Riten, Gesten, Zeremonien: Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit 9783110210897, 9783110208023

Ritualised action – the use of gestures and ceremonial processes – were a central means of creating and expressing socia

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Riten, Gesten, Zeremonien: Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit
 9783110210897, 9783110208023

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Antikendämmerung: Vom eingeschränkten Gebrauch der Gesten als Bildsprache im frühen Mittelalter
Ritualia, Magica und Zeigehandlungen als szenische Vorgänge: Zur Differenzierung von Kernhandlungen und Handlungskomplexen
Das Motiv der Blutsbrüderschaft: Ein Ritual zwischen Antike, Mittelalter und Gegenwart
„Ich halte Dich am Bart“: Spiel der Hände, Spiel der Farben in einem Ritual zwischen Männern
Die Liturgie der Osternacht
Instrumenta pacis: Der Kuss von Bildwerken und Reliquien im Friedensritus der Heiligen Messe
Vom Unsichtbaren zum Sichtbaren: Liturgisches Zeremoniell und Bild in Byzanz im 11. und 12. Jahrhundert
Die ‚Befreiung des Bösen‘ in ritueller Wiederholung: Zur Symbolik tibetischer Maskentänze (’cham)
Körperstrafen: Der Anteil der Bilder an den Strafritualen des Mittelalters
Rituale der Vergewisserung: Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit
Schatzinszenierungen: Die Verwendung mittelalterlicher Schätze in Ritual und Zeremonie
Krönungsritus und sakrales Herrschertum: Zeremonie und Symbolik
Macht- und Herrschaftsrituale bei Shakespeare
Urloup nemen: Abschiede im Mittelalter
Backmatter

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Riten, Gesten, Zeremonien



Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 14

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Riten, Gesten, Zeremonien Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von

Edgar Bierende · Sven Bretfeld Klaus Oschema

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-443X ISBN 978-3-11-020802-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

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Vorwort Das Berner Mittelalter-Zentrum (BMZ) bietet seit über zehn Jahren eine fruchtbare und intensiv genutzte Plattform für die Präsentation und Diskussion mediävistischer Themen an der Universität Bern. In den seit 1996 in durchgehender Folge veranstalteten Ringvorlesungen stellen mit dem Mittelalter beschäftigte Forscherinnen und Forscher aus Berner Institutionen (von der Universität über das Berner Historische Museum bis hin zum Archäologischen Dienst des Kantons) sowie auswärtige Gäste ihre Arbeiten einer breiten Öffentlichkeit vor. Die Offenheit des Austauschs und der anregenden Gespräche profitiert dabei zu einem nicht geringen Teil vom Grundsatz, die hier gehaltenen Vorträge üblicherweise nicht zu publizieren. Im vorliegenden Fall haben wir uns als Herausgeber dieses Bandes aus mehreren Gründen dazu entschlossen, von dieser Tradition abzuweichen. Man könnte hier zunächst auf äußere Parameter verweisen, die es nahelegen mochten, den zwei bereits veröffentlichten Sammlungen von Beiträgen aus BMZ-Ringvorlesungen einen dritten Band folgen zu lassen: So feierte etwa das BMZ vor kurzem sein 10jähriges Jubiläum, da es seine Arbeit zum Wintersemester 1996/97 mit einer Ringvorlesung zum Thema „Fest und Spiel im Mittelalter“ aufnahm. Hinzu kommen mehrere Wegmarken personellen Wandels: Am Ende des Wintersemester 2005/06 wurde mit Prof. Dr. Hubert Herkommer ein tragendes Mitglied des Zentrums in den Ruhestand verabschiedet; mit dem Ende des Frühjahrssemesters 2008 beendete auch Prof. Dr. Rainer C. Schwinges seine aktive Lehrtätigkeit an der Universität Bern. Mit ihm trat der Gründungsdirektor des BMZ in den Ruhestand, der als treibende Kraft auf den Zusammenschluss der mediävistischen Fächer in Bern hinwirkte und bis 2002 die Geschäfte des Zentrums in der Funktion des Direktors leitete. Derlei Erwägungen wären uns aber kaum Grund genug für unser Vorhaben gewesen, hätte nicht die Ringvorlesung des Wintersemesters 2005/6 zum Thema „Riten, Gesten, Zeremonien“ ein breites Echo hervorgerufen. Die zahlreichen positiven Reaktionen und die von unter-

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Vorwort

schiedlichsten Seiten geäußerte Aufforderung zur Publikation der Vorträge haben uns dazu bewegt, von den Beiträgerinnen und Beiträgern die zusätzliche Leistung zu erbitten, welche die Ausarbeitung eines Vortrags für die Publikation bedeutet. Den Autorinnen und Autoren der im vorliegenden Band versammelten Texte möchten wir daher an erster Stelle danken, dass sie mit ihren sofort geäußerten Zusagen und ihrer engagierten Arbeit das Zustandekommen dieses Buchs ermöglichten. Nicht weniger dankbar sind wir Prof. Dr. Norberto Grammacini, der als geschäftsführender Direktor des BMZ die diesem Band zugrundeliegende Ringvorlesung organisierte, sowie Dr. Margot Hleunig, die Entscheidendes zur Durchführung beitrug. Ohne ihre Tätigkeit hätte das nun vorliegende und, wie wir meinen, außerordentlich inspirierende Spektrum unterschiedlichster disziplinärer Perspektiven auf das Thema „Riten, Gesten, Zeremonien“ nicht zustande kommen können. Dank gilt schließlich auch den Herausgebern der „New Trends in Medieval Philology“ für die Aufnahme unseres Bandes in ihre Reihe sowie dem Verlag Walter de Gruyter, der unser Vorhaben von Beginn an mit größtem Interesse begleitete und förderte. Edgar Bierende, Sven Bretfeld und Klaus Oschema

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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Edgar Bierende, Sven Bretfeld, Klaus Oschema Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Methodik am Beispiel Axel Gampp Antikendämmerung: Vom eingeschränkten Gebrauch der Gesten als Bildsprache im frühen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Kotte Ritualia, Magica und Zeigehandlungen als szenische Vorgänge: Zur Differenzierung von Kernhandlungen und Handlungskomplexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Oschema Das Motiv der Blutsbrüderschaft: Ein Ritual zwischen Antike, Mittelalter und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marie Aschehoug-Clauteaux „Ich halte Dich am Bart“: Spiel der Hände, Spiel der Farben in einem Ritual zwischen Männern . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liturgie Urs von Arx Die Liturgie der Osternacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Richter Instrumenta pacis: Der Kuss von Bildwerken und Reliquien im Friedensritus der Heiligen Messe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Barbara Schellewald Vom Unsichtbaren zum Sichtbaren: Liturgisches Zeremoniell und Bild in Byzanz im 11. und 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 141

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Vorwort

Jens Schlieter Die ‚Befreiung des Bösen‘ in ritueller Wiederholung: Zur Symbolik tibetischer Maskentänze (’cham) . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Recht Ulrich Rehm Körperstrafen: Der Anteil der Bilder an den Strafritualen des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 André Holenstein Rituale der Vergewisserung: Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Politik Lucas Burkart Schatzinszenierungen: Die Verwendung mittelalterlicher Schätze in Ritual und Zeremonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Therese Bruggisser-Lanker Krönungsritus und sakrales Herrschertum: Zeremonie und Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Werner Senn Macht- und Herrschaftsrituale bei Shakespeare . . . . . . . . . . 321

Nachbetrachtungen Hubert Herkommer Urloup nemen: Abschiede im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . 347

Anhang Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

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Einführung Edgar Bierende, Sven Bretfeld, Klaus Oschema (Bern, Bochum, Heidelberg) Warum „Riten, Gesten, Zeremonien“? Die Aktualität eines Forschungsgegenstandes Die gegenwärtig zu beobachtende, verstärkte Zuwendung der Kulturwissenschaften zum Forschungsfeld der Riten, Gesten und Zeremonien kann aus einer bestimmten Perspektive als Ablösung der 68er-Generation begriffen werden, gewissermaßen als Loslösung von deren Gesellschaftskritik. Indem sie sich gegen soziale Konformität und gesellschaftlichen Anpassungszwang aussprachen, stellten sich Vertreter der 68er-Bewegung historisch gesehen in die lange Tradition der Zeremonialkritik. Bereits seit der Zeit der Spätaufklärer, welche die Ideale des Naturrechts (Vernunft) und der Gleichheit (Demokratie) propagierten, wurden Riten und Zeremonien in einem negativen Licht gesehen.1 Verbunden war dies mit einer grundlegenden Umwälzung der sozialen Werte und Normen, die bis heute in ihren Grundzügen fortlebt. Hatte man in den Jahrhunderten zuvor Hierarchien und soziale Abstufungen der feudalen und ständischen Gesellschaften Europas durch ein sich beständig verfeinerndes System von Riten, Gesten und Zeremonien zu visualisieren versucht und in der Regel allgemein akzeptiert,2 so wurde diese Struktur seit dem 18. Jahrhundert zunehmend bekämpft 1

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Encyclopédie, ou dictionaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, hg. v. M. Diderot und M. d’Alembert, Paris 1751, Bd. 2, S. 838 f. („Ceremonial“, „Ceremonies“). Vgl. Christoph Wulf, Anthropologie. Geschichte — Kultur — Philosophie, Reinbek 2004, S. 191–195, mit weiteren Literaturhinweisen; s. bereits die Ausführungen von Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a. M. 1986 [London 1970]. Johann Christian Wächtler, Commodes Manual, oder Hand-Buch, [. . . ], [1703] Leipzig 4 1714, S. 97 („Ceremonial-Gesetze, so von den äußerlichen Gebräuchen handeln“; „Ceremonien, Gepränge/äußerliche Gebräuche, it. Ehrerweisung, complementem/z. E. der Ceremonien-Meister, sans (sang) ceremonie, ohne viel compli-

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und negiert.3 Stattdessen galt nun, zumindest im Rahmen der bürgerlichen Ideologie, die Sichtbarmachung der Egalität als vornehmste Aufgabe und als ethische Grundverpflichtung eines jeden Bürgers. Eine Folge bestand in der Auflösung der ehemals differenzierten Normen und Formen gesellschaftlicher Interaktionen, im Niedergang des Facettenreichtums von Riten und Gesten, vormals bekannte Zeremonien wurden nicht mehr gelebt und gingen unter. Diese Veränderungen trugen zur sukzessiven Aushöhlung und Auflösung von gesellschaftlichen Systemen und Strukturen bei, deren Folgen wir heute immer stärker spüren, wie etwa die Häufung von Singlehaushalten, Kirchen- und Parteienaustritten usw. deutlich machen. Mit dem Niedergang der Riten und Zeremonien gingen folglich auch deren positive Sozialeigenschaften verloren, da eine zentrale Bedeutung der Riten und Zeremonien in ihrer Fähigkeit besteht, soziale Bindungen zu stiften und befriedend zu wirken.4 Im Einklang mit dem Wunsch, zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Prozesse in unserer Gegenwart wieder reibungsloser zu gestalten sowie soziale Kon-

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mentirens“; „Ceremonieux, (Ceremoniöss) der viel Gepränges und Wesen macht, z. e. Man soll nicht allzu ceremonieux seyn.“). Siehe ebd., S. 190 („Gestus, Gebehrden, z. E. er hat wunderliche gestus an sich; Res gestae, Thaten, z. E. eines seine res gesta beschreiben.“), und S. 337 („Rité, ordentlicher Weise, z. E. es muß alles rité zugehen. Ritus, Gebräuche.“). Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Aller Wissenschaften und Künste, welche bisshero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, hg. v. Johann Heinrich Zedler, Halle und Leipzig 1733, Bd. 5, Sp. 1873 f. („Ceremonie“, „Ceremonia“), und ebd., Leipzig und Halle 1742, Bd. 31, Sp. 1831 f. („Rituale“, „Rituale Romanum“, „Ritus“). Johann Georg Heinzmann, Lesebuch zur Erweiterung der gemeinnützigen Aufklärung unter Staatsmännern und Bürgern in Städten. 3 Bde. [vormals: BürgerJournal oder kleine Familienbibliothek für Schweizer, Bern 1792], Leipzig 1795, Bd. 3, S. 55–61: „Ceremonien, Titl, Rang u.s.w. [. . . ] Alle diese Dinge, die in dem Stande der bloßen Natur unnütz und ungereimt wären, haben in dem Stande unsrer verdorbenen und lächerlichen Natur einen grossen Nutzen. [. . . ] So weit spricht Voltaire. Ich füge noch bey: auch im gemeinen bürgerlichen Leben macht man sich so wichtig mit dergleichen lästigen Erbstücken, besonders in alten Städten, [. . . ].“ Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart und Weimar 2004, S. 581 („Ritual“); Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1992, Sp. 1052–1060 („Ritus“); ebd., Bd. 12, Basel 2004, Sp. 1301–1305 („Zeremonie, Zeremonialwissenschaft“); Wörterbuch der Völkerkunde, hg. v. Walter Hirschberg, Berlin 2 1999, S. 316 f. („Ritus“, „Ritual“).

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flikte zu überwinden, mag die Einsicht in die kohäsive Kraft der Riten, Gesten und Zeremonien dazu geführt haben, diese einst verfemten und als rückständig geltenden Größen nunmehr in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Anteil an diesem Umwertungsprozess hatten seit den 1980er Jahren zunehmend auch Vertreter der kultur- und sozialhistorischen Forschung, wie etwa Historiker, Kunsthistoriker und Religionswissenschaftler, die in ihren Arbeiten soziale Handlungen, Texte und Artefakte unter der Perspektive und Problemstellung von Riten, Gesten und Zeremonien untersuchten, wobei sie ihre historischen Gegenstände durch die Bezugnahme auf Methoden und Fragestellungen aus den „Leitwissenschaften“ der Soziologie, Psychologie und Ethnologie sowie aus dem Bereich der Wissenschaftstheorie wie etwa Semiotik und Strukturalistik, in transdisziplinärer Weise fassten.5

Zugriffe in der modernen Mediävistik Die Kernbegriffe im Titel des vorliegenden Bandes, der aus einer gleichnamigen Ringvorlesung des Berner Mittelalter-Zentrums (BMZ) im Wintersemester 2005/06 hervorgegangen ist, weisen damit unverkennbar auf einen modernen Zuschnitt der Themenwahl hin. Dies verdeutlichen auch die Debatten innerhalb der Fächer, die an unserer interdisziplinär ausgerichteten Unternehmung teilnehmen. Natürlich interessierten sich etwa die Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte des Mittelalters beschäftigen, schon seit längerer Zeit für Rituale – insbesondere wenn sie mit der Herstellung oder Wahrung von Herrschaftsverhältnissen verbunden waren –, für Gesten oder auch für Zeremonien. Gleichzeitig hätte eine allzu große Konzentration auf derlei Phänomene aus der Warte der Geschichtswissenschaft lange Zeit 5

Zum Strukturalismus s. Michel Foucault, „Die Hoffräulein“, in: ders., Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1971, S. 31–45; Günther Schiwy, Strukturalismus und Zeichensysteme, München 1973. Zur Semiotik vgl. Nonverbal Communication, Interaction, and Gesture: Selections from Semiotica, hg. v. Adam Kendon, Paris und New York 1981 (Approaches to Semiotics, 41); Aleida Assmann, „Probleme der Erfassung von Zeichenkonzeptionen im Abendland“, in: Semiotik: Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Bd. 1, hg. v. Roland Posner u. a., Berlin und New York 1997 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 13,1), S. 710–729; Umberto Eco, „History and historiography of semiotics“, in: ebd., S. 730–746; Adam Kendon, Gesture: Visible Action as Utterance, New York 2004.

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ungewöhnlich, vielleicht sogar unseriös gewirkt. Im Fokus des Interesses stand schließlich stets die Suche nach relevanten Ereignissen, Personen, und dann auch Strukturen – relevant im Sinne ihrer politischherrschaftlichen Bedeutung. Wie groß der Sprung ist, der jüngst innerhalb der wissenschaftlichen Erforschung des Mittelalters im Bezug auf unsere Thematik verzeichnet werden kann, mag ein kurzer Blick in ausgewählte Synthesen zum Stand der Disziplin verdeutlichen: Im Juni 1989 veranstaltete der französische Mediävistenverband (die ‚Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur‘, SHMES) in Paris einen Kongress, der die französische Forschung zur mittelalterlichen Geschichte seit 1965 bilanzieren sollte.6 In diesem breiten Panorama, welches die existierenden Ansätze und Methoden zum Zeitpunkt der Publikation der Tagungsakten umfassend wiedergeben sollte, betrafen nur wenige Seiten solche Fragen, die mit unserem Thema verbunden waren. Unter der Rubrik „Anthropologie und Geschichte“ wurde die Erforschung von Verwandtschaftssystemen, des Körpers und von Systemen der Repräsentation knapp skizziert.7 Rituale oder Gesten erhielten damit noch keinen gesonderten Raum – nur zehn Jahre später stellte sich die Situation grundlegend gewandelt dar: Nun fanden Positionen Gehör und wurden breiter rezipiert, die seit den 1980er Jahren auf die Bedeutung rituellen Handelns und performativer Aspekte für die Erforschung nicht nur der Mentalitäts- und Kulturgeschichte des Mittelalters hinwiesen, sondern auch für ganz „handfeste“ Fragen der Politik- und Verfassungsgeschichte.8 6

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Publiziert als L’histoire médiévale en France. Bilan et perspectives, hg. v. d. Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur, Paris 1991. Den zeitlichen Rahmen bestimmte zum einen der 1965 veröffentlichte Band La recherche historique en France de 1940 à 1965, hg. v. Comité français des sciences historiques, Paris 1965, zum anderen die Gründung der SHMES im Jahr 1969. Jacques Berlioz, Jacques Le Goff und Anita Guerreau-Jalabert, „Anthropologie et histoire“, in: L’histoire médiévale en France (wie Anm. 6), S. 267–304. So etwa bereits Janet L. Nelson, Politics and Ritual in Early Medieval Europe, London und Ronceverte 1986, sowie für die deutschsprachige Forschung maßgeblich die Beiträge von Gerd Althoff, die zum Teil versammelt vorliegen in Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter: Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, und ders., Inszenierte Herrschaft: Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003. Eine Synthese bietet jetzt ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Für den Bereich der Gesten muss als zentraler Beitrag gelten Jean-Claude Schmitt, La

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Ohne vorerst auf die Details der damit verbundenen, zum Teil heftig geführten Methodendebatte näher einzugehen, lässt sich doch die Durchsetzung einer neuen Fokussierung auf das rituelle Handeln im Bereich der historischen und näherhin der mediävistischen Forschung leicht vorführen: In den Beiträgen des weit verbreiteten „Fischer Lexikon Geschichte“ spielten Rituale und Gesten noch in der neu bearbeiteten Auflage des Jahres 1990 eine marginale Rolle und auch dies lediglich im Zusammenhang mit der allgemein gehaltenen Charakterisierung von „Kulturgeschichte, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie“.9 Einen eigenen Eintrag in der Kategorie der „Historischen Grundbegriffe“ verdienten sie aus der Sicht des Herausgebers offenkundig nicht. Anders dagegen in einem 1999 erschienenen, französischen Lexikon zur mittelalterlichen Geschichte, in dem der Bereich der „Riten“ intensiv in einem eigenen Beitrag diskutiert wird10 – bezeichnenderweise in einem bewusst offen gehaltenen Spannungsfeld von Ritual, Gesten und Zeremonien, die hier als Pole der symbolischen Kommunikation identifiziert werden. Ganz selbstverständlich erscheint der Hinweis auf Rituale im Zusammenhang mit der Geschichte von „Politik und Mentalität“, aber auch mit der ebenfalls weit ausgreifenden Dimension der (nonverbalen) „Kommunikation“, in einem Forschungsüberblick, den im selben Jahr Hans-Werner Goetz vorlegte.11 Die breite Durchsetzung entsprechender Ansätze drückten neben den immer zahlreicher erschienenen raison des gestes dans l’occident médiéval, Paris 1990, dessen Entstehung ebenfalls auf Anstöße zurückverweist, die in den 1980er Jahren von Bedeutung wurden, vgl. ders., „Introduction and General Bibliography“, in: History and Anthropology 1 (1984), S. 1–28, und ders., „The Ethics of Gesture“, in: Fragments for a History of the Human Body. 3 Bde., hg. v. Michel Feher, Ramona Naddaff und Nadia Tazi, New York 1989, Bd. 2, S. 129–147. Für einen knappen Überblick zu Forschungstradition und interpretatorischen Zugängen s. demnächst Klaus Oschema, „Gestures“, in: Handbook of Medieval Studies, hg. v. Albrecht Classen (im Druck). 9 Heide Wunder, „Kulturgeschichte, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie“, in: Fischer Lexikon Geschichte, hg. v. Richard van Dülmen, Frankfurt a. M. 1990, S. 65–86 [75 f. und 80 f.]. 10 Jean-Claude Schmitt, „Rites“, in: Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, hg. v. Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt, Paris 1999, S. 969–984. 11 Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 212–218 („Politik und Mentalität: Herrschaftsrepräsentation, Rituale, öffentliche Inszenierungen“) und 362–365 („Nonverbale Kommunikation, Symbolik, Ritualität“).

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Einzelstudien, zudem die Einträge in weiteren Fachwörterbüchern der mediävistischen Forschung aus. So findet der Leser des französischen ‚Dictionnaire du Moyen Âge‘ gleich zwei gesonderte Beiträge zu Ritualen und Zeremonien12 , während das weitaus breiter angelegte deutschsprachige ‚Lexikon des Mittelalters‘ lediglich in seinem letzten Band das Thema des „Zeremoniells“ aufgriff.13 Die breite Anlage und die inhaltlichen Bestandteile dieses Eintrags machen zugleich die kompensatorische Funktion deutlich, hatte man doch in den vorhergehenden Jahren auf das Stichwort „Ritual“ verzichtet.14 Entsprechend wurden nun Zeremoniell und Ritual in engem Zusammenhang präsentiert, was mithin zu einer definitorischen Vermischung führte, die heuristisch nicht immer befriedigen kann. So beschrieb Michael McCormick einleitend das Zeremoniell als „Komplex von öffentl. symbol. Gesten bzw. Zeremonien/Ritualen, die den Mitwirkenden und einer Zuschauerschaft in großenteils nonverbaler Weise ein Bild von einer polit., sozialen, religiösen und ggf. kosmischen Ordnung vermitteln wollen.“15 Diesem darstellerischen, die bestehende Ordnung befestigenden Schwerpunkt gegenüber betonte PeNicolas Offenstadt, „Cérémonie“, in: Dictionnaire du Moyen Âge, hg. v. Claude Gauvard, Alain de Libera und Michel Zink, Paris 2002, S. 240, und Robert Jacob, „Rituel“, in: ebd., S. 1219–1221. 13 Michael McCormick u. a., „Zeremoniell“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 9 [1998], Sp. 546–580. 14 Andererseits waren schon zu einem frühen Zeitpunkt die Lemmata „Geste“ und „Gebärden und Gesten“ aufgenommen worden, wobei sich letzteres aus der spezifischen Tradition der deutschen Rechtsgeschichte erklären lässt: hier sei nur hingewiesen auf den grundlegenden Beitrag aus der Feder von Karl von Amira, Die Handgebärden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, München 1905 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, PhilosophischPhilologische und Historische Klasse, 23,2); vgl. auch Ruth Schmidt-Wiegand, „Gebärden“, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1 [1971], Sp. 1411–1419, und dies., „Gebärdensprache im mittelalterlichen Recht“, in: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 363–379. Diese Tradition erklärt die Ausrichtung des Eintrags von Gernot Kocher, „Gebärden und Gesten“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4 [1989], Sp. 1154. Dass gerade dieser Themenbereich auf etwas improvisierte Weise Eingang in das Werk fand, zeigt unter anderem der hier stehende Querverweis auf einen Eintrag zu „Gesten (kunstgesch.)“, der sich dann aber vor allem der Frage von Körpersprache und Symbolik von Gebets- und Herrschaftsgesten widmete, s. Josef Engelmann, „Geste“, in: ebd., Sp. 1411 f. 15 McCormick u. a., „Zeremoniell“ (wie Anm. 13), Sp. 546. 12

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tra Ehm in Übereinstimmung mit weiteren Autorinnen und Autoren16 den „Wandlungscharakter“ des Rituals. Mit diesem kontrastiert sie zwar einerseits das eher darstellende Zeremoniell, lässt dabei aber andererseits auch Raum für großzügige Überschneidungen, wenn sie letzteres definiert als „eine festgesetzte Abfolge von öffentl. vollzogenen förml. Handlungen, die in erster Linie Repräsentation zum Ziel haben“.17 Ist hier der Wille zur analytischen Trennung der kategorial angelegten Begriffe deutlich erkennbar – dessen Nutzen andere Autoren zumindest in Ansätzen verneinen würden,18 dessen heuristische Funktion aber doch zumindest diskussionswürdig sein dürfte –, so fasst Philippe Contamine in seinen Ausführungen zum spätmittelalterlichen Frankreich niederschwellig-alltägliche Handlungsmuster, die den üblichen Tagesablauf des Herrschers bestimmten, ebenso wie singuläre Ereignisse im Leben des Königs, etwa die feierliche Weihe und Salbung in Reims, gleichermaßen unter dem Begriff des Zeremoniells, in dem derjenige des Rituals folglich zu Teilen aufgeht.19 Ganz offensichtlich lässt sich also durch die kursorische Lektüre zentraler Nachschlagewerke und wichtiger Beiträge zu Forschungsstand und Perspektiven der Mediävistik kein einheitliches Bild von den titelgebenden Kategorien unseres Bandes gewinnen. Gleichwohl hält dieser knappe Überblick wichtige Einsichten bereit: Zum einen ist festzuhalten, dass „Riten, Gesten und Zeremonien“ ein unterdessen fest etabliertes und fruchtbares Forschungsfeld darstellen, das zugleich mit einer intensiven und spezialisierten Theorie- und Methodendebatte verbunden ist.20 Zum anderen, und dies scheint uns in besonderer Weise 16

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Siehe im Überblick Barbara Stollberg-Rilinger, „Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven“, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527 [502–504], mit weiteren bibliographischen Hinweisen, sowie dies., „Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit“, in: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S. 389–405. McCormick u. a., „Zeremoniell“ (wie Anm. 13), Sp. 553. Vgl. Schmitt, „Rites“ (wie Anm. 10), S. 971 f. McCormick u. a., „Zeremoniell“ (wie Anm. 13), Sp. 560. Siehe neben Stollberg-Rilinger, „Symbolische Kommunikation in der Vormoderne“ (wie Anm. 16), auch Frank Rexroth, „Rituale und Ritualismus in der historischen Mittelalterforschung. Eine Skizze“, in: Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, hg. v. Hans-Werner Goetz und Jörg Jarnut, München 2003 (Mittelalter-Studien, 1), S. 391–406, und die einschlägigen Beiträge von Gerd Althoff, Gert Melville,

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den Zuschnitt der hier versammelten Beiträge zu rechtfertigen, wird die Diskussion in diesem Bereich (trotz zuweilen anderslautender Meinungen21 ) offenkundig lebhaft und kontrovers geführt. Neben der weiten Anerkennung der erkenntnisfördernden Wirkung einer Erforschung von Phänomenen der symbolischen Kommunikation sind damit auch kritische Stimmen zu vernehmen, die mit Einwänden auf methodischer Ebene die praktische Umsetzung eines entsprechenden Forschungsprogramms zum Teil radikal in Frage stellen. Als prominenter Vertreter der „Ritualkritik“ hat sich dabei Philippe Buc positioniert, der in mehreren Publikationen auf die Probleme hinwies, welche die Anwendung moderner Sozialtheorien zur Erklärung vormoderner Phänomene generiert.22 Insbesondere der stark funktionalistisch geprägte Zugang, der Rituale in der anthropologisch geprägten Tradition u. a. Victor Turners als gemeinschaftsstiftende und -affirmierende Handlungskomplexe auffasste,23 zog Bucs Kritik auf sich:24

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Philippe Buc und Claude Gauvard in Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Age en France et en Allemagne, hg. v. Otto G. Oexle und Jean-Claude Schmitt, Paris 2002, S. 231–281 („Rituel et institutions“). So legt etwa Frank Rexroth, „Rituale und Ritualismus“ (wie Anm. 20), S. 392, einem imaginären Vertreter der US-amerikanischen Mediävistik die Einschätzung in den Mund, „dass die beste Zeit der Ritualforschung bei ihm zu Hause vergangen sei“. Zusammenfassend hierzu der Essay von Philippe Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton und Oxford 2001. Vgl. auch ders., „Political Ritual: Medieval and Modern Interpretations“, in: Die Aktualität des Mittelalters, hg. v. Hans-Werner Goetz, Bochum 2000, S. 255–272, und ders., „Rituel politique et imaginaire politique au haut Moyen Âge“, in: Revue Historique 303 (2001), S. 843–883. Victor Turner, Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. 1989 [1969]. Vgl. zur Entwicklung soziologischer und anthropologischer Ritualtheorien auch die einführenden Bemerkungen von Sally F. Moore und Barbara Myerhoff, „Introduction: Secular Ritual: Form and Meanings“, in: Secular Ritual, hg. v. dens., Assen 1977, S. 3–24, die Beiträge in Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, hg. v. Andréa Belliger und David Krieger, Wiesbaden 2 2003, sowie aus historischer Perspektive Jürgen Martschukat und Steffen Patzold, „Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur“, in: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. v. dens., Köln, Weimar und Wien 2003 (Norm und Struktur, 19), S. 1–31. Die im Übrigen nicht ohne Vorläufer ist: So wandte sich bereits Jack Goody, „Against ‚Ritual‘. Loosely structured thoughts on a loosely defined topic“, in: Secular Ritual (wie Anm. 23), S. 25–35, gegen die ausufernde Nutzung des Ritualkon-

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Schon das säkularisierte Modell des Zugriffs ist ihm zufolge für die Interpretation der vorreformatischen europäischen Gesellschaften nicht geeignet, da es am Kern dessen vorbeiziele, was für die Vertreter dieser Kulturen mit dem rituellen Handeln verbunden gewesen sei. Hinzu komme die Schwierigkeit, sich überhaupt den rituellen Praktiken zu nähern, da auch die Autoren, die uns hiervon berichten, ihre Texte gewissermaßen bereits vor der Folie des Rituals verfassten, also „Rituale schrieben“.25 Diesem Verdikt, das im Kern unzweifelhaft auf eine theoretische Schwierigkeit hinweist, die im Rahmen des vielfach beschworenen „linguistic turn“ der historischen Disziplinen immer wieder aufscheint,26 wollen wir nicht mit systematischen Erwägungen auf der Ebene der Theoriebildung entgegentreten. Wichtiger und vielleicht auch produktiv weiterführender als die Debatte um die Konstruktion eines kohärenten Weltbildes und einer Theorie großer Reichweite erscheinen uns die Erklärungsleistungen jener Neufokussierung historischer Forschung, die mit der Bezugnahme auf Begriffe wie „Ritual“, „Zeremonie“ und „Gesten“ verbunden sind. Um diese zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, mag es sogar von Vorteil sein, sich nicht für einen verabsolutierenden Ansatz der Interpretation zu entscheiden, sondern ganz im Gegenteil die Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen als Chancen für ein vielstimmiges Gespräch und immer neue Perspektivierungen auf vermeintlich bekannte Gegenstände zu betrachten. In diesem Sinne wäre es müßig, im Bereich des Historischen die Fragen etwa nach dem Darstellungs- oder Funktionscharakter rituellen Handelns abschließend klären zu wollen27 oder auch jene nach den logi-

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zepts, mit der daraus resultierenden definitorischen und analytischen Unschärfe. Eine kritische Sichtung der einschlägigen Theoriedebatten präsentierte Catherine Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, New York und Oxford 1992, ohne damit das Konzept als Ganzes verwerfen zu wollen, vgl. auch dies., Ritual. Perspectives and Dimensions, New York und Oxford 1997. Buc, Dangers of Ritual (wie Anm. 22), S. 249 u. a. Siehe ergänzend auch Corinna Dörrich, Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur, Darmstadt 2002 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). Zur Orientierung erscheinen hier hilfreich die knappen, aber kenntnisreichen Ausführungen von Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. Vgl. Rexroth, „Rituale und Ritualismus“ (wie Anm. 20), S. 393 f.

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schen Voraussetzungen unterschiedlicher, voll ausgeformter Ritualkonzepte und deren systematischen Hintergründen.28 Für den vorgeschlagenen bescheideneren Zuschnitt des Frageinteresses mögen daher solche einschränkenden Arbeitsdefinitionen von Vorteil sein, wie sie bereits vor einiger Zeit Peter Burke vorschlug. Er beschrieb Rituale als „Handlungen oder Handlungsfolgen, die zugleich kollektiven, repetitiven und symbolischen“ Charakter besitzen.29 Dieser Zugang erlaubt zwar weder die Angabe eines Kriteriums zur Unterscheidung zwischen Riten und Zeremonien noch den Zugriff auf individuelle oder private Prozesse der Ritualisierung.30 Dennoch besitzt er durch seine Offenheit großen Wert als Ausgangspunkt der darauf aufbauenden Überlegungen, welche an diesen pragmatischen Kern Beobachtungen zu weiteren Erscheinungen anlagern können: Im Zusammenhang mit dem Begriff der Handlung wäre etwa der Aspekt der „Performanz“ hervorzuheben,31 der eine bedeutende Brücke zur Frage der emotionalen Effekte rituellen Handelns schlagen kann.

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Hierzu Bell, Ritual Theory (wie Anm. 24), v. a. S. 13–66 („The Practice of Ritual Theory“). Als Weg zur Minimierung des Einflusses kulturell geprägter, ideologischer Vorannahmen auf Seiten des Forschers schlägt Bell eine Perspektivenverschiebung vor, vom vermeintlichen Blick auf „Rituale“ hin zu Mechanismen und Prozessen des „Ritualisierens“. Nach Peter Burke, „Cities, Spaces and Rituals in the Early Modern World“, in: Urban rituals in Italy and the Netherlands: Historical contrasts in the use of public space, architecture and the urban environment, hg. v. Heidi de Mare und Anna Vos, Assen 1993, S. 29–38 [29]. Ähnlich auch Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 1997 (New Approaches to European History 11), S. 6, und Moore und Myerhoff, „Introduction“ (wie Anm. 23), S. 7 f. Wesentlich offener beschreibt daher (aufgrund seines sozialpsychologischen Ansatzes) Jean Maisonneuve, Les conduites rituelles, Paris 1999, S. 7: „[. . . ] il apparaît que les rites désignent toujours des conduites spécifiques liées à des situations et à des règles précises, marquées par la répétition, mais dont le rôle n’est pas évident.“ Vgl. die Beiträge in Geschichtswissenschaft und „performative turn“ (wie Anm. 23), und in Ritual and identity: Performative practices as effective transformations of social reality, hg. v. Klaus-Peter Köpping u. a., Münster 2006 (Performanzen, 8), sowie Uwe Wirth, Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002. Eine kritische Sichtung aus mediävistischer Perspektive bot jüngst im Rahmen einer ausführlichen Besprechung insbesondere der Arbeiten Gerd Althoffs auch Jean-Marie Moeglin, „‚Perfomative Turn‘, ‚communication politique‘ et rituels au Moyen Âge. À propos de deux ouvrages récents“, in: Le Moyen Âge 113 (2007), S. 393–406.

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Zugleich markiert Burkes Arbeitsdefinition deutlich die bereits ältere Heraustrennung des Ritualkonzepts aus jenem Kontext, dem es in seiner historischen Entwicklung zunächst einmal angehörte, nämlich der Erforschung religiöser Praktiken und Vorstellungswelten.32 Indem er den Begriff in einer säkularisierten Variante modelliert, macht er ihn nicht nur für die wissenschaftliche Forschung in weiteren disziplinären Zusammenhängen anschlussfähig, sondern erlaubt zugleich seine Einbindung in ein vielpoliges kategoriales Beobachtungsraster, das neben dem Blick auf Ritual, Zeremonie und Geste auch die Reflexion über in den jeweiligen Zusammenhängen benutzte Objekte oder Mechanismen symbolischer Sinnkonstruktion erlaubt. Riten, Gesten und Zeremonien als Leitbegriffe des suchenden Forschens sollen uns im Folgenden also nicht konkret abgezirkelte Gegenstände als Selbstzweck vorführen, sondern vielmehr den Blick zur Erschließung weiterer Phänomenbereiche leiten. Gerade hierin besteht wohl auch der bedeutendste Beitrag, den die Erforschung der symbolischen Kommunikation aus der Perspektive der historisch arbeitenden Disziplinen in den letzten Jahrzehnten geleistet hat: Es geht letztlich in einem umfassenden Sinne um das Verständnis vergangener Kulturen, über die uns je nach Quellengattung und Epoche eine unterschiedlich dichte Überlieferung den Blick auf symbolische Ausdrucksformen erlaubt. Diese Funktion, die sich auch als Entwicklung eines verfremdenden, ethnographischen Blicks charakterisieren lässt, wird zumal an jenen Stellen von Bedeutung, an denen wir die Zustände und Lebensformen früherer Gesellschaften nicht befriedigend mit denselben Kategorien fassen können, die wir üblicherweise bei der Beschreibung unserer eigenen sozialen und politischen Organisation in Anschlag bringen. Um nur ein (viel strapaziertes) Beispiel ins Feld zu führen: Ganz offensichtlich eigneten sich die Parameter moderner Staatlichkeit (im Sinne des europäischen Nationalstaats-Konzepts des 19. Jahrhunderts) nicht zur Analyse der Herrschaftsformen in den mittelalterlichen Gesellschaften Europas. Eine adäquate Beschreibung mit den Mitteln der klassischen Verfassungsgeschichte konnte, trotz aller wertvoller Einsichten, die sie bot, nicht gelingen. Anstelle einer Sicht, die von der Funktion abstrakter „staatlicher Institutionen“ ausging, setzte sich daher der Blick auf 32

Näher hierzu Abschnitt IV (S. XXVII–XXXI) dieser Einführung.

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das Zusammenspiel personaler Beziehungen durch, die in ihrer engen Verflechtung und auf der Grundlage spezifischer weltanschaulicher Annahmen zur Verfestigung von Machtstrukturen und Herrschaft führten. Das Verstehen der hier wirksamen Mechanismen kann damit aber nicht mehr im Nachvollzug implizit vorausgesetzter, fester Regelsysteme bestehen, die gewissermaßen als virtuell vorhandener, aber nicht explizierter Verfassungstext zu verstehen wären, sondern muss seinen Ausgangspunkt in den konkreten Praktiken, im Handeln der jeweiligen Akteure suchen.33 Hier nun greift der Einsatz der Analyseraster zur symbolischen Kommunikation, indem Konzepte wie „ritualisiertes Handeln“ einen Schlüssel dafür bieten, die verwirrende Vielfalt der einzelnen Phänomene ordnend zu fassen und dem Verstehen zu öffnen. Natürlich mag es eine an der westlich-eurozentristischen Denktradition orientierte Haltung sein, wenn man dem Ritual als Handlung einen dem Denken zugänglichen „Subtext“ unterstellt, der uns den Zugang zu den Vorstellungen der in Frage stehenden Kulturen ermöglicht.34 Indem wir die hiermit verbundenen Gefahren der Verzerrung in Kauf nehmen, gewinnen wir aber sicher ein zutreffenderes Bild von den Verhältnissen der untersuchten vormodernen Epochen, als es durch die alleinige Interpretation im Sinne älterer, rein textzentrierter Ansätze der Fall wäre.

Kunsthistorische Ansätze In der Kunstgeschichte wurde das wissenschaftliche Interesse an Gesten und deren ikonographischer Ausdeutung durch den Warburgkreis zu Beginn des 20. Jahrhunderts epistemologisch begründet und in der Folge dauerhaft etabliert. Dieser Gegenstand zählt seitdem zum Kanon der Disziplin und erlangt durch stetige Forschungen ein wachsendes Gewicht. Gerade in jüngerer Zeit entstanden zahlreiche Arbeiten zu Körper und Gesten, Zeichen und Zeremoniell – nicht zuletzt begleitet durch aktuelle Werke und Debatten aus der Gegenwartskunst, so dass es in der deutschen und englischen Literatur zu einer unüberschaubaren Anzahl von Dissertationen, Artikeln und Einzelstudien kam. Daher kö33 34

Siehe v. a. die Arbeiten Gerd Althoffs, wie Anm. 31; hierzu auch die erwähnte Kritik von Moeglin, „Performative Turn“ (wie Anm. 31). Hierin besteht der Kern der Kritik von Bell, Ritual Theory (wie Anm. 24).

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nnen im Folgenden nur exemplarisch und nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit einzelne Positionen und Forschungsrichtungen herausgestellt werden. Beginnend mit Aby Warburg und dessen Begriff der „Pathosformel“ – Affektzustände, ausgedrückt durch Bewegungen und in Gesten, die auf antike Vorbilder zurückgehen – wurden Bilder über alle Gattungs-, Epochen- und Ländergrenzen hinweg auf ihre sich wandelnden Aussagequalitäten und Bedeutungsgehalte untersucht.35 Hatte Warburg dies zunächst an Fallbeispielen der Renaissancekunst getan, wie etwa an Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Prima Vera‘36 so systematisierte Erwin Panofsky diese Ansätze mittels seiner ikonographischen Methode.37 Besondere Bekanntheit erlangte vor allem ein Beispiel, an dem Panofsky sein Verfahren der Ikonographie exemplifizierte: Es ist der europäische Gestus des An-den-Hut-fassens oder Hutziehens. Mittels dieser Geste wird eine Höflichkeit, eine Begrüßung zwischen zwei sich begegnenden Herren ausgetauscht. Panofsky leitet dieses Phänomen aus der abendländischen Geschichte ab und grenzt das Verstehen dieser ge35

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Aby Warburg, „Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘. Eine Untersuchung über die Vorstellung von der Antike in der italienischen Frührenaissance [1893]“, in: ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 1979, S. 11–64; s. a. Fritz Saxl, „Die Ausdrucksgebärde der bildenden Kunst [1932]“, in: ebd., S. 419–431. Vgl. Martin Warnke, „Vier Stichworte: Ikonographie, Pathosformel, Polarität und Ausgleich, Schlagbilder und Bilderfahrzeuge“, in: Die Menschenrechte des Auges: Über Aby Warburg, hg. v. Werner Hofmann u. a., Frankfurt a. M. 1980 (Europäische Bibliothek, 1), S. 53–83 [61–68]; Ulrich Pfister, „‚Die Bildwissenschaft ist mühelos‘: Topos, Typus und Pathosformel als methodische Herausforderung der Kunstgeschichte“, in: Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, hg. v. dems., München 2003, S. 21–47. Warburg, „Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘ “ (wie Anm. 35). Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006; Christine Hasenmueller, „Panofsky, Iconography, and Semiotics“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 36 (1978), S. 289–301; Georges Didi-Hubermann, „Für eine Anthropologie der formalen Eigenheiten, Bemerkungen zu Warburgs Erfindung“, in: Rhetorik der Leidenschaften: Zur Bildsprache der Kunst im Abendland, hg. v. Ilsebill Barta-Fliedl u. a., Hamburg 1999, S. 240–249 [241 f.]; Omar Calabrese, „Semiotic Aspects of Art History: Semiotics of the Fine Arts“, in: Semiotik: Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Bd. 3, hg. v. Roland Posner u. a., Berlin und New York 2003 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 13,3), S. 3212–3234 [3216 f.].

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sellschaftlichen Konvention auf die westliche Welt ein. Damit macht er auf zwei zentrale Kategorien aufmerksam, die im Zusammenhang mit Gesten und Riten stets mitgedacht werden müssen: Zeit und Raum. Jede Kulturgemeinschaft definiert sich durch soziale Zugehörigkeit (Identität und Historie) und damit auch durch Abgrenzung von anderen (Alterität und Ethnologie). Panofsky macht dies anhand von zwei Beispielen deutlich: Aborigines kennen keine Hüte (Traditionen und Geschichte) und den Griechen der Antike war der Gruß per Hut unbekannt; erst die Ritter nahmen den Helm ab, um ihre friedliche Absicht zu bekunden. Diese Geste bzw. Handlung wurde für die Rezeption der ikonographischen Methode Panofskys geradezu zum Synonym – wenn auch teils kritisch, teils ironisch-distanziert, indem man seinen Namen mit dem Gruß-Gestus verband: „Panofskys Hut“.38 Als dritter Gelehrter des Warburgkreises sei Ernst Gombrich erwähnt, der Bildausdeutungen und Semantisierungen mittels zeitgenössischer Quellen (Ikonographie) mit Erkenntnissen der Psychologie (Wahrnehmungslehre und Gestalttheorie) zu verbinden wusste.39 Dabei ging er von der These aus, dass Gebärden in Bildern zumeist im Ritual vorgeformt seien, so dass Kunst und Ritual nicht Wirklichkeit, sondern gesellschaftliche Schemata nachbildeten.40 Die von Gombrich verfolgte Kunstgeschichte der Gebärden in Kombination mit anderen Leitwissenschaften wie Psychologie oder Soziologie und Wissenschaftstheorien, etwa Semiotik und Strukturalismus, nahmen auch andere Gelehrte auf, wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen und Verfahrensweisen. Zu den herauszustellenden Autoren zählen vor allem Michel Baxandall, Max Imdahl, André Chastel, Moshe Barasch und Wolfgang Kemp.41 38

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Erwin Panofsky, „Ikonographie und Ikonologie [1955]“, in: ders., Ikonographie und Ikonologie (wie Anm. 37), S. 33–36; vgl. Adolf Max Vogt, „Panofskys Hut“, in: Architektur und Sprache: Gedenkschrift für Richard Zürcher, hg. v. Carlpeter Braegger, München 1982, S. 279–296. Ernst H. Gombrich, „Verhaltensritual und Ausdrucksgebärde in der Kunst“, in: ders., Bild und Auge: neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart 1984 [1982], S. 63–77; Richard Woodfield, Gombrich on Art and Psychology, Manchester und New York 1996; Omar Calabrese, „Semiotic aspects of art history“ (wie Anm. 37), S. 3217. Gombrich, „Verhaltensritual und Ausdrucksgebärde“ (wie Anm. 39), S. 69. Michel Baxandall, Giotto and the Orators: Humanist Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition 1350–1450, Oxford 1971 (Oxford-

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Bei einem ersten, flüchtigen Überblick der hier ausgewählten Publikationstitel bemerkt man, dass diese Autoren offensichtlich eine gewisse Vorliebe für die Kunst Giottos miteinander teilen. Zwar stellen sie recht unterschiedliche Fragen an dessen Werk, doch ist alleine die Tatsache, dass sie sich gerade mit diesem Künstler auseinandersetzen, für unsere Thematik signifikant. Giottos Name und sein Œuvre werden – beginnend mit der Rezeption durch Alberti und Vasari – als Inkunabeln einer abendländischen Erneuerung gerühmt. Seine Bilder waren in neuer Weise sprechend geworden, da in ihnen naturalistische Körper, Gesten und Bewegungen – basierend auf Theorien und Mustern der antiken Rhetorik und Affektlehre – künstliche Verlebendigung im Sinne künstlerischer Gestaltung erfuhren.42 Seitdem wird Giotto in der Kunstgeschichte als Begründer einer neuen, auf der Antike beruhenden abendländischen Kunst der Gesten und der Gebärden untersucht und gefeiert. Dass sich Kultur- und Kunstwissenschaftler der Epoche der Frühen Neuzeit und den in dieser Zeit verwendeten Gesten und Gebärden in besonderer Weise zuwandten, lässt sich unter anderem aus dem spezifischen geistesgeschichtlichen Kontext erklären.43 Humanisten und Warburg Studies); Max Imdahl, Giotto: Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, 60); André Chastel, „Gesture in Painting: Problems in Semiology“, in: The Language of Gesture in the Renaissance, hg. v. Konrad Eisenbilcher und Philip Sohm, Toronto 1986, S. 1–22; Moshe Barasch, Giotto and the Language of Gesture, Cambridge und New York 1987; Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler: Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996. 42 Leon Battista Alberti, „De Pictura / Die Mahlkunst [1435/1436]“, in: ders., Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, S. 272 f. Giorgio Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567, übers. von Ludwig Schorn und Ernst Förster, hg. v. Julian Kliemann, Worms 1983, Bd. 1, S. 132–173; Willibald Sauerländer, „Von Wiligelmo zu Giotto. Mediävistische Aphorismen zum Thema Frankreich und Italien“, in: Il se rendit en Italie: Etudes offertes à André Chastel, Rom 1987, S. 5–13 [10]; Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1996, Bd. 3, Sp. 972–989 [985, „Gestik“]; Peter Krüger, „‚Istoria‘ und ‚Virtus‘ bei Alberti und in der Malerei der frühen Renaissance“, in: Tugenden und Affekte in der Philosophie, Literatur und Kunst der Renaissance, Münster 2002, S. 195–219 [203–207 und 212–214]. 43 Michel Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder: Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1977 [1972], S. 73–88; Lorenz Dittmann, „Kunstwissenschaft und Phänomenologie des Leibes“, in: Aachener Kunstblätter 44 (1973),

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Künstler setzten sich intensiv – jeweils in ihren Medien, in Büchern und Bildern – mit Hieroglyphik und Rhetorik, das heißt mit der Bildlichkeit von Sprache, der Evidenz von Sprach-, Gesten- und Körperbildern auseinander, woraus dann, quasi als Synthese von Wort und Bild, die Gattung des Emblems hervorging.44 Erst mit der Aufklärung wurden diese Bild- und Zeichentraditionen hinterfragt und durch eine sich verstärkende Allegoriekritik entwertet und innergesellschaftlich außer Kraft gesetzt.45 Genauso wie die Emblematik im 18. Jahrhundert unterging, schwand zur selben Zeit auch die Bedeutung des Zeremoniells. Zur Vorgeschichte: Päpste und Bischöfe veranlassten ab dem Hochmittelalter die Aufzeichnung von kirchlichen Zeremonien, um kirchliche Riten und Messen einheitlich zu regeln. Damit begann die explizite KodifiS. 287–316; Wolfgang Kemp, „Die Beredsamkeit des Leibes“, in: Städel-Jahrbuch N. F. 5 (1975), S. 111–134; André Chastel, „Gesture in painting“ (wie Anm. 41); André Chastel, „L’art du geste à la renaissance“, in: Revue de l’Art 75 (1987), S. 9– 16; Martin Warnke, „Goyas Gesten [1987]“, in: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie, hg. v. Michael Diers, Köln 1997, S. 200–234; Peter Burke, „Die Sprache der Gestik im Italien der Frühen Neuzeit“, in: ders., Eleganz und Haltung, Berlin 1997, S. 85–106; Die Sprache der Zeichen und Bilder: Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit, hg. v. Volker Kapp, Marburg 1990 (Ars rhetorica, 1); André Chastel, Le Geste dans l’art, Paris 2001; Vilém Flusser, Gesten: Versuch einer Phänomenologie, Bensheim 2 1993; A Cultural History of Gesture: from Antiquity to the Present Day, hg. v. Jan Bremmer und Herman Roodenburg, Cambridge 1994; Die Beredsamkeit des Leibes: zur Körpersprache in der Kunst, hg. v. Ilsebill Barta Fliedel u. a., Wien 1992; Gestik: Figuren des Körpers in Text und Bild, hg. v. Margreth Egidi u. a., Tübingen 2000; Ulrich Rehm, Stumme Sprache der Bilder: Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung, München und Berlin 2002; Marcus Mrass, Gesten und Gebärden: Begriffsbestimmung und -verwendung in Hinblick auf kunsthistorische Untersuchungen, Regensburg 2005; Klaas Huizing, Handfestes Christentum: Eine kleine Kunstgeschichte christlicher Gesten, Gütersloh 2007. 44 Rudolf Wittkower, „Hieroglyphen in der Frührenaissance“, in: ders., Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln 1984, S. 218–245; Daniel Russell, Emblematic Structures in Renaissance French Culture, Toronto u. a. 1995, S. 89–109; John Manning, The Emblem, London 2002, S. 80–109; Dorigen Sophie Caldwell, The Sixteenth-Century Italian Impresa in Theory and Practice, New York 2004 (AMS Studies in the Emblem, 17). 45 Hans Körner, „Die Sprachen der Künste, Die Hieroglyphe als Denkmodell in den kunsttheoretischen Schriften Diderots“, in: Text und Bild, Bild und Text, hg. v. Wolfgang Harms, Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien Berichtsbände, 11), S. 385–398.

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zierung von Gesten, Gebärden und Zeichen in mittelalterlichen Textquellen. Zentren mit Leitbildfunktion waren insbesondere der päpstliche Hof von Avignon im 14. Jahrhundert und die burgundischen sowie französischen Höfe des 15. Jahrhunderts. Sie wurden zum Vorbild für die nordalpine Feudalkultur Mitteleuropas der Folgezeit, für höfische Feste, Einzüge und Empfänge.46 Jedoch kam es an den Höfen des Spätmittelalters nur partiell und auch in der Frühen Neuzeit nur im Zusammenhang mit wichtigen Ereignissen zu Aufzeichnung von fürstlichen Riten und Zeremonien. Die höfische Welt war weitgehend auf den jeweiligen Regenten bezogen und stand zugleich in den jeweiligen dynastischen Traditionen, so dass sich die europäischen Höfe in ihren Gebräuchen voneinander stark unterschieden. Für Außenstehende – auch wenn sie von adliger Geburt und hohen Standes waren –, die nicht zum Hof selber gehörten, blieben diese Zentren der Macht arkan. Einen ersten Schritt hin zu Transparenz und Öffentlichkeit stellte die Systematisierungsleistung dar, welche Sammlungen und Beschreibungen höfisch-zeremonieller Anlässe boten, die von Autoren der „Zeremonialwissenschaft“ gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhun46

Zu Avignon s. Architecture et vie sociale a la Renaissance: L’Organisation intérieure des grandes demeures à la fin du Moyen Âge et à la Renaissance, Paris 1994; Gottfried Kerscher, Architektur als Repräsentation: Spätmittelalterliche Palastbaukunst zwischen Pracht und zeremoniellen Voraussetzungen, Avignon, Mallorca, Kichenstaat, Tübingen und Berlin 2000, S. 174–185 und 511–516. Zu den französischen und burgundischen Höfen s. insbesondere: Krista De Jonge, „Der herzogliche und kaiserliche Palast zu Brüssel und die Entwicklung des höfischen Zeremoniells im 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 5/6 (1989/1990), S. 253–282; dies., „Hofordnungen als Quellen der Residenzforschungen? Adlige und herzogliche Residenzen in den südlichen Niederlanden in der Burgunderzeit“, in: Höfe und Hofordnungen 1200–1600, hg. v. Werner Paravicini und Holger Kruse, Sigmaringen 1999 (Residenzenforschung, 10), S. 175–220; Simona Slaniˇcka, Krieg der Zeichen: Die visuelle Politik Johanns ohne Furcht und der armagnakisch-burgundische Bürgerkrieg, Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte, 182), und Klaus Oschema, Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution, Köln, Weimar und Wien 2006 (Norm und Struktur, 26); vgl. im Überblick auch ders., „Repräsentation im spätmittelalterlichen Burgund. Experimentierfeld, Modell, Vollendung?“, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), S. 71–99. Weitere Einsichten in die umstrittene Modellfunktion Burgunds sind zu erwarten von den Beiträgen des Kolloquiums „La cour de Bourgogne et l’Europe“, das im Oktober 2007 am Deutschen Historischen Institut in Paris stattfand.

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derts publiziert wurden.47 In den Kulturwissenschaften wurde derartiges Quellenmaterial zunächst für die Frühe Neuzeit herangezogen, um historische Funktionskontexte und Handlungsräume in ihren symbolischen und semantischen Bedeutungen zu rekonstruieren.48 Auch für das Mittelalter versuchte man, in Analogie zur Frühneuzeitforschung, entsprechendes Quellenmaterial zu erschließen, um Lebenszusammenhänge besser interpretieren, Repräsentations- und Zeremonialfragen besser beantworten zu können.49 Von grundlegender Bedeutung waren hier Quellen des oströmischen Reiches, die durch die Byzantinistik erforscht wurden.50 Im Kontext der Residenzforschungen – ausgelöst durch Norbert Elias’ Publikationen ‚Über den Prozeß der Zivilisation‘ (1939) und ‚Die Höfische Gesellschaft‘ (1969)51 – wurde zunehmend auch die höfische Kultur des Spätmittelalters hinsichtlich der Fragen 47

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Gottfried Stieve, Europäisches Hoff-Ceremoniel, Leipzig 1715; Johann Christian Lüning, Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, oder Historisch- und Politischer Schau-Platz aller Ceremonien. 2 Bde., Leipzig 1719–20; Julius Bernhard Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privat-Personen, Berlin 1728 [3 1733, ND Leipzig 1990]; Friedrich Carl Moser, Kleine Schriften zur Erläuterung des Staats- und Völker-Rechts wie auch des Hof- und Canzley-Ceremoniells. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1751. Samuel John Klingensmith, The Utility of Splendor: Ceremony, Social Life, and Architecture at the Court of Bavaria, Chicago und London 1993; Körper-Geschichten, Studien zur historischen Kulturforschung, hg. v. Richard van Dülmen, Frankfurt a. M. 1996 (Studien zur historischen Kulturforschung, 5); Gestik, hg. v. Egidi (wie Anm. 43); Henriette Graf, Die Residenz in München: Hofzeremoniell, Innenräume und Möblierung von Kurfürst Maximilian I. bis Kaiser Karl VII., München 2002; Pracht und Zeremoniell: Die Möbel der Residenz München, hg. v. Brigitte Langer, mit Beiträgen von Edgar Bierende u. a., München 2002; Zeichen und Raum: Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit, hg. v. Rudolstädter Arbeitskreis zur Residenzkultur, München 2006 (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur, 3); Gabriela Signori, Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2005. Horst Wenzel, „Schrift und Bild: Zur Repräsentation der audiovisuellen Wahrnehmung im Mittelalter“, in: ders., Höfische Repräsentation, Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 182–204. Visualisierung von Herrschaft: frühmittelalterliche Residenzen, Gestalt und Zeremoniell, hg. v. Franz Alto Bauer, Istanbul 2006. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1997 [1939], und ders., Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 8 1997 [1969].

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des Zeremoniells aufgearbeitet, wobei die Analyse von Realien und Bildund Textquellen Hand in Hand ging.52 Damit wurde in der Kultur- und Kunstgeschichte ein umfassender Forschungsprozeß in Gang gesetzt, dessen Ende nicht abzusehen ist.53

Die Relevanz des Ursprungs: Religionswissenschaft und Ritualforschung heute Die Relevanz der Religionswissenschaft für die Ritualforschung scheint zunächst evident, gehören religiöse Rituale doch zu den Gegenständen, durch deren Erforschung sie sich im 19. Jahrhundert als eigenständiges Fach etabliert hat. Das Wort Ritual entstammt religiöser Begrifflichkeit und ist bis heute im allgemeinen Sprachgebrauch weiterhin religiös konnotiert. Auch die frühen komparatistischen Ritualbegriffe sind aus Situationen der interreligiösen Begegnung erwachsen, bevor sie von der religionswissenschaftlichen und ethnologischen Forschung aufgegriffen wurden, innerhalb deren sie bis in die 1960er Jahre ihre exklusiv religiöse Bedeutung behielten.54 Gegen Ende dieses Jahrzehnts erlebte 52

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Uwe Albrecht, Der Adelssitz im Mittelalter: Studien zum Verhältnis von Architektur und Lebensform in Nord- und Westeuropa, München und Berlin 1995; Stephan Hoppe, Die funktionale und räumliche Struktur des frühen Schloßbaues in Mitteleuropa: Untersucht an Beispielen landesherrlicher Bauten der Zeit zwischen 1470 und 1570, Köln 1996; Dagmar Eichberger, Leben mit Kunst – Wirken durch Kunst, Sammelwesen und Hofkunst unter Margarete von Österreich, Regentin der Niederlande, Turnhout 2002 (Burgundica, 5). August Nitschke, Bewegungen in Mittelalter und Renaissance: Kämpfe, Spiele, Tänze, Zeremoniell und Umgangsformen, Düsseldorf 1987 (Historisches Seminar, 2); ders., Körper in Bewegung: Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte, Zürich 1989; Höfische Repräsentation: das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda Ragotzky und Horst Wenzel, Tübingen 1990; Mary Whitekey, „Royal and ducal palaces in France in the fourteenth and fifteenth centuries: interior, ceremony and function“, in: Architecture et vie sociale: L’organisation interieure des grandes demeures à la fin du Moyen Âge et à la Renaissance, Paris 1994 (De Architectura, 6), S. 47–63; Principes: Dynastien und Höfe im späten Mittelalter, hg. v. Cordula Nolte, Karl-Heinz Spieß und Ralf-Gunnar Werlich, Stuttgart 2002 (Residenzenforschung, 14); Thomas Dittelbach, Rex Imago Christi: der Dom von Monreale – Bildsprache und Zeremoniell in Mosaikkunst und Architektur, Wiesbaden 2003; Signori, Räume (wie Anm. 48); Hofkultur in Frankreich und Europa im Spätmittelalter, hg. v. Christian Freigang u. a., Berlin 2005. Vgl. Jan G. Platvotet, „Ritual as War. On the Need to De-Westernize the Concept“, in: The Dynamics of Changing Rituals. The Transformation of Religious Rituals wi-

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der Ritualbegriff eine Karriere, die ihn – vor allem durch soziologische Arbeiten wie die Erving Goffmans – zu einer Beschreibungskategorie alltäglicher sozialer Interaktionen erweiterte.55 Die Ablösung des Ritualbegriffs von seiner religiösen Semantik prägt heute die einschlägigen Forschungen, was Andréa Bellinger und David J. Krieger mit folgenden einleitenden Worten zu ihrem Reader über die Ritualtheorien der Gegenwart schildern: Vergleicht man heutige Ritualtheorien mit jenen an den Anfängen der Ritualforschung vor nicht mehr als hundert Jahren, fällt auf, wie wenig gegenwärtige Theorien über das Ritual mit Religion zu tun haben. Das Wort „Religion“ kommt zwar in heutigen Untersuchungen noch immer vor, spezifische Riten aber und das Ritual im allgemeinen werden kaum mehr als ausschließlich religiöse Phänomene betrachtet. Bedeutete „Ritual“ ursprünglich „Gottesdienst“ oder die schriftlichen Anweisungen dazu, so wird der Ritualbegriff seit der Jahrhundertwende auf symbolische Handlungen ganz allgemein angewandt.56

Diese Worte werden nicht zuletzt durch den vorliegenden Sammelband bestätigt, von dessen 14 Beiträgen sich vier (von Arx, Bruggisser-Lanker, Kotte, Schlieter) auf religionswissenschaftlich relevantes Material beziehen. Dies liegt genau im Trend der seit den späten 1970er Jahren unter der Bezeichnung „Ritual Studies“57 firmierenden Ritualforschung, die heute stark interdisziplinär ausgerichtet ist. Dieses Forschungsfeld wird zwar noch immer zu einem großen Teil von religionswissenschaftlichen

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thin Their Social and Cultural Context, hg. v. Jens Kreinath, Constance Hartung und Annette Deschner, New York u. a. 2004 (Toronto Studies in Religion, 29), S. 243–266 [252–255]. Vgl. Erving Goffmann, Wir alle spielen Theater, Frankfurt a. M. 1997. Auch wenn Goffman den Ritualbegriff über religiöse Deutungsrahmen hinaus in die Sphäre des alltäglichen face-to-face behaviour ausweitet, rekurriert er dennoch in gewissen Teilen seiner Theorie auf die Durkheim’sche Unterscheidung zwischen sakral und profan. Andréa Belliger und David J. Krieger, „Einführung“, in: Ritualtheorien (wie Anm. 23), S. 7–34 [7]. Zur Entstehungsgeschichte der „Ritual Studies“ knapp Michael Stausberg, „Ritualtheorien und Religionstheorien. Religionswissenschaftliche Perspektiven“, in: Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, hg. v. Dietrich Harth und Gerrit Jasper Schenk, Heidelberg 2004, S. 29– 48 [29 f.] und ausführlich Bellinger und Krieger, „Einführung“ (wie Anm. 23).

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Publikationen bestimmt,58 der Religionswissenschaft kommt allerdings nicht (mehr) eine dominierende, sondern lediglich eine partizipierende Rolle zu. Es ist weiterhin schwierig, der Religionswissenschaft eine spezifische Aufgabe in der Ritualforschung zuweisen zu wollen oder eine methodische Annäherung an dieses Thema als dezidiert religionswissenschaftlich zu bezeichnen. Dies liegt hauptsächlich an der semantischen Unbestimmtheit des erweiterten Ritualbegriffs und der damit verbundenen Frage, inwiefern eine Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Ritualen überhaupt getroffen werden kann.59 Das Problem der Bedeutung von Ritualen zieht sich seit ihren Anfängen durch die Geschichte der Ritualforschung. Vor allem für die ältere Forschung verweisen Rituale auf Bedeutungen, die außerhalb der rituellen Handlungen selbst verortet werden: Bezug auf die den Ritualen (angeblich) zugrunde liegenden Mythen („Myth-and-Ritual School“), Bedürfnisse nach Schaffung sozialer Kohäsion (Durkheim), Transformation sozialer Realitäten (van Gennep/Turner), ordnungserhaltende Reproduktion soziokultureller Werte, Schaffung kollektiver Identität, Machtlegitimation, Überwindung kollektiver oder zyklischer Krisen usw. Entgegen dieser Auffassung vertritt Frits Staal die Ansicht, dass es in Ritualen um reine Aktivität („pure activity“) gehe, die zwar nach expliziten syntaktischen Regeln verlaufe, jedoch weder Bedeutung trage noch einen Zweck verfolge oder eine Funktion außerhalb ihrer selbst erfülle.60 Dieser Scheidung von Handlungs- und semantischer Ebene folgt Axel Michaels, der jedoch den Ritualbegriff andererseits wieder vom Rekurs auf religiöse Deutungsmuster – dem Transzendenzbezug als modalem Handlungskriterium – abhängig macht, um Rituale von verwandten sozialen Handlungen wie Zeremonien, Routinen, Bräuchen 58

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Einen Überblick über die einschlägigen theoretischen Arbeiten bis 2005 gibt Theorizing Rituals. Annotated Bibliography of Ritual Theory, 1966–2005, hg. v. Jens Kreinath, Jan Snoek und Michael Stausberg, Leiden und Boston 2007 (Studies in the History of Religions, 144,2). Vgl. auch Bell, Ritual. Perspectives and Dimensions (wie Anm. 24), S. 164: „However, the examples of ritual-like activity suggest that what goes on in ritual is not unique to religious institutions or traditions. There are many ways to act ritually and many situations in which people have recourse to these ways, and degrees of ritualizing. The survey of genres and ways of acting demonstrates that there is no intrinsic or universal understanding of what constitutes ritual.“ Frits Staal, „The Meaninglessness of Ritual“, in: Numen 26 (1979), S. 2–22 [9].

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usw. abzugrenzen.61 Dennoch stellt das Prinzip der exogenen Zuweisung von Bedeutung eine der Leithypothesen seines Konzeptes der Ritualdynamik dar: Wenn Rituale beibehalten werden, obwohl sich die Religion ändert, kann der Sinn von Ritualen nicht in diesen selbst liegen, sondern wird ihnen diskursiv zugeschrieben. Michaels steht als Leiter des Heidelberger Sonderforschungsbereichs „Ritualdynamik“ (SFB 619) dem derzeit wohl größten interdisziplinären Unternehmen der Ritualforschung im deutschsprachigen Raum vor. Leitfrage des SFB 619 ist die Erforschung, „wie Rituale entstehen, sich verwandeln und auflösen, wer sie wann und zu welchem Zweck erfindet und wie sich das Verhältnis von Ritual und Ritual-Kritik gestaltet“.62 So begrüßenswert die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Ritualforschung auch ist, so inkompatibel sind jedoch auch die vorgeschlagenen methodischen Ansätze. So beklagt Ronald Grimes, dass bei aller Theoretisierung ein Mangel an Kollaboration und begrifflichen Konventionen vorherrsche.63 Selbst eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Ritual, Ritus, Kult, Zeremonie und Geste hat sich bis heute nicht allgemein etabliert.64 Ein Ansatz zur Schaffung einer systematischen Nomenklatur wurde von Melford Elliot Spiro vorgeschlagen.65 Nach seiner Konzeption sollen alle Formen rituellen Handelns als ‚Rituale‘ bezeichnet werden. Als Klassenbegriff zerfalle das Ritual nach linguistischem Muster in kleinste Sinneinheiten, die er als ‚Riten‘ bezeichnet, und syntaktischen Komplexen höherer Ordnungen. Die nächst höheren Sinneinheiten, zu denen sich Riten zusammensetzen, 61

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Axel Michaels, „‚Le rituel pour le rituel‘ oder wie sinnlos sind Rituale?“, in: Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe, hg. v. Corina Caduff und Joanna Pfaff-Czarnecka, Berlin 1999, S. 23–47. Dietrich Harth und Axel Michaels, Grundlagen des SFB 619. Ritualdynamik – Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive, http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/4581 [2004]. Ronald L. Grimes, „Ritual“, in: Guide to the Study of Religion, hg. v. Willy Braun und Russel T. McCutcheon, London und New York 2000, S. 259–270 [264]. Nicht viel anders ist die Begriffsunsicherheit im anglo-amerikanischen Sprachraum, vgl. Grimes, „Ritual“ (wie Anm. 63), S. 259. Melford Elliot Spiro, Buddhism and Society. A Great Tradition and its Burmese Vicissitudes, New York 1972. Weitere Versuche einer klareren Begriffsbildung s. Grimes, „Ritual“ (wie Anm. 63), S. 259 ff. Zur Unzulänglichkeit rein genealogisch orientierter Begriffsbestimmungen wie z. B. der von Talal Asad, Genealogies of Religion. Discipline and Power in Christianity and Islam, Baltimore und London 1993, S. 55–79, s. Stausberg, „Ritualtheorien“ (wie Anm. 57), S. 31 f.

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wären ‚Zeremonien‘, die sich zu einem bei einem bestimmten Anlass aufgeführten ‚Zeremoniell‘ fügen.66 Jedes Ritual ist Teil eines religionsbzw. kulturspezifischen Repertoires, für das Spiro den Begriff ‚Kult‘ ansetzen will. Abgesehen von dem im Deutschen gelegentlich pejorativ besetzten Begriff des Kultes ist die von Spiro vorgeschlagene Regelung vom deutschen Sprachgebrauch her betrachtet durchaus nicht kontraintuitiv und spiegelt sich im Titel dieses Bandes wider (die Geste wäre demnach als eine besondere Art des Ritus anzusprechen). Jedoch ist nicht abzusehen, dass sich eine präzisere Begrifflichkeit gegen die im Deutschen seit dem 18. Jahrhundert anhaltende Tendenz zur synonymen Verwendung von Ritus und Ritual durchsetzen wird.67 Obwohl bereits William R. Smith das Ritual als vergleichsweise invariabel bleibenden „Grundpfeiler“ der historischen Entwicklung einer Religion gegenüber den beliefs betonte,68 neigte die Religionswissenschaft lange dazu, rituelle Aspekte zugunsten der kognitiven Dimensionen von Religionen zu vernachlässigen. Dem steht heute ein in gewisser Weise umgekehrter Trend gegenüber, in dem kognitive Inhalte der Religionen gegenüber handlungstheoretischen, soziologischen und ästhetischen Fragestellungen mehr und mehr an Gewicht zu verlieren scheinen.

Zu den Beiträgen des vorliegenden Bandes Vor den skizzierten Differenzen und Eigenheiten im Zugang zu Riten, Gesten und Zeremonien, die zum Teil auf disziplinären Traditionen beruhen, zum Teil aber auch Resultat einer expliziten methodischen Positionierung innerhalb dieses umstrittenen Feldes sind, sollen die ersten vier Beiträge unseres Bandes gewissermaßen am Gegenstand in die methodische Spannbreite der Thematik einführen. Aus kunsthis66

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Eine Bestimmung des Rituals als eine aus Riten („rites“) bestehende syntaktische Fügung hatte bereits Staal, „Meaninglessness“ (wie Anm. 60), S. 17, vorgenommen. Die Synonymie im deutschen Sprachgebrauch spiegelt sich auch im entsprechenden Artikel des deutschen Standardnachschlagewerks der religionswissenschaftlichen Systematik: Bernhard Lang, „Ritual/Ritus“, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4, hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Karl-Heinz Kohl, Stuttgart, Berlin und Köln 1993, S. 442–458. William Robertson Smith, Lectures on the Religion of the Semites, London 1997 (The Early Sociology of Religion, 6).

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torischer Sicht, aber mit bewusster Bezugnahme auf die soziologischanthropologisch ausgerichteten Forschungen David Efrons untersucht zu Beginn Axel Gampp (Antikendämmerung) das Fortleben gestueller Konventionen der römisch-antiken Rhetorik in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters. Durch die Unterscheidung rhythmisierender, hinweisender, malerischer und ideographischer Gesten kann er am Beispiel der illustrierten Terenz-Handschriften vorführen, wie sich mit dem Verlust des Wissens um die Kunst der Rhetorik auch die Formensprache der an sich stets kopierten Abbildungen in den untersuchten Manuskripten verändert. Im Überblick ergibt sich damit die Geschichte einer formellen Verarmung im künstlerischen Medium der Buchillustration, wenngleich dies noch kein weiterreichendes Urteil über die gesamte hier angesprochene Kultur erlaubt. Andreas Kotte stellt mit seinem Beitrag aus der Sicht des Theaterwissenschaftlers die Grundlagen zur Beschreibung und Interpretation von szenischen Handlungen des Mittelalters unter Berücksichtung philosophischer (Nietzsche) und semiotischer Positionen (Trabant) bereit. Dabei geht es ihm zentral um die graduelle Unterscheidung von szenischen Handlungen, um eine methodische Ebene zu erlangen, die die wissenschaftliche Analyse dieser komplexen Phänomene ermöglicht. Hierfür differenziert er in einem ersten Schritt zwischen einfachen Handlungen bzw. „Kernhandlungen“ (Gesten) und prozesshaften „Handlungskomplexen“ (Riten, Zeremonien, Theater). In einem zweiten Schritt untersucht er sodann die vielfältigen Formen der Gesten, die sich auf einer typologischen Ebene in drei Gruppen unterteilen lassen: „Zeigehandlungen“, „Ritualia“ und „Magica“. Diese Drei sind für ihn die „Grundbausteine“, aus denen sich komplexe Handlungsgefüge zusammensetzen, die man gemein hin mit den Begriffen von Ritual, Zeremonie und Theater bezeichnet. Klaus Oschema (Das Motiv der Blutsbrüderschaft) widmet sich am Beispiel des „Blutspaktes“ kritisch den methodischen Unsicherheiten, die mit der Analyse von Ritualen verbunden sein können – insbesondere, wenn uns diese in zumeist polemischen Kontexten in der Historiographie und der Literatur überliefert werden. Ihm zufolge ist die Blutsbrüderschaft vorrangig als „imaginäres Motiv“ zu verstehen. Im Gegensatz zur älteren Forschung, die vormoderne Gesellschaften gerne als „primitiv“ qualifizierte und Berichte von archaischen Verhaltens-

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mustern zuweilen unkritisch als Belege für deren Rückständigkeit las, schlägt Oschema vor, Verweise auf Blutsbrüderschaften in Abhängigkeit von den jeweiligen narrativen Strategien der Autoren zu interpretieren. In letzter Konsequenz lässt sich damit aufgrund unserer Textquellen keine Sicherheit über die Existenz der geschilderten Rituale in der sozialen Realität erreichen. Was hier anhand eines stark polemisch aufgeladenen Beispiels diskutiert wird, sollte uns auch in weiteren Zusammenhängen zur Vorsicht mahnen. Unterstützt wird diese zurückhaltende Position auch durch die Abwesenheit bildlicher Quellen zum von Oschema analysierten Motiv. In diesem Sinne möchte daher Marie Aschehoug-Clauteaux („Ich halte Dich am Bart“) in ihrer Interpretation einer der wenigen Illustrationen eines möglichen „Blutspaktes“ nicht mit letzter Konsequenz entscheiden, mit was für einem Ritual wir es eigentlich zu tun haben: Die von ihr untersuchte Buchmalerei des 12. Jahrhunderts, über deren Entstehungskontext so gut wie nichts bekannt ist, könnte eine Blutsbrüderschaft zeigen, die den Zeitgenossen als Akt der Versöhnung deutbar gewesen sein mag. Ebenso wäre denkbar, dass es sich um ein anders ausgerichtetes Versöhnungsritual handelt oder sogar über die emblematische Darstellung einer Feindschaft, womit hier überhaupt kein rituelles Handeln mehr im Bild gefasst wäre. Der religiöse Kontext der Handschrift, der Aschehoug-Clauteaux ihr Bildbeispiel entnimmt, leitet über zu einem zweiten Themenblock, der unter dem Stichwort der „Liturgie“ gefasst wird. Unmittelbar in das Zentrum der christlichen rituellen Praxis stößt Urs von Arx (Die Liturgie der Osternacht) vor, der die rituelle Ausgestaltung der Osternachtfeier analysiert, wobei die spätantike Praxis mit den Wandlungen hin zum frühen Mittelalter einen zeitlichen Schwerpunkt bildet. In einem zweiten Abschnitt widmet sich von Arx den einzelnen rituellen Bestandteilen dieses zentralen christlichen Festes, unter denen insbesondere die Funktion und Symbolik des Lichtes eine bedeutende Rolle einnimmt. Von Arx erinnert uns damit an die konkrete Verortung des Ritus in Zeit und Raum, bei der die naturhaften Parameter des Tageslichts und der nächtlichen Finsternis einen essentiellen Beitrag zur symbolischen Ausdeutung des Ostergeschehens leisten. Wurde der Gottesdienst bei Tageslicht gefeiert, so geriet unausweichlich der liminale Aspekt des Auferstehungsmoments in den Hintergrund. Er wurde daher ergänzt

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oder ersetzt durch andere Formen der dramaturgischen Ausgestaltung, die stärker objektgebunden waren und weniger markant den Charakter des diskontinuierlichen Übergangs (transitus) umsetzten. Dem zeitlichen Brückenschlag des Autors gemäß scheint in unserer Gegenwart ein erneuertes Interesse an der älteren, mit den Naturphänomenen spielenden Form der Osterfeier zu bestehen. Der Kunsthistoriker Thomas Richter untersucht an konkreten Kunstwerken und Reliquien den Ritus des Friedenskusses im Kontext der Heiligen Messe im Mittelalter. Im Zentrum seiner Untersuchung steht dabei die typologische Werkgruppe der Instrumenta pacis. Um die Frage der Funktion dieser religiösen Geräte bei Laien und Klerikern zu beantworten, zieht er schriftliche Quellen – beginnend mit solchen des frühen Christentums bis zum Spätmittelalter – heran. Aber erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts wird die Quellenlage und Objektdichte dieser Kunstwerke so groß, dass sich unterschiedliche Typen – je nach Material und Form – unterscheiden lassen. Richter kann aufgrund seiner Differenzierung der Formen der Instrumenta pacis eine jeweils nach Regionen und Ländern spezifische Präferenz ausmachen. In Hinblick auf die mit den Instrumenta pacis verbundene Ikonographie lässt sich eine Dominanz von passions- und marialogischen Themen ausmachen. Dies verweist auf den liturgischen Gebrauch dieser Werke in der Eucharistie, die der bildhaften Vergegenwärtigung Christi (imago pietatis, vera icon) und der Vermittlung durch Maria (sponsus-sponsa-Thematik) dienten. Ein Ausblick zur weiteren Nutzung der Instrumenta pacis am Ende des Beitrages von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert schließt diesen Beitrag ab. Den Schritt in die Ostkirche und zugleich hin zur Symbolik architektonischer Strukturen vollzieht Barbara Schellewald (Vom Unsichtbaren zum Sichtbaren). Ausgehend von den zeremoniellen Vorschriften illustrierter byzantinischer Schriftrollen mit liturgischen Vorgaben rekonstruiert sie die räumliche Anlage des liturgischen Geschehens in der bildlichen Wiedergabe. Weit mehr als reine Illustrationen bildeten die Bilder einen Kommentar zur symbolischen Dimension des liturgischen Handelns. Von zentraler Bedeutung wurden sie schließlich aufgrund eines Wandels in der Praxis der eucharistischen Feier: Während das Laienpublikum immer mehr vom eigentlichen Geschehen der Messe ausgeschlossen wurde, rückten die Bildprogramme des sakralen Raums in

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die Rolle eines Behelfsmediums ein, in dem der Kultakt zumindest gespiegelt wieder aufschien. So wie die Liturgie selbst Abbildcharakter für das eigentliche sakrale Geschehen hatte, so reagierten die Bildprogramme im Kirchenraum beinahe schon im Sinne einer rituellen Interaktion auf das Geschehen, das sich in ihnen abspielte. Im einzigen über die europäische Kulturgeschichte hinausreichenden Beitrag dieses Bandes untersucht Jens Schlieter die Symbolik tibetischer Maskentänze (’cham). Im Fokus steht die Erdolchung einer anthropomorphen Teigpuppe, die einen Kulminationspunkt dieser Veranstaltungen darstellt. In tibetisch-buddhistischer Deutung wird dieser Akt mit dem tantrischen Konzept der „Befreiung durch Tötung“ verbunden, das, obgleich in der tibetischen Kultur ambivalent beurteilt, den semantischen Kontext zahlreicher religiöser Narrationen und ritueller Handlungen bildet. Schlieter führt uns in die komplexe Struktur und Symbolik des tibetischen Maskentanzes ein und stellt autochthone Deutungen des inszenierten Tötungsaktes den – häufig von Missverständnissen geprägten – Beschreibungen europäischer Beobachter gegenüber. Er selbst schlägt drei religionswissenschaftliche Deutungsmöglichkeiten vor, indem er die theoretischen Entwürfe zur religiösen Gewalt von René Girard und Walter Burkert sowie die Opfertheorie von Henri Hubert und Marcel Mauss fruchtbar macht. Dem Hauptteil seines Beitrags vorangehend stellt Schlieter die Übertragbarkeit des Mittelalterbegriffs auf außereuropäische Kulturen zur Diskussion. Nach diesem vergleichenden Ausblick in den asiatischen Raum konzentrieren sich die folgenden beiden Beiträge auf die Domäne des Rechts. Ulrich Rehm (Körperstrafen) begibt sich dabei auf die Spur der bildlichen Umsetzung gegen den Körper gerichteter Schandrituale. Gewalt und Brutalität mögen zwar insgesamt zahlreiche bildliche Spuren hinterlassen haben; juristische Strafrituale wurden aber wohl – so Rehms Befund – erstaunlich selten figurativ umgesetzt. Am Beispiel der Bildtradition der Höllenstrafen, die insbesondere Gott als Richter inszenierten, und der Darstellungen in der sog. Kreuzritterbibel Ludwigs des Heiligen, kann er dennoch vorführen, wie ritualisierte Formen der Gewaltanwendung und das Imaginarium der ungeregelten Brutalität divergierten. Die Interpretation aus dem alleinstehenden Bild heraus erweist sich dabei als ungenügend, da die Deutung von Gewalt sich zwischen extre-

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men Polen bewegt, die nur in der seriellen Analyse klar werden: von der schandhaften Strafe bis hin zum seligmachenden Martyrium. Ausgehend vom Mittelalter bis in die Zeit der Aufklärung befasst sich der Historiker André Holenstein aus kulturhistorischer Perspektive mit der Praxis des Eides als Ritual der Versicherung. Dabei geht er zunächst vom juristischen Kontext der Gerichte aus, wo der Eid als Mittel zur Wahrheitsfindung eingesetzt wurde (Reinigungs- oder Purgationseid). Doch nicht nur in diesem Zusammenhang war das Ritual des Schwörens gebräuchlich, sondern auch zur Legitimierung und Stabilisierung von Herrschaft, indem etwa Vasallen dem Lehnsherren die Treue schworen (Lehnseid). Die Macht des Eides beruhte auf der Vorstellung, dass der Schwörende Gott direkt als Rächer oder Strafinstanz anrief, so dass er mit seinem Eid – im negativen Falle eines Meineides – sich selbst verfluchen konnte. Somit war jedes irdische Gericht um die transzendentale Dimension Gottes in der Funktion des höchsten Richters, des Jüngsten Gerichts, erweitert zu denken. Zur allgemeinen Verbreitung und gesellschaftlichen Anerkennung des Eides trugen zu Beginn der Neuzeit die durch die Obrigkeit verbreiteten „Eideslehren“ bei. Im Zeitalter der Konfessionalisierung wurde der Eid von beiden Kirchen als ein unverzichtbares Instrument geschätzt, durch das – nach menschlichem Ermessen und mit der Hilfe Gottes – Sicherheit, Gewissheit und Vertrauen in den sozialen Beziehungen hergestellt werden konnte. Es dominierte in jener Zeit ein pragmatisches Verständnis gegenüber dem Ritual des Eides, das aus moraltheologischer Sicht geradezu als ein Akt der Nächstenliebe bewertet werden konnte. Holenstein endet mit der Infragestellung des Eides durch Immanuel Kant zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Doch trotz dieser Krise lebte der Eid in der bürgerlichen Gesellschaft fort, denn an die Stelle von Gott war für den Schwörenden als oberste Instanz das Gewissen des Einzelnen getreten. Lucas Burkart (Schatzinszenierungen) führt uns zur letzten Gruppe der hier versammelten Beiträge, die wir trotz der Problematik des Begriffs unter der Kategorie der „Politik“ führen wollen. Seine Analyse der sinnhaften Aufladung und Ausdeutung des „Schatzes“, mit dem hier zuvorderst das Ensemble der späteren Reichskleinodien gefasst ist, nimmt dabei zugleich einen bedeutenden Aspekt ritualisierter Akte in den Blick, der insbesondere von Jean-Claude Schmitt hervorgehoben

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wurde:69 Es geht um die jeweils benutzten Objekte. Der konkrete Gegenstand, etwa die „Heilige Lanze“ oder die berühmte „Reichskrone“, wird aus dieser Perspektive zu einem Kern, an dem sich die Sinndimension des rituellen Handelns aufladen kann. Das Objekt, das als materielles Substrat vergangener Zeiten manifest und präsent bleibt, verweist in seiner Gegenständlichkeit auf die legitimierende Kraft der Geschichte, die in unterschiedlichen Bezügen beschworen werden kann, sei es nun in der religiös-transzendenten Orientierung der spätottonischen und salischen Zeit, die sich auf dem Weg zur Entwicklung eines Konzepts der transpersonalen Herrschaft befindet, im bewussten Einsatz der Insignien als Verkörperung einer langen Reichstradition durch Kaiser Friedrich III. im 15. Jahrhundert oder schließlich sogar im propagandistischen Einsatz der Kleinodien durch die Nationalsozialisten. Allen Bezugnahmen gemeinsam ist dabei aber stets die kulturelle Prägung der Sinnaufladung. Der Schatz selbst mag zur Deutung herausfordern – die Inhalte determiniert er keineswegs. Einen prominenten Moment des politischen Lebens untersucht Therese Bruggisser-Lanker (Krönungsritus und sakrales Herrschertum), deren Analyse der Krönungen in der Ottonen- und Salierzeit als handlungsorientiertes Pendant zu den Ausführungen Burkarts gelesen werden kann. Mit Blick insbesondere auf die kultische und lautliche Dimension des Krönungsaktes zeigt sie die Mechanismen der Sinnstiftung auf, welche in der innigen Verschmelzung von Politik und Liturgie performativ umgesetzt werden. Die Krönungshandlung als paradigmatischer Inbegriff eines politischen Rituals erschöpft sich eben nicht auf dieser Ebene, sondern vermag den Verweis auf den legitimierend-transzendentalen Gehalt vorrangig durch die Inanspruchnahme sämtlicher sinnlich erfahrbarer Kommunikationsdimensionen zu leisten. Liturgische Handlung, religiöser Text und klangliche Performanz fließen somit zu einem Ganzen zusammen, das die Sakralisierung der Herrscherposition bewirkt. Dass Rituale aber nicht nur legitimierende und stabilisierende Wirkung ausüben können, belegt Werner Senn (Macht- und Herrschaftsrituale bei Shakespeare), der auf die widersprüchliche Haltung eines frühneuzeitlichen Autors aufmerksam macht. In den Stücken Shakespeares, von denen hier vor allem die Geschichtsdramen um das englische Kö69

Vgl. Anm. 20.

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nigtum in den Blick genommen werden, erscheint der Einsatz von Ritualen als äußerst ambivalent: Deutlich wird die Distanz der postreformatorischen Welt zu den Phänomenen des Rituals und der Zeremonien, die nun kritisch hinterfragt werden können. Ohne deren stabilisierende und ordnende Kraft völlig zu leugnen, machen die Dramen doch das kritische Bewusstsein der Zeitgenossen deutlich, für die das Ritual auch illegitim instrumentalisiert oder sinnentleert repetiert werden kann. Den Abschluss unseres Bandes bildet der Beitrag von Hubert Herkommer (Urloup nemen), der gewissermaßen natürlich an diesen Ort rückte. Als Herausgeber sind wir dem Autor in besonderer Weise dafür dankbar, dass wir diesen Text in unsere Sammlung aufnehmen durften, da er die Abschiedsvorlesung von Hubert Herkommer an der Universität Bern in schriftlicher Form wiedergibt. Auch inhaltlich hat er hier sicher seinen rechten Platz gefunden, da es um Rituale des Abschieds geht, um das urloup nemen, das in der Forschung bislang deutlich weniger Beachtung gefunden hat als Rituale und Gebräuche der Begrüßung. Wie der Autor zeigen kann, liegt dieser Befund kaum an einem Mangel an vorhandenen Materialien, bieten doch schon die literarischen Texte im Umfeld der Minnethematik zahlreiche Hinweise auf die Bedeutung und die Formen der Trennung Liebender. Dass Trennung und Trauer nicht nur in der Literatur eng verbunden sind, zeigt zudem der Blick auf den Abschied des Kreuzfahrers von seiner Frau am Beispiel Ludwigs IV. von Thüringen und seiner Gemahlin Elisabeth, der auch in historiographischen Berichten Stoff für eine intensive Durcharbeitung bot. Besonders beeindruckend dürfte hier aus moderner Perspektive die Beobachtung sein, dass auch in der mittelalterlichen Wahrnehmung bereits die Wahrung der rituellen oder zeremoniellen Konvention in einem spannungsvollen Verhältnis zur individuellen Emotionalität gesehen werden konnte.

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Antikendämmerung: Vom eingeschränkten Gebrauch der Gesten als Bildsprache im frühen Mittelalter Axel Gampp (Basel) Einleitung Jedes Thema darf vorgängig eine Definition erwarten. Das sollte auch beim Thema „Gesten“ nicht anders sein. Doch ein Blick auf gängige Handlexika zeigt ein erstaunliches Ergebnis: Die Definition in deutscher, französischer und englischer Sprache divergiert erheblich. Erstaunlicherweise findet sich in den großen britischen Nachschlagewerken das Stichwort Gesture überhaupt nicht oder wenn, so in ganz anderem als unserem Zusammenhang. In deutsch und französisch sind Einträge ergiebiger, sie werden allerdings übertroffen von den Einträgen in italienischen Wörterbüchern, auf die hier aber nicht eingegangen wird: Geste (lat. Gestus ‚Gebärdenspiel‘), die, -/-n, zielgerichtete Ausdrucksbewegung des Körpers, bes. der Hände und des Kopfes; im Unterschied zur Ausdrucksbewegung des Gesichtes (→Mimik). Gesten werden vielfach zur Begleitung (Untermalung oder Unterstreichung) der sprachlichen Kommunikation benutzt, in besonderen Fällen ersetzen sie die gesprochene Sprache, etwa bei den berufstypischen oder konventionellen →Gebärden oder in der →Gebärdensprache.1 Geste n. m. (lat. gestus). 1. Mouvement du corps, principalement de la main, des bras, de la tête, porteur ou non de signification: Faire des gestes en parlant. Un geste machinal, menaçant. Un geste de protestation. Faire un geste de refus. – 2. Manière de mouvoir le corps, les membres dans l’attitude, le mouvement et, en partic., manière de mouvoir les mains dans un but de préhension, de manipulation: Danseur qui a des gestes larges, ronds. Métier qui demande une grande précision dans le geste. – 3. Action remarquable qui frappe par sa générosité, sa noblesse, etc.: En agissant ainsi, il a fait un beau geste. Un geste désintéressé. Avoir un geste élégant à l’égard d’un adversaire. [. . . ].2 1 2

Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. Bd. 8, Leipzig und München 20 1997, S. 474. Grand Dictionnaire Encyclopédique Larousse. Bd. 5, Paris 1983, S. 4779.

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I. Nom féminin Du latin gesta, actions, et surtout actions mémorables, hauts faits. [. . . ] II. Nom masculin Du latin gestus: mouvement du corps et plus spécialement des bras et des mains. Le geste fait partie du jeu de l’acteur, du danseur, de l’action de l’orateur; des gestes de personnages diégétiques sont représentés dans les arts plastiques. Le geste a deux grandes fonctions, l’une expressive ou significative, l’autre plastique. Les gestes donnent en effet des informations, ils montrent, miment, etc., qu’ils soient spontanés ou codés. Les arts ont assez souvent utilisé des codes spéciaux de gestes, plus étroitement réglés que ceux de la vie courante. Mais le geste dans les arts a une fonction plus purement esthétique en tant qu’il dessine une forme, trace une arabesque en mouvement, rythme le temps et l’espace de l’œuvre. La gesticulation est l’usage de gestes exagérés; la limite de l’exagération varie selon les civilisations: un pays, une époque, peuvent trouver exagéré ce qui dans les habitudes d’un autre pays ou époque semble naturel et ordinaire. La gesticulation chez un acteur, un orateur, peut être due à un désir d’expressivité, à une gêne qui rend les mouvements forcés et maladroits, parfois à l’acceptation ou la recherche d’un certain artificiel comme signe de l’art. En peinture, certains gesticulations sont dues au souci de ne pas laisser de vides, de remplir l’espace; on dilate ainsi la place occupée par un personnage en lui faisant faire de grands gestes.3

Wie kann also eine Geste definiert werden? Offenbar handelt es sich dabei um einen Akt des Körpers, insbesondere der Hände und des Kopfes. Im Deutschen kann noch unterschieden werden zwischen Geste und Gebärde. Gebärden werden rein mit den Händen ausgeführt. In anderen Sprachen, etwa dem Französischen oder dem Englischen, besteht ein derartiger Unterschied nicht, es wird nur von geste (französisch) oder gesture (englisch) gesprochen.4 Deutlich wird als tertium comparationis, dass der Gestus ein performativer Akt ist. Er vollzieht sich also in der Bewegung, weswegen er vor der Erfindung von Film und Video naturgemäß schwer festzuhalten war. Aus dem Spätmittelalter kennt man zwar sogenannte Fechtbücher, eigentliche Anleitungen zum richtigen Fechten, die wie Comic strips einen Bewegungsablauf erkennen lassen. Beispiele dazu stammen gar 3 4

Etienne Souriau, Vocabulaire d’esthétique, Paris 1990, S. 793 f. Vgl. den Eintrag bei Souriou (wie Anm. 3).

