Erfolg zu leben. Er selbst war nicht als Maler, sondern zunächst als Zeitungskarikaturist berühmt geworden. Er gilt als Begründer der modernen Gattung Manga (Comics), die heute in der ganzen Welt, besonders in den USA, aber inzwischen auch in Deutschland, bekannt und populär geworden ist. Ippeis Arbeit als Karikaturist war so erfolgreich, daß er finanziell Kanoko in ihrer Arbeit unterstützen konnte. Kanoko, eine hoch intellektuelle und gebildete Frau, war in ihrer emotionalen Direktheit wie ein Mädchen. Sie verliebte sich manchmal in andere Männer. Ein junger Schriftsteller, in den sie sich verliebt hatte, wohnte wie ein Familienmitglied in ihrem Haus. Als ein junger Arzt, zu 268

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Abb. 3 Ippei, Tarö, Kanoko, Tsunematsu, Nitta [Familie Okamoto mit zwei Begleitern auf Europareise], 1930. Fotografie. Kawasaki, Stadtmuseum

dem Kanoko eine Liebesbeziehung entwickelt hatte, Ippei um die Scheidung von ihr bat, antwortete ihm Ippei, er akzeptiere die Beziehung der beiden, der Arzt solle ihm aber seine Frau nicht wegnehmen, da er ohne sie nicht leben könne. Nachdem Ippei mit seinen gesammelten Werken ein kleines Vermögen verdient hatte, machte die Familie eine fast dreijährige Europareise. Dabei wurden sie von zwei jungen Männern begleitet, die zuhause in Japan bei ihnen gewohnt hatten (Abb. 3). Ippei und Kanoko lebten in einer auf besondere Weise aufeinander bezogenen Gemeinschaft: Kanoko war immer äußerst verletzbar durch jede kleine Bosheit der anderen, und Ippei beschützte sie, wo er konnte. Aber dies war keineswegs eine einseitige BeschützerSchützling-Beziehung, sondern beide ergänzten und unterstützten sich gegenseitig. Ihre gleichberechtigte Beziehung erweiterten sie auf ihren Sohn Tarö; er wurde schon als Kind von beiden als gleichberechtigter Partner behandelt. Auf ihrer gemeinsamen Europareise blieb er allein in Paris zurück, um dort Kunst zu studieren. Später wurde er ein origineller abstrakter Maler. Für Kanoko bedeutete es die Trennung von ihrem Sohn für immer. Trotz großer Unterstützung durch Ippei dauerte es sehr lange, bis Kanoko ihren Durchbruch als Schriftstellerin schaffte. Erst in den letzten Jahren ihres Lebens gewann sie die große Anerkennung, die ihrem hohen Anspruch an ihre literarische Arbeit gerecht wurde. Weil sie immer sehr hart gearbeitet und ihre Begabung auf der Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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Grundlage einer tiefgreifenden Kenntnis der östlichen und der westlichen Kultur entfaltet hatte, konnte sie in kurzer Zeit mehrere Texte und Romane veröffentlichen. Nach ihrem Tod widmete Ippei sein Leben ganz der Herausgabe ihres Nachlasses, dessen Umfang und Qualität die Nachwelt erstaunte.

Subjektivität und Blick Durch den Vergleich der beiden Künstlerpaare sollen in den folgenden Kapiteln die Ursachen des Scheiterns der einen und des Gelingens der anderen Künstlerbeziehung herausgearbeitet werden. Im Zentrum der vergleichenden Analyse werden das Problem der Subjektivität und das Problem des Blicks stehen.

Struktur der Asymmetrie: Chieko und Kötarö Die Gedichte Takamura Kotarös in seinem Gedichtband „Chieko-shö" sprechen in einer hoch ästhetischen kraftvollen Sprache über die Beziehung zwischen ihm und Chieko: „Jegliche Vorurteile verlieren zwischen uns ihre Bedeutung. Für uns ist alles absolut. Es gibt keinen sogenannten Geschlechterkampf, nur Glaube, Ehrfurcht, Liebe und Freiheit." In den Gedichten thematisiert Kotaro ihre Beziehung, ihr gemeinsames Arbeits- und Liebesleben und schreibt, wie Chieko durch ihre Schizophrenieerkrankung von ihm genommen wird und schließlich stirbt. Bis heute gilt in Japan der Band als eines der schönsten Werke über eine ideale Liebesbeziehung, das je von einem Mann geschrieben wurde. In den Gedichten ist Chieko eine starke Frau, die nur für die Liebe zu Kotaro und für die Kunst lebt, ohne Furcht vor Armut und Alltagsschwierigkeiten. In ihrer Krankheit wird sie für Kötarö zu einem „reinen Wesen" außerhalb dieser Welt und nach ihrem Tod zu einem Geist, der mit und in ihm weiter lebt. Erst in den letzten Jahren begann man, besonders in der feministischen Literaturkritik, die Beziehung zwischen Chieko und Kötarö anders zu deuten. Die Literturwissenschaftlerin Kurosawa Ariko nannte den Gedichtband „Chieko-shö" das „Buch einer Kopfjagd", in dem Chiekos „Tötung" thematisiert werde. 3 In meiner folgenden Analyse kann ich die Beziehung zwischen Chieko und Kotarö nicht in ihrer ganzen Komplexität untersuchen, sondern möchte mich auf die Suche nach möglichen Ursachen konzentrieren, warum sie für Chieko so katastrophal verlaufen mußte. Anfangs spielte Chieko in dem gemeinsamen Leben mit Kötarö keineswegs die übliche Hausfrauenrolle, sondern beide sollten ihre künstlerischen Möglichkeiten entfalten können. Ihr Leben sollte insofern eher einer Wohngemeinschaft zweier Künstler ähneln. Späteren Äußerungen Kötarös kann man allerdings entnehmen, daß Chieko sich doch nach und nach gezwungen sah, sich um die Haushaltsarbeit zu kümmern. 270

Michiko Mae

Kotaro berichtet: Da er zunehmend tagsüber mit der Bildhauerarbeit beschäftigt war und abends an seinen Texten arbeiten mußte - dies war eine ihrer wichtigsten finanziellen Einnahmequellen - , wurde auch für Chieko die Zeit für ihr eigenes Kunststudium immer knapper. Kotaro schreibt in seiner Biographie über Chieko: „Chieko bemühte sich, daß die Zeit für meine Arbeit nicht reduziert wurde. Sie verteidigte meine Bildhauerarbeit und gab sich Mühe, den Alltagskram von mir abzuhalten. So reduzierte sie nach und nach unbemerkt ihre eigene Zeit für ihre Olmalereistudien und versuchte, statt dessen einmal mit Ton etwas zu modellieren und dann wieder Seidengarn zu spinnen, zu färben und zu weben." 4 Die Reduzierung der Zeit für ihre eigene künstlerische Arbeit war nicht der einzige Kompromiß, den Chieko einging. Ihr ganzes Leben scheint ein ständiger Rückzug und die stückweise Aufgabe der eigenen Sphäre ihres Ich gewesen zu sein. A m Anfang schien sie in ihrer Beziehung zu Kotaro eine völlig neue Person werden zu wollen. Sie distanzierte sich deshalb von ihrer Vergangenheit, von ihren alten Freundinnen und Bekannten und wollte auch ihrem Mann ihre früheren Werke nicht zeigen. Anfangs bemühte sie sich noch um die Aufnahme ihrer Werke bei renommierten Ausstellungen. Nachdem aber einmal ein Bild von ihr durchgefallen war, versuchte sie nie wieder, ihre Werke auszustellen, trotz des Zuspruchs von Kotaro (Abb. 4). Als dann ihre Familie, die eine große Sakebrauerei in der Provinz Fukushima besaß, im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise vom finanziellen Ruin getroffen wurde, verlor sie eine psychologisch wichtige Stütze gegenüber der renommierten traditionsreichen Familie ihres Mannes. Chieko unterstützte ihre Familie finanziell und verheimlichte dies vor Kotaro; so mußte ihr die eigene Mittellosigkeit und Ohnmacht schmerzlich bewußt werden. Sie beteuerte in den Briefen an ihre Mutter immer wieder, durch ihre künstlerische Arbeit Geld zu verdienen. Als Kotaro und Chieko sich begegneten, waren beide jeder für sich in einer Krise, die durch ihre Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne verursacht wurde. In einem Brief an ihre Freundin, die Schriftstellerin Tamura Toshiko, schrieb Chieko in einer sehr symbolischen Sprache: „Ich wandere zur Zeit nur in dunklen Farben umher. Ich bin jetzt mit furchtbaren Problemen konfrontiert. Niemand in Vergangenheit und Gegenwart und auch kein Buch hat mich jemals etwas über die Probleme, die zur Zeit in meinem Kopf schwirren, gelehrt. Ich hoffe, daß mein verworrener Kopf sie irgendwann lösen kann. Erst dann würde sich eine neue Welt, die ich singen möchte, vor mir eröffnen. Ich weiß, daß es jetzt für mich nichts gibt, was ich singen möchte..." 5 In einem Brief an Chieko von 1913 schrieb Kotarö über einen Traum. In diesem Traum waren ihre Geschlechter vertauscht. Beide waren westlich gekleidet. Chieko im Traum ein Mann - kaufte für Kötarö - im Traum eine Frau - einen großen Hut mit einer Straußenfeder, und er bzw. sie freute sich sehr über diesen Hut. Der Psychologe Machizawa Shizuo sieht in diesem Traum eine Vereinigung des männlichen und des Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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Abb. 4 Takamura Kotaro, o.J., Fotografie

weiblichen Prinzips in Kotarö im Jungschen Sinn und zugleich die Betonung des männlichen Prinzips in Chieko, die für Kotaro die westliche Intellektualität verkörperte, die durch den Hut symbolisiert werde. 6 U m die Bedeutung dieses Traums zu verstehen, muß man wissen, daß Kotarö nach einem dreijährigen Studienaufenthalt in N e w York, London und Paris in eine tiefe Krise darüber geraten war, wie er den „western impact" mit seiner eigenen Entwicklung und der japanischen Tradition vereinbaren und seinen eigenen Weg finden könnte. Zurück in Japan verzweifelte er an der japanischen Realität und auch an den japanischen Frauen, die ihm wie unfreie Puppen erschienen. Bei Chieko aber, einer „Neuen Frau", fand er beides, westliche Intellektualität und japanische Tradition, vereint. Durch die Vereinigung mit Chieko konnte er eine Versöhnung seiner Widersprüche finden. Auch für Chieko bedeutete die Beziehung zu Kotarö in gewisser Weise eine Lösung ihrer Probleme; aber die Bedeutung dieser Lösung war für sie eine andere als für ihn. Chieko war, als sie Kotarö begegnete, bereits 27 Jahre alt und galt in der damaligen Zeit schon beinahe als eine alte Jungfer. Der Druck ihrer Familie, endlich zu heiraten, wurde immer stärker, und eine arrangierte Ehe mit einem Arzt aus ihrer 272

Michiko Mae

Heimat wurde bereits vorbereitet. Die Beziehung zu Kotaro war deshalb für Chieko auch ein Ausweg aus dieser Zwangssituation. Sie wollte mit Kotaro ein ganz neues Leben beginnen und ein neuer Mensch werden; deshalb gab sie einen großen Teil ihrer Vergangenheit auf. Ihre Identifikation mit Kotaro war aber anders als seine Identifikation mit ihr, wie sie sich in dem geschilderten Traum ausdrückte. In einer neuen Beziehung zu einem Menschen bleibt niemand so, wie er einmal war; aber es ist ungewöhnlich, daß Chieko sich so verhielt, als ob sie ihre Vergangenheit vor der Begegnung mit Kotaro fast ungeschehen machen wollte. 7 In einem der Gedichte Kotarös mit dem Titel „Wir" heißt es zwar: „Wir können nicht umhin, uns immer weiter zu erhöhen", d.h. weiterzuentwickeln; beide erscheinen hier als gleichrangig. Es gibt in dem Gedicht aber auch Formulierungen wie: „Du verläßt Dich auf mich und lebst in mir. Das ist alles, was Dich selbst leben läßt." 8 Mit dieser Vorstellung von Chieko konnte er ein Ideal verwirklichen, in dem Arbeit, Kunst, Liebe und Leben eins waren. Weil seine Vorstellungskraft und sein Narzissmus so stark waren, 9 scheint Chieko auch zu der Frau geworden zu sein, die sie für ihn sein sollte. 10 Alles andere negierte sie, ihre Vergangenheit, ihre eigenen Probleme und ihre Ziele. Aber alles, was sie auf diese Weise unterdrückt und verdrängt hat, scheint später in ihrer Schizophrenie ausgebrochen zu sein. 11 Kotaro berichtet einer Bekannten, daß Chieko aggressiv wurde, ihn und die Ärzte beschimpfte, oft stundenlang laut geredet habe, auf der Straße regelrecht Reden gehalten habe, bis ihre Stimme versagte. Ihre Sprache sei meistens Männersprache gewesen, einmal Dialekt, dann wieder eine altmodische Schriftsprache, auch Englisch und manchmal eine erfundene Sprache. Die Sprache, die die schweigsame Chieko unterdrückt hatte, kam nun exzessiv aus ihr heraus: als Männersprache - dies zeigt den Ausbruch ihrer unterdrückten Weiblichkeit, ihrer Aggression und ihres Hasses gegenüber Kotaro; als Dialekt - das zeigt die Rebellion ihrer als minderwertig unterdrückten Provinzialität gegen das Städtische; und als altmodische Schriftsprache - das zeigt ihre Rebellion gegen die Moderne. Gerade in dieser verzweifelten Situation machte Kotaro seine schönsten Gedichte über Chieko, z.B. „Chieko im Wind" oder „Chieko, die mit Regenpfeifern spielt". Nach ihrem Tod schrieb er in dem Gedicht „Das Element Chieko": „Chieko ist zu den Elementen zurückgekehrt. ... Dennoch existiert sie, lebt in meinem Fleisch. Chieko, die in meinem Fleisch ist, ist zugleich die Höhe meines Geistes..." 12 Daß Kotaro den Zusammenbruch eines geliebten Menschen in große Gedichte transformieren konnte, zeigt die Kraft seines Narzißmus und seiner Fähigkeit zur Vergeistigung, ja Mystifizierung des Lebens. Diese Kraft hatte auch Chieko in ihren Bann gezogen, und letztlich konnte sie sich nur durch ihre Schizophrenie, d.h. durch die Zerstörung ihres Selbst, aus diesem Bann befreien. Auch von ihren Minderwertigkeitskomplexen gegenüber Kotaro und von ihrer Arbeitshemmung, die durch ihren zu hohen Anspruch an ihre eigene künstlerische Arbeit verursacht war, konnte sie sich durch ihre Krankheit - so paradox dies auch klingen mag - frei machen. Jetzt konnte sie mehr als tausend PapierLiebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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schnitte mit einer großen Sensibilität für Farben anfertigen und damit ihr langjähriges Problem, das sie mit Ölfarben hatte, überwinden. In einer Beziehung, die den Charakter einer „folie ä deux" hat, ist nicht nur ein Partner - in diesem Fall Kotaro - verantwortlich. Obwohl Chieko ihr Leben lang versuchte, ihre eigene Kunst zu realisieren, hat sie doch in Wahrheit in der Beziehung mit Kötaro ihre Kunst aufgegeben - vielleicht, weil sie unbewußt ihre Kunst durch Kotaro verwirklicht sehen wollte. Dabei spielt das Problem des Blicks eine wichtige Rolle. Kötarös Biographie über Chieko beginnt mit der Beschreibung ihrer Liebe zu seiner Kunst. A m Ende eines Tages zeigt er ihr seine Arbeit und spricht mit ihr darüber. Er schreibt, sie habe seine Werke voll akzeptiert, verstanden und geliebt. Als es diesen liebenden Blick nicht mehr gab - nach dem Tod Chiekos - , konnte selbst Kotaro einige Monate lang nicht mehr arbeiten. 13 Auf der anderen Seite berichtet Kotarö, daß Chieko in ihrer Arbeit nur das Beste anstrebte, deshalb immer unzufrieden war und ihre Arbeit nie vollenden konnte. Vor allem die Ölfarben habe sie nie richtig beherrschen können. Er beobachtet, daß sie manchmal vor ihrem Bild weinte, als er sie in ihrem Atelier überrascht hatte. Unmittelbar darauf folgend beschreibt er aber „ihr" Problem mit der Hausarbeit. Er scheint es trotz dieser Umstände mit großer Selbstverständlichkeit hingenommen zu haben, daß Chieko ihre künstlerische Arbeit immer mehr reduzierte. Sein Bruder berichtete später, daß Kotarö Chiekos Bilder nicht gut fand. So muß man zu dem Schluß kommen, daß im Unterschied zu Chiekos Liebe für seine Kunst Kötarös Desinteresse an ihrer Arbeit auffällig, ja fast demonstrativ war. Kotarö selbst dagegen erlebte zu Beginn ihrer Beziehung, daß er durch Chiekos Blick, aus dem ein volles und reines Vertrauen sprach, von seinem dekadenten Leben gerettet wurde, weil er durch diesen Blick ein anderer Mensch werden konnte. Er selbst aber hatte nur einen Blick, mit dem er Chieko zu dem machte, was er sich gewünscht und was er für sich gebraucht hat. Er konnte sie in seinem Blick nicht zu dem Subjekt werden lassen, das sie selbst war oder werden wollte. Ganz im Gegenteil, er verneinte sie als Künstlerin und auch ihre Kunst durch seinen bestimmenden und selektiven Blick. Und Chieko paßte sich mehr und mehr diesem Blick an. In seiner Biographie über Chieko erzählt Kötaro, daß sie es nicht ertragen konnte, wenn er für seine Arbeit ein Modell benutzte. Er lud sie deshalb ein, ein Modell gemeinsam mit ihm zu skizzieren. Schließlich machte er Chieko selbst zu seinem Modell und berichtet, daß so ihre Beziehung gerettet werden konnte. Die Literaturwissenschaftlerin Kurosawa weist darauf hin, daß diese Episode einen entscheidenden „Blick-Wechsel" für Chieko bedeutet 14 : Sie gibt bereitwillig ihren Blick als sehende Malerin auf und wird zur Gesehenen, zu Kötarös Modell. In diesem hoch symbolischen Akt des „Blick-Wechsels" ist Chiekos Schicksal vorgeprägt: Sie wird von einer Künstlerin zur „lebenden Skulptur", wie ein Dichter, Murou Saisei, sie bezeichnete. 1 5 Von da aus war es nur ein kleiner Schritt, daß Chieko immer mehr dem entsprach, was ihr von Kotarö vorgegeben wurde. Zwischen 1921 und 1922 274

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übersetzte Kotaro für Chieko Gedichte von Emil Verhaeren (1855-1916), um ihr die Liebe Verhaerens zu seiner Frau Marthe zu vermitteln. In seiner Biographie über Verhaeren schrieb Kotaro über diese Liebe: „Verhaerens Liebe zu seiner Frau reichte bis in den Bereich des Gebets. Er vergaß nicht, daß er in einer entsetzlichen Krise von dieser Frau gerettet worden war. Seine Frau war Malerin und hatte ein eigenes Atelier. Sie zeigte aber ihre Werke außer ihm niemandem, wie Stefan Zweig berichtet. Ihre Liebe für ihn hatte einen Glaubenscharakter, wie er in der Moderne sonst nicht mehr zu finden ist." 16 Kotarö identifizierte sich mit Verhaeren und zeigte Chieko mit voller pädagogischer Absicht ihren Weg nach dem Vorbild Marthe Verhaeren-Massins. Für Chieko gab es keinen anderen Weg als die Verwandlung ihres Lebens in ein Kunstwerk. 1 7

Symmetrische Struktur der wechselseitigen Anerkennung: Kanoko und Ippei Obwohl es zwischen Chieko und Kanoko in ihrem Charakter kaum Ähnlichkeiten zu geben scheint, war beiden ihre Gradlinigkeit und Aufrichtigkeit in ihrem Fühlen und Denken und ihre Leidenschaft für die Kunst gemeinsam. Kanoko war wie Chieko stolz und narzißtisch, aber während Chieko sich immer tiefer in ihre innere Welt zurückzog, bis sie den inneren Druck nicht mehr aushalten konnte, ging Kanoko von einer tiefen Krise aus und wurde dann so stark, daß sie auch aus ihren Problemen und ihrem Kummer die Kraft für ihre Weiterentwicklung als Künstlerin schöpfen konnte. Kanoko, die in einer traditionsreichen Großgrundbesitzerfamilie aufgewachsen war, hat eine sehr gute Bildung genossen. Schon in ihrer Kindheit lernte sie die japanische und die chinesische Klassik und auch im musischen Bereich wie Musik und Tanz war sie gut ausgebildet. Sie wurde von ihrem älteren Bruder, der literarisch hoch begabt war, aber jung starb, stark beeinflußt. Die beiden verband eine tiefe Gemeinschaft, die sich der Literatur verschworen hatte. Mit ihrem Bruder zusammen war sie Mitglied der literarischen Zeitschrift „Shin-shisha" (Gesellschaft für neue Gedichte); ihre Gedichte schickte sie auch an andere literarische Zeitschriften und war bald als junge Dichterin anerkannt. Ihr Leben mit dem Maler Okamoto Ippei begann mit einer großen Krise wegen Ippeis ausschweifenden Lebens. Er hatte seine eigene Vorstellung davon, wie die Ehefrau eines Künstlers zu sein habe: Sie sollte alles Alltägliche von ihm abhalten, damit er sich ungestört seiner Arbeit widmen konnte. Kanoko dagegen hatte eine große Erwartung an die Ehe, die für sie die höchste Form der Liebe sein sollte. Aus Verzweiflung dachte sie sogar an Selbstmord und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Später läßt sie eine Romanfigur über eine ähnliche Situation sagen: „Ich dachte oft, es wäre besser zu sterben. Mit der Einstellung, ich wäre tot, konnte ich dann unerschrocken fühlen... Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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W e r einmal direkt dem T o d ins A u g e sah, m u ß anfangen, in dieser dunklen W e l t etwas zu lieben." 1 8 Kanokos Zusammenbruch zeigte Ippei, w a s er getan hatte. Er faßte den Entschluß, ihre außergewöhnliche Persönlichkeit mit allen Kräften zu beschützen und hielt sein Leben lang daran fest. A l s K a n o k o ( A b b . 5) sich in einen j u n g e n Literaten, H o r i k i r i Shigeo, verliebte und dies Ippei gestand, erlaubte dieser, daß er in ihrem H a u s w o h n e n und seinen Literaturstudien bei K a n o k o nachgehen konnte. A b e r dieses Experiment scheiterte k l ä g lich, da K a n o k o auf die B e z i e h u n g z w i s c h e n H o r i k i r i und ihrer j ü n g e r e n Schwester eifersüchtig w u r d e und ihn aus d e m H a u s verwies. Sie geriet in einen zerrütteten Geisteszustand (eine A r t geistigen Kollaps) und verlor ein Kind. N a c h diesem Ereignis litt sie unter Gewissensbissen. Ippei erkannte, daß er mit seiner oberflächlichen G r o ß z ü g i g k e i t , die im G r u n d e nur aus seiner Eitelkeit herrührte, seine Frau nicht w i r k l i c h glücklich machen konnte. Beide standen w i e d e r vor einem A b g r u n d und suchten diesmal H i l f e in der R e l i g i o n . Sie versöhnten sich, i n d e m sie schworen, keine

Abb. 5 Okamoto Kanoko um 1934 Fotografie Kawasaki, Stadtmuseum 276

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A b b . 6 O k a m o t o Ippei bei der T r a u e r f e i e r für O k a m o t o K a n o k o , 1 9 3 9 . Fotografie. K a w a saki, S t a d t m u s e u m

sexuelle Beziehung mehr miteinander zu haben. Achtzehn Jahre lang hielten sie diesen Schwur aufrecht, bis Kanoko mit 51 Jahren starb (Abb. 6). Die Beziehung der beiden veränderte sich in dieser Zeit in vieler Hinsicht, und sie entwickelten ein auf gegenseitiger Achtung beruhendes Verhältnis. Ippei, der damals bereits als politischer Karikaturist zu Ruhm gekommen war, konzentrierte sich nach und nach darauf, Kanokos Karriere als Schriftstellerin zu unterstützen. Kanoko ihrerseits bemühte sich, künstlerische Ratgeberin und Kritikerin seiner Arbeit zu sein; sie hatte die Vorstellung, für ihn eine „egerie", also eine geistige Anregerin, Beraterin und Freundin zugleich zu sein. Für beide war in dieser Phase in erster Linie Kanokos Arbeit wichtig und nicht umgekehrt. Ippei nutzte seine guten Beziehungen zu wichtigen Literaten, um ihre Werke publizieren zu lassen. Die zweieinhalbjährige Europareise (1929-1932), die Ippei als Zeitungskorrespondent machen sollte, die er aber als eine Familienreise organisierte, war auch dafür gedacht, Kanokos frühere Träume zu erfüllen 19 und ihr die europäische Kultur näher zu bringen. Sie konnte nicht nur das Kulturleben in Europa genießen, sondern hatte auch Gelegenheit, verschiedene Intellektuelle, Künstler und damals wichtige Persönlichkeiten kennenzulernen und mit ihnen Gespräche zu fühLiebe und Künstlertum in der japanischen M o d e r n e

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ren. Nach dieser Europareise begann Kanoko ihre späte Karriere als Schriftstellerin und machte sich daran, ihre literarischen Werke zu publizieren. Uber den ungewöhnlichen Ehemann Ippei wurde und wird in Japan bis heute gerätselt. Eine der bekanntesten Biographinnen Kanokos, die Schriftstellerin Setouchi Harumi, stellt das Verhältnis der beiden folgendermaßen dar: „Ippei faßte den Entschluß, für Kanoko zum Dienenden zu werden. Der Grund waren seine Sühne und unendliche Liebe, die man auch eine väterliche Liebe nennen könnte. Seit dieser Zeit nannte er Kanoko „joshi"20. Gleichzeitig verhielt er sich bei allem so, daß Kanoko Selbstvertrauen und ein starkes Elitebewußtsein gewinnen konnte. Es war in dieser Zeit, daß er sie „Bodhisattva" (kannon) nannte und sie angebetet haben soll."21 Um die Beziehung zwischen Kanoko und Ippei zu erklären, benutzt Setouchi im Anschluss an die zitierte Passage die Metaphern von Puppe und Puppenführer wie im japanischen Jöruri-Theater, bei dem zuerst der Puppenführer die Puppe nach seinem Willen bewegt und sie alles ausdrücken läßt; „aber dann eines Tages gewinnt die Puppe Seele und beginnt, in seiner Hand sich frei und selbständig zu bewegen." Sie sagt, daß Ippei die „prachtvolle" Puppe Kanoko bewegte und die beiden anderen Männer in ihrem Leben als kuroko (Schattenmänner) dienten, um ihre Hände oder Beine zu bewegen: „Alle drei taten sich zusammen und gaben sich die größte Mühe, sie zu bewegen." Die Puppen-Metapher, die Setouchi benutzt, ist zwar auf den ersten Blick einleuchtend, erweckt aber den Eindruck, als wäre Kanoko eine Marionette der drei Männer gewesen. Dieser These kann ich deshalb nicht folgen, weil damit die Autonomie Kanokos in Frage gestellt würde. Ippei hat sie ohne Zweifel in einer außergewöhnlichen Weise unterstützt und gefördert, aber auch ein genialer Puppenspieler kann einer Puppe keine eigene Seele einflößen. Eine Textstelle aus dem Roman Kanokos „Nyotai kaigen" (Offenbarung einer Frau) scheint die Metapher Setouchis zu bestätigen. Die Hauptfigur des Romans Hösaku sagt zu seiner Geliebten Nana: „Nana, ich liebe Dich. Aber ich möchte nicht Deiner angeborenen Schönheit erliegen. Was ich mir wünsche, ist die Schönheit meiner Gedanken, die ich aus Dir mache. Deshalb kann es sein, daß ich Dich einmal zerstöre. Und dann will ich Dich neu erschaffen. Wenn ich meine Nanako, die ich geschaffen habe, einmal sehen kann, werde ich sie als mein Grab oder als meine Führerin betrachten. Dann kann ich jederzeit sterben, dann hätte ich keinen anderen Wunsch mehr auf dieser Welt." 22 Man muß also die Frage stellen: War auch Kanoko nur eine Realisierung von Ippeis Willen oder Gedanken, also eines männlichen Geistes, und wird damit die „Marionetten-These" doch bestätigt? Haben Kanoko und Ippei zwar zusammen für Kanokos Karriere als Schriftstellerin gearbeitet, aber im Grunde doch nur im Rahmen von Ippeis Konzept? 278

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Gegen diese Vermutung möchte ich auf eine wichtige Aussage Kanokos eingehen. Sie sagt in ihren späten Jahren, sie sei nicht mehr Kanoko, die zwischen ihren Eltern geboren wurde, sondern Kanoko, die zwischen Ippei und ihr selbst geboren wurde. 23 In diesen Worten steckt ihr Geheimnis: Kanoko sah sich selbst so, daß sie in ihrer Beziehung in einem symbolischen Sinn gestorben und als eine neue Kanoko wiedergeboren sei. Im Hintergrund steht die buddhistische Denkweise und Kanokos davon beeinflußte Lebensphilosophie. Sie betrachtete sich nicht mehr als die frühere Person, die sie einmal war, sondern zwischen ihr und Ippei ist nun eine neue Person geboren worden, die aus der Vereinigung der beiden als Drittes hervorgegangen ist. Kanoko selbst sah sich also wie ein Kunstwerk, das von ihr und Ippei geschaffen wurde. Sie war deshalb keine manipulierte Puppe, sondern ihr Wille, aus ihrer Vereinigung etwas Neues und Wertvolles zu schaffen, hat Ippei grundlegend verändert. Kanoko war aber nicht nur das Kunstwerk ihres narzißtischen Bewußtseins, sondern vor allem war sie eine schöpferisch arbeitende Künstlerin. Als Ippei seinen Weg änderte und von einem Maler zu einem politischen Karikaturisten wurde, schrieb Kanoko an ihren damals noch lebenden älteren Bruder: „Ippei ist ein sehr interessanter Mensch, aber ich glaube, daß er als Künstler nicht mehr als ein gewöhnliches Niveau erreichen wird. Ich habe Angst, in diese Mittelmäßigkeit hineingezogen zu werden. Sollte ich selbst auch kein hohes Niveau erreichen können, so möchte ich doch als Künstlerin ein Leben voll harter Bemühungen führen." 2 4 An dieser Stelle wird deutlich, daß Kanoko unabhängig von Ippeis Willen ihren eigenen Weg als Künstlerin gehen wollte. Mit ihrer Entschlossenheit, Künstlerin zu werden, hat Kanoko Ippeis Blick beeinflußt und so verändert, bis er sich entschloß, sie in ihrer Zielvorstellung zu unterstützen. Von da an beeinflußte sein Blick auf sie als einen ganz besonderen Menschen und eine begabte Künstlerin, ja als etwas Göttliches in ihrer emotionalen und geistigen Reinheit, wiederum Kanoko selbst, die ohnehin narzißtisch veranlagt war. Sie mußte auch selbst an ihre künstlerische Fähigkeit und an ihre Besonderheit glauben, wenn dieser besondere Mensch Ippei sie so sah und in einer fast dienenden Weise unterstützte. Ein solches Verhältnis ist sehr ungewöhnlich; denn üblicherweise ist es umgekehrt: Wie Virginia Woolf schreibt, haben Frauen „über Jahrhunderte hinweg als Spiegel gedient mit der magischen und köstlichen Kraft, das Bild des Mannes in doppelter Größe wiederzugeben". 2 5 So konnte auch bei unserem anderen Künstlerpaar Kötarö seine Arbeit auf Chiekos Liebe gründen und seinen Glauben an sich daraus gewinnen. Er selbst aber half Chieko beim Aufbau ihres Selbstvertrauens als Künstlerin nicht. Ganz anders Ippei: Seine Anerkennung war für Kanoko die entscheidende Motivation beim Aufbau ihres Selbstvertrauens als Künstlerin. Ippei behandelte sie nicht nur betont mit Respekt und Achtung, indem er sie z.B., wie schon erwähnt, anderen gegenüber Kanoko-joshi nannte, sondern er bemühte sich auch, in Kanoko das Elitebewußtsein als Künstlerin zu steigern, indem er sie in ihrer ursprünglichen Neigung bestärkte, Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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in allem die höchste Qualität zu wollen. Auch nach Kanokos zu frühem Tod verbrachte Ippei Jahre damit, ihren umfangreichen Nachlaß zu ordnen und herauszugeben. Ohne diese Arbeit Ippeis wäre Kanokos Ruhm vielleicht nicht so gefestigt worden, wie er heute ist. Kanokos Name ist in der Öffentlichkeit heute viel bekannter als der Ippeis. Das ist sein Verdienst. Nach Kanokos Tod schrieb er seinem Sohn Taro, daß er seine Trauer als Triebkraft für seine Arbeit am Nachlaß nutze: „Dies ist auch ein Mittel, um ihre Bedeutung durch ihre Arbeit der Welt vorzustellen und verständlich zu machen. Für Künstler gibt es nichts Wichtigeres, als sie das, was sie vermitteln wollten, auch ausdrücken zu lassen. Daran ändert sich nichts vor oder nach ihrem Tod. Das ist auch ein Mittel, Deine Mutter von ihrem Karma zu befreien und ihr zur Erlösung zu verhelfen. Das will ich machen. Die Arbeit am Ordnen und an der Herausgabe ihres Nachlasses wird viele Jahre dauern." 26

Zur Möglichkeit einer neuen Subjektivität Für Chieko wie für Kanoko lag ihr Lebensproblem in dem schwierigen Balanceakt, ein eigenständiges Subjekt - vor allem als Künstlerin - zu sein, dieses Subjektsein aber in Verbindung mit der Liebe begründen und verwirklichen zu wollen. Dieser Balanceakt kann nur gelingen, wenn das männliche Subjekt in der Künstlerpaarbeziehung dies zulassen kann. Wenn aber die Liebe als ein „männlicher Entwurf" konzipiert ist, „der dazu dient, das männliche Größen-Ich zu komplettieren", wie Ulrike Prokop sagt, 27 wäre ein solcher weiblicher Lebensentwurf zum Scheitern verurteilt. Die Liebe muß die Struktur und Dynamik der Wechselseitigkeit haben in einem symmetrischen Geschlechterverhältnis. Im liebenden Blick müssen Vertrauen und Anerkennung liegen, die Selbstvertrauen und Selbstachtung hervorrufen. Dieses Selbstvertrauen entwickelt sich in einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis und ist ein entscheidendes Movens für die Hervorbringung von bedeutenden Kunstwerken. Frauen, die ohnehin gesellschaftlich ständig Abwertungsprozessen ausgesetzt sind und in einem „Anerkennungsvakuum" leben müssen und die deshalb große Selbstwertprobleme haben, sind in besonderer Weise auf die wechselseitige Spiegelung von Anerkennung und Selbstvertrauen angewiesen. Wenn sie ihr Subjektsein deshalb in der Liebe gründen und verwirklichen wollen, ist auch ihr Künstlertum vom Gelingen der Beziehung im Sinne einer solchen wechselseitigen Spiegelung abhängig. Wie eine Beziehung, in der in wechselseitiger Anerkennung ein freies Selbstsein ermöglicht wird, zugleich auch ein freies künstlerisches Schaffen ermöglicht, zeigt die Schriftstellerin Tamura Toshiko in ihrer 1912 erschienenen Erzählung „Okan" (Schüttelfrost). Sie beschreibt ihre besondere Freundschaft mit Takamura Chieko als eine Zeit und eine gemeinsame Welt, „die im höchsten Sinne von der Kunst erfüllt war und in der ich mich am freiesten fühlen konnte". 28 Sie kann mit Chieko in die Kindheit zu280

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rückkehren, in der sie ganz unbekümmert und vertrauensvoll sie selbst sein konnte: Im Spiel - im Schillerschen Sinn verstanden - konnte ihre künstlerische Arbeit mit ihrem Leben zusammenfallen. Sie konnte also Kind sein und zugleich „anderen gegenüber ein ganz überhebliches Bewußtsein haben als eine Künstlerin mit großer Autorität". Beide Künstlerinnen machten aus ihrem spielerischen Treiben gemeinsam eine Ausstellung: Chieko bemalte Fächer und Toshiko machte aus Farbpapier Puppen. 29 A m Ende des Textes beschreibt Toshiko ihre Beziehung mit Chieko in der Metapher von „zwei schwebenden Goldfischen im Wasser wie in einer weiten Welt". 3 0 Diesen Text schrieb Tamura Toshiko als Reaktion darauf, daß Chieko zu Kotaro ging. Sie stellt darin die vorahnungsvolle Frage, wann Chieko wohl merken würde, daß ihr Herz „zerschnitten" worden sei. Ihre körperliche Reaktion auf diese unheimliche Ahnung drückt sie in dem Titelwort „Schüttelfrost" aus. Warum mußte Chieko sogar ihre alte Freundschaft zu Tamura für Kötarö aufgeben?. Eine Ursache war sicher die Wurzel- und Traditionslosigkeit, die Chiekos Lebensmöglichkeiten einengte. Weil die Intellektuellen und die Künstler in der damals noch mit vormodernen Elementen stark durchsetzten japanischen Gesellschaft eine pionierhafte Außenseiterposition hatten und einen eigenen Weg suchen mußten, waren sie in einer besonderen Weise auf gegenseitige Unterstützung angewiesen. Da Kötarö und Chieko besonders idealistisch und konsequent ihre Ziele verfolgten, waren sie stark aneinander gebunden (Abb. 7). In diesem „Vakuum" war Chieko voll der modernen romantischen Liebesvorstellung mit ihrer geschlechtlichen Asymmetrie und Ideologie ausgeliefert. Und es gab für sie darin kaum Spielraum für eine eigenständige Subjektivität. Kanoko dagegen konnte durch ihre fundierte Bildung über die japanische Tradition wie auch über westliche Kulturelemente verfügen, sie vertiefen und in ihre Literatur transformieren. Weil sie von Kindheit an in der japanischen und in der chinesischen Klassik tief verwurzelt war, konnte sie auch mit der westlichen Kultur souverän umgehen. Nicht nur als Tochter einer reichen Familie, sondern auch durch die ländlich-bäuerliche Familientradition, in der sie aufgewachsen ist, scheint sie eine andere Vorstellung von weiblicher Stärke, als sie dem modernen Weiblichkeitsbild entspricht, gehabt zu haben. Auch in ihren Werken, die man als eine feministische Literatur bezeichnen kann, spielen weibliche Figuren nicht nur eine wichtige Rolle, sondern sie schuf eine Vielfalt von ausgeprägt starken Frauenfiguren. Aber auch die männlichen Partner, Kötarö wie Ippei, waren keine altmodischen patriarchalischen Männer, sondern sie waren „neue Männer", die neue Ideale realisieren wollten. Während Kötarö sein Liebesideal gewaltsam verfolgte und in seiner radikalen Individualität das autonome, abgegrenzte männliche Selbst nach westlichem Muster sogar noch übertroffen hat, war die Subjektivität Ippeis nur begrenzt „männlich", viel reflexiver, auf andere bezogen und offen. Er war nicht unterwürfig, wenn er später Kanoko „diente", sondern er war so souverän und frei von Machtbewußtsein, daß er in Kanoko nicht nur einen gleichberechtigten Menschen, sondern auch ihre beLiebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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Abb. 7 Takamura Chieko und Takamura Kötarö, o.J., Fotografie

sonderen Fähigkeiten und ihre Bedeutung erkennen und anerkennen konnte. Eine solche neue offene Subjektivität ist nicht nur die Grundlage für eine neue partnerschaftliche Beziehung, sondern sie kann darüber hinaus die Entfaltung ganz neuer schöpferischer Kräfte ermöglichen. Der notwendige Wandel, der zu einer solchen neuen offenen Subjektivität führt gerade auch bei Männern - , soll zum Schluß an einem literarischen Beispiel gezeigt werden. Die Schriftstellerin Tamura Toshiko hat die besondere Beziehung einer Freundschaft zwischen zwei Künstlerinnen - wie schon erwähnt - mit der Metapher von zwei Goldfischen charakterisiert. Auch von Kanoko gibt es eine Erzählung, die den Titel „Goldfische" trägt. 3 1 In dieser Geschichte geht es u m einen Mann, der sein Leben der Aufgabe widmet, den schönsten Goldfisch zu züchten. Dieser Mann, Mataichi, hat seit seiner Kindheit eine gebrochene verborgene Liebe für Masako, ein M ä d chen aus reichem Haus. Mataichi entwickelt Masako gegenüber ein Liebesgefühl, das aus einer Mischung von Ressentiment wegen des Klassenunterschieds, von Herrschsucht und von Sehnsucht besteht. Masako dagegen ist in Mataichis Leben die Person, die in ihm das Bewußtsein seiner Berufung für die Züchtung besonderer Goldfische erweckt. Er macht daraus seine Lebensaufgabe; w i e besessen versucht er, einen idealen 282

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Goldfisch zu schaffen, für dessen Schönheit Masako als Vorbild steht. Nach Jahren des Scheiterns muß er mehrere Schicksalsschläge hinnehmen; zuletzt verliert er durch eine Überschwemmung seine wichtigsten Elterngoldfische, aus denen er seinen Idealgoldfisch schaffen wollte. In seiner Verzweiflung bricht er zusammen. Dann entdeckt er in einem Naturteich, in dem er seine mißlungenen Goldfische Jahre lang unbeachtet schwimmen ließ, einen Goldfisch, der viel schöner als irgendein Mustergoldfisch, ja sogar schöner als sein Ideal nach dem Bild Masakos ist. In dieser Erzählung, die man auch als einen Entwicklungsroman lesen kann, muß der Held, Mataichi, sich schrittweise von seinen männlichen Vorstellungen befreien. Anfänglich will er durch die Schaffung eines idealen Goldfisches, der Masako ähnelt, selbst Schöpfer sein und so Masakos Überlegenheit übertrumpfen. Im Laufe der Erzählung verändert er sich, und auch seine Motive wandeln sich. Er gewinnt langsam Züge einer „lebenschaffenden Mutter". Sein Wille, Schöpfer zu werden, wird gebrochen, als er seine wichtigsten Goldfische verliert - das kommt dem Tod seines männlichen Ichs gleich. In einem neuen Zustand nimmt er die Natur anders wahr und entdeckt (nicht: kreiert) seinen neuen Idealgoldfisch, der aus Zufällen der Natur, außerhalb seiner Einflußmöglichkeiten, entstanden war. Durch die Schönheit als der Kraft, die er erobern wollte, wurde er letztlich selbst überwältigt und in seiner Männlichkeit verändert.

Anmerkungen 1 Ulrike P r o k o p sagt: „Die Idee der Liebe ist im ausgehenden 18. Jahrhundert ein männlicher Entwurf, der dazu dient, das männliche G r ö ß e n - I c h zu komplettieren. Liebe heißt, daß die Frau der Spiegel des Mannes sein soll, daß sie ihn 'anbeten' soll." In: Ulrike P r o k o p , Die Illusion vom G r o ß e n Paar. Band I: Weibliche Lebensentwürfe im deutschen Bildungsbürgertum 1 7 5 0 - 1 7 7 0 , Frankfurt am Main 1991, S. 9. 2

Alle japanischen Namen im T e x t werden in japanischer Reihenfolge genannt, zuerst der Familienname und dann der Vorname.

3

Kurosawa Ariko, O n n a no kubi - gyakkö no „ C h i e k o - s h ö " (Der K o p f einer Frau - D e r Gedichtband „ C h i e k o - s h ö " im Gegenlicht gesehen), T o k y o 1987.

4 Takamura K ö t a r ö , C h i e k o - s h ö , T o k y o 1963, S. 133f. 5 T a m u r a T o s h i k o , T a m u r a T o s h i k o sakuhinshü (Ausgewählte W e r k e von T a m u r a T o s h i k o ) B a n d I, T o k y o 1987, S. 2 6 9 . 6 7

Machizawa Shizuo, Takamura K ö t a r ö - geijutsu to byöri (Kunst und Pathologie), T o k y o 1979. In der von K ö t a r ö nach ihrem T o d geschriebenen Biographie über sie: „Die Hälfte ihres L e b e n s " , gesteht er, daß er von ihrem Leben bis zu ihrer E h e kaum etwas wisse und daß er darüber auch nichts wissen wollte, da er „immer mit dem Jetzt beschäftigt" gewesen sei. Selbst ihr genaues Alter habe er bis in die späten Jahre nicht genau gewußt. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Auslöschung ihrer Vergangenheit auch von ihm - wenn auch unbewußt - gewollt gewesen war, damit sie erst mit ihm und durch ihn gelebt haben sollte.

8 Takamura K ö t a r ö 1963, S. 53. 9 Y o s h i m o t o Takaaki bestätigt auf G r u n d der Äußerungen von K ö t a r ö s Freunden dessen Neigung zur Selbstmystifizierung und seinen Narzissmus. In: Y o s h i m o t o Takaaki, T a k a m u r a K ö t a r ö , T o k y o 1977, S. 69 ff. 10

Y o s h i m o t o vermutet, daß die Asthetisierung des Alltagslebens eine K o n s t r u k t i o n von K ö t a r ö allein gewesen sei, die an der schweigsamen C h i e k o vorbei ging ohne deren innere Beteiligung. Y o s h i m o t o 1977, S. 68ff.

Liebe und Künstlertum in der japanischen Moderne

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11 Auch wenn man zwischen ihrem Zusammenleben mit Kotaro und ihrer Schizophrenie keinen kausalen Zusamenhang feststellen kann, lässt der Wandel von ihrer Sprachlosigkeit zu gewaltigen Sprachausbrüchen doch einen solchen Zusammenhang vermuten. 12 Takamura Kötarö, Chieko-shö sonogo (Chieko-shö, danach), T o k y o 1968, S. 1 lf. 13 Kötarö berichtet, daß Chieko einen holzgeschnitzten Wels von ihm sogar beim Ausgehen mit sich getragen und liebkost habe. Er wusste sehr genau, daß es ein solcher liebender Blick ist, der einem Künstler die größte Kraft gibt. W a r u m - fragt man sich - konnte er nicht eine eben solche Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Kunst entgegenbringen, zumal sie ja aus Verzweiflung über ihre Arbeit einen Selbstmordversuch gemacht hat. 14 Kurosawa 1987, S. 149f. 15 Murou Saisei, Waga aisuru shijin no denki (Biographie eines Dichters, den ich verehre), zit. bei Kurosawa ebd., S. 150. 16 Takamura Kotaro, Verhaeren, T o k y o 1933. Vgl. Yoshimoto 1977, S. 70ff.; Kurosawa 1987, S. 160f. 17 Kurosawa Ariko weist auf die Antwort Chiekos auf eine Umfrage einer Zeitschrift im Jahr 1922 über eine neue Betrachtungsweise zum Doppelselbstmord hin. Chieko lehnt dort zwar den Doppelselbstmord ab, spricht aber von der Wichtigkeit einer Einstellung, sich der „Natur" als Ideal anzupassen und dieser Natur gegenüber einen märtyrerhaften Glauben aufrechtzuerhalten. Sie meint: „Man muß die Einstellung haben, sich dem Leben zu fügen, wie hart es auch sein mag." (Kurosawa 1987, S. 165) 18 Okamoto Kanoko, Shöjö-ruten (Der Kreislauf des Lebens), T o k y o 1940. 19 Als Ippei die Familie vernachlässigte und ein ausschweifendes Leben führte, erzählte Kanoko ihrem kleinen Sohn Tarö immer wieder wie eine Zauberformel, daß sie zusammen irgendwann nach Paris gehen und in einer Kutsche über die Champs-Elysees fahren werden. Paris bedeutete für sie zwar nur ein Ort irgendwo anders; aber diese Worte hatten auf Tarö, der später in Paris Maler wurde, einen starken Einfluss. Die Europareise hatte deshalb für die ganze Familie eine wichtige symbolische Bedeutung. 20 Die Bezeichnung „joshi" wird für gebildete, gesellschaftlich wichtige Frauen verwendet. Es ist ungewöhnlich, daß ein Ehemann sie für seine Frau benutzt, da nach japanischer Konvention für Familienmitglieder nur bescheidene Ausdrücke verwendet werden sollen. 21 Bodhisattva ist ein Wesen, dessen Ziel die ,Erleuchtung' ist. Im Mahayana-Buddhismus wird Bodhisattva als Heilbringer verehrt, da er wegen des Heiles aller Wesen zunächst auf seine Buddhaschaft verzichtet hat. Setouchi Harumi, Kanoko ryöran, T o k y o 1965. 22 Okamoto Kanoko, Nyotai kaigen, T o k y o 1943 (Hervorhebung von mir, Μ. M.). 23 Vgl. Furuya Teruko, Okamoto Kanoko - hanayagu inochi (Okamoto Kanoko - Das blühende Leben), T o k y o 1997, S. 57f. 24 Okamoto Kanoko, Brief vom 26.9.1911. Kanoko hatte damals noch eine etwas altmodische orthodoxe Vorstellung von der Kunst; später erkannte sie aber die Bedeutung von Ippeis Arbeit als Comiczeichner. 25 Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein, Frankfurt a. M. 1928, 1995, S. 43. 26 Shimizu Isao; Yumoto Köichi, Manga to shösetsu no hazama de - gendai-manga no chichi: Okamoto Ippei (Zwischen Literatur und Comics - der Vater der modernen Comics: Okamoto Ippei), T o k y o 1994, S. 255f. 27 Prokop 1991, S. 9 (vgl. Anm. 1). 28 Tamura 1987, S. 271f. 29 Als Chieko später wegen Kötarö ihre Freundin Toshiko verläßt, wirft diese ihr vor, ihr gemeinsames Spiel müsse ihr (Chieko) dann wie eine falsche Kinderspielerei erschienen sein. Merkwürdig ist aber, daß Chieko Jahre später in ihrer Schizophrenie gerade mit bunten Papierschnitten ihr künstlerisches Selbstvertrauen wieder gewinnen und richtig arbeiten konnte, also an dem Punkt, an dem sie im Spiel mit Toshiko aufgehört hatte. 30 Tamura ebd., S. 276. 31 Okamoto Kanoko, Kingyo ryöran, T o k y o 1937.

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Michiko Mae

Leben wie unter dem „Rasiermesser"

Marta Hegemann und Anton Räderscheidt HILDEGARD REINHARDT

Die Partnerschaft zwischen Marta H e g e m a n n u n d A n t o n Räderscheidt (Abb. 1) v o m Kennenlernen 1911 w ä h r e n d der Studienzeit an der Kölner Kunstgewerbeschule f ü h r t e über eine f ü n f z e h n j ä h r i g e arbeite- u n d erfolgreiche Künstlerehe 1934 zur T r e n nung, deren U r s a c h e n im persönlichen, aber zugleich auch politisch-wirtschaftlichen Bereich zu suchen sind. Ähnliche Beispiele hoffnungsvoll begonnener u n d gescheiter-

Abb. 1 Marta Hegemann und Anton Räderscheidt in Köln-Bickendorf, 1928. Fotografie. Privatbesitz Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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ter Künstlerehen liefern Heinrich Nauen und Marie von Malachowski-Nauen, Hanna Nagel und Hans Fischer. Die Gemeinschaft zwischen Hans und Lea Grundig beweist wiederum, dass auch eine gegenteilige Entwicklung möglich ist. Marta Hegemann, die attraktive, begabte und souveräne Malerin wurde von Anton Räderscheidt menschlich und künstlerisch als omnipräsenter, übermächtiger Widerpart empfunden. In keinem Oeuvre eines anderen Malers der zwanziger Jahre wird die Figur der Lebensgefährtin so monoman thematisiert - ein Faktum, das Marta Hegemann in ihrer Ikonographie mit ungezählten Variationen des Selbstverständnisses der selbstbewußten, emanzipierten Frau beantwortet. Die Trennung, seine Emigrationsjahre in Frankreich und in der Schweiz, ihre ruhelose Existenz unter dem Zwang, für zwei heranwachsene Söhne aufzukommen, der Verlust ihrer beider Arbeiten durch die Aktion „Entartete Kunst" und die Kriegswirren, die materiellen Entbehrungen, der mühsame Neuanfang in Köln nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich der jahrzehntelange zermürbende Scheidungsprozeß haben die beiden zukunftsträchtigen Repräsentanten Kölner Kunst der Zwischenkriegszeit gegen Lebensende zu resignierten, ja gebrochenen Persönlichkeiten werden lassen.

Frühe biographische Angaben Marta Hegemann kam am 14. Februar 1894 als ältestes Kind des Beamten Friedrich Hegemann und seiner Ehefrau Wilhelmine, geb. Weisel, in Düsseldorf zur Welt. Anton Räderscheidt wurde am 11. Oktober 1892 in Köln als eines von sieben Kindern Wilhelm Räderscheidts, Direktor einer Handelsschule und als „Ohm Will" bekannter kölnischer Dialektdichter, sowie seiner Ehefrau Elisabeth, geb. Beckmann, geboren. Obgleich der Vater Hegemann nach Iserlohn versetzt wurde, weilte die Tochter oft zu Besuchen im Haus der Großeltern mütterlicherseits in Köln-Mülheim und lernte bei diesen Anlässen die kunsthistorischen Schätze des Wallraf-Richartz-Museums kennen. 1911, nach Beendigung des Lyzeums, begann sie ihr Studium an der Kölner Kunstgewerbeschule, wo sie Anton Räderscheidt kennenlernte, der, nach dem Abschluß der Realschule, bereits ein Jahr zuvor an das Lehrinstitut gekommen war. Hier trafen sie auf die späteren Weggefährten und Kollegen Heinrich Hoerle, Franz W. Seiwert und andere. In den darauffolgenden Jahren wechselten Marta Hegemann und Anton Räderscheidt an das Düsseldorfer Staatliche Kunst- und Zeichenlehrerseminar in die Klasse von Lothar von Kunowski. Während Marta Hegemann das Examen als Zeichen- und Sportlehrerin bestand, wurde Anton Räderscheidt 1914 zunächst eingezogen, kehrte jedoch nach zweimaliger Verwundung 1917 in die Heimat zurück und Schloß seine Ausbildung ebenfalls als Kunsterzieher ab. Beide waren kurzfristig in Köln-Mülheim, Marta Hegemann darüber hinaus in Bad Godesberg tätig. Doch waren sie sich rasch in dem Entschluß einig, die 288

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feste Anstellung zugunsten einer freiberuflichen Tätigkeit aufgeben zu wollen. Das Paar heiratete am 27. März 1918 und bezog in Köln, Hildepoldplatz 9, ein Wohnatelier mit drei Zimmern. 1919 bzw. 1924 wurden die Söhne Johannes und Karl Anton geboren. 1

Köln, Hildeboldplatz 9 - Die „Gruppe stupid" Die Wohnung wurde rasch zum Treffpunkt eines großen Freundeskreises: Zu den bereits erwähnten Künstlern gesellten sich u.a. Hans Arp, Johannes Baargeld, Max Ernst, Otto Freundlich sowie der Literat Ret Marut (B. Traven). Besonders enge Bindungen entwickelten sich zwischen Wilhelm Fick, Marta Hegemann, Angelika und Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt und Franz W. Seiwert. Gemeinsam schlossen sie sich zur „Neukölnischen Malerschule", später zur „Gruppe stupid", 2 der Kölner Variante des Dadaismus, zusammen, deren Ziele Franz W. Seiwert so definiert: Die Maler wollten „jenseits aller schwatzhaften Geistigkeit einfache Arbeit tun". 3 Durch die Vermittlung von Max Ernst wurde der Kölner Kreis mit der von Giorgio de Chirico herausgegebenen Zeitschrift „Valori Plastici" und der Formsprache der Pittura metafisica bekannt. Anläßlich eines Ausstellungsprojekts des Kölnischen Kunstvereins im November 1919 kam es jedoch zu Streitigkeiten zwischen Max Ernst und den übrigen Kölner Dadaisten. Man trennte sich: „Dada ist bürgerlicher Kunstbetrieb", konstatiert Franz W. Seiwert und besiegelt damit die kurzlebige Zusammenarbeit. 1919-1920 lud die „Gruppe stupid" „mittwochs 3 - 7 Uhr und sonntags 11-2 Uhr" zur Dauerschau in der Wohnung von Marta Hegemann und Anton Räderscheidt ein. Gemäß dem Credo der Beteiligten - „Unsere Bilder stehen im Dienst der Ausgebeuteten, zu denen wir gehören und mit denen wir uns solidarisch fühlen" (Franz W. Seiwert), wurden zwar große Projekte anvisiert, realisiert wurden jedoch lediglich einige Editionen. So erscheint 1919 die Holzschnittmappe „Lebendige", eine Hommage an ermordete Sozialisten, für die Anton Räderscheidt das Porträt „Rosa Luxemburg" gestaltete. Der Katalog „stupid 1" führt fünf Arbeiten Marta Hegemanns und neun von Anton Räderscheidt auf. 4 In der abgedruckten Arbeit „triumph über das mansardenstübchen" (um 1919) erprobte der Maler erstmals Stilelemente der Pittura metafisica, deren verlassene Straßenfluchten sowohl Anton Räderscheidt als auch Marta Hegemann in ihren Arbeiten der zwanziger Jahre paraphrasierten (Abb. 2). Die Gesichter der jungen Familie schweben scheibenförmig zwischen orthogonal fixierten Räumen. Mit den in dem „stupid 1"-Katalog dokumentierten Arbeiten trat Marta Hegemann erstmals als Künstlerin an die Öffentlichkeit, während Anton Räderscheidt sich bereits 1917 an Gruppenausstellungen im Kölnischen Kunstverein und der Schau „Kunst im Kriege" des Kölner Kaufhauses Tietz beteiligt hatte. Die Lebensumstände des Paares waren denkbar bescheiden. Marta Hegemann beschreibt sie in ihren „Erinnerungen" (1965): „Von unserer Armut damals kann man Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Abb. 2 Marta Hegemann Stadt, 1925 Verbleib unbekannt

sich keine Vorstellung machen, von unserem Reichtum auch nicht. Wenn es zu toll wurde, nahmen die Männer eine Mappe unter den Arm, und wir wurden in einem Lokal untergebracht, in dem es warm und hell war. Zuhause bleiben war unmöglich, weil Miete, Gasmännchen u.a. sich Einlaß verschafften. Das war die Zeit, in der die Mappe ,Die Lebendigen' erschien." 5

Zusammenarbeit und Bruch mit den „Kölner Progressiven" Schon 1920 gelang es der Gruppe, ein erstes Ausstellungsprojekt außerhalb Kölns durchzuführen: Hans Koch, Inhaber des Düsseldorfer „Graphischen Kabinetts Van den Bergh & Co", stellte in einer seiner Halbmonatsausstellungen Marta Hegemann, Angelika und Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt und Franz W. Seiwert aus. 6 290

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Zu der „Gruppe stupid" traten in der Folgezeit Gerd Arntz, Gottfried Brockmann und Augustin Tschinkel hinzu. 1925 formierten sie sich zu den „Kölner Progressiven" mit explizit sozialkritischen Zielsetzungen. Sie beabsichtigten die Gründung einer „Kölner Malerschule auf proletarischem Goldgrund" (Gottfried Brockmann). Die Gemeinschaftsprojekte begannen 1919 in der Wohnung am Hildepoldplatz 9, kennzeichneten das Kölner Ausstellungswesen der 1920er Jahre und endeten 1932 mit der „Kölner Künstlerhilfe" des dortigen Kunstgewerbemuseums. 7 In welchem Maße Marta Hegemann, Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt und Franz W. Seiwert als die führenden Köpfe der zeitgenössischen Kölner Künstlerschaft galten, belegt die Tatsache, dass die innovative Galerie Dr. Becker-Newman sich ihrer vorrangig annahm und sie u.a. 1930 anläßlich der Neueröffnung der Galerieräume am Wallrafplatz als „Künstler der Galerie" präsentierte. Andreas Becker richtete dem Künstlerpaar im übrigen erste Einzelausstellungen aus: Anton Räderscheidt im Jahre 1926 und Marta Hegemann 1931. Der Fotograf L. Fritz Gruber zeigt 1930 sich in seiner Ausstellungsbesprechung besonders von Marta Hegemann angetan: „Was sehen wir [in ihrer Arbeit,Mädchen mit Katze'; Verbleib unbekannt, die Verf.]? Eine junge, süffisante Dame in Untergewandpanzern, einem breitkrempigen blumen- und vogelgeschmückten Hut, einem hochkrückigen Schirm und einer etwas steinernen Katze, deren Gesicht dem ihrer kleinen Herrin auffallend ähnelt. Ich finde, Frau Hegemann hat sich hier von der belanglosen Fabuliererei zu einer Art Bekennertum durchgerungen [...]. Räderscheidt versucht mit einem trauernden Schwarzweißbild die Körperformen in einem unausgeprägten Zementguß verwischend dazutun. Dann gibt es noch ein mit Glanz überzogenes Ölbild, auf welchem sich beziehungslos einige Personen begegnen. Möglich, daß die Menschen so für sich aneinander vorbeilaufen." 8 Die politische, sozialreformerische Ausrichtung der „Kölner Progressiven" vermochte das Ehepaar Hegemann-Räderscheidt jedoch nicht mitzuvollziehen. Während Heinrich Hoerle und Franz W. Seiwert die Verbildlichung sozialer und politischer Mißstände zu ihrer künstlerischen Aufgabe erhoben, kreisten die Bildzeugnisse Anton Räderscheidts und Marta Hegemanns um persönlich-partnerschaftliche Probleme wie Einsamkeit, Isolation, weibliche Emanzipation, Fragen der Dominanz innerhalb einer Künstlerehe, Verletzung und Resignation. Die Entfremdung der Freunde vertiefte sich derart, daß Franz W. Seiwert im April 1931 bekennt: „Mit Räderscheidt und der Hegemann haben wir weder persönlich noch künstlerisch etwas zu tun." 9 Die Kölner Zeitschrift „a bis z, organ der gruppe progressiver künstler", die es vom Oktober 1929 bis zum Februar 1933 auf dreißig Nummern brachte, erwähnt an keiner Stelle das Wirken des Ehepaares Hegemann-Räderscheidt. Zu Beginn der zwanziger Jahre waren die Bindungen jedoch noch eng. Man traf sich mit Vorliebe bei Künstler- und Karnevalsfesten sowie in den Lokalen „Cafe Monopol" am Wallrafplatz - laut „a bis z" war es der Treffpunkt der „Progressiven" - oder „Em Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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dekke Tommes", Glockengasse 37. Vor allem aber bediente man sich einer verwandten Stilsprache. Ein Gemälde und eine Zeichnung Anton Räderscheidts antizipieren 1920 die spätere Serie seiner Paar-Darstellungen. 1 0 Bei den „Marta" und „Marta 2" betitelten Arbeiten beherrscht die Gestalt der Ehefrau das Bildgeschehen. Mit konturbetontem, scheibenhaftem Gesicht und flächigem Körper taucht „Marta" in der linken Bildhälfte der Zeichnung auf, hinterfangen von einem orthogonalen Liniensystem, das bei beiden Arbeiten Architektur suggeriert. Namensbezeichnung und Zahlenangaben im Titel und auf dem Bild kommt eine wichtige Funktion zu. Bei dem Gemälde „Bild Marta 2" wird die Partnerin von einer angedeuteten, schattenschaften Figuration hinterlegt; die Frau trägt plakativ die Zahlenkombination „319" vor sich - möglicherweise eine Allusion auf die 1919 aus drei Personen bestehende Familie Räderscheidt. Der Dampfer mit einem einsamen Passagier an Bord im Hintergrund des Gemäldes spielt auf den Wohnort des Künstlerpaares und die Befindlichkeit des Malers an: auf seine hoffnungsvolle Aufbruchstimmung zu Beginn der künstlerischen Laufbahn. Maritime Bildfaktoren setzte auch Marta Hegemann in ihren zeitgleichen Arbeiten ein. Filigrane Boote mit prall gespannten, transparenten Segeln durchziehen die Gemälde „Segelschiffchen" (1921) und „Hafen" (1922). 11 Oberhalb der bildparallelen Wasserfläche türmte sie Spielkarten, Windvögel und -räder, Petroleumlampen sowie Architekturteile auf sowie - als Bekenntnis zu Köln als religiösem Zentrum mit Industriecharakter - Kirchen und Ladekräne. Ihre Präferenz für ironisch-surreales Formvokabular äußert sich darin, daß sie einen kleinen Fisch an dem Hebekran baumeln lässt. Sämtliche geometrischen Bildelemente sind silhouettenhaft hintereinandergestaffelt. Deutet sich bei Anton Räderscheidt bereits die Thematisierung partnerpsychologischer und existentieller Probleme an, so beginnt Marta Hegemann, frauenspezifische Konflikte zwischen gesellschaftlicher Erwartung und Emanzipationsbestrebungen bildnerisch umzusetzen. Beider Stilsprache ist zunächst verwandt: Orthogonale, runde und ellipsenförmige Bildelemente werden flächig addiert.