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aus der Hand Albrecht Dürers.5 Doch derartige Verfahren, Gesten als performativen Akt festzuhalten, sind die Ausnahme. Wenn uns in älteren Darstellungen Gesten begegnen, dann ist ein Moment festgehalten, in welchem der Gestus verharrt und aus welchem heraus er zu deuten ist. Aus diesem überaus reduziertem Moment muß der intendierte Gehalt der Geste ermittelt werden. Die nachfolgenden Überlegungen kreisen um die Frage, wie das für Bildwerke des Mittelalters möglich ist und unter welchen Prämissen dergleichen überhaupt geschehen kann. Eine Behandlung der Gesten im Mittelalter kann auf zwei Quellen zurückgreifen: visuelle, also Bildzeugnisse, und literarische. Die literarischen verdienten, noch weiter aufgegliedert zu werden. So sind Angaben zum Gestengebrauch im Mittelalter nicht nur aus liturgischen oder anderen religiösen Texten oder aus Minneliedern bekannt, sondern – und das nicht zu einem geringen Maße – auch aus Rechtsquellen6 Häufig stehen derartige Texte mit Illustrationen in Verbindung. Ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel wäre etwa die berühmte Darstellung Walthers von der Vogelweide in der Manessischen Liederhandschrift. Durch den Text dazu, ein Gedicht Walthers, sind wir über die

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Eine sehr gute Zusammenstellung einiger dieser Fechtbücher und ähnlicher im Bild festgehaltener zeitlicher Abläufe findet sich bei Jörg Jochen Berns, Film vor dem Film: Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000, S. 79–95. Zur Deutung der Gesten aus literarischen oder theologischen Quellen immer noch grundlegend Jean-Claude Schmitt, La raison des gestes dans l’Occident médiéval, Paris 1990. Darüber hinaus aber auch: Heinrich Vorwahl, Die Gebärdensprache im Alten Testament, Diss. Berlin 1932; Rudolf Suntrup, Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts, München 1978; Leopold Kretzenbach, Schutz- und Bittgebärden der Gottesmutter, München 1981; Carolyn Deitering, The Liturgy as Dance and the Liturgical Dancer, New York 1984; Jean-Claude Bonne, „Depicted Gesture, Named Gesture: Postures of the Christ on the Autun Tympanum“, in: History and Anthropology 1 (1984), S. 77–95; Jean-Claude Schmitt, „Between Text and Image: The Prayer Gestures of Saint Dominic“, in: ebd., S. 127–162; Richard C. Trexler, „Legitimating Prayer Gestures in the Twelfth Century. The De Pentitentia of Peter the Chanter“, in: ebd., S. 97–126. Zur Deutung der Gesten aus Rechtsquellen etwa Karl von Amira, Die Handgebärden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, München 1905 (Abhandlungen der philosophisch-historischen Klasse der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften 23/2); Ruth Schmidt-Wiegand, „Gebärdensprache im mittelalterlichen Recht“, in: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 363–379.

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Bedeutung der – hier übrigens bewegungslosen – Geste recht genau aufgeklärt. Er schreibt nämlich: Ich saz ûf eime steine,/ dô dahte ich bein mit beine,/ dar ûf sazte ich mîn ellenbogen./ ich hete in mîne hand gesmogen/ daz kinne und ein mîn wange. (Ich sass auf einem Stein und hatte ein Bein übers andere geschlagen, darauf den Ellenbogen gesetzt, ich hatte in meine Hand das Kinn und eine meiner Wangen geschmiegt.)7

Walther benutzt diese Einleitung, um deutlich zu machen, dass er in ein tiefes Sinnieren über die Unwirtlichkeit der Welt gefallen ist, wo Treulosigkeit und Gewalt herrschen, wohingegen Friede und Recht verschwunden seien. Die Verbindung von Abbild und Erläuterung ist ein Glücksfall, der uns nicht zu häufig begegnet. Interessanterweise lässt sich aus diesem Beispiel erkennen, dass Walther sich in einer Tradition des Trauergestus befindet, der Wurzeln bis in die Antike zurück hat. Schon aus der Antike ist nämlich als Ausdruck der Trauer jener Gestus bekannt, bei dem man die Wange in die Hand schmiegt.8 Hier lassen sich lange Traditionen, hier lassen sich auch anthropologische Grundlagen der Gestensprache erkennen. Das könnte die Kunsthistoriker nun dazu verleiten, zur Pathosformel von Aby Warburg überzuleiten, einer Theorie, die – in unzulässiger Verkürzung dargestellt – besagt, dass sich der Mensch in der frühen Neuzeit in Extremsituationen der gleichen Gestensprache bediente, wie sie die Antike schon vorgeprägt hat.9 Doch darauf sei hier nicht eingegangen. Denn das eingangs angestimmte Thema lenkt den Blick in eine ganz andere Richtung: die Verlässlichkeit von Bildquellen als Grundlage der Gestendeutung im Mittelalter. 7 8 9

Text und Übersetzung aus Deutsche Lyrik des Mittelalters, hg. v. Max Wehrli, Zürich 2 1962, S. 209. Siehe Gerhard Neumann, Gesten und Gebärden in der griechischen Kunst, Berlin 1965, S. 149 f. Zu Aby Warburg und der Theorie der Pathosformeln vgl. Ernst H. Gombrich, Aby Warburg: Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1984 [1970], S. 236–244 u. ö.; Werner Hofmann, Georg Syamken und Martin Warnke, Die Menschenrechte des Auges: Über Aby Warburg, Frankfurt a. M. 1980; Roland Kanz, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987; Pieter van Huisstede, De Mnemosyne Beeldatlas van Aby Warburg, Diss. Leyden 1992.

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Zur Klassifizierung von Gesten Wenn wir uns deutlich machen, dass Bilder, dass Illustrationen, dass illuminierte Handschriften im Mittelalter die wichtigsten Bildquellen sind, aus denen wir unser Verständnis der damaligen Gesten speisen, so wird die Frage erlaubt sein, welcher Art die dort dargestellten Gesten denn seien und was das Bild des Gestus überhaupt auszudrücken vermag. Denn nur von hier aus kann es ja gelingen, die Aussagen zur Bedeutung von Gestus und Ritual zu formulieren. Nur wenn wir wissen, welche Arten von Gesten im Bild bekannt und geläufig waren, können wir der Bildquelle als Quelle zu Aussagen über den Einsatz und Gebrauch von Gesten im Mittelalter trauen. Nur so ist der Wert der Quellen richtig einzuschätzen. Gleichzeitig erhalten wir umgekehrt durch die Bilder einen Hinweis darauf, wie mit Gesten im Mittelalter umgegangen wurde, welches ihre Bedeutung war und vor allem: welche Inhalte sie zu übermitteln im Stande waren. Das Beispiel Walthers von der Vogelweide hat erkennen lassen, dass es unter Umständen gewisser Vorkenntnisse bedarf, um den Gehalt einer Geste richtig einschätzen und deuten zu können, insbesondere wenn – wie in den meisten Fällen – ihre Ausdeutung nicht in einem Text daneben zu finden ist. Das wiederum führt zur grundsätzlichen Frage, welche Arten von Gesten es überhaupt gibt. Die Gesten in Klassen zu unterteilen und damit zusammenzufassen, ist kein leichtes Unterfangen, und Ansätze und Vorschläge dazu existieren in großer Zahl.10 Erst die Forschung der 60er, 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hat verschiedene relevante Klassifizierungsmodelle entwickelt. Darunter besticht für unseren Zusammenhang vor allem ein Modell von vier Klassen, das bereits in den 40er Jahren von David Efron vorgestellt, aber eben erst im Zuge eines verstärkten Interesses für Gesten von Paul Ekman und Wallace Friesen wieder aufgegriffen wurde.11 10

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Historisch an erster Stelle zu nennen ist hier Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie. Erster Band: Die Sprache, Erster Teil, Leipzig 1900, S. 149–187. Im bezeichneten Abschnitt wird auf die Gestensprache eingegangen und eine erste Klassifizierung der Gesten versucht. David Efron, Gesture and Environment, New York 1941 (wieder abgedruckt in ders., Gesture, Race and Culture, Den Haag 1972); Paul Ekman und Wallace V. Friesen, „Hand movements“, in: Journal of Communication 22 (1972), S. 353– 374. Siehe auch Adam Kendon, „Introduction. Current issues in the Study of ‚Nonverbal Communication‘ “, in: Nonverbal Communication, Interaction and Ge-

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Die vier Klassen heißen auf englisch: ideographs, pointers, pictorial gestures und batons; zu deutsch: ideographische Gesten, hinweisende Gesten, malerische Gesten und rhythmisierende Gesten. Was ist darunter zu verstehen? • Rhythmisierende Gesten sind jene, die ohne inhaltliche Bedeutung den Fluss der Worte rhythmisch begleiten. • Hinweisende Gesten sind ihrer Bedeutung nach klar; gemeint ist eben das Deuten mit Finger oder Hand auf ein Objekt, sei es Gegenstand oder Person. • Malerische Gesten sind jede Art von nachahmenden Gesten; ein bekanntes Beispiel wäre etwa der überall geläufige Gestus für Telephonieren, bei dem der abgespreizte Daumen ans Ohr, der abgespreizte kleine Finger aber vor den Mund gehalten wird, während die übrigen Finger eingeklappt bleiben. • Zu diesen drei Klassen tritt diejenige der ideographischen Gesten hinzu. Ideographische Gesten sind in aller Regel kodifizierte Gesten, d. h. Gesten, die wir alltäglich gebrauchen, die nichts nachahmen, auch nicht inhaltslos den Fluss der Worte begleiten, sondern denen einen klare inhaltliche Bedeutung zuzumessen ist. Beispielsweise unterstreicht der erhobene Zeigefinger eine ganz bestimmte Rede, nämlich jene eines Lehrenden oder einer Autoritätsperson. Dieser Gestus wird spezifisch eingesetzt, wenn man seine Rede emotional oder inhaltlich unterstreichen möchte. Ideographische Gesten beruhen auf Kodifizierung und damit auf Vorwissen. Sie könnten im Extremfall auch losgelöst von der Rede auftreten und trotzdem ist deutlich, was für eine Aussage sie begleiten.

Der Gestengebrauch in der Antike In der Antike waren diese vier Klassen von Gesten alle bekannt und präsent und zwar in besonderer Weise dort, wo man sie auch am bessture. Selections from Semiotica, hg. v. Adam Kendon, Den Haag, Paris und New York 1981, S. 1–52 [31 ff.]. Zur Anwendung auf die Antike siehe Fritz Graf, „The Gestures of Roman Actors and Orators“, in: A Cultural History of Gesture, hg. v. Jan Bremmer und Herman Roodenburg, Cambridge 1993, S. 36–58.

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ten einsetzen konnte: in der Rhetorik. Insbesondere von Quintilian, dem bedeutendsten Rhetoriklehrer der römischen Antike, kennen wir einen ganzen Gestenkatalog, der uns über den Gebrauch von Gesten in Kenntnis setzt.12 Seiner Auffassung zufolge gibt es einen allgemeinen Gestus der Rede, bei dem man Daumen- und Mittelfingerspitze zusammenschließt, während die anderen drei Finger ausgestreckt bleiben. Dazu muß man den Arm aber nach vorne strecken und ja nicht etwa zur linken Schulter.13 Will man die gleiche Geste etwas eindringlicher machen, so legt man den Daumen an die Spitze des Mittel- und Ringfingers.14 Ist der Zeigefinger ausgestreckt, die übrigen Finger aber eingeklappt, und zeigt die Innenfläche der Hand zum Sprechenden, so dient der Gestus zur Anschuldigung und zum Anzeigen.15 Wendet man den ausgestreckten Zeigefinger aber nach unten, so gebraucht man ihn, um die Aussage mit Nachdruck zu belegen, bisweilen auch zum Zählen.16 Dabei spielt es keine Rolle, ob die Innenfläche der Hand zum Sprecher hin oder von ihm weg gerichtet ist. Will man etwas erörtern, so legt man den Daumen auf das vorderste Glied des Zeigefingers, während die anderen Finger unterschiedlich gekrümmt sind, der kleine Finger kaum mehr: Wird der Zeigefinger von beiden Seiten an der Spitze leicht (von Daumen und Mittelfinger) erfasst, während die zwei restlichen Finger mäßig gebogen werden, weniger jedoch der kleine Finger, so ist die Gebärde zum erörternden Vortrag passend.17

Ferner behandelt Quintilian eine Reihe sogenannter Zweifingergesten. Sie basieren alle auf jenem, bei dem zwei Finger ausgestreckt, Ringfinger und kleiner Finger hingegen vom Daumen eingeklappt gehalten werden.18 Dieser Gestus ist neutral und damit besonders vielseitig einsetz12 13 14 15 16 17 18

Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung zum Redner, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 2 1988. Ebd., XI, 3, 92. Zu diesem Thema generell: Ursula Maier-Eichhorn, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, Frankfurt a. M. u. a. 1989. Quintilian, Redner (wie Anm. 12), XI, 3, 93. Ebd., XI, 3, 94. Ebd., XI, 3, 94. Ebd., XI, 3, 95. Ebd., XI, 3, 98. Siehe zu dieser Gruppe von Gesten Thomas Richter, Der Zweifingergestus in der römischen Kunst, Möhnesee 2003.

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bar. Deswegen wird gerade dieser Gestus in der Kunst eine besonders weite Verbreitung erfahren, und zwar sowohl in der antiken als auch in der mittelalterlichen Tradition – erinnert sei etwa an den Segensgestus Christi im byzantinischen Raum. Um Verwunderung auszudrücken, schlägt Quintilian einen Bewegungsablauf vor: Es gibt auch die Gebärde, die zur Verwunderung sich schickt, wenn die mit dem Rücken leicht nach unten gehaltene, und die einzelnen Finger, mit dem Kleinsten beginnend, angespannte Hand, die Anspannung wieder umgekehrt löst, sich wieder entfaltet und dabei umkehrt.19

Als Ablauf ist der Gestus nicht bildmöglich, aber im Bild kann eine leicht gekrümmte, nach oben offene Handhaltung für Verwunderung stehen. Einen klaren Verwendungszweck hat ein Gestus, bei dem man den Daumen und die Spitze des Zeigefingers zusammenlegt, während die anderen Finger locker bleiben. Ihn braucht man beim Zustimmen, beim Erzählen und beim klärenden Unterscheiden.20 Ein weiterer typischer Redegestus ist die erhobene, leicht geöffnete Hand. Quintilian bemerkt, man müsse sie mit einem gewissen Schwung über die Schulterhöhe erheben. Auf keinen Fall soll man sie aber auf dieser Höhe beben lassen, das gehöre zur Schauspielkunst.21 Die Quintilian’schen Gesten können hier nicht vollständig, sondern nur im Hinblick auf den weiteren Gang der Argumentation vorgestellt werden. Hierfür ist noch jener wichtig, bei dem aus der geballten Hand der Daumen hochgestreckt wird.22 Man braucht diesen Gestus, um auf etwas hinzuweisen. Quintilian hält ihn zwar für üblich, nicht aber für angemessen. Er deutet damit an, dass die Regeln des Angemessenen zu berücksichtigen sind.

Die Gestensprache der Terenzhandschriften Viele Gesten Quintilians sind ideographische Gesten. Um zu verstehen, warum welcher Gestus wo eingesetzt wird, bedarf es der erwähnten 19 20 21 22

Quintilian, Redner (wie Anm. 12), XI, 3, 100. Ebd., XI, 3, 101. Ebd., XI, 3, 103. Ebd., XI, 3, 104.

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Vorkenntnisse. Über sie muß aber auch der Betrachter/ Zuhörer verfügen, um zu begreifen, was mit welchem Gestus ausgedrückt wird. Es fragt sich natürlich, ob und wie sich derartige Gesten in eine andere Zeit hinein, in unserem Falle ins Mittelalter, tradieren konnten. Um dieser Frage nachzugehen, sollte man sich zunächst darauf besinnen, wo in der Antike eigentlich am intensivsten Gesten eingesetzt wurden: nicht in der Rhetorik, sondern in der Theaterpraxis, denn antike Schauspieler spielten mit Masken, hatten die Mimik also nicht als Ausdrucksmittel zur Verfügung. Einem Komödienschreiber der Antike war eine glückliche Fortuna critica beschieden: Terenz. Wegen ihres vorbildlichen Lateins wurden seine Stücke durch das ganze Mittelalter hindurch gelesen. Entsprechend wurden sie eben auch immer wieder abgeschrieben. Dabei wurde aber nicht nur der Text kopiert, sondern aufgrund eines verloren gegangenen Vorbildes muß man annehmen, dass schon in der Antike Handschriften mit Illustrationen versehen waren. In der Regel muß wohl jeder Szene eine kleine Darstellung der folgenden Handlung vorangestellt worden sein; so wurde es jedenfalls in den erhaltenen Handschriften gemacht. In diesem Zusammenhang muß uns eine Gruppe von Handschriften interessieren, die alle vor dem 13. Jahrhundert entstanden sind. Die „Genealogie“ dieser Handschriften wird wie in Abb. 1 dargestellt rekonstruiert.23 Ehedem hatte man angenommen, dass es eine Redaktion des Textes in der Spätantike gab, die von Calliopius herausgegeben wurde. Doch neuere Untersuchungen legen die Vermutung nahe, diese Redaktion gehe auf eine Handschrift bereits des 3. Jahrhunderts zurück.24 Auf jeden Fall lässt sich der Verlust einer ganzen Reihe von Handschriften konstatieren, die gleichsam als Urväter bestehender Handschriften existiert haben müssen. Für unseren Zusammenhang sind jene besonders wichtig, die aus dem 9. Jahrhundert stammen: der ‚Terentius Vaticanus‘25 und 23

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Es handelt sich dabei um eine stark vereinfachte Wiedergabe der weit komplexeren Genealogie. Siehe dazu Leslie Webber Jones und C. R. Morey, The Miniatures of the Manuscripts of Terence prior to the Thirteenth Century, Princeton, London und Leipzig 1931, vor S. 195. Siehe dazu Gregory S. Aldrete, Gestures and Acclamations in Ancient Rome, Baltimore und London 1999, S. 55–57. Zum ‚Terentius Vaticanus‘ s. Günther Jachmann, Terentius Codex Vaticanus la-

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Redaktion des Calliopius

5. Jh.

a) verlorene Hs.

d) verlorene Hs.

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Terentius Vaticanus

b) verlorene Hs.

c) verlorene Hs.

Parisinus latinus 7899

10. Jh.

Ambrosianus Parisinus latinus 7900

11. Jh.

12. Jh.

Leidensis Vossianus

Bodleianus

Turonensis latinus

Abbildung 1: Handschriftengenealogie

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der ‚Terentius Parisinus latinus 7899‘.26 Etwas jünger als diese beiden sind der ‚Terentius Ambrosianus‘ aus der Biblioteca Ambrosiana in Mailand,27 der ‚Parisinus latinus 7900‘28 und der ‚Leidensis Vossianus‘ aus Leiden.29 Unter Auslassung weiterer Kopien gelangen wir zu den beiden spätesten Beispielen, dem ‚Terentius Bodleianus‘ aus Oxford30 und dem ‚Terentius Turonensis latinus‘ aus der Stadtbibliothek von Tours,31 die dann beide ins 12. Jahrhundert datieren. Ebenso unterschiedlich wie die Terenzhandschriften sind deren Produktionsstätten. Der ‚Terentius Vaticanus‘ ging aus der Hofschule Ludwigs des Frommen in Aachen um 825 hervor. Wir befinden uns mit einem der Söhne Karls des Großen im Zentrum des karolingischen Reiches. Im Zusammenhang mit dem ‚Terentius Vaticanus‘ ist der Begriff einer karolingischen Renaissance sicherlich nicht fehl am Platz, denn das Bemühen um eine Antikennähe ist – wie wir gleich sehen werden – mit Händen zu greifen. In Klöstern entstanden sind demgegenüber der ‚Parisinus latinus 7899‘ (9. Jh., Region um Reims), der ‚Parisinus latinus 7900‘ (10. Jh., Abtei von Fleury (Saint-Benoît-sur-Loire) oder Corbie) und wahrscheinlich auch der ‚Terentius Ambrosianus‘ (ausgehendes 9. Jh., wohl Südfrankreich). Ebenfalls aus dem klösterlichen Milieu, allerdings wohl aus

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tinus 3868, Leipzig 1929; Webber Jones und Morey, Miniatures (wie Anm. 23), S. 27–45; Florentine Mütherich, Die Hofschule Kaiser Lothars: Einzelhandschriften aus Lotharingien, Berlin 1971 (Die karolingischen Miniaturen, 4), S. 75 f.; dies., „Book Illustration at the Court of Louis the Pious“, in: Charlemagne’s Heir: New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814–840), hg. v. Peter Goodman und Roger Collins, Oxford 1990, S. 596 f.; David H. Wright, „Terenzio, Comedie, Vat. lat. 3868“, in: Ausstellungskatalog Vedere i Classici, Vatikanstadt 1997, S. 168– 170. Zum ‚Parisinus latinus 7899‘ s. Webber Jones und Morey, Miniatures (wie Anm. 23), S. 62–67. Ebd., S. 102–119; Terentius: Codex Ambrosianus H. 75 inf., hg. v. Enricus Bethe, Leiden 1903; Warren Sanderson, „A Group of Ivories and Some Related Works from Late Carolingian Trier“, in: The Art Bulletin 56/2 (1974), S. 159–175. Webber Jones und Morey, Miniatures (wie Anm. 23), S. 94–191; Bernhard Bischoff, „Hadoard und die Klassikerhandschriften aus Corbie“, in: ders., Mittelalterliche Studien. Bd. 1, Stuttgart 1966, S. 49–63 [59]. Webber Jones und Morey, Miniatures (wie Anm. 23), S. 130–151. Webber Jones und Morey, Miniatures (wie Anm. 23), S. 68–93; Wright, „Terenzio“ (wie Anm. 25), S. 170. Webber Jones und Morey, Miniatures (wie Anm. 23), S. 175–192.

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dem englischen Kloster St. Albans, stammt der ‚Terentius Bodleianus‘ (12. Jh.). Der ‚Terentius Leidensis Vossianus‘ (spätes 10. Jh.) und der mit ihm stilistisch verwandte ‚Turonensis latinus‘ (12. Jh.) sind beide in Westfrankreich entstanden und gehen auf eine andere Quelle zurück. In ihrer Gesamtheit vermögen diese Handschriften die Gestenentwicklung bis zum 13. Jahrhundert mustergültig zu dokumentieren. An ihnen lässt sich das Auftreten der Gestenklassen nachweisen, wobei logischerweise rhythmisierende Gesten nicht im Bild festgehalten werden können. Alle übrigen Klassen aber lassen sich im ‚Terentius Vaticanus‘ nachweisen. In reichem Maße treten malerische Gesten auf und zwar auch dort, wo nonverbale Reaktionen dargestellt werden. Ein Beispiel bietet die Illustration zur Komödie Phormio, 5. Akt, 1. Szene.32 Der Greis Chremes fragt sich, wie er Sophrona sieht: Nam quae haec anus est, exanimata a fratre quae egressat meo? – „Was ist denn das für eine Alte, die da ganz aufgelöst das Haus meines Bruders verlässt.“ Mit weit ausgebreiteten Armen verdeutlicht Sophrona, die nichts sagt, ihren Zustand (exanimata). Einen hinweisenden Gestus liefert die Illustration zu Adelphos, 2. Akt, 2. Szene:33 Der Sklave Syrus deutet mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber Sannio. Er klagt ihn hier an, sich nicht an vorher abgemachte Regeln gehalten zu haben. Am schwierigsten zu identifizieren sind eben ihrer Natur nach die ideographischen Gesten, doch im ‚Terentius Vaticanus‘ gelingt es, eine ganze Reihe auszumachen. Der von Quintilian bekannte Gestus, bei dem der Daumen an den Zeigefinger gelegt wird und der zum Beweisen, Erzählen oder Unterscheiden dient, wird etwa von der Prostituierten Bachis in der Illustration zu ‚Heauton Timorumenos‘ , 2. Akt, 4. Szene ausgeführt (Abb. 2). Bei Quintilian wurde dieser Gestus noch differenziert, indem der ausgestreckte Zeigefinger, mit der Innenfläche der Hand zum Sprecher, zur Anschuldigung und zum Anzeigen dient. Wendet man ihn aber nach unten, so gebraucht man ihm, um die Aussage mit Nachdruck zu belegen, bisweilen auch zum Zählen. Genau diese Variante findet sich in 32 33

Terentius Vaticanus (wie Anm. 25), fol. 87 v. Terentius Vaticanus (wie Anm. 25), fol. 53 v.

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Abbildung 2: ‚Terentius Vaticanus‘, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 3868, um 825, fol. 40v . Illustration zu Terenz, Heauton Timorumenos, 2. Akt, 4. Szene.

Abbildung 3: ‚Terentius Vaticanus‘, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 3868, um 825, fol. 42r . Illustration zu Terenz, Heauton Timorumenos, 3. Akt, 2. Szene.

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der Illustration von ‚Heauton Timorumenos‘, 3. Akt, 2. Szene, wo der Greis Chremes dem Sklaven Syrus von seiner Wut erzählt (Abb. 3).34 Indem hier also auf ein aus der Antike übernommenes Gestenrepertoire zurückgegriffen und dieses in seiner Differenziertheit verwendet wird, bietet sich die Gelegenheit zu relativ ausgefeilten Möglichkeiten der Textillustration. Das ist besonders dort wesentlich, wo die Einheit von Zeit und Ort durch mannigfache Auftritte und Abgänge innerhalb der gleichen Szene gestört wird. Das ist etwa der Fall in der eben erwähnten Illustration zur 4. Szene aus dem 2. Akt von ‚Heauton Timorumenos‘ (Abb. 2). Fünf Personen agieren gleichzeitig: links Bachis, eine Prostituierte und Kupplerin, daneben offensichtlich ein Liebespaar, bestehend aus Antiphila und Clinia, rechts Clitipho mit dem Sklaven Syrus. Es scheint, als spreche Bachis mit dem Liebespaar, zu dem die beiden rechts hinzudrängen. Diese Szene gibt es aber so im Stück überhaupt nicht. Clitipho hat mit dem Ende der vorangegangenen Szene die Bühne verlassen, nachdem ihn der Sklave Syrus zu Antiphila bringen wollte. Mit Anbruch der neuen Szene sind zunächst nur Bachis und Antiphila auf der Bühne. Bachis, die Kupplerin, rät Antiphila, um jeden Preis zu heiraten, dazu sei jedes Mittel recht. Die ein wenig naive Antiphila bemerkt aber, sie habe doch schon einen Geliebten, Clinia, dem sie noch nie unrecht getan habe. Clinia, der im Verborgenen zuhört, kann sich nun vor Freude nicht mehr halten und eilt zu seiner Geliebten Antiphila. Damit wird das Happy End eingeläutet, denn es stellt sich nun heraus, dass Antiphila und Clitipho, der andere Verehrer, gar nicht heiraten können, weil sie eigentlich Geschwister sind. Wir haben hier also einen Verstoß gegen die Einheit von Zeit und Raum vor uns. Dank der verschiedenen Kategorien von Gesten wird das Durcheinander aber gegliedert: Bachis wird durch ihren ideographischen Gestus, der zur klärenden Unterscheidung eingesetzt ist, als Redende gekennzeichnet, ihr muß also der Moment zugeschrieben werden, wo sie Antiphila die Vorteile einer Hochzeit darlegt. Antiphila und Clinia hingegen sind in einem typisch malerischen Gestus verbunden, welcher der Sprache eben gar nicht bedarf. Wohin es demgegenüber Clitipho und Syrus zieht, wird durch den hinweisenden Gestus von Clitipho überaus deutlich. Diese beiden rechts, Clitipho 34

Terentius Vaticanus (wie Anm. 25), fol. 42 r.

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Abbildung 4: ‚Parisinus latinus 7899‘, Paris, BnF, ms. lat. 7899, Anfang 9. Jh., fol. 40v . Illustration zu Terenz, Heauton Timorumenos, 2. Akt, 4. Szene.

und der Sklave Syrus, sind aber zum Zeitpunkt der Umarmung bereits abgegangen. In der Illustration macht ihr Verbleib dennoch Sinn. Syrus wollte Clitipho nämlich überzeugen, dass Antiphila für ihn eine gute Partie wäre. Vielleicht verleiht Clitipho mit seinem Gestus seinem Erstaunen Ausdruck über den Gang der Handlung. Anhand der Illustration nachfolgender Terenz-Handschriften, die zudem in einem anderen Umkreis entstanden sind, lässt sich eine Veränderung bemerken: Bereits im ‚Parisinus latinus 7899‘, der nur wenig später als der ‚Terentius Vaticanus‘, aber in einem Kloster und nicht am Kaiserhof entstanden ist, versteht man den ideographischen Gestus nicht mehr (Abb. 4). Der Gestus von Bachis ist hier völlig sinnentleert. Er ist nämlich umgedeutet zu einem gestus offerentis,35 wie es im Mittelalter hieß: Anstatt mit den Fingerspitzen einen Kreis zu formen, hält sie nun mit spitzen Fingern einen Ring. Dieser spielt tatsächlich in der Komödie eine Schlüsselrolle, weil er zur Identifikation von Clitipho als verschollenem Bruder verhilft, doch taucht er weder hier noch überhaupt in der Hand von Bachis auf. Im ‚Turonensis latinus‘ (Abb. 5) aus 35

Siehe dazu den Donatus-Kommentar zu Terenz: Aeli Donati quot fertur Commentum Terenti. Bd. 2, hg. v. Paul Wessner, Leipzig 1902, S. 364.

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Abbildung 5: ‚Turonensis latinus (Tours, Bibliothèque municipale, ms. 924; 12. Jh.), fol. 32r : Illustration zu Terenz: Heauton Timorumenos, 2. Akt, 4. Szene.

dem 12. Jahrhundert hat man gar nichts mehr begriffen von der Gestenvielfalt der Antike und deswegen auch im Prinzip den angemessenen Weg gewählt: man hat nämlich nur noch einen einzigen Vers illustriert und damit die Komplexität der vormaligen Szene entschärft. Es werden nun nur noch hinweisende Gesten verwendet, die genau einen Vers verbildlichen: Video Cliniam an non? – „Sehe ich da Clinia oder nicht?“ Dieser Prozess, ideographische Gesten vermehrt zu hinweisenden umzudeuten, tritt auch andernorts auf.36 Er geht einher mit einer Verkürzung des im Bild dargestellten Zeitraumes, der immer stärker auf einen knappen Augenblick eingeschränkt wird.

36

Ich verweise auf die Illustration von Hectyra II, 4 im ‚Terentius Vaticanus‘, fol. 72v , bzw. ‚Turonensis latinus‘, fol. 60v , wo der ideographische Gestus des Zuhörens, der in einer erhobenen Faust mit abgespreiztem kleinem Finger besteht und der im ‚Terentius Vaticanus‘ vom belauschenden Sklaven Laches aufgeführt wird, im ‚Turonensis latinus‘ überhaupt wegfällt. Ein anderes Beispiel wäre die Illustration zur 5. Szene des 4. Aktes von Adelphos. Es begegnen sich der Greis Micio und Aeschinus. Im ‚Terentius Vaticanus‘, fol. 59v , unterstreicht Micio mit einem Zweifingergestus eine ermahnende Rede ideographisch. Aeschinus hingegen errötet und verbirgt deswegen sein Gesicht schamvoll. Auf einen typisch ideographischen Gestus antwortet Aeschinus mit einem malerischen. Im ‚Bodleianus‘, fol. 114v , wird der Gestus des Micio zu einem hinweisenden umgedeutet, auf den Aeschinus mit einem ebensolchen antwortet.

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Conclusio Es deutet sich damit eine Gestenverschiebung an, bei der in der Regel ideographische Gesten entweder zu malerischen oder zu hinweisenden werden. Die schwierigste Klasse für das Verständnis im Mittelalter stellten offenbar die ideographischen Gesten dar. Sie waren am stärksten von einer Umdeutung bedroht. Joselyn Crane Griffin hat diese Veränderungen statistisch analysiert und ist zu folgenden Ergebnissen gekommen: während sie im ‚Terentius Vaticanus‘ 29% aller Gesten als hinweisende Gesten ausmachen konnte, waren es im ‚Bodleianus‘ 45%, im ‚Ambrosianus‘ 52% und im ‚Turonensis latinus‘ deren 80%! In concreto bedeutet das für den ‚Turonensis latinus‘, dass von insgesamt 132 Illustrationen 106 hinweisende Gesten enthalten. Insgesamt wird der hinweisende Gestus nur mit dem Zeigefinger sogar 142mal ausgeführt, d. h. er tritt mehr als einmal pro Szene auf.37 Ein Weiteres ist auch zu bemerken: gerade die ideographischen Gesten, wie wir sie durch Quintilian kennengelernt haben, sind an das Kriterium des Angemessenen (decorum) gebunden. Es gehört sich etwa nicht, mit beiden Händen zu gestikulieren. Auch die Kenntnis des antiken Rede-Decorums geht mehr und mehr verloren. Im ‚Terentius Vaticanus‘ ist es noch weitgehend berücksichtigt: nur 2% aller Gesten werden mit beiden Händen ausgeführt und zwar entweder die emotional hochgestimmten oder die durch Sklaven ausgeführten. Doch in späteren Handschriften wird eifrig mit beiden Händen gestikuliert: im ‚Ambrosianus‘ werden bereits 8%, im ‚Bodleianus‘ 19% und im ‚Turonensis latinus‘ schon 25% der Gesten mit beiden Händen ausgeführt.38 Was kann die Conclusio daraus sein? Drei Aspekte sind zu nennen: 1. Das Wissen um ideographische Gesten der Antike geht allmählich verloren. 2. Das Wissen um das antike Decorum geht verloren. 3. Indem nur noch zwei Klassen von Gesten zur Verfügung stehen, nämlich malerische und hinweisende, wovon die hinweisenden 37 38

Joselyne Crane Griffin, Pointing Gestures in Medieval Miniatures: a Study Based on Illustrated Manuscripts of the Terence Comedies, Ann Arbor 1993, S. 181. Ebd.

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wiederum in der Überzahl sind, können Darstellungen nur noch in einer weniger komplexen Weise mittels Gesten gegliedert werden. Denn mit den hinweisenden Gesten wird nur die Richtung des Diskurses oder allenfalls der in Rede gestellte Gegenstand angedeutet. Komplexere Zusammenhänge lassen sich so nicht wiedergeben. Darunter zählt insbesondere ein Vorher und Nachher im Bild. Hinweisende Gesten sind an eine Zeit gebunden, die Gegenwart. Man deutet hier und jetzt auf etwas. Ideographische Gesten hingegen können für eine größere Zeitdauer eingesetzt werden: sie können auch auf ein Vorher oder ein Nachher anspielen und sie verdeutlichen außerdem ihrer Natur nach den Inhalt der Rede. Gesten sind ein probates Mittel, vielleicht sogar das Mittel überhaupt, um den narrativen Gehalt eines Bildes zu strukturieren. Je besser sie das können, desto größer der Zeitraum, der im Bild wiedergegeben werden kann. Durch ein subtiles Spiel der verschiedenen Klassen von Gesten, durch eine raffinierte Komposition, kann auch eine Szene wiedergegeben und verständlich gemacht werden, die sich nicht in einem einzigen Moment abspielt, sondern länger andauert. Geht die Differenzierung verloren, verkürzt sich zumindest der im Bild festgehaltene Zeitraum erheblich. Wenn also von drei Klassen von Gesten, nämlich den ideographischen, den malerischen und den hinweisenden, sich im Verlaufe des Mittelalters die hinweisenden durchsetzen, so hat das für die Illustrationsmöglichkeiten schwere Einschränkungen zur Folge. Das kann an den Terenzhandschriften exemplarisch vorgeführt werden, es dürfte aber auch anderswo zutreffen. In Bildquellen allerdings vornehmlich hinweisende Gesten einzusetzen, ist ein formaler Entscheid, der mit dem Inhalt zunächst kaum in einem Zusammenhang steht. Es ist wenig glaubhaft, dass das Alltagsleben im Mittelalter nicht auch durch sämtliche Gattungen von Gesten geprägt gewesen sein soll. Wenn in Bildern nur eine Gattung zum Einsatz kommt, so ist das gleichsam eine unangemessene Einschränkung in der künstlerischen Wahl der Mittel, die es für uns umgekehrt umso schwerer macht, den gestisch intendierten Gehalt genau zu erfassen. Womit eigentlich das Problem der Gesten im Mittelalter erst richtig beginnt.

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Ritualia, Magica und Zeigehandlungen als szenische Vorgänge: Zur Differenzierung von Kernhandlungen und Handlungskomplexen Andreas Kotte (Bern) Welche Charakteristika bewirken es, dass wir bei der Betrachtung des Fürstenportals am Bamberger Dom von einer Beschwörungsgeste eines Herrschers sprechen oder bei der Betrachtung eines Gemäldes mit Karl dem Grossen von einer Krönungszeremonie oder angesichts eines bestimmten Luzerner Hofbrückenbildes mit der Taufe Jesu von einem Taufritus? Wir wissen sehr genau, dass die Begriffe oft auch synonym verwendet werden, dass durchaus die ‚Zeremonie der Taufe‘ beschrieben werden kann und dass sich eine Krönung rituell vollzieht. Dabei werden einzelne Aspekte des jeweiligen Vorgangs betont. Für die Taufe ist der zugleich festliche und formale Ablauf zeremoniell, für die Krönung sind die Wiederholung in ähnlicher Form sowie der Statuswechsel die rituellen Momente. Und dennoch ist für die Krönung insgesamt der Begriff Zeremonie und für die Taufe der Begriff Ritus gebräuchlicher. Nuancen lassen jeweils den einen oder den anderen Begriff als sinnvoller erscheinen, da sein Zentrum besser angesprochen wird, während die Peripherien der Verständnisfelder sich überlappen.

Definierbarkeit Zunächst ist ein Unterschied anzumerken, der lapidarer nicht sein könnte. Handlungen werden von Menschen vollzogen, begangen, sie geschehen, sie sind unique, zeitlich selbst bei Wiederholung. Etwas anderes ist es, wenn – wiederum mit einer spezifischen Handlung, im Sprechakt – Handlungen zu Verständniszwecken bezeichnet werden. Ziel der Kommunikation ist es zwar, eine große Nähe von Bezeichnung und Bezeichnetem herzustellen, damit sinnvoll kommuniziert wird, aber letztlich bleibt es immer bei einer Streubreite mehrerer möglicher Na-

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men für einen Vorgang. Die Sprache ist nicht in der Lage, ein komplexes Geschehen exakt zu charakterisieren. Umso einfacher oder geschichtsloser der Gegenstand, desto höher die Chance einer praktikablen Definition. Umso komplexer der Gegenstand, desto größer der Variantenreichtum möglicher Definitionen. Das Thema vereinigt tendenziell einfachere Handlungen (Gesten) mit zusammengesetzten Handlungen (Riten, Zeremonien), Grundbausteine mit komplexeren Einheiten. Einfache Handlungen sind annähernd definierbar, komplex-prozesshaftgeschichtsträchtige kaum. Es braucht für diesen Problembereich graduelles Denken, welches versucht, Erscheinungen nach ihrer Komplexität zu unterscheiden. Hinzu tritt die Komponente der Historizität. Nach Friedrich Nietzsche entziehen sich „alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess“ zusammenfasst, der Definition, „definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.“1 Geschichte wird als Prozess des tatsächlichen Gewordenseins verstanden, nicht als Begriffsgeschichte. Theater besitzt solche Geschichte in den szenischen Vorgängen und in den Theaterformen, welche nicht nur von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum Anlass genommen werden, professionell Theaterbegriffe bilden, sondern auch jeder Nicht-Wissenschaftler oder Laie nutzt seinen Theaterbegriff, abgeleitet aus ihm bekannten konkreten Theaterformen.2 Begriffe wie Intermedialität, Theatralität oder Performativität sind zwar ebenfalls Bezeichnungen für Prozesshaftes, allerdings sind sie theoretische Begriffe des Diskurses. Sie besitzen wie wohl alle Begriffe, die auf ‚-ität‘ enden, jenseits der eigenen Begriffsgeschichte keine Geschichte und können somit grundsätzlich gut definiert werden. Zwar gibt es – wie bei Theater oder Medien – fast so viele Bestimmungen von Intermedialität wie damit befasste Forscher und Forscherinnen, aber eine wichtige Größe entfällt: Während die Laien durchaus je einen eigenen Theaterbegriff ausbilden, was man durch Umfragen belegen kann, un1

2

Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, in: ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, Bd. 5, S. 245–412 [316 f.]. Nietzsche exemplifiziert dies am Beispiel der Strafe, indem er deren Prozeduren [Vorgänge] als etwas „Älteres, Früheres“ beschreibt, das dann zum Strafen benutzt wird. Den Prozeduren wird ein Sinn oder vielmehr eine „Synthesis von ‚Sinnen‘ “ beigelegt. Die entstehende Einheit ‚Strafe‘ ist undefinierbar, was für die Fälle [Phänomene] im Einzelnen nicht gilt. Andreas Kotte, Theaterwissenschaft: Eine Einführung, Köln 2005, S. 64 f.

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terlassen sie dies für abstraktere theoretische Begriffe wie Intermedialität, Theatralität oder Performativität. Geste ist ein praxisnaher Begriff mit allgemein recht konzisem Verständnishintergrund. Ritual und Zeremonie sind – wie Theater – Ausdrücke für äußerst komplexes prozesshaftes Geschehen, nehmen auf der Skala von praxisnah zu theoretisch generiert eine mittlere Position ein. Sie genießen bei Laien einen bestimmten Bekanntheitsgrad, ohne dass im Normalfall das passive Verständnis zu einer durch Erfahrung gestützten Begriffsbildung (wie bei Theater) fortschreitet, was bei Intermedialität dann ausgeschlossen ist. Insofern könnte man, nach Nietzsche, am ehesten die erfahrungsfernen Begriffe Intermedialität, Theatralität oder Performativität definieren, die nur ihre Begriffsgeschichte besitzen. Dann, stark empirisch gestützt, aber weniger komplex, Geste, und am schwierigsten würde es mit den hoch komplexen relationalen Begriffen für Prozesshaftes, wie – abnehmend erfahrungsgekoppelt – Theater, Zeremonie und Ritual. Außer der diskursgenerierten theoretischen Termini bezeichnen die genannten Begriffe fast ausschließlich szenische Vorgänge, gekennzeichnet durch Hervorhebung und Konsequenzverminderung von Körperbewegungen, die stets den Rucksack ihres Gewordenseins mit sich schleppen, worüber zu handeln sein wird. Vorkenntnisse, frühere Teilnahme, Proben sind in der Aufführung, im Vollzug enthalten. Empfiehlt Nietzsche nun, wegen solcher Komplexität, Prozesshaftigkeit und Geschichtsträchtigkeit auf Definitionen zu verzichten? Wohl nicht, nur legt er nahe, dass die Definitionen je nur einzelne Aspekte der Phänomengruppen Gesten, Theater, Zermonie und Ritual erfassen können. Sie beleuchten wie eine Sonne je nur einen Teil einer opaken Kugel, die der Gegenstand der jeweiligen interessierten Wissenschaft ist. Nur einzelne Aspekte komplexer Prozesse sind definierbar. Wird auf der Ebene von Komplexität versucht, das Manko an Definierbarkeit zu verringern, kann vielleicht eine Differenzierung zwischen Kernhandlungen und Handlungskomplexen dazu beitragen. Bestandteile komplexer Handlungen müssten nach Nietzsche besser zu bestimmen sein, weil ihre Geschichte beschränkt, erfahrungsnah und das Prozesshafte weniger vielschichtig ist. Die Definierbarkeit wird einerseits durch reduzierte Prozesshaftigkeit und andererseits durch die deutlich theoretische Typbildung verbessert, wobei die Begriffe immer

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noch einen Hinweis auf das Verwendungsfeld enthalten, die Bereiche des Zeigens, der Rituale und des Magischen. Unter Gesten und Gestus soll verdeutlicht werden, dass die Bezeichnungsproblematik für die Theaterwissenschaft eine zentrale Bedeutung besitzt, entstehen doch durch Gesten szenische Vorgänge. Unter Zeigehandlungen, Ritualia und Magica (Jürgen Trabant) folgt eine auf Gesten basierende mögliche Typologie szenischer Vorgänge, wie sie für die Erforschung des Mittelalters von Vorteil sein könnte. Der letzte Abschnitt bemüht sich um eine Zusammenfassung.

Gesten und Gestus In der Spätantike wird das Wort Gestus zwar verwendet, aber erst in karolingischer Zeit wird es definiert. Es gelangt mit der actio über die Rhetorik – das Gegenteil des Spiels der Histrionen – in den Schauspieldiskurs. In Hugo von St. Viktors ‚Didascalicon‘ aus dem 12. Jahrhundert heißt es, die Geste sei „eine Bewegung und Gestaltung der Körperglieder, derart, dass sie jeder Handlung und Haltung angepasst sind [. . . ]“.3 Die Bewertung solchen Angepasstseins, das, was die Haltung im szenischen Kontext ausmacht, bezeichnet die heutige Sicht als Gestus. Hugo war es bekanntlich auch, der als einziger Gelehrter des Mittelalters die theatrica, die scientia ludorum, die Kenntnis der Spiele, in sein System der mechanischen Künste aufnahm. Sie erforderte eine bewertende Kenntnis der Gesten und stellte eine Verknüpfung mit den mittelalterlichen Spielen her.4 Jean-Claude Schmitt hat mit „Die Logik der Gesten“ ein für die Theaterforschung unentbehrliches Buch geschaffen. Nach ihm wurde im Mittelalter den Gesten zunächst eine Ausdrucksfunktion zugeschrieben, die verborgene Wirklichkeitsbezirke, das Innere der Person, die ‚Seele‘ mit ihren Lastern und Tugenden zeigt. Die Disziplinierung der 3

4

Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992 [1990], S. 167 f.: Gestus est motus et figuratio membrorum corporis, ad omnem agendi et habendi modum. Schmitt übersetzt wie angegeben und ergänzt die andere Blickrichtung: „[. . . ] aber auch: im Hinblick auf, nach Maßgabe und gemäß den Modalitäten jeder Handlung und Haltung.“ Patrologia Cursus Completus. Series Latina. 221 Bde. (PL), hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1844–1864, Bd. 176, Sp. 762 f., vgl. Andreas Kotte, Theatralität im Mittelalter: Das Halberstädter Adamsspiel, Tübingen 1994, S. 151–166.

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Gesten hatte deshalb am Äußeren des Körpers anzusetzen und zum Wandel des menschlichen Inneren zu führen. Deshalb galt auch, im Hinblick auf die Gesten, die größte Aufmerksamkeit dem „Gesicht und dem Blick – die im Mittelalter mit ein und demselben Wort, vultus, bezeichnet werden – sowie den Händen, die zu ‚sprechen‘ scheinen.“ Zweitens besitzen Gesten im Mittelalter eine Bedeutung, eine Mitteilungsfunktion, die zuerst hinsichtlich der Rhetorik untersucht worden ist. Drittens ging es stets, Ausdruck und Mitteilung verbindend, um die „Effizienz der Gesten“, am Bamberger Fürstenportal etwa bezüglich der Arbeit des Hilfsteufels, der die Kette schleppt und zieht oder seines symbolischen Handelns, dem Herausstrecken der Zunge, das auf die Endgültigkeit des Eingeschlossenseins der Verdammten hinweist. Ausdrucksund Mitteilungsfunktion sowie eben die Art des Vollzugs selbst bilden die entscheidenden Kriterien für Gesten. Ist in einem mittelalterlichen Text jedoch von gestus die Rede, dann wird „die in besonderer oder allgemeiner Bedeutung gefasste Geste genauer betrachtet, beurteilt, gewürdigt oder öfter noch angeprangert“, kurz, sie wird zum Denkobjekt.5 Die Geste ist und der Gestus bezeichnet. Wie bereits angedeutet, befinden wir uns mit diesem mittelalterlichen Verständnis von Geste und Gestus zugleich im Zentrum neuerer Schauspieltheorie: In dieser wird unter Gestik die konventionell und zeitbedingte allgemeine Gebärdensprache verstanden, eben die Gesten. Gestus aber bestimmt gesellschaftlich, historisch und lokal charakterisierte Haltungen, die als ein Komplex von Gesten, Mimik und meist sprachlichen Äußerungen in einer Figurenkonstellation erscheinen. Eine Klärung des Gestus hilft in der Dramaturgie wie in der Schauspielmethodik, komplexere Handlungen in einzelne Vorgänge zu zerlegen sowie die Drehpunkte zu bestimmen.6 In einer Krönungszeremonie zum Beispiel lässt ein sitzender, späterer Herrscher demütig Handlungen an sich vornehmen. Sein Ornat wird gerichtet, er erhält die Krone aufgesetzt, der Königsstab, das Zepter wird ihm überreicht. Der Haltungswechsel von unendlicher Geduld zu Aktivität geschieht am Ende. Der inszenatorisch so wichtige und wirksame Drehpunkt ist gegeben, sobald sich der Kaiser erhebt. Das Publikum vergleicht generell die Haltungen handelnder Figuren als Gestus – z. B. den erhabenen einer Krönungszeremonie – mit den Haltungen 5 6

Schmitt, Logik (wie Anm. 3), S. 27–29. Kotte, Theaterwissenschaft (wie Anm. 2), S. 209 f.

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von Personen im Alltag. Die Differenzen zum Alltag bestimmen die Effizienz der Gesten. Über Ausdrucks- und Mitteilungsfunktion, das ‚Was‘ des Geschehens, wirkt die Geste. Über die Haltung, die dabei eingenommen wird, das ‚Wie‘ des Geschehens, wirkt der Gestus. Für legitime Gesten, die jeweils einen Gestus im Sinne einer Haltung hervorbringen, lassen sich als gute Beispiele die idiographischen oder kodifizierten Gebetshaltungen anführen. Ähnlich wie Hugo von St. Viktor die theatrica unter die mechanischen Künste einreiht, bezeichnet Schmitts Gewährsmann Petrus Cantor den Betenden als Handwerker (artifex est orator) und die Gebetsgebärden als die korrekte Handhabung seiner „natürlichen Instrumente“, nämlich der Körperglieder. Sie stehen den „künstlichen Instrumenten“ gegenüber, derer sich die Menschen bei der Feldarbeit und beim Holzschlagen bedienen. Damit werden die Gebetsgebärden zu nützlichen Körpertechniken, die eben nicht nur im Sinne der Semiotik Seelenzustände repräsentieren, sondern auch den Affekt des Gläubigen verstärken: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Emporheben der Hände, Arme in Kreuzstellung, In Gesichtshöhe gefaltete Hände, Niederknien mit gefalteten Händen, Prostration mit gefalteten Händen, Verneigung des Oberkörpers, „Kamelstellung“ mit gefalteten Händen.

Bei der fünften Gebetsweise zum Beispiel berühren „Mund, Brust, Bauch, Arme, Knie, Oberschenkel und Zehen die Erde“, was als die vortrefflichste genuflexio gilt, und bei der siebenten (Domine exaudi) berühren Knie und Ellenbogen den Boden, die Hände sind gefaltet; sie findet sich in Klosterregeln und dient wegen der Anstrengung und den Schmerzen der Kasteiung des Fleisches.7 Gerade hier wird der Zusammenhang zwischen Wort und Vollzug, der Vorgang als Wirkungsmittel besonders deutlich. Dem geformten oder formenden Gestus steht im Mittelalter die gesticulatio gegenüber. Hugo von St. Viktor bezeichnet in ‚De institutione novitiarum‘, seinen Vorschriften für richtiges Benehmen vom Beginn 7

Schmitt, Logik, (wie Anm. 3), S. 287–292. Die entsprechende Abbildung der sieben Gebetsweisen findet sich auf S. 288.

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des 12. Jahrhunderts, mit gesticulationes „zügellose und unbesonnene Bewegungen [der Körperglieder]“.8 Als sogenannte große Geste wird die gesticulatio den Possenreißern und Schauspielern zugeschrieben. Beim Festmahl zum Beispiel kann zum Spiel musiziert werden, Gaukler treten auf, die gesticulatio findet sich bei ihnen besonders häufig im Nachahmen von Personen, aber auch in übertreibenden Vorgängen des Singens oder der Pantomime. Betätigen sich Kleriker so, dass sie den Gestus der Gaukler übernehmen, und „unter grober Missachtung ihrer Würde sich selbst zu Gauklern und Harlekinen“ machen, dann müssen sie bestraft werden. „Einem Dekret von Bonifazius VIII. zufolge genügt ein Jahr dieser schamlosen Betätigung, um sie aller kirchlichen Privilegien für enthoben zu betrachten, ohne dass irgendwelche weiteren Verfahren erforderlich wären.“9 Wenn also von Gesten im Mittelalter gesprochen wird, so sind sie keinesfalls auf ihre Bedeutungsfunktion in der Rhetorik zu beschränken. Sie gehören als Phänomene in ein Kontinuum, das von der Geste, die in ihrer Bewertung zum Gestus wird, auf der einen Seite, bis hin zur gesticulatio auf der entgegengesetzten Seite reicht. Die Rhetorik nutzt die bemessene Geste. Aber im Kontinuum trifft Ordnung auf Unordnung, formende Bewegung auf scheinbar ungeformte. Dies wird an der Schwelle des 13. Jahrhunderts sogar von der bösen Seite der gesticulatio her differenziert beobachtet. „In der um 1210 verfassten Poetria Nova des Geoffroi de Vinsauf wird ein ‚Rezitieren in drei Sprachen‘, d. h. mit Worten, Mimik und Gestik, als die im Mittelalter übliche Form des Vortrags geschildert. Während seriöse Redner alle drei Sprachen nur moderatum anwenden durften, bemühten sich die histrioni um möglichst ausdrucksstarke Mittel.“10 In seiner um 1215 entstandenen Bußsumme gab 8

9 10

Schmitt, Logik, (wie Anm. 3), S. 190 und S. 31: „Dem Terminus gestus gegenüber steht als Nachbarbegriff gesticulatio. In der gebildeten Welt des Mittelalters werden als „Gestikulieren“ solche Gesten bezeichnet, die als ausschweifend und regellos, als eitel und lasterhaft wahrgenommen werden.“ Carla Casagrande und Silvana Vecchio, L’interdizione del giullare nel vocabolario clericale del XII e del XIII secolo, Rom 1978, S. 255. Katrin Kröll, „Der schalkhaft beredsame Leib als Medium verborgener Wahrheit“, in: Mein ganzer Körper ist Gesicht: Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters, hg. von Katrin Kröll und Hugo Steger, Freiburg i. Br. 1994, S. 239–294 [285]. Als Bezug gibt Kröll an: In recitante sonent tres linguae: prima sit oris, / Altera rhetorici vultus, et tertia gestus, nach: Les Arts poétiques du XIIe et XIIIe siècle, hg. v. Edmond Faral, Paris 1958, S. 259. Die Abgrenzung von

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Thomas von Chobham eine Hilfestellung zur Scheidung der legitimen und illegitimen Histrionen. Im Abschnitt über die a priori sündhaften Berufe heißt es: Es gibt drei Arten von Spielleuten. [Erstens] solche, die ihren Körper in schandbaren Gebärden verdrehen und verbiegen und die ihre Körper auf schandbare Weise entblößen oder gräßliche Panzer oder Masken tragen: die sind alle zur Verdammnis bestimmt, sofern sie nicht ihren Beruf aufgeben. [Zweitens] gibt es andere, die nichts anderes tun als sich in fremde Angelegenheiten einmischen; sie besitzen keinen festen Wohnsitz, sondern ziehen zu den Höfen der Fürsten und verbreiten Schimpf und Schande über Abwesende. Auch diese sind der Verdammung anheim gegeben; der Apostel verbietet nämlich mit solchen Menschen zu speisen. Sie werden scurrae vagi (fahrende Possenreißer) genannt, weil sie zu nichts taugen als zum Prassen und Schmähen.11

Die dritte Kategorie der Joculatores verfügt nach Thomas über Musikinstrumente und erfreut damit die Menschen. Falls sie Taten der Könige und das Leben der Heiligen besingen und auf diese Weise Trost spenden, können sie gerettet werden. Sie halten sich mit ihrem Körperausdruck, ihren Gesten, zurück, verzichten auf das akrobatisch-mimische Moment, das Entblößung und Masken einschließt. – Gesten gehören zum Körpergebrauch und werden danach in einem Kontinuum von nützlich zu verwerflich beurteilt. Bei den nützlichen könnte das Kontinuum von gesticulus, einer kleinen Geste, ausgehen. Dann findet sich im mittleren Bereich der gesticularius, der Gestenmacher, der Pantomime. Und schließlich folgt mit gesticulatio die große, überzogene und verpönte Geste der Possenreißer.

Szenische Vorgänge Sobald Agierende vor Zuschauenden Gesten produzieren und damit in der entstehenden Situation ein Gestus erkennbar wird, bilden diese Gesten den Übergang zu szenischen Vorgängen. Die Situation gerät in Be-

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der Mimen- und Gebärdensprache der Histrionen in: Geoffroi de Vinsauf, „Documentum de modo et arte dictandi et versificandi“, in: ebd., S. 318. Vgl. Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis: Wie Wissen über Theater entsteht, Zürich 2007, S. 68–72. Obige Teilübersetzung auf S. 70, zitiert nach: Joachim Bumke, Höfische Kultur: Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1999, S. 694 f.

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wegung. Die Geste bedeutet erst einmal Hervorhebung, erkennbares Anderssein, bildet Haltungen aus. Da Gesten auch innerliche Befindlichkeiten ausdrücken, besitzen sie eine Ausdrucks- und Mitteilungsfunktion. Gesten sind Kernhandlungen, Bestandteile komplexerer Handlungen. Mit ihrer Beschreibung befinden wir uns noch weit im Vorfeld von Riten und Zeremonien und berühren nur die gestische Hervorhebung von Körperbewegungen. Sie eignet eben unter anderem dem Gebet als Handlung, wenn es denn im Beisein anderer erfolgt, die etwas anderes tun. Sie wirkt nur dann, wenn in einem interaktiven Geschehen eine Verhaltensdifferenz entsteht. Dies hat sie mit den drei anderen Formen der Hervorhebung von Körperbewegungen gemein: Eine akustische Hervorhebung der Körperbewegungen von Musikanten zum Beispiel ist gegeben durch die Differenz zu einem andächtig zuhörenden Herrscher. Örtliche Hervorhebung wäre durch ein Podium, Gerüst oder einen Tisch möglich, wenn zum Beispiel eine große Zahl von Gästen anwesend wäre und die Histrionen nur auf diese Weise gut gesehen und gehört werden könnten. Eine Hervorhebung der Körperbewegungen der Musikanten mittels dinglicher Attribute ihres Handelns läge ebenfalls vor, da die Instrumente, der Bogen bzw. das Tamburin usw. ihr Tun lenken und es in einen Gegensatz zum Tun der Zuschauer setzen. – Um Aufmerksamkeit zu erregen, reicht eine einzige Form von Hervorhebung aus, meist jedoch sind bei der Herausbildung szenischer Vorgänge gleich mehrere zu konstatieren. Zur Hervorhebung als momentanes Handlungsergebnis, zum Beispiel durch Gesten erfolgt, gehört untrennbar das Bewegungsmoment selbst. Der Vollzug muss erfasst werden, denn Hervorhebung in den verschiedensten Graden und unter den mannigfaltigsten Umständen ist so häufig anzutreffen, dass sie als alleiniges Kriterium für szenische Vorgänge die Theaterwissenschaft zu einer Lebenswissenschaft ausdehnen würde. Für eine sinnvolle Einschränkung braucht es eine zweite Komponente, die des Spiels, die auf unterschiedliche, wiederum einfach beschreibbare Handlungskonsequenzen verweist: Körperbewegungen und Handlungen von Menschen können in Vorgängen des alltäglichen Lebensprozesses gegenüber anderen Menschen auch als spielerisch erscheinen (d. h. unter aktionspsychologischem Aspekt: graduell in ihrer Konsequenz vermindert sein), wie etwa ein Turnier gegenüber einer Schlacht. Bei einer Schlacht handelt es sich um einen Kampf, des-

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Abbildung 1: Ritterlicher Zweikampf mit bewegbaren Figuren. Äbtissin Herrad von Landsberg, Hortus Deliciarum, um 1160, Illustration zu Eccl. I, 1 ff. Aus: Hans-Werner Goetz, Leben im Mittelalter: Vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, München 1986, S. 199, Abb. 27. Druck mit freundlicher Genehmigung von Aristide D. Caratzas, Publisher.

sen Konsequenz Tod heißen kann. Im Turnier rennt man auf parallelen Bahnen gegeneinander an, um den Gegner aus dem Sattel zu heben. Die Lanze zersplittert durch die Wucht des Zusammenpralls. Man kann nur von vorn, nicht wie in der Schlacht von allen Seiten, angegriffen werden. In diesem Kampf kommt es meist nur zu Brüchen oder Verletzungen. Es ist ein spielerischerer Wettkampf als die Schlacht. Die Konsequenzen des Handelns dieser beiden Spieler im ‚Hortus Deliciarum‘ der Äbtissin Herrad von Landsberg von 1160 erweisen sich als noch deutlich geringer als jene für die Kämpfer in einem Turnier oder gar jene für die Reiter und das Fußvolk in einer Schlacht. Die beiden Herren handeln klar konsequenzvermindert, ihre Körperbewegungen sind aber auch, nimmt man weitere Zuschauende an, durch die Marionetten als dingliche Attribute ihres Handelns deutlich hervorgehoben. Beim Vergleichen von Vorgängen sind somit Konsequenzverringerung oder Konsequenzsteigerung graduell beschreibbar. Vom ganzheitlichen Spiel zweier Kinder mit Bauklötzen zu einer Schlacht etwa geschieht eine enorme Konsequenzsteigerung des Handelns, von lustvoll hin zu lebensgefährlich. Im Spiel geht es immer um eine Variante von Konsequenzverminderung, sie kann aber gering oder stark ausfal-

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len. Genau dasselbe gilt für die Hervorhebungen, die ebenfalls deutlicher oder schwächer in Erscheinung treten. Findet das Marionettenspiel ohne Zuschauende statt, gibt es keine Hervorhebung, folglich keinen szenischen Vorgang. Ansonsten ist die nötige Verhaltensdifferenz durch die dinglichen Attribute des Handelns, die Marionetten, gegeben. Mit einem Kontinuum auf der Seite der Hervorhebung und einem Kontinuum auf der Seite des Spiels befreit man sich von den Dichotomien, von den apodiktischen Definitionen, von den polaren Auffassungen und nähert sich dadurch präziser den Phänomenen an, diskutiert intensiver deren Eigenschaften. Bei der Untersuchung von Hervorhebung und Konsequenz in Vorgängen sind vier verschiedene Ergebnis-Varianten zu unterscheiden: 1. weder hervorgehoben noch konsequenzvermindert (Schlacht) 2. hervorgehoben, aber nicht konsequenzvermindert (öffentliche Hinrichtung) 3. nicht hervorgehoben, aber konsequenzvermindert (Kartenspiel) 4. hervorgehoben und konsequenzvermindert (Marionettenspiel mit Zuschauenden) Nur die Kombination von hervorgehoben und konsequenzvermindert bezeichnet szenische Vorgänge. In der Hervorhebung verbindet sich sinnliche Körperbewegung mit Sinnfälligmachung, d. h. eine Handlung kann in der Hervorhebung über sich selbst hinausweisen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wechselt dabei von den Körperbewegungen der Agierenden zur Wahrnehmung des Spielerischen im Hervorheben selbst. Sie wechselt vom ‚Was geschieht hier?‘ zum ‚Wie geschieht es?‘ Ein physischer Handlungsablauf und eine Kette von Handlungsmodi werden zugleich wahrgenommen. Daraus entsteht Wirkung. Szenische Vorgänge werden unaufhörlich und in größter Mannigfaltigkeit im Lebensprozess hervorgebracht. Sie existieren als ein kontinuierlich gespeistes, unerschöpfliches Potential, das soziale Phantasie freisetzt. Sie heißen szenisch, weil darin Inszenierung anklingt, mise en scène. Denn wie Hervorhebungsmerkmale benutzt werden, ist Teil von Inszenierung im Alltag, wie stark die Konsequenzen ausfallen ebenso, beides lange vor jeder Diskussion über Theater. Irgendwann entscheiden sich dann diese oder jene Zuschauenden, diese oder jene szenischen Vorgänge Theater zu nennen oder nicht.

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Es sollte hiermit gezeigt worden sein, dass Gesten als Bestandteile komplexerer Handlungen ein Tor markieren, durch welches man Zutritt erhält zum Gegenstandsbereich der Theaterwissenschaft. Von den unendlich vielen szenischen Vorgängen wird sie zwar immer nur einen Bruchteil untersuchen können, aber der phänomenologische Zugriff erfolgt – wie dargestellt – vom Lebensprozess aus und dringt vom Einzelnen zum Allgemeinen vor.12 Die Untersuchung von Gesten – zwischen legitim und illegitim – im Vorfeld mittelalterlicher Theaterformen ist ein kaum überschaubarer Gegenstandsbereich. Er erfordert es, nach Klassifikationsmustern Ausschau zu halten, um sinnvolle Gruppenbildungen vornehmen zu können. Vor allem sollten nicht nur äußerliche, formale Merkmale Berücksichtigung finden, sondern auch funktionale, die etwas von den Wirkungsmöglichkeiten der Gesten preisgeben.

Zeigehandlungen Vor einem solchen Hintergrund rückt ein früher Vorschlag zur Typologie von Handlungen wieder ins Blickfeld, den im Jahr 1976 der Romanist Jürgen Trabant unterbreitet hat. Er unterschied zwischen Zeigehandlungen, Magica und Ritualia.13 Zum Beispiel weist der Engel am Grab auf einem der Luzerner Hofbrückenbilder mit der einen Hand auf die drei Marien, die gekommen sind, den Leib des Herrn zu salben, mit der anderen deutet er auf das leere Grab, sie mögen sich doch von Jesu Auferstehung überzeugen.14 Solche Zeigehandlungen entfalten sich in der Spielpraxis zu szenischen Vorgängen par excellence. Sie wirken durch die Verknüpfung von gestischer Hervorhebung und Konsequenzverminderung. Trennt schon die Sitzhaltung den Engel von den stehenden Besucherinnen, so wird diese Differenz durch die doppelte hinweisende Geste klar gesteigert. Die Konsequenz seines Handelns ist nicht jener gleich zu setzen, die nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung eine niedersausende Axt auf einen Holzblock ausübt, sondern sie lässt Möglichkeiten offen. Die Konsequenz ist vermindert, eröffnet 12 13 14

Ausführlich zum szenischen Vorgang als Ausgangspunkt für Theater: Kotte, Theaterwissenschaft (wie Anm. 2), Kapitel 1 bis 3. Jürgen Trabant, Elemente der Semiotik, erw. u. überarb., Tübingen 3 1996 [1976]. Vgl. Sabina Kumschick, Der Bilderweg auf der Hofbrücke in Luzern. 2 Bde., hg. von Heinz Horat, Bd. 1, Die Gemälde, Luzern 2002, S. 385, Abb. 186 („Die drei Frauen am leeren Grab“).

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einen Interpretationsspielraum: Was mag wohl im Grab liegen? – Zeigehandlungen sind szenische Vorgänge, und als solche zweckhaft. Als Zweck fungiere das Verstehen, so Trabant zu seiner Kategorie. Zeigehandlungen seien kooperativ und semantisch. Sie müssten „gemeinsamer Besitz“ der Beteiligten sein. Genau deshalb kann in den Osterfeiern seit dem 10. Jahrhundert eine besondere emotionale Wirkung eintreten, sobald eben nach dem Ostertropus und vor dem ‚Te Deum‘ das Grabtuch stumm gezeigt wird. Der Engel ruft in der ‚Regularis Concordia‘ die Marien an das Grab zurück, hebt den Vorhang oder schiebt ihn beiseite. Die Marien setzen die Rauchfässer ins Grab, nehmen das Tuch, in welchem das Kreuz eingewickelt war, und zeigen es demonstrativ, bevor sie die Antiphon ‚Surrexit Dominus de sepulchro‘ anstimmen.15 Die Abwesenheit Christi wird in der stummen Handlung manifest, d. h. bewiesen. Die Geste als zu verstehende Zeigehandlung, die hervorgehoben und konsequenzvermindert und dadurch ein szenischer Vorgang ist, gewinnt im Zusammenhang der Osterfeier an Komplexität. Denn die Wirkung der Handlung mit dem Requisit Grabtuch liegt genau in der „Lücke“ zwischen gesungenen Texten. Stille steigert hier emotionales Erleben. Sie verankert das Geschehen im Gedächtnis. Eine Spannung wird erzeugt durch einen nicht erklärten, überraschenden Beweis, der stumm offeriert wird. Das Ereignis verkehrt den Alltag, da Leichname normalerweise nicht verschwinden.

Ritualia Mit dem Begriff Ritualia ist hier kein Ritualzubehör gemeint, wie z. B. Chanukka-Kerzenständer aus Aluminium oder Messing oder etwa eine kleine Tora-Rolle. Trabant benutzt den Begriff für wiederholte und teilweise schon reflexartige Handlungen wie die verschiedenen Arten des Grüßens oder das ‚Sich bekreuzigen‘. Sie seien weder semantisch noch informativ, sie dienen nicht der Verständigung, wohl aber der Bestätigung gesellschaftlicher Relationen. Hatten wir unter der grob formalen Kategorie Geste auch Gebetsweisen erfasst, so legt der funktionale Aspekt eine Zuordnung zu den Ritualia nahe, wenn nicht im Spezi15

Äthelwold von Winchester, „Regularis Concordia“, in: Geistliche Spiele: lateinische Dramen des Mittelalters mit deutschen Versen, hg. v. Karl Langosch, Berlin 1957, S. 100 f.

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alfall beispielsweise einer Anrufung die (Selbst-)Verständigung hervortritt. Anders als die Zeigehandlung des Engels auf dem Luzerner Hofbrückenbild oder jene des Engels auf der dortigen Weinmarktbühne wird in Ritualia nicht direkt eine Bedeutung übertragen (schaut nach, ob Jesus auferstanden ist!), sondern die Geste oder Gebärde drückt zuerst einen Abstand aus, Respekt, auch die Bitte, erhört zu werden. Ritualia, ritualisierte szenische Vorgänge, können Teilhandlungen komplexer Rituale oder Zeremonien sein. Sie bestätigen gesellschaftliche Relationen, wie dies zum Beispiel beim Königseinzug, etwa auf einer Abbildung des Einzugs von König Sigismund in Bern, zu erkennen ist.16 Am 3. Juli 1414 traf Sigismund in Bümpliz ein, wo ihn ein festlicher Zug abholte: die Jugend der Stadt zuerst, dann die Geistlichkeit, Schultheiß und Räte. Der König, begleitet durch den Grafen von Savoyen, wird ehrfürchtig kniend durch die Berner Knaben begrüßt. Jeder trägt eine Mütze mit dem Wappenschild des Reiches und hält ein Fähnchen mit dem Reichsadler oder dem Berner Bären. Danach wird der König von der Geistlichkeit und den Würdenträgern empfangen, die ihn zur Stadt geleiten. Ritualia wie das Grüßen oder Begrüßen oder das Kreuz schlagen bilden also, ganz dem normalen Lebensprozess verhaftet, den Ausgangspunkt für Rituale als umfangreiche, inszenierte und hoch komplexe Handlungsgefüge, die sich ausdehnen können bis zur Kaiserkrönung oder einem Parteitag. Rituale finden in einem religiösen oder profanen Umfeld statt. Für das engere Verständnis von Ritual gilt ein Mythosbezug als grundlegend (wie das Kreuz schlagen). Der Vollzug ist gekennzeichnet durch Regeln, ohne deren Einhaltung die Wirkung des Vorgangs in Frage steht, z. B. die Erneuerung der Stadtrechte durch einen Herrscher. Das Ritual ist ein Vorgang mit Tat. Daneben vertieft Traditionsbildung, also Wiederholung, den Erfolg. Dramaturgie gliedert die Abläufe, die Inszenierung sieht Wechsel und Steigerungen vor und schafft eine formale Einheitlichkeit. Rituale erzwingen Verhaltensnormierung und wirken integrativ. Ein Ritual kann von einer Einzelperson oder von Menschengruppen vollzogen werden. Es kann eine Trennung in Agierende und Schauende bedingen oder nicht. Bei einigen komplexen Ritualen, wie z. B. 16

Die Schweiz im Mittelalter in Diebold Schillings Spiezer Bilderchronik, hg. von Hans Haeberli und Christoph von Steiger, Textedition bearb. v. Urs Martin Zahnd, Luzern 1991, S. 601. Vgl. die Beschreibung ebd.

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Abbildung 2: Links: Rekonziliation eines Klerikers mittels Handauflegung. Rechts: Der Bischof absolviert außerhalb der Kirche einen Exkommunizierten mittels eines Stabes. Beide Holzschnitte aus einem Pontifikalbuch von 1520, gedruckt wahrscheinlich in Venedig. In: Athelstan Riley, Pontifical Services. Illustrated from Miniatures of the XVth and XVIth Centuries. Vol. 4, London 1908 (Alcuin Club Collections 12), Fig. 109, S. 123, und Fig. 113, S. 127.

Initiationsriten ( Jungen werden zu Kriegern ausgebildet) fehlen über weite Strecken die Zuschauenden, die Hervorhebung schwindet; es handelt sich dann nicht mehr um szenische Vorgänge, weil, wie dies Arnold van Gennep beschrieb, die Transformation der Beteiligten in den neuen Zustand in den Vordergrund rückt.17 Die Jugendlichen sind am Ende tatsächlich erwachsene Krieger geworden. Wenn auch Trennungsund Aggregationsritus als szenische Vorgänge ablaufen können, so fehlt doch dem sogenannten nicht normalen Zustand dazwischen, der Ausbildungszeit, die Hervorhebung: der szenische Vorgang löst sich auf, um am Ende neu zu entstehen. Findet ein tatsächlicher Statuswechsel statt, überschreitet das Ritual auch durch diese Konsequenz die Grenzen szenischer Vorgänge, die man gerade an solchen Übergangsphänomen gut bestimmen kann.18

Magica Von Zeigehandlungen und Ritualia unterscheiden sich Magica dadurch, dass mit ihnen Gegenständen oder Menschen Eigenschaften verliehen 17 18

Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt a. M. 1964, S. 145; Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt a. M. 2 1986 [1909]. Kotte, Theaterwissenschaft, (wie Anm. 2), Kapitel 3.

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werden. Ein Kleriker, der z. B. bei einem Fest in Frauenkleidern aufgetreten war und zur Laute zotige Lieder gesungen hatte, wie wir die harmlosesten aus den ‚Carmina Burana‘ kennen, hatte eine öffentliche oder eine private Buße zu übernehmen und konnte danach rekonziliert, also wieder in die Gemeinschaft der anderen Kleriker aufgenommen werden. Bei solcher Rekonziliation durch Handauflegung vermittelt der Bischof, der hier als Medium Gottes wirkt, den göttlichen Segen. Wie durch ein reinigendes Bad werden die Sünden ausgewaschen. Rein zu sein von diesen Sünden, das ist die neue Eigenschaft, der sich der Kleriker erfreut. Der Vorgang ist für die Umstehenden klar hervorgehoben, gestisch, akustisch und durch dingliche Attribute wie den Bischofsstab und die Mitra; er ist konsequenzvermindert, insofern er ohne die echte, die wahre Reue des Sünders überhaupt nichts zu bewirken vermag und äußerlich bleibt. Der szenische Vorgang Rekonziliation konnte auch mittels des dinglichen Attributs Stock oder Stab vorgenommen werden, der dem Exkommunizierten auf die Schulter aufgelegt wurde. Einfache Kleidung des Bischofs, Verzicht auf die Insignien seiner Macht, konnten seine dienende Funktion, die Mittlerstellung, das mediale Moment, besonders akzentuieren. – Handauflegungen sind nicht nur bei der christlichen Taufe üblich, sie werden bei der Firmung, Weihe, auch bei Eheschließungen und der Krankensalbung ausgeführt. Ob der Segen übertragen wird, magische Kräfte oder eine bestimmte Vollmacht, ist von der Religion abhängig. Bei der Handauflegung wird die Einheit von Wort und Vollzug betont. Heil und Hilfe wirken nicht nur durch Worte, z. B. das stets mit der Handauflegung einhergehende Weihegebet, sondern die Worte können überhaupt nur wirken durch den Vollzug der Handlung. Das galt im Mittelalter für sakrale wie weltliche Handlungen. Die Handauflegung des Bischofs leitet zwanglos über zum Ritterschlag innerhalb der Schwertleite, die den Statuswechsel vom Edelknappen und Junker zum Ritter bezeichnet. Meist im zeremoniellen Teil eines Hoffestes musste der Junker vor seinem Dienstherrn kniend den Ritterschwur sprechen. Er gelobte, mutig, tapfer und großzügig zu Freunden zu sein, Verrat und üble Taten zu meiden, Notleidende zu beschützen, seinem Lehnsherrn zu dienen und seinen Pflichten als christlicher Ritter nachzugehen. Dann erfolgte der eigentliche Ritterschlag, der in frühen Zeiten ein Schlag mit der Hand ins Gesicht oder auf die Schulter

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gewesen sein soll, später berührte die Schwertklinge die Schulter. Die Kraft und die Tugenden wurden durch das Schwert auf den Knienden übertragen. Bei dieser Geste handelt es sich weder um eine Zeigehandlung, noch um eine nur symbolische Handlung. Der Vorgang ist wegen der Eigenschaftsübertragung zu den Magica zu zählen. Gleichzeitig geschieht ein Statuswechsel, der auch eine Betrachtung dieses szenischen Vorgangs unter dem Blickwinkel eines Rituals rechtfertigt. Der Neuritter darf nun an Turnieren teilnehmen und auf die Jagd gehen, denn er besitzt das Recht auf ein eigenes Pferd und eigene Waffen. Bei der Übergabe der Waffen konnte das Schwert dem gestreckt aufrecht stehenden Ritter, Hände über dem Kopf zusammengelegt, umgebunden werden, er wurde umgürtet.19 Dies sollte ihm helfen, den Augenblick zu verinnerlichen: passiv das Gewicht des Schwertes spüren, leiblich erfahren, dass es mit der Eigenschaft, nun Ritter zu sein, übertragen wird.

Zusammenfassung Wo außer Ritual und Zeremonie von den Zuschauenden auch die Bezeichnung Theater für szenische Vorgänge erwogen wird, erfüllen nach Trabant die Zeigehandlungen das Ziel, die Aufmerksamkeit des Verstehenden zu lenken: Statt nur auf das ‚Was wird gezeigt?‘ richte sich, meint er, die „Aufmerksamkeit auf die Handlung selbst, auf die Art und Weise, wie der Handelnde“ an das Verstehen des Zuschauenden appelliert. Trabant billigt nur den Zeigehandlungen und auch diesen erst dann, wenn er sie „ästhetische“ Handlungen nennt, zusätzlich zum ‚Was‘ das ‚Wie‘ zu.20 Dies erscheint problematisch, da selbst bei Zeigehandlungen im produktiven Bereich (Flaggenmaat, Einweiser auf dem Flugplatz), neben dem ‚Was‘ – also: Worauf wird verwiesen? – bei Zeigehandlungen stets die Frage steht, auf welche Art und Weise, wie der Handelnde auf das Verstehen und Empfinden der oder des Zuschauenden und sein eigenes einwirkt. Die Geste oder die Gesten führen zwangsläufig zu einem Gestus, einer Haltung. Zum ‚Was‘ tritt im Vollzug zwangsläufig das ‚Wie‘, und eben nicht nur dann, wenn es um die Bezeichnung Theater geht. Bei der vierten Gebetsweise etwa, dem Kniefall, durften Vgl. Abb. einer Schwertleite im Ausstellungsband von Didier Méhu, Gratia Dei: Wege des Mittelalters, Freiburg i. Br. 2004, S. 152. 20 Jürgen Trabant, Elemente (wie Anm. 13), S. 135 f.

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die Knie „auf keiner wie immer gearteten erhöhten Auflage, weder auf einem Stein noch auf einem Stück Holz ruhen, zwischen ihnen muss[te] der gleiche Abstand liegen wie zwischen den Fußspitzen, da das Gebet ansonsten ‚erschwindelt‘, mithin ‚falsch‘“ und unwirksam war.21 Selbst in den Ritualia, in denen eine gesellschaftliche Beziehung bestätigt wird, und in den Magica, die eine Übertragung von Eigenschaften gestatten, gilt m. E. der Grundsatz, dass Gesten und Sprache den Gestus erzeugen. Es ist bei weitem nicht egal, wie der Papst begrüßt wird, ja nicht einmal, wie Nachbarn begrüßt werden. Und bei den Magica sind die Haltungen oft sogar vorgeschrieben, die einzunehmen sind, damit die Übertragungen göttlicher Kraft oder ritterlicher Tugenden usw. überhaupt möglich werden. Das ‚Wie‘ tritt bei allen diesen Handlungsvollzügen zur jeweiligen Hauptfunktion hinzu. Handlungen setzen sich als zielgerichtet vom bloßen Verhalten ab. Es ist aus Definitionsgründen vorteilhaft, 1. graduell nach einfachen Bestandteilen von Handlungen und Handlungsgefügen zu unterscheiden. Beschreibt man dann solche Kernhandlungen, formal unterschiedene Bestandteile, wie z. B. Gesten, ist es spannend, 2. nach der Ausbildung szenischer Vorgänge bzw. dem sonstigen Status (weder hervorgehoben noch konsequenzvermindert, nur hervorgehoben, nur konsequenzvermindert) der Handlungen zu fragen, weil man daran sieht, ob sie als Ausgangspunkte für Theater in Frage kommen. 3. ist es sinnvoll, Handlungsbestandteile wie z. B. Gesten statt nur formal tiefer nach Funktionen zu unterscheiden (z. B. verstanden werden, Normen bestätigen, Eigenschaften übertragen) – als jeweils dominierende Funktion. Einzelne Gesten und Gebärden, szenische Vorgänge im Anfangsstadium, in der Herauslösung aus alltäglichen Handlungen begriffen, können in Zeigehandlungen, Ritualia und Magica differenziert werden, wobei bei Zeigehandlungen das, worauf verwiesen wird, im Mittelpunkt steht. Bei Ritualia ist die Funktion, gesellschaftliche Relationen zu sichern, zentral. Und bei Magica geht es vor allem um die Übertragung von Kräften und Eigenschaften. Allgemein ist bei den Zeigehandlungen 21

Schmitt, Logik (wie Anm. 3), S. 290.

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wichtig, was der Handelnde dem Verstehenden mitteilt. Bei Ritualia ist entscheidend, dass der Handelnde sie ausführt, bei den Magica, dass etwas übertragen wird. Die Differenzierung macht Sinn im Unterschied zu solchen produktiven Handlungen, die das Überleben sichern, indem am Ende ein Produkt handgreiflich oder als Dienstleistung vorliegt. – Zum ‚Was geschieht?‘ tritt jeweils das ‚Wie geschieht es?‘ – Zeigehandlungen, Ritualia und Magica sind als szenische Vorgänge Grundbausteine komplexer Handlungsgefüge, die dann z. B. als Rituale oder Zeremonien oder Theater bezeichnet werden können, abhängig davon, welchen Aspekt man beleuchten möchte. Folgende Aussage zum Beispiel: „Eine Krönung ist eine Zeremonie, die als Ritual abläuft“, beschreibt die Krönung als einen geregelten, inszenierten, erhabenen Vorgang von höchstem Schauwert (Aspekt Zeremonie), der einen Mythosbezug besitzt sowie einen Statuswechsel beinhaltet (Aspekt Ritual). Mit der Begrifflichkeit der Zeigehandlungen, Ritualia und Magica kann auf Ursprünge, Kernhandlungen, Handlungsfunktionen besser hingewiesen werden, als wenn man formal ordnend nur von Gesten spricht, die sich von zum Beispiel Arbeitshandlungen in einem engen Sinne – wie schnitzen, rudern, graben – unterscheiden. Zeremonie und Ritual gelten hingegen wie Theater als relationale Begriffe – wegen ihrer Prozesshaftigkeit, Komplexität und Geschichtsträchtigkeit nach Nietzsche nicht definierbar und deshalb oft durch lange Sammeldefinitionen umschrieben –, die Aspekte zusammengesetzter Vorgänge und ganzer Ereignisse erhellen. Ritualia, Magica und Zeigehandlungen sind Kernhandlungen mit Bestätigungs-, Übertragungs- und Darstellungsakten, wenn hervorgehoben und konsequenzvermindert, szenische Vorgänge, für die ab einer gewissen Komplexität auch Bezeichnungen wie Zeremonie (bei besonderer Repräsentationskraft), Ritual (bei Statuswechseln) und sonst Theater benutzt werden. Mit steigender Prozesshaftigkeit, Komplexität und Geschichtsträchtigkeit nimmt die Definierbarkeit ab. Genau darin liegt die Bedeutung gradueller Unterscheidungen.

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Das Motiv der Blutsbrüderschaft: Ein Ritual zwischen Antike, Mittelalter und Gegenwart Klaus Oschema (Heidelberg / Bern) Die Untersuchung rituellen und ritualisierten Handelns wurde für die historische Mittelalterforschung zwar nicht erst vor kurzem entdeckt, aber doch erst in jüngerer Zeit als fruchtbarer oder gar zentraler Zugang anerkannt. Entstammen die fachinternen Motive für die damit verbundene Perspektivenverschiebung tiefgreifenden und intensiven Methodendiskussionen, so lässt sich doch nicht leugnen, dass die Effekte dieser Orientierung zugleich dem neu erwachenden Interesse eines breiteren Publikums am Mittelalter entgegenkommen: Schließlich rücken nun Aspekte der historischen Überlieferung in den Mittelpunkt der Analyse, die in den zentralen Beiträgen früherer Zeiten als anekdotisch oder nebensächlich verworfen worden wären.1 Ohne jeden Zweifel fällt es aber leichter, ein Publikum für die Betrachtung von Verhaltensweisen zu begeistern, die sich auf den ersten Blick durch eine zuweilen spektakuläre Fremdheit auszeichnen, als für die Diskussion hochgradig abstrakter Fragen der politischen oder administrativen Organisation in einem klassischen Zuschnitt. 1

Dies betont einleitend Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 9 f. So avancierte etwa der berühmte Fußfall Kaiser Heinrichs II. vor dem versammelten Klerus seines Reichs auf der Frankfurter Synode im November 1007 vom beiläufig als Skurrilität mitgeteilten Ereignis in den „Jahrbüchern der deutschen Geschichte“ zu einem zentralen Schlüssel für das Verständnis der Bedingungen hochmittelalterlicher Herrschaft, s. Siegfried Hirsch, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Heinrich II. Bd. 2, Berlin 1864 [ND Berlin 1975], S. 67 f., sowie im Vergleich die jüngsten Darstellungen bei Stefan Weinfurter, Heinrich II. Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 1999, S. 257 f.; ders., „Heinrich II. (1002–1024)“, in: ders. und Bernd Schneidmüller (Hg.), Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I., München 2003, S. 97–118 [115 f.], und Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000, S. 214–216, sowie ders., Macht der Rituale, S. 123–125.

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In dieser (natürlich ganz unzulässig) verknappenden Gegenüberstellung zweier Zugänge zu historischen Ereignissen und Phänomenen sind bereits zwei Ebenen der Ausdifferenzierung zu erkennen. Am auffälligsten mag die Verschiebung des Gegenstandsbereichs sein, die unausweichlich mit einer gewandelten Quellenbasis einhergeht. Verlangt nämlich die traditionelle, auf die politischen Ereignisse, Strukturen und Akteure ausgerichtete Geschichtsschreibung in erster Linie den Blick auf ein zuweilen spröde und trocken wirkendes Quellenmaterial, wie Urkunden, Gesetze und politische Traktatliteratur, so liefern für einen Zugang über den Aspekt rituellen Handelns vor allem narrative Texte im weitesten Sinne reichhaltiges Material. Gerade der spezifische Charakter und die Interpretationsvorbehalte gegenüber solchen Quellen sollen im Folgenden in den Mittelpunkt der Untersuchung rücken. Zuvor ist aber eine weitere Ebene anzusprechen, die weniger offensichtlich, aber sicher ebenso bedeutsam ist, da sie die grundlegende Ausrichtung des Zugangs zur Vergangenheit entscheidend beeinflusst: Die klassische Frage nach den Parametern von Staatlichkeit und Gesellschaft des Mittelalters ging lange Zeit von der normativ prägenden Vorstellung des modernen Nationalstaats aus, der als teleologischer Endpunkt einer epochenübergreifenden Entwicklung erschien. An eben dieser Position aber befanden sich die Historiker und ihre Gesellschaft selbst; sie konnten sich damit als Erben einer Vorgeschichte empfinden, welche sich ohne grundlegenden Bruch auf sie zu bewegte. Dem gegenüber ist der Blick auf die Rituale zunächst einmal durch die Fremdheit (und damit die Unterschiedlichkeit) der beobachteten Kultur charakterisiert, wie es etwa auch dem ethnologischen Blick zu Eigen ist. Mit der grundsätzlichen Annahme einer Differenzsetzung ist aber unausweichlich eine Vervielfältigung der möglichen Perspektiven verbunden, die nun nicht mehr durch die kohäsive Kraft einer stillschweigend vorausgesetzten Kontinuitätsannahme zusammengehalten werden. Das Fremde und das Andere werden zwar in den historisch zu fassenden Konstellationen gerne auf der Basis einer Inversionslogik konstruiert, welche die Auszugrenzenden mit dem Gegenteil der innerhalb einer bestimmten Gesellschaft geltenden, normativen Leitsätze attribuiert. Dieser Prozess mündet aber keineswegs in eine eindeutig spiegelnde Konstruktion. Eine solche wird dabei nicht in erster Linie durch die Widerständigkeit empirisch fassbarer Realitäten verhindert, welche

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die freie Verfügbarkeit einzelner Motive der Fremdbeschreibung unter Umständen einschränken, sondern vor allem durch die Existenz mehrpoliger Gegensatzpaare, die der Eindeutigkeit klarer Dichotomien entgegenwirken. Nähert man sich nun dem Untersuchungsgegenstand „Mittelalter“ insgesamt unter der Vorgabe einer Fremdheitsvermutung, so ist auch hier im Ergebnis mit einer Vermehrung der Perspektiven zu rechnen, die unterschiedliche Modi der Bezugnahme erlaubt, von denen auch die untersuchenden Historiker(innen) betroffen sind. Wenn im Folgenden also „Blutsbrüderschaften im Mittelalter“ den materiellen Gegenstand der Darstellung bilden, dann erfolgt diese Themenwahl vor allem aufgrund der Annahme, dass dieses Objekt es in besonders deutlicher Weise erlaubt, die angesprochene Vielfältigkeit und deren Chancen wie deren Gefahren vorzustellen und zu erläutern.

Bild und Konzept der Blutsbrüderschaft – die Freundschaft der Skythen Zur Verdeutlichung dessen, was ich hier unter (ritueller) Blutsbrüderschaft verstehen möchte,2 mag ein Beispiel des späten 12. Jahrhunderts hilfreich sein, wobei bewusst kein Text eines christlichen Autors gewählt werden soll. Ab 1174 reiste der wohl in Regensburg geborene Rabbi Petachja auf dem Landweg von Prag aus durch das östliche Europa und weiter nach Bagdad und Ägypten.3 Sein Bericht über diese Fahrt, 2

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Den fundiertesten Überblick aus anthropologischer Perspektive bietet weiterhin Harry Tegnaeus, Blood-Brothers. An Ethno-Sociological Study of the Institutions of Blood-Brotherhood with Special Reference to Africa, Stockholm 1952; vgl. auch Robert Brain, Freunde und Liebende. Zwischenmenschliche Beziehungen im Kulturvergleich, Frankfurt a. M. 1978, S. 97–116 [Kap. 4: „Blutsbrüder“], und Shmuel N. Eisenstadt, „Ritualized Personal Relations: Blood Brotherhood, Best Friends, Compadre, etc.: Some Comparative Hypotheses and Suggestions“, in: Man 56 (1956), S. 90–95. Zu Fehlschlüssen, die auf der mangelnden Übersetzbarkeit metaphorischer Kernbegriffe (wie etwa „Blut“ als Formel für biologische Verwandtschaft) beruhen, vgl. knapp im Bezug auf künstliche Verwandtschaftsmodelle im arabischen Kulturkreis Edouard Conte, „Affinités électives et parenté arabe“, in: Études rurales 157–158 (2001), S. 65–94 [66–68]. Knapp zu Petachja Günter Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung, München 1977, S. 145 und 245 [Bibliographie]. Den Bericht bietet in deutscher Übersetzung mit Kommentar Benjamin von Tudela. Petachja von Regensburg. Jüdische Reisen im Mittelalter, hg. und übers. v. Stefan Schreiner, Leipzig 1991, hier

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der sich in der Textanlage nur unmaßgeblich von zeitgleichen christlichen Berichten unterscheidet, bietet an einer Stelle eine deutliche Beschreibung des uns interessierenden Phänomens: Nachdem der Erzähler Kiew hinter sich gebracht und auch die Strecke bis zum Dnjepr zurückgelegt hat, trifft er auf die Bewohner des Landes Quedar, die auch als Kumanen bekannt sind.4 Dieses Volk schildert er als recht primitiv, da die Kumanen nicht über Boote verfügen, kein Brot kennen und das Fleisch nicht durch Kochen zubereiten, sondern indem sie es unter ihren Sattel legen und durch die Hitze der beim Reiten schwitzenden Pferde garen lassen. In diesem offensichtlich wilden Land bewegen sich Reisende nur in Begleitung, also wohl in Form einer Karawane, und versichern sich dabei in besonderer Weise der Solidarität ihrer Begleiter: Und dabei schwören die Qedariter einander: Der auf Reisen geht, sticht sich mit einer Nadel in den Finger und hält ihn dem hin, der sich mit ihm auf den Weg begeben will, damit dieser mit seinem Munde das Blut aufsaugt, und er ihm gleichsam sein Blut und sein Fleisch wird.5

Diese knappe und erstaunlich unspektakuläre Beschreibung bietet mehrere inhaltliche Bestimmungen, die dem modernen Leser recht problemlos zugänglich erscheinen, kennt er doch die angesprochene Praxis (mit kleineren Modifikationen) nicht nur aus der ethnologischen Forschung und aus ethnographischen Beschreibungen,6 sondern auch aus populären Romanen, welche die Blutsbrüderschaft in den Zusammenhang archaisch-romantisierender Freundschaftsbindungen stellen.7 Mit diesem Vorwissen scheinen die technischen Aspekte des rituellen 4 5 6 7

S. 191–199. Siehe knapp Hansgerd Göckenjan, „Kumanen“, in: Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. [im Folgenden LexMA], München 1978–1999, Bd. 5, Sp. 1568 f. „Die Reise des Rabbi Petachja ben Ja’aqov von Regensburg“, in: Benjamin von Tudela. Petachja von Regensburg, hg. v. Schreiner (wie Anm. 3), S. 121–164 [124]. Vgl. Anm. 2. Im deutschen Sprachraum am bekanntesten ist wohl das Beispiel der Schwurfreundschaft Winnetous mit Old Shatterhand in Karl Mays Abenteuerroman Winnetou der rote Gentleman. 1. Band, Freiburg i. Br. 1893 [ND Bamberg 1982 u. a.], S. 416. Dies ist aber bei weitem nicht das einzige Beispiel; so erscheint das Motiv etwa auch in Richard Wagners Bearbeitung des Nibelungenstoffs, s. Klaus van Eickels, „Der Bruder als Freund und Gefährte. ‚Fraternitas‘ als Konzept personaler Bindung im Mittelalter“, in: Familie und Verwandtschaft, hg. v. Karl-Heinz Spieß, Ostfildern (im Druck) (Vorträge und Forschungen).