Alltag am Hildeboldplatz Der Alltag und die Arbeit zweier Künstlerpersönlichkeiten vollzogen sich auf kleinstem Raum. Das Familienleben ging auf in den Zusammenkünften eines weitverzweigten Freundeskreises, der am Hildeboldplatz bis tief in die Nächte diskutierte und feierte. Noch im Alter empfand Marta Hegemann jene frühen Jahre als ungemein anregend. „In dieser Zeit, wir froren, wir hungerten, wir feierten, aber vor allem wir suchten. Und dieses Suchen war das ungeheuer Belebende." 1 2 A m benachbarten KaiserWilhelm-Ring wohnte Max Ernst mit Louise Straus-Ernst und dem Sohn Jimmy. Auch sie fanden sich ein am „Treffpunkt Hildeboldplatz. Lautstarke Lieder und Gesänge durchzogen die Räume, die immer wieder in anderen Farben und mit Hilfe 292

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von Schabau Hintergrund für Bilder, Plastiken wurden [...]. Eine regelrechte Konferenz .tagte' am Hildeboldplatz. Carlo Mense, Max Ernst, Kölschbach, Baargeld, Joh. Theod. Kuhlemann, Hoerle, Kronenberg, Räderscheidt, F. W. Seiwert". 1 3 Gern frequentierten Marta Hegemann und Anton Räderscheidt Kölner Lokale, in denen beim Erscheinen Marta Hegemanns nicht selten ihr Lieblingsschlager „La Paloma" intoniert wurde. Marta Hegemann besaß zudem eine Ziehharmonika, auf der sie bis zum Tode ihrer zuverlässigsten Mäzenin, der Schwester ihrer Mutter, Johanna, oft spielte. Liebe zum Tanz verband sie mit der Ausdruckstänzerin Elisabeth Simons - alias Araca Makarowa, der Ehefrau Carl Linferts. 14 Der Galerist Aloys Faust berichtet im übrigen von stundenlangen Kaffeehaus-Besuchen Anton Räderscheidts. Die Rechnungen beglich der Künstler gelegentlich dadurch, daß er sich in der Galerie Dr. Becker-Newman Geld lieh. 15

1925 - Zukunftsweisendes Jahr Zwei zukunftsträchtige Ereignisse markieren die künstlerische Biographie Anton Räderscheidts im Jahr 1925: In seiner Untersuchung „Nach-Expressionismus - Magischer Realismus" würdigt Franz Roh das Schaffen Anton Räderscheidts ausführlich, und G. F. Hartlaub stellt ihn als einzigen Kölner in der Ausstellung der Mannheimer Kunsthalle „Neue Sachlichkeit - Deutsche Malerei seit dem Expressionismus" aus. 16 Beide Unternehmungen ignorieren jedoch das Schaffen von Künstlerinnen und damit auch das von Marta Hegemann. Dennoch ist sie die einzige Künstlerin, die Franz Roh in den Kreis der für ihn maßgeblichen rheinischen Maler - Jankel Adler, Gerd Arntz, Franz W. Seiwert, Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt, Max Ernst - aufnimmt, wie aus seinem Aufsatz „Zur jüngsten niederrheinischen Malerei" von 1926 hervorgeht. 17 An ihr erkennt er die Tendenz zu „jener metallisch scharfschnittigen, zeichnerischen Haltung", die im Nachexpressionismus und Konstruktivismus zunehmend zu beobachten sei. Zur Illustrierung seiner Thesen reproduziert Franz Roh Anton Räderscheidts „Rasenbank" (1921) und Marta Hegemanns „Stadt" (1925; Abb. 2). Beide Gemälde reflektieren das Paar-Thema. 18 Anton Räderscheidt verbildlicht zwei vollkommen separate Individuen, sie sitzend, er stehend, umgeben von Rasenflächen wie auf einem Reißbrett gezeichnet; Marta Hegemann dagegen präsentiert eine lebensvolle Frau als dominante zentrale Figur vor der Kulisse einer bunt bewegten Stadt an einem Fluß. Ihr winziges männliches Pendant verharrt einsam auf einem Boot hinter ihr. Selbstironisch deutet Marta Hegemann ihre Situation als Künstlerin an der Seite eines soeben zu Ansehen gelangten Kollegen an: Mit einsatzbereiter Angel steht sie auf der obersten Treppenstufe rücklings zum Fluß, während zahlreiche Fische das bescheidene Boot ihres Konkurrenten ohne Angelwerkzeug (!) geradezu bedrängen. Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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1925 ist für beide Künstler das erste Jahr zahlreicher überregionalen Ausstellungsbeteiligungen. Von allen Teilnehmern der Berliner „Juryfreien Kunstschau" bezeichnet Willi Wolfradt sie im „Kunstblatt" als die „der ferneren Aufmerksamkeit Würdigsten". 19 Beide beteiligten sich an der Ausstellungstournee des wiederbelebten „Jungen Rheinland" in Dresden, Berlin, Chemnitz und Düsseldorf. 20 Wiederum fühlt sich Willi Wolfradt, diesmal im „Cicerone", von den Exponaten Marta Hegemanns besonders angesprochen. Ohne Anton Räderscheidt zu erwähnen, stellt er heraus: „Sauber und anmutig staffiert Marta Hegemanns eine zierliche Brückenlandschaft mit Bootchen, Kastenkirche, Ballons und vielen Möwen aus, nicht zu vergessen eine lächelnde Probierpuppe mit Sonnenschirm - ein liebenswürdiges Beisammen ohne affektierte Kindlichkeit. Auch ein klar und fein reguliertes Stilleben derselben Verfasserin sicherte ihrer Begabung unter so vielen minder geschliffenen Erscheinungen ein Aufmerken." 21

Gemeinsame Ausstellungen im Kölnischen Kunstverein im Spiegel der Presse Der nächste gemeinsame Kölner Auftritt des Künstlerpaares nach den Aktivitäten in der eigenen Wohnung am Hildepoldplatz erfolgte im Frühsommer 1924 ausgerechnet in der „Großen Düsseldorfer Kunstausstellung" im Deutzer Messepalast. Beide ernteten höchste Anerkennung im „Kölner Tageblatt": „Unter den Kölner Malern ragt Anton Räderscheidt hervor. Farben von starker Ausstrahlung! Wenige, unbemalte Töne werden durch einfachen Aufbau zu einer großen Ruhe und Endgültigkeit zusammengeschlossen [...] In Köln ist eine neue Malerin entstanden: Marta Hegemann! Zwei kleine Bilder in entzückenden Farben." 22 Die überaus erfolgreiche Ausstellungspräsenz Marta Hegemanns und Antons Räderscheidts im Kölnischen Kunstverein dauerte von 1924 bis 1933 (Abb. 3). Den Auftakt bildete 1924 die Schau „Kölner Künstler". Alfred Salmony, rheinischer Beobachter des „Cicerone", spendet sowohl Anton Räderscheidt als auch Marta Hegemann großes Lob: „Die besten Ölbilder der Ausstellung malt Räderscheidt [...]. Mit der gleichen Freude sieht man M. Hegemann. Lampen und die bunten Papierwindmühlen kleiner Kinder betonen bei ihr die vertraute Spielerei." 23 Der Kritiker der „Kölnischen Volkszeitung" geht ausführlich auf Anton Räderscheidts Exponate ein: „Anton Räderscheidt bringt neben den beiden von der Messeausstellung bekannten Gemälden Innenraum und Hyazinthen ein Bild: Die Badende, die Quintessenz dieser Malerei, höchste Prägnanz des Geistigen, verbunden mit einer adäquaten Konzentrierung der formalen und koloristischen Ausdrucksmittel. Dieser Malerei scheinbar entgegengesetzt erscheinen die drei Stilleben des Künstlers, Topfgewächse und Kannen auf einer Tischplatte, gestimmt auf einen braungelb-grünen Ton, malerischer, gelöster in der Kontur und doch in der Abwägung der Flächen und Farbwerte aus gleichem künstlerischen Wollen geboren." 24 294

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Abb. 3 August Sander Marta Hegemann und Anton Räderscheidt Köln, um 1925 Fotografie Köln, August SanderArchiv

Von Hans F. Secker, Direktor des Wallraf-Richartz-Museums, ging im wesentlichen die Initiative zur Gründung der „Kölner Sezession" aus, die insbesondere Kölner Künstlern im Kölnischen Kunstverein ein Forum bot, jedoch über zwei Ausstellungen 1925 und 1926 nicht hinauskam. Im Faltblatt zur Ausstellung 1925, an der auch Marta Hegemann und Anton Räderscheidt teilnahmen, heißt es: „In freier wechselseitiger Wahl haben sich eine Reihe Kölner Maler zusammengefunden [...]. Der Zusammenschluß [...] hat sich nicht engherzig auf irgendeine ,Richtung' eingestellt, sondern aus der Produktion des Jahres 1925 diejenigen Arbeiten ausgewählt, die den Beteiligten bei gegenseitiger Prüfung als die künstlerisch wichtigsten erschienen [...]·" 25 Die Exponate Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Marta Hegemanns und Anton Räderscheidts würdigt der „Kölner Stadt-Anzeiger" am ausführlichsten, ζ. B. im Dezember 1925: „Anton Räderscheidt [...] hat in zwei großen Bildern seine Art weiter zu entfalten versucht, wie mir scheint, nicht mit derselben Kraft. Denn die,Begegnung' zweier Menschen auf einer Wiese und ein,Innenbild' zeigen zwar sehr geschickten Aufbau, aber sie haben nicht den vollen malerischen Schmelz jener früheren Arbeit [...]. M. Hegemann ist diesmal so vertreten, daß ihre Eigenart besser erfaßt werden kann; sie hat Witz, Laune und hübsche Einfälle." 26 Auf Arbeiten beider beim zweiten und letzten Auftritt der „Sezession" geht dieselbe Zeitung im Dezember 1926 ein: „Marta Hegemann, die früher amüsante, spielerische Bildbogen machte, hat drei Schritte auf einmal nach vorwärts getan und sich auf rein malerische Aufgaben besonnen; man atmet förmlich auf über diese Selbstbefreiung eines in der Theorie verhaftet gewesenen Talents [...]. Anton Räderscheidt stellt eine Rheinlandschaft aus,die, im Verein mit drei andern als Zimmerschmuck gedacht, vielleicht nur an Ort und Stelle wirken kann [...]. Ein Stillleben bleibt das Beste, was Räderscheidt diesmal gab." 2 7 Die „Pressa"-Ausstellung des Jahres 1928, eine Informations- und Leistungsschau des Pressewesens, gehört neben den „Sonderbund"- und „Werkbund"-Ausstellungen 1912 bzw. 1914 zu den herausragenden Kölner Expositionen der 1910/20er Jahre. Eine kleine Kunstschau, die überwiegend Düsseldorfer Künstler vorstellte, ergänzte die „Pressa". Wohl um den Unmut der Kölner Künstlerschaft zu besänftigen, bot der Kölnische Kunstverein ihnen zeitgleich die Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Richard Seewald verkündete in seiner Eröffnungsrede: „Wir Künstler bekennen uns zu Köln und bitten Köln, sich zu uns zu bekennen." 28 So gelang „Hoerle, Räderscheidt, Seiwert und Gesinnungsgenossen" eine Präsentation von Arbeiten, die - nach Alfred Salmony im „Cicerone" - nicht nur „ein großes Gelingen und ein schönes Versprechen" beinhalten, sondern zugleich „fast alle gut und solide gemalt [sind]. Es liegt eine sympathische Ehrlichkeit und Phrasenlosigkeit in der Luft. Und eine Liebenswürdigkeit, die gut zu der Stadt paßt. Es ist, als hätten die Malerinnen Hegemann und Povorina-Hestermann den Ton angegeben." 29 Groß angelegt war die Schau „Selbstbildnisse deutscher Künstler" des 19. und 20. Jahrhunderts, ebenfalls im Kölner Kunstverein, die wiederum die Kölner besonders zu Wort kommen ließ. Der „Kölner Stadt-Anzeiger" weist darauf hin, dass Marta Hegemann und Anton Räderscheidt „[der räumlichen] Gesinnung auch malerische Attribute hinzufügen und über die Verbindung von räumlichen und flächtigen Werten experimentierend nachdenken". 3 0 Die Kette der Ausstellungsbeteiligungen im Kölnischen Kunstverein setzte sich 1929 fort mit der Präsentation „Moderne rheinische Maler", zu der Marta Hegemann „ein schöne aquarelliertes Blumenstillsteben" und Anton Räderscheidt „zwei Darstellungen der neuen Rheinbrücke" einsandten. 31 Eine besonders originelle Ausstellungsidee hatte 1929 der Kölner Architekt Hans Heinz Lüttgen, als er von den Künstlern Jankel Adler, Heinrich Maria Davringhausen, 296

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Abb. 4 Marta Hegemann B a l a n c e , um 1 9 3 0 Ö l auf L e i n w a n d 8 0 x 6 0 cm Kölner B a n k von 1 8 6 7 e . G .

Marta Hegemann, Heinrich Hoerle, Friedrich Kronenberg, Anton Räderscheidt, Richard Seewald und Franz W. Seiwert für die Schau „Raum und Wandbild" jeweils einen Raum des Kunstvereins ausgestalten ließ. Anton Räderscheidt und Heinrich Maria Davringhausen zeichneten für den Mittelraum verantwortlich. Sie piazierten je eine Arbeit vor die Wände, Anton Räderscheidt seinen „Drahtseilakt" (Abb. 5): „Die in schwarz und weiß gehaltene Komposition Räderscheidts ist folgerichtig dem Raum und dem bekannten Schaffen dieses Malers eingeordnet. Es bejaht zusammen mit dem Bild Davringhausens, aber stärker als dieses, die raumbildende Idee des Wandbildes", so die „Rheinische Zeitung". 32 Große Freude löste Marta Hegemann mit ihren Entwürfen für das Kinderzimmer aus. Eine heitere Flußlandschaft bildete die Kulisse für die Darstellung eines Jungen und eines Mädchens, umgeben von unzähligen Attributen ihrer kindlichen Wunsch- und Phanatsiewelt. Begeistert zeigt sich Alfred Salmony im „Cicerone": „Uneingeschränkte Bewunderung verdient das Kinderzimmer mit entzückend verspielten, kindlichen Malereien der Marta Hegemann." 3 3 Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Abb. 5 Anton Räderscheidt Drahtseilakt, 1929 Maße und Verbleib unbekannt

1930 stellten sich 51 „Kölner Künstler" im Kölnischen Kunstverein und anschließend in der Düsseldorfer Kunsthalle vor. Carl Oskar Jatho, ebenfalls Mitarbeiter des „Cicerone", schätzte die gezeigten Arbeiten Marta Hegemanns und Anton Räderscheidts offensichtlich nicht sonderlich: „Marta Hegemann hat leider ihre schönen Anfänge, die sie in Aquarellen heute noch pflegt, im Staffeleibild zugunsten einer malerisch süßen Verblasenheit vernachlässigt. Auch Anton Räderscheidt ist hinter manche Werke seiner früheren, kühneren Zeit zurückgegangen. Er wird bald malen können wie ein .alter Meister'. Und das eben darf man nicht können. Seine Porträts zweier Kölner Kunsthistoriker sind repräsentativ wie späte Lenbachs." 3 4 298

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Abb. 6 Marta Hegemann Vor der Stadt, 1928 Öl auf Leinwand Maße und Verbleib unbekannt

1931 organisierten die „Kölner Künstler" ihren letzten gemeinsamen Auftritt. Das „Kölner Tageblatt" erwähnt Anton Räderscheidt knapp, Marta Hegemann deutlich ausführlicher: „Räderscheidts Handschrift ist auch unverkennbar - mit der rauhgrundigen malerischen Note und der formalen Geschlossenheit [...]. Martha Hegemann [...] hat in den Oelbildern die formalen Kompositionselemente im allgemeinen beibehalten; raumschaffende Bänder sind hinzugekommen. Die Architektur der Bilder tritt stärker hervor, ist bewußter, verlor jedoch etwas von der grazil-spielerischen Selbstverständlichkeit. Das ,Wie weiter?' scheint auch hier noch nicht entschieden zu sein." 35 Zeitgleich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 offerierte der Kölnische Kunstverein die Uberblicksschau „Neue Deutsche Kunst", und Carl Liniert, Freund des Paares Hegemann-Räderscheidt, weist hin auf den „steilen, graugelben Straßenblick von Räderscheidt", eines der Charakteristika seiner „Aufbruch"-Bilder der frühen 1930er Jahre, sowie auf ein enigmatisches Figurenbild Marta Hegemanns: „Ein überlegenes Bild hat Marta Hegemann gemalt: eine weiße Büste, hochaufragend über hellem, rissigem Inselland, das wie in Fliegertopographie in das horizontfreie Nachtblau gebettet ist. Mehreres kehrt sich um in dem Bild und wird wie der Frauenumriß zur Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Salzsäule: eine H a n d tastet für sich und ist zugleich Vogel, und der blaue Abgrund gibt zu einem dunklen Kopf die scharf nagende Silhouette ab, mit der er an dem weißen Berg von Statue anlegt, ja von unten w i e von oben landet. Mögen Unwillige ein Vexierbild sehen - es ist die zauberische, leibhaftige Mischung zwischen Landschaft und emblematischer Figur, welche in traurig gespannter Verschlagenheit schwelgt." 3 6

1926 - Reise nach Südfrankreich und Ausstellung in der Kölner Richmond-Galerie Durch den Tod des Vaters von A n t o n Räderscheidt im Juli 1926 kam die junge Familie in den Genuss einer Erbschaft, die in eine Reise nach Südfrankreich investiert w u r d e . M a n besuchte Marseille und Sanary, w o A n t o n Räderscheidt später - von 1939 bis 1942 - als Emigrant leben sollte. N o t i z e n Marta Hegemanns in dem Reisetagebuch des Paares ist zu entnehmen, dass Südfrankreich „nicht [brachte,] was w i r suchten". Doch A n t o n Räderscheidt kam zu einem positiveren Resümee: „Die Blätter sind stärker geworden. Die Reise hat ihnen eine größere Schwungkraft gegeben. Die französische peinture hat meinen deutschen Anstrich gefestigt. A n dem Chic de Paris habe ich erneut feststellen können, daß der steife H u t die einzig mögliche Kopfbedeckung ist." 3 7 Kasmir Hagen stellte einen Teil der Südfrankreich-Arbeiten im Herbst 1926 in der Gruppenausstellung „Neue Kunst - Alte Kunst" in seiner Richmond-Galerie vor, an der auch Jankel Adler, Gerd Arntz, Max Ernst, Heinrich Hoerle, Franz W . Seiwert und Gert H. Wollheim beteiligt waren. Der Katalog zeigt zwei Arbeiten Marta Hegemanns - „Malerin", 1926, und „Segelschiffchen", 1921, sowie ein Porträtfoto mit dem Zusatz: „Malerei ist die Balance zwischen H i m m e l und Hölle und ein ehrsames H a n d w e r k " . Anton Räderscheidt ist mit den Arbeiten „Maler und Modell" (1926) „Bild Marta 2" (1920) vertreten sowie einem Foto mit der Bemerkung: „Ich bin 34 Jahre alt und in Köln geboren. Ich male den M a n n mit steifem H u t und die hundertprozentige Frau, die ihn durch das Bild steuert. Meine Vorliebe für Waagerechte und Senkrechte ist eine verkehrstechnische Angelegenheit in meinen Bildern." 3 8 Der Zusammenarbeit zwischen Kasimir Hagen und der genannten Malern lag die Idee der Gründung einer neuen Künstlergruppe zugrunde. Eine Mitteilung Anton Räderscheidts an Franz Roh spiegelt das unerschütterliche Selbstwertgefühl des Künstlers wider: „Wir haben einen Zusammenschluß herbeigeführt, der folgende Maler umfaßt: Jankel Adler, Gert Arntz, Marta Hegemann, Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt, Franz W . Seiwert. Das sind von uns die westdeutschen Maler, die wesentlich sind und auch von anderer Seite in vielen Ausstellungen so gesehen werden. Bei Ihrem Besuch hier haben Sie leider von den uns sehr wichtigen Malern Marta Hegemann und Franz W . Seiwert fast gar nichts sehen können." 3 9 300

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Eine Gegenüberstellung der Arbeiten Anton Räderscheidts und Marta Hegemanns veranlaßt den Kritiker des „Kölner Tageblatt" zu einem wesentlich positiveren Urteil über die Malerin: „Freier, ungebundener, eigentlich ganz fern von ethisch-politischer Einstellung sucht Anton Räderscheidt seinen Weg. Er tut so, als ob er in allen Humoren und Ironien schwelge - aber in Wahrheit ist er so ungrotesk, so humorlos, wie man das allenfalls seinem schwarzen steifen Hut und dem schwarzen Rock, mit Handschuhen und Krawatte zutrauen könnte. Er ist auch infiziert von den Ideen des Konstruktivismus, die aus dem neuen Rußland zu uns herüber kamen, aber dort schon wieder abgetan sind. Das ,Bild Marta 2' ist ja allerdings auch aus 1920, und die Tafel,Maler und Modell' (undatiert) sagt nicht sonderlich viel über des Künstlers neue Präsentationen aus. Neben ihm, gleichsam als Komponente, die pralle Martha Hegemann, die von der Malerei sagt, sie ,sei die Balance zwischem Himmel und Hölle' - und dazu ,ein ehrsames Handwerk'. Zuerst hat die Hegemann das Handwerk gelernt: sie kann viel und malt geschäftig, und dann balanciert sie unbekümmert zwischen Himmel und Hölle, d.h. sie malt lustig drauf los, sie hat ein Ungestüm, ein Temperament des Malens, um das man sie fast beneiden könnte. Sie hat Witz Ironie, Scherz, Satire - und hinter allem auch eine klein wenig tiefere Bedeutung". 40

1927 - Umzug nach Köln-Bickendorf Bilderverkäufe Anton Räderscheidts, vornehmlich Porträts angesehener Kölner Persönlichkeiten, verbesserten allmählich die materielle Situation der Familie. 41 Dieser Tatbestand und nicht zuletzt die räumliche Enge am Hildeboldplatz waren 1927 der Anlaß für den Umzug in eine größere Atelierwohnung in Köln-Bickendorf. 42 In unmittelbarer Nähe lebten seinerzeit die Kunstkritiker Carl Linfert, Hans SchmidtRost, Albert Schulze-Vellinghausen sowie die Künstlerkollegen Heinrich Maria Davringhausen und Lambert Schmidthausen. Die Wohnungseinrichtung gestaltete Marta Hegemann mit einfachen Mitteln, so gut es ging. In Ermangelung anderer Zahlungsmittel tauschte das Ehepaar gelegentlich Kunstwerke gegen Einrichtungsgegenstände — so gegen zwei Sessel für Porträtsitzungen - und einmal gegen das Äffchen Joko: „Es hauste lange im Atelier", erinnert sich Johannes Räderscheidt. Der befreundete Schmidt-Rost beschreibt die Bickendorfer Wohnung so: „Die Wohnung entsprach genau der von Räderscheidt in der Malerei praktizierten Sachlichkeit, wie sie etwa früher schon in dem Bild J u n g e Ehe' von 1922 (Abb. 7) sichtbar geworden ist. Es gab nur wenig Mobiliar und keine schmückenden Utensilien. Als Beleuchtung diente eine simple Kugellampe. Es war unmöglich, aus den Fenstern zu sehen, denn Räderscheidt hatte sie mit transparenten Detailpapieren, wie sie die Architekten zum Durchpausen verwenden, undurchsichtig gemacht. Auf diese Weise drang von außen diffuses Licht in den Raum. Es verteilte sich unbestimmt und ergab eine milchige Stimmung. Hauptsache waren die Menschen, die sich im Raum bewegten." 43 Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Abb. 7 Anton Räderscheidt Innenraum (Junge Ehe) 1922 Maße und Verbleib unbekannt

Unterschiedliche Interpretation des Themas Familie Welch zentrale Rolle Marta Hegemann für den Künstler und Ehemann Anton Räderscheidt spielte, belegt die Tatsache, dass sowohl seine realistischen Bildnisse als auch seine neusachlichen Paar-Figurationen immer wieder ihr und seinen bildnerischen Reflexionen über das Paar-Thema gelten. Sie ist das Modell beinahe all seiner weiblichen Darstellungen. Den Beginn dieser obsessiven Auseinandersetzung mit der Kollegin und Partnerin bildet die gezeichnete „Profilansicht Marta Hegemann" (1911). Anton Räderscheidt datierte sie auf den 25. Juni 1911, den mutmaßlichen Beginn der Beziehung. 4 4 Es zeigt die Konturen des wohlgeformten, ebenmäßigen Kopfs mit einem geflochtenen Zopf im dichten schwarzen Haar. Sein Gemälde „Aufbruch" (1932) markiert dagegen das Ende dieser Themenreihen. 4 5 Im Gegensatz zu seiner monomanen Beschäftigung mit der vitalen, souveränen Frau ist ein Porträt Anton Räderscheidts von Marta Hegemann weder überliefert noch je in 302

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Abb. 8 Anton Räderscheidt Familie am Fenster, 1929 Maße und Verbleib unbekannt ehemals Wallraf-RichartzMuseum, Köln

der zeitgenössischen Kunstkritik erwähnt. Bemerkenswert selten figuriert überhaupt ein männliches Wesen in ihren Tableaus, und wenn dies der Fall ist, dann lediglich als marginale, ja skurrile Figur. Der Vergleich von Familienbildnissen beider Künstler offenbart die divergierenden Auffassungen von dieser Lebensgemeinschaft. Das Aachener Suermondt-Museum stellte im Januar 1927 Figurenbilder und Stillleben von Jankel Adler, Marta Hegemann, Heinrich Hoerle und Anton Räderscheidt aus. 46 Die Titelseite des Katalogs zeigt „Familie" (um 1926), ein Aquarell Anton Räderscheidts - hieratisch hintereinander gestaffelt vor unbearbeitetem Fond erscheinen ein Sohn, Marta Hegemann und Anton Räderscheidt in strenger Frontalität, die Blicke auf das Gegenüber gerichtet. Jede Person ist als Individuum charakterisiert, dennoch bildet die Familie formal und inhaltlich eine Einheit. Ist das Aquarell „Familie" Anton Räderscheidts eine authentische Darstellung der Familie Räderscheidt, so verbildlicht sein Gemälde „Familie am Fenster" (1929) seine Idealvorstellung (Abb. 8). 47 Die strenge Statuarik von Mutter, Vater und älterem Sohn wird durchbrochen durch die seitwärts geneigte Körperhaltung des pausbäckigen Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Abb. 9 Marta Hegemann Familienbildnis, um 1924 Maße und Verbleib unbekannt ehemals SuermondtMuseum, Aachen

jüngsten Kindes. Marta Hegemann, als einzige hell gewandet, bildet das Gravitationszentrum, um das sich die drei männlichen Personen gewissermaßen als Assistenzfiguren gruppieren. In diametralem Gegensatz zur realistischen Darstellungsweise bei Anton Räderscheidt steht Marta Hegemanns ironisches „Familienbildnis" (um 1924). 48 Die Erwachsenen erscheinen auf den ersten Blick als ebenbürtig, doch der Rang des Mannes wird veranschaulicht durch die unmittelbar bevorstehende Krönung des Familienoberhaupts, dem zwei schwebende Engel einen steifen Hut - Anton Räderscheidts Markenzeichen - aufzusetzen im Begriff sind (Abb. 9). Seine ausgestreckte Hand hat zweierlei Funktionen: Sie beschützt die Frau und weist ihr zugleich ihren Platz im Eheleben zu - das Schlafzimmer. Der Fensterausblick ermöglicht dagegen den Entwurf ihrer Gegenwelt. Schiffe, Segel, Drachen sind immer wiederkehrende Chiffren für Phantasie und Freiheit. Die winzigen Kinder mit ältlichen Gesichtszügen untermauern Marta Hegemanns mokante Interpretation familiärer Hierarchie.

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Anton Räderscheidt: „Einsame Paare" Die dadaistisch-konstruktivistischen „Marta"-Figurationen Anton Räderscheidts von 1919 bis 1921 präludieren die Variationen der „Einsamen Paare". 49 In ihnen diagnostizierte der Künstler die Konfliktträchtigkeit der Partnerschaft, die Beziehungslosigkeit zwischen den Geschlechtern und schließlich Isolation und Einsamkeit. Vor dem Hintergrund denkbar nüchterner, funktionaler Architektur bzw. Inneneinrichtung konfrontierte er seine Protagonisten miteinander. Vermittelt die Frau der „Begegnung" (1921) zögerndes Abwarten beim Anblick des Mannes, dessen abweisende Rückenfigur durch die uniformen Architekturfassaden noch anonymer wirkt, so registrierte Anton Räderscheidt in „Das Haus Nr. 9" (1921) - Synonym für die damalige Wohnung Hildeboldplatz Nr. 9 - die unerbittliche Kommunikationslosigkeit der beiden Partner. 50 Statt ein entspanntes Nebeneinander zu schildern, wird „Die Rasenbank" (1921) zur Metapher definitiver Vereinzelung - die männliche Figur, erstarrt, mit bekümmertem Gesichtsausdruck, die Begleiterin, sitzend, mit indifferentem Blick. „Innenraum (Junge Ehe)" (1922) reduziert die beiden Akteure zu säulenartigen Bildelementen, in beträchtlichem Abstand voneinander postiert, stumm und ohne jeglichen Blickkontakt, so leblos wie die kärglichen Einrichtungsgegenstände (Abb. 7). Auf allen genannten Gemälden bildet die Umgebung den Widerhall der Nichtexistenz partnerschaftlicher Bindungen. Formal in ein Netz aus orthogonalen, ellipsen-, kreis- und zylinderförmigen Bildfaktoren gespannt, mit fahlen Grau-, Braun-, Blau- und Grünwerten in penibler Lasurtechnik vorgetragen, vermitteln diese pessimistischen Reflexionen Anton Räderscheidts definitive Hoffnungslosigkeit. Als Resümee der Paraphrasen auf die „Einsamen Paare" und explizit auf die eigene Partnerschaft focussiert, gestaltete Anton Räderscheidt das Gemälde „Selbstbildnis mit Frau" (1923). Das soigniert gekleidete Paar - in identischem Outfit wie die Akteure der „Begegnung" und von „Das Haus Nr. 9", d.h. Marta Hegemann mit Sombrero, Anton Räderscheidt mit dem steifen Hut - lehnt aneinander. Er hat sie untergehakt, doch blicken beide in unterschiedliche Richtungen: eine Einheit mit gefährlich zentrifugaler Tendenz. Bedrohlich in ihrer Stereotypie ist auch hier die Architekturfolie. Die Bildidee - die Frau en face, der Partner abgewandt, zum Weggehen entschlossen - erfährt in der Lithographie „Das Paar" (1927) eine Verknappung und Steigerung (Abb. 10). Anton Räderscheidt radikalisierte den Befund seines „Selbstbildnisses mit Frau" insofern, als er die irreversible Abkehr der Dargestellten registriert. Die Frau, kraftvoll und selbstsicher, an den tief in die Stirn fallenden Ponyfransen einwandfrei als Marta Hegemann identifizierbar, wird als durchsetzungsfähige Intellektuelle der zwanziger Jahre geschildert, frontal dem Betrachter zugewandt, während Anton Räderscheidt lediglich als dunkle, silhouettenhafte Rückenfigur hinter ihr auftaucht. In ihren „Erinnerungen" etikettiert Marta Hegemann die Werkgruppe der „Einsamen Paare" als „Straßenbilder von A.R." Lediglich in einem kurzen Passus geht sie auf Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Abb. 10

Anton Räderscheidt. Das Paar, 1927. Lithografie; 1 0 0 x 8 0 cm. Privatbesitz

die formal-ästhetischen Merkmale, nicht jedoch auf die psychologische Brisanz dieser Arbeiten ein: „Sie entstanden in den Jahren, in denen wir Maler die Häuser auf den Ringen [Straßenzug um die Kölner Altstadt, d. Verf.], die falsch reichen Gründerjahrehäuser nicht mehr sehen konnten. In dieser Zeit entstanden die Straßenbilder von A.R. Häuserblöcke, schematisch durch Fenster kariert. Nahe Straßen, große Karos, weit entfernte Straßenzüge mit winzigen Fensterkaros ganz übersät, so daß man nicht weiß, was Stein, was Glas ist." 51 Dass die überlegene Marta Hegemann in den Bildern ihres Mannes nicht die vielzitierten Einsamkeitsmetaphern erkannte oder erkennen wollte, belegt eine briefliche 306

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Rückerinnerung Anton Räderscheidts aus dem Jahr 1937: „Ich habe mir also meine Bilder vorgestellt, soweit sie wesentlich sind: die ,Rasenbank', den J ü n g l i n g ' , die Schönheitskönigin' usw., mir fiel Deine damalige Empörung über die Hilflosigkeit dieser Figuren ein (der A u s d r u c k , W ü r m c h e n ' ) . " 5 2 In einem Brief an Marta Hegemann rechtfertigt Anton Räderscheidt 1936 seine Einsamkeitsikonographie: „Vergisst Du, daß ich auch sehr gelitten habe bei Dir? (Mein Ausspruch: Ich warte auf den Tod). Ich erwähne diesen geprägten Zustand nicht, u m ihn zu einer schriftlichen Diskussion zu machen, ich möchte nur, daß Du daran denkst, daß in vielen Stunden solchen Zustandes, die doch zumindest Jahre ausmachen, eine Einsamkeit zur Notwendigkeit wird, die man dann den Egoismus nennt. Du willst nun glauben, daß ich d u m m genug bin, eine .große Liebe' als endliche Erlösung von dieser Einsamkeit zu sehen, die das Thema meiner Bilder waren? Ich denke, daß Du daran glaubst an die Möglichkeit einer Erlösung, und darin sehe ich Deine Tragik." 5 3

Anton Räderscheidt: „Sportbilder" Die W e r k g r u p p e der „Sportbilder" (1925-1930) 5 4 kontrastiert die nackte Turnerin mit der sorgfältig gekleideten männlichen Assistenzfigur, an dem „steifen H u t " und der Fliege w i e d e r u m unschwer als Anton Räderscheidt selbst erkennbar. In blühender Körperlichkeit, jedoch ins Denkmalhafte gesteigert, w i r d die ausgebildete Sportlehrerin Marta Hegemann als „Akt am Barren" (1925), „Tennisspielerin" (1926), ja als „Die Schönheitskönigin" (1930) vorgeführt. Die „starke Frau" ist nicht nur jedem Wettbewerb gewachsen, sondern geht daraus sogar als Siegerin hervor. Aber Anton Räderscheidt konzedierte ihr lediglich ein eng begrenztes Bewegungsfeld. Variieren die „Einsamen Paare" partnerschaftliche Konflikte, so dürften die „Sportbilder" Anton Räderscheidts Reaktionen auf die physisch-psychische Präsenz und die künstlerische Potenz der eigenständigen Kollegin widerspiegeln. Das Spannungsverhältnis zwischen A k t i o n und Reaktion w i r d ausgelotet: „Der sich öffnenden Gebärde der Frau antwortet die sich verschließende des Mannes." 5 5 Besonders pointiert formulierte dies Anton Räderscheidt in dem Gemälde „Drahtseilakt" (1929; Abb. 5). Diese im Gaukler- und Schausteller-Milieu angesiedelte Szenerie vergegenwärtigt eine Akrobatin, die mit der Balancestange mühelos über gefährlichen Straßenschluchten hantiert. Von sicherem Standort aus beobachtet er den riskanten Auftritt der Tänzerin. U m 1930 schuf Marta Hegemann ihre Version z u m Thema „Balance": Eine kokette junge Frau steht darin trittfest auf einer Leitersprosse, einen aufgespannten Sonnenschirm sowie eine Petroleumlampe in Händen haltend, Chiffren für Müßiggang und Erkenntnis, intellektuelle Arbeit; weiße Tauben umflattern die puppenhafte Person. Marta Hegemanns Arbeit suggeriert Selbstsicherheit der Dargestellten sowie Ausgewogenheit gegensätzlicher Tätigkeiten. Nichts deutet auf das Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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lebensgefährliche Manövrieren über dem Abgrund aus der Sicht Anton Räderscheidts hin. Formal steht ihre Arbeit seinem „Akt am Trapez" (1929) näher. Darin wandelt er die stehende Position der Artistin in ein breitbeiniges Schwingen am Trapez ab. Die wiederum unbekleidete Sportlerin bewegt sich derart sicher, daß lediglich eine Hand das Seil hält, die andere dagegen eine einladende Geste vollführt. Das Ganze vollzieht sich vor riesigen hohlen Fenstern. Der Zuschauer, d.h. Anton Räderscheidt mit den typischen Accessoires, registriert indolent die waghalsige Darbietung.

Anton Räderscheidt: „Maler und Modell" Marta H e g e m a n n s O m n i p r ä s e n z im bildnerischen Schaffen Anton Räderscheidts der z w a n z i g e r Jahre untermauern auch drei Versionen des Themas „Maler und M o d e l l " (1926-1928). 5 6 Im Gemälde „Maler und M o d e l l " (1926) versucht der Künstler, ein wohlgeformtes A k t m o d e l l vom Phänotyp Marta H e g e m a n n s einzusetzen. Doch er figuriert vor leerer Leinwand. Die zaghaft auffordernde Geste des Modells zu mög-

Abb. 11 Anton Räderscheidt Selbstbildnis, 1926 Ö l auf Leinwand 1 0 0 x 8 0 cm Privatbesitz 308

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liehen Positionsangaben beantwortet er mit einem verkrampften Ansichpressen seines Berufsattributs, der Palette. Bei dem „Selbstbildnis" (1926) stellt das Modell das alleinige Motiv der Leinwand dar, dem Maler an Körpergröße ebenbürtig, jedoch zu einem Torso verstümmelt (Abb. 11). Die füllige weibliche Figur endet in A r m - und Beinstümpfen. Der Kopf ist kahl. Das vormals ansprechende Modell mutiert zu einer traumatisierenden Figuration, zum alleinigen Thema, zu einer Erscheinung von unumstößlicher Gegenwärtigkeit. Bei der Arbeit „Maler und Modellpuppe" (1928) verharrt der Künstler wiederum vor leerer Leinwand. Mit deutlicher Willensanstrengung faßt er das zu einer willfährigen Gliederpuppe gezähmte Modell am Hals, so als wolle er sich von einer Obsession befreien. A m Ende der konfliktreichen Auseinandersetzung steht er kahlköpfig da wie Samson, den Delila durch das Abschneiden seines Kopfhaares all seiner Kraft beraubt hat.

Anton Räderscheidt und Marta Hegemann: Bildnisse und Selbstbildnisse In den Kontext der Bildnisse von Repräsentanten des intellektuellen Köln, oftmals der Freunde und Förderer Anton Räderscheidts - „Carl Linfert" (1930), „Dr. Andreas Bekker" (1930), „Prof. Dr. Fritz Witte" (1931) - gehört auch das verschollene „Bildnis Marta Hegemann" (1930). 57 Wie die anderen genannten Arbeiten handelt es sich auch hier um die en face-Darstellung einer ins Bildzentrum gerückten Figur. Die Dargestellte ist sitzend fixiert. Eine Hand liegt im Schoß, die andere stützt den Kopf. Kostüm und Bluse, das Haar kurz ä la mode geschnitten, lassen Marta Hegemann als selbstbewußte, jedoch offenkundig desillusionierte Vertreterin der „neuen Frau" erscheinen. Kein einziges Attribut deutet den Beruf der bildenden Künstlerin an. Das möglicherweise zeitgleich aquarellierte „Porträt Marta Hegemann" (1930) beschränkt sich auf den Kopf mit der tief in die Stirn hängenden Haarlocke, Augenschlitzen und fein nachgezogenen Brauen - eine wenig schmeichelhafte Skizze, deren Rückseite Anton Räderscheidt für ein ebenfalls aquarelliertes „Selbstporträt mit Marta im Hintergrund" nutzte, auf dem er sich im Vordergrund statuarisch mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen erhebt und Marta in hellem, kurzem Kleid schat-tenhaft im Hintergrund auftaucht. Seine Körperhaltung verrät Unsicherheit, als fürchte er die Anwesenheit der ebenbürtigen Kollegin. Die wenigen überlieferten authentischen und fingierten Selbstbildnisse Marta Hegemanns 58 demonstrieren das ausgeprägte Selbstwertgefühl der Malerin und die Tatsache, dass sie mit sich und ihrer künstlerischen Arbeit in Einklang lebte. „Malerin" (1926) betitelte sie ein verschollenes Gemälde, das im Katalog der Kölner Richmond-Galerie abgebildet ist und nicht etwa nur ein Berufsbild, sondern ein kaschiertes Selbstbildnis ist. Die Malerin, unbekümmert, tatkräftig, ausgestattet mit Malerschürze und Pinsel, steht im Mittelpunkt einer bunten Ansammlung ihrer Embleme. Katzen streichen ihr u m die Füße. Die Pfeilerbrüstung deutet ihren Arbeitsplatz in der Nähe eines Gartens an. Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Unmittelbar hinter ihr auf der Staffelei ist ein bärbeißiges Männerporträt auszumachen ihre Version des Themas „Maler und Modell". Witzig-ironisch und voller charmanter Selbstgewißheit fällt ihre Interpretation aus und unterscheidet sich diametral von der gedankenschweren, destruktiven Konfrontation in Anton Räderscheidts „Selbstbildnis". Marta Hegemanns Bleistiftzeichnung „Selbst mit Katze" (um 1925), eine beiläufige Eintragung in das Gästebuch des Kollegen Arthur Kaufmann, ist in raschen Umrißlinien niedergeschrieben und zeigt anstelle der individuellen typische physiognomische Charakteristika. Ponyfransen im kreisrunden Gesicht, zigaretterauchend, eine Katze streichelnd, ein aufgeschlagenes Buch vor und die Petroleumlampe hinter sich als Signum von Wissen und Erkenntnis - so sieht sie sich, eingewoben in ihre Gedankenwelt und in völliger Harmonie mit sich und ihrem Tun. Das verschollene Gemälde „Herz Ass" (1929) ist ein weiteres verschlüsseltes Selbstbildnis der Künstlerin, in Anlage und Ausführung der Zeichnung „Selbst mit Katze" überraschend verwandt: Marta Hegemann präsentiert sich in zeitgemäß jungenhaftem Erscheinungsbild, umgeben von den vielzitierten Emblemen für Weiblichkeit, Häuslichkeit, Intellektualität etc. und dem (diesmal allerdings geschlossenen) Buch als Chiffre für noch nicht realisierte Möglichkeiten. Die Spielkarte Herz Ass resümiert gewissermaßen die zentrale Bedeutung der chiffrierten Bildelemente für das Selbstverständnis und die Befindlichkeit der Malerin. U m sich und ihre Situation als Künstlerin wirkungsvoller zu vertreten, trat Marta Hegemann u m 1930 der Kölner G E D O K bei, der 1926 von Ida Dehmel in H a m b u r g gegründeten Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen und Kunstfreundinnen. Marta Hegemann hielt vor Repräsentantinnen der bildenden und gestaltenden Künste eine programmatische Rede mit folgenden Schlussbemerkungen, die ihre persönliche Selbsteinschätzung offenbaren: „Mancher Kunstfreund hat seine Sammlung festnotierter Werte und begnügt sich den lebenden Künstlern gegenüber mit prozentualer Betreuung. Ich sage das nicht im Interesse einer diskreditierten Branche, der ich zugehöre. Ich w ü r d e Propagandazettel verteilen, mich einer Partei zur Verfügung stellen, wenn ich nicht glaubte, an meiner Stelle richtig stehen zu müssen." 5 9 Die verbandsorganisatorischen Bemühungen seiner Frau quittierte Anton Räderscheidt im übrigen mit ironischen Kommentaren.

Marta Hegemann: Darstellungen weiblicher Berufe Dass Marta Hegemanns künstlerische Botschaft der Verbildlichung der „neuen Frau" und damit der eigenen Befindlichkeit gilt, beweisen ihre Arbeiten ab 1925. 60 Doch das 1924 als Erinnerungsblatt geschaffene Aquarell „Angelika" enthält bereits in Konzeption und Ausführung exemplarisch die folgenden Variationen auf ihr Lebensthema. Sowohl Marta H e g e m a n n als auch A n t o n Räderscheidt w i d m e t e n A n g e l i k a Hoerle (1899-1923) Figurenbilder. 6 1 A n t o n Räderscheidt schuf das Doppelbildnis 310

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„Freundinnen" (1923), das die todkranke Künstlerin in Gesellschaft Marta Hegemanns vergegenwärtigt. Geschwächt und abgemagert sitzt sie in einem Sessel, den Blick zum Fenster und damit in die Ferne gerichtet. Uber sie beugt sich Marta Hegemann, den Kopf tief gesenkt, sichtlich betrübt über das Schicksal der Freundin. Marta Hegemann aquarellierte ein Jahr nach deren Tod das Ganzfigurenbildnis „Angelika", die einzige Personendarstellung mit porträthaften Zügen ihres gesamten CEuvres. Höchst elegant, eine Katze am Halsband führend, figuriert sie symbolträchtig an einer Weggabelung, Mit der Laterne am Rande einer Straße, die im Nichts endet, beschwor Marta Hegemann die Erinnerung an die einsamen Spaziergänge durch das regennasse Köln-Lindenthal nach der Trennung von Heinrich Hoerle. Mit den weiblichen Berufsbildern „Lehrerin" (um 1925) und „Architektin" (1928) wirkte sie für die Propagierung der selbstbewußten, emanzipierten Frau. 62 Jeweils eine stehende weibliche Person bildet das Zentrum der Darstellung, die Architektin steht vor einer Wand, eine Entwurfzeichnung haltend, die Lehrerin lehnt sich an ein Pult. Vor beiden liegt ein aufgeschlagenes Buch, um sie als Vertreterinnnen intellektueller Berufe auszuweisen. 1936 gestaltete Marta Hegemann eine Reihe von Gouachen, in denen sie es nationalsozialistischer Repressionen zum Trotz wagte, anhand von Berufsdarstellungen das Frauenbild des Dritten Reiches zu persiflieren: „Mode" zeigt eine Dame beim Ankleiden in ihrem Boudoir, wohl behütet durch einen bedrohlichen Tiger, dessen Fell als Teppichvorlage dient. „Museumsbesuch" veranschaulicht die Konfrontation zöpfetragender Schulmädchen mit Skulpturen nackter Frauen. In der „Frauenschule" referiert die Lehrerin ausgerechnet über die Bedeutung des Huhns, das in Form eines Gemäldes an der Wand prangt. Die Bevormundung ihrer Schülerinnen ist so weit getrieben, dass sie in vollständig identischer Physiognomie und Sitzhaltung, allesamt mit Knotenfrisur und einheitlich gekleidet, wie Perlen aufgeschnürt nebeneinder verharren. „Bedienung" ist eine besonders sarkastische Vergegenwärtigung weiblichen Selbstverständnisses der dreißiger Jahre: Im Mittelpunkt der Cafeszene schwingt eine Kellnerin mit Spitzenhaube ihr beladenes Tablett inmitten plaudernder Damen, zu denen ein jugendlich straffer Adolf Hitler als Gemälde von der Wand streng hinunterblickt, zweifellos von den Anwesenden als Idol adoriert. 6 3

Marta Hegemann: Emanzipationsikonographie Marta Hegemanns Frauenbild ist keineswegs nur positiv und affirmativ. Das Gemälde „Die Braut" (1929) offenbart die höchst ambivalente Situation der Frau. 64 Eine ernste Braut zeigt sich in Gesellschaft zweier sphinxartiger Katzen, die die Rätselhaftigkeit des künftigen Lebensweges symbolisieren. Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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1927 konzipierte die Künstlerin zwei Aquarelle, auf denen einzelne Frauen nachts vor schmuckloser Architekturkulisse auf begrenzter Standfläche figurieren. „Ohne Titel (mit Vorhang)" demonstriert den Freiheitsdrang einer Frau, die die Begrenzung dezidiert verläßt und einen Fuß fest auf einen Säulenstumpf setzt. Die Säule, Emblem für die Verbindung zwischen Himmel und Erde, wurde von Marta Hegemann gewissermaßen als Signatur eingesetzt, gemäß ihrem künstlerischen Credo, die Malerei sei die Balance zwischen Himmel und Hölle. Bedrohlich wirken ein massives Kreuz und der schwarz hinunterfallende Vorhang - Chiffren für die Macht der Kirche und andere Tabubereiche. Die Dargestellte, in knappem Kleid, mit einem Stock bewehrt, die Beine provokant gespreizt, verdeckt ihre Scham gebieterisch mit der zigarettehaltenden Hand: ein unmissverständliches Zeichen für die Selbstbestimmung über ihre Sexualität. U m einen bewußten Verzicht auf erotische Anziehung zu signalisieren, präsentiert sich die Frau kahlköpfig. Marta Hegemann antizipiert damit 1927, was Frieda Kahlo in dem „Selbstbildnis mit abgeschnitten Haar" (1940) als Bildelement in das Gemälde schrieb und ihrem Gefährten Diego Rivera in den M u n d legte: „Sieh, wenn ich Dich

Abb. 12 Marta Hegemann Akt mit Schwan, 1927 Aquarell, 3 2 x 2 4 cm Bonn, Privatbesitz 312

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liebte, so war es wegen Deiner Haare; jetzt da Du sie abgeschnitten hast, liebe ich Dich nicht mehr." Frieda Kahlo hält in dem Selbstbildnis in einer vergleichbaren Verweigerungsgeste eine Schere vor ihre Scham. Als bildnerisches Pendant zu „Ohne Titel (mit Vorhang)" hat Marta Hegemann den „Akt mit Schwan" angelegt (Abb. 12). Das Geviert als begrenzte Agitationsfläche, Säulenstumpf und Kreuz sind auch hier wesentliche Bildfaktoren. Die Finsternis wird durch Mond und Fledermaus angezeigt. Die Figur des Aktes - es handelt sich um Leda - nimmt dieselbe Körperhaltung ein wie die Frau in dem zuvor genannten Blatt. Den Mythos von der sexuellen Vereinigung zwischen Leda und Zeus in der Gestalt eines Schwans wandelt Marta Hegemann insofern ab, als jener Arm der ebenfalls kahlköpfgen Umworbenen verstümmelt ist, mit dem die Figur des Aquarells „Ohne Titel (mit Vorhang)" die Gebärde der Verweigerung vollführt. Der Schwan in eleganter Offensivstellung trifft - im Gegensatz zu den gängigen Darstellungen des Themas - bei Marta Hegemann statt auf ein williges auf ein abwehrbereites, verwundetes Opfer. Der Zustand der Verstümmelung wird in dem Gemälde „Torso" (um 1928) unmissverständlich offengelegt (Abb. 13). Der Körper der weiblichen Figur ist auf eine Büste reduziert, die Arme sind gleichfalls amputiert. Das aufgeschlagene Buch ist auch hier

A b b . 13 Marta Hegemann Torso, um 1 9 2 8 Ö l auf L e i n w a n d 8 0 X 7 0 cm Privatbesitz

Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Abb. 14 Anton Räderscheidt Frau am Fenster (La Melancolie) 1929 Ö l auf Leinwand, 1 1 9 x 5 5 cm Privatbesitz 314

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obligates Indiz für intellektuelle Aktivität. Die Katze, oftmals Spiegelbild der Befindlichkeit der Protagonistin und Alter ego, verharrt in unsäglicher Niedergeschlagenheit. Einzig die zum freien Flug ansetzende Taube kündigt das Fortbestehen von Geistigkeit, Immaterialität an - eine erschütternd resignative Reaktion Marta Hegemanns auf die Nachricht, dass ihr Sohn Karl Anton an einer besonderen Form von Diabetes erkrankt war, die damals fast immer tödlich ausging. „Es war mir, als seien mir die Arme abgefallen", soll Marta Hegemann 1928 ihrer Schwester gegenüber gesagt haben. 65 Glücklicherweise wurde das Insulin erfunden, dank dessen das Kind überlebte, doch bedurfte es regelmäßiger Medikation, deren Kosten das Familienbudget ungemein belasteten. Die Aussichtslosigkeit, das Empfinden von Yerstümmeltsein verdichtete Anton Räderscheidt ein Jahr nach seiner Frau in dem Gemälde „Frau am Fenster (La Melancolie)" (1929). 66 Marta Hegemann steht in einem Fensterrahmen (Abb. 14). An dem schweren, massigen Körper hängen lediglich Armstümpfe. Der lockere, weiche Malduktus verweist diese Allegorie der Tristesse in die Reihe der repräsentativen Bildnisse, die Anton Räderscheidts Reputation in den ausgehenden zwanziger Jahren begründeten, doch der Gehalt, die künstlerische Botschaft knüpft an die „Einsamen Paare" seiner Frühzeit an und artikuliert Verlassenheit in körperlicher Verkrüppelung.

1933 - Machtergreifung der Nationalsozialisten Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 brachte tiefe biographische und künstlerische Einschnitte für Marta Hegemann und Anton Räderscheidt. Als Nichtmitglieder der im September 1933 gegründeten „Reichskulturkammer" konnten sie unter Polizeieinsatz an der Ausübung ihres Berufes gehindert werden und waren von jeglicher Ausstellungsmöglichkeit abgeschnitten. Anton Räderscheidt galt neben Heinrich Hoerle und Franz W. Seiwert als „Prototyp des marxistischen Künstlers". 6 7 Andreas Becker, der 1931 die einzige Einzelausstellung Marta Hegemanns zu Lebzeiten eingerichtet hatte, kam zu dem Schluß: „Die Marta können wir nicht mehr ausstellen, die ist entartet!" 6 8 Dem Beispiel des befreundeten Heinrich Maria Davringshausen folgend, der Deutschland bereits im Januar 1933 verlassen hatte, beschloß das Ehepaar HegemannRäderscheidt Ostern desselben Jahres, nach Italien überzusiedeln. Die Wohnung in Köln-Bickendorf wurde aufgelöst. Bis zum Herbst 1933 hielt sich die Familie hauptsächlich in Rom auf. Dort lebte sie im wesentlichen von „Sponsoren", also der Unterstützung von Kunden und Auftraggebern zumeist jüdischer Abstammung. In der italienischen Hauptstadt wurde Anton Räderscheidt zudem durch den Bildhauer Land als Kommunist denunziert, der er gar nicht war. Als dann seine Bemühungen um ein Stipendium der Villa Massimo fehlschlugen, verließ die Familie Italien wieder und bezog eine bescheidene Wohng in Köln-Müngersdorf. 6 9 Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Die vernichtenden Auswirkungen der nationalsozialistischen Kulturpolitik auf das Schaffen Marta Hegemanns und Anton Räderscheidts sowie auf den Kölner Freundeskreises selbst beschreibt die Künstlerin in ihren „Erinnerungen": „Es war keineswegs klar, was wir wollten, unser .Handwerk' und die Notwendigkeit, uns in jener Zeit zu erhalten, weiter zu bilden, einen Weg zu finden aus erzwungener Isolation, hielt uns zusammen in jener Zeit, die nach dem Zusammenbruch mit Revolution und Besatzung, mit Inflation und Demonstrationen unsere Zeit war. Und die dann noch viel schlimmer zum Jahre 1933 weiter ging, dem, was unter großem Druck durchgestanden wurde, nun doch noch den Garaus zu machen. 1933 fiel man uns ins Wort, fielen wir aus dem Rahmen, wurden wir, die doch eben erst Angekommenen, schon deportiert in die äußere und innere Emigration." 7 0

1934 - Die Trennung von Anton Räderscheidt und Marta Hegemann Zu Beginn der 1930er Jahre traten allem Anschein nach verstärkt partnerschaftliche Schwierigkeiten zwischen Marta Hegemann und Anton Räderscheidt auf. In späteren Briefen hallen die Vorwürfe und Anklagen der letzten gemeinsamen Ehejahre wider. Die Partner hatten ihr Zusammenleben als „Rasiermesser" empfunden. Beide erklärten im Nachhinein, „sehr gelitten" zu haben. Dennoch fragt Anton Räderscheidt verständnislos: „Wie es kommt, daß eine für mich so positive Trennung Dich vernichtet? Weil ich immer wusste, daß jeder Mensch allein ist, und Du nicht daran glauben kannst. Vielleicht Frauen nicht." 71 Anton Räderscheidt, den Carl Linfert bereits in jungen Jahre als „solipsistisch" erkannt hatte, war ein „bekennender Einzelgänger", der seine künstlerische Arbeit möglicherweise durch das Familienleben und die Konkurrenz einer vitalen, begabten Kollegin gefährdet sah. Er definierte sein Selbstverständnis als Mann so: „Der Mann ist ein Einzelgänger. Sein Ichbewußtsein ist so stark, daß ihm ein weiterer Mann nicht vorstellbar ist. Ich und die Welt! Alles ist ihm dienstbar oder wird vernichtet. Freundschaft ist für einen Mann unmöglich, weil er niemand als gleichwertig anerkennen kann. Die Meinung des anderen ist falsch. Selbst Vergleiche mit seiner Person empfindet er als kränkend. Nicht einmal die gleiche Krawatte erträgt er bei anderen. Er versteht nicht, daß sich eine Frau in einen anderen Mann verliebt." 7 2 Partnerschaftliche Differenzen, wirtschaftliche Not und die sich verdüsternde politische Lage bildeten demzufolge zu Beginn der 30er Jahre eine explosive, ehegefährdende Mischung im Haushalt Hegemann-Räderscheidt. Doch noch kurz vor der Trennung soll Anton Räderscheidt gesagt haben: „Wenn ich das tue, bin ich verzeichnet." 7 3 Diese Einsicht hinderte ihn jedoch nicht, den Schritt dann tatsächlich zu vollziehen: Bei Porträtarbeiten hatte Anton Räderscheidt Ilse Metzger, geb. Salberg, 316

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Tochter eines Kölner Kaufhausbesitzers, kennengelernt. Die Beziehung vertiefte sich, so dass sie beschlossen, zusammenzuleben. Weihnachten 1934 besuchte Anton Räderscheidt den kranken Sohn Karl Anton ein letztes Mal im Israelitischen Krankenhaus Köln und übersiedelte mit seiner neuen Lebensgefährtin zunächst nach Berlin. „Seine in Köln zurückgelassenen Arbeiten übereignete er brieflich Marta Hegemann." 7 4 Zunächst war ein Leben der Ehepartner in räumlicher Nähe in Berlin vorgesehen. Durch die kurzfristige Verhaftung, Freilassung und Abreise Anton Räderscheidts und Ilse Salbergs in die Schweiz wurden diese Pläne jedoch zunichte. Während eines GenfAufenthaltes von Marta Hegemann und den Kindern wurde 1936 ein Schenkungsvertrag mit der Auflage monatlicher Unterhaltszahlungen vereinbart. „Der Anton hat ein Portemonnaie gefunden" soll Jankel Adler Marta Hegemann gegenüber geäußert haben, als sie ihn 1937 in Paris wiedertraf, um anlässlich der Weltausstellung dem Vater, wie verabredet, die Söhne zu überbringen. Anton Räderscheidt machte die Annahme jedoch von der sofortigen Abreise Marta Hegemanns und der Bezahlung der Hotelkosten abhängig, die sie in Deutschland auftreiben mußte. 75 Die Zusammenarbeit an einem Kalender des Jahres 1934 war die letzte gemeinsame Aktion des Ehepaares - 14 Jahre nach dem Abdruck ihrer frühen Arbeiten in dem „stupid 1 "-Katalog. 7 6 Marta Hegemanns „März"-Blatt, großzügig in Linol geschnitten, thematisiert kraftvoll die Eigengesetzlichkeit der Vegetation. Vor dem Hintergrund stürmischer Naturgewalten entsprießen einem schrundigen, knorrigen Baumstamm neue Aste und Zweige. Damit ersann sie eine Metapher hoffnungsvoller Wiederkehr und insinuierte eine starke Verwurzelung eigenständiger Partner, möglicherweise die eigene Lebenssituation. Anton Räderscheidt wählte dagegen für seinen in kleinteiligem Schnittduktus ausgeführten „ O k t o b e r " den Ausschnitt eines Innenraums. K o m m o de und Stuhl bilden den Fond für ein herbstliches Stilleben sehr persönlicher Prägung. Trauben als gängiges Herbstsymbol piazierte er in der Nähe eines kunstvoll gestalteten Drachen - des Emblems für künstlerische Freiheit und Phantasie, das Marta Hegemanns Ikonographie leitmotivisch durchzieht. Doch hier steigt der Drachen nicht etwa kühn in einen weiten Himmel auf, sondern ist auf einem Stuhl abgelegt. Sicherlich nicht zufällig zeigt das Kalenderblatt den 11. Oktober, den Geburtstag des Malers, an. Marta Hegemanns Zuversicht kontrastiert demzufolge mit Anton Räderscheidts melancholischer Bestandsaufnahme anderthalb Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und wenige Monate vor seinem Abschied von Köln und der Familie.

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„Correspondenz durch Bilder" In den Briefen nach der Trennung eskalieren Beschuldigungen und Rechtfertigungsversuche. Marta Hegemann, mit den heranwachsenden Söhnen, von denen der jüngere ständiger kostspieliger ärztlicher Betreuung bedurfte, und der Aussichtslosigkeit künstlerischer Arbeit im Dritten Reich allein gelassen, mußte sich von Anton Räderscheidt den Vorwurf gefallen lassen: „Du willst eine Familie gegen alle Naturgesetze zusammen halten und daran scheitert eben sehr viel." 7 7 Infolge von Uberlastung und Erschöpfung erkrankte sie zeitweilig. Öfter erbot sich Anton Räderscheidt, den jüngeren Sohn zu sich nach Frankreich zu holen, doch wenn es um die Festlegung einer konkreten Verabredung ging, erhielt sie ihre Briefe durch „Postirrtum" als „unzustellbar" zurück. Ende der dreißiger Jahre wurde die Scheidung erwogen, die Marta Hegemann nach anfänglicher Zustimmung bis auf weiteres ablehnte. 78 Im Nachlass Marta Hegemanns befinden sich jedoch auch Briefe der beiden Partner aus den ersten fünf Jahren nach der Trennung, die keinesfalls nur gegenseitige Vorwürfe, Anklagen, Schuldzuweisungen oder Überlegungen über die Zukunft der Söhne enthalten, sondern einen brieflichen Dialog „mit dem Collegen, Menschen, Freund" über künstlerische Probleme darstellen: „Unsere Correspondenz durch Bilder scheint mir sehr erfreulich." 7 9 Anhand von Fotos diskutierten sie über ihre Arbeiten: „Ich danke Dir für Deinen ,subj.' Eindruck von den Foto's. Foto's weil sie ja nur eine ungefähre Idee der Bilder geben, ja zum Teil verfälschen. Du hast auf jeden Fall das mir Wesentliche gefunden." 8 0 In diesen Briefen erklärt sich Anton Räderscheidt bereit, in Paris Ausstellungsmöglichkeiten für Marta Hegemann zu erkunden. „Meiner Meinung nach hättest Du mit Deinen Bildern hier Chancen. Ich würde es gern versuchen, sie auszustellen - wenn Du sie schicktest." 8 1 Betont reserviert reagierte er allerdings, als sie ihn beim Wort nahm: „Eine Verwertung Deiner Arbeiten würde mich natürlich interessieren. Du kommst da auf mein Angebot von vor langer Zeit zurück. N u r was soll ich hier damit? In Paris zurück kann ich mich umsehen. Das wäre im Herbst." 8 2 Von seinen eigenen Ausstellungsaktivitäten in Paris berichtet Anton Räderscheidt in der „Correspondenz durch Bilder" - so im Mai 1937 von der Schau „Anton Räderscheidt - Les Monstres I" in der Pariser Galerie Billiet-Vorms: „Ich mache im Augenblick meine zweite Gesamtausstellung in Paris und zwar hauptsächlich grosse Temperablätter. Ich werde Dir in einigen Tagen Foto's schicken." Und im Juni 1938 von der Folgeausstellung „Anton Räderscheidt - Les Monstres II" in der Galerie de Beaune: „Zum Arbeiten ,nach der Natur' kann ich mich nicht entschließen, obschon diese Arbeiten hier großen Anklang finden. Während das andere durchweg als ,monstres' bezeichnet wird. Ich bin noch verrückt genug, diese Bez. anzuerkennen." 8 3 318

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Durch Trennung, Auszug, Umzüge,Verfolgung, Flucht und Leben in Notunterkünften verloren beide Partner einen Großteil ihrer Arbeit. Nahezu die gesamte Werkgruppe „Einsame Paare", „Sportbilder" und „Maler und Modell", die seine Stellung innerhalb des Magischen Realismus sichert, aber auch diejenigen Werke, die er 1938 in Paris zurückließ, sind verschollen. Die wenigen Arbeiten, die rheinische Museen in den 1920er Jahren erworben hatten, wurden 1937 von den Nationalsozialisten konfisziert und durch die Aktion „Entartete Kunst" zerstört. Drei bzw. zwei Arbeiten Marta Hegemanns und Anton Räderscheidts aus dem Wallraf-RichartzMuseum wurden auf diese Weise vernichtet, ferner drei Arbeiten Anton Räderscheidt, die die Museen in Aachen, Krefeld und Wupertal-Barmen angekauft hatten. 84 Unter dem Eindruck der Suchkommissionen der „Entarteten Kunst" und aus Angst um den Verbleib seiner Arbeiten der zwanziger Jahre schrieb Anton Räderscheidt im Juni 1938 aus Frankreich an Marta Hegemann: „Von meinen Bildern interessiert mich lediglich Maler u. Modell, aber auch damit wüsste ich im Augenblick nicht wohin. Kannst Du die Bilder nicht verramschen? (Eine Frage lediglich, ich möchte keine Correspondenz darüber.) Für Porträts interessiert sich Dr. Haubrich, Secker vielleicht für das seiner Frau." 8 5

Innere und äußere Emigration und getrennte Rückkehr nach Köln Für beide Partner begann 1934 eine ungeahnte Leidenszeit. Anton Räderscheidt und seine jüdische Gefährtin Ilse Salberg zogen 1938 von Paris in den südfranzösische Hafenort Sanary, wo sich seinerzeit zahlreiche deutsche Emigranten niedergelassen h a t t e n - u . a. Lion und Marta Feuchtwanger, Alfred Kantorowisz, Thomas und Katia Mann mit ihren Kindern, Heinrich Mann, Rene Schickele sowie Franz und Alma Werfel. 8 6 Zwischen 1939 und 1942 war Anton Räderscheidt in mehreren Lagern in Südfrankreich interniert, u.a. in Les Milles bei Aix-en-Provence. Mehrmals glückte ihm die Flucht. Nach einer Hausdurchsuchung 1942, die eine weitere Internierung, ja Deportation bedeutet hätte, floh er mit Ilse Salberg, im Lieferwagen eines Metzgers versteckt, in die Schweiz. Dort gelang es ihm, während der letzten Kriegsjahre sowie einige Jahre danach auskömmlich von seiner Malerei zu leben. Doch nach dem Tode Ilse Salbergs 1947 ließ sich Anton Räderscheidt erneut in Paris nieder, w o er seine spätere Ehefrau Gisele Ribreau kennenlernte. 1949 kehrte er mit ihr, zwei Söhnen aus erster Ehe, zu denen später noch zwei gemeinsame hinzukamen, in seine Geburtsstadt zurück. Dort hoffte er, an seine frühen künstlerischen Erfolge anzuknüpfen: „So landete ich Ende 49 wieder in Köln, ohne Geld und für die meisten Kölner ein fremder Mann [...]. Wieder konnte ich mich nicht gleichschalten, man läuft ja mit 60 Jahren nicht mehr der Straßenbahn nach. Mein ehemaMarta Hegemann und Anton Räderscheidt

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liger ,Ruhm' konnte mir auch nicht helfen, da scheinbar kein einziges repräsentative Bild die Naziherrschaft überlebt hat. Zur Existenz blieb mir also die Verwertung des Handwerks." 8 7 War das Einleben in Köln unerwartet mühsam, so verbitterte ihn der Verlust seiner Arbeiten der Neuen Sachlichkeit, die er 1934 in Köln zurückgelassen hatte und die nach Aussagen Marta Hegemanns während des Krieges in Straßburg, w o sie zeitweilig lebte, verbrannt waren. Dies umso mehr, als das Interesse an der Kunst der zwanziger Jahre geradezu modische Züge annahm und Räderscheidt endgültig als maßgeblichen Vertreter des Magischen Realismus etablierte. Wieder in Köln, bemühte sich Anton Räderscheidt um die Legalisierung seiner neuen Lebensgemeinschaft. 15 Jahre lang hatte er sich um Marta Hegemann und die Söhne der ersten Ehe kaum gekümmert, ja den Kontakt auf das Notwendigste reduziert. Nach ihrer Rückkehr nach Köln kam es zu einer einzigen letzten Begegnung zwischen Marta Hegemann und Anton Räderscheidt: „In Köln traf man sich als Kläger und Beklagte nur einmal außergerichtlich im Cafe Füllenbach." 8 8 Anton Räderscheidt wollte seine Ehefrau zur Einwilligung in die Scheidung überreden. Es folgten jahrzehntelange quälende Auseinandersetzungen, bis die Trennung am 14.2.1961 rechtskräftig wurde. 1963 heiratete Anton Räderscheidt seine zweite Frau Gisele Boucherie. Seine Arbeiten wurden ab 1959 in zahlreichen Kollektiv- und einigen Einzelausstellungen g e z e i g t - u . a. in Leverkusen (1952), im Kölnischen Kunstverein (1967) und in Düren (1978). Die umfassendste Einzelschau richtete 1993 das Kölner Stadtmuseum ein. 89 Marta Hegemann versuchte während des Krieges und danach, mit kunstgewerblichen Arbeiten, d. h. Entwürfen für Stoff- und Porzellandekorationen, aber auch mit kleinen Aquarellen, die im Iserlohner Modegeschäft ihrer Schwester angeboten w u r den, den Lebensunterhalt für sich und die beiden Söhne zu sichern. Doch diese Objekte und die Batikarbeiten waren den Kunden oft zu teuer. Einiges wurde an Kölner Bekannte verschenkt. Von 1937 bis 1958 wechselte sie auf der Suche nach einer Bleibe unter Aufgabe ihrer freien künstlerischen Arbeit beständig ihren W o h n sitz. Ihre Lebensstationen waren Paris und Iserlohn (1937), Frankfurt/Main und Heidelberg (1938), München (1942-1943) und Straßburg (1943-1944). Die Invasion der Alliierten 1944 erzwang die Flucht zur elterlichen Familie in Iserlohn; Arbeiten und Dokumente mußte Marta Hegemann jedoch in Straßburg zurücklassen. 1945 zerstörten die Bombenangriffe auf Iserlohn die letzten Habseligkeiten im Elternhaus. Unter denkbar schwierigen Bedingungen bemühte sich Marta Hegemann nach dem Krieg, ihre bildnerische Arbeit wieder aufzunehmen. Ab 1954 gelang es ihr, kleinere Einzelpräsentationen einzurichten, ζ. B. im Haus der Heimat in Iserlohn, 1969 in der Kölner Kellergalerie und 1983 im Kölner Haus der Allianz. 1958, neun Jahre nach Anton Räderscheidt, kehrte auch Marta Hegemann nach Köln zurück. 1965 verfaßte sie ihre „Erinnerungen". Umfangreiche Werkschauen waren 1990 im Kölner Stadtmuseum und 1998 im Verborgenen Museum in Berlin zu sehen. 90 320

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Letzte Lebensjahre in Köln Beide Künstler verbrachten die letzte Lebensphase in der Stadt, in der sie sich kennengelernt und ihre formativen, künstlerisch erfolgreichsten Jahre verbracht hatten. Die materielle Situation blieb wie in den Anfangsjahren prekär. Sie bezogen zwar eine Rente, waren jedoch weiterhin auf den Verkauf von Arbeiten angewiesen. Die früheren Freunde teilten sich in zwei Lager: Marta Hegemann pflegte nach wie vor Kontakte zu Kolleginnen, Kollegen und Kritikern wie Gerd Arntz und Frau, Käthe und Carl Oskar Jatho, Elisabeth und Carl Linfert, Georg Lüttke und Frau sowie zu Käthe Schmitz-Imhoff. Anton Räderscheidts Freundeskreis setzte sich aus den früheren Förderern, den Galeristen Andreas Becker und Aloys Faust, dem Kollegen Heinrich Maria Davringhausen, Carl Linfert sowie alten und neuen Porträtkunden, z.B. Josef Haubrich, zusammen. Trotz aller Schwierigkeiten war Marta Hegemann überzeugt, im freien und angewandten Bereich gute Arbeit geleistet zu haben. Sie verfügte grundsätzlich über ein stabiles Selbstbewußtsein. Doch Krankheit, Altersbeschwerden und der endlose Scheidungsprozeß, den sie als eine „öffentliche Auspeitschung" empfand, haben „die Malerin freilich nachhaltig getroffen und ihre Lebenskraft endgültig gebrochen". 9 1 Beide Künstler verstarben 1970 wenige Wochen nacheinander in Köln: Marta Hegemann erlag am 28. Januar einer Angina pectoris, Anton Räderscheidt am 8. März den Folgen eines Schlaganfalls. Allen emotionalen und künstlerischen Differenzen der beiden Persönlichkeiten zum T r o t z würdigt der Sohn Johannes Räderscheidt die Partnerschaft seiner Eltern im Rückblick mit folgenden Worten: „Es scheint eine menschlich und künstlerisch ideale Ergänzung dieser beiden Persönlichkeiten gewesen zu sein. Die Ubereinstimmung und verblüffende Ähnlichkeit in Ausdruck und Lebensweise waren bis in die letzten Lebensjahre zu bemerken. An der über 20 Jahre währenden Lebens- und Künstlergemeinschaft hat freilich nur Marta Hegemann unbeirrt festgehalten und davon Zeugnis abgelegt." 9 2

Anmerkungen 1

Johannes Räderscheidt, geb. 20.8.1919; Karl A n t o n , geb. 2.9.1924 gest. 30.4.1978.

2

D i e Bezeichnung „stupid" leiteten die Dadaisten ab von „ W / 3 " ( W = Weststupidien).

3

Brief Seiwerts an Pol Michels, vermutlich 1919. Zit. nach: Uli B o h n e n / D i r k Backes (Hrsg.): D e r Schritt, der einmal getan wurde, wird nicht zurückgenommen. Franz W.Seiwert: Schriften, Berlin 1978, S. 79.

4

D e r „stupid 1 " - K a t a l o g reproduziert zwei Arbeiten Marta Hegemanns: eine stark abstrahierte Figur und eine Straßenszene (um 1919), Maße und Verbleib unbekannt; abgebildet in: Marta Hegemann 1 8 9 4 - 1 9 7 0 . D i e Kunst - ein Gleichnis des Lebens, Berlin 1998, S. 14. V o n A n t o n Räderscheidt sind zwei Arbeiten in dem „stupid 1 " - K a t a l o g abgedruckt: „Dramentage" und „triumph über das mansardenstübchen" (um 1919), Maße und Verbleib unbekannt. Abgebildet in: Günter Herzog: A n t o n Räderscheidt, K ö l n 1991, S. 16 und 17, A b b . 5 und 6.

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5 Marta Hegemann: Erinnerungen, bearbeitet von Johannes Räderscheidt, in: Michael Euler-Schmidt (Hrsg): Marta Hegemann 1894-1970. Leben und Werk, Köln 1990, S. 73-83, hier S. 83. 6 Hans Koch (1881-1952) gründete 1917 das „Graphische Kabinett Van den Bergh & Co" in Düsseldorf. Bis zu seiner Umsiedlung 1933 nach Schloß Randegg am Bodensee setzte er sich für die rheinische Avantgarde, aber auch für Dresdener Künstler (u.a. Otto Dix, Conrad Felixmüller) ein. Vgl. Am Anfang. Das Junge Rheinland, Düsseldorf 1985, S. 10. 7 Die „Kölner Künstlerhilfe" veranstaltete einen Wettbewerb, zu dem Entwürfe für ein Wandbild, eine Plastik und ein Glasfenster für öffentliche Gebäude eingesandt wurden. Die Arbeiten wurden im Oktober 1932 im Kölner Kunstgewerbemuseum gezeigt. Marta Hegemann reichte „lichtfrohe Strandbilder", Räderscheidt den Entwurf für ein Glasfenster ein, „von dem man nicht weiß, ob er ein Entwurf zu einem neuen Bild seines Straßenzyklus' ist". Zit. nach: Ν. N.: Ein Wettbewerb der Kölner Künstler, Kölner Stadt-Anzeiger vom 27.10.1932. 8 L. Fritz Gruber: Im neuen Heim, in: Das elegante Köln, 3. Jg., 1930, S. 11. Dr. Andreas Becker (18941971) engagierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Wiederbegründung des Kölnischen Kunstvereins, dessen Vorsitzender er von 1961-1970 war. Er und Aloys Faust halfen Anton Räderscheidt ganz entscheidend bei seiner Rückkehr nach Köln 1949. 9 Brief Franz W. Seiwerts an Stanislaw Kubicki vom 23.4.1931, in: Uli Bohnen/Dirk Backes 1978, S. 88. 10 Anton Räderscheidt, „Marta", 1921, Zeichnung, 27,5X22,0 cm, bez. u. 1.: A R 1921, Privatbesitz; sowie „Bild Marta 2" (1920), Gemälde/ Holz, 89x64 cm, Verbleib unbekannt. 11 Marta Hegemann, „Segelschiffchen", 1921, Gemälde, 3 0 x 2 0 cm; „Hafen", 1922, Öl/Holz, bez. u. r.: Marta Hegemann 22, bei beiden Maße und Verbleib unbekannt. 12 Hegemann, wie Anm. 5, S. 83. 13 Ebenda. 14 Elisabeth Simons - alias Araca Makarova - (1905-1965) leitete in Köln die „Schule für Tanz und Gymnastik". Dort entstand im Februar 1932 Marta Hegemanns Skizzenbuch mit 34 meist in Tusche gezeichneten Tanzszenen, das sich in Privatbesitz befindet. 15 Vgl. Horst Richter: Anton Räderscheidt, Recklinghausen 1972, S. 27. 16 Franz Roh: Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925, sowie Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus, Ausst.-Kat. Kunsthalle Mannheim, 14.6-13.9.1925. 17 Vgl. Franz Roh: Zur jüngsten niederrheinischen Malerei, in: Das Kunstblatt, X. Jg., H. 10, 1926, S. 363-368. 18 Anton Räderscheidt, „Die Rasenbank", 1921, Öl/Holz, früher Wallraf-Richartz- Museum, Köln, Maße und Verbleib unbekannt; Marta Hegemann, „Stadt", 1925, Maße und Verbleib unbekannt, beide abgebildet in: Roh, wie Anm. 17, S. 364 und 368. 19 Willi Wolfradt: Juryfreie Kunstschau Berlin, in: Das Kunstblatt, IX. Jg., H. 10, 1925, S. 317. 20 Das „Junge Rheinland" hatte sich ursprünglich 1919 zu Ausstellungen in Düsseldorf und Barmen sowie 1921 nochmals in Düsseldorf organisiert. Nach mehrjährigem Stillstand wurden die Aktivitäten 1925 wieder aufgenommen: „Zum erstenmal ist es der Künstlervereinigung J u n g e s Rheinland' nach der erweiterten Besetzung Rheinlands und Westfalens möglich, seine Arbeiten nach den Städten Deutschlands zu senden und so zu zeigen, was an künstlerischer Arbeit in dieser Zeit geleistet wurde. Wir haben die Trennung von den Kunststädten Deutschlands in jeder Beziehung als schweren Druck empfunden, und so wird es verständlich sein, daß wir in dieser Ausstellung den Anfang einer neuen Zeit freier Entfaltung erblicken." In: Katalog der Ersten (sie) Wanderausstellung. Düsseldorf 1925. Die Wanderausstellung mit Arbeiten Marta Hegemanns und Anton Räderscheidts war in Dresden (Kunstverein), Berlin (Kronprinzenpalais), Chemnitz (Kunsthütte) und Düsseldorf (Kunsthalle) zu sehen. 21 Willi Wolfradt: 1925 Berlin, in: Der Cicerone, XVII. Jg., H. 10,1925, S. 518. 22 Dr.-r.: Große Düsseldorfer Kunstausstellung im Messepalast Köln, in: Kölner Tageblatt vom 29.7.1924. 23 Alfred Salmony: Köln, in: Der Cicerone, XVI. Jg., H. 19, 1924, S. 937. 24 F. R.: Kölner Ausstellungen, in: Kölnische Volkszeitung vom 13.9.1924. 25 Hans F. Secker: Vorwort, in: Faltblatt zur Kölner Sezession. 1925. 26 U.: Kölnischer Kunstverein. Ausstellung der Kölner Sezession I, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 21.12.1925. 27 U.: Die zweite Ausstellung der Sezession, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 12.12.1926.

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28 Zit. nach: Kölner Kunst 1928. Die Eröffnungsrede Professor Seewalds II, in: Kölner Tageblatt vom 4.7.1928. 29 Alfred Salmony: Kölner Kunst 1928, in: Der Cicerone, XX. Jg., H. 19,1928, S. 487-188, hier S. 487. 30 g.: Kölnischer Kunstverein. Selbstbildnisse deutscher Künstler, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 17.10.1928. 31 Vgl. H.: Moderne rheinische Maler. Ausstellung des Kölnischen Kunstvereins, in: Kölner Tageblatt vom 21.12.1929. 32 W. St.: Raum und Wandbild. Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, in: Rheinische Zeitung vom 19.3.1929. 33 Alfred Salmony: Köln. Raum und Wandbild, in: Der Cicerone, XXI. Jg., H. 7, 1929, S. 206. 34 Carl Oskar Jatho: Ausstellung Kölner Künstler 1930, in: Der Cicerone, XXII. Jg., H.9,1930, S. 259-260, hier S. 260. 35 Ν . N.: Kölner Künstler stellen aus, in: Kölner Tageblatt vom 3.12.1931. 36 Carl Linfert: Neue Deutsche Kunst, in: Frankfurter Zeitung vom 26.1.1933. 37 Zit. nach Richter 1972, S. 22. 38 Der Postmeister Kasimir Hagen gründete die Richmond-Galerie in einem Patrizierhaus in der Richmondstrasse 3. Vgl. Kasimir Hagen: Aus Kunst und Leben, Köln 1957, S. 28 ff. 39 Brief Anton Räderscheidts an Franz Roh vom 17.6.1926. Zit. nach Herzog 1991, S. 32. 40 F. B.: Neue Kunst in Köln, in: Kölner Tageblatt vom 18.10.1926. 41 Louise Straus-Ernst: Köln, in: Das Kunstblatt, XI. Jg., H.4, 1927, S. 172. 42 Die Wohnung befand sich in Köln-Bickendorf, Schlehdornweg 2, in einem Mietshaus der G A G mit Dachatelier. 43 Richter 1972, S. 23. 44 Anton Räderscheidt, „Profilansicht Marta Hegemann", 1911, Bleistift, 31,5X23 cm,bez. u. r.: RÄDERS C H E I D T 25. J U N I 1911, Privatbesitz. 45 Anton Räderscheidt, „Aufbruch", 1932, Öl/Karton, Maße und Verbleib unbekannt. 46 Jankel Adler, Marta Hegemann, Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt. Ausst.-Kat. Suermondt-Museum, Aachen, Januar 1927. Marta Hegemann stellte neben Aquarellen und Handzeichnungen sechs, Anton Räderscheidt acht Ölbilder aus. Das Deckblatt zeigt Anton Räderscheidts Aquarell „Familie" (um 1926), Maße und Verbleib sind unbekannt. 47 Anton Räderscheidt, „Familie am Fenster", 1929, Öl/Lwd., früher Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Maße und Verbleib unbekannt; 48 Marta Hegemann, „Familienbildnis", um 1924, Ol/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt. 49 Joachim Heusinger von Waldegg: Zur Ikonographie der „einsamen Paare" bei Anton Räderscheidt, in: Pantheon, 37. Jg., 1979, S. 59-68. 50 Anton Räderscheidt, „Begegnung", 1921, Öl/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt; „Das Haus Nr. 9", 1921, Ol/Lwd., 65x55 cm, bez. u.r.: Anton Räderscheidt, Privatbesitz; „Die Rasenbank", 1921, Öl/Holz, früher Wallraf-Richartz- Museum, Köln, Maße und Verbleib unbekannt; „Innenraum (Junge Ehe)", 1922, 01/ Lwd., Maße und Verbleib unbekannt; „Selbstbildnis mit Frau", 1923, Öl/Pappe, 80,5X68 cm, bez. u. r.: A R 23, Museum Ludwig, Köln; „Das Paar", 1927, Lithographie, 65,0X49,5 cm, bez. u. r.: A R 27, Privatbesitz. 51 Hegemann, wie Anm. 5, S. 83. 52 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 14.5.1936. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 53 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 30.4.1936. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 54 Anton Räderscheidt, „Akt am Barren", 1925, Ol/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt; „Tennisspielerin", 1926, Ol/Lwd., 100x80 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlung, München; „Die Schönheitskönigin", 1930, Öl/Lwd., 150X119 cm, Verbleib unbekannt; „Drahtseilakt", 1929, Öl/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt; „Akt am Trapez", 1929, Öl/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt; Marta Hegemann, „Balance", um 1930, Öl/Lwd., 80x60 cm, bez. u. r.: Μ Η, Kölner Bank von 1867 e.G. 55 Heusinger von Waldegg 1979, S. 64. 56 Anton Räderscheidt, „Maler und Modell", 1926, Öl/Lwd., 100x80 cm, Verbleib unbekannt; „Selbstbildnis", 1926, Öl/Lwd., 100X80 cm, Privatbesitz; „Malerund Modellpuppe", 1928, Öl/Lwd., erworben vom Suermondt-Museum, Aachen, beschlagnahmt durch die Aktion „Entartete Kunst". 57 Anton Räderscheidt, „Bildnis Marta Hegemann", 1930, Öl/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt; „Porträt Marta Hegemann", 1930, Aquarell, 68x50 cm, unbez., Privatbesitz, verso: Anton Räderscheidt, „Selbstporträt mit Marta im Hintergrund", Aquarell, 68X50 cm, unbez.

Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

323

58 Marta Hegemann, „Malerin", 1926, 80x100 cm, Verbleib unbekannt, abgebildet in: Neue Kunst - Alte Kunst, Richmond-Galerie, Köln, 1926, o.S; „Selbst mit Katze", um 1925, Bleistift, 26,2X18,7 cm, bez. u. r.: Marta H., Privatbesitz; „Herz Ass", 1929, Öl/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt. 59 Marta Hegemann: Rede vor der Kölner GEDOK, Typoskript im Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 60 Im CEuvre Marta Hegemanns läßt sich nur äußerst selten ein männliches Wesen ausmachen, z.B. in dem „Familienbildnis", um 1924, in der „Stadt", 1925, in dem Wandbildentwurf für das „Kinderzimmer mit Jungen", 1929, für die Kölner Ausstellung „Raum und Wandbild" und dem schneidigen Hitler-Konterfei der Gouache „Bedienung", 1936. Von der Existenz eines Bildnisses Anton Räderscheidts ist nichts bekannt. 61 Anton Räderscheidt, „Freundinnen", 1923, Öl/Karton, Maße und Verbleib unbekannt; Marta Hegemann, „Angelika", 1924, Aquarell, bez. u. r.: Mart Hegemann 24, Maße und Verbleib unbekannt. 62 Marta Hegemann, „Lehrerin", um 1925, Aquarell, Maße und Verbleib unbekannt, abgebildet in: Ausst. Kat. Kölnischer Kunstverein. Sezession II, Köln 1926, o.S; „Architektin", 1928, Öl/Lwd., 100X80 cm, bez. u. r.: Μ Η 28, ehemals Hans Heinz Lüttgen; Verbleib und genaue Daten der 1936 entstandenen Gouachen „Mode", „Museumsbesuch", „Frauenschule" und „Bedienung" sind unbekannt. 63 Fotos dieser Gouachen sandte Marta Hegemann an den im französischen Exil weilenden Anton Räderscheidt, der ihr ein Lob ausspricht: „[...] Und ich habe den Eindruck, daß [Du] in Daumierartiger Weise ein sehr wesentliches Stück der Zeit zum Ausdruck bringst." Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 12. August 1939. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 64 „Die Braut", 1929, Öl/Lwd., Maße und Verbleib unbekannt; „Ohne Titel (mit Vorhang)", 1927, Aquarell, 32,2x23,9 cm, bez. u. r.: Μ. H. 27/14/No. 21, Privatbesitz; „Akt mit Schwan", 1927, Aquarell, 3 2 x 2 4 cm, bez. u. r.: Μ. H. 27/16, Privatbesitz; „Torso", 1928/29, Öl/Lwd., 80x70 cm, unbez., Privatbesitz; Frieda Kahlo, „Selbstbildnis mit abgeschnittenem Haar", 1940, Öl/Lwd., 4 0 x 2 8 cm, bez. u. r.: 1940 Frieda Kahlo, Museum of Modern Art, New York. 65 Johannes Räderscheidt gegenüber der Verfasserin am 8.1.2000. 66 Anton Räderscheidt, „Frau am Fenster (La Melancolie)", 1929, Öl/Lwd., 119, 5 x 5 5 cm, bez. u. r.: Anton Räderscheidt 29, Privatbesitz. Diese Arbeit erwarb das Ehepaar Rudolf und Ilse Metzger, geb. Salberg, als sich der Kontakt zwischen ihnen und dem Maler zu Beginn der dreißiger Jahre anbahnte, der 1934 zur Trennung zwischen Marta Hegemann und Anton Räderscheidt führte. 67 Brief Anton Räderscheidts an Eugen Spiro vom 16.8.1938. Zit. nach Herzog 1991, S. 51. 68 Johannes Räderscheidt gegenüber der Verfasserin am 11.2.2000. 69 Die Adresse lautete Köln-Müngersdorf, Auf dem Hügel 35. 70 Hegemann, wie Anm. 5, S. 82. Zur Situation Kölner Künstler zur Zeit der Machtergreifung ausführlich in: Louise Straus-Ernst: Nomadengut, Hannover 1999, S. 125 ff. 71 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 30.4.1936. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. Zu dem Thema Trennung vgl. Michael Euler-Schmidt: Dramentage - Arbeitstage - Abschiedstage, in: Werner Schäfke und Michael Euler-Schmidt (Hrsg.): Anton Räderscheidt. Köln 1993, S. 70-74, hier S. 72. 72 Richter 1972, S. 17. 73 Johannes Räderscheidt gegenüber der Verfasserin am 10.5.1988. 74 Johannes Räderscheidt, wie Anm. 65. 75 Johannes Räderscheidt, wie Anm. 68. 76 Marta Hegemann, „März", 1934,30X22,5 cm, Linolschnitt, Privatbesitz; Anton Räderscheidt, „Oktober", Holzschnitt, 33x25 cm, bez. u. 1.: A R 34. Privatbesitz, abgebildet in: Schäfke, Euler-Schmidt 1993, S. 176. 77 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann, undatiert. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 78 Während dieser Auseinandersetzungen ließ Anton Räderscheidt sich zu folgendem brieflichen Zornesausbruch hinreißen: „Frau A. R. ist für mich Feind und ich werde immer meine materiellen und geistigen Mittel gegen sie anwenden. (Nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe) Gruss A." Marta Hegemann kommentierte seine Zeilen: „Diese Erfahrungen waren nur Folge u. nicht Grundursache, nein! ob Kunst- oder Naturgesetz, .Frau' u. ,Kinder' existieren u. sind abhängig / Scheidung unter diesen Umständen wäre erpreßte / Zumutung Bestätigung eines .Automatismus' / der gegen uns angewendet würde." Wie Anm. 77. 79 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 12.8.1939. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 80 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 14.5.1937. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 81 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann, undatiert, wohl vom Mai 1937. Nachlaß Marta Hegemann, Köln. 82 Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 19. Juni 1938. Nachlaß Marta Hegemann, Köln.

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Hildegard Reinhardt

83

Briefe A n t o n Räderscheidts an Marta Hegemann vom 14. Mai 1937 bzw. 19. Juni 1938. Nachlaß Marta

84

Vgl. Andreas Hüneke: D o k u m e n t a t i o n der A k t i o n „Entartete K u n s t " , Berlin 1998. In öffentlichem B e -

Hegemann, K ö l n . sitz waren von Marta Hegemann „Mädchen mit T a u b e n " (Nr. 14865), „Puppe " ( N r . 14973), „Eisjungfrau" (Nr. 14770), früher Wallraf-Richarz-Museum, K ö l n ; von A n t o n Räderscheidt „Frau in Straße" (Nr. 8993), Krefeld, „Gliederpuppe" ( N r . 13265), Suermondt-Museum, Aachen, „Männliches Bildnis" (Nr. 15914), Wuppertal- Barmen. Ferner sind seit der A k t i o n A n t o n Räderscheidts Bilder „Die Rasenb a n k " , 1921, und „Familie am F e n s t e r " , 1929, früher Wallraf-Richartz- Museum, Köln, verschollen. 85

Brief Anton Räderscheidts an Marta Hegemann vom 19.6.1938. Nachlaß Marta Hegemann, Köln.

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Vgl. H e i n k e Wunderlich/Stefanie Menke: Sanary-sur-Mer. Deutsche Literatur im Exil, Stuttgart/Wei-

87

A n t o n Räderscheidt: Tagebuch, S. 4 3 - 4 4 . Zit. nach H e r z o g 1991, S. 95.

88

Johannes Räderscheidt, wie A n m . 68.

89

Die wichtigsten Einzelausstellungen A n t o n Räderscheidts: A n t o n Räderscheidt - Ölgemälde, Aquarel-

mar 1996.

le, Zeichnungen 1 9 2 2 - 1 9 5 2 , Ausst.-Kat. Schloß Morsbroich, Leverkusen 1952; A n t o n Räderscheidt W e r k e der J a h r e 1921 bis 1967, Ausst.- Kat. Kölnischer Kunstverein, K ö l n 1967; A n t o n Räderscheidt. Das Spätwerk. Ausst.- Kat. L e o p o l d - H o e s c h - M u s e u m , D ü r e n 1978; A n t o n Räderscheidt, Ausst.-Kat. Stadtmuseum, Köln 1993. 90

Die wichtigsten Einzelausstellungen Marta Hegemanns: Marta Hegemann 1 8 9 4 - 1 9 7 0 , Leben und W e r k , Ausst.-Kat. Stadtmuseum, K ö l n 1990; Marta Hegemann 1 8 9 4 - 1 9 7 0 : D i e Kunst - ein Gleichnis des Lebens, Ausst.-Kat. Verborgenes Museum, Berlin 1998.

91

Johannes Räderscheidt, wie A n m . 68.

92

Johannes Räderscheidt, wie A n m . 73.

Marta Hegemann und Anton Räderscheidt

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Es bleibt nur dies: die eine Hand, dies eine Herz." 1

Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen (1929-1931)

RENATE BERGER

Ende der zwanziger Jahre entstand eine Reihe von Federzeichnungen und Lithographien, die erst nach dem Tod der Künstlerin entdeckt wurden. Streng genommen handelt es sich bei diesem Konvolut an frühen, zwischen 1928 und 1930 zentrierten Arbeiten nicht um eine Serie oder einen Zyklus zum Künstlerpaar, sondern um recht unterschiedliche Szenen - meist in Schwarzweiß, manchmal auch mit Farbe versehen. Ausgangspunkt für Hanna Nagels Auseinandersetzung mit dem Paarthema sind ihre Beobachtungen der Lehr- und Lernsituation an der frisch gegründeten Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe, zu deren ersten Studentinnen sie gehörte. Als sie 1925 mit ihrem Studium beginnt, hat sie gute, um nicht zu sagen beste Voraussetzungen für ihre Entwicklung. Der Vater, ein Großkaufmann, und ihre Mutter, die vor der Heirat als Lehrerin gearbeitet hatte, fördern ihr Kind, indem sie ihm eine Mischung aus Höhere-Tochter-Erziehung und beruflichen Grundlagen (in Form einer Klavierausbildung am Konservatorium und einer Buchbinderlehre) vermitteln lassen. Beide Eltern glauben an seine Begabung. Die 1907 geborene Hanna Nagel gehört zu den ersten Studentinnen, die sich mit Beginn der Weimarer Republik und der damit einhergehenden generellen Öffnung der Kunstakademien für Frauen nicht mehr durch ein Dickicht von hemmenden Regeln und Sonderbestimmungen als nur ausnahmsweise geduldete, sondern als legitime Mitglieder dieser Institutionen betrachten können. So vieles war nach dem Krieg in Bewegung geraten. Die großen Aufbruchsbewegungen und Reformen wirken sich auch in der Provinz aus. Die Großherzogliche Badische Akademie in Karlsruhe fusioniert mit der Kunstgewerbeschule zur Badischen Landeskunstschule. Man nutzt die Neugründung von 1920, um einen auf aktuelle Bedürfnisse zugeschnittenen Studienablauf zu konzipieren, jüngere Künstler (vor allem ehemalige Studenten) als Assistenten einzustellen, um ihnen nach kurzer Zeit Professoren anzuvertrauen. Unter den Neuberufenen sind Künstler, die sich - wie Karl Hubbuch, Wilhelm Schnarrenberger und Georg Scholz - 1925, als Hanna Nagel Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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rÄii-Vi.fti:

Abb. 1 Hanna Nagel und Hans Fischer, 1936 Fotografie Privatbesitz

mit dem Studium beginnt, in der von Gustav Friedrich Hartlaub organisierten Mannheimer Ausstellung „Neue Sachlichkeit" als Inbegriff radikaler Modernität begreifen. In diesem Zusammenspiel von Reformwillen und einem sich allmählich verjüngenden Lehrkörper dürfte ein Grund für den Ansturm liegen, dem die Schule ausgesetzt war; zwischen 1920 und 1928 steigt die Zahl der Klassen von acht auf zwanzig, was einem studentischen Zuwachs von etwa 150 % entspricht. 2 Während Walter Gropius den Zustrom von Frauen an das neu gegründete Bauhaus nach kurzer Zeit begrenzen und die verbliebenen Studentinnen mit Hilfe der Lehrer in die Webereiklasse abdrängen will, scheint es an der Karlsruher Schule keine vergleichbaren Absprachen zu gegeben. Wieweit die ersten Studentinnen von der allgemeinen Aufbruchstimmung profitierten, ist nicht leicht zu beantworten, setzte ihre Anwesenheit doch eine Gefüge außer Kraft, das sich über Jahrhunderte etabliert und bis in die Gegenwart behauptet hatte. War das weibliche Modell lange Zeit die einzige Repräsentantin des „Weiblichen" an den Akademien gewesen, hatten Lehrer und Schüler mit seiner Hilfe ihre auf sexueller Kameraderie beruhenden Beziehungen untereinander festigen können, war der Zugriff 328

Renate Berger

auf das weibliche Modell ein Vorrecht der „Meister" oder Zeichen des Avancements ihrer Schüler, musste die Anwesenheit von Studentinnen Irritationen hervorrufen. 3 Mochten sie anfangs noch als unliebsame Beobachterinnen sexualisierter Hierarchien gefürchtet worden sein, so änderte sich die Situation nach 1919 schlagartig. Mit Anfang zwanzig gehört Hanna Nagel zu einer Generation, die kaum mehr Anschluss findet an emanzipatorische Diskurse, wie sie im Rahmen von Sexual-, Strafrechts- und Ehereformen zu Beginn des Jahrhunderts von der Frauenbewegung entwickelt worden waren, sondern sich auf die Ausbildungssituation konzentriert. 4 Studentinnen erproben das Neue zunächst im symbolischen Feld. Die Zeit hilft ihnen dabei. Unter dem Schlagwort „neue Frau" öffnet sich ein Spielraum für äußere Veränderungen: flapperhaftes Gebaren, das über die amerikanische Filmindustrie auch in Deutschland Verbreitung findet, Absagen an den Zwang zu zager Anmut in Form starkrandiger Brillen, Bubiköpfe oder herausfordernder Posen, sobald Studentinnen anstelle des Akademiemodells für ihre Lehrer posierten. Die erste Paarkonstellation, mit der Hanna Nagel während ihrer Ausbildung konfrontiert wird, folgt dem LehrerSchülerin, Alt-Jung, dem Maler-Modell-Schema. Hilde Isai, eine vom gemeinsamen Lehrer Hubbuch ab 1926 häufig gezeichnete Mitschülerin, kann dafür als Beispiel gelten,5 so in „Hilde mit Föhn und Fahrrad" (um 1929), wo er seine Studentin halb entkleidet neben einem Bett auf einem hypermodernen Stuhl zeigt. Zu ihren Füßen liegt ein achtlos hingeworfenes, verdrehtes Rad (um die Jahrhundertwende noch Symbol weiblicher Emanzipation); der an einen Phallus erinnernde Föhn wird wie eine Waffe in Richtung des Bettes gehalten. Die Zusammenstellung der Gegenstände ist nicht durch eine sinnvoll erscheinende Handlung oder Situation motiviert, sondern kombiniert Versatzstücke und Attitüden, die ihren ursprünglichen Kontext verloren haben bzw. ein vom Lehrer und der posierenden Studentin mit Ironie bedachtes Trümmerfeld emanzipatorischer Hoffnungen. 6 Dieselbe Mitschülerin erscheint auf einer Zeichnung von Hanna Nagel ebenfalls halb entkleidet mit Bubikopf und starkrandiger Brille [Abb. 2], Sie umfasst Karl Hubbuch von hinten, während er im Begriff ist, vier ihr ähnelnde Frauen im Akt fast lebensgroß auf eine Leinwand zu bannen. Als Typus geht „Hilde" in Serie: die Intimität mit der lebendigen, hinter Hubbuch stehenden Studentin Isai hat sich bereits verbraucht, und die erlebte Wirklichkeit mit einer bestimmten Person ist längst zum Motor für die Vervielfältigung des Immergleichen in der Kunst geworden. Die sexuelle Verbindung mit einem Lehrer setzt Studentinnen im Kontext der Ausbildung in Konkurrenz zum Akademiemodell und alle übrigen, distanzierteren Neuankömmlinge einem Assoziationskreis aus, den Hans Fischer, der ebenfalls in Karlsruhe studiert, in einer 1928 entstandenen Zeichnung mit „Die verdammten Weiber sind nicht aus dem Kopf zu kriegen" andeutet. In fünfzehn Grafiken zum Thema „Der Kunstschüler" kommentiert Fischer 1928/29 nicht nur die „Folgen eines langjährigen Kunstschulaufenthalts" (zu sehen ist eine Frau, die eine Maske in der Hand hält, Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Abb. 2 Hanna Nagel Hundertmal Isai Januar 1929 Kolorierte Bleistiftund Federzeichnung 35,5x27 cm Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe

die sie dem neben ihr sitzenden Mann abgenommen hat; doch da, wo sein Gesicht sein sollte, ist nichts), auch das Mechanische künstlerischer Produktion stört ihn, und sowohl die Eltern als auch die Lehrer werden als bedrohliche, allerdings entkernte Autoritäten wahrgenommen. 7 Der unausweichliche Rollenkonflikt ergibt sich für weibliche Neuankömmlinge aus der Diskrepanz zwischen den Werten einer traditionellen „Weiblichkeit" und den als „männlich" empfundenen Werten und Normen künstlerischer Entwicklungsverläufe in einer von männlichen Repräsentanten dominierten Institution. Künstlerinnen gehören dem Lehrkörper nicht an. Während Studenten eine Fülle männlicher Rollenmodelle vorfinden, gibt es für Studentinnen nichts Vergleichbares im weiblichen Feld. Die identifikatorischen Prozesse, ihre Akkulturation laufen über den Umweg einer aus der männlichen Lebenspraxis heraus entwickelten und nur dort stimmigen Ideologie „des Künstlers". Studentinnen bleibt vorenthalten, womit jeder Student fraglos rechnen darf: 330

Renate Berger

A b b . 3 H a n n a Nagel. Die Regierenden und die Künstlerin, 1 9 3 1 . Federzeichnung, 1 3 , 7 x 1 6 cm. Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe

eine Opulenz und ein Variationsreichtum an Rollenmodellen des eigenen Geschlechts. Selbst am Bauhaus, einer als besonders fortschrittlich geltenden Schule während der Weimarer Republik, gab es als einzige Lehrerin Gunta Stölzl: bezeichnenderweise in der Weberei. Trotz wirtschaftlicher Erfolge dieser Werkstatt war die teils akzeptierte, teils erzwungene Beschränkung der Studentinnen in der Wahl ihrer Klassen nicht zu leugnen. Ausnahmen taugen nur bedingt als Rollenmodell. Die Seltenheit von Künstlerinnen in der Lehre, die Strategie der Nichtberufung demonstrierte den Unwillen, Frauen innerhalb der akademischen Hierarchie auf gleicher Ebene zu begegnen. 8 Zwar hatten Kunstakademien europaweit den Höhepunkt ihrer WirksamZu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Abb. 4 Hanna Nagel. Die, die schlafen, 1930. Federzeichnung, 14,3x21,2 cm. Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe

keit längst überschritten, doch die ersten regulären Studentinnen sahen noch Chancen im Zugang zu den ihnen bislang verschlossenen Instituitionen. Dass ein Bewusstsein solcher Zusammenhänge bestand, veranschaulichen drei zwischen 1928 und 1930 entstandene Zeichnungen von Hanna Nagel. Auf einer erscheint „die Künstlerin" durch Gitterstäbe von einer Männergruppe getrennt [Abb. 3], die sich in einer Variante als „Prüfungskommission" herausstellt, in der nicht nur Karl Hubbuch, sondern auch Hans Fischer erscheint: Anders als seine Mitschülerin gehört er in den Kreis der Professoren. Eine dritte Variante zeigt die Kommissionsmitglieder in gleicher Haltung zueinander, doch mit veränderten Gesichtern [Abb. 4], W o sich vorher das Gitter befand, hinter dem eine einzelne Frauenfigur (Hanna Nagel) zu sehen war, öffnet sich die Szene nun ins Freie für Hunderte von jungen Mädchen (nur im Mittelgrund wird der Kopf eines Kleinkindes sichtbar), die in die nur zur Hälfte durch eine Mauer geschützte „Prüfungsszene" einfließen, während die Profile der Männer, von denen fast alle ihre Augen verschlossen haben, starr nach rechts gerichtet bleiben, ohne von den rufenden oder intensiv schauenden Mädchen Notiz zu nehmen. Die letzte Szene spiegelt wider, dass die neuen Schülerinnen sehr wohl ein Bewusstsein ihrer Situation hatten. Ihre politisch erzwungene Präsenz mochte 332

Renate Berger

für Lehrer gewöhnungsbedürftig sein, doch erbrachte sie akademischen Künstlern auch Vorteile: Sie gewannen Modelle, Inspiratorinnen, Zuarbeiterinnen und w u r den in einer Weise verehrt und überschätzt, wie es ihnen von Schülern seltener zuteil wurde. Hanna Nagel bedenkt ihre Lehrer mit dem ironischen Titel „Die, die schlafen" [Abb. 4]. Solche Szenen kommentieren nicht nur die Studiensituation und Befindlichkeit von Studentinnen, sie spiegeln auch das Bewusstsein für eine an staatlichen Einrichtungen anstehende massenhafte Kollision weiblicher Neuankömmlinge mit männlichen Amtsträgern und Studenten, d.h. qua Geschlecht legitimen Nutzern von Bildungsprivilegien: hier in jener Form, die ein psychisches Abgesperrtsein in Haltung und Mimik auf der männlichen und ein Weckenwollen, ein massives Herandrängen von weiblicher Seite erzeugt. Eine andere Szene zeigt eine junge Frau im Sarg sitzend, der mit einem Kissen, einer Fülle von abgeschnittenen Haaren und Papieren zu ihren Füßen gefüllt ist [Abb. 5]. Sie hält drei Männern, die im Portrait wiedergegeben und als akademische Lehrer erkennbar sind, etwas entgegen, das erst durch den Titel, „Laßt euer Licht für meinen armen Docht leuchten", erkennbar wird.

Abb. 5 Hanna Nagel. Lasst euer Licht für meinen armen Docht leuchten, 1928. Lithografie, 30x43 cm. Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Zwei alte Lehrer (Conz und Würtenberger) und der jüngere Karl Hubbuch halten eine brennende Kerze in ihrer Linken und stehen mit abgewandtem, über die junge Frau hinweggleitenden Blick Schlange vor dem Sarg. Sie haben sich festlich gekleidet, so, als sollten sie einer Toten ihre Aufwartung machen. Hanna Nagel versetzt ihre Stellvertreterin in die Position einer linkshändigen Frau; ihr Docht will sich gleichsam an der Flamme anderer entzünden. Doch wo bei den Männern noch reichlich brennbares Material zu finden ist (die Länge der Kerzen scheint nach Lebenserwartung gestaffelt), wird die im Sarg sitzende Künstlerin selbst zur Kerze, brennt gleichsam mit ihrer physischen Substanz. Vier leere Blätter im Sarg entsprechen vier Anwesenden. Die Frau ist im Hinblick auf ihre Jugendlichkeit und ihre Position deutlich von der Männergruppe geschieden. Ihr abgeschnittenes Haar füllt das Sargende mit einem Berg duftiger Locken. Das Haaropfer ist hier Teil einer individuellen Mythologie, wie sie sich in den zwanziger Jahren bei Anton Räderscheidt, Marta Hegemann oder der 1907, im gleichen Jahr wie Hanna Nagel geborenen, aber einem anderen Kulturkreis angehörenden Frida Kahlo findet, die bezeichnenderweise um 1924/26, als sie mit ihrer Ausbildung beginnt, als Junge bzw. in Männerkleidung auftritt [Abb. 6] , doch das abgeschnittene Haar erst zum Thema eines Selbstportraits macht, als die Zeit der Bubiköpfe lange vorbei ist.9 Es handelt sich weniger um ein Spiel mit geschlechtlichen Identitäten als um den missglückten Versuch einer Anpassung an männliche Mimikri. In solchen Stilisierungen lebt die Illusion freiheitlichen Handelns auf eine Zukunft hin, in der man sich wiederfinden will, ohne aufgrund seiner biologischen Substanz infrage gestellt zu sein. Die Absage an traditionelle Zeichen der Weiblichkeit samt ihrem eingefahrenen Regelwerk an Verboten oder Geboten, Einschränkungen und Tabus ist nicht durch einen Wechsel der Haartracht, der Kleider oder des Habitus außer Kraft zu setzen: So steht nur Zeichen gegen Zeichen, Wille gegen Wollen, eine (lästige) Maskerade gegen die andere. Keiner der Lehrer scheint willens, den zündenden Funken überspringen zu lassen; die Bewegung geht einseitig von der jungen Künstlerin im Sarg aus. Mit ihrem Bubikopf ist sie als „moderne" Frau gekennzeichnet. Die wenigen Rücksichten auf Frauen im öffentlichen Bereich sind verloren, neue Rechte zwar pro forma vorhanden, aber noch nicht in der Lebenspraxis angekommen. Äußerlich befinden Studentinnen sich nicht länger in der Position von Bittstellerinnen - innerlich bleibt ihre Situation prekär. Das abgeschnittene Haar zeigt, dass die Schülerin im Bewusstsein lebt, Weiblichkeit opfern zu müssen, um künstlerischen Ernst zu bekunden und vom Wissen der Lehrer zu profitieren. Auch der von Angst durchdrungene Opportunismus, der hinter unterwürfigen, mondänen-schrillen, provokanten oder bohemiennehaften Attitüden einzelner Kunststudentinnen deutlich wird, wirkt eher wie das Rufen im Walde und trägt keineswegs zur Besänftigung der Lehrer und Mitschüler bei. Deren Irritation führt zu passiver Resistenz: „Die, die schlafen", verschließen zwar ihre Augen vor der herandrängenden Jugend, innerlich jedoch, im Hinblick auf eigene Interessen, sind sie hellwach. 334

Renate Berger

Abb. 6 G u i l l e r m o Kahlo [zugeschr.] Frida Kahlo als Junge um 1924 Fotografie

H a n n a Nagel verarbeitet aber nicht nur die studentische Situation, erweist sich nicht nur als Beobachterin des politischen U m b r u c h s im Schonraum der Akademie, sondern schafft durch Dreierkonstellationen, die sie selbst, ihren Mitschüler Hans Fischer und den Lehrer Karl H u b b u c h in einer erotischen und zugleich lehrhaften Bezogenheit zeigen (so in „Die falsche Dreizahl" von 1930), den Übergang zu einem Thema, das sie am Ende ihrer Zeit in Karlsruhe und während ihres Neuanfangs in Berlin beschäftigen wird: dem Künstlerpaar. Im Mittelpunkt einer Abfolge sehr unterschiedlicher Zeichnungen (und Lithographien) steht eine Fülle von Darstellungen, in denen H a n n a Nagel einer Künstlerin und einem Künstler jeweils eigene bzw. die Züge Hans Fischers verleiht. Dass sie sich und ihren späteren Mann als Rollenmodelle einsetzt, hat manchmal zu dem MissverständZ u Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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nis geführt, es handele sich um eine „fast pathologische Introversion", etwas rein Persönliches ohne gesellschaftliche Verankerung oder Tragweite. 10 Tatsächlich greift Nagel anfangs auf das Repertoire ihres akademischen, durch Anhänger der Neuen Sachlichkeit kritisch aufgeladenen Umfelds zurück. Das kommt zunächst in der Art der Wahrnehmung und der Konfrontation von Typen bzw. Figuren zum Ausdruck; doch anders als die Vertreter einer bereits konventionalisierten Kritik an gesellschaftlichen Realitäten widmet sie sich genau jenen Konflikten im Geschlechterverhältnis, die von dieser Kritik ausgenommen bleiben und einen blinden Fleck im Bewusstsein neusachlicher Künstler andeuten. 11 Nagel konzentriert sich auf diesen Punkt. Und sie nimmt eine Verschiebung vor: Schauplatz von Auseinandersetzungen ist nicht länger die Schule bzw. die Gegenwart, sondern ein Leben in naher Zukunft: als Künstlerin. Damit entfällt ein konkreter Kontext - die Klasse, Stadtlandschaften, Zonen urbaner Aktivität. Nagel isoliert ihre Paare, stellt sie in kaum skizzierte Innenräume, seltener nach außen und verbindet sie nur ausnahmsweise mit einer konkreten Umgebung. Straße, Innenräume (oft Atelier oder Schlafzimmer) haben kaum Wiedererkennungswert, sondern bleiben Schauplätze eines Dramas, das (von wenigen, noch zu besprechenden Ausnahmefällen abgesehen) keine Fremden duldet und durch die Unbestimmbarkeit des Ortes ins Zeitlose gehoben wird. Damit befreit sie ihre Darstellungen von allem, was sich als rein persönlich abtun oder anekdotisch verharmlosen ließe. Denn es geht Hanna Nagel nicht allein um ein mit bestimmten Personen und Namen verbundenes Geschehen, sondern um ihre Zukunft als Künstlerin, als Mensch in exemplarischer Form. Mit Anfang zwanzig kann sie weder ihrem Kinderwunsch nachgeben, noch ein freizügiges Leben führen wie ihre Mitschüler, ohne dass es ihr Studium, ihre familiäre Sicherung (den Vater hatte sie bereits als Sechzehnjährige verloren) gefährdet hätte. Trotzdem spielt sie gedanklich die verbleibenden Gefahren und Chancen von Paarkonstellationen durch, die mit Kindern rasch an Komplexität und Konfliktpotential gewinnen. Wie im Rausch entsteht Szene um Szene: meist schwarz-weiß, bisweilen durch rötliche und gelblich-braune Farben akzentuiert. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass sie nicht in narrativer Abfolge bzw. in Form eines grafischen Zyklus erscheinen, sondern in loser Folge, mit Bildpaaren, Themen und Verknüpfungen, die oft an Träume erinnern. Mal kleidet sie ihr stets in Portraitähnlichkeit mit Nagel und Fischer auftretendes Paar in Kostüme der Vergangenheit, mal entscheidet sie sich für eine den zwanziger Jahren gehörende karge Modernität der Erscheinung, bei der für den weiblichen Part Brille und Bubikopf nicht fehlen dürfen, während für den männlichen Part gravierendere Veränderungen zu beobachten sind, denn Hans Fischers Konterfei wird durch eine Glatze verändert und brutalisiert. Nicht selten ist er mit verbundenem Kopf oder aufgeklapptem Schädel zu sehen, aus dem sein Hirn in wurmartigen Windungen quillt, ohne dass dieser Zustand seine Aktionsfähigkeit einschränkt. Mit diesem offenen, keinerlei Geheimnisse bergenden Gehirn bestreitet er sein Leben als Künstler, Geliebter, Ehemann oder Vater. 336

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Wie sie als Kerze gleichsam mit sich selbst brennt, so arbeitet Nagel mit dem eigenen Abbild und dem ihres Mitschülers, um die Herausforderungen einer Künstlerehe nicht nur gedanklich, sondern auch visuell durchzuspielen. Ihre formalen Mittel sind vielfältig; sie variiert Figuren und Größen, arbeitet mit Bedeutungsmaßstab, schafft zahlreiche Versionen des durchgängig kenntlichen Paars, erzeugt winzige Varianten des eigenen oder fremden Ichs - oft im gleichen Bild - , wie sie überhaupt durch den Einsatz multipler Persönlichkeiten das psychische Terrain erkundet, auf dem sie sich mit Anfang zwanzig während der Zeit bewegt, als Theodor Hendrik van de Veldes erste Veröffentlichungen - darunter „Die vollkommene Ehe" (1926), „Die Abneigung in der Ehe" (1928), „Die Erotik in der Ehe" (1928) und „Die Fruchtbarkeit in der Ehe" (1929) erschienen, während gleichzeitig heftige Debatten zum Abtreibungsparagraphen u.a. mit Beteiligung von Helene Stöcker, Martha Ruben-Wolf, Käthe Frankenthal und Else Kienle (1924-1932) geführt wurden. 12 Hanna Nagel scheint bis in die Themen und die Titelvergabe hinein nicht unberührt von solchen Debatten. Die Dyade des Paars wird bisweilen durchbrochen von einer Rückbesinnung auf die erotisch bestimmte Trinität von Schülerin, Lehrer und Schüler (Nagel-Hubbuch-Fischer); doch die entscheidende Krise wird durch ein Kind oder mehrere Kinder (meist Säuglinge) ausgelöst, da ihre bloße Existenz das kaum gewonnene Gefüge eines Zusammenlebens, was auf Fotografien dieser Zeit als Nebeneinander von zwei in ihre Arbeit vertieften Menschen ohne künstlerische Interferenzen erscheint [Abb. 1], außer Kraft setzt bzw. nach einem neuen Arrangement verlangt. Modelle für eine die Kreativität beider Eltern schützende Arbeitsteilung waren nicht in Sicht. Auch die Hoffnung auf faire Lösungen, auf einen Bruch mit sexualisierten Machtverhältnissen wurde enttäuscht, weil sich Männer zwar zunehmend von paternalen Aufgaben entlasteten und die Sorge für ihren eigenen Lebensunterhalt oder den ihrer Kinder gern Frauen überließen, um sich frei ihrer Kunst widmen zu können, andererseits aber auf ihren Privilegien bestanden, ohne dem Pflichkanon des traditionellen Ernährers und Vaters genügen oder einen Teil der bislang als weiblich geltenden Pflichten übernehmen zu wollen. Auch Künstler ernteten die Früchte der Emanzipation, ohne ihre Haltung Frauen gegenüber auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Zerreißprobe zwischen traditionellen und emanzipatorischen Forderungen spielt sich vorwiegend im weiblichen Individuum ab und hinterlässt nur schwache Spuren im männlichen Bewusstsein, während es im weiblichen Leben neue Schärfe gewinnt, da die Ehe und das mit hohen Risiken für Frauen belastete „freie" Zusammenleben doch eine Gefahr für eben jene Werte darstellte, die im Hinblick auf die Kunst bereits während der Ausbildung auch von Künstlerinnen verinnerlicht worden waren. Doch nicht in der relativen Öffentlichkeit der Akademien wurde die Probe aufs Exempel gemacht, sondern im privaten Raum. Wie wenig offen dieser Raum tatsächlich für individuelle Lösungen, wie stark die Zuarbeit von Frauen für männliche Karrieren von Künstlern und. Künstlerinnen verinnerlicht und durch die Gewöhnung an weibliche ErwerbsarZ u Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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beit (mit dem 1890 geborenen Mitschüler Willi Müller-Hufschmid hatte Nagel in Karlsruhe mindestens ein Beispiel dafür vor Augen) 1 3 sogar noch verschärft worden war, sollte sich noch unzählige Male erweisen. Der für Männer selbstverständliche Zuwachs an Anerkennung blieb für Versorgerinnen modernen Stils aus. Frau und Kind bleiben randständige Figuren, mit denen der Ernst und die Humorlosigkeit des sich mächtig und übergroß in den Vordergrund drängenden Künstlers wie in Müller-Hufschmids „Selbstbildnis mit Frau und Sohn" von 1929 [Abb. 7] dennoch nach dem Schema des aktiven Ernährers motiviert wird, der den in den Hintergrund gedrückten Figuren nur periphere Bedeutung beimisst. Bald hatte Karlsruhe sich für Hanna Nagel erschöpft. Hubbuch selbst riet zu einer Veränderung. Er hatte ihr „Abrutschen ins Bürgerliche" (gemeint waren Fahrten nach Hause) bereits kritisch vermerkt und empfahl ihr erst eine andere Haltung und nun ein herausforderndes Umfeld: Berlin. Es war kein schlechter Rat. Als Zentrum politischer Auseinandersetzungen war die Stadt Mittelpunkt neuester künstlerischer Entwicklungen, an die sich rasch Anschluss gewinnen ließ. Hubbuch dachte an Emil Orlik, seinen eigenen Lehrer, bei dem er Anfang der zehner und zwan-

Abb. 7 Willi Müller-Hufschmid Selbstbildnis mit Frau und Sohn, 1929 Öl, zerstört 338

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ziger Jahre studiert, in dessen Klasse und weiterem Umfeld er George Grosz und Rudolf Schlichter kennengelernt und Anregungen der veristischen Richtung aufgenommen hatte, die ihn zu einem der beachtetsten Repräsentanten der neuen Sachlichkeit in Süddeutschland machen sollten. Hanna Nagel fährt im Herbst 1929 in die Hauptstadt. Hans Fischer folgt ihr. „...ich erhoffe alles von Berlin", schreibt sie optimistisch. 14 Beide setzen ihr Studium an den Vereinigten Staatlichen Schulen für freie und angewandte Kunst fort: konkret bei Hans Meid und Emil Orlik. Hanna Nagel gewann in Orlik einen vielseitigen und anregenden Lehrer, der nicht nur ihr technisches und gestalterisches Fortkommen im Auge hatte, sondern sich auch Gedanken über seine Schülerin machte. Nach seiner Einschätzung hing ihre Zukunft als Grafikerin davon ab, wie sie ihr persönliches Leben führen würde: asexuell und kinderlos oder frei - mit existentiellen Risiken. Die Zukunft hing - allen von Hubbuch angeratenen antibürgerlichen Attitüden zum Trotz - für eine Künstlerin mit Kinderwunsch eben auch von jenem Maß an „Ordnung"

Abb. 8 Hanna Nagel Familie, November 1930 Kolorierte Federzeichnung 3 0 x 2 3 cm Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe

Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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und Berechenbarkeit ab, w i e sie selbst die angesehene Käthe Kollwitz mit ihrer Ehe wahrte, wobei sie die Einstellung der nachfolgenden Künstlerinnengeneration im Hinblick auf sexuelle bzw. Fragen eheloser Mutterschaft genau beobachtete und positiv einschätzte. 1 5 Das Jahr 1930 ist für Nagel besonders ertragreich; die neue U m g e b u n g , die Freiheit der Großstadt geben Impulse. Die Fülle der Konstellationen, w i e sie in den Graf i k e n dieser M o n a t e erkennbar sind, ist derzeit k a u m in eine Reihen- u n d R a n g f o l g e zu bringen; dennoch zeichnen sich Schwerpunkte und charakteristische Ubergänge zwischen den gewählten und ständig neu variierten Themen ab. Stille Begleiter der Paarszenen sind Staffelei oder Spiegel; so in „Ehe" (Mai 1930), das eine Frau versunken vor ihrem W e r k zeigt, während im Hintergrund ein Mann mit geballten Fäusten tobt. In „Familie" vom November 1930 [Abb. 8] kehrt sich die nun um ein Kleinkind erweiterte Konstellation um: Im Vordergrund steht die Künstlerin

Abb. 9 Hanna Nagel Veto Veto... Oktober 1930 Kolorierte Federzeichnung 20x13,5 cm Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe 340

Renate Berger

als Mutter, während der entblößte Mann im Hintergrund sich mit preziöser Gestik seinem Spiegelbild zuwendet. Da Nagel und Fischer im Portrait erscheinen, wird deutlich, dass es sich um ein Kiimtler^zzx

handelt.