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Bündnisschlusses ohne Schwierigkeiten verständlich und die Details von Petachjas Text können uns als Basis für einen Idealtyp der „Blutsbrüderschaft“ dienen: Hierunter ist demnach die rituelle Herstellung einer personalen Bindung zwischen zwei oder mehr Individuen zu verstehen, die durch das gegenseitige Einverleiben des Blutes der Beteiligten erfolgt. Dieser „Austausch“ ist dabei entweder (wie im vorliegenden Fall) auf direktem Wege zu bewerkstelligen, indem zu diesem Zweck zugefügte Wunden in Kontakt gebracht werden oder das hervortretende Blut gegenseitig getrunken wird. Er kann aber auch auf mittelbare Weise erfolgen, indem das Blut zunächst außerhalb des Körpers in einem Gefäß aufgefangen und vermischt wird, wobei sich auch weitere Substanzen wie etwa Wein oder Milch beifügen lassen, und erst dieses Gemisch dann wechselseitig getrunken wird. Für alle der solcherart beschriebenen Techniken lassen sich in Texten der Antike und des Mittelalters Belege finden.8 Eine der ältesten und zugleich detailliertesten Passagen die wir kennen, bietet Herodot, der aufgrund seiner im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verfassten „Historien“ bereits Cicero als „Vater der Geschichte“ galt.9 Seine Beschreibung der Gebräuche der Skythen, eines Volkes, das nicht nur in den „Historien“ die Rolle eines negativen Spiegels der zivilisierten griechischen Lebenswelt einnimmt,10 sondern das in der mittelalterlichen Weltwahrnehmung häufig mit den bereits genannten Kumanen identifiziert wurde,11 enthält unter anderem einen Verweis auf die Pra8

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Einen Überblick zu den einschlägigen Quellen bietet jetzt Klaus Oschema, „BloodBrothers: A Ritual of Friendship and the Construction of the Imagined Barbarian in the Middle Ages“, in: Journal of Medieval History 32 (2006), S. 275–301; vgl. auch van Eickels, „Der Bruder als Freund“ (wie Anm. 7). Für eine kurze Einschätzung s. Justus Cobet, „Herodot“, in: Hauptwerke der Geschichtsschreibung, hg. v. Volker Reinhardt, Stuttgart 1997, S. 281–284 [Zitat 281]. François Hartog, Le miroir d’Hérodote. Essai sur la représentation de l’autre, Paris 2 2001, S. 57–67, und Reinhold Bichler, Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin 2 2001, S. 89 f. und 109. Zur Geschichte dieses Volkes s. knapp Hansgerd Göckenjan, „Skythen, Skythien“, in: LexMA 7, Sp. 1999 f., und Hermann Parzinger, Die Skythen, München 2004, S. 6, der bereits einführend unterstreicht: „Seit dem 2. Jh. v. Chr. sind die Skythen [. . . ] aus der Geschichte verschwunden.“ Wenn im Folgenden von den Skythen die Rede ist, so handelt es sich also vielmehr um eine Chiffre als um eine konkret applizierbare Bezeichnung eines Volks oder einer Kultur. Neben einer, wie hier angedeutet, regelrecht topischen Verwendung des Begriffs, wird dieser bereits

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xis beschworener Bündnisse. Diese wurden Herodot zufolge dadurch geschlossen und befestigt, dass die beteiligten Personen sich selbst einen Schnitt zufügten und das austretende Blut in einer Schale mit Wein vermischten. In die Flüssigkeit wurden dann Waffen getaucht, woraufhin die Schwörenden und ihre edelsten Getreuen nach feierlichen Eidesleistungen das Blut tranken.12 Die Besonderheit dieses spezifischen Beispiels (denn Herodot schreibt den Abschluss von Blutsbrüderschaften in variierter Form auch noch weiteren Völkerschaften zu, etwa den Lydern, den Medern und den Arabern)13 erweist sich bei einem Blick auf die antike und mittelalterliche Texttradition zu den Skythen und später den Kumanen, wie sie bereits angedeutet wurde. Noch in römischer Zeit wurde das Motiv der skythischen Blutsbrüderschaft ausgearbeitet und erscheint im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Lukians Dialog „Toxaris“ in einer idealisierten, ja beinahe romantisierenden Lesart.14 Die Skythen werden hier in literarischer Stilisierung als „edle Wilde“ dargestellt, die sich nicht nur durch ihre Kampfbereitschaft auszeichnen, sondern auch durch ihren besonderen Freundschaftskult. Im „Toxaris“ streiten sich daher der Grieche Mnesippus und der Skythe Toxaris darum, welches der beiden Völker die Freundschaft höher schätze und intensiver kultiviere. Das entscheidende Kriterium, an dem die beiden Disputanten ihre Argumentation orientieren, besteht dabei ganz in Übereinstimmung mit der literarischen Tradition in der Bereitschaft, für den Freund Opfer in Kauf zu nehmen.15 Während die von Mnesippus angeführten Exempel herausragender Freundschaftsdienste

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in der römischen Historiographie der Kaiserzeit zu einem Sammelnamen für die Völkerschaften zwischen Schwarzmeerraum und Nordosteuropa (ebd., S. 16 f.). Herodot, Historien: Griechisch – deutsch. 2 Bde., hg. v. Josef Feix, Düsseldorf 7 2006, IV 70; vgl. Hartog, Le miroir (wie Anm. 10), S. 202–209. Herodot, Historien (wie Anm. 12), I 74 und III 8. Lukian, „Toxaris oder Die Freunde“, in: ders., Werke in drei Bänden. Zweiter Band, hg. v. Jürgen Werner und Herbert Greiner-Mai, Berlin und Weimar 2 1981, S. 221– 265. Am eigentlichen Quellenwert vorbei argumentiert Igor S. Kon, Freundschaft. Geschichte und Sozialpsychologie der Freundschaft als soziale Institution und individuelle Beziehung, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 30 f. Eine der prägnantesten und am stärksten nachwirkenden Formeln, mit denen diese Vorstellung gefasst wurde, stellt Ciceros Verweis dar (tatsächlich ein Zitat von Ennius), dass sich der wahre Freund in unsicheren Momenten als solcher erweise (amicus certus in re incerta cernitur), s. Marcus Tullius Cicero, Laelius de Amicitia, hg. v. Robert Combès, Paris 3 1983, c. 64.

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von Griechen zumeist mit der Hingabe von Besitz oder persönlicher Freiheit verbunden sind, deklariert der Skythe solche Dinge rundweg als „Kleinigkeiten“: Echte Freundschaft erweise sich in der Bereitschaft, für den Partner auch das eigene Leben opfern zu wollen. Die besondere Bedeutung einer so extremen Hingabe erklärt Toxaris mit den Lebensumständen seines Volkes, da die Skythen praktisch dauerhaft in Kriegen engagiert seien: Unter solchen Umständen sind zuverlässige Freunde eine sehr notwendige Sache; und daher kommt es, dass wir so enge und dauerhafte Freundschaften knüpfen; denn nach unseren Begriffen ist dies unter allen Waffen das einzige, das jede Probe aushält und womit es kaum möglich ist, überwunden zu werden.16

Wenngleich die folgenden Erläuterungen klarmachen, dass bei Lukian ebenso wie bei Herodot die Skythen in erster Linie als literarischer Spiegel zur Vorführung eines Ideals fungieren,17 so lassen sich zugleich wichtige Verschiebungen erkennen. Der Blutspakt erscheint zwar weiterhin in denselben Formen,18 aber er wird darüber hinaus nun in das Konzept eines absolut verpflichtenden Freundschaftsbundes integriert, der zum einen exklusiv ist (es werden nur bis zu drei Partner erlaubt) und darüber hinaus bis in den Tod reicht. Überraschend ist dabei nicht nur die Verbindung der Ritualformen mit der Freundschaft (philia), sondern auch deren extreme Bewertung und Formalisierung. Was in früheren griechischen und römischen Texten bereits problematisierend anklang, etwa die Beschränkung der Freundeszahl oder der Vergleich zwischen Freundes- und Verwandtenpflicht, wird hier einer simplen Lösung zugeführt, indem Lukian die Freundschaft ohne jeden Zweifel zur höchsten Bindungsform erklären lässt. So preist Toxaris das Handeln eines 16 17

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Lukian, „Toxaris“ (wie Anm. 14), S. 246 f. So etwa, wenn Toxaris erklärt, dass echte Freunde nicht unter Zechbrüdern, Schulkameraden oder Nachbarn zu finden seien, sondern erprobt und umworben werden müssen (ebd., S. 247). Solche Gedanken sind etwa aus Senecas Erläuterungen zur Freundschaft bekannt und wären bei einer ungebrochenen Darstellungsabsicht also aus dem Mund des zivilisierten Griechen zu erwarten; s. L. Annaeus Seneca, Des bienfaits [De beneficiis]. 2 Bde., hg. v. François Préchac, Paris 1972, VI 33,5 ; ders., Lettres à Lucilius [Epistolae]. 5 Bde., hg. v. François Préchac, übers. v. Henri Noblot, Paris 2 1971, II 19,11 und V 47,16; vgl. Wolfgang Brinckmann, Der Begriff der Freundschaft in Senecas Briefen, Köln (Diss.) 1963, S. 136–140. Lukian, „Toxaris“ (wie Anm. 14), S. 247.

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Abauchas, der lieber seinen Freund Gyndanes aus einer Feuersbrunst errettet habe als seine eigene Frau und Kinder. Sein Sohn sei in den Flammen umgekommen – als ihm aber sein Verhalten vorgeworfen wurde, habe Abauchas nur entgegnet: Andere Kinder kann ich leicht wieder kriegen, und es bleibt immer ungewiss, ob sie gut geraten werden: aber einen andern Freund, wenigstens einen solchen wie Gyndanes, der mir so große Beweise seiner Zuneigung gegeben hat, krieg ich in meinem ganzen Leben nicht wieder.19

Dass solche Erläuterungen nicht wörtlich als Wiedergabe realer Sachverhalte zu verstehen sind, sondern vielmehr als literarische Reflexion philosophischer Positionen, legt allerdings nicht nur ein Blick auf den Autor des Dialogs nahe – schon die Tatsache, dass mit Lukian ein Grieche die Position eines Vertreters der Skythen in der dargestellten Form modelliert, mahnt zur Vorsicht.20 Dass der Autor, der „ ‚Lügen‘ ablehnte, aber nicht elegante oder ansprechende Erfindungen,“21 am Ende des Dialogs seine beiden Diskutanten schließlich einen Freundschaftsbund in den zivilisierteren Formen eingehen lässt, die bei den Griechen üblich sind, kommt einem expliziten Urteil gleich.22 Der Freundschaft der Skythen mag ein wild-romantischer Reiz zu Eigen sein, der sie als literarischen Gegenstand geeignet macht, aber als Modell einer tatsächlich umzusetzenden Sozialbindung kommt sie letzten Endes kaum in Frage. So wissen also die beiden zivilisierten Griechen, die literarische Figur Mnesippus ebenso wie ihr Autor Lukian, zwar die konsequente Achtung der Freundschaft und ihrer Vorschriften zu schätzen, können sich aber mit ihrer extremen Form schon auf ritueller Ebene nicht anfreunden. Ein vollumfängliches Gutheißen der skythischen Praxis wäre auch verwunderlich, schon alleine angesichts der üblichen Rolle, die jenes 19 20

Ebd., S. 264. Siehe Brent D. Shaw, „Ritual Brotherhood in Roman and Post-Roman Societies“, in: Traditio 52 (1997), S. 327–355 [341 f.]. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass die Figur des Skythen Toxaris gleichfalls eine Erfindung Lukians darstellt, s. Maria Elena Gorrini, „Toxaris, ı “, in: Athenaeum 91 (2003), S. 435–443 [442]. C. P. Jones, Culture and Society in Lucian, Cambridge (Mass.) und London 1986, S. 58. Lukian, „Toxaris“ (wie Anm. 14), S. 264 f. o '

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Volk in der europäischen Literaturgeschichte spielte. Die Negativurteile, die bereits in der Antike aufschienen, setzten sich bis zum Ende des Mittelalters ungebrochen fort, und zwar sowohl im byzantinischen Osten wie im lateinischen Westen.23 Vielleicht ist es mit dieser fundamentalen Prägung des Bildes von den Skythen/Kumanen zu erklären, dass der eingangs zitierte Rabbi Petachja die Schilderung eines Blutspaktes nicht explizit als „barbarisch“ qualifizieren musste – letztlich konnte man bei jedem gebildeteren Leser voraussetzen, dass er nur zu genau wusste, wie er dies einzuschätzen hatte. Für einen Juden war es aus religiösen Gründen unmöglich, eine Bündnisform zu akzeptieren, die den gegenseitigen Genuss menschlichen Blutes voraussetzte – und sei es auch nur in kleinsten Mengen.24 Zu den grundlegenden Verhaltensvorschriften im Bereich der Ernährung gehörte das strikte Verbot, Blut zu konsumieren, welches als Sitz der Seele und des Lebens betrachtet wurde: „Allein esset das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben 23

24

Plinius d. Ä., Naturkunde [Naturalis Historiae libri XXXVII]. Bd. 6: Geographie: Asien, hg. und übers. v. Kai Brodersen, Zürich und Düsseldorf 1996, S. 44–47 [VI 53 und 55]; Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte. Bd. 4: Buch 26–31, hg. und übers. v. Wolfgang Seyfarth, Berlin 1971 [ND Berlin 1986], S. 242–251 [XXXI 2, zu den Hunnen und Alanen als Einwohnern Skythiens]; Die Krone der Komnenen. Die Regierungszeit der Kaiser Joannes und Manuel Komnenos (1118–1180) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates, hg. und übers. v. Franz Grabler, Graz 1958, S. 132. Siehe auch Leonid S. Chekin, Northern Eurasia in Medieval Cartography. Inventory, Text, Translation and Commentary, Turnhout 2006 (Terrarum Orbis, 4), S. 22–25. Im 16. Jahrhundert wandte sich dann etwa der Pole Maciej von Miechów gegen das noch von den Humanisten des 15. Jahrhunderts tradierte Bild, s. Stéphane Mund, Orbis Russiarum. Genèse et développement de la représentation du monde «russe» en Occident à la Renaissance, Genf 2003, S. 223 f. – Die antike Tradition brachte Isidor von Sevilla, Etymologiae. 2 Bde., hg. v. W. M. Lindsay, Oxford 1911, in seiner Erdbeschreibung knapp auf den Punkt: Prima Europae regio Scythia inferior, quae a Maeotidis paludibus incipiens inter Danubium et Oceanum septentrionalem usque ad Germaniam porrigitur; quae terra generaliter propter barbaras gentes, quibus inhabitatur, Barbarica dicitur. [XIV 4,3] Vgl. jüngst Valeria Rousseau, Le goût du sang, Paris 2005, S. 32 und 34; eine ausführliche Materialzusammenstellung bot bereits Hermann Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der ‚Volksmedizin‘ und des ‚jüdischen Blutritus‘, München 5 1900, S. 85–109. Siehe hierzu auch Alessandro Barberi „‚Blut und Boden‘. Diskursanalytische Anmerkungen zu einem Motiv im Umkreis der Judenfrage“, in: Blood in History and Blood Histories, hg. v. Mariacarla Gadebusch Bondio, Florenz 2005 (Micrologus’ Library, 13), S. 347–364 [351–353].

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ist!“ (Gen 9,4; vgl. Lev 3,17; 7,26–27; 17,10–14)25 Wenn damit bereits der Genuss des Bluts von Tieren tabuisiert war, wie schlimm musste dann erst jener von menschlichem Blut erscheinen? In diesem Punkt unterschied sich im Übrigen die christliche Lehre keineswegs von der jüdischen, da bis zum 12. Jahrhundert zwar zahlreiche Verbote des Konsums von tierischem Blut bekannt sind, aber nur wenige Dokumente, welche die Zulässigkeit dieser Praxis andeuten könnten.26 Aus der paganen Perspektive des Griechen Lukian (und vor ihm Herodots) wäre eine religiös begründete Ablehnung des Blutkonsums aber kaum nachvollziehbar und so stellt sich die Frage nach seiner Einschätzung eines solchen Paktes. Blickt man sich in der antiken Historiographie etwas genauer um, so findet man rasch weitere Verweise auf entsprechende Bündnisse,27 die drei grundlegende Einsichten ermöglichen. Zum einen reflektiert keiner der Autoren über die Funktionalität des Blutspaktes, wie es etwa Petachja explizit tut. Die Frage, warum sich ein solches Bündnis durch eine besondere Festigkeit auszeichnen sollte, ist aus dieser Warte folglich kaum zu beantworten. Zweitens begegnen aber dennoch keine Zweifel an der Wirkung; ein Pakt, der mit Blut bekräftigt wird, zeichnet sich daher allgemein durch eine besondere Sakralität aus, wobei der Begriff an dieser Stelle in seiner ganzen Ambivalenz zu gebrauchen ist: Zum Dritten erscheinen solche Bündnisse nämlich nur entweder im Kontext von Fremdzuschreibungen an außenstehende Völkerschaften (wenn etwa Herodot über die Skythen und andere schreibt, oder Tacitus über ein Bündnis zwischen dem armenischen König Mithridates und dem Ibererfürsten Radamistus)28 oder aber als 25

Dieses Verbot schließt strenggenommen den Genuss von Menschenfleisch noch nicht aus; vgl. aber Strack, Das Blut (wie Anm. 24), S. 88–92. 26 Siehe Rousseau, Le goût (wie Anm. 24), S. 88–104 und 299 f. 27 Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 279–282. 28 Siehe o., wie Anm. 12 und 13, sowie Tacitus, The annals, books IV–VI, XI–XII [Annales], hg. und übers. v. John Jackson, Cambridge (Mass.) 1970, XII 47; Silke Knippschild, „Drum bietet zum Bunde die Hände“. Rechtssymbolische Akte in zwischenstaatlichen Beziehungen im orientalischen und griechisch-römischen Altertum, Stuttgart 2002 (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, 5), S. 26 f., 50, 143 f. und 152, übergeht diese Dimension der Fremdzuschreibung und interpretiert die zitierten Belege daher – in, wie ich meine, unkorrekt vereinfachender Weise – als glaubwürdig-faktizistische Mitteilungen. Renate Rolle, Die Welt der Skythen. Stutenmelker und Pferdebogner: Ein antikes Reitervolk in neuer Sicht, Luzern und Frankfurt a. M. 1980, S. 69–71, spricht ähnlich irreführend von den aus der Literatur bekannten „rührende[n] Geschichten über solche Blutsbrüder“ bei

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Kennzeichen verbrecherischer oder unmoralischer Zusammenschlüsse. Sallust und Cassius Dio berichten etwa, dass Catilina seine Mitverschwörer durch einen „monströsen Eid“29 an sich gebunden habe, der je nach Autor von einem Menschenopfer und dem kannibalischen Verzehr der Eingeweide des Geopferten, oder aber zumindest dem Konsum von mit Wein vermischtem Blut begleitet wurde.30 Die Monstrosität des Rituals mag wohl darin begründet liegen, dass die an sich übliche Form des Bündnisschlusses über ein gemeinsames Mahl31 durch den Genuss menschlichen Blutes pervertiert wurde.32 Ein solcherart befestigtes Bündnis erscheint also im Überblick als barbarischer, aber zugleich effizienter Akt. Von Freundschaft ist bei den zitierten Texten allerdings keine Rede – Lukians Dialog bietet hier also eine Innovation, die auf lange Sicht Auswirkungen haben sollte. Nachvollziehbar ist seine Position allemal, konnte doch die jüngere Forschung die Freundschaftsbindung als zentrale Kategorie für die Integration von Angehörigen fremder Völkerschaften oder auch ganzer poli-

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den Skythen sowie von „zahlreichen Darstellungen“, bietet als Beleg aber lediglich den Hinweis auf Toxaris und auf ein bekanntes Goldplättchen aus einem Grabhügelfund der Krim, das zwei Männer beim gemeinsamen Trinken aus einem Horn zeigt. Einen Hinweis auf eine Blutsbrüderschaft, wie Tegnaeus, Knippschild und Rolle meinen, kann ich hier nicht erkennen. Ganz im Gegenteil hätte ein solch wichtiges, symbolisches Element den Künstler sicher zu einer deutlicheren Darstellung inspiriert. Dio Cassius, Roman history, hg. und übers. v. Earnest Cary, London und Cambridge (Mass.) 1914, XXXVII 30. Ebd., sowie Sallust, „Bellum Catilinae“, in: ders., Opera, hg. v. John C. Rolfe, London und Cambridge (Mass.) 1965, S. 1–124, c. 22. Zu den antiken Verhältnissen s. jüngst Knippschild, Drum bietet (wie Anm. 28), S. 136–150; vgl. für die frühmittelalterliche Entwicklung Bonnie Efros, Creating Community with Food and Drink in Merovingian Gaul, New York 2002, und Gerd Althoff, „Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles im früheren Mittelalter“, in: Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Irmgard Bitsch, Trude Ehlert und Xenia von Ertzdorff, Sigmaringen 2 1990, S. 13– 25. Vgl. Plinius d. Ä., Naturkunde [Naturalis Historiae libri XXXVII]. Bd. 7: Anthropologie, hg. und übers. v. Roderich König und Gerhard Winkler, Zürich und Düsseldorf 1975, S. 18 f. [VII 9]: [. . . ] et nuperrime trans Alpis hominem immolari gentium earum more solitum, quod paulum a mandendo abest. Dieser Kommentar fügt sich als Beleg in die Schilderung der skythischen Kannibalen ein: Esse Scytharum genera et quidem plura, quae corporibus humanis vescerentur, indicavimus. – Vgl. zur Denkstruktur des Schwurrituals auch Hartog, Le miroir (wie wie Anm. 10), S. 202–209.

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tischer Gemeinschaften in der Antike ausmachen.33 Wenn also in der theoretisch-philosophischen Reflexion durchaus Elemente der Freundschaft als individuell-persönlicher Beziehung präsent waren,34 so war dem Begriff zugleich auch eine politische und soziale Dimension zueigen, die bis hin zur Bezeichnung von klientelistischen Bindungen gehen konnte.35 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die somit politisch relevante Freundschaftsbindung auch in expliziten, ritualisierten Formen eingegangen und auf diese Weise gleichzeitig „publiziert“ werden konnte.36 Sie musste eine sichere Grundlage für kooperatives Handeln bilden, das seinerseits Vertrauen in die Haltung des Partners voraussetzte. In einer Welt, in der Vertrauen und Kooperation aber in höchstem Maße auf der Grundlage (fiktiver) ethnischer Zusammengehörigkeit aufbauten, mag es nahe gelegen haben, auch die voluntaristische Freundschaftsbeziehung gewissermaßen zu naturalisieren, indem man durch den gegenseitigen Austausch des Blutes symbolisch eine künstliche Verwandtschaft herstellte. Alleine hiervon ist in den antiken Texten Im Überblick mit weiteren bibliographischen Hinweisen Verena Epp, Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter, Stuttgart 1999 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 44), S. 176 f., und Klaus Oschema, Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution, Köln, Weimar und Wien 2006 (Norm und Struktur, 26), S. 90–92 und 101 f. Zu Griechenland s. vor allem Gabriel Herman, Ritualised Friendship and the Greek City, Cambridge 1987, zu Rom Peter Brunt, „Amicitia in the Late Roman Republic [1964]“, in: ders., The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1988, S. 351–381. 34 Siehe David Konstan, Friendship in the Classical World, Cambridge 1997, der weitere bibliographische Hinweise bietet. Konstan betont vielleicht zu einseitig die personal-emotionale Ebene der Freundschaftsbindung (vgl. die Kritik von Michael Peachin, „Friendship and abuse at the dinner table“, in: Aspects of Friendship in the Graeco-Roman World, hg. v. dems., Portsmouth 2001, S. 135–144 [135]), erinnert damit aber eine diskursive Konstante, die in der stark funktionalistisch ausgerichteten Analyse des Freundschaftsphänomens in den letzten Jahren weitgehend in den Hintergrund gedrängt wurde. 35 Klassisch die Darstellung von Shmuel N. Eisenstadt und Luis Roniger, Patrons, clients and friends. Interpersonal relations and the structure of trust in society, Cambridge 1984, v. a. S. 52–64; vgl. jüngst Antoni M˛ aczak, Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart, Osnabrück 2005 (Klio in Polen, 7), S. 89–104. 36 Für den Kontext der Antike hat diese Dimension untersucht Knippschild, „Drum bietet“ (wie Anm. 28). 33

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über die wir verfügen nicht die Rede – stattdessen gehorchen sie eher der Logik einer religiös-sakralen Sanktionierung, indem sie sich in die Strukturen einer durch ein Opfer befestigten Beziehung einfügen. Sie folgen damit denselben Regeln wie die offiziellen politischen Verbindungen, von denen sie sich im hier interessierenden Fall lediglich durch das besondere Opfermedium, das menschliche Blut oder gar menschliches Fleisch, unterscheiden. Den oben zitierten Autoren scheint diese Differenz auf jeden Fall genügt zu haben, um die betreffenden Verschwörungen als illegitim zu diffamieren. Ohne näher auf die logische Kohärenz der beschriebenen Schwureinungen einzugehen, grenzen sie diese insgesamt als Beispiele des Barbarischen und Unzivilisierten aus.

Blutkonsum und Christentum Etwas komplexer stellt sich im Vergleich das Verhältnis der späteren, christianisierten Gesellschaften zu Blutsbrüderschaften dar, da es hier nicht nur um die Frage kultivierten Verhaltens geht, sondern um grundlegende religiöse Vorschriften. Was die Seite der materiellen Wirkung betrifft, so musste diese wohl Vertreterinnen und Vertretern der christlichen wie der jüdischen Religion zunächst einmal einleuchten, erscheint doch in der Überlieferungstradition, die wir heute als Altes Testament zusammenfassen, das Blut als Sitz der Seele. Ganz in Übereinstimmung mit den verbreiteten Annahmen der antiken Philosophie basierte entsprechend auch die Vorstellungswelt der leiblichen Verwandtschaft auf einer biologistischen Grundannahme, indem Familienverbände oder ganze Stammesgemeinschaften als „Blutsverbände“ gefasst werden konnten.37 Zugleich aber machte das göttliche Gesetz unmissverständlich klar, dass der Konsum von Blut – gemeint ist im Zusammenhang von Speise37

Im vorliegenden Beitrag kann die breite Thematik der Symbolizität des Blutes und der damit verbundenen Vorstellungswelten schon nur für das Mittelalter nicht angemessen berücksichtigt werden. Daher sei verknappend hingewiesen auf die einschlägigen jüngeren Beiträge mit weiterführenden Literaturhinweisen, wie Bettina Bildhauer, Medieval Blood, Cardiff 2006; Blood in History, hg. v. Gadebusch Bondio (wie Anm. 24); Le sang au Moyen Âge, Montpellier 1999; Jean-Paul Roux, Le sang. Mythes, symboles et réalités, Paris 1988, und Piero Camporesi, Il sugo della vita. Simbolismo e magia del sangue, Mailand 1984. – Zur Konstruktion von Verwandtschaftsvorstellungen s. Christiane Klapisch-Zuber, L’Ombre des ancêtres. Essai sur l’imaginaire médiéval de la parenté, Paris 2000.

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vorschriften zunächst natürlich solches tierischer Herkunft – ohne Ausnahme verboten war.38 Es mag zunächst überraschen, dass die frühen christlichen Gemeinschaften das Tabu der jüdischen Religion vollständig übernahmen, aber dieses Vorgehen lässt sich wohl mit dem Wunsch erklären, nicht radikal mit der (aus der Eigensicht) Vorgängerreligion zu brechen und so den erwarteten Konvertiten den Weg in den „neuen Bund“ möglichst offen zu halten.39 In konsequenter Übereinstimmung mit dieser Vorschrift besitzen wir gerade aus der Zeit des frühen und hohen Mittelalters keine Zeugnisse von rituellen Blutsbrüderschaften, obwohl andererseits in dieser Epoche eingeschränkter Staatlichkeit ein solches Instrument für die Herstellung personaler Bindungen mit politischer Tragweite von großem Vorteil hätte sein müssen: Aus der Innensicht der christianisierten Völkerschaften, die uns den Großteil der schriftlichen Überlieferung hinterließen, stellen sich lange Zeitabschnitte als kriegerisch und rauhbeinig dar. Soziale und politische Sicherheit war hier stark an die Ebene verwandtschaftlicher Verbindungen gebunden:40 Um diese auszuweiten und um politische Bündnisse zu bekräftigen, griff man häufig auf die Herstellung künstlicher Verwandtschaftsbeziehungen zurück, üblicherweise durch Eheschlüsse, aber auch durch Patenschaften oder Adoptionen41 – also spritualisierte Formen, die sich im Spannungsfeld des römischen Rechts und des christlichen Ritus bewegten. Trotz des Fehlens verbindlicher Vorstellungen eines „internationalen Völkerrechts“ können wir in den Quellen dieser Zeit aber keine Hinweise auf Blutsbrüderschaften ausfindig machen. Stattdessen führen uns die überlieferten Texte das Blut in ganz anderen Zusammenhängen vor: etwa als das Blut, das, von Märtyrern vergossen, diesen den Weg in den Himmel erkaufte.42 38 39 40

Siehe o., wie Anm. 24. So die Lesart von Rousseau, Goût du sang (wie Anm. 24), S. 36–45. Zur Gemengelage der verschiedenen sozialen Bindungstypen im frühen Mittelalter s. Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter, Darmstadt 1990, sowie van Eickels, „Der Bruder als Freund“ (wie Anm. 7). 41 Vgl. u. a. die Beiträge in La parenté spirituelle, hg. v. Françoise Héritier-Augé und Elisabeth Copet-Rougier, Paris 1995, und Mireille Corbier (Hg.), Adoption et Fosterage, Paris 1999, sowie Bernhard Jussen, Patenschaft und Adoption im früheren Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis, Göttingen 1991 (VMPG, 98). 42 Knapp Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 282 f.; s. a. Bildhauer, Me-

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Am anderen Extrem der religiös-moralischen Einschätzung standen die häufig genug heidnischen, plündernden Horden, welche die befriedete Herrschaft gefährdeten und sich als Krieger wie als Feinde der Religion durch einen regelrechten „Blutdurst“ auszeichneten. Angewendet werden konnte dieses Stereotyp, das in der Realität wohl zumindest teilweise bestätigt wurde, gleichermaßen gegen die aus dem Norden in das Karolingerreich einfallenden Normannen im 9. und 10. Jahrhundert, wie gegen die muslimischen Gegner in Spanien, Nordafrika und der Levante noch in späterer Zeit.43 Obwohl sich hier vor allem in der frühen Zeit die Motivik der Blutsbrüderschaft zur polemischen Darstellung aus der Sicht christlicher Autoren hätte eignen müssen, so dass hiermit die Schriftlosigkeit der paganen Kulturen zu kompensieren wäre, in denen solche Praktiken aus moderner Sicht wahrscheinlicher scheinen, begegnen derartige Verweise bis in das 12. Jahrhundert hinein kaum.44

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dieval Blood (wie Anm. 37), S. 138–142; Arnold Angenendt, „Sühne durch Blut“, in: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), S. 437–467 [457–459], und Nicole Chareyron, „Le sang des martyrs de Nicopolis (1396)“, in: Le sang au Moyen Âge (wie Anm. 37), S. 321–330. Felicitas Schmieder, „Menschenfresser und andere Stereotype gewalttätiger Fremder – Normannen, Ungarn und Mongolen (9.–13. Jahrhundert)“, in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, hg. v. Manuel Braun und Cornelia Herberichs, München 2005, S. 159–179; Daniel Baraz, „Violence or Cruelty? An Intercultural Perspective“, in: A Great Effusion of Blood? Interpreting Medieval Violence, hg. v. Mark D. Meyerson, Daniel Thierry und Oren Falk, Toronto 2004, S. 163–189; Merrall Llewelyn Price, Consuming Passions. The Uses of Cannibalism in Late Medieval and Early Modern Europe, New York und London 2003, S. 5–7; Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 282–287. – Dasselbe Motiv erscheint übrigens auch in byzantinischen Texten gegen den lateinischen Westen gewendet, s. Krone der Komnenen (Anm. 23), S. 96. Außer in historiographischen Texten wären solche Verweise auch in Bußbüchern zu erwarten, wo der Verweis auf den Blutkonsum aber zumeist im Kontext von Sexual- und Speisevorschriften oder des Verbots magischer Praktiken steht, s. Hubertus Lutterbach, Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts, Köln, Weimar und Wien 1999 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 43), S. 67 f., 167–169 und 196 f.; vgl. etwa die Vorgaben des „Pœnitentiale Theodori“, in: Councils and Ecclesiastical Documents Relating to Great Britain and Ireland. Bd. 3, hg. v. Arthur W. Haddan und William Stubbs, Oxford 1871 [ND 1964], S. 173–204 [182; I 7,3]: Qui sanguinem aut semen biberit, IIIbus annis peniteat. Insgesamt scheint sich die Bezugnahme auf heidnische Praktiken hier stark auf die von der Kirche verbotene Brandbestattung zu konzentrieren, s. Ludger Körntgen, Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher, Sigmaringen 1993 (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter, 7), S. 190 f.;

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Auf lange Sicht bereitete die Kontinuität der christlichen Lehre im Bezug auf das Blut in einer anderen zentralen Frage dagegen Verständnisprobleme, nämlich bei der Interpretation des zentralen Ritus der Eucharistie. Schließlich handelte es sich bei diesem kommemorativen Ritual um die Einverleibung des Leibes und des Blutes Christi selbst, so dass unmittelbar der Gedanke an Kannibalismus naheliegen musste, der in frühen anti-christlichen Schriften und den dagegen gerichteten Verteidigungstraktaten auch an entsprechend prominenter Stelle erscheint.45 Im 9. Jahrhundert erklärte dann der Mönch Paschasius Radbertus, der einen ganzen Traktat der Frage nach dem Fleisch und Blut Christi widmete, die eucharistische Form von Brot und Wein unter anderem als sublimierend-geisthafte Repräsentation. Die Substanzen stünden zwar für den realen Leib des Erlösers, aber Paschasius Radbertus räumt ein, dass es auch allzu hart gegen menschliche Sitten verstoßen [würde], wenn das heilbringende Fleisch, aber immerhin das Fleisch des Menschen Christus, in seine eigentliche Gestalt und Farbe umgewandelt und Wein in rohes Blut gewandelt zu genießen wäre.46

In den folgenden Jahren entspannte sich eine Debatte über die Natur des eucharistischen Opfers, aber diese scheint über einen recht engen

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vgl. auch Bruno Dumézil, Les racines chrétiennes de l’Europe. Conversion et liberté dans les royaumes barbares (V e -VIII e siècle), Paris 2005, S. 378–380. Dumézil weist auf die Quellenproblematik im weiteren Kontext hin: Mitteilungen christlicher Autoren zu paganen (und bereits konvertierten) Gesellschaften wurden meist mit grossem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen niedergeschrieben, so dass der Detailwert gering ist (ebd., S. 144). Price, Consuming Passions (wie Anm. 43), S. 33. Interessanterweise begegnen schon ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. analoge Anschuldigungen gegen Juden, obwohl hier die entsprechende Grundlage im Ritus fehlt (ebd., S. 33 f.). Pascasius Radbertus, De corpore et sanguine domini, hg. v. Beda Paulus, Turnhout 1969 (CCCM, 16), S. 69: Idcirco sicut in isto saporem panis aut colorem non adtendimus ita namque si mutaretur in carnem, nihil amplius caro Christi esset quam est quia totum spiritale est quod comedimus. Immo durius esset contra consuetudinem humanam licet carnem salutis, tamen carnem hominis Christi in speciem et colorem ipsius mutatam et uinum in cruorem conuersum accipere. Die zitierte Übersetzung des zweiten Satzes nach Paschasius Radbert, Vom Leid und Blut des Herrn, übers. v. Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln und Trier 1988 (Christliche Meister, 34), S. 51 f. – Vgl. David Appleby, „ ‚Beautiful on the Cross, Beautiful in his Torments‘. The Place of the Body in the Thought of Paschasius Radbertus“, in: Traditio 60 (2005), S. 1–46.

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Kreis hinaus keine stärkere Wirkung entfaltet zu haben.47 Virulent wurde das Problem ab dem 11. Jahrhundert, als die Frage der Eucharistie vermehrt diskutiert wurde, bevor das IV. Laterankonzil im Jahre 1215 schließlich die Lehre von der Transsubstantiation dogmatisch festschrieb.48 Schon vorher hatten sich zwischen dem lateinischen Westen und der byzantinischen Kirche des Ostens Differenzen im Bezug auf das Verständnis der Eucharistie ergeben; so begann man im 12. Jahrhundert in der römischen Westkirche, für die Mahlsfeier die spezifische Form der Hostie zu gebrauchen.49 Zugleich entwickelte sich in den religiös-mystischen Texten dieser Zeit bis zum Ende des Mittelalters eine drastische Bildlichkeit von Leib und Blut Christi.50 Dafür, dass auch breitere Kreise der Bevölkerung von dieser Entwicklung berührt wurden, sorgten unter anderem die jetzt erstmals kodifizierten Vorschriften zur regelmäßigen Teilnahme an der Mahlfeier an hohen Festtagen.51

Heidnische Bräuche Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet vor diesem Hintergrund auch das Ritual der Blutsbrüderschaft wieder in unseren Quellen erscheint. Gelegenheit hierzu boten zum einen, wie das eingangs zitierte Beispiel Petachjas zeigt, die erneuerten Kontakte in den Osten des europäischen Kontinents und den asiatischen Raum hinein, die in den Texten zum Fortschreiben altbekannter Motive führen konnten. Ebenso wie Petachja betont nämlich auch dessen Zeitgenosse Niketas Choniates, 47

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Siehe zuletzt Celia Chazelle, „Exegesis in the Ninth-Century Eucharist Controversy“, in: The Study of the Bible in the Carolingian Era, hg. v. ders. und Burton van Name Edwards, Turnhout 2003 (Medieval Church Studies, 3), S. 167–187 und 245–258, sowie Miri Rubin, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991, S. 14–16. Im Überblick Price, Consuming Passions (wie Anm. 43), S. 25–41, und Rousseau, Goût du Sang (wie Anm. 24), S. 105–119. Zur Bedeutung der Eucharistie für die spätmittelalterliche Frömmigkeit insgesamt Rubin, Corpus Christi (wie Anm. 47). Rousseau, Goût du Sang (wie Anm. 24), S. 108 f. Vgl. allgemein Peter Dinzelbacher, „Das Blut Christi in der Religiosität des Mittelalters“, in: ders., Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn u. a. 2007, S. 147–180, der auf die steigende Verehrung des „Blutes Christi“ ab dem hohen Mittelalter, vor allem aber ab dem 13. Jahrhundert hinweist [149]; s. a. mehrere der Beiträge in Le sang au Moyen Âge (wie Anm. 37), v. a. in Abschnitt IV: „Dévotion et expérience spirituelle“. Rubin, Corpus Christi (wie Anm. 47), S. 64 und 147–149.

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dem wir eine Chronik der Ereignisse des 12. Jahrhunderts aus byzantinischer Sicht verdanken, dass die Skythen Wasserläufe auf ihren Pferden und mit der Hilfe von Flößen auf abgedichteten Ledersäcken überquerten.52 Bemerkenswerter als dieses Wiederaufgreifen bereits in der Antike tradierter Zuschreibungen erscheint aber die Anwendung des Motivs der Blutsbrüderschaft in verändertem Bezugsrahmen: Mit der Verschiebung des Aktionshorizonts der einschlägigen Autoren ging auch ein Wandel der Attribuierung einher. So verfasste am Ende des 12. Jahrhunderts der walisische Kleriker Giraldus Cambrensis, der sich im Umfeld des englischen Königssohns Johann (des späteren Königs Johann „Ohneland“) aufgehalten hatte und mit ihm nach Irland gereist war, eine landeskundlich ausgerichtete Beschreibung dieser Insel und ihrer Bewohner. Dieser Text enthält ein ganzes Kapitel, in dem Giraldus mit offensichtlich polemischer Intention eine Bündnisform schildert, die hier praktiziert und die als einzige von den Iren als verbindlich angesehen werde. Schon die Überschrift dieses Abschnitts macht die Absicht des Autors deutlich, denn er spricht von einem „Beweis für die Niedertracht [der Iren] und einer neuen Form der Ehe“.53 Auch bei Giraldus steht der Bündnischarakter der Beziehung im Vordergrund. Um diese herzustellen und zu befestigen, so der Autor, treffen sich die Beteiligten an einem heiligen Ort, wo sie zunächst eine künstliche Verwandtschaft (compaternitatis foedera) schließen. Daraufhin tragen sie sich gegenseitig drei Mal um die Kirche, bevor sie in 52 53

Krone der Komnenen (wie Anm. 23), S. 132 f. Giraldus Cambrensis, Topographia Hibernica, hg. v. James F. Dimock, London 1867 (Rolls Series, 21/5), S. 167: De argumento nequitiæ, et novo desponsationis genere. Zur Person s. knapp Michael Richter, „Giraldus Cambrensis“, in: Hauptwerke der Geschichtsschreibung (wie Anm. 9), S. 227–229, und Robert Bartlett, Gerald of Wales, 1146–1223, Oxford 1982. – Die Bezeichnung als desponsatio veranlasste John Boswell, Same-Sex Unions in Premodern Europe, New York 1994, S. 259–261, hier von einer kirchlich sanktionierten, gleichgeschlechtlichen Beziehung auszugehen. Zu dieser höchst umstrittenen These s. jüngst die Beiträge in The Boswell Thesis. Essays on Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality, hg. v. Mathew Kuefler, Chicago 2006. Ähnliche Berichte erscheinen auch in stärker literarischen Quellen, die hierbei zum Teil auch mit dem Begriff der Freundschaft operieren. Dies gilt etwa für die Bodleian-Version der Reisen Mandevilles, s. Mandeville’s Travels. Text and Translations. 2 Bde., hg. v. Malcolm Letts, London 1953 (The Hakluyt Society. Series II, 101), Bd. 2, S. 478: And gif any discorde be amongis hem, ther may non accorde be made or ecche of hem haue dronken of othris blode, and thenne they waxe ffrendis.

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diese eintreten und dort unter zahlreichen religiösen Riten wie in einer Ehe unauflöslich miteinander verbunden werden (tanquam desponsatione quadam indissolubiter foederantur). An letzter Stelle steht dann, zur stärkeren Befestigung ihrer Freundschaft (amicitia) und geradezu als Vollzug der Verbindung (quasi negotii consummatio), das gegenseitige Trinken des Blutes der Partner, das Giraldus als Übernahme von heidnischen Riten brandmarkt.54 Die Verbindung mit dem Freundschaftsbegriff und dem Heidentum ist zentral für die Interpretation von Giraldus’ Beschreibung und zeigt zugleich die potentielle Ambivalenz des Blutspaktes auf. Nur kurze Zeit später begegnen wir dem Motiv in einem weiteren Text über eine nordeuropäische Gesellschaft: Saxo Grammaticus, der um 1200 in lateinischer Sprache eine „Geschichte der Dänen“ verfasste,55 berichtet von einem Pakt zwischen dem ersten Dänenkönig Hading und einem Piraten namens Liser. Diese Verbindung verweist bereits insofern auf den Bereich des Legendenhaften, als sie durch den Einfluss eines alten Mannes zustande gekommen sein soll, dessen Einäugigkeit ihn unschwer als Odin erkennen lässt.56 Aufschlußreich ist aber vor allem der hierauf folgende Hinweis: Der Autor teilt mit, dass die eigenen Vorfahren Bünd54

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Giraldus Cambrensis, Topographia (wie Anm. 53), S. 167: Sub religionis et pacis obtentu ad sacrum aliquem locum conveniunt, cum eo quem oppetere cupiunt. Primo compaternitatis foedera jungunt: deinde ter circa ecclesiam se invicem portant: postmodum ecclesiam intrantes, coram altari reliquiis sanctorum appositis, sacramentis multifarie praestitis, demum missae celebratione, et orationibus sacerdotum, tanquam desponsatione quadam indissolubiter foederantur. Ad ultimum vero, ad majorem amicitiae confirmationem, et quasi negotii consummationem, sanguinem sponte ad hoc fusum uterque alterius bibit. Hoc autem de ritu gentilium adhuc habent, qui sanguine in firmandis foederibus uti solent. O quoties in ipso desponsationis hujus articulo, a viris sanguinum et dolosis tam dolose et inique funditur sanguis, ut alteruter penitus maneat exsanguis! O quoties eadem hora et incontinenti vel sequitur vel praevenit, vel etiam inaudito more sanguinolentum divortium ipsam interrumpit desponsationem. Zu Autor und Werk s. Ruprecht Volz, „Saxo Grammaticus“, in: LexMA 7, Sp. 1422 f., und die Beiträge in Saxo Grammaticus. Tra storiografia e letteratura, hg. v. Carlo Santini, Rom 1992. Einen spezifischen Aspekt der Darstellungstechnik Saxos beleuchtete kürzlich Carla Del Zotto, „Paradigmi agiografici nella storiografia medievale sulla conversione della Scandinavia“, in: Rivista di cultura classica e medioevale 47/2 (2005), S. 361–381 [375–381]. Saxo Grammaticus, Gesta Danorum. 2 Bde., hg v. Karsten Friis-Jensen, übers. v. Peter Zeeberg, Kopenhagen 2005, Bd. 1, S. 110 [I 6,7]: Spoliatum nutrice Hadingum grandeuus forte quidam altero orbus oculo solitarium miseratus Lisero cuidam pirate solenni pactionis iure conciliat.

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nisse dadurch bekräftig hätten, dass sie ihr Blut in ihren Fußabdrücken vermischten, um somit ihren Freundschaftspakt zu befestigen.57 Saxo kennzeichnet diesen Hinweis ausdrücklich als erklärenden Blick in die Vergangenheit, was den Gedanken nahelegt, dass wir es hier wohl eher mit einer „invention of tradition“ zu tun haben, einer identitätsstiftenden Neubeschreibung der eigenen Geschichte, denn mit einem Reflex lebendiger Traditionen. Sicher ist zumindest, dass zum Zeitpunkt der Niederschrift eine Erläuterung der Technik des Blutspaktes nötig schien. Erstaunlich ist diese Feststellung zumal vor dem Hintergrund der in eben dieser Zeit verschrifteten Texte der nordischen Sagas und der germanischen Götter- und Heldenmythen.58 Häufiger als in den historiographischen Texten im engeren Sinne finden wir hier Hinweise auf Blutsbrüderschaften, die zudem überwiegend in einer Form geschlossen werden, welche der von Saxo beschriebenen ähnelt.59 Im sogenannten „Rasengang“ schnitt man einen Streifen Rasen aus und stellte ihn auf; die zu verbindenden Partner ließen dann ihr Blut in das freigelegte Erdreich zusammenfließen bevor sie sich unter dem hochgehobenen Rasenstreifen hindurch bewegten – eine Symbolik die offensichtlich auf die künstliche Befestigung einer Geburtsgemeinschaft abzielte. Blutsbrüderschaften durch den gegenseitigen Konsum, so wie sie das moderne Bild prägen, sind dagegen in diesen Texten kaum zu finden, zumal viele der relevanten Schilderungen selbst recht vage gehalten sind und sich erst im interpretativen Zugriff des Historikers als Blutsbündnisse herausstellen. Dies gilt auch für einen anderen Bereich, aus dem uns mehrere solcher Paktschlüsse überliefert sind:60 Die irische Heldendichtung, zumal die Gruppe um den „Nationalhelden“ Cuchullainn, überliefert mehrere Fälle von Blutsbrüderschaften, die interessanterweise sogar als „Unfall“ Ebd.: Siquidem icturi foedus ueteres uestigia sua mutui sanguinis aspersione perfundere consueuerant, amicitiarum pignus alterni cruoris commercio firmaturi. 58 Zum Quellenwert und der Charakteristik dieser Texte vgl. jüngst Dominik Waßenhoven, Skandinavier unterwegs in Europa (1000–1250). Mobilität und Kulturtransfer auf prosopographischer Grundlage, Berlin 2006 (Europa im Mittelalter, 8), S. 39–54. 59 Zur rituellen Ausformung s. ausführlich Leopold Hellmuth, Die germanische Blutsbrüderschaft. Ein typologischer und völkerkundlicher Vergleich, Wien 1975, S. 60–85. 60 Das relevante Material versammelt John C. Hodges, „The Blood Covenant among the Celts“, in: Revue Celtique 44 (1927), S. 109–156. 57

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zustande kommen können.61 Doch auch im irischen Umfeld sind zwei grundlegende Muster zu erkennen. Zum einen wird der Abschluss solcher Blutsbündnisse meist Heldengestalten zugeschrieben, die dem eigentlichen historischen Geschehen entrückt sind. Zum anderen erscheinen auch hier Beispielfälle, in denen erst die Interpretation vor dem heute anzutreffenden Imaginarium der leicht als „primitiv“ oder „archaisch“ eingestuften Blutsbrüderschaft dazu führt, die eigentlich vage geschilderten Paktschlüsse unter dieser Kategorie zu verhandeln. Besonders deutlich wird dies in Fall eines Gedichts unsicherer Herkunft, das die Begegnung zwischen den beiden Mönchen Cormac und Columcille schildert. Columcille wird der Vorschlag in den Mund gelegt, einen bis zum Tag des jüngsten Gerichts haltenden „Bund im Fleisch, wie Christus es bestimmt hat“ zu schließen. Beschrieben wird dieser dann genauer mit der Aufforderung an Cormac: „Binde auf die Daumen meiner Hände, / oh Cormac der vielen Ehren, / den Kreis unserer edlen Verbindung, [. . . ]“62 Der Schritt von diesem Bild zur Blutsbrüderschaft wird erst nachvollziehbar, wenn man die Beschreibung mit analogen Berichten in Beziehung setzt – im konkreten Fall Tacitus’ Bericht über die Praxis der Iberer und Armenier, die sich angeblich zum Bündnisschluss die Hände zusammenbanden und dann durch einen Schnitt ihr Blut vermischten.63 Solche Analogieschlüsse über Jahrhunderte hinweg sind unzweifelhaft methodisch problematisch. Gleichwohl stellt sich die irische Tradition als äußerst ambivalent dar, denn neben den angeführten literarischen Verweisen, die häufig in eine mythische Vorzeit zielen,64 be61

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Ebd., S. 127–129. In den beiden geschilderten Episoden aus Tochmarc Emere und Aided Lugdach occus Derbforgaille, kommt eine „Blutsbrüderschaft“ dadurch zustande, dass Cuchulainn der Königstochter Derbforgaill/Dervorgil einen blutigen Stein aus der Seite saugt. Der (hier einseitige) Blutkonsum stellt in der Logik der Erzählung dann ein Ehehindernis dar, wie es auch von leiblicher Verwandtschaft zu erwarten wäre. „Columcille cecinit, when Cormac came to him from his own country“, in: The Life of St. Columba, Founder of Hy, hg. v. William Reeves, Dublin 1857, S. 270–75 [273]: Let us therefore form our union, / As Christ has ordained, in the flesh; / Not to be dissolved till the judgment-day, / By us, O Cormac, offspring of Liathan. / Bind upon the thumbs of my hands, / O Cormac of many dignities, / The coils of our noble union, / As long as beautiful-coloured Dairmagh shall last. Vgl. Anm. 28; Hodges, „The Blood Covenant“ (wie Anm. 60), S. 147–149. Dies trifft auch für das bekannte Boroma zu, s. „The Boroma“, hg. v. Whitley Stokes, in: Revue Celtique 13 (1892), S. 32–124 [72–77]; vgl. Hodges, „The Blood

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gegnet zumindest ein Ereignis in mehreren, voneinander zum Teil abhängigen Annalen, die auf eine Blutsbrüderschaft hinweisen. Im Jahre 1277 wurde der irische König Brian vom Sohn des Grafen von Clare gefangen genommen, obwohl, wie die Annalen von Ulster und weitere Texte berichten, die beiden Protagonisten angeblich ihr Blut zur Bekräftigung eines Bündnisses in einem Gefäß vermischt hatten.65 Die hier anklingende Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung und Treue, die in einem spektakulären Akt gebrochen wurde, baut in der Logik der Quellen aber nicht nur auf diesem archaisierenden Bild auf, sondern der Ritus wird zugleich mit christlichen Praktiken in einen synkretistischen Zusammenhang gebracht, der auch die Darstellung von Giraldus Cambrensis kennzeichnete – die Rede ist hier vom Austausch gegenseitiger Eide über den Reliquien der Heiligen, Glocken und dem Bischofsstab.66 Schon in der Zeit der Niederschrift des Berichts, so lässt sich schließen, erscheint das geschilderte Ritual also in einer ambivalenten Form, die pagane und christliche Elemente miteinander vermischt. Eine Rekonstruktion des historischen Hintergrunds ist auf der Basis solchen Quellenmaterials kaum mit größerer Sicherheit zu leisten, spielt hier doch nicht nur der Interpretationshorizont des modernen Historikers mit hinein, sondern auch die in Anschlag zu bringende Absicht des jeweiligen Verfassers. Deutlicher wird dieser zuletzt angesprochene Einfluss auf die Darstellung der berichteten Ereignisse in einem anderen Kontext, in dem Hinweise auf Blutsbrüderschaften auftreten: an der Kontaktlinie zwischen christlichen und andersgläubigen Kulturen im europäischen Os-

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Covenant“ (wie Anm. 60), S. 113–117. Die Textbelege bei Hodges, „The Blood Covenant“ (wie Anm. 60), S. 135 f., mit knappen Hinweisen zum Entstehungszeitpunkt der Texte. Die Überlieferung in den Annalen von Loch Cé und den Annalen von Clonmacnois steht in einem engen Textzusammenhang, s. The Annals of Loch Cé. 2 Bde., hg. v. William M. Hennessy, London 1871 (Rolls Series, 54), Bd. 1, S. xlii. So heißt es beispielsweise in den Annalen von Loch Cé: Brian Ruadh O’Briain, king of Mumha [Munster], was apprehended, in treachery, by the son of the Earl of Clare, after they had poured their blood in the same vessel, and after they had formed gossipred, and after they had exchanged mutual vows by the relics, bells and croziers of Mumha; and he was afterwards drawn between steeds by the Earl’s son. (Annals of Loch Cé (wie Anm. 65), Bd. 1, S. 481, zu 1277; s. a. Hodges, „The Blood Covenant“ (wie Anm. 60), S. 136.)

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ten und in den islamisch dominierten Gebieten von der Levante bis nach Nordafrika. Während nämlich Girardus’ Beschreibung Irlands die Blutsbrüderschaft zu einer heidnischen Tradition erklärte,67 verschob sich diese Zuschreibungstradition in den folgenden Jahrhunderten, bis sie geradezu zu einem Kennzeichnen „sarazenischer“ Gebräuche werden konnte. Im 14. Jahrhundert verband Jean le Bel beide Aspekte in seiner Ars d’amour, de vertu et de boneurté, indem er die Vermischung des Blutes, allerdings ohne dessen gegenseitigen Konsum, als Technik zur Befestigung von Bündnissen und Freundschaften beschreibt, welche bei den Heiden der Antike üblich gewesen sei, die zu seiner Zeit aber noch bei den Sarazenen praktiziert werde.68 Hintergrund dieser Ausführungen ist eigentlich seine Diskussion des Kusses als eines effizienten Mediums zur Verbindung zweier Seelen,69 so dass wir an dieser Stelle auf engstem Raum einen Aspekt der Differenzsetzung zwischen dem christlich spiritualisierten Denken und den auszugrenzenden, der Materie verhafteten Praktiken der Ungläubigen beobachten können.

Verräter an der Christenheit Die exkludierende Wirkung ließ sich aber nicht nur gegen jene Anhänger eines anderen Glaubens ausspielen, deren Ausgrenzung aus der lateinischen Binnensicht kaum in Frage stand, also pagane Völkerschaften wie die bereits erwähnten Kumanen oder Anhänger des Islam (die topischen „Sarazenen“),70 sondern gegebenenfalls auch zur Polemik gegen 67

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Dies gilt auch Matthäus Paris, der ein halbes Jahrhundert später den Anführern von Galloway ähnliche Sitten zuschrieb und explizit von den barbari illi sprach, s. Matthaeus Paris, Chronica majora. 7 Bde., hg. v. Henry R. Luard, London 1872–83 (Rolls Series, 57), Bd. 3, S. 365. Jean le Bel, Li ars d’amour, de vertu et de boneurté. 2 Bde., hg. v. Jules Petit, Brüssel 1867–69, Bd. 1, S. 164 f.: Un autre signe poons prendre par les fais des anchiens; et encore le maintienent li Sarrasin: s’aucuns volsist à un autre aliance u amisté faire, il se soloient faire sainier en un vaissiel, pour lor sanc faire meller ensanle, en signe de conjunction et d’unité de corages. Ebd., S. 163–165; vgl. zur Symbolik des Kusses in verschiedenen Zusammenhängen im späten Mittelalter Kiril Petkov, The Kiss of Peace. Ritual, Self, and Society in the High and Late Medieval West, Leiden und Boston 2003, sowie zusammenfassend mit weiteren Literaturhinweisen Oschema, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 33), S. 488–500. Hierzu ausführlicher John C. Tolan, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002, und Philippe Sénac, L’Occident médiéval face à l’Islam.

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Christen verwenden, die einer Verbindung mit ihnen verdächtigt wurden. Ein eklatantes Beispiel bietet etwa das Schreiben, mit dem Graf Balduin IX. von Flandern als neugekrönter Kaiser von Byzanz im Mai 1204 Papst Innozenz III. und den Fürsten des Westens von den Ereignissen berichtete, die zu seiner Erhebung geführt hatten. Im Hintergrund stehen hier die turbulenten Ereignisse des 4. Kreuzzugs, der bekanntermaßen von Venedig gegen Konstantinopel gelenkt werden konnte und nun entsprechenden Erklärungsnotstand schuf, hatte man doch anstatt gegen Ungläubige gegen Christen gekämpft. Eine Möglichkeit der Rechtfertigung bestand darin, die unterlegenen Anhänger der Ostkirche als Verbündete der Heiden zu brandmarken, und Balduin führte entsprechend aus, dass sie tatsächlich mit ihnen nach heidnischem Brauch Bruderschaften geschlossen hätten und Freundschaften eingegangen seien, indem sie mit ihnen gegenseitig ihr Blut getrunken hätten.71 Der Boden für derlei Anwürfe war indessen schon vorher bereitet, da im lateinischen Westen offenbar seit längerem Gerüchte über solche Bündnisse der Griechen mit den Glaubensfeinden kursierten. Im Westen war das Bündnis bekannt, das Kaiser Isaak Angelos (wohl 1186) mit Saladin geschlossen hatte, und offenbar malte man sich die Formen der Verbindung recht drastisch aus: Niketas Choniates teilt in seiner Chronik mit, dass unter den Soldaten Friedrich Barbarossas, die auf dem 3. Kreuzzug den Landweg in den Osten eingeschlagen hatten, die Vorstellung verbeitet gewesen sei, Isaak habe mit

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L’image de l’autre, Paris 2 2000. Siehe a. Ekkehart Rotter, Abendland und Sarazenen. Das okzidentale Araberbild und seine Entstehung im Frühmittelalter, Berlin und New York 1986, und die Beiträge in Konfrontation der Kulturen? Saladin und die Kreuzfahrer, hg. v. Heinz Gaube, Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, Mainz 2005, sowie in Die Begegnung des Westens mit dem Osten, hg. v. Odilo Engels und Peter Schreiner, Sigmaringen 1993. De oorkonden der graven van Vlaanderen (1191-aanvang 1206). 3 Bde., hg. v. Walter Prevenier, Brüssel 1964–71, Bd. 2, S. 574: Hec est enim, que, spurcissimo gentilium ritu pro fraterna societate sanguinibus alternis ebibitis, cum infidelibus ausa est sepius amicitias firmare ferales, et eosdem mamilla diu lactavit huberrima et extulit in superbiam seculorum, arma, naves et victualia ministrando. Der Bericht wurde unmittelbar nach der Einnahme Konstantinopels verfasst, s. Alfred J. Andrea, „Essay on Primary Sources“, in: The Fourth Crusade. The Conquest of Constantinople, hg. v. Donald E. Queller und Thomas F. Madden, Philadelphia 2 2000, S. 299–318 [309 f.]. Zu den Ereignissen des 4. Kreuzzugs und ihren Auswirkungen zuletzt Angeliki Laiou (Hg.), Urbs Capta. The Fourth Crusade and its Consequences, Paris 2005.

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[. . . ] dem Herrn der Sarazenen [. . . ] wie es bei den Sarazenen Brauch ist, wenn man eine Freundschaft schließt, sich die Adern an der Brust geritzt und das ausströmende Blut wechselweise getrunken.72

Deutlich tritt hier der Gedanke an die Randständigkeit des Phänomens in den Vordergrund, wie bereits im Schreiben Balduins IX. und in der späteren Darstellung Jean le Bels zu erkennen. Die Vermischung des Blutes wird den Heiden oder Sarazenen als Tradition zugeschrieben, wobei der Verweis auf das Motiv auch dazu dienen konnte, gewissermaßen verräterische Christen auszugrenzen, die eine solche Verbindung als Verschwörer mit dem Glaubensfeind eingegangen seien. An sich genügte natürlich schon der Hinweis auf irgendeine Übereinkunft, um den betroffenen Christen zu verunglimpfen.73 Ein kurzer Blick auf ein konkretes Beispiel kann aber verdeutlichen, wie das Bild der Blutsbrüderschaft in einer erzählerischen Tradition verwendet werden konnte, um die Mitteilung zu dramatisieren: Zu den bekanntesten Blutsbrüderschaften im Kontext der Kreuzfahrerstaaten des 12. und 13. Jahrhunderts zählt jene, die Graf Raimund III. von Tripolis mit Saladin geschlossen haben soll und von der uns Alberich von Troisfontaines in seiner Chronik berichtet.74 Graf Raimund, Herr der Grafschaft von Tripolis und des Fürstentums Galiläa, gehörte in den 1180er Jahren zu den bestimmenden Figuren im Königreich Jerusalem, über das er zweimal die Regentschaft ausübte, unter anderem für den regierungsunfähigen König Balduin V. Ihm wurden Aspirationen auf den Thron nachgesagt, aber letztlich setzte sich sein Konkurrent Guido von Lusignan 1186 als Herrscher durch.75 Abenteurer auf dem Kaiserthron. Die Regierungszeit der Kaiser Alexios II., Andronikos und Isaak Angelos (1180–1195) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates, übers. v. Franz Grabler, Graz, Wien und Köln 1958, S. 213. Siehe a. Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 287–290. 73 Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 290; vgl. Tolan, Saracens (wie Anm. 70), S. 96 f., zur Kritik an pragmatischen Abkommen mit muslimischen Herrschern im Spanien des 9. Jahrhunderts. 74 Über Alberich, einen Zisterzienser aus dem Kloster Troisfontaines der ab ca. 1232 mit der Arbeit an seiner Chronik begann, ist nur wenig bekannt, s. Jan Prelog, „Alberich von Troisfontaines“, in: LexMA 1, Sp. 282, und Mireille Chazan, „Aubri de Trois-Fontaines, un historien entre la France et l’Empire“, in: Annales de l’Est 36 (1984), S. 162–192. 75 Hierzu knapp Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 8 1995, S. 116–124. Das Leben von Raimund III. von Tripolis wurde zuletzt monogra72

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In der für das christliche Heer katastrophalen Schlacht von Hattin im Jahre 1187 konnte Raimund als einer von wenigen knapp entkommen und schon rasch erzählte man sich, dass sein Überleben mit einem geheimen Bündnis mit Saladin zusammengehangen habe. Die anonym überlieferte Historia peregrinorum, die in den 1190er Jahren und damit zeitnah zu den Ereignissen verfasst wurde, spricht aber lediglich davon, dass Raimund zu einem familiaris Saladins geworden sei, sich also in den Schutz seines Hofes begeben hatte.76 Ein Jahrhundert später verwies Guillaume de Nangis zwar präzisierend auf ein Bündnis zwischen Raimund und Saladin, ließ dessen genauere Formen aber offen. Lediglich bei der Schilderung von Raimunds Tod fügte er ein weiteres Detail hinzu, welches die Niederträchtigkeit des Grafen unterstreichen sollte: Als man ihn nämlich tot und nackt auf seinem Bett liegend fand, habe man sehen können, dass er beschnitten gewesen und folglich zur „Sekte der Sarazenen“ übergetreten sei.77 Während diese Darstellung zwar keinen Zweifel an der Rollenzuschreibung lässt, ist im Text Alberichs von Troisfontaines ein wesentlich polemischerer Zug erkennbar, wenn es heißt, Raimund und Saladin hätten zur Befestigung ihrer Verschwörung gegen das Königreich Jerusalem gegenseitig von ihrem Blut getrunken.78 Den Höhepunkt der Dramatisierung erreichte das Ereignis dann in der Darstellung des sogenannten Ménestrel de Reims, der seiner Erzählung eine Form gab, die sich vermutlich an eine breitere Hörerschaft zur Unterhaltung wandte. Hier wird die Verbindung zwischen Raimund und Saladin lebendig phisch behandelt von Marshall W. Baldwin, Raymond III of Tripolis and the Fall of Jerusalem (1140–1187), Princeton 1936. 76 „Historia Peregrinorum“, in: Quellen zur Geschichte des Kreuzzuges Kaiser Friedrichs I., hg. v. Anton Chroust, Berlin 1928 (MGH SRG N. S., 5), S. 116– 172 [119]: Exinde accidit, ut comes in odium regis se familiarem redderet Saladino. Zum Text s. knapp Wilhelm Wattenbach und Franz-Josef Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnum. Bd. 1, Darmstadt 1976, S. 102 f. 77 Guillaume de Nangis, Chronique latine. 2 Bde., hg. v. Hercule Géraud, Paris 1843, Bd. 1, S. 86 f. Zu Leben und Werk Guillaumes, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Umfeld des Klosters St. Denis wirkte, s. Pascal Bourgain, „Nangis, Wilhelm v.“, in: LexMA 6, Sp. 1015. 78 Alberich von Troisfontaines, „Chronica“, hg. v. Paul Scheffer-Boichorst, in: MGH Scriptores in folio. Bd. 23, Hannover 1874, S. 631–950 [860]: [. . . ] et ut super hoc alter alteri faceret fidem, alter alterius bibendo sanguinem fedo federe sunt coniuncti.

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als Dialog vorgeführt, in dem die Protagonisten ihre Handlungen sprechend vorführen und Raimunds „tödlichen Verrat“79 kommentieren: ‚Bei Mahomet, meinem Gott!‘ sagt Saladin, ‚ihr sprecht wohl. Ihr werdet all dies auf Euer Gesetz beschwören, und noch mehr: denn wir werden gemeinsam unser Blut fließen lassen und einer soll das Blut des anderen als Zeichen des Bundes trinken, so dass wir eins werden mögen.‘ So wie Saladin es sagte, wurde es getan, und sie ließen beide ihr Blut fließen und tranken jeder das Blut des anderen.80

Ganz offensichtlich entwickelte sich die Darstellungsweise der mitgeteilten Ereignises also entsprechend den Bedürfnissen des jeweiligen Autors, ohne dass wir damit dem Kern der historischen Realität wirklich näher kommen können. Wenn das Motiv der Blutsbrüderschaft vor allem in den späteren Texten aufscheint, bedeutet das an sich noch nicht, dass die beiden Verbündeten nicht tatsächlich diese Form des Paktes gebraucht hätten. Es scheint angesichts der in den vorigen Abschnitten dargelegten Hintergründe aber doch wahrscheinlicher, dass der Konsum des Blutes hier als gestalterisches Motiv zur möglichst dramatischen oder polemischen Ausschmückung der Schilderung angewandt wurde. Analoge Beispiele, in denen die Blutsbrüderschaft erst in der späteren historiographischen Ausgestaltung aufscheint, lassen sich ohne weiteres finden, etwa in der weit verbreiteten Polemik gegen den zwischen 1307 und 1314 vom französischen König Philipp IV. aufgelösten Templerorden oder einzelne seiner Mitglieder.81 Auch hier wurde der Récits d’un ménestrel de Reims au treizième siècle, hg. v. Natalis de Wailly, Paris 1876, S. 19. Zu diesem breit rezipierten Textkorpus, für dessen Autor de Wailly die Bezeichnung als „Ménestrel de Reims“ vorgeschlagen hat, s. Gillette Tyl-Labory, „Récits d’un Ménestrel de Reims“, in: Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Âge, hg. v. Geneviève Hasenohr und Michel Zink, Paris 1992, S. 1247. 80 Récits d’un ménestrel de Reims (wie Anm. 79), S. 18: Par Mahom mon Dieu! dist Solehadins, vous dites bien. Vous le jurerez tuit sour vostre loi, et ferez plus: car nous nous saingnerons tuit ensemble, et beverea li uns dou sanc à l’autre en forme d’aliance, et que nous soiens tuit un. Ainsi que Solehadins le devisa ainsi fu fait, et furent saingnié tuit ensemble, et burent li uns dou sanc à l’autre. 81 Siehe Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 296 f. Zum Templerorden zuletzt im Überblick Alain Demurger, Les templiers. Une chevalerie chrétienne au Moyen Âge, Paris 2005, sowie mit besonderer Schwerpunktsetzung auf die Polemik gegen den Orden Helen Nicholson, Templars, Hospitallers and Teutonic Knights. Images of the Military Orders 1128–1291, Leicester, London und New York 1993.

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Blutspakt über die Grenzen der Religionsgemeinschaft hinweg als ausgrenzendes Argument in Anschlag gebracht, wobei es augenscheinlich keiner weiteren Erläuterung des Bildes bedurfte. Über die (theoretische) Wirksamkeit der Blutsbrüderschaft war man sich wohl weitgehend im Klaren, denn es begegnen lediglich knappe Hinweise auf deren Status als Ausdruck der Liebe und der gegenseitigen Bindung sowie auf die Praxis der Partner, sich hinfort als Brüder anzureden. Zugleich aber, und dies machen die vorgeführten Belege ebenso deutlich, überwiegt in den lateinischen Quellen eine ausschließlich negative Einschätzung dieses Rituals, das eindeutig als fremdartig-kritischer Akt erscheint: Blutsbrüderschaften vereinen vorzugsweise Verräter an der christlichen Sache, ausgesprochene Barbaren oder anderweitig problematische Figuren.82 Bezeichnend ist etwa eine Fortbildung des Motivs an der Epochenschwelle zur Frühen Neuzeit hin – in der Bilderwelt, welche die Figur des Teufels umgab, nahm nun der Blutspakt eine besondere Stellung ein, da Satan jetzt regelmäßig nicht nur einen unterzeichneten Vertrag von jenen einforderte, die ihm ihre Seele verkauften, sondern dieser häufig auch mit dem eigenen Blut unterzeichnet werden musste.83

Lektüren und Misslektüren – ein Fazit Solche Erscheinungen führen uns aber nicht nur aus dem gewählten Untersuchungszeitraum, sondern auch in veränderte Motivwelten. Gleich82

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Letzteres trifft etwa auf die beiden Protagonisten eines Abschnitts der Gesta Romanorum zu, einer Exempelsammlung aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Hier verbinden sich ein weiser und ein dummer Ritter mit einem Blutspakt, der aufgrund der bedingungslosen Solidarität, die er fordert, schließlich zum Untergang beider führt, da letztlich immer der vorgeblich weise Ritter den Vorschlägen seines Blutsbruders folgt, s. Gesta Romanorum, hg. v. Hermann Oesterley, Berlin 1872, c. 67. Vgl. zu Textgeschichte Brigitte Weiske, Gesta Romanorum. Bd. 1: Untersuchungen zu Konzeption und Überlieferung, Tübingen 1992, v. a. S. 183–94. Robert Muchembled, Une histoire du diable. XII e -XX e siècle, Paris 2000, S. 158; Keith L. Roos, The Devil in 16th Century German Literature: The Teufelsbücher, Frankfurt a. M. u. a. 1972, S. 43–49. Allgemein zu den sog. Teufelsbriefen jetzt Paul Herold, „Teufelsbriefe als Instrument mittelalterlicher ‚höllischer‘ Propaganda. Ein Beitrag zu den erfundenen Briefen des Mittelalters“, in: Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), hg. v. Karel Hruza, Wien 2002 (Österr. Akad. der Wiss. Phil.-hist. Kl. Denkschriften, 307/Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 6), S. 169–187.

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wohl unterstreichen sie die problematische Dimension eines Bündnisses, das mit Blut besiegelt wurde. Das Bild des Blutspaktes erweist sich im Überblick keineswegs als schlichtweg verdammte Figur, sondern wirkt stattdessen sehr ambivalent: Zwar kann kaum ein Zweifel bestehen, dass rechtgläubige Christen eine solche Bündnisform nicht hätten anwenden können. Zugleich aber evozierte das Motiv wohl einen heimlichen Schauder, der mit seiner unmittelbaren Verständlichkeit einherging. Damit wurde ihm eine erzählerische Kraft zu Eigen, die bis in unsere Gegenwart Bestand hat. Auch Historiker können sich dem nicht immer entziehen, womit sich der Kreis zu den eingangs beschriebenen Neufokussierungen in der Geschichtswissenschaft schließt: Wer nach Gesten und Ritualen sucht, kann diese im Mittelalter in reicher Vielfalt finden. Zuweilen passen aber reine Andeutungen zu schön in unsere vorgefaßten Bilder einer als fremd und andersartig beschriebenen Zeit, so dass wir den Versuchungen einer farbigen, aber letztlich fehlgeleiteten Interpretation erliegen. So kannten bereits die stark anekdotisch ausgerichteten „Kulturgeschichten“ des 19. Jahrhunderts viele der Quellen, die hier einer neuen Sichtung unterzogen wurden. In Verkennung der Motivtradition und der argumentativen Ausrichtung der Texte nahm man sie aber zum Anlass, eine zivilisatorische Entwicklung zu postulieren, die etwa von den Grundlagen eines rauhen Kriegertums hin zu den verfeinerten Sitten christlicher Ritter späterer Tage hin verlaufen sollte.84 Dabei macht ein sorgfältiger Blick auf unsere Quellen deutlich, dass es sich in manchem Fall nicht nur um eine zu kurz greifende Interpretation, sondern um schlichtweg falsch tradierte Informationen aus Studien des 18. und 19. Jahrhunderts handelt.85 Spürt man etwa der Waffenbrüderschaft zwischen Bertrand du Guesclin und Olivier de Clisson im Frankreich des 14. Jahrhunderts nach, so stellt sich bei der Lektüre der bekannten Quellen heraus, dass hier keineswegs davon die Rede sein kann, dass der Bündnisschluss durch das Vermischen des Blutes dieser beiden Adligen Mehrere Beispiele führt bereits an Charles Dufresne Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis. 10 Bde., Paris 1938 [1681], Bd. 10, S. 67–70 (Dissertation XXI: Des adoptions d’honneur en frère, et, par occasion, des frères d’armes). Ein relativ junges Beispiel eines solchen evolutionären Gedankens bietet Maurice Keen, „Brotherhood in Arms“, in: History 47 (1962), S. 1–17 [5]. 85 Siehe Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 295 f. 84

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zustande gekommen wäre.86 Anstelle eines Reflexes archaischer Riten finden wir hier einen konventionellen Vertrag, der auf begleitende Rituale christlich-kirchlicher Natur hinweist. Mit dem Wegfall solcher Einzelfälle entgleitet uns aber auch die Grundlage für Konjekturen – an mehreren Stellen, an denen es bislang möglich schien von „Blutsbrüderschaften“ in der Literatur zu reden, wird man wohl doch besser beraten sein, eine kritische Position einnehmen. Dies trifft etwa auf den Bündnisschwur in der englischen Romance Athelston zu, wo sich vier Boten zu Schwurbrüdern machen.87 Von Blut ist hier aber keine Rede, ganz im Gegenteil werden im Fortgang des Textes die weddyd bretheryn strikt vom „eigenen Blut“ unterschieden.88 Letztlich kann uns das schillernde Beispiel der Blutsbrüderschaft also zwei zentrale Einsichten allgemeinerer Natur bieten. Betrachtet man zum einen den Beitrag, den seine Analyse zum Verständnis sozialer Bindungsformen und deren diskursiver Einbettung leistet, so fällt die Flexibilität der Vorstellungen auf, die mit der Blutsbrüderschaft verbunden wurden. Die Deutungen des Motivs kreisen ganz offensichtlich um die Bilderwelten der (künstlichen) Verwandtschaft, der vertraglichen Solidarität, der Freundschafts- oder Liebesbindung und eines magischsakralen Arkanums, ohne dass eine der Komponenten mit absoluter Dominanz in den Vordergrund rückt. In dieser Hinsicht mag das Motiv also durchaus repräsentativen Charakter besitzen, da allgemein in den Diskursen um die Frage der Vergesellschaftung eine Vermischung dieser vier Bereiche zu beobachten ist.89

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So Siméon Luce, Histoire de Bertrand du Guesclin et de son époque, Paris 1876, S. 70, Anm. 86. In der von Luce angeführten Quelle ist nichts dergleichen zu lesen, s. Oschema, „Blood-Brothers“ (wie Anm. 8), S. 296. „Athelston“, in: Four Romances of England. King Horn, Havelok the Dane, Bevis of Hampton, Athelston, hg. v. Ronald B. Herzman, Graham Drake und Eve Salisbury, Kalamazoo 1999, S. 341–384 [349, vv. 22–24]. Von Blutsbrüdern spricht etwa Dieter Mehl, „Freundschaftssagen. II. Englische Literatur“, in: LexMA 4, Sp. 913 f. „Athelston“ (wie Anm. 87), vv. 10, 132, 161, 379, 438, 441, 586, 691 (Schwurbrüder) und vv. 28 f., 442 (eigenes Blut) Vgl. etwa Klaus van Eickels, „Freundschaft im (spät)mittelalterlichen Europa: Traditionen, Befunde und Perspektiven“, in: Freundschaft oder amitié? Ein politischsoziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.–17. Jahrhundert), hg. v. Klaus Oschema, Berlin 2007 (ZHF. Beiheft 40), S. 23–34 [24].

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Zum zweiten weist uns das Beispiel der Blutsbrüderschaft aber auch deutlich auf die Fallstricke einer Fokussierung auf die Analyse von Riten, Gesten und Zeremonien hin: Die Untersuchung der bekannten Quellen erlaubt es uns nicht, die historische Existenz der Blutsbrüderschaft als soziale Institution an einem bestimmten Punkt zweifelsfrei festzumachen. Das Motiv als solches erscheint zwar in breiter Streuung von der Antike bis an das Ende des Mittelalters (und darüber hinaus), aber seine Einbettung in stets polemische Kontexte gibt immer auch zu Zweifeln Anlass. Bis auf wenige Ausnahmen können wir keine positive Bezugnahme beobachten, kein stolzes Reklamieren dieses Rituals als Bestandteil der eigenen Tradition – und wo dies doch der Fall ist, lässt die textuelle Verankerung erneut zögern, etwa im Fall Saxos, der doch offensichtlich in bewusster Absetzung von den Zuständen seiner Gegenwart eine heroische Vorzeit konstruieren möchte. Die hier untersuchten Texte sagen uns daher sehr viel über Werte und Normvorstellungen der jeweiligen Autoren, die einen wesentlichen Bestandteil ihrer sozialen Realität und ihres Weltbildes ausmachten. Sie verraten uns dagegen sehr viel weniger über die tatsächlichen Praktiken, die sie nur scheinbar so bunt schildern. Der Blick auf die Deutungen in der modernen Forschungsliteratur zu Blutsbrüderschaften kann dies nur untermauern: Die Interpretationen des Phänomens zeugen vor allem von den Fragen, Erwartungen und Vorstellungen der betreffenden Historiker(innen) (und das schließt den Autor dieser Zeilen selbstverständlich mit ein) – in den Quellen selbst konstituieren sie immer schon einen Vorwurf und eine Ausgrenzung. Wenn sich uns die vergangenen Realitäten damit stets mindestens zum Teil entziehen, so ermöglicht dieses Phänomen aber zugleich die Analyse immer neuer Facetten der Geschichte.

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„Ich halte Dich am Bart“: Spiel der Hände, Spiel der Farben in einem Ritual zwischen Männern Marie Aschehoug-Clauteaux (Paris) Aus dem Französischen übersetzt von Klaus Oschema Zwei Männer betrachten sich gegenseitig. Einer hält den anderen am Bart, jener ergreift ihn am Nacken. Beide fassen sich an ihren Händen, die sie in ein Becken halten, in welches das Blut aus einer Stirnwunde fließt . . . So stellt sich der erste Blick auf ein rätselhaftes Bild in einer Handschrift dar, die in der Pariser Bibliothèque nationale de France unter der Signatur „Latin 2819“ aufbewahrt wird. Die schlichte Malerei, die Schönheit und Intensität der Farben, die formale Konstruktion des Bildes und die Komplexität des Motivs verwundern den Betrachter. Welche Bedeutung besitzen das präzise Ineinandergreifen der Gesten und die expressive Inszenierung? Handelt es sich hier um ein Ritual? Und wenn ja, ist es ein Friedensritual?

Ein verwirrendes Bild Wir befinden uns am Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert. Unsere Handschrift kommt aus dem Südwesten Frankreichs, genauer aus der Region um Moissac. Nach allem was wir wissen, soll das Manuskript in der Abtei von Saint-Maurin hergestellt worden sein, die zur Diözese von Agen gehört. Es enthält Texte der Kirchenväter: Schriften Isidors von Sevilla und Predigten des heiligen Augustinus. Der Buchschmuck besteht aus acht reich ausgestalteten Initialen; eine ganzseitige Miniatur wurde als letztes Blatt auf Folio 87 angefügt (Abb. 1). Die gesamte Handschrift zeichnet sich durch eine reiche Farbigkeit aus, die sowohl lebendig-satte wie fahl-verwaschene Töne umfasst.1 Das Pergament bil1

So sind mittlere und satte Töne von Rot, Grün und Blau zu sehen, rötliche und grünliche Abstufungen, ein fahles Gelb, mehr oder weniger verwaschenes Braun und schließlich die braune Tinte der Schrift.

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det eine eigene Farbe, die den Hintergrund auszeichnen kann, die Kleidung oder die Farbe der Haut.2 Insgesamt sticht aber eine einzige Farbe lebendig und satt aus dieser abgestuften Palette hervor: das Rote.3 Unsere Untersuchung beschränkt sich auf die letzte Miniatur des Manuskripts, welche die beiden beschriebenen Männer zeigt. Die Szene ist komplex, obschon sich das Bild durch lebendige Farben, eine einfache Struktur und eine präzise Gestik auszeichnet. Ins Auge fällt zunächst die chromatische Anlage, die dem Roten einen Platz ersten Ranges einräumt.4 Auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass die Zeichnung und die Anbringung der Farben an einigen Stellen unvollständig geblieben sind.5 Die Zeichnung selbst ist einfach, mit schematischen Umrissen der dargestellten Personen und wenigen, steifen Faltenwürfen der Kleidung.6 Schließlich fallen weitere Details auf, wie die Symmetrie der Bildanlage, die über Kreuz laufende Gestik der beiden bärtigen Männer, das von einer Stirnwunde herabfließende Blut, die Platzierung der Hände in einer Schale, die Kleidung und Haartracht der Personen sowie die mit vernietetem Eisen verstärkte Spitze der Dolchscheide. Trotz der schlichten formalen Anlage gestaltet sich die Bildinterpretation schwierig. Gezeigt werden zwei erwachsene Personen, kahl und bärtig, die sich aufrecht gegenüberstehen. Beide haben die gleiche Größe, zwischen ihnen befindet sich eine große Schale. Eine ausgefallene 2 3

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Man kann hier an den „fond de teint“ denken, mit dem das Kosmetikpuder zum Schminken der Haut bezeichnet wird. In unserer Handschrift ist Rot die Farbe des Postaments, auf dem der Bischof Isidor von Sevilla gezeigt wird (Initiale « I », fol. 1), der Tunika des Musikers sowie des Hintergrunds im Buchstaben « P » (fol. 44), und des Hintergrunds der Initialen « F » und « I » (fol. 44 und 47) sowie schließlich der Buchstaben « O » und « M » (fol. 48 und 78). Das Rote bildet die Farbe, um die herum (und mit deren Hilfe) das Gesamtbild aufgebaut ist. Für weitere Hinweise zu dieser Farbe s. Michel Pastoureau, Jésus chez le teinturier. Couleurs et teintures dans l’Occident médiéval, Paris 1997. So wurden etwa die Wellenlinie, auf der sich die Schale befindet, sowie die farbige Ausmalung des linken Beins der rechten Person nicht vollendet. Vgl. hierzu Danielle Gaborit-Chopin, La décoration des manuscrits à Saint-Martial de Limoges et en Limousin (du IXe au XIIe siècle), Paris und Genf 1969, S. 105–106. Die Autorin erkennt eine stilistische Ähnlichkeit zwischen unserer Handschrift und der Première Bible de Saint-Martial de Limoges (Verzierung der Buchstaben) sowie einer Flavius Josephus-Handschrift aus Toulouse oder Moissac, heute BnF ms.lat. 5058 (Personendarstellung).

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Abbildung 1: Darstellung eines Versöhnungsrituals (?), Buchmalerei, Südwestfrankreich, um 1100, Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. lat. 2819, fol. 87r .

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Rahmung, die aus drei gemalten Einfassungen besteht, zwischen denen Raum freigelassen wurde, unterstreicht die räumliche Inszenierung der beiden Personen. Die Hintergrundfarbe des Gesamtbildes ist jene des Pergaments. Die erste Einfassung, die den Hintergrund kennzeichnet, ist in gelblichem Beige und tiefem Rot gehalten, die zweite in einem mittleren Grün und die dritte, die den Vordergrund markiert und breiter ist als die vorhergehenden, in einem mittleren Rot. Die rote Farbfläche dieser äußeren Einfassung ist glatt und dick und die Farbe hat stellenweise das Pergament beschädigt. Der Mann zur Linken steht aufrecht, sein Gesicht ist im Profil zu sehen, der nach vorne geneigte Körper in Dreiviertel-Ansicht. Sein rechtes Bein ist ausgestreckt, das linke Knie leicht angewinkelt, ganz so als ob er einen Schritt nach vorne machen oder das Knie auf die Erde setzen möchte. Seine linke Hand ergreift den Nacken des ihm gegenüberstehenden Mannes, die andere ist in die Schale gesenkt. Er ist mit einer kurzen Felltunika bekleidet, die lange Ärmel hat und (bis auf einige braune Hervorhebungen) in der Farbe des Pergaments gehalten ist. Der untere Teil dieses Kleides ist mit einer fahlgelben Stickerei verziert, in die Edelsteine eingearbeitet sind. Der Mann trägt Strümpfe und Stiefel in der Farbe des Pergaments, mit braunen Schatten. Seine kurzen Haare und der lange Bart sind braun, die Stirn ist nackt. Die Haut ist von einem rötlichen Beige, wobei das Gesicht und die Stirn satter gefärbt sind als der Hals und die Hände. Auf seiner rechten Wange zeichnet sich ein brauner Fleck ab. Lebendig rotes Blut läuft aus einer Wunde an seiner Stirn und tropft in den Behälter, der zwischen den beiden Personen steht. Der Mann auf der Rechten steht ebenfalls aufrecht und spiegelt die Position seines Gegenübers. Mit einer Hand zieht er aber an dessen Bart, während er die andere gleichfalls in die Schale senkt. Auch er ist mit einer kurzen, langärmligen Tunika in der Farbe des Pergaments bekleidet, bei der Schatten von verwaschenem Grün und Beige hervorgehoben sind. Am rechten Bein trägt er einen gelblich-beigen Strumpf, der an seiner Vorderseite einen mittelroten Fleck aufweist. Das linke Bein ist in Teilen in dunklem Rot gehalten.7 Der Mann trägt niedrige 7

Es wirkt, als ob sich der Künstler mit der Kolorierung dieses Beines geirrt hätte. Tatsächlich ist nicht nur das Bild hier unvollendet, sondern die verwendete Farbe (Dunkelrot) ist identisch mit jener der ersten Einfassung auf der rechten Seite (das

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Schuhe in der Farbe des Pergaments. An seinem Gürtel ist eine rötlichbeige Scheide angebracht, deren Spitze mit Eisen verstärkt erscheint. Seine kurzen Haare und der lange Bart sind braun, die Haut von einem rötlichen Beige mit einer leichten roten Kontur an der Augenbraue, am Auge, der Nase und dem Mund sowie einem roten Fleck an der linken Wange. Seine Haare sind dunkler, die Gesichtshaut heller als diejenige seines Gegenübers. Die exakte Symmetrie der Haltung der beiden Männer ist von der chiastisch gekreuzten Gestik durchbrochen, mit der jeder auf den Körper des anderen zugreift: Der erste ergreift den Nacken, der zweite zieht am Bart. Die Gestik ist daher nicht nur überkreuzt, sondern zugleich unterschiedlich ausgerichtet.8 Dieses Spiel mit sich kreuzenden, variierten Gesten könnte zum visuellen Ausdruck der Spannung zwischen den beiden Figuren dienen. Desweiteren wird die Symmetrie des Bildes durch die Differenz der Kleidung und der Farbigkeit der Protagonisten gebrochen. Die Farbe der Haut, der Haare und der Tuniken, sowie die unterschiedlichen Stoffe markieren die Differenz der beiden Männer – sie könnten einen unterschiedlichen sozialen Status oder moralische und symbolische Ungleichheit ausdrücken. Steht damit der Mann, der in einer reichen Pelztunika und mit stärker gefärbter Haut dargestellt ist, auch in einer sozialen und moralischen Hierarchie an höherer Stelle? Die subtile Auszeichnung von Hierarchie und Gestik, zugleich symmetrisch und über Kreuz, scheint den ambivalenten oder zweideutigen Charakter der Männer auszudrücken. Handelt es sich um Partner oder um Gegner – oder beides zur gleichen Zeit? Und, über die beiden Protagonisten hinaus gefragt, stellt diese Doppeldeutigkeit die Komplexität eines Rituals dar?

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Bein, das diese erste Einfassung in gerader Linie fortsetzt, mag daher fehlerhaft koloriert worden sein, was zugleich den unvollendeten Zustand erklären könnte). Hier wurde das Motiv von den sich am Bart ziehenden Männern, das dem Maler wohl bekannt war, in veränderter Weise neu interpretiert (der Gestus ist nicht symmetrisch): Es scheint, als ob der Maler über die Darstellung eines einfachen Streits hinausgehen wollte; vgl. Christian de Mérindol, „Du Livre de Kells et du Psautier de Corbie à l’art roman. Origine, diffusion et signification du thème des personnages se saisissant à la barbe“, in: The Book of Kells. Proceedings of a Conference at Trinity College Dublin, 6–9 September 1992, hg. v. Felicity O’Mahony, Dublin 1994, S. 290–300.

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Ein komplexes Ritual Vor allem ein Detail zieht die Aufmerksamkeit auf sich: das reichlich fließende Blut. Es tritt aus einer einzigen Wunde aus, derjenigen des in Fell gekleideten Mannes. Nur auf seiner Stirn erscheint der rote Fleck, der die Wunde kennzeichnet. Die am Bart gezogene Figur ist daher zugleich die blutende. Aus der Stirn fließt das Blut in die Schale und beider Hände tauchen darin ein . . . Wird der links stehende Mann also angegriffen?9 Wenn wir es hier nur mit einem Verwundeten zu tun haben, das Blut nur aus einer Wunde fließt, so gibt es hier keine Vermischung in seiner rituellen Verwendung. Sind die beiden Männer und die von ihnen vollbrachten Gesten entsprechend unterschiedlich zu deuten? Unterteilt man das Bild entlang einer horizontalen Linie in zwei Teile, so kreuzen sich die Gesten im oberen Bereich auf der Höhe der Unterarme: der eine ergreift den Bart, der andere den Nacken. Weitere ikonographische Details unterscheiden die beiden Männer: Ausser der Wunde betreffen diese die Hautfarbe und die Kleidung. Beide Männer, kahlköpfig und im Profil dargestellt, sehen sich gegenseitig an, sind miteinander konfrontiert.10 Es handelt sich um Gegner; das (reichhaltig) fließende Blut gibt ihrer Gestik einen gewalttätigen Aspekt. Dass nur einer verwundet ist, bringt ein Ungleichgewicht in die Szenerie, das zugleich die Unordnung unterstreicht, welche vom Kampf und dem Streit zwischen den beiden Männern ausgeht.11 Der rote Fleck am rechten Bein der rechten Person erinnert an das Blut aus der Stirnwunde seines

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Man könnte tatsächlich glauben, dass die linke Person die angegriffene ist: Sie wird am Bart gezogen und ist an der Stirn verletzt; zudem trägt ihr Gegenüber das Messer. Aber der Mann auf der rechten Bildseite trägt die Scheide links, um mit der rechten Hand zustechen zu können. Ebenso könnte auch die linke Person ein Messer an dieser Seite tragen, das damit aus unserem Blickfeld geriete. Der Maler des Bildes kannte wohl das Motiv der sich am Bart ziehenden Männer, das durch einige Kapitelle und Handschriften überliefert ist, die vor unserem Bild zu datieren sind, vgl. de Mérindol, „Du Livre de Kells“ (wie Anm. 8). Vgl. Christian de Mérindol, „Le thème de la Dispute dans le Beatus de Saint-Sever: origine et diffusion“, in: Bulletin de la Société de Borda (1995), S. 3–20. Der Bart ist in diesem Zusammenhang ein Kernelement. Eine Szene der Apokalypse von Saint-Sever (BnF, ms.lat. 8878), in der sich zwei Personen am Bart ziehen, ist mit zwei Legenden überschrieben: „Zwei Männer ziehen sich wegen dieser Frau am Bart“ und „Wenn sich zwei Personen an der Stirn stoßen, können sie sich am Bart ziehen“. Der Bart wird hier folglich zum Attribut streitender Männer.

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Gegenübers – hier könnte eine zweite Verletzung angedeutet sein, die das Ungleichgewicht abmildert. Die Schale, in welche die Hände hineinreichen, markiert eine Grenzlinie zwischen dem oberen und dem unteren Teil des Bildes. Im Gegensatz zum oberen Register, zeichnet sich der untere Bereich durch vollständig symmetrische Gesten aus: Die beiden Hände reichen in gleicher Weise in ein reich verziertes Becken hinein, die beiden Männer zeigen dieselbe Beinhaltung und tragen kurze Tuniken. Schließlich verbinden sich die Hände im selben Blut, das aus einer einzigen Wunde fließt. Die Haltung der beiden Figuren ist exakt identisch, sie sind gleich groß und auf derselben Höhe angesiedelt. Es sind Partner – ganz so, als habe der Künstler durch die Ähnlichkeit der Gesten und die Einheit des Blutes eine ausgeglichene, geordnete Szene des Friedens und der Übereinstimmung zeigen wollen. Aber von welcher Art ist dieser Frieden? Handelt es sich um einen Pakt zwischen zwei Personen von gleichem Status, oder um einen Treueschwur, bei dem eine Person in der sozialen und moralischen Hierarchie höher steht? Oder geht es um den Ausgleich zwischen zwei Männern, die sich zuvor in einem Konflikt befunden haben?

Ein doppeltes Ritual? Um das so dargestellte Ritual zu verstehen, mag es hilfreich sein, die wenigen Hinweise der bisherigen Forschung vorzustellen. Angesichts der äußerst knappen Details, die zu unserer Handschrift und dem Bild bekannt sind, ist an dieser Stelle kaum mehr möglich, als die Eröffnung von Forschungsperspektiven, die vielleicht später zu einer tiefergehenden Untersuchung führen können. Jean Porcher, ehemaliger Konservator an der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France, hat als einer der ersten das Bild als einen gegenseitigen Treueschwur mit der Verwendung von Blut identifiziert.12 In einer Untersuchung zu den Handschriften des Limousain nimmt Danielle Gaborit-Chopin kurz auf unser Manuskript Bezug. Im Hinblick auf die hier interessierende Szene spricht sie von einem 12

Siehe den Catalogue général des manuscrits. Bd. 3 (no 2693–3013), hg. v. Jean Porcher, Paris 1952, sowie Jean Porcher, „Un manuscrit aquitain de la fin du XIe siècle“, in: Bulletin de la Société Nationale des Antiquaires de France (1950–1951), S. 127–128, und ders., Manuscrits à peinture du VIIe au XIIe siècle, Paris 1954, no 315.

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Vertragsschluss zwischen zwei Männern.13 Christian de Mérindol griff die Hypothese Porchers wieder auf und baute sie aus: Ihm zufolge verstärkt der Griff an den Bart einer der beiden Personen den privaten, ja intimen Charakter des Schwurs.14 Dennoch gilt das Motiv der ikonographischen Datenbank Mandragore der Handschriftenabteilung der BnF als ‚nicht identifiziert‘. Das Deutungsproblem ist also auch heute noch offen. Für Jean-Luc Chassel, der sich intensiv mit der Frage des Eides auseinandergesetzt hat, bedeutet das dargestellte Ritual weder einen Treueschwur, noch überhaupt einen Eid: das fließende Blut und die Kampfesgestik widersprächen einer solchen Deutung.15 Ihm zufolge sei der Schlüssel zum Verständnis des Bildes in den patristischen Texten zu suchen, die ihm vorausgehen – diese aber schweigen in Bezug auf die Miniatur.16 Wesentlich weiter vorne in der Handschrift, auf den fol. 57v – 13

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Gaborit-Chopin, La décoration (wie Anm. 6), S. 105–106. Unser Bild erinnert zudem an den Vertrag zwischen Tobit und Gabaël in der Darstellung der Handschrift BnF ms.lat. 94, fol. 18 (vgl. Tob 5,3: Tunc pater suus respondit illi et dixit: ‚Chirografum quidem eius penes me habeo, quem dum illi ostenderis, statim restituet.‘). Wie in unserem Bild, zeigt die Szene hier Tobit und Gabaël als zwei einander gegenüberstehende Männer in kurzen Tuniken, eine Schale und ein Messer; hinzu kommt eine Frau als Zeugin des Vertrags. Ich danke Marie-Thérèse Gousset und Marianne Besseyre, Konservatorin in der Handschriftenabteilung der BnF, für den Hinweis auf dieses Bild. Siehe de Mérindol, „Du Livre de Kells“ (wie Anm. 8); die Berührung des Bartes ist den Kelten gleichbedeutend mit der Berührung der Männlichkeit, einem intimen Kontakt. Zudem fehlen die üblichen ikonographischen Kennzeichen des Eides: Es gibt keine Handauflegung, keine Reliquien, keine Zeugen, keinen Kuss und keine verschränkten Hände, die in jene des Herren gelegt würden. Abgesehen von der Farbe des Körpers und der Kleidung ist auch keine hierarchische Differenz zwischen den beiden Männern ausgewiesen; vgl. zu diesem Aspekt auch Jean-Luc Chassel, „Le serment de Harold dans la Tapisserie de Bayeux et dans les sources pro-normandes des XIe et XIIe siècles“, in: Le Serment. Bd. 1, hg. v. Raymond Verdier, Paris 1991, S. 43–53, sowie François Billacois, „Le corps jureur: pour une phénoménologie des gestes du serment“, in: ebd., S. 93–101. Billacois betont die Bedeutung des Gesten und des Kontakts gegenüber dem eigentlichen Inhalt des Eides und dessen verbalem Ausdruck. Vor allem im 12. Jahrhundert wird der Eid auf Reliquien häufig praktiziert und hoch geschätzt, ohne aber andere Formen ganz zu verdrängen. Ich danke Marie-Thérèse Gousset, Forscherin am „Centre de recherche sur les manuscrits enluminés“ der BnF, für die Hinweise zur Zusammensetzung des letzen Heftes unserer Handschrift. Das Bild auf fol. 87 befindet sich auf einem gefalteten Doppelblatt (fol. 86–87), das an das letzte Heft angenäht wurde und daher von

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60r , befindet sich ein Text des heiligen Augustinus, der einen Zusammenhang mit dem Bild aufweisen könnte – eine Homelie über die Versöhnung. Die Niederschrift des Textes ist wohl vor die Entstehung des Bildes zu datieren – hat sich der Künstler an diesem Text orientiert, und wenn ja, warum ausgerechnet an ihm und nicht an einem anderen?17 Der Mangel an genauen Daten nötigt zur Vorsicht. Durch die gedoppelte Anlage wird das Bild sehr komplex und schwierig zu interpretieren. Eines scheint aber klar: Der Maler wollte in einer einzigen Szene zwei unterschiedliche Momente wiedergeben.18 Je nachdem, ob die Lektüre des Bildes von oben nach unten erfolgt oder in der Gegenrichtung, ändert sich der Sinn des Rituals. Falls es sich um die Darstellung zweier Gesten innerhalb eines einzigen Rituals handeln sollte, wird man von unten nach oben vorgehen. Sollten dagegen zwei verschiedene Zeitpunkte, vor und während des Rituals gezeigt werden, so lässt sich das Bild von oben nach unten lesen. Auf diese Weise sehen wir hier, wenn wir von den Händen in der Schale ausgehen, die in das gleiche Blut tauchen, einen gegenseitigen Treueschwur zwischen den beiden Männern. In diesem Fall hätte die

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diesem unabhängig ist. Der letzte Quaternio (fol. 78v –85v ) enthält ein Temporale und ein Prozessionale. Auf fol. 86r/v (unmittelbar vor unserem Bild) befinden sich Responsorien und Antiphone für die Festtage der Dreifaltigkeit, des Heiligen Maurinus und des Heiligen Michael. Allerdings scheinen diese Texte, die von einer anderen Hand geschrieben wurden als der vorhergehende Quaternio, keinen Bezug zur Miniatur zu haben. Auf der Rückseite des Bildes finden sich Klebespuren, so dass dieses Blatt eventuell auf der Rückseite eines Buchdeckels eingeklebt war oder einen Teil einer größeren Serie bildete. Das Doppelblatt fol. 86–87 besitzt dieselben Maße wie die anderen Blätter der Handschrift. Es wurde wohl kurz nach Fertigstellung des Rests angefügt (am Beginn des 12. Jahrhunderts) und zu diesem Zeitpunkt wurden auch die Texte von fol. 86 geschrieben und das Bild hergestellt. Augustinus von Hippo, „Sermo CCXI (In Quadragesima VII: De fraterna concordia)“, in: Patrologia cursus completus [. . . ] Series Latina. 221 Bde. (PL), hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1844–1864, Bd. 38, Sp. 1054–1058 [c. 1]: Dies isti sancti, quos agimus in observatione Quadragesimae, admonent nos de fraterna concordia loqui vobis, ut quicumque habet adversus alium querelam, finiat, ne finiatur. (. . . ) Ecce dixi vobis quod maxime per istos dies ieiuniorum vestrorum, observationum vestrarum, continentiae vestrae quid agere debeatis, ut cum fratribus vestris concordetis. Gaudeam et ego de pace vestra, qui contristor litibus vestris, ut omnes donantes vobismetipsis, si quis habet adversus aliquem querelam (. . . ). Vgl. hierzu das Kapitel über die Wiedergabe der Zeitlichkeit in François Garnier, Le langage de l’image au Moyen Âge. Bd. 2: Grammaire des gestes, Paris 1989, S. 45– 48.

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aggressive Geste des Bartergreifens, nach der Berührung der Hände ausgeführt, einen präventiven, vorbeugenden Charakter – die beiden durch den Schwur verbundenen Männer hätten den Gestus ausgeführt, um zukünftige Konflikte zu vermeiden. Er diente daher nicht nur als Ventil, sondern auch apotropäisch zur Vorbeugung des Bösen. Beginnen wir die Bildlektüre aber von den Streitgesten des Griffs an Bart und Nacken her, so ergibt sich eine radikal verschiedene Interpretation. Das Blut fließt von oben nach unten, von der Stirnwunde in die Schale. Es verbindet damit zwei Kernzeitpunkte, vom Streit zur Versöhnung. In diesem Fall wären wir hier Zeugen eines Versöhnungsrituals: Die beiden Männer entscheiden sich nach ihrem Streit zur Versöhnung, die durch die Verbindung ihrer Hände im selben Blut durchgeführt wird. Der zentrale Raum, den das Blut im Bild einnimmt, bekräftigt diese Hypothese. Beachten wir, wie das Blut zwischen den beiden Männern fließt und sie räumlich zugleich trennt und vereint: Der Fluss des Blutes trennt die linke von der rechten Bildhälfte; zugleich verbindet er die Wunde mit der Schale, also den Ausgangspunkt des Streits mit dem der Versöhnung.19 Zudem ist zu bemerken, wie der chromatische Aufbau des Bildes die Farbe und den Platz des Blutes im Rahmen dieses Versöhnungsrituals hervorhebt.20 Das Bild könnte auf diese Weise einen entfernten Widerhall der Predigt Augustins darstellen, die sich weiter vorne in der Handschrift befindet. Es wäre überzogen, die Interpretationslinie weiterzuführen – bei einem Bild, dessen Ursprungskontext beinahe vollständig unbekannt ist, muss sich die Deutung zwangsläufig bescheiden. Die Darstellung mag vielleicht zur Zeit ihrer Entstehung ein Ritual wiedergegeben haben, das weithin bekannt war und deswegen weitere Kommentare überflüs-

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Damit kreuzt zugleich die vertikale Achse der Blutlinie die horizontale Teilung des Bildes auf der Höhe der Schale. Diese bildet den Schnittpunkt der beiden Achsen, um die das Bild aufbaut ist. Die viergeteilte Struktur unterstreicht den Chiasmus der Szene selbst: so findet die Stirnwunde des linken Mannes ihre Entsprechung des lebendig-roten Flecks auf dem Bein der rechten Person.

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Man beachte etwa das visuelle Spiel des Farbverweises zwischen dem roten Blut in der Bildmitte und der roten Rahmung an der Peripherie. Zugleich ist auf die rote Färbung des wellenförmigen Bodens hinzuweisen, der an die Darstellung von Wasser oder Wolken erinnert.

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sig machte.21 Die vorgestellte Szene baut auf einer bekannten Ikonographie auf, jener des Kampfes und des gegenseitigen Ziehens am Bart, der sich die schwer verständliche Geste einer Vereinigung der Hände im gleichen Blut beigesellt. Wenn der Maler hiermit tatsächlich eine Predigt des heiligen Augustinus illustrieren wollte, so bleiben uns seine Motive weiterhin unbekannt. Die Schwierigkeit bleibt also bestehen, die symbolische Dimension dieses doppelten Rituals zu erhellen, in dem die beiden Männer nicht dieselben Gesten ausführen und in dem sie nicht in gleicher Weise engagiert scheinen.

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So ist keineswegs ausgeschlossen, dass es sich um einen historischen Verweis auf einen spezifischen Eid zwischen zwei Herren der Entstehungsregion gehandelt haben könnte.

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Die Liturgie der Osternacht Urs von Arx (Bern) Einleitung Ich muss Ihnen zuerst eine gewisse Verlegenheit gestehen.1 Unsere Vorlesungsreihe handelt von Zeichen, Gesten und Zeremonien. Solche gibt es im zentralen Fest des christlichen Kultkalenders, der Osternachtfeier, zuhauf. Wenn aber das Berner-Mittelalter-Zentrum Veranstalter der Ringvorlesung ist, wird man füglich erwarten, dass eben die Osternacht, wie sie im Mittelalter gefeiert wurde, im Mittelpunkt meines Referats stehen wird. Genau da liegt jedoch das Problem: Seit dem 6. Jahrhundert wurde die Osterfeier, die gemäß den ältesten Zeugnissen als Nachtgottesdienst, als sogenannte Vigil mit einer abschließenden Eucharistiefeier beim Anbruch des Tages konzipiert war, nicht mehr in der Nacht gefeiert. Sie wurde immer mehr auf den späten Karsamstagnachmittag vorverlegt, was in den verschiedenen Liturgiegebieten in unterschiedlichem Tempo geschah. Diese Entwicklung ging im westlichen Katholizismus, auf den ich mich im wesentlichen beschränken werde, noch weiter: Im 12. Jahrhundert beginnt der österliche Vigilgottesdienst um Mittag, und noch etwas später am Vormittag. Dieser Zustand wird mit der liturgischen Reform Pius’ V. und seinem Missale Romanum aus dem Jahr 1570 für fast 400 Jahre fixiert. Auch im Raum der byzantinischen Liturgie, also bei den orthodoxen Kirchen, hat die altchristliche Ostervigil dasselbe Geschick erlitten. Diese Entwicklung hatte eine Reihe von Ursachen, auf die ich nicht eigens eingehen kann; von Bedeutung war etwa die (immer frühere) Ansetzung der Messe an Fasttagen – und die Tage vor dem Ostersonntag

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Der Text ist überarbeitet und mit bibliographischen Hinweisen versehen, der Vortragsstil hingegen beibehalten worden. Was hier entfällt, sind Bild- und Tonbeispiele.

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waren Fasttage.2 Die Vorverlegung hatte zur Folge, dass ein anderer eucharistischer Gottesdienst als der eigentliche Ostergottesdienst betrachtet wurde, nämlich der vom Ostersonntagmorgen. Dieser begann sich beim Schrumpfen der liturgischen Nachtwache schon früh einzubürgern. Er ist vom Gepräge her etwas anderes als die altchristliche Osternachtfeier, letztlich eine Verdoppelung ihres Abschlusses, eben des eucharistischen Mahls. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts kommt es in den westlichen Kirchen hinsichtlich der zeitlichen Ansetzung zu einer weit verbreiteten Wiederanknüpfung an die spätantike Praxis, so dass das Spiel mit Dunkel und Licht, das wesentlich zur rituellen Präsenz der Osterwirklichkeit gehört, wieder ein Stück weit erfahrbar wird. Dieser Rückgriff ist nicht nur in der katholischen, sondern auch in der reformatorischen Christenheit zu sehen. Wie gehe ich nun mit meinem Problem um? Mein Thema ist die Osternachtfeier, diese hat aber im Mittelalter, wie immer es man abgrenzt, und auch darüber hinaus nur ein Mauerblümchendasein geführt als ein vom Klerus praktisch allein begangener Winkelgottesdienst bei Tageslicht. Sie hat spätestens seit dem Hochmittelalter die Frömmigkeit nicht mehr mitgeprägt. An ihre Stelle trat anderes, worauf ich am Schluss meines Vortrags noch kurz eingehen werde. Ich habe mich mit den Veranstaltern, die das Thema ins Gespräch brachten, auf folgendes Vorgehen geeinigt. Ich schildere zuerst die Entstehung jenes Ritengefüges, dessen Grundzüge in der Spätantike vorliegen und das mit bestimmten Erweiterungen im Missale Romanum tradiert wurde.3 Dieses ist die Basis, die quer durch die westlichen Konfessionen heutige Überlegungen zur Feier der Osternacht inspiriert, dahingehend dass man bestimmte Elemente auswählt, aufgreift und weiterführt. Was wir an heutigen Osternachtfeiern finden, orientiert sich im Wesentlichen am altchristlichen Modell.

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Josef A. Jungmann, „Die Vorverlegung der Ostervigil seit dem christlichen Altertum“, in: Liturgisches Jahrbuch 1 (1951), S. 48–54 [52 f.] Zur ersten Orientierung über die Geschichte der Osterfeier bis zu ihrer heutigen Reform in der römisch-katholischen Kirche sei verwiesen auf: Hansjörg Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I: Herrenfeste in Woche und Jahr, Regensburg 1983 (Gottesdienst der Kirche, 5), S. 56–153; Reinhard Messner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Paderborn 2001 (UTB, 2173), S. 296–358.

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Dann lade ich Sie zu einer virtuellen Osternachtfeier ein, deren besonderes Ritengefüge ich Ihnen schildere. Virtuell auch insofern, als ich nicht einfach eine der heutigen Restaurationen dieses Gottesdienstes, etwa das römisch-katholische Modell, zugrundelege, sondern mich auch an liturgiewissenschaftlichen Reformvorschlägen orientiere. Dabei liegt mir daran, die Grundstruktur des altchristlichen Modells im Spiel von Dunkel und Licht zur Geltung zu bringen. Zum Schluss gehe ich, wie gesagt, veranlasst durch eine bestimmte Frage, ganz knapp auf das ein, was im zweiten Millennium so etwas wie ein Ersatz der altchristlichen Osternachtfeier geworden ist. Die älteste Gestalt der Osternachtfeier Die ältesten Zeugnisse einer jährlichen Osternachtfeier datieren aus dem 2./3. Jahrhundert und stammen in erster Linie aus Kleinasien und Syrien.4 Sie belegen, dass die Gemeinde sich in der Nacht versammelt und beim Hahnenschrei, also bei der allerersten Morgendämmerung, etwa um 3 Uhr, ein Mahl feiert, wohl eine Eucharistie, oder wie man auch sagt: ein Herrenmahl, ein Abendmahl. Wir wissen zunächst kaum etwas Detailliertes, wenn wir nicht Kenntnisse aus späterer Zeit zurückprojizieren. Immerhin lassen sich zwei Phasen unterscheiden: Erstens eine Nachtwache: Sie besteht aus Lesungen (möglicherweise unter Einschluss des Passions- und Osterberichtes aus einem der kanonischen Evangelien) und Gebeten, wohl auch Predigtelementen. Sie ist irgendwie von der Erwartung geprägt, dass in dieser Nacht der Messias Jesus in Macht kommt, um zu vollenden, was an Erlösung noch aussteht; erwartet wird also die sogenannte Parusie des Kyrios, der adventus Domini. Zweitens, wie schon angedeutet, ein sich anschließendes, freudig gestimmtes Mahl: Darin feiert die Gemeinde die (immerhin) kultisch antizipierte Gegenwart des bei Gott lebenden Christus, da doch noch weiter auf die Vollendung zu warten ist. Mit diesem eucharistischen Mahl 4

Vgl. Hansjörg Auf der Maur, Die Osterfeier in der alten Kirche. Aus dem Nachlass hg. v. Reinhard Messner / Wolfgang D. Schöpf. Mit e. Beitrag v. Clemens Leonhard (Liturgica Oenipotana, 2), Münster 2003; Giuseppe Visonà, „Ostern / Osterfest / Osterpredigt I. Geschichte. Theologie und Liturgie“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 25, Berlin 1996, S. 517–530; Raniero Cantalamessa, Ostern in der Alten Kirche (Traditio Christiana 4), Bern 1981 [1978].

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geht auch das Trauerfasten zu Ende.5 Dieses Fasten kann je nach Kirchengebiet ein bis sechs Tage lang dauern – z. B. in Rom Freitag und Samstag. Die zwei Phasen artikulieren – das zu sehen ist entscheidend – ein Übergangsgeschehen, sie haben eine Struktur des „Hinüber von – zu“. Dies kommt am deutlichsten zur Geltung im Übergang von Trauer zur Freude, korreliert mit dem zeitlichen Übergang vom Dunkel zum Licht, von der Nacht zum Tag. Was den Übergang Trauer-Freude anbelangt, lassen sich in den frühchristlichen Texten verschiedene Akzentuierungen erkennen. Wenn sie sich auf die zentrale Gestalt Jesu beziehen, wie sie in den Passions- und Auferstehungsberichten der kanonischen Evangelien erscheint, kann das Gewicht mehr auf Leiden und Tod oder aber mehr auf Auferstehung und Leben bzw. der Erwartung der Wiederkunft liegen. Das lässt sich an den beiden Idealtypen der frühchristlichen Osterbegehung zeigen. In beiden Fällen heißt die eine nächtliche Osterfeier (pascha) – das ist die griechische Wiedergabe des aramäischen (pash.¯a’) bzw. des hebräischen (paesah.). Dieser Bezug auf das Passafest, wie es in der Zeit des Zweiten Tempels begangen wurde, hat u. a. damit zu tun, dass Jesus gemäß der Chronologie des JohannesEvangeliums zu der Zeit gekreuzigt wurde, da im Tempel in Jerusalem die Lämmer für die nächtliche Passafeier geschlachtet wurden, nämlich am Nachmittag des 14. Nisan; das Pesachmahl fand dann am Abend statt, der schon zum 15. Nisan gezählt wurde.6 Man kann auch noch

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Vgl. Mt 9,14: Die Jünger Jesu werden fasten an den Tagen, „wo der Bräutigam von ihnen genommen sein wird“. Da der korrekte Ausdruck „Rüsttag des Pascha“ (Joh 19,14) den 14. Nisan als Tag vor dem abendlichen Pascha- / Sedermahl bezeichnet, liegt es nahe, den 15. Nisan mit dem Beginn des Paschamahls beginnen zu lassen, also für unser Zeitempfinden am Vorabend; vgl. (Hermann L. Strack /) Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Bd. 2, München 1924, S. 442: „Die Juden begannen den Tag am Abend mit Sonnenuntergang und teilten ihn in zwei Hälften, von denen die erste, die nächtliche Hälfte, von Sonnenuntergang bis Tagesanbruch und die zweite, die Tageshälfte, von Tagesanbruch bis zum Sonnenuntergang reichte“. Der Tag des 15. Nisan gilt hinwiederum als erster Tag des ¯t-Festes. – Zur weiteren Frage der widersprüchlichen Chronosiebentägigen Mas.s.o logie des Todes Jesu in den Evangelien und des Charakters seines Abschiedsmahles mit seinen Jüngern (Paschamahl oder nicht), vgl. etwa Willibald Bösen, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret. Was wirklich geschah, Freiburg i. Br. 1994, S. 73–114.

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darauf verweisen, dass Paulus Jesus als „unser Passalamm“ (1 Kor 5,7) bezeichnen konnte. In einer Reihe von frühen Zeugnissen der altchristlichen Osterfeier liegt nun eben der Akzent auf dem Tod Jesu und dessen lebens- und heilseröffnender Dimension; dabei steht Jesu Tod in einer überbietenden Analogie zum Blut der geschlachteten (und nachher in Eile verzehrten) Lämmer, das die Israeliten gemäß Ex 12 an die Türpfosten und den Türsturz ihrer Häuser in Ägypten zu streichen hatten, denn nur so konnten sie dem tödlichen Vorübergehen Gottes entgehen, das die Erstgeburt Ägyptens traf. Eine der diskutierten Bedeutungen des Verbs (psh.) ist „schonend vorbeigehen an“.7 Hier liegt eine (beliebte) sogenannte typologische Korrelierung von Sachverhalten vor, die auf einer linearen Zeitachse liegen und sich gegenseitig interpretieren: der Tod der Lämmer und der Tod Jesu. Es mag in der inneren Konsequenz dieser Akzentuierung liegen, wenn in diesem Strang der altchristlichen Ostertradition das Todesgedächtnis Jesu und die Erwartung seiner Wiederkunft jährlich in der Nacht vom 14. zum 15. Nisan gefeiert wurde, und zwar egal, auf welchen Wochentag dieser fiel. Es ist das Datum der jüdischen Pesach-Sederfeier am Abend des ersten Vollmondes nach der Tag- und Nachtgleiche. In diesem Zusammenhang begegnet auch die an sich etymologisch unmögliche Verbindung des griechischen Wortes (pascha) mit dem Verb (paschein – leiden) oder mit dem lateinischen Substantiv passio (verstanden als Todesleiden). Diesem altertümlichen sogenannten quartodezimanischen Usus steht eine andere Praxis gegenüber, die sich später – nach einigen Streitigkeiten vor allem im 2. Jahrhundert – allgemein durchgesetzt hat: Die nächtliche Osterfeier ist auf den Sonntag anzusetzen (für unser Zeitgefühl auf den Vorabend des Sonntags bzw. die Nacht auf den Sonntag), der auf den 14. (oder 15.) Nisan folgt,8 denn nach der Überlieferung der kanonischen Evangelien ist Jesus am ersten Tag der Woche aufer-

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pasqa '

7 8

pasqein '

Vgl. Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament. Bd. 2, hg. v. Walter Baumgartner u. a., Leiden 3 1995, S. 892 f. Der 14./15. Nisan ist der Tag des ersten Frühlingsvollmondes; der jüdische Monat beginnt mit dem Neumond. Die Bestimmung des Ostertermins nach dem Frühlingsäquinoktium – im römischen Kalender der 25. März, später der 21. März – war in der Alten Kirche u. a. mit der unterschiedlichen Länge der Osterzyklen in Alexandrien und Rom verbunden. Vgl. zuletzt Auf der Maur, Osterfeier (wie Anm. 4), S. 97–100.

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weckt worden, und das ist eben der Sonntag.9 Damit tritt der Auferstehungsaspekt mehr in den Vordergrund und mit ihm die Dimension des Übergangs vom Tod ins Leben. Dementsprechend hat man dann später, deutlich im 4./5. Jahrhundert, auch vom transitus Domini gesprochen, vom Übergang des Herrn Jesus vom Tod ins Leben. Aber der transitus-Aspekt hing zunächst eher an einer anderen Größe als dem Geschick Jesu Christi, nämlich am Volk Gottes, das durch das Meer hindurch aus der Macht des Bösen gerettet und befreit wurde und nun, beschenkt mit der Tora, auf dem Weg ins Gelobte Land unterwegs war (transitus populi). Dieses Motiv aus Ex 14 ist zentral in der Passahaggada der jüdischen Sederfeier. Es findet sich auch in frühchristlichen Zeugnissen der Osternachtfeier: Das Volk Israel ist Typos des zum Messias Jesus gehörigen Volkes Gottes, der Kirche. Wie sich das in der christlichen Osternacht auswirken wird, werde ich später ausführen. Auch diese Perspektive wurde sprachlich mit (pascha) in Zusammenhang gebracht, nämlich im Anschluss an den jüdischen Philosophen und Toraausleger Philo von Alexandrien, der von (diabasis – Durchzug, Hinübergang) her interpretierte: Im Durchzug des Volkes Israel durchs Meer, im Hinübergang von Ägypten auf den Weg in das Gelobte Land sah er ein Bild für die Befreiung der menschlichen Seele von den Bindungen an Leidenschaften und Materie, und eine solche Befreiung war zugleich auch eine lebenslange ethische Aufgabe.10 Ich komme später auf die christliche Rezeption dieses Gedankens eines transitus populi in den rituellen Vollzügen der Osternachtfeier zurück. pasqa '

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Die altchristliche Osterfeier als Triduum paschale Ich mache nun einen Schritt ins 4./5. Jahrhundert. Mit der staatlichen Tolerierung des Christentums und später seiner Erhebung zur Staatsreligion sind Massen in die Kirche eingetreten. Der Gottesdienst findet nun – in den Städten – in den öffentlich sichtbaren Kirchenräumen der Basiliken statt. Die altchristliche Osterfeier mit den beiden Akzentuierungen, wie sie in der (kleinasiatischen) pascha-passio und der (alexandrinischen) pascha-transitus Deutung in idealtypisch vereinfachter Unterscheidung 9 10

In unserem Kulturkreis hielt sich diese biblische Sicht bis etwa Mitte des 20. Jh., bevor die Rede vom „Wochenende“ eine Änderung brachte. Philo von Alexandrien, De specialibus legibus, I et II, hg. v. Suzanne Daniel, Paris 1975 (Les œuvres, 24), II, § 145–149.

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vorliegen, wird in bestimmter Weise entfaltet. Was sich zuerst an konzeptuellen Motiven innerhalb der einen Osternachtfeier artikuliert hat (also in der Nacht des 14. auf den 15. Nisan bzw. des Samstags auf den Sonntag), wird nun zeitlich gedehnt und auf verschiedene Tage verteilt. Es entsteht so das triduum paschale oder das triduum sacrum, die dreitägige Osterfeier von Freitag, Samstag und Sonntag (wobei diese Tage nicht jeweils um Mitternacht, sondern vorher bei Einbruch der Nacht beginnen). Das Thema des Karfreitags ist die Passion, das Leiden und Sterben Jesu; der Karsamstag wird im Osten mit dem Abstieg Jesu in den Hades, im Westen mit der Grabesruhe in Verbindung gebracht, der Sonntag rückt pointiert die Auferstehung Jesu in den Mittelpunkt. Augustinus hat das klassisch ausgesprochen und damit auch im Westen den zuvor im Osten entwickelten Gedanken des transitus Domini fest etabliert. Er spricht vom allerheiligsten Dreitagesgeschehen des Gekreuzigten, Begrabenen und Auferweckten: sacratissimum triduum crucifixi, sepulti, suscitati.11 Und er fährt fort: Von diesen drei Dingen erfahren wir im gegenwärtigen Leben, was das Kreuz bedeutet, aber was Begräbnis und Auferstehung bedeutet, das vollziehen wir im Glauben und in der Hoffnung.12

Das heißt: Augustinus bindet den noch unabgeschlossenen Weg des Übergangs der Menschen an den vollendeten Weg des Hinübergangs Christi. Ich zitiere nochmals den nordafrikanischen Bischof, diesmal aus seiner Psalmenauslegung: Durch seine Passion ging der Herr vom Tod zum Leben über; und er bahnte uns, die wir an seine Auferstehung glauben, den Weg, damit auch wir vom Tod zum Leben übergehen.13 11

12

13

Aurelius Augustinus, Epistulae I–LV, hg. v. Klaus-Detlef Daur, Turnhout 2004 (CCSL, 31 [3,1]), LV 14,24. Vgl. auch Basil Studer, „Zum Triduum Sacrum bei Augustinus von Hippo“, in: La celebrazione del Triduo pasquale. Anamnesis e mimesis, hg. v. Ildebrando Scicolone, Roma 1990 (Studia Anselmiana, 102 = Analecta Liturgica, 14), S. 273–286. Augustinus, Epistulae (wie Anm. 11), LV 14,24: Horum trium quod significat crux, in praesenti agimus uita: quod autem significat sepultura et resurrectio, fide ac spe gerimus. Zitiert nach: Cantalamessa, Ostern (wie Anm. 4), S. 126. Aurelius Augustinus, Enarrationes in psalmos 119–133, hg. v. Franco Gori, Wien 2001 (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum, 95,3), 120,6: Per passionem enim transiit Dominus a morte ad uitam; et fecit nobis uiam credentibus in resur-

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Partizipation am Transitusgeschehen des Christus ist so der Kern der christlichen Passafeier in Gestalt des Ostertriduums. Wie sich das in den rituellen Vollzügen der Osternachtfeier auswirkt, werden wir sehen. Die Entfaltung und Aufteilung eines ursprünglich in eins gesehenen Vorgangs auf Einzelmomente und einzelne Tage zeigte sich übrigens auch über das Ostertriduum hinaus. Die auf Ostern folgende 50tägige Freudenzeit (Pentekost¯e) wurde – im Anschluss an die lukanische Apostelgeschichte – mit bestimmten Ereignissen wie der Aufnahme Jesu in den Himmel und der Herabkunft des Heiligen Geistes verbunden.14 Aber auch die Zeit vor dem Ostertriduum wurde strukturiert: Neben der allmählichen Entstehung der Quadragesima sind hier vor allem die Tage ab dem Palmsonntag zu nennen. Im Anschluss an die Evangelienberichte mit ihrem Tages- und Stundenschema der Narration ließ sich jedem Tag ein besonderes Ereignis der Passionsgeschichte zuordnen, z. B. dem Palmsonntag der Einzug Jesu in Jerusalem. Dieser Prozess der Historisierung eines vorher in soteriologischer Verdichtung in einem einzigen Gottesdienst gefeierten Geschehens lässt sich am deutlichsten in Jerusalem sehen: Hier gab es in der Woche vor Ostern jeden Tag mehrere, mit Prozessionen verbundene Gottesdienste zu jenen Zeiten und an jenen Orten (sog. Stationsgottesdienste), wo sich nach den Evangelien die entsprechenden Ereignisse mit und um Jesus abspielten. Davon wissen wir von den Berichten der spanischen Pilgerin Egeria, welche Jerusalem um das Jahr 383 besucht hat (die Stadt war dank der Bautätigkeit Kaiser Konstantins und seiner Mutter Helena zum ersten Wallfahrtsort der alten Christenheit aufgestiegen – man denke nur an die Grabeskirche, an Bauten auf dem Ölberg usw.). Diese Praxis verbreitete sich durch Vermittlung heimkehrender Pilger in anderen Gegenden, wo nun ebenfalls Details der Passionswoche in tendenziell isolierender Betrachtung Interesse fanden.15

14

15

rectionem eius, ut transeamus et nos de morte ad vitam. Zitiert nach Cantalamessa, Ostern (wie Anm. 4), S. 127. Zur schon früh anzusetzenden Bedeutung des ersten Tages der christlichen Pentekost¯e im Horizont der 50 Tage (7 × 7 Wochen + 1 Tag), an deren Ende im jüdischen Kalender das Wochenfest steht, vgl. Auf der Maur, Osterfeier (wie Anm. 4), S. 102 f. Vgl. dazu Egeria, Itinerarium – Reisebericht, hg. und übers. v. Georg Röwekamp, Freiburg i. Br. 1995 (Fontes Christiani, 20), bes. S. 74–76, 96–98, 107–115 und 256– 305. Zu den Nachwirkungen in den westlichen Liturgien vgl. Kenneth W. Stevenson, Jerusalem Revisited. The Liturgical Meaning of Holy Week, Washington 1988;

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Das alles hat zur Folge, dass in der Osternachtfeier verstärkt der Lebens- und Auferstehungsaspekt des doppelten, sowohl Christus als auch die Getauften betreffenden transitus-Geschehens zur Geltung kommt. Der Passionsbericht wird von der Verklammerung mit den Ostererscheinungsberichten gelöst und hat nun seinen festen Ort am Karfreitag, bzw. werden die vier kanonischen Passionsberichte auf verschiedene Tage zwischen Palmsonntag und Karfreitag verteilt. Der Karfreitag, der erste Tag des Triduums, erhält somit sein eigenes Gewicht mit verbalen und non-verbalen Elementen, die Jesu Gang ins Leiden und in den Tod umkreisen. Umgekehrt wird die Auferstehungsthematik dominant für den Abschluss der dreitägigen Osterfeier in der Nacht auf den Sonntag. Die spätantike Osternachtfeier mit ihren vier Teilen Die Osternacht selbst wird im 4./5. Jahrhundert durch zwei Elemente bereichert, die ich noch erwähnen muss. Einerseits wird sie zur großen Taufnacht, in der die (meist immer noch erwachsenen) Katechumenen (Taufbewerber, die einen Lehrgang absolvieren) in die Kirche eingegliedert, in die Christuswirklichkeit initiiert werden. Die Verbindung von Passanacht und Tauffeier lag gewissermaßen auf der Hand: Man hat Paulus so interpretiert, dass ihm bei der Fomulierung von Röm 6,3–5 eine Taufhandlung vor Augen stand – und das ist in der Regel ein Unteroder Eintauchen (submersio, immersio mit affusio) eines Menschen ins Wasser, wie noch die alten Baptisterien und die frühe Ikonographie der Taufe Jesu wahrscheinlich machen; die Bewegung ins Wasser und aus dem Wasser symbolisiert dann das Mit-Christ-Sterben bzw. das MitIhm-Hinübergehen in ein neues Leben, das freilich noch der Glaubensbewährung und der Vollendung harrt. In 1 Kor 10,2 verbindet er das Exodus-Motiv mit der Taufe. Das schließt an das schon erwähnte traditionelle, jüdisch vorgegebene Verständnis der Passafeier als Hinübergehen des Volkes in eine neue Zukunft an. Rituell wird das im christlichen Raum mit der Taufhandlung verbunden.

Hebdomadae sanctae celebratio. Conspectus historicus comparativus. The Celebration of Holy Week in Ancient Jerusalem and its Development in the Rites of East and West, hg. v. Antonius Georgius Kollamparampil, Rom 1997 (Bibliotheca „Ephemerides Liturgicae“. Subsidia, 93).

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Zum anderen sind mit der Osternacht unterschiedliche Formen eines expliziten Lichtritus verbunden worden. Dabei geht es um mehr als um die Selbstverständlichkeit, dass man in einem Nachtgottesdienst, etwa für die Lesungen aus der Hl. Schrift, irgendwie Licht benötigt. Mit dem Lichtritus, dem Anzünden von Licht im Dunkel, dem Hereintragen von Licht in einen dunklen Raum, kommt im Kontext der Osternacht auf eine nonverbale Weise das transitus-Motiv zur Geltung. Anstöße zum Lichtritus waren der Brauch des Luzernars, des täglichen Lichtanzündens beim abendlichen Gemeindegottesdienst, möglicherweise Lichtriten bei der Taufe – oft auch (ph¯otismos), Erleuchtung, genannt; zudem sind Einflüsse von paganen Mysterienkulten anzunehmen.16 Im weiteren werden nun die Quellen auch deutlicher hinsichtlich des Wortgottesdienstes, der die erste Phase der nächtlichen Passafeier darstellt: Es begegnen häufig Lesungen aus Gen 1 (Erschaffung von Himmel und Erde), Gen 22 (die nicht vollzogene Opferung Isaaks durch Abraham), Ex 12 und 14 (das Passaessen des Volkes Israel und sein Durchzug durchs Meer – wohl die beiden ältesten alttestamentlichen Schriftlesungen), Ez 37 (die Vision von der Lebendigmachung der Totengebeine) und anderes mehr. Herauszuheben ist dabei, dass der Übergang Jesu vom Tod ins Leben als etwas gesehen wird, das von der Schöpfung an durch die Geschichte Israels seine typologischen Vorabschattungen hatte und so die Konsistenz göttlichen Handelns, der Heilstaten Gottes, erkennen lässt. Mit Wortgottesdienst und Eucharistiefeier sowie mit Lichtritus und Tauffeier haben wir nun die wichtigsten Elemente zusammen, aus denen die Osternachtfeier im Westen besteht. Je nachdem, wo Lichtritus und Tauffeier in die alte Zweiphasenstruktur integriert wurden, ergab sich eine unterschiedliche Gewichtung des Ganzen, denn von dem Moment an, in dem Licht das Dunkel im Kirchenraum vertreibt, sei es mit anthropogener Beleuchtung oder mit dem Aufgang der Sonne, ist der Auferstehungs-Lebens-Aspekt vorherrschend. Ich kann die Entwicklungen des Ritus der Osternachtfeier bis zum Jahre 1570, als das Missale Romanum für fast 400 Jahre das liturgische Formular für den westlichen Katholizismus festlegte, nicht weiter verfwtismoc '

16

Vgl. den knappen Hinweis zum „klassischen“ Modell von Eleusis bei Hans Kloft, Mysterienkulte der Antike. Götter, Menschen, Rituale, München 1999, S. 19 f.

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folgen.17 Nur eine knappe historische Bemerkung: Wir haben es mit einem im Einzelnen komplexen Amalgam von Elementen zu tun, bei denen man drei Phasen unterscheiden kann: a) Herkunft aus dem spätantiken stadtrömischem Papstgottesdienst und der Liturgie der stadtrömischen Titelkirchen; b) Rezeption und Veränderung im gallisch-fränkischen Kirchengebiet ab Mitte des 8. Jahrhunderts; c) Re-Rezeption in Rom im 9./10. Jahrhundert als hybride Form.18

Ein virtueller Gang durch die Osternachtliturgie Ich möchte mit Ihnen nun einen virtuellen Gang durch die Osternachtfeier gehen, wie sie heute auf Grund einer Wiederanknüpfung an der Grundstruktur der spätantiken christlichen Osternachtliturgie aussieht bzw. aussehen könnte. Ich orientiere mich dabei an Osternachtritualen, wie sie seit Mitte des 20. Jahrhunderts in revidierter Gestalt vorliegen bzw. an Vorschlägen zu deren Verbesserung, wie sie Fachleute vorgetragen haben.19 Das ist natürlich nicht völlig verschieden von dem, was Sie allenfalls in Berner Kirchen miterleben können. 17

18 19

Hermanus A. P. Schmidt, Hebdomada Sancta. Bd. 2: Fontes historici, commentarius historicus, Rom 1957, S. 810–877; Adrien Nocent, „La Semaine sainte dans la liturgie romaine“, in: Celebratio, hg. v. Kollamparampil (wie Anm. 15), S. 277–310 [279–289]; Robert Amiet, La veillée pascale dans l’église latine. I: Le rite romain. Histoire et liturgie, Paris 1999 (Liturgie, 11). Solche Prozesse des Austausches und der Entstehung sog. hybrider Formen gab es auch im Osten, z. B. zwischen Konstantinopel und Jerusalem. Missale Romanum. Editio typica, Roma 1970, S. 266–288; Messbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. Teil I: Die Sonn- und Feiertage deutsch und lateinisch. Die Karwoche deutsch, Einsiedeln u. a. 1976, S. 63–109; Gebet und Gesangbuch der Christkatholischen Kirche der Schweiz. Band II: Heilige Woche – Palmsonntag bis Ostern, Allschwil 2008, S. 116– 147; Lent, Holy Week, Easter. Services and Prayers. Commended by the House of Bishops of the General Synod of the Church of England, London und Cambridge [1986], S. 228–273; Die Feier der Osternacht. Im Auftrag der Evangelischen Michaelsbruderschaft hg. v. Alexander Völker, Kassel 1983 (Kirche zwischen Planen und Hoffen, 27). – Franz Wilhelm Thiele, „Die Feier der Osternacht. Aufbau und Elemente im Vergleich“, in: Celebrazione, hg. v. Scicolone (wie Anm. 11), S. 227– 258; Richard D. McCall, „Anamnesis or Mimesis? Unity and Drama in the Paschal Triduum“, in: Ecclesia orans 13 (1996), S. 315–322; Martin Klöckener, „Erneuerung der Osternacht. Die Revisionsvorschläge der Arbeitsgruppe ‘Kirchenjahr und Kalenderfragen’ der ‘Studienkommission für die Messliturgie und das Messbuch’“, in: Liturgisches Jahrbuch 47 (1997), S. 190–201; Irmgard Pohl, „Das Paschamysterium in seiner zentralen Bedeutung für die Gestalt christlicher Liturgie“, in: Liturgisches

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Ich beschränke mich auf die wichtigsten Zeremonien mit ihrem Zeichencharakter. Ich gebrauche dabei einige traditionelle Ausdrücke für die Partizipierenden, wie Priester, Diakon, Assistenz (d. h. Lektoren, Kantoren), Gemeinde oder Gläubige, ohne dabei die gender-Frage zu reflektieren.

Die Lichtfeier In der Nacht versammelt sich die Gemeinde vor der Kirche. Es wird ein Feuer angezündet. Alte Rubriken (Ritusanweisungen) schreiben vor, dass es aus dem Stein geschlagen wird: Es soll ein neues Feuer sein, nicht von irgendwoher übertragen werden (im Jerusalem des 4. Jahrhunderts wurde es vom immerbrennenden Feuer der Anastasisrotunde genommen). Das Osterfeuer ist ein zunächst im Gallien und Irland des späten 8. Jahrhunderts aufgekommenes Element der Osternachtfeier, womit vermutlich pagane Frühlingsbräuche in einen christlichen Kontext integriert wurden.20 Es hat trotz seines Potenzials für religiöse Metaphorisierung keine weitere Bedeutung, sondern von ihm wird das Feuer genommen, mit dem die Osterkerze angezündet wird. Diese hat eine durchaus herausgehobene Größe (etwa 1 m), zu der man, wenn sie auf einem Leuchter steht, hinaufblickt. Ihr Licht wird rituell in den Mittel-

20

Jahrbuch 46 (1998), S. 71–93; Georg Braulik und Norbert Lohfink, Osternacht und Altes Testament. Studien und Vorschläge. Mit einer Exsultetvertonung von Erwin Brücken, Frankfurt a. M. 2003 (Österreichische Biblische Studien, 22). Anregungen zur Beschreibung der rituellen Vorgänge unter semiotischen Aspekten fand ich u. a. bei Alex Stock, „Ostern feiern. Eine semiotische Untersuchung zur Osterliturgie“, in: Ostern in Bildern, Reden, Riten, Geschichten und Gesängen, hg. v. ders. und Manfred Wichelhaus, Zürich 1979, S. 103–128; Gerard Lukken, „Lichtfeier der Osternacht: eine semiotische Analyse“, in: Jaarboek voor liturgie-onderzoek 1 (1985), S. 69–105; vgl. auch noch Rudolf Suntrup, „Zeichenkonzeption in der Religion des lateinischen Mittelalters“, in: Semiotik / Semiotics I/1, hg. v. Roland Posner u. a., Berlin 1997, S. 1115–1132. Wichtige zeichentheoretische Überlegungen zeichnen das neue Lehrbuch aus von Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin 2004. Zur Inszenierung des Lichts im christlichen Gottesdienst im allgemeinen vgl. Liturgie und Licht. Eine Orientierungshilfe, hg. v. Albert Gerhards, Trier 2006 (Liturgie und Gemeinde, Impulse und Perspektiven, 7). Vgl. Alistair J. MacGregor, Fire and Light in the Western Triduum. Their Use at Tenebrae and at the Paschal Vigil, Collegeville MN 1992 (Alcuin Collection, 71), S. 135–295.

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punkt gestellt.21 Der Diakon hält die brennende Osterkerze mit beiden Händen in die Höhe und ruft unter dem Eingang der Kirche, was dem lateinischen Ruf lumen Christi entspricht. „Das Licht Christi“ oder „Christus ist das Licht der Welt“. Die Antwort: „Dank sei Gott“ oder „Kommt und betet an“.22 Priester, Diakon, Assistenz und die Gläubigen ziehen nun in die stockdunkle Kirche ein, die erst vom Licht der Osterkerze etwas erleuchtet wird. In der Mitte angekommen hebt der Diakon die Osterkerze wieder empor, singt nun etwas höher wieder seinen Ruf, worauf die gleiche Antwort wird; an der Osterkerze kann eine andere, viel kleinere Kerze angezündet werden, die später dazu dient, dass für das Lesen aus der Bibel im dunklen Raum hinreichend Licht da ist. Dasselbe wiederholt sich zum dritten Mal im vorderen Teil der Kirche, wo sich – als Bezugspunkte der Gliederung des liturgischen Raums – in der Regel Altar und Ambo (ein Lesepult) finden. Dieser Variation der verbreiteten Regel de tri, wonach etwas dreimal geschieht, werden wir später wiederholt begegnen. In der nach wie vor fast dunklen Kirche brennen nun also auf Leuchtern die drei Kerzen, die Osterkerze in der Mitte und erhöht. Der Ruf lumen Christi hat das Licht als ein Zeichen festgelegt, das auf Christus verweist, und zwar in Anlehnung an Prädikationen, wie sie etwa im Johannes-Evangelium erscheinen.23 Nun folgt eine verbale Amplifikation dessen, wofür das Licht der Osterkerze ein Zeichen ist, und zwar kein abbildendes ikonisches, sondern ein kulturell festgelegtes: ein Symbol. Dies geschieht in der bene21

22

23

Vgl. ebd., S. 299–450. Zu den auf die Lichtfeier bezogenen, meist allegorischen Erklärungen aus römisch-fränkischer Zeit vgl. auch Rudolf Suntrup, Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts, München 1978 (Münstersche Mittelalter-Schriften, 37), S. 411–420. Wo mit der Osterkerze noch zwei weitere Kerzen angezündet wurden, wurden diese gern auf Propheten und Apostel oder auf die Gerechten und Heiligen des Alten und des Neuen Bundes gedeutet. Das ist ein Beispiel für den immer wieder zu beobachtenden Vorgang, dass Utensilien, die zunächst nur im Dienst des gewissermaßen technischen Ablaufs eines Ritus stehen – man braucht im Dunkel hinreichend Licht – sekundär in einen schon bestehenden Signifikationsprozess einbezogen werden. Die wörtlichen Zitate sind in der Regel dem christkatholischen Ritus entnommen, wo dem Dunkel-Licht-Ritual als übergreifendes, Spannung schaffendes Moment besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Joh 8,12; vgl. auch 1,9, 12,25 f., 46 u. ö.

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dictio cerei, dem Lobpreis über das Licht der Kerze. Sie hat mit ihrer Lob and Dank verbindenden Anrede an Gott weitgehend die literarische Form, wie sie auch dem Eucharistiegebet eigen ist. Besungen wird die besondere Nacht, die vom Licht Christi erhellt wird. Es kommen in einem kunstvollen Duktus Befreiungs- bzw. Erlösungsvorgänge zur Sprache: der Auszug Israels durch das Schilfmeer, die Auferstehung Jesu von den Toten und die daraus erwachsende Gabe von Leben und Frieden. Das Gebet mündet in die Bitte nach der nicht mehr durch eine Kerze symbolisch vermittelten Begegnung mit dem unvergänglichen Licht, mit Christus selbst in seiner alles vollendenden Gegenwart. Dieser Text wird vom Diakon im Modus eines – hier besonders feierlichen – Sprechgesangs (Kantillation) vorgetragen, und zwar in der sogenannten Orantenhaltung.24 Voraus geht dem ein Proömium, dessen Anfangswort dem ganzen Text den Namen gegeben hat: Exsultet – Frohlocket! Zum Frohlocken aufgefordert werden Himmel, Erde und die feiernde Gemeinde, die so in einen kohärenten universalen Horizont gestellt wird. Dieser aus Gallien stammende und um das Jahr 700 erstmals greifbare Text hat in Rom ein älteres Muster des praeconium paschale aus der stadtrömischen Tradition ersetzt. Semiotisch gesehen, d. h. unter Berücksichtigung der vorausgesetzten Lichtverhältnisse, handelt es sich dabei um eine erste, erst präludierende Osterankündigung.25 Darauf wird die Osterkerze mit ihrem Licht inzensiert, wie das auch bei anderen materiellen Symbolen für eine Christusrepräsentation unterschiedlicher Valenz der Fall ist (z. B. die eucharistischen Gaben, der Altar, das Evangeliar u. a. mehr) und im heutigen Verständnis einen Akt der Verehrung darstellt.26 Damit hat die Osternachtliturgie einen ersten Höhepunkt erreicht. Wie es weiter geht, hängt davon ab, ob die Eucharistiefeier, die Klimax der Osternachtliturgie, auf die Morgendämmerung fallen soll oder 24

25 26

Mit erhobenen und ausgebreiteten Händen – einer im Altertum weitverbreiteten Gebetshaltung – beteten in frühchristlicher Zeit Volk und Liturgen zusammen. Die Verbindung von Gebärde und Sprache zeichnet natürlich nicht nur den christlichen Gottesdienst aus. Vgl. Thomas Ohm, Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum, Leiden 1948. Vgl. Guido Fuchs und Hans Martin Weikmann, Das Exsultet. Geschichte, Theologie und Gestaltung der österlichen Lichtdanksagung, Regensburg 1992. Vgl. Michael Pfeifer, Der Weihrauch. Geschichte, Bedeutung, Verwendung, Regensburg 1997, S. 55–79.

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ob die Osternachtfeier früher, wohl vor Mitternacht beendet wird. Ich schildere hier den zweiten Fall. Der Wortgottesdienst Im Licht der Osterkerze (und der beiden anderen Kerzen, ansonsten ist es immer noch dunkel) tragen nun Lektoren eine bestimmte Anzahl von Lesungen aus dem Alten Testament vor. Sie werden in den Horizont dessen gestellt, was im Lichtritus mit der Osterkerze schon proleptisch angeklungen ist: die Auferstehung Christi. Umgekehrt leisten die Lesungen sozusagen einen hermeneutischen Beitrag an das Verständnis dessen, was mit der Auferstehung Christi impliziert ist (wobei letzteres immer den Charakter einer noch ausstehenden umfassenden Realisierung und Vollendung trägt). Das mag der Grund sein, warum diese Lesungen in der alten Kirche Prophetien genannt wurden: Hilfen, um den Vorgang zu erkennen, d. h. hier, was mit der Osterbotschaft alles impliziert ist. Ich erläutere das an einem Beispiel. Die erste Lesung ist dem 1. Kapitel der Genesis entnommen und bringt den Mythos der Erschaffung der Welt zur Sprache, wo der Mensch den ihm von Gott zugedachten Platz in dem aus dem Chaos geordneten Kosmos erhält. Die Verbindung mit der Auferstehungsbotschaft enthält die These, dass die Auferstehung Jesu als ein Schöpfungsvorgang zu sehen ist, nicht als ein temporärer Wiederbelebungsvorgang, und dass die Schöpfung Gottes in der Auferstehungswirklichkeit auf eine Vollendung oder eine Transzendierung ihrer selbst hin erneuert wird. Dieser Zusammenhang kommt übrigens noch unter einer anderen Perspektive zur Geltung: Ostern fällt (in unseren Breitengraden) in den Frühling, die Zeit des zyklischen Neuwerdens der Natur27 . Der Bezug der nicht zyklisch, sondern singulär verstandenen Auferstehung auf Fruchtbarkeitszyklen begegnet schon in spätantiken Texten, und er findet sich auch heute oft in sogenannten paraliturgischen Zusammenhängen oder in Volksbräuchen (z. B. wenn Wasser, das in der Osternacht 27

Wie immer es sich auch um die Ursprünge des altisraelitischen Frühlingsfestes paesah. verhält, es begegnet in der Zeit des Zweiten Tempels im Kontext der Tradition der Rettung des Volkes durch Gott beim Exodus aus Ägypten und ist mit dem agrarischen Mas..s¯ot-Fest (Beginn der Gerstenernte mit dem erstem noch ungesäuertem Brot als Opfergabe) verbunden.

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gesegnet wurde, nach Hause mitgenommen wird).28 Ein analoger Erwartungshorizont begegnet in anderen Lesungen; ich zitiere eine entsprechende Einleitung zur Lesung von Ex 14: Die Rettung des Volkes Israel aus der Gewalt des Pharao ist ein Bild unserer Erlösung. Wie die Israeliten durch das Wasser des Roten Meeres hindurch gerettet wurden und dem verheißenen Land entgegenzogen, so werden wir durch das Wasser der Taufe hindurch aus der Gewalt des Todes gerettet und gehen mit dem auferstandenen Christus dem ewigen Leben entgegen.

Dadurch entstehen Intertextualitäten – oder vorsichtiger gesagt: Es entsteht ein Angebot zu intertextuellen Verknüpfungen von Sprachelementen, die durch die rituelle Dominanz des Lichtes der Osterkerze – sie leuchtet im dunkeln Raum des Kirchengebäudes – irgendwie auf die erst angeklungene Auferstehungsbotschaft hin gebündelt werden, und diese erhält dadurch ihrerseits neue Konturen im Sinn eines erweiterten Assoziationsfeldes. Wir haben hier ein Beispiel für das Zusammengehen von Texten und Riten, in denen nach Thomas Luckmann religiöse Sinnwelten und kollektive Identitäten hergestellt werden.29 Auf jede biblische Lesung folgt ein responsorialer Gesang, d. h. auf die von einem Kantor abschnittweise vorgesungenen Verse aus den biblischen Psalmen oder Cantica respondiert die Gemeinde mit einem kurzen Refrain, den sie vom Hören her aufnimmt (es ist ja immer noch weitgehend dunkel im Raum). Daran schließt eine Oration an, vom Priester im Namen der Gemeinde an Gott gerichtet. Mit der Sequenz Lesung – 28

29

Zum Verhältnis von linearer und zyklischer Zeit in der (westlichen) christlichen Liturgie vgl. etwa Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 2 2000, S. 422–431. Dass heute die Rede von der Auferstehung Jesu Christi gern als „symbolische“ Veranschaulichung des Naturprozesses von Werden und Vergehen verstanden wird, stellt die traditionelle Verhältnisbestimmung auf den Kopf. Thomas Luckmann, „Religion, Gesellschaft, Transzendenz“, in: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, hg. v. Hans-Joachim Höhn, Frankfurt a. M. 1996, S. 112–127 [120]. Ob sich allerdings bei den Mitfeiernden, den Rezipienten, derartige hermeneutische Prozesse in jedem Fall einstellen, ist bei der heutigen Unvertrautheit mit der biblischen Sprach- und Bilderwelt eher zu bezweifeln, und eine Überfülle von Lesungen und Gesängen – an sich ist die traditionelle Zwölfzahl nicht einmal das vorstellbare Maximum – verhindert, was intendiert wird.

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respondierender Gesang – Gebet begegnet ein altes, in unzähligen Variationen auftretendes Strukturelement des christlichen Gottesdienstes, dem zudem verschiedene Körperhaltungen zugeordnet werden können: Sitzen (wo es Gelegenheit dazu gibt) beim Hören und Antwort geben, Stehen oder Knien bei der an Gott gerichteten Sprechhandlung. Alle werden in die rituell strukturierte liturgische actio mit ihren expressiven Gesten eingebunden; sie ist nicht eine Inszenierung vor Zuschauern.30 Die Tauffeier Ein weiteres Grundelement des spätantiken christlichen Osternachtsrituals ist die Tauffeier.31 Der auf die letzte alttestamentliche Lesung folgende Gesang aus dem Psalm 42 leitet dazu über: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so dürstet mein Seele, Gott, nach dir.“ Dazu bewegen sich Priester und Assistenz mit der brennenden Osterkerze (und den Hilfskerzen) zum Taufbrunnen, dem Ort eines anderen rituellen Geschehens; eventuell begibt sich auch die Gemeinde dorthin. Zunächst wird das Wasser mit einem Gebet gesegnet. Die älteste Gestalt einer solchen benedictio fontis reicht ins 4./5. Jahrhundert zurück.32 Dabei wird im Anschluss an biblische Fundamentaltexte, an sogenannte Paradigmen, das Wasser als Medium von göttlicher Belebung und Reinigung, aber auch von Gefährdung evoziert: Wasser, über dem der Geist Gottes schwebte, ist der Mutterschoß allen Lebens (Gen 1); Wasser in der Sintflut trifft eine schuldig gewordene Welt und ist darin Vorbild der Taufe, welche Sünde tilgt und neues Leben ermöglicht (Gen 7–9); der Durchzug durch die tödliche Chaosmacht des Wassers des Mee30

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Die übliche Kircheneinrichtung (Kirchenbänke!), welche die Menschen im Kirchenschiff zu Zuschauern eines Geschehens macht, das vor ihnen sich gleichsam wie auf einer Bühne (mit Altar, Ambo, Sedilien usw.) vollzieht, lässt obige Behauptung natürlich fragwürdig erscheinen. In der Zeit vor der flächendeckenden Christianisierung der städtischen Zentren und ihrer weiteren Umgebung fand sie oft parallel zum Wortgottesdienst im Baptisterium statt; die Neugetauften vereinigten sich dann mit der Gemeinde, die sie mit dem Friedenskuss empfing, zur eigentlichen Mahlfeier. Eduard Stommel, „Die Benedictio fontis in der Osternacht“, in: Liturgisches Jahrbuch 7 (1957), S. 8–24; Johannes Petrus de Jong, „Benedictio Fontis. Eine genetische Erklärung der Taufwasserweihe“, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 8 (1963), S. 21–46; Emil Joseph Lengeling, „Die Taufwasserweihe der römischen Liturgie. Vorschlag zu einer Neuformung“, in: Liturgie. Gestalt und Vollzug, hg. v. Walter Düring, München 1963, S. 176–251.

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res (Ex 14 zum zweiten Mal), die Taufe Jesu im Jordan (Mt 3), das Wasser, das zusammen mit Blut aus der Seitenwunde Jesu am Kreuz floss ( Joh 19), der Taufbefehl Jesu an die Jünger (Mt 28) – was immer auch erwähnt wird, mündet in eine Bitte: So blicke auf deine Kirche, die Mutter aller, die aus dem Wasser und dem Heiligen Geist geboren werden zu neuer Kindschaft, und segne ihr diesen Quell der Taufe.

Diese Bitte wird nun verbal und nonverbal verdichtet: Zu den dreimal, jedes Mal etwas höher gesungenen Worten „Durch deinen Sohn, o Gott, steige herab in dieses Wasser die Kraft des Heiligen Geistes,“ taucht der Priester dreimal die brennende Osterkerze in Wasser des Taufbrunnens, jedesmal etwas tiefer. Hier erscheint also zum zweiten Mal die Regel de tri, noch einmal in Verbindung mit der Kerze als Lichtträger. Wortwahl und Gesten lassen ohne Weiteres eine Genital- und Zeugungssymbolik und -metaphorik assoziieren, was auch durch den Abschluss des Gebets bestätigt wird: Aus diesem Wasser entstehe durch ihn [= Christus, den Sohn Gottes] die neue Schöpfung, in der alle, die durch ein und denselben Geist zu einem Leib getauft sind, gemeinsam bekennen und rufen: Abba, Vater.

Die Anleihen paulinischer Tauftheologie stehen also in einer Metaphorik, wo sich Gott als Vater und die Kirche als Mutter der Menschen präsentiert – die Kirche in ihrer Vorausgestalt als erneuerte Schöpfung. Im Sinn der Taxonomie des Beitrags von A. Kotte zu diesem Band haben wir es beim Eintauchen der Kerze mit einer Handlung der Klasse magica zu tun.33 Es gab und gibt neben der Zeichenhandlung mit der Osterkerze noch einen weiteren Ritus, der jenem ein Stück weit Konkurrenz macht. Nach dem dreimaligen Eintauchen der Kerze gießt der Priester dreimal 33

Klassifizierungen von Ritualen sind allerdings nicht ohne Überschneidungen der jeweils konstruierten Typen auf konkrete rituelle Phänomene anwendbar; vgl. dazu etwa Ronald Grimes, „Typen ritueller Erfahrung“, in: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, hg. v. Andréa Belliger und David J. Krieger, Wiesbaden 2 2003, S. 119–134. Er spricht von einer jeweiligen Dominanz eines bestimmten Ritualtypus; im Fall der Kategorie „Magie“ handle es sich um rituelle Elemente, die nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Wirkung haben (S. 127).

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kreuzförmig Chrisam ins Wasser. Chrisam ist ein (wenn möglich wohlduftendes) Salböl, das bei der Initiation (Taufe und Firmung), bei Ordinationen, bei Altarweihen usw. verwendet wird. In einer nicht puritanisch orientierten, d. h. reduzierten Zeichenpraxis deutet das Chrisam die (im Gebet erbetene) Gegenwart des göttlichen Geistes an, der einen Menschen oder eine Sache berührt, in seinen Dienst nimmt, in seine Dynamik integriert. Im vorliegenden Fall unterstreicht die Chrismation des Wassers die Rede von der Kraft des Heiligen Geistes. Die Taufwassersegnung hat übrigens mit ihrem im Lauf der Zeit inhomogen gewordenen Text noch zu weiteren rituellen Handlungen geführt, die allerdings heute in der Regel nicht aufgegriffen werden, da sie noch mehr von der Hauptlinie abführen: 1) Der Priester berührt das Wasser mit der flachen Hand, um es zu exorzisieren, d. h. fähig zu machen, zum Träger göttlicher Kraft zu werden – im voraufklärerischen Verständnis ist Wasser und überhaupt die ganze Natur nicht neutral, sondern durch Dämonisches infiziert. 2) Bei der Erwähnung eines weiteren Paradigmas, nämlich der vier Ströme des Garten Eden, welche die Erde bewässern (Gen 2), teilt der Priester das Wasser kreuzförmig mit der Hand und sprengt es dann in die vier Himmelsrichtungen. 3) Bei der dritten Einsenkung der brennenden Osterkerze haucht er dreimal aufs Wasser; dahinter mag eine Anlehnung an die Metaphorik von Apg 2 stehen, wonach an Pfingsten der Geist Gottes auf die Jünger in Gestalt eines heftigen Lufthauchs und von Feuerflammen herabkam. Der Text kann also zu verschiedenen begleitenden Gesten des Zelebranten anregen, die dann freilich in semiotische Konkurrenz zur Osterkerze treten. Auch hier haben wir es mit sog. magica zu tun. Neue Schöpfung, Neugeburt – das impliziert den Aspekt des Hinübergehens, des transitus, des Wechsels, wie er von neutestamentlichen Autoren im Zusammenhang mit Glaubenshinwendung und Taufe verschiedentlich artikuliert wurde: Röm 6,4–5 habe ich schon erwähnt, mit dem starken Bild, dass Getauft = Untergetaucht werden einem Sterben mit Christus entspricht und im Zug seiner Auferstehungsbewegung zum neuen Leben führt. Joh 3,3–5 spricht in intendierter Doppeldeutigkeit von einem „wieder“ bzw. „von oben“ ( – an¯othen) geboren werden „aus Wasser und Geist“; Tit 3,5 redet vom Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist. Šnwjen

Nach der Taufwasserweihe besprengt der Priester die praktisch im-

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mer noch im Dunkel verharrende Gemeinde der schon längst Getauften mit dem gesegneten Wasser, und dann wird das Licht der Osterkerze verteilt, so dass am Ende alle anwesenden Gläubigen mit ihrer brennenden Kerze in der Hand den Raum erhellen. Was hier mit dem auf die Besprengung folgenden Übergang von Dunkel zu Licht vollzogen wird, steht, soweit wie möglich, in einer rituellen Analogie zu dem, was in der individuellen Taufe eines Menschen geschehen ist: Dort ist der im Wasser getauften Person die an der Osterkerze angezündete Taufkerze überreicht oder (bei Kleinkindern) hingehalten worden. Durchs Wasser der Taufe zum Licht, als das Christus metaphorisch bezeichnet wird und was das Kerzenlicht symbolisiert – so könnte man die Zielrichtung dieser rituellen Handlungen umschreiben. Freilich werden hier Grenzen solcher rituellen Inszenierungen deutlich: Wo die Taufe nicht mehr den Übergang zu einer in jeder Hinsicht neuen Lebensoption markiert, wie das vor der Verchristlichung der Gesellschaft und vor der Praxis der Kleinkindertaufe (als also die erwachsenen Eltern einen rite de passage vollzogen) der Fall war; wo zudem im Horizont einer ritenkritischen Einstellung die Taufe nicht mehr durch ein wirkliches Ein- oder Untertauchen vollzogen wird, sondern durch Kümmerformen, im Extremfall mit der sozusagen homöopathischen Menge von drei Tropfen Wasser, die auf die Stirn geträufelt und sogleich wieder abgewischt werden, da bedarf es wohl allzu vieler Erklärungen, um das Ritengefüge – zumindest für den Kopf – verständlich zu machen. Wie dem auch sei, wo Taufen anstehen, werden sie jetzt vollzogen,34 und die Neugetauften erhalten ihre ebenfalls an der Osterkerze entzündete Taufkerze und reihen sich in die Schar der Lichtträger ein, die sich als Christusträger, als Christophoren, erkennen dürfen. Hätten wir wieder richtige Baptisterien, würden die Neugetauften von dort her kommen, um anschließend zum ersten Mal mit der Gemeinde zu beten, den Friedensgruß zu tauschen und am eucharistischen Mahl teilzuhaben. Wir können festhalten: Der individuelle transitus in Form von Wassertaufe und Chrismation eines Menschen lässt diesen am transitus Domini vom Tod ins Leben partizipieren – das ist Zielrichtung des Riten34

Die damit zusammenhängenden Ritengefüge zu beschreiben verbietet sich aus Raumgründen.

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gefüges des dritten Teils der Osternachtliturgie.35 Die Eucharistiefeier / Messe An die Taufhandlung schließt sich nun der letzte Teil des Osternachtgottesdienstes an, die eucharistische Liturgie, die Messe. Ein erster Höhepunkt ist die feierliche Verkündigung des Auferstehungsevangeliums (Mt 28). Es wird mit einem dreimal wiederholten, jeweils höher gesungenen dreifachen Halleluja präludiert (Regel de tri), und zwar mit einer sehr melismatischen Kantillationsmelodie, die Ostern vorbehalten ist. Dazu werden weitere Kerzen auf dem Altar oder wo auch immer angezündet, die Illumination des Kirchenraumes kommt zum Abschluss. Die Osterkerze auf ihrem Leuchter mag wieder an ihrem zentralen Ort wie bei den alttestamentlichen Lesungen stehen. Vielleicht läuten zum Vortrag des Evangeliums auch erstmals wieder die Glocken, die seit Beginn des Ostertriduums am Vorabend des Karfreitags geschwiegen haben. In diesem Lichtermeer feiert die Gemeinde dann sozusagen die zweitbeste Form der Begegnung mit dem Lebendigen in der Form des eucharistischen Mahles, des miteinander geteilten Brotes und Bechers, der geschenkten Vereinigung im Lebensraum Gottes: Communio – mit Gott und untereinander. Das ist der Ziel- und Höhepunkt der ganzen dreitägigen Osterfeier, zugleich der Angelpunkt der Zeitgliederung des christlichen Kultes im Jahreskreis und im Wochenrhythmus. Ich breche hier ab, denn auf die Zeichenhandlungen der Eucharistiefeier einzugehen, würde mehr als einen weiteren Vortrag verlangen. Ich lasse den Abschluss der ganzen Feier und was darauf folgt unberücksichtigt: Friedhofsbesuch oder ein Eiertütschen oder ein Festmahl, eine Party. Immerhin will ich noch bemerken, dass der Übergang vom Dun35

Elemente der Osternachtliturgie werden, in Verbindung mit der Auslegungsmethode des vierfachen Schriftsinnes, von Amalar von Metz im 1. Buch (libellus) seines um 823 veröffentlichten Liber officialis herangezogen in seinem Bemühen, die ratio archaischer liturgischer Handlungen aufzuweisen (vgl. Amalarius von Metz, Opera Liturgica omnia. 3 Bde., hg. v. Johannes M. Hanssens, Vatikanstadt 1948– 1950 (Studi e testi 138–140), Bd. 2, S. 108–161), aber aus seinem allegorischen Ansatz lässt sich kein konsistentes Bild des Ritengefüges gewinnen. Vgl. dazu auch Christine Schnusenberg, Das Verhältnis von Kirche und Theater. Dargestellt an ausgewählten Schriften der Kirchenväter und liturgischen Texten bis auf Amalarius von Metz (a. d. 775–852), Bern u. a. 1981, S. 158–166.

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kel ins Licht auch anders erfolgen kann als durch eine Illumination der Kirche durch Kerzenlicht: Wenn der Osternachtgottesdienst zeitlich so angesetzt wird, dass der Beginn der Eucharistiefeier mit dem Sonnenaufgang korreliert wird (die älteste Praxis), dann übernimmt das Tageslicht die symbolische Repräsentation des Auferstandenen (auch das ein wiederkehrender Topos in frühchristlichen Texten) und erhellt die Kirche. Die Osterkerze bleibt bis Pfingsten (früher bis Himmelfahrt, wo sie beim dramatisch inszenierten Aufzug einer Christusfigur durch die Kirchendecke gelöscht wurde) in der Nähe des Altars und wird zu jedem Gottesdienst in der Osterzeit angezündet.

Andere transitus-Domini-Riten in der Osternacht Der transitus-Charakter der einen altchristlichen Passafeier kommt innerhalb der späteren Osternachtfeier am deutlichsten im Blick auf die (in der Osternacht) Getauften zur Geltung, weniger im Blick auf Christus selbst. Denn dieser ist – rituell symbolisiert durch das Licht der Osterkerze – schon zu Beginn der Feier der Auferstandene, auch wenn er explizit als solcher erst in der abschließenden Eucharistiefeier in der Evangelienlesung proklamiert und im Mahl empfangen wird. Das hat damit zu tun, dass die Osternachtfeier ein Teil des Ostertriduums ist und daher mit dessen erstem Tag, dem Karfreitag, zwar verbunden, aber eben doch zeitlich getrennt ist. Am Karfreitag liegt jedoch das Gewicht auf dem Leiden und Sterben Jesu, was die Kirche eben auch in rituellen Vollzügen begeht. Darauf kann ich im Einzelnen nicht eingehen, sondern frage im Folgenden nur, ob irgendwo in der Geschichte der dreitägigen Osterfeier der auf Christus bezogene transitus-Charakter rituell auf eine andere Weise zur Geltung gekommen ist. Mit dem Licht der Osterkerze ist das ja nicht der Fall: Dieses ist kein rituelles Element des Karfreitags (Leiden und Sterben Jesu) und des Karsamstags (Grabesruhe Jesu): Das Feuer, an dem die Osterkerze angezündet wird, ist ein neues Feuer.36 36

Es gibt freilich im Westen seit der Mitte des 8. Jh. unterschiedliche Zeugnisse dafür, dass das Licht für die Osterkerze schon bei der Messe am Abend des Hohen Donnerstags oder am Karfreitag angezündet wurde (sei es eine Lampe oder ein Feuer); damit rückte dieses innerhalb des österlichen transitus-Geschehens in die Nähe eines Symbols von Kontinuität, vgl. MacGregor, Fire (wie Anm. 20), S. 135– 153.

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Das Moment einer Diskontinuität wird übrigens noch unterstützt, wenn der letzte Gottesdienst vor der Osternacht, die Trauermette zum Karsamstag (begangen in der Nacht auf den Samstag), dadurch ausgezeichnet wird, dass dort rituell Kerze um Kerze (z. B. 15 Kerzen auf einem dreieckigen Leuchter) gelöscht wird, bis die Kirche dunkel ist: Zeichen des Todes, der Gottesfinsternis. Mit dem neuen Feuer und der neuen Osterkerze wird also rituell eine Diskontinuität angedeutet, die theologisch durchaus Sinn macht: Der Auferstandene ist nicht der ins irdische, auf den Tod zugehende Leben Zurückgerufene, sondern steht in einer neuen Wirklichkeit. Das suchen z. B. das Lukas-Evangelium und das Johannes-Evangelium narrativ mit dem Motiv auszudrücken, dass die Jünger oder Maria Magdalena den Auferstandenen nicht auf Anhieb zu erkennen vermögen. Ein Versuch, wenigstens an der Osterkerze den Zusammenhang mit der Leidens- und Todesthematik zu verbinden, ist der Brauch, die Kerze mit fünf sogenannten Weihrauchkörnern zu versehen. Diese werden in die Osterkerze an dazu vorbereiteten Öffnungen eingesteckt. Sie gelten als ein Zeichen der Wundmale Jesu. Ein früher Beleg für die Fünfzahl ist in der Legenda aurea aus der Mitte des 13. Jahrhunderts zu finden.37 Es gab aber im katholischen Christentum andere rituelle Elemente, welche durch das Ostertriduum hindurch verwendet wurden und so symbolisch mehr den Aspekt der (personalen) Kontinuität Jesu in Tod und Auferstehung Jesu betonen. Ich nenne deren zwei: das Kreuz und die Hostie. Erwähnt werden sollen sie – wie eingangs angekündigt – auch deshalb, weil die damit verbundenen Riten teilweise über Jahrhunderte hinweg den Platz der faktisch verschwundenen altchristlichen Osternachtfeier eingenommen haben. Depositio und elevatio crucis Im zentralen Karfreitagsgottesdienst kontextualisieren sich gegenseitig verschiedene Elemente: einerseits die biblischen Lesungen (z. B. Ex 12: das Blut der Lämmer schützt vor dem Tod bringenden Vorbeigehen Gottes; Jes 53: im Leiden und Sterben des Gottesknechtes wird die Schuld der Vielen gesühnt; Joh 18–19: der in der Regel für Karfreitag vorgesehene neutestamentliche Passionsbericht) und die dazu gehörigen 37

Vgl. ebd., S. 339–359.

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Gesänge, andererseits die rituellen Handlungen der Verehrung des Kreuzes mit ihren Gesängen. Ein großes (allenfalls verhülltes) Kreuz mit Corpus tritt in den Blickpunkt des liturgischen Geschehens und wird (enthüllt und) von den Gläubigen in variabler Form begrüßt, verehrt. Darauf folgte in römischen Liturgiebüchern und so auch im offiziellen Missale Romanum eine Präsanktifikatenliturgie (missa praesanctificatorum), d. h. eine Kommunionfeier mit zuvor (in diesem Fall am Hohen Donnerstag) konsekrierten Hostien, wobei mit der Zeit nur noch der Priester allein kommunizierte, also nur eine zuvor konsekrierte Hostie nötig war. In verschiedenen anderen gottesdienstlichen Traditionen Europas hingegen schloss seit dem 10. Jahrhundert an die adoratio crucis (Verehrung des Kreuzes)38 die depositio crucis (Grablegung des Kreuzes) an, ein Vorgang wohl syrischer Herkunft.39 Als „Grab“ diente ein mehr oder weniger aufwendig gestalteter Aufbau in der Nähe des Altars, bisweilen auch eine feste, bisweilen monumentale Imitation der (nach Zerstörungen jeweils aktuellen) Anastasisrotunde der Grabeskirche in Jerusalem, die dann meist in einer Seitenkapelle einer Kirche stand. Auf die im Einzelnen recht unterschiedlichen Riten am sepulc(h)rum Domini kann ich nicht eingehen.40 Der Grablegung des Kreuzes am Karfreitag entsprach dann am frühen Ostersonntagmorgen die Emporhebung des Kreuzes (elevatio crucis): Das Kreuz wurde dem Grab entnommen, evtl. von den Grablinnen, in die es eingewickelt worden war, befreit, in die Höhe gehalten und gezeigt und sodann in einer Prozession an einen bestimmten Platz 38

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Die Verehrung des Kreuzes galt zunächst der Kreuzesreliquie, die in Jerusalem im Zusammenhang mit dem Bau der Grabeskirche von Kaiserin Helena gefunden worden sein soll (vgl. das Fest der sog. inventio crucis), dann weiteren Berührungsreliquien, schließlich einem beliebigen Kreuz mit einem Crucifixus. Ein erster ausführlicher Beleg findet sich in der angelsächsischen monastischen Regularis Concordia (ca. 970), vgl. Regularis Concordia Anglicae Nationis Monachorum Sanctimonialiumque, hg. v. Thomas Symons u. a., London 1953, S. 45; neueste Edition in: Consuetudinum saeculi X/XI/XII monumenta non-cluniacensia, hg. v. Kassius Hallinger, Siegburg 1984 (Corpus consuetudinum monasticarum, 7,3), S. 61– 147 [118]. Zur weiteren Geschichte vgl. Kolumban Gschwend, Die depositio und elevatio crucis im Raum der älteren Diözese Brixen. Ein Beitrag zur Geschichte der Grablegung am Karfreitag und der Auferstehungsfeier am Ostermorgen, Sarnen 1965. Vgl. Justin E. A. Kroesen, The Sepulchrum Domini Through the Ages. Its Form and Function, Leuven 2000 (Liturgia condenda, 10).

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geführt. Dieser vom 10.–16. Jahrhundert nachweisbare Ritus hatte seinen Ort allerdings nicht in der Ostervigil, die damals ja (wie gesagt) am Samstagmorgen stattfand, sondern er stand in einem Zusammenhang mit der Ostermette, dem nichteucharistischen Gottesdienst vor dem Osterhochamt. Der Ritus der elevatio wurde von Gesängen begleitet; das älteste deutsche Osterlied „Christ ist erstanden“ aus dem 11. Jahrhundert könnte aus diesem Kontext stammen. Anstelle des Kreuzes konnte auch eine vom Kreuz abtrennbare Christusfigur (gar mit beweglichen Armen) verwendet werden. Daraus entwickelte sich dann das sogenannte Descensus-Spiel: Mit dem Kreuz wird an die verschlossene Kirchentür geklopft und die Türe geöffnet, worauf später in der Kirche, die gewissermaßen den überwundenen Hades repräsentiert, die Messe gefeiert wird.41 Aus denselben Anfängen von populären Ostermorgenriten am Grab stammt ferner die szenische Gestaltung des Besuchs des leeren Grabes (visitatio sepulcri) durch die drei Frauen.42 Hier treten nun, allerdings außerhalb des liturgischen Rahmens der Passadynamik, gemäß den Osterberichten der Evangelien verschiedene Rollenträger und -trägerinnen auf (zunächst Geistliche, später auch Laien und damit Frauen). Es lagern sich weitere Inszenierungen an, etwa der Apostelwettlauf zwischen Petrus und Johannes, die Begegnung Maria Magdalenas mit dem auferweckten Jesus (beides nach Joh 20). Hier ist die gewählte Symbolik klar von einem Zug zur mimeti41

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Vgl. dazu Balthasar Fischer, „Die Auferstehungsfeier am Ostermorgen. Altchristliches Gedankengut in mittelalterlicher Fassung“, in: ders., Redemptionis mysterium. Studien zur Osterfeier und zur christlichen Initiation, hg. v. Albert Gerhards und Andreas Heinz, Paderborn 1991, S. 13–27; Stock, Ostern feiern (wie Anm. 19), S. 121 f. Vgl. auch den Brauch des Tollite-portas-Ritus (vgl. Ps. 24,7 f.) bei der slawisch-orthodoxen Osternachtfeier, oder den Beleg aus dem Amsterdam des frühen 16. Jh. bei Kroesen, Sepulchrum (wie Anm. 40), S. 169. Dabei kommt es für die eine oder die andere Deutung des Kirchenraumes – als besiegter Hades oder als Himmel (so im slawischen Ritus) – auf die Lichtverhältnisse und andere Elemente des rituellen Zeichengefüges an. Auch im byzantinischen Osten handelt es sich dabei nicht um die alte Osternachtvigil (die ebenfalls am Karsamstagmorgen gefeiert wird), sondern um Elemente, die dem Oster-Morgengebet vorausgehen. Vgl. etwa die Regularis Concordia (wie Anm. 39) mit ihrem Quem quaeritis-Dialog, a. a. O., S. 50 [1953] bzw. S. 125 [1984]. Zur weiteren Entwicklung vgl. Willi Flemming, Die Gestaltung der liturgischen Osterfeier in Deutschland, Mainz 1971 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, 1971/11).

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schen Repräsentation, zeichentheoretisch gesprochen zu dramatisch zugespitzter Ikonizität bestimmt.43 Die Osterspiele als Wurzel des Musiktheaters bewegen sich außerhalb des Rahmens, den die Liturgie gesetzt hat. Das zeigt sich am deutlichsten dort, wo nun der Auferstandene selbst durch einen menschlichen Akteur repräsentiert wird, wohingegen die im Kult in der Liturgie vorausgesetzte Zeichentheorie symbolische Zeichen in unterschiedlicher Realitätsdichte verwendet: Licht der Kerze, Brot und Wein als sakramentale Vergegenwärtigungsträger für den lebenden Christus.44 43

44

Hilfreich dünken mich die Unterscheidungen von Ritualität und Theatralität bei Christoph Petersen, Ritual und Theater. Messallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 125), S. 12 f.: „Rituale verstehe ich als kollektive, institutionalisierte und formalisierte zeichenhafte Handlungen, durch die soziale Wirklichkeit konstituiert wird. Rituale werden von einem Kollektiv vollzogen und sind auf die integrierende Partizipation der Mitglieder des Kollektivs ausgerichtet; wer anwesend ist und dem Kollektiv angehört, ist an dem Ritual beteiligt [. . . ] Soziale Wirklichkeit wird in Ritualen durch zeichenhaftes Handeln konstituiert, d. h. entweder transformiert (z. B. Übergangsrituale) oder affirmiert (z. B. Bestätigung einer Gemeinschaft). Den Handlungsmodus eines Rituals bezeichne ich als Ritualität. Als Theater definiere ich eine Handlung, in der eine Person eine andere verkörpert, während ein Dritter zuschaut [. . . ] Ich verstehe diese Verkörperung als Form der Nachahmung, indem der Bezug der verwendeten Zeichen auf die Rolle einem vorgeprägten (gewussten, berichteten, imaginierten etc.) Konzept folgt. Die nachahmende Verkörperung ist ausgerichtet auf die Wahrnehmung durch einen Zuschauer bzw. eine Zuschauerschaft. Als konstitutiv für Theater setze ich also die Trennung von Akteur und Rolle, die mimetische Referentialität der verwendeten Zeichen und die Situationsspaltung zwischen Akteur und Zuschauer an. Theater kann soziale Wirklichkeit abbilden, aber nicht konstituieren. Den Handlungsmodus von Theater bezeichne ich als Theatralität“. Performativität eignet beiden Modi. – Vgl. weiter zu solchen Fragen im Blick auf die Vergangenheit wie auch auf künftige Entwicklungen gottesdienstlicher Formen: Blandine-Dominique Berger, Le drame liturgique de pâques du Xe au XIIIe siècle. Liturgie et théâtre, Paris 1976 (Théologie historique, 37); Gerard Lukken, „Gottesdienst als kulturelles Phänomen. Zukunftsperspektiven: Gottesdienst und Theater“, in: Gottesdienst und Kultur. Zukunftsperspektiven, hg. v. Hanns Kerner, Leipzig 2004, S. 83–105; Jürgen Bärsch, „Ist Liturgie Spiel? Historische Beobachtungen und theologische Anmerkungen zu einem vielgestaltigen Phänomen des christlichen Gottesdienstes“, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 47 (2005), S. 1–24. Allerdings gibt es, ausgehend von einer sekundären, an sich nicht zwingenden Deutung der sog. verba testamenti in den Eucharistiegebeten, wonach der Priester sie in persona Christi spreche, solche mimetische oder „theatralische“ Züge dann und dort, wo der Priester Jesus beim letzten Mahl „spielt“. Das wird aber gleich

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Depositio und elevatio hostiae Analog zu Riten der Nieder- oder Grablegung des Kreuzes und seiner ostentativen Aufrichtung am Ostermorgen gab es auch da und dort die depositio und elevatio hostiae (erstmals im 10. Jahrhundert, manchmal sogar zusammen mit dem entsprechenden Kreuzritus): Eine konsekrierte Hostie wird am Karfreitag an einem Ort deponiert, der das Grab markiert, und am Ostermorgen gezeigt. Dieser Ritus überdauerte den Kreuzritus Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hielt sich die folgende symbolische Veranschaulichung des transitus Domini: Am Ende der Karfreitagsliturgie wurde das Sanctissimum in Prozession vom Altar zu dem als Heiliges Grab fungierenden Ort gebracht – d. h. eine konsekrierte Hostie in der Monstranz oder mehrere Hostien im Ziborium (das ist ein kelchartiger Behälter für die konsekrierten Hostien). Danach und auch am Karsamstag gab es an dem mit Blumen geschmückten Grab vielstündige Andachten und am Ostermorgen (oder in einer nächtlichen Auferstehungsfeier) wurde das verhüllte Allerheiligste wieder zum Altar zurückgetragen, dort enthüllt, und der Priester segnete mit der Hostie die knienden Gläubigen. Dieser Modus entsprach mehr der im Hochmittelalter aufgekommenen eucharistischen Schaufrömmigkeit und entsprach auch besser den nachtridentinischen Regeln einer Klerikerliturgie. Freilich wurden diese transitus-Domini-Riten mit Kreuz und Hostie immer auch als fragwürdig empfunden, weil der Aspekt der Diskontinuität zu wenig gewahrt blieb. Da das Kreuz seit dem Hochmittelalter nicht mehr als Sieges- und Lebenszeichen galt, sondern eine in Schmerzen gekrümmte Jesusdarstellung trug, da zugleich aber der Leib des Herrn als die zeichenhafte Präsenz ewigen Lebens gedeutet wurde, passte jenes nicht zum Auferstehungsaspekt und dieses nicht zum Leidensaspekt der einen transitus-Bewegung vom Tod ins Leben, vom Dunkel zum Licht Die genannten Riten entstanden gewissermaßen im Vakuum, das die auf den Samstagnachmittag und schließlich Samstagvormittag verlegte Ostervigil hinterlassen hatte. Sie bildeten sich im Horizont einer Archaisierung religiöser Ausdrucksformen, die das westliche Christentum zwischen dem Ende der Patristik und dem Beginn der Scholastik wieder zurückgenommen, wenn er vor den konsekrierten Gaben genuflektiert.

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erfahren hat, und sie suchten durch rituelle Dramatisierungen einen primär optischen Zugang zur Glaubensbotschaft zu erschließen.45 Sie waren zunehmend geprägt durch den gewaltigen frömmigkeitsgeschichtlichen Umbruch im abendländischen Christentum, der etwa an Bernhard von Clairvaux oder Franz von Assisi, später in der Reformation abzulesen ist, aber auch, wie eben angedeutet, an der Christus-Ikonographie (Stichwort: Jesus der Schmerzensmann). Die transitus-Perspektive wurde gewissermaßen reduziert auf die Betrachtung des irdischen Weges Jesu, der mit der Geburt des Kindes im Stall begann und dessen Ziel das – Welt erlösende – Leiden am Kreuz war.46 Daran orientierte sich die den Gläubigen aufgegebene imitatio Christi. Methodisch angeleitete Formen der Passionsmystik zielten auf die Erweckung affektiver compassio, innigen Mitfühlens mit Jesus an den einzelnen Stationen der Leidenswoche.47 Die 14. und letzte Station des in der Neuzeit so beliebt gewordenen Kreuzweges endet mit der Grablegung – ohne österliche Übersteigung. Das Grab ist freilich ein Ort des Geschehens, der emotional hoch besetzt ist. Kein Wunder, dass es in der Form einer Repräsentation mit klarem Ikonizitätsbezug zu realen Gräbern in den historisch sekundären Osternachtriten so bedeutsam wurde.48 Die Osternachtfeiern der Gegenwart, wie sie in verschiedenen christlichen Konfessionen begangen werden, orientieren sich im Blick auf Jesus an der älteren transitus-Konzeption der klassischen Ostervigil, die im Mittelalter als liturgische Marginalie weitertradiert wurde. In wel45

Vgl. Jürgen Bärsch, „Das Dramatische im Gottesdienst. Liturgiewissenschaftliche Aspekte zum Phänomen der Osterfeiern und Osterspiele im Mittelalter“, in: Liturgisches Jahrbuch 46 (1996), S. 41–66. 46 Eine rituelle Entsprechung ist darin zu sehen, dass am Ausgang des Mittelalters das alte, eine Passatriduum auseinandergebrochen war in ein Leidenstriduum (Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag) und ein Auferstehungstriduum (Ostersonntag, -montag, -dienstag); vgl. Balthasar Fischer, „Vom einen Pascha-Triduum zum Doppel-Triduum der heutigen Rubriken“, in: Paschatis sollemnia. Studien zu Osterfeier und Osterfrömmigkeit. FS Josef Andreas Jungmann, hg. v. dems. und Johannes Wagner, Freiburg i. Br. 1959, S. 146–156. 47 Vgl. Ulrich Köpf, „Passionsfrömmigkeit“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 27, Berlin 1997, S. 722–764. 48 Die in diesem Aufsatz gelegentlich verwendete Begrifflichkeit von symbolisch und ikonisch geht bekanntlich auf Charles Peirce, zurück; vgl. etwa Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 2000, S. 178–198. Im Blick auf Rituale vgl. ferner Roy A. Rappaport, „Ritual und performative Sprache“, in: Ritualtheorien, hg. v. Belliger und Krieger (wie Anm. 33), S. 191–211.

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Die Liturgie der Osternacht

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cher Richtung sie sich unter zeichentheoretischer Fragestellung allenfalls entwickeln, kann man fragen; doch das ist ein anderes Thema.

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Instrumenta pacis: Der Kuss von Bildwerken und Reliquien im Friedensritus der Heiligen Messe Thomas Richter (Aschaffenburg) Die Erteilung der Pax Christi, also die Weitergabe des Friedenskusses, geht in der katholischen Messe der Spendung der Kommunion unmittelbar voraus.1 Das dem Bericht des Evangelisten Johannes Kap. 14, Vers 27 folgende Gebet Domine Jesu Christe qui dixisti apostulis tuis: ‚Pacem meam do vobis, pacem meam relinquo vobis‘ [. . . ] leitet diesen Teil der Liturgie ein. Diese durch den Evangelisten überlieferten Worte Christi, die er nach seiner Auferstehung an die Apostel gerichtet hat (Kap. 20, Verse 19–29), galten den Liturgikern des Mittelalters, neben den Paulusbriefen, als die wichtigste biblische Autorität, quasi als die ‚göttliche Einsetzung‘ des Friedensritus der Kirche.2

Theologische Aspekte des Friedensritus und die Praxis der Kirche Schon in den ‚Apostolischen Konstitutionen‘ (um 380) wird berichtet, dass sich der Diakon nach dem großen Fürbittegebet mit dieser Formel an die Gemeinde wendet: „[. . . ] ‚Grüsset einander in heiligem Kus1

2

Der folgende Text gibt das um Nachweise und Quellenzitate ergänzte Redemanuskript eines Überblicksvortrags wieder, der am 2. Februar 2006 im Rahmen der Ringvorlesung „Riten, Gesten, Zeremonien“ (WS 2005/06) am Berner-MittelalterZentrum (BMZ) der Universität Bern gehalten wurde. Aus redaktionellen Gründen musste die Anzahl der Abbildungen beschränkt bleiben. Wichtige Beispiele des 12., 13. und 15. Jahrhunderts sind: Johannes Beleth, Explicatio divinorim officiorum, Augsburg, [Sebald Mayer], 1572, cap. 48. – Innozenz III., „De sacro altaris mysterio libri sex“, lib. VI, cap. 5, in: Patrologiae cursus completus [. . . ] Series Latina, 221 Bde. (PL), hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1844–1864, Bd. 217, Sp. 909. – Wilhelm Durandus von Mende, Rationale divinorum officiorum, Hagenau, [Heinrich Gran], 1509, lib. IV, cap. 53. – Gabriel Biel, Sacris canonis Missae [Expositio], Basel, [Jakob Pforzheimer], 1515, lec. LXXXI.