Der männliche Part wird in einer Variante vorgestellt, die zwar sexuelles Entgegenkommen, nicht aber die Früchte eines solchen Entgegenkommens will; mehrfach erscheint Hans Fischer überschmal und übergroß - einmal sogar mit Heiligenschein im Gewand eines Geistlichen, der Herz und Penis mit Kreuzen vor weiblicher Lust schützt oder in einer Kaskade herabstürzender Buchstaben sein „Veto" einlegt, während er auf eine winzige, nackte Frauengestalt tritt [Abb. 9]. Bisweilen trifft sich das auf rein sexuelle Kontakte gerichtete Begehren des Mannes mit dem um Kinderwünsche erweiterte Begehren der Frau, was alle ungelösten Fragen der Liaison mit einem Schlag offenlegt. Das mit einem christlichen Symbol gepanzerte Männerherz deutet in böser Ironie auf die Verkehrung von Keuschheit und strategisch maskierter Lust hin.

Abb. 10 Hanna Nagel Das reiche Herz Oktober 1930 Kolorierte Federzeichnung 26x19,8 cm Irene Fischer-Nagel, Karlruhe Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Sexuelle und existentielle Sicherungen oder Risiken werden noch in anderer Form miteinander verbunden und in zwei ebenfalls im Oktober und November 1930 entstehenden Zeichnungen für Mann und Frau gleichermaßen durchgespielt. In „Das reiche Herz" [Abb. 10] liegt eine Frau halb entkleidet im Bett, auf dem ein Mann (Hans Fischer mit aufgeklapptem Schädel) sitzt und Geld in sein Portemonnaie zählt, das der durch einen klaffenden Schnitt geteilten Brust der Frau entquillt. Es sind Geldstücke, keine Scheine. Die Ausbeute ist gering, wird aber mit der Gier, wie sie Geizhälsen eigen ist, M ü n z e um Münze in Besitz genommen. Das Männerherz liegt ebenfalls frei, gibt aber nichts her. In „Schmarotzer" [Abb. 11] kehrt sich die Situation um; eine am Tisch zeichnende, durch ihre Linkshändigkeit an Hanna Nagel erinnernde Künstlerin, fängt mit der Rechten in einer Schale Blut auf, das dem Herzen des neben ihr stehenden Mannes entquillt. Auch hier ist die Ausbeute gering; ein Schälchen genügt, um es aufzufangen. Motiviert wird die achtlose, durch keinerlei Blickkontakt unterstützte Geste durch ein Kleinkind neben dem Tisch. Der Hintergrund teilt sich hinter dem kahlen Schädel des Mannes; links erscheint auf einer Zeichnung ein weiteres Paar (Hubbuch und Isai), rechts entsteht eine Leere. Beide Teile dieses Hintergrundes werden durch den die

Abb. 11 Hanna Nagel Schmarotzer November 1930 Kolorierte Federzeichnung 23,4x21,4 cm [mit handschriftlichem Vermerk von Hanna Nagel: „Hubbuch und Isai"] Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe 342

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Glatze des Mannes umschwebenden Heiligenschein verbunden. Der Titel „Schmarotzer" gibt insofern Rätsel auf, als er Frau und Kind meinen könnte, weil beide von der Substanz des Mannes profitieren; er könnte aber auch andeuten, dass die Leistung der arbeitenden Künstlerin und Mutter anulliert, für unerheblich gegenüber dem vom Manne erhofften Versorgerstatus erklärt wird. Kinder unterziehen das Paar, besonders das arme Künstlerpaar, einer Prüfung besonderer Art. Ihre (teils gefürchtete, teils erhoffte) Existenz legt Erwartungen frei, die keiner Logik folgen, sondern Versatzstücke unterschiedlicher Gewohnheiten und Träume je nach Gefühls- und Finanzlage neu montieren und Mann oder Frau auch als Opfer ihres „Kindersegens" erscheinen lassen. Hanna Nagel macht die wachsende Passivität eines Künstlers bei zunehmender Aktivität einer Künstlerin deutlich. Männliche Arbeitsmotivation und Erwerbsbereitschaft werden kritisch beleuchtet. 1930 bedenkt die Künstlerin einen in seine Tätigkeit vertieften Zeichner mit dem von böser Ironie zeugenden Titel „Mein Mann arbeitet". Paternale Fürsorge, das Verdienen für eine Frau bzw. Familie versteht sich bei Künstlern und auch sonst keineswegs mehr von selbst; sie muss nun eigens betont werden. Im August des Jahres folgt

Abb. 12 Hanna Nagel Das soll Liebe sein August 1930 Kolorierte Federzeichnung 24,5X21,5 cm

Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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eine weitere Zeichnung aus demselben Themenkreis: Hier wird der Mann mit beiden, über Zeichenblättern gefalteten Händen am Arbeitstisch festgenagelt - von einer Frau, die jetzt mit offener Aggression und Enttäuschung den Blick des traurig schauenden, misshandelten Mannes sucht [Abb. 12]. Die Phantasie des Festnagelns hat gleichermaßen Aufforderungs- und Bestrafungscharakters, wird aber von männlicher Seite nur mit passivem Widerstand bedacht. Hanna Nagel zeigt sich nicht allein im Hinblick auf die Abweisung weiblichen Begehrens, weiblicher Potenz, das Ausbleiben männlicher Fürsorge, sondern auch im Hinblick auf die Quellen männlicher Inspiration als illusionslose Beobachterin. In „Die Tusche" (Oktober 1930) sitzt das Paar am Tisch, es hört Musik. Der Mann schickt sich zur Arbeit an. Seinem Tuschfass entwindet sich eine winzige nackte Frau, die vom Künstler sofort mit dem Zeichengerät durchbohrt und von der am Tisch sitzenden Person (sie trägt Hanna Nagels Züge) aufmerksam betrachtet wird. Es ist ihr Kommentar zu Hans Fischers im Zyklus „Der Kunstschüler" (1928/29) formuliertem Diktum „Die verdammten Weiber sind nicht aus dem Kopf zu kriegen". Zeigte sich Fischer desillusioniert vom Akademiebetrieb, wird hier Nagels Skepsis im Hinblick auf „hehre" Quellen männlicher Kreativität deutlich, die sie schon bei ihrem Lehrer Hubbuch mit Ironie bedacht hatte [Abb. 2]. Bereits im Mai 1928 war das Motiv in einer Lithographie behandelt worden, diesmal ohne dem Künstler Fischers Kopf zu geben, während die Frau Nagels Züge trägt. Der Mann sitzt mit dem Rücken zu einer Frau, die dicht hinter ihm durch einen Säugling stillgestellt scheint, an seiner Staffelei und berührt die Skizze einer nackten weiblichen Figur, wobei sein Blick träumerisch über Mutter und Kind hinweg in die Ferne schweift. Der Titel „Die unvollkommene Ehe" parodiert einen Buchtitel van de Veldes und macht die wechselseitige Frustration deutlich. Beide, Künstlerin und Künstler, sind einem Begehren ausgeliefert, das sich nur schwer vom Allgemeinen ins Besondere führen, von vielen Möglichkeiten auf eine einzige festlegen lässt. In zwei Federzeichnungen spielt Nagel Variationen der Paarbildung durch: „Kameraden" vom August 1930 zeigt im vertrauten Ambiente von Zeichentisch und Grammophon (das auf vielen frühen Zeichnungen auftaucht) ein nachdenkliches Paar: Er pausiert gerade beim Zeichnen; sie hat die Hände passiv gekreuzt und wirkt wie eine lebende Barriere zwischen Arbeit und Vergnügen. In „Verlobtes Paar" (Oktober 1930) wird der weibliche Besitzanspruch durch eine bei der Darstellung von Künstlerpaaren männlicher Provenienz meist Männern vorbehaltene Geste deutlich, indem Nagel ihre Linke (Arbeitshand) auf die Schulter des Verlobten legt. Auch traditionelle Blickbahnen haben sich verkehrt: Die Künstlerin schaut aus dem Bild, während Fischer sich ihr zuwendet. Doch Nagel belässt es nicht bei der Umkehrung des gewohnten Bildschemas; es gibt Zeichnungen, in denen sie den Verlust an Freiheit für beide artikuliert und ihren „Leibgebern" gleichermaßen ein hölzernes Brett anlegt, das die Trennung von Kopf und Leib für Mann und Frau zu besiegeln scheint („Die Ehe", August 1930). 344

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Eines ihrer Themen im Zusammenhang mit dem Künstlerpaar ist wechselseitige Grausamkeit. Auf einer undatierten Zeichnung packt Hanna Nagel den zur Puppe geschrumpften Fischer mit ihrer Rechten und hält das abgetrennte, noch blutende Armchen des Mannes in ihrer Linken. Die Unterschrift lautet:„Ich bin quälerisch veranlagt, ein Sadistlein". Andererseits wird Fischer gezeigt, wie er mit der Zeichenfeder eine winzige, ebenfalls nackte Frau durchbohrt; sonst kommt seine Grausamkeit eher in der abweisenden Haltung, seiner provozierenden Passivität oder Weigerung zum Ausdruck, die Rolle des Ernährers zu übernehmen. Aggressionen erwachsen nicht zuletzt aus der Tatsache, dass künstlerische Notwendigkeiten vor dem Hintergrund gemeinsamer Armut nicht länger mit Männer- oder Frauen-, Vater- oder Mutterrollen harmonieren - zumal in einer Zeit und einem Umfeld, die nicht für den Umgang mit neuen Anforderungen gerüstet sind. Van de Veldes Idee von „Vollkommenheit" wird als weltfremd zurückgewiesen und bitterem Spott ausgesetzt, die Zerreißprobe im Kampf um eine künstlerische Zukunft bei gleichzeitigem Beharren auf dem Wunsch nach sexueller bzw. generativer Freiheit aus weiblicher Sicht kommentiert. Grundtenor der Kritik ist die von Nagel am Beispiel ihres Mitschülers und späteren Geliebten empfundene Diskrepanz zwischen männlicher Anmaßung einerseits und männlichem „Versagen" andererseits, die für sie in der Weigerung, für Frau und Kind, für eine Künstlerin zu sorgen, d.h. im Abschied vom paternalen Wert- und Pflichtkanon zum Ausdruck kommt. Auf einer Zeichnung ohne Titel vom September 1930 [Abb. 13] spitzt sich diese Enttäuschung zu: eine Protagonistin der „neuen Frau" richtet ihre Waffe auf einen künstlich erhöhten Mann, der die Züge Hans Fischers trägt und durch den Schuss vom übergroßen Sockel fällt, der ihn hoch über die auf dem Boden stehende Gestalt erhoben hat. Er ist in Hermelin gekleidet, trägt eine Krone und hält die Hände nach Art von Müßiggängern in den Taschen, wobei er starr wie ein Denkmal nach hinten fällt. Die Verbindung von noblen Versatzstücken patriarchaler Herrschaft mit einem nonchalanten Habitus verweist auf die Diskrepanz von Anmaßung und Können, von Ehrgeiz und der Unfähigkeit, das Repräsentierte auch zu leben. Defizite werden nach Art eines Faschingskostüms ummäntelt; doch die Zeichen maskuliner Überhebung täuschen niemanden mehr. Das weckt die Mordlust „neuer Frauen", die sich zwar - wie Männer - dem Existenzkampf stellen müssen und wollen, als Schwangere oder Mütter aber in einen vormodernen Status zurückgestoßen werden. Die Frage, wie Mutterschaft mit Erwerbsnotwendigkeiten und künstlerischer Entfaltung vereinbart werden kann, die Frage, welche Konsequenzen sich aus der um ein Kind erweiterten Paarbeziehung ergeben können und die daraus resultierende Entfremdung beschäftigt Nagel wie viele Künstlerinnen der zwanziger Jahre. Weil die Arbeit des Paars gleichermaßen von künstlerischer Ambition und Erwerbsnotwendigkeit geprägt ist und es sich aufgrund seiner Armut stets auf knappstem, um Z u Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Abb. 13 Hanna Nagel Ohne Titel 9. September 1930 Pinsel- und Federzeichnung, 2 6 x 1 8 cm Irene Fischer-Nagel, Karlruhe

Tisch oder Bett zentrierten - dazu noch mit Kindern gefüllten - Raum einfindet, stellt sich bei großer leiblicher Nähe rasch eine innere Distanz ein. Mutter- und Vaterrolle beanspruchen nun alle Aufmerksamkeit. Hanna Nagel experimentiert mit dem Madonnenschema, das sich bei dem zwischen Frau und Kleinkind nötigen Körperkontakt kaum umgehen lässt und einer rein äußerlichen Assoziiertheit des (innerlich unbeteiligten) Mannes. „Ein Heiligenschein aus Pappe" vom November 1930 kommentiert die Entwertung der Mutterschaft, indem sie anstelle des Heiligenscheins, mit dem Madonnen bedacht wurden, eine Pappscheibe setzt, die dazu noch vom Mann gehalten werden muss. Mutterschaft wird mit madonnenhafter Immobilität, allerdings auch mit kreativem Mut verbunden, der Anfang der dreißiger Jahre allerdings einer unübersehbaren Skepsis weicht. Gearbeitet werden muss trotz und wegen der Kinder. An die Stelle freier kreativer Impulse hat sich der weibliche Erwerbszwang gesetzt. Nicht „A Room of One's Own" ist mehr das Problem - obwohl sich dieser Raum oft nur auf einen, dazu vom 346

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Mann ebenfalls benötigten Tisch bezieht - sondern Zeit. Sie wird knapp und wird mehr und mehr von mütterlichen Versorgungsleistungen einerseits und professioneller, auf den Verdienst ausgerichteter Routine andererseits bestimmt, weil der KünstlerVater als Ernährer ausfällt. Doch sobald er selbst die madonnenhaft vorgeprägte Position einnimmt, indem er sein Kind im Arm hält, mobilisiert er die anwesende Frau und verschafft ihr einen physischen, erotischen, gedanklichen und infolgedessen auch kreativen Freiraum, was dazu führt, dass sie sich von ihm abwendet. Im November 1930 entsteht eine der raren Szenen, die das Paar in Harmonie mit seinem Kind zeigt (im Vordergrund hält der Vater den Säugling im Arm und die Mutter berührt es), während der Hintergrund von mehreren Säuglingen in Steckkissen und einer melancholischen Frauengestalt beherrscht wird; der Titel „Gedanken über das Bild von Otto Dix: Straßenkampf" verweist auf einen über die familiäre Harmonie hinausreichenden Kontext. Der Vater erscheint - mit einer Familie als lebenden Modellen wie in „Meine Kinder sehen so jüdisch aus" (Oktober 1930) zeichnend oder wie in „Schrecken (Der Vater)" „Kronen und Regenwürmer, Himmel und Erde" (beide November 1930) vom Nachwuchs distanziert, mit eigenen Werken assoziiert und nimmt eine Mittlerposition zwischen Arbeits- und Leibesfrüchten ein, wobei er seinen Werken stets näher rückt als den Kindern [Abb. 14]. In „Unheilvolle Ehe" wird die männliche und weibliche Position innerhalb eines Elternpaars, d.h. der Verbindung von zwei künstlerisch aktiven und ambitionierten Menschen, kommentiert. In einem schweren Karren, dessen Holzräder laut über das Straßenpflaster rollen, ohne dass irgendjemand aufmerksam würde, liegen zwei Kleinkinder in der von verschnürten, aus Zeichnungen bestehenden Packen freigelassenen Ecke des Gefährts, das die Aufschrift „Fische" (für Fischer?) trägt. Die Frau bewegt den Karren allein. Der Mann lehnt sich an, verstärkt die Last, schwingt dafür aber eine Glocke, um Aufmerksamkeit zu erwecken. Doch in den schwarzen Fenster- und Türöffnungen am Straßenrand erscheint kein einziges Gesicht. Die Kunst der beiden erweckt nicht das geringste Interesse; auch ihre offenkundige Verkaufsabsicht fällt ins Leere. Neugier, Anteilnahme sind von niemandem zu erwarten. Der Künstler produziert, aber er zieht nicht mit am Karren der um Kinder erweiterten „Gemeinsamkeit". Er hat sich vom Kanon als männlich geltender und von manchen Männern auch realisierter Tugenden verabschiedet und konzentriert sich auf die Zeichen, nicht auf die Substanz von Männlichkeit. Dieser Rückzug wird von weiblicher Seite sofort mit verdoppelter Anstrengung beantwortet. Frauen, die angetreten waren, ihren Teil an einer nur gemeinsam zu erbringenden Leistung zu übernehmen, sehen sich nun mit der ganzen Arbeit, der alleinigen Verantwortung befrachtet. Auch bei Hanna Nagel zieht die „neue Frau" den Karren und vergisst darüber - anders als Männer - dass Klappern zum Geschäft gehört. Für Künstlerinnen sollte sich die Konzentration auf die Substanz ihrer Arbeit zuungunsten der öffentliZu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Abb. 14 Hanna Nagel Kronen und Regenwürmer - Himmel und Erde, November 1930 Aquarellierte Federzeichnung, 26,3X22,3 cm Irene Fischer-Nagel, Karlruhe

chen Repräsentation ihrer Individualität als besonders verhängnisvoll für ihre Wirkung zu Lebzeiten und ihre posthume Anerkennung erweisen. Hanna Nagel stellt ein armes Paar in den Mittelpunkt ihrer frühen Zeichnungen. Wir sehen einen Mann, eine Frau, Kinder, die sich ebenso rasch vervielfältigen wie die Personifikationen der Eltern. Es ist die Armut ehrgeiziger, noch nicht avancierter Menschen, deren Existenz durch die Folgen gelebter Sinnlichkeit im Kern bedroht ist. Allein verantwortete und deshalb geächtete Mutterschaft oder (die mit langjähriger Zuchthausstrafe bestrafte, unter damaligen Verhältnissen lebensgefährdende) Abtreibung werden als bedrohlich empfunden, doch das Ziel, trotz der Erfüllung des Kinderwunsches eine kreative Zukunft zu haben, endet unter Verzichtsleistungen in einem Meer von Widersprüchen. Hierin mag ein Grund dafür liegen, warum Hanna Nagels Konvult an frühen Zeichnungen und Lithographien nicht die Form eines Zyklus annehmen konnte, dessen relative (bereits von Max Klinger in seiner „Paraphrase Ueber Den Fund Eines 348

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Handschuhes" von 1878-1881 schließlich aufgegebene) Ordnung sich für das moderne Bewusstsein längst überholt hatte. Schon Klingers Traumsequenzen verzichteten nicht nur auf eine narrative Durchgängigkeit, sondern auch auf eine visuelle Logik im Bereich der Bildelemente. 16 1924, vier Jahre, bevor Hanna Nagel mit ihren Paarbildnissen beginnt, erschien Arthur Schnitzlers Erzählung „Fräulein Else". Die Form des inneren Monologs, den der Autor für die Darstellung der Krise, die wachsende Erregung bis zum Selbstmord der Protagonistin wählt, wird von Hanna Nagel auf das Medium der Zeichnung übertragen. Ihr Frühwerk verdankt sich einem Bewusstseinsstrom, der diese Blätter wie Eisschollen vor sich her trägt und Welle um Welle gegeneinander verschiebt: spontan, assoziativ und doch einem Formwillen verpflichtet, der sich szenisch, ohne narratives Gerüst, bewähren muss und die Durchdringung von Traum und Wirklichkeit zulässt. Hanna Nagel spielt Konstellationen durch: das Künstlerpaar im Verhältnis zu einem gemeinsamen Lehrer, zum Werk, zur Arbeit, zum Kind. Die Ziegel einer Wand, grobes Straßenpflaster repräsentieren eine Umwelt, die nur indirekt, über Zeichnungen, Skizzen, entstehende Arbeiten mit in die Darstellung genommen wird; die Position des Dritten, der bereits in Klingers Handschuhzyklus eine tragende Rolle spielt, wird mal von einer anonymen Männergestalt, bisweilen auch von einem Grammophon oder Kind, mal von Hubbuch oder ihren neuen Berliner Lehrer, Emil Orlik, eingenommenso in „Geld" vom November 1930 [Abb. 15]. Er blickt das Paar im Hintergrund nur über die Schulter, dazu mit einem Monokel im Auge an, Sinnbild der Arroganz, aber auch skeptischer Sorge. Das Künstlerpaar im Hintergrund vermeidet ebenfalls einen allzu direkten Blickkontakt. Der Mann schaut nur auf die Frau, die Frau füttert einen Säugling und wendet sich zögernd ihrem Lehrer zu. Er wird als kraftvoller, alter Mann dargestellt, der mit beiden Beinen schon übertrieben fest auf der Erde steht. Ihm ist im Überfluss gegeben, was dem Paar im Hintergrund fehlt: Geld. Achtlos steht er auf Münzen, die wie Goldstücke im Märchen schwer aus seinen Taschen rollen, während der „Reichtum" der jungen Leute, die bei ihm noch in die Lehre gehen, keinen materiellen, sondern nur einen leiblichen Ausdruck findet: im Kind. 1 7 Emil Orlik zeichnete sich als Grafiker vor allem dadurch aus, dass er neuere Entwicklungen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg wahrnahm und in seine Bildwelt integrierte. Knapp zwei Jahre vor seinem Tod, alt und arriviert genug, um weiblicher Konkurrenz keine Bedeutung für die eigene Karriere mehr beizumessen, lag ihm etwas am Fortkommen der neuen Schülerin. Hanna Nagel gehörte zu den vielversprechenden Nachwuchsbegabungen; deshalb sah er in der Ehe eine Gefahr für ihre künstlerische Zukunft. Außerdem gab es da noch Käthe Kollwitz, die als weibliche Leitfigur unverhofft in jene Rolle des ewigen Vergleichs- und Bezugspunkts gerückt wurde, die im 18. und 19. Jahrhundert Angelika Kauffmann gleichfalls ohne ihr Zutun eingenommen hatte, Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Abb. 15 Hanna Nagel Geld (Orlik) November 1930 Kolorierte Federzeichnung 21,2X19,5 cm Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe

denn es gab zeitweise keine Künstlerin von Rang, die nicht mit der berühmten und verehrten Malerin verglichen wurde, und zwar unabhängig von der Art, Qualität und Intention ihres eigenen Werks. 18 Phantasielosigkeit, Wirklichkeitsferne und Unkenntnis hatten dazu geführt, dass die Penetranz des Vergleichs mit einer Künstlerin für alle oder doch fast alle übrigen Künstlerinnen auch im späten 19. (man denke an Rosa Bonheur) und im 20. Jahrhundert keineswegs nachließ. Die Leitfigur wechselte, das Muster blieb. Im Feld der kritischen zeitgenössischen Kunst nahm Kollwitz - obwohl sie nicht den Veristen der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen war - nach wie vor eine herausragende Position ein. Für eine junge Grafikerin, die sich zudem mit Werken der gerade aktuellen Leitfigur auseinandergesetzt hatte, war der Vergleich mit Kollwitz dennoch eine zweischneidige Sache, u.a. deshalb, weil sie derselben Generation angehörte wie Emil Orlik. Falls er die frühen Zeichnungen und Grafiken Hanna Nagels zu Gesicht bekam was nicht unwahrscheinlich ist - , reagierte Orlik auf die durch Stellvertretungsfiguren 350

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ausgetragenen Konflikte; andererseits konnte er sich der Wirkung der Tatsache, dass all diese Paare die Züge von Hanna Nagel und Hans Fischer trugen, gewiss kaum entziehen. Der Block, der ihn in „Geld" [Abb. 15] von der „Familie" im Hintergrund trennt, spricht für eine Intervention. Dieser Lehrer sorgte sich um die künstlerische Zukunft seiner Schülerin, ohne Alternativen aufzeigen zu können. 19 Kollwitz, inzwischen Mitte sechzig, rechnete die junge Grafikerin ebenfalls zu den „sehr begabte[n]" Nachwuchskräften. Obwohl Hanna Nagel wohl nur wenige Kontakte in Berlin aufnahm, gehörten neben Renee Sintenis und Emil Rudolf Weiß bald auch die Künstlerin dazu, als deren „Nachfolgerin" sie gehandelt wurde. Im Mai 1932 findet sich folgende Notiz im Tagebuch von Kollwitz: „Es hat mir freilich einen Stoß gegeben, daß diese [Hanna Nagel] nicht ein Kind gehabt hat, wie man mir sagte, und daß sie es verloren hat. Auch scheint sie mir erotisch etwas pervers. Aber ihre Arbeiten ziehn mich doch sehr an, sind eigen und gekonnt. Komplexe hat sie freilich die Fülle."20 Ermutigt von Orliks Wahlspruch „Intensität ist alles", erprobt die fünfundzwanzigjährige Grafikerin ihre Ausdrucksmittel auf der Suche nach immer neuen Facetten des Paarthemas. Die Konventionen der Neuen Sachlichkeit, des Angriffs auf „die Gesellschaft" mit ihren schematischen Schuld- oder Unschuldsvermutungen, ihren Typisierungen und ihrem Rückgriff auf frühe Formen des Klassenkampfes konnte und wollte sie nicht nachvollziehen. Sie vertraute ihrem Medium im Sinne Max Klingers, der in seinem Essay „Malerei und Zeichnung" von 1891 die Zeichnung als Hort künstlerischer Subjektivität, als Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit der Welt sah. Während die Malerei nach Klinger zu „reinem Genießen" auffordert, „entwickelt die Zeichnung in der gleichtönigen Folge von Bildern in schnellem Wechsel ein Stück Leben mit allen uns zugänglichen Eindrücken. Sie mögen sich episch ausbreiten, dramatisch sich verschärfen, mit trockener Ironie uns anblicken: nur Schatten, ergreifen sie selbst das Ungeheuerliche, ohne anzustoßen". 21 Während Anton Räderscheidt in seinen Paardarstellungen aus den zwanziger Jahren Wert auf Kulissen in Form von monoton abweisenden Architekturen legt oder (wie in den Sportbildern) Vorwände sucht, um weibliche Nacktheit neben männlicher Verpuppung zu motivieren, bewegen sich Nagels Paare meist im Innern eines zum Atelier umfunktionierten Wohn- bzw. Schlafraums. Die wenigen Darstellungen, wo ein Außen (Mauer, Straße) angedeutet wird, sind meist frei von mitmenschlicher Gegenwart. Belebt werden die Szenen von Doppelgängerinnen: Hans Fischer und Hanna Nagel in winzigen Ausführungen ihrer selbst. Obgleich es niemandem in den Sinn kam, Räderscheidts Paarszenen als Ausdruck einer rein persönlichen Problematik zu deuten, Max Klingers erotische Obsessionen oder Rudolf Schlichters grausamen Fetischismus mit dem Odium der Belanglosigkeit oder individueller Defekte zu versehen, zeigt sich im Umgang mit Nagels Frühwerk nicht selten die Neigung, Darstellungen und Biographie gleichZu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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zusetzen oder die frühen Arbeiten als rein persönlich ohne gesellschaftliche Dimension zu begreifen. 22 Tatsächlich gibt es für das Gros der zwischen 1928 und 1931 entstandenen Zeichnungen aber so gut wie keine konkrete, benennbare Grundlage im Leben, die eine Gleichsetzung von biographischen und künstlerischen Phänomenen erlaubte. Hanna Nagel war Studentin, d.h. weder verheiratet, noch Mutter, noch erfahren im Zusammenleben mit einem Künstler, als ihr Frühwerk entstand. Sie durchkreuzt einen virtuellen Raum, der sich in ihren Phantasien über eine mögliche Zukunft immer wieder neu bildet - als Bewusstseinsstrom mit grafischen Mitteln. 23 Die Hochzeit erfolgt am 15. Dezember 1931. Zu diesen Zeitpunkt liegen die meisten Blätter bereits vor, und ihr Kind wird noch später, 1938, also etwa zehn Jahre nach der Entstehung der frühen Blätter zum Paarthema geboren. Der eigentliche, der fundamentale Stilwandel und Wendepunkt zwischen Früh- und Spätwerk findet nicht in Rom, sondern um die Jahreswende 1931/32, d.h. unmittelbar nach der Heirat statt. Von der Bilanz einer Künstlerehe, wie sie Charlotte Berend-Corinth nach dem Tod von Lovis Corinth zog, konnte Hanna Nagel nichts wissen, da Berend-Corinth sich erst Ende der vierziger Jahre zur Veröffentlichung entschloss.24 Dass ältere Künstler ihre Schülerinnen oder erwerbstätige Frauen heirateten und als Modelle bzw. Karrierebegleiterinnen einsetzten, war ein vertrautes Modell, doch für das, was einer jungen Künstlerin in den zwanziger Jahren vorschweben mochte, fehlte es nicht nur an Beispielen, sondern auch an Wissen um Beispiele. Denn Hanna Nagel wandte sich keinem arrivierten Künstler der Vätergeneration, sondern einen fast gleichaltrigen Mitschüler zu, der ebenfalls Mühe gehabt haben dürfte, sich anhand der ihm vorgelebten Geschlechterklischees auf anderes einzustellen. Deshalb wird der in den zwanziger Jahren kursierende Begriff der „Kameradschaftsehe" nur kurz gestreift und rasch verworfen: als trivial, als unlebbar. 25 Kulissen des Glücks werden ebenso radikal entfernt wie alles, was auf symbiotische Illusionen hindeutet. Es überwiegen Momente der Trennung, der inneren Bezugslosigkeit, der Einsamkeit im Erotischen, in der Arbeit, im Hinblick auf ein Kind. Glückserwartungen werden in ihrer Negativform deutlich: im Mangel an Geld, an Sicherheit, an Neugier und Anteilnahme. Weder Mann noch Frau bekunden spürbares Interesse am Werk des Gegenübers. Dass die von Veristen der Neuen Sachlichkeit gern in Anspruch genommene „Gesellschaft" für Hanna Nagels Paare keine direkte (wie oft kritisiert wurde), sondern eine indirekte, dafür aber um so dramatischere Rolle spielt, ist unübersehbar. Von einzelnen Reformen abgesehen, gab es in der Weimarer Republik keine Abkommen, keine politische Verständigung über eine neue Grundlage für das Geschlechterverhältnis. Die Konflikte zwischen Frauen und Männern werden gleichsam exterritorial, dem Zugriff einer zivilisierten Öffentlichkeit weitgehend entzogen in der Anonymität urbaner Winkel oder im „Privaten" ausgetragen; dort, in dunklen Straßen, Bordellen, in 352

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Häusern oder Mietwohnungen regieren Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Mord sexueller Zynimus und Unfreiheit. Künstler der zwanziger Jahre profitieren von Prostitution oder identifizieren sich mit Symbolen einer arroganten, von Hass zerfressenden Maskulinität wie Otto Dix in seinem Selbstbildnis als Lustmörder. Künstlerinnen profitieren nicht von diesen Zuständen, sondern sehen sich als potentielle Opfer solcher Mentalitäten. Sie inspirieren und berauschen sich nicht am Elend des anderen (in ihrem Fall männlichen) Geschlechts und sind eher in Gefahr, sich nicht mehr mit eigenen Augen sehen zu können, einer Kolonisierung ihres Bewusstseins beizuwohnen. Im Frühwerk von Hanna Nagel wird das aktuell Erfahrene und Wahrgenommene auf die Zukunft hochgerechnet. Der Prozess der Entfremdung und mentalen Kolonisierung ist nicht abgeschlossen; er wird erkannt und analysiert - übrigens ohne Schonung des weiblichen Parts. Die damalige Gesellschaft bietet keine oder nur unzureichende Rahmenbedingungen für Paare. Sie überträgt die Verantwortung dafür Männern und Frauen, die das Drama ihrer „Gemeinschaft" millionenfach, aber isoliert voneinander, unter dem Vorwand individueller Handlungs- und Entscheidungsfreiheit durchleben. Hanna Nagel führt diese Vereinzelung zum Exzess, sie verabschiedet die romantische Liebe zugunsten eines Pragmatismus, der die Bedeutung des Geldes nie aus den Augen verliert; denn allein der Mangel an Geld lässt den Mangel an männlicher Verantwortung und Erwerbsbereitschaft aus ihrer Sicht zur existentiellen Gefahr werden. Für eine der ersten regulären Studentinnen in der Weimarer Republik ließen sich nicht einmal in der Phantasie Leidenschaft und Kinderwunsch zusammendenken. In späteren Jahren widerstand Hanna Nagel nicht immer der Gefahr, sich dem aus einer patriarchalen Interessenlage erwachsenden Tunnelblick und der Abwertung des Weiblichen zu entziehen, 26 doch als Studentin artikuliert sie die Horizontlosigkeit eines Künstlerpaars in den zwanziger Jahren wie keine andere ihrer Generation. Das macht die Brisanz, die illusionslose Radikalität dieser Blätter aus. Hanna Nagel erfährt Wünsche als Grenzen. Erst in späteren Jahren findet sie den Mut auszusprechen, was sie am Anfang in Karlsruhe, in Berlin empfunden hat und nun als allgemeines Merkmal zu erkennen meint: „Ich glaube, das Unerbittliche ist das .Männliche' schlechthin". 27 Von Hans Fischer selbst fehlt jedes Echo, jeder Kommentar zum Frühwerk seiner Frau; es fällt bei ihm ins Leere, ins Sprach- und Bezugslose. Hanna Nagel entwickelt als Studentin eine Negativutopie der Künstlerehe. Vor ihrer Heirat konzentriert sie sich eher auf Gefahren als auf Möglichkeiten: in realistischen Szenarien. Sobald das Leben mit Hans Fischer konkrete Formen annimmt, begibt sie sich auf die Ebene eines magischen Symbolismus. Der Traum inspiriert Bilder einer künftigen Wirklichkeit; die Wirklichkeit selbst bringt Träume hervor. Die dem Frühwerk folgende Lebenspraxis eines Künstlerpaars ist für Hanna Nagel nicht darstellbar, der innere Monolog versiegt. Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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Doch die Brisanz des Frühwerks blieb ihr stets bewusst - und nicht nur, wie vermutet wurde, aus politischen Gründen. 28 Jahrzehnte verborgen, wurden die Blätter erst nach ihrem Tod im Nachlass entdeckt.

Anmerkungen F ü r wertvolle Hinweise danke ich Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe. 1

Letzte Zeilen des Gedichts „Ich will zuviel" von Irene Fischer-Nagel, In: Fischer-Nagel o.J., o.S.

2

Wille 1989, S. 5.

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D e r 1890 geborene Rudolf Schlichter, gleichfalls Student an der Karlsruher Kunstakademie, schreibt in seinen Lebenserinnerungen in moralisierendem, sich selbst ausnehmendem T o n : „Zu den unerfreulichen Erscheinungen dieser organisierten Schlamperei gehörten die weiblichen Modelle. A u c h sie entstammten zum größten Teil dem Dörfle. Sie rekrutierten sich hauptsächlich aus jener undefinierbaren Schicht von Frauen, die zwischen Prostituierten und Proletarierinnen ständig hin und her wechseln. Ihre Wirkung war bei der mangelhaften Kontrolle an der Schule eine durchaus demoralisierende. D u r c h die Einrichtung der Meisterateliers war jeder Ausschweifung T o r und T ü r geöffnet. Es verging kaum ein Semester, das nicht seine Skandale aufzuweisen hatte. Wie oft hörte man nicht, daß dieser oder jener sich angesteckt hätte [...] R ü c k t e einer in die Kategorie der Meisterschüler auf, so war die erste Frage, welche die C o l legen an ihn richteten, die nach der Chaiselonge. Dieses M ö b e l wurde allgemein als der wichtigste G e genstand einer Meisteratelier-Einrichtung angesehen. D e r Zynismus, mit dem man diese heiklen Dinge behandelte, war allgemein. A u c h die Professoren teilten ihn. Solange sich alles in den Akademiemauern abspielte, tolerierte man die schlimmsten Ausschweifungen. D u r c h nichts könnte man diese Lotterei besser illustrieren als durch die Bemerkung, die sich eines der hervorragendsten Mitglieder des Professorenkollegiums Fuchs gegenüber erlaubte. D e r Betreffende nahm einmal Fuchs nach der Korrektur beiseite und fragte ihn lächelnd, ,ob er vor oder nach der Sitzung drübergehe', und als jener verlegen schwieg, meinte er: ,Ich rate Ihne, H e r r Fuchs, mache se das vorher ab, Sie könne dann ruhiger schaffe, die Spannung ist weg!' U n d dieser Mann war eine der geachtetsten Persönlichkeiten der deutschen Kunst. N a c h außen war man natürlich korrekt und wahrte sein bürgerliches Ansehen." Rudolf Schlichter: T ö n e r n e Füße, hg. von C u r t Grützmacher, Berlin 1992, S. 9 1 - 9 2 . 4 Vgl. dazu Marielouise Janssen-Jurreit ( H g . ) : Frauen und Sexualmoral, Frankfurt am Main 1986, insbesondere die zeitgeschichtlichen T e x t e zu weiblichen Kriegsopfern (durch Vergewaltigung, F o l t e r , M o r d ) , z u m Paragraphen 218, zur sexuellen E t h i k , zur E h e r e f o r m und sogen, „freien" E h e n ) . 5 Hilde Isai (auch Isay) aus Trier studierte seit 1926 an der Karlsruher Schule. Sie brachte moderne Bauhaus-Möbel in die 1927 geschlossene E h e und studierte von 1 9 2 9 - 1 9 3 0 am Bauhaus bei Walter Peterhans Fotografie. (Ellen Auerbach -

s. Beitrag in diesem Band - war ebenfalls eine Mitschülerin von H a n n a

Nagel; sie studierte von 1 9 2 4 - 1 9 2 7 Bildhauerei an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe; beide nehmen Ende der 20er Jahre Unterricht in Fotografie bei Walter Peterhans.) 1930 oder 1934 emigrierte sie in die U S A . Angaben nach: A K Karl H u b b u c h 1 8 9 1 - 1 9 7 9 , Badischer Kunstverein, Karlsruhe 1981, S. 24; A K Karl H u b b u c h Retrospektive, Städtische Galerie im Prinz-Max-Palais, Karlsruhe 1993 f. 6

A b b . 2 0 in: A n g e r m e y e r - D e u b n e r 1988.

7

A b b . 9, 6, 10, 18 in: Reisemann 1987, S. 2 3 - 2 8 .

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In ihr Fotoalbum notiert Hanna Nagel im O k t o b e r 1925 zum Unterricht: „...Abends von 1 6 - 9 Abendakt, ich verlerne Prüderie, hoffentlich lern ich die Gemeinheit nicht dazu". A m Lehrer als Projektionsfigur brechen die Widersprüche im Hinblick auf das unverbundene Nebeneinander von Eigenschaften, die sie bei Männern zu beobachten glaubt, und der Schwierigkeit, als „Mädchen" eine künstlerische Identität eigenen Rechts auszubilden, auf: „Ich bin so stolz und glücklich, er [ H u b b u c h ] wird Professor und berühmt. W e n n ich nur auch ein M a n n wäre! M i r fehlt die zähe Energie, die Konzentration, ich bin als ,Mädchen' zu sehr verwöhnt. Wie hab ich ihn lieb, dass er so wunderbar zeichnet, alle brutalen Nebensachen gehn mich ja nichts an. - Februar 1 9 2 7 " . [Privatbesitz]

9

Helga Prignitz-Poda u.a. (Hg.): Frida Kahlo, Das Gesamtwerk, Frankfurt a.M. 1988, S. 38, 134 (Fotos) und 134 „Selbstbildnis mit abgeschnittenem H a a r " , 1940, O l auf Leinwand, 4 0 X 2 8 cm, N e w Y o r k , Museum of M o d e r n Art.

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Renate Berger

10 Angemeyer-Deubner 1988, S. 128; diese Einschätzung wird von der Autorin aber teilweise wieder zurückgenommen. Noch weiter geht Lurz 1999, S. 31-35, wenn er die „Hilflosigkeit der Interpreten" erwähnt und tadelnd von „der auffällig rigorosen Subjektivität der Vorlieben" Hanna Nagels spricht. Ihre Aussage von 1949, „Ich zeichne, weil es mein Leben ist", wurde allzuoft als Bekenntnis zur rein autobiographischen Aussage mißverstanden. Ein Teil der Interpretationsprobleme dürfte nicht nur auf die Radikalität ihrer Aussagen und Nagels visuelle Kompromisslosigkeit, sondern auf die Verwechslung von Kunst und Leben durch die Interpreten selbst zurückgehen. 11 Auch Hubbuch setzt sich in „Notausgänge der Ehe" (1923) nur indirekt mit der Paarsituation, sondern wie viele Künstler der Neuen Sachlichkeit stärker mit der Verbindung von männlicher Sexualität und Prostitution auseinander. 12 Janssen-Jurreit 1986, S. 239-296; vgl. Christi Wickert: Helene Stöcker (1869-1943) - Frauenrechtlerin, Sozialreformerin und Pazifistin, Bonn 1991, S.105 ff. 13 Seine Frau Verena Hufschmid übernahm als Fremdsprachenkorrespondentin die Rolle der Ernährerin. Angemeyer-Deubner 1988, S. 74. Er war mit Hubbuch befreundet. AK Willi Müller-Hufschmid 18901966, Vom Realismus zur Abstraktion, Städtische Galerie im Prinz-Max-Palais, Karlsruhe 1981, S. 7 f. Als Verena Hufschmid 1942 stirbt, muß der 52-jährige erstmals seinen Lebensunterhalt allein verdienen. 14 Fotoalbum, Privatbesitz. 15 Diese Konzession an bürgerliche und damit nicht der Verachtung ausgesetzte Lebensformen beschreibt Kollwitz Mitte Mai 1922 in ihrem Tagebuch am eigenen Beispiel und für Hilde Schindler-Fuchs, die anders als Kollwitz Konzessionen an die Familie machen muß, die die Kunst zur Restarbeit verkommen läßt. Die Bildhauerin und Grafikerin Hedwig Wittekind „wird aber - selbst wenn sie ein Kind hat - in der Hauptsache künstlerisch arbeitender Mensch bleiben. Unbekümmert um das Gerede, wie sie jetzt Modell steht, würde sie leben wie sie möchte. Früher meinte ich, die Mädchen könnten das eine Zeit durch, nachher - wenn sie altern - bieten sie ein klägliches Bild. Auch das glaub ich nicht mehr. Dieser neue Mädchentyp ist sehr anziehend. Daß aus Mädchen bis zur heutigen Erfahrung kein Genie hervorgegangen ist, ist mir jetzt auch gleichgültig. Nicht nur Genies haben das Recht, so eingängerisch zu sein. Wo gibt es denn jetzt unter den Malern ein Genie? Auch die männlichen Künstler können froh sein, achtungswerte Leistungen hervorzubringen, gute Künstler-Handwerker zu sein. Das können Frauen auch." Käthe Kollwitz, Die Tagebücher, hg. von Jutta Bohnke-Kollwitz, Berlin 1989, S. 533-534. 16 Vgl. dazu Christiane Hertel, Studien zu Max Klingers graphischem Zyklus „Paraphrase über den Fund eines Handschuhs" (1878-1881), Frankfurt a.M. u.a. 1987 und Renate Berger: Zweite Haut, Zu Max Klingers „Paraphrase Ueber Den Fund Eines Handschuhes", in: Ilsebill Barta u.a. (Hg.): Frauen.Bilder - Männer.Mythen, Berlin 1987, S. 115-147. 17 In ihrem Fotoalbum [Privatbesitz] findet sich 1930 folgende Notiz über Emil Orlik: „Er ist nett, aber alt und Millionär, aber nicht glücklicher als ich." 18 Zum Grundmuster des Vergleichens und des Gleichsetzens bei Künstlerinnen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vgl. Renate Berger, „...denn meine Wünsche streifen das Unmögliche...", Künstlerinnen zwischen Aufklärung und Biedermeier, in: Bärbel Kovalevski (Hg.): Zwischen Ideal und Wirklichkeit, Künstlerinnen der Goethezeit zwischen 1750 und 1850, Ostfildern-Ruit 1999, S. 26 f. 19 Ziegler 1996, S. 18. Im Fotoalbum Hanna Nagels finden sich viele Bemerkungen Nagels derart, dass sie Orliks Bedenken gegen die Ehe und Nachwuchs teilte. [Privatbesitz] Ausserdem hielt sie ihre Heirat eine Zeitlang geheim. 20 Käthe Kollwitz: Die Tagebücher, hg. von Jutta Bohnke-Kollwitz, Berlin 1989, S. 659. Im Besitz von Irene Fischer-Nagel befindet sich noch ein kurzes Schreiben, das Kollwitz am 19.7.1938 an Hanna Nagel richtete. 21 Max Klinger: Malerei und Zeichnung, Leipzig 1985, S.36-37, 44. 22 Eine Übersicht findet sich in: Lurz 1999, S. 31-35; selbst geht er so weit zu behaupten, ihre Zurückhaltung auf Nachfragen zu ihrer Symbolik folgendermaßen zu deuten: „Die offensichtliche Autobiographie in ihren Blättern war ihr peinlich". S. 34. Tatsächlich wurde der antizipierende Charakter des Frühwerks häufig verkannt, so dass Nagels Angst vor Fehldeutungen und plattes Gleichsetzen von Kunst und Leben durchaus begründet war. Ziegler 1996, S. 40. 23 Eine Parallele solcher Art von „Vorausschau" stellt Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag" von 1906 dar, wo sie sich als Schwangere darstellt, ohne schwanger zu sein. 24 Charlotte Berend-Corinth: Mein Leben mit Lovis Corinth, Hamburg-Bergedorf 1948; dies.: Lovis, München 1958.

Zu Hanna Nagels frühen Zeichnungen

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25 Im Juni 1929 notiert sie im Fotoalbum [Privatbesitz]: „Mein größter Wunsch ist jetzt eine Kameradschaftsehe. Wenn wir doch Geld verdienen könnten, wir sind doch beide so geschickt und begabt und bestimmt zu v i e l e n Zielen verwendbar... ich wüßte schon, wie ich glücklich sein könnte. Aber Geld, nur Geld. Ach, es ist schlimm." In der Tuschzeichnung „Kameraden" vom August 1930 nimmt sie den Begriff noch einmal auf, allerdings im traditionellen Paarschema: Der Mann wird mit Arbeitsutensilien gezeigt, die Frau sitzt mit über dem Schoß gekreuten Händen taten- und kinderlos neben ihm. Das Althergebrachte wird hier nur mit einem modernen Begriff belegt. 26 Erwähnt bei: Lurz 1999, S. 35, 36-37. 27 In einer Notiz vom 8.5.1958 [Privatbesitz] 28 Vgl. dazu AK Karl Hubbuch 1891-1979, Badischer Kunstverein, Karlsruhe 1981, S. 57 f. Irene FischerNagel gibt folgenden Hinweis: „Erst nach dem Tod von Hanna Nagel und durch mich wurden die frühen Arbeiten 1926-1931 bekannt. H.N. hielt sie in Kisten unter Verschluß. Sie hätte unter den Nazis Arbeitsverbot bekommen."

Auswahlbibliographie Ausstellungskataloge Hanna Nagel, Zeichnungen, Leipzig 1942 Hanna Nagel zum 60. Geburtstag, Kunstverein Heidelberg 1967 Hanna Nagel, Frühe Arbeiten, 1926-34, Künstlerhaus/Galerie, Karlsruhe 1981 German Realist Drawings of the 1920s - Deutsche realistische Zeichnungen der Zwanziger Jahre, Harvard University Art Museums u.a., Cambridge, Mass. u.a. 1986

Sonstige Literatur Angermeyer-Deubner, Marlene: Neue Sachlichkeit und Verismus, Karlsruhe 1988 Degenhard, Roswitha: Die „Neue Frau" in Selbstdarstellungen von Künstlerinnen 1918-1945, [Magistra-Arbeit] Tübingen 1998 Fischer-Nagel, Irene: Trennung besteht, Gedichte (mit Zeichnungen von Hanna Nagel), Mannheim [o.J.] Hofstätter, Hans H.: Das frühe Werk, Freiburg 1975 Holeisen, Liselotte: Besuch bei Hanna Nagel. In: Die Westmark 10, 1942/43, S. 379-380 Jagfeld, Monika: Internationale Ausstellung „Frauen in N o t " , Berlin 1931, Eine Rekonstruktion, [Magistra-Arbeit] Heidelberg 1995 Lurz, Meinhold: Hanna Nagel (1907-1975), „Meinen Blättern soll man ansehen, daß sie von einer Frau herrühren", in: Hierzuland, 14. Jg., H. 28, 11/99, S. 28-46 Mülfarth, Leo: Die Graphikerin Hanna Nagel. In: Ettlinger Hefte Nr. 18, März 1984, S. 4-10. Permoser, Paul: Poetischer Surrealismus, Zur Graphik von Hanna Nagel. In: Die Kunst und das schöne Heim 58, 1959, S. 93-95 Reisemann, Catherine: Das Frühwerk des Graphikers Hans Fischer-Schuppach, [Magistra-Arbeit] Kiel 1987 Ruhmer, Eberhard: Hanna Nagel, München 1965 Seelen, Manja: Das Bild der Frau in Werken deutscher Künstlerinnen und Künstler der Neuen Sachlichkeit, Münster 1995 Sohn, Annette: Rekonstruktion der Ausstellungstätigkeit der Graphikerin Hanna Nagel für den Zeitraum 1931-1949 anhand der von ihr selbst gesammelten Kritiken, [Magistra-Arbeit] Osnabrück 1994 Wille, Katharina: Hanna Nagel 1907-1975, Entwicklungsstufen einer Künstlerin anhand exemplarisch ausgesuchter Werke, [Magistra-Arbeit] München 1989 Ziegler, Simone Christiane: Wer bin ich - Wer seid ihr? Der weibliche Blick im graphischen Frühwerk Hanna Nagels, [Magistra-Arbeit] Marburg 1996

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Renate Berger

Modellhafte Paargemeinschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts

Charlotte Berend-Corinth und Lovis Corinth Hannah Hoch und Raoul Hausmann

KAROLINE KÜNKLER

Exposition Der vorliegende Aufsatz geht von zwei Bildern aus. Es handelt sich um Lovis Corinths „Selbstportrait mit Rückenakt" von 1903 (Abb. 1) und Hannah Höchs „Frau und Saturn" von 1922 (Abb. 2). Das eine wie das andere Gemälde zeigt ein Künstlerpaar, einmal aus ,männlicher', das andere Mal aus ,weiblicher' Sicht. Im ersten Fall hat sich ein Künstler mit seiner Ehefrau, im zweiten Fall eine Künstlerin mit ihrem langjährigen Lebensgefährten dargestellt. Beide Bilder sind vom Gegensatz geprägt, hier wie dort stehen Hell und Dunkel gegeneinander, strahlen lichtvolle, warme Farben gegen stumpfe, schwarz-bräunliche Töne an. Aber trotz dieser Gemeinsamkeiten tendiert jedes von ihnen in eine andere Richtung. In Corinths Gemälde kreuzen sich die gegensätzlichen Licht- und Farbwerte, sie sind stellenweise miteinander verzahnt und bilden so ein dialogisches ,Ganzes'. In Höchs Gemälde formieren sich die gegensätzlichen Licht- und Farbwerte zu zwei fast geschlossenen Blöcken, beziehen Stellung gegeneinander, als wollten sie die Bildwelt in zwei Hälften auseinanderfallen lassen. Die beiden unterschiedlichen Auffassungen vom Prinzip des Gegensatzes sprechen sich auf der Ebene der Paardarstellung in verdichteter Form aus. Bei Corinth ist die Frau dem Mann zugewandt und mit ihm zu einer lebensvoll vibrierenden Einheit verschränkt - das Leuchten ihres Körpers lässt sein Antlitz erstrahlen. Bei Hoch blickt der Mann ins Leere und die Frau kehrt ihm den Rücken zu - er bildet den dunklen Grund für ihre lichtvolle Gestalt. Corinth hat in „Selbstportrait mit Rückenakt", kurz nach der Hochzeit mit der angehenden Malerin Charlotte Berend entstanden, den Akt zur Gründung der ehelichen Gemeinschaft als feierlich hochgestimmten Moment der „Verschmelzung" ver-

Modellhafte Paargemeinschaften

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Abb. 1 Lovis Corinth. Selbstportrait mit Rückenakt [Charlotte Berend-Corinth], 1903. ÖI auf Leinwand. 101X90 cm, Zurich, Kunsthaus Zürich

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Karoline Künkler

Abb. 2 Hannah Hoch Frau und Saturn, 1922 Öl auf Leinwand 87x67 cm Privatbesitz

ewigt. Hoch hat „Frau und Saturn" im Zeitraum ihrer Trennung von dem Berliner Dadaisten Raoul Hausmann gemalt und in diesem Bild eine sichtbare S u m m e des gemeinsamen Scheiterns gezogen. Beide Gemälde heben das künstlerische Selbst hervor: Das erste Gemälde zeigt ein Paar als „Einheit", aus der ein malender M a n n emporragt, das zweite Gemälde ein Paar, das sich auseinanderdividiert hat und aus dem sich eine Frau herauszuformen scheint.

Skizze zu einer Theorie der Künstlerpaar-Beziehungen Trotz einer ansehnlichen Zahl an Veröffentlichungen, die Künstlerpaare zum Gegenstand haben, ist für eine systematische Untersuchung des komplexen Themas viel Raum geblieben - vor allem für dessen interdisziplinäre Entfaltung. 1 Schließlich kommt bei Künstlerpaaren Gesellschaftliches mit Künstlerischem, die ästhetische mit der sozialen Wirklichkeit auf beispielhafte Weise zusammen. Was nun die Kunstgeschichte angeht, so kann sich dem vor allem die kunstwissenschaftliche GeschlechModellhafte Paargemeinschaften

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terforschung nähern. Hier wurde die kunstsoziologische Einsicht von der Wechselwirkung zwischen Kunstschaffenden und Gesellschaft um eine Erkenntnisdimen7sion erweitert: Die Kunst wird von Männern und vermehrt auch von Frauen gemacht - und diese sind verflochten mit der herrschenden Geschlechterordnung, eingebunden in vielschichtige sozio-kulturelle Gefüge. In der Gegenrichtung sind es die künstlerischen Werke und Handlungen von eben diesen Männern und Frauen, die in die Kultur zurückstrahlen. Vor diesem Hintergrund kann man eine Künstlerpaar-Beziehung besonders dann, wenn es sich um den ehedem idealtypischen Fall einer heterosexuellen Verbindung handelt - wie einen Knotenpunkt betrachten, in dem die verschiedenen Aspekte der Kunstproduktion und der Geschlechterordnung nicht nur zusammenlaufen, sondern auch beispielhaft fassbar werden. Die beiden Paare, um die es hier geht, sind keine ,Neuentdeckungen', sondern schon einige Male verhandelt worden. 2 Der Kenntnisstand über die Beziehung zwischen Lovis Corinth und Charlotte Berend-Corinth sowie zwischen Hannah Hoch und Raoul Hausmann ist vergleichsweise hoch, daher kann anhand dieser beiden Beispiele der Versuch unternommen werden, das ,Künstlerpaar'-Thema nach den oben umrissenen Gesichtspunkten zu fassen. Aus gegenwärtiger Sicht scheinen diese älteren Künstlerpaare nur noch von historischem Interesse zu sein. Bevor man jedoch die,neuen' Paargemeinschaftsformen, die im Zeichen von Liberalisierung und Pluralisierung entstanden sind, euphorisch begrüßt, wären sie auf den Prüfstand zu stellen. 3 Ferner gälte es, in diesem Zusammenhang auch den Wandel, den das Geschlechterverhältnis und die Auffassung von der Kategorie ,Geschlecht' im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts durchlaufen haben, einzuschätzen. Hierfür ist der Blick zurück unerlässlich - allerdings ein Blick, der sich nicht in einem von der Paarbiographik dominierten Verständnis von Geschichtlichkeit verliert.

Die beiden Künstlerpaar-Beziehungsmodelle Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, klassifikatorischen Fragestellungen nachzugehen und idealtypische Modelle von Künstlerpaar-Beziehungen zu umreißen. Das erfordert im wesentlichen: das prozessuale Paargeschehen nach seinen verschiedenen medialen Vollzugsformen und deren Modalitäten zu beleuchten, signifikante Strukturen im Aufbau der jeweiligen Paarbeziehung zu erfassen, die Prinzipien und Mechanismen des interaktioneilen Miteinanders zu ermitteln, die Prozesslogik der Verlaufsgeschichte zu bestimmen, die Wechselbeziehung mit den sozio-kulturellen Bezugsfeldern im Nah- und Fernbereich zu skizzieren. Schon die Wahl der Beispiele geht von typologisierenden Vorannahmen aus. Zeitlich und örtlich waren sich die beiden Künstlerpaare, obwohl man sich persönlich wohl nie kennengelernt hat, recht nah. Beide Beziehungen wurden in der damaligen Reichshaupt362

Karoline Künkler

Stadt Berlin begonnen, gelebt und beendet. Das Verhältnis zwischen Hoch und Hausmann dauerte von 1915 bis 1922 und fiel damit in den Zeitraum von 1903 bis 1925, in dem die Ehe zwischen Corinth und Berend-Corinth währte. Aber man wählte jeweils eine andere Gemeinschaftsform. Das mag zum Teil am Generationenunterschied, zum Teil an der jeweiligen sozialen Verortung der Männer gelegen haben, die in beiden Fällen den gemeinsamen Lebensstil mehr oder weniger bestimmten. Während Corinth, Jahrgang 1858, und Berend-Corinth sich einer traditionellen, institutionalisierten Form unterstellten und eine Künstlerehe führten, favorisierte Hausmann, Jahrgang 1886, von Beginn an eine ,freie' Liebes- und (zeitweise auch) Lebensgemeinschaft mit Hoch. 4 Wenn man sich im ersten Fall fast selbstverständlich für eine sittlich-moralisch geforderte, zivilrechtlich festgeschriebene und staatlich regulierte Intimbeziehungsform entschied, die sich seit der Aufklärung zu einem wichtigen Stützpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hatte, dann hatte das auch mit einem bestimmten Verständnis von Kunst und Künstlertum zu tun. Nicht zuletzt diente die Institution der Familie - und mit ihr nahezu zwangsläufig die Institution der Ehe - den Kunstschaffenden dieses frühen, sich emanzipierenden Bürgertums dazu, ihre Identität als nunmehr,freie Künstler' zu generieren und zu sichern.5 Im zweiten Fall fiel die Wahl auf eine eher amorphe Beziehungsform, die ,freie Liebe', die sich primär negativ, nämlich über die Ablehnung offiziell gültiger Normen definierte, und die man wohl nicht selten auch als regellosen Freiraum für eine voraussetzungslose Neugestaltung des Geschlechterverhältnisses missverstand. Diese vorgeblich,freie' Liebe hatte sich, von den Romantikern im Rahmen ihrer Aufklärungskritik theoretisch vorbereitet und zuweilen lebenspraktisch vorgelebt, ab Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Künstlerkreisen als Element einer bohemistischen Gegenwelt zur herrschenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung ausgebildet.6 Beide Künstlerpaare spiegeln mithin als Liebes- und Arbeitsgemeinschaften das dialektische Wechselspiel zwischen Entwurf und Gegenentwurf wider, das auf den im 19. Jahrhundert entstandenen, kunstspezifischen Antagonismus zwischen ,Philister' und ,Bohemien' zurückgeht. 7 Corinth strebte danach, ein in die bürgerliche Gesellschaft integrierter ,Erfolgskünstler' zu werden, Hausmann war an einem antibürgerlichen Künstlerleben gelegen.