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se!‘ Und es küssen die Kleriker den Bischof, die männlichen Laien die [männlichen] Laien, die Frauen die Frauen.“3 Die liturgische Neuordnung Papst Gregors des Großen [reg. 590–604] beschrieb bald darauf den Ritus des Friedenskusses im Ablauf der Messfeier unmittelbar vor der Kommunion, als deren geistliche Vorbereitung er im Westen seitdem aufgefasst wurde.4 Der Zelebrant empfängt die Pax Christi durch den Kuss des Altars – in dieser Zeit bereits längstens als Symbol Christi verstanden – gibt sie an die anwesenden Kleriker weiter, worauf die Erteilung der Pax an die nach Geschlechtern getrennte Gemeinde erfolgt.5 In der Messe wurde der Friedenskuss in der Regel zwischen den jeweils benachbart stehenden Kommunikanten getauscht.6 Eine anonyme deutsche Messauslegung der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts beschreibt die Übermittlung der Pax Christi: Nachdem die Kleriker den Friedenskuss getauscht haben, so soll einer dare gahen, den gotes vride enphahen unde sol under die anderen teilen die minne.7 Noch bis in diese Zeit konnte dieses Osculum pacis als Osculum ore ad os, also als Kuss auf den Mund, vollzogen werden, wie es beispielsweise eine Darstellung unter den liturgischen Handlungen auf dem Einbanddeckel des vor 855 entstandenen Drogo-Sakramentars zeigt (Abb. 1).8 Allerdings 3

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Karl-Martin Hofmann, Philema Hagion, Gütersloh 1938 (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie. 2. Reihe: Sammlung wissenschaftlicher Monographien, 38), S. 96 f. Zur Stellung des Friedensritus im Bereich der Ostkirche, die den Einsatz der „Instrumenta pacis“ nicht kennt, vgl. Konrad Onasch, Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche unter Berücksichtigung der alten Kirche, Berlin und München 2 1993, S. 122. Josef Andreas Jungmann SJ, Missarum Solemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. 2 Bde., Wien 1949, Bd. 2, S. 391. Schon früh wurde der Friedenskuss auf die Kommunikanten beschränkt, etwa in den ‚Canones‘ des Theodor von Canterbury (8. Jh.), vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 392. Robert Stroppel, Liturgie und geistliche Dichtung zwischen 1050 und 1300. Frankfurt a. M. 1927 (Deutsche Forschungen, 17), S. 94. Hierunter ist eine persona excellens zu verstehen, die, wie es beispielsweise der ‚Liber ordinarius‘ von Lüttich ausführt, den Friedenskuss vom Diakon empfängt und ihn der Gemeinde weitergibt. Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 397 (Anm. 33). Einband des Sakramentars Bischof Drogos von Metz, vor 855, Elfenbein, Paris, BnF, ms. lat. 9428. Maurice Vloberg, L’Eucharistie dans l’Art. 2 Bde., Grenoble und Paris 1946, Bd. 1, S. 56 und 62 f. – Yannick Carré, Le baiser sur la bouche au Moyen Âge. Rites, symboles, mentalités à travers les textes et les images, XIe –XVe siècles, Paris 1992, S. 242–251.

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Abbildung 1: Sakramentar Bischof Drogos von Metz, vor 855, Einband, Elfenbein, Paris, Bibliotheque Nationale (Ausschnitt). Aus: Vloberg, L’Eucharistie dans l’Art (wie Anm. 8).

dürfte die in Quellen des hohen Mittelalters beschriebene und bis heute im Bereich des Klerus übliche Geste der angedeuteten Umarmung mit dem Kuss beider Wangen im Vollzug der Handlung zunehmend die Regel gebildet haben.9 Für das Verständnis der ideellen Bedeutung, die hinter dem liturgischen Kuss ore ad os stand, ist ein Text des heiligen Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) aus seinem 2. Sermon über das Hohelied aufschlussreich:

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Philipp Hartmann, Repertorium Rituum. Übersichtliche Zusammenstellung der wichtigsten Ritualvorschriften für die priesterlichen Functionen, Paderborn 6 1890, S. 252.

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Der Mund, welcher küsst, das ist das Wort, das Gestalt gewinnt, derjenige Mund, der geküsst wird, bedeutet das Fleisch, das Gestalt geworden ist; was den Kuss selbst betrifft, der sowohl von dem der küsst, als auch von dem, der geküsst wird, getauscht wird, dieser bedeutet die Person, die von beiden geschaffen wird, den Vermittler zwischen Gott und den Menschen [Jesus Christus]. Aus diesem Grund soll kein getaufter Christ [wörtl. Heiliger] es wagen zu sagen, dass er mich mit seinem Mund küsse, sondern nur, dass er mich mit dem Kuss seines Mundes küsse.10

Der Ritus des Friedenkusses galt, wie wir gesehen haben, als apostolische Tradition. Solange er als liturgische Handlung in dieser Weise allgemein akzeptiert und fest an seinen ideellen Gehalt als Zeichen für die ‚Gegenwart Christi‘ gebunden war, wurden alle denkbaren Ressentiments im Vollzug der Handlung von der religiösen Bedeutung überlagert. Gleichwohl warnten die theologischen Schriften stets auch vor dem Verrat des Judas Iskarioth: Judaskuss und Friedenskuss wurden stets gegeneinander gestellt, auf dass, wie es schon in den bereits zitierten ‚Apostolischen Konstitutionen‘ heißt, „das philema nicht listig gegeben werde, so wie Judas den Herrn mit einem Kuss verriet.“11 Wenn also das lautere Gewissen, oder zumindest die innere Sammlung des Gläubigen beim Empfang der Kommunion im Zentrum stehen sollte: Wie war der offenkundigen Gefahr durch Ablenkung oder Irritation angesichts einer solch intimen Geste, wie es das Osculum pacis darstellte, zu begegnen? Die Lösung lag in der Einführung eines Bildwerks, das, häufig mit Reliquien versehen, im Vollzug des Ritus geküsst und quasi als vermittelndes Bildmedium den Gläubigen gewiesen und weitergereicht werden sollte. Der Primas von England und Bischof der Metropole York, Walter Gray (1215–1255), erließ um das Jahr 1250 Statuten bezüglich der Mindestausstattung an Kirchengerät für die Pfarreien seines Einflussgebietes. Unter der Rubrik ‚De ornamentis ecclesiae‘ wird neben Weihrauchfässern, dem Osterleuchter, usw. auch ein Osculatorium erwähnt.12 Dieses Gerät wird dort nach Form, Material und etwaigem Bildgegenstand nicht weiter beschrieben. Es handelte sich offenbar in 10 11 12

Zitiert n. Carré, Le baiser (wie Anm. 8), S. 317. Hofmann, Philema Hagion (wie Anm. 3), S. 98. Joseph Braun SJ, Das christliche Altargerät in seinem Sein und seiner Entwicklung, München 1932, S. 558. Otto Lehmann-Brockhaus, Lateinische Schriftquellen zur

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jener Zeit bereits um einen allgemein bekannten Gegenstand. In der Tat verzeichnet eine ganze Reihe von englischen Provinzialstatuten Instrumenta pacis – so die heute offizielle Bezeichnung – bald mit Begriffen wie paxillus, asser ad pacem, tabulas pacis, usw.13 Jedoch setzten die Kirchenoberen in ihren Erlassen, sei es das Kapitel von St. Paul in London (1249) oder der Bischof von Exeter (1287), deren Gebrauch explizit nur für die Pfarrkirchen in ihren Gebieten fest. An den Altären großer Kloster- oder Bischofkirchen finden wir sie, wie die Gegenprobe erweist, in dieser Zeit nicht.14 Unter den in Europa und in außereuropäischen Sammlungen erhaltenen Objekten sind bislang keine Stücke zu verzeichnen, die vor der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden sind. Einen guten Eindruck solcher frühen, nur anhand von Schriftquellen fassbaren Arbeiten gibt indes eine Kusstafel im Musée du Louvre in Paris (Abb. 2)15 . Die kleine Tafel mit der für die frühen Stücke typischen Figur des Gekreuzigten ist aus unedlem Metall in recht einfacher Handwerkstechnik hergestellt worden. Die partielle Vergoldung sowie die Zweischaligkeit des Korpus verleihen dem Stück jedoch trotz aller materiellen Sparsamkeit sakrale Würde. Der eigentliche Grund, warum die Geräte offenbar zunächst nur für das ‚einfache Volk‘ eingeführt wurden, wird in den bislang bekannten, frühen Quellen nicht explizit ausgeführt. Eine Formulierung der Prager Synode von 1355, der frühesten Erwähnung der Geräte im Reichsgebiet, legt indes nahe, dass die niedere Laienschaft den Friedenskuss nicht mehr in der tradierten Form spenden wollte, oder aber auftretende Irritationen die Bedeutung des Ritus aus Sicht des Klerus gefährdet haben. Erzbischof Arnestus von Prag lässt jedenfalls folgende Anweisung niederlegen:

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14 15

Kunst in England, Wales und Schottland vom Jahre 901 bis zum Jahre 1307. 5 Bde., München 1957, Bd. 3, S. 88 f., Nr. 5472. Polikárp Radó OSB, Enchiridion Liturgicum. Complectens Theologiae Sacramentalis et Dogmata et Leges. 2 Bde., Rom 1961, Bd. 2, S. 1441. – [Abbé] Barraud, „Notice sur les Instruments de Paix“, in: Bulletin Monumental, 4e série 1 [31] (1865), S. 249– 293 und 321–367 [286, 326 und 366]. Thomas Richter, Paxtafeln und Pacificalia. Studien zu Form, Ikonographie und liturgischem Gebrauch, Weimar 2003, S. 29–31. Paxtafel, Paris, um 1370/80, Kupfer, getrieben, graviert, punziert, vergoldet, H. 14,5 cm, Paris, Louvre, Inv. Nr. OA 2545. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 209 und 618.

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Abbildung 2: Paxtafel, Paris, um 1370/80, Kupfer, teilvergoldet, H. 14,5 cm, Paris, Musée du Louvre. Archiv des Verfassers.

Monemus quoque omnes Plebes, Plebanos, et Rectores Ecclesiarum, ut plebes suas informent, et inducant, ut osculum pacis post Agnus DEI per Clericum ipsis porrectum solum propter XI. dierum indulgentias per Nos dudum datas, et concessas mutuo inter se recipiant, alter alteri porrigendo: et si eos ad hoc inducere non possent, indulgemus, ut tabula cum Crucifixo in signum pacis ad osculandum deferatur.16

Es liegt nahe, dass vor der Etablierung einer eigenen Form bereits vorhandene liturgische Objekte für den Ritus und die Übermittlung des Friedenskusses gebraucht wurden. 1251 verzeichnet beispielsweise ein Inventar der Kirche St. Pancratius in London einen parvus lapis marmoreus ornatus cupro ad pacem deferendum, worunter sehr wahrscheinlich ein Tragaltar zu verstehen ist.17 Wie hat man sich nun den tatsächlichen Gebrauch solcher Instrumenta pacis vorzustellen? Wie spätmittelalterliche Quellen deutlich ma16

17

Johann Friedrich Schannat und Joseph Hartzheim, Concilia Germaniae. 10 Bde., Suppl., Köln 1763, Bd. 4, S. 406; Braun, Altargerät (wie Anm. 12), S. 558; Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 35. Lehmann-Brockhaus, Schriftquellen (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 153, Nr. 2768. Zur alternativen Verwendung liturgischer Geräte, Zweitverwendungen und Umarbeitungen vgl. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 151–179.

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chen, war der Einsatz der Paxtafel in der Regel auf die Interessentibus missae beschränkt, also auf jene Teilnehmer der Messe, die sich um den Altar versammelten und auch tatsächlich die Kommunion empfangen wollten. Die älteste deutschsprachige, gedruckte Messerklärung erschien 1482 anonym bei Friedrich Creussner in Nürnberg: In ihrem dritten Teil heißt es über Die wunschung des friedes: [. . . ] und so beut zu dieser zeyt ein diacon en tefelein oder kreutz dem priester, das zu kuessen; und das kuesset er, [. . . ] der diacon oder altar diener der treget denn hin das selbe gekueste tefelein den anderenn priesternn, die in dem kore sein, zukuessen. Und das kuest einer nach dem andernn mit andacht. Es ist auch an vil enden sith, dass der altar diener umb tregt das selbe gekueste tefelein allen den, die hinter dem ambt oder messe stan oder knyn, einem yeden zekuessen.18

Das sogenannte ‚Rothschild-Gebetbuch‘ in Wien zeigt die Übermittlung der Pax durch den Zelebranten an den Diakon (Abb. 3). Die Interessentibus missae haben sich in der Nähe des Altars versammelt.19 Das Aussehen jener Kusstafeln der frühen Neuzeit dokumentiert beispielhaft das in Nürnberg für den Bischof von Trient, Kardinal Bernhard von Cles, geschaffene Stück, das ehemals ein geweihtes Agnus Dei sowie Reliquien der Patrone des Trentino, S. Romedius und S. Zeno, enthielt (Abb. 4). Die Front zeigt das gravierte Lamm Gottes, aus dessen Brustwunde Blut in einen Messkelch strömt. Ein Engel entrollt über der Szene einen Titulus, der den Messtext des Agnus Dei Bilddevise des Kardinals, ein gebundenes Rutenbündel mit der Inschrift VNITAS.20 18

19

20

Adolf Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Liturgie und des religiösen Volkslebens, Freiburg i. Br. 1902, S. 305; Franz Rudolf Reichert, Die älteste deutsche Gesamtauslegung der Messe. Erstausgabe ca. 1480, Münster 1967 (Corpus Catholicorum, 29), S. 183 f. Weitere Quellen bei Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 78–84. Zur Bedeutung der Interessentibus missae vgl. beispielsweise den 1524 in Rom erschienenen ‚Ordo de celebrationis missae‘ des päpstlichen Zeremoniars Johannes Burckhard, zit. bei Braun, Altargerät (wie Anm. 12), S. 559; Rothschild-Gebetbuch, Gent, um 1510, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. N. 2844, fol. 75v ; s. Franz Unterkircher, Das Rothschild-Gebetbuch, Graz 1984, S. 77. Zur Handhabung der Instrumenta pacis in der Messe, vgl. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 64–88; zu den Bilddarstellungen, ebd., S. 341–344. Paxtafel, wohl Werkstatt Melchior Baier, Nürnberg, 1534, Silber, vergoldet, gegos-

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Abbildung 3: Gerard Horenbout et al., Rothschild-Gebetbuch, Gent, um 1510, Papier, Deckfarben, Wien, Österreichische Nationalbibliothek. Aus: Unterkircher, Das Rothschild-Gebetbuch (wie Anm. 19).

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Abbildung 4: Melchior Baier (?), Paxtafel des Kardinals Bernhard von Cles, Nürnberg, 1534, Silber, vergoldet, H. 17,6 cm, Trient, Domschatz. Aus: Castelnuovo, Ori e Argenti dei Santi (wie Anm. 20).

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Man erkennt anhand dieser späten Text- und Bildquellen, dass sich der Gebrauch der Geräte in der Zeit um 1500 nun bereits längstens auch auf die Gruppe der Kleriker erstreckte. Blicken wir aber zunächst noch einmal zurück: Nach den Anfängen auf der Ebene der Pfarrkirchen und im Gebrauch der niederen Laien sind Instrumenta pacis bereits seit etwa 1300 in zahlreichen Schatzverzeichnissen französischer und flämischer Edelleute für den Gebrauch in Privat- und Schlosskapellen nachzuweisen. Berühmt sind die Bestände an Goldemailarbeiten am französischen Königshof und an den Residenzen der Brüder Karls V. (reg. 1364–1380), Ludwigs I. von Anjou, und des kunstsinnigen Jean de Berry. In dem im Jahr 1379 verfassten Inventar der königlichen Residenzen werden sieben massiv goldene sowie sieben Paxtafeln aus Silber ausgewiesen, einige davon in der für diese Zeit innovativen Technik des transluziden Silberemails. Bei diesen heute zur Gänze verlorenen Stücken handelte es sich aber nicht um Schatzkammerobjekte, sondern stets um Ornamenta ecclesiae, die in den Tresoren der Kapellen und Oratorien aufbewahrt wurden und dort anhand der Inventare nachzuweisen sind. Einige dieser Stücke waren übrigens in der Umrissform einer Lilie als Sinnbilder des Hauses Valois gearbeitet.21 Insbesondere das Bildmotiv der ‚Imago Pietatis‘ war bei Instrumenta pacis nach Ausweis der Quellen im späten 14. Jahrhundert im Umkreis des Pariser Hofes verbreitet. Im Kirchenschatz von Saint-Denis, der Grablege des französischen Königshauses und der neben Reims bedeutendsten Kirche des Kronlandes, lassen sich anhand der erhaltenen Quellen Paxtafeln zwar erst seit 1431 nachweisen. Das Inventar von 1634, basierend auf einem einhundert Jahre zuvor entstandenen, enthält jedoch den Hinweis auf ein ehemals vorhandenes Stück, das vor 1398

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sen, getrieben, punziert, graviert, H. 17,6 cm, Trient, Dommuseum, Inv. Nr. 3132; s. Enrico Castelnuovo, Ori e Argenti dei Santi. Il tesoro del duomo di Trento, Trient 1991, S. 138–143, Nr. 26; Katrin Tebbe, „Nürnberger Goldschmiedekunst. Formtypen und stilistische Entwicklung“, in: Nürnberger Goldschmiedekunst 1541–1868. Begleitband zur Ausstellung Goldglanz und Silberstrahl im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, Nürnberg 2007, S. 120–204 [120]; Das Stück, dessen Reliquien heute verloren sind, trägt die älteste belegte Nürnberger Stadtmarke. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 148 f. Zur Emblematik bei Instrumenta pacis, ebd., S. 147–150. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 197–202.

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durch den Abt Guy de Monceaux (reg. 1363–1398) an die Abtei gekommen war: 67. Item une paix d’argent doré, et en icelle, enlevé en demy bosse, ung image de Dieu de pitié et ung ange derriere, dedans ung chapiteau et au derriere ung ange taillé à feuillages à jour dessus et dessoubs, ung soleil au milieu et ung escusson que l’on disoict estre les armes de l’abbé Guy de Monceaux; poisant ladicte paix quatorze onces [. . . ].22

Einen kostbaren Reflex dieser Gattung bot die Paxtafel des Grafen Pedro von Urgell, die dieser vor 1408 dem katalanischen Kloster Sigena geschenkt hat (Abb. 5). Sie war aus Gold gearbeitet und zeigte den von einem Engel gestützten, aus Perlmutter geschnittenen Leib Christi. Die Arbeit bestach durch ihre hervorragende Qualität in der Emaillierung sowie durch den feinen punzierten Dekor, der travail pointillé am Korpus des Geräts, die sich ohne weiteres mit demjenigen des ‚Goldenen Rössels‘ vergleichen lässt. Das Bildwerk symbolisiert den dem Gläubigen gewiesenen Herrenleib in Allusion zur Aussetzung der geweihten Hostie – wir werden darauf zurückkommen. Der Auftraggeber kombinierte dies mit der Präsentation einer Herrenreliquie. Die Grabkufe des Bildwerks ist als Behältnis für eine Partikel der Tunica Christi gearbeitet worden. Fragmente des heiligen Rockes werden unter anderem in der Benediktinerabtei von Argenteuil bei Paris verehrt. Es erscheint denkbar, dass die Reliquie dort entnommen und für das fürstliche Geschenk des über verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Haus Valois verbundenen Pedro d’Urgell zur Verfügung gestanden hätte.23 Spätestens seit den 1340er Jahren lassen sich Instrumenta pacis im Bereich hoher Würdenträger der Kirche nachweisen. Sie erscheinen nun in den Inventaren der in dieser Zeit vorwiegend dem niederen französischen Adel entstammenden Päpste am Hof von Avignon, etwa bei Clemens VI. im Jahr 1342 oder bei Papst Innozenz VI. 1353.24 Die ‚Sta22 23

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Blaise de Montesquiou-Fezensac und Danielle Gaborit-Chopin (Hg.), Le Trésor de Saint-Denis. 3 Bde., Paris 1973, Bd. 1, S. 163. Paxtafel, wohl Paris, vor 1408, Gold, transluzides und opakes Email, Rubine, Saphire, H. 10,5 cm, ehemals Museu Nacional d’Art de Catalunya, Barcelona, heutiger Standort unbekannt. Eine weiterführende Studie zu diesem bislang wenig beachteten Werk ist in Vorbereitung. Daher seien an dieser Stelle nur einige Grundsätze vorweg genommen. Hermann Hoberg, Die Inventare des päpstlichen Schatzes in Avignon 1314–1376, Vatikanstadt 1944. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 35 f.

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Abbildung 5: Paxtafel des Pedro d’Urgell, Paris, vor 1408, Gold, Email, Edelsteine, H. 10,5 cm, Standort unbekannt. Archiv des Verfassers.

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tuta Nova‘ des Kartäuserordens verzeichnen 1368, soweit ich es bisher überblicke, nun auch erstmals den Gebrauch der Geräte für die Liturgie im monastischen Bereich.25 Blicken wir nach Rom, so sind in der Peterskirche Instrumenta pacis erst 1436 nachweisbar. Noch Paris de Grassis, päpstlicher Zeremoniar unter Julius II. und Leo X., berichtet, dass die Geräte zwar bei feierlichen Hochämtern in den Kirchen Italiens verwendet würden, dies aber in Rom nicht gelte, und wenn, dass sie hier nur niederen Klerikern, niederen Laien – oder Frauen – gereicht würden.26 Welche Typen von Instrumenta pacis gab es nun aber in der Zeit ihrer größten allgemeinen Verbreitung in Europa, also etwa gegen 1500? Es gibt keine vergleichbare Gattung liturgischer Geräte, die eine ähnlich große Vielfalt an Formen und Materialien aufweisen würde. Diesen Umstand illustriert schon allein ein Blick in das ‚Hallesche Heiltumsbuch‘ von 1526/27 – quasi den Katalog der Reliquiensammlung Kardinal Albrechts von Brandenburg – wenn auch bei weitem nicht erschöpfend, so doch zumindest an einem zentralen Beispiel (Abb. 6).27 Ich umgehe dabei die Problematik der primären und sekundären Instrumenta pacis, der Umarbeitungen und Zweitverwendungen, der häufigen Integration älterer Bildwerke, die Unterscheidung zwischen kapselförmigen Instrumenta pacis und Agnus Dei etc., die leicht einen eigenen Vortrag füllen würden.28 In Zentral- und Ostmitteleuropa stellten monstranzähnliche, kreuzförmige und kaspelartige Pacificalia29 die am weitesten verbreitete Gruppe. In Frankreich und südlich der Alpen, begegnen diese Typen ausge25

26 27

28 29

Barraud, „Instruments de Paix“ (wie Anm. 13), S. 282. Zur Bedeutung der Instrumenta pacis im monastischen Bereich vgl. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 74– 78. Barrraud, „Instruments de Paix“ (wie Anm. 13), S. 288. Philipp Halm und Rudolf Berliner, Das Hallesche Heiltum. Man. Aschaffenb. 14, Berlin 1931 ( Jahresgabe des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 1931). Zu den erhaltenen Heiltumsbüchern als Quellen für Instrumenta pacis vgl. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 304–313. Zur überaus vielfältigen Form- und Typengeschichte vgl. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 197–341. Die Differenzierung von „Paxtafeln“ und „Pacificalia“ (Reliquiare) vereinfacht die Betrachtung aus heutiger Sicht. Benennungen und Beschreibungen in Schriftquellen sind zwar in dieser Frage oft weniger stringent, doch lassen sich Grundsätze durchaus formulieren, vgl. hierzu eingehend Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 24 f., 33–38, und 193–196.

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Abbildung 6: Pacificale, Hallesches Heiltumsbuch, Pergament, Deckfarben, 1526/27, Aschaffenburg, Hofbibliothek, Ms. 14 (Halm/Berliner 1931, Nr. 50). Mit freundlicher Genehmigung der Hofbibliothek Aschaffenburg.

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sprochen selten. Dort herrschten bei weitem die tafel- oder retabelartigen Stücke vor. Bedeutend für den Gebrauch im Norden war vor allem der Gehalt von Reliquien, deren Ansicht hier auch das sonst obligatorische Bildwerk ersetzen konnte. Dies belegt nicht allein die Durchsicht der erhaltenen Heiltumsbücher, sondern auch die große Mehrzahl der konsultierten Kircheninventare, Schatzverzeichnisse und Visitationsprotokolle. Auch der Gehalt der durch den Papst geweihten Wachsmedaillons bei Instrumenta pacis, den sogenannten Agnus Dei, ist nördlich der Alpen überaus häufig zu dokumentieren, während er in ihrem Ursprungsland Italien außerordentlich selten vorkommt. Die Ikonographie des Materials liefert in diesem Bereich liturgischer Geräte exemplarische Ergebnisse, die hier aber aus Zeitgründen nicht im Einzelnen erörtert werden können. Es zeigt sich jedoch, dass über allgemeine, in der Schatzkunst seit alters generell virulente Analogien hinaus, keine definitiven Gesetzmäßigkeiten beim Einsatz von (Edel-) steinen, Perlen, Edelmetallen und Farben, usw. für diese spezielle Gattung anhand schriftlicher Quellen fassbar sind.30

Der Bildgebrauch bei Instrumenta pacis und seine Bezüge zur Feier der Eucharistie Der Überblick über die bei Instrumenta pacis verwendeten Bildgegenstände zeigt, dass die ‚Passion Christi‘ und insbesondere die Kreuzigung, gefolgt von mariologischen Bildthemen deutlich dominierten. Heiligendarstellungen, etwa in Anspielung auf die jeweiligen Kirchenpatrozinien oder besondere Schutzheilige, sind dagegen auffallend selten vertreten.31 Zwei bedeutende Paxtafeln des Udineser Goldschmieds Niccolo Lionello (um 1400–1462) befinden sich im Domschatz von Trient sowie im Museo di Capodimonte in Neapel.32 Das Trienter Stück mit Kreuzi30 31 32

Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 180–192. Zu Vorkommen und Verteilung der Bildthemen vgl. ebd., S. 142 f. Paxtafel, sign. und dat. 1434, Silber, Kupfer, vergoldet, Filigran, opakes Email, H. 35 cm, Trient, Domschatz, Inv. Nr. 3000; s. Castelnuovo, Duomo di Trento (wie Anm. 20), S. 114. – Paxtafel, um 1440/50, Silber, vergoldet, Email, H. 21,5 cm, Neapel, Museo die Capodimonte, Inv. Nr. 10418. Nicola Spinosa, Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel 1994, S. 227. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 158 und 228–230.

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gungsdarstellung, entstanden um 1430 (Abb. 7), stammt ursprünglich aus dem Franziskanerkonvent von Cremona und trägt die Inschrift: opus factum ex procuratione fratres francisci de Cremona. Jenes mit der ‚Imago Pietatis‘, 1434 signiert und datiert trägt die Inschrift: Frater Stephanus me fecit fieri, allerdings ohne Angabe eines geistlichen Ordens. Zentral für das Verständnis des Friedensritus und den Gebrauch der Instrumenta pacis ist, wie wir gesehen haben, deren enge Bindung an die Feier der Eucharistie, an den Empfang des Leibes Christi in der Kommunion. Die Bildgegenstände der Instrumenta pacis nehmen natürlicherweise auf diesen grundlegenden Sachverhalt Bezug. Lionellos Werk in Neapel zeigt die ‚Imago Pietatis‘, den eucharistischen Leib des qua homo toten, qua deus lebenden Erlösers33 , der im Vollzug des Ritus vom Gläubigen geküsst wird. Der Kuss entspricht damit geradezu einer geistlich empfundenen Vorwegnahme der Kommunion. Dieser Kuss des Herrenleibes erinnert aber auch an den von der Kirche stets sanktionierten, d. h. offiziell verworfenen Kuss der konsekrierten Hostie durch den Priester. In dieser in einigen Regionen üblichen Alternative zum Altarkuss als Vorbereitung des Friedenritus erkennt man unschwer eine dadurch angestrebte ideelle Aufladung des Ritus im Kontext der Lehre von der Transsubstantiation.34 Man ermisst an diesen hier nur angedeuteten Aspekten, in welch enge Wechselbeziehung das auf die Eucharistie verweisende Bildwerk mit der liturgischen Funktion des Kusses im Kontext der Messfeier getreten ist. Eine aus der Kirche der heiligen Verdiana in Castelfiorentino stammende Kusstafel mit der Darstellung der ‚Imago Pietatis‘ illustriert diesen Zusammenhang.35 Gert von der Osten prägte für diesen Typus einer deutlichen, ja überaus herben Gebärde des Erlösers die Vokabel vom „prägnanten, wundzeigenden Schmerzensmann“. Die Inschrift der Kusstafel unterstreicht den theologischen wie den liturgischen Zusam33

34 35

Zitiert n. dem nach wie vor grundlegenden Beitrag von Rudolf Berliner, „Bemerkungen zu einigen Darstellungen des Erlösers als Schmerzensmann“, in: Das Münster 9 (1956), S. 97–117 [100 f.]. Zu diesem Missbrauch und dem Versuch seiner Reglementierung vgl. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 114. Paxtafel, wohl Paolo di Giovanni Sogliani, Florenz, um 1480/90, Silber, Kupfer, vergoldet, Email, Perlen, Lapis lazuli, H. 21 cm, Florenz, Museo Nazionale di Bargello, Inv. Nr. C 732; s. Antonella Capitanio und Marco Collareta, Oreficeria Sacra italiana. Museo Nazionale del Bargello, Florenz 1990, S. LXXIII und 164.

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Abbildung 7: Niccolo Lionello, Paxtafel, Udine, um 1434, Silber, vergoldet, Email, H. 35 cm, Trient, Domschatz. Aus: Castelnuovo, Ori e Argenti dei Santi (wie Anm. 20).

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menhang und wendet sich in appellativem Charakter direkt an den Gläubigen: RESPICE. FIDELIS. PER. TE. DATUR. [HOS]TIA. ODERUNT. PECCARE. BONI. VIR[TU]TIS. AMORE. Die Gleichsetzung von Christus mit der Hostie ist geläufig und findet sich in zahlreichen Texten, so etwa im Hymnus ‚Ad cenam Agni providi‘, wo es in der 5. Strophe, Vers 1, in Bezug auf den Erlöser heißt: O vera digna Hostia.36 Neben die bildhafte Vergegenwärtigung des Wesens der Eucharistie und der Bedeutung des Messopfers im Motiv der ‚Imago Pietatis‘ tritt noch ein weiterer wichtiger ikonographischer Aspekt, nämlich jener der Glaubhaftmachung der Gegenwart Christi im Friedensritus selbst. Die Steigerung der „Bildwahrhaftigkeit“ sollte die mentale Sammlung des Gläubigen befördern, um dadurch den würdevollen Empfang des Leibes Christi in der Kommunion zu gewährleisten. Dies konnte mit Hilfe substantieller Beigaben, etwa einer Partikel der ‚Vera Crux‘ erfolgen, wurde aber auch durch die Wahl bildmächtiger, oder besser „authentischer“ Darstellungsinhalte, etwa der ‚Vera Icon‘, verfolgt.37 Weitere Bildmotive dieser Art, die daher bei Instrumenta pacis verbreitet eingesetzt wurden, sind der ‚Gregorianische Schmerzensmann‘ nach der hoch verehrten Mosaikikone in Santa Croce in Rom, oder etwa das Wahre Antlitz Christi in Tradition der ‚Lentulus‘-Schilderung, je-

36

37

Vgl. auch die berühmte, nach 1428 entstandene Paxtafel Filippo Maria Viscontis im Schatz von Sant’ Ambrogio, Mailand; s. Oleg Zastrow, Oreficeria in Lombardia, Mailand 1978, S. 167. Die Diskussion dieses ikonographischen Typus mit weiteren Beispielen bei Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 116–123. Als bedeutende Beispiele sind zu nennen: Die Kusstafel mit dem Antlitz Christi in der Nachfolge des Jan van Eyck, wohl Köln, um 1480, Fassung wohl Paderborn, vor 1618, H. 16,1 cm, im Diözesanmuseum Paderborn, Inv. Domschatz Nr. 73; Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 443 f., Nr. 103, sowie die goldene Paxtafel Albrechts von Brandenburg, ehemals u. a. versehen mit Partikeln der Geisselsäule, vom Tischtuch des letzten Abendmahls, vom Sudarium, vom wahren Kreuz und von der Dornenkrone Christi, wohl Nürnberg, um 1530, H. 14,4 cm, ehemals im Kölner Domschatz (1975 zerstört), ebd., S. 404–406, Nr. 55, und schließlich das Pacificale Herzog Wilhelms IV. von Bayern mit Partikeln von der Wiege und vom Grabe Christi, dat. 1592, Fassung München, nach 1619, H. 93 cm, München, Reliquienkammer der Residenz, Inv. Nr. RK 57, ebd., S. 428 f., Nr. 85. Die diesem Werk beidseitig beigegebenen Miniaturen des Hans Werl nach Hans von Aachen nehmen jeweils auf die in ihm geborgenen Reliquien Bezug. Zum Thema der Bildauthentizität und zur Evokation der Christusgegenwart, vgl. ebd., S. 91–104.

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ner vermeintlich zu Lebzeiten Christi entstandenen Beschreibung seines Äußeren.38 Neben den christologischen Themen kommt vor allem der Gottesmutter Maria die zweite zentrale Bedeutung in der Ikonographie der Instrumenta pacis zu. Ihre Rolle als Mittlerin der Pax Christi wird in eigenen, ihr als Regina pacis gewidmeten Messen deutlich.39 Ihre Bedeutung für den Christen leitet sich daraus vom Status ihrer Erwähltheit bei der Menschwerdung des Gottessohnes her. Eine künstlerisch überragende Arbeit stellt die Paxtafel Francesco Raibolinis, genannt ‘Il Francia‘, dar, die sich in der Wiener Kunstkammer befindet und die einzige datierte und signierte Goldschmiedearbeit dieses Meisters ist.40 Maria begegnet hier in einer meisterhaft geschnittenen und niellierten Darstellung als thronende Mutter, die den schon etwas herangewachsenen, aufrecht auf ihrem Oberschenkel stehenden Knaben präsentiert. Zu beiden Seiten kennzeichnen Engel in immerwährender Anbetung die kultbildartige Komposition. In der Bildkunst wurde die Bedeutung Mariens als Mittlerin der Pax Christi jedoch selten in so eindrücklicher Weise dargestellt wie in dem Dresdener, Ambrogio Bevilaqua zugeschriebenen Gemälde „Maria das Kind anbetend“.41 In der Gebärde des Kindes, dem Fingerzeig auf den 38 39

40

41

Zum Bildtypus der ‚Vera icon‘ und zur Problematik der ‚Lentulus‘-Überlieferung vgl. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 100 f. Art. „Friede“, in: Marienlexikon. 6 Bde., hg. v. Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk im Auftrag des Marianum Regensburg e. V., Regensburg 1989, Bd. 2, S. 543 f. Paxtafel, sign. und dat. „F. F. B. F. MDIV“, Silber, teilvergoldet, Niello, transluzides Tiefschnittemail, H. 12,8 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, Inv. Nr. KK 9066; s. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 489 f., Nr. 156. Zu den m. E. fälschlichen Zuschreibungen weiterer Kusstafeln an diesen Meister, vgl. ebd., S. 246–251. Ambrogio Bevilaqua zugeschrieben, Tüchleinmalerei, Leimfarbe/Lw., Holzträger, um 1500, 152 x 107 cm, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, o. Inv. Nr.; s. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister. Katalog der ausgestellten Werke, Leipzig 1992, S. 121, Nr. 68. – Thomas Richter, „‚Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes‘. Eine Anmerkung zur Ikonographie der Gottesmutter als Mittlerin der Pax Christi“, in: Forschung 107, hg. v. Barbara Stempel und Susanne H. Kolter, München 2004 (Kunstwissenschaftliche Studien, 2), S. 29–44; Andreas Henning und Konstanze Krüger, „Bevilaqua, Giovanni Ambrogio, gen. Liberale Milanese. Maria, das Kind anbetend. Um 1500/10“, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 22/1 (2008), S. 5–9 [Sammelband mit weiteren Beiträgen zur Restaurierung dieser Tüchleinmalerei].

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geschlossenen Mund, wird deutlich die Symbolik von Maria und Jesus als Braut und Bräutigam nach der Exegese zu Hohelied 1, Vers 1, entwickelt: osculetur me osculo oris sui [. . . ], „er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes.“ An dieser Stelle tritt wieder der eingangs zitierte Sermon des heiligen Bernhard zu diesem Bibeltext in den Blick. Der Kuss nach Hohelied 1, Vers 1, blieb durch alle Zeiten – so etwa auch in den vor 1148 entstandenen ‚Orationes meditativae‘ Wilhelms von St. Thierry – aufs engste mit der Interpretation des Osculum pacis verbunden.42 Am unteren Abschluss des Dresdener Gemäldes erscheint ein Distichon das der Prophetie Jesaja Kap. 11, Vers 1–2, nachgebildet ist und die beiden Naturen Christi sowie den daran geknüpften Friedensschluss Gottes mit den Menschen zum Thema hat: „Die Wurzel Jesse erblüht, die Jungfrau bringt den zur Welt, der Gott und Mensch ist, der Frieden Gottes wird zurück gegeben, durch diesen, der in sich das Niedrigste mit dem Höchsten versöhnt“. Die Bekleidung Mariens, deren weiße Tunika manicata über und über mit dem Wort PAX besäht ist, ihre demutsvolle Haltung sowie das Ambiente, das die Szene in den Hortus conclusus versetzt, letztlich das Erscheinen Gottvaters unter den die Weihnachtsbotschaft lobsingenden Engeln machen ihre Aufgabe als Mittlerin gleichsam als Werkszeug des göttlichen Heilsplans für den Gläubigen unmittelbar anschaulich. Eine vergleichbare Bildkonzeption weist neben anderen eine Michelozzo Michelozzi zugeschriebene Kusstafel in der Berliner Skulpturensammlung auf.43 Unter der segnenden Gegenwart Gottvaters begegnen wir der Gottesmutter mit dem Jesusknaben. Die zeigende Geste des Kindes bezieht sich nachdrücklich auf die Metaphorik des Kusses, wie sie in der sponsus-sponsa-Thematik, der Allegorie von Christus und Maria als Bräutigam und Braut, dem Mittelalter geläufig war.44

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43

44

Wilhelm von St. Thierry, „Meditativae orationes. Meditatio VIII: De multiplici facie hominis, et osculo atque amplexu sponsi et sponsae“ in: PL (wie Anm. 2), Bd. 189, Sp. 229–232 [229c–230d]. Paxtafel, wohl Michelozzo Michelozzi, um 1470, Bronze, vergoldet, H. 18,3 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung, Inv. Nr. 1633. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 372, Nr. 19. Weitere Beispiele für diesen Bildtypus, ebd., S. 129–136. Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 132; ders., „Mittlerin“ (wie Anm. 41), S. 36.

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Ausblick Gestatten Sie mir am Ende noch einen kurz gefassten Ausblick über das Konzil von Trient hinaus, da die Verhältnisse nach der Reformation für das Verständnis der Instrumenta pacis grundlegend sind.45 Innerhalb der katholischen Reform und Gegenreformation wurde der Gebrauch der ‚Instrumenta pacis‘ stets aufs Neue empfohlen. So in der ‚Formula reformationis‘ Kaiser Karls V. von 1548 wie auch auf den Synoden von Augsburg (1548) und Haarlem (1564).46 Die unter dem Eindruck des Konzils von Trient (1545–63) entstandene Anleitung zum Bau und zur Ausstattung der Kirchen, die ‚Instructiones Fabricae et Suppellectilis Ecclesiasticae‘ des heiligen Carlo Borromaeo von 1577, beschreiben Paxtafeln als zur Feier der Messe notwendige Geräte.47 Der Freund des großen Mailänder Bischofs, der heilige Philippo Neri (1515– 1595), Gründer der dem Armutsideal verpflichteten Oratorianer, setzte für seinen Orden gleichfalls den Gebrauch der Paxtafeln fest, diese sollten aber möglichst einfach und aus bemaltem Holz hergestellt sein.48 Einen letzten Höhepunkt erfuhr der Einsatz der Geräte in sowohl künstlerischer wie religiöser Hinsicht an dem gleichermaßen von einem den Staat tragenden wie ihn legitimierenden Katholizismus geprägten Hof der Habsburger Kaiser.49 Herausragend unter den bis heute erhaltenen Stücken, sind das Pacificale Kaiser Leopolds I. im Schatz des zentralen Marienwallfahrtsortes Mariazell sowie das Pacificale Kaiser Karls VI., das Johann Baptist Känischbauer von Hohenried 1726 schuf.50 45

46 47 48 49 50

Zu den Empfehlungen des Gebrauchs der Instrumenta pacis in der Zeit der Reformation von Seiten altkirchlicher Theologen vgl. ausführlich Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 78–84. Braun, Altargerät (wie Anm. 12), S. 560. Carlo Gastiglioni und Carlo Marcora, S. Carlo Borromeo. Arte Sacra (De fabrica ecclesiae 1577), Mailand 1952, S. 154, Nr. 83. Gaetano Moroni, Dizionario di Erudizione storico-ecclesiastica. 103 Bde., Venedig 1851, Bd. 50, S. 95 f. Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock, München 2 1982. Zur Ikonographie dieser Werke, ihrer Einbindung in das Hofzeremoniell und ihrer Bedeutung innerhalb der Herrscherideologie des Hauses Habsburg vgl. ausführlich Richter, Paxtafeln (wie Anm. 14), S. 329–338. Pacificale, Wien, vor 1673, Gold, Silber, transluzides und opakes Email, Edelsteine, Flussperlen, Wachs (?), Glas, H. 21 cm, Mariazell, Schatzkammer, Inv. Nr. H 7; ebd., S. 478 f., Nr. 145. – Pacificale, Wien, 1726, Gold, Email, Bergkristall, Edelsteine, Silber, ver-

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Das Pacificale Kaiser Leopolds, das in Form und Reichtum an ein Schmuckkleinod erinnert, birgt in seinem Inneren ein Medaillon, welches das Allerheiligste, die konsekrierte Hostie, miniaturhaft darstellt. Es wird daher auch von einem Kranz von Flussperlen eingefasst, deren Anordnung eine Monstranz nachempfindet. Unter den in dem Stück geborgenen Heiligenreliquien ragt die Partikel des hl. Leopold hervor, der nicht allein der Namenspatron des Kaisers ist, sondern hier auch als der bedeutende Vorfahr des Hauses Österreich in Erscheinung tritt.51 Das gesamte Ensemble, das vom doppelköpfigen Reichsadler, der den Bindenschild auf der Brust trägt, empor gehoben und von der Kaiserkrone überfangen wird, feiert somit die Gottesnähe und die christliche Sendung des Hauses Habsburg. Das ebenfalls überaus kostbare Pacificale Kaiser Karls VI. wurde als Fassung für eine Kreuzpartikel geschaffen, die der Kaiser 1711 im Jahr seiner Inthronisation von Papst Clemens XI. (reg. 1700–1721) erhalten hatte. Das allansichtige Werk verbindet die Basis der drei Evangelistensymbole mit dem Adler des Evangelisten Johannes, der, dieser Gruppe räumlich enthoben, das kugelförmige Kreuzpartikelreliquiar trägt. Dieses wird von der Inschrift NASCENDO TULIT. MORIENDO RELIQUIT umzogen. Die Kreuzpartikel, auf die die Sentenz als Zeichen und Zeugnis des Erlösungstodes Christi anspielt, wird daher von der Gestalt des Christusknaben als Sieger überhöht. Er wird von zwei Engeln in ewiger Anbetung flankiert und von einem Strahlenkranz hinterfangen und in seiner Majestät hervorgehoben. Die von Wolken umgebene Weltkugel spielt mittelbar auf die persönliche Bildimprese Kaiser Karls VI. an und die herausgehobene Figur des Adlers rückt das Stück – indes weit weniger explizit als bei dem

51

goldet, H. 25 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Geistliche Schatzkammer, Inv. Nr. D 39; ebd., S. 491–493, Nr. 158. Im Besitz Kaiser Karls VI. befand sich ein heute verlorenes Pacificale, das einen ähnlichen Bezug zwischen dem mittelbar Verehrten und dem Verehrenden herstellte: Eine silberne pacem mit einem doppelten adler, auf dessen brust reliquien vom heiligen Carolo Borromaeo, ober dem adler eine ziervergoldete cron, welche gleich dem fuez mit allerhand steinen versetzt ist. Zit. n. Heinrich Zimerman, „Inventare, Acten und Regesten aus der Schatzkammer des Allerhöchsten Kaiserhauses“, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 10/2 (1889), S. CCII–CCXLIII, Nr. 6241 [CCXVI].

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Mariazeller Pacificale – in die Nähe des kaiserlichen Selbstverständnisses und der Reichssymbolik.52

Schluss In der weiteren zeitlichen Folge führten weder – wie vermutet wurde – Rangzwistigkeiten noch allgemeine Unordnungen im Vollzug des Ritus zum Rückgang im Gebrauch und letztlich zum Verschwinden der Geräte. Vielmehr wich in der Epoche der Aufklärung zunehmend das Vertrauen in die Stellvertreterschaft der Bilder. Ein profundes Misstrauen gegen die Verehrung der Gottheit durch sie und die Ablehnung des Reliquienwesens allgemein entzogen dieser liturgischen Praxis die ideelle Grundlage und Glaubwürdigkeit. Paxtafeln begegneten seither gleichwohl im Zuge liturgischer Erneuerungsbewegungen, so im Wirken der Beuroner Kongregation oder des Klosterneuburger Bibelapostolats, und waren noch bis in die 1950er Jahre hinein, übrigens gerade auch in der Schweiz, im Gebrauch.53 Obgleich sie darin nicht explizit abgeschafft wurden, endet mit den liturgischen Bestimmungen des Zweiten Vatikanischen Konzils vorerst die Geschichte dieser vasis sacris scundariis54 .

52

53 54

Zahlreiche Beispiele für diese Bildimprese bei Franz Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des „Kaiserstils“. 2 Bde., Berlin und New York 1981 (Beiträge zur Kunstgeschichte, 16); zum Pacificale Karls VI. s. ebd., S. 125. Hierzu ausführlich Richter, Paxtafeln, 2003 (wie Anm. 14), S. 43–50. Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Authentische Textausgaben lat.-dt. III: Über die Liturgie. Konstitution, Motu Proprio, Instruktion, Reskripte. Beschlüsse, Erklärungen, Anweisungen und Richtlinien der deutschen Bischöfe, eingel. von Hermann Volk, Trier 1965, S. 60 f., 154 f. und 156 f.

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Vom Unsichtbaren zum Sichtbaren: Liturgisches Zeremoniell und Bild in Byzanz im 11. und 12. Jahrhundert Barbara Schellewald (Basel) Bild und Liturgie stehen in der byzantinischen Kultur nicht allein in einem engen Austausch, vielmehr sind im Sakralraum die Bilder in hohem Maße dazu in den Dienst genommen, das in liturgischem Text und Ritual Gebundene oder auch symbolisch Evozierte und Memorierte in eine unmittelbare Anschaulichkeit zu überführen. Die zentralen Inhalte werden dauerhaft und jenseits des liturgischen Rituals gegenwärtig gehalten. Das Ritual ist eine standardisierte Handlung mit „Wandlungscharakter“, das heißt mit performativer Wirkmächtigkeit, wogegen sich die Zeremonie durch einen darstellenden, abbildenden Charakter auszeichnet.1 Dem byzantinischen Ritus ist eindeutig ein starker zeremonieller Charakter zu Eigen. Es ist eben diese Besonderheit, die verstärkt ab dem 11. Jahrhundert Bilder generiert, denen im Westen erst in einem erheblich späteren Zeitfenster eine Karriere bestellt ist. Ein erster Einstieg in das Thema bietet sich anhand der Objekte an, die ein Liturgieformular, den Text und die Bilder in einen direkten Zusammenhang stellen: liturgische Rollen, die aus dem 11. bis zum 15. Jahrhundert in einer erstaunlichen Dichte überliefert sind.2 Vorauszuschicken bleibt, dass zwei Liturgieformulare überliefert sind. Deren vermeintliche Autorenschaft des Kirchenvaters Basileios und von Johannes Chrysostomos beruht vornehmlich auf Zuweisungen.3 Während bis 1

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3

Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, „Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389–405 [394]. Sharon E. J. Gerstel, „Liturgical Scrolls in the Byzantine Sanctuary“, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 35 (1994), S. 195–204. Gerstel weist darauf hin, dass sie bisher mehr als 160 Objekte ausmachen konnte, geht aber von einer weitaus größeren Zahl aus, da bislang keine komplette Erfassung erzielt worden sei [202, Anm. 23]. Beide gründen sich auf vorausgegangene Liturgien. Basileios wird eine Re-

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in das 10. Jahrhundert nach der ersteren prozediert worden ist, wird im Anschluss die sogenannte Chrysostomos-Liturgie prioritär ausgeübt. An zehn hohen Festtagen, insbesondere zum Osterfest, wird hingegen die aufwendigere Basileios-Liturgie bevorzugt. Liturgische Rollen offerieren sowohl beide Texte separat wie auch gemeinsam auf Vorder- und Rückseite. Jedes Kloster verfügte über beide Liturgieformulare, zumeist wohl in mehreren Exemplaren. Erst im 12. Jahrhundert ist die Einbindung dieser Rollen in den liturgischen Ablauf in Quellen dokumentiert. In der diataxis (ordo) der Hagia Sophia in Konstantinopel werden präzise drei Momente ausgewiesen, in denen die Rolle bei der Verlesung von Stillgebeten zum Einsatz kommt. Andere Quellen differenzieren diesen Befund durch die Nennung zusätzlicher Zeitpunkte.4 Auf einer heute auf Patmos (Kloster des Hl. Johannes des Evangelisten, Cod. 707 [Roll I]) befindlichen Rolle aus dem zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts wird dem Text als Frontispiz ein signifikantes „Autorenbild“ vorgespannt (Abb. 1): Basileios der Große wird gezeigt, wie er in der Abbreviatur eines fünfkuppeligen Sakralbaus am Altar die Messe zelebriert.5 Das Bild ist ohne Rahmen, wodurch seine Unmittelbarkeit unterstrichen wird; dem Längsformat der Rolle entspricht seine Vertikalstruktur. Während im oberen Bildabschnitt die Fassade der Kirche mit dem der Portallünette eingeschriebenen Bildnis der Gottesmutter inszeniert ist, dringt der Blick unten bis in den Altarraum vor. Eine frontale Sicht bietet sich auf den Altar, der von einem Ziborium überfangen wird. In der mittleren Achse hält der Autor mit beiden Händen eine entfaltete Rolle,6 in den seitlichen Interkolumnien erscheinen zwei Diakone mit liturgischen Fächern, den Rhipidia. Auf dem Altar sind die zentralen Gerätschaften, Kelch und Patene, plaziert. Ein unteres Ornamentfeld hat die Wirkung eines Sockels und leitet zugleich ele-

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daktion des eucharistischen Teils der Liturgie, der anaphora, zugeordnet; bei Chrysostomos wird ebenfalls eine Ausarbeitung in deren Bereich behauptet. Zur byzantinischen Liturgie vgl. Robert F. Taft, The Byzantine Rite: A Short History, Collegeville 1992 (American Essays in Liturgy). Gerstel, „Scrolls“ (wie Anm. 2), S. 198–201. Nancy Patterson-Ševˇcenko, „Liturgical Roll“, in: The Glory of Byzantium: Art and Culture of the Middle Byzantine Era. A. D. 843–1261, hg. v. Helen C. Evans und William D. Wixom, New York 1997, S. 110 f. (Nr. 64, mit Abb.). Die Rolle dürfte in Konstantinopel produziert worden sein. Die liturgischen Rollen können auf einen Holzstab montiert sein, durch dessen Drehung sie sukzessive zur Lesung entfaltet werden können.

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Abbildung 1: Basileios-Liturgie, Liturgische Rolle, 2. Viertel 12. Jahrhundert, Patmos, Johanneskloster, Cod. 707, Roll 1. Aus: The Glory of Byzantium: Art and Culture of the Middle Byzantine Era. A. D. 843–1261, hg. v. Helen C. Evans und William D. Wixom, New York 1997, S. 111, Abb. zu Nr. 64.

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gant in die Textkolumne über. Das Bild antizipiert Handlung, ohne einen Augenblick zu konkretisieren. Das Frontispiz mit seiner idealisierten und durch opulente Materialien ausgezeichneten Architektur intendiert, den Anspruch des leider unbekannt gebliebenen Auftraggebers zu signalisieren. Zugleich aber überführt das Bild die Rezipienten sukzessive von außen in den zentralen Handlungsraum, in dem die Rolle ihrer originären Aufgabe zugeführt werden wird. Eine im Jerusalemer Patriarchat bewahrte Rolle (Cod. Taphou 109), die an das Ende des 11. Jahrhunderts datiert werden kann, offeriert ein komplexes Bildprogramm.7 Innerhalb der Objektgruppe stellt sie zwar aufgrund der Bildfülle eine Ausnahme dar, die Bilder selbst jedoch bieten uns erste Indizien für unser Thema, da sie im Konnex zum liturgischen Text und dem aus diesem gewonnenen Ritual stehen.8 Die Rolle wurde für eine dem heiligen Georg geweihte Bischofskirche in Konstantinopel produziert; welche Funktion einer im Auftragskontext genannten „Kali“ zukommt ist unklar. Die deutlichen Benutzungsspuren signalisieren die langjährige Verwendungspraxis. Gerstel hat darauf verwiesen, dass an zwei Stellen, die in den oben erwähnten Quellen als diejenigen der rituellen Einbindung der Rolle identifiziert werden können, ein Bischof dargestellt ist: Der Zelebrant wird beim Entrollen des Objektes gleichsam durch sein eigenes Konterfei gespiegelt.9 Text und Bilder sind nicht allein durch ein ornamentales Rahmensystem strukturiert, sondern das ihnen zugedachte Bezugssystem wird visuell vermittelt: Ein äußeres Flechtband umgrenzt den Text, eine Binnenstruktur wiederum gliedert diesen in mit Groß- beziehungweise 7

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André Grabar, „Un rouleau liturgique constantinopolitain et ses peintures“, in: Dumbarton Oaks Papers 8 (1954), S. 161–199. Grabar hat nicht nur diese Rolle ausführlich kommentiert, sondern innerhalb dieser Abhandlung auch auf andere bebilderte Exemplare hingewiesen [168–177]. Dem Band der Dumbarton Oaks Papers ist eine komplette Abwicklung der Rolle beigefügt. Neben Grabar hat Hans-Joachim Schulz, Die byzantinische Liturgie. Vom Werden ihrer Symbolgestalt, Freiburg i. Br. 1964 (Sophia. Quellen östlicher Theologie, 5), S. 136–149, schon früh die Bilder auf der Rolle in ihrer Funktion erkannt und auf Liturgiekommentare bezogen. Gerstel, „Scrolls“ (wie Anm. 2), S. 200. Dies spricht im Übrigen dafür, dass die Praxis bis in das 11. Jahrhundert zurückgeht und lediglich die schriftlichen Festlegungen später datieren. Weitere Indizien für diese Vermutung ergeben sich aus dem Befund der Rolle (s. u.). Sharon E. J. Gerstel, Beholding the Sacred Mysteries. Programs of the Byzantine Sanctuary, Seattle und London 1999, S. 31, hat kurz auch auf diese Koinzidenz hingewiesen.

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Kleinbuchstaben geschriebene Passagen. Medaillons, unterschiedliche Bögen und ornamentierte Zwickel formieren sich zu einem variationsreichen inneren Textfeld. Während die großgeschriebenen Texte laut gesprochen werden, handelt es sich bei den anderen um sogenannte Stillgebete – die Bilder fungieren zumeist als deren Marginalien. Der ihnen implizite Charakter als Kommentar wird insofern gebrochen, als zumindest die Figuren der linken Seite als Initialen eine direkte Anbindung an den Text erfahren. Von diesem System ausgenommen sind das Frontispiz, wie auch ein weiteres, in das Textfeld inkorporiertes Bild, über dessen Funktion noch zu sprechen sein wird. Der liturgische Kontext wird bildlich zu Beginn durch eine in die Rahmenstruktur als Einzelfiguren inserierte Engelhierarchie indiziert: Seraphim, Cherubim, vier Erzengel und zwei weitere Engel begleiten das Gebet des Trishagion.10 Sie singen, glorifizieren und beten den Herrn an. Die unteren Engel schwingen Weihrauchgefäße und geben durch ein Diakongewand ihre aktive Teilhabe an einer Liturgie zu erkennen. Eine Vielzahl der auf die Biographie Christi bezogenen Marginalbilder folgt keiner kongruenten Chronologie. Grundsätzlich lassen sie sich grob drei Kategorien zuweisen: Bilder des Alten und Neuen Testaments, die auf die reale Handlung oder auf durch diese evozierte Heilstaten Bezug nehmen, Bilder zum Autor Johannes Chrysostomos (durch den Apostel Paulus inspiriert schreibend, die Messe zelebrierend und vor Christus) und hagiographische Bilder sowie Szenen im Himmel, in denen Christus thront, segnet und vor allem die himmlische Liturgie feiert.11 Der kommemorative Aspekt der Liturgie findet in diesen Randbildern seinen unmittelbaren Niederschlag. Das Eingangsbild, in dem ein nicht nimbierter Bischof in eine Art Deesis integriert ist, demonstriert augenscheinlich das Stiftungsanliegen. Darunter aber sind es die Kurzversionen einer Verkündigung und eines Geburtsbildes (nur schwach zu erkennen sind die Krippe, Maria und Joseph), die als Evokationen des Eintritts Christi, des Logos, in die Welt dienen. Sie sind an der Stelle des Kleinen Einzugs verortet, bei dem das Evangelienbuch in den Laienraum und zurück an den Altar gebracht wird.12 Der Ritus der Gabenvorbereitung (Proskomidie) ist auf 10 11 12

Der Begriff Trishagion bezeichnet die dreimalige Anrufung der Trinität. Vgl. dazu die Abb. bei Grabar, „Rouleau“ (wie Anm. 7), Abb. 1–23. Zum Ritus vgl. Robert F. Taft, Beyond East and West. Problems in Liturgical Un-

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der für den Bischof konzipierten Rolle nicht verzeichnet. Schulz vermutet daher, dass die Verkündigung gleichsam an diesen erinnern soll, denn im Liturgiekommentar des Nikolaos bzw. Theodoros von Andida wird der das Opferbrot teilende Diakon als der Engel interpretiert, der gegenüber der Jungfrau das Ave ausspricht.13 Die Taufe ist an der Stelle plaziert, an der im Text die Weihe der liturgischen Opfergaben durch den Herabstieg (Epiklese) des Heiligen Geistes thematisiert ist, welcher als das verbindende Moment beider Themen identifiziert werden kann. In der Wiedergabe einer kleinen Gruppe Gläubiger (?) sieht Grabar die Teilnehmer an der Messe, bei der die Vergangenheit, die Taufe des Herrn, sakramental erneuert wird. Diese Interpolation ist seiner Auffassung nach insofern sinnkonstituierend, als gerade bei der Taufe jeder Gläubige seine christliche „Karriere“ beginnt.14 Schulz hat diese Perspektive mit dem Hinweis differenziert, dass primär nicht auf das Taufgeschehen rekurriert wird, „sondern [auf] die durch den Heiligen Geist gewirkte Gegenwart Christi unter den Gestalten von Brot und Wein.“15 Beide Autoren berufen sich auf die unbedeckten Hände der die Taufe assistierenden Engel und ihre Gestik, die mit jenen der Zelebranten in der Liturgie korrespondieren. Das historische Ereignis der Taufe wird somit an die liturgische Gegenwart angebunden. Andere Bilder nehmen direkt auf die Handlung selbst Bezug, so zum Anfang des Gebets, das der Priester spricht, nachdem er die liturgischen Gaben auf dem Altar deponiert hat, auf dem Christus als Zelebrant profiliert ist.16 Er steht hinter einem Altar, auf dem zwei Kelche und eine Patene abgelegt sind. Mit seiner Rechten führt er den Segensgestus aus. Ihm zur Seite sind zwei Engeldiakone plaziert, hinter denen jeweils eine Gruppe von proskynierenden Aposteln zu erkennen ist, die sich dem Geschehen nähert. Dem Bild kommt allein durch seine Position innerhalb des Textes eine besondere Relevanz zu. An beiden Rändern, mittig zwischen dem Bild und dem darunter erscheinenden Text, erfolgt der Auftritt zweier großer Engel mit Weihrauchgefäß, Kelch und einer auf dem Kopf balancierten Patene. Ihre Gesten entsprechen denen von Liturgen beim 13 14 15 16

derstanding, Washington 1984, S. 170–177. Schulz, Liturgie (wie Anm. 8), S. 139 f. Grabar, „Rouleau“ (wie Anm. 7), S. 182 und Abb. 13. Schulz, Liturgie (wie Anm. 8), S. 149. Grabar, „Rouleau“ (wie Anm. 7), Abb. 10.

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Vollzug des Großen Einzugs, bei dem die Gaben aus dem linken Seitenraum in den Naos und sodann durch die Haupttür der Abschrankung (Templon/Ikonostase) zum Chorraum (Bema) auf den Altar gebracht werden. Der Textraum wird als Ort liturgischer Handlung qualifiziert, dem sich die Engel von außen her nähern. Christus als Protagonist macht überdies erkennbar, dass sich das liturgische Ritual als ein Abbild dessen versteht, was sich in der jenseitigen Welt als Himmlische Liturgie darstellt. Die vermittelnde Instanz ist die strukturelle Organisation der Bilder, die das räumliche Procedere gleichsam spiegelt. Dass Christus als Handelnder zugleich derjenige ist, der das eigene Opfer zelebriert, verdankt sich im Kern dem antizipatorischen Akt beim Letzten Abendmahl. Die formale Struktur der Bilder legt überdies eine zweite Lesart nahe. Das Bild der Himmlischen Liturgie hat in gewisser Weise eine übergeordnete Funktion, indem es die Liturgie ganz grundsätzlich als Spiegel eines von Christus ausgeübten Ritus profiliert. Die Engel am Rand hingegen übersetzen diesen geradezu in die gegenwärtige Handlung des Großen Einzugs. Wie die anderen Bilder fungieren sie als ein visueller Kommentar, bei dem die „Engel des Herrn“ gleichsam die Überführung vom himmlischen zum irdischen Ritus herstellen. Dass das zentrale Bild nicht als Apostelkommunion zu titulieren ist, macht eine weitere Illustration auf der Rolle erkennbar: Christus teilt das Brot wie auch den Wein aus.17 Die Bilder begleiten die ersten Worte des Gebets der Konsekration, die der Handelnde liest, nachdem an die Worte Christi bei der Einsetzung des Abendmahls erinnert worden ist. Die Relevanz der Darstellung wird jedoch unterstrichen, indem ganz gegen die sonstige Verfahrensweise des Objektes die Einsatzworte Christi oberhalb der Bilder, also außerhalb der Textkolumne zitiert sind.18 Das Bild mit der Apostelkommunion steht damit eindeutig in einer anderen Funktion als das eben angeführte Bild. Der liturgische Text wird in den überwiegenden Fällen nicht illustriert, sondern das in der Liturgie durch Sprache wie auch Handlung memorierte, in die Gegenwart transponierte Heilsgeschehen wird durch das Medium des Bildes veranschaulicht. Diese Konkretisierung ist zu großen Teilen Liturgiekommentaren zu verdanken. Ihre Ausdeu17 18

Ebd., Abb. 13. Hierbei handelt es sich nicht um ein Stillgebet. Ebd., S. 174 f.

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tung provoziert gewissermaßen dazu, das dem Ritual inhärente symbolische Verweissystem in eine knappe, visuelle Form zu transponieren. Dies hat jedoch nicht nur für die Rezeption des liturgischen Textes wie auch der Messe Folgen, sondern in gleichem Maße wohl auch für jene der Bilder. Jenseits der liturgischen Rolle sind sie als liturgisch konnotiert im Kirchenraum wiederzufinden. Mit Blick auf die Funktion der Rollen ergibt sich jedoch für die Bilder ein interessanter Sachverhalt. Die Bilder im Gemeinderaum, die mit denen der Rolle korrelieren, sind als Kompensation des Verlustes des Auditiven gekennzeichnet. Der eucharistische Kult wird in zunehmendem Maße visuell exklusiv, indem die Gläubigen im Laufe der Zeit mehr und mehr von ihm ausgeschlossen werden. Für die monastische Liturgie gibt es schon für das 11. Jahrhundert Hinweise, dass Vorhänge zwischen den Interkolumnien der Abschrankung zum Bema während des eucharistischen Gebetes geschlossen werden.19 In der ‚Protheoria‘ ist die Rede von zwei Subdiakonen, die vor den Türen im Naos darüber wachen sollen, dass dort keine Unordnung entsteht. Darüber hinaus wird die Frage debattiert, wie man das nun weder auditiv noch visuell beteiligte „Publikum“ mit den Mysterien vertraut machen kann.20 Dem visuellen „Entzug“ wird 19

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Hugh Wybrew, The Orthodox Liturgy. The Development of the Eucharistic Liturgy in the Byzantine Rite, New York 1990, S. 134, zitiert aus einem Brief von Niketas Stethatos, der von einem unheiligen Blick spricht, welchem das eucharistische Geschehen nicht ausgesetzt werden dürfe; dieser Blick wird primär Laien unterstellt. Robert F. Taft, „The Decline of Communion in Byzantium and the Distancing of the Congregation from the Liturgical Action: Cause, Effect, or Neither?“, in: Thresholds of the Sacred: Architectural, Art Historical, Liturgical, and Theological Perspectives on Religious Screens, East and West, hg. v. Sharon E. J. Gerstel, Washington 2006, S. 27–50 [46], interpretiert diese Textstelle dahingehend, dass Niketas nicht von einer verstellten Sicht spreche, sondern lediglich die Distanz vom Altar thematisiere. Auf letzteren Passus, in dem diese Ferne angesprochen ist, hat auch schon Gerstel, „Scrolls“ (wie Anm. 2), S. 203 f., Anm. 26, hingewiesen. Gerstel, Mysteries (wie Anm. 9), S. 8, zitiert weitere Passagen, in welchen unter anderem die nicht einmal vorhandene Sichtbarkeit des Priesters angeführt wird. – Niketas Stethatos hat bis ca. 1090 gelebt. Damit befinden wir uns exakt in dem Zeitfenster, aus dem die Jerusalemer Rolle datiert. Die Frage nach der Abschrankung betrifft im Kern das Problem der Entwicklung des Templons bzw. der Ikonostase, das in der Forschung sehr kontrovers diskutiert wird. Die Problematik gründet sich auf eine prekäre Überlieferung der Denkmäler, die eine eindeutige Festlegung erschwert; ich werde im weiteren Verlauf kurz darauf zurückkommen. Liturgies Eastern and Western: Being the Texts Original or Translated of the Principal Liturgies of the Church. Bd. 1, hg. v. Frank Edward Brightman, Oxford 1896

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mit dem Angebot der Ikone begegnet. Die Rolle scheint sich ausgezeichnet in diese Praxis einzupassen. Das Phänomen der Kompensation ist gleichsam auf der liturgischen Rolle angezeigt.21 Für die Liturgiekommentare gilt es, die Entwicklung der Liturgie zu beachten.22 Bis in das 11. Jahrhundert sind vor allem die Versinnbildlichung des Todes Christi und die Öffnung der lebensspendenden Seite in der Proskomidie bestimmend gewesen. Nun wird eine ganz neue Symbolhandlung entwickelt: Über die Gaben wird der Asteriskos plaziert. Dabei handelt es sich um ein sternförmiges Gebilde aus zwei gebogenen und über Kreuz befestigten Metallstäben, das über dem Kelch als Halt für die Decke zum Schutz für die geschnittenen und geweihten Brotstücke dient. Das Objekt erinnert an die Geburt, den Stern von Bethlehem. Für alle Phasen der Liturgie wird eine Deutung auf das Leben Christi anempfohlen. Wenn in frühen Kommentaren die ersten Schritte zu

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[ND Oxford 1967], S. 208 f. Brightman hat einzelne Passagen der ‚Protheoria‘ untersucht und dabei auf diese Stelle aufmerksam gemacht. Der Text ist ediert in Patrologia cursus completus, series graeca curante (PG). Bd. 140, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1887, Sp. 417–468. Zu der Textstelle, in welcher die Überlegungen zur Ikone getroffen werden, vgl. Wybrew, Liturgy (wie Anm. 19), S. 138 und 140. Die Jerusalemer Rolle zeigt bislang eine originäre Konzeption; andere Rollen sind durch eine alternative Text- und Bildredaktion bestimmt. Bei einer Rolle des 14. Jahrhunderts aus dem Athoskloster (Lavra, Nr. 2) mit dem Text der BasileiosLiturgie, sind die Miniaturen als Vollbilder konzipiert, s. Louis Bréhier, „Les peintures du rouleau liturgique No 2 du monastère de Lavra“, in: Annales de l’Institut Kondakov [Seminarium Kondakovianum] 11 (1940), S. 1–19. Sie reagieren unmittelbar auf den Text und sind somit weit mehr als Illustrationen ausgewiesen. Nur an wenigen Stellen wird von dieser Verfahrensweise abgewichen. Die Analogien zum hier diskutierten Beispiel sind evident: Am Beginn des Textes zum Großen Einzug wird ein Diakon mit Patene am Rand gezeigt, eine weitere Figur mit Redegeste hält zudem mit der anderen Hand eine offene liturgische Rolle (Taf. I, 3 und 4). Aber selbst hier initiieren die Bilder einen Konnex zwischen Handlung und Text, indem im ersten Bild ein Priester am Altar figuriert ist. Die Spiegelung ist auch in diesem Bild prononciert, da der Priester in seinen Händen wiederum eine Rolle hält; ein Diakon assistiert. Oberhalb der Szene erscheint der ‚Alte der Tage‘ als Sinnbild einer prophetischen Vision, die auf die im Text angesprochene Rede an den Herrn rekurriert (Taf. I, 1). Die innerhalb der Felder etablierte Registerordnung ist dezidiert auf den Abrollvorgang ausgerichtet. Zu den Liturgiekommentaren vgl. Liturgies, hg. v. Brightman (wie Anm. 20), S. 181–213; Schulz, Liturgie (wie Anm. 8), S. 118–164; René Bornert, Les commentaires byzantins de la divine liturgie du VIIe au XVe siècle, Paris 1966 (Archives de l’Orient chrétien, 9).

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einer derartigen Interpretation bis ins 4. Jahrhundert zurückverfolgt werden können, so wird in den folgenden Kommentaren in partiell divergierender Form das Deutungsspektrum potenziert. Große Verbreitung fand die ‚Historia Ecclesiastica‘ des in den Bilderstreit involvierten Patriarchen Germanos (Amtszeit 715 –730, † 733).23 Die Liturgie steht nicht allein in der Kontinuität der biblischen Geschichte. Vielmehr „zeigen“, „signifizieren“ und „indizieren“ die Riten nach Germanos das Nicht-Sichtbare, wie Bornert belegt hat. Sein Vokabular mit eikon, über prototypus und mimesis entspricht exakt demjenigen des Bilderstreites. Der Priester sieht spirituell den himmlischen Kult; die eucharistische Liturgie ist Bild und zugleich Antizipation der himmlischen, so dass die Einheit von Menschen und Engeln etabliert ist. Germanos versteht die von der Erbsünde verursachte Trennung durch die Inkarnation und Himmelfahrt Christi als außer Kraft gesetzt.24 Ein Reflex dieser Perspektive mag auch noch die liturgische Rolle bestimmen, wenn die Engel als Partizipierende wiedergegeben sind. Die Apsis wird bei diesem Autor zur Geburtsgrotte, liturgische Gegenstände zu Passionsinstrumenten. Eine kohärente Deutung wird bei ihm noch nicht erzielt. Hingegen ist die konsequente symbolische und allegorische Ausdeutung, die wir in der schon mehrfach erwähnten ‚Protheoria‘ am Ende des 11. und zu Beginn des 12. Jahrhunderts verifizieren können, für die Rezeption von Liturgie und Bild von hoher Relevanz.25 Schon Theodor von Mopsuestia hat das sichtbare Ritual primär als Reflex einer unsichtbaren, himmlischen Liturgie verstanden. Bezie23

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Schulz, Liturgie (wie Anm. 8), S. 118–130, und Bornert, Commentaires (wie Anm. 22), S. 125–180; inzwischen liegt eine kritische Textedition vor: St. Germanos of Constantinople, On the Divine Liturgy. The Greek Text, hg. und übers. von Paul Meyendorff, Crestwood/N. Y. 1984 [ND 1999]. Die Ausführungen basieren zu großen Teilen auf der von Bornert, Commentaires (wie Anm. 22), S. 161–180, durchgeführten Analyse. Schulz, Liturgie (wie Anm. 8), S. 149–162, und Bornert, Commentaires (wie Anm. 22), S. 181–206. Bornert hat in seiner Untersuchung den grundlegenden Text Nikolaos von Andida zugeschrieben; Theodoros hingegen (möglicherweise sein Amtsnachfolger) soll eine redaktionelle Überarbeitung vorgenommen haben. Hinsichtlich der Erstfassung plädiert Bornert für eine Entstehungszeit nach 1054 und vor 1067. Theodoros könnte seine Fassung nach dem Tod des Bischofs von Phyteia (Anf. 12. Jh.) erstellt haben, der als Auftraggeber der ‚Protheoria‘ gilt. Jean Darrouzès, „Nicholas d’Andida et les Azymes“, in: Revue des études byzantines 32 (1974), S. 199–210, hat sich dagegen für eine Datierung des Textes in die Zeit von 1085–1095 ausgesprochen.

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hen wir diese Aussage auf die Bilder der Rolle, so wird ihre Funktion erkennbar, die in dem Versuch besteht, die Leerstelle des Unsichtbaren mit Bild zu besetzen. In der ‚Protheoria‘ hingegen ist ein stringentes Prinzip entwickelt, nach dem die gesamte Liturgie in ihrem Ablauf mit dem Leben Christi parallelisiert wird. Liturgie und Bild avancieren beide zum Abbild.26 So wird ein Teil des Bildrepertoires, das Kirchen in mittelbyzantinischer Zeit schmückt, erkennbar an die liturgische Handlung rückgebunden. Einzuschränken bleibt eine derartige Aussage insofern, als eine komplette Deckungsgleichheit weder avisiert, noch erzielt wird. Die für Byzanz typische Polyvalenz der Zeichen bleibt sowohl beim Kommentar erhalten, wie Schulz unterstrichen hat, wie auch die Flexibilität der Bildprogramme akzentuiert werden muss. In der ‚Protheoria‘ schlägt sich diese Polyvalenz in dem Umstand nieder, dass ein und dieselbe Handlung unterschiedliche Ereignisse aufrufen kann. Liturgie und Bild sind aber in einer Form aneinander gekoppelt, wie dies im Westen kaum der Fall ist, wobei zu akzentuieren ist, dass es sich grundsätzlich um einen gegenseitigen Austausch handelt. Bilder sind gleichsam auch ein Rezeptionsmedium für liturgisches Zeremoniell. Dieser Vorspann schien insofern notwendig, als die in der Monumentalkunst verifizierbaren direkten Reflexe auf liturgisches Zeremoniell stets von Bildern wie etwa der Verkündigung, Geburt oder Kreuzigung begleitet sind, die im Grundsatz ebenso auf die Bildhaftigkeit der liturgischen Handlung rekurrieren. Mit dem Wechsel in den Sakralraum sei kurz die räumliche Disposition vor Augen geführt: Der byzantinische Kirchenraum ist durch die klare Separierung des Naos, des Laienraums, von dem sich im Osten anschließenden Bema charakterisiert. Beide trennt das schon erwähnte Templon, beziehungsweise die Ikonostase. Diese Segregation der Räume ist für die Bildrezeption insofern von erheblicher Relevanz, als die Bilder des Altarraums sukzessive den Blicken der Laien entzogen werden. Der sich auf mehreren Ebenen vollziehende Prozess nimmt seinen Auftakt im 11. Jahrhundert. Zur Frage, 26

Bornert, Commentaires (wie Anm. 22), S. 204, akzentuiert mit einem Textzitat, dass bei der Repräsentation zwar ein Bild des Prototypus bereitgehalten wird („ressemblance dissemblable“), eine perfekte Identität beider allerdings nicht zustandekomme. Dies unterscheidet die Position von derjenigen des Patriarchen Germanos, der von einer Identität ausgeht.

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zu welchem Zeitpunkt die Schließung der Interkolumnien vollzogen worden ist, herrscht in der Forschung noch immer eine Kontroverse. Während einige Autoren diesen Prozess im 11. Jahrhundert ansetzen, argumentieren andere für eine weitaus spätere, sich erst ab dem 14. Jahrhundert abzeichnende Entwicklung. Einigkeit über diesen Punkt ist insofern nur schwer zu erzielen, als von beiden Autorengruppen partiell dieselben, nicht eindeutigen Quellenaussagen in Anspruch genommen werden. Zudem halten die Denkmäler der Templa selbst kaum archäologische Evidenz bereit, um die Frage zu lösen.27 Auch wenn die sicher27

Vgl. dazu die schon erwähnten Argumente in Anm. 19. Die beiden Positionen seien kurz skizziert: Manolis Chatzidakis, „Ikonostas“, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst. Bd. 3, Stuttgart 1978, S. 326–353, und ders., „L’évolution de l’icone aux 11e –13e siècles et la transformation du templon“, in: Actes du XV e Congrès international d’études byzantines (Athènes, 1976). Bd. 1, Athen 1979, S. 331–366, ist der Auffassung, dass schon im Laufe des 11. Jahrhunderts die Interkolumnien durch Bilder geschlossen wurden. Er räumt jedoch ein, dass es sich einerseits in diesem Zeitraum nicht um eine verbindliche Praxis handelte, und dass andererseits diese Bilder auch herausnehmbare Ikonen gewesen sein könnten, die zugleich als Prozessionsikonen fungierten. Für das 12./13. Jahrhundert kann er zudem auf Beispiele in Geraki verweisen, die seine Argumentation unterstreichen. Chatzidakis geht davon aus, dass an den Orten, an denen Ikonen „fehlten“, Vorhänge die Aufgabe der Schließung zu bestimmten Zeitpunkten der Liturgie wahrnahmen. Einen weiteren Beleg für diese These verdanken wir Gerstel, Mysteries (wie Anm. 9), S. 9, die auf ein Klosterinventar (Christou tou Panoiktirmonos) aufmerksam gemacht hat, in dem von einem Vorhang für das Templon die Rede ist. Chatzidakis prononciert seine These mit dem Hinweis auf die Inszenierung an der Ikonostase durch die in Quellen wiederholt genannte Beleuchtung mittels Öllampen und Kerzen. Ann Wharton Epstein, „The Middle Byzantine Sanctuary Barrier: Templon or Iconostasis?“, in: Journal of the British Archaeological Association 134 (1981), S. 1– 28, schließt sich den Überlegungen von Julian Walter, „The Origins of the Iconostasis“, in: Eastern Churches Review 3 (1971), S. 251–267, an. Während letzterer die Transformation im 14. Jahrhundert realisiert sieht, hat Epstein diese Position mit Blick auf Denkmäler inner- und außerhalb von Konstantinopel unterstreichen wollen. Den aus der ‚Protheoria‘ gewonnenen Hinweis hält sie für nicht gravierend, da einerseits nur eine monastische Praxis referiert werde und zudem nur von einer zeitlich beschränkten Schließung die Rede sei (S. 26). Am Ende ihrer Überlegungen muss auch sie freilich einräumen, dass die Frage letztlich wohl noch unbeantwortet bleiben muss. Die Konsequenzen für die Bildprogramme sind erheblich, da im Kern nicht nur die Frage der Sichtbarkeit des liturgischen Ritus betroffen ist, sondern auch jene der im Bema zur Anschauung gebrachten Bilder. Spätestens im 12. Jahrhundert scheinen die Bilder für einen internen, auf den Klerus bezogenen Rezeptionsraum zu sprechen (dieser Problematik werden wir noch einmal begegnen). Die Liturgiekommentare geben uns zudem klare Hinweise, dass

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lich nicht lineare, da von geographischen Eigenheiten und jeweiligen funktionalen Anforderungen bestimmte Entwicklung nicht geklärt ist, bleibt mit Gerstel zu fragen, ob nicht die Ausmalungsprogramme in Bema und Naos Indizien für einen einsetzenden Transformationsprozess bereithalten. Die folgenden Bemaprogramme sind zumindest partiell durch eine Thematik wie auch eine Bildrhetorik gekennzeichnet, die primär auf ein klerikales Publikum abzielen. Die Sophienkirche in Ohrid ist durch ein ebenso originäres wie wegweisendes Bildprogramm profiliert.28 Der rekonstruierte Bautypus stellt sich aufgrund der Längung seiner Eckräume als ein Sondertypus der Kreuzkuppelkirche dar. Die Abweichung resultiert aus der Übernahme der Fundamente einer Basilika ebenso wie aus einem wahrscheinlich zu konzedierenden Planwechsel, der mit der Berufung des

die fehlende Sichtbarkeit für die Laien schon am Ende des 11. Jahrhunderts reflektiert wurde. – Taft, „Decline“ (wie Anm. 19), S. 39 f. und 46, betont wiederholt, dass allen bisher bekannten Quellen nach für das späte 11. Jahrhundert zwar diese monastische Praxis zu belegen sei, dies aber für den Ritus der Großen Kirche keine Geltung habe. Er zitiert in diesem Zusammenhang den Chartophylax und Synkellos der Hagia Sophia Niketas aus der Mitte des 11. Jahrhunderts, der davon spricht, dass er Vorhänge an anderen Orten gesehen habe. Wenn Taft schließlich resümiert: „Even the Byzantine sanctuary curtain is a later monastic refinement that began about the same time as icons began to be inserted into the columns of the chancel“ [49], so bleibt diese Aussage insofern unbestimmt, als er sich für die Entwicklung der Abschrankung vornehmlich auf Epstein bezieht. Letztlich bleibt zu konstatieren, dass weitere Untersuchungen notwendig sind, um in dieser Frage größere Klarheit zu gewinnen. 28 Das Bildprogramm ist in der Forschung intensiv diskutiert worden, vgl. u. a. André Grabar, „Les peintures murales dans le choeur de Sainte-Sophie d’Ochrid“, in: Cahiers Archéologiques 15 (1965), S. 257–265; Ann Wharton Epstein, „The Political Content of the Paintings of Saint Sophia at Ohrid“, in: Jahrbuch der Österreichischen byzantinischen Gesellschaft 29 (1980), S. 315–329 (mit Abb.); Christopher Walter, Art and Ritual of the Byzantine Church, London 1982 (Birmingham Byzantine Series, 1), S. 178–221; Alexei M. Lidov, „Obraz ‚Hrista-Archiereja‘ v ikonografiˇceskoj programme Sofii Ohridskoj“, in: Zograf 17 (1986), S. 5–20 (die hier vertretenen Thesen sind nochmals in verkürzter Form präsentiert in ders., „L’image du Christ-prélat dans le programme iconographique de Sainte Sophie d’Ohride“, in: Arte cristiana 79 [1991], S. 245–250); ders., „Christ the Priest in Byzantine Church Decoration of the Eleventh and Twelfth Centuries“, in: Acts of the XVIII th International Congress of Byzantine Studies (Moscow, 1991). Bd. 3, Shepherdstown 1996, S. 158–169; ders., „Byzantine Church Decoration and the Great Schism of 1054“, in: Byzantion 68 (1998), S. 381–405; Gerstel, Mysteries (wie Anm. 9), S. 83 f.

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Erzbischofs Leo aus Konstantinopel im Jahre 1037 (bis 1056 im Amt) einherging.29 Der ungewöhnlich große Bemaraum dürfte dem Erzbischof für das ambitionierte Bildprogramm – eindeutig seiner Handschrift verdankt – sehr zupass gekommen sein. Die Apsiskonche beherrscht die auf einem lyraartigen Sitz thronende Gottesmutter mit dem Christuskind. Dieses hält sie auf einem Schild, ganz dem Typus der Nikopoia entsprechend.30 Abweichend von der tradierten Darstellung hat das Kind jedoch auf einer sternenüberzogenen Aureole, dem Regenbogen, Platz genommen. Überdies belegt seine Einkleidung mit dem über Schulter und Taille gelegten Band /orarion?) das Bild mit einer zusätzlichen Konnotation, da auf Christi Priesterschaft rekurriert wird. Wiewohl die Vorstellung von Christus als Priester durch eine lange literarische Tradition wie auch durch entsprechende Bilder, die den erwachsenen Christus zeigen, fundiert ist, fehlt für die Ohrider Lösung ein unmittelbares Vorbild.31 Eine Konkretisierung dieser Funktion von Christus leistet die erstmalig an dieser Stelle in einem byzantinischen Bildprogramm eingeführte „Apostelkommunion“ in der darunterliegenden Bildzone. Der ikonographische Terminus ist nur eingeschränkt adäquat: Christus steht unter einem Ziborium vor dem Altar; der Raum ist von einem anderen getrennt, indem zwei Türen mit Pfosten vorgelagert sind, die 29 30

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Zur Architektur der Sophienkirche in Ohrid vgl. Barbara Schellewald, Die Architektur der Sophienkirche in Ohrid, Bonn 1986. 1030 war die hochverehrte Ikone auf wunderbare Weise wiederentdeckt worden; sie war während des Bilderstreits auf ebenso unerklärliche Weise abhanden gekommen. Durch das Zitat der Ikone könnte der Erzbischof Leo den Triumph der siegreichen Kirche von Byzanz auf dem Balkan mit der legendären Schlacht von 1018 anschaulich gemacht haben. Zur Wiederentdeckung der Ikone in Konstantinopel s. Erich Trapp, „Eine wiedergefundene Ikone der Blachernenkirche. Zur Interpretation von Skylitzes 384“, in: Jahrbuch der Österreichischen byzantinischen Gesellschaft 35 (1985), S. 193–195. Epstein, „Political Content“ (wie Anm. 28), S. 318, hat diese Identifizierung vorgeschlagen. Das Band wird von Diakonen während der Messe getragen (Diakone vermitteln zwischen Priestern und Laien). Walter, Ritual (wie Anm. 28), S. 194, tituliert das Band behutsamer als „stole“, die diskret auf das Priestertum Christi hinweise. Lidov, „Image“ (wie Anm. 28), S. 245, hingegen hat wiederholt (und mit erheblichen daraus resultierenden Konsequenzen) das Band als syndon bezeichnet: Dieses wird allein beim Ritus der Weihe einer Kirche getragen. Der Rekurs auf eine späte Textstelle bei Symeon von Thessalonike erweist sich jedoch als nicht zwingend.

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Abbildung 2: Christus als Zelebrant (Ausschnitt), Ohrid, Sophienkirche, Apsis, Mitte 11. Jahrhundert. Aus: Anthony Cutler und Jean-Michel Spieser, Das mittelalterliche Byzanz: 725–1204, München 1996, Abb. 210.

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in ihrem Typus dem realen Möbel des Templons der Sophienkirche entsprechen.32 Gegenüber vergleichbaren Bildern wird so die Eigenständigkeit des Raumes akzentuiert. Christus teilt nicht, wie in der Apostelkommunion üblich, Brot und Wein an die von der Seite herannahenden Apostel aus.33 In ihrer Grundstruktur schließt die Darstellung an diejenige der Jerusalemer Rolle an. In Kontrast dazu hält Christus dem Betrachter jedoch das eucharistische Brot, die Prosphora, entgegen (Abb. 2).34 Wiewohl die Scheibe als intakt wiedergegeben ist, haften ihr Zeichen der Separierung an, die im Verborgenen vor Beginn der Liturgie stattgefunden hat. Dabei wird im Zentrum der als Lamm Gottes dienende Teil mit einem als Lanze bezeichneten Messer ausgelöst, es folgen weitere Partikel für Maria, Heilige und so fort. Die Mitte wird sodann mit „Christus siegt“ bezeichnet.35 Grundsätzlich intendiert das Bild (wie auf der liturgischen Rolle), das Abendmahl auf eine liturgische Ebene zu transponieren. Während die Rolle jedoch einen integralen Bestandteil von Handlung bildet, ist das Apsisbild gleichsam monumental als Spiegel von Handlung inszeniert. Die im Bild übereinandergeschalteten Ebenen von Vergangenheit (Einsetzung der Eucharistie im Abendmahl) und gegenwärtiger Praxis sind in Ohrid insofern zugespitzt, als bestimmte Momente des eucharistischen Ritus dem Bild implizit sind. Ein präziser Zeitpunkt hingegen erwächst erst durch die Anbindung dieses Bildes an jene der Bemaseitenwände, die gleichsam als Präludium der Apsis narrativ aufgeladen sind. 32 33

34

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Gerstel, Mysteries (wie Anm. 9), S. 51. Sie hat dies insbesondere für den von ihr thematisierten liturgischen Realismus in Anspruch genommen. Die Apostelkommunion fand sich ja ebenso auf der oben diskutierten Rolle. In der Monumentalmalerei kann für das 11. Jahrhundert auf die Apsis der Sophienkirche in Kiew hingewiesen werden. Grabar, „Peintures murales“ (wie Anm. 28), S. 259. Lidov, „Great Schism“ (wie Anm. 28), S. 395, hat mit Hinweis auf seine früheren Aufsätze nochmals argumentiert, das Bild zeige keine Prosphora, sondern eine Patene mit dem Lamm im Zentrum. Dem widerspricht eindeutig die Aufteilung des Brotes, wie sie im Bild verifiziert werden kann. Schulz, Liturgie (wie Anm. 8), S. 162, zitiert einen Passus des Patriarchen Nikolaos Grammatikos (1084–1111), in dem dieser den Akt präzisiert. Begleitet wird er durch den Wortlaut: „Es wird geopfert das Lamm Gottes, der Sohn des Vaters, der hinwegnimmt die Sünden der Welt.“ Eingezeichnet ist allerdings in Ohrid nur der zentrale Partikel.

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Die Südwand bildet mit Szenen des Alten Testaments den Auftakt: Sie zeigt die Philoxenie Abrahams sowie das Isaak-Opfer. An der Nordwand wird dies durch die drei Männer im Feuerofen und den Traum Jakobs von der Himmelsleiter ergänzt. Lassen sich die Szenen in unterschiedlicher Weise typologisch auf die Eucharistie beziehungsweise das Thema der Trinität beziehen, so ist dennoch ihre spezifische Narration in Hinblick auf ihre argumentative Einbettung in das Bemaprogramm signifikant.36 Der Rekurs auf das Alte Testament verdankt sich wohl auch dem Entstehungszeitpunkt. Erzbischof Leo war direkt in die folgenreiche Auseinandersetzung um das eucharistische Brot zwischen der Ost- und Westkirche involviert, die 1054 in das sogenannte Schisma zwischen beiden Kirchen mündete. Das Programm der Seitenwände kulminiert in einem Bild, das aufgrund seiner Singularität zu etlichen Identifikationsbemühungen herausgefordert hat. Erst Grozdanov ist eine schlüssige Deutung gelungen.37 Der Protagonist, Johannes Chrysostomos, ist hier auf einer Schlafstatt vor einer Architekturkulisse im linken Bildteil angeordnet. An seiner Seite erscheint eine weibliche Personifikation der Göttlichen Sophia, die ihm eine Schriftrolle in den Mund legt. Dem inspiratorischen Gestus wird zudem durch die von der Sophia auf Chrysostomos ausgerichteten Strahlen Evidenz verschafft. Auf der linken Seite tritt, angeführt von Paulus, eine Gruppe von Aposteln heran. In etlichen Exemplaren überliefert ist eine Legenden folgende Bildversion, in welcher der „Goldmund“ Chrysostomos von Paulus selbst inspiriert wird. Da36

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Auf die spezifischen Eigenheiten dieser Bilder kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Barbara Schellewald, „Johannes Chrysostomos und die Rhetorik der Bilder im Bema der Sophienkirche in Ohrid“, in: Chrysostomosbilder in 1600 Jahren. Facetten der Wirkungsgeschichte eines Kirchenvaters, hg. v. Martin Wallraff und Rudolf Brändle, Berlin und New York 2008 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 105), S. 169–192. Einige Autoren sprachen von einer Vision des Chrysostomos, so etwa Richard Hamann-MacLean und Horst Hallensleben, Die Monumentalmalerei in Serbien und Makedonien vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert, Giessen 1964 (Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas. Reihe II, 3), Erläuterung zu Plan 3; Grabar, „Les peintures murales“ (wie Anm. 28), S. 262–264, hat den kappadokischen Kirchenvater Basileios erkennen wollen, der den Text des anaphora-Gebets erhält; s. a. Cvetan Grozdanov, „Slika javljanja premudrosti Sv. Jovanu Zlatoustom u Sv. Sofiji Ohridskoj“, in: Zbornik radova vizantološkog instituta 19 (1980), S. 147–155 (mit einer Umzeichnung der Szene).

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bei sitzt er, ist zumeist im Akt des Schreibens begriffen und Paulus tritt von hinten an ihn heran.38 Die Tatsache, daß die Inspiration nicht über Paulus, sondern über Sophia erfolgt, trägt der Chrysostomos zugeschriebenen Qualität als Quell der Weisheit in besonderem Maße Rechnung.39 Die Personifikation ist überdies zugleich als die zweite Hypostase der Trinität zu verstehen, d. h. als Christus. Der Abweichung vom gängigen Bildschema ist eine inhaltliche Verlagerung inhärent. Wird in den Bildern mit Paulus eindeutig auf die Abfassung der Pauluskommentare abgezielt, so ist die Beziehung zu dem Apostel in Ohrid nur noch peripherer Natur. Der liturgische Kontext nimmt indes auf eine andere Autorschaft Bezug: Wie auf der Jerusalemer Rolle wird der vermeintliche Autor eines Liturgieformulars in der Sophienkirche als Empfänger desselben von Christus ausgezeichnet.40 Es mag kein Zufall sein, dass Sophia ihm eine Rolle in den Mund legt, denn eine ebensolche wird auch im folgenden Bild der Nordwand explizit im Zuge liturgischer Praxis visualisiert. Möglicherweise ist diese Szene auch darauf ausgerichtet, dem ersten Bild eine implizite Ebene subtil zu unterlegen. Einer geschickten Bildregie verdankt, zeigen die Szenen des Alten Testaments die Ankündigung von Opfern, nicht jedoch einen Vollzug. Einer konkreten liturgischen Handlung begegnen wir in der Szene mit dem kappadokischen Kirchenvater Basileios (Abb. 3). Er steht vor einem Altar, assistiert von zwei Diakonen mit Rhipidia, in seinem Rücken sind weitere Geistliche zu erkennen. Am Rand, in einem separaten Raumabschnitt, sind Laien dem Ereignis beigesellt.41 Karin Krause, Die illustrierten Homilien des Johannes Chrysostomos in Byzanz, Wiesbaden 2004, S. 185–198; dies., „Göttliches Wort aus goldenem Mund. Die Inspiration des Johannes Chrysostomos in Bildern und Texten“, in: Chrysostomosbilder (wie Anm. 36), S. 139–167, hat darüber hinaus in einem Vortrag der im Januar 2007 in Basel abgehaltenen Chrysostomos-Tagung eine Reihe von bislang unbekannten Darstellungen präsentiert. Das dort zu verifizierende Profil des „Goldmundes“ zielt darauf ab, seine besonderen Kompetenzen herauszustreichen. Eine Ohrid vergleichbare Darstellung ist auch ihr nicht begegnet. 39 Grozdanov, „Slika“ (wie Anm. 37), hat zu Recht betont, dass die Sophia natürlich auch in einem Bezug zum Patronat des Ohrider Erzbischofssitzes steht. 40 Der Bezug zum Liturgieformular, jedoch unter anderen Prämissen, wurde schon hergestellt von Lidov, „Image“ (wie Anm. 28), S. 248. 41 Epstein, „Political content“ (wie Anm. 28), S. 319; sie ging allerdings noch davon 38

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Abbildung 3: Basileios-Liturgie, Ohrid, Sophienkirche, Bemanordwand. Archiv Horst Hallensleben.

Der in dieser Szene agierende Diakon korrespondiert mit demjenigen, der im ersten Bildregister als den realen liturgischen Ablauf begleitend gemalt ist. Der im Bild konkretisierte Augenblick ist der des Proskomidie-Gebets, dessen erste Worte der von Basileios gehaltenen liturgischen Rolle eingeschrieben sind. Die Haltung reflektiert eine reale Situation.42 Demonstrativ sind auf dem Altar die eucharistischen Gaben präsentiert. In der Vita des Protagonisten wird das Ereignis fortgesetzt,

42

aus, dass in der vorhergehenden Szene auch Basileios dargestellt sei. Durch keinerlei im Bild verankerte Indizien untermauert ist die Behauptung von Lidov, „Image“ (wie Anm. 28), S. 247 f., auch hier sei auf den singulären Weiheritus angespielt. Der Autor hat diese These aus der Identifizierung des Bandes hergeleitet, mit dem das Christuskind in der Apsis bekleidet ist (vgl. Anm. 28), und den Versuch unternommen, alle Bilder in dieses System zu zwingen. Es wäre jedoch uneffizient, wäre auch in Hinblick auf die politische Dimension des Programmes eine derartige Fokussierung vorgenommen worden. Walter, Ritual (wie Anm. 28), S. 203, hat betont, dass hier in der Monumentalmalerei erstmalig eine liturgische Rolle beim Einsatz verbildlicht ist.

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indem er das Brot erhebt und laut betet. Eine Visualisierung dieses Passus unterbleibt. Der in diesen beiden letzten Bildern der Nordwand entwickelte Spannungsbogen findet seinen eigentlichen Zielpunkt im Bild der Apsis. Dies scheint von einer geradezu überraschenden Konsequenz: Die Broterhebung wird Christus angetragen.43 Diese Kompetenzzuweisung an Christus ist eindeutig historisch legitimiert. Wie schon erwähnt, konzentriert sich der zeitgenössische Disput zwischen der Ost- und der Westkirche auf die Frage nach dem gesäuerten oder ungesäuerten Brot.44 Die aus dem Alten Testament herrührende Argumentationslinie passt sich gut in diesen Fokus ein. Damit wird in den Bildern ein Zeithorizont etabliert, der in der Diskussion präsent ist. Das den Bildern subtil unterstellte Opferthema mündet in eine auf den vollzogenen Opfertod Christi rekurrierende Liturgiepraxis, die autoritativ hergeleitet ist. Ankündigung und Realisierung halten sich dabei die Waage; ostkirchliche Autoritäten wie Chrysostomos und Basileios werden aufgerufen. Beide führen im untersten Register in der Apsis die Reihe der Bischöfe an, was ihrer Relevanz als Liturgen Ausdruck verleiht.45 Wird 43

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45

Gerstel, Mysteries (wie Anm. 9), S. 83 f., hat sich gegen eine präzise zeitliche Bestimmung des liturgischen Ablaufs im Apsisbild ausgesprochen und dem politischen Gehalt den Vorzug gegeben. Wenn ich ihr auch im Grundsatz zustimmen kann, bleibt doch zu berücksichtigen, dass bei der von den Seitenwänden ausgehenden Lesung eine derartige Präzisierung naheliegt. Anders verhält es sich bei der Darstellung der Prosphora, bei der das Amnos noch nicht herausgetrennt ist. Dies scheint in der Tat eher der Intention geschuldet, dem Betrachter das Objekt in Gänze zu offerieren. Darüber hinaus würde ich – und dies ganz in Übereinstimmung mit Gerstels Überlegungen – von divergenten Rezeptionsebenen ausgehen: Das Apsisbild ist im Naos gut sichtbar, die Bilder der Seitenwände hingegen nur eingeschränkt. Als Ergebnis ist das Kernbild für alle Gruppen, die differenzierte historische Legitimation jedoch nur für Eingeweihte visuell transferiert. Lidov, „Great schism“ (wie Anm. 28), S. 383–395, sieht, wie schon zuvor andere Autoren, eben diesen Zusammenhang. Er konstruiert jedoch einen größeren Kontext, indem er im Diakonikon in der Sophienkirche eine nur sehr fragmentarisch erhaltene Figur als „Christus als Priester“ identifiziert. Das Bild wird in keiner seiner Publikationen abgebildet; an einer Stelle merkt er lediglich an, dass ein Kreuznimbus, die Basis für eine zweifelsfreie Zuordnung, fast nicht sichtbar sei. Soweit ich das Bild kenne, ist sein Erhaltungszustand zu schlecht, um daraus weitere Thesen zu gewinnen. Ich habe mich an anderer Stelle intensiv mit Lidovs Thesen auseinandergesetzt, vgl. Schellewald, „Chrysostomos“ (wie Anm. 36). Im Gegensatz zu den späteren Beispielen (s. u.) sind sie an dieser Stelle jedoch noch nicht als Konliturgen profiliert.

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der als Autor der Liturgie titulierte Chrysostomos vermittelt mit göttlicher Weisheit bedacht, so bleibt der letzte Schritt autoritativer Handlung dem vorbehalten, mit dem die neue Zeit des gesäuerten Brotes angebrochen ist: Christus selbst.46 In diesem Kontext schwingt zudem die Idee der ‚Protheoria‘ von Christus als einzigem Erzpriester mit, der die Einheit zwischen himmlischer und irdischer Liturgie realisiert.47 Walter hat auf den Tatbestand hingewiesen, dass die drei Hierarchen (neben Basileios und Chrysostomos auch Gregor von Nazianz) im 11. Jahrhundert besondere Wertschätzung erfuhren.48 Gepriesen wurde ihre Eloquenz, die von der Erde zu den ‚höheren Dingen‘ – vom Sichtbaren zum Unsichtbaren – führt; eine Kompetenz, die nach byzantinischer Auffassung Bildern gleichermaßen zu Eigen ist. Johannes Chrysostomos kam innerhalb dieser Dreiergruppe der bedeutendste Platz zu. Wenngleich in Ohrid das Bemaprogramm darauf fokussiert, die Autorisierung der orthodoxen Liturgie visuell zu dokumentieren, sind die transferierten Inhalte auch jenseits dieser Debatte sinnfällig. Den Zelebranten am Altar wird durch Bilder eine zeitlose und mit jedem Akt gleichsam erneut unterstrichene Selbstvergewisserung offeriert. Die sorgsam austarierte Rhetorik vertraut auf einen Rezipientenkreis, der die Bilder zur eigenen Positionsbestimmung innerhalb eines komplexen, historischen Systems nutzen kann. Der autoritative Gestus betrifft nicht allein den ambitionierten Auftraggeber, sondern die Gruppe insgesamt – die Nachfolger eingeschlossen. Das Programm zeigt die Handschrift eines Autors, der sich als Liturge am Ort performativ in dieses orthodox markierte System einschreibt. Der daraus erzielte Gewinn im Sinne selbstinszenatorischer 46

47 48

In den zwischen den gegnerischen Parteien ausgetauschten Schriften wird eine Reihe von Themen angesprochen, die bezüglich der Programmatik der Bilder erhellend sind. Das gesäuerte Brot gilt den Byzantinern als das angemessene Brot des Neuen Bundes: Die jüdische Tradition sei von Christus selbst außer Kraft gesetzt worden, nur in Rom halte man an dieser fest. Der Patriarch Michael Kerrularios polemisiert, dass man in Rom nicht einmal die großen und heiligen Väter kenne, namentlich Gregor den Theologen, Basileios den Großen und den göttlichen Chrysostomos; vgl. hierzu Mahlon H. Smith, And Taking Bread. . . Cerularius and the Azyme Controversy of 1054, Paris 1978 (Théologie historique, 47). Bornert, Commentaires (wie Anm. 22), S. 206. Walter, Ritual (wie Anm. 28), S. 111–115; ders., „Biographical Scenes of the Three Hierarchs“, in: Revue des études byzantines 36 (1978), S. 234–260 (dieser Aufsatz datiert allerdings vor der inzwischen gültigen Benennung der Chrysostomos-Szene).

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Behauptung ist erheblich, die Symbiose zwischen Bild und Performanz vollzogen. Jenseits der Ikonostase jedoch vermittelt sich an eine divergente Betrachtergruppe ein Bild davon, dass man all jenes, von dem man ausgeschlossen ist, unmittelbar in die Nachfolge Christi stellen kann. Damit hat das Programm aber noch nicht seinen Abschluss gefunden. Ein die Seitenwände schmückendes Register mit proskynierenden Engeln ist willkommene Ergänzung, da es auf eine himmlische Praxis, die himmlische Liturgie Bezug nimmt. Die irdische Liturgie ist Spiegel in einem Zeithorizont, der durch das Gewölbebild expliziert wird: Christus fährt gen Himmel und kündet, wie in der Apostelgeschichte berichtet, seinen Secundus Adventus an, mit dem sich die Zeit erfüllt. Eine durchaus bezeichnende Integration von David in die Himmelfahrt bezieht sich wohl auf Psalm 46,6, in dem es heißt: „Gott fährt auf mit Jauchzen [. . . ]“. Wenn zudem in der ‚Historia Ecclesiastica‘ formuliert wird, dass die Einheit zwischen dem Kult der Engel und demjenigen der Menschen durch die Inkarnation (Apsisbild) und die Himmelfahrt wiederhergestellt worden sei, so bleibt uns nur der Nachtrag, dass der soteriologische Gedanke der Inkarnation in Ohrid konsequent liturgisch markiert wird.49 Die Argumentation ist geschickt über mehrere Ebenen geführt. Allein das Ergebnis wird denjenigen zugänglich, die im Naos ihren Platz hatten. Auch wenn das Templon in Ohrid noch niedrig angelegt, die Interkolumnien vielleicht nur temporär oder gar nie geschlossen wurden, so sind die Seitenwände in ihrer Ausdehnung kaum einsehbar. Das Programm ist somit in seiner Komplexität eigens nur für diejenigen angelegt, die über eine entsprechende Text- und Bildkompetenz verfügten. Die Tendenz zu einer rezipientenorientierten Programmatik, oder anders gesagt: eine zunehmend zwei Klassen generierende Entwicklung, vollzieht sich im Laufe des 12. Jahrhunderts.50 Trotz der ersten Ansätze im 11. Jahrhundert sind es Bauten wie die Panteleimonkirche in Nerezi und die Georgskirche in Kurbinovo, beide in Makedonien gelegen, die eindrucksvoll diesen Sachverhalt belegen.51 Nerezi ist auf 1164, Kurbinovo auf 1191 datiert. 49 50 51

Zur ‚Historia Ecclesiastica‘ vgl. Bornert, „Commentaires“ (wie Anm. 22), S. 177. Zentral hierzu sind die Ausführungen von Gerstel, Mysteries (wie Anm. 9), S. 15– 47. Zu Nerezi grundlegend: Ida Šinkevi´c, The Church of St. Panteleimon at Nerezi: Architecture, Programme, Patronage, Wiesbaden 2000 (mit umfangreichen Abb.); zu

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In Ohrid sind die Bischöfe frontal mit einem Codex in der Hand auf den Betrachter ausgerichtet. In Nerezi hingegen wenden sie sich alle in Dreiviertelansicht einem Zentrum hinter dem Altar zu, in ihren Händen halten sie liturgische Rollen. Diese tragen Gebete, die während des eucharistischen Vollzugs gesprochen werden.52 So entsteht ein Kommunikationsraum zwischen Bild und Akteuren, der auf einen ihnen gemeinsamen Text gründet – Liturgie ist auf aktuelle Handlung angelegt, im Bild gespiegelt gewinnt sie jedoch eine überzeitliche Präsenz. Die gemalten Bischöfe bewegen sich auf die in der Mitte der Apsis visualisierte Hetoimasia, den vorbereiteten Thron für das Ende aller Tage zu. Damit wird der Zielpunkt jeglicher Handlung, die Endzeit, vor Augen geführt. Das Perpetuieren liturgischer Handlung ist somit vorzüglich ins Bild gesetzt. Der vor dem Altar stehende Priester bringt wie die gemalten Konliturgen der Trinität das Opfer dar. Kreuz- und Angelpunkt ist das zentrale Bild, in dem sich reale und visuell fingierte Handlung schneiden und alle Zeitebenen konvergieren. Da den Gläubigen der Blick im Vollzug des liturgischen Geschehens gerade auf diese Bildzone verstellt ist, der Klerus sich gleichsam auf seine eigene Selbstvergewisserung zurückzieht, wird die Frage nach potentiellen Kompensationsformen im Naos unumgänglich. Wenige Jahre später wird in der Georgskirche in Kurbinovo allerdings der sakramentale Realismus deutlicher präpariert, indem anstelle der Hetoimasia ein Christuskörper auf einem gemalten Altar mit Decke positioniert ist (Abb. 4). Hinter diesem werden die Patene und der schon erwähnte Asteriskos sichtbar. Das Opferbrot ruht in der Mitte der Patene. Über die Mitte von Christus ist ein liturgisches Tuch gebreitet. Der Hiatus zwischen dem Brot der Eucharistie und dem Christusleib wird visuell geschlossen. Das Bild antizipiert damit gleichsam das Geschehen, das durch das Wandlungsgebet initiiert ist, das Brot wird zum

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Bildprogrammatik und Liturgie in Hinblick auf Bild-Text-Relationen s. Barbara Schellewald, „Und es ward Bild . . . Zum Verhältnis von Bild und Text in byzantinischen Sakralräumen“, in: Mittelalterliche Weltdeutung in Text und Bild, hg. v. Susanne Ehrich und Julia Ricker, Weimar 2008, S. 47–76. Zu Kurbinovo allgemein s. Lydia Hadermann-Misguich, Kurbinovo. Les fresques de Saint Georges et la peinture byzantine du XII e siècle, Brüssel 1975. Zu den Texten der Rollen s. Giordana Babi´c, „Les discussions christologiques et le décor des églises byzantines au XIIe siècle. Les éveques officiant devant l’Hétimasie et devant l’Amnos“, in: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968), S. 368–386.

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Abbildung 4: Zelebrierende Bischöfe, Christus auf dem Altar, Kurbinovo, Georgskirche, Apsis, 1191. Aus: Anthony Cutler und Jean-Michel Spieser, Das mittelalterliche Byzanz: 725–1204, München 1996, Abb. 220.

Leib Christi. Dass der als Melismos bezeichnete Typus des Christusbildes eine unvergleichliche Karriere in Byzanz vor sich haben wird, sei angemerkt. Als Melismos wird im Übrigen das Ritual bezeichnet, in dem das geweihte Brot für die Kommunion in Stücke gebrochen wird. Erst 1271 ist diese Bezeichnung jedoch auf einer Wandmalerei in Manastir belegt.53 Den vorgeführten Bildern liegt offenkundig eine theologische Debatte zugrunde, die nach der Mitte des 12. Jahrhunderts ihren ersten 53

Vgl. Gerstel, Mysteries (wie Anm. 9), S. 97 f.

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Höhepunkt erreichte. Zentral war die Frage nach dem Mysterium der Eucharistie, die 1156 erstmalig auf einem Konzil heftig debattiert worden ist:54 Wie ist es möglich, das eucharistische Opfer dem Sohn so darzubringen wie dem Vater und dem Heiligen Geist, beziehungsweise noch präziser: Wie kann Christus das Opfer annehmen und zugleich geopfert werden? Auch die Formel eines Gebets, des ‚Cherubikons‘55 , wurde zur Disposition gestellt. Am 2. März 1166 kam es unter der Obhut des byzantinischen Kaisers zu einer erneuten Festlegung: Aufgrund der beiden unverbundenen Naturen Christi, des inkarnierten Logos, könne dieser zugleich geopfert werden, wie auch ihm im Kontext der Trinität das Opfer dargebracht. Der Auftraggeber der Panteleimonkirche in Nerezi, Alexios Komnenos, hat diesen Disput verfolgt und offenkundig mit der Programmatik der Ausmalung Position bezogen.56 In einer ekphrasis über die Mosaiken der Apostelkirche in Konstantinopel reagiert der Autor Nikolaos Mesarites um 1200 mit einer drastischen Beschreibung von Christus bei der Apostelkommunion auf diese Diskussion. Er behauptet, Christus ergieße sein Blut in den Kelch, den er mit seinen Händen vor sich hält.57 Das Bild oder die Bilder sind somit äußerst ambivalent: Einerseits sind sie durch Leerstellen gekennzeichnet, die erst die Realität zu füllen vermag; andererseits zeigen sie den Christuskörper, der nur mental, in der Vorstellung, als substantielle Glaubenswahrheit existiert. Dass das gewandelte Brot zum wahren Leib des Herrn wird, kann allein das Bild in eine Anschaulichkeit überführen. Im Westen dürfte dieses Phänomen durch die Gregorsmesse, die Vision Gregors des Großen, hinläng-

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Babi´c, „Discussions“ (wie Anm. 52). Dies bezeichnet einen Hymnos, ein Troparion, das die Übertragung der Opfergaben beim Grossen Einzug begleitet. Šinkevi´c, Nerezi (wie Anm. 51), S. 30–39 und 73–75; Schellewald, „Bild“ (wie Anm. 51). Siehe die englische Übersetzung der Passage bei Glanville Downey (Hg.), „Nikolaos Mesarites: Description of the Church of the Holy Apostles at Constantinople. Greek Text Edited with Translation, Commentary and Introduction“, in: Transactions of the American Philosophical Society 47 (1957), S. 854–924 [871]: „Christ Himself, the sacrificer and the sacrifice, stands at the table as though at an altar [. . . ] And He slays Himself in unseen fashion, Himself sacrificing Himself and not waiting for the hands of the crucifiers. He sheds His blood into the cup which He holds in front of Himself with his hands.“

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lich bekannt sein. Für das 12. Jahrhundert dürfen wir dort jedoch noch eine Leerstelle notieren. Für einen sakramentalen Realismus steht jedoch auch ein ganz anderes Bild, dem ich geradezu diese kompensatorische Rolle für den Laien zuschreiben möchte. Gerade für die Feierlichkeiten am Karfreitag konnten spezifische liturgische Texte in einzelnen Klöstern ausgemacht werden, die Pallas und in seiner Nachfolge Belting als Grundlage der Imago Pietatis angesehen haben.58 Die bilateralen Ikonen zeigen auf der einen Seite die Imago Pietatis, auf der anderen eine Hodegetria59 , deren Gesicht schmerzverzerrt ist. Die Ikone kennzeichnet eine spezifische Rhetorik der Anamnese wie auch der Prolepsis. Ikonen dieser Art ersetzen nicht nur Gruppenikonen, welche, wie Belting argumentiert, die Inhalte rein narrativ übermitteln. Sie verdeutlichen vielmehr zum Zeitpunkt der deutlich stärkeren Segregation der Räume, wie analoge Inhalte anders temperiert werden können.60 Die Teilnahme an der eucharistischen Kommunion nimmt schon ab dem 4. Jahrhundert für Laien ab.61 Der Kontakt zum Heiligen wird über visuelle Partizipation an der Liturgie oder über Ikonen hergestellt. Die Kontrolle über die Rezeption der Bilder vollzieht sich auch über die Liturgie. Verfolgen wir die im 11. Jahrhundert ausgehende Entwicklung, die offenkundig im 12. und sodann im 13. Jahrhundert mit der Adaption monastischer liturgischer Praxis auch in der Hagia Sophia einhergeht, so nimmt die Gemeinde letztlich nur beim Kleinen und Großen Einzug direkt teil. Sie ist zunehmend auf ihr Gehör, ihren Geruchssinn und auf die Formen von Visualität angewiesen, die ihnen an der Ikonostase oder in ihrem Gemeinderaum offeriert sind.

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D¯em¯etrios Ioannou Pallas, Die Passion und Bestattung Christi in Byzanz: der Ritus – das Bild, München 1965 (Miscellania Byzantina Monacensia, 2); Hans Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter: Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, S. 142–198. Die Hodegetria ist eine der prominentesten Marienikonen in Byzanz: Maria trägt hier das Christuskind auf ihrem linken Arm. Natürlich leisten auch die Bildprogramme im Naos eben diese Aufgabe der Kompensation. Für Nerezi etwa kann man diese Funktion eindeutig belegen, vgl. Schellewald, „Bild“ (wie Anm. 51). Taft, „Decline“ (wie Anm. 19), hat diesen Prozess jüngst dezidiert nachgezeichnet.

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Die ‚Befreiung des Bösen‘ in ritueller Wiederholung: Zur Symbolik tibetischer Maskentänze (’cham) Jens Schlieter (Bern) Zur Fragestellung Rituelle Maskentänze hatten in der vormodernen Zeit in den Ländern des Himalaya-Raumes und Zentralasiens ihren festen Platz im Festtagskalender. Auch heute noch werden sie in vielen Klöstern aufgeführt. Im Folgenden sollen anhand von tibetischen ’cham-Tänzen die verschiedenen Bedeutungsebenen ritueller Maskentänze vorgestellt werden, die in der Ethnologie, Anthropologie und Religionswissenschaft zur Deutung solcher Tänze und Feste entwickelt worden sind. Genauer werden Deutungsperspektiven für ein zentrales Moment der Tänze diskutiert, die rituelle Tötung bzw. ‚Befreiung‘ eines in Form einer anthropomorphen Teigpuppe vorliegenden Opfersubstituts. Inwiefern handelt es sich aber dabei um ein Ereignis, das sich dem Mittelalter zuordnen ließe? Nimmt man den Begriff des Mittelalters als Epochenbegriff, d. h. als eine Ordnungskategorie, die sich nicht nur in der Angabe eines Zeitraumes erschöpft, sondern ein im europäischen Geschichtsverständnis wurzelndes Konzept, das einen Bezug der Neuzeit auf eine als überwunden geltende Prämoderne herstellt, so ist zu fragen, ob diese Kategorie auch auf Geschichtsepochen der tibetischbuddhistisch geprägten Kulturen Zentralasiens sinnvoll angewendet werden kann. Wie Kollmar-Paulenz dargelegt hat, lässt sich der in Europa epochenbildende Einschnitt der ‚Aufklärung‘ als isoliertes Kriterium (Aufgeklärtheit) in der Tat nur mit unbefriedigendem Ergebnis auf das buddhistisch geprägte Zentralasien übertragen.1 1

Vgl. Karénina Kollmar-Paulenz, „Die Wirklichkeit der Imagination: Zur Religionsgeschichte des Teufel- und Dämonenglaubens in Tibet und der Mongolei“, in: Engel, Teufel und Dämonen. Einblicke in die Geisterwelt des Mittelalters, hg. v. Hubert Herkommer und Rainer C. Schwinges, Basel 2006, S. 53–71 [54 f.]: „Der Begriff des ‚Mittelalters‘, einer ‚barbarischen‘ Zwischenzeit zwischen der Antike und der

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So haben beispielsweise Denker der tibetisch-buddhistischen Tradition schon vor dem 7. Jahrhundert – im Strom der indisch buddhistischen Philosophie – Gottheiten, Dämonen usw. als bloße Projektionen des eigenen Geistes aufgefasst und damit einen ‚rationalen‘ Diskurs über religiöse Vorstellungen gepflegt, der den Auffassungen europäischer Aufklärer partiell durchaus nahe kommt. Neben diesem philosophischen Diskurs konnte aber ein ‚autochthoner‘ Diskurs weiterbestehen, dessen Lebenswirklichkeit bis heute durch den Glauben an ‚reale‘ Dämonen und Geister geprägt ist. Dabei gab es durchaus auch Überschneidungen beider Diskurse, etwa in Form von Versuchen, den autochthonen Diskurs erkenntnistheoretisch aufzuheben und dessen Inhalte allegorisch einzugliedern. Diese für den tibetischen Buddhismus generell charakteristische Diskurstopologie wird auch an den verschiedenen Bedeutungsebenen des rituellen Maskentanzes deutlich werden. Da beide Diskurse je für sich geführt werden, aber auch ineinander verschränkt sind, ohne dass der eine den anderen verdrängte – wobei genau dies manchen wohl als das wesentliche Merkmal vormoderner Zeiten gelten mag –, ergibt sich die Sachlage, dass eine radikale Zäsur zwischen einem in religiösen Glaubenspraktiken versunkenen ‚Mittelalter‘ und einer aufgeklärten ‚Neuzeit‘ oder gar ‚Moderne‘ als epochale Unterscheidung kaum anwendbar ist. Die Problematik der Anwendung des Mittelalter-Begriffs auf Tibet ist auch deshalb erwähnenswert, da Tibet vor der chinesischen Invasion in der Mitte des 20. Jahrhunderts oft als mittelalterlich charakterisiert worden ist. Dies mag in mancherlei Hinsichten zutreffend sein, z. B. in Bezug auf die Verkehrsmittel im damaligen Tibet. Doch ist mit diesem Topos eines ‚mittelalterlichen Tibets im 20. Jahrhundert‘ nicht selten eine unterschwellige Rechtfertigung der chinesischen Invasion und der einhergehenden erzwungenen Modernisierung verbunden worden; ein zusätzlicher Grund, die Renaissance, das erste Mal von Humanisten wie Petrarca geprägt und im 19. Jahrhundert endgültig zu einem der grossen Periodenbegriffe avancierend, besitzt auch heute noch pejorative Bedeutung und weckt Assoziationen zu einem ‚finsteren Zeitalter‘, das durch die Konstanten endloser Kriege, entsetzlicher Seuchen, katastrophaler hygienischer Verhältnisse und eben tiefer Dämonen- und Teufelsfurcht geprägt war“. Tatsächlich ist es nicht möglich, „für Tibet und die Mongolei eine dem europäischen Mittelalter analoge Epoche, die von denselben Sinnkriterien bestimmt wird, zu konstruieren“.

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‚Mittelalter‘-Epochalisierung in Bezug auf Tibet möglichst vorsichtig zu verwenden. Um die Beschreibung des zentralen hier interessierenden Ritus, nämlich der besagten Erdolchung der Teigpuppe, vorzubereiten, soll zunächst eine allgemeine Beschreibung der tibetischen Maskentänze gegeben werden. Im Anschluss an die Darstellung des Ritus selbst werden autochthone Deutungsperspektiven vorgestellt, Deutungen also, die Vertreter tibetisch-buddhistischer Tradition für das dargestellte Geschehen entfaltet haben. Den Abschluss bildet der Versuch, verschiedene religionswissenschaftliche und ethnologische Theorien, die in anderen Kontexten entwickelt worden sind, auf diesen Ritus tibetischer Maskentänze anzuwenden.

Zur allgemeinen Beschreibung der ’cham-Tänze Unter dem tibetischen Oberbegriff ’cham (verbal: „tanzen“; ’cham-po „Tänzer“, gar-’cham(s) „Tanz“)2 werden religiöse Maskentänze verstanden, die seit etwa eintausend Jahren im tibetisch-buddhistisch geprägten Raum (von Sikkim über Bhutan bis zur Mongolei) durch- und aufgeführt werden. Entstanden sind die Tänze in der rNying-ma-pa-Schule, die den aus Indien stammenden tantrisch-yogischen Kult um den Ritualdolch (skt. k¯ıla, tib. phur-bu) und bestimmte Gottheiten aufgenommen und weiterentwickelt hat. In den verschiedenen buddhistischen Schultraditionen haben sich unter Einfluss lokaler Traditionen in Tibet zahlreiche Formen von sakralen Tänzen ausgebildet. Die Unterschiede beziehen sich sowohl auf den zeremoniellen Ablauf als solchen, auf die dargestellten und angerufenen Gottheiten, als auch auf die Zahl der Mitwirkenden, die Kostümausstattung sowie die Formen von Tanz und Musik. Eine gewisse Gemeinsamkeit wird durch die folgenden Momente gebildet: Die Tänze werden von Mönchen unter freiem Himmel – oft in speziell ein2

Vgl. Heinrich A. Jaeschke, A Tibetan-English Dictionary, Delhi 1992 [1881], S. 168. Als ’cham wurden nach Nebesky-Wojkowitz die großen, öffentlich aufgeführten Tänze bezeichnet, während die anderen, nicht öfffentlich inszenierten gar heißen (vgl. René de Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances. Tibetan Text and Annotated Translation of the ’chams yig, Den Haag und Paris 1976, S. 5). Einen geschichtlichen Überblick der Tänze gibt Alexander Fedotov, „Evolution of Tibetan ’chams Tradition in Central Asia“, in: The Tibet Journal 11/2 (1986), S. 50–55.

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gerichteten Klosterinnenhöfen – für ein Laienpublikum aufgeführt. Jede Gesamtaufführung besteht aus mehreren Einzeltänzen. Wird das Erscheinungsbild der Zeremonie in den Mittelpunkt gestellt, so erscheint die Bezeichnung „Maskentanz“ angemessen, da die Tänzer zumeist mit Maske und in reich verzierten Gewändern auftreten, wobei die Tanzfiguren von langsamen Reigen bis hin zu schnell wirbelnden Solotänzen reichen. Viele Tänze werden pantomimisch ausgeführt und durch ein Musikensemble oder Orchester (Zimbeln, Trompeten, Schalmeien, Messingklangbecken, Muschelhörner, Handtrommeln) begleitet. Deklamationen kommen vor, Dialoge sind hingegen relativ selten. Betrachtet man die Maskentänze unter dem Aspekt der dargestellten Inhalte, scheint die Benennung als rituelles Tanzdrama bzw. Mysterienspiel angemessener. Denn die in den verschiedenen Phasen auftretenden Schutzgottheiten führen in ihrem Spiel zugleich ein Ritual durch, das in der Bannung, Abspaltung und Zerstörung böswilliger Kräfte gipfelt. Der kultische Charakter wird überdies dadurch deutlich, dass in den meisten Schulen der ’cham nur an bestimmten Festtagen, ein bis zweimal pro Jahr, aufgeführt wird. Oft stellen die Tänze nur den etwa zwei bis drei Tage dauernden öffentlichen Teil eines größeren Ritualgeschehens dar, das über 14 Tage dauern kann.3 Vom Anspruch der Teilnehmenden her gesehen ist es zu guter Letzt eine meditative Übung, die von ihnen verlangt, sich mit der dargestellten Figur zu identifizieren. Über die ausgeführten Übungen erschaffen die Ritualtänzer einen gereinigten Man.d.ala-Raum inklusive der beteiligten Gottheiten, die auf dieser Interpretationsebene nur Bewusstseinsphänomene sind, und bringen diese heilskräftig ins Spiel. Auf den Stellenwert dieser drei Ebenen, (1) des Maskentanzes als Spiel, (2) des aufgeführten rituellen Dramas (der Kult mit ‚wirklichen‘ Gottheiten), und (3) der meditativen Übung mit visionierten Gottheiten wird am Fallbeispiel der Tötung der Puppe bzw. des Ling-ga noch genauer einzugehen sein. Bemerkenswert ist jedoch die enge Verschlingung der genannten Ebenen, die auch daran sichtbar wird, dass von externen Beobachtern immer wieder ungewohnte Umschläge von Schauspiel in ritu3

In einem von Kohn beschriebenen Sher-pa-Fest im Norden Nepals, dem Mani Rimdu, waren beispielsweise nur zwei von 17 Tagen dem öffentlich vorgeführten Tanz gewidmet, vgl. Richard Jay Kohn, Mani Rimdu. Text and Tradition in a Tibetan Ritual, Delhi 1988.

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ellen Vollzug, von ‚kultisch-ernsten‘ zu ‚heiter-belustigenden‘ Abläufen verzeichnet worden sind. Im Folgenden sollen charakteristische Momente der ’cham-Tänze geschildert werden, wie sie in der dGe-lugs-pa Schule durchgeführt werden. In dieser Schule, begründet im 15. Jahrhundert von Tsong-khapa (1357–1419), wurde das Neujahrsfest sMon-lam institutionalisiert, in dessen Rahmen später auch ’cham-Tänze integriert wurden. Allerdings wurde von dieser Schule der ’cham wahrscheinlich erst in der Zeit des 5. Dalai Lama (Ngag-dbang blo-bzang rgya-mtsho, geb. 1617) von anderen Schulrichtungen übernommen.4 Der 5. Dalai Lama verfasste mit Hilfe weiterer Ritualspezialisten ein „Tanzhandbuch“ (’chams-yig), das zusammen mit Beschreibungen von Tänzen der dGe-lugs-Tradition, westlichen Augenzeugenberichten und Fotografien unter anderem von Wilhelm Filchner, René de Nebesky-Wojkowitz und Richard Kohn Grundlage der nachfolgenden Darstellung ist. Generell zu unterscheiden sind die folgenden Phasen eines ’chamTanzes: a.) die noch nicht zum Tanz im engeren Sinne gehörende Vorbereitungsphase; b.) einzelne Tänze, die dem Ziel der Reinigung der Tanzfläche und der Transformation derselben zum rituellen Sakralraum dienen, sowie solche Tänze, welche die meditative Hervorbringung und Verwirklichung bzw. Einladung der Gottheiten bezwecken. Das Handbuch des 5. Dalai Lama nennt diese Sektion „Wurzel-’cham“ (rTsa-ba’i ’cham). Es folgt c.) der abschließende Tanz, der dort wörtlich als „Befreiung des Bösen“ (gDug-pa sgrol-ba) benannt ist.5 Vor der Aufführung des eigentlichen Tanzdramas sind die Tänzer, wie das ’cham-yig ausführt, dazu angehalten, sich meditativ vorzubereiten, indem sie sich in die richtige Betrachtung der Leerheit einfügen und sich mit den dargestellten Gottheiten identifizieren (bdag-skyed, skt. ¯ave´sa).6 Jene Tänzer, die würdevolle Erscheinungen repräsentieren (z. B. Dharmap¯alas, „Beschützer der Lehre“), sollen sich zudem in „göttlichen Stolz“ (lha’i nga-rgyal) versetzen – so die sakrale Tanzregieanweisung.7 Wird der Tanz in einem großen Kloster aufgeführt, beginnt die initiale Phase in einer eigens dafür vorgesehenen „’cham-Halle“ (’chamskhang), in der unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Teigpuppe (ling4 5 6 7

Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 43. Ebd. [f. 3a ]. Ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 101.

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ga oder ling-ka) geweiht wird. Dies kann etwa in Form einer auf Papier gezeichneten Figur geschehen, die vor dem Spiel unter der Tanzfläche vergraben wird.8 Das Ling-ga, offenbar von skt. li˙ nga, „Zeichen“, „Person“, „Charakteristikum“, abgeleitet, kann im Grunde in beliebigem Material gestaltet sein – wichtig ist nur, dass elementare anthropomorphe Züge vorhanden sind.9 Nachdem sich die Zuschauer im Hof eingefunden haben, ziehen die Klosteroberen ein und lassen sich auf Ehrenplätzen nieder. Dann beginnt eine erste Gruppe von Schwarzhut-Tänzern mit einer symbolischen Weihung der Tanzfläche des Tempelinnenhofes (chos-ra). Vermittels eines „goldenes Trankopfer“ (gser-skyems) genannten Ritus wird diese in einen sakralen Raum verwandelt. Das Opfer gilt zumeist der lokalen Erdgottheit (yul-lha). Charakteristisch für die Tanzphase, die eingehender behandelt werden soll, die Erdolchung des Ling-ga, ist, dass sie von Tänzern mit schwarzen Hüten, die weite kaftanartige Kostüme tragen, begleitet wird. Die eigentliche symbolische Erdolchung wird jedoch zumeist von einer hohen Gottheit wie z. B. Mah¯ak¯ala durchgeführt. Die schwarzen Hüte (zhva-nag) der Tänzer verweisen zumeist darauf, dass es sich um Adepten tantrischer Praktiken (sngag-pa, skt. mantradh¯ara, mantrin)10 handelt. Nach manchen von Nebesky-Wojkowitz‘ Informanten sollten dies hingegen Priester der autochthonen tibetischen Bon-Religion sein.11 Jedoch hält auch er daran fest, dass es sich um „Tantriker“ handle.12 Nach dem 5. Dalai Lama folgt die Form des schwarzen Hutes der Tänzer dem Aufbau des Kosmos: Der kuppelförmige Korpus des Hutes entspreche dem Aufbau der Welt des Sam . s¯ara, mit dem Vgl. Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 74 ff. Die Abbildung beispielsweise eines auf Papier gedruckten Ling-ga findet sich bei Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 73; gut ausgeführte Beispiele finden sich auch in Samten Karmay, Secret Visions of the Fifth Dalai Lama. The Gold Manuscript in the Fournier Collection, London 1998; vgl. auch René de Nebesky-Wojkowitz, Oracles and Demons of Tibet. The Cult and Iconography of the Tibetan Protective Deities, Graz 1975, S. 360. Zur Beschreibung des Rituals vgl. auch Rolf A. Stein, „Le Li˙ nga des danses masquées lamaïques et la théorie des âmes‘‘, in: Sino-Indian Studies 5 (1957), S. 200–234. 10 Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 191. 11 So auch Matthias Hermanns, Mythen und Mysterien, Magie und Religion der Tibeter, Stuttgart 1956, S. 146. 12 Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 80, vgl. S. 93. 8 9

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Meru-Berg in der kosmischen Mitte. Ein Kinnband hält den Hut, der zu beiden Seiten hin mit Schlangen oder Drachen verziert ist. Die obere Spitze gipfelt in einem flammenden Dreieck, das symbolisch den Ozean des Blutes berührt.13 Das Kostüm der Tänzer besteht neben dem besagten Hut aus einem schwarzen oder dunkelblauen weiten Mantel bzw. Kaftan mit weiten rechteckigen bzw. trichterförmigen Ärmeln (phod-ka).14 Die Form des Kostüms ist wichtig, da sie sich zu einer Erklärung über die Herkunft des Tanzes fügt, auf die unten noch eingegangen wird. Da ’cham-Tänze in vielen Variationen vorkommen, die überdies selbst in einem einzigen Kloster über die Zeit fortwährenden Veränderungsprozessen unterliegen, können nur einige Tänze beispielhaft beschrieben werden. In manchen Tänzen erscheinen Schwarzhuttänzer schon zu Beginn. Acht Tänzer, jeder einen rDo-rje (einen rituellen Donnerkeil, skt. vajra) in ihrer rechten Hand, und einen silbernen Kelch (oder Butterlampe) in ihrer linken, führen dann ein Reinigungsopfer durch.15 Sie tanzen auf und halten, einen Kreis bildend, in der Mitte inne. Ein Gehilfe schließt auf und füllt in die Kelche eine Flüssigkeit und einen gTor-ma-Ball. Unter Wiedereinsetzen der Musik werfen die Tänzer das Trankopfer mit weitem Schwung in die Luft. Die Sequenz wird dreimal wiederholt. Mit einem umfangreichen Ritus, in dem die Tänzer sich auf konzentrischen Kreisen um den Mittelpunkt der Tanzfläche bewegen, der durch Flaggenstäbe markiert sein kann, wird der Innenhof in einen Sakralraum verwandelt. Diese ‚exorzistische‘ Phase ist abgeschlossen, wenn der Raum von widerstrebenden Kräften gereinigt ist, bzw. die örtlichen Geister und Gottheiten der Aufführung des Tanzes zugestimmt haben.16 Gewisse Tanzschritte werden dabei mit der Bedeutung belegt, 13

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Vgl. ebd., S. 113 ff.; vgl. auch Cathy Cantwell, „The Black Hat Dance“, in: Bulletin of Tibetology 1 (1992), S. 12–23 (ebendort zeigt die Skizze auf S. 23 einen schwarzen Hut mit Pfauenfedern). Abbildungen von Schwarzhuttänzern finden sich z. B. in Ellen Pearlman, Tibetan Sacred Dance. A Journey into the Religious & Folk Traditions, Rochester 2002, S. 8 und 11. Das Schwarzhutkostüm wird beschrieben bei Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 94–98, 115–118 und 192 f. Luther G. Jerstad, Mani Rimdu. Sherpa Dance Drama, Washington 1969, 112 ff.; Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 191. Vgl. dazu ausführlich Mona Schrempf, „Taming the Earth – Controlling the Cosmos. Transformation of Space in Tibetan Buddhist and Bonpo Ritual Dances“,

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die potentiell feindlich gesinnten Kräfte physisch niederzudrücken und zu unterwerfen.17 Dann folgt die erste Hauptphase des Tanzes. In dieser ziehen die göttlichen Gestalten ein, die den Ritualraum in Form eines Man.d.ala um die jeweiligen Hauptgottheiten markieren, die sich später im Mittelpunkt des ’cham-Tanzplatzes bewegen. Zu diesen gehören z. B. rDo-rje phur-pu (Vajrak¯ıla),18 Chos-rgyal (Dharmap¯ala) oder rTa-mgrin (Hayagr¯ıva). Auf der Ebene meditativer Verwirklichung der Adepten können auch andere Gottheiten erscheinen, die nicht durch Tänzer dargestellt sind. Nach der tantrischen Mah¯ayoga-Tradition sind dies persönliche Meditationsgottheiten, „Yi-dam“ (skt. is..tadevat¯a) genannt, mit der sich die jeweiligen Adepten auf der Ebene der meditativen Praxis identifizieren sollen, um ihr ‚Erwachen‘ zu befördern.19 Hierzu werden zunächst die Grenzen der kreisförmigen Struktur zu allen Seiten hin markiert und rangniedere Gottheiten werden eingeladen, in die äußeren Regionen des Man.d.ala einzuziehen. Oft treten in der frühen Phase der Tänze zudem A-tsa-ra auf (wohl eine Verballhornung von skt. ac¯arya, „Gelehrter“, „Lehrer“), „Spaßmacher“, die entweder mit den Zuschauern, oder auch untereinander zum Teil derben Schabernack treiben.20 Wie Wilhem Filchner 1926 im Kloster Kumbum21 beobachtete, reichten deren unterhaltsame Einlagen von

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in: Sacred Spaces and Powerful Places in Tibetan Culture, hg. v. Tony Huber, Dharamsala 1999, S. 198–224; im unten erwähnten Film von Filchner ist dies ebenfalls zu sehen, vgl. Jongchay Rinpoche, Tscham-Tänze in einem tibetischen LamaKloster (Kumbum Dschamba Ling), hg. v. Heinz Bechert, A. M. Bauer und Jongchay Rinpoche, Göttingen 1972 (Institut für den wissenschaftlichen Film, Film Nr. D 940/1967), 14 (ebd. Beschreibung des sa-’dul-Rituals). Schrempf, „Taming the Earth“ (wie Anm. 16), S. 212. Vgl. auch dies., „Tibetan Ritual Dances and the Transformation of Space“, in: The Tibet Journal 19/2 (1994), S. 95–120. Im ’chams-yig ist der Träger der Vajrak¯ıla-Maske auch der Ritualmeister – vgl. Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 192 f. Vgl. Cathy Cantwell, „The Dance of the Guru’s Eight Aspects“, in: The Tibet Journal 20/4 (1995), S. 47–63, [48 ff.] (ausgeführt anhand von Auffassungen der rNying-ma-pa). Cathy Cantwell, „Some Thoughts on ’chams. The Role of the ‚Jokers‘ (A-tsa-ra)“, in: The Tibet Journal 22/1 (1987), S. 66–67. Das Kloster Kumbum Jampa-ling (sKu-’bum Byams-pa gling) ließ der dritte Dalai Lama (bSod-nams rgya-mtsho, 1543–1588) 1583 in Amdo (A-mdo) nahe dem Kokonor (mTsho-sngon) bauen, an jenem Ort, an dem Tsongkhapa (rJe Tsong-kha-pa

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Verulkungen des Publikums bis hin zum Einfangspiel sich wehrender Novizen, die von den A-tsa-ra in die ’cham-Halle gezerrt wurden, wo sie im Spiel angeblich schrecklichen Gottheiten zum Fraß vorgeworfen werden.22 Es scheint, als übernahmen die A-tsa-ra ursprünglich die Aufgabe von Lückenfüllern. Allerdings können sie erstaunlicherweise auch dann in der Peripherie des Tanzkreises auftreten, wenn zeitgleich im Zentrum das eigentliche Ritualgeschehen (Libationsopfer, Tänze der Schutzgottheiten usw.) abläuft. Dies lässt vermuten, dass ihre Aufgabe nicht mehr nur auf Clownerien während Umkleidepausen beschränkt ist, sondern insgesamt darauf abzielt, den Unterhaltungswert der Veranstaltung zu erhöhen. Denn die bedeutungstragenden Riten wurden offenbar nicht selten mit langsamen und repetitiven Gesten und Tanzschritten ausgeführt, so dass in täglich mehrstündigen, oft gar mehrtätigen, Aufführungen für Laien Abwechslung willkommen war. Eine weitere in den ’cham eingebaute Gestalt ist der Arhat Hva Zhang. Seine Maske zeigt ein rundliches, freundlich lächelndes Gesicht mit chinesischen Gesichtszügen. Der tibetischen Geschichtsschreibung nach soll er als Vertreter der chinesisch-buddhistischen Tradition in einem Streitgespräch mit Vertretern des indischen Buddhismus den Kürzeren gezogen haben. Hva Zhang ist wahrscheinlich keine historische Gestalt, sondern vielmehr ein Konstrukt buddhistischer Historiker, das dazu dient, innerbuddhistische Schulstreitigkeiten in Tibet auf eine Gestalt hin zu fokussieren. Dies ist nicht das einzige Element der ’chamTänze, das auf eine gleichsam indirekt politische Weise religiöse Schulen und deren Ideen apostrophiert. Weitere Tänze werden von Gestalten in Skelettkostümen (keng-ru) bzw. „Meistern der Leichenplätze“ aufgeführt. Sie veranschaulichen die Grundlehre der Vergänglichkeit.23 Die zweite Hauptphase des Tanzes wird nun durch das Ritual der Tötung des anthropomorphen Opfersubstituts, des Ling-ga, bestimmt. Zur Veranschaulichung der Sequenz sei es erlaubt, dazu eine ausführlichere Beschreibung von Wilhelm Filchner wiederzugeben. Er konnte

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Blo-bzang grags-pa) (1357–1419), der Begründer der dGe-lugs, geboren worden war. Es gehört zu den größten Klosteranlagen im tibetischen Raum. Wilhelm Filchner, Kumbum Dschamba Ling. Das Kloster der hunderttausend Bilder Maitreyas. Ein Ausschnitt aus Leben und Lehre des heutigen Lamaismus, Leipzig 1933, S. 319 f. Vgl. zu den Gestalten Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 43 ff.

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im Dezember 1926 einer großen ’cham-Aufführung im Kloster Kumbum (sku-’bum byams-pa gling) in Amdo, Osttibet, beiwohnen, die er sowohl filmte, als auch später beschrieben hat. In der von Filchner beobachteten Zeremonie war die Tötung des Ling-ga allerdings nicht in einen Tanz von „Schwarzhüten“ (zhva-nag) eingebunden. Laut Filchners Schilderung stellt der stierkopfförmige Mah¯ak¯ala, eine Emanation des Buddha Aks.obhya und Schutzgott verschiedener tibetisch-buddhistischer Schulen, die Hauptgestalt im Tanz dar.24 Filchner beschrieb den Ablauf der letzten zentralen Tanzphase, die er auch filmerisch festhielt, wie folgt:25 Nach einer kurzen Pause bringt ein Atsara ein an den Seitenleisten mit weißen Scheiben bemaltes Präsentierbrett, das er auf den größten Teppich in der Hofmitte stellt. Auf dem Brett liegt eine 35 cm lange Puppe aus Teig, das Linga. Erneut schmettern die Posaunen vom Dache ihre tiefen Baßtöne. Eine neue Phase setzt ein. Vier kleine Tänzer mit künstlich verlängerten Händen, blutrot gefärbten Handtellern und langen, krallenähnlichen Fingern treten auf. Es ist dies die andere Form der „Meister des Friedhofs“. An der Stirn tragen sie einen Kranz von Totenschädeln, die Kleider [. . . ] sind [. . . ] mit Bändern geschmückt. Sie umtanzen das Linga [. . . ] und bewegen sich dabei zum Takt der Musik nicht gerade schnell, vielmehr eckig und drehend. Ab und zu heben sie einen Fuß, schwingen die Arme und kauern sich dann rasch zur Erde nieder, um sogleich wieder hochzuschnellen [. . . ]. Wieder erscheinen die Gompos [mgon-po, „Herr“, eine Gruppe von Schutzgottheiten, zu denen auch Mah¯ak¯ala gezählt wird, d. Vf.], diesmal aber mit Schwertern in der rechten Hand [. . . ]. Die Bewegungen werden mit der Zeit etwas lebhafter. Dann bilden die Gompos wiederum einen großen Ring, in den sich nunmehr die Chabas [sha ba26 . . . ] und die Jakkopftänzer, die Vertreter der zweiten Form der ‚Meister des Friedhofs‘, sowie 24

25 26

Vgl. Hermanns, Mythen und Mysterien (wie Anm. 11), S. 162. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dies jedoch der hohe Schutzgott der buddhistischen Lehre namens Chos-rgyal (skt. Dharmar¯aja); vgl. Jongchay Rinpoche, Tscham-Tänze (wie Anm. 16), S. 15. Möglicherweise ist von Filchners Informanten der „Mah¯ak¯ala“ nur als Titel für Chos-rgyal genannt worden. Vgl. die Beschreibung von Ernst Schäfer, Fest der weissen Schleier. Eine Forscherfahrt nach Lhasa, der heiligen Stadt Tibets, München 1954, S. 112–126. Vgl. zu den hirschköpfigen Tanzmasken bzw. Figuren Hermanns, Mythen und Mysterien (wie Anm. 11), S. 143 f.; vgl. auch Marceline de Montmollin, „Some More on the Sha ba sha khyi ’cham. A Bhutanese ’Cham on the Conversion of the Hun-

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die ‚schrecklichen‘ Götter, auch solche mit einem Elefantenkopf, einfügen. Mah¯ak¯ala bewegt sich jetzt in der Kreismitte. Von jetzt ab findet der Tscham [=’cham, d. Vf.] andauernd und langsam Steigerung. Die ruckartigen Drehungen folgen einander in immer kürzer werdenden Zwischenräumen. Die Musik mahnt zur weiteren Erhöhung des Tempos, und bald erfaßt die Tänzer eine Verzückung, die kaum mehr übertroffen werden kann [. . . ]. Die Tuben heulen, die Klarinetten und Zimbeln klingen, und die Pauken geben das Bestmögliche her. Da, mit einem Ruck, tritt Totenstille ein. Mah¯ak¯ala läßt sich in der Mitte des Hofes auf der großen Matte vor dem Linga mit Front zum Khampo [mkhan po, hier der Klosterabt, d. Vf.] nieder. Die Tänzer folgen an ihren Tanzplätzen dem Beispiel. Nun kommt der Höhepunkt der Feierlichkeit: die Vernichtung des Linga. Mah¯ak¯ala beginnt mit dem Weiheritus [. . . ], legt die Hände auf die Teigpuppe und spricht die ‚Wunschgebete‘, die Monlam, die Tsongkhapa ausgebildet und zu einem besonderen Kult vereinigt hat. Man zählt ihrer achtzehn. Ihr Inhalt ist überall gleich. Alle gipfeln in dem einen Wunsche, „daß sich die Feinde und die Hindernisse für die Ausbreitung und das Gedeihen des Glaubens in Staub und Asche verwandeln möchten“. Im Anschluß daran beräuchert Mah¯ak¯ala das Linga mit besonderen Kerzen, die einen durchdringenden üblen Geruch ausströmen. Schließlich nimmt Mah¯ak¯ala ein Messer in die Hände und zerstückelt das Linga in zwölf Teile unter halblauter Hersagung folgender Worte, die von den Lamen mitgesprochen werden: ‚Diesen Feind, der den ‚Drei Kleinodien‘ Böses zugefügt, der seinen Lama maßlos geschmäht, der seinem Haß gegenüber dem Glauben freien Lauf gelassen, der den beseelten Wesen Qualen verursacht und seine Gelübde gebrochen hat, erschlage und töte! Trenne ihn von der Gottheit, mit der er zugleich geboren! Führ ihn zusammen mit dem Dämon, mit dem er gekommen! Scheide ihn von dem Himmelsbewohner, der sein Vater ist, scheide ihn von der Gottheit, die seine Mutter war! Scheide ihn von den Himmlischen, die seine Verwandten, und von den Göttlichen, die seine Freunde sind! Scheide ihn von der Gottheit seines Glücks! Zerschmettere ihn und sende auf ihn herab den Regen der Krankheiten, der giftigen Wunden und der Schwerter!‘ ter mGon po rdo rje by Mi la ras pa“, in: Tibetan Studies. Proceedings of the 4th Seminar of the IATS, hg. v. Helga Uebach und Jampa L. Panglung, München 1988, S. 293–300. Im ’cham-yig werden weitere Tiermaskentänze genannt: der Tanz der Raben, der Eule und des Yaks – vgl. Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 202 f. [f. 28a].

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Durch die Tötung des Linga sind schließlich alle bösen Geister unschädlich gemacht worden, die teils durch die Magierlamen vorher in die Teigfigur hineingebannt, teils später durch die Tänze der verschiedenen TschamGruppen hineingezaubert worden waren [. . . ]. Während sich die Tänzer nach der Tötung des Linga im Ring einmal um den Hof herum bewegen und dann nach dem Tscham-khang abziehen, indes Mah¯ak¯ala durch die Ehrenpforte wieder nach dem Tscham-khang zurückgeleitet wird, springen die drei Schabas [die Hirschmaskenträger, d. Vf.] nach der Hofmitte vor und setzen in rasendem Tempo zu einem neuen Tanze an. Sie führen die wildesten Sprünge aus und gebärden sich wie toll. Dann kniet jeder dieser Tänzer auf einem der drei Teppiche nieder und führt mit seinen Hörnern wilde, ruckartige Bewegungen aus, die das Zerreißen der Leichenteile des Linga versinnbildlichen sollen [. . . ]. Schließlich werfen die Schabas durch immer schneller werdende kreisende Stoßbewegungen mit den Hörnern die zerstückelten Leichenteile des Linga unter das andächtig harrende Volk.[27 ] Erschreckt weichen die Gläubigen aus. Niemand will von diesen üblen, unheilvollen Linga-Überresten getroffen werden. Er würde ja nur vom Bösen angesteckt und zeitlebens vom Unglück verfolgt werden! Der Tanz ist zu Ende. Zwei Stunden hat er gedauert.28

Die rituelle Tötung des Ling-ga im Rahmen der ’cham-Tänze Die soeben in Filchers Worten geschilderte Tötung des Ling-ga stellt in vielen der ’cham-Tänze den rituellen Höhepunkt dar.29 Sie ist nicht alleiniges Element dieser Tänze, sondern auch Teil von tantrischen Zeremonien, die nicht öffentlich aufgeführt werden. Auch die Ritualdolche (phur-bu) kommen in zahlreichen anderen Riten zum Einsatz – z. B. bei der Errichtung eines K¯alacakra-Man.d.ala, bei dem in der Vorbereitungsphase die gegenstrebigen Gottheiten mit Haken herbeigezogen, in Ketten gelegt und schließlich in allen Himmelsrichtungen (vier Hauptplus vier Zwischenrichtungen sowie Zenith und Nadir) rituell festgenagelt werden.30 27 28 29

30

Dies berichtet auch Paul Sherap (Dorje Zodba) in G. A. Combe, A Tibetan on Tibet, New York 1926, S. 180 f. Filchner, Kumbum (wie Anm. 22), S. 323 f. Der Ritus wird schon in Laurence Austine Waddell, Buddhism and Lamaism of Tibet with its Mystic Cults, Symbolism and Mythology and in its Relation to Indian Buddhism, New Delhi 1979 [1893], S. 530 f. beschrieben. Vgl. Martin Brauen, Das Mandala. Der heilige Kreis im tantrischen Buddhismus, Köln 1992, S. 76.

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Im ’cham bilden das Ling-ga und der Phur-bu (oder phur-pa, skt. k¯ıla), der Ritualdolch, jedenfalls eine wechselseitig aufeinander verweisende Ritualeinheit. Auf der Ebene der dem Ritual relationierten Wirklichkeit repräsentiert das Ling-ga den Dämon bzw. die feindlichen Seelenbestandteile, die durch den Ritualspezialisten per finalem Dolchstoß verwandelt werden müssen.31 Wie Kohn berichtet, ist die Einheit von Dolch und Ling-ga so eng, dass sein Informant und Ritualspezialist Trulshik (’Khrul zhig) Rinpoche äußerte, beide hätten dieselbe Bedeutung.32 Der Ritualdolch (k¯ıla) ist mit einer dreischneidigen Klinge versehen und meistens aus Metall oder Holz. Er stellt keine ernsthafte Waffe dar, sondern ist ein bis in die vedische Zeit zurückreichendes Ritualinstrument, mit dem bereits im frühindischen Mythos die vedische Gottheit Indra im Chaosdrachenkampf die Drachenschlange Vr.tra festgenagelt hatte.33 Das Ling-ga des ’cham ist, wie gesagt, meistens eine aus Tsam-pa (d. h. mit Butter und Wasser vermengtes, geröstetes Gerstenmehl) geknetete, anthropomorphe Figur, die oft mit Asche oder Farbe schwarz eingefärbt wird. Aus verschiedenen Quellen ist zu erschließen, dass sie meist etwa ein Viertel der menschlichen Größe hat.34 Die Figur, die zumeist auf einem Brett hereingetragen wird, liegt auf dem Rücken (gang-rkyal). Das Brett wird auf einem dreieckigen Teppich abgelegt, der zuvor in der Mitte des Hofes ausgebreitet wurde. Neben dem Ling-ga befinden sich Opfergaben. Manchmal wird es im Verlauf des Tanzes gefesselt; ein Akt, der auch durch rote Farbriemen nur angedeutet sein kann. Dass Teile des Ling-ga verspeist würden, wie mehrere frühe Beobachter behauptet haben, scheint der autochthonen Theorie der Bannung negativer Kräfte in das Ling-ga eigentlich zu widersprechen. Ob 31

32 33 34

Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 74: „The lingka is there to be stabbed by the dagger; the demon is there to be transformed by the exorcist [. . . ] In Mani Rimdu, a lingka is assassinated three times each day“. Vgl. insgesamt auch Pieter Hendrick Pott, „Some Remarks on the ‚Terrific Deities‘ in Tibetan ‚Devil Dances‘“, in: Mikkyogaku Mikkyoshi Ronbunshu [Studies in Esoteric Buddhism and Tantrism in Commemoration of the 1150th Anniversary of the Founding of Koyasan], hg. v. Matsunaga Yukei, Koyasan 1965, S. 269–278. Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 74. Dazu Martin J. Boord, The Cult of the Deity Vajrak¯ıla, Tring 1993, S. 39 ff. Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 106.

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dies aber eine durch die Theorie des ‚heiligen Mahls‘ als Substitut für frühere anthropophage Zeremonien geleitete Fehlbeobachtung ist,35 wage ich nicht zu beurteilen, da auch Spezialisten wie Nebesky-Wojkowitz davon berichten, dass das Verspeisen Moment gewisser ’cham-Tänze gewesen sei.36 Sicherlich waren zudem mitunter tierische oder sogar menschliche Organe in das Ling-ga eingebunden.37 Denn in mehreren Handbüchern heißt es, dass das Opfersubstitut mit einzeln modulierten Organen ausgestattet sein soll; manchmal sogar mit einer mit Blut gefüllten Harnblase, die dann, aufplatzend, den Eindruck eines realistischen Erdolchens noch verstärkt. Wie die symbolische Erdolchung im Tanzritual in dGe-lugs-Klöstern genau abläuft, ist nicht einfach zu eruieren. Leider ist dieser Augenblick auch in Filchners Filmaufnahmen nicht festgehalten.38 Im Handbuch des 5. Dalai Lama, nach dem offenbar mehrere Einzeltänze oder Tanzphasen jeweils eine Tötung des Ling-ga enthalten, wird über die Tanzgeste lediglich gesagt, dass der Tänzer den Ritualdolch erhebt, diesen sodann nach rechts und links mit der Geste des Schärfens eines Messers führt, bevor er den Befreiungsstoß ausführt.39

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39

Vgl. Hermanns, Mythen und Mysterien (wie Anm. 11), S. 167 f.; G[eorge] A[lexander] Combe, A Tibetan on Tibet. Being the Travels and Observations of Mr. Paul Sherap (Dorje Zödba) of Tachienlu, with an Introductory Chapter on Buddhism and a Concluding Chapter on the Devil Dance, Kathmandu 1975 [1926], S. 186 ff.; auch Heinz Lucas, Lamaistische Masken, Kassel 1962, S. 92: „Die Reste [des zerstückelten Linga] werden eingesammelt und dem Gott des Todes in einer silbernen Schale [. . . ] überreicht. Yama ißt ein Teilchen davon (vermutlich ist diese Handlung ein Relikt von früherem Kannibalismus) [. . . ]“, wobei gerade die immer in Verbund mit der vermeintlichen Handlung einhergehenden Erklärung des residualen Kannibalismus hier Anlass zur Skepsis gibt. In der bKa’-rgyud-Tradition gibt es offenbar einen Tanz, bei dem eine Gruppe von zwölf Mah¯ak¯ala und einer ´Sr¯ıdev¯ı das Ling-ga tötet und isst; s. NebeskyWojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 36. Waddell, Buddhism and Lamaism of Tibet (wie Anm. 29), S. 527. Da er nur Aufnahmen dieses Augenblicks präsentierte, bei denen die Erdolchung bereits passiert ist, ist zu vermuten, dass er die Schmalspurkamera, um die spärlichen Filmrollen zu schonen, nicht die ganze Zeremonie über laufen ließ. Möglicherweise kündigte sich die Erdolchung nicht so deutlich an, dass Zeit blieb, die Kamera wieder in Betrieb zu nehmen. Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 222 f. [f. 34a].

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Die Beschreibung, wie dieser Stich oder Stoß in das Ling-ga genauer durchgeführt werden soll, spart das Handbuch hingegen bezeichnenderweise aus. Es heißt dort wörtlich: „das Wissen der Durchführung über die Befreiung des Ling-ga ist durch eigene Beobachtung eines ’chamTanzes zu erlernen“.40 Möglicherweise ist dies ein Hinweis darauf, dass das Wissen um die korrekte Ausführung dieses Rituals sorgfältig zu behüten sei und nur von Lehrer zu Schüler mündlich tradiert werden darf. Nach der Erdolchung folgt eine zweite Phase, die Zerstückelung des Ling-ga mit Schwertern. Kohn hat die ihm vorliegenden Berichte über „Befreiungstänze“ (sgrol ’cham) miteinander verglichen und tabellarisch gegenübergestellt. Dort wird deutlich, dass die Dolchstöße zumeist durch Schwarzhuttänzer oder Yama, den Totengott (gSin-rje) sowie andere hohe Gottheiten ausgeführt werden, während die Zerstückelung bzw. Zerschneidung mit dem Schwert in vier Berichten durch jene hirschköpfigen Sha-ba erfolgten, und in drei weiteren durch Yama.

Autochthone Deutungsmodelle: Die Überwindung ‚innerer Gifte‘ (bgegs) und ‚äußerer Feinde‘ (dgra) Im tibetischen Vajray¯ana-Buddhismus hat sich über die Jahrhunderte eine umfangreiche Kommentartradition entwickelt, die in Ritualhandbüchern ausgefeilte Deutungsschemata zu einzelnen Momenten tantrischer Symbolik im allgemeinen, und des ’cham-Tanzes im besonderen, entfaltet haben. Die innertibetischen Deutungsmodelle und Sinnzuschreibungen des rituellen Kerns bewegen sich dabei auf zwei verschiedenen Ebenen:41 Einmal sind es die konkreten äußeren Feinde (dgra), die in der Lebenswelt im Schema physischer Erscheinungen interpretiert werden. Zu den ‚Feinden‘ gehören auf einer allgemeinen Ebene alle ‚Feinde des Buddhismus‘, d. h. solche religiöse Gruppen, die als heterodox angesehen wurden. Manchmal waren dies aber sogar konkur40

41

Ebd., S. 236 [f. 38a]. Interessant ist, wie sich der 5. Dalai Lama (ebd., S. 242 f.) über Innovationen eines Sa-skya-pa-Tanzrituals empört, in dem der Meister sNgags’chang-chen einen ‚Meister der Leichenplätze‘-Tanz in einen Vajrak¯ıla-’cham eingeführt habe. Heutzutage, schreibt er, würden viele Tänze nur noch als ‚gewöhnliches Spiel‘ und Spektakel aufgeführt, um dafür Essen zu erhalten; zu diesem Zweck würden neue Elemente der Unterhaltung halber eingeführt. Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 74: „The lingka is the symbol of the enemy of religion—be it conceived as internal or external: as passions or as demons“.

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rierende Klosterschulen anderer buddhistischer Traditionen, die sich z. B. mit anderen weltlichen Machthabern verbündet hatten. Daneben sind auch weltliche Herrscher selbst, deren Interessen sich nicht denen der großen Klostergemeinschaften unterordneten, als feindlich interpretiert worden. Aus der buddhistischen Perspektive sind diese Machthaber konkrete Inkarnationen gegensinniger Kräfte. Sie sind, wie das Argument dann lautet, der Erlangung der Buddhaschaft hinderlich. Auf dieser Ebene ist auch eine Gründungslegende42 des ’cham angesiedelt, auf die ich weiter unten zu sprechen komme. Die gegensinnigen Kräfte auf der symbolischen Ebene sind die „inneren Feinde“ (bgegs), die z. B. in den fünf Giften (skt. kle´sa, i. e. Unwissenheit, Gier, Hass, Neid, Wut) bestehen. Die Gegenkräfte beider Ebenen müssen in die Präsenz gerufen werden, um dann mit bestimmten in den Ritualhandbüchern enthaltenen Rezitationen in die Puppe hineingebannt zu werden. Die Ebenen sind also eng miteinander verwoben: Whether they are internal or external, the process of dealing with ‚undesirables‘ is identical. When Trulshik Rinpoche assassinates the lingka, one cannot determine by the structure of the ritual whether ‚the ones imagined‘ are the spying ghosts that haunt monasteries or the five passions that poison living beings’ hearts.43

Durch den Ritus der ‚Befreiung‘ sollen die negativ belasteten Kräfte nicht unterdrückt, sondern abgespalten und unmittelbar in ein reines Buddhaland transformiert werden.44 Es scheint, als wirke dieser transformative Akt im Glauben der praktizierenden Spezialisten auf beiden Ebenen zugleich, ja sogar ineinander verschränkt: Indem die äußeren Feinde symbolisch befreit werden, werden auch die Ritualteilnehmer, bzw. nach dem Konzept der „Befreiung durch Sehen“ (mthong-grol) soVon dieser Gründungslegende sind nochmals Entstehungsmythen des ’cham abzugrenzen, die gleichsam sekundäre Mythen zu dessen Entstehung enthalten, z. B. eine Übertragungslinie von Samantabhadra und den fünf transzendenten Buddhas über eine Kette von göttlichen Gestalten bis zum Reich der Menschen; vgl. Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 86. 43 Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 260. 44 Vgl. Cathy Cantwell, „To Meditate Upon Consciousness as Vajra. Ritual ‚Killing and Liberation‘ in the rNying-ma-pa Tradition“, in: Tibetan Studies: Proceedings of the 7 th Seminar of the International Association for Tibetan Studies, Graz 1995, hg. v. Helmut Krasser, M. Torsten Much, Ernst Steinkellner und Helmut Tauscher, Wien 1997, S. 111 (allerdings in Bezug auf rNying-ma-pa-Praktiken). 42

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gar jene, die es mit Anteilnahme beobachten,45 von dem Heilsgeschehen erfasst. Kohn meint gar, durch den Akt des röhrenhaft vorgestellten Heraussaugens der sublimen Essenz aus dem Körper vermittels des Ritualdolchs, der dann entsprechend als hohl vorgestellt werde, ziehe der Praktizierende die belasteten Bestandteile sowohl seiner selbst als auch des Ling-ga heraus, um sie gen Himmel (akanis..tha)46 zu schicken. Das scheint mir allerdings eine spezielle Interpretation des Ritualvorgangs zu sein, der das Geschehen auf beiden Ebenen in einem – in beide Richtungen ablaufenden – Akt zu verschmelzen sucht. Kohn rechtfertigt dies durch den Vergleich des Ritualdolches mit einem rituell verwendeten Pfeil. Der Pfeil, so assozierte schon Nebesky-Wojkowitz, wird in ‚schamanistischen‘ Traditionen Zentralasiens als Mittel verwendet, mit dem Schamanen Krankheiten aus dem Körper heraussaugen.47 Dass die Negativkräfte im Glauben der Adepten aus dem Ling-ga in den Ritualdolch eingehen, mit dessen nach oben schwingenden Bewegungen diese dann ausgeschleudert werden, berichtet aber auch Cathy Cantwell.48 Ein zweites, autochthones Deutungsmodell stellt die Tötung des Ling-ga in den Kontext der buddhistischen Missionierung Tibets. Dazu wird ein tantrischer Topos der indischen Mythologie aufgegriffen. Dies ist die Unterwerfung bzw. gewaltsame Konversion des dämonischen Rudra (der zornvollen Erscheinung des ´Siva) zum Buddhismus durch Heruka oder andere, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.49 Auch hierzu wird, wie in zahlreichen tantrischen Texten ausgeführt, das „Befreiungsritual“ ausgeführt. Inwiefern memoriert die Erdolchung des Ling-ga aber nun eine tatsächliche, reale Tötung, die damit symbolisch wiederholt würde? Diese Deutung wird durch den Verweis auf ein angeblich historisches Ereig45 46

Vgl. Cantwell, „The Dance of the Gurus Eight Aspects“ (wie Anm. 19), S. 112 f. Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 262, vgl. Cantwell, „To Meditate upon Consciousness as Vajra“ (wie Anm. 44), S. 114. 47 Nebesky-Wojkowitz, Oracles and Demons of Tibet (wie Anm. 9), S. 544. 48 Vgl. Cantwell, „To Meditate upon Consciousness as Vajra“ (wie Anm. 44), S. 114. Mit dem Verweis auf präbuddhistische ‚schamanistische‘ Deutungssysteme kommt allerdings ein weiteres Referenzsystem ins Spiel, dessen Praktiken auch die Ausfahrt einer „Geistseele“ (bla) umfasst. Sie sollen hier aber nicht weiter verfolgt werden, obwohl sie sicherlich auch Eingang gefunden haben. 49 Vgl. dazu Boord, The Cult of the Deity Vajrak¯ıla (wie Anm. 33), und Rolf A. Stein, „La soumission de Rudra et autres contes tantriques“, in: Journal Asiatique 283/1 (1995), S. 121–160.

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nis gestützt, welches den Grund dafür biete, dass die Tötung des Lingga durch Schwarzhuttänzer wiederholt werde. Es handelt sich dabei um die Ermordung des letzten Herrschers der tibetischen Großreichszeit, Langdarma (Glang dar-ma).50 Langdarma regierte etwa von 838 bis 842. Der tibetisch-buddhistischen Geschichtsschreibung zufolge soll er nicht-buddhistischen Adelskreisen nahe gestanden haben. Im Laufe seiner kurzen Amtszeit habe er zunehmend antibuddhistische Aktivitäten entfaltet, wie z. B., buddhistische Schriften zu zerstören, Klöster zu säkularisieren oder gar Mönche töten zu lassen. Schilderungen des Königs sprechen allerdings eher dafür, dass seine Aktivitäten nicht gegen den Buddhismus als solchen, sondern gegen ein bestimmtes ‚monastisches Establishment‘ gerichtet waren, das in wirtschaftlich und militärisch schwierigen Zeiten die Unterstützung einer beträchtlichen Zahl an Mönchen, Bauprojekten usw. einforderte. Dieses Establishment sei es auch, das durch die Taten des Königs bedroht worden sei, während nicht monastisch institutionalisierte tantrische Kreise auch zu dieser Zeit und insbesondere nach dem Ende der Yarlung-Dynastie weitgehend unbehindert praktizierten. Jedenfalls soll der buddhistischen Geschichtsschreibung zufolge ein unweit von Lhasa in einer Höhle lebender tantrischer Eremit namens Pelgi Dorje (dPal-gyi rdo-rje) den Entschluss gefasst haben, die Herrschaft des sündhaften ‚Tyrannenkönigs‘ zu beenden. Manche Texte be´ ıdev¯ı), die Schutzgöttin Tibets, sei ihm schreiben, dPal-ldan lha-mo (Sr¯ im Traum erschienen und habe ihn, wie ein in das 9. Jahrhundert zurückreichender historiographischer Text formuliert, beauftragt, „den Sündenkönig zu töten“ (sdig rgyal gsad).51 Nun besteht aber gerade ein Kernelement der buddhistischen Ethik darin, kein lebendes Wesen zu töten. Texte der Mah¯ay¯ana-Tradition haben jedoch eine Legitimationsstrategie entfaltet, Tötungsakte als eine Befreiung des Getöteten aus seiner karmisch belasteten Existenz zu interpretieren, zu deren Illustration das nun folgende Narrativ dienen kann. 50

51

Vgl. Ellen Pearlman, Tibetan Sacred Dance (wie Anm. 14), S. 9; vorsichtiger Schrempf, „Taming the Earth“ (wie Anm. 16), S. 212. Vgl. hierzu Jens Schlieter, „Tyrannenmord als Konfliktlösungsmodell? Zur Rechtfertigung der Ermordung des ‚antibuddhistischen‘ Königs Langdarma in tibetisch-buddhistischen Quellen“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 11/2 (2003), S. 167–183. sBa bzhed (zhabs btags ma) von gSal snang, Une chronique ancienne de bSam-yas, hg. v. Rolf A. Stein, Paris 1961, S. 81.

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Pelgi Dorje, heißt es, kann erst zur Tat schreiten, nachdem er ein ‚großes Mitgefühl für den König erweckte‘. In dieser Grundhaltung ist er in der Lage, sich von den karmischen Konsequenzen, die durch eine Tötung entstehen, frei zu halten, da er den Tyrannenkönig ja ohne Tötungsintention, sondern aus Mitleid von seinem karmisch belasteten Leben „befreit“ (sgrol-ba). Pelgi Dorje überlegt sich also eine Strategie, die von den Texten als ‚geschicktes Mittel‘ eines Bodhisattva (up¯aya-kau´salya) gedeutet wird. Er nimmt eine wendbare Robe mit einer weißen und einer schwarzen Seite. Sodann färbt er einen Schimmel mit Kohlestaub schwarz. In den weiten Ärmeln des Kaftans, deren schwarze Seite er zunächst nach außen wendet, versteckt er einen Bogen und drei Pfeile und bricht nach Lhasa auf. Wie viele Texte berichten, trifft er den König Langdarma in Shol an, heute ein Stadtteil von Lhasa, oberhalb dessen später der Potala errichtet wurde. Manche Quellen berichten nun, dass Pelgi Dorje, um die Aufmerksamkeit des Königs zu erlangen, einen Tanz – genauer: den späteren Schwarzhuttanz – vorführt52 und dabei insgeheim bereits unter dem langen Mantel einen Pfeil auf den Bogen legt, den er in einem geeigneten Augenblick auf den König abschießt. Jedenfalls gelingt Pelgi Dorje nach dem erfolgreichen Anschlag die Flucht, indem er den Mantel umwendet und mit dem Pferd durch einen Fluss oder See reitet, um die Kohle abzuwaschen. Die Verfolger können ihn, der jetzt im weißen Mantel auf einem Schimmel reitet, nicht mehr wiedererkennen. Um den möglicherweise historischen Kern, die Ermordung des Langdarma, durch einen tantrischen Mönch haben sich somit mythische Narrative gebildet, die dazu dienen, sowohl das Opfer als auch den Täter und den Entschluss zur Tat so darzustellen, dass mögliche Alternativen zur Tötung erst gar nicht in den Blick kommen. So nimmt Pelgi Dorje mit dem Mantel symbolisch eine „schwarze“ Existenz an, die er nach der Tat wieder ablegt, indem er die weiße Seite des Mantels nach außen kehrt. Sogar sein Reitpferd wird, indem er es schwarz färbt, zu einer mythischen Gestalt. Die Rückführung des ’cham auf diesen Gründungsmythos, der auch Züge einer Kultortlegende (um die Orte lHa-lung, Shol sowie Yal-pa) trägt, stellt eine bedeutsa52

Siehe z. B. Helmut Hoffmann, Quellen zur Geschichte der tibetischen Bon-Tradition, Wiesbaden 1950, S. 227.

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me Selbstauslegung der Tradition dar.53 Es ist wohl unwahrscheinlich, dass es sich hier um einen unmittelbaren, historisch belegbaren Zusammenhang handelt, denn bereits die Tötung des Langdarma durch Pelgi Dorje trägt, wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, mythische Züge.54 Hermanns berichtet von einer weiteren Zeremonie, die der Beschreibung von Pelgi Dorje ebenfalls recht nahe kommt. Es ist ein von ihm als „Austreibung des Sündenbocks“ apostrophiertes Fest, welches in Lhasa am 29. oder 30. des zweiten tibetischen Monates stattgefunden haben soll. Hierbei muß ein Mensch, der für diesen Dienst bezahlt wird, das Unheil des Jahres auf sich nehmen. Er wird Lo gon rgyal po genannt, geht herum, um durch Schwingen eines schwarzen Yakschwanzes das Unheil der Leute auf sich zu laden und läßt sich königlich aufwarten. Wenn die Stunde der Austreibung gekommen ist, flieht der ‚Sündenbock‘ auf einem weißen Pferd mit einem weißen Hund und einem weißen Vogel, verfolgt von der Menge, und rettet sich in die Wildnis. Diese Austreibung des alten Jahres fand nach der alten Jahresrechnung um die Wintersonnenwende statt.55 Vgl. Waddell, The Buddhism of Tibet (wie Anm. 29), S. 34 f. und 529; NebeskyWojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 1; vgl. S. 31: „Also this dance, as I was told, is supposed to be based on the story of the king’s Glang dar ma’s assassination, and its principal meaning is the representation of the suppression of evil“. So auch Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 208: „Whether or not the Black Hat dance commemorates the assassination of Langdarma (see Dance One), the structural similarities between that event and the liberation dance are striking. Each is a magical act in which a Tantric Magician (sngags pa) kills an incarnation of evil (an evil bull incarnated as a king, an evil spirit incarnated in the lingka) with a magic weapon. In each case, the weapon (an arrow, a phur bu) has tube-like properties appropriate to the metabolic model of transcendence. In each case, the magician breaks the flow of the victim’s karma and propels his consciousness to paradise“. 54 Auch Kohn ist skeptisch: „In the year 846, while performing it, the sngags pa Lhalung Pelki Dorje assassinated King Langdarma. This story is so well known, that even today performances of the black hat dance recall Pelki Dorje to the Tibetan mind. Strictly speaking, however, the dance does not commemorate that occasion, as some authors have claimed. As Stein rightly points out, if the Black Hat Dance with its attendant (and structurally similar) ceremony of killing the lingka (see Dance Six) was the occasion of assassination of Langdarma, we must presume that it antedates the assassination“ (Kohn, Mani Rimdu (wie Anm. 3), S. 192). 55 Hermanns, Mythen und Mysterien (wie Anm. 11), S. 169. 53

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Ich komme nun zu einem letzten Aspekt des Kerngeschehens. Tatsächlich sollen nämlich ’cham-Tänze dazu benutzt worden sein, um in schädigender Absicht, sogar mit der konkreten Absicht der Tötung, jene, durch die man sich bedroht sah, rituell abzuwehren. Wie Michael Aris ausführt, hat der Zhabs-drung Ngag-dbang rnam-rgyal (geb. 1594, gest. wahrscheinlich 1651) im Rahmen eines ’cham-Rituals versucht, höhere Lamas der bhutanesischen ’Brug-pa-Schule zu schädigen, in dem er ihre Namen auf ein dreieckiges Stofftuch schrieb, das dann unter das Lingga gelegt wurde, um sodann in dem ausgeführten Ritus zerrissen zu werden.56 Zu verweisen ist auch auf Zeugnisse wie etwa die „Geheime Biographie“ des 5. Dalai Lama, die es sehr wahrscheinlich werden lassen, dass diese Rituale spätestens seit dem 17. Jahrhundert auch in der dGe-lugs-pa-Schule durchgeführt wurden.57 Beispiele für ähnlich gestaltete Ausführungen werden auch in jenen Ritualen wieder angetroffen, die der „Abwehr mongolischer Truppen“ 56

57

Vgl. Michael Aris, „‚The Admonition of the Thunderbolt Cannonball‘ and its Place in the Bhutanese New Year Festival“, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 39 (1976), S. 601–635 [615]. Schrempf gibt ein weiteres Beispiel zum Kontext der Tänze als ‚gewaltsame Abwehr‘: „The Mah¯ayaksha ’cham of the dGe-lugs-pa monastery of rDzong-dkar [or: -dga’] Chos-sde which formerly existed in Gung-thang [. . . ] is said to have been created because of continuous attacks by neighbouring peoples of the sTod-hor region who, after the abbot established the dance according to his vision, never attacked them again“ (Schrempf, „Taming the Earth“ (wie Anm. 16), S. 212). Abwehrrituale finden sich auch in klassischtantrischen Texten, z. B. dem Hevajra-Tantra: vgl. David L. Snellgrove, The Hevajra Tantra. A Critical Study. Part I: Introduction and Translation, London 1980, S. 52; dazu Karénina Kollmar-Paulenz, „Das Abwehren der Mongolen (tib. sog zlog pa). Tibetisch-buddhistische Reaktionen auf die Eingliederung Tibets in das mongolische Weltreich“, in: Gewalt und Gewaltlosigkeit im Buddhismus, hg. v. Lambert Schmithausen, Hamburg 2006 (Arbeitsmaterialien Buddhismus in Geschichte und Gegenwart, 10), S. 249–265 [262]. Daher ist es auch klar, dass sich Nebesky-Wojkowitz nicht auf die symbolische Ebene retten kann: „The text unfortunately does not explain whether the bam [= ling-ga, d. Vf.] is purely imaginary or whether a real effigy is brought into the square where the ’chams is held. Several characteristic features mentioned in connection with the linga occur also in the case of the bam: the ‚corpse‘ occupies the center of the dance circle, the dancers first move around it as if afraid, then they ‚threaten‘ the bam and finally ‚kill‘ it (bsgral ba). The names and sequence of these eleven concluding actions of the ’chams – [. . . ] show many similarities with the main features of the gcod rite“ (Nebesky-Wojkowitz, Tibetan Religious Dances (wie Anm. 2), S. 103).

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(hor-dmag bzlog-pa) dienten.58 Hierzu wurden neben gTor-ma, aus Tsampa (besagter Teig aus Butter, Gerstenmehl und Wasser) hergestellte konische Opferkuchen, wiederum auch Ling-ga verwendet. In diese wurden die mongolischen Truppen zeremoniell hineingebannt, und das Opfersubstitut anschließend in einem Feueropfer (sbyin-bsregs) verbrannt. Wie Kollmar-Paulenz berichtet, hat Sog-bzlog-pa Blo-gros rgyal-mtshan (1552–1624), ein Lama der rNying-ma-pa-Tradition, eine Anleitung zu einem solchen Abwehrritual verfasst, das keinen Zweifel an dem Erfolg der Zeremonie aufkommen lassen möchte: „die Pforten des Palastes und der Meditationsraum füllten sich mit dem Geruch der Mongolen; dies veranlasste großen Glauben bei allen [anwesenden] Menschen“ (fol. 19v1–2 ).59

Religionswissenschaftliche Deutungsversuche Eine der am häufigsten vorgetragenen Theorien der Ling-ga-Tötung aus externer Perspektive deutet dies als Dämonenaustreibung, die – auch in anderen Kulturen bekannt – üblicherweise in der Nähe der Wintersonnenwende und des natürlichen Jahreswechsels liegt. Die Dämonen (zum Beispiel in ihrer lebensweltlichen Konkretisierung als persönliche Verfehlungen des alten Jahres), so die Theorie, werden also in das als Sündenbock fungierende Opfersubstitut hineingebannt und zerstört. Solche Strukturen sind zum Beispiel in rheinischen Karnevalsfesten auszumachen, etwa die Verbrennung einer anthropomorphen Strohpuppe (des „Nubbel“) in der Nacht des Karnevalsdienstag auf den Aschermittwoch. In einer der Verbrennung vorangehenden Zeremonie wird dem Nubbel die Schuld an all den „sündigen“ Verfehlungen gegeben, die die Teilnehmenden begangen haben. Im Kontext einer Dämonenaustreibung wären auch die karnevalesken Rollenverkehrungen und Maskierungen zu deuten. In archaischen Zeiten, so eine Variante dieser Theorie, sei bei Jahreswechselfeiern anstelle des Substituts tatsächlich ein Mensch geopfert worden, eine Frage, die sich ja auch angesichts des realistisch ausgestalteten Ling-ga durchaus stellt. Andererseits ist den Schilderungen gewisser – auf symbolischer Ebene vollzogener – anthropophager Zeremonien, die im Zusammenhang mit ’cham-Tänzen 58 59

Kollmar-Paulenz, „Das Abwehren der Mongolen“ (wie Anm. 56), S. 260 f. Ebd., S. 261.

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berichtet wurde, mit Skepsis zu begegnen, da sie ohne klare Belege vorgetragen wurden.60 Eine elaborierte Fassung der Sündenbock-Theorie ist bekanntlich von René Girard entwickelt worden. Er sah, an Freud anknüpfend, im Opfer die rituelle Wiederholung eines Gründungsmordes, der, indem er zeremoniell wiederholt wird, der kathartischen Aggressionskanalisierung dient.61 Denn die durch Gewaltakte selbst ausgelöste Begierde, Gewalt nachzuahmen, müsse von der Gemeinschaft regelmäßig abgezogen und auf ein Substitut projiziert werden. Ohne hier auf weitere Theorieelemente des Girard’schen Ansatzes eingehen zu können, lässt sich bereits erkennen, dass ein solcher Vorgang stimmig in der Tötung des Langdarma gesehen werden könnte, die ja nach autochthonen Deutungen im Tanz symbolisch wiederholt wird. Tatsächlich könnte die Tötung des Langdarma einen Akt gemeinschaftsbildender Verschuldung darstellen, dessen rituelle Wiederholung und Entschuldung dann über die „Opfergabe der Befreiungstötung“ (bsgral-ba’i mchod-pa) erfolgte. Diesem Deutungsmodell, so verlockend seine Anwendung auf den vorliegenden Fall auch sein mag, steht aber entgegen, dass die Ermordung Langdarmas aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf die Weise geschah, wie sie überliefert wird. Mit anderen Worten: die rituelle Tötung Langdarmas ist selbst schon ein Produkt der kollektiven Mythenproduktion und nicht, wie es für Girards Theorie vonnöten wäre, ein historisches Ereignis. Als zweites Argument gegen eine schlüssige Anwendung dieser Theorie auf das besagte Tanzritual lässt sich hinzufügen, dass die vollständige Aggressionsumlenkung durch die Ling-ga-Opferung ja nicht gelingt, oder, besser gesagt, der Aggressionsabbau oft offenkundig nicht einmal in der Absicht der Aufführungen liegt. Denn in diesen wurde die evokative Zeremonie vielmehr mit der Intention der direkten – und nicht symbolisch simulierten – Schädigung realer Gegner unternommen. Deshalb kann auch die von 60

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Vgl. Hermanns, Mythen und Mysterien (wie Anm. 11), S. 156–157 und 172–174: ein Opfersubstitut, das ursprünglich vollzogene Menschenopfer abgelöst haben soll – allerdings ohne weitere Belege zu geben. Hermanns deutet aus den Mythen der Herrschergenealogie der frühen Großreichszeit und fraglichen Momenten, dass etwa das Ling-ga der Totengott selbst sei, der sich verzehre. Das ganze Mysterienspiel laufe dann darauf hinaus, die Unsterblichkeit wiederzugewinnen. Vgl. René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988, sowie ders., Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1994.

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buddhistischen Interpreten angeführte autochthone Deutung, es handele sich bei der rituellen Tötung um ein vorbuddhistisches Traditionsgut, das buddhistische Gemeinschaften gerade in der Absicht übernommen hätten, die reale Gewalt auf symbolischer Ebene zu sublimieren, als Gesamtdeutung nicht wirklich überzeugen. Eine weitere Deutung des ’cham schließt hingegen an das Modell nomadischer Fruchtbarkeits-, Jagd- und Bestattungsriten an.62 Diese Theorie, die von dem Baseler Gelehrten Karl Meuli am Beispiel altgriechischer Speiseopfer entworfen und von Walter Burkert anthropologisch generalisiert wurde,63 versteht sich als Theorie des Ursprungs von Opferriten aus der paläolithischen Jägerkultur.64 Die Ling-ga-Opferung stellt, von dieser Perspektive aus gesehen, letztlich eine rituelle Schlachtung dar, die allerdings in einer ambivalenten Gefühlslage vollzogen wird: Zu dem Hoffen auf künftige Jagderfolge gesellen sich Gefühle des Mitleids und der Gestus der rituellen Entschuldung bei den Tieren sowie die Angst vor Rache (zum Beispiel durch Tiergottheiten, die sich gegen die Tötung stellen). Im tibetisch-buddhistischen Kontext kann beobachtet werden, dass diese Jagdriten und -narrative durch Erzählungen von Bekehrungen berühmter Jäger durch buddhistische Meister überlagert oder ergänzt worden sind.65 Für eine solche Deutung der Ling-gaTötung als ‚Jagdzauber‘ kann sprechen, dass einige Masken offenkundig tatsächlich Jagd- und Opfertiere darstellen: Hirsche, Yaks, Stiere, Schafe und andere Nutztiere bzw. die mit diesen verknüpfte Gottheiten werden durch Tänzer verkörpert. Dennoch scheint mir dieser mögliche Ursprung im Falle der ’cham-Tänze zeitlich so weit zurück zu liegen, dass es kaum Sinn ergibt, diese Schicht unter den anderen Deutungsebenen monokausal als primäre freilegen zu wollen. Die Möglichkeit der Deutung als Ritus zur Sicherung des Jagderfolgs scheint vielmehr darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Tänzen um ein aus heterogenen Herkünften entstammendes Ensemble von Sequenzen handelt, die

62 63 64 65

Hermanns, Mythen und Mysterien (wie Anm. 11), S. 140 ff. Vgl. Walter Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers: die Sakralisierung der Gewalt, München 1984. Vgl. Walter Burkert, Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, (erw. Aufl.) Berlin 1997, S. 8 ff. und 334 ff. Vgl. hierzu de Montmollin, „Some More on the Sha ba sha khyi ’cham“ (wie Anm. 26).

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sich keiner monolithischen Theorie zur Herkunft und Bedeutung des Tanzes als Gesamtheit fügen. Zu guter Letzt kann aber gefragt werden, welchen funktionalen Effekt die Ling-ga-Opferung speziell für die kommunikativen Beziehungen in der Ritualgemeinschaft spielen könnte. Nach der Opfertheorie von Henri Hubert und Marcel Mauss (1898)66 dient das Opfer der Herstellung einer kommunikativen Beziehung zwischen der profanen und der sakralen Welt. Um das Opfer nicht einer gewöhnlichen Tötung gleichzustellen, sind Riten vonnöten, die den Opferraum in einen Sakralraum verwandeln, der die Kommunikation mit dem Sakralen öffnet. Dieses Modell, das hier ebenfalls nur verkürzt dargestellt werden kann, beruht darauf, dass üblicherweise eine Trennung zwischen den Sphären des Sakralen und Profanen existiert, die in wiederkehrenden Opferfesten aufgehoben wird. Indem die Zerstörung des Opfertieres oder Opfersubstitutes vollzogen wird, stellt sich ein Moment der unbehinderten Kommunikation zwischen den Welten ein. Diese Theorie, auf die Ling-ga-Opferung angewandt, hat das Moment für sich, dass sie auch die meditative Ebene der Überwindung ‚innerer Gifte‘, die der Teilnehmer des Ritus zu verwirklichen trachtet, in das Geschehen einbeziehen kann, indem es als außergewöhnliche Kommunikation mit den Gottheiten (etwa den Yi-dam) interpretiert werden kann. Doch kann zuletzt das kommunikative Geschehen auch ohne einen Bezug auf die von Mauss und Hubert verwendete, religionswissenschaftlich nicht unumstrittene Konstruktion einer Dichotomie des Heiligen und des Profanen beobachtet werden. In der Definition von Niklas Luhmann sind Rituale „Prozesse feierlicher, wichtiger Kommunikation, die zugleich dazu dienen, das Risiko aller Kommunikation, den möglichen Fehlgebrauch der Symbole, zu kontrollieren bzw. als kontrolliert darzustellen.“67 Die Funktion der Ling-ga-Tötung wäre dann so beschreibbar, dass sie die theoretischen und praktischen Lehren der religiösen Spezialisten tibetisch-buddhistischer Schulen, wie z. B. tantrische Lehren, in ein Ritual übersetzt präsentiert, um so die Ebene dieser eigentlichen 66 67

Marcel Mauss und Henri Hubert, „Essai sur la nature et la fonction du sacrifice“, in: L’année sociologique 2 (1898), S. 29–138. Niklas Luhmann, Die Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1990, S. 81, mit Bezug auf Roy A. Rappaport, „Ritual, Sanctity and Cybernetics“, in: American Anthropologist 73 (1971), S. 59–76; vgl. Maurice Bloch, „Symbols, Song, Dance and Features of Articulation“, in: Europäisches Archiv für Soziologie 15 (1974), S. 55–81.

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Wirklichkeit anderen Spezialisten, aber auch den Laienzuschauern augenfällig zu machen. Zugleich führt dieser Prozess zu einer ‚Entwirklichung‘ der alltäglichen profanen Lebenswelt, die außen vor bleiben soll. Indem die Tänzer Rollen der Schutzgottheiten, Dämonen, oder auch vermeintlich historischer Gestalten wie dem Hva Zhang übernehmen, demonstrieren sie durch die eindrucksvolle Maskierung die eigentliche Realität und deren Macht. Den Laienzuschauern kann so eindringlich vorgeführt werden, wie eine rituelle Befreiungstötung stattfindet, die außerhalb ihrer Kontextualisierung in einem Tanzfest von den Ritualspezialisten jederzeit gegen reale Gegenmächte, d. h. Personen oder feindliche Armeen, gewendet werden kann. Zugleich wird diese Wirklichkeitsebene und ihre intendierte, aber aller Anklänge an alltägliche, profane und damit sanktionierte Tötungsakte entkleidet, denn es ergibt sich ja für die Spezialisten immer auch die apologetische Deutungsmöglichkeit, sich auf die Ebene der symbolischen Interpretation des Geschehens zurückzuziehen.68 Sicherlich ist der ’cham-Tanz ein Phänomen heterogener Herkünfte, dessen Komplexität sich verstärkt, indem bereits in der autochthonen Tradition Deutungsebenen entworfen worden sind, die den unterschiedlichen Ursprüngen und Verwendungen gerecht werden sollen. Neben den Versinnbildlichungen buddhistischer Lehren tauchen sowohl Elemente nomadischer Jahreswechselfeste auf als auch rituelle Umsetzungen retrojizierter Ereignisse, die im kollektiven Gedächtnis eine Rolle spielen (sollen). Zu guter Letzt geht mit der Form einer öffentlichen Tanzaufführung einher, dass das ganze dargestellte Geschehen bestimmten Anforderungen eines Publikums genügen muss. Es würde dem Interpreten sicherlich einfacher gelingen, eine klare Linie in den Tänzen auszumachen, wenn sich die Ritualspezialisten an die antike Regel der Athene-Polias-Priesterin Lysimache gehalten hätten: Als diese, wie Plutarch berichtet, von den Eseltreibern, die ihr die Gefäße mit heiligem Wasser gebracht hatten, gefragt wurde, ob sie etwas zu trinken haben

68

Neben symbolischen Interpretationsansätzen besteht überdies auch immer die Möglichkeit, das ganze Geschehen in einen neuen Kontext einzuordnen, wie zeitgenössische ‚pazifizierte‘ Deutungen des Tanzes demonstrieren – vgl. Mona Schrempf, „From ‚Devil Dance‘ to ‚World Healing‘. Some Representations, Perceptions and Innovations of Contemporary Tibetan Ritual Dances (’cham)“, in: Tibetan Culture in the Diaspora, hg. v. Frank J. Korom, Wien 1997, S. 91–102.