Das Künstler-Paarbildnis Das Besondere an Künstlerpaar-Beziehungen ist, dass in ihnen Kunst entsteht - zuweilen sogar gemeinschaftlich. Daher kann man davon ausgehen, dass Menschen, die Liebe und kreative Arbeit verbinden, nicht nur mithilfe der gebräuchlichen Medien und nicht nur auf,laienhafte' Weise Zeugnis über sich ablegen, wie dies bei Paaren ohne professionelle Beziehungsebene üblich ist. Und diese Manifestationen einer von Gefühlsbindungen und Erotik durchwirkten Professionalität sind, zumindest prinzipiell, dazu bestimmt, einer Modellhafte Paargemeinschaften

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kunstinteressierten Öffentlichkeit zugeführt zu werden. Daher bedarf die Analyse des Miteinanders solcher Verbindungen der eingehenden Auseinandersetzung mit der Kunst als dem maßgeblichen Medium, in dem sie sich vollzieht und öffentlich präsentiert. Grundsätzlich ist bei allen künstlerischen Arbeiten oder Handlungen davon auszugehen, dass sie vom Paargeschehen beeinflusst sind, wie sie sich auch wiederum auf die künstlerischen und die außerkünstlerischen Prozesse auswirken dürften, die innerhalb der Gemeinschaft stattfinden. Nicht selten beziehen sich die künstlerischen Arbeiten oder Handlungen mehr oder weniger direkt auf die Beziehung selbst. Einen gezielten Blick auf die gemeinschaftliche Binnenwelt liefern Paarbildnisse - wie jene beiden Gemälde, die oben einander gegenübergestellt wurden. Dabei handelt es sich um einen besonderen Fall des Doppelportraits, speziell des Ehebildnisses, zeigt es doch den Künstler oder die Künstlerin, aus dessen oder deren Hand es stammt: ein Selbstbildnis, verfügt mit dem Bildnis eines ebenfalls kunstschaffenden Gegenübers. KünstlerpaarBildnisse werden nicht selten als schlichte Bilddokumente einer Paarbiographie betrachtet. Aber zunächst einmal handelt es sich um Kunstwerke, um visuelle Zeichengefüge, die eine bestimmte Stellung innerhalb eines CEuvres, einer stil- und formengeschichtlichen Strömung, einer kunsthistorischen Epoche einnehmen. Wie alle Kunstwerke stellen sie auch einen Niederschlag bildnerischen Reflektierens dar: über sich selbst und das Gegenüber, das eigene wie das fremde künstlerische Tun, die eigene Beziehung zu diesem Gegenüber, speziell in künstlerischer Hinsicht. Mehr noch: Solche Bildnisse sind visuelle „Konstruktionen" der ehelichen „Wirklichkeit", in denen die gemeinschaftliche Realität und der gemeinschaftliche Weltbezug definiert und „re-definiert" werden. 8 Unter anderem wird dabei eine Vorstellung von Paarbeziehungen geprägt. Solche Bildnisse zeigen auch, was ein Paar für den betreffenden Künstler oder die Künstlerin ist, wie er oder sie den Zusammenhang zwischen Kunst- und Lebenspraxis von Männern und Frauen sieht. Vor allem in diesem speziellen Sinne strahlen Künstlerpaar-Bildnisse in die Kultur zurück: als zustimmendes oder kritisches Exempel, als Vor-, Gegen- oder Schreckbild vom Verhältnis zwischen Frau und Mann, Liebe und Arbeit. Solche Bildnisse stammen meist aus der Hand nur eines, des weiblichen oder männlichen Partners und geben ausschließlich eine subjektive Sicht von dem Lebenszusammenhang, den der Künstler oder die Künstlerin mit dem Gegenüber bildet und in dem dieses eine Bild entstanden ist. Seit das Künstlerpaar-Bildnis im Ubergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit seinen Anfang genommen hatte, waren es, obschon einige Werke von Künstlerinnen bekannt sind, überwiegend Werke von Männern, die die Kunstgeschichtsschreibung verzeichnete und von denen folglich die Tradition und die Auffassung dieses Bildtypus geprägt wurde. 9 Erst als sich im Zuge des Umbruchs vom 18. zum 19. Jahrhundert die Ausbildungschancen für Frauen verbesserten und es immer mehr künstlerisch qualifizierte Frauen gab, war die entscheidende Voraussetzung dafür gegeben, dass die Zahl der Künstlerpaare ansteigen konnte und entsprechend mehr Bildprägungen - darunter auch Paarbildnisse - aus weiblicher Hand zu verzeichnen waren. 364

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Zu den frühen Künstlerpaaren der Moderne, die sich ab Ende des 19. Jahrhunderts formierten, gehören Charlotte Berend und Lovis Corinth. Aber schon die nächstfolgende Generation, hier vertreten von Hoch und Hausmann, hadert mit dem Vereinigungswunsch und kultiviert die Distanz. 10

Die destruktionstheoretische Perspektive Schon immer ist der Blick auf die Aufbauseite der Kultur dem auf ihre Abbauseite vorgezogen worden. Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit Künstlerpaaren, treffen hier doch mit der Liebe und der Kunst zwei Betätigungsfelder aufeinander, die man als Domänen rein konstruktiver Bemühungen misszuverstehen geneigt ist und deren Gestehungskosten man gern unterschlägt. Nicht selten unterstellt man der Liebe ,an sich' eine Grundtendenz zu Harmonie, Fruchtbarkeit und Friedlichkeit und reinigt sie von ihren antagonistischen Dimensionen. Oft verkennt man die destruktiven Anteile der Kunstproduktion und sieht in ihr den Ausdruck eines Drangs zum,Schaffen' allein. So kann die Vorstellung vom doppelt schöpferischen' Künstlerpaar als ideale Gemeinschaftsform entstehen, in der sich die Geschlechter zu einer friedvollen sozialen Einheit verfügen und in der Eros und Ananke, Lust und Zwang miteinander verschmelzen können. Daher eignet sich das Künstlerpaar dazu, als soziale ,Keimzelle' betrachtet zu werden, in der Frauen und Männer auf generativem Wege Kinder, auf kulturproduktivem Wege ,Werke' hervorbringen und so zum Fortbestand der Gattung beitragen wie auch zum Fortschritt der Kultur. Aber Künstlerpaare haben die Möglichkeit zu produktivem und zu kontraproduktivem Handeln, zu gegenseitiger Wachstumsförderung wie zu gegenseitiger Behinderung, Beschränkung, und, im Extremfall, auch die Möglichkeit zu gegenseitiger Vernichtung. Zu diesem Potential gehört die Option, Konstruktives und Destruktives einseitig zum Vorteil der einen und zum Nachteil der anderen Seite zu verwirklichen. Denn jeder Künstlerpaar-Beziehung liegt ein Konflikt zugrunde, den man modellieren, austarieren, aber keinesfalls auflösen kann. Das in zweifacher Hinsicht gleiche Streben der beiden Partner - beide wollen ja den liebevollen Austausch und die künstlerische Selbstentfaltung zugleich - treibt sie auf der intimen Ebene zueinander hin, auf der kollegialen Ebene jedoch voneinander weg. Beide Partner müssen den gegensätzlichen Anforderungen der Fremdbezüglichkeit einerseits wie auch denen der Selbstbezüglichkeit andererseits genügen, diese innerlich integrieren und mit dem oder der anderen abstimmen können. Hinzu kommt, dass die Künstlerpaar-Beziehung als extrem kohäsive Form der Vergemeinschaftung auch im alltäglichen Lebenszusammenhang ein hohes Risiko an Friktionen birgt, denn das Ineinander von Liebe und Arbeit bringt meist eine enge Verflechtung von Privat- und Berufsbereich, von Verbrauchs- und erwerbswirtschaftlicher Komponente mit sich.11 Bestand oder Scheitern der Paargemeinschaft, aber auch Modellhafte Paargemeinschaften

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Wohl oder Wehe der jeweiligen Partner hängen entscheidend davon ab, wie das psychosoziale Gefüge und der raum-zeitliche Rahmen gestaltet werden. Das gesamte Konfliktpotential zeigt sich beispielhaft in den beiden Hauptbereichen des ,Schaffens' einer idealtypischen Künstlerpaar-Beziehung: Nachkommenschaft und Kunstproduktion. Während die Betreuung von Kindern die langjährige Interaktionsbereitschaft und Hingabe an ein abhängiges Gegenüber erfordert, benötigt die Herstellung von Kunstwerken viel freien Raum und Zeit zum konzentrierten Umgang mit sich selbst. Weil die Möglichkeiten zur Integration dieser divergenten Anforderungen beschränkt sind, scheint eine Einteilung fester Verantwortungsbereiche nahezuliegen. Von deren konkreter Ausgestaltung und Verteilung hängt es ab, welchen Verlauf die Partnerschaft und das Leben der beiden Partner nach dem ,Einbruch des Dritten' nimmt. Sind beide für den Bereich ,Kind' zuständig, müssen beide fremd- und selbstbezügliche Leistungen innerlich integrieren und aufeinander abstimmen, dann verteilen sich die Reibungsverluste. Ist, wie heute noch größtenteils üblich, die Frau zuständig für das Kind, dann verlagern sich diese Integrationsleistungen auf sie allein; ihre Reibungsverluste sind entsprechend höher und führen dazu, dass sie den Bereich ,Kunst' reduzieren oder aufkündigen und dem Mann nun als dessen Domäne - überlassen muss. Dass dies häufig der Fall ist, wird von Ideologiebildungen über die scheinbar geschlechtsspezifische Befähigung zu produktivem Handeln mitreguliert. Das lässt sich an zwei semantischen Beispielen demonstrieren, in denen die Phänomene ,Kind' und ,Werk' analogisiert werden. Zum einen findet sich in der Kunstliteratur, vor allem in geniemythologischen Argumentationen, ein Vorstellungskreis, der das Kunstschaffen mit Vorgängen aus Sexualität und Fortpflanzung gleichsetzt und in dem das Kunstwerk als ,Kind des Künstlers' betrachtet wird. 1 2 Hier,gehen' Künstler ,schwanger' mit einer Idee, ,fühlen' diese ,langsam in sich heranreifen', ,gebären' schließlich ,unter Schmerzen' ihr Werk als ,Frucht' ihres Geistes. Zum zweiten begegnet häufig die alltagssprachliche Rede vom Kind als ,Werk der Frau'. Diese Formel suggeriert, dass sich im Gebären und Versorgen eines Kindes eine ,naturhaftschöpferische' Seite der Frau äußert, eine vermeintlich weibliche ,Pro-Kreativität' verwirklicht. Jedes Beispiel legitimiert die überkommene Vormachtstellung von Männern im kulturschöpferischen Bereich und beide ergänzen sich dabei. Die Bildwelt geistiger Alternativzeugung verleiht dem männlichen Künstler etwas Omnipotentes, indem sie ihm den mythisch-magischen Aspekt weiblicher Gebärfähigkeit die weibliche ,Macht', menschliches Leben hervorzubringen - zueignet. Die Redensart wiederum beschönigt die Benachteiligung von Frauen im Kultursektor, indem sie die Mutterschaft zu einer künstlerischen Ersatz-Leistung erklärt und so scheinbar aufwertet. Auf Künstlerpaar-Beziehungen übertragen hieße das: Der Mann ist primär Künstler, ,Schöpfer' geistigen Lebens, die Künstlerin verwirklicht sich am besten als Mutter. 366

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Der einseitig aufbauorientierte Blick auf Künstlerpaar-Beziehungen unterschlägt, dass die umfassende Produktivität solcher Gemeinschaften häufig durch eine Beeinträchtigung der Frauen getragen wird, die bis zur Aufgabe ihrer Künstlerinnenschaft reichen kann, ein Mechanismus, der unmerklich zur Auflösung der ursprünglich gewählten Beziehungsform von innen her führt. Vor diesem Hintergrund sollen hier vor allem die defizitären Möglichkeiten und die ruinösen Potentiale der beiden Beziehungsformen, wie sie beispielhaft von Corinth und Berend-Corinth sowie von Hoch und Hausmann gelebt wurden, beschrieben und eingeschätzt werden. In welchem Verhältnis und in welcher Form sich die Option zum konstruktiven und zum destruktiven Handeln in Künstlerpaar-Beziehungen eröffnet, hängt in beträchtlichem Maße von den sozio-kulturellen Rahmenbedingungen, speziell vom ,zerstörungsgeschichtlichen' Kontext ab. 13 Der Zeitraum, in dem die beiden vorliegenden Paarbeziehungen angesiedelt sind - die Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1933 - gehört zu einer jener Epochen deutscher Zerstörungsgeschichte, deren Wirkung bis in die Gegenwart hinein spürbar geblieben ist. Vor allem die anhaltende Unterdrückung des kulturellen Wandels - unter anderem im Bereich der Geschlechterordnung - während der Regierungszeit Wilhelms II. führte zu jenen krisenhaften Umbruchsituationen, die dann in die Vernichtungsorgien des Ersten und des Zweiten Weltkrieges mündeten. Die beiden Künstlerpaar-Beziehungen sind in diesem Krisengeschehen unterschiedlich positioniert - entsprechend ihrem Verhältnis als Standardmodell und Gegenentwurf. Die ersten Jahre der Künstlerehe zwischen Corinth und Berend-Corinth fielen mit jener Phase zusammen, in der das gründerzeitliche Wachstumsstreben eine aggressiv-nationalistische Färbung annahm, in der man schließlich die,Mobilmachung', die kriegerische Wendung nach außen, der Möglichkeit vorzog, die erstarrten Binnenverhältnisse in Bewegung zu bringen. Der Begeisterungstaumel über den kriegerischen ,Weltenbrand' als Mittel zur ersehnten fundamentalen Neuordnung' und das Leitideologem der ,nationalen Einheit' ließen viele Konfliktparteien wieder zusammenfinden - auch viele Kombattanten im sogenannten ,Geschlechterkampf'. Die Stimmung zeigte sich jenen gesellschaftlichen Kräften günstig, die Frauen und Männer über Ehe und Familie im Dienste der Nation zusammenschweißen wollten. Ihnen kamen die Künstlerpaar-Bildnisse, die im Kontext der Ehe von Corinth und Berend-Corinth entstanden sind, entgegen. Hoch und Hausmann fanden im Kriegsjahr 1915 zueinander. Noch während der konfliktgeladenen frühen Phase des Weimarer Demokratisierungsversuches, der unter dem traumatisierenden Eindruck des ersten volltechnisierten Krieges und des totalen Zusammenbruchs stand, gingen sie auseinander. Das Paar bewegte sich in bohemistischen Künstlerkreisen, die auf Revolutionierung der gesellschaftlichen und auch der geschlechtlichen Verhältnisse spekulierten, aber einem für Weimar typischen Widerspruch unterlagen. Dem Willen zur Gleichberechtigung der Geschlechter stand eine Modellhafte Paargemeinschaften

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veränderungsresistente Männlichkeitsideologie gegenüber, die deutliche Züge des patriarchalisch-aggressiven Wilhelminismus der abgelehnten Vätergeneration trug.

Lovis Corinth und Charlotte Berend-Corinth Lovis Corinth: „Selbstportrait mit Rückenakt" (1903) Das Gemälde zeigt einen Maler bei der Arbeit (Abb. 1). Vom Malen innehaltend, schaut uns der Mann an, vor ihm steht eine nackte Frau, die sich ihm ganz zugewandt hat und den Betrachtenden nur ihren Rücken zeigt. Nicht nur der Titel, auch die portraithaften Züge besagen, dass hier ein Konterfei von Corinth vorliegt. Bei dem Gemälde handelt es sich folglich um eine malerische Umsetzung von dem Bild, das der Spiegel von Corinths Arrangement mit sich selbst und der Frau zurückgeworfen hat. Das Bild ist von einer Struktur bestimmt, die ich mit beherrschter Dialektik' bezeichnen möchte. Die wesentlichen Strukturelemente treten in spannungsreich aufeinander bezogenen Gegensatzpaaren auf: das Figurenbild oben und der Zierstreifen unten, der bekleidete Mann und die nackte Frau, Gelb und Braun, Licht und Dunkel. Entscheidend dabei ist, dass es keine Balance gibt. Immer dominiert das eine Element sein Gegenstück. A m sinnfälligsten lässt sich das am Motiv des Paares aufzeigen. Das Gemälde zeigt es als eine Zweierfiguration, die unter der Vorherrschaft der Männergestalt zu einer Einheit verzahnt ist. Mann und Frau wenden sich einander zu und bilden so einen von außen uneinsehbaren Bezirk zwischen ihren Leibern. Weil die beiden Gestalten schräg hintereinander gestaffelt sind, nimmt man sie jeweils als integrale Bestandteile dieser Zweierfiguration wahr. Allerdings werden sie - dem Prinzip der beherrschten Dialektik' entsprechend - auf signifikant unterschiedliche Weise präsentiert. Corinth hat sich frontal gezeigt: Die prägnanten Gesichtszüge bezeugen seine Individualität. Mit konzentriert blickenden Augen und seinen beiden Händen, die Pinsel und Palette - die beiden berufsspezifischen Attribute des Malers - halten, gibt sich der Mann als tätiger Künstler zu erkennen. Dagegen hat Corinth die Frau ohne individuierende Kennzeichen gezeigt: von hinten, in anonymisierender Blöße. Der Hinterkopf ist so weit nach links gedreht, dass vom Profil - der signifikantesten aller Körperkonturen - nichts weiter zu sehen ist als eine Partie weicher Unterkieferrundung. Man kann nur vermuten, dass es sich um Charlotte Berend-Corinth handelt, denn das Gemälde trägt rückseitig, rechts oben neben der Signatur „Lovis Corinth", die Bezeichnung „Juni 1903 Berlin" - ein Hinweis darauf, dass das Bild drei Monate nach der Hochzeit entstanden ist, in einer Zeit, in der Corinth die Gefährtin häufig zu malen begann. 14 Der kunstgeschichtliche Terminus vom,verlorenen Profil' trifft nicht nur auf bildlicher Ebene zu, sondern er verweist auch, metaphorisch verstanden, auf Berends zunehmende Einbuße ihrer 368

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Identität als Künstlerin. In diesem Sinn kann man auch die Tatsache sehen, dass die schöpferische Rechte der Frau (im Bild die Hand links) Halt an der Schulter des Gatten sucht, statt den Pinsel zu führen, dass die Linke der Frau (im Bild die Hand rechts) auf der Herzgegend des Mannes ruht, statt die Malmittel bereitzuhalten. Corinth hat seine Ehefrau in „Selbstportrait mit Rückenakt" wie eines seiner namenlosen Modelle in seinen vielen routinierten Aktstudien gezeigt. Prahlerisch stellt er seine Ehefrau zur Schau - gleichwohl auf eine kontrollierte Weise, die zeigt, dass er auf die wirkungsästhetische Dimension des weiblichen Rückenaktes zu rechnen versteht. Allzu großer Zudringlichkeit von Betrachterseite hat Corinth mit dem Zierstreifen unten einen optischen Riegel vorgeschoben und so die vom delikat gemalten Rückenstück angezogenen Blicke auf sein eigenes Konterfei als tätige Künstlergestalt umgelenkt: Die Erotik des ehefraulichen Körpers setzt er nur ein, um seinen eigenen schöpferischen Eros zu präsentieren. Seine sowohl,zeugerische' wie künstlerische Potenz setzt Corinth ins Bild, indem er die Paarfiguration dem dynamischen Tanzmotiv annähert. Schon beider Haltung erinnert an ein tanzendes Paar: Mann und Frau stehen sich vis-ä-vis gegenüber, seine Arme geben den Rahmen und führen, sie fügt sich ein und lässt sich führen. Der Mann fungiert als Impulsgeber, seine Hüfte schiebt sich nach vorn, sein Unterleib scheint sich mit dem ihren sichtbar in der malerischen Ubergangszone unten, direkt oberhalb des Zierstreifens, zu vermischen - ein bildsprachlicher Hinweis auf die sexuelle, potentiell generative Vereinigung. Die sublime Choreographie setzt sich von hier nach oben fort und verwirkt die beiden Körper zu einer verinnerlichten Form der Bewegtheit. Freilich ist dieser ,Tanz des Lebens' von Corinths Kunst bestimmt. Die gemeinsame Bewegung endet in den Augen des Malers und in seinen beiden Händen, die als obere und seitliche Grenzmarkierungen des Gemäldes ein dreieckiges Spannungsfeld bilden. Befolgt man Corinths Anleitung zum Sehen und betrachtet das Gemälde mit blinzelnden', also halb zugekniffenen Augen, so wird man der hellsten Zone des Bildes gewahr: eine Art Parallelogramm von weißlichem Nepalgelb mit Beimischungen von Ocker, Lachsrosa und Grau, das sich von der linken bis zur rechten Schulter der Frau erstreckt. Hier verbinden sich die Farbkraft und die starke Eigenhelle des bildbeherrschenden Gelb zu einem irdisch-warmen Leuchten. Diese Zone größter Helle nun befindet sich innerhalb des Dreiecks, das von den konzentriert blickenden Augen und tätigen Händen des Malers gebildet wird. Hier hat Corinth sein höchstes malerisches Ziel erreicht - er hat das Fleisch, die Haut der Ehefrau in jene „Leuchtkraft des Nackten" verwandelt, von der er später in seinem Lehrbuch „Das Erlernen der Malerei" spricht.15 Den Prozess dieser malerischen Transformation lebensvoller weiblicher Materialität in ästhetische Leuchtkraft durch den künstlerisch tätigen Mann hat Corinth in „Selbstportrait mit Rückenakt" vorgeführt. Die kurze Bildbetrachtung hat gezeigt, dass es sich bei „Selbstportrait mit Rückenakt" weder um ein Ehe- noch um ein Künstlerpaar-Bildnis im engeren Sinne handelt. Modellhafte Paargemeinschaften

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Denn man sieht kein Doppel-Portrait, sondern das Se/feiportrait eines Malers, das um das anonyme Rücken-Stück eines nackten weiblichen Modells erweitert wurde - das entspricht dem Bildschema, das Evelyn Benesch am „Selbstbildnis mit Modell" von 1901 beobachtet hat. 16 Lovis Corinth hat die angehende Malerin Charlotte Berend in diesem Gemälde drei Monate nach der Hochzeit re-definiert, sie - sichtbar für eine kunstinteressierte Öffentlichkeit - zum integralen Bestandteil seiner Künstlerpersönlichkeit gemacht, sie, seine ,Frau fürs Leben', auch zu seinem ,Modell fürs Leben' gemacht und zugleich ihre Künstlerinnenschaft negiert.

Beziehungsstrukturen und Beziehungsgeschichte Dass ein Kunstwerk die soziale Wirklichkeit nicht,abbildet', ist bekannt. Aber zwischen ästhetischer und sozialer Wirklichkeit gibt es benennbare Bezüge. Die Bildformel von „Selbstportrait mit Rückenakt", die ,beherrschte Dialektik', erinnert an das Ergänzungsprinzip, nach dem das Geschlechterverhältnis in den bürgerlichen Schichten der zeitgenössischen wilhelminischen Gesellschaftsordnung üblicherweise aufgebaut war. 17 Strukturelle Parallelen sind feststellbar: Hier wie dort werden Frau und Mann als Gegensätze aufgefasst und zu einem hierarchischen Gefüge zusammengepasst - wie Schlüssel und Schloss, Patrize und Matrize. Zudem ist die Frau hier wie dort bei weitem nicht passiv, und ihre Aktivitäten richten sich im einen wie im anderen Fall auf den Mann. Der Unterschied ist, dass Corinths Gemälde eine nur verhalten agierende Frauengestalt zeigt, während Berend-Corinth im alltäglichen Eheleben vielfältige und komplexe Handlungen innerhalb eines konkreten Funktionszusammenhangs ausgeführt hat. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts haben bürgerliche Ehefrauen stützend am Leben des Mannes teilgenommen, im häuslichen wie im psychischen Binnenbereich jene ordnenden und wiederherstellenden Arbeiten verrichtet, die den Mann zur materiellen und geistigen Produktivität, vorzüglich zur Berufsarbeit freisetzten.18 Dieser Arbeitsteilung entspricht das psychoanalytische Paarbeziehungsmodell der „narzißtischen Kollusion", das die Gegenseitigkeit des Verhältnisses, die Interaktion, hervorhebt.19 Liebe wird hier als ,Einssein' begriffen und in zwei komplementären Rollen realisiert. Der ,Narzisst', auch der,Akteur' genannt, stellt das ideale Selbst beider Partner dar. Der ,Komplementär-Narzisst', auch der ,Ko-Akteur' genannt, tritt sein eigenes ideales Selbst an den Narzissten ab, um dieses gewissermaßen,verliehene' Selbst im Narzissten schwärmerisch zu bestätigen. In leicht modifizierter Form finden sich beide Muster auch in der Künstlerehe zwischen Corinth und Berend-Corinth. Bezeichnenderweise ist es die Konstellation zwischen Maler und Modell, die den Auftakt zu einer intimen Beziehung zwischen Berend und Corinth bildet und bis in die späteren Ehejahre bestehen bleibt. In Corinths „Malschule für Weiber", die er zur Sicherung seines Lebensunterhaltes bei seiner Ankunft in Berlin 1901 gegründet hatte, 370

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Abb. 3 Lovis Corinth. Selbstportrait mit seiner Frau und Sektglas [Charlotte Berend], 1902. Öl auf Leinwand. 98,5x108,5 cm. Privatbesitz

lernt man sich kennen. Bald macht Corinth aus seiner Lieblingsschülerin, dem malenden ,Subjekt', sein Lieblingsmodell, ein posierendes ,Objekt' - so hat er sie auch in „Selbstportrait mit seiner Frau und Sektglas" von 1902 festgehalten (Abb. 3). Die organisatorischen Fähigkeiten der gewandten ,Tochter aus gutem Hause' stellt Corinth vorausschauend bei Atelierausstellungen auf die Probe. Schließlich wird aus dem Lehrer-Schülerin-Verhältnis eine Liebesbeziehung. Von Anfang an ist Corinth der unumstrittene Mittelpunkt von Berend-Corinths Leben, dann des Familienlebens, das sich nach der Geburt von Sohn Thomas 1904 und Tochter Wilhelmine 1909 entwickelt. Spätestens nach seinem Schlaganfall 1911 ist Corinth bis zu seinem Tod 1925 Gegenstand umfassender ehefraulicher Hege und Pflege. Modellhafte Paargemeinschaften

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Nach der Heirat etabliert sich eine eheliche Arbeitsteilung überwiegend bürgerlichen Zuschnitts: Berend-Corinth wird Leiterin der Verbrauchsverwaltung, Corinth übt die Erwerbsfunktion über seinen Beruf als ein per Alimentationspflicht an die Familie rückgebundenes Feld individueller Entfaltung aus.20 Dennoch gibt es zwei künstlerspezifische Abweichungen, die miteinander verbunden sind. Beide Eheleute üben ihre jeweiligen Funktionen unter einem Dach aus, denn wie in den meisten Künstlerhaushalten sind auch im Hause Klopstockstraße der Wohnbereich, speziell die hauswirtschaftlich genutzten Räume, und der Atelierbereich recht eng miteinander verzahnt. Corinth als der dominierende Partner kann unliebsame Tätigkeiten ohne großen Aufwand delegieren, und so übernimmt Berend-Corinth über die ehe- und hausfraulichen Pflichten hinaus auch Aufgaben, die eher zur männlichen Berufsarbeit gehören. Auf diese Weise erweitert sich Berend-Corinths Tätigkeitsspektrum zusehends, während sich das von Corinth mehr und mehr auf seinen Künstlerberuf reduziert. Primär malt Corinth, sichert so den Lebensunterhalt. Daneben kümmert er sich um berufliche Kontakte, Ausstellungen und Bilderverkäufe. Berend-Corinth fungiert als sichernder und schützender Rahmen für Corinths Künstlerdasein, zentriert all ihre Kompetenzen und Leistungen auf Corinths Berufstätigkeit. Vor allem ihre eigenen künstlerischen Erfahrungen münzt sie zu seinen Gunsten um: Als Modell spendet sie publikumswirksame Motive und speist seine Motivation auf dem Wege erotisierender Posen, berät ihn fachkundig bei der Arbeit. Zudem verrichtet sie lästige Büroarbeiten, übernimmt Planung und Bauleitung für das Haus in Urfeld. Von hier aus sollte er seine berühmten „Walchensee-Landschaften" malen - nicht ohne ihr strikt zu untersagen, sich jemals diesem Sujet zu widmen.21 Nach seinem Tod dient sie ihm als Biographin und Kunsthistorikerin, indem sie in arbeitsaufwendigen Publikationen sein ,Leben und Werk' erfasst. Als Corinths persönliche Betreuerin arbeitet sie stetig an ihm und baut ihn auf: macht aus dem scheuen Mann mit Hang zu ausschweifender Lebensart ein Mitglied der höheren Gesellschaft, reguliert seinen Alkoholkonsum, stabilisiert ihn in seinen depressiven Krisen, beschützt ihn vor selbstzerstörerischen Anwandlungen. Zudem organisiert sie sein Sozialleben als Künstler: fördert seine gesellschaftlichen Kontakte als kultivierte Gastgeberin im geschmackvoll gestalteten Heim, repräsentiert drinnen wie draußen als elegante ,Künstlerfrau'. Daneben fungiert sie zunächst als Hausfrau, später als Vorsteherin des Hauspersonals. In zweiter Linie ist sie Mutter -seiner Kinder, indem sie deren Erziehung der Sorge um ihn anpasst. So werden Sohn Thomas und Tochter Wilhelmine von klein auf zur Rücksicht auf den wenig väterlichen „Lovis" angehalten und lernen, ihm wie ihr mütterliches Vorbild gute Modelle zu sein.22 Berend-Corinths Energie zerfasert sich entsprechend ihrem weit gefächerten Aufgabenspektrum. Ihre Chancen zu konzentrierter und kontinuierlicher künstlerischer Arbeit sinken. Aus der vielversprechenden jungen Malerin wird bald eine ,tüchtige Gehilfin' und künstlerische Gelegenheitsarbeiterin, die, statt sich eigener Erfolge erfreuen zu können, an seinem wachsenden Ruhm partizipiert. Nicht nur innerhalb 372

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Abb. 4

C h a r l o t t e B e r e n d - C o r i n t h . Die s c h w e r e S t u n d e , 1908. Öl, 1 2 0 x 1 5 0 c m

der Paarbeziehung, sondern auch f ü r die Künstlerkreise und das Kunstpublikum bleibt sie seine Schülerin und vor allem sein Modell - seine Kollegin und Konkurrentin sollte sie nie werden. Vor allem nach der Geburt der beiden Kinder gewinnt dieser Abbauprozess an Schubkraft. Was sich innerhalb der Ehegeschichte als Markstein des ,Zusammenwachsens' ausnimmt, wirkt sich innerhalb der männlichen und der weiblichen Biographie so aus, dass man von einer durch die Elternschaft ausgelösten, neuerlichen Geschlechterdifferenzierung sprechen kann. In Corinths ausschließlich über den Beruf definierter Biographie lassen sich beide Geburten mühelos einflechten. Jedes Kind gerät ihm zum Beleg seiner trotz fortgeschrittenen Alters ungebrochenen, männlichen Schaffenskraft' und zur Zierde seiner ansteigenden Erfolgskurve als ,vitaler Künstler'. Für BerendCorinth dehnt sich die Mutterrolle, die sie für Corinth schon lange innehatte, auf weitere Personen aus. Während Corinth die Mutterschaft seiner Ehefrau in zahlreichen ,MutterKind'-Darstellungen

öffentlichkeitswirksam thematisiert, wird diese für Berend-

Corinth zu einem Mehr an lebenspraktischen Belastungen. Fast wie ein symbolischer Abschied vom Künstlerinnendasein wirkt es von daher, dass Berend-Corinths letztes bekannt gewordenes Gemälde, „Die schwere Stunde" von 1908, das sie kurze Zeit vor Modellhafte Paargemeinschaften

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Abb. 5 Lovis Corinth. Die Malerin [Charlotte Berend portraitiert Lisa Winchenbach], 1903 Ö l auf Pappe, 5 0 x 6 1 cm. Verbleib unbekannt

der Geburt des zweiten Kindes malte, den Akt des Gebärens zum Thema hat (Abb. 4): Die Hervorbringung anderer setzt sich an die Stelle selbstbezüglicher Produktivität. 23 Corinth und Berend-Corinth haben sich zusammen in das Paarmodell der narzisstischen Kollusion hineinentwickelt. Schon ihr voreheliches Liebesverhältnis, dann verstärkt ihre Ehe fokussieren sie auf Corinths Bedürfnisse als Künstler und stellen Berend-Corinths künstlerische Laufbahn in den Hintergrund. Gemeinsam schaffen der Narzisst Corinth und die Komplementärnarzisstin Berend-Corinth die Voraussetzungen dafür, dass seine Künstlerschaft zusehends erstrahlt und ihre Künstlerinnenschaft mehr und mehr verlischt. Dem entspricht die gegenseitige Wahrnehmung. Zu Corinths Rolle als Narzisst gehört es, dass er zum einen Berend-Corinths künstlerische Arbeit ignoriert und zum anderen ihre Beiträge als Ko-Akteurin zu seiner ,Erfolgskünstler'-Vita verschweigt. Vor der Ehe, in „Die Malerin Charlotte Berend an der Staffelei" von 1902, und noch im Jahr der Heirat, in „Die Malerin" von 1903, hatte Corinth die Gefährtin in Ausübung ihrer künstlerischen Profession dar374

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gestellt (Abb. 5). 24 Dann verschwindet Berend-Corinth als Malerin aus seinen Arbeiten und ein nahezu gigantisches Konvolut an Bildern von der erotischen Ehefrau entsteht. Ähnlich verhält es sich mit Corinths schriftlicher Hinterlassenschaft. Anfangs wenden sich seine Briefe noch - belehrend - an seine ehemalige Lieblingsschülerin.25 Später, in seiner „Selbstbiographie", die Berend-Corinth 1926 posthum für ihn veröffentlicht, erwähnt er sie nur einmal - in ihrer Eigenschaft als hingebungsvolle Gefährtin, als seinen „Schutzgeist". 26 Berend-Corinth hat in ihrem Buch „Mein Leben mit Corinth" von 1947 selbst darüber Zeugnis abgelegt, wie perfekt sie die Rolle der Komplementärnarzisstin und Ko-Akteurin von Lovis Corinth gespielt hat.27 Nachträglich, etliche Jahre nach seinem Tod, liefert sie mit diesem Buch eine schriftliche Re-Definition ihres Lebens als Leben für Corinth, wie um die damals von ihr sanktionierte, gemeinsame Ehe-Definition im nachhinein zu ihrem höchsteigenen Willensakt aufwerten und zu ihrem (literarischen) Werk machen zu wollen. Bis auf einige wenige Stellen, an denen sich Verletzungen bekunden, spiegelt das Buch Corinths narzisstisches Hochzeitsbild, in dem er sie bildnerisch zu einem Bestandteil seiner Persönlichkeit gemacht hatte. Berend-Corinths rekonstruierender Rückblick spricht dafür, dass sie sich während und nach der Beziehung zu Corinth in die komplementärnarzisstische Position ,hineindefiniert' hatte. Ihre Liebesgefühle für Corinth habe sie von vornherein an die Bedingung, ihn bewundern zu können, geknüpft.28 Immer wieder habe sie seinem „Genie" gehuldigt, dem sie ,Opfer' zu bringen bereit gewesen sei.29 Seine Depressionen, teilweise an Tyrannei grenzenden Launen, auch, dass er sie manchmal im Stich ließ, habe sie als naturgegebene Züge seines genialischen' Charakters akzeptiert.30 Die seltenen Versuche der Rebellion werden durch den rückblickenden Schreibgestus nochmals annulliert: reumütig zurückgezogen, mit Selbstbeherrschung niedergekämpft oder der Selbstzensur preisgegeben. Dazu gehört auch, dass Berend-Corinth den Neid von Ehefrauen auf den größeren Berufserfolg ihrer Ehemänner einem Zuviel an weiblicher Eigenliebe zuschreibt und behauptet: „Diesen Frauen fehlt der Genuß an dem Wert, den ein bedeutender Mann hat.". 31 Mit ihrem komplementärnarzisstischen Selbstverständnis, das sich hier deutlich bekundet, stützt BerendCorinth auch den typischen autoaggressiven Aspekt: Schon zu Beginn der Ehe, als Corinth seine junge Frau davor gewarnt hatte, ihn mit Klagen über ihre nunmehr beschränkte künstlerische Selbstentfaltung zu belästigen, habe sie beschlossen, nicht ihn leiden zu lassen, sondern selbst zu leiden und „stets allein fertig zu werden". 32 Aber auch Berend-Corinths Stolz, ihr niedergehaltener Ehrgeiz und nicht zuletzt eine massive Durchsetzungsbereitschaft kommen im Buch zum Vorschein - freilich nur, wenn sie von seinen Anliegen spricht oder wenn sie meint, seinem Vorbild folgend „im Kampfe sein" zu müssen.33

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Selbstportrait mit Rückenakt" im Kontext der Künstlerpaar-Beziehung Weitaus deutlicher, als es das Bild herausstellt, erweist sich im beziehungsgeschichtlichen Kontext, dass Berend-Corinth die von Corinth dominierte Re-Definition der Beziehungswirklichkeit nicht einfach geschehen ließ, sondern auf der Handlungsebene rückbestätigte und mitvollzog, indem sie die ihr vom Ehemann zugeschriebenen Funktionen überwiegend engagiert ausübte. Berend-Corinths Beispiel zeigt, dass Frauen innerhalb der Ehe bürgerlichen Zuschnitts zu ihrer eigenen Benachteiligung, Beschränkung, unter Umständen auch zur Schädigung und Vernichtung ihrer Berufslaufbahn oder gar der eigenen Person als willige ,Mitarbeiterinnen' ihrer Männer maßgeblich beitrugen. In diesem Sinne möchte ich Renate Bergers These, bei dem Gemälde handele es sich um ein „Dokument weiblicher Kapitulation vor dem männlichen Darstellungs- und Deutungsmonopol", spezifizieren. 34 Berend-Corinth hat den Wünschen Corinths gewissermaßen initiativ nachgegeben', sich ihm freudig ,ergeben' und ihre eigenen Ansprüche fast erleichtert ,aufgegeben', sie hat - um die Semantik des militärischen Terminus auszuschöpfen - die ,Waffen gestreckt', ohne vorher offen für ihre berufskünstlerischen Ambitionen gestritten oder auch nur an Widerstand gedacht zu haben. Eine Verhaltensweise, die man nicht vorschnell auf individuelle Defizite zurückführen, sondern als Teilergebnis einer Tendenz zu Selbstbeschränkung, Selbstschädigung oder gar Autodestruktivität, die im Zuge der weiblichen Sozialisation typischerweise erzeugt wurde, untersuchen sollte. Vor diesem Hintergrund kann man „Selbstportrait mit Rückenakt" doppelt einordnen. Als Gemälde aus Corinths Händen stellt es die symbolische Tilgung der ehefraulichen Künstlerschaft dar. Von seinem bloßen Vorhandensein her - Berend-Corinth machte die Fertigstellung des Bildes durch ihr Modellstehen ja erst möglich - und vor dem Hintergrund der Beziehungsgeschichte stellt das Gemälde ein Zeugnis dar für die von Corinth und Berend-Corinth gemeinschaftlich vollzogene, systematische Beschneidung der Künstlerin.

Hannah Hoch und Raoul Hausmann Hannah Hoch: „Frau und Saturn" (1922) Wie bei Corinths „Selbstportrait mit Rückenakt" liegt auch bei Höchs Gemälde ein Grenzfall des Künstlerpaar-Bildnisses vor (Abb. 2). Der Portraitcharakter der beiden Gestalten ist, der malerischen Auffassung des Bildes entsprechend, nicht in dem Umfang wie in der ,klassischen' Portraitkunst gegeben. Dennoch lassen Fotografien aus dem betreffenden Zeitraum darauf schließen, dass „Frau und Saturn" Hoch selbst mit Raoul Hausmann zeigt. 35 Überdies kann man im Vergleich mit explizit portrait376

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haften Arbeiten Höchs, mit vielen ihrer Selbstbildnisse und ihrem „Bildnis Raoul Hausmann" von 1922, physiognomisch signifikante Darstellungselemente ausmachen, die auch in „Frau und Saturn" auftauchen 36 : bei Hoch die großen Augen und den kleinen Mund, die ausgeprägte, schmale Nase mit leicht bogenförmig verlaufendem Rücken und die Pagenkopf-Frisur, bei Hausmann die wellenförmig geschwungenen Lippen, die starken Brauen und den grimmigen Gesichtsausdruck. Ein Grenzfall ist „Frau und Saturn" auch deshalb, weil das Gemälde nicht zwei, sondern drei Gestalten zeigt: eine Frau, ein Kind, einen Mann. Um die für ein Familienbildnis typische Konfiguration aus ,Vater, Mutter, Kind' handelt es sich jedoch nicht, denn das Kind stellt keine eigenständige ,Person' dar: Es wirkt schemenhaft und ist formal ein Bestandteil der Frauengestalt, von ihrer Körperkontur fast ganz eingebunden und farblich in sie eingeschmolzen. Von einem Paar im herkömmlichen Sinne kann man nicht sprechen: Hoch hat sich in „Frau und Saturn" mit ihrem langjährigen Lebensgefährten im Stadium des Zerwürfnisses verewigt - und damit ein Paarbildnis geschaffen, das gewissermaßen exemplarisch den Bildtypus im Zustand seiner Auflösung demonstriert. Die nah an den unteren Bildrand herangeschobene Mutter-Kind-Gruppe im Vordergrund bildet eine gestaltliche Einheit und steht dem nach hinten gerückten Mann oben rechts gegenüber. Zudem hat Hoch das dargestellte Paar von der Realitätsebene her auseinandertreten lassen, denn die Frau wird als sitzende Halbfigur, der Mann als körperloser Kopf präsentiert, der wie ein Simulacrum über der Mutter-Kind-Gruppe zu schweben scheint. Dem entspricht, dass die Portraitähnlichkeit der Frauengestalt mit Hannah Hoch ausgeprägter ist als die des Männerkopfes, der nur einige rudimentäre Züge von Raoul Hausmann trägt. Gemessen an der von männlichen Autoren dominierten Bildtradition im Hinblick auf das Paar, nimmt die Frauengestalt eine außergewöhnlich herausgehobene Position ein: Sie ist es, die man zuerst wahrnimmt, die das Bildgeschehen bestimmt, ohne die zwischen dem Kind und dem Mann keine Verbindung bestünde. Obwohl die Gestalt des Mannes und Künstlers wie in Corinths „Selbstportrait mit Rückenakt" gegenüber der Frau und Künstlerin erhöht ist, bildet die weibliche Gestalt hier in „Frau und Saturn" - das Selbstbildnis der Künstlerin - den Mittelpunkt des Bildes, hinter dem der Mann und Künstler zurücktritt. Die Mutter-Kind-Gruppe ist in Anlehnung an Bilder von Maria mit Jesuskind dargestellt. Hoch hat den Typus der Madonna mit nacktem Knaben auf den Armen und vom Beweinungstypus das Handlungsschema der um den toten Sohn trauernden Gottesmutter kombiniert. Von der sonst bekleideten Frauengestalt wird eine in warmen Farben aufscheinende, entblößte Brust gezeigt - die erste Nahrungsquelle, die weibliche ,Quelle des Lebens'. Das Kind - nach Größe, Haltung und schematischen Umrissen ein Säugling - kontrastiert mit dieser Anmutung von Lebensfülle. Sein Kopf ist eine unnatürlich leuchtende, transparente Scheibe, mit der es aus dem mütterlichen Körper austritt, wie um nach oben entschweben zu wollen. Der mit bräunlichen und Modellhafte Paargemeinschaften

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grünlichen Farbnuancen fast leichenhaft wirkende Kinderleib sackt nach rechts unten weg und scheint im Begriff, in den Körper der Mutter einzusinken. Höchs Darstellung erinnert an zwei metaphorische Wendungen zur Beschönigung des Todes: der ,Aufstieg der Seele gen Himmel' und die ,Rückkehr' des Körpers in den ,mütterlichen Schoß der Erde'. Vermutlich hat Hoch hier, in der Mutter-Kind-Gruppe, ein zur damaligen Zeit brisantes und politisch heftig umkämpftes Thema auf sublime Weise umgesetzt: die Abtreibung. Hoch hatte selbst im Laufe ihrer Beziehung zu Hausmann in den Jahren 1916 und 1918 jeweils einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. 37 Von daher wohl präsentiert sie sich in diesem ,Trennungsbild' als trauernde Mutter, nicht als Künstlerin. Weil das Kind ein integraler Bestandteil der Muttergestalt ist, wird die mitleidende Empathie, die das zweischichtige Marien-Schema in den Betrachtenden evoziert, ganz auf Höchs Selbstbildnis gelenkt. Unwillkürlich hält man Ausschau nach dem Ursprung des Jammers und richtet die Aufmerksamkeit auf den von oben finster und feindselig auf die Trauerszene herabblickenden Männerkopf. Wer wäre nicht geneigt, in ihm den Verursacher des Kindstodes zu sehen? Hoch installiert in der Mutter-Kind-Gruppe eine Perspektive, die dem Mann die Rolle des Zerstörers zuschreibt. Unter dieses Vorzeichen gerät damit auch die Paardarstellung. Frauen- und Männerkörper bilden keine produktive Einheit wie bei Corinth, sondern zwei separate Welten. Ein schroffer Hell-Dunkel-Gegensatz zerteilt das Gemälde in eine weibliche und eine männliche Bildsphäre. Dementsprechend ist auch der astrologische Aspekt zu lesen, den Hoch ihrem Gemälde verliehen hat. Neben dem Titel „Frau und Saturn" verweisen mehrere bildinterne Elemente auf die Astrologie: die Inschrift „Saturn" im kalten Gelb des spitzzackigen Sterns, die beiden Planetenzeichen für Jupiter und Saturn oberhalb der rechten Schulter der Frau. Das gut erkennbare, größere JupiterZeichen befindet sich innerhalb des Kreisbogens und damit in der von der leuchtenden Frauengestalt beherrschten, unteren Bildsphäre; das kleinere Saturn-Zeichen außerhalb des Kreisbogens gehört der Bildsphäre des dunklen Männerkopfes an. Folglich ordnet das Gemälde der Frau Hoch das jovialische Prinzip von Wachstum und Fülle, dem Mann Hausmann das saturnische Prinzip von Beschränkung und Vernichtung zu. 38 Durch den astrologischen Bezugshorizont erhält das Bildnis eine symbolische Dimension: Ein schicksalhafter, immerwährender Geschlechterkampf kosmischen Ausmaßes scheint die Paarbeziehung zu steuern. Denn Jupiter und Saturn gelten innerhalb der Astrologie nicht nur als Gegenspieler, es handelt sich bei ihnen um zwei verstirnte Götter des griechischen Mythos, um Vater Kronos, der zwecks Machterhalt seine Kinder fraß, und Sohn Zeus, der wiederum Kronos stürzte - und zwar mit Hilfe seiner Mutter Rhea. Aber Saturn hat seit der Renaissance auch eine kunstspezifische Bedeutung als Verursacher der Genialität ebenso wie der Melancholie. 39 Der Männerkopf mit den portraithaften Zügen Hausmanns spielt also nicht nur die Rolle des mythischen ,Kinderfressers' Kronos, sondern auch die des Planetengottes der Denker und Künstler. 378

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Zu beiden Kategorien kann Höchs Lebensgefährte als Theoretiker und ,Fotomonteur' im Berliner Club Dada gezählt werden. Weil Hausmann nicht nur Höchs Lebensgefährte, sondern auch ihr Künstlerkollege war, und weil der Mann im Bild mit seinem schwärzlichen Gesicht und der düsteren Miene auch visuelle Kennzeichen des Saturn aufweist, könnte man sagen: Hoch hat Hausmann im Bild zum finsteren Genius vergöttlicht und ihn als Mann zugleich entmenschlicht. Wie ein klobiges Götzenbild prangt der körperlose Männerkopf über der von leiblicher Wärme strahlenden Frauengestalt: Sinnbild einer aufs Geistige reduzierten, lebensfeindlichen Männlichkeit sowie eines düsteren, unzeugerischen Künstlertums, und, in diesem doppelten Sinne, Verursacher ihrer Melancholie - nicht die der Künstlerin, sondern die der Frau, die nicht Mutter wurde. Anders als in Corinths „Selbstbildnis mit Rückenakt" findet in „Frau und Saturn" zwischen Frau und Mann kein fruchtbares Wechselspiel der Gegensätze statt, sondern es herrscht der konfrontative Kontrast. Mit gegensätzlichen Licht- und Temperaturwerten erzeugt die Farbe einen dramatischen Kampf zwischen der weiblichen und der männlichen Bildsphäre. Ein Farbinferno eröffnet sich: Rot und Schwarz - die Farben von Jupiter und Saturn wie auch die der Hölle - ,putschen' sich gegenseitig auf.40 Rot bringt Schwarz zum Glühen, Schwarz steigert die Buntkraft des Rot ins Aggressive. 41 Diese atmosphärische Aggressivität auf der Ebene des Kolorits entlädt sich in einer von der gemalten Linie getragenen Bildsprache des Verletzens. Scharf gezogene Begrenzungslinien segregieren die Bildwelt und schneiden Formen aus ihr heraus, Binnenlinien zerstückeln die Formen von innen her. Überschneidungen im Bereich der menschlichen Gestalten wirken wie schmerzhafte Schnitte. Im Paar konzentriert sich die Bildsprache des Verletzens, hier wird sie Duell. Tief fräsen sich drei vom Männerkopf ausgehende, blaue Linien in den Frauenkopf hinein, beantwortet von der rasiermesserscharfen, schräg abfallenden Nackenlinie der Frauengestalt, die den Männerkopf vom Hals zu trennen scheint. Dem tödlichen Angriff auf den Kopf der Frau entspricht die Enthauptung des Mannes.

Die Kopf-Symbolik im Berliner Club Dada Die wichtige Rolle des Kopf-Motives in „Frau und Saturn" spricht dafür, dass es für Hoch im Konflikt mit Hausmann um die Frage der geistigen Macht und der Macht des Geistigen gegangen ist. Der Kopf, Sitz der zerebralen ,Schaltzentrale', steht für die menschliche Denktätigkeit und kann neben der produktiven Seite des Reflektierens auch dessen defizitäre, pathologische und zerstörerische Seiten symbolisieren. 42 Das ,Haupt', oberster Teil des Homo sapiens, gilt als Quelle der Menschheits- als Kulturgeschichte, aber auch einer unaufhörlichen zivilisatorischen Zerstörungsdialektik. In diesem Sinne ist der Kopf sowohl der wichtigste Ausgangspunkt destruktiver Absichten wie auch das Hauptangriffsziel, wenn es um die Totalvernichtung des Gegners geht. Modellhafte Paargemeinschaften

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Diese destruktive Kopf-Symbolik hat auch im unmittelbaren geistig-sozialen Umfeld der Künstlerpaar-Beziehung zwischen H o c h und Hausmann eine wichtige Rolle gespielt: im Berliner Club Dada. Innerhalb dieser Künstlergruppe gilt Hausmann als ,kluger Kopf', gibt als „Dadasoph" den Vordenker. Unter seiner maßgeblichen Mitwirkung haben die Berliner Dadaisten den Kopf zu einem zentralen Gegenstand ihrer Selbstdefinition gemacht. Zwei Verhaltensweisen, die physiognomisch an den Kopf gebunden sind, setzen die Dadaisten in ihren anti-künstlerischen Bildern und Aktionen gestalterisch ein: das Lachen und das Schreien. U m den lautstarken Ruf der Dadaisten nach Veränderung zu signalisieren, verwendet man wiederholt die Fotografie von Hausmanns aufgerissenem, zähnebleckendem Männermund. 4 3 Hausmann ist es auch, der mit seiner bekannten Assemblage „Mechanischer Kopf (Der Geist unserer Zeit)" nicht nur die Geistlosigkeit seiner Zeit ironisiert, sondern auch das prototypische Bild des automatisierten dadaistischen Künstlerhirns geschaffen hat. 44 Vor allem zerstörerisch soll der Dadaist denken, sein ,Gehirn als Waffe' gebrauchen - gemäß der Formel aus dem von Hausmann mitverfassten Programm zur Künstlervereinigung „Bund" von 1917.45 In welcher Form er auch immer auftaucht, stets ist der dadaistische Kopf ein betont,männlicher' Kopf: Sitz eines überlegenen Geistes und eines mit Monokel bewehrten, voyeuristischen Auges. Dada Berlin war ein Männer-Club - daher wundert es weder, dass man ,Hausmanns Freundin' die Integration als gleichberechtigte Kollegin versagte, noch dass H o c h ihrerseits dem anti-künstlerischen Tun eher kritisch-distanziert, zuweilen ironisch gegenüberstand. Nach Art des Arcimboldo hat sie in ihrer Fotomontage „DaD a n d y " von 1919 das H a u p t des typischen dadaistischen Flaneurs, wie er neben Hausmann auch von George Grosz personifiziert wurde, aus weiblichen Körperteilen zusammengesetzt - der Dadaist, so kann man diese Bildformulierung mit Jula Dech deuten, hat,nichts als Frauen im Kopf' (Abb. 6).46 Die Lektüre von H ö c h s umfangreicher Hinterlassenschaft an schriftlichen D o k u menten erbringt das Resultat, dass „Dadasoph" H a u s m a n n sein Gehirn als Instrument seines geistigen Kampfes nicht nur gegen die Weimarer Gesellschaft eingesetzt, sondern auch gegen die Gefährtin gerichtet hat. Hausmanns agile, anregende, aber auch angriffslustige D e n k - und Schreibtätigkeit prägt diese Künstlerpaar-Beziehung maßgeblich. Angesichts der Flut seiner Nachrichten, Briefe und Abhandlungen, mit denen er die zurückhaltende H o c h zu erreichen sucht, kann man kaum von einer Korrespondenz im strengen Sinne des Wortes sprechen. Er beliefert sie mit Literaturempfehlungen, fremdem wie eigenem Gedankengut, fordert sie auf, seine Einsichten und Denkweisen zu teilen, schreibt ihr im buchstäblichen wie im metaphorischen Sinne Weiblichkeitsbilder zu und gibt ihr viel zu erkennen - weniger, was sie ihm ist, als was sie für ihn sein soll. Seine Sprache bedrängt, fordert auf und ein, befiehlt, greift an. Wiederholt stößt H a u s m a n n verzweifelte Imperative aus wie „fühle doch, daß ich Dich liebe! ... Fühle doch, daß D u dazuhelfen mußt! D a ß D u mich brauchen mußt! Wünsch Dir doch, daß ich bei Dir wäre!". 4 7 Imperative, die nichts weniger tun als das, dessen 380

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Abb. 6 Hannah Hoch Da-Dandy, 1919 Fotomontage und Collage 30x23 cm Privatbesitz

die Liebe bedarf: einen Spielraum lassen f ü r den freien Willen des Gegenübers. H a u s manns z w a n g h a f t e Angst vor dem Risiko, ein , N e i n ' beschieden zu b e k o m m e n - vor der N e g a t i o n also, die er selbst als dadaistischer A n t i - K ü n s t l e r kultiviert - vernichtet die G r u n d l a g e f ü r wechselseitige Empathie.

Die dadaistische Künstlerpaar-Beziehung ,Dadaistisch' ist diese Beziehung nicht nur, weil sich hier ein Dadaist u n d eine dem D a d a i s m u s nahestehende Künstlerin zu einem Paar z u s a m m e n g e f u n d e n haben, s o n dern auch deshalb, weil H a u s m a n n , der d o m i n a n t e Partner, sein Verhältnis zu H o c h von Beginn an seinem dadaistischen Geist unterstellt hat. Die Berliner Dadaisten, v o r allem H a u s m a n n , wollen keine in sich abgegrenzte Kunst, sondern sie streben danach, K u n s t u n d Leben z u s a m m e n z u f ü h r e n . F ü r H a u s m a n n soll aus der Verschmelzung v o n ästhetischer u n d sozialer Wirklichkeit eine neue Modellhafte Paargemeinschaften

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Welt entstehen, zu der auch eine freiheitliche Geschlechterordnung zählt. Ein geeigneteres Feld für die Integration von Leben und Werk auf Probe als die Beziehung zu einer Künstlerin ist kaum vorstellbar. Die Beziehungsrealität zeigt dann allerdings, dass es Hausmann primär um eine Einheit seines Werkes mit seinem Leben geht. Nach dieser geheimen Zielvorgabe richtet und gestaltet sich jedenfalls der wichtigste Teil des Experiments, das er als Versuchsleiter mit sich selbst und Hoch anstellt. Sein Hauptinteresse gilt einer menage ä trois: Eine Dreierbeziehung möchte Hausmann führen, mit der älteren Ehefrau Elisabeth Hausmann-Schaeffer und der jüngeren Hoch, möchte möglichst auch die beiden Frauen - freilich unter seiner Ägide - miteinander verbunden sehen. Am Willen Höchs geht dieses Ziel vorbei, und damit ist auch der Grundstein für diese Beziehungs- als Konfliktgeschichte gelegt. Im Unterschied zu Hoch steht Hausmann ein stützender sozialer Rahmen zur Verfügung, der aus dem professionellen Betätigungsfeld der männlichen Künstlergruppe einerseits und dem emotional wie ökonomisch,sicheren Hafen' seiner langjährigen Ehe mit der Musiklehrerin Elisabeth Hausmann-Schaeffer andererseits besteht. Als Mitbegründer des Berliner Dada-Kreises kann Hausmann sich der grundsätzlichen Zustimmung seiner Kollegen in allen Fragen der anti-künstlerischen Lebensgestaltung sicher sein und von diesem Forum aus externe berufliche Kontakte knüpfen. Seine Ehefrau nutzt er als Bastion, wenn er mit Hoch in Streit gerät, macht Hausmann-Schaeffer sogar zu seiner persönlichen Botschafterin und Mediatorin in diesen Konflikten. In das soziale Netz, über das er verfügt, spinnt Hausmann Hannah Hoch ein und versucht darüber hinaus, sich in ihre familiären und freundschaftlichen Beziehungen ,einzuklinken', insbesondere Schwester Grete oder den Bruder „Danilo" für seine Zwecke einzuspannen. Hoch wiederum, die Hausmann als unerfahrene junge Frau aus der Provinz in Berlin begegnet war, kann sich als statusniedrigere Kunstgewerbeschülerin ohne sozialen und beruflichen Rückhalt lange Zeit nur auf ihre Herkunftsfamilie stützen. Das birgt Probleme, denn der Vater ist mit ihrer beruflichen Orientierung nicht einverstanden. Zermürbend sind die Stationen des gemeinsamen Weges. Das Prinzip des gemeinsamen Handelns ist die Eskalation, und diese reicht bis zur körperlichen Gewaltanwendung durch Hausmann. Gleich zu Anfang 1915 tritt Hausmann als Anreger auf und schiebt dafür der Freundin die Aufgabe zu, mit ihrer Brotarbeit beim Ullstein-Verlag einen Teil seines Lebensunterhaltes zu sichern. Bereits nach einem Jahr, etwa zur Zeit der ersten Abtreibung, zeichnen sich die Konfliktthemen ab: Hausmann will sich nur halb ,geben', die Freundin aber total besitzen, will, dass Hoch ihm - so seine Worte - „Eva" und „Heilige", „Jungfrau" und „Mutter" ist. 48 Sie soll ihm eine Mutter sein, aber auch Mutter eines Kindes werden - seines Sohnes, „Himmelblau", wie er ihn schwärmerisch in einem Gedicht nennt. 49 Zu diesem Zeitpunkt ist Hausmann bereits Vater einer 1907 geborenen Tochter namens Vera, die wohl überwiegend von ihrer Mutter HausmannSchaeffer aufgezogen wird. 50 Hoch hegt ebenfalls einen Kinderwunsch, knüpft dessen 382

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Verwirklichung aber an die Bedingung, Hausmann möge sich definitiv für eine monogame Beziehung zu ihr entscheiden. Das aber verweigert Hausmann. Die Jahre 1917 und vor allem das Jahr der zweiten Abtreibung 1918 sind von krisenhaften Zuspitzungen gezeichnet. Je mehr Hoch sich weigert, in dieser unklaren Lebenssituation Mutter zu werden, desto nachdringlicher stellt Hausmann seine Forderungen: Sie soll sich ,auflösen' und ,eins' mit ihm werden, ihren „männlichen Protest" aufgeben und ihrem „Mutterschaftstrieb" folgen. 5 1 Streit und Versöhnung wechseln sich in immer schnellerer Folge ab. Hausmanns Gesten des Bedauerns und der Buße bilden Auftakte zu neuerlichen Angriffen. Hoch bekundet erstmals Trennungsabsichten, Hausmann antwortet mit Mord- und Selbstmorddrohungen - so telegrafiert er ihr im April 1918: „habe schon vor erhalt deines briefes meine ganze schuld begriffen, flehe dich an meinen brief zu lesen muß mich sonst töten, bete dich an = raoul". 5 2 Hoch ihrerseits äußert zuweilen „Todesangst", versucht schließlich, sich aus dem Fenster zu stürzen. 5 3 Nachdem das Künstlerpaar Anfang 1918 während eines Aufenthaltes in Heidebrink trotz vieler Streitigkeiten in gemeinsamen Experimenten die Fotomontage entwickelt hatte, gewinnt der Dauerkonflikt in den letzten Beziehungsjahren gegenüber den künst-

Abb. 7 Hannah Hoch. Schnitt mit dem Küchenmesser D A D A durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, 1919/20. Fotomontage und Collage [Detail]; 1 1 4 x 9 0 cm. Berlin, Neue Nationalgalerie Modellhafte Paargemeinschaften

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lerischen Gemeinsamkeiten die Oberhand. Hausmann behindert Hoch wiederholt in ihrer Kunstausübung und sabotiert die Veröffentlichung einiger Arbeiten, indem er ihren Namen - so nennt es Hoch - „verstümmelt". 54 Auf dem Höhepunkt einer neuerlichen Krise im Jahre 1920 beginnt die stille Hoch, sich künstlerisch zu artikulieren. Verhalten noch gerät das in „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands": Rechts unten sieht man einen auf eine Landkarte zufahrenden Zug, auf dem die europäischen Länder markiert sind, die bereits das Frauenwahlrecht eingeführt hatten - aus den Zugfenstern lugen die Köpfe von Hoch und Hausmann; sie schaut zur Landkarte hin, während er in die Gegenrichtung blickt (Abb. 7). Im Paar-Diptychon, bestehend aus zwei von Hausmann aufgenommenen Fotografien von sich und seiner Gefährtin aus dem

Abb. 8 Raoul Hausmann [als Body-Builder] um 1919/20 Fotografie Beschriftung auf der Rückseite durch Hannah Hoch: „Schickte Hausmann nach unserer endgültigen Trennung über Baader 1923"

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Jahre 1920, die Hoch kombiniert und graphisch bearbeitet hat, bekundet Hoch ironische Distanz gegenüber sich selbst, Hausmann und der gemeinsamen Beziehung: Mit der Aufschrift „c'n'est pas Jesus" [sie] auf der linken Fotografie, die Hausmann zeigt, spricht sie ihm die Erlöserrolle ab, die „tausend Grüße aus Florenz" auf der rechten Fotografie, die Hoch zeigt, spielen auf die mehrwöchige „Flucht" vor dem Gefährten an.55 Ein letztes Mal flackert die Beziehung 1922 auf, als Hoch nach ihrer Rückkehr aus Italien vorübergehend erwägt, die von Hausmann geforderte Doppelrolle als seine Retterin und Zähmerin endlich zu übernehmen. Doch dann trennt sie sich von ihm. Mittels einer Fotografie von sich als posierendem Body-Builder, die Johannes Baader für ihn an Hoch übermittelt, lässt Hausmann noch ein letztes Mal die Muskeln spielen (Abb. 8). Mit Blick auf „Frau und Saturn" kann man sagen: Von einem Männerzirkel umgeben, der die Aggressivität kultiviert und aufwertet, bedrängt von Hausmanns besitzergreifendem Denken und bedroht von seinen Gewaltausbrüchen, vollzieht Hoch in „Frau und Saturn" symbolisch am Kopf des „Dadasophen" einen trennenden Schnitt.