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könnten, soll Lysimache geantwortet haben: Nein, denn ich fürchte, es würde dann Teil der Zeremonie werden.69

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Plutarch, Moralia 534C, Text in: Plutarchi moralia. Bd. 3, hg. v. W. R. Paton, M. Pohlenz und W. Sieveking, Leipzig 1972, übersetzt z. B. in William Goodwin, Plutarch’s Morals. Vol. I, Boston 1878, S. 73.

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Körperstrafen: Der Anteil der Bilder an den Strafritualen des Mittelalters Ulrich Rehm (Bochum) Schuld und Schande Körperstrafen wären unter dem Aspekt des Rituellen kaum von Interesse, wenn sie Bestandteil einer reinen Schuldkultur wären1 – denn dann wären die Strafen eine bloße Ausgleichsleistung, und über die Art und den Umfang dieses Ausgleichs im Verhältnis zum jeweiligen Vergehen ließe sich diskutieren. Brisant wird das Thema dort, wo es um Scham geht. Denn eine Schamkultur beruht auf einem symbolischen System, in dem die Skala zwischen Ehre und Schande sehr präzise definiert ist. Diesem Gedanken entsprechend sind hier ritualisierte Handlungen und kodifizierte Gesten von zentraler Bedeutung.2 Sehr deutlich hat dies Michel Foucault in Überwachen und Strafen herausgestellt: Die Marter ist [. . . ] Teil eines Rituals. Sie ist ein Element in einer Strafliturgie, in der sie zwei Anforderungen zu entsprechen hat. Auf Seiten des 1

2

Wertvolle Hinweise verdanke ich Claudia Benthien sowie den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern der Berner Ringvorlesung, insbesondere Thomas Richter. Grundlegend: Ulrich Andermann, „Das Recht im Bild. Vom Nutzen und Erkenntnisgewinn einer historischen Quellengattung (Ein Forschungsüberblick)“, in: Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, hg. v. Andrea Löther u. a., München 1996, S. 421–451. Die These von Scham- und Schuldkultur wurde vor allem entwickelt von Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture, London 1947; Erec Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1979. Vgl. auch Gerhart Piers und Milton B. Singer, Shame and Guilt. A Psychoanalytic and a Cultural Study, Springfield 1953; Gabriele Tylor, Pride, Shame and Guilt: Emotions of Self-Assessment, Oxford 1985; Léon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schameffekten und Schamkonflikten, Berlin 2 1993; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 8 1994; Bernard Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, Berlin 2000; Martha C. Nussbaum, Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law, Princeton 2004.

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Opfers muß sie brandmarkend sein: durch die Narbe, die sie am Körper hinterläßt, oder durch das Aufsehen, das sie erregt, muß sie ihr Opfer der Schande ausliefern; [. . . ] sie gräbt [. . . ] am Körper des Verurteilten Zeichen ein, die nicht verlöschen dürfen. [. . . ] Und auf Seiten der Justiz muß die Marter aufsehenerregend sein, sie muß von allen zur Kenntnis genommen werden – als Triumph der Justiz. [. . . ] Die peinliche Strafe [. . . ] ist eine differenzierte Produktion von Schmerzen, ein um die Brandmarkung der Opfer und die Kundgebung der strafenden Macht herum organisiertes Ritual [. . . ].3

Welchen Anteil an einem solchen ‚Ritual‘ im Mittelalter die bildende Kunst hatte, soll im Folgenden, nach Darstellungsfunktionen gegliedert, anhand markanter Beispiele untersucht werden. Zunächst jedoch werden auf der Grundlage historischer Nachrichten über den Umgang mit sogenannten Sodomie-Vergehen einige wesentliche Gesichtspunkte des Verhältnisses von Vergehen und Bestrafung vorgestellt.

Spiegelungen Im Jahr 1418 wurde in Venedig eine Behörde eingerichtet, die sich Collegium contra Sodomitas nannte. Der Begriff der Sodomie leitet sich von der Stadt Sodom her und bezeichnete damals die Ausübung homosexueller Handlungen.4 1432 wurde auch in Florenz eine entsprechende Behörde installiert, die sogenannten Sei Ufficiali di Notte. 1443 wurde diese mit der Klosteraufsichtsbehörde zusammengelegt, so daß eine Behörde mit dem Namen Ufficiali di Notte e dei Monasteri entstand. Während der siebzigjährigen Tätigkeit der Behörde in Florenz (bis 1502) wurden über 17 000 männliche Florentiner unter Anklage gestellt. Das heißt, wohl mehr als zehn Prozent der männlichen Florentiner geriet unter konkreten Verdacht. Rund 3000 wurden verurteilt. Homosexualität betraf übrigens ausschließlich die männliche Bevölkerung, denn der Vorwurf der Schändlichkeit homosexueller Handlun3 4

Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994 [1975], S. 47. The Pursuit of Sodomy. Male Homosexuality in Renaissance and Enlightenment Europe, hg. v. Kent Gerard und Gert Hekma, New York 1989; Michael Rocke, Forbidden Friendships. Homosexuality and Male Culture in Renaissance Florence, New York 1996; Bernd-Ulrich Hergemöller, Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter, Hamburg 1998.

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gen resultierte aus der damaligen Vorstellung von den biologischen Voraussetzung menschlicher Fortpflanzung. Da man von Spermien und Eizelle, Chromosomen und Zellteilung nichts wusste, ließ sich leicht die These vertreten, der Nachwuchs sei bereits vollständig im männlichen Samen enthalten und bedürfe lediglich eines Ernährungs- und Austragungsortes im Körper der Frau. Dementsprechend konnte man behaupten, daß beim gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr der männliche Samen sinnlos verschleudert und somit dem bereits existenten Nachwuchs der ‚Nährort‘ verweigert werde.5 Der später heilig gesprochene Bernardin von Siena (1380–1444) etwa ergriff in einer Predigt stellvertretend die Stimme der angeblich so bereits vor ihrer Geburt Getöteten, die nach Rache und Vergeltung schrien, weil ihre als Wahnsinnige und Verblendete beschimpften Väter sie nicht an einen gesicherten Ort des Gedeihens weitergereicht hätten.6 In den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts, zu einer Zeit als der Große Rat (Consiglio Maggiore) in Florenz stark unter dem Einfluß von Girolamo Savonarola (1452–1498) stand, wurde die Verfolgung der Sodomie erheblich verschärft.7 Am 29. Dezember 1494 wurde ein Gesetz gegen das ‚Laster‘ verabschiedet, das oft als ‚unaussprechliches‘ bezeichnet und damit als besonders schändlich markiert wurde. Darin heißt es, daß jede Person über 18 Jahren, welche die Sünde der Sodomie begangen habe, zu einer Stunde am Pranger verurteilt und aus allen öffentlichen Ämtern und Ehrungen entlassen werden solle. Für Wiederholungstäter gibt es Steigerungen: Wer sich zum zweiten Mal schuldig mache, solle von einer Amtsperson mit auf den Rücken gefesselten Händen über alle öffentlichen Plätze geführt und schließlich am Mercato Vecchio an die Säule gesiegelt und mit dem Stadtwappen mitten auf 5

6 7

Zum Frauenbild der frühen Renaissance in Italien vgl. Virtue and Beauty. Leonardo’s Ginevra de’Benci and Renaissance Portraits of Women, hg. v. David A. Brown, Princeton 2001. Ernst Piper, Savonarola. Prophet der Diktatur Gottes, Zürich und München 1998 [1979], S. 70. Joseph Schnitzer, Savonarola. Ein Kulturbild aus der Zeit der Renaissance. 2 Bde., München 1924; Ronald Martin Steinberg, Fra Girolamo Savonarola, Florentine Art, and Renaissance Historiography, Athens (Ohio) 1977; Piper, Savonarola (wie Anm. 6); Franco Cordero, Savonarola. Il profeto delle meraviglie 1494–1495. 2 Bde., Bari 1987; Marcia B. Hall, „Savonarola’s Preaching and the Patronage of Art“, in: Christianity and the Renaissance. Image and Religious Imagination in the Quattrocento, hg. v. Timothy Verdon und John Henderson, Syracuse 1990, S. 493–522.

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der Stirn gebrandmarkt werden.8 Das Gesetz wurde also nunmehr in den Körper eingeschrieben.9 Beim dritten Mal solle die betreffende Person durch alle öffentlichen Orte geführt und schließlich am Ort des ‚Exzesses‘ durch Feuer hingerichtet werden. Es geht also nunmehr um die möglichst vollständige Auslöschung des Körpers. Es versteht sich, daß die Florentiner, jedenfalls die finanzkräftigen, Auswege fanden und sich von solchen, sogenannten ‚peinlichen‘ Strafen freikauften. Schon im folgenden Jahr predigte Savonarola gegen die laxe Rechtsprechung an: Nicht mit Geldbußen solle man strafen und nicht hinter verschlossenen Türen, sondern ein Feuer entfachen, von dem ganz Italien spreche. Das ist die zentrale Vision Savonarolas: das große Feuer, in dem alles endgültig verbrennt, was der Herrschaft Gottes auf Erden zugegen läuft.10 In der Semantik der mittelalterlichen Strafen liegt die Ausübung der Homosexualität somit auf einer Stufe mit Ketzerei und Hexerei. Im Jahr 1497 erließ die Signoria Verschärfungen, die mit einer Förderung der Denunziation einhergingen. Bemerkenswert ist, dass Homosexuelle sich im Rahmen einer humanistischen Streitkultur zum Teil gegenseitig denunzierten und damit offenbar auch mit der Gefahr der Verfolgung spielten. Angelo Poliziano (1454–1494) zum Beispiel beantwortete ein Spottgedicht auf seine lange Nase und seinen krummen Hals von Mabilius Insubres da Novate mit einem Epigramm, in dem es unter anderem heißt: Aber was quält es dich, wenn ich mitunter einen krummen Hals habe? Oder scheint es dir etwa zu wenig, wenn du deine Lustknaben nach vorne beugst? Und wenn dich bald die Hände des Henkers nach vorne beugen, armer Mabilius, genauso wie dich jetzt deine Knaben mit den eregierten Gliedern nach vorne beugen?11 8 9 10 11

Piper, Savonarola (wie Anm. 6), S. 67–70. Michel de Certeau, „Des outils pour écrire le corps“, in: Traverses 14/15 (1979), S. 3–14. Piper, Savonarola (wie Anm. 6), S. 68. Nicole Hegener, „Angelus Politianus enormi fuit naso [. . . ]“, in: Antiquarische Gelehrsamkeit und Bildende Kunst. Die Gegenwart der Antike in der Renaissance, Köln 1996 (ATLAS. Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung, 1), S. 85–121 [89 f.]: Sed quid te cruciat, reflexa colla / Si interdum gero? Num parum uidetur, / Si pronos statuis tuos cenaedos? / Si pronum stauent miser Mabili / Mox te carnificis manus, uelut nunc / Pronum te statuunt mutoniati? – Vgl. auch: Dieter Schaller, „Poggio Bracciolinis Invektive gegen Niccolò Perotti. Ein Stück von der Nachtseite des Renaissance-Humanismus“, in: Florenz in der Frührenaissance. Kunst – Literatur –

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Signifikant ist hier zweierlei: Erstens wird das „nach-vorne-Beugen“ des Körpers als schändlich gekennzeichnet, und zweitens wird die Analogie hergestellt zwischen dem in dieser schändlichen Haltung begangenen Vergehen und dessen peinlicher Bestrafung: Die Lustknaben beugen den Körper des Sodomiten nach vorn, so wie es der Henker bei der Hinrichtung tut. In der Strafe wird offensichtlich eine Spiegelung des Vergehens erkannt; ein deutlicher Bezug zum System der bildlichen oder spiegelnden Strafen des Mittelalters. Im Falle der Nase Polizianos ist zu vermuten, daß diese nicht – wie bisher recht einseitig erläutert – allein als physiognomischer Ausweis von dessen Gelehrsamkeit und Bildung galt, sondern zugleich als zur Schau getragene Provokation. Auch wenn das Abschneiden der Nase von Sodomiten in Venedig und Florenz in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nur noch selten und wohl überwiegend zur besonderen Abschreckung praktiziert wurde – es blieb ein markantes Sinnbild für die öffentliche Markierung der zerstörten sexuellen Ehre.12 Hier kann zwar nicht von Spiegelung im eigentlichen Sinne gesprochen werden, die Bedeutung des Naseabschneidens verdankt sich jedoch einem Übertragungsprozess, der letztendlich aus dem Prinzip der Spiegelung resultiert. Daß der weithin als homosexuell geltende Poliziano seine – zudem auffallend große – Nase so offensichtlich im Gesicht trug (vgl. Abb. 1), konnte demnach als skandalöser Triumph über den Anstand gelten.13 Was sich mit der radikalen Position Savonarolas an der Schwelle zur frühen Neuzeit hin abzeichnet, ist das Aufbegehren gegen einen gesellschaftlichen Wandel. Das bewährte Verhältnis zwischen Schamund Schuldkultur schien manchen Zeitgenossen in einem als bedrohlich empfundenem Maße seinen Schamanteil zu verlieren. Als ein konkretes Anzeichen dafür, daß eine solche Verschiebung tatsächlich stattfand, wird das deutliche Abnehmen der bildlichen und der spiegelnden Stra-

12 13

Epistolographie in der Sphäre des Humanismus, hg. v. Justus Müller Hofstede, Rheinbach 2002, S. 171–180. Valentin Groebner, Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München und Wien 2003, S. 71–93 [84]. Vgl. Kay Himberg, „Phantasmen der Nase. Literarische Anthropologie eines hervorstechenden Organs“, in: Körperteile: Eine kulturelle Anatomie, hg. v. Claudia Benthien und Christoph Wulf, Reinbek 2001, S. 84–103 [98 f.].

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Abbildung 1: Büstenbildnis Polizianos mit Kopf eines Rinozeros, Holzschnitt, Giovanni Battista Della Porta, Della Fisonomia dell’huomo libri quattro, Neapel 1598, S. 163.

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fen mit Beginn der frühen Neuzeit gewertet.14 Es sollte allerdings noch mehr als 300 Jahre dauern, bis die peinlichen Strafen allmählich aus dem Rechtssystem der abendländischen Gesellschaft verschwanden.15 Savonarola verurteilte das seinerzeit herrschende Zweiklassensystem: den Ärmeren blieb die Schande, die Reicheren konnten sich von beinahe jeder Schuld freikaufen. Die Vorstellung Savonarolas von einer theokratischen Gesellschaftsform erforderte hingegen das radikale Sichtbarmachen alles Lasterhaften und Verbrecherischen, um dieses brandmarken und ausmerzen zu können und so die Hauptvision verwirklicht zu sehen: Florenz als Neues Jerusalem. Die großen bruciamenti delle vanità („Verbrennungen der Eitelkeiten“) von 1497 und 1498, die Savonarola anstelle des Karnevals feiern ließ, konfrontierten die Zuschauer mit einer klaren Hierarchie des Schandhaften.16

Schandbilder Von einem der wichtigsten Bildtypen im Dienst einer ritualisierten Schamkultur ist heute nahezu nichts mehr vorhanden. Es sind die sogenannten öffentlichen Schandbilder.17 Zu den berühmtesten zählt heute jenes, das Sandro Botticelli (1444/45–1510) bald nach dem Attentat auf Lorenzo und Giuliano de’ Medici während der sogenannten PazziVerschwörung 1478 malte.18 Schon in der Wirklichkeit waren die LeiGroebner, Ungestalten (wie Anm. 12), S. 91. Foucault, Überwachen (wie Anm. 3). Horst Bredekamp, „Renaissancekultur als ‚Hölle‘. Savonarolas Verbrennungen der Eitelkeiten“, in: Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, hg. v. Martin Warnke, München 1973 (Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins für Kunstwissenschaft, 1), S. 41–64 und 150–159. 17 Martin Wackernagel, Der Lebensraum des Künstlers in der Florentinischen Renaissance. Aufgaben und Auftraggeber, Werkstatt und Kunstmarkt, Leipzig 1938, S. 196 f.; Gherardo Ortalli, Pingatur in palatio. La pittura infamante nei secoli XIIIXVI, Rom 1979; Samuel Y. Edgerton Jr., Pictures and Punishment. Art and Criminal Prosecution during the Florentine Renaissance, Ithaca und London 1985; Matthias Lentz, Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ca. 1350 bis 1600). Mit einem illustrierten Katalog der Überlieferung, Hannover 2004. 18 Zur Pazzi-Verschwörung vgl. Harold Acton, The Pazzi Conspiracy. The Plot Against the Medici, London 1979; Ingeborg Walter, Der Prächtige. Lorenzo de’ Medici und seine Zeit, München 2003, S. 142–163; Lauro Martines, Die Verschwörung. Aufstieg und Fall der Medici im Florenz der Renaissance, Darmstadt 2004. 14 15 16

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chen der Verschwörer an ihren Stricken in den Palastfenstern zu Bildern ihrer eigenen Schande geworden.19 Doch ihre Schändung sollte von Dauer sein. Nach einer Sitte, die in Florenz bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht, wurde Botticelli damit beauftragt, die acht Hauptverschwörer als Gehenkte an die Wand über der Tür der Dogana zu malen, in der Via de’ Gondi also, zwischen der Seitenfassade des Palazzo della Signoria und dem Bargello.20 Am 21. Juli 1478 erhielt er vom Florentiner Magistrat die Summe von 40 Florin für das ‚Malen der Verräter‘, wie es hieß. Unter dem Gemälde befand sich ein Spottgedicht von Lorenzo de’ Medici (1449–1492) selbst. Zu Bernardo Bandini, der Giuliano de’ Medici den ersten Stich versetzt haben soll, war hier zu lesen: Ich bin Bernardo Bandini, ein neuer Judas / Ein tödlicher Verräter in der Kirche bin ich gewesen, / und ich habe rebelliert, um einen weit härteren Tod zu erwarten.21

Bandini, dem auf einer neapolitanischen Galeere die Flucht nach Konstantinopel geglückt war, wo er Unterschlupf bei Verwandten in Pera gefunden hatte, war vermutlich zunächst an den Füßen hängend dargestellt. Im Frühjahr 1479 ließ Sultan Mehmet II. ihn verhaften, und schon im Juni war die Ergreifung in Florenz bekannt.22 Es wurde ein Auslieferungsantrag gestellt und der Sultan sicherte zu, Bandini bis Mitte August in Haft halten zu wollen. Nach dem Empfang eines Florentiner Gesandten lieferte er Bernardo dann aus: Am 7. Dezember traf der Gefangenentransport in Venedig ein und erreichte schließlich am Heiligen Abend Florenz. Schon am 29. Dezember wurde Bernardo im Bargello gehenkt. Lorenzo de’ Medici selbst erlebte dieses spektakuläre Ereignis nicht mit, da er zu langwierigen Friedensverhandlungen nach Neapel aufgebrochen war. 19 20 21

22

Edgerton, Pictures (wie Anm. 17), S. 98–100. Ronald Lightbown, Sandro Botticelli: Life and Work. 2 Bde., London 1978, Bd. 1, S. 48 f. Son Bernardo Bandini un nuovo Giuda / Traditore micidiale in chiesa io fui, / Ribello per aspettare morte più cruda. Zitiert nach: Il Codice Magliabechiano cl. XVII. 17, hg. v. Carl Frey, Berlin 1892, S. 104 f.; vgl. ebd., S. 354–361 (Kommentar). S. a. L’Anonimo Magliabechiano, hg. v. Annamaria Ficarra, Neapel 1968 (Collana di studi e testi per la storia dell’arte diretta da Ottavio Molisani 1), S. 112–115. Franz Babinger, Mehmed der Eroberer: Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1987 [1953], S. 424–427.

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Vermutlich unmittelbar nach dem Galgentod Bandinis am Bargello wurde das Schandgemälde geändert. Eine wohl kurz nach dem Ereignis entstandene Federzeichnung von Leonardo da Vinci (1452–1519) zeigt den nunmehr am Hals exekutierten Bernardo – das einzige bildliche Zeugnis des einstigen Schandgemäldes (Abb. 2).23 Offenbar war es vor allem das osmanische Kostüm Bandinis, das Leonardo interessierte, denn er machte sich am Rand der Zeichnung Notizen dazu.24 Was heute als Gemäldeauftrag befremdlich erscheinen mag, war für Botticelli vermutlich eine ganz gewöhnliche, vielleicht sogar ehrenvolle Staatsaufgabe. Die Signoria von Florenz wollte diese lange nachwirkende Form der Schändung ganz für die eigenen Belange vorbehalten wissen.25 1415 wurde deshalb ein ausdrückliches Verbot erlassen, Schandbilder an Privathäusern anzubringen oder, was als besondere Herabwürdigung galt, an Bordellen. Nach der Schlacht von Anghiari im Jahr 1440 hingegen hatte der damals erst achtzehnjährige Andrea del Castagno (1421–1457) den Auftrag erhalten, am Bargello die Bildnisse der von Cosimo il Vecchio Vertriebenen zu malen, was ihm den Beinamen degli Impiccati einbrachte. Unter den gewaltigen und häufigen politischen Umbrüchen der Zeit hatten die Schandbilder allerdings zumeist kein allzu langes Bestehen. Festzuhalten ist, daß die erzielte Schändung durch die Schandgemälde das Ergebnis einer Ritualisierung des Strafens ist, die den jeweiligen Souverän öffentlich als Ankläger, Richter und Strafvollstrecker in einem erscheinen läßt.26 Dabei kommt den Betrachtern zweierlei Stellenwert zu: Sie sind die notwendigen Zeugen der Schande, und sie sind die Adressaten der damit verknüpften Warnung vor Übertritten. Im Fall der Pazzi-Verschwörung war der Souverän allerdings nicht die Signoria, sondern (mit Lorenzo de’ Medici), rechtlich gesehen, eine Privatperson. Und so wundert es nicht, daß die Schandgemälde mit der zwischenzeitlichen Vertreibung der Medici im Jahr 1494 wieder verschwanden. Renaissance Florence: The Art of the 1470s, hg. v. Patricia Lee Rubin und Alison Wright, London 1999, S. 19, Fig. 4. 24 Vergleichbare Skizzen zu Erhängten haben sich in einem Blatt Pisanellos von ca. 1437 im British Museum in London erhalten, s. Mitchell B. Merback, The Thief, the Cross and the Wheel: Pain and the Spectacle of Punishment in Medieval and Renaissance Europe, London 1999, S. 206, Abb. 82. 25 Wackernagel, Lebensraum (wie Anm. 17), S. 196 f. 26 Vgl. Foucault, Überwachen (wie Anm. 3). 23

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Abbildung 2: Der gehängte Bernardo di Bandino Baroncelli, Zeichnung, 1479, Leonardo da Vinci, Bayonne, Musée Bonnat.

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Auch Savonarola erfuhr eine ausgiebige Herabwürdigung und schließlich wurde seine erhängte Leiche verbrannt. Das Ganze geschah in einem aufwendigen Spektakel, das die hier Signoria sich einiges hat kosten lassen: Am 23. Mai 1498 wurde der Dominikanermönch gemeinsam mit Domenico da Pescia und Silvestro Maruffi aus dem Palazzo della Signoria auf die davor errichtete Holztribüne gebracht, wo alle drei von einem illustren Gremium empfangen wurden.27 Hier begann die Degradierung: Die drei Mönche wurden zunächst mit allen Paramenten bekleidet, bevor ihnen diese, eines nach dem anderen, wieder abgenommen wurden. Dabei wurde Savonarola fortwährend als Ketzer und Schismatiker bezeichnet, der deshalb zum Feuertod verurteilt worden sei. Man rasierte ihm den Kopf und die Hände, dann wurden die drei nach dem öffentlichen Urteilsspruch des Achterrates erhängt und schließlich dem Feuer übergeben. Neben den zeitgenössischen Berichten von diesem Ereignis wird immer wieder auch ein Gemälde als Dokument herangezogen: eine Tafel im Museo di San Marco von Florenz, deren Entstehung im unmittelbaren Anschluß an die Hinrichtung Savonarolas angesetzt wird (Abb. 3) und von der zahlreiche Kopien existieren.28 Tatsächlich stellt das Bild in kontinuierender Erzählweise den Ablauf der Strafhandlungen vor Augen. Es bleibt allerdings zu fragen, was es mit dem Bild als solchem eigentlich auf sich hat, mit welcher Absicht und zu welchem Zweck es dieses historische Ereignis präsentiert. Handelt es sich womöglich um ein Schandbild im Medium der Tafelmalerei? Eine Kopie des Bildes belegt, dass – zumindest auch – genau das Gegenteil der Fall sein könnte: dass das Bild als Erinnerung an eine Ungerechtigkeit fungierte. Die entsprechende Darstellung aus der Galleria Nazionale di Perugia, zuletzt ins 17. Jahrhundert datiert, verkündet dort, wo im Gemälde aus San Marco das Schriftband leer bleibt, mit den Worten Savonarolas selbst: „Seht, wie der Gerechte getötet wird und heilige Männer von der Erde getragen werden“ (Ecce qvomodo mori-

27 28

Vgl. Piper, Savonarola (wie Anm. 6), S. 117–132. Vgl. Ludovica Sebregondi, Iconografia di Girolamo Savonarola 1495–1998, Florenz 2004.

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tur ivstvs / et viri sancti de terra tolluntur).29 Das Bild des Geschändeten kann also offenbar umschlagen in das Bild des Gerechten und Heiligen. Noch einmal zurück zur historischen Verbrennung Savonarolas: Mit der Verbrennung der Leiche kommt ein weiteres wichtiges Moment ins Spiel, das verdeutlicht, warum die herrschende Schamkultur auf der Grundlage des Christentums grundsätzlich brüchig sein mußte. In den chronikalischen Aufzeichnungen von Luca Landucci, die den Zeitraum von 1450 bis 1516 umfassen, heißt es: [. . . ] und so entzündete sich der Reisighaufen mit dem Krachen von Raketen und Büchsenschüssen, und in wenigen Stunden waren sie verbrannt, so daß ihnen Beine und Arme nach und nach abfielen: und da Teile des Rumpfes an den Ketten hängen geblieben waren, so wurden viele Steine nach ihnen geworfen, um sie herabfallen zu machen, so daß sie Angst hatten, es würden die Stücke vom Volk genommen werden. Und der Henker und wer damit zu schaffen hatte, sie machten den Pfahl umfallen und auf dem Boden verbrennen, indem sie Holz genug brachten: und das Feuer über jenen Körpern schürend, machten sie, daß alles und jede Reliquie verzehrt wurde. Hierauf ließen sie Karren herkommen und jede mindeste Asche zum Arno führen, damit nichts von ihnen gefunden würde. . . 30

Der Fall Savonarola zeigt, dass letztlich jede vollzogene schandhafte Körperstrafe die Gefahr oder das Potential in sich birgt, in ein Martyrium verwandelt zu werden, so dass aus den Überresten der geschundenen Körper für heilig erachtete Reliquien werden können. Schließlich war Christus selbst den seinerzeit schändlichen Tod am Kreuz gestorben, der – eben wegen seiner Schändlichkeit – über lange Zeit nicht in Bildern dargestellt wurde. Erst ein langwieriger theologischer Deutungsprozess hat dazu geführt, dass der Gekreuzigte zum zentralen Bildmotiv des Mittelalters werden konnte – zunächst aber nicht im Sinne des gequälten und leidenden, sondern des triumphierenden Gottessohnes. In Folge der Passionsfrömmigkeit des späten Mittelalters hingegen wurde es geradezu ein wesentliches Merkmal der heroischen Märtyrer29

30

Edgerton, Pictures (wie Anm. 17), S. 136–139; Botticelli. From Lorenzo the Magnificent to Savonarola, hg. v. Daniel Arasse, Mailand 2003, S. 220; Sebregondi, Iconografia (wie Anm. 28), S. 28 und 386, Abb. 12. Luca Landucci, Ein florentinisches Tagebuch 1450–1516. Nebst einer anonymen Fortsetzung 1516–1542, hg. v. Marie Herzfeld, Düsseldorf und Köln 1978 [Jena 1912– 1913], S. 241.

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schaft, wenn die Heiligen unter größten Qualen hingerichtet wurden.31 Im Falle der heiligen Märtyrer wurden die Überreste der geschundenen und getöteten Körper zum wertvollsten Schatz der Christen, indem sie als Primärreliquien verehrt wurden, und die Geschichten über die Folter und Tötung der Heiligen wurden zum wesentlichen Moment ihrer Christusnachfolge. Die Folterinstrumente und Tötungswaffen avancierten zu den maßgeblichen Attributen der Märtyrer, die sie in Bildern wie Herrscherinsignien trugen. Die Reliquien der Passion Christi stiegen zu den wertvollsten Schätzen des Mittelalters auf, wie am deutlichsten wohl am heute zerstörten Reliquienschatz des französischen Königs zu sehen ist. Ludwig IX. errichtete als monumentalen Reliquienschrein eigens die 1248 vollendete Sainte-Chapelle, die noch heute eine vage Vorstellung von ihrer einstigen Pracht vermittelt. Die Grande Châsse selbst, die Reliquienbühne im Obergeschoss, war zweieinhalb Mal so teuer wie das Gebäude, ganz zu schweigen von den Kosten der eigentlichen Reliquien, die der König 1239 und 1241 erworben hatte.32 Um so bemerkenswerter ist es, dass bei Hinrichtungen, wie jener Savonarolas, die Delinquenten von verhüllten Männern begleitet wurden, die ihnen eine Bildtafel vorhielten, auf der, so weit man es auf dem Gemälde in San Marco (Abb. 3) erkennen kann, offenbar die Kreuzigung Christi dargestellt war – ein Brauch, der sich teilweise noch bis in das 20. Jahrhundert hinein gehalten hat, wie unter anderem eine Photographie aus Mailand von 1923 belegt (Abb. 4).33 So standen die aktuelle Schandstrafe und der als heilsgeschichtliche Erlösungstat aufgefasste Kreuzestod Christi einander unmittelbar gegenüber. 31

32

33

James H. Marrow, Passion Iconography in Northern European Art of the Later Middle Ages and Early Renaissance, Kortrijk 1979; Caroline Walker Bynum, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992; Klaus Schreiner und Norbert Schnitzler (Hg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Symbolbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992. Die Bilddokumente der 1791 zerstörten Grande Châsse umfassen eine Miniatur im heute zerstörten Pontificale von Jean Jouvenal des Ursins von 1323, das 1837 kopiert wurde (Paris, Musée de Cluny; s. Jean-Marie Leniaud und Françoise Perrot, La Sainte-Chapelle, Paris 1991, S. 89) und eine Zeichnung für Roger de Gaignières (Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. Est. Va 9, fol. 54r ; vgl. Robert Branner, „The Grande Châsse of the Sainte-Chapelle“, in: Gazette des Beaux-Arts 57 (1971), S. 5–18, und Daniel H. Weiss, Art and Crusade in the Age of Saint Louis, Cambridge 1998, Fig. 22 und 31). Edgerton, Pictures (wie Anm. 17), Abb. 47.

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Abbildung 3: Hinrichtung von Girolamo Savonarola, Domenico Buonvicini und Salvestro Maruffi auf der Piazza della Signoria, Tempera auf Holz, ca. 1498, Francesco Rosselli (?), Florenz, Museo di San Marco.

Darstellungen zur historischen Rechtspraxis Abgesehen von den verlorenen öffentlichen Schandgemälden war die der herrschenden Rechtspraxis entsprechende Darstellung von Körperstrafen kein sonderlich etablierter Stoff der bildenden Kunst. Selbst in Ausnahmefällen, wie den bebilderten Rechtshandschriften, ist die Darstellung von Körperstrafen eher selten; das gilt auch für den ‚Sachsenspiegel‘.34 Dessen Text dokumentiert, dass es in einer Mehrzahl der 34

Eike von Repgow verfasste den Sachsenspiegel um 1220–1235. Die wichtigsten illustrierten Handschriften sind: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 164 (frühes 14. Jahrhundert) und Dresden, Landesbibliothek, Ms. 32 (um 1350); vgl. Der Sachsenspiegel. Die Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 164, komm. und übers. v. Walter Koschorreck, eingel. v. Wilfried Werner, Frank-

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Abbildung 4: Mitglied der Bruderschaft San Giovanni Decollato, Photographie, Mailand 1923.

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Rechtsfälle um die Entschädigung der Opfer, nicht um die Schändung der Täter ging. Darüber hinaus setzt Bestrafung die Schuldfähigkeit der Täter voraus. So können etwa Minderjährige und Geisteskranke nicht aufgrund einer Straftat ihr Leben verwirken: der Vormund muß zahlen. Die Heidelberger Handschrift des ‚Sachsenspiegels‘ aus dem frühen 14. Jahrhundert demonstriert beides auch in zwei Bildern, die jenen Passus illustrieren (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 164, fol. 11r und 13r ). Unter den Rechtsquellen des Mittelalters verzeichnet der ‚Sachsenspiegel‘ ein recht bescheidenes Repertoire an Todesstrafen: das Enthaupten, das Hängen, das Verbrennen und das Rädern. Es fehlen durchaus praktizierte Tötungsarten, wie das Vierteilen, das Pfählen, das „lebendig Begraben“, das Sieden in Öl. Schon die Vielfalt dieser Tötungsarten deutet an, dass es hier eine differenzierte Werteskala gab. Diese bezog sich nicht allein auf den mit der jeweiligen Methode verbundenen Leidensgrad und die Sterbensdauer, sondern auch und vor allem auf den etablierten Kodex der Schändlichkeit. Für besonders schwere Verbrechen stellte, laut ‚Sachsenspiegel‘, das Rädern die angemessene Strafe dar, das wie das Hängen zu den schimpflichen Strafen gezählt wurde. Den Verurteilten wurden dabei die Arme und Beine zerbrochen, die zerstoßenen Glieder wurden zwischen die Speichen des Rades geflochten und Rad und Körper dann auf einem Pfahl aufgerichtet. So konnte es vorkommen, dass der Geräderte noch tagelang lebte.35 Auf fol. 13v der Heidelberger ‚Sachsenspiegel‘-Handschrift wird dargestellt, wie ein Christ einen Juden zunächst am Arm verletzt und ihn dann mit einem Schwertstreich gegen den Kopf tötet. Aufgrund eines Richterurteils wird der Täter anschließend vom Henker mit einem Schwert enthauptet (Abb. 5). Gleich unter dieser Szene ist zu sehen, dass es einem Juden, der sich verbotswidrig christliche Kultobjekte angeeignet hat, schändlicher ergeht. Er wird, an den überkreuzten Händen gefesselt, abgeführt und mit verbundenen Augen an einem altertümlichen Gabelgalgen erhängt. Hier wird auch deutlich, dass die ausgesprochenen Strafen nicht allein von der Art und Schwere der Über-

35

furt a. M. 1989, sowie Die Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Bd. 1, hg. v. Karl von Amira, Leipzig 1902, Taf. 85. Vgl. Merback, Thief (wie Anm. 24), S. 158–197 und Abb. 44–47.

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Abbildung 5: Tod eines Christen durch Köpfen und eines Juden durch Erhängen, Buchmalerei, frühes 14. Jh., Heidelberg, Universitätsbibliothek, Ms. Pal. Germ. 164 (Sachsenspiegel), fol. 13v.

tretung abhingen, sondern auch standesspezifisch ausdifferenziert praktiziert wurden. Die Illustrationen des ‚Sachsenspiegels‘ verstärken den Aspekt des Ritualisierten, da sie keine diskursive Struktur aufweisen, sondern die Strafe als notwendige Konsequenz der jeweils vorausgegangenen Tat erscheinen lassen. Das gilt in besonderem Maße für die bildlichen oder spiegelnden Strafen, da hier zusätzlich eine formale Analogie ins Spiel kommt: Derjenige Teil des Körpers, der das maßgebliche Werkzeug des Vergehens war, wird markiert oder gar beseitigt. So gibt es das Abhauen der rechten Hand im Fall eines falschen Gelöbnisses (Abb. 6) oder das Herausschneiden oder Herausreißen der Zunge im Falle des unberechtigten Gerichthaltens.36 Im Falle leichterer Vergehen und auch bei schwangeren Frauen sollten Strafen an Haut und Haar angewendet werden. So sieht man auf fol. 12v der Heidelberger ‚Sachsenspiegel‘-Handschrift, wie die mit nacktem Oberkörper an eine Säule gefesselte Frau mit einem Rutenbündel 36

Zum Aspekt der Fragmentierung des Körpers s. The Body in Parts. Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe, hg. v. David Hillman und Carla Mazzio, New York und London 1997, sowie Körperteile, hg. v. Benthien und Wulf (wie Anm. 13).

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Abbildung 6: Abschlagen der Hand, Buchmalerei, frühes 14. Jh., Heidelberg, Universitätsbibliothek, Ms. Pal. Germ. 164 (Sachsenspiegel), fol. 20v .

blutig geschlagen wird, während man ihr mit einer Schere das Haar abschneidet. Womöglich ist das Bild in diesem Fall eine Verharmlosung der Realität, denn im Text ist davon die Rede, dass das Haar der Delinquenten mit Hilfe eines gespaltenen Stocks mitsamt der Haut vom Kopf gerissen werden sollte.

Gewalt in Darstellungen historischer Ereignisse Außergewöhnlich ausführlich, ja beinahe exzessiv in der Darstellung von Gewaltanwendungen, wie sie teilweise auch als Körperstrafen gebräuchlich waren, ist die um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene, sogenannte ‚Kreuzritterbibel‘, die sich heute zum größten Teil unter der Signatur M 638 im Besitz der Pierpont Morgan Library in New York befindet, während einzelne Blätter in der Bibliothèque nationale de France in Paris und im J. Paul Getty Museum (Los Angeles) aufbewahrt werden.37 Kaum eine andere Handschrift des 13. Jahrhunderts 37

New York, Pierpont Morgan Library, ms. M 638; Paris, Bibliothèque nationale de France, nouv. acq. lat. ms. 2294; Los Angeles, J. Paul Getty Museum (ehem. Köln, Sammlung Ludwig), 83. MA. 55; s. a. A Book of Old Testament Illustrations

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zeigt in höfisch-elegantem Stil und kostbarem Farbmaterial in solchem Ausmaß und solcher Detailtreue körperliche Gewalt wie diese. Mit 346 Episoden vom Beginn des Buchs Genesis bis zur Hinrichtung Schebas nach dem 2. Buch Samuel, Kap. 20, bietet diese Bibelhandschrift einen der umfangreichsten Zyklen zum Alten Testament. Es handelt sich ursprünglich um ein reines Bilderbuch. Die Beischriften (in lateinischer, persischer und judeo-persischer Sprache) zeugen von späteren Nutzungen des Codex. Eine Tradition für die vorliegende Szenenauswahl und -folge ist nicht bekannt. Um so mehr lassen sich die Bilder ganz unabhängig von der Frage, auf welche historischen Situtationen sich die dargestellten Szenen beziehen mögen, als eine Art Bildenzyklopädie von Krieg und Gewalt lesen: Wir sehen die Schändung durch Bart- und Rockabschneiden (fol. 40v , unten rechts),38 die Blendung (fol. 15r , unten rechts),39 die Steinigung (fol. 10r , unten rechts),40 das Erhängen (fol. 11v , oben)41 sowie das Erhängen und Abtrennen der Gliedmaßen (Abb. 7)42 und das Köpfen und Schädelspalten (Abb. 8).43 Aus den Bildern selbst läßt sich nicht ohne weiteres ein Kodex oder ein System der Gewaltdarstellungen erkennen, ebenso wenig eine klare moralische Wertung. Es ist auf den ersten Blick in der Regel nicht klar, ob die vorgeführte Gewalt in Ausübung eines juristisch legitimierten

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of the Middle of the Thirteenth Century sent by Cardinal Bernard Maciejowski to Shah Abbas the Great, King of Persia, now in the Pierpont Morgan Library at New York, described by Sydney C. Cockerell, with an Introduction by Montague Rhodes James, and Notes on the Armour by Charles J. Ffoulkes, Cambridge 1928 (Publications of the Roxburghe Club, 113); Sydney C. Cockerell und John Plummer, Old Testament Miniatures. A Medieval Picture Book with 283 Paintings from the Creation to the Story of David, New York 1969; Die Kreuzritterbibel. The Morgan Crusader Bible, La Bible des Croisades, komm. v. Daniel H. Weiss u. a., Luzern 1999. – Vgl. auch Harvey Stahl, The Iconographic Sources of the Old Testament Miniatures, Pierpont Morgan Library, M 638, New York (Diss.) 1974; ders., „Old Testament Illustration during the Reign of Saint Louis. The Morgan Picture Book and the New Biblical Cycles“, in: Il Medio Oriente e l’Occidente nell’Arte del XIII Secolo, hg. v. Hans Belting, Bologna 1979 (Atti del XXIV Congresso Internazionale di Storia dell’Arte), S. 79–93. Hanun schändet Davids Boten (2 Sam 10,3–4). Simson wird von den Philistern geblendet (Ri 16,20–21). Die Steinigung Achans ( Jos 7,24–26). Die fünf Könige werden gehängt (Jos 10,26–27). Rechab und Baana werden getötet (2 Sam 4,12). Jiftach opfert seine Tochter (Ri 11,39–40) und Abimelech tötet seine Brüder (Ri 9,5–6).

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Abbildung 7: Rechab und Baana werden getötet (2 Sam 4,12), Buchmalerei, ca. 1244 und 1254, New York, Pierpont Morgan Library, M 638 (sog. ‚Kreuzritterbibel‘), fol. 38v .

Abbildung 8: Abimelech tötet seine Brüder (Ri 9,5–6), Buchmalerei, ca. 1244 und 1254, New York, Pierpont Morgan Library, M 638 (sog. ‘Kreuzritterbibel‚), fol. 13v .

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Strafsystems erfolgt oder aus reiner Willkür. Was also hat es mit diesen Szenen auf sich? Die Handschrift wird mit guten Gründen dem engsten Umfeld Ludwigs IX. (1214–1270) zugesprochen.44 Auffällig ist, dass – ähnlich dem Bildprogramm der Fenster der ‚Sainte-Chapelle‘ – der Anteil an Geschichten rund um die biblischen Könige, besonders David und Saul, außergewöhnlich hoch ist, und dass es eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Schlachtenszenen gibt. Es ist offensichtlich, dass die alttestamentlichen Handlungen im Gewand der zeitgenössischen Kriegsereignisse der Kreuzzüge erscheinen. Auf diese Art und Weise soll das Alte Testament als Präfiguration der aktuellen Gegenwart erscheinen und Ludwig IX. somit als legitimer Nachfolger der alttestamentlichen Könige und Kriegsherren. Die von Ludwig IX. vertretene und gelebte Kriegsideologie kommt am besten in einer Ansprache zum Ausdruck, die durch den Brief eines Kreuzritters überliefert ist. Darin heißt es: Alles geschieht zu unserem Besten, was uns auch begegnen mag. Wenn wir besiegt werden, sind wir Märtyrer; wenn wir siegen, wird der Ruhm Gottes dadurch erhöht und auch der Frankreichs und der Christenheit selber.45

Für die Kreuzritter heißt das analog zu den Bildern der Handschrift: Es geht nicht um die Frage der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der dargestellten Gewalttaten im Einzelnen. Vielmehr geht es darum, die massive ausgeübte und erlittene Gewalt im Rahmen der Kreuzzüge aus der Tradition des Alten Testaments heraus zu rechtfertigen und sich zugleich mit dem Schrecken des möglichen eigenen Martyriums zu konfrontieren. Der vom König unmittelbar vor den Kreuzzügen eingerichtete Schatz der Passionsreliquien, von dem oben bereits die Rede war, bot dazu gleichzeitig Legitimation und Vorbild.

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Die derzeit wesentlichen Monographien sind Jean Richard, Saint Louis, Paris 1983, und Jacques Le Goff, Saint Louis, Paris 1996 [dt. Ludwig der Heilige, Stuttgart 2000]. Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, hg. v. Régine Pernoud, Düsseldorf 5 1965, S. 295.

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Strafdarstellungen als Moral-Spiegel Konkret um die Ursache einzelner Körperstrafen geht es in ganz anderen Zusammenhängen. Diese betreffen nicht unmittelbar die zeitgenössischen Ereignisse, sondern vielmehr die menschliche Seele mit ihren möglichen Verstrickungen im Allgemeinen. Dementsprechend stehen hier auch gar nicht die konkreten irdischen Körperstrafen im Mittelpunkt, sondern die Seelenstrafen für die Hauptlaster der Menschen. Dabei spielen vielfach spiegelnde Strafen eine Rolle. Doch es sind nicht allein diejenigen Körperteile, die wesentlich zur Ausübung des jeweiligen Lasters gehören, an denen die Strafe vollzogen wird. Auch hier gibt es – analog zur schon erläuterten Nase der Sodomiten – Übertragungen, die zum Teil metaphorische Qualität haben. Am deutlichsten ist dies bei Avaritia, dem Geiz, der Fall. Maßgeblichen Einfluß auf die mittelalterliche Vorstellung von Avaritia hatte das spätantike allegorische Versepos des Prudentius über den Kampf der Tugenden und Laster, die Psychomachia.46 Zunächst ist es hier die Hand, die das wesentliche Werkzeug der Avaritia darstellt: Mit krummer, krallenartiger Hand – unca manu – raffe sie alles Kostbare zusammen;47 dabei wird dieser Körperteil selbst als metallen vorgestellt: eiserne Krallen habe er – ungues aënos.48 Mit der rechten Hand scharre Avaritia den Raub zusammen, während die linke die Beute unter dem Mantel verstecke.49 Zudem sei Avaritia mit einer weiten Tasche umgürtet, die ihr zum Horten ihrer Schätze diene.50 Die Geizespersonifikation im Wandgemälde Ambrogio Lorenzettis im Palazzo Publico in Siena, das um 1338/39 entstand, ist sichtlich von solchen Vorstellungen geprägt (Abb. 9). Im übertragenen Sinne ist es jedoch vor allem ihr unersättlicher Appetit, der Avaritia kennzeichnt. Schon im Alten Testament wird vor 46

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Der im Text geschilderte Kampf umfaßt folgende Gruppen: Cultura deorum gegen Fides, Libido gegen Pudicitia, Ira gegen Patientia, Superbia gegen Humilitas und Spes, Luxuria gegen Sobrietas, Avaritia gegen Operatio, Discordia gegen Concordia und Fides. Aurelius Prudentius Clementius, „Psychomachia“, in: ders., Carmina, hg. v. Mauricius P. Cunningham, Turnhout 1966 (Corpus Christianorum. Series Latina, 126), S. 149–181 [v. 455 f.]. Ebd., v. 463. Ebd., v. 461–463. Ebd., v. 454.

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Abbildung 9: Geiz (Avaritia), Detail aus der Schlechten Regierung, Wandgemälde, 1338/39, Ambrogio Lorenzetti, Palazzo Publico, Siena, Sala dei Nove, Westwand.

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der Unstillbarkeit der Habgier gewarnt: avarus non implebitur pecunia – „der Habgierige wird niemals satt vom Geld“ (Eccl 5,9). Bei Prudentius heißt es: Mit offenem Mund – uasto ore – starre die Avaritia ihre Beute an, zudem inhians, also mit weit aufgesperrtem Rachen – ein Begriff, den schon Horaz von den Tantalus-Qualen auf die Pein übertragen hatte, die Geizige bereits zu Lebzeiten erdulden müssen.51 Zahlreiche frühe Textbelege für die sprichwörtlichen geöffneten Schlünder der Habgier, die fauces avaritiae, sind bekannt.52 Damit ist auch der Körperteil benannt, an dem Avaritia in der Psychomachia zu Tode kommt: Operatio schnürt ihr die Kehle zu und bricht die blutleere, trockene Gurgel: „Die Hände fassen wie ein Band um den Hals und pressen aus der zusammengeschnürten Kehle die Seele heraus“.53 In der St. Galler Prudentius-Handschrift aus der Zeit um 1000 sieht man im Vordergrund, wie die Operatio ihre Gegenspielerin, Avaritia, an der Kehle packt, um sie zu töten. Anschließend verteilt sie die Reichtümer – wohl Münzen – an die umstehenden Bedürftigen, indem sie sie ausstreut – ein üblicher und verbreiteter Gestus der Freigebigkeit (Abb. 10).54 Aus diesen Kämpfen, die dem Text zufolge im Inneren der menschlichen Seele angesiedelt sind, wurden in der bildenden Kunst zumeist Bestandteile eines im Jenseits verorteten Strafsystems. Die Strafund Tötungsarten der Tugenden wurden in den Endgerichts- und Höllendarstellungen zu den ewigen Strafen der verdammten Seelen.55 Dementsprechend ist die angemessene Höllenstrafe für den Geizigen das Erhängen am Hals, wie die Tympanonskulptur der ehem. Abteikirche Ste-Foy in Conques zeigt, die im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts entstanden ist (Abb. 11). 51 52 53

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Ebd., v. 456 f. Zahlreiche Nachweise bei Christian Gnilka, Studien zur Psychomachie des Prudentius, Wiesbaden 1963, S. 68 f. Ebd., S. 69. Prudentius, „Psychomachia“ (wie Anm. 47), v. 589–597: Inuadit trepidam Virtus fortissima duris / ulnarum nodis, obliso et gutture frangit / exsanguem siccamque gulam; conpressa ligantur / uincla lacertorum sub mentum et faucibus artis / extorquent animam, nullo quae uulnere rapta / palpitat atque aditu spiraminis intercepto / inclusam patitur uenarum carcere mortem. / Illa reluctanti genibusque et calcibus instans / perfodit et costas atque ilia rumpit anhela. Vgl. Jean Starobinski, Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt a. M. 1994. Jérôme Baschet, Les justices de l’au-delà. Les représentations de l’enfer en France et en Italie (XII e –XVe siècle), Rom 1993.

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Abbildung 10: Tod der Avaritia und Verteilung ihrer Güter an Bedürftige durch Operatio, Zeichnung, Ende 10. oder Anfang 11. Jh., St. Gallen, Stiftsbibliothek, Ms. 135 (Prudentius, Psychomachia), S. 406 (vor V. 573).

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Abbildung 11: Der Teufel befiehlt die Höllenstrafe für die Laster der Verdammten, Tympanonskulptur, 2. Viertel 12. Jh., Conques, ehem. Abteikirche SteFoy, Westportal.

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Konsequenterweise ist es aber auch die offene Kehle, an der die Geizigen in der Hölle gestraft werden. Zwar hat sich weder ein fester Kanon der im Jenseits geahndeten Laster, noch einer der dafür drohenden Strafen etabliert. Doch zumindest bei denjenigen Lastern, die nahezu immer in einschlägigen Programmen vertreten sind, läßt sich ein gewisser Standard feststellen, besonders im Fall der Luxuria (Unzucht), Gula (Völlerei) und Avaritia (Geiz). In der nach verschiedenen Lastern, Sinnesorganen und Ständen eingeteilten Höllendarstellung des um 1170 entstandenen Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, sind es die Mönche, welche die typischen Qualen der Habgierigen erleiden (Abb. 12).56 Die mit monachus bezeichnete Seele, die über einen gefülltem Geldbeutel verfügt, wird hier mit einem Griff ans Handgelenk ihrer Strafe zugeführt. Zwei Teufel schütten der nackt am Boden liegenden die nunmehr glühenden Münzen in den Rachen – der Bauch ist bereits aufgequollen. Dieselbe Art der Höllenstrafe für die Habgier findet sich im weiteren Verlauf des Mittelalters vor allem in den primär nach den unterschiedlichen Hauptlastern gegliederten Höllendarstellungen57 – so in jener des Camposanto in Pisa (ca. 1330/35),58 in der Wandmalerei von Taddeo di Bartolo im Dom von San Gimignano (1396)59 oder auf der Tafel mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts, die Fra Angelico zwischen 1425 und 1430 für S. Maria degli Angeli in Florenz angefertigt hatte.60 In erster Linie ging es hier jedoch darum, lasteranfällige Körperregionen zu markieren. Eine seit der Mitte des 14. Jahrhunderts verbrei56

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Ehemals Strassburg, Bibliothèque Municipale. Da die Handschrift beim Strassburger Stadtbrand von 1870 zerstört wurde, muss man sich mit Kopien des 19. Jahrhunderts begnügen, s. daher C. M. Engelhardt, Herrad von Landsperg, Aebtissin zu Hohenburg [. . . ] und ihr Werk: Hortus deliciarum, Stuttgart und Tübingen 1818; Comte Auguste de Bastard d’Estang, Peintures et ornements des manuscrits, classés dans un ordre chronologique, Paris 1832–1869. Hier benutzte Ausgabe: Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum. 2 Bde., hg. v. Rosalie Green u. a., Leiden 1979 (Studies of the Warburg Institute, 36). Vgl. Peter Brieger, Millard Meiss und Charles S. Singleton, Illuminated Manuscripts of the Divine Comedy. Bd. 1, Princeton [N. J.] 1969 (Bollingen Series, 81), Fig. 17, 18 und 22. Friederike Wille, Die Todesallegorie im Camposanto in Pisa. Genese und Rezeption eines berühmten Bildes, München 2002, Abb. 12 und 13. Edgerton, Pictures (wie Anm. 17), S. 67, Abb. 17. John T. Spike, Fra Angelico, München 1997, S. 98–101 mit Abb.

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Abbildung 12: Die Höllenstrafen der Avaritia, Ausschnitt aus einer Höllendarstellung, Kopie des 19. Jahrhunderts nach einer Buchillustration zu Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, ca. 1170, ehemals Strassburg, Bibliothèque Municipale, fol. 255r .

tete Bilderfolge bestätigt dies ausdrücklich, wie in einer Handschrift der Pierpont Morgan Library, M. 1045 (1470er Jahre), zu sehen ist (Abb. 13).61 Die Serie der Hauptlaster, die dem besonders einflussreichen Septenar in Gregors des Großen ‚Moralia in Iob‘ entspricht, gehört zum Grundbestand der wohl zwischen 1351 und 1358 verfassten ‚Concordantiae Caritatis‘ des Ulrich von Lilienfeld:62 Hochmut (Super61

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William M. Voelkle, „Morgan Manuscript M. 1001. The Seven Deadly Sins and the Seven Evil Ones“, in: Monsters and Demons in the Ancient and Medieval Worlds, hg. v. Ann E. Farkas u. a., Mainz 1987, S. 101–114, Taf. XXVII–XL [XLI–XLII]. Hedwig Munscheck, Die ‚Concordantiae caritatis’ des Ulrich von Lilienfeld: Untersuchungen zu Inhalt, Quellen und Verbreitung, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 101 f. Zur Lilienfelder Handschrift s. Martin Roland, Die Lilienfelder Concordantiae Caritatis (Stiftsbibliothek Lilienfeld Cli 151), Graz 2002 (Codices Illuminati. Meisterwerke aus den Sammlungen der bedeutendsten Bibliotheken der Welt, II, Stiftsund Klosterbibliotheken, Archive. Stiftsbibliothek Lilienfeld, 2). Als unbebilderte Versfolge ist der Lasterzyklus auch unabhängig von den Concordantiae caritatis erhalten, vgl. Dietrich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100–1500). Bd. 2, Berlin 1968, S. 502 f., Anm. 325.

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Abbildung 13: Der Geiz (Avaritia), Zeichnung, 1470er Jahre, New York, Pierpont Morgan Library, M. 1045 (Ulrich von Lilienfeld, Concordantiae Caritatis), fol. 257r .

bia) betrifft den Kopf, Neid (Invidia) das Auge, Zorn (Ira) das Herz, Faulheit (Acidia) die Füße, Habgier (Avaritia) die Hand, Völlerei (Gula) den Bauch und Unzucht (Luxuria) die Genitalien. Die Wahrnehmung des menschlichen Körpers, seiner Handlungen und Gesten ist grundsätzlich von der visuellen Parzellierung in einzelne Bestandteile und deren sprachlicher Fixierung geprägt – unabhängig vom organischen Gefüge. Die Hervorhebung je eines einzelnen Körperteils zur Kennzeichnung je eines Lasters soll die Hauptformen sündhafter Deformierungen in signifikanter Weise vorführen. Strukturell analog zu den sogenannten Aderlassmännchen, auf deren Körper die Zodiakus-Zeichen eingetragen wurden, um so zu verdeutlichen, zu welchem Zeitpunkt welche Körperregion am besten zum Aderlass geeignet sei, entsteht auch hier eine Kartographie des menschlichen Körpers.

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Diese dient der Markierung derjenigen Körperterritorien, über welche die verschiedenen Laster Herrschaft gewinnen können. Zugleich ließen die so gewonnenen Grenzziehungen es zu, die betreffenden Bereiche zu identifizieren und gewissermaßen als Rückeroberungsgebiete zu benennen.

Fazit Konkrete juristische Strafen gegen den menschlichen Körper sind nur ausnahmsweise Gegenstand der Darstellung. Hier sind besonders die heute verschollenen öffentlichen Schandgemälde zu benennen, die als fester Bestandteil einer praktizierten Schamkultur anzusehen sind. Die Betrachter sind dabei zu gleichen Teilen Zeugen der Schande und Adressaten einer Warnung vor entsprechenden Übertretungen. Die seltenen Illustrationen zum herrschenden Strafrecht, wie jene des ‚Sachsenspiegels‘, lassen die dargestellten Strafen als scheinbar notwendige Konsequenz aus den jeweils zuvor dargestellten Handlungen erscheinen und unterstützen so den Aspekt des Rituellen. Eine eigene, zudem sehr verbreitete Bildtradition mit einem relativ kodifizierten Repertoire an Strafen hat sich in erster Linie am Thema der Höllenstrafen herausgebildet. Hier ging es offenbar wesentlich darum, diejenigen Körperteile, die konkret oder metaphorisch an der Ausübung des jeweiligen Lasters beteiligt sind, drastisch ins Bewusstsein zu rufen, um so eine Art Gewissensspiegel zu etablieren. Die Betrachter sollen sich durch die Konfrontation mit den Folgen des Extremen auf das Ideal der Mäßigung hin ausrichten. Die Bedrohlichkeit der Darstellungen resultiert maßgeblich daraus, dass als der strafende Souverän nicht die weltlichen Autoritäten erscheinen, sondern Gott selbst. Trotz der Ähnlichkeit in der ausführlichen Schilderung von Brutalität tut sich zwischen den Bildern der Höllenstrafen und den Kriegsgewalt-Darstellungen der sogenannten ‚Kreuzritterbibel‘ eine deutliche Differenz auf: Die ‚Kreuzritterbibel‘ konfrontiert mit der massiven Häufung von Gewalt in allen ihren Spielarten, seien sie kodifiziert oder nicht. Dabei geht es nicht darum, das Schuldbewusstsein auszuschalten, sondern vielmehr darum, es unter dem Gesichtspunkt eines höheren Ziels für vorläufig vernachlässigbar zu deklarieren – in der Hoffnung auf Vergebung wegen des eigenen Beitrags zu etwas Höherem und auf

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die Fürbitte der Nachwelt. So konnte die Massivität und Vielgestaltigkeit der dargestellten Gewalt dazu motivieren, sich in den Strudel einer vermeintlich gerechten Gewalt hinein zu begeben. Dabei dienten die konkreten Passionsreliquien Christi im Besitz König Ludwigs IX. gleichermaßen als Legitimation und Vorbild. In jedem Fall gilt, dass die Darstellung von Strafgewalt im Mittelalter, so ritualisiert das Dargestellte und so konventionalisiert die Darstellungen selbst auch sein mögen, grundsätzlich in ihrem Zusammenhang betrachtet werden muss und dementsprechend kommentierungsbedürftig ist. Denn rein motivisch liegen Schändung und Martyrium eng beieinander.

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Rituale der Vergewisserung: Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit André Holenstein (Bern) Eide vor Gericht Vor dem Ehegericht der Stadt Basel standen sich 1688 die 26jährige Dienstmagd Elsbeth Gräffin und der 16jährige Alexander Roschet gegenüber. Die Magd, die bei Roschets Vater in Diensten stand, beschuldigte den jungen Mann, sie geschwängert zu haben. Roschet wies alle Schuld von sich. Das Gericht entschied darauf, Roschet solle einen Reinigungseid schwören. Sollte sich der junge Mann also zum Schwur bereit erklären, nachdem ihn das Gericht allgemein über die Bedeutung des Eids und insbesondere über die Folgen eines Meineids für sein Seelenheil belehrt hatte, so war die Vaterschaftsklage der Magd gegen ihn gegenstandslos und Roschet von allen Pflichten dem Kind gegenüber befreit. Roschet konnte mit seinem Schwur Gott zum Zeugen seiner Unschuld anrufen und damit die höchste Instanz für die Beteuerung seiner Wahrhaftigkeit in Anspruch nehmen. In diesem Fall sollte die Schuld der Magd erwiesen sein, und diese sollte neben einer Strafe wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs auch die Gerichtskosten übernehmen. Tatsächlich schwor Roschet daraufhin, nicht der Vater des Kindes zu sein, und erlangte damit die gerichtliche Anerkennung seiner Unschuld.1 In der unweit der Stadt Bern gelegenen Kirchgemeinde Vechigen waren im April 1734 Christina Boltzli und Christen Hubacher vor das gemeindliche Ehe- und Sittengericht (Chorgericht) geladen. Die Frau hatte kurz davor ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und dabei Chris1

Der Fall bei Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1999, S. 165. – Meinem Mitarbeiter Dr. Daniel Schläppi danke ich für die wertvolle redaktionelle Bearbeitung des Manuskripts und die Beschaffung der Abbildungsvorlagen.

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ten Hubacher als dessen Vater angegeben. Vor dem örtlichen Chorgericht beteuerte der angebliche Vater aber seine Unschuld, er wollte Christina nicht geschwängert haben. Auch hier stand Aussage gegen Aussage. Gleichwohl hatte das Gericht ein Strafurteil über die beiden zu fällen und zu entscheiden, wem es die Sorgepflicht für das neugeborene Kind und die Kosten für dessen Erziehung übertragen wollte. Der Fall gelangte vor das Oberchorgericht der Stadt Bern, und dieses griff erneut zum Mittel des Eides. Sollte Hubacher bereit sein, vor dem Gericht seine Unschuld zu beschwören, so sollte auch er vom Vorwurf der unehelichen Schwängerung entlastet und von aller Schuld gereinigt und „purgiert“ sein (Reinigungs- bzw. Purgationseid). In diesem Fall würde das Gericht das Kind der Mutter zusprechen, im andern Fall sollte der Vater das Kind übernehmen. Bevor Hubacher zum Schwur zugelassen wurde, stellten ihm die „gnädigen Herren des Oberchorgerichts“ der Stadt Bern mit „ernst-christlichen Vorstellungen“ die Folgen des Meineids für sein Seelenheil vor. Vor die Wahl gestellt, den Reinigungseid zu leisten und damit als unschuldig zu gelten oder aber den Eid nicht auf sich nehmen zu können und damit das Kind annehmen zu müssen, entschied sich Hubacher für letzteres: Er erklärte dem Oberchorgericht, dass er das von Christina Boltzli zur Welt gebohrene und ihm zugeeignete Kind lieber als das seine erkennen und annemmen als aber sich diss Orts mit dem Eyd purgiern wolle.2

Beide Gerichtsszenen zeigen die gleiche Ausgangslage: Aus straf- und zivilrechtlichen Gründen musste das Gericht die Verantwortlichkeit für eine uneheliche Schwangerschaft klären, in beiden Fällen hatte es rechtliche Gewissheit herzustellen und zu gewährleisten. Beide Male verhinderten die Aussagen der vorgeladenen Parteien eine eindeutige, zwingende Entscheidung: Der Klage der ledigen Mutter stand die Beteuerung der Unschuld auf Seiten des angeblichen Vaters gegenüber. Die Frage der Vaterschaft blieb offen, weshalb die Sorgepflicht für das neugeborene Kind nicht geklärt werden konnte. Zeugen ließen sich für diese Art von „Tathergang“ naheliegenderweise keine finden. Zweimal schließlich griff das Gericht in dieser ungeklärten Situation zum gleichen Verfahren, weil nur eine der beiden Parteien Recht haben konnte: Es auferlegte dem Mann den Reinigungs- oder Purgationseid. Erklärte 2

Der Fall bei Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart u. a. 1995, S. 214.

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sich dieser zum Schwur bereit, so galt seine Unschuld in den Augen des Gerichts als erwiesen. So ähnlich sich die Ausgangslage in den beiden Fällen präsentierte, so gegensätzlich fielen die Entscheidungen der beiden Männer aus, und so verschieden endeten die beiden Verfahren: Während Alexander Roschet in Basel 1688 vor dem Eid nicht zurückschreckte und vom Gericht in der Folge als unschuldig erklärt wurde, zog es Hubacher in Vechigen 1734 vor, das ihm von der Mutter zuerkannte und angeblich von ihm gezeugte Kind anzuerkennen, statt sich mit einem Eid vom Vorwurf der Unzucht und der unehelichen Schwängerung zu entlasten. Wovor schreckte Hubacher zurück? Was hingegen vermochte den jungen Roschet nicht zu schrecken? Wir kennen die Persönlichkeitsstruktur dieser beiden Männer nicht, wir können nicht bestimmen, ob der eine allzu leichtfertig, der andere allzu skrupulös mit der Auflage des Gerichts umgegangen ist. War Roschet so fest von seiner Unschuld überzeugt, dass er ruhigen Gewissens den Eid auf sich nehmen konnte? Oder schwor er – der 16jährige junge Mann – absichtlich falsch, um seine Chancen für die Zukunft zu wahren und sich nicht mit einem unehelichen Kind und der Heirat mit einer Magd zu kompromittieren? In diesem Fall wäre der Eid – genauer: der Meineid – für ihn eine elegante Möglichkeit gewesen, sich rasch – im wahrsten Sinne des Wortes – „aus der Affäre“ zu ziehen? Warum aber verweigerte Hubacher den Eid, obwohl auch er seine Unschuld beteuerte und er mit seiner Weigerung zwangsläufig das neugeborene Kind übernehmen musste? War Hubacher seiner Sache doch nicht so sicher? Oder folgte er möglicherweise der religiösen Überzeugung der Täufer, die das Gebot Christi in der Bergpredigt strikte befolgten und deswegen aus religiösen Gründen nie einen Eid schworen?3 Die Motive für die unterschiedlichen Entscheidung der beiden lassen sich nicht mehr feststellen. Ebensowenig ist eine Antwort auf die Frage möglich, ob die beiden Männer mit ihren Unschuldsbeteuerungen Recht hatten. Heute würde das Gericht einen Vaterschaftstest anordnen und so mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden die Frage 3

André Holenstein, „‚Ja, ja – nein, nein!‘ – oder war der Eid von Übel? Der Eid im Verhältnis von Täufertum und Obrigkeit am Beispiel des Alten Bern“, in: „. . . Lebenn nach der ler Jhesu. . . “ „Das sind aber wir!“ Berner Täufer und Prädikanten im Gespräch 1538–1988, Bern 1989, S. 125–146.

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eindeutig klären. Es gelangte damit zu einem rechtlich hieb- und stichfesten Urteil, das auf dem Nachweis des wissenschaftlich wahren Sachverhalts beruhte. In den beiden geschilderten Fällen standen diese Möglichkeiten nicht zur Verfügung. Die Gerichte griffen stattdessen zum Eid, und sie setzten dieses Mittel funktional genau so ein, wie ein heutiges Gericht den Vaterschaftstest einsetzt. Den Gerichten in Basel und Vechigen genügte für ihr Urteil die Entscheidung der Männer für oder gegen den Eid.

Geschworene Bindungen: der Eid als Fundament politischer Gewalt Der Eid ist im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht nur vor Gericht als Mittel der Wahrheitsfindung zum Einsatz gekommen. Der Eid wurde auch zur Begründung und Stabilisierung politisch-herrschaftlicher Beziehungen eingesetzt. Sowohl in vertikal-herrschaftlich als auch in horizontal-genossenschaftlich verfassten politischen Systemen wurden die Angehörigen der jeweiligen Verbände mit dem Eid auf ein Verhalten eingeschworen, das die Kontinuität der Verbandsgewalt garantieren und das Gemeinwesen vor inneren und äußeren Gefährdungen sichern sollte. Hier stabilisierte der Eid die Erwartungshaltung der Träger der politischen Gewalt. Er vergewisserte sie ihrer Position, indem er die Abhängigen, die Untertanen oder Verbandsgenossen auf ein verlässliches Verhalten in Treue und Gehorsam einschwor und damit den Bestand des jeweiligen Gewaltverhältnisses auf Dauer stellte. In diesem Sinne hat Paolo Prodi den Eid als sacramento del potere bezeichnet.4 In der sozial und politisch dynamischen, ständisch-assoziativ verfassten Gesellschaft des Spätmittelalters gründeten alle wichtigen politischen Gewaltverhältnisse im Eid. Grundholden und Untertanen schworen ihren Herren, Vasallen schworen ihren Lehensherren.5 Die Bürger in den Städten schworen auf das Stadtrecht und die Stadthäup4

5

Paolo Prodi, Il sacramento del potere. Il giuramento politico nella storia costituzionale dell’Occidente, Bologna 1992; die deutsche Übersetzung: Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents, Berlin 1997. Prodi, Sakrament (wie Anm. 4), S. 141–196; André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen: Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800), Stuttgart und New York 1991.

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ter.6 Die zahlreichen Einungen, Bünde und Eidgenossenschaften fußten alle auf dem Schwur ihrer Angehörigen.7

Die Macht des Eides: Religiöses Gewissen und Seelenheil in der traditionellen Eideslehre Nach heutigem Rechtsverständnis können das Vorgehen und die Urteile des Basler und Vechiger Gerichts nicht befriedigen. Sie ließen die Frage offen, ob die beiden Männer mit ihrer Entscheidung tatsächlich der Wahrheit gefolgt waren und ob das Gericht mit seinem Urteil die richtige Partei schuldig gesprochen hatte. Aus heutiger Sicht muss diese Offenheit zwangsläufig als Rechtsunsicherheit erscheinen. Wir möchten den Gerichten vorwerfen, sie hätten ihren zentralen Auftrag verfehlt, ein Urteil gemäß der Wahrheit des Sachverhalts zu fällen und damit Gewissheit herzustellen und den Rechtsfrieden zu schützen. Wir möchten daran Anstoß nehmen, dass es das Gericht durchaus in Kauf nahm, Unschuldige zu bestrafen und Schuldige laufen zu lassen. Allerdings bliebe eine solche ahistorische Sicht allzusehr dem heutigen Verständnis von Gewissheit verhaftet. Sie ließe wichtige Aspekte des Eidverfahrens außer acht, welche es den Menschen in der Vormoderne sehr wohl möglich gemacht haben, dem Eid die entscheidende Rolle bei der Herstellung von Sicherheit und Gewissheit zuzuschreiben. Der Eid eröffnete Gerichten einen Ausweg aus einer blockierten Situation. Er kompensierte die Schwächen und Unzulänglichkeiten damaliger Ermittlungsund Entscheidungsverfahren, und er ermöglichte die Klärung konkreter Probleme des menschlichen Zusammenlebens, mit anderen Worten: er schuf Sicherheit und Gewissheit. Warum schrieben die Menschen dem Eid diese gewissermaßen übermenschliche Kraft zu? Was verlieh dem Eid diese Macht? Das institutionelle und kulturelle Vertrauen in den Eid wurzelte letztlich im religiösen Fundament des Schwurs: Beim Schwören rief der Mensch Gott zum Zeugen an, um die Wahrhaftigkeit seiner Aussagen 6 7

Wilhelm Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, Weimar 1958. Hans Conrad Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978; Peter Blickle, „Friede und Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291“, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Bd. 1, hg. v. Historischer Verein der Fünf Orte, Olten 1990, S. 15–202.

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oder seiner Versprechen unter Beweis zu stellen. Mit dem Eid rief er Gott aber auch als Rächer und Strafinstanz für den Fall an, dass er lügen und seinen Eid brechen sollte. Da Gott aber – im Unterschied zu den Menschen – allwissend und unfehlbar war, mussten Meineidige und Eidbrecher die sichere Bestrafung gewärtigen. In diesem Sinne war der Eid eine bedingte Selbstverfluchung des Schwörenden. Meineid und Eidbruch bedeuteten die selbstverantwortete Verfluchung des sündigen Menschen, der damit aus der christlichen Heilsgemeinschaft verstoßen wurde.8 Der Eid brachte das Seelenheil des Schwörenden und damit dessen religiöses Gewissen ins Spiel, um strittige Fragen und Konflikte zwischen Menschen einer (vorläufigen) Entscheidung zuzuführen. Der Eid errichtete ein dreiseitiges Spannungsfeld zwischen einem Eidgeber, einem Eidnehmer und Gott, und er schuf damit die Voraussetzung für Urteile, die in der Überzeugung der Menschen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit in bestimmten Situationen zuverlässiger als menschliche Verfahren konkrete Probleme des sozialen, rechtlichen und politischen Zusammenlebens der Menschen lösten. Die Anrufung Gottes im Eid bewirkte gewissermaßen eine Erweiterung des irdischen Gerichtsforums ins Transzendente. Über dem weltlichen Richter saß – unsichtbar, deswegen aber nicht weniger präsent – der göttliche Richter. Der Eid wirkte in diesem Sinne als ein Ritual der Ver-Gewisserung und trug als solches den kulturellen Voraussetzungen der mittelalterlichen und weitgehend auch noch der frühneuzeitlichen Gesellschaft in hohem Maße Rechnung. Die Schwurhandlung war in hohem Maße rituell gebunden; sie erforderte die peinliche Einhaltung vorgeschriebener Handlungsfolgen, den Vollzug vorgeschriebener Gesten und Gebärden (korrekte Erhebung der rechten Schwurhand und der Schwurfinger, Berührung bestimmter Körperteile oder heiliger Objekte) und das exakte Nachsprechen der vorgesprochenen Eidesformel. Zeichensprache, Symbolik der Gesten und Performanz machten den Eid zu einem unverwechselbaren kommunikativen Akt, der auf Schriftlichkeit prinzipiell verzichten konnte und somit in oralen und teil-oralen Kulturen seine besondere Bedeutung erhielt.9 8 9

Zu den Merkmalen des Eides s. Holenstein, Huldigung (wie Anm. 5), S. 49–64. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 229–257; ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und

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Als Ritual der Ver-Gewisserung lässt sich der Eid auch deswegen begreifen, weil er Gewissheit im Sinne von Sicherheit und Verlässlichkeit herstellte und diese im religiösen Gewissen der Schwörenden fundierte; mit der bedingten Selbstverfluchung setzte der Schwörende sein Seelenheil aufs Spiel, ein höherer Einsatz ließ sich nicht denken. Wenn die Träger politischer Gewalt und die Gerichte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit den Eid zur Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung verwendeten, so setzten sie die Gültigkeit eines religiös-christlichen Weltbilds voraus. Dieses Weltbild hing wiederum eng mit einem vergeltungstheologischen Gottesbild zusammen.10 Demnach beeinflusste das Verhalten der Menschen unmittelbar deren Beziehung zu Gott. Wer sündigte und Gottes Gebote missachtete, beleidigte Gott und erregte dessen Zorn. Gott ließ die Menschen seinen Zorn spüren, indem er sie mit Vergeltungmaßnahmen bestrafte. Er suchte die Sünder mit Seuchen, Krieg, Hunger und Teuerung heim; er strafte mit solchen Plagen aber auch die menschlichen Gemeinschaften, die das sündhafte Treiben in ihrer Mitte duldeten und dieses nicht mit den Mitteln irdischer Justiz verfolgten. In diesem Verständnis wurzelte auch der Auftrag der Obrigkeiten, mit Hilfe von Sittenordnungen die christliche Moral bei ihren Untertanen durchzusetzen. Gott drohte aber nicht nur mit Strafen im Diesseits. Viel schwerer als diese wog die Gewissheit der göttlichen Strafe beim Jüngsten Gericht. Mochte so mancher Straftäter hienieden noch damit rechnen wollen, dass ihm die irdische Justiz nicht auf die Schliche kommen würde und er sich nie vor Gericht würde verantworten müssen, so blieb doch gewiss, dass dem allwissenden Gott nicht das geringste Delikt entging. Spätestens beim Jüngsten Gericht am Ende aller Tage wurde vor dem Forum der himmlischen Justiz mit jedem Sünder abgerechnet.

Die Didaxe der traditionellen Eideslehre Überall, wo in der Frühen Neuzeit Eide geschworen wurden – vor Gericht, vor Behörden und Obrigkeiten – warnten mündliche oder schriftliche Eidesbelehrungen die Schwurpflichtigen vor den düsteren Folgen des Meineids. Richter, Pfarrer oder Amtleute stellten den Schwörenden 10

Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Schmidt, „Dorf“ (wie Anm. 2), S. 3–11.

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die drastischen Konsequenzen von Meineid und Eidbruch vor Augen. Diese galten als schwere Sünde; sie verstießen gegen das zweite Gebot des Dekalogs und lästerten den Namen Gottes. In einer Eidesbelehrung aus dem Münsterland wurde den Schwörenden in Erinnerung gerufen, dass der Meineidige die Allmacht Gottes lästere und schände und sich dadurch aller göttlichen Gnade beraube; er lade auf sich alle die Strafe und den Fluch, die Gott den Verfluchten auferlege, und Gott werde ihm in allen seinen Angelegenheiten und Nöten jede Hilfe versagen.11 Die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten haben bis ins 18. Jahrhundert einen erheblichen Aufwand betrieben, um diese Eideslehre zu popularisieren. Dabei ging es ihnen nicht nur darum, die rechtliche und politische Macht des Eides zu stützen, ihr Selbstverständnis als christliche Obrigkeit machte es ihnen auch zur Pflicht, die ihnen „anvertrauten“ Untertanen vor der Sünde des Meineids zu bewahren.12 Mit didaktisch eingängigen Mitteln wurden die Prinzipien der Eideslehre bekannt gemacht und vor Augen geführt. Großer Beliebtheit erfreuten sich dabei die bildliche Darstellung und die Deutung der Schwurhand als Symbol der Dreifaltigkeit Gottes. Sie sollte deutlich machen, wie die Ordnung auf Erden metaphysisch verankert war und wie unauflösbar die Lebensführung des Menschen auf Erden mit der Heilsfrage im Jenseits verzahnt war. Schwurhand und Schwurfinger versinnbildlichten die Unterwerfung des Menschen unter den dreifaltigen Gott und sollten dem Schwörenden die Kräfte bewusst machen, die er mit seinem Eid in Bewegung setzte. Der erste Schwurfinger, der Daumen, symbolisierte nach einer Luzerner Eidesermahnung von 1671 Gott Vater, der zweite Finger Gottes Sohn und der dritte den Heiligen Geist; die andern zween Finger in der Hand neygt er [Gott, AH] under sich/ der ein bedeut die koestliche Seel/ als sie verborgen ist under der Menschheit/ und der 11

12

Das niederdeutsche Originalzitat bei Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800, Paderborn 2000, S. 131. Zum Folgenden André Holenstein, „Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Bedeutung des Eides in der ständischen Gesellschaft“, in: Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, hg. v. Peter Blickle, Berlin 1993 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft, 15), S. 11–63 [33–40].

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fuenfft kleineste Finger/ bedeut den Leib/ als der Leib klein ist zu schaetzen gegen der Seel/ und bey der gantzen Hand wird bedeut ein GOtt und ein Schoepffer/ der den Menschen und alle Creaturen im Himmel und auff Erden erschaffen hat.13

Die Symbolisierung des religiösen Gehalts des Eids sollte bei jedem Schwur die drastischen Folgen des Meineids vergegenwärtigen. So hieß es denn in der Luzerner Eidesermahnung weiter: Gedenck O Mensch/ wie grausam Urtheil du ueber dich selber sprichst/ und bedencke dich gar wol. O Mensch huet dich vor falschem Eydt/ Halt in hut dein Gmueth und Sinn/ An falschem schwoeren ist nichts zu gwinnen/ Ohn Underlass in dieffem Grund/ Damit du hast dein Seel verpfend/ Dann er ist GOtt von Hertzen leyd. Dann Zeit und Tag gehn schnell dahin/ Dann ewig in der Hoell drumb brinnen. Mit Leib und Seel/ Hand und Mund. Dem Teuffel ewig ohne End.14

Menschen, denen vor Gericht ein Eid auferlegt wurde, gerieten in eine gefährliche Entscheidungssituation: Sie hatten sich mitunter zwischen dem unmittelbaren Nutzen im Diesseits, den ihnen ein Schwur auf die Unwahrheit einbrachte, und der Heilsaussicht im fernen Jenseits zu entscheiden, die sie sich mit dem Bekenntnis zur Wahrheit bewahrten. Die Grenzerfahrung dieser Entscheidungssituation wurde besonders durch den Umstand gesteigert, dass die religiös-ethisch korrekte Entscheidung zugunsten der Wahrheit vorerst einmal unangenehme Folgen in der Welt – Strafen, Lasten und Kosten – nach sich ziehen konnte. Angesichts dieser Alternative zwischen raschem Nutzen und langfristigem Verderben auf der einen Seite und kurzfristigem Nachteil, aber langfristigem Heil sollte die Eidesermahnung keine Zweifel über die richtige Entscheidung aufkommen lassen. Der zeitliche Vorteil aus einer beschworenen Unwahrheit sollte angesichts der ewigen Verdammnis, die der Meineidige in Kauf nahm, ganz in den Hintergrund treten. Ein falscher Eid schloss den Schwörenden aus der Gemeyn und Gutheit der heiligen Christenheit aus; der Meineidige musste in seinem Sterben auf den göttlichen Trost verzichten, er hatte keinen Anteil an der göttlichen Barmherzigkeit und sollte beim Jüngsten Gericht durch den strengen Richter auf ewig verdammt werden.15 13 14 15

Zitiert nach ebd., S. 34. Zitiert nach ebd., S. 34 f. (Luzerner Eidesermahnung von 1671). Holenstein, „Seelenheil“ (wie Anm. 12), S. 35 (Eidesermahnung im Appenzeller Landbuch von 1409).

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Die Grenzsituation, in die sich Schwörende grundsätzlich begaben, wurde auf Gemälden und Holzschnitten des 15. und 16. Jahrhunderts mit Darstellungen von Schwurszenen vor Gericht anschaulich vorgestellt (Abb. 1). Einen einprägsamen bildlichen Ausdruck hat die traditionelle Eideslehre nördlich der Alpen vom Spätmittelalter bis ins 17. Jahrhundert auch auf den sog. Weltgerichtsbildern gefunden, die in Gerichtsräumen und Rathäusern hingen, wo Urteile gefällt und Eide geschworen wurden.16 (Abb. 2). Diese Bildtafeln zeigen häufig dieselbe Grundkomposition: In der unteren Bildhälfte war die Sitzung eines weltlichen Gerichts mit Richter, Schöffen und Parteien dargestellt; diese Szene stand in enger Beziehung zur oberen Bildhälfte, die Christus als Weltenrichter beim Jüngsten Gericht zeigte (Abb. 3). Die unmittelbare Parallelisierung des weltlichen Gerichts mit dem Geschehen am Ende aller Tage erhielt in der Betrachtung der Zeitgenossen mehrere Bedeutungen. Sie veranschaulichte zum einen die Überzeugung, dass die Menschen für all ihr Tun und Lassen dereinst vor dem Richterstuhl Christi zur Verantwortung gezogen werden würden. Diese Botschaft berührte alle vor und im Gericht handelnden Personen: den Richter und die Schöffen, die ein gerechtes Urteil sprechen mussten, ebenso wie die Konfliktparteien, die wahrhaft aussagen sollten. In der Parallelisierung der beiden Gerichtsszenen manifestierte sich auch die Überzeugung vom unmittelbaren Ineinandergreifen der göttlich-himmlischen und der weltlich-irdischen Sphäre. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verband sich, unterstützt durch die neuen Möglichkeiten des Flugblattdrucks, die trinitarische Eidesauslegung mit der mittelalterlichen Tradition der Meineidssagen und -exempla. Die Deutung der Schwurhand als Symbol der Dreifaltigkeit wurde dabei mit dem Bericht von wahrhafften und erschrecklichen Geschichten ausgeschmückt. Diese Geschichten berichteten vom angeblich verbürgten Schicksal von Meineidigen, welche die göttliche Strafe für ihre Sünde schon im Diesseits ereilt hatte.17 Sie wollten damit die abschreckende Wirkung der eher abstrakten Eidesermahnung steigern.

16 17

Kristin Eldyss Sorensen Zapalac, „In His Image and Likeness“. Political Iconography and Religious Change in Regensburg, 1500–1600, Ithaca u. a. 1990, S. 26–54. Holenstein, „Seelenheil“ (wie Anm. 12), S. 37 ff.

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Abbildung 1: Anonymus, Schwurszene vor Gericht, Holzschnitt für Ulrich Tengler, Der neü Layenspiegel, Augsburg: Hans Otmar, 1511, fol. XCIX, Bayerische Staatsbibliothek, München. Handschriftenabteilung, Res. 2o J. pract. 76. Die Gerichtsszene zeigt in der Mitte unter dem Baldachin den Richter mit dem Richterstab in der Hand. An seiner Seite sitzen die Schöffen. Vor dem Gericht hat ein Mann seine rechte Hand zum Schwur erhoben; er wird dabei von zwei Gestalten umgeben. Zu seiner Rechten steht ein Engel, zu seiner Linken steht der als Ungeheuer erscheinende Teufel. Beide drängen den Mann zur Entscheidung. Engel und Teufel – das Gute und das Böse – ringen bei der Schwurhandlung um die Seele des Schwörenden.

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Abbildung 2: Hans Mielich, Tafel mit der Darstellung einer Sitzung des Regensburger Rates, 1536. Gewidmete Miniatur im Regensburger Freiheitsbuch von 1536, Stadtarchiv Regensburg. Das Bild zeigt die in der Regensburger Ratsstube versammelten Ratsherren. An der Wand im Hintergrund ist eine Darstellung mit Jesus Christus als Weltenrichter auf dem Regenbogen zu sehen.

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Abbildung 3: Anonymus, Gerichtsszene mit Letztem Gericht, Holzschnitt für Ulrich Tengler, Der neü Layenspiegel, Augsburg: Hans Otmar, 1511, fol. XXII’. Bayerische Staatsbibliothek, München, Handschriftenabteilung, Res. 2o J. pract. 76. Über dem weltlichen Gericht mit Richter und Schöffen thront Christus als Weltenrichter mit Schwert und Lilie, den Symbolen für seine Strafund Gnadengewalt.

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Ein in Wien 1579 gedrucktes Flugblatt teilte das Schicksal eines Messerschmieds aus Pressburg (Bratislava) mit, der angeblich am 24. September jenes Jahres im Streit um viereinhalb Gulden einen Meineid geschworen hatte. Darauf hätten sich die drei Schwurfinger seiner Hand schwarz verfärbt und der Mann sei drei Tage später bereits verstorben (Abb. 4). 1580 brachte ein Nürnberger Drucker ein Flugblatt heraus, das die trinitarische Eidesermahnung mit dem Bericht des Pressburger Vorkommnisses und zweier weiterer abschreckender Exempla illustrierte. Im einen Fall schwor ein reicher Wirt aus Lausanne in einem Rechtsstreit um einen größeren Geldbetrag mit einem minder bemittelten Mitbürger einen Meineid. Gottes Strafe suchte den armen Menschen sofort heim, so dass diser elende Wirt/ alsbald nider sinckt/ sein gantzer leib kolschwartz wirdt/ vnd gleichsam vbereinander hockend/ stein tod ist. Vornehme Personen sollen – so fügte das Flugblatt hinzu – Zeugen dieses Zwischenfalls gewesen sein; die Gegenpartei kam darauf sogleich in den Besitz des strittigen Geldes. Im anderen Fall ließ sich unweit Lausanne ein vornehmer, wohlhabender Mann zu einem Meineid verleiten und starb kurz darauf, ohne dass sein Vergehen entdeckt worden war. Seine Sünde wurde erst 20 Jahre später offenbar, als man beim Begräbnis der Witwe im Grab die Hand des Mannes mit den drei aufgestreckten Schwurfingern noch unversehrt, aber ganz schwarz vorfand. Diese Entdeckung galt als Beweis der früheren Missetat, was die Obrigkeit bewog, den Leichnam zu exhumieren und zur zeitlichen straff auf die Begräbnisstätte für die Hingerichteten zu überführen. Die betrogene Partei erhielt nach 20 Jahren jenes Gut zugesprochen, das ihr durch den Meineid des verstorbenen Mannes vorenthalten worden war.18 Diese Kurzgeschichten unterstrichen die zentrale Aussage der Eidesermahnungen: Es war die Aussicht auf zeitlichen Gewinn, die die Menschen zum Meineid verleitete; die Exempla riefen aber in Erinnerung, dass die Aussicht auf den Gewinn im Diesseits – mochte dieser noch so groß sein – die Folgen des Meineids im Jenseits nie aufzuwiegen vermochte.

18

Die Nachweise bei Holenstein, „Seelenheil“ (wie Anm. 12), S. 37 f.

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Abbildung 4: Die trinitarische Auslegung der Schwurhand und die Mitteilung des exemplarischen Todes eines meineidigen Messerschmieds, Wiener Holzschnitt, 1579, Bayerische Staatsbibliothek, München, Einbl. VIII, 20 (B12) [Ein Warhaffte vnd erschröckliche Newe Zeyttung, o. O. und o. J.]

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Zwischen Biblizismus und Pragmatismus: die Eideslehre als Kompromiss Die Lehre vom Eid, wie sie auf Weltgerichtsbildern und in den Meineidssagen der Flugblätter kommuniziert wurde, stellt eine popularisierte Fassung der Theorie dar, mit der Theologen, Juristen und Philosophen die vielfältige Anwendung des Eides in der Politik und im Rechtsleben des Mittelalters und der Frühen Neuzeit legitimiert haben.19 Die theoretische Reflexion und Legitimation des Eides war nicht zuletzt deswegen ein dringliches Erfordernis, weil Jesus Christus selber in der Heiligen Schrift an prominenter Stelle das Schwören untersagt (Mt 5,33 ff.) und die Rede der Menschen auf die Wahrheit, auf ein einfaches „Ja, ja – nein, nein“ ohne jede weitere magisch-religiöse Absicherung verpflichtet. Auf dem Weg von diesem radikalen, ur- und frühchristlichen Verbot des Eides zu einer christlich-kirchlich begründeten Rechtfertigung des Eides hat sich die Eideslehre in einer säkularen Diskussion hauptsächlich in zwei Richtungen bewegt: Sie hat die Kompatibilität des Eidschwurs mit der Heiligen Schrift herausgearbeitet und ihn damit prinzipiell legitimiert. Zu diesem Zweck hat sie bestimmte Bedingungen definiert, die ein christlicher Gebrauch des Eides zu beachten hatte: Als unverzichtbare Begleitumstände eines gültigen, christlich legitimierten Eides galten die Wahrheit der beschworenen Aussage, der Vorbedacht des Schwörenden und das Streben nach Gerechtigkeit als Zweck der Schwurhandlung (veritas, iudicium, iustitia).20 Die klassisch-christliche Eideslehre war ein Kompromiss. Sie vermittelte zwischen dem radikalen biblischen Gebot aus der Bergpredigt und den praktischen Zwängen und Anforderungen von Recht und Politik in der Welt. Sie konnte sich seit dem frühen Mittelalter nicht zuletzt deswegen auf breiter Basis durchsetzen, weil der Eid im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zu einem unverzichtbaren Instrument für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen und für die Konstituierung politischer Gewaltverhältnisse geworden war. Der Eid sorgte nach menschlichem Ermessen und mit der Hilfe Gottes für Sicherheit, Gewissheit und Vertrauen in den sozialen Beziehungen. Zwar 19 20

Zum Folgenden ausführlicher und mit weiteren Belegen ebd., S. 20–32. Die genaueren Nachweisen dazu bei Holenstein, „Seelenheil“ (wie Anm. 12), S. 20–32.

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brachen die Klagen über die zahlreichen Meineide der Menschen und deren verwerfliche Folgen nie ab, die Konsequenz konnte aber nicht in der Abschaffung des Eides liegen, sondern im Versuch, den Meineid zu verhindern und den Eid sorgfältiger einzusetzen. Christi Gebot an die Menschen, in keinem Fall zu schwören, ist dennoch das ganze Mittelalter und die Frühe Neuzeit hindurch nie ganz in Vergessenheit geraten. Die grundsätzliche Ablehnung des Eides fand sich immer wieder bei religiösen Bewegungen, die sich kritisch von der etablierten Kirche distanzierten. Im 16. Jahrhundert ist diese Kontroverse besonders zwischen den Kirchen und dem Täufertum ausgetragen worden, das in seiner radikal-christlichen Ausdeutung des Neuen Testaments jeden Eid grundsätzlich ablehnte. Die katholische und die evangelischen Kirchen waren sich schon im 16. Jahrhundert zumindest in diesem Punkt einig und haben beide den Eid gegen die täuferische Auffassung gestützt. Maßgeblich wurde dabei eine Schrift des Zwingli-Nachfolgers Heinrich Bullinger gegen die täuferische Eidesauffassung von 1560.21 Der radikalen täuferischen Auslegung des Schwurverbots aus der Bergpredigt wollte Bullinger mit einer differenzierenden Exegese den Boden entziehen. Wenn Christus den Christen gebot, überhaupt nicht zu schwören, so meinte er damit gemäß Bullinger nicht die Eide, die man vor Gericht oder gegenüber der Obrigkeit schwor, sondern die leichtfertigen Schwüre und Flüche, die man im Zorn ausstieß. Die vorigen schwuer sind nit verbotten/ aber die letsten all. Dann die ersten sind nit wider die liebe/ sonder mit der liebe: und die liebe leit uss dass gesatzt. Die lychtfertigen schwuer aber und das fluochen ist alles wider die liebe unnd das gsatzt/ und soemliche verbüt der Herr/ wenn er spricht/ man soelle überal nit schweren/ ja überal nit.22

So betrachtet gab es kein biblisches Verbot des Eides, der Zürcher Theologe war vielmehr der Auffassung, Gott habe den Eid zum Nutzen der Obrigkeit und Gesellschaft gestiftet. 21

22

Heinrich Bullinger, Der Widertoeufferen ursprung/ fürgang/ Secten/ waesen/ fürneme und gemeine jrer leer Artickel, Zürich 1560 (fotomech. Nachdruck der 2. Ausg. 1561, Leipzig 1975). – Zur Entstehung und Verbreitung dieser Schrift Heinold Fast, Heinrich Bullinger und die Täufer, Weierhof / Pfalz 1956. Bullinger, Widertoeufferen (wie Anm. 21), S. 179.