Bilanz Die bürgerliche Gesellschafts- und Geschlechterordnung, deren Grundlagen sich im 18. Jahrhundert ausgebildet hatten, war nach einer etwa hundertjährigen Phase der Stabilisierung und des Aufbaus in eine tiefe Krise geraten. Eine Krise auch des Geschlechterverhältnisses, speziell der bürgerlichen Ehe und Familie, die sich nun im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in das die Geschichte der beiden Paare fällt zuspitzt. Die beiden Gemälde und die hier skizzenhaft vorgestellten Paare spiegeln zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren wider: das Festhalten am Alten und den Gegenentwurf. Ein Wandel, der tiefgreifend genug ist, ohne gleich alles aufs Spiel zu setzen, ist in keinem der beiden Fälle gelungen. Corinth und Berend-Corinth haben das fragwürdig gewordene bürgerliche Ehemodell aufgefrischt, aber nicht im Sinne gleichberechtigter Verhältnisse modernisiert. Das bürgerliche Ideal der funktionalen Eintracht, an dem sich dieses Künstlerehepaar orientierte, wurde mit einer entsprechenden strukturellen Schieflage zugunsten des Künstlers Corinth und zuungunsten der Künstlerin BerendCorinth erkauft. Der Künstler Corinth gelangte zu Ansehen und Geld, BerendCorinth konnte nicht mehr als ihre scheinbar subalterne ,Mit'-Wirkung reklamieren. Mit der Reduktion ihrer Künstlerinnenschaft auf eine Schrumpfversion bezahlte Berend-Corinth die größeren und kleinen Vorteile dieser vom beruflichen Erfolg des Ehemanns gekrönten Künstlerehe: die über weite Zeitstrecken bestehende ökonomische Sicherheit vor allem, die von Sorgen und Mühen entband, denen sich andere ,Künstlerfrauen' ausgesetzt sahen, und die nicht zuletzt eine Freisetzung der Ehefrau zu gelegentlichem Malen ermöglichte. 56 Modellhafte Paargemeinschaften

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Das Innovationspotential der Künstlerpaar-Beziehung zwischen Hoch und Hausmann war von vornherein dadurch herabgesetzt, dass man sich in einem definitorischen Freiraum befand, dabei jedoch Erwartungen an die Paarbeziehung stellte, die bei aller Diffusität in gegensätzliche Richtungen zielten. Während Hoch außer ihrem Verlangen nach Hausmanns eindeutiger Entscheidung keine genaueren Vorstellungen äußerte, wartete Hausmann mit radikal umgestalterischen Gesellschaftsentwürfen auf, denen er die Beziehung zu Hoch als Versuchsfeld unterwarf. Der eine wie die andere waren unfähig, die offene Form mit veränderten Einstellungs- und Verhaltensmustern zu füllen. Noch dazu liefen Hausmanns Willensäußerungen, laut und bestimmend, primär auf die Negation des Alten hinaus, das ihn dann freilich immer wieder einholte. So waren die Rollen, Funktionen, Vor- und Nachteile in dieser ,freien' Künstlerpaar-Beziehung' durchaus nicht so anders als in der bürgerlichen Ehe verteilt: Hausmann war der Impulsgeber, Hoch reagierte. Sie bewies lebenspraktische ,Tüchtigkeit' er profitierte davon. Das ,Neue' wurde vom Alten überlagert. Dadurch wurde ein wichtiger innovativer Ansatz relativiert: Hoch hatte formell die Möglichkeit, sich künstlerisch ebenso zu entfalten wie Hausmann, musste aber dafür sein aggressives Konkurrenzgebaren ertragen. Die nach wie vor wirksamen alten Muster führten auch dazu, dass Höchs ungewöhnliche ökonomische Eigenständigkeit wiederum in asymmetrische Verhältnisse umschlug und sie die männliche Versorgerrolle zusätzlich für ihn mit ausübte. Nicht zuletzt wurden die bürgerlichen, nunmehr von regulativen Momenten entkoppelten Muster zerstörerisch ausagiert: Hausmann machte Vorstöße, Hoch duldete und ertrug; entzog sie sich, dann steigerte er sein aggressives Drängen. Hausmann ließ dieses Wechselspiel immer wieder von neuem aufleben und bekundete die ausgeprägteren Zerstörungsneigungen: Hoch wollte allenfalls die Beziehung Leben beider auslöschen.

lösen, Hausmann sogleich das

Während er aber, diesen Verlautbarungen widersprechend,

ausschließlich Hoch gegenüber gewalttätig war, richtete sie ihre Aggressionen verzweifelt gegen sich selbst. Beide Beziehungsmodelle wirkten sich auf den Mann und Künstler eher vorteilhaft aus, während sie für die Frau, insbesondere für den künstlerischen Beruf, eher Nachteile mit sich brachten. Das gilt für die bürgerliche Künstlerehe in höherem Maße. Nach Corinths Tod war Berend-Corinth nur bedingt fähig, ihren Lebensunterhalt mit ihrer eigenen Arbeit zu bestreiten. Als Corinths Erbin und Nachlassverwalterin blieb sie auch für den Rest ihres Lebens von ihm abhängig. Im Falle der ,freien' Künstlerpaar-Beziehung verteilten sich die Vor- und Nachteile in einem etwas ausgeglicheneren Verhältnis - zumindest auf lange Sicht. Paradoxerweise weil Höchs Wünsche - ein monogames Leben zu zweit, ein gemeinsames Kind - nicht in Erfüllung gingen, blieb es bei vorübergehenden Beeinträchtigungen ihres künstlerischen Tuns, hielten sich die dauerhaften seelischen Wunden und Schäden in Grenzen. Hoch war gezwungen, ihre ökonomische und künstlerische Selbständigkeit aufrechtzuerhalten. Das hat sie dazu 386

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befähigt, den grundlegenden Vorzug der ,freien Liebe' zu nutzen und dem Gefährten formlos das ,Nein-Wort' zu geben. Hoch konnte die Trennung dann in den Folgejahren als Chance zu einem beruflichen und persönlichen Neuanfang wahrnehmen.

Anmerkungen 1 Siehe dazu die Einleitung in: Kritische Berichte, Eins und eins - das macht zwei? Kritische Beiträge zum Künstlerpaar, H . 25, 1998, S. 4 f. 2

Zu C o r i n t h und B e r e n d - C o r i n t h siehe Renate Berger: Malerinnen auf dem W e g ins 20. Jahrhundert, Köln 1982, S. 1 0 4 - 1 1 0 ; Irit R o g o f f : „Er selbst - Konfigurationen von Männlichkeit und Autorität in der deutschen M o d e r n e " , in: Ines Lindner et. al. (Hg.): Blickwechsel, Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin 1989, S. 21—40; zu H o c h und Hausmann siehe Berlinische Galerie (Hg.): Hannah H o c h , Eine Lebenscollage, Band I, 1. und 2. Abteilung, Berlin 1989; Band II, 1. und 2. Abteilung, Ostfildern-Ruit 1995; H a n n e Bergius: Das Lachen Dadas, Gießen 1989; mehrere Beiträge in: Jula D e c h , Ellen Maurer (Hg.): D a - d a zwischen Reden zu Hannah H o c h , Berlin 1991; Ellen Maurer: „Dadasoph und Dada-Fee, Hannah H o c h und Raoul Hausmann, Eine Fallstudie", in: Ausst.-Kat. D e r K a m p f der Geschlechter, K ö l n 1995, S. 3 2 3 - 3 2 8 . Karoline Hille: Hannah H o c h und Raoul Hausmann, Berlin 2 0 0 0 .

3 Sehr optimistisch sind die Beiträge in: Kunstforum International, Künstlerpaare u.a.m., Bd. 106, M ä r z / April 1990, Bd. 107, April/Mai 1990. Im vorliegenden K o n t e x t dürften homosexuelle Verbindungen von besonderem Interesse sein. Allerdings setzte eine vergleichende Analyse die definitorische Bestimmung des ,Paar'-Begriffs voraus. Das machen vor allem die freundschaftlichen Produktions- und Lebensgemeinschaften deutlich, die bereits von der Kunstsoziologie als ,Künstlerfreundschaften' untersucht wurden. 4

Lebensdaten siehe Lovis Corinth, Eine D o k u m e n t a t i o n , zusammengestellt und erläutert von T h o m a s Corinth, Tübingen 1979, S. 337; H o c h 1989, Bd. I, 2. Abt., S. 770 f.

5 Angelika Lorenz: Das deutsche Familienbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, S. 1 - 6 8 . 6

Siegmar Holsten: Das Bild des Künstlers, H a m b u r g 1978, S. 8 8 - 9 5 .

7

Eckhard Neumann: Künstlermythen, Frankfurt am Main 1986, S. 2 4 2 - 2 6 3 .

8 Begriffe von Peter Berger, Hansfried Kellner: „Die E h e und die soziale Konstruktion der Wirklichkeit", in: Soziale Welt 1965, S. 2 2 0 - 2 3 5 . 9

Michael Schwarz: „Künstlerehen - zwischen Tradition und Emanzipation", in: Kunstforum International, Künstlerehen, Bd. 28, 4 / 1 9 7 8 , S. 1 4 - 2 5 .

10

Holsten 1978, S. 94.

11

Das gilt für Künstlerhaushalte allgemein, siehe Hans Peter T h u m : Künstler in der Gesellschaft, Opladen

12

Ernst Kris, O t t o Kurz: D i e Legende v o m Künstler, Frankfurt am Main 1980, S. 147 ff.

1985, S. 2 1 - 2 5 . 13

Die Formulierung leitet sich ab vom Terminus der „Destruktionsgeschichte" (Hans Peter T h u m : Kulturbegründer und Weltzerstörer, Stuttgart 1990, S. 99). Z u r nachstehenden destruktionstheoretischen Einschätzung der deutschen Historie am Anfang des 20. Jahrhunderts siehe T h u m 1990, S. 1 0 4 - 1 0 8 .

14

Ausst.-Kat. Lovis Corinth, München 1996, S. 154.

15

Lovis Corinth: Das Erlernen der Malerei, Berlin 1908, S. 149.

16

Benesch spricht vom „Typus des um ein weibliches Modell erweiterten Selbstportraits" (Ausst.-Kat.

17

Silvia Bovenschen: D i e imaginierte Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1980, S. 2 4 - 4 3 .

Lovis Corinth, München 1992, K a t . - N r . 11). 18

Hier sei besonders verwiesen auf die detaillierte Darstellung von Margarete Freudenthal: Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft zwischen 1760 und 1910, Frankfurt am Main 1986 [1933].

19

Modell von J ü r g Willi, geschlechtertheoretisch gewendet von Christa R o h d e - D a c h s e r : Expedition in den dunklen Kontinent, Berlin 1991, S. 73 f., 83 f., 9 1 - 9 4 .

20

Dieter Schwab: „Familie", in: O t t o Brunner, Werner C o n z e (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches L e x i k o n zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 2 5 3 - 3 0 1 .

Modellhafte Paargemeinschaften

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21 Wilhelmine Corinth: „Ich habe einen Lovis, keinen Vater ...", Erinnerungen, München 1990, S. 34 f., 190, 222. 22 Corinth 1990, S. 12,27, 30. 23 Das Gemälde wurde in der Ausstellung der Berliner Secession 1908 gezeigt, hing dann in einer Frauenklinik und ist heute verschollen. Corinth 1979, S. 391, Nr. 61. 24 Berend-Corinth: Die Gemälde von Lovis Corinth, Werkkatalog, München 1958, Nr. 249, S. 408 Nr. 270, S. 420. 25 Siehe etwa die Briefe aus dem Jahr 1905 in: Corinth 1979, S. 94-97. 26 Lovis Corinth: Selbstbiographie, Leipzig 1926, S. 171. 27 Berend-Corinth: Mein Leben mit Corinth, Hamburg 1947. 28 Berend-Corinth 1947, S. 43. 29 Ibid., S. 72, 178. 30 Ibid., S. 60-63, 79f., 144, 163-165. 31 Ibid., S. 143. 32 Ibid., S. 172. 33 Ibid., S. 168, ferner: S. 14, 81 f. 34 Berger 1982, S. 106. 35 Hannah Hoch mit ihren Dada-Puppen, Fotografie, 1920, in: Hoch 1989, Bd. I, 2. Abt., Abb. 13.36, S. 681; Portrait Raoul Hausmann, Fotografie, 1915, ibid., 1. Abt., Abb. 6.1, S. 107. 36 Siehe die Beispiele in Ellen Maurer: „Der Blick sucht das Leben und findet den Tod, Aspekte zur Selbstdarstellung im Werk von Hannah Hoch", in: Dech/Maurer 1991, S. 48-59, Abb. 11-13, S. 50 f. „Bildnis Raoul Hausmann" (1922), in: Götz Adriani: Hannah Hoch, Köln 1980, Kat.-Nr. 144, S. 30. 37 Das belegen folgende Briefe: Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 03.05.1916, in: Hoch 1989, Bd. I, 1. Abt., Nr. 8.6, S. 194f.; Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 17.05.1916, ibid., Nr. 08.10, S. 197; Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 19.07.1918, ibid., Nr. 10.76, S. 423^26, hier: S. 426; Elfriede HausmannSchaeffer/Raoul Hausmann an Johannes Baader, 04.11.1920, Hoch 1989, Bd. 1,2. Abt., Nr. 13.61, S. 717. 38 So die Charakterisierungen nach dem mit Hoch bekannten Astrologen Thomas Ring, dargelegt in: Maurer 1995, S. 326f. 39 Zum griechischen Mythos von Kronos und Zeus siehe Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie, Reinbek bei Hamburg 1990, Kap. 6 und Kap. 7, S. 30-36. Zur geniemythologischen Auslegung siehe Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, Frankfurt am Main 1992, S. 203-292 und S. 351-394. 40 Klibansky/Panofsky/Saxl 1992, zu Jupiter S. 203 f., 209, zu Saturn S. 203 f.; Lexikon der Kunst, Hgg. von H. Olbrich et. al., München 1996, „Hölle", Bd. 3, S. 308 f. 41 Johannes Pawlik: Theorie der Farbe, Köln 1976, S. 70, 72, 74 f. 42 Zur Semantik des Kopfes siehe T h u m 1990, S. 209 f. 43 Das Motiv findet sich beispielsweise in John Heartfied: Umschlag-Montage „Der Dada", Nr. 3, April 1920, in: Bergius 1989, Abb. S. 21; Raoul Hausmann: „ABCD", 1923, ibid., Abb. S. 118; Hannah Hoch: „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands" 1919/20, in: Gertrud Jula Dech: „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands", Untersuchungen zur Fotomontage bei Hannah Hoch, Münster 1981, Bildteil IX, Feld 3c, Detail XIII/1. 44 Raoul Hausmann, „Mechanischer Kopf (Der Geist unserer Zeit)" (vermutlich 1921, Assemblage). Einige Aufnahmen in: Bergius 1989, S. 116 f. 45 Hier heißt es: „Jedes Gehirn wird zur Waffe", in: Conrad Felixmüller, Raoul Hausmann u. a.: „Der Bund", Programmentwurf, Reinbek, 22.08.1917, in: Hoch 1989, Bd. I, 1. Abt., Nr. 9.43, S. 295-299, hier: S. 298. 46 Dech 1981, S. 114. 47 Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 17.02.1917, in: Hoch 1989, Bd. I, 1. Abt., Nr. 9.9, S. 264 f., hier: S. 265. 48 Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 14.06.1916, ibid., Nr. 8.20, S. 206; Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 06.07.1916, ibid., Nr. 8.28, S. 208. 49 Raoul Hausmann an Hannah Hoch 10./12./13.11.1917, ibid., Nr. 9.54, S. 310-319, hier: S. 315. 50 Ibid., S. 102. 51 Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 29./20./31.01.1918, Blaues Schreibheft, ibid., Nr. 10.3, S. 339-341, hier: S. 340 und S. 341.

388

Karoline Künkler

52 Raoul Hausmann an Hannah Hoch, 27.04.1918, Telegramm, ibid., Nr. 10.31, S. 373. 53 Hannah Hoch an Grete Hoch, 08.04.1918, ibid., Nr. 10.14, S. 356. 54 „Der Dada No. 2", Direktion Raoul Hausmann, Berlin, Selbstverlag, Dezember 1919, Hoch 1989, Bd. 1,2. Abt., Nr. 12.55, S. 618. 55 Abb. in: Bergius 1989, S. 135 [Schreibweise von Hoch, K.K.]. 56 Als Gegenbeispiel siehe die Künstlerehe Lepsius, dargestellt von Annette Dorgerloh: „Künstlerehepaare in der Berliner Secession", in: Kritische Berichte 1998, S. 48-56.

Modellhafte Paargemeinschaften

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Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft Nutzen, Kosten, Geschlechtermuster

CHRISTIANE S C H M E R L

In einem Restaurant in Hollywood trifft ein auffallend gutaussehender, hochgewachsener und elegant gekleideter Mann von 36 Jahren eine junge Frau von 25 Jahren. Es ist das Jahr 1930. Beide sind fasziniert voneinander und diskutieren noch bis in die Morgenstunden in seinem Auto. Er ist der bekannte Kriminalschriftsteller Dashiell Hammen, der als der Mitbegründer der ,hard boiled' crime fiction beim Lesepublikum wie bei der Filmindustrie äußerst erfolgreich ist. Sie ist bisher völlig unbekannt und gerade nach Hollywood gekommen, um für eine Filmgesellschaft Manuskripte im Akkord auf Verwertbarkeit zu prüfen. Die nächsten 30 Jahre werden sie mal intensiver, mal distanzierter zusammenarbeiten und -leben. Bis 1934 wird er seinen fünften und letzten Roman („Der dünne Mann") veröffentlichen und ab da bis an sein Lebensende durch eine Schreibhemmung blockiert sein. Ebenfalls 1934 wird sie ihr erstes Theaterstück („The Children's H o u r " ) veröffentlichen, das am Broadway Triumphe feiert und sie auf Anhieb bekannt macht: Lillian Hellman. Ihr weiterer Lebensweg als Theaterschriftstellerin führt sie steil auf die Höhen literarischen Ruhms mit Stücken wie z.B. „Little Foxes". Sie gilt bis heute als die bedeutendste amerikanische Theaterautorin und Bühnenschriftstellerin und wird auf eine Stufe gestellt mit Tennessee Williams, William Faulkner, T.S. Elliot. Ist die Geschichte dieses kreativen Paares mit sehr asynchronen Erfolgslinien ein Exempel für die skrupellos feministische Umkehrung des vertrauten Modells: männliches Genie entdeckt und ermuntert weibliches Talent, welches sich dankbar und bescheiden in gehörigem Abstand zum genialen Ubervater entfaltet? Oder ist es ein trauriges Beispiel dafür, daß erfolgreiche Männer bestenfalls mit ihresgleichen noch fertig werden, aber neben erfolgreichen Frauen sich buchstäblich in ihrer Arbeitsfähigkeit kastriert fühlen? Oder sind hier nur zufällig zwei extrem verschiedene Charaktere aufeinandergestoßen, deren Temperamente und Interessen sie in verschiedene Richtungen führen werden? Ich glaube, daß keine dieser drei griffigen Zuschreibungen die Komplexität und Mühseligkeit von Aushandlungsprozessen der gemeinsamen Lebensführung, der gemeinsamen Produktivität und der gemeinsamen Liebes- und Zuneigungsinvestitionen ausreichend erhellen kann - was diesen konkreten Fall angeht. Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

391

Abb. 1 Lillian Hellman, c a . 1941 Fotografie

Andererseits scheint es mir auch unergiebig, die Fülle und die Kompliziertheit eines erfolg- wie mißerfolgreichen Paarlebens lediglich als eine beliebige und unübersichtliche Fülle von Zufällen, Schicksalsschlägen und individuellen Idiosynkrasien zu registrieren. Wenn ich im folgenden eine Analyse von ausgewählten Biographien kreativer Paare versuche, möchte ich vielmehr durch bestimmte Fragestellungen herausfinden, welche Linien der ge-meinsamen und produktiven Lebensführung sich in einer mit Geschlechterstereotypen und -Vorschriften gesättigten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts entdecken lassen. Wie entgehen kreative Paare den herrschenden Erwartungen und Rastern - etwa dem vom individuellen Genie (in der Regel einsam und männlich)? Entkommen sie teilweise den gesellschaftlichen Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit? Wenn ja, wie? Welche anderen oder neuen Arrangements haben sie ansatzweise entwickelt? Was waren ihre Strategien und Werkzeuge dabei? Welche Rolle spielen Zeitgeschichte, Lebensumstände und persönliche 392

Christiane Schmerl

Ressourcen? Welche persönlichen K o s t e n hatten sie dafür zu zahlen, welchen persönlichen N u t z e n zogen sie daraus? W e l c h e übergreifenden Muster an Ähnlichkeiten und Unterschieden lassen sich erkennen? Ich werde also den Schwerpunkt meiner Fragen auf die psychologischen Aspekte der kreativen Paare legen, weniger auf die fachspezifischen Qualitäten ihres jeweiligen CEuvres. Berücksichtigen werde ich diese jedoch insoweit, als es für die hier interessierenden Inhalte notwendig und ergiebig ist. U m geeignete Paarbiographien für meine Fragen auszuwählen, habe ich einschlägige Biographien von 40 kreativen Paaren aus dem Zeitraum des 19. und 20. J a h r h u n derts analysiert. Ich brauche sicher nicht darauf hinzuweisen, daß die durchweg häufigste

Paarkonstellation - w o beide

Partner kreativ waren und nicht nur ein

Schattenpartner schweigend das Genie bedient hat - auch hier jene ist, w o der M a n n als der originellere und höherwertige Kreative gilt (sowohl bei den Zeitgenossen als auch bei den Biographen), die Frau als Muse, Zuarbeiterin, Kopistin, Ausführende oder auch als O p f e r . Diese - ich möchte behaupten bis heute - häufigste Konstellation bei kreativen Paaren ist inzwischen hinlänglich beleuchtet, diskutiert, kritisiert und beklagt worden. Bekannte Beispiele sind Camille Claudel und Auguste Rodin; Clara W i e c k - S c h u m a n n und R o b e r t Schumann; S o n j a T e r k - D e l a u n a y und R o b e r t Delaunay; Zelda Sayre-Fitzgerald und Scott Fitzgerald u.v.a. Ich habe mich daher auf zwei andere mögliche Paarkonstellationen konzentriert, die wesentlich untypischer für patriarchale Gesellschaften sind und die die Betrachtung somit erschweren, sie aber auch reizvoller und ergiebiger machen. Ich habe nach berühmten Paaren Ausschau gehalten, w o a) beide anerkannt und berühmt waren, die Partnerin

aber sogar erfolgreicher war, öffentlich stärker rezi-

piert wurde und vor allem kommerziell mehr E r f o l g hatte; und b) w o beide

gleicher-

maßen erfolgreich und berühmt waren bei ihren Zeitgenossen. Meine - für diesen Z w e c k mit einer gewissen Willkür behafteten - Erfolgskriterien sind also die des öffentlichen zeitgenössischen

R e n o m m e e s (auch über enge Fachgrenzen hinaus), und

die des materiellen Erfolgs. D a ich bei meiner D u r c h s i c h t der einschlägigen Paarliteratur außerdem feststellen konnte, daß in der ersten K o m b i n a t i o n (erfolgreichere Frau, weniger erfolgreicher Mann) die Partnerschaften überwiegend als spannungsreich und belastet beschrieben wurden, während in der zweiten K o m b i n a t i o n die Partnerschaften eher als harmonisch und zufriedenstellend charakterisiert wurden, habe ich für meine exemplarische Auswahl auch dieses Kriterium versucht zu berücksichtigen. F ü r die Formulierung von strukturellen Fragen an die Biographien von ungleich

erfolgreichen Paaren' habe ich die von Lillian Hellman und Dashiell

H a m m e t t und die von Margaret Mead und G r e g o r y Bateson ausgesucht; für die von ,gleich

erfolgreichen Paaren' habe ich das Wissenschaftlerpaar Marie Sklodowska

Curie/Pierre Curie und das Schriftstellerehepaar Simone Schwarz-Bart und Andre S c h w a r z - B a r t ausgewählt.

Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

393

I. Kreative Paare mit weiblichem Erfolgsvorsprung 1. Lillian Hellman (1905-1984) und Dashiell Hammett (1894-1961) Die 25jährige Lillian Hellman und der 36jährige Dashiell Hammett unterscheiden sich bei ihrem ersten Treffen in vielen grundlegenden Dingen. Sie ist eine gebildete, eigensinnige und temperamentvolle Frau, die aus einer wohlhabenden jüdischen Südstaatenfamlie stammt. Sie hat erste Erfahrungen als Lektorin in zwei Verlagshäusern gesammelt und eigene Schreibversuche gerade wiederaufgegeben. Dashiell Hammett stammt aus einer ländlich-provinziellen Familie mit schwierigen finanziellen Verhältnissen. Seine formale Schulbildung ist minimal, da er schon mit 14 die Schule abbrechen mußte. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, arbeitete schließlich einige Jahre als Privatdetektiv für die bekannte Agentur ,Pinkerton', meldet sich freiwillig im Ersten Weltkrieg (wie auch später im Zweiten) zur Armee, wo er sich eine schwere Lungentuberkulose holt, die immer wieder zu körperlichen Zusammenbrüchen führt und ihn bereits mit 28 Jahren zum Invaliden macht. Als Familienvater fängt er aus finanzieller Not heraus an, sich selbst zum Journalisten und Reporter auszubilden. Sei-

Abb. 2

Lillian Hellman und Dashiell Hammett, 1945. Fotografie

394

Christiane Schmerl

ne autodidaktische Bildung ist enorm. E r schreibt W e r b e t e x t e und schließlich Detektiv-Kurzgeschichten in Billig-Gazetten. D a m i t ist er ungewöhnlich erfolgreich, offenbar weil er einerseits aus seinen realen Pinkerton-Erfahrungen schöpfen kann und die Welt des Verbrechens aus einer anderen Perspektive beschreibt als die bisherigen Schloß- und Adelskrimis. Z u m anderen entwickelt er einen Stil und einen Heldentypus, die neu sind: wortkarg, zynisch, hart, trinkfest und einsam - eben ,hard boiled'! Sein Stil, seine Milieus, seine Helden und seine Plots stoßen im A m e rika der 30er Jahre auf große Resonanz. Es ist die W e l t der Korruption, der Slums, der hartgesottenen, einsamen Kämpfer. Als er Lillian Hellman in H o l l y w o o d kennenlernt, ist er auf der H ö h e seines R u h m s : Vier seiner fünf R o m a n e sind bereits erschienen, darunter der „Malteser F a l k e " ; einige sind oder werden gerade verfilmt. E r hat viel Geld, das er mit vollen Händen für Alkoholexzesse und zahlreiche Frauenaffairen ausgibt. E r ermuntert Lillian Hellman, mit dem Schreiben wieder anzufangen und zwar ,ernsthaft'. Beide ziehen in ein N e w Y o r k e r H o t e l und schreiben. E r vollendet dort 1934 seinen fünften und letzten R o m a n ( „ D e r dünne M a n n " ) ; sie entwickelt aus einem von ihm vorgeschlagenen T h e m a ein Theaterstück „The Children's H o u r " . Es basiert auf einem P r o z e ß aus dem 19. Jahrhundert, w o es um die Denunziation zweier Lehrerinnen durch ein bösartiges Schulmädchen geht und die sich daraus entwikkelnde Katastrophe, die schließlich das Leben der beiden Frauen zerstört. Das Stück wird ebenfalls 1934 aufgeführt und macht sie mit einem Schlag bekannt. Bereits ihr übernächstes Stück „Little F o x e s " ist 1939 ein so großer Erfolg am Theater (und wird auch mehrere Male verfilmt), daß sie sich von dem H o n o r a r eine Farm kaufen kann, die sie auch bewirtschaftet, und die für beide bis 1951 ein R ü c k z u g s - und Erholungsort bleibt. W ä h r e n d Dashiell H a m m e t t nach seinen fünf weltweit bekannten D e t e k t i v r o m a nen und einer Reihe Kurzgeschichten ab 1934 bis an sein Lebensende nichts mehr veröffentlicht, ist das J a h r 1934 für Lillian Hellman erst der Startpunkt für eine lange und glänzende Karriere - zunächst als Theaterschriftstellerin, Drehbuchschreiberin und Essayistin, später als Memoirenschreiberin und Universitätslehrerin. Lillian Hellman betont in ihren Essays, Interviews und Memoirenbänden immer wieder, daß sie ihr Schreiben und ihren Erfolg vor allem Dashiell H a m m e t t verdanke, der sie erstens zum Schreiben geführt habe und stets mit gründlicher, detailbesessener und vor allem gnadenloser Kritik alle ihre Stücke begleitet habe. H a m m e t t selber scheint völlig anders produziert zu haben. E r verschlingt lebenslang Berge von Zeitungen und Büchern zu den ausgefallensten T h e m e n und schreibt - wegen seiner schwachen Gesundheit - überwiegend im Bett liegend, begleitet von U n m e n g e n von A l k o h o l , um seine körperlichen Beschwerden zu betäuben. Hellman sagt, daß sie nur die Entstehung seines letzten R o m a n s m i t b e k o m m e n hat - er sitzt wochenlang abgeschüttet in einem H o t e l z i m m e r und k o m m t gegen E n d e überhaupt Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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nicht mehr heraus, um sich in äußerster Selbstdisziplin zum Durchhalten und Beendigen zu zwingen. Gegenlesen und Kritik durch andere finden nicht statt. Er scheint auf Anhieb perfekt und erfolgreich. Allerdings gibt es auch einige Mißerfolge: Sein Versuch, eines von Hellmans Stücken in ein Filmmanuskript zu verwandeln, endet als Flop. Er spricht auch nicht darüber, w a r u m er seit 1934 nichts mehr produziert aber offenbar hat er darunter gelitten. Es gibt jahrelang diverse Titelankündigungen über das, was er jeweils gerade produziere - so lange, bis niemand mehr daran glaubt. Nach Kriegsende werden seine Alkoholexzesse und Frauengeschichten völlig unbeherrschbar; er bricht 1948 zusammen und hört ab da mit eiserner Selbstdisziplin von einem zum anderen Tag mit dem Trinken auf. Seit Lillian Hellman einmal seine alkoholisierten sexuellen Avancen abgewiesen hat, ist er so beleidigt, daß er nie wieder mit ihr schläft. Er lebt die Woche über in seiner New Yorker Wohnung; sie ist viel unterwegs, ein- bis zweimal die Woche treffen sie sich auf ihrer Farm. Er bleibt weiterhin der härteste Kritiker ihrer Theaterstücke - sie wird insgesamt bis zu seinem Tod acht Stücke schreiben, von denen sieben dauerhaft erfolgreich sind und viele Aufführungen und Verfilmungen erfahren. Seine ständige Kritik bleibt für sie lebenswichtig, auch wenn sie zunehmend verletzend und demütigend wird. 1951 und 1952 - es ist die Hochzeit der McCarthy-Hexenjagd auf linke Künstler und Intellektuelle - werden sie beide nacheinander vor das „Komitee für unamerikanische Umtriebe" zitiert, um ihnen angeblich bekannte Mitglieder der kommunistischen Partei zu denunzieren. Hammett verweigert stoisch jede Aussage, obwohl er wahrheitsgemäß hätte sagen können, daß er keine Namen kennt. Er geht dafür stolz und heroisch sechs Monate ins Gefängnis wegen ,Mißachtung des Komitees'. Hellman dagegen argumentiert vor dem Tribunal und wird unbehelligt laufengelassen. Beide werden aber auf die „Schwarze Liste" nicht mehr zu beschäftigender Autoren gesetzt; Hammett soll außerdem plötzlich angeblich zu wenig gezahlte Steuern von einigen 100.000 Dollar nachzahlen. Beide werden dadurch finanziell ruiniert: Die Farm muß verkauft werden, Hammetts Gesundheitszustand ist nach dem Gefängnis katastrophal. Hellman versucht verzweifelt, bezahlte Arbeit zu bekommen. Immerhin wird 1952 „The Children's Hour" erfolgreich wiederaufgeführt - das Thema Denunziation hat nun einen besonders aktuellen politischen Bezug. Bis 1955 hat Hellman allmählich wieder so viel Geld verdient, daß sie sich ein kleines Haus an der Ostküste kaufen kann, wo sie zwischen ihren Reisen lebt und schreibt. Hammett wohnt mietfrei in einem kleinen Ferienhaus eines Freundes. Die letzten Jahre seines Lebens ist er so verschuldet und gesundheitlich so elend, daß Hellman einen Teil ihres Häuschens für ihn ausräumt und ihn für die letzten vier Jahre bei sich aufnimmt und pflegt. Er stirbt 1961 kurz nach der erfolgreichen Aufführung ihres letzten Theaterstücks, dessen Produktion er wie immer mit sehr viel Kritik begleitet hatte. Lillian Hellman wird ihn um mehr als 20 Jahre überleben und ein weiterhin äußerst aktives Leben führen. Sie wird keine weiteren Theaterstücke mehr schreiben; aber 396

Christiane Schmerl

ihre späteren drei Memoirenbände stehen wochenlang auf den Bestsellerlisten und werden mit Buchpreisen überhäuft. Sie sorgt dafür, daß Hammetts verstreute Kurzgeschichten posthum gesammelt und neu ediert werden, und sie wird in ihren Memoiren seine Persönlichkeit und seine Leistung würdigen. Sie wird aber auch die schwierigen Seiten ihrer gemeinsamen 30 Jahre nicht verschweigen.

1.1 Neue Geschlechterarrangements und ihr Nutzen Die anfängliche Konstellation ihres Zusammenarbeitens und -lebens beginnt klassisch geschlechtstypisch: Junge unbekannte Frau wird durch erfolgreichen, deutlich älteren Mann entdeckt, gefördert und gleichzeitig in eine Liebesbeziehung verwickelt. Unkonventionell wird diese Geschichte mit ihrem zunehmenden literarischen und kommerziellen Erfolg und seinem literarischen Verstummen. Sie wird zum Star, er zehrt nur noch von seinem Image, seinem Ruhm und seinen Tantiemen. Unkonventionell sind auch die Jahre ihres Erfolgs am Theater mit insgesamt acht Stücken. Während er keine eigenen Projekte mehr verfolgt, investiert er seine ganze Aufmerksamkeit und sein Interesse in die kritische Verbesserung ihrer Stücke. Auch ihre Mobilitätsformen sind untypisch: während sie sehr viele Reisen, vor allem ins europäische Ausland, unternimmt, bedeutende Personen kennenlernt und daraus Anregungen für ihre Stoffe zieht, bleibt er - bis auf seinen Einsatz im Zweiten Weltkrieg - stets in den USA und möglichst auch unsichtbar für die Öffentlichkeit. Nur ihr gegenseitiger intellektueller Austausch über Literatur und Politik bleibt bei allen Verwerfungen das tragende Element ihrer immer schwieriger werdenden privaten Beziehung. Sie selbst schreibt den Aufrechterhalt der Beziehung zu Hammett ihrer eigenen ,Störrischkeit' zu, später auch ihrer Entscheidung, keine persönlichen Fragen mehr zu stellen. Beide sind zu ihren gemeinsamen Glanzzeiten das Sinnbild eines glamourösen und kreativen Paares: Beide sind produktiv und erfolgreich in den Boulevard-Branchen von Film, Theater und Rundfunk. Er ist supermännlich, wohlhabend und cooler Frauenheld; sie ist die Ausnahmefrau, die ihre ungewöhnlichen Erfolge lebenslang durch immer neue Produktionen beweisen muß und kann. Beide sind mit ihrem moralisch unbeugsamen Auftreten vor dem McCarthy-Ausschuß ein Stachel im Fleisch der amerikanischen Rechten, aber - noch viel schlimmer - auch in dem jener amerikanischen Elite in Kunst und Kultur, die sich vor demselben Ausschuß aus lauter Angst zu Denunziationen hat korrumpieren lassen. Auch Dashiell Hammett scheint auf der Höhe seines Ruhms die Zusammenarbeit mit dieser außergewöhnlich talentierten jungen Frau als unkonventionelle und eigenwillige Herausforderung genossen zu haben; in den späteren Jahren seines auch selbst herbeigeführten Verfalls war er auf ihre versorgenden schützenden Qualitäten angewiesen, die es ihm möglich machten, sein Gesicht und sein Image zu wahren. Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

397

1.2

Bewältigungsstrategien und ihre Kosten

Das graduelle U m k i p p e n des klassischen Mann-Frau-Verhältnisses von Uberlegenheit-Unterlegenheit w i r d von beiden mit durchaus konventionellen Geschlechtertechniken zu bewältigen versucht. Er mobilisiert seine alten bewährten Männlichkeitsrituale von Alkohol, p r o m i s k e m Sex, Gefühlsverschlossenheit und stoischer Einsamkeit. Diese Selbststilisierung trägt deutlich die Züge seiner eigenen männlichen Romanhelden aus der hard-boiled crime-fiction - obwohl sein invalider Zustand mit regelmäßigen Zusammenbrüchen dieses Image Lügen straft. Seine schon bald nach dem Zusammenleben mit H e l l m a n erneut aufgenommenen Frauenaffairen müssen sie enorm belastet und irritiert haben, was sich dem traurig-lakonischen Stil entnehmen läßt, in dem sie einige davon andeutet. W e n n man bedenkt, daß Hellman H a m m e t t als physisch äußerst attraktiv empfand, was sie ausdrücklich mehrmals hervorhebt, w i r d das A u s m a ß ihrer Verletztheit spürbar. Sie scheint aber versucht zu haben, äußerlich cool damit umzugehen. Sie schirmt ihn ab, schützt und unterstützt ihn, w o b e i sie einerseits in die Rolle der verletzten, resignierten Ehefrau gleitet. Andererseits fängt sie ihrerseits eigene Liebesaffairen an. Dashiell H a m m e t t behält in Bezug auf seine Partnerschaft mit Lillian Hellman lebenslang wenigstens die Rolle des überlegenen Kritikers und Schiedsrichters ihrer W e r k e bei - eine intellektuell fordernde und verbindende Leidenschaft, aber auch die einzige Überlegenheit, die er aus den Anfängen ihrer Partnerschaft bis ans Ende unnachgiebig beibehält. Die gemeinsam verfolgten Bereiche ihrer Partnerschaft ihre literarischen und ihre politischen U b e r z e u g u n g e n und Leidenschaften - überleben alle selbst-verursachten, w i e durch die Zeitläufe a u f g e z w u n g e n e n Probleme. U b e r diese beiden Themen können sie sich jederzeit trotz unterschiedlicher persönlicher Stile und Temperamente austauschen und verständigen. Die zeitgeschichtlichen Umstände, die ihr gemeinsames Leben zusätzlich erschweren - Faschismus, Zweiter Weltkrieg, M c C a r t h y - V e r f o l g u n g , finanzielle Diskriminierung durch schwarze Listen - w e r d e n durch ihrer beider spezifische ,Bewältigungsstrategien' nicht nur bewältigt, d.h. handhabbar gemacht, sondern gleichzeitig auch zusätzlich erschwert: Er ruiniert weiter seine Gesundheit und seine Finanzen mit seinen Prinzipien u n d seinen Exzessen und m u ß schließlich finanziell und pflegerisch aufgefangen werden. Sie w i r d noch zusätzlich belastet durch die Sorge u m ihn, was sie als ihre selbstverständliche partnerschaftliche Pflicht ansieht, w i e auch die posthume Edition seiner frühen W e r k e .

398

Christiane Schmerl

1.3

Ressourcen

Es scheint, daß Lillian Hellman mit einem unglaublich großen Potential an Einfallsreichtum, Gespür für dramatische Stoffe und Charaktere und einem sprachlichen Talent ausgestattet war, das sich überdies durch ungewöhnliche Kritiktoleranz und den Willen zu ständiger Perfektion auszeichnete. Allein von „Little Foxes" - ihr auch in Europa bekanntestes und erfolgreichstes Stück - hat sie unter Hammetts Kritik insgesamt neun Fassungen erarbeitet. Ihr ganz persönlicher Stil wird von Kritikern als eine Art Kombination von Ibsen'schem Realismus und Tschechow'scher Psychologie beschrieben und bewundert (vgl. Falk 1978, S. 76). Hammetts Kritik setzt stets auf der sprachlichen Ebene an, weniger am Aufbau ihrer Stücke oder an ihren Charakteren. Ihre Stoffe schöpft sie aus ihrer Familiengeschichte („Little Foxes", „Another Part of the Forest"), w o es um die Korruptheit reicher Südstaatenfamilien geht, bzw. aus ihren eigenen Recherchen und politisch-psychologischen Beobachtungen und Leidenschaften. Ihr großes moralisches Engagement übersetzt sie in hinreißende Plots und Verstrickungen von politisch gefärbten Gesellschafts- und Familiengeschichten, w o sie sowohl die aktiven Intriganten, wie auch die passiv Korrupten und Beschwichtigenden vorführt („Watch on the Rhine", „Autumn Garden"). Bei aller persönlichen Schwäche für charmante Männer zeigen ihre Memoiren deutlich eine anrührende Sympathie und Liebe für wichtige Frauen in ihrem Leben: für ihre schwarze Amme und Erzieherin Sophronia, ihre schwarze Haushälterin und Vertraute Helen, ihre frühe Freundin Julia und ihre Kollegin Dorothy Parker. Der Stil ihrer Erinnerungen ist hier deutlich anders gefärbt als der betont lakonische und eher rationale Ton, in dem sie über ihren Lebensgefährten Dashiell Hammett schreibt. Insgesamt scheint es, daß sie mit ihrem Einfallsreichtum, ihrem ungebremsten Temperament und ihrer Neugier auf neue Erfahrungen und Projekte die für Frauen ihrer Zeit gesetzten Geschlechtergrenzen weit überschreiten konnte, und daß sie wie ihre drei Memoirenbände widerspiegeln - diese kontroversen und oft aufregenden Uberschreitungen ihres ereignisreichen Lebens auch aktiv genossen hat. Hammetts Ressourcen speisen sich aus seiner ungewöhnlichen Vita eines Autodidakten, der aufgrund der äußerst seltenen Kombination von exzessiver Belesenheit, selbstdisziplinierter Ausformung eines eigenen sprachlichen Stils und einem reichen Erfahrungs- und Beobachtungsfundus aus der Welt des tatsächlichen Verbrechens eine neue Literaturgattung, die hard-boiled Kriminalfiktion, mitentwickelt. Seine stoische Gelassenheit bis hin zur aktiven Mißachtung seiner körperlichen Schwäche sind nicht nur Attitüde und Selbstheroisierung, sondern gleichzeitig auch Selbstdisziplin und Stärke gegenüber seinem früh ruinierten Körper. Da er selbst Verletzungen gewohnt ist und mit ihnen stets rechnet, nimmt er sich das Recht, auch andere zu verletzen, wenn er es für nötig hält. Die Repressionen der Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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McCarthy-Ära und die - vermutlich dadurch ausgelöste - finanzielle Vernichtung seiner Lebensgrundlagen bestärken ihn in dieser Haltung, lassen ihn aber anscheinend diese Zeit auch psychisch aufrecht überstehen - als moralischer einsamer Held.

2. Margaret Mead (1901-1978) und Gregory Bateson (1904-1980) Als die Amerikanerin Margaret Mead und der Engländer Gregory Bateson 1932 im Tropenwald von Neuguinea aufeinandertreffen, unterscheiden auch diese beiden sich in Lebensgeschichte und persönlichem Stil ganz erheblich voneinander. Margaret Mead ist 31 Jahre jung, auf ihrer dritten ausgedehnten Feldforschungsreise im Pazifischen Raum, in den USA bereits als Buchautorin von zwei Bestsellern über Jugendsexualität und Kindererziehung renommiert und finanziell erfolgreich. Sie ist in Begleitung ihres zweiten Ehemannes Reo Fortune, eines neuseeländischen Anthropologen, der extrem ehrgeizig und eifersüchtig ist. Gregory Bateson ist erst 28, Junggeselle, hat Zoologie studiert und ist seit einigen Jahren zur Anthropologie gewechselt. Er hat schon einen Feldforschungsaufenthalt in Neuguinea hinter sich, aber außer „zwei mageren Veröffentlichungen" noch nichts vorzuweisen und „kein klares Konzept davon, was er als Anthropologe eigentlich wollte" (Bateson 1986, S. 18). Beide werden die nächsten 15 Jahre ihres Lebens (1932— 1947) in engem privaten und wissenschaftlichem Kontakt verbringen - die meiste Zeit davon auch miteinander verheiratet (1935-1950), eine gemeinsame Tochter haben und auf unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten neue Erkenntnisse und neue Maßstäbe setzen und sich bis an ihr Lebensende kollegial verbunden bleiben. Zunächst sind 1932 alle drei, Margaret Mead, ihr Mann und Gregory Bateson begeistert, nach Monaten erschöpfender Isolation und Datensammlung im Urwald ihre Beobachtungen und Hypothesen tage- und nächtelang miteinander diskutieren zu können. Der Ehemann - diesmal ist seine Eifersucht berechtigt - klinkt sich aus den Diskussionen um die neuen Ideen über Geschlecht, Kultur und Temperamentstypen bald aus. Die nun enthusiastisch entwickelten gemeinsamen Ideen über die kulturelle Formung von Geschlechtercharakteren (gerade gegenüber den damals herrschenden Vorstellungen universell männlicher und weiblicher Eigenschaften nach westlichem Muster) führen 1935 zu Meads drittem und bis heute noch immer einflußreichen Buch „Geschlecht und Temperament in drei primitiven Gesellschaften" und 1936 zu Batesons erstem eigenen Buch „Naven" über seine Arbeiten bei den Iatmul in Neuguinea. Die inspirierende Zusammenarbeit beflügelt beide zu gemeinsamen Zukunftsplänen und gemeinsamen Forschungsprojekten. Nach ihrer Heirat 1935 in New York - es ist ihre dritte und letzte Ehe, bei ihm die erste von insgesamt ebenfalls dreien - brechen sie 1936 zu einem gemeinsamen Forschungsprojekt nach Bali auf, wo sie neue Methoden der Feldforschung entwickeln: systema400

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Abb. 3 Margaret Mead und Gregory Bateson ca. 1934 Fotografie

tische Foto- und Filmaufnahmen von Festen, Ritualen, Tänzen, kombiniert mit minutiösen schriftlichen Beobachtungen, was eine völlig neue Art von wissenschaftlicher Dokumentation und Interpretation erlaubt. Margaret macht fortlaufende schriftliche Notizen, Gregory macht an die 25.000 Fotos; ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit ist äußerst intensiv. Beide werden diese Zeit später als die glücklichste und fruchtbarste ihres Lebens bezeichnen. Es entsteht daraus ihr einziges gemeinsames Buch „Balinese Character" (1962). Bei ihrer R ü c k k e h r 1939 in die U S A ist Margaret schwanger; Gregory m u ß wegen des Kriegsausbruchs als Engländer nach Großbritannien zurück. Weil er bei der G e b u r t des gemeinsamen Kindes nicht dabei sein kann, läßt Margaret die G e b u r t filmen - ein damals unglaublicher und f ü r die p r ü d e n U S A auch skandalöser Vorgang. Auch die weitere Entwicklung der gemeinsamen Tochter wird in den folgenden Jahren mit ständigen F o t o - u n d Filmaufnahmen zur bestdokumentierten Kindheit in den USA. Margaret Mead hat den Ehrgeiz, ihre aus dem Kontakt mit nichteuropäischen Kulturen entwickelten Vorstellungen über moderne u n d sanfte Kindererziehung u n d -Versorgung (Stillen auf Verlangen, K ö r p e r k o n t a k t mit dem Baby) handfest zu ,beweisen'. Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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Abb. 4

Margaret Mead und Gregory Bateson in Tambunam, Neu-Guinea, 1938. Fotografie

Gregory ist wegen seines Kriegseinsatzes in den nächsten Jahren überwiegend abwesend, trotzdem versucht Margaret in den ersten zwei Lebensjahren ihrer kleinen Tochter so etwas wie einen gemeinsamen Haushalt zu organisieren. Sie ist wegen ihrer Arbeit am N e w York Museum of Natural History, zahlreichen Kongreß- und Vortragsreisen ebenso häufig abwesend und bewältigt die Haushalts- und Kinderversorgung mit Hilfe von Freundinnen und Kindermädchen. Sie ist aufgrund ihrer Bücher wohlhabend und kann sich Personal leisten. 1942 kommt sie auf die grandiose Idee, mit einem befreundeten Wissenschaftler und seiner Familie zusammenzuziehen. Diese Lösung wird von allen als ideal empfunden: Die Tochter ist nie allein und hat gleichaltrige Geschwister; Vorstellungen über moderne und fördernde Kindererziehung werden von allen geteilt. Als Gregory Bateson nach Kriegsende dauerhaft zurückkommt, kommt es zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen beiden. Er ist deprimiert wegen seiner Ineffektivität und Nutzlosigkeit während des Krieges, er hat keine Vorstellungen, was er beruflich machen könnte, fängt ein Verhältnis mit einer Tänzerin an sowie auf Margarets Anraten eine psychoanalytische Behandlung. Ihre unterschiedlichen Temperamente, Fähigkeiten und Erfahrungen wirken sich jetzt kontraproduktiv aus. Margaret Mead ist voller Elan, Ideen und Optimismus. Sie ist gewöhnt, Probleme für lösbar zu halten; sie hat ein nie erlahmendes Interesse an Menschen, Freundschaften, 402

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neuen Erfahrungen. Sie ist überzeugt vom Wert ihrer eigenen Arbeit (Bateson, S. 207/210). Sie organisiert erfolgreich Forschungsgelder, Forschungsreisen, wissenschaftliche Kongresse, familiäre Arrangements, fördert Studenten und jüngere Wissenschaftler. Sie schätzt und respektiert ihre eigene amerikanische Kultur als eine ,reiche' Kultur, deren Wahlmöglichkeiten sie faszinierend findet. Sie lebt in einem Netzwerk von Frauenfreundschaften, in das sie investiert, von dem sie andererseits auch getragen wird - gerade auch in der Erziehungsarbeit ihrer Tochter, die nach der Scheidung bei ihr bleibt. Gregory zieht 1947 aus der Großfamilie aus und geht 1949 ganz weg nach Kalifornien. Er ist in seinem Temperament eher bedächtig, zögerlich, kann sich zwischen seinen unterschiedlichen Interessens- und Wissensgebieten nicht entscheiden. Seine eigene Unzufriedenheit und Handlungsunfähigkeit übersetzt er in eine Rundumkritik an der amerikanischen Kultur. Seine Einstellung gesellschaftlichen Problemen gegenüber ist zutiefst fatalistisch. Er hat einen „Horror vor der Anstrengung des Problemlösens", egal ob es um medizinische oder politische Probleme geht (Bateson, S. 209) und hält die Anwendung von Sozialwissenschaften eher für schädlich (S. 209). Wissenschaftlich interessieren ihn eher abstrakte Erkenntnisse und Ideen und deren ,amoralische Eleganz' (S. 167), nicht deren konkrete Bezüge. In Kalifornien vertieft er sich in das Studium der Kommunikation, der Schizophrenie und der Familientherapie. Hier entwickelt er zusammen mit der Forschergruppe in Palo Alto die These von der gestörten Familienkommunikation als Ursache für die Entstehung von Schizophrenie. Die These vom ,double bind' als verzerrten und doppelt-widersprüchlichen Botschaften, die abhängige Familienmitglieder im wahrsten Sinne des Wortes ,verrückt' machen können, wird mit seinem Namen verbunden. 1950 geht er eine zweite Ehe ein, die ihm außer neuen Kindern auch weitere finanzielle und emotionale Schwierigkeiten bringt; er muß sich mit Stipendien über Wasser halten, kann seine Schizophrenieforschung endlich abschließen, die Ehe wird wieder geschieden. 1960 heiratet er zum dritten Mal und widmet sich der Delphinforschung in der Karibik. Er versucht zunehmend, seine verschiedenen Wissens- und Interessengebiete in einen größeren Rahmen von Kommunikationstheorie, Kybernetik und Ökologie zu stellen. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wird er immer stärker zum Spiritus Rector einer Gegenkultur, die sich um die Probleme eines drohenden Atomkriegs und der zunehmenden globalen Umweltzerstörung kristallisiert. Er schreibt zu diesen Themen einige sehr erfolgreiche Bücher und wird zu einer Art international gefragtem ,Guru' der New-Age-Bewegung. Margaret Mead nimmt erst ab 1953 wieder ihre Feldforschungen auf, zu denen sie nun auch ihre Tochter mitnimmt. In den 50er Jahren ist sie auf dem Höhepunkt ihres internationalen Ruhms, während Gregory Bateson zu diesem Zeitpunkt erst einem kleinen Kreis von Insidern ein Begriff ist. Bis zum letzten Atemzug unternimmt und plant sie Reisen, ihr anthropologisch-wissenschaftliches Engagement hat sie längst auch weltweit in politisches Engagement umgewandelt. Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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2.1 Neue Geschlechterarrangements und ihr Nutzen In ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit in der anthropologischen Feldforschung - erst in Neuguinea, dann auf Bali - ist Margaret Mead die Erfahrenere von beiden, liefert Hintergrund und Struktur für den Umgang mit der gesammelten Datenfülle, der Gregory sich hilflos gegenübersieht. Beide regen sich gegenseitig zu Hypothesenbildung, neuen Fragen, Ideen und Forschungsmethoden an und klären in intensiven Diskussionen wechselweise ihre Gedanken. Das Neue ihres Geschlechterarrangements - als Forscher-Paar, als Ehepaar - besteht im gleichberechtigten Gedankenaustausch, arbeitsteiliger Datensammlung und in teils gemeinsamen, teils parallelen Veröffentlichungen. Die Gleichberechtigung ihres Arbeits- und Publikationsprozesses beruht womöglich gerade auf Margarets Vorsprung an Erfahrung und Wissen, der für die praktizierte Kollegialität zwischen Mann und Frau eine Grundlage liefert, weil es auf der Seite des drei Jahre jüngeren Mannes keinerlei Überlegenheit an Erfahrung und Renommee gibt, die auszunutzen er in Versuchung kommen könnte. Das von Margaret Mead ab der Geburt der Tochter geschaffene Arrangement der Kinderbetreuung und der Haushaltsführung geht auf ihr Organisationstalent und ihre finanziellen Mittel zurück. Es entlastet ihn als Vater in der herkömmlichen Weise, sie als Mutter aber in einer neuen., und für ihre Berufsausübung produktiven Weise: Sie kann weiter ihren Forschungs- und Publikationsinteressen nachgehen, beruflich wie öffentlich erfolgreich arbeiten und gleichzeitig ihre Vorstellungen von moderner Kindererziehung unter Beweis stellen. Auch Gregory Bateson profitiert bis zum Ende des Krieges davon.

2.2

Bewältigungsstrategien und ihre Kosten

Margaret Meads Uberschreitungen der weiblichen Rollengrenzen wie ihre wissenschaftlichen Tabubrüche bleiben innerhalb bestimmter, für ihre eigene Kultur gerade noch erträglicher Grenzen: Es sind Tabubrüche im thematischen Rahmen von Kindererziehung, Pubertät, Geburt und Familienführung; ihre Tabubrüche in Sachen Sexualität werden nur in Gestalt entfernter und glücklicher Südseevölker publizistisch vorgeführt - nicht an der eigenen Person oder an amerikanischen Jugendlichen. Sie achtet lebenslang strikt auf äußerste Diskretion ihrer eigenen bisexuellen Beziehungen, um das Ansehen ihrer Person und damit die Glaubwürdigkeit und die Akzeptanz ihres Werkes nicht zu gefährden. Eine im prüden und bigotten Amerika äußerst weitsichtige Entscheidung, die das Ausmaß des ihren Mitmenschen Zumutbaren auf eine noch akzeptable Dosis eintariert. Gregory Bateson bekommt offensichtliche Probleme nach der durch die Kriegsteilnahme erzwungenen Forschungspause. Obwohl weder verwundet noch direkt trau404

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matisiert, findet er hinterher keinen Anschluß an das Interesse für das, was er bis 1939 gemacht hatte - die Kulturanthropologie. Obwohl er viele ausgesprochen ,nichtmännliche' Qualitäten hat (Offenheit für divergente, nicht an Disziplinen klebende wissenschaftliche Fragen, Mut zu Langsamkeit, Abwarten von Entwicklungen, wenig Berechnung bezüglich der Karriereträchtigkeit von Themen), scheint er nicht glücklich mit diesen Fähigkeiten: weil sie keinen direkten schnellen Erfolg zeitigen, weil sie gegen die gesellschaftlichen Karriereerwartungen an ihn verstoßen, und weil sie ihn neben seiner aktiven, berühmten und erfolgreichen Partnerin - vergleichsweise farblos dastehen lassen. Daß Bateson bestimmte männliche Geschlechterstereotypen nicht erfüllt, ist kein Problem, solange er in einer fremden, nicht-westlichen Kultur mit einer intelligenten, komplementär strukturierten Frau zusammenlebt und -forscht. Hier sind es seine menschlichen Qualitäten, die gefragt sind und nicht die westlich-männlichen von Rang, Status, finanziellem (und womöglich auch noch soldatischem) Erfolg. In dieser Zeit ist sein offensichtliches Nicht-Machotum - vor allem im Vergleich zu Margarets zweitem Ehemann - auch für ihn selbst ein großes wissenschaftliches wie menschliches Plus. Nach seiner Rückkehr in die amerikanische Zivilisation wird er mit der Nase auf die Nichterfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen an ihn gestoßen. Das ihn zuvor faszinierende und seiner Eigenart so förderliche und komplementäre Temperament seiner Frau geht ihm nun, als über 40jährigem Familienvater ohne festes Berufs- und Karriereziel, auf die Nerven. Vor der Folie ihrer Zielstrebigkeit und Effizienz sieht er um so stärker seine eigene Ziel- und Entschlußlosigkeit; zusätzlich geraten seine Schwierigkeiten mit der Selbstfindung in Konflikt mit den Normen und Erwartungen seiner eigenen Herkunftsfamilie - seines fordernden, intellektuellen Vaters und seiner besitzergreifenden, manipulativen Mutter. Er entspricht nicht den Erwartungen seiner Eltern an den übriggebliebenen einzigen Sohn, er entspricht nicht seinem eigenen Bild von einem erfolgreichen Soldaten im Krieg, er entspricht nicht seinen eigenen Hoffnungen auf eine zielstrebige wissenschaftliche Laufbahn für einen begabten und gut ausgebildeten Wissenschaftler. Zunehmend vermengt er in seiner Wahrnehmung die belasteten Beziehungen zu seiner Mutter mit denen zu seiner erfolgreichen Frau. Es wird deutlich, daß beide Partner unterschiedliche Bewältigungsstrategien bei ihren (familiären) Schwierigkeiten einsetzen, die eine jeweils eigene Mischung aus geschlechtsrollenkonformen und -nonkonformen Anteilen aufweisen. Mead übernimmt (zusätzliche) Verantwortung und mobilisiert ihr soziales und wissenschaftliches Know-how; Bateson bricht aus seiner Verantwortung und aus den ihn (über-) fordernden Bindungen aus. Seine Strategie, den für ihn unerträglichen Widerspruch zu lösen, scheint der Rückgriff auf seine Qualitäten als männlicher Liebhaber und auf die Destruktion seiner bestehenden Partnerschaft zu sein. Er verläßt die bisherigen Ressourcennetze und beginnt ein neues Leben, neue Ehen mit jüngeren, unKreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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ambitionierten Frauen, d.h. Unterfangen, die auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten mit den bisherigen haben. Er greift also auf kulturell bereitliegende Angebote männlicher Problemlösestrategien zurück - nur sind es ausgerechnet jene der männliche Rolle, die das auslösende Problem überhaupt erst geschaffen hatten. Diese Strategie verlangt noch viel stärker als zuvor nach dem großen, einsamen Genie, das alles in einem einzigen Befreiungsschlag überwinden kann - was ihm gerade nicht gelingt und ihn somit weiterhin unzufrieden und fatalistisch gegenüber seinem Leben hält. So ist er weder sofort, noch die nächsten 20 Jahre genügend erfolgreich, um seine neuen Familien ernähren zu können, noch um die erhoffte wissenschaftliche und öffentliche Anerkennung zu finden. Die Früchte seiner Arbeit wird er erst viel später ernten. Beide benutzen also bereitliegende Geschlechterstrategien; Margaret Mead verweigert und überschreitet die ihren aber teilweise, vor allem weitet sie sie zugunsten ihrer Person und ihrer Arbeit aus. Sie handhabt das Ausmaß ihrer Überschreitung diplomatisch und behält genügend weiblich konnotierte Qualitäten aus voller Uberzeugung bei, wobei ihr wissenschaftlicher und publizistischer Erfolg sie in Ausmaß und Qualität ihrer Überschreitungen gleichzeitig legitimiert. Gregory Batesons unkonventionelle, wenig planend-berechnende und wenig konkurrente Einstellungen bringen ihm als überdurchschnittlich vielseitig gebildeten Mann keine direkte Anerkennung. Zwar befähigen und motivieren ihn die eigenen Erfahrungen aus seiner belasteten Herkunftsfamilie - unter Anwendung seines interdisziplinären Wissens - , in der Psychiatrieforschung Dinge zu entdecken, die konventionellen Fachleuten bislang verborgen geblieben waren. Dies führt allerdings nicht dazu, daß er eine der Quellen dieses Leidens, die rigiden gesellschaftlichen Männlichkeitsklischees, durchschaut. Erst im Alter, nach positiven wie auch sehr negativen Erfahrungen mit hochkonkurrenten männlichen Kollegen in Palo Alto, kann Gregory sich die Gelassenheit eines nonkonformen Mannes leisten - einer Nonkonformität, die nun aber mittlerweile im Trend liegt - und sie aktiv für sein Werk kultivieren. Dies ist seine eigene späte Leistung (und die der begünstigenden Zeitläufe), nicht eine aus der aktiven Auseinandersetzung mit seiner kongenialen Partnerin entstandene. Die Kosten für beide sind hoch, die sie für ihre Rollen-Unkonventionalität und Konfliktbewältigungsstrategien bezahlen. Der Preis, den Margaret zahlt, ist der Verlust von Gregory als Geliebtem, Partner und Vertrauten - was sie zeitlebens bedauert. Das hindert sie zwar nicht an neuen Liebesbeziehungen, jedoch geht sie keine neue Ehe mehr ein. Der Preis, den er für unkonventionelles Verhalten zahlt, ist das Ausbleiben einer stromlinienförmig erfolgreichen Karriere, der selbstgewählte Verzicht auf Förderung und komplementäre Partnerschaft mit Margaret Mead. Der Bruch der Partnerschaft und der trotzdem ausbleibende Erfolg vertiefen noch seinen Fatalismus und seine Resignation über lange Jahre hinweg. Heiterkeit und Gelassen406

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heit stellen sich erst im Alter ein und scheinen keinen Zusammenhang mehr mit dem Verlassen der Partnerschaft zu haben. Sie scheinen vielmehr die Folge wachsender Resonanz und Anerkennung seiner kybernetischen und ökologischen Theoriebildung bei einer ihn verehrenden Anhängerschaft zu sein, die zu faszinieren er im späten Alter in der Lage ist.

2.3

Ressourcen

Es scheint, als ob Margaret Mead - gefördert in ihrer Entfaltung durch ein enorm anregendes und liberales Klima im Elternhaus und ausgestattet mit einem vor Aktionismus sprühenden Temperament - die für sie positiven Seiten der kulturellen westlichen Frauenrolle in vollen Zügen ausgeschöpft hat: ausgedehnte Freundschaftsnetzwerke, intensive lebenslange Frauenbeziehungen, umfangreiche Kontakte- und Freundschaftspflege. Gleichzeitig hat sie grenzüberschreitend viele Territorien eines männlich konnotierten Lebensmusters für sich erobert: Wissenschaftliche Ausbildung und Arbeit, Auslandsaufenthalte, innovative Forschungen, Bereitstellung von Forschungsgeldern, Kontakten, Publikationsmöglichkeiten, Vermarktung ihrer Arbeiten im kommerziellen wie im aufklärerischen Sinne. Margaret Mead nutzt ihre ,Macht' für den Erhalt des von ihr geschaffenen sozialen Musters/Struktur. Ihre (dritte) Partnerschaft läßt sich jedoch durch diese bewährte Strategie nicht retten. Gregory Bateson nutzt seine ,Macht' lediglich dazu, eine für ihn unerträgliche Situation zu beenden und seiner Partnerin die Grenzen ihrer Macht zu zeigen. Die Quellen ihrer Stärke sind: Herkunft, Temperament, Mut, Unkonventionalität und Flexibilität, Gespür für Zeitgeist-Themen und die Fähigkeit sie zu formulieren, des weiteren ihre finanzielle Unabhängigkeit, ihr Interesse und ihre Leidenschaft für soziale und wissenschaftliche Netzwerke. Seine Ressourcen sind demgegenüber zwiespältig: Seine Herkunft aus der patriarchal-disziplinierten britischen Bildungselite, die Auseinandersetzung mit hohen und rigiden elterlichen Anforderungen und Kontrollversuchen, ein ungewöhnlich breites disziplinübergreifendes akademisches Wissen, Offenheit und Sensibilität für neue Perspektiven bis hin zur eigenen Richtungslosigkeit und Handlungsunwilligkeit, Freude an der Erstellung abstrakter theoretischer Gebäude, Kritikfähigkeit der amerikanischen Kultur, Respektlosigkeit gegenüber der Erfüllung vieler oberflächlicher Erwartungen und Etiketten, Übertragung autobiographischer Sensibilitäten auf die Analyse zerstörerischer und krankmachender Kommunikationsformen, später auch die sehr patriarchal anmutende unbedenkliche Nutzung weiblicher Liebe und Kraft (vor allem seiner erwachsenen Tochter und seiner jüngeren Ehefrauen) für die Ausarbeitung seiner eigenen Ideen und Bücher. Seine Ressourcen im Alter bestehen in der Unterstützung und Bewunderung durch seine Anhänger und Schüler. Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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3. Übergreifende Muster 3.1 Motive für die Auflösung der kreativen Beziehung

Die Gründe für die Auflösung oder Distanzierung einer ehemals engen produktiven Beziehung liegen in dieser Art Partnerschaften offensichtlich in den Problemen des männlichen Partners: Er hat bzw. er macht Schwierigkeiten. Die Frauen würden die Partnerschaft gerne aufrechterhalten. Obwohl die Männer zunächst vom Temperament und den Fähigkeiten ihrer Partnerin fasziniert sind, und davon persönlich - sozial wie in ihrer eigenen Produktivität - profitieren, scheinen sie die kreative und sie anregende/unterstützende Frau an ihrer Seite nicht dauerhaft auszuhalten, jedenfalls nicht, wenn sie sich gleichzeitig als Mann in einer patriarchal polarisierenden Umgebung bewegen und bewähren müssen. Daß sie nach der ersten Euphorie sich unglücklich/unbehaglich fühlen, ist evident. Dabei ist nicht akribisch unterscheidbar, ob ,er' jeweils unglücklich ist, weil er a) im Vergleich zu ihr weniger/nicht erfolgreich ist, oder weil er b) nicht so erfolgreich ist, wie er mal gewesen ist, bzw. meint, es seinen eigenen Ambitionen gemäß sein zu müssen, oder weil er c) nicht so erfolgreich ist wie andere Männer, bzw. wie er glaubt, daß andere (Männer) es von ihm als Wissenschaftler oder Künstler erwarten.

3.2

Lösungsmuster für die Dissonanzbewältigung

Der unglücklich leidende Mann ergreift die Initiative: Er wendet seine Schwierigkeiten an erster Stelle gegen die Partnerin, an zweiter Stelle auch gegen sich selbst. Beides geschieht unter Benutzung des bereitliegenden männlichen Rollenklischees der westlichen Gesellschaft. Erstens: die Partnerin wird verletzt und/oder verlassen. Dies geschieht in der dem männlichen Renommee zuträglichen Form des Ehebruchs, des sexuellen Fremdgehens, des Verlassens, der Scheidung. Zweitens werden weitere für Männer bereitliegende Stilisierungen genutzt: Die eigenen Männlichkeiten werden nun verstärkt auf anderen Ebenen als den zuvor erfolgreichen aktiviert: sei es durch den sozialen wie beruflichen Befreiungsschlag, durch einsamen Neuanfang auf einem ganz anderen Gebiet, sei es durch Rückzug aus dem gemeinsamen Freundeskreis und aus der Öffentlichkeit, durch kleine Fluchten (Affairen, Alkohol) und/oder durch Stilisierung der eigenen Person als geheimnisvoll, unnahbar, genial bzw. als hart, stolz und zynisch, oder als Guru einer Bewegung. Die Frauen, die keineswegs glücklich sind über diese ihnen aufgezwungene ,Lösung', und die deren Notwendigkeit auch nicht einsehen, versuchen ihrerseits mit ihren Mitteln damit umzugehen: Verletzungen auszuhalten; resignierte bis ungerührte Akzeptanz anderer Frauen; den totalen 408

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Bruch der Beziehung zu vermeiden; Versuche, verbindende Stränge auf einer anderen Ebene aufrechtzuerhalten: wie geteilte Elternschaft, berufliche Förderung, Festhalten an verbleibenden Interessen. Sie kultivieren andere Freundschaften, vor allem Frauenfreundschaften, gehen auch neue Liebesbeziehungen ein. Vor allem bleiben sie lebenslang bei seinen Schwierigkeiten mit aktiven Hilfeangeboten präsent. Sie setzen gleichzeitig aber ihre eigene erfolgreiche Arbeit fort und sind damit glücklich. Aus diesen unterschiedlichen Reaktionen ergibt sich ein merkwürdiges Muster von weiblicher Bindung (bei aller Selbständigkeit) und männlicher Abgrenzung (trotz aller Abhängigkeit). Die demonstrative Unabhängigkeit der Männer bringt diesen keineswegs den gleichen Erfolg wie die vorherige Zusammenarbeit. Der Rückzug aus der produktiven Beziehung schädigt erstaunlicherweise nicht die Produktivität der verletzten Partnerin, sondern vielmehr den gerade um seine Kreativität und Produktivität strampelnden Mann. Zusätzlich läßt sich feststellen, daß diese Männer trotzdem lebenslang auf die Unterstützung von Frauen angewiesen bleiben, sei es auf die Frau aus dieser ehemals kreativen Partnerschaft, sei es auf neue Frauen (Ehefrauen, Töchter, Haushälterinnen). Die weiblichen Partner scheinen demgegenüber nicht in einem auch nur annähernd vergleichbaren Maß (nochmals) zu einem männlichen Partner je wieder in eine engere oder sich austauschende Beziehung zu treten.

II. Kreative Paare mit ausbalancierten Erfolgen 1. Marie Sklodowska Curie (1867-1934) und Pierre Curie (1859-1906) Als die Polin Maria Sklodowska 1894 mit 26 Jahren in Paris dem in Fachkreisen schon renommierten Physiker Pierre Curie begegnet, haben die beiden 11 Jahre intensiven, gemeinsamen wissenschaftlichen Forschens und geteilten internationalen Erfolgs vor sich, aber Maria hat ihrerseits bereits eine für eine junge Frau ihrer Zeit außergewöhnliche Biographie hinter sich. Sie stammt aus einer Urbanen intellektuellen Familie Warschaus, der Vater ist Physiklehrer, die Mutter war Leiterin eines Mädchenpensionats. Sie hat glänzende Schulabschlüsse vorzuweisen, spricht mehrere Sprachen, hat schon sechs Jahre als Gouvernante gearbeitet, um Geld für das Studium ihrer älteren Schwester und für ihr eigenes zu verdienen, und sie hat in den letzten drei Jahren ihrer Studienzeit an der Sorbonne nicht nur ihr Diplom (Lizenziat) in Physik (1893), sondern gerade auch noch das in Mathematik (1894) abgelegt. Seit einem Jahr hat sie ein Stipendium, das sie von den schlimmsten Zumutungen unzureichender Mahlzeiten und kalter Mansardenzimmer befreit. Ihr familiärer Hintergrund ist aufgeklärt-liberal, die Töchter hatten die gleiche schulische Förderung und Bildung wie der Sohn erhalten; die Lebensbedingungen ihrer Familie waren durch sehr knappe Mittel, aber durch ein reiches und anregendes Lernklima gekennzeichnet. Selbst innerhalb dieser intellektuellen HerKreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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Abb. 5 Maria Sklodowska mit ihrem Vater Wladislaw Sklodowski und den Schwestern Bronia und Helena 1890 Fotografie

kunftsfamilie war die jüngste Tochter Maria durch ihre unglaubliche Auffassungs- und Lerngeschwindigkeit und durch überragende Intelligenz aufgefallen. Der acht Jahre ältere Pierre Curie hat seinerseits eine anspruchsvolle und bemerkenswerte Erziehung genossen. Sein Vater ist Arzt, teilt die progressiven Einstellungen der Pariser Kommune von 1848 und hat dafür gesorgt, daß sein begabter Sohn bis zu seinem 17. Lebensjahr Privatunterricht erhielt, damit er nicht durch das rigide französische Schulcurriculum verbogen wurde. Die Familie steht den Freidenkern nahe und zeichnet sich durch ein ausgeprägtes soziales Gewissen aus. Pierres naturwissenschaftliche Ausbildung wurzelt in einer Familientradition des gemeinsamen Arbeitens und Forschens mit seinem Vater und mit seinem älteren Bruder Jacques. Beide Brüder haben einige Jahre als Forschungsassistenten an der Sorbonne eng zusammengearbeitet und sich mit ihren Forschungen zur Physik der Kristalle und der Entdeckung sowie Messung der Piezoelektrik einen Namen gemacht. Zur Zeit ist Pierre Leiter des Labors an einer Fachhochschule für industrielle Chemie und Physik in Paris. Er arbeitet an seiner Doktorarbeit über Magnetismus. Pierre Curie ist ein langsamer, gründlicher und völlig unehrgeiziger Wissenschaftler, der die Dinge um ihrer selbst willen erforscht, ohne jedes persönliche Streben nach Ruhm, Anerkennung und beruflichem Vorteil. Er haßt Konkurrenz und Hektik und kann unter Zeitdruck nicht gut arbeiten - Eigenschaften, 410

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Abb. 6 Marie und Pierre Curie 1895 Hochzeitsfotografie

die seine Eltern schon früh erkannten und ihm das autoritäre französische Schulsystem ersparten. Sein Ideal ist die vertraute wissenschaftliche Kooperation mit seinem Bruder, wo eine perfekte persönliche Harmonie die gemeinsame Konzentration auf das Wesentliche ermöglichte. Mit diesem Hintergrund als Ausgangskonstellation ist es erklärlich, daß er in Maria die potentielle Partnerin mit gleich starken wissenschaftlichen Interessen und Fähigkeiten wahrnimmt, mit der er sein ,familiales' Modell des wissenschaftlichen Arbeitens im Labor fortführen kann, ohne sich den karrieristischen und konkurrenten Strukturen an den Forschungslaboratorien der Universität unterwerfen zu müssen. Nachdem beide ihre gemeinsamen Interessen und Neigungen festgestellt haben, heiraten sie nach einem Jahr und profitieren nun von ihren komplementären Fähigkeiten. Während Pierre der ältere, erfahrene und in der Physik schon bekannte Forscher ist, so ist er doch für eine seinen Fähigkeiten entsprechende wissenschaftliche Karriere schlecht gerüstet, da er ein so bedächtiger und skrupulöser Forscher ist, der sich weder Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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um Beziehungen zu einflußreichen Kollegen, noch um schnelle und wirkungsvolle Publikationen seiner Experimente kümmert. Er geht alles vorsichtig und zurückhaltend an, viele seiner Forschungsexperimente schreibt er überhaupt nicht auf und ist auch völlig leidenschaftslos, ob ihm jemand mit einer Hypothese oder einem Ergebnis zuvorkommt. Dagegen ist Marie Curie, wie sie nun heißt, von schneller und entschlußfreudiger Arbeitsauffassung, sie hat ein Interesse daran, für die Originalität ihrer Arbeit anerkannt zu werden und Schlußfolgerungen aus ihren Forschungsarbeiten auch dann schon öffentlich zur Diskussion zu stellen, wenn sie noch den Status von Hypothesen haben und noch weiter untersucht werden müssen. Die diversen Biographien über Pierre und Marie sind sich darüber einig, daß genau diese glückliche und komplementäre Kombination ihrer Energien und Temperamente - außer ihren außerordentlichen wissenschaftlichen Fähigkeiten - eine der zentralen Voraussetzungen für ihren ungewöhnlichen gemeinsamen Erfolg war.

Abb. 7 Pierre und Marie Curie Sommer 1895 Fotografie 412

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Marie Curie wählt 1897 ein in der Naturwissenschaft nur wenig beachtetes Phänomen zum Thema ihrer Doktorarbeit: die von Henri Becquerel ein Jahr zuvor entdeckten Strahlen, die von Uranverbindungen ausgehen. Dieses Phänomen wird später die von ihr vorgeschlagene Bezeichnung „Radioaktivität" tragen. Sie untersucht verschiedene andere Metalle und Mineralien auf ihre Strahlungseigenschaften und kommt zu der Hypothese, daß diese Strahlen auf die atomaren Eigenschaften eines dem Uran beigemengten, unbekannten Elements zurückgehen. Im selben Jahr 1897 wird auch ihre Tochter Irene geboren. Ab 1898 ist auch Pierre so fasziniert von dem neuen, bislang wenig beachteten Phänomen, daß er seine Arbeiten über Kristalle beiseite legt, und beide nun gemeinsam im Labor die Radioaktivität erforschen und Stück für Stück deren Geheimnis lüften. Sie entdecken die strahlenden Elemente Polonium und Radium (1898); Marie entwickelt eine eigene Technik zur Messung der Intensität radioaktiver Strahlung, und 1902 gelingt ihnen der Nachweis der Existenz des Elements Radium auf solider chemischer Grundlage. Beide verfolgen von Anfang ihrer gemeinsamen Arbeiten an eine erstaunlich faire Veröffentlichungspolitik ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse: Es wird in gemeinsamen wie auch in Einzelveröffentlichungen stets klar gemacht, welche Idee, welche experimentelle Prüfung, welche Schlußfolgerung und weiterführende Hypothese von wem stammt. Sie entwickeln ein gegenseitiges Zitationssystem, das nicht nur fair und anerkennend gegeneinander ist, sondern auch gegenüber ihren inzwischen hinzugekommenen Mitarbeitern. Dies ist für die damalige Zeit extrem untypisch, da Leistungen von Ehefrauen auf wissenschaftlichem wie künstlerischem Gebiet nicht nur für unwahrscheinlich bis unmöglich gehalten werden, sondern - falls vorhanden - in der Regel unter dem Namen des Mannes erscheinen. Ab 1900 ist Pierre Curie endlich Assistenzprofessor an der Sorbonne; 1903 besteht Marie Curie ihre Doktorprüfung über das von ihr gewählte und so erfolgreich bearbeitete Thema der Radioaktivität. Im selben Jahr bekommen beide, zusammen mit ihrem Kollegen Henri Becquerel, den Nobelpreis in Physik für ihre Entdeckungen zur Radioaktivität verliehen. 1904 wird die zweite Tochter Eve geboren und Pierre erhält den ersehnten Lehrstuhl für Physik an der Sorbonne. 1906 erhält er eine volle Professur und Marie wird - immerhin - die Direktorin (chef des travaux) des Labors ihres Mannes, was ihr erlaubt, an seiner Seite im Labor tätig zu sein - ein Zustand, den sie beide schon vorher, allerdings unter wesentlich bescheideneren Bedingungen, an Pierres Schule hatten durchsetzen können. Im selben Jahr 1906 verunglückt Pierre Curie tödlich. Marie lehnt die ihr von der Sorbonne angebotene Witwenrente ab und macht deutlich, daß sie viel eher an der Weiterführung der mit ihrem Mann betriebenen Arbeit interessiert ist. Der französische Staat ringt sich - nach zusätzlicher Fürsprache durch etliche renommierte Wissenschaftler und aus Angst, seine international führende wissenschaftliche Reputation zu verlieren - dazu durch, Marie Curie mit der Vertretung der Professur ihres Mannes zu Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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betrauen, und zwei Jahre später (1908), sie zur Professorin für dieses Gebiet zu ernennen. 1911 gelingt Marie Curie der Nachweis von Radium als Metall, und damit als wahres chemisches Element; 1911 erhält sie als erste Person überhaupt einen zweiten Nobelpreis, diesmal für Chemie. Im gleichen Jahr wird ihr Antrag auf Aufnahme in die französische Akademie der Wissenschaften abgelehnt. Ihr weiteres Leben ist durch große internationale Anerkennung ihrer Arbeiten gekennzeichnet, vor allem jetzt auch als unabhängige Wissenschaftlerin aus eigener Kraft. Trotzdem bleibt ihre Lebensgeschichte voll von Versuchen männlicher Wissenschaftler, Journalisten und Biographen, ihre Leistungen herabzusetzen - vorzugsweise im Vergleich zu denen ihres früh verstorbenen Mannes. Als sie 1911 den zweiten Nobelpreis bekommt, ist die Welt auch voller Neider. Ein der Presse zugespielter Briefwechsel mit einem Schüler ihres Mannes (Paul Langevin) führt nicht nur dazu, daß diese angebliche Liebesbeziehung öffentlich skandalisiert wird, sondern es wird nun von einigen der ,Beweis' als erbracht gesehen, daß die ihr zugeschriebenen Leistungen stets nur im Schatten und auf Initiative eines männlichen Partners stattfinden konnten. Diese boshafte Zuschreibung konnte sich zwar wegen der eindeutigen Veröffentlichungsnachweise nicht durchsetzen, hinterließ aber Spuren in Form von anderen Versuchen, ihre Leistungen kleinzureden, indem sie nachträglich als ,Ameise' und ,Arbeitstier' (Pflaum 1989) apostrophiert wurde, während Pierre als ,Denker',,Theoretiker' oder ,Genie' bezeichnet wurde - oder auch, indem sie als die ewig Pechblende kochende ,Chemikerin', er dagegen als der kühl theoretisierende ,Physiker' (Reid 1974) bezeichnet wurde. Erst in den späten 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist diese klischeehafte Version von wissenschaftshistorischer Seite gründlich widerlegt worden (Pycior 1987, 1993, 1996). Betrachten wir im folgenden einige Merkmale dieser fruchtbaren wissenschaftlichen Lebensgemeinschaft näher, wie auch die dazugehörigen Muster des Zusammenlebens in den gemeinsamen elf Jahren.

1.1 Neue Geschlechterarrangements und ihr Nutzen Das Ungewöhnliche und für ihre Zeit absolut Neue im Zusammenleben und -arbeiten der beiden ist zunächst einer bei beiden gleich stark ausgeprägten Eigenschaft zuzuschreiben, der absoluten Begeisterung für naturwissenschaftliches Arbeiten sowie der wilden Entschlossenheit, ihr Leben mit wissenschaftlicher Arbeit zu verbringen. Nun hat diese gemeinsame' Vorstellung allerdings völlig verschiedene Konsequenzen je nach Geschlecht. Für einen Mann des 19. Jahrhunderts bedeutet es, daß er sich seinem Ziel lebenslang uneingeschränkt widmen kann, wenn er eine entsprechende Anstellung findet und eine Ehefrau, die ihm die Organisationen seines Privatlebens abnimmt. Für eine Frau des 19. Jahrhunderts bedeutet es, bestenfalls die Interessen ihres Mannes tei414

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len zu können, aber nicht den Zugang zu einem eigenen Laborplatz, nicht eine berufliche Position in den Wissenschaften und in der Regel auch nicht die dazu nötige Voraussetzung in Form eines eigenen wissenschaftlichen Studiums, der Förderung durch Lehrer und Mentoren, wie sie für Männer greifen. Neu und innovativ für die praktische Zusammenführung ihrer gemeinsamen Interessen ist daher zunächst die Haltung Pierre Curies: Er ist nicht nur anfänglich begeistert von einer ungewöhnlichen, naturwissenschaftlich gebildeten Frau und Partnerin - wie wir es auch schon von Albert Einstein und seiner Frau Mileva Marie oder von Fritz Haber und seiner Frau Clara Immerwahr gehört haben - , sondern er bleibt es, und er nimmt seine Frau in ihren Fähigkeiten und Ambitionen als gleichwertige Partnerin ernst. Er sieht sie nicht nur als eine aparte Gehilfin, die dann allmählich doch durch die berühmten Sachzwänge (sprich die gesellschaftlichen Rollenerwartungen in den Köpfen aller Beteiligten) mehr und mehr in die klassische eheliche Arbeitsteilung von Haushalt und Kinderbetreuung abdriftet. Pierre Curie besitzt zwei Eigenschaften, die ihn zu dieser Haltung befähigen: Er ist durch die Erfahrung der engen, vertrauten und nicht-konkurrenten Zusammenarbeit mit seinem Bruder auf ein ,familiales' Modell von wissenschaftlicher Arbeit sozialisiert. Dies erscheint ihm für seinen persönlichen Arbeitsstil, aber auch für seine Zufriedenheit und seinen Arbeitserfolg unabdingbar. Diese Art wissenschaftlicher Sozialisation prädisponiert ihn für eine intensive Zusammenarbeit mit jemandem, den er liebt und schätzt, den er aber nicht konkurrent dominiert oder ausnutzt. Daß Maries Zielstrebigkeit und Entschlußkraft sich für sein zögerliches und unehrgeiziges Temperament als komplementär und förderlich herausstellen, macht die faire Zusammenarbeit für ihn um so wertvoller. Auch ihr größeres Durchhaltevermögen hält ihn bei der Stange bei schwierigen Projekten, die er sonst wegen seiner vielfältigen Interessen schnell wieder aufgegeben hätte, und es beschert ihm Erfolge, die er allein, nach Jacques' Weggang, nicht erreicht hätte. Er ist ganz offensichtlich von Anfang an mit der Vorstellung in diese Ehe hineingegangen, daß er eine Frau heiratet, die lebenslang eng mit ihm zusammenarbeitet und seinen exzessiven Forschungsdrang teilt. Natürlich profitiert Marie ebenfalls, wenn auch auf ganz andere Weise, erheblich von dieser ungewöhnlichen Verbindung. Sie trifft nicht nur auf eine Verwandtschaft an Interessen und Neigungen, sondern sie erfährt aktive Anregung und Förderung durch den acht Jahre älteren Physiker, sie kommt über ihn an einen eigenen Laborplatz, sie kann mit ihm diskutieren, theoretisieren, planen und publizieren. Ohne einen ausgewiesenen männlichen Wissenschaftler, der ihr entweder als Mentor oder als Ehemann Zugang zu einem wissenschaftlichen Experimentierfeld verschafft, könnte sie als Frau in dieser Gesellschaft keinen Zugang zum wissenschaftlichen Arbeiten er- und behalten. Daß beide sich persönlich - aufgrund ihres intellektuell ähnlichen Familienhintergrunds und ähnlicher Weltanschauungen - gut verstehen, macht die Art der partnerschaftlichen Zusammenarbeit auch menschlich zu einem Fundament von Kraft und Inspiration. Erstaunlicherweise sind beide - gegen den Geist ihrer Zeit - völlig Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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selbstverständlich davon überzeugt, daß ein gemeinsamer Haushalt und gemeinsame Kinder nicht das Ende der Zusammenarbeit bedeuten müssen. Marie sagt in ihrer Biographie über Pierre wörtlich: „Ein solcher Verzicht wäre für mich sehr schmerzhaft gewesen und mein Mann hätte es nicht im mindesten in Erwägung gezogen ... keiner von uns beiden hätte auch nur erwogen, das aufzugeben, was für uns beide so wertvoll war." (Marie Curie 1923, S. 88). Interessant ist, daß beide vor ihrer Begegnung bereits beschlossen hatten, nicht zu heiraten: Marie, weil sie in Polen als Lehrerin arbeiten wollte und mit ihren wissenschaftlichen Fähigkeiten die polnische Sache (gegen die russische Annektion Polens) unterstützen wollte; Pierre hingegegen, weil er „die Ehe mit einem der Wissenschaft gewidmeten Leben für unvereinbar" hielt (Eve Curie 1937, S. 149). Daß er eine kongeniale Frau finden würde, hatte er schon vorher ausgeschlossen, da, wie er einmal klagte, „geniale Frauen selten sind" (Eve Curie 1937, S. 128). Als er doch auf eine trifft, ist er hellsichtig genug, sie zu erkennen und festzuhalten.

1.2

Bewältigungsstrategien und ihre Kosten

Beide waren sich also in ihrem Entschluß einig, zusammen einen unnatürlichen Pfad' zu gehen, indem sie ihr gemeinsames Leben auf ausschließlich zwei Felder konzentrierten: Auf ihre wissenschaftliche Arbeit und auf ihre Familie. Wie ist ihnen das gelungen? Anfangs fahren sie die Aufwendungen eines gemeinsamen Haushalts auf ein absolutes Minimum zurück: Kaum Möbel und Einrichtungsgegenstände, die Pflege brauchen könnten, äußerste Bedürfnislosigkeit an Kleidung, Essenszubereitung und Geselligkeit. Es gibt eine Putzhilfe von einer Stunde am Tag, die sich um Geschirr und grobe Arbeiten kümmert; Marie kocht und erledigt das Einkaufen, „acht Stunden wissenschaftliche Versuche, (maximal) drei Stunden häusliche Arbeit" (Eve Curie 1937, S. 164). Lange Fahrradtouren zu zweit in die Natur dienen zur Erholung. Als die erste Tochter geboren ist, wird Marie nach einiger Zeit auf die Hilfe einer Amme zurückgreifen müssen, und sie haben das Glück, daß Pierres Vater, Arzt und Witwer, zu ihnen zieht und seine Begeisterung für seine Enkelin entdeckt. Marie und Pierre können so ihre Forschungen im Labor und das Familienleben mit Tochter und Großvater miteinander vereinbaren. Offensichtlich gibt es eine wechselweise Beeinflussung zwischen der Form ihres Familienlebens und der ihres wissenschaftlichen Arbeitens: Die Erfordernisse der Wissenschaft formen das Familienleben, aber umgekehrt ermöglicht das Familienleben (die Ehe mit Pierre) Marie überhaupt erst ihre wissenschaftliche Arbeit: Die Voraussetzungen ihres Erfolgs waren ihr ehelicher und familiärer Status. Ihre eigenständige Professur an der Sorbonne als erste und einzige Frau erlangt sie ausschließlich durch den Tod ihres Mannes, nicht durch die unabhängige Anerkennung ihrer eigenen Leistungen. Pierre wiederum kann seine wissenschaftlichen Leistungen 416

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nur durch die Zusammenarbeit erbringen und er kann wissenschaftliche Anerkennung nur ernten, weil ihn jemand überzeugt, seine Ergebnisse und Schlußfolgerungen schnell und selbstbewußt zu veröffentlichen und nicht in der Schublade schlummern zu lassen. Außerdem wird ihm als Koautor mit Marie (und später mit anderen) automatisch ein zusätzlicher Bonus in der Rolle des führenden Kopfes' zugeschrieben, wie es die damalige Wahrnehmung nicht anders sehen konnte und wollte. Eine zentrale Strategie für die Anerkennung von Marie Curies Leistungen durch die wissenschaftliche Öffentlichkeit war eindeutig die weitsichtige Entscheidung, ihren eigenen wissenschaftlichen Anteil in allen gemeinsamen Veröffentlichungen eindeutig kenntlich zu machen. Dies ist sicherlich sowohl Pierre's Fairness und Aufrichtigkeit zuzuschreiben in einer Zeit, w o diese Haltung gegenüber dem geistigen Eigentum von Ehefrauen unüblich war. Es ist aber sicher auch Maries Bewußtsein für den Wert ihrer Arbeit, sowie ihrer Einsicht in die Strukturen und Rituale des Wissenschaftsbetriebs zuzuschreiben - einer Einsicht, die Pierre völlig abging. Die Kosten dieses unkonventionellen Lebensmusters sind der weitgehende Verzicht auf Geselligkeit und auf materiellen Komfort - bis auf den Kontakt zu ihren jeweiligen Herkunftsfamilien und wenigen engsten Freunden führen die Curies keinerlei soziales Leben. Nicht zu unterschätzen sind außerdem die gesundheitlichen Schäden in Form von ständiger Überarbeitung und Erschöpfung, die ihr besonderes Arbeits- und Lebensmodell mit sich bringt. Die Kinder kommen nicht zu kurz, sondern die Eltern. Auch die schweren gesundheitlichen Schäden durch die ständig hohe Strahlenbelastung sollen nicht verschwiegen werden, obwohl diese die Folge damaliger Unkenntnis und Sorglosigkeit sind, nicht die direkte Folge ihres Lebensmusters. Schließlich sollten die zusätzlichen ,Spätfolgen' für Marie nach Pierres Tod nicht unerwähnt bleiben. Zwar ist es ihr gelungen, die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Arbeit gegenüber dem Gros der internationalen Wissenschaftler klarzustellen, was ja auch der zweite Nobelpreis von 1911 beweist. Aber sie hat auch Jahre hämischer und neidischer Verdächtigungen und die unsägliche Pressekampagne nach der,Affaire Langevin' auszuhalten, wo Journalisten ihr immer wieder zu unterstellen suchen, sie sei nur die bienenfleißige Laborantin und Bettgenossin zweier genialer Männer gewesen, die ihr ritterlicherweise ein paar Lorbeeren zugeschoben hätten. Marie Curie hat diese Unterstellungen nie kommentiert, aber sie hat sich danach - sie war gerade 44 Jahre alt - nie wieder eine engere Freundschaft mit einem Mann gestattet.

1.3

Ressourcen

Die Hauptressource, über die beide Partner in dieser Wissenschafts-Ehe verfügen, sind ihre jeweiligen Herkunftsfamilien. Beide haben von ihren Familien einen intellektuell aufgeklärten, an Naturwissenschaften begeisterten Hintergrund mitbekommen. In Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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Maries Fall ist diese Förderung um so bemerkenswerter, als sie sich ebenso an die begabten Töchter wandte, wie an den Sohn. Pierre wird von seinen Eltern sogar ausdrücklich dadurch gefördert, als sie die langsame, grüblerisch-gründliche Natur ihres Sohns erkennen und für sie das richtige Lernumfeld schaffen, ihm den autoritären Drill der Schule ersparen. Die Erfahrung des engen geistigen und emotionalen Gleichklangs mit seinem Bruder Jacques ist für Pierre von zentraler Bedeutung. In dieser Familie müssen generell liebevolle und wechselseitig unterstützende Umgangsformen geherrscht haben, wenn man allein bedenkt, daß ein Großvater der damaligen Zeit (1897!) sich erst um einen Säugling, und später jahrelang um zwei kleine Mädchen tagsüber kümmert, ohne dies als langweilig oder ,unmännlich' zu empfinden. Diese Haltung ist sicherlich bereits in Pierres Erziehung eingegangen. Maries Familienbande sind ebenfalls durch liebevolle gegenseitige Unterstützung gekennzeichnet, wie allein schon aus dem Ton ihres Briefwechsels mit ihrem Vater, ih-

Abb. 8 Großvater Dr. Eugene Curie [„Grand Pe"] mit Enkelin Irene Curie, 1890 Fotografie 418

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ren Schwestern und ihrem Bruder hervorgeht. Ihr ,Pakt' mit ihrer Schwester Bronia ist bemerkenswert: Weil der Vater nicht genug Geld hat, die Töchter studieren zu lassen, verdient zuerst Maria das Geld für Bronias Medizinstudium, danach soll Bronia mit ihrem Einkommen als Arztin Marias Physikstudium finanzieren. Als Maria in Paris endlich ankommt, erhält sie zunächst Kost und Logis bei ihrer Schwester, wird von ihr wieder aufgepäppelt, wenn sie durch Hungern und Überarbeitung zusammenbricht. Später wird ihre Tochter Irene zusammen mit ihr im Labor arbeiten und schließlich auch dessen Leitung übernehmen. Ihre zweite Tochter Eve schreibt nach ihrem Tod eine sehr einfühlsame und informative Biographie über sie. Die Hauptressourcen in der Zeit des Zusammenlebens und -arbeitens bleiben die beiden Herkunftsfamilien, weil diese den selbstgewählten, ,unnatürlichen' Lebensstil tatkräftig unterstützen, bewundern und ermutigen. Die uns heutige ,Normale' am meisten beeindruckende Ressource der beiden Curies ist (vor diesem Hintergrund) aber ihre enorme Energie und Arbeitswut, ihrer beider Talente in einer Weise einzusetzen und zu strapazieren, die man nur noch als ,workaholic' bezeichnen kann. Vielleicht kann man diesen unmäßigen Arbeitseinsatz ihrer Fähigkeiten nur dann halbwegs angemessen verstehen, wenn man ihn nicht als Pflichtübung an einem hehren Ideal begreift, sondern als unbändige Begeisterung und Lust, sich auf dem Gebiet kreativ zu verausgaben, das ihnen beiden lebenslang die allergrößte Freude bereitete.

2. Simone Schwarz-Bart (*1938) und Andre Schwarz-Bart (*1928) 1959 gewinnt der 31jährige Autor Andre Schwarz-Bart auf Anhieb den renommiertesten französischen Literaturpreis ,Prix Goncourt' mit seinem ersten Roman „Der Letzte der Gerechten", der ihn in der Folge weltbekannt machen wird. Es ist die halb-fiktive Genealogie der jüdischen Familie Levy, ausgehend von einem mittelalterlichen Massaker an englischen Juden bis zum Tod des Ernie Levy in Auschwitz. Es ist keine Geschichte ,des' Holocaust, sondern eine literarische Verwandlung der jüdischen Tradition der ,Klage-Literatur'. Schwarz-Bart läßt diese Tradition jedoch hinter sich, befragt die Traditionen von Erlösung, Buße und Mitgefühl und nähert sich der im Judentum heftig diskutierten Frage von Glauben versus Sinnlosigkeit, von apokalyptischer Einmaligkeit des Holocausts versus Einordnung in die jahrtausendealte Leidensgeschichte des jüdischen Volkes. Die Bedeutung und die Herausforderung seines Romans liegen in der offenen Ambivalenz zwischen Anzweiflung einer Märtyrer-Tradition jüdischen Leidens, Trauerns und Klagens und den Versuchen von Überleben und Würde durch Kampf und Erinnerung. Andre Schwarz-Bart wurde 1928 als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer in Metz geboren, mußte bereits mit 11 Jahren - 1939 - seine Schulbildung abbrechen und verlor durch die Nazi-Deportationen einen Großteil seiner Familie. Mit 14 steht er allein Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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Abb. 9

Simone und Andre Schwarz-Bart, 60er Jahre. Fotografie

da und muß sich und seine vier jüngeren Geschwister über Wasser halten. Bei Kriegsende ist er 17, hat seit sechs Jahren keine Schule mehr von innen gesehen, und Französisch ist nicht seine Muttersprache, sondern Jiddisch. Er schafft es in einem unglaublichen Kraftaufwand neben Jobs aller Art (Arbeiten in der Fabrik, im Bergbau, in der Gießerei), das schwierige französische Baccalaureat zu bestehen, sich an der Sorbonne zu immatrikulieren und Literatur zu studieren. Ab Mitte der 50er Jahre ist er nicht nur in jüdischen Organisationen aktiv, sondern befreundet sich auch mit der Subkultur der karibischen Einwanderer in Paris, den Nachkommen schwarzer Sklaven aus den französischen Provinzen Guadeloupe, Martinique und Haiti. Er findet hier Qualitäten, die er bewundert - Freundlichkeit, Unbeschwertheit - und die ihm abge420

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hen - eine Kultur der sinnlichen Sensibilität für Gerüche, Farben, Stimmungen, Metaphern und der mündlichen Tradition von Geschichten, Mythen, Phantasie und Erinnerung. Er lernt, daß auch diese Kultur einer unterdrückten und ihrer Wurzeln beraubten Bevölkerung (die ab 1946 ihre Jugend nach Frankreich schickt, um dort bessere Bildung und bessere Lebenschancen zu finden) eine Geschichte von Deportationen, Massakern und Auslöschung hinter sich hat, die in den konventionellen Geschichtsbüchern verschwiegen wird. Vom 15. bis zum 19. Jahrhundert sind insgesamt 12-15 Millionen afrikanische Frauen und Männer nach Amerika verschleppt worden, wo sie unter brutalsten Bedingungen von reichen Plantagenbesitzern ausgebeutet und gedemütigt wurden. Anderthalb Millionen kamen bereits auf der Überfahrt um. Für Andre Schwarz-Bart liegt nahe, daß hier bestimmte Gemeinsamkeiten einer systematischen Vernichtung aufgrund von „Rassen"zugehörigkeit vorliegen, und er fragt sich, ob nicht schon vor dem Holocaust vergleichbare Katastrophen stattgefunden haben. Dies schärft seine Aufmerksamkeit für anhaltende Enteignung und Auslöschung von Erinnerung und Geschichte bei Uberlebenden und Nachkommen. Angeregt durch Berichte seiner westindischen Freunde in Paris über alltägliche subtile Diskriminierungen auch seitens aufgeklärter Intellektueller, aber auch durch manche äußerst kritische Reaktionen auf seinen eigenen Roman als ,Verrat am jüdischen Volk' beginnt er ein Romanprojekt über die karibische Erinnerung an die Sklaverei. Da er moralische Skrupel hat, als weißer europäischer Jude über die Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen zu schreiben, ohne sie zu verletzen oder auszubeuten, trägt er sein Projekt den Gründungsmitgliedern der literarischen Bewegung ,Negritude' vor und besteht darauf, ihnen sein Manuskript vor der Publikation zu Kritik und Validierung vorzulegen. 1960 fährt er mit seiner Verlobten, Simone Brumant, in deren Heimat Guadeloupe, sowie nach Martinique und Französisch Guyana. Er ist tief beeindruckt von den noch spürbaren Alltagsnarben der jahrhundertelangen Sklaverei in der Bevölkerung sowie vom Verlust eines kollektiven Herkunftsgedächtnisses von vor der Verschleppung aus Afrika. Die nächsten Jahre verbringen Andre Schwarz-Bart und seine junge Frau - sie sind seit 1961 verheiratet - teils im Sengal, w o ihr erster Sohn geboren wird, teils in Guadeloupe bei ihrer Familie - wohl auch, um der zwiespältigen Berühmtheit von Andre in Frankreich zu entgehen. Sein neuester Roman entwickelt sich in jahrelanger selbstquälerischer Wieder- und Wieder-Uberarbeitung zur Erzählung einer alten karibischen Frau, die sich in einem schäbigen Pariser Altersheim ihrer schmerzlichen Vergangenheit erinnert und sie mit der KZ-ähnlichen Atmosphäre der Gegenwart ihres Heims im Exil konfrontiert. Eines Tages bittet Andre Schwarz-Bart seine Frau brieflich - er ist schon wieder in Paris, sie noch in Guadeloupe - , ihm mit ihrer Erinnerung einer bestimmten ländlichen Szene für sein Buch auf die Sprünge zu helfen. Was er von ihr schriftlich erhält, trifft ihn bis ins Mark seiner schriftstellerischen Bemühungen. Er sagt darüber wörtlich: „Ich erhielt einen Text, in dem ich alle Mühe Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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hatte, jenen kurzen Bericht wiederzuerkennen, um den ich meine Frau gebeten hatte. Sie hatte nicht nur eine transparent schimmernde, geschmeidige Entsprechung jeder Redewendung und jedes Ausdrucks der kreolischen Sprache gefunden, sondern ihre Vorstellungskraft hatte unwissentlich all jene kleinen Details gedeutet, verwandelt und hinzugefügt, an denen man einen echten Schriftsteller erkennt. Ich war überwältigt. Ich hielt in meinen Händen genau jene Substanz, nach der ich vergebens gesucht hatte und die mir verwehrt geblieben war. Alles, was ich an Westindien seit 10 Jahren so geliebt hatte, all die Farben, all die Gerüche ließen sich hier in diesem Text finden, dessen Bescheidenheit umso anrührender war, als er ja nur mein Gedächtnis aufzufrischen vorhatte." (nach Scharfmann 1993, S. 214; Übersetzung v.V.). Andre Schwarz-Bart denkt nicht im Traum daran, wie so viele berühmte Autoren vor und nach ihm, die Talente seiner Frau in seinen eigenen Dienst zu stellen und ihren Beitrag einfach seiner Autorschaft einzuverleiben. Er schreibt sofort einen begeisterten Brief zurück, ermuntert sie zu weiterem Schreiben und bittet sie um ihre volle Mitarbeit als Koautorin an seinem Roman. Dieser erscheint 1967 („Un plat de porc aux bananes vertes") unter beider Namen und macht von der Ankündigung her klar, daß dies der erste Band in einer auf sechs Bände angelegten gemeinsamen Reihe über die Geschichte karibischer Frauen sein soll. Wer ist diese junge Frau aus Guadeloupe, die Andre Schwarz-Bart geheiratet hat, deren Volk er so bewundert und über dessen 500jähriges Unrecht mit allen seinen Narben und Demütigungen er so erschüttert ist? Simone Schwarz-Bart ist 10 Jahre jünger als er und die Tochter einer schwarzen Lehrerin, die als alleinerziehende Mutter von den kolonialen Schulbehörden in die unzugänglichsten ländlichen Gebiete geschickt wurde, um mit bescheidensten bis unzulänglichen Mitteln die Kinder der schwarzen Landbevölkerung zu unterrichten. Simone wird schon als Kind zwar mit Bildung, aber auch mit dem vielgestaltigen Elend ihres eigenen Volkes konfrontiert, und zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen: Stadt/Land, wohlhabend/bitter arm, französisch/ kreolisch, mütterlich dominierte Familientraditionen versus patriarchale Willkür seitens der Kolonialverwaltung wie auch seitens der schwarzen Männer der eigenen Ethnie. Sie kommt nach Frankreich, weil sie den Auftrag ihrer Mutter fortführen will, durch Bildung und Wissen die eigene Situation schrittweise zu verändern. Erst Andres Ermutigung bringt sie auf die Idee, ihre sprachlichen Fähigkeiten schriftstellerisch unter Beweis zu stellen. Ihr gemeinsamer Roman erscheint 1967, beide planen eine gemeinsame Buchreihe über die Geschichte der Antillen. 1972 erscheint von Simone Schwarz-Bart in Alleinautorschaft ihr erster eigener Roman „Telumee" über eine karibische Frauengestalt, die vier Generationen weiblicher Genealogie sichtbar macht und ein Meisterwerk in der Verbindung bzw. Transposition kreolischen Sprachgefühls und der französischen Hochsprache darstellt. Er wird auf Anhieb ein Bestseller, in insgesamt zwölf Sprachen übersetzt und erhält den ,Grand Prix des Lectrices' - was in Frankreich ein Politikum in sich ist, daß eine farbige Frau mit einem farbigen Thema 422

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diesen,weißen' Preis gewinnt. Seine englische Übersetzung ist vor allem bei dem afroamerikanischen Lesepublikum ein riesiger Erfolg. Andre Schwarz-Bart veröffentlicht zur gleichen Zeit ein ebenfalls viel beachtetes Buch über eine historische Frauengestalt auf Guadeloupe - „Solitude" - , deren Existenz als Anführerin einer schwarzen Rebellion gegen die Wiedereinführung der Sklaverei unter Napoleon aktenkundlich belegt ist. Die Protagonistin überlebt zwar das Massaker, das die französischen Truppen unter den Schwarzen anrichten; ihre Hinrichtung wird aber auf den Tag nach der Entbindung ihres Babys festgesetzt, damit dieses wieder als Sklave benutzt werden kann. Andre Schwarz-Bart macht aus diesen dürren Fakten die fiktionale, aber realistische Lebensgeschichte der Mulattin Solitude und schlägt am Ende seines Buchs einen Bogen zum Widerstand der Juden im Warschauer Ghetto. Auch hier wird deutlich, daß der Kampf um den Erhalt der Erinnerung den gedemütigten und sinnlos ausgelöschten Opfern insoweit ihre Würde zurückgeben kann, als ihre Geschichte das Bewußtsein und die Identität der Überlebenden bzw. der Nachkommen wiederherstellt und stärkt. Auch dieses Buch - es ist Andre Schwarz-Barts bislang letztes - wird in viele Sprachen übersetzt. Simone Schwarz-Bart hat seitdem weitere erfolgreiche Romane, sowie ein Theaterstück geschrieben und mit ihrem Mann zusammen ab 1988 eine 6-bändige „Hommage ä la femme noire" herausgegeben, die aus karibischen Texten und beeindruckenden Bildern über das Leben und die Geschichte schwarzer Frauen seit den Anfängen der Menschheit besteht. Andre Schwarz-Bart ist seit den 70er Jahren verstummt. Er schreibt zwar, aber er hat nichts mehr veröffentlicht. Er sagt, er kann über die Shoah und über seine Familie nicht schreiben, und gleichzeitig kann er über nichts anderes schreiben. Es ist, als habe er seine Energie und den Auftrag seiner Themen an seine Frau weitergegeben. Sie hat die Kraft und die Präsenz, mit ihrer Sprache einen Kosmos zu gestalten, der sowohl der Welt der weißen Leser als auch der um ihr Selbstbewußtsein und ihre Identität kämpfenden Welt der westindischen Schwarzafrikaner zugänglich ist. Die Qualitäten ihrer Sprache, ihres Stils und ihrer Geschichtenführung fügen eine orale Tradition mit einer schriftlichen Tradition zu einer neuen und eigenen Qualität zusammen.

2.1 Neue Geschlechterarrangements und ihr Nutzen Die Ausgangslage der schriftstellerischen Zusammenarbeit dieses Paares ist eine klassisch patriarchale Konstellation: Berühmter und erfolgreicher Schriftsteller, weiß, europäisch, gebildet und deutlich älter, entdeckt das Talent einer jungen farbigen Frau, die ihm zudem in Liebe und Ehe verbunden ist. Sie verfügt über eine Art sprachliche Ausdruckskraft, die er nicht beherrscht, die er für sein Werk aber drinKreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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gend braucht. Bemerkenswerterweise wird die Konstellation nicht klassisch weitergeführt. Er stellt nicht die naheliegende und so gut funktionierende patriarchale Falle auf, das bestehende Positionsgefälle wie auch die emotionale Bindung nur für sich zu nutzen, vielmehr ist seine Wahrnehmung sofort auf ein gemeinsames Projekt gerichtet, das beide bereichert und etwas hervorbringt, was er allein nicht könnte. Durch sein offen anerkennendes Verhalten überwindet er seine

Arbeitsschwierigkeiten,

befördert sie zu einer sich selbst entdeckenden und realisierenden Schriftstellerin, und er stellt die Weichen für neue werkimmanente Qualitäten interkultureller Literatur. Seine Anerkennung und Ermunterung bringt sie zum Schreiben, zur Realisierung ihres eigenen Stils und ihrer eigenen Charaktere. Sie inspiriert ihn dort, wo er an seine Grenzen stößt. Beide entwickeln in ihren Schriften eine neue Sicht auf die Gemeinsamkeiten unterdrückter Ethnien, die nach Strategien und Ressourcen des Überlebens unter inhumanen und mörderischen Systemen suchen, indem sie das kulturelle Selbstbewußtsein ihrer Völker durch Erinnerung und Uberlieferung zu retten trachten. In diesem Zusammenhang scheint es kein Zufall, daß auch die Themenund Charaktere-Wahl ihrer Werke zunehmend unpatriarchal werden: Sie schreiben in ihren Büchern über die Erfahrungen karibischer schwarzer Frauen, ihre Stärken, Leiden und Mutter-Tochter-Genealogien; erst später wird Simone Schwarz-Bart auch ein Buch über eine mythische Männerfigur der Karibik („Ti Jean Fhorizon") und ein Theaterstück über einen karibischen Wanderarbeiter („Ton beau capitaine") schreiben. Simones künstlerische Strategie, die orale Tradition ihrer kreolischen Muttersprache mit der des geschriebenen Französisch zu verbinden, wird auch zu einer politischen Strategie: Nicht nur ihr eigenes, meist zweisprachiges Volk findet sich dort wieder, sondern sie eröffnet auch der Dominanzkultur der weißen Franzosen den Zugang zu dieser Tradition. Andre Schwarz-Bart hat offensichtlich keine Probleme damit, im Laufe der Jahre die Feder seiner erfolgreichen Frau zu überlassen, sondern er unterstützt sie bei ihren Projekten, wie z.B. dem mehrbändigen „Hommage ä la femme noire".

2.2

Bewältigungsstrategien und ihre Kosten

Die wichtigste strategische Entscheidung am Anfang ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit bestand vor allem in jenem Ausgangspunkt seiner Reaktion auf ihr offensichtliches und unerwartetes Talent: Sie als Schriftstellerin zu sehen und ernst zu nehmen und nicht als die seinen Zwecken unterzuordnende Mitarbeiterin und Muse, also faire Anerkennung und Förderung der jüngeren Frau durch den älteren, schon professionell arbeitenden Mann. Diese - für die frühen 60er Jahre absolut ungewöhnliche - Wahrnehmungsqualität von männlicher Seite ist vermutlich durch Andres langjährige Beobachtungen und Erfahrungen in der westindischen Subkultur im Paris der 424

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50er Jahre gefördert worden, w o er von seinen karibischen Freunden lernt, was sublime Diskriminierungen seitens weißer Kollegen bedeuten. Seine Skrupel, durch sein Schreiben weder den Holocaustopfern seiner eigenen Ethnie ihre Geschichte w e g z u nehmen, noch als Weißer, der über Farbige schreibt, deren Verfügungsmacht über ihre eigene Geschichte zu verletzen, dürften die Grundlagen für seine spontane wie sorgfältige Anerkennung der Urheberrechte seiner Frau sein. Beide machen mit der Themenwahl und der Bearbeitung ihrer Stoffe trotz aller offizieller Ehrungen keineswegs nur positive Erfahrungen, sondern erleben auf ihre W e r k e hin auch heftigste Angriffe und Polemiken. Die ,Affaire Schwarz-Bart' in den 50er/60er Jahren entsteht dadurch, daß einige Kritiker in sein W e r k einen christlichen Erlösungs- und Vergebungsgedanken hineinlesen und ihm unter anderem Plagiat vorwerfen. Ihr w i r d für ihr W e r k in den 70er und 80er Jahren von Teilen der karibischen Eliten vorgeworfen, nicht politisch genug zu sein und nicht zum bewaffneten Widerstand gegen die ehemaligen Kolonialherren aufzurufen. Natürlich spiegelt sich hierin auch ein Stück patriarchales Unverständnis für die Art ihrer Zusammenarbeit, das sich hinter Argumenten der ,political correctness' verschanzt. Ihre Strategien, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen, sind gemischt: Sie geben einige richtigstellende Interviews, versuchen im übrigen aber, durch die U n k o n v e n tionalität ihrer Lebensführung - sie leben abwechselnd in Europa, der Karibik und A f r i k a - sich ein Stück Entlastung von der dominanten weißen Kultur zu schaffen mit ihren patriarchalen Erwartungen an geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, an Geniekult und Produktivitätszwang. O b solcher Art Kosten sich direkt aus der Art ihres ungewöhnlichen und kreativen Geschlechterarrangements ergeben bzw. daraus, dieses zu leben und aufrechtzuerhalten, läßt sich nicht eindeutig entscheiden. Die beobachtbaren Kosten ihrer Lebensführung stammen offensichtlich aus anderen Quellen: Für ihn stammen sie aus seiner Vergangenheit, d.h. aus seiner Verfolgung als Jude und aus der Vernichtung seiner Familie, die für ihn den Verlust seiner Kindheit und Jugend, den Verlust seiner Muttersprache und den Verlust von Bildung und Förderung durch seine jüdische Kultur bedeuteten. Bemerkenswert ist, daß er diese Kosten - ich w ü r d e hier zutreffender von Verletzungen und Verlusten sprechen nicht gegen andere wendet, w i e es so häufig in menschlichen Biographien passiert.

2.3

Ressourcen

Ein Teil von Andres Ressourcen ergeben sich bezeichnenderweise indirekt aus diesen biographischen Verlusten. Er hat die selbst erkämpften Vorteile eines äußerst belesenen, sorgfältig und umfangreich recherchierenden Autodidakten, der große intellektuelle wie körperliche Anstrengungen unternimmt und daran wächst. Er verfügt über ein immenses Spektrum heterogener Erfahrungen, von denen die klassischen europäiKreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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sehen Bildungseliten keinerlei Vorstellung haben. Er hatte - selbst noch ein Kind von 14 Jahren - jahrelang die volle Verantwortung, seine vier jüngeren Geschwister zu ernähren, zu verstecken und dem Zugriff der Polizei wieder zu entwenden. Er verfügt über Erfahrungen in der Resistance und in der französischen Armee, er erfährt als Lehrer in jüdischen Waisenhäusern nicht nur den Horror seiner eigenen Familiengeschichte. Seine Offenheit und seine Sensibilität für die Erfahrungen und Geschichten seiner westindischen Freunde werden bereichert durch deren Traditionen der Phantasie, der Lebensfreude und dem Gespür für sinnliche Eindrücke, aber auch durch seine neidlose Einsicht in seine eigenen Grenzen. Simones Ressourcen liegen in ihrer Herkunft und den Erfahrungen, unter denen sie auf Guadeloupe aufwuchs. Sie hat eine gebildete schwarze Mutter, die unter anstrengendsten Bedingungen ihre Schüler unterrichtet, ihre Tochter dazu in die unterschiedlichsten ländlichen Regionen stets mitnimmt. Sie lernt so die ländliche Kultur der oralen Uberlieferung, der Volksweisheit, Sprichwörter, Märchen, mythischen Erzählungen und Anspielungen und das Lebensgefühl ihres von Sklaven abstammenden Volkes kennen. Vor allem lernt sie die Wertschätzung und Förderung durch eine weibliche Genealogie von Müttern, Großmüttern, weisen Frauen, Zauberinnen und Heilerinnen, die für Mädchen und Töchter Quellen der Ermutigung zur Selbständigkeit und Selbstvergewisserung sind. In „Telumee" hat sie ihnen ihre erste Referenz erwiesen als einer Quelle weiblicher Kraft. Ihre Zweisprachigkeit befähigt sie, zwischen beiden Sprachen zu vermitteln und Qualitäten des kreolischen Fühlens und Denkens durch sensible Wortwahl ins Französische zu transponieren. Sie muß dazu aber nicht wie Andre ihre Muttersprache aufgeben, sondern bleibt ihr weiterhin verbunden als Quelle von Identität und Lebendigkeit. Dadurch bleibt ihr ebenso die mütterliche Tradition einer weiblichen Genealogie verfügbar. Zwar muß sie wie Andre ihre Kultur ins Französische übersetzen, um sie für die dominante weiße Kultur begreifbar zu machen, aber sie kann - im Gegensatz zu ihm - jederzeit dorthin zurückkehren, in ihre Sprache, in ihre Herkunftsfamilie. Aber es gibt noch eine Ressource anderer Art, über die beide verfügen. In Zeiten nüchterner political correctness und desillusionierender Patriarchatskritik wagt frau es kaum, so eine Möglichkeit für real zu halten. Offensichtlich gibt es doch bisweilen noch einen Grad gegenseitiger tiefer Verbundenheit zwischen zwei Menschen, die nicht gleichzeitig schon durch Hierarchie, Macht und Egozentrik automatisch so kontaminiert ist, wie wir es aus dem patriarchalen Gebrauch des Wortes ,Liebe' seit über 2000 Jahren leider gewöhnt sind. Dies möchte ich abschließend durch eine kurze Szene schildern. Vor einigen Jahren wohnten Andre und Simone Schwarz-Bart der Premiere von Simones Theaterstück „Ton Beau Capitaine" in New York bei. Dieses Stück handelt von einem schwarzen Arbeiter aus Haiti, der auf Guadeloupe sein Geld verdienen muß und mit seiner Frau nur per Tonbandkassetten korrespondiert. Er erfährt durch ihre Tonbandstimme, daß sie in seiner Abwesenheit ein Kind von einem anderen Mann 426

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erwartet. Das Stück dreht sich darum, wie er seine Verletzungen langsam überwindet, seiner Frau vergibt und das kommende Kind lieben lernt. Nach der Aufführung steht Simone im Scheinwerferlicht und stellt sich der Diskussion mit dem Publikum. Andre sitzt weiter hinten im Dunkeln. Ein zorniger junger Mann aus dem Parkett verlangt von ihr zu wissen, w a r u m sie als schwarze Frau, die mit einem Weißen verheiratet ist, nicht ein Stück über Rassen- und Sexualbeziehungen geschrieben habe. Es ist also die bekannte Kritik, ihr W e r k sei nicht politisch genug. Simone Schwarz-Bart antwortet dem jungen Mann ruhig: „Ich wollte ein Stück über die Liebe schreiben. Es scheint mir, als ob man auf den Antillen, mit all ihren Problemen, nicht genug über Liebe spricht. Was meinen Mann angeht, wenn ich ihn ansehe", und an dieser Stelle treffen sich ihre Augen durch das Theater, „sehe ich einfach jemanden, den ich liebe. Für mich hat er überhaupt nicht irgendeine Farbe." (zitiert nach Scharfmann 1993, S. 221; Ubersetzung v.V.).

3. Übergreifende Muster Lassen sich - bei aller Differenz an Zeit, Hintergrund und Tätigkeit - zwischen den beiden letzten Paaren teilweise übereinstimmende Muster in ihrem ungewöhnlich positiven Zusammenarbeiten und -leben erkennen?

3.1 Neue Männlichkeiten Das am meisten ins Auge springende Merkmal - weil von unseren gültigen kulturellen Gepflogenheiten so stark abweichend - scheint das Verhalten der männlichen Partner zu sein. Sie besitzen eine persönliche Stärke, die es ihnen gestattet, so souverän und offen zu sein, daß sie es zur Stützung ihres Selbstbewußtseins, ihrer Kreativität oder auch nur ihres Wohlgefühls nicht nötig haben, die Talente und Leistungen ihrer Frauen auf ihr eigenes Konto umzubuchen. Sie anerkennen diese Leistung nicht nur anfangs, sondern dauerhaft; sie ist ihnen eine Quelle von persönlicher Bereicherung und Freude, nicht von Angst und Konkurrenzgefühlen. Sie fühlen sich auch nicht in den Augen anderer Beobachter (männlicher Zeitgenossen und Kollegen, der ,Wissenschaft', der ,Literatenwelt') als nicht den Erwartungen entsprechend oder als nicht dominant genug. Bei diesen Männern - dem Wissenschaftler Pierre Curie wie dem Schriftsteller Andre Schwarz-Bart scheinen diese Haltungen und persönlichen Stärken durch ihre Biographie erzeugt w o r den zu sein, soweit sich dies von außen ablesen läßt. Pierre Curie trägt seine positiven familiären Arbeitserfahrungen einer ungewöhnlichen Frau an, die sie als gleichberechtigte Partnerin mit ihm fortsetzen soll. Andre Schwarz-Bart ist hypersensibel gegen jede Form von persönlicher wie kultureller Enteignung geworden durch seine in zwei zerstörten Kulturen gesammelten Erfahrungen und Beobachtungen. Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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Bemerkenswert erscheint mir, daß diese Wenn-dann-Vermutung keinen Regeläutomatismus beschreibt: Nicht jeder liebevoll erzogene Sohn wird in einer patriarchalen Gesellschaft zum menschlichen Umgang mit der eigenen Partnerin prädestiniert; nicht jeder Uberlebende der Shoah ist automatisch in der Lage, auch die sublime Unterdrückung und Ausbeutung patriarchaler weißer Gesellschaften so zu durchschauen, daß er sein eigenes Verhalten danach ausrichtet. Es handelt sich also um eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die der Eigenverantwortlichkeit der hier beschriebenen männlichen Akteure einen hohen Stellenwert beimißt und beläßt. Es bleibt in jedem Fall eine ungewöhnliche persönliche Leistung, sich gegen die Spielregeln einer patriarchalen Umgebung zu verhalten, insbesondere wenn diese für ihre männlichen Mitglieder so schmeichelhaft und vorteilversprechend sind. Ich interpretiere die geglückt ausbalancierte Zusammenarbeit zweier gegengeschlechtlicher Menschen in unserer patriarchalen Kultur zunächst als eine notwendige Vorleistung jenes Partners, der über den automatischen Machtvorteil verfügt - oft noch durch Alters- und Erfahrungsvorsprung verstärkt - , und der ihn nicht gegen seine Partnerin benutzt, sondern ihn außer Kraft setzt. Daß ich dieses Merkmal an erster Stelle nenne, hat seinen Grund nicht darin, daß ich männliche Entscheidungen für wichtiger halte als die der beteiligten Frauen, sondern lediglich darin, daß dieser männliche Machtvorsprung im Patriarchat automatisch am Ausgangspunkt jeder heterosexuellen Partnerschaft steht. Erst wenn diese primäre Blockade entfällt, kann es richtig losgehen - nämlich damit, daß die längst vorhandenen Qualitäten von Frauen ohne Kampf und Drängelei unbelastet in die Gänge kommen.

3.2

Weibliche Talente

Die zweite Ähnlichkeit der Biographien, die auf ein gemeinsames Muster deuten, besteht natürlich in der besonderen Begabung und der persönlichen Stärke der beteiligten Frau. Sowohl aus der Herkunft wie aus dem Bildungsweg dieser Frauen entwickeln sich Stärken, die ihr Können und ihr Engagement erklären. Daß solcher Art fähige und energische Frauen wesentlich häufiger sind als die leider so seltenen o.a. Ausnahme-Männer, macht eben auch die Seltenheit einer solcher Art förderlichen Konstellation aus. Die meisten fähigen und engagierten Frauen finden mangels Gelegenheit eben nicht zu einer ausbalancierten kreativen Partnerschaft mit einem Mann und zwar nicht mangels eigener Voraussetzungen, sondern mangels solcher Männer. Viele Frauen dieser Art landen eher in einer Situation, wo sie als Single ihre Fähigkeiten beweisen müssen, oder sie landen in sogenannten schwierigen' Partnerschaften, wo der Mann entweder blockiert, ausnutzt, schmarotzt oder die Stärke seiner Partnerin nicht erträgt und verschwindet. 428

Christiane Schmerl

3.3

Passung

Die dritte ähnliche Konstellation in diesen Paargeschichten scheint eine objektive zu sein. Es scheint der Zufall der exzellenten kompensatorischen Passung der Fähigkeiten der Partnerinnen mit denen ihrer - schon etablierten, aber an ihre Grenzen stoßenden - älteren und erfahreneren Männer zu sein. Beide Männer hatten überdies schon die Erfahrung gemacht, daß es mit dem ,einsamen' Genie nicht so recht klappt - trotz der diesbezüglichen Ideologie der sie umgebenden Kultur. Sie brauchen zusätzliche Qualitäten, die sie selbst nicht haben, und zwar auf einem hohen Niveau, nicht auf dem von Hilfsarbeiten. Die fähige und talentierte Frau an dieser Stelle trifft nicht - wie es eher äußerst wahrscheinlich ist - auf die üblichen Blindheiten oder Einvernahmen im Namen der Liebe oder des gemeinsamen' Ziels der ehemännlichen Karriere. Sie trifft auf jene schon professionellen Möglichkeiten des Partners, die ihr zur Zeit noch fehlen, um ihre eigenen Talente zu entwickeln und auf das Bedürfnis eines Partners nach Kooperation. Der Zufall ist - wie es Max Frisch einmal ausdrückte - „das Fällige, das uns trifft": hier offensichtlich beide.