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Der eyd [. . . ] ist von Gott der Oberkeit zur behilff und allen menschen zuo guotem/ und mit nammen zuo einem gwüssen end gegaeben/ namlich zuo einem starcken band/ dass die lüt by einanderen und in der gehorsamme behalte: item/ zuo einem trib/ der ein yeden zuo sinem ampt und zuo dem/ dass er geschworen hat/ trybe/ und wenn der richter in wichtigen sachen nit kan uff den grund kommen/ dass er es dem menschen by dem eyd hinzuolegte.

Die soziale Nützlichkeit des Eides belegte Bullinger mit den Worten des Apostels Paulus an die Hebräer (Hebr 6, 13–18), wonach der eyd [.] zur versicherung deren [diene]/ die in etwas zwyfels standind/ er sye ouch ein end alles haders zur versicherung. Wer also, wie die Täufer, den Eid als Sünde und Unrecht ablehnte, der entzog im Verständnis Bullingers nicht nur der Wahrhaftigkeit in der Welt die Basis, er beleidigte auch Gott, weil er mit dem Eid ein religiöses Bekenntnis und eine Bezeugung der Ehre Gottes verschmähte, ja er stürzte überhaupt die soziale und politische Ordnung in eine fundamentale Krise: Dann nimm hin uss den regimenten den Eyd/ und luog dann, ob du nit das band ufgeloesst habist/ welches den gantzen lyb dess gemeinen nutzes unnd rechter regierung by einanderen behalt. Wer richtig schwor, erwies damit Gott die Ehre. Dann wie Gott allein der hertzen erkündiger/ helffer und straffer ist/ allein wil angeruefft und einig vereeret werden/ also gebüt er uns/ dass wir allein by sinem nammen schweerind. Der Eyd bewaret und behalt uns in einer religion.23

Die zahlreichen Eidesbindungen im Verfassungs- und Rechtsleben der vormodernen Gesellschaft bezeugten in den Augen der herrschenden Lehre die praktische Notwendigkeit des Eides. Wo die menschliche Vernunft an ihre Grenzen stieß, wurde der Rückgriff auf Strategien nötig, die aufgrund ihrer transzendenten Verankerung die Ausweglosigkeit weltimmanenter Verfahren zu überwinden vermochten. So bezeichnete auch Zwingli den Schwur als heiligen Rettungsanker für den Fall, dass Vernunft und Weisheit die Menschen im Stich ließen.24 Nicht anders ließ sich im 18. Jahrhundert noch der Berner Pfarrer Johann Friedrich Stapfer vernehmen: 23 24

Die Zitate bei Bullinger, Widertoeufferen (wie Anm. 21), S. 180’ und 181 f. Huldrich Zwingli, „In catabaptistarum strophas elenchus“, in: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke. Bd. VI/1, Zürich 1961, S. 145 f.

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Wo kein menschliches Zeugnis oder Kundschaft vorhanden ist, noch ein freywilliges Geständnis der Partheyen herausgebracht werden kan, da kan der menschliche Richter nicht urtheilen, er ist nicht allwissend, er weiss dasjenige nicht, was in dem Verborgenen geschieht, und er kennet auch das Herz und die Gedanken der Menschen nicht. In dergleichen Fällen kan derowegen GOtt allein Zeuge und Richter seyn.25

Beim Menschen gesellten sich zur Unzulänglichkeit der Vernunft noch Lüge, Betrug und Wortbruch als moralische Unzulänglichkeiten. Der Eid konnte der Lehre zufolge die damit verbundenen Gefahren im gesellschaftlich-politischen Lebens abwenden oder zumindest einhegen.26 In dieser Hinsicht erschien der Eid den Moraltheologen geradezu als ein Akt der Nächstenliebe.27

Die Krise des Eides und die Neupositionierung des Gewissens seit dem späten 18. Jahrhundert Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist diese traditionelle Eideslehre in die Krise geraten.28 Die Verbindungen zwischen Diesseits und Jenseits wurden neu vermessen und die Bedeutung Gottes für die Begründung und Sicherung der politisch-sozialen Ordnung in der Welt neu bestimmt. Die Debatte um 1800 stand ganz unter dem Eindruck der scharfsinnigen Erörterungen Immanuel Kants, der den Eid aus prinzipiellen moralphilosophischen Überlegungen fundamental kritisierte. Nur noch aus Johann Friedrich Stapfer, Unterricht von dem Eide an diejenigen, welche ihren Rechtshandel durch denselben zum Ende bringen, oder ihre Aussage dadurch bestätigen sollen, Zürich 1758, S. 10. 26 Siehe „Eid“, in: [Zedler], Universal-Lexicon. Bd. 8, Leipzig und Halle 1734, Sp. 488: „Wäre der Mensch in dem Stande der Unschuld geblieben, so hätte der Eid keinen Nutzen gehabt, um derer Menschen Thorheit aber ist es nöthig gewesen, die Eidschwüre einzuführen. Denn in dem verderbten Stande hätten wir sonst kein Mittel gehabt, durch welches wir bey dem, der etwas bekräfftiget oder verspricht, Betrug und Untreue; bey denen andern aber, mit welchen wir zu thun haben, Zweiffel und Unglaube verwehren können.“ 27 Ludwig Lavater, Der eyd: Das ist/ von allen ursachen/ umbstennden/ wirde/ bruch unnd mißbrauch des Eydschwehrens/ kurtze und grunndliche beschreybung, Zürich 1592, S. 65': Durch den eyd wirt der schaden deß nechsten fürkommen/ sin nutz und frommen gefürderet. Durch den eyd wirt versünigung zwüschen den brüdern gemachet/ dargegen vil unfrid/ hader unnd zweytracht aufgehebt unnd abgestellt. 28 Ausführlicher dazu Holenstein, „Seelenheil“ (wie Anm. 12), S. 45–58. 25

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pragmatischen Erwägungen und wegen seines politisch-rechtlichen Nutzens sollte man den Eid weiterhin gebrauchen – weil die allermeisten Menschen mangels Aufklärung zu Kants rationaler Einsicht nicht fähig waren und des Eids nach wie vor bedurften.29 Das falsche Vertrauen der Menschen in den Eid beruhte Kant zufolge auf dem Aberglauben, der einer beschworenen Aussage eine höhere Glaubwürdigkeit beizumessen bereit war als einer einfachen feierlichen Aussage vor Gericht, „ob gleich die Pflicht der Wahrhaftigkeit in einem Fall, wo es auf das Heiligste, was unter Menschen nur sein kann (aufs Recht der Menschen), ankommt, jedermann so klar einleuchtet“. Abergläubisch war folglich auch die Überzeugung, Schwörende ließen sich „durch die Furcht vor einer allsehenden obersten Macht, deren Rache sie feierlich gegen sich aufrufen mussten“, vor Gericht eher zur Wahrhaftigkeit bewegen, als wenn sie nicht schworen. Diese dem Eid offensichtlich inhärente Wirkung war für Kant der einzige Grund, warum die Obrigkeit Menschen rechtlich dazu verbinden konnte, „zu glauben und zu bekennen, dass es Götter gebe“. Und dabei beruhte auch diese Annahme im Grunde auf einem doppelten Unrecht: Wie konnte jemand dazu verpflichtet werden, zu glauben, dass der andere Religion habe, und damit sein Recht auf des anderen Eid ankommen zu lassen? Und wie konnte jemand überhaupt verpflichtet werden zu schwören, wo doch ein solcher Zwang „der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider“ war?30 Für Kant war der Eid nurmehr als notwendiges Übel im Dienst der Justiz, aber nicht mehr per se akzeptabel; als „tortura spiritualis“ diente er zwar der „Aufdeckung des Verborgenen“ vor Gericht, er leitete aber seine Wirksamkeit aus einer voraufgeklärten, unvernünftigen Religionsauffassung ab. Die prinzipielle Problematik der Eidespraxis aber lag, Kant zufolge, in ihrer Unvereinbarkeit mit der menschlichen Freiheit und in ihrer unhaltbaren Voraussetzung, dass jemand überhaupt Religion habe.31 Damit waren die entscheidenden philosophischen Argumente gesetzt, die in der Diskussion über Wert und Unwert des Eides am Ende des 18. Jahrhunderts unter Juristen, Philosophen und Theologen die Orientierungspunkte bildeten. 29 30 31

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 8 1989 (Werksausgabe, 8), S. 420. Ebd., S. 420 f. Ebd., S. 421.

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Für die Kritiker des religiösen Eides stellte sich nun die Frage, welche neue universale Instanz jenseits einer religiös begründeten Moralauffassung im Stande sein würde, die Funktionen des religiösen Eides zu übernehmen.32 Als tauglichere, menschliche „Motive zur Wahrheit“ empfahlen sich in der Auffassung der aufklärerisch gesinnten Reformer die Vernunft und das Gewissen aufgrund ihrer universalen Verbreitung und Gültigkeit. „Das Gewissen ist nichts Erworbenes, sondern jedem Menschen anerschaffen; es ist unabweislich und unfehlbar, spricht laut und vernehmlich, lässt sich nicht bestechen und zwingt zur Aufrichtigkeit in der Selbstprüfung“. So formulierte optimistisch 1836 der deutsche Jurist Friedrich Gottfried Leue in einer Abhandlung über den Eid. Dass die Säkularisierung der Eideskonzeption unter aufklärerischem Vorzeichen mit der Verinnerlichung des Pflichtbegriffs einherging, brachte der Jurist Leue in der Bemerkung zum Ausdruck, dass der Eid „ein sinnliches Hülfsmittel zur Erregung des Gewissens sei. [. . . ] Der Mensch bedarf nicht Gottes zum Richter, um zu erfahren, was seine Thaten werth sind, sondern hat seinen eigenen Richter in seinem Gewissen“33 . Im Unterschied zur älteren Eideslehre kritisierte die neue, gewissermaßen aufklärerisch geläuterte Auffassung die bedingte Selbstverfluchung für den Fall des Meineids als vermessenen Eingriff des Menschen in Gottes Richtspruch. Im sog. Flucheid erblickte sie den Ausdruck einer unwürdigen Gottesvorstellung. Die mit der Anrufung Gottes nach wie vor gegebene metaphysische Verankerung des Eides wurde so umgedeutet, dass an die Stelle eines Rächer- und Richtergottes ein Helfergott trat, der mit dem Eid dazu bewogen werden sollte, dem Eidleistenden bei der Gewissenserforschung und -entscheidung zur Seite zu stehen. Im Eid sollte nicht mehr die Vorstellung eines zornig-beleidigten, sich rächenden Gottes heraufbeschworen werden, der Eid sollte vielmehr das Bewusstsein göttlicher Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen; er sollte öffentlich dokumentieren, dass der Schwörende sich zu sittlich gebotener Wahrhaftigkeit und Worttreue bekannte und diese Pflichten als göttliche Gebote anerkannte. In der neuen Eideslehre war Gott gewissermaßen von der Welt entrückt worden, die Gottesvorstellung wurde 32 33

Zur post-kantianischen Reformdiskussion um den Eid s. die Angaben bei Holenstein, „Seelenheil“ (wie Anm. 12), S. 47–58. Friedrich Gottfried Leue, Von der Natur des Eides, Aachen und Leipzig 1836, S. 28, 37 und 54.

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stärker abstrahiert und spiritualisiert. Der rächende, strafende Gott vermochte die Menschen immer weniger zu schrecken. Je weiter sich der Richter-Gott aber von der Welt entfernte und je weniger er unmittelbar in sie eingriff, umso stärker wurde in jedem Einzelnen das Gewissen als Richterinstanz aufgebaut.

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Schatzinszenierungen: Die Verwendung mittelalterlicher Schätze in Ritual und Zeremonie Lucas Burkart (Basel / Luzern) Einleitung In den historischen Kulturwissenschaften der letzten Jahre haben Riten, Gesten und Zeremonien vermehrt Aufmerksamkeit gefunden. Aus verschiedenen Disziplinen liegen mittlerweile wegweisende Arbeiten vor, an denen sich weitere Fallstudien und Spezialuntersuchungen konzeptuell und theoretisch orientieren.1 In methodischer Perspektivierung und in Verbindung mit den wissenschaftlichen turns der letzten Jahrzehnte, vom linguistic über den iconic oder pictorial bis hin zum performative und spatial turn, haben sich rituelles Handeln, die darin zu beobachtenden Gesten sowie dessen Sequenzialisierung in Zeremonien und Prozessionen als Untersuchungsgegenstände fest etabliert. Diese Hinwendung zu symbolischem Handeln und dessen Formen mag auf den ersten Blick neu erscheinen und mit der Begründung einer „neuen Kulturwissenschaft“ verbunden sein.2 Tatsächlich besitzt sie eine längere Forschungstradition. 1990 erschien Jean-Claude Schmitts ‚La raison des gestes dans l’Occident médiéval‘; davor hatte Jacques Le Goff das Mittelalter schon 1964 als eine „Kultur der Geste“ charakterisiert. Aber auch diese Einschätzung schließt an ältere Forschung an, hatte doch bereits einer der Begründer der Annales-Schule3 , Marc Bloch, in seiner Untersuchung zur mittelalterlichen Feudalgesellschaft die Ritualisierung sozialer Interaktion betont und darin gewissermaßen ein Regulativ zur „Unzulänglichkeit des Schriftlichen“ gesehen.4 Gesten und 1 2 3 4

Vgl. die Einleitung des vorliegenden Bandes. Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt a. M. 2005; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001. Peter Burke, Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin 1991. Jacques Le Goff, La Civilisation de l’Occident médiéval, Paris 1964, S. 440; Marc Bloch, La Société féodale, Paris 1968 [1939], S. 171.

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Riten haben Historiker des Mittelalters mit anderen Worten bereits vor etwa hundert Jahren beschäftigt. Alleine aus dieser historiographischen Tradition erklärt sich das aktuelle Interesse aber nicht, und von einer kontinuierlichen Präsenz des Themas kann schon gar keine Rede sein. Erst Forschungen der Ethnologie und Anthropologie, wie sie in den Geschichtswissenschaften seit etwa 15 Jahren rezipiert werden, haben sowohl den Gegenstand neu begründet als auch ein Repertoire von Kategorien sowie Verfahren bereitgestellt, die eine methodengeleitete Analyse von Ritualen und Gesten beförderten. Damit verbunden war die Wiederentdeckung klassischer Autoren der Soziologie, Ethnologie und Anthropologie. Die Arbeiten Malinowskis, Mauss’, Turners, Geertz’ und Lévy-Strauss’ haben die Beschäftigung mit Ritualen, Gesten und Zeremonien angeregt und deren Methode und Verständnis nachhaltig geprägt.5 Die eigentliche Entdeckung, die aus dieser Anregung floss, lag für die Historiker vormoderner europäischer Gesellschaften somit weniger in einem genuin neuen Forschungsgegenstand, als vielmehr in methodischen Verfahren, die neue Deutungsweisen der Alterität vormoderner Gesellschaften eröffneten. Dem Beispiel ethnologischer und anthropologischer Deutungen außereuropäischer Kulturen folgend, erschienen Riten, Gesten und Zeremonien vormoderner Gesellschaften nicht mehr als exotischer, ferner Ausdruck kultureller Alterität, sondern in sozialwissenschaftlicher Perspektivierung als Momente sozialer Kohäsion, wie sie auch in der Moderne beobachtbar sind – und somit als verbindendes Element zwischen Vormoderne und Moderne. Der Blick durch die historisch-anthropologische Brille setzte nicht zuletzt auch den Blick auf die Ritualisierung des modernen Alltags frei. Das aktuelle Interesse an Riten, Gesten und Zeremonien in den historischen Kulturwissenschaften ist also doppelt begründet. Zum einen hat es seine Wurzeln in disziplinären Studien zu vormodernen Gesellschaften, zum andern entstammen aus der interdisziplinären Orientie5

Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik (Schriften in vier Bänden, 1), hg. v. F. Kramer, Frankfurt a. M. 1979 [1922]; Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1990 [1923]; Claude Lévy-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973 [1962]; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt a. M. 2 2005 [1969]; Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983 [1973].

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rung der jüngeren Kulturwissenschaften die Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen beziehungsweise mit den methodischen Verfahren zu deren Analyse; Ethnologie und Anthropologie dienten hier als Orientierungsdisziplinen und befruchteten die Untersuchung rituellen Handelns und Kommunizierens in Gesellschaften der europäischen Vormoderne. Mit Riten, Gesten und Zeremonien haben die historischen Wissenschaften also nicht nur erneut einen Gegenstand ihrer Beschreibung gefunden, sondern ein Instrument zur Analyse historischer Vergangenheit entdeckt. Im Gegensatz zur ethnologischen Analyse ritueller Praktiken lassen sich die Riten, Gesten und Zeremonien historischer Gesellschaften – wie alles Historische – nicht mehr direkt beobachten. Dies hat einige methodische Konsequenzen.6 Die Historiker sind auch hier auf ihre Quellen angewiesen; in diesen finden sie Spuren von Riten, Gesten und Zeremonien. Aus Texten und Bildern rekonstruieren sie rituelles Handeln, das nur so festgehalten werden kann, weil es selbst als ephemere Inszenierung nicht dauerhaft ist. Angesichts dieses leichtflüchtigen Charakters haben sich in Text und Bild erstaunlich viele Beschreibungen rituellen Handelns erhalten. Sie reichen von der Schilderung frühmittelalterlicher Herrscherbegegnungen bei Gregor von Tours über die in Illustrationen festgehaltenen Gesten lehensrechtlicher Verhältnisse im Sachsenspiegel bis hin zu religiösen Prozessionen sowie deren politische Instrumentalisierung etwa im spätmittelalterlichen Venedig. Angesichts der reichen Überlieferung erstaunt es ebenso wenig, dass bis heute eine hohe Zahl einschlägiger Studien vorliegt wie dass sich an Gegenstand und Methode wiederholt Forschungsdebatten entspinnen.7 6

7

Die direkte, ethnographische Beobachtung von Ritualen wirft ihrerseits ebenfalls methodische Fragen auf, welche die Geschichtswissenschaft in diesem Maße nicht kennt. Vgl. Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München 2000. Einen Überblick über die Forschung liefern die Aktivitäten des Münsteraner SFB „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“, bzw. die Publikationen seiner Mitglieder wie etwa Gerd Althoff, „Rituale – symbolische Kommunikation. Zu einem neuen Feld der historischen Mittelalterforschung“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50/3 (1999), S. 140–154. In jüngerer Zeit stand der Begriff des Rituals, bzw. dessen Verwendung durch die Forschung im Fokus der Diskussion. Der Historiker Philippe Buc hat auf das Problem aufmerksam gemacht, dass die Überlieferung rituellen Handelns sich ihrer eigenen Ritualität durchaus im Klaren sei. Mit-

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Jenseits der Überlieferungsbedingungen in Text und Bild besaßen und besitzen Riten, Gesten und Zeremonien aber auch eine dauerhaftere Seite, ohne die sie kaum auskamen. Meist fand in Zusammenhängen symbolischer Kommunikation im Mittelalter auch ein Set von Objekten Verwendung, die sich teilweise bis heute erhalten haben. Im Kontext religiöser Rituale waren dies vor allem diejenigen Gegenstände, die für den Dienst am Altar benötigt wurden, dann aber auch und vor allem die für die mittelalterliche Frömmigkeit so wichtigen Heiligenreliquien, beziehungsweise deren ebenso wertvolle wie prächtige Hüllen, die Reliquiare.8 Diese Gegenstände trugen wesentlich dazu bei, Geheimnis und Mysterium des christlichen Glaubens in Ritus und Liturgie zu vermitteln. Auch die weltliche Herrschaft bediente sich zu Zwecken der Repräsentation, aber auch zur symbolischen Darstellung ihrer eigenen Legitimation vergleichbarer Objekte. Als Zeichen der Macht fanden zahlreiche Gegenstände Verwendung und formierten für königliche und kaiserliche Herrschaft seit dem Hochmittelalter als Herrschaftsinsignien ein festes Ensemble unterschiedlicher Zeichen: Krone, Szepter, Sphära und Schwert.9 Solche Objekte wurden sowohl im kirchlichen wie auch im weltlichen Bereich als Schätze gesammelt und tradiert. Doch diese Gegenstände fanden in mittelalterlichen Riten nicht nur Verwendung, sondern stellten gewissermaßen die materielle Seite dieser sonst immateriellen, ephemeren Inszenierungen dar; die Verwendung dieser Objekte über eine längere Zeitdauer hin trug – analog zur Normierung und Wiederholung des Geschehens, die ja zwei zentrale Aspek-

8

9

telalterliche Autoren, so Buc, seien sich bewusst, dass sie in ihren Texten rituelles Handeln schildern; Historiker dürfen sich somit nicht einfach als ethnographische Beobachter fühlen, sondern haben die narrativen Strategien in den Schilderungen von Ritualen mit zu bedenken. Vgl. Philippe Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton 2001. Siehe auch die kritische Rezension dieser Arbeit von Geoffrey Koziol, „The Dangers of Polemic. Is Ritual Still an Interesting Topic of Historical Study?“, in: Early Medieval Europe 11 (2002), S. 367–388. Zur Ausstattung des Altars immer noch Josef Braun, Das christliche Altargerät in seinem Sein und in seiner Entwicklung, München 1932. Zur Bedeutung der Reliquien s. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994. Zur formalen Entwicklung der Insignien und ihrer Verbreitung im europäischen Mittelalter vgl. Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert. 3 Bde., hg. v. Percy Ernst Schramm, Stuttgart 1954–56 (Schriften der MGH, 13).

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te des Ritualbegriffs darstellen – wesentlich zur Ritualisierung bei, da sie die sozial bestimmte und bestimmende Regelhaftigkeit des Rituals gleichsam materiell beglaubigte. Nicht nur die Geste der Krönung, sondern auch die Präsenz der Krone auf dem Haupt des Gekrönten machte eine Krönungszeremonie zu einem glaubhaften symbolischen Akt des (legitimen) Herrschaftsantritts. Im Folgenden soll diese materielle Seite in den Blick genommen werden; der Immaterialität des Gegenstandes, dem ephemeren Charakter von Ritualen soll hier der Spiegel ihrer Materialität vorgehalten werden. Nicht primär die Handlungen in Riten, Gesten und Zeremonien, sondern ihre materielle Dimension sowie der Beitrag und die Bedeutung des Materiellen in rituellem Handeln sollen beschrieben und untersucht werden. Dabei wird in drei Schlaglichtern ein Schatzensemble in den Blick genommen, nicht um eine definitiv festgelegte Bedeutung dieser Objekte über einen Zeitraum von knapp tausend Jahren zu behaupten, sondern – ganz im Gegenteil – um die Fähigkeit von Schätzen und Schatzobjekten aufzuzeigen, Bedeutungswandel zu transportieren. Auf den folgenden Seiten sollen die Insignien mittelalterlicher Reichsherrschaft untersucht und im Spannungsfeld zwischen materieller Kontinuität (als zentralem Aspekt ihrer Bedeutung in Riten, Gesten und Zeremonien) und dem Wandel der ihnen im Lauf der Zeit zugeschriebenen Bedeutungsfacetten analysiert werden. Anhand der sogenannten Reichskleinodien, die heute in der weltlichen Schatzkammer in Wien verwahrt werden – Abb. 1 zeigt sie in einem Stich des 18. Jahrhunderts –, soll die kulturelle Bedeutung von mittelalterlichen Schätzen in Riten, Gesten und Zeremonien exemplarisch dargestellt werden.

Erstes Schlaglicht – der klassische Repräsentationsdiskurs Als Kaiser Otto III. zu Beginn des Jahres 1002 es unternahm, das aufständische Rom wieder unter seine Herrschaft zu zwingen, erlag er am Monte Soracte der Malaria. Von hier wurde sein Leichnam nach Deutschland überführt, wo Otto beigesetzt werden sollte. Da der Kaiser im Alter von nur 22 Jahren ohne legitime männliche Erben gestorben war, war die Thronfolge nicht geklärt und noch während der Überführung der kaiserlichen Gebeine setzten bereits die Verhandlungen um Ottos Nachfolge ein. Herzog Heinrich von Bayern, Cousin des verstorbenen

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Abbildung 1: Reichskleinodien, Krönungsdiarium Josephs II., 1764, Kupferstich, Aachen, Stadtarchiv.

Abbildung 2: Heilige Lanze, 10. Jh., Wien, Weltliche Schatzkammer.

Kaisers, eilte dem Tross entgegen und traf südwestlich von München auf den Zug. Thietmar von Merseburg berichtet in seiner Chronik von diesem Treffen. [. . . ] hier übernahm Heinrich die Leiche des Kaisers und die kaiserlichen Insignien mit Ausnahme der Lanze, die der Erzbischof Heribert [von Köln] heimlich an sich gebracht und vorausgesandt hatte.10

Daraufhin ließ Heinrich Heribert festnehmen und nur unter Zurücklassung eines Bürgen wieder frei, damit er ihm das Kleinod (Abb. 2) mög10

Thietmar von Merseburg, Chronik, hg. und übers. v. Werner Trillmich, Darmstadt 1957 (FSGA 9), IV, 50.

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lichst rasch übersandte. Thietmar lässt keinen Zweifel am politischen Kontext dieses Ereignisses; es ging um die Nachfolgeregelung, denn mit Ausnahme von Bischof Siegfried war Heribert wie alle Optimaten, die der Leiche des Kaisers folgten, damals nicht für den Herzog [Heinrich v. Bayern]; er suchte das auch gar nicht zu verbergen, sondern erklärte, er werde bereitwillig dem zustimmen, dem der bessere und größere Teil des Volkes sich zuwenden werde.11

Diese Zuwendung wurde Heinrich seitens der Großen schließlich in der Mainzer Wahl zuteil und mit der Übergabe der heiligen Lanze wurde er als Heinrich II. in die Herrschaft eingewiesen.12 In Übereinstimmung mit Thietmar berichtet auch Thangmar, der Lehrer und Biograph Bernwards von Hildesheim, dass Heinrich erst durch die Übergabe der Lanze die Herrschaft übertragen wurde: [. . . ] regimen et regiam potestatem cum dominica hasta illi tradiderunt.13 Die hohe Bedeutung, die beide Chronisten der Lanze beimaßen, hat mehrere Gründe. Die Lanze war zum einen Herrschaftszeichen; sie war aber auch Reliquie, ja sogar eine doppelte Reliquie. Einerseits war in sie ein Kreuznagel eingelassen, zum anderen galt sie der Legende nach als Lanze des Longinus, mit der dieser dem Gekreuzigten in die Seite gestoßen hatte. In der Verbindung von Herrschaftszeichen und doppelter Reliquie musste die Lanze Heinrich als das ideale Symbol seiner in Christus gründenden Herrschaft erscheinen. Darüber hinaus besaß die Lanze aber auch eine spezifische Bedeutung für die ottonische Kaiserdynastie. Der Überlieferung nach war sie die Hauptinsignie von 11 12

13

Ebd. Wie viele andere Große unterstützte auch Heribert Hermann II. von Schwaben, einen Neffen Ottos III., s. ebd., IV, 54. Nach Wahl und Salbung in Mainz (7. Juni 1002) sowie der sächsischen confirmatio in Merseburg (25. Juli 1002) erfolgte am 8. September gewissermaßen die ‚nachgeholte‘ Aachener Krönungszeremonie, in der Heinrich II. den Thron bestieg. Vgl. Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), V, 20. Thangmar, „Vita Bernwardi episcopi“, in: MGH Scriptores in folio IV, Hannover 1841, S. 754–782 [775]: Bernhardus igitur dux, accepta in manibus sacra lancea, ex parte omnium regnum curiam illi fideliter committit. Thietmar, Chronik (wie Anm. 10),V, 17. Vgl. Heribert Müller, Heribert. Kanzler Ottos III. und Erzbischof von Köln, Köln 1977 (Veröffentlichungen des Kölner Geschichtsvereins, 33). Gunther Wolf, „Die heilige Lanze, Erzbischof Heribert von Köln und der ‚secundus in regno‘ Pfalzgraf Ezzo“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 104 (1993), S. 23–27.

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Heinrichs Urgroßvater und Namensvetter Heinrich I. Aus diesem Kontext entstammte der Status der Lanze als einer ‚heiligen Waffe‘ kaiserlicher Herrschaft. Liutprand von Cremona, der sie als erster beschrieben hatte, nahm eine weitere Legende in seine Schilderung auf, bezog die Lanze in doppelter Weise auf die ottonische Kaiserherrschaft und überhöhte diese damit sakral.14 Erstens sollte es sich bei der Lanze um die Lanze Kaiser Konstantins handeln, was die Verbindung mit dem Kreuznagel erklären würde, den dieser ja von seiner Mutter und Kreuzauffinderin Helena zum Geschenk erhalten hatte. Zweitens schrieb Liutprand den Sieg Ottos des Großen gegen die Ungarn auf dem Lechfeld im Jahre 955 der ins Schlachtfeld mitgeführten heiligen Lanze zu.15 Trotz der herausragenden Bedeutung der Lanze als Herrschaftszeichen und Heilssymbol spricht aber bereits Thietmar von einem apparatus imperialis, also von einem Ensemble, das weitere Objekte umfasste. Dabei meinte er nicht beliebige Objekte aus dem königlichen Thesaurus, sondern eindeutig identifizierbare Objekte aus dem kaiserlichen Schatz, auch wenn sie hier nicht näher benannt sind. In genau diesem Sinne wird nach dem Tod Heinrichs II. im Juli 1024 nicht mehr von einem einzelnen, entscheidenden Objekt die Rede sein, sondern nur noch von besagtem Ensemble. Nicht mehr alleine die heilige Lanze, sondern der Schatz als Ensemble der wesentlichen Insignien markierte die Herrschaftsnachfolge symbolisch.16 Denn wie sein eigener Herrschaftsantritt nach dem Tod Ottos III. war auch die Nachfolge Heinrichs II. zunächst unklar, denn auch der letzte Ottone hatte keine legitimen 14

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16

Liutprand von Cremona, „Antapodosis“, in: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, hg. v. Abert Bauer und Reinhold Rau, Darmstadt 1971 (FSGA 8), S. 244–495 [IV, 24]. Stefan Weinfurter, „Sakralkönigtum und Herrschaftsbegründung um die Jahrtausendwende“, in: Bilder erzählen Geschichte, hg. v. Helmut Altrichter, München 1995, S. 47–103. Neben der Verfügbarkeit des Schatzes, d. h. der richtigen Herrschaftsinsignien, galt es seither zudem, die normativen Vorgaben des Krönungsordo zu befolgen; seit 1024 standen zur Distinktion legitimer Herrschaftsnachfolge besonders drei Elemente im Vordergrund: der Wahlort (Mainz), der Krönungsort (Aachen) sowie der Koronator (Erzbischof von Köln), s. Percy Ernst Schramm, „Die Krönungen in Deutschland bis zum Beginn des Salischen Hauses (1028)“, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kan. Abt. 24 (1935), S. 184–332 [185 f.], und ders., „Der Salische Kaiserordo“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 1 (1937), S. 389–407.

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Nachfolger hinterlassen.17 Damit trat das Wahlprinzip in sein Recht ein, und die Stunde des Adels schlug. Hatte der Herrschaftsantritt Heinrichs damals mühselig gegen eine innere Opposition weltlicher und geistlicher Fürsten erstritten werden müssen, dauerte das Interregnum nach Heinrichs Tod nur wenige Wochen.18 Die Kaiserwitwe Kunigunde führte, ohne angefochten zu werden, gemeinsam mit ihren Brüdern, Bischof Dietrich von Metz und Herzog Heinrich von Bayern, sowie mit Erzbischof Aribo von Mainz die Reichsgeschäfte. Bereits auf den September 1024 wurde eine Wahlversammlung einberufen, bei deren Eröffnung nur noch die Kandidatur zweier Vettern gleichen Namens bestand. Die beiden Konrade haben sich gemäß Wipos Bericht gütlich geeinigt, auch wenn die Rede frei erfunden ist, die der Chronist dem künftigen Kaiser in den Mund legt.19 Die Wahl durch die Großen akklamierte das Volk und begründete somit die Königsherrschaft Konrads d. Älteren; damit war aber die Herrschaft über das Reich noch nicht gewonnen. Im Anschluss an die Wahl, so Wipo weiter, überreichte die Reichsverweserin Kunigunde dem Gewählten als Ausweis der rechtmäßigen Reichsherrschaft die Insignien, die sie von ihrem Gatten bei dessen Tod empfangen hatte.20 Dieser Übergabe maß Wipo offensichtlich hohe Bedeutung zu; er erachtete sie nämlich nicht nur als symbolisches Abbild der Wahl, sondern 17

18 19 20

Damit erlosch das Geschlecht der Liudolfinger in männlicher Linie; auch hatte Heinrich wohl keine Designation vorgenommen. Vgl. Wipo, Werke, hg. v. Harry Bresslau (MGH Script. rer. Germ., 61), Hannover 1915, S. I–LIX [Vorwort des Herausgebers]; Martin Lintzel, „Zur Wahl Konrads II.“, in: Festschrift Edmund E. Stengel, Münster 1952, S. 289–300; Franz-Reiner Erkens, Konrad II. Herrschaft und Reich des ersten Salierkaisers, Regensburg 1998, S. 13 f.; Egon Boshof, Die Salier, Köln 4 2000, S. 32; Herwig Wolfram, Konrad II. Kaiser dreier Reiche, München 2000, 60 f. Wipo, „Gesta Chuonradi“, in: ders., Werke (wie Anm. 17), S. 1–62 [8 f.]. Wipo, „Gesta Chuonradi“ (wie Anm. 18), S. 14. Ebd., S. 19: Supra dicta imperatrix Chunegunda regalia insignia, quae sibi imperator Henricus reliquerat, gratanter obtulit et ad regnandum, quantum huius sexus auctoritatis est, illum corroboravit. Status und Bedeutung dieser Passage aus Wipos ‚Gesta Chuonradi‘ wurden in der Forschung unter zahlreichen Aspekten diskutiert. Dabei wurde die für die Herrschaft konstitutive Bedeutung von Wahl, Empfang der Insignien, Weihe und Thronsetzung ebenso behandelt wie die Frage nach der Rolle Kunigundes als consors regni für die Herrschaftsnachfolge, s. Hans Schreuer, „Wahl und Krönung Konrads II. 1024“, in: Historische Vierteljahrschrift 14 (1911), S. 329– 366; Erkens, Konrad II. (wie Anm. 17), S. 13–42; Boshof, Salier (wie Anm. 17), S. 32–56; Wolfram, Konrad II. (wie Anm. 17), S. 60–86.

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bezeichnete sie als corroboratio ad regnandum, also als Beibringung der Beglaubigungsmittel der Herrschaftstranslation vom verstorbenen Kaiser auf den frisch erwählten König. Aus dem Passus bei Wipo wird mit anderen Worten die Bedeutung der Inbesitznahme der Herrschaftsinsignien deutlich sichtbar, ohne deswegen den Wahlakt oder die später erfolgte Weihe und Thronsetzung in ihrer Wichtigkeit zu schmälern. Doch auch damit war die Herrschaft Konrads noch nicht ausreichend gesichert. Die Unsicherheit, die aus dem Dynastiewechsel nach dem Tod des letzten Ottonen erwachsen war, erforderte Konrads baldigen Aufbruch zum Königsumritt. Unmittelbar nach der eilig vollzogenen Krönung in Mainz (8. Sept.) setzte er zu diesem Weg des Königs durch das Reich an, der bereits für die Merowinger bezeugt ist. Auf dem Umritt konnte die Königsherrschaft gewonnen, gesichert, angetreten und zeremoniell zur Schau gestellt werden. Da Konrad nicht als Herrschersohn auf den Thron gelangte, kam dem Umritt als Bekräftigung der Wahl durch die Fürsten des Reiches zusätzliche Bedeutung zu; es wurde ihm in der Forschung für den letzten Ottonen- und den ersten Salierkaiser gar konstitutiver Charakter beigemessen.21 Tatsächlich zogen Konrad und die Kaisergattin Gisela mit ihrem Tross durch die bedeutenden Regionen des Reiches (Lothringen, Sachsen, Ostfranken, Bayern und Schwaben). Eine der letzten Stationen dieser ersten Umfahrt, die etwa neun Monate dauerte, war Konstanz; hier hielt Konrad II. am 6. Juni 1025 einen Hoftag ab, zu dem er die Großen Reichsitaliens eingeladen hatte. Unter Führung des Mailänder Erzbischofs Aribert anerkannten die anwesenden Fürsten die Wahl des neuen Königs und huldigten ihm.22 Wipo berichtet, dass Konrad II. bei dieser Gelegenheit auch die Zerstörung der Kaiserpfalz durch die Bürger in Pavia behandelt haben soll. Vom Kaiser darauf angesprochen rechtfertigten sich die Großen Pavias, 21

Roderich Schmidt, „Königsumritt und Huldigung in ottonisch-salischer Zeit“, in: Vorträge und Forschungen. Bd. 6, Konstanz und Stuttgart 1961, S. 97–233; ders., „Umritt“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8, Stuttgart 1999, Sp. 1210 f. 22 Einige der italienischen Fürsten waren in Konstanz nicht anwesend, holten aber die Huldigung wenig später in Zürich nach. Vgl. Regesten des Kaiserreichs unter Konrad II. (1024–1039), hg. v. Johann Friedrich Böhmer u. a., Graz 1951 (Regesta Imperii, 3/1), 38a und 40b. Die mailändische Überlieferung gewichtet den Anteil Ariberts über Gebühr. Vgl. Arnulf v. Mailand, „Gesta archiepiscoporum Mediolanensium“, in: MGH Scriptores in folio VIII, Hannover 1848, S. 1–31 [2].

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indem sie eine dezidiert personalistische Auffassung der Königsherrschaft vertraten. Wen haben wir mit der Zerstörung des Palastes denn beleidigt?“, fragten sie. „Unserem König haben wir Treue und Achtung bis an seines Lebens Ende bewahrt; da wir aber nach seinem Tod keinen König hatten, werden wir doch wohl nur mit Unrecht angeklagt werden können, unseres Königs Palast zerstört zu haben.“

In seiner Erwiderung formulierte der König eine konträre Sicht der Dinge, indem er den Italienern eine transpersonale Vorstellung von Herrschaft entgegenhielt. Ich weiss, dass Ihr den Palast eures Königs nicht zerstört habt, da ihr zu jener Zeit keinen hattet; dass ihr aber den königlichen Palast zerstört habt, könnt ihr nicht leugnen. Wenn der König auch dahingegangen ist, so bleibt doch das Königreich, wie das Schiff bleibt, dessen Steuermann fällt. Es war ein öffentliches Gebäude, nicht eines Privatmannes Haus; es gehörte einem anderen zu Rechte, nicht euch. Eindringlinge aber in fremdes Eigentum sind dem König straffällig. So seid also auch ihr Eindringlinge in fremdes Eigentum gewesen und deshalb seid ihr dem König straffällig.23

Ernst Kantorowicz hat in seiner Arbeit zur hochmittelalterlichen Königsherrschaft gezeigt, dass es bei dieser Frage um die Transpersonalität von Herrschaft und somit um die Tatsache geht, dass Herrschaft unabhängig vom Herrscher, nämlich im Herrscheramt existierte, aus dem eine eigenständige Ordnungskraft floss.24 Durch die raffinierte Differenzierung zwischen domus regis und domus regalis nahm Konrad/Wipo eine wesentliche Bedeutungsverschiebung vor. Die Zerstörung der Pfalz war somit kein Angriff mehr auf das Hausgut des verstorbenen Königs, sondern eine Attacke auf das Reichsgut. In römischer Rechtsvorstellung handelte es sich somit um die Verletzung eines ius alienum, also fremden Rechts, hier des Königsrechts. Der Angriff richtete sich trotz aller Beteuerungen seitens der Pavesen gegen den Kaiser, nämlich gegen den Kaiser als Rechtsnachfolger seines Vorgängers, also gegen den Inhaber des Kaiseramtes.25 23 24 25

Wipo, „Gesta Chuonradi“ (wie Anm. 18), S. 29 f. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theorie des Mittelalters, München 1990 [1957]. Helmut Beumann, „Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen“, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hg. v. Theodor Mayer,

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Die Episode um die Zerstörung der kaiserlichen Pfalz in Pavia verweist jenseits der Herrschaft und Rechte in Reichsitalien auf das eigentliche staatstheoretische Problem. Wer oder was, so die Frage, garantierte die Anerkennung einer politischen Kontinuität im Interregnum, in einem Moment, in dem diese Herrschaft nicht an ein Subjekt gebunden werden konnte? Woran, so ließe sich anders formulieren, knüpfte sich die transpersonale Vorstellung von Herrschaft in kaiserloser Zeit? Die Forschung hat gezeigt, dass weder diejenigen Personen, die sich der Reichsgeschäfte annahmen, noch deren personale Verpflichtungen gegenüber einem verstorbenen Herrscher oder dessen noch zu wählendem Nachfolger dies übernehmen konnten. Vielmehr trat den Subjekten gegenüber ein Objekt in diese Lücke.26 Dieses Objekt fand seine Konkretion gleichfalls in Objekten. Zum einen im sogenannten Thron Karls des Großen in Aachen als einem Verweis auf den im Krönungsordo vorgesehenen Krönungsort; in einer terminologischen Weiterführung der oben skizzierten Vorstellung bezeichnet Wipo den Thron als publicus thronus regalis oder totius regni archisolium. Zum anderen in zwei weiteren Objekten, welche dieses

Konstanz 1956 (Vorträge und Forschungen, 3), S. 185–224; wieder abgedruckt in: Helmut Beumann, Wissenschaft vom Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze, Köln 1972, S. 136–174. Die Suche nach einer Staatsauffassung, welche die politische Kontinuität hochmittelalterlicher Herrschaft in einer Mischung schwacher staatlicher Institutionen und persönlicher Gefolgschaft zu finden glaubte, also die Entstehung der Vorstellung eines Personenverbandsstaates, lässt sich nur schwer losgelöst vom Kontext der deutschen Mediävistik im ersten Drittel des 20. Jhs. erklären, hält sich in der Mediävistik teilweise aber bis heute. 26 Beumann, Entwicklung (wie Anm. 25), S. 199: „Vor allem aber wird deutlich, dass nach Wipo zwischen den Personen, die sich in der königslosen Zeit des ‚Staates‘ annehmen, und dem regnum, der res publica, dem imperium ein Subjekt-ObjektVerhältnis waltet; dieses Verhältnis ist durch Pflichten dieser Personen gekennzeichnet, die beim Fehlen des Herrschers nicht ohne weiteres als Treupflichten erklärt werden können. Sie liegen offenbar jenseits derjenigen Bindungen, die den Personenverband zusammenhalten. [. . . ] besagt, dass nicht nur die Fürsten während der Thronvakanz, sondern auch der König selbst als handelndes Subjekt einem objektiv gedachten Ganzen gegenübersteht. Dieses Objekt überdauert nicht nur Thronwechsel und Interregnum, sondern vermag auch der Herrschertätigkeit selbst eine transpersonale Kontinuität zu geben, da die Wirksamkeit des einen in der des Nachfolgers sinnvoll weitergeführt werden kann.“

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Abbildung 3: Reichskrone, um 1000 (?), Wien, Weltliche Schatzkammer.

Subjekt-Objekt-Verhältnis glaubhaft repräsentierten: in der heiligen Lanze und der so genannten Reichskrone (Abb. 3).27 Diese drei Objekte repräsentierten das transpersonale Moment in der Auffassung der kaiserlichen Herrschaft am treffendsten. Sie überdauerten das Interregnum und brachten gleichzeitig den neuen Herrscher immer wieder hervor. Doch diese Objekte waren nicht einfach Symbole, sondern erfuhren ihre Bekräftigung jeweils im zentralen Ritual mittelalterlicher Herrschaftstradierung, in der Krönung. Ausgehend von dieser Vorstellung der Herrschaftsrepräsentation und ausgehend von diesen drei Objekten wurde der ganze Schatz als treffende Repräsentation dieser Staatsauffassung begriffen. Damit aber ergab sich für den Schatz ein gemeinsamer Bedeutungsinhalt: er war das Reich.28 Damit bestand ein einheitlicher Sinn des Schatzes und zugleich 27 28

Wipo, „Gesta Chuonradi“ (wie Anm. 18), S. 28; Schramm, Herrschaftszeichen (wie Anm. 9), Bd. I, S. 349; Beumann, „Entwicklung“ (wie Anm. 25), S. 199. Der Thron Karls des Großen sollte seine Bedeutung stets beibehalten, dennoch ist klar, dass die Krone sich als wichtigste Metapher für die Transpersonalität des Königtums durchsetzen sollte; dies gilt nicht nur für das Reich; Beumann, „Entwicklung“ (wie Anm. 25), S. 201 f.

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ein eigenständiges Motiv zur Schatzbildung, das über die Verwendung einzelner Objekte im Krönungs- und Weiheritual hinausging, welches die königliche Herrschaft spätestens seit dem 10. Jahrhundert sakral überhöhte und legitimierte. Jenseits einer Ansammlung spezifischer Objekte, kam auch dem Ensemble, dem Schatz nun eine eigenständige Bedeutung zu. Als Repräsentation des transpersonalen Herrschaftsamtes zeigt sich der Bedeutungsüberschuss einer kaiserlichen Schatzbildung und damit ihr Sinn. Konrad war es, der als erster die Insignien als Kaiserschatz verstand. Und so überrascht es auch nicht, dass sein Beitrag zur materiellen Ausstattung dieser Vorstellung besonders umfassend ausfiel. Dementsprechend lassen sich seine Interventionen an den wichtigsten Objekten des Schatzes nachweisen, der bis heute als Kern des kaiserlichen Schatzensembles gilt. Die Reichskrone hat er um einen Bügel erweitern lassen, auf welchem er sich mit seinem Herrschertitel als Stifter verewigt hat: chuonradus dei gratia romanoru[m] imperator aug[ustus]. Zugleich stiftete er das wertvolle Reichskreuz (Abb. 4), das er ebenfalls mit einer persönlichen Signatur versah. Siehe, die Schar des bösen Feindes möge das Kreuz des Herrn fliehen, / daher mögen vor dir, Konrad, alle Gegner weichen.29 (ECCE CRUCEM DOMINI FUGIAT PARS HOSTIS INIQUI / HINC CHUONRADE TIBI CEDANT OMNES INIMICI.)

Die Kreuzmetaphorik der Inschrift verweist jedoch weniger auf die kaiserliche Stiftung, auf das Reichskreuz selbst, als auf dessen Inhalt. Denn das Kreuz diente als Behältnis für die heilige Lanze (Abb. 5) sowie für Partikel des wahren Kreuzes Christi.30 Diese Integration des ehemals 29

30

Die beiden persönlichen Signaturen an den zentralen Objekten des Schatzes verweisen nochmals deutlich auf das Fehlen einer entpersonalisierten Staatsauffassung vom Reich zu Beginn des 11. Jahrhunderts. In der Frage, seit wann die fränkischen Könige im Besitz dieser zuletzt genannten Kreuzreliquie waren, ist sich die Forschung bis heute uneins. Während Schramm davon ausging, dass bereits die karolingischen Herrscher sie besessen haben, vertrat Fillitz die These eines Besitzes seit der Zeit Heinrichs II.; schließlich äußerten Schwineköper und Schulze-Dörrlamm die Vermutung, dass es sich dabei um Reliquien handelte, die Konrad II. vom byzantinischen Kaiser Romanos III. erhalten hatte. Schramm, Herrschaftszeichen (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 511, und Bd. 3, S. 899 und 914; Hermann Fillitz, Die Insignien und Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches, München 1954, S. 21; Berent Schwineköper, „Christus – Reliquien – Ver-

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Abbildung 4: Reichskreuz (Vorderseite), um 1020, Wien, Weltliche Schatzkammer.

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wertvollsten Kleinods aus dem kaiserlichen Thesaurus war von sinnbildlicher, doppelter Bedeutung. Denn Konrad II. führte damit nicht nur die ottonische Tradition fort, sondern er wertete die Objekte zu etwas Höherem auf. Indem er sie in einen Schatz überführte und somit im Ensemble ein neues Objekt erschuf, ermöglichte er es zugleich, die transpersonale Reichsherrschaft zu repräsentieren. Er transzendierte die Königsherrschaft in die Reichsherrschaft und kompensierte damit das Fehlen eines Reichssubstrats, das Fehlen eines festen Ortes, einer festen Liturgie und fester Rituale, mit denen Königsherrschaft stets legitimiert wurde, Reichsherrschaft jedoch nie zu repräsentieren war. Die Differenzierung zwischen Königsund Reichsherrschaft ist an dieser Stelle entscheidend, weil sich an ihr die Frage nach der Legitimität von Herrschaft im Reich offenbarte. Im Falle Konrads wurde die Lücke zwischen König und Reich vom Schatz geschlossen. Der neu geschaffene Schatz, in dessen Zentrum Krone und Lanze, beziehungsweise Kreuz standen, war hier erstmals Schatz und Reich zugleich. Als eigentlicher Stellvertreter des abwesenden Herrschers verkörperte der Schatz das Reich und garantierte als objektive Repräsentation im Interregnum die Kontinuität der Königsrechte. Hierfür bedurfte es zweier Dinge: Erstens der Vorstellung transpersonaler Reichsherrschaft, zweitens des Schatzes als objektiver Einheit. Schienen die Herrschaftsrechte sowie der legitime Anspruch darauf bei Heinrich II. noch eher an den Zugriff auf die sakrale Aura der heiligen Lanze gebunden, übernahm nun in der Auffassung des ersten Salierkaisers der Schatz als gesamtes diese Funktion. Dabei vermochte Konrad II. auf die ottonische Tradition einer direkt von Christus gestützten Herrschaft selbstredend nicht zu verzichten, weshalb er sie in den Schatz integrierte, ja sie anfänglich gleichsam zu dessen Zentrum machte.31 Treffender als mit der Inkorporation der heiligen Lanze in den Querarm des Reichskreuzes und damit in den Kaiserschatz, ließ

31

ehrung. Studien über die Mentalität der Menschen des frühen Mittelalters, insbesondere über die religiöse Haltung und sakrale Stellung der früh- und hochmittelalterlichen deutschen Kaiser und Könige“, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 117 (1981), S. 183–281; Mechthild Schulze-Dörrlamm, „Reichskreuz“, in: Das Reich der Salier (1024–1125), Sigmaringen 1992, S. 243–246. Mit der Integration der heiligen Lanze in das Reichskreuz begann der Niedergang der Bedeutung dieses Kleinods; die Reichskrone sollte sie als wichtigstes Objekt im Ensemble langsam ablösen.

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Abbildung 5: Reichskreuz (Rückseite), um 1020, Wien, Weltliche Schatzkammer.

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sich dies gar nicht darstellen. Als mit Bedeutung aufgeladenes Zeichensystem stellte der Schatz ein Ensemble dar, das selbst immer stärker mit Bedeutung versehen wurde. In diesem Zeichenensemble stellten sich unabhängig von den Strategien königlicher Herrschaftslegitimation Elemente der Reichsherrschaft dar, so dass das Reich darin selbst sichtbar wurde. Der Schatz war zum Reich geworden. Angesichts zum Teil reichlich abstrakter staatstheoretischer Vorstellungen aus der Feder hochmittelalterlicher Autoren scheinen Riten, Gesten und Zeremonien aus dem Blick geraten zu sein. Bei näherer Betrachtung bemerkt man jedoch, dass die Schatzobjekte und der Schatz daran gebunden waren und blieben. Denn für die Vermittlung einer Vorstellung von Herrschaft und „Staat“ war diese Verbindung entscheidend. Die ordines-Forschung hat, ohne sich für die hier angesprochenen Fragen und Themen zu interessieren, ja aufgezeigt, dass zumindest auf der Ebene normativer Vorgaben die Inszenierung der Herrschaftszeichen von entscheidender konstitutiver Bedeutung war. In den bei Krönung, Weihe, Inthronisation vollzogenen Riten und Zeremonien manifestierten sich diese Ansprüche als kommunikative Akte. Anlässlich der Rituale, in denen er verwendet wurde, wird den Objekten einerseits eine herausragende symbolische Bedeutung beigemessen. Andererseits kompensiert der Schatz in seiner materiellen Kontinuität, seiner Dinghaftigkeit, das Fehlen einer eigenständigen Repräsentationsfähigkeit mittelalterlicher Reichsherrschaft; damit bewahrt der Schatz einen gültigen Rahmen für rituelle Handlungen wie Krönung, Salbung und Inthronisation. Zwischen Riten, Gesten und Zeremonien sowie dem Schatz als deren Materialisierung besteht ein dialektisches Verhältnis der Bedeutungsbewahrung und Bedeutungssteigerung.32 Noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts ist dieser Zusammenhang greifbar. Begrifflich wird er sogar erst hier eindeutig fassbar. Anlässlich des Hoftages, den Friedrich der Schöne 1315 in Basel hielt, fand eine – erstmalig durch Quellen bezeugte – Weisung des Kaiserschatzes statt. Verschiedentlich beschreiben Quellen, wie Friedrich von der Außenempore des Münsters herab den kaiserlichen Schatz herzeigte:

32

Zu den ordines vgl. Schramm, Herrschaftszeichen (wie Anm. 9), sowie Ernst H. Kantorowicz, Laudes regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Medieval Ruler Worship, Berkeley 1946.

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Die Zeichen, die das Reich genannt werden, also die Lanze, die Nägel, den Kreuzpartikel, die Karlskrone, das Schwert und andere [. . . ],33

dienten auch hier dazu, den fragilen Status der Königsherrschaft zu bekräftigen, denn einmal mehr war die Nachfolge des 1314 in Italien verstorbenen Luxemburgers Heinrich VII. alles andere als klar. Nach einer Doppelwahl wurde der Habsburger Friedrich der Schöne am 25. November in Bonn zum König gekrönt, während gleichentags auch Ludwig der Bayer in Aachen gekrönt wurde.34 Fand die Krönung des Wittelsbachers auch am richtigen Krönungsort statt, so erfolgte sie nicht mit den richtigen Herrschaftszeichen35 , denn die Insignien befanden sich in Friedrichs Besitz. In der Basler Weisung anlässlich des Hoftages führte Friedrich nun gewissermaßen die Beglaubigungsmittel (Wipo) seiner legitimen Herrschaft an; wohl erstmals tat dies ein Herrscher durch den deiktischen Gestus einer Schatzweisung.36 Dass es sich bei der Gleichsetzung von Schatz und Reich aus dem Jahre 1315 nicht um einen Einzelfall, sondern um eine anhaltend gültige Vorstellung handelte, belegen weitere Quellen. Die Zeit, in der die Reichskleinodien in der Kyburg verwahrt worden waren, wohin sie Rudolf I. von Habsburg hatte bringen lassen, bezeichnete die Burgvögtin Margarethe von Landsberg mit folgender Wendung, die an der Repräsentationsfunktion des Schatzes für das Reich keine Zweifel offen Mostrabantur item inibi sanctuariorum insignia, que ‚regnum‘ dicuntur, scilicet lancea, clavus, pars crucis Salvatoris, corona Karoli, gladii et alia [. . . ] Matthias von Neuenburg, Chronik, hg. v. Adolf Hofmeister, Berlin 1924–1940 (MGH SRG, N. S. 4), S. 100. Vgl. auch den Bericht der spanischen Hofdame Alamanda Capera zum Hoftag in Basel, in: Acta Aragonensia. Bd. 3, hg. v. Heinrich Finke, Berlin 1908, S. 284 f. Hierzu auch Hartmut Kühne, Ostensio reliquiarum. Untersuchung über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römischdeutschen Reich, Berlin 2000, S. 82 f. 34 Zum Thronstreit vgl. Heinz Thomas, Deutsche Geschichte des Spätmittelalters 1250– 1500, Stuttgart 1983, S. 153 f. 35 Jürgen Petersohn, „Echte“ und „falsche“ Insignien im deutschen Krönungsbrauch des Mittelalters? Kritik eines Forschungsstereotyps, Stuttgart 1993 (Sitzungsberichte der Wiss. Ges. an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a. M., 30/3), S. 71–119 [83–86]. 36 Zur Funktion der Hoftage vgl. Jürgen Petersohn, „Kaisertum und Kultakt in der Stauferzeit“, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. dems., Sigmaringen 1994 (Vorträge und Forschugen, 42), S. 101–146; Kühne, Ostensio reliquiarum (wie Anm. 33), S. 82. 33

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lässt: Do das Rîch bi mir ze Kyburg was.37 Der Schatz war das Reich und er ließ sich in Riten, Gesten und Zeremonien als solches in Szene setzen.

Zweites Schlaglicht – die neue Geschichte Das mittelalterliche Reich zu repräsentieren – während des Interregnums sowie bei unklarer Herrschaftsnachfolge –, stellte nicht die einzige Möglichkeit dar, den kaiserlichen Schatz wahrzunehmen. So wie er als Projektionsfläche für politische Theorien der Reichsherrschaft sowie deren Repräsentation diente und diese in Riten, Gesten und Zeremonien bekräftigte, so bot er sich später ebenso für ganz andere Bedeutungszuschreibungen an. Als der Habsburger Friedrich III. im Jahr 1452 in Rom gekrönt wurde – übrigens die letzte in Rom vollzogene Kaiserkrönung –, stand es um die Möglichkeiten des Kaisers, seine Rechte im Reich politisch durchzusetzen, schon längst nicht mehr gut. Das galt auch und gerade für den Zugriff auf den kaiserlichen Schatz. Dieser befand sich seit knapp dreißig Jahren in den Händen einer Stadt, wenn auch einer besonders reichstreuen Stadt, nämlich Nürnbergs. Kaiser Sigismund hatte ihn dem städtischen Rat 1423 übertragen, seine Verwahrung mit einer ganzen Reihe von Privilegien versehen, aus denen die Stadt großen Nutzen zog, sowie schließlich die Verpflichtung daran geknüpft, den Schatz dem erwählten Herrscher für die Krönung jeweils zur Verfügung zu stellen. Dieser Verpflichtung kam Nürnberg 1452 nach und entsandte unter der Führung des Niklaus Muffel eine Delegation nach Rom; besagter Muffel hatte die Reichsinsignien nach Rom und vor allen Dingen von dort wieder zurück nach Nürnberg zu bringen.38 Zudem galt es beim Kaiser die Bestätigung möglichst umfassender Privilegien zu erreichen, was Muffel fast vollständig gelang. Friedrich III. bestätigte 37

38

Zu den Reichskleinodien auf der Kyburg vgl. Hermann von Liebenau, Lebensgeschichte der Königin Agnes von Ungarn, Regensburg 1868, S. 37; ders., Urkundenteil, Regensburg 1869, N. 17. Weitere Beispiele dieser Gleichsetzung von Reich und Schatz bei Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, Göttingen 1979, S. 247. Für die Kosten dieser Überführung hatte die Stadt aufzukommen. Vgl. Julia Schnelbögl, „Die Reichskleinodien in Nürnberg 1424–1523“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 51 (1962), S. 78–159 [102].

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Nürnberg alle seine Rechte, mit einer Ausnahme: das Recht, die Reichskleinodien zu verwahren, versagte er der Stadt, ja er bestritt es. Diese Weigerung erstaunte selbst Muffel nur wenig, ging ihr doch ein jahrelanger Rechtsstreit voraus, der unmittelbar nach der Königswahl Friedrichs 1440 entbrannt war.39 Bereits damals verweigerte der Kaiser einer Nürnberger Delegation die Konfirmation dieses Rechtes. Auch zwei Jahre später hatte er seine Meinung in dieser Sache nicht geändert. Er forderte Nürnberg auf, ihm die Reichsinsignien zur Krönung nach Aachen zu übersenden, wozu sich der Rat nach anfänglichem Zögern schließlich bewegen ließ.40 Die Hoffnung, das Recht der Schatzverwahrung nun endlich bestätigt zu erhalten, wurde jedoch auch in Aachen enttäuscht. Der König forderte nun sogar die Herausgabe des Schatzes, den er an seinen Hof in Wiener Neustadt bringen wollte.41 Friedrich III. schien mit anderen Worten dort anknüpfen zu wollen, wo der klassische Repräsentationsdiskurs im vorigen Abschnitt geendet hatte. Der Schatz war das Reich, wer über ihn verfügte, war der rechtmäßige Herrscher. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese Vorstellungen jedoch nicht einfach an staatstheoretische Überlegungen des Hochmittelalters anknüpften, sondern mit konkreten Bildern und Gesten politischer Legitimation verbunden waren, die an den Schatz geknüpft waren. Bereits anlässlich der Aachener Krönung bezeichnete der Nürnberger Rat den Ornat als die Krönungsinsignien Karls des Großen. Auch für die Krönung in Rom ist diese Vorstellung bezeugt. Ein Chronist berichtet: Das Zepter, das die königliche Gewalt darstellt, der Apfel, der die Weltherrschaft anzeigt, das Schwert, das das Kriegsrecht bedeutet, wurden nacheinander übergeben, zuletzt die goldene, mit kostbaren Steinen gezierte Krone dem Kaiserhaupt aufgesetzt. [. . . ] Der Kaiser aber, der sich zwar einen Ornat von unglaublichem Wert gekauft hatte, war doch besorgt 39 40

41

Ebd., S. 96 ff. Die Chroniken der deutschen Städte. Bd. 3, Leipzig 1864, S. 376 f. /„Aufzeichnung des Nürnberger Rates über die Sendung der Krönungskleinodien Kaiser Karls des Großen nach Aachen zur Krönung Friedrichs III.“). Zum weiteren Verlauf des Konfliktes um das Verwahrungsrecht des Heiltums, wie es inzwischen genannt wurde, vgl. Lucas Burkart, Das Blut der Märtyrer. Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze, Köln, Weimar und Wien 2008 (Norm und Struktur, 31).

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gewesen, für diese Feierlichkeiten aus den Archiven Nürnbergs Pallium, Schwert, Zepter, Apfel und Krone Karls des Großen – so ging das Gerücht – herbeizuschaffen, und bediente sich derselben.42

Der Verfasser dieser Schilderung ist niemand geringeres als Enea Silvio Piccolomini, ehemaliger Sekretär des Basler Konzils, Diplomat in Diensten des Kaisers, Bischof von Siena, Humanist und als Pius II. künftiger Papst. Doch war Enea Silvio natürlich auch ein Spötter. Der Ornat, der größtenteils aus staufischer Zeit stammte und gut zweihundert Jahre alt war, schien Piccolomini wohl nicht als einzigem etwas außer Mode geraten. Dennoch verstand er letztlich den tieferen Sinn dieser Verkleidung sehr wohl. Durch die Ausstattung Friedrichs mit dem ‚Ornat Karls des Großen‘ sowie den damit verbundenen Rekurs auf die Tradition der Kaiserherrschaft und ihrer sakralen Grundlegitimation in einem ‚heiligen Kaiser‘ als deren Stifter, erschien das Amt erhabener, als es mit einem neuen Ornat denkbar hätte dargestellt werden können. Sein Spott zielt denn auch keineswegs auf mangelndes Modebewusstsein des Kaisers, sondern vielmehr auf dessen antiquiertes Geschichtsbewusstsein, von dem sich der Chronist sowohl inhaltlich als auch methodisch abgrenzt. Die Wahrnehmung des Schatzes sowie die Geschichtsprojektionen, die sich darin manifestierten, stehen bei Piccolomini in der Kritik. Er fährt in seiner Schilderung folgendermaßen fort. Doch als ich die einzelnen Dinge genauer beschaute und das Schwert untersuchte, da schien es nicht von jenem großen ersten Karl, sondern vom vierten herzustammen, der Sigismunds Vater gewesen ist. Der böhmische Löwe nämlich war darauf eingegraben zu sehen, dessen sich jener als König von Böhmen bediente. Im Volk jedoch blieb das Gerücht bestehen, es sei Karls des Großen Ornat gewesen. Das ungeheure Glück dieses mächtigen Mannes wollte ihm auch das zu eigen geben, was den andern Königen Karls zukommt [. . . ] Wenn nun, wie ich überzeugt bin, jene Dinge einst Karl IV. gehörten, so müssen wir uns vielmehr darüber wundern, wie in so kurzer Zeit der Prunk so gewaltig angeschwollen ist, dass man die Gewänder Karls für bäurisch halten möchte, wenn man sie mit den äußerst kostbaren und höchst glanzvoll gezierten unseres Friedrichs verglichen hat. Würden wir die Alten doch so weit an Tüchtigkeit übertreffen, als wir ihnen an Eitelkeit zuvorgekommen sind.43 42

43

Enea Silvio Piccolomini, „Historia Friderici imperatoris III. [Auszug]“, in: Enea Silvio Piccolomini – Papst Pius II. Ausgewählte Texte aus seinen Schriften, übers. und hg. v. Berthe Widmer, Basel 1960, S. 216–221 [219]. Ebd.

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Abbildung 6: Zeremonienschwert, Knauf mit böhmischem Löwen, um 1360, Wien, Weltliche Schatzkammer.

Denn Piccolomini hatte nicht nur eine steile Karriere hinter sich und verfügte über eine spitze Zunge, sondern war auch ein gut unterrichteter Gelehrter. Als päpstlicher Legat weilte er nur ein Jahr zuvor auf einer Gesandtschaftsreise in Böhmen. Es kann also nicht verwundern, dass er beim Anblick des Zeremonial- oder Karlschwertes44 , an dessen Knauf auf der einen Seite ein Reichsadler, auf der anderen Seite ein Löwe zu sehen ist, das Wappentier der böhmischen Könige erkannte (Abb. 6). Mit dieser gelehrten Beobachtung schließt Piccolomini jedoch nicht. Vielmehr ist sie ihm Anlass einer historisch-kritischen Lektüre des Gegenstandes selbst. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass Enea Silvio den Schatz nicht mehr als mythisch-hagiographische Überhöhung kaiserlicher Herrschaft wahrnimmt, sondern in ihm eine historische Quelle erblickt. Die damit verbundenen Implikationen und Konsequenzen waren ebenso weitreichend wie irreversibel. In Analogie zu Lorenzo Vallas philologisch-kritisch begründetem Nachweis, dass es sich bei der Konstantinischen Schenkung um eine Fälschung handelte (1435), unterzieht Enea Silvio anlässlich der Kaiserkrönung den kaiserlichen Schatz einer ebenso kritischen Lektüre. Damit ließen sich Gewissheiten, die von Autoritäten stets beschworen wor44

Nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Karlsschwert, das aus dem 10.–11. bzw. dem 12. Jahrhundert stammt und als La Joyeuse im Schatz von Saint-Denis verwahrt wurde.

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den und somit unverrückbar waren, durch ein methodisch autonomes Verfahren kritisch überprüfen. Nicht nur im Verfahren ist der Bischof von Siena Lorenzo Valla vergleichbar, sondern auch in der Schlussfolgerung: die traditionelle Lesart hielt einer kritischen Überprüfung nicht stand. An dieser Stelle war der Schatz möglicherweise erstmals in seiner Geschichte eine historische Quelle im modernen Sinne und um seine Bedeutung zu erkennen, bedurfte es einer neuen Geschichtsschreibung und einer historisch-kritischen Methode, wie sie erst im Humanismus formuliert wurde.45 Doch Piccolomini war auch Moralist und es ging ihm letztlich nicht darum, einen historisch-kritischen Katalog der Krönungsinsignien zu erarbeiten; vielmehr dienten ihm seine umfassenden Kenntnisse von Geschichte zur Deutung der Gegenwart. Der Appell ist denn auch ein moralischer, ein ebenso gelehrter wie christlich-ethischer oder anders gesagt: ein typisch humanistischer. Die Anekdote dient dem Bischof von Siena als Beispiel, dem die Funktion der Belehrung für das eigene Handeln zukam; Historia magistra vitae lautete das Programm.46 Diese Lehre kleidete der Humanist in eine Klage über die gegenwärtigen Eitelkeiten seiner Zeitgenossen. Wenn der Kaiserornat nur etwa hundert Jahre alt ist – wie es sich aus der Inspektion des Zeremonialschwertes zwingend ergibt – und gegenüber dem neu gekauften derart ärmlich erscheint, in welchem Zustand befindet sich dann die Welt? Nur auf Äußerlichkeiten bedacht, bezeugt sie ihre Eitelkeit und hat die Tugend aus dem Blick verloren, welche die Antike idealtypisch repräsentierte; in der lateinischen Originalfassung werden hier vanitas und virtus nach dem rhetorischen Vorbild Ciceros stilistisch elegant aufeinander bezogen. Piccolomini war ein viel zu kluger und sorgfältiger Humanist, als dass er nicht gewusst hätte, dass gewisse Bestandteile des Kronschatzes weit vor das 14. Jahrhundert zurückreichten. Doch auch seine Geschich45

46

Der humanistische Duktus richtete sich aber nicht nur auf Quelle und Methode, sondern gleichermaßen auf die Darstellung; Piccolomini führt dies in der zitierten Textpassage exemplarisch vor. Einerseits galt seine Sorgfalt der stilistischen Orientierung an den antiken Autoren, allen voran Cicero, andererseits schöpfte er aus dem reichen Arsenal antiker Exempla. Rüdiger Landfester, Historia Magistra Vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts, Genf 1972 (Travaux d’humanisme et renaissance, 123).

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te stand eben im Dienst einer Absicht, auch wenn sie sich historischkritischer Methoden bediente. Aber dennoch hatten Einführung und Verwendung dieser Methode weitreichende Konsequenzen. Sie stellte einen irreversiblen Bruch mit dem Verständnis von Geschichte dar, wie es das Mittelalter bisher gepflegt hatte und für das der Schatz eine bedeutende Repräsentationsfunktion übernahm. Neben die zentrale Referenz jeglicher historischer Vergangenheit, die in letzter Konsequenz bisher stets im göttlichen Heilsplan lag, trat ein erhöhtes Bewusstsein der Geschichtlichkeit der eigenen Epoche und damit eines Verhältnisses zu früheren Epochen. Dabei trat als bedeutendster Referenzpunkt die Antike hervor, aus deren Geschichte und Literatur Sinnorientierung gezogen wurde. Die von den Humanisten entwickelten Standards im Umgang mit Quellen sowie die Techniken und Formen ihrer Darstellung markierten den Anfang moderner Historiographie. Im Schatz sowie in seiner Inszenierung im Ritual spiegelte sich also Geschichte nicht mehr als reines Heilsversprechen, sondern als Handlungsanleitung für das Jetzt, das stets in Beziehung zur Vergangenheit im allgemeinen, zur Antike im speziellen gedeutet wurde. Vor der von Lorenzo Valla eingeführten kritischen Methode blieb auch der Schatz des Kaisers nicht verschont, ihrer Kritikfähigkeit musste sich auch das zentrale Repräsentationssymbol mittelalterlicher Reichsherrschaft beugen – dies allerdings zu einem Zeitpunkt, als die politische Macht der mittelalterlichen Kaiser sich bereits seit längerer Zeit kaum mehr Gehör zu verschaffen vermochte.

Drittes Schlaglicht – die umgedeutete Geschichte Knapp 500 Jahre später gehörte die von den Humanisten eingeführte historisch-kritische Methode zwar längst zur Grundausstattung wissenschaftlicher Historie, war aber beileibe nicht der einzig denkbare Umgang mit Geschichte und ihren Artefakten. So waren auch die Verbindung von umfassendem Herrschaftsanspruch, dessen mythisch-sakraler Begründung durch Karl den Großen sowie deren Repräsentation im Kaiserschatz durchaus wieder als moderne ideologische Theoreme aktualisierbar: Das großdeutsche Reich nimmt die geschichtliche Entwicklung dort auf, wo sie unter den Staufern fallengelassen wurde. [. . . ] Diese Tradition gibt

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dem deutschen Volk als dem Volk der Mitte und dem deutschen Reich als dem politischen Mittelpunkt Europas die Aufgabe [. . . ], im mitteleuropäischen Raum eine planmäßige politische Ordnung herzustellen. [. . . ] Der deutsche Großstaat wird seine europäische Mission im Sinne des Kaisertums Karls des Großen erneuern.47

So äußerte sich Theodor Mayer, Ordinarius für Geschichte des Mittelalters an der Universität Marburg und nachmaliger Präsident der Monumenta Germaniae Historica, in einem Vortrag von 1940 mit dem Titel ‚Deutschland und Europa‘. Die Geschichtsauffassung des Nationalsozialismus fand in der Geschichte des Mittelalters bekanntlich ein reichhaltiges, zur Abgrenzung von der jüngsten Vergangenheit Deutschlands besonders geeignetes Angebot von Begriffen, Ideen und Vorstellungen. Dabei bediente der Verweis auf die Geschichte des Mittelalters Kontinuitätsvorstellungen, mit welchen sich historische Legitimationsdefizite kompensieren ließen.48 Der Begriff des Reiches bot sich hierfür besonders an.49 Die drei Jahrhunderte der sogenannten „hohen deutschen Kaiserzeit“, der Zeit ottonischer, salischer und staufischer Herrschaft, galten in diesem Geschichtsbild als erste Phase deutscher Größe und stellten einen positiven Kontrapunkt zur lange ausgebliebenen Bildung eines deutschen Nationalstaates sowie zu Epochen der „Zersplitterung“ dar; das hochmittelalterliche Reich war das „Erste Reich“, als dessen Vollendung sich das „Dritte“ oder „tausendjährige Reich“ verstand.50 Theodor Mayer, Deutschland und Europa, Marburg 1940 (Marburger Universitätsreden, 3), S. 21–23. 48 Klaus Schreiner, „Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung“, in: Wissenschaft im Dritten Reich, hg. v. Peter Lundgreen, Frankfurt a. M. 1985, S. 163–252; Ursula Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996. 49 Schreiner, „Führertum“ (wie Anm. 48), S. 190, Anm. 105; Hans-Ulrich Thamer, „Mittelalterliche Reichs- und Königstraditionen in den Geschichtsbildern der NSZeit“, in: Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. 2 Bde. hg. v. Mario Kramp, Mainz 2000, Bd. 2, S. 829–837. 50 Faber hat darauf hingewiesen – und am Beispiel von Carl Schmitts Begriff des Politischen dargestellt –, dass Begriffe stets politische Kampfbegriffe sind. Erst der Kontext ihrer konkreten Verwendung erhellt, welche Bedeutung ihnen als Kampfbegriff zukommt. Bei Schmitt ist der Begriff des Reichs einer der ganz zentralen Kampfbegriffe oder vielmehr Kampfmythen, s. Richard Faber, Abendland. Ein politischer Kampfbegriff, Berlin 2 2002, S. 19. 47

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Teilaspekte und Debatten um einzelne Themenbereiche zeigen dabei sehr deutlich, wie unstimmig diese Analogien zur Geschichte des Mittelalters tatsächlich waren. Die Herrschaft Karls des Großen etwa gründete bekanntlich auf einer Verbindung mit dem Papsttum; doch an seiner Rolle des ersten defensor ecclesiae stieß sich die anti-christliche NS-Ideologie zutiefst. Der selbsternannte Chef-Ideologe Alfred Rosenberg brandmarkte den Karolinger als „undeutschen Sachsenschlächter“, welcher die „deutschen Sachsen“ gewaltsam und blutig zum Christentum bekehrte; in der Begrifflichkeit der Rassentheorie liest sich dies als pseudo-genealogische Zuschreibung an Karl, der „höchstwahrscheinlich Mongolen-Stämmling war“.51 In den frühen dreißiger Jahren erwuchs dem Begründer des fränkischen Reiches somit im sächsischen Fürsten Widukind der Gegentypus eines germanischen Führers.52 Trotz solcher Misstöne sollte sich Karl der Große auf direkten Führerbefehl hin als die zentrale Repräsentationsfigur der Reichsvorstellung gegen Widukind durchsetzen. Joseph Goebbels notierte in sein Tagebuch zum 17. 9. 1935 anlässlich des Nürnberger Parteitages: [. . . ] der große Tag. In einem herrlichen Sonnenschein. Die S. A. ist wunderbar aufgestellt. Ein phantastisches Bild. Der Führer kommt. Das alte traditionelle Zeremoniell. Seine Rede ist ein starkes Bekenntnis zur S. A. [. . . ] Standartenweihe. Es donnern die Kanonen. Das Hochamt unserer Partei. [. . . ] Zum Tag der Wehrmacht. Glänzende Darbietungen mit den technischen Waffen. Tanks, schwere Geschütze. Herrlich. Wir sind wieder eine Macht. Der Führer redet gut zu den Soldaten. Schluss Kongress. Große Rede des Führers. Wesentlich! Abwendung des Widukind-Kults.53

Nicht zuletzt dürfte dieser Entscheid mit den – modern ausgedrückt – medialen Potentialen der mittelalterlichen Reichsherrschaft zu erklären sein. Medienwirksam setzte der Nationalsozialismus diese Potentiale denn auch ein, allen voran die Insignien mittelalterlicher Reichsherrschaft. Seit der Machtergreifung 1933 und verstärkt seit 1935 wurde die 51 52 53

Bernhard Kummer, Reaktion oder deutscher Fortschritt in der Geschichtswissenschaft, Leipzig 1935, S. 27. Vgl. Widukind. Forschung zu einem Mythos, hg. v. Stefan Brakensiek, Bielefeld 1997. Joseph Goebbels, Tagebücher. Bd. 3 (1935–1939), hg. v. Ralf Georg Reuth, München 1992, S. 888 f. An dieser Stelle verbinden sich nicht nur Ideologie und mittelalterliche Geschichte – das eigentliche Ereignis des Parteitages ist die Einführung der Nürnberger Rassengesetze –, sondern auch die für Goebbels typische, pseudoreligiöse Stilisierung des Nationalsozialismus.

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Rückführung der Reichskleinodien „heim ins Reich“ betrieben. Wiederholt setzte sich der Nürnberger Bürgermeister Willy Liebel für diese Idee vehement ein, bis Hitler 1938 nur einen Tag nach dem Anschluss Österreichs am 12. März seine Einwilligung dazu erteilte. Bei der offiziellen Übergabe im September 1938 unterstrich Arthur Seyss-Inquart, letzter österreichischer Bundeskanzler und Reichsstatthalter, dass „die Rückführung der Kleinodien keinen Abschied, sondern die Rückführung heim ins Reich“ bedeutete. Ganz ähnlich formulierte es Hitler am Reichsparteitag desselben Jahres: Ich habe die Insignien des alten Deutschen Reiches nach Nürnberg bringen lassen, um nicht nur dem eigenen deutschen Volk, sondern auch einer ganzen Welt es zu bedenken zu geben, dass über ein halbes Jahrtausend vor der Entdeckung der neuen Welt schon ein gewaltiges germanischdeutsches Reich bestanden hat [. . . ] Das deutsche Reich hat lange Zeit geschlummert. Das deutsche Volk ist nun erwacht und hat seiner tausendjährigen Krone sich selbst als Träger gegeben.54

An dieser Stelle, auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg (Abb. 7), wo Hitler alljährlich die Massen aufmarschieren ließ und sie in monumentalen Inszenierungen, Ritualen und Zeremonien „die Größe, Stärke und Macht der wieder erstarkten deutschen Nation“ spüren ließ, sah er auch den geeigneten Verwahrungsort des mittelalterlichen Kaiserschatzes. Die Symbole des mittelalterlichen Reiches, an dessen Größe das Dritte Reich anzuknüpfen glaubte, sollten im Zentrum des politischen Wallfahrtsortes des Nationalsozialismus stehen; hier sollten sie die Massen ansprechen. In einem der beiden 1938 noch im Bau befindlichen Vorsäle der Kongresshalle auf dem Reichsparteitagsgelände sollte der Schatz künftig ausgestellt werden – alle, die in die Kongresshalle gingen, sollten daran vorbeigehen. Diese neue Schatzpraxis führte die Kleinodien aus dem Museum hinaus und verwandelte den Schatz zur einer Reliquie vergangener Größe und damit zum Symbol der geschichtlichen Bedeutung des Reiches, die der Nationalsozialismus wieder zu erlangen und zu vollenden versprach. In den Schatz projizierte Hitler eine kongeniale Verbindung von 54

Hitler in seiner Rede am Schlusskongress des Parteitages der NSDAP 1938 in Nürnberg, zit. nach Wilhelm Schwemmer, „Die Reichskleinodien in Nürnberg 1938–1945“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 65 (1978), S. 397–412 [402].

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Abbildung 7: Nürnberg, Reichsparteitag 1938.

nationalsozialistischer Geschichtsauffassung und deren medialer Präsentation. Darin wird ein Signum der NS-Propaganda gleichermaßen sichtbar wie ein Charakteristikum des Schatzes. Hitler hatte unmittelbar nach der Ankunft in Nürnberg die Kleinodien am 2. September in der Meistersingerkirche besichtigt. Eine Photographie von diesem Besuch bezeugt diese doppelte Bedeutung besonders anschaulich, als Geste des ‚Führers‘ gegenüber der Geschichte, oder besser, gegenüber den wirkmächtigen Zeugnissen vermeintlich deutscher Größe (Abb. 8). Der ‚Führer‘ steht in frommer Andacht vor den Symbolen „einer tausendjährigen Geschichte“.55 Die in der Körperhaltung ausgedrückte Ergriffenheit, die sich in dieser persönlichen Begegnung von „Geschichte und ihrem Vollender“ zeigt, rekurriert auf 55

Es wurde darüber spekuliert, ob es sich bei dem Bild allenfalls um eine Fotomontage handelt; die Konturen der Schatzobjekte scheinen tatsächlich nachträglich zumindest verstärkt worden zu sein. Die Frage kann hier nicht geklärt werden. Doch die Argumentation würde durch einen solchen Befund eher noch gestärkt als geschwächt, weil dadurch eine zusätzliche Dimension von Intentionalität hinzuträte; wenn es kein authentisches Bild ist, verweist die Montage umso stärker auf die Notwendigkeit eines solchen Bildes.

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Abbildung 8: Hitler vor Reichskleinodien, 2. September 1938, Meistersingerkirche, Nürnberg (Fälschung?); aus Kramp (Hg.), Krönungen (wie Anm. 49), Bd. 2, S. 831.

ein zentrales Moment nationalsozialistischer Propaganda: auf Intuition und Gefühl, die in solchen Gesten ihren Ausdruck fanden. Auf der Ebene gefühlsmäßiger Vergegenwärtigung deutscher Geschichte schienen die in Gold und Edelstein funkelnden und zugleich fremd-exotischen Objekte des mittelalterlichen Reichsschatzes besonders überzeugende Dokumente zu sein. Die Präsentation der Reichskleinodien eignete sich zur Evokation solcher Gefühle hervorragend. Im Schatz wurde jegliche historische Differenzierung von der geheimnisvollen ‚direkten Rede‘ ans Auge des Betrachters überschrieben; diese Rede richtete sich vermeintlich unmittelbar und unmissverständlich an ihr Publikum und dessen Gefühle. Im Schimmer und Glanz von Edelmetall und Edelsteinen sowie in der künstlerischen Pracht des Schatzes zeigte sich gleichsam unwiderlegbar die Größe und Bedeutung des „Deutschen Reiches“ – und zwar von damals bis heute, d. h. vom 10. Jahrhundert bis 1938! Noch stärker als künstlerischer und materieller Wert wurde das nationale Gefühl jedoch durch die Aura der Historizität des Schatzes angesprochen, auf die in nationalsozialistischer Diktion stets als „tausendjährige Geschichte“ verwiesen wurde und die Hitler in der Inszenierung ih-

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rer suggestivsten Zeugnisse einem Massenpublikum vergegenwärtigen wollte. Die Rede, welcher der Schatz an sein Publikum richtete, erschien somit authentisch an das nationale Gefühl gerichtet und damit wahrhaftig. Doch diese Unmittelbarkeit des Schatzes existiert in Tat und Wahrheit nicht, sondern ist stets das Ergebnis von Schatzinszenierung und Bedeutungszuschreibung – sie war es auch und gerade im Nationalsozialismus. Wie bereits im Mittelalter war der Schatz auch hier Medium von Bedeutungszuweisungen, die er in goldenem Glanz auf das Publikum zurückwarf; der Ursprung dieser Bedeutung lag aber niemals im Schatz, sondern entsprang stets seiner Interpretation sowie den Riten, Gesten und Zeremonien seiner Präsentation.

Schluss Häufig, von der mittelalterlichen Krönung über die ostensio als Nachweis legitimer Herrschaft, über die museale Schau bis hin zur politisierten Kontemplation im Angesicht des Schatzes, bilden Riten, Gesten und Zeremonien die Kontexte der Präsentation und Interpretation mittelalterlicher Schätze. Es ist somit das wechselseitige Verhältnis vom Schatz als prächtiger Materialisierung von Vorstellungen und Ideen und dessen ritueller Inszenierung, welche die Wirkung des Schatzgeheimnisses garantieren. In Ritualen hochmittelalterlicher Herrschaft materialisierten und repräsentierten Schätze das Selbstverständnis und die Vorstellung dieser Herrschaft sowie ihrer sakralen Legitimation. In Herrschaft, die sich allmählich von ihrer ausschließlichen Begründung in der Person des Herrschers zu lösen begann, ohne über ein eigentliches Substrat zu verfügen, das ihr Kontinuität versprach, war der Schatz nicht nur Symbol der Reichsherrschaft, sondern er wurde zum Reich selbst. Heilige Bestimmung in den Reliquien, materieller und künstlerischer Wert, rituelle Funktionalisierung sowie schließlich dynastische Memoria verdichteten sich im Reichsschatz und machten ihn zu einer Projektionsfläche kaiserlicher Herrschaft. Als Ziel von Bedeutungszuschreibungen bleibt im Schatz Bedeutung jedoch nicht abschließend fixiert, sondern er wird – ganz im Gegenteil – zu einem Ort der Bedeutungsverschiebung und Bedeutungs-

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erneuerung. Der Blick Enea Silvio Piccolominis auf den Krönungsornat und das Krönungszeremoniell Friedrichs III. verdeutlicht, dass der Schatz nicht mehr nur als Medium kaiserlicher Herrschaft diente, sondern zugleich auch als Projektionsfläche für gelehrte Diskurse humanistischer Zirkel wahrnehmbar wurde. Voraussetzung hierfür war jedoch eine neue Dimension historischer Reflexion sowie eine autonome Methode, welche etablierte Deutungsmacht kritisch zu hinterfragen vermochte und wagte. Die Verwendung mittelalterlicher Schätze in Riten, Gesten und Zeremonien ist jedoch nicht ausschließlich eine Angelegenheit des Mittelalters. Die politisch-ideologische Verwendung von Geschichtsbildern sowie die damit einhergehende Deutung von Geschichte und Schätzen als deren vermeintlich ebenso eindeutige wie suggestive Zeugnisse erlebte im Nationalsozialismus einen nochmaligen Höhepunkt. Nicht mehr im Museum, sondern im Zentrum ideologischer Wallfahrt, auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, inszenierte der Nationalsozialismus die Herrschaftszeichen des mittelalterlichen Reichs, um sie in vielfältigen Missdeutungen als Präfigurationen des „Dritten Reichs“ zu inszenieren. Obwohl der Schatz als historisches Dokument hier jenseits eines äußerst vagen Assoziationsrahmens „Reich“ kaum mehr verstanden wurde, schien er durch seine schillernde Erscheinung und flunkernde Exotik gleichsam als besonders überzeugendes Argument für die Richtigkeit aktueller „deutscher Größe“ zu wirken. Auch hier war der Schatz Projektionsfläche für ideologiegeleitete Geschichtsauffassung, die er im Glanz seiner Erscheinung auf sein Publikum als Bedeutung zurückwarf. Eine letzte Schatzinszenierung soll nochmals darauf hinweisen, wie schnell einerseits sich die Bedeutung des Schatzes verändert, wenn die Kontexte seiner Inszenierung sich wandeln, und wie anhaltend wirksam andererseits der rituelle Umgang mit dem Schatz dennoch bleibt: Beinahe zeitgleich zur geschichtsblinden Mythologisierung des Schatzes durch die Nationalsozialisten, konnte die Präsentation und Interpretation des Kaiserschatzes auch ganz anders aussehen, reduktionistischer gewissermaßen und versehen mit einem Hinweis auf das mögliche Ende von politischer Bedeutung im Schatz. Als der amerikanische Soldat Ivan Babcock mit seinen Kameraden am 6. April 1945 in einem Stollen auf die Reichskleinodien stieß, setzte

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Abbildung 9: Ivan Babcock als „Ruhrkaiser“, 6. April 1945; aus: Kramp (Hg.), Krönungen (wie Anm. 49), Bd. 2, S. 879.

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er sich die Krone auf’s Haupt und krönte sich parodistisch zum „Ruhrkaiser“; in dieser Pose ließ er sich fotografieren (Abb. 9). Dass es sich beim gefundenen Schatz um die Aachener Kopien von 1915 handelte, war den Amerikanern zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar – möglicherweise spielte es aber auch noch nie eine solch geringe Rolle wie in diesem Moment.56 Denn als Travestie ist in der Geste des amerikanischen Soldaten das gesamte Referenzsystem, das im Nationalsozialismus nochmals intensiv mit politischer Bedeutung aufgeladen worden war, zwar nicht aufgehoben, aber in seiner Bedeutung herabgesetzt. Durch die alleinige Übernahme der Krönungsmotivs – denn alles andere fehlt ja – übermittelt die Geste keine eigene Botschaft außer der Herabsetzung des Motivs selbst – am deutlichsten sichtbar im Kontrast von Reichskrone und Zigarette.57 Es tut der Geste deswegen auch keinen Abbruch, dass es sich um die Kopien der Kleinodien handelte, ja eigentlich erfüllten die Kopien ihren Zweck noch nie so treffend wie hier, denn mit der Travestie selbst war die Aura der mittelalterlichen Originale bereits weggefallen; der Unterschied zwischen Original und Kopie – hier nun im Sinne des originalen Kunstwerks – war für die Travestie unerheblich; alles, was zur Travestie benötigt wurde, boten auch die Kopien, nämlich die Wiedererkennbarkeit des Referenzsystems sowie seiner politischen Aufladung. Beschränkte sich die Bedeutung der travestierenden Geste auf die Herabsetzung58 , war der Schatz als wirklicher Träger von Bedeutung am Ende. Er diente in diesem Moment nur noch dazu, die Kriegsniederlage Deutschlands komisch darzustellen und in der Fotographie als Trophäe zu dokumentieren. Damit hatte der Schatz aber etwas verloren, was ihn bisher immer ausgezeichnet hatte: die Fähigkeit, die eigene Vergangenheit für Bedeutungszuschreibungen zur Disposition zu stellen. 56

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Die Kopien wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts angefertigt. Vgl. Rüdiger Haude, „‚Es ist ja hier das reine Hindernisrennen‘. Die Nachbildung der deutschen Reichskleinodien durch die Stadt Nürnberg in den Jahren 1914–1920“, in: Krönungen (wie Anm. 49), Bd. 2, S. 819–827. Theodor Verweyen und Gunther Witting, „Travestie“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3, hg. v. Jan Dirk Müller, Berlin und New York 2003, S. 682–684. Die Freud’sche Kategorie der Herabsetzung beschreibt möglicherweise die Psychologie der Geste recht treffend, s. Sigmund Freud, „Trauer und Melancholie“, in: Gesammelte Werke. Bd. 12 (Werke aus den Jahren 1913–1917), hg. v. Anna Freud u. a., Frankfurt a. M. 1999, S. 427–446.

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Ivan Babcock interessierte sich nicht für die Geschichte des Schatzes und er benötigte sie auch nicht – er interessierte sich ausschließlich für den historischen Moment, zu dem er selbst beitrug: die Kriegsniederlage des Dritten Reiches. Zugleich bewahrte der Schatz aber auch etwas. Die Faszination seiner an den Objekten haftenden Historizität (oder deren Illusion in den Kopien), die selbst jene erreichte, welche die Bedeutungszuschreibungen nicht mehr erreichten. Der Schatz hatte sich in seiner Bedeutungshaftigkeit zwar erschöpft, blieb aber in seinen Objekten ein Faszinosum, das letztendlich wohl als sein nicht vollständig zu enthüllendes Geheimnis bezeichnet werden muss.

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Krönungsritus und sakrales Herrschertum: Zeremonie und Symbolik Therese Bruggisser-Lanker (Bern) Zur Zeit der Ottonen und frühen Salier, auf dem Höhepunkt des sakralen Herrscherverständnisses vor dem Hintergrund einer religiös fundierten Weltschau, bildeten göttliche Ordnung und weltliche Ordnung eine innige Einheit. „Die Welt, so könnte man sagen, war noch nicht ‚entzaubert‘. Sie war noch nicht zerlegt in rational definierbare Funktions- und Ordnungsbereiche. Ganz im Gegenteil: Diese Zeit spiegelt den Höhepunkt einer ganzheitlichen Weltordnung wider, wie dies so niemals wiederkehren sollte.“1 In der kunstvoll inszenierten Krönungszeremonie findet sich denn auch in besonderem Maße verwirklicht, was im interkulturellen Vergleich ein religiöses Ritual, verstanden als ein Komplex heiliger Handlungen, auszeichnet: Unter der Wirkung eines einzigartigen Ensembles an symbolischen Formen verschmelzen die gelebte mit der imaginierten Welt – sie erscheinen als eine Welt.2 Indem im Ritus der direkte Kontakt mit der höheren, transzendenten 1

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Stefan Weinfurter, „Kaiser Heinrich II. – Bayerische Traditionen und europäischer Glanz“, in: Kaiser Heinrich II. (1002–1024), hg. v. Josef Kirmeier u. a., Stuttgart 2002, S. 15–29 [20]. Als „Wendezeit des Mittelalters“ hin in Richtung Entsakralisierung des Königtums gelten der sog. Investiturstreit bzw. der Gang nach Canossa, die schließlich zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie führten. Zu dieser Diskussion vgl. Franz-Reiner Erkens, „Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume. Versuch eines Überblicks“, in: Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume: Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, hg. v. Franz-Reiner Erkens, Berlin 2002, S. 7–32 [bes. 27 ff.], oder Stefan Weinfurter, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006. Vgl. dazu die zentralen Feststellungen, die der Ethnologe Clifford Geertz im Zusammenhang mit seinen Forschungen zu den einer Kultur zugrunde liegenden Symbolsystemen formuliert hat, s. Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 112 f.: „For it is in ritual – that is, consecrated behavior – that this conviction that religious conceptions are veridical and that religious directives are sound is somehow generated. It is in some sort of ceremonial form [. . . ] that the moods and motivations which sacred symbols induce in men and the general

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Macht erfahrbar wurde, einer Macht, die als das bedingungslos Gültige in der Bewusstseinswirklichkeit akzeptiert war, musste auch die in diesen magischen Handlungen verliehene weltliche Macht als eine von Gott begründete erscheinen. Als das vielleicht festlichste Zeremoniell überhaupt bedeutet dasjenige der Salbung und Krönung für seinen Empfänger