3.4

Zeitumstände

Weitere förderliche Faktoren solcher Paarverbindungen scheinen mir in jeweils zeitund situationsspezifischen Umständen zu liegen, die variieren können. Ein Paris der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts ließ Frauen zum Studium zu, ein Warschau derselben Zeit nicht - was den Plan der Sklodowska-Töchter reifen ließ, ebendort ihre Bildung weiterzutreiben. Ein Paris der 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts war ein Magnet für die schwarze Jugend der gerade in die Freiheit entlassenen französischen Kolonien, dort ihre Ausbildung und ihre Existenzbedingungen zu verbessern. Ein solcher Schmelztiegel der Kulturen schafft andere Lern- und Erfahrungsangebote als jede konventionelle Hochschule einer beliebigen anderen europäischen Universitätsstadt.

III. Zusammenfassung Kreative Paare - sofern sie heterosexuell und sich eheähnlich verbunden sind - bewegen sich automatisch immer auch unter den Prämissen patriarchaler Ansinnen und Ideologien ihrer Zeit: sowohl unter denen ihrer Umgebung (Gesellschaft, Subkultur, Freunde und Förderer) als auch unter den ihnen eigenen Erfahrungen, Gewohnheiten und Idealen. Wenn sie partnerschaftlich kreativ arbeiten wollen, stoßen sie auf diese vorgegebenen Perspektiven um sich herum und in sich selbst. Wie gehen sie damit um? Das häufigste Arrangement kreativer Paare im Patriarchat hatte ich hier ausdrücklich außer Acht gelassen: die Partnerschaft ist einseitig zugunsten des Mannes eintariert. Die Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

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zwei Partnerschaftsmuster, die ich hier betrachtet habe, sind jeweils auf ihre Art eine Umkehrung dieses bekannten Dominanz-Verhältnisses: die Frau gilt oder ist - zumindest zeitweise - (als) noch erfolgreicher als der Mann; oder die Frau und der Mann gelten/sind beide gleich kreativ/erfolgreich zu ihren Lebzeiten. Was läßt sich aus diesen den patriarchalen Vorgaben ein Schnippchen schlagenden - Paarmustern erkennen? 1.

Kreative Partnerinnen profitieren gleichermaßen voneinander: Sie inspirieren sich, kritisieren und fördern sich und können oft zusammen mehr und anderes, als jede/r allein könnte. Sie sind ein lebendiger Gegenpart zur These vom autochthonen männlichen Genie. Auch wenn sie nicht in derselben Sache zusammenarbeiten, so ist der wechselseitige Einfluß trotzdem nachhaltig spürbar. Sie sind sich gegenseitig die ersten Zeugen und Diskurspartner ihrer Arbeit; die ständige Offenheit für Widerspruch und Anregung ist eine Stärke, die sich unmittelbar positiv auf das Werk beider auswirken kann. Selbst unter den Anhängern der ,großen Genies' hat sich inzwischen herumgesprochen, daß gerade Genies ihre enorme Leistungsfähigkeit nur erreichen konnten, indem sie ihre private, familiale und kollegiale Umgebung rücksichtslos für sich und ihre Zwecke funktionalisierten. Oft wird sogar genau dies als unabdingbar für wahrhaft geniale Leistungen vorausgesetzt - nämlich, daß ihr Träger über solche zusätzlichen Eigenschaften verfügt, ein Heer von anonymen Zuarbeiterlnnen zu mobilisieren und im Dienste des hohen Ziels bedenkenlos auszubeuten. Im Vergleich dazu erscheint ein Muster der gegenseitig anerkennenden und kritisierenden Kooperation zweier Partner, das ebenso große Erfolge zeitigen kann, wesentlich humaner und sympathischer.

2.

Die Konstellation, wo der weibliche Partner noch erfolgreicher ist als der männliche, führt bei manchen kreativen Männern zu einer sie belastenden Situation, die sich in ihren Augen nicht mit ihrer männlichen Rolle verträgt und der sie entkommen wollen. Die Tatsache, daß der männliche Partner die kreative Partnerschaft aufkündigt (oder sie zurückstutzt), führt aber gerade nicht dazu, daß er die Vision vom einsamen Genie für seine Person wiederherstellen kann. Es führt vielmehr dazu, daß er sein angestrebtes Kreativitätsniveau nicht (wieder) erreicht. Er demontiert also das, was gerade bewiesen werden sollte. Es führt außerdem dazu, daß die Partnerin - zumindest nach zeitgenössischen Maßstäben - zur erfolgreicheren wird, was dem männlichen Geniemythos weiterhin abträglich ist. Durch die einseitige Aufkündigung der Partnerschaft wird also männliche Kreativität beeinträchtigt, weibliche jedoch nicht beschädigt. Die beteiligten Männer gehen in oder durch die Überbetonung ihrer männlichen Rollenzwänge unter; die Frauen gelangen durch das teilweise Verlassen und Überschreiten der weiblichen Rolle jedoch auf einen lebenslangen Erfolgskurs. Dies läßt sich an den ersten beiden Paarkonstellationen überdeutlich ablesen.

3.

Anders als die Männer in konventionellen kreativen Partnerschaften oder die in Partnerschaften mit erfolgreicheren Frauen nehmen die Männer in den ausbalancierten

430

Christiane Schmerl

Konstellationen die männliche Rolle weder als Versuchung (Ausbeutung der Frau) noch als Obsession (Bedrohung der eigenen Männlichkeit) wahr. Sie haben mit der männlichen Rolle keine Schwierigkeiten, dafür aber andere: z.B. mit den Anforderungen ihrer Profession. Anders als ihre mit Männlichkeiten beschäftigten Geschlechtsgenossen finden sie Lösungsmöglichkeiten, die etwas mit den Ursachen

ihrer

Probleme zu tun haben: Sie brauchen einen kompetenten Partner, der ihre Fähigkeiten ergänzt und ihre Schwächen kompensiert. Sie können sich ohne Einbußen an Selbstbewußtsein und Produktivität vom Klischee des einsamen Helden verabschieden. Offensichtlich ist das jeweilige Verhalten der Männer in diesen kreativen Beziehungen das kritische, es ist sowohl - die Sollbruchstelle der Beziehung, d.h. die vorprogrammierte Schwachstelle in Form von männlichen Ängsten und Empfindsamkeiten, kombiniert mit der mitgelieferten Macht, diese Ängste auf Kosten anderer auszuleben; aber es ist auch - die Schaltstelle für einen anderen Umgang mit der Macht als dem der konventionell männlich-patriarchalen: der Macht für etwas (Schöpferisches/Kreatives) und nicht der gegen eine Person. 4.

Die Frauen in den kreativen Beziehungen erster Art können an dieser Macht nichts ändern, so fähig sie auch sonst sein mögen. Sie können bestenfalls wie im Märchen als 13. Fee die tödliche Verwünschung abmildern, aber nicht aufheben. Dies liegt am Primat der patriarchalen Macht, der jedem Mann im Patriarchat anhaftet wie Pech: Er hat immer noch die Macht, seine Partnerin zu düpieren. Die Frauen in diesen Partnerschaften scheinen - vielleicht auch dies eine Folge weiblicher Erziehung wie auch relativer weiblicher Machtlosigkeit - auf Schwierigkeiten in der Beziehung besser reagieren zu können. Zum einen ist ihnen präsent, daß am Anfang ihrer außergewöhnlichen Karriere stets eine Art männlicher Förderung und Entdeckung stand; zum anderen brächte ihnen eine analoge spektakuläre Verletzung oder auch Übererfüllung ihrer weiblichen Rolle keinerlei Vorteile oder Befriedigung. Sie sind durch die Aufkündigung der kreativen Partnerschaft verletzt, erbost, resigniert - aber nicht blockiert. Sie nutzen ihre Ressourcen, die Beziehung wenigstens auf Sparflamme zu erhalten, gehen aber keine neue Beziehung zu einem kreativen Partner mehr ein. Sie begrenzen den Schaden, erfüllen weiterhin gewisse Fürsorgepflichten, zu denen sie sich erstaunlicherweise verpflichtet fühlen, gehen aber ihrer eigenen erfolgreichen Arbeit nach. Sie zeigen eine Art Krisenmanagement, das in unserer Kultur als ,erwachsen' und ,vernünftig' konnotiert wird. Dieses Verhalten wird sonst eher als ,männlich' bezeichnet, wobei sie ihre ,weiblichen' Eigenschaften dezidiert beibehalten: fürsorglich, nachsichtig, beschützend. Sie werden zu einer Art Schutzengel für den Ex-Partner.

5.

Die Frauen in den gleich-erfolgreichen, eher harmonischen Paarkonstellationen scheinen auf den ersten Blick das große Los gezogen zu haben: Sie wurden durch Kreative Paare in Kunst und Wissenschaft

431

ihren Mann in eine Startposition befördert, die sie allein kaum hätten erlangen können. Anhand dieser - so überaus seltenen - Fälle läßt sich ahnen, was viele begabte Frauen leisten und werden könnten,

wenn sie häufiger die Chance hät-

ten, auf talentierte, aber menschlich unkomplizierte Partner zu stoßen. Es ist, als ob angesichts dieser Paargeschichten - beide Partner in Engagement, Erfolg und Zuneigung kooperierend - der patriarchalen Hofberichterstattung der Atem stockt: Soviel Ubereinstimmung mit dem Hohen Lied der ehelichen Harmonie ist schon wieder unheimlich. So genau möchte man gar nicht wissen, woran es denn liegt, daß eine kreative weiblich-männliche Partnerschaft fair und harmonisch funktioniert. Es könnte sich nämlich herausstellen, daß solche TraumPartnerschaften nicht vom Himmel der Liebe herunterfallen, sondern das Ergebnis von mindestens drei Voraussetzungen sind: von dem Vorhandensein von Talent und Engagement, von einer ,Passung' der Interessen und von der Anwesenheit gegenseitiger Unterstützung und Fairness. Während erstere Tugenden (Talent, Engagement) auf beide Geschlechter gleichverteilt sind, die jeweilige ,Passung' der Interessen den Gesetzen des Zufalls gehorcht, sind gegenseitige Unterstützung und Fairness ungleich auf die Sozialcharaktere beider Geschlechter verteilt. Genauer gesagt: Sie sind bei beiden Geschlechtern systematisch ungleich produziert worden: durch Kultur, Erziehung und Selbstsozialisation. Die vorprogrammierte Seltenheit solcher Paarkonstellationen wird so eher verständlich, aber auch angreifbarer - im doppelten Wortsinn

und sie wird von

der Mythologie des Schicksalhaften befreit. Ausbalancierte kreative Partnerschaften sind nicht märchenhaftes Schicksal, sondern aus den Erfahrungen und Eigenschaften ihrer Partner zu verstehen. 6.

Der strukturelle Blick auf kreative Paare der beiden o.a. Muster kann potentiell also zwei patriarchale Klischees gleichzeitig in Frage stellen: das des autonomen männlichen Genies in Kunst und Wissenschaft, wie auch jenen Klischee-Reigen, der noch immer um das heterosexuelle Paar aufgeführt wird. Männer müssen in der Zusammenarbeit mit einer ebenbürtigen Partnerin keineswegs ihre Männlichkeit' einbüßen, sondern sie können vielmehr ihre Kreativität steigern. Frauen müssen nicht um der gemeinsamen' Sache willen sich unterordnen, aufopfern oder zurückstecken. Sie können Förderung ohne Gesichtsverlust annehmen wie zurückgeben und mit eigenen Leistungen aufwarten, ohne ,seine' Karriere zu beeinträchtigen. Beeinträchtigungen ergeben sich erst dann, wenn sie klischeegerecht herbeiphantasiert werden. Und - was für geniale Paare gilt, darf für Normalsterbliche mutatis mutandis auch ein Stück weit gelten: Eine produktive Frau-Mann-Zusammenarbeit muß nicht immer den ,großen Erzählungen' folgen von männlicher Kreativität oder vom Ewigweiblichen, das ,ihn' hinanzieht. Ausgetestete neue Produktivitäts- und Geschlechtermuster stehen durchaus schon bereit.

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Christiane Schmerl

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Christiane Schmerl

Das Sinnbild Zwilling Kunst, Kreativität und Autorschaft von Künstlerpaaren heute

C A R O L A MUYSERS

„Jeder Künstler hat einen versteckten Partner (oder mehrere Partner)..." (Art in Ruins 1990) „Ich halte von der Vorstellung, daß es das Genie gibt, nichts. Mir ist noch keiner begegnet, der nur aus sich selber schöpft und keinen anderen braucht. Bei solchen Darstellungen stimmt immer etwas nicht. Deshalb ist es ehrlicher zu sagen, ich bin nicht anders denkbar als in einem System von Zuarbeit, Geben und Nehmen." (Twin Gabriel 1994)

Einführung Künstlerpaare haben etwas Faszinierendes, denn ihr Wirken läßt sich nicht mit den gängigen kunsthistorischen Theorien des allein schöpferischen Künstlers verstehen. Ihre gemeinschaftliche Kreativität, d.h. deren Energetik, Entwicklung und Verlauf sind noch nicht ausreichend beantwortete Fragen in der Phänomenologie des Künstlerbildes. Der Ursprung des Künstlerpaares ist in den mittelalterlichen Kunstwerkstätten zu vermuten. Vor dem anonymen Hintergrund des Kunsthandwerks, der Buchillustration, der Wand- und Altarmalerei wirkten Männer und Frauen in verwandtschaftlichen, freundschaftlichen, kollegialen und Liebesbeziehungen zusammen, beeinflußten und prägten einander, ohne ihren Einsatz angesichts des künstlerischen Endprodukts offenzulegen. Auch als der neuzeitliche Künstler vom Handwerker zum sogenannten „schöpferischen Genie" aufstieg, gab es Partnerschaften, die die ästhetische Entfaltung beider zuließ: In der Ehe mit dem französischen Akademiekünstler Charles Lebrun reifte Elisabeth Vigee-Lebrun zu einer der anerkanntesten Portraitmalerinnen des Ancien Regime heran. Nicht zu verschweigen ist, daß der dem Glücksspiel zugeneigte Lebrun das Talent seiner Frau unter anderem aus diesen Gründen tatkräftig unterstützte. Ähnlich verhält es sich mit der berühmten Schweizerin Angelica Kauffmann, der der sparsame Ehepartner, der Vedutenmaler Antonio Zucchi, auch in finanziell abgesicherten Zeiten die anstrengende Auftragskunst nahelegte. Obwohl diese Ehemänner ihren Das Sinnbild Zwilling

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talentierten Frauen aus Eigennutz beistanden - das taten und tun Künstlergattinnen ebenso - war dem erfolgreichen Werdegang der betreffenden Malerinnen wenig im Weg. Anders die Situation gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die Partnerschaften wie Reinhold mit Sabine Lepsius, Lovis Corinth mit Charlotte Berend-Corinth oder Auguste Rodin mit Camille Claudel hervorbrachte. Unter dem Druck, für ihren kranken und depressiven M a n n zu sorgen, vergab Sabine Lepsius ihre anfänglich hoch anzusiedelnden künstlerischen Fähigkeiten an die Auftragsmalerei. Die äußerst begabte Camille Claudel zerbrach psychisch an der scheinbaren ästhetischen und sozialen Überlegenheit ihres Geliebten Rodin. Meisterhaft spielte Charlotte Berend-Corinth die Rolle von Muse, Modell und Kunstverwalterin ihres Ehemanns - u.a. erstellte sie dessen Werkverzeichnis - auf Kosten der eigenen künstlerischen Entfaltung. Spätestens in dieser Zeit hatte sich das kreative Wechselverhältnis des Paares zu U n g u n s t e n der Frau verschoben. Sie mußte ihre Kunstambitionen nun in H i l f s f u n k tionen: als Modell, Muse, Vermittlerin, Finanzier oder gar im W a h n ausleben. So gesehen funktionierte das Künstlerpaar nicht mehr, es w a r in eine Krise geraten. Interessanterweise hat sich die Forschung vorrangig auf die Phänomene jener Krisenzeit konzentriert und sie zur Typologie des Künstlerpaares deklariert. 1 In der Folge überschatteten die Partnerschafts- und Liebesprobleme die weitaus relevanteren Fragen nach den Besonderheiten im Hinblick auf Kreativität, Autorschaft und Kunst einer Künstlerpartnerschaft. 2

Künstlerpaare heute Davon unabhängig hat sich das Künstlerpaar in den letzten Jahrzehnten von seiner Krise erholt, u.a. dadurch, daß das Paardasein an sich, dessen Potenziale und Konflikte z u m Thema w u r d e n . Mittels Performance und Travestie ist es „Gilbert & George", „Marina A b r a m o v i c / U l a y " , „Eva & A d e l e " oder „Pierre & Gilles" gelungen, dem Paarmotiv einen künstlerisch-ästhetischen W e r t angedeihen zu lassen. Nicht ohne Selbstironie, w i e sie beispielsweise die homosexuellen Künstler Pierre und Gilles 1992 im Kostüm eines konventionellen heterosexuellen Brautpaares an den Tag legten. Das erfolgreiche Künstlerduo parodierte damit auch zugleich das Erscheinungsbild des traditionell heterosexuellen Künstlerpaares. Eines der großen Verdienste jener Künstler-Liebesgemeinschaften ist es, die Paarkonstellation nicht mehr z w i n g e n d einer klassischen Geschlechteraufteilung folgen lassen zu müssen. Seit etwa einem Jahrzehnt erlebt das Künstlerpaar eine Konjunktur, auf dessen Beginn das „Kunstforum international" 1990 hingewiesen hat. Die Ubersicht der beiden Zeitschriftenbände z u m Thema Künstlerpaar eröffnete den Blick auf eine große A n z a h l von europäischen und amerikanischen Künstlergemeinschaften, die dabei waren, einen Reichtum an ästhetischen A u s d r u c k s w e i s e n und kreativen 436

C a r o l a Muysers

Arbeitsformen zusammenzutragen. 3 In raumgreifenden Installationen setzte man vor allem Videokunst und Fotografie zur subversiven Kritik an der herrschenden Kunstvermarktung und Bilderflut ein. Mittels Spiegelungen, Täuschungen, Simulationen oder Mehrdeutigkeiten dachten „Art in Ruins", „Bader & Tanterl", „Fortuyn & O'Brien", „Chiarenza/Hauser" - um nur einige zu nennen - die Fallen des Kunstbetriebs aufzudecken. 4 Die „totale Zusammenarbeit", so Paolo Bianchi und „das Werk", so Catherine Grenier in betreffender Publikation, rückten vor die privaten partnerschaftlichen Anliegen 5 ; die gemeinschaftlich ausgeübte Kreativität bildete sich zum zentralen Thema heraus. Was ist heute aus den vielversprechenden Ansätzen geworden? Lassen sie sich bei Künstlerpaaren dieser Generation wiederfinden, haben sie sich weiterentwickelt, und welche Themen bringen sie hervor? A m Beispiel von vier Künstlergemeinschaften soll jenen Fragen nachgegangen werden. Die Auswahl von „(e.) Twin Gabriel", „GfBH", „Bigert & Bergström" und „Christine & Irene Hohenbüchler" resultiert nicht aus deren geschlechtlicher Neigung oder Liebesbeziehung, sondern konzentriert sich ausschließlich auf eine überzeugende ästhetisch-künstlerische Aussage und ein ersichtliches kreatives Wechselverhältnis der Betreffenden, die im folgenden mit jeweils einem Großprojekt vorgestellt werden.

„Climate Chambers" - Bigert & Bergström Das schwedische Künstlerduo Lars Bergström (*1962) und Mats Bigert (*1965) fand 1986, ein Jahr nachdem sie ihr Studium an der Kunstakademie in Stockholm aufnahmen, zusammen. 1994 realisierten sie „Climate Chambers" (Klimaräume), die ein Jahr lang an fünf Orten in Skandinavien präsentiert, 1998 auf der Expo in Lissabon in verkleinerter Form wiederholt und 1999 von „Disney World" aufgekauft wurden. „Biosphere II", der 1991 gestartete und zwei Jahre darauf gescheiterte biologische Großversuch eines künstlich erzeugten und aufrechterhaltenen Ökosystems in der Wüste Arizonas, hatte die beiden Künstler inspiriert. U m einen mittleren Raum, dem „Incubator" (Brutkasten) gruppierten sie fünf Kammern, in denen „Hitze", „Kälte", „Sturm", „Licht" oder „Dampf" herrschte. Die äußere Gestalt der Räume ergab sich aus der Funktion des sich darin jeweils ereignenden Klimas. Dieses sollte nicht nur sinnlich, sondern auch spirituell erfahrbar werden. Lebensspendend oder lebensbedrohend sind die beiden Pole, zwischen denen Bigert & Bergström die Aussage ihrer Installationen verstanden haben wollen. Im Hitzeraum ließ das Schmelzgerät eines Eisbrechers die feine Grenze zwischen dem Wohlgefühl durch Wärme und der Qual durch Uberhitzung spürbar werden. Der begehbare muschelförmige Sturmraum bot die Erfahrung von lebensspendender Luft,

Das Sinnbild Zwilling

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Abb. 1 Bigert & Bergström Climate Chambers. The Steam Chambers 1994. Polycarbonat, P V C , Aluminium, Silikon, galvanisiertes Eisen, Resin und Glasfieber, Pappmache, Leichteisen, Wasserpumpe, Dampfeinheit, Spotlights 4 0 0 X 6 0 0 cm

zerstörerischen Windkräften und der Windstille im „Auge" des Sturms. Der Lichtraum mit den Schatten der Ausstellungsbesucher auf phosphoreszierenden Wänden und ausgestopften Tieren in Leuchtkästen spielte auf das Ideengut der Aufklärung und die heutige unkontrollierbare Informationsflut an. Im Kälteraum hielten mumienförmige Objekte ihren „Tiefschlaf", während die Ausstellungsbesucher in der eisigen Luft an ihre Existenzgrenze gestoßen und zur direkten Reaktion provoziert wurden: der unmittelbaren Flucht oder einem minutenlangen Ertragen des lebensfeindlichen Klimas. Im terrassenförmig konzipierten Dampfraum gab die Skulptur eines mutierten Rhinozeros' ungesund feuchte Luft ab - die Selbstzerstörung andeutend, die den von Menschenhand geschaffenen, selbstreferentiellen Systemen zugrunde liegt (Abb 1). Das Interesse des schwedischen Künstlerpaares gilt der Verschmelzung von Naturwissenschaft und Kunst. Es möchte den distanzierten Betrachter und Ausstellungsbesucher mit den erlebbaren Naturelementen und -kräften zusammenführen, wieder zum Handelnden machen und die erstarrte Museologisierung des menschlichen Wissens um Natur und Erde aufbrechen. 438

Carola Muysers

„Limonade. Von Afrika" - (e.) Twin Gabriel Auch das Projekt des Künstlerpaars (e.) Twin Gabriel „Limonade von Afrika" widmete sich einem Urelement. 1996 zeigten sie im Neuen Berliner Kunstverein vier beleuchtete Aquarien mit einer Planktonzucht, die unter genau ausbalancierter Temperatur und Beleuchtung aufrechterhalten wurde. Aus Einzellern, Hohltieren, Larven, Schwämmen und Weichtieren zusammengesetzt, steht das Plankton am Anfang der Nahrungskette. Das Künstlerpaar bezeichnete das intensivgrüne, Sauerstoffbläschen aufwerfende Gebräu als „Limonade. Von Afrika". Die seltsame Namensgebung entstammt einer Kopiensammlung von Zeichnungen, Texten und Zeitungsausschnitten rund u m das Thema Elfenbeinküste, die das Duo 1990 auf einem Flohmarkt entdeckte. A u s den orthographisch und inhaltlich abenteuerlich verfaßten Texten und den primitiven Zeichnungen des unbekannten Autors traf es eine Auswahl, vergrößerte und färbte sie mittels Computertechnik so ein, daß die verschroben dilettantische Sammlung an unverkennbar ästhetisch-poetischem Wert gewann. Die Künstler Ulf Wrede (* 1968) und Else Gabriel (* 1962) arbeiten seit 1991 unter dem Label „(e.) Twin Gabriel/Plastische Planung" zusammen. Ihre Medien sind Videos, Fotos, Fundstücke, Texte und Skulpturen, mit denen sie ihr Interesse am „Fehler im System, für Dinge und Vorgänge, die sich an einem Ort befinden und abspielen, w o sie nicht hingehören", künstlerisch umsetzen. 6

„Von Engeln und Visionären ..." - die GfBH W i e T w i n Gabriel arbeiten Petra Dreier ( :: '1958) und Michael Hanousek ( ; "1955) unter einem Label zusammen. Die 1997 gegründete G f B H - „Gemeinschaft für Bild Er Halt" hat ihre ästhetischen Grund- und Ansätze in einem Dekret zusammengefaßt. Darin möchten sie der „Überflutung von Reizbildern" entgegenhalten, „fremde Zweckbestimmung und Reize aus den Bildern" herausnehmen und die Annahme korrigieren, „daß Teil- und Splitterbilder ... Ausschließlichkeitscharakter aufgrund wirtschaftlicher Indienstnahme" besitzen. 7 Mit der Absicht, „Trugbilder zu recyclen und mit neuer Haltbarkeit zu versehen, den recycelten Bildern ihre eigene Bildidentität zurückzugeben und wieder in Umlauf zu bringen" hat sich das Künstlerpaar eines heutzutage völlig mißbrauchten Motivs angenommen: dem Engel. Auf einigen ihrer neueren großformatigen Foto-, Text- und Bildinstallationen sind schemenhafte Lichtwesen zu sehen, die Assoziationen an himmlische oder engelgleiche Erscheinungen wachrufen. So kombiniert die Arbeit „Oben und Anderswo" (Abb. 2) zwölf in Schwarzweiß fotografierte Wolkenformationen mit zwölf in Pastelltönen gemalten, fast konturlosen Köpfen und sechs mit W o r t - und Satzfragmenten bedruckten Acrylglasplatten. Den LichtDas Sinnbild Zwilling

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Abb. 2 GfBH. Oben und anderswo, 1999. Fotografie. Öl auf Leinwand, Acrylglas. 30teilig, 3 2 0 x 3 0 0 cm

wesen der GfBH stehen die Installationen „Organköpfe" und „Diesseits und Jenseits" gegenüber, wo überlang belichtete Fotoaufnahmen kein genaues Erkennen zulassen, sondern die Konturen in schwungvoll verzogene Formen aufgelöst haben. Die so fixierte Kopfbewegung erinnert an einen Trancezustand, welcher, den engelhaften Gestalten gleich, zwischen Vision und Wirklichkeit situiert ist.

NowHere" - Christine & Irene Hohenbüchler In der Regel bedürfen die Arbeiten des österreichischen Zwillingspaares Christine und Irene Hohenbüchler ( :: '1964) einer längeren Phase des Begreifens. Optisch und thematisch versperren sie sich, so beispielhaft in der Rauminstallation „Hin und Her" von 1998, wo Leitern, Schnüre, Webgeflechte und Schaukeln das Interieur 440

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unzugänglich machten. Doch unter Berücksichtigung der Absicht, daß die Künstlerinnen den Raum mit den Schnüren „einhüllen" 8 wollten, bietet das verspannte Gehäuse plötzlich eine feinsinnige ästhetische Qualität. Diese birgt poetische Eigenschaften, wie sie noch deutlicher an „NowHere", einer Installation im Park des Louisiana Museums für Moderne Kunst bei Kopenhagen zu erfahren ist. Direkt am Meer gelegen befinden sich hoch oben in den Bäumen Schaukeln und davon weit entfernt mit Texten versehene Vorhänge im Gebäude - auf einem steht: „Waiting till the water moves 27.2. ...". Der Text stellt eine Verbindung zwischen den bezuglos scheinenden Objekten her, denn im wortwörtlichen Sinn versetzt der Wind die Wellen, Schaukeln und Vorhänge ab und zu in Bewegung. Das Zarte und Vergängliche dieser Installation gibt auch das Wortspiel des Titels „Nowhere" wieder, das den Moment: „nun hier", wie ebenso das Verschwinden: „nirgendwo" bezeichnet.

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Abb. 3 Christine & Irene Hohenbüchler And develops into a Chrystal, 1996 Baumwollebatist-Vorhang 120x500 cm Das Sinnbild Zwilling

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Abb. 4

Twin Gabriel. Die Brücke, o.J. Kabel, 4 m lang, 2 Stecker in Steckdosen

Genie, Symbiose oder Kreativität zu zweit Die Großprojekte der vier vorgestellten Künstlerpaare lassen keinen Zweifel: Nur ein intensiver kreativer Austausch, eine funktionierende Arbeitsteilung und der Wille zur Realisierung zwischen zwei Personen erlauben das Gelingen solcher Vorhaben. Dagegen würde ein einzelner Kreativer womöglich an der gedanklichen Vielschichtigkeit bzw. dem Arbeitsaufwand verzweifeln oder gar scheitern. Das steht im Widerspruch zur Vorstellung vom allein schöpferischen Künstlergenie, die vor allem die kunsthistorische Biografik prägt. 9 Ebenso verhält es sich mit der Bedingung der Einsamkeit, in der das „verkannte Genie" üblicherweise seine Ideen und Taten „qualvoll" hervorbringt. 10 Das Künstlerpaar sucht diese nicht, bedarf es doch unbedingt der produktiven Zweisamkeit, in der Kreativität auch ohne Leidensdruck stattfinden kann. 11 Lassen sich diese besonderen Autorschaften deshalb aber als „Symbiose" 12 bezeichnen, wie es Paolo Bianchi getan hat? In der Psychologie gilt die Symbiose als Durchgangsstadium, in dem das Kind mit der Mutter eine Einheit bildet - eine „halluzinatorisch-illusorisch, somatopsychisch omnipotente Fusion", in exakten Fachtermini ausgedrückt. 1 3 Entwickelt es keine Selbsterhaltungsmechanismen, stellen sich psychotische Störungen ein. Folgt man der fachlichen Definition, so mag jene asymmetrische Konstellation allenfalls auf das krisenhafte Künstlerpaar gegen Ende des 19. Jahrhunderts zutreffen. Dem Anspruch und der Komplexität heutiger Künstlerpartnerschaften entspricht das Modell nicht. 442

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Abb. 5

T w i n Gabriel. E. und U. in der W ü s t e , 1 9 9 4

Oftmals transparenter als der Einzelkünstler kann das Paar seine Schaffensphasen: die Ideenfindung, Bearbeitung und Verifikation, durchlaufen. 1 4 Denn hier erfolgt nach Definiton der Kreativitätsforschung - die Vermittlung zwischen halbbewußtem, bildhaftem Denken und dem rationalen Selektieren, 15 also ein Prozeß, der dem Einzelnen verschiedene Bewußtseinszustände, zweien hingegen nur ein ausgleichendes Wechselspiel abverlangt. Und genau darin liegt das Faszinosum des Künstlerpaares. Ohne mythologisierende Eingebungen, sei es durch Gott, den Himmel oder die Natur, wie sie die Biografik dem Künstlergenie seit dem Mittelalter vorschreibt, findet das Paar zu Inspirationen. 16 Ganz von dieser Welt ist seine geistig-kreative Arbeit, die nach traditionell biografischen Regeln geradezu als blasphemisch gelten müßte. In einer Selbstdarstellung verraten Twin Gabriel Genaueres über die „Alchemie" ihrer Eingebungen. „E. und U. in der Wüste" geben die Köpfe von Else Gabriel und Ulf Wrede jeweils am äußersten linken und rechten Fotorand piaziert wieder. Im Katalog „Limonade von Afrika" geht jener Darstellung das Foto „Die Brücke" voran, auf dem in zweifacher aneinandermontierter Aufnahme ein Stromkabel in einer Steckdose zu sehen ist (Abb. 4). Beim Umblättern der Katalogseiten läßt sich ersehen, daß sich die Stecker genau auf Höhe der Künstlerköpfe befinden (Abb. 5). Die Kombination erlaubt den Gedanken, daß die kreative Energie wie elektrischer Strom zwischen den beiden Partnern von Twin Gabriel hin- und herfließt. Dem entspricht auch die Umschreibung des Paares, mit der sie ihre schöpferische Arbeit näher erläuterten: „Die Bälle werden hin und her gespielt, bis wir eine Fassung haben, die uns beiden gefällt. Dann denken wir über die Realisierung der Idee nach, und es ist nun meine Aufgabe zu prüfen, was wie geht". D a s Sinnbild Zwilling

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Sinnbild Zwilling Eng verwandt mit der weltlichen „Magie" des Künstlerpaares ist das Phänomen der Zwillinge, dem Mythen, Sagen und die Urvölker übergroße Kräfte nachsagen. In der Antike galten sie als janusköpfig, mit guten und schlechten Veranlagungen, als schön und häßlich, als Verkörperung von Licht und Finsternis und schließlich als Inkarnation Apollons, dem Gott der Künste, und Artemis', der Göttin der Jagd. 1 8 Die Dakota-Indianer glaubten an ihre Herkunft aus einer anderen Welt, und am oberen Kongo herrschten bildhafte Zwillingsrituale: Das Erstgeborene wurde stets auf dem rechten Arm, das Zweite auf dem linken getragen. Bei der Begrüßung mußte die Mut-

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Abb. 6 444

Mats Bigert, Lars Bergström. „The egg is an original location." 1998 Carola Muysers

ter zweimal danken, auch hatte sie mit beiden Händen zu essen, und erhielt doppelte Geschenke, damit die Kinder gleichwertig aufwuchsen. Direkte Anlehnungen an das Zwillingsphänomen sind bei den selbsternannten „Twin" Gabriel und den gebürtigen Hohenbüchlers auszumachen. In ihren Arbeiten „Twins" und „Pool" von 1994 thematisierten auch Bigert & Bergström das Doppelwesen. 1998 ließen sie sich dann in einer Metallröhre fotografieren und überschrieben diese Selbstinszenierung im Katalog der Lissaboner Expo mit den Worten: „The egg is an original location. Α place for the awakening of an idea, where a thougt can develop and emerge" (Das Ei ist ein Ursprungsort. Ein Raum für eine Idee, aus der sich ein Gedanke entwickeln und entfalten kann (Abb. 6)). 19 Diesem Kommentar zufolge sahen sie sich zweifelsohne als „eineiige" Zwillinge in einem „Ideen"-Ei, wo sie selbst den Ursprung eines künstlerischen Gedankens miteinander teilen. Auch Christine & Irene Hohenbüchler haben sich als Zwillinge ablichten lassen. Im Katalog „double vie - double vue" (doppeltes Leben, doppelter Blick) ist ihr Gesicht in

Abb. 7 Friedrike von Lawick & Hans Müller La folie ä deux, portrait de Irene et Christine Hohenbüchler 1995-96 Das Sinnbild Zwilling

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16 Aufnahmen des Fotografenpaares Friederike von Lawick & Hans Müller abgebildet (Abb. 7). Die Kombination der Köpfe, die im Ausdruck kaum, allenfalls in der Frisur variieren, irritiert, glaubt man doch, das Gesicht nur einer Person vor Augen zu haben. Sind hier tatsächlich die beiden Zwillinge portraitiert, oder wird das mittels ein und derselben Person vorgetäuscht? Die Hohenbüchlers werden darauf keine Antwort geben, denn ihr Konzept kennt die Einzelidentität nicht. Sie gestalten vor allem in Gruppenarbeit Räume, in denen der „Versuch eines mehrstimmigen visuellen Gesprächs" stattfinden soll. 20 Das Zwillingspaar möchte darüber eine „multiple Autorschaft" realisieren, die nichts mit dem allein schöpferischen Individuum gemeinsam hat. Die Verschmelzung kreativer Impulse zu einer gemeinsamen Idee ruft ein weiteres Sinnbild auf den Plan. Es ist dasjenige der siamesischen Zwillinge - nach dem 1811 geborenen weltberühmten Paar Eng und Chang aus Siam (dem heutigen Thailand) benannt (Abb. 8). Diese waren am Brustbein zusammengewachsen - ein körperlich unzumutbarer Zustand, gegen den sie mittels Training solange ankämpften, bis sie Seite an Seite stehen konnten. Varieteauftritte in der ganzen Welt machten das überaus sportliche Paar reich und berühmt. Ihr Familienleben - mit insgesamt 22 Kindern -

Abb. 8 Das siamesische Zwillingspaar Eng und C h a n g ca. 1860er Jahre Fotografie 446

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strukturierten sie über einen strengen Zeit- und Verhaltensplans, nach dem man wochenweise zu jeweils einer der Ehefrauen zog. Die Zwillinge unterschieden sich charakterlich erheblich, und Chang neigte zum Alkoholgenuß, während Eng die Abstinenz pflegte. Sie stritten oftmals, ja prozessierten sogar gegeneinander. Auf den unerfüllbaren Wunsch einer körperlichen Trennung hin, attestierte ihnen der Berliner Arzt Rudolf von Virchow, daß sie ganz in sich abgeschlossene Individuen mit eigener Seele seien. 21 Die „Geschichte" Engs und Changs bringt die Spezifika im Dasein siamesischer Zwillinge nahe. Die Untrennbarkeit zwingt sie dazu, die eigenen Interessen kompromisslos durchzusetzen, um an anderer Stelle den Vorstellungen des Zwillingspartners nachgeben zu können, einander zu helfen und schließlich gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Eine bewußte, wenn nicht sogar programmatische Lebensführung ist dabei angesagt, die etwas mit den oben erwähnten Dekreten und Labels der Künstlergemeinschaften gemeinsam hat. Siamesische Zwillinge können ein Sinnbild für das Künstlerpaar heute sein. Nicht die körperliche Einschränkung, wohl aber die intensive geistige Auseinandersetzung und die Kreativität, mit der man den (Künstler)-Alltag herausfordert, decken sich miteinander; auch die Träume eines zeitweisen „Alleingangs" mögen Teil davon sein. Siamesische Zwillinge wie Künstlerpaare führen zweifellos einen Zustand vor Augen, dem sich so manche „Einzelgänger" immer noch verschließen. Man hat stets einen Partner, eine Partnerin - ob sporadisch, versteckt oder in ständiger Präsenz.

Anmerkungen Ich danke der Galerie Barbara T h u m m , Berlin, für die freundliche Zuarbeit. 1 Vgl. exemplarisch dazu Sandor K u t h y : Künstlerpaare - Künstlerfreunde. Eine Ausstellungsreihe des Kunstmuseums B e r n , in: K u n s t f o r u m international, „ K ü n s t l e r - P a a r e " , N r . 106, M ä r z / A p r i l 1990, S. 129 und Annegret Friedrich: Biographik im D o p p e l p a c k - einige polemische B e m e r k u n g e n zur K o n j u n k t u r des Künstlerpaares, in: F r a u e n K u n s t W i s s e n s c h a f t , Halbjahreszeitschrift, „Eins und eins - das macht z w e i " ? Kritische Beiträge z u m Künstlerpaar, H . 25, 1998, S. 11. 2 Z u m Beispiel einer gelungenen kritischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Künstler-Liebespaares siehe Renate Berger: Die Künstlerin als Teil eines „Ensembles", in: Malerinnen auf dem W e g ins 20. Jahrhundert. Kunstgeschichte als Sozialgeschichte, Köln 1982, S. 2 4 6 - 2 6 0 und Whitney Chadwick/ Isabelle de Courtivron (Hg.): Significant Others. Creativity & Intimate Partnership, L o n d o n 1993. 3

„Künstlerpaare", Bd. 106, März/April 1990 und Bd. 107, April/Mai 1990.

4 Siehe die Kommentare zu den genannten Künstlern in: Ibid. 5 Paolo Bianchi: Künstlerpaare und Catherine Grenier: L'artiste ä deux tetes, in: Ibid., S. 86 und S. 126. 6

Alexander Tolnay, Natur als Nachahmung der Kunst, in: Aust.-Kat. Limonade. V o n Afrika, N e u e r Berliner Kunstverein 1996, S. 32.

7 Ausst.-Kat. Dreier & Hanousek G f B H , 10 χ s/w, Düsseldorf 1997. 8 Christine Hohenbüchler, in: „... verhalten zu ...", Christine & Irene Hohenbüchler, Kunstgeschichte und zeitgenössische Kunst, hg. von Marcel Baumgartner, K ö l n 1998, S. 71. 9 10

Siehe hierzu auch C h a d w i c k / C o u r t i v r o n 1993, S. 7. Siehe hierzu Eckhard Neumann: Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität, F r a n k f u r t / M . / N e w Y o r k 1986, S. 63.

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11 Vgl. die Ä u ß e r u n g v o n Ulf W r e d e ( T w i n Gabriel): „Ich brauche auch die Z u s a m m e n a r b e i t . Alleine k a n n ich vielleicht Klavier spielen. A b e r völlig alleine, n u r auf mich selbst b e z o g e n zu arbeiten, das interessiert micht nicht", zit. nach Barbara Barsch, „Jeder macht das, was er am besten k a n n " - K ü n s t lerpaare - D r e i Beispiele, in: Ausst.-Kat. Künstlerpaare. B o t h o - G r a e f - K u n s t p r e i s der Stadt Jena 94, S t a d t m u s e u m Jena, 1994, S. 45. 12 Paolo Bianchi: Künstlerpaare, Teil 2, in: K u n s t f o r u m International, H . 107, S. 86. 13 Margret S. M a h l e r / F r e d P i n e / A n n i Bergmann: Die psychische G e b u r t des Menschen. Symbiose u n d Individuation. Die E n t w i c k l u n g des Kindes aus neuer Sicht, F r a n k f u r t / M . 1980, S. 63. 14 Siehe Inge Seiffge-Krenke: P r o b l e m e u n d Ergebnisse der Kreativitätsforschung, Bern/Stuttgart/Wien 1974, S. 16 f. 15 Ibid., S. 25. 16 Ernst K r i s / O t t o K u r z : Die Legende v o m Künstler. Ein geschichtlicher Versuch (1934), F r a n k f u r t / M . 1980, S. 114. 17 Ulf W r e d e in: Barbara Barsch 1994, S. 44. 18 Walter Friedrich: Zwillinge. Wissenswertes über Zwillinge aus Forschung u n d Alltag, Berlin 1983, S. 19 f. 19 Klimat N o r d , Sweden, T h e offical Swedish Catalogue Expo'98, Lissabon 22.5.-30.9.1998, S. 20. 20 d o c u m e n t a X, K u r z f ü h r e r , Stuttgart 1997, o.S. 21 Friedrich 1983, S. 192.

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Autorinnen

Irene Below, geb. 1942, Kunsthistorikerin. 1971 Promotion über Leonardo da Vinci, seit 1970 Planerin, seit 1974 Dozentim am Oberstufenkolleg des Landes NordrheinWestfalen an der Universität Bielefeld. Entwicklung und Erprobung eines integrierten Studiengangs Kunstwissenschaft/Kunstvermittlung, Mitarbeit im Studiengang Frauenstudien. 1989-1998 Koordinatorin der A G Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts in der Sektion Frauenforschung im Ulmer Verein für Kunst- und Kulturwissenschaft (zusammen mit Sigrid Schade). Arbeitsschwerpunkte: Kunst der frühen Neuzeit, Siedlungsarchitektur der 20er Jahre, Alltagsästhetik, Kunstwissenschaftsdidaktik, Kunstvermittlung, feministische Kunst- und Kulturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Renate Berger, Kunst- und Kulturwissenschaftlerin, Professorin an der Universität der Künste, Berlin. Zahlreiche Publikationen zur Frauen- und Geschlechterforschung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Künstlerinnen des 18.-21. Jahrhunderts, Selbstmorddarstellungen in der Kunst, Ausdruckstanz und Russisches Ballett, Russische Avantgarde, Kunst- und Kulturgeschichte der 20er Jahre, Männlichkeitskonzepte der Moderne. Linda Hentschel, geb. 1965, Studium der Kunstgeschichte, Europäischen Ethnologie und Romanistik in Marburg und Montpellier. Mitherausgeberin der Halbjahreszeitschrift „Frauen Kunst Wissenschaft". Lehraufträge an den Universitäten Wien und Bremen. 1995-1999 Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Erkenntnisprojekt Feminismus" an der Universität Bremen. 1999 Promotion über das Verhältnis von Raumwahrnehmung und Geschlechterkonstruktion in visuellen Apparaten der Moderne. Forschungschwerpunkte: Körper- und Identitätskonzepte in der sogenannten feministischen Kunst seit den 70er Jahren, Geschichte der visuellen Wahrnehmung und ihrer Medien, Raumordnung und Geschlecht, (Kriegs-)Fotografie. Karoline Künkler, Staatsexamen in Kunstgeschichte, Kunstsoziologie, Erziehungswissenschaft und Bildender Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf sowie in Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Dissertation zum Thema „Destruktivität und Geschlecht in Bildern des 19. und 20. Jahrhunderts". Publikationen: Die Künstlerin als Schmerzensfrau, Selbstverletzungsaktionen von Gina Pane, Autorinnen

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in: Kathrin Hoffmann-Curtius/Silke Wenk (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997; Tagungsbericht „Frauen Wissenschaft Natur", in: Frauen Kunst Wissenschaft, Heft 23, 1997. Ines Lindner hat nach dem Studium der Literatur- und Kunstwissenschaft an großen Ausstellungsprojekten

mitgearbeitet. Seit 1990 unterrichtet sie an der Hochschule

der Künste Berlin Theorie der zeitgenössischen Kunst. Seit 1995 ist sie Geschäftsführerin am dortigen Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung und Gender Studies. Publikationen u.a.: mit Sigrid Schade, Silke Wenk und Gabriele Werner Hg. von „Blickwechsel, Zur Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte", Berlin 1989; mit Theresa Georgen und Silke Radenhauser Hg. von „Ich bin nicht ich, wenn ich sehe", Dialoge - Ästhetische Praxis in Kunst und Wissenschaft von Frauen", Berlin 1991. Sehbewegungen - Uber die Folgen der Entprivilegierung des Einzelbildes in der zeitgenössischen Kunst, Berlin 1993. Zahlreiche Aufsätze u.a. über Anna Oppermann, Ulrike Grossarth, Eva Maria Schön und Jenny Holzer. Michiko Mae ist Professorin im Fach Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie ist Mitherausgeberin der Reihe „Geschlecht und Gesellschaft" (Leske + Budrich). Ihre Arbeitsbereiche sind kultur- und sozialwissenschaftliche Japanforschung; Interkulturalität und kulturwissenschaftliche Fremdheitsforschung; Probleme der kulturellen Identität und Subjektivitätskonzepte im japanischen Modernisierungsprozeß und Gender Studies bezogen auf Japan und Deutschland. Publikationen u.a.: Motivation und Liebe, Zum Strukturprinzip der Vereinigung bei Robert Musil, München 1988; mit Siegfried Schaarschmidt: Japanische Literatur der Gegenwart, München 1990; mit Ilse Lenz: Getrennte Welten, gemeinsame Moderne? - Geschlechterverhältnisse in Japan, Opladen 1997; mit Ilse Lenz und Karin Klose: Frauenbewegungen weltweit: Aufbrüche, Kontinuitäten, Veränderungen, Opladen 2000. Carola Muysers, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Brandenburgisch Technischen Universität Cottbus. Arbeitsschwerpunkte: Kunst der Moderne, insbesondere Malerei; bildende Künstlerinnen des 18. bis 21. Jahrhunderts (insbesondere Biographik und Professionalisierungsgeschichte).

Habilitationsprojekt

zu Künstlerinnen an Akademien von der Aufklärung bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Publikationen (Hg.): Die bildende Künstlerin, Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855-1945, Dresden/Amsterdam 1999; Ausstellungskatalog „Clara von Rappard, Freilichtmalerin 1 8 5 7 - 1 9 1 2 " , Bern 1999 Ada Raev, Berlin, geb. 1955, Studium der Kunstgeschichte an der Lomonosov-Universität in Moskau, promovierte 1983 in Moskau über „Russisch-deutsche Kunstbezie-

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hungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (1896-1906)" und habilitierte sich 1999 mit dem Thema „Russische Künstlerinnen der Moderne (1890-1930)". Seit 1999 Privatdozentin am Kunstgeschichtlichen Institut der Humboldt-Universität, Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur russischen Kunst der Neuzeit. Hildegard Reinhardt - Dipl.-Übersetzerin und Kunsthistorikerin, Bonn, promovierte 1988 in Bonn mit einer Werkmonographie über den neusachlichen Künstler Gustav Wunderwald. Seit 1979 zahlreiche monographische Veröffentlichungen in Zeitschriften, Katalogen und Lexika über Künstlerinnen der zehner und zwanziger Jahre (u.a. Lea Grundig, Sella Hasse, Marta Hegemann, Grethe Jürgens, Elfriede Lohse-Wächtler, Marie von Malachowski-Nauen, Jeanne Mammen, Olga Oppenheimer, Gerta Overbeck, Henriette Schmidt-Bonn). Christiane Schmerl, Diplompsychologin, Professorin an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld, promovierte und habilitierte sich in Sozialpsychologie. Ihre Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen betreffen u.a. die Gebiete Sozialpsychologie, allgemeine Sozialisation, Geschlechterpsychologie, Frauenbilder in den Massenmedien, Wissenschaftstheorie und -kritik, Analyse von Geschlechtermustern in Paarbiographien. Publikationen u.a.: Sozialisation und Persönlichkeit, 1978; Das Frauen- und Mädchenbild in den Medien, 1984; Der Frauenzoo in der Werbung, Aufklärung über Fabeltiere, 1992; Leitbilder, Vexierbilder und Bildstörungen: Über die Orientierungsleistung von Bildern in der Geschlechterdebatte, 1996; Erkenntnisprojekt Geschlecht: Feministische Perspektiven verwandeln Wissenschaft, 1999. Christine Schwab, geb. 1962 in Hamburg, lebt in Berlin. Studium der Kunstgeschichte, Europäischen Ethnologie und Erziehungswissenschaft. Freiberufliche journalistische Tätigkeit, Publikationen u.a. über homosexuelle Bildwelten, Suzanne Valadon, Gabriele Quasebarth. Katharina Sykora, Kunsthistorikerin, Berlin-Bochum, seit 1994 Professorin für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Neuere Publikationen: Unheimliche Paarungen, Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie, Köln 1999. Zusammen mit Pia Müller-Tamm (Hg.): Puppen Körper Automaten, Phantasmen der Moderne, Ausstellungskatalog der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln 1999. Mercedes Valdivieso Rodrigo, geb. 1955 in Talavera de la Reina. Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und spanischen Philologie in Köln, München und Madrid. Promotion an der Universität Köln mit dem Thema „Die Generation von 98 und die spanische Malerei". Seit 1992 Professorin an der Universität von Lleida. ForschungsAutorinnen

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Schwerpunkte: Spanische Malerei und Kulturgeschichte um die Jahrhundertwende; Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Gabriele Werner, Kunsthistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hermann-von-Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion zum Thema „Mathematik im Surrealismus"; Habilitationsprojekt: „Anatomie und Chirurgie in Kunst und Medizin im 19. Jahrhundert in Deutschland". Zahlreiche Lehraufträge in Braunschweig, Zürich und Berlin; im WS 1999/2000 Gastprofessur an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Publikationen zum Surrealismus, zur Populärkultur (Mode, Film, Mädchen), zur feministischen Theorie und Praxis und zum Wissenschaftlerportrait im 19. Jahrhundert.

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Abbildungsnachweise

Below Max Pechstein, Das ferne Paradies, Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen u.a., Ostfildern-Ruit 1995, Taf. 57 - Irma-Stern-Museum, Kapstadt [Abb. 6, 7, 8] - South African Library: INIL 11978 [Abb. 1], INIL 11978 [Abb. 2], [Abb. 5] - Ullstein-Bilderdienst [Abb. 3] - H d K Berlin [Abb. 4] © Pechstein/Hamburg-Tökendorf Berger (Leben in der Legende) Charlotte Berend-Corinth, Kunstverein Erlangen u.a., Erlangen 1980, S. 4 - Marie von Malachowski-Nauen, August-Macke-Haus, Bonn 1999, S. 16. - „Neue Sachlichkeit - Österreich 1918-1938", Kunstforum Bank Austria, Wien 1995, S. 151. - Franfoise Gilot/Carlton Lake: Leben mit Picasso, Zürich 1964, S. 209. - Hamburger Kunsthalle [Abb. 7] - Gail Levin: Edward Hopper, München 1998, S. 339, 252-253 - Dorothea Tanning: Birthday, Köln 1990, o.S. - HdK, Berlin [Abb. 1-6, 8-18] © VG Bild-Kunst, Bonn 2000 [Abb. 10, 17, 18], © Photograph. Sammlung/SK Stiftung - A. Sander Archiv, Köln/VG Bild-Kunst, Bonn 2000 [Abb. 12] Berger (Hanna Nagel) Marlene Angermeyer-Deubner: Neue Sachlichkeit und Verismus in Karlsruhe 1920-1933, Karlsruhe 1988, Abb. 59 - Irene Fischer-Nagel, Karlsruhe [Abb. 1-5, 8-15]- HdK, Berlin [Abb. 6, 7] - © VG Bild-Kunst, Bonn 2000 [Abb. 1-5, 8-15] Hentschel Kiki's Paris, Künstler und Liebhaber, 1900-1930, Köln 1989, S. 198. © Man Ray Trust, Paris - Lee Miller: An Exhibition of Photographs, 1929-1964, Los Angeles 1991, S. 10, 37. [Abb. 1] © Lee Miller Archives, Chiddingly, East Sussex - Man Ray, Das photographische Werk, München 1998, S. 126, 55 [Abb. 2, 5] - © Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2000 [Abb. 3, 4, 6] Künkler Götz Adriani (Hg.): Hannah Hoch, Fotomontagen, Gemälde, Aquarelle, Köln 1980, Kat.-Nr. 5, S. 117, S. 71 - Der Kampf der Geschlechter, Der neue Mythos in der Kunst, 1850-1930, Köln 1995, S. 98, Kat.-Nr. 27 - Charlotte Berend-Corinth: Die Gemälde von Lovis Corinth, München 1958, Nr. 270, S. 420 - Lovis Corinth, Eine Dokumentation, zusammengestellt und erläutert von Thomas Corinth, Tübingen 1979, Nr. 61, S. 471 [Abb. 1-8] Lindner Britta Benke: Georgia O'Keeffe, 1887-1986, Blumen in der Wüste, Köln 1994, S. 43, S. 36 - Alfred Stieglitz: Georgia O'Keeffe, Α Portrait, N e w York 1978, Taf. 9, Taf. 37, Taf. 29, Taf. 33 - H d K Berlin [ Abb. 1-6]

Abbildungsnachweise

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Mae © Todashi Takamura [Abb. 1 , 7 ] - Kawasaki, Stadtmuseum [Abb. 3, 5, 6] - Michiko Mae [Abb. 2, 4] Muysers Bigert & Bergström, Climate Chambers, Riksutställingar, Swedish Travellin Exhibitions, Stockholm 1994, S. 50 [Abb. 1] - G f B H [Abb. 2] - „...verhalten zu...", Christine & Irene Hohenbüchler, in: Kunstgeschichte und zeitgenössische Kunst, Bd. 3, hg. von Marcel Baumgartner, Köln 1998, S. 39 [Abb. 3] - Limonade von Afrika, hg. vom Neuen Berliner Kunstverein, Berlin 1996, A b b . 0062 und 0063 [Abb. 4 - 5 ] - Klimat N o r d , Sweden, T h e official catalog of the Swedish pavilion, Expo 98, Lissabon 1998, S. 20, [Abb. 6] - Ausstellungskatalog D o u b l e Vie - D o u b l e Vue, Fondation Carder pour l'Art contemporain, Paris, 1996, o.S. - Walter Friedrich: Zwillinge, Wissenswertes U b e r Zwillinge aus Forschungs und Alltag, Berlin 1983, S. 186. - © Christine & Irene Hohenbüchler [Abb. 3], © Twin Gabriel [Abb. 4, 5], © V G Bild-Kunst, B o n n 2000 [Abb. 1, 6], Carola Muysers [Abb. 2, 7, 8] Raev (Goncarova/Larionov) Amazonen der Avantgarde, hg. von J o h n E. Bolt/Matthew -

Drutt, Deutsche Guggenheim, Berlin

1999, S. 157 [Abb. 2], S. 154 [Abb. 4], S. 112 - Chagall, Kandinsky, Malewitsch und die russische Avantgarde, Hamburger Kunsthalle/Kunsthaus Zürich, Ostfildern-Ruit 1998, S. 111, S. 101 - Michail Larionov - Natalija Goncarova. Sedevry iz parizskogo nasledija. Zivopis. Gosudarstvennaja Tret'jakovskaja Galereja, Moskva 1999, S. 11 u. A n t h o n y Parton: Mikhail Larionov and the Russian Avantgarde, L o n d o n 1993, S. 4, Frontispiz, Courtesy Barry Friedman Ltd., N e w Y o r k - G . G . Pospelow: Karo Bube, Aus der Geschichte der Moskauer Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Dresden 1985, S. 50 - © V G Bild-Kunst, B o n n 2000 [Abb. 6, 7, 8, 9] Raev (Rodcenko & Stepanowa) Alexander M . R o d t s c h e n k o - Warwara Stepanowa, D i e Zukunft ist unser einziges Ziel, hg. von Peter Noever, München 1991, S. 24 o., S. 9, l.u., A b b . 1 , S . 165, A b b . 103 - Alexander R o d t s c h e n k o und Warwara Stepanowa, W e r k e aus sowjetischen Museen, der Sammlung der Familie R o d t s c h e n ko und aus anderen Sammlungen, W i l h e l m - L e h m b r u c k - M u s e u m der Stadt Duisburg und Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 1982, S. 256, S. 112 - Alexander Lavrentiev: Alexander R o d c h e n k o , Photography 1 9 2 4 - 1 9 5 4 , K ö l n 1995, A b b . 65 - Alexander N . Lawrentjew: Warwara Stepanowa, E i n Leben für den Konstruktivismus, Weingarten 1988, S. 17 l.o., S. 17, l.u., S. 34, S. 33 - Varvara Stepanova: Celovek ne mozent zit' bez cuda [Der Mensch kann nicht leben ohne Wunder], zusammengestellt von V. A. R o d c e n k o und A . N . Lavrent'ev, Moskva 1994, S. 264 - © V G B i l d - K u n s t , B o n n 2 0 0 0 [Abb. 1, 3, 4, 7, 8, 9, 11] Reinhardt Fotos im Besitz von Hildegard Reinhardt [Abb. 1 , 2 , 4 , 6, 9 , 1 2 ] - „Marta Hegemann 1 8 9 4 - 1 9 7 0 " , Das Verborgene Museum, Berlin 1998, S. 26 - Günter Herzog: Anton Räderscheidt, Köln 1991, S. 37 Rheinisches Bildarchiv, Köln -

H o r s t Richter: Anton Räderscheidt, Recklinghausen 1972, S. 58,

S. 48, S. 24, S. 56 - Werner Schäfke/Michael Euler Schmidt: Anton Räderscheidt, Köln 1993, S. 80

-

© V G Bild-Kunst, B o n n 2000 [Abb. 3, 5, 7, 8, 10, 11] Schmerl, Christiane Archives du Laboratoire Curie, Paris Mary Catherine Bateson: Mit den Augen einer T o c h t e r , Meine Erinnerungen an Margaret Mead und G r e g o r y Bateson, R e i n b e k 1986, S. 95 - W h i t n e y C h a d w i c k & Isabelle Courtivron (Hg.): Significant O t h e r s , Creativity and Intimate Partnership,

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London 1993, S. 208 - Margaret Mead: Letters from the Field, 1925-1975, N e w York 1977, S. 225 - William F. Nolan: H a m m e n , A Life at the Edge, London 1983, S. 179 [Abb. 2], S. 224 - Susan Quinn: Marie Curie, Frankfurt a.M. 1999. Nr. 15, Quelle: Association Curie et Joliot Curie, Paris. - Christiane Schmerl [Abb. 1 - 9 ] Schwab La Femme et le Surrealisme, hg. von Erika Billeter, Lausanne 1987, S. 155, 156, 161 - Max Ernst, hg. von Werner Spies, München 1991, S. 238, 371 - © Lee Miller Archives, Chiddingly, East Sussex [Abb. 1, 3, 4, 7] - Max Ernst-Kabinett, Brühl [Abb. 5] - HdK Berlin [Abb. 6] - © VG Bild-Kunst, Bonn 2000 [Abb. 2, 8, 9, 10] Sykora Ringl+Pit - Grete Stern, Ellen Auerbach, Essen 1993, S. 26, S. 32 - Bauhaus Archiv, Berlin - Jeannine Fiedler (Hg.): Photography at the Bauhaus - Cambridge, Mass., 1990, S. 113 - Folkwang Museum, Essen - © Ellen Auerbach/Grete Stern [Abb. 1-12] Valdivieso Rodrigo Bauhaus Archiv, Berlin [Abb. 1 - 8 ] Gabriele Werner Zervos IX/97, Ludwig Ulimann: Zur Vorgeschichte von Picassos „Guernica", Unbekannte und unbeachtete Arbeiten (Januar-April 1937), in: kritische berichte, 13. Jg., H. 4, 1985, Abb. 7, S. 53 - Les Photographies de Dora Maar, Une histoire - des (Euvre, Succession de Madame Markovitch, Drouot Richelieu, Paris 1998, Nr. 176, S. 153 - Rosalind Krauss/Jane Livingston: L ' A m o u r fou, photography Sc surrealism, The Corcoran Gallery of Art, Washington/New Yourk 1995, Fif. 32, S. 41 - L'Atelier de Dora Maar, Succession de Madame Markovitch, Drouot Richelieu, Paris 1998, Nr. 77, S. 27 - Les Livres de Dora Maar, Succession de Madame Markovitch, Manuscrits et Documents, Maison de la Chimie, Paris 1998, Nr. 358, S. 63 - Edouard Jaguer: Surrealistische Photograhie, Zwischen Traum und Wirklichkeit, Köln 1984, M A A R 1, S. 100 - Gabriele Werner [Abb. 1, 6] - © VG Bild-Kunst, Bonn 2000 [Abb. 3]; © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2000 [Abb. 1, 4, 5] Die Bildrechte seitens der Archive wurden unbeschadet der Rechte Dritter gewährt. Trotz aller Bemühungen gelang es nicht in allen Fällen, die Fotografen ausfindig zu machen. Etwaige Ansprüche können im Rahmen der üblichen Vereinbarungen beim Verlag geltend gemacht werden.

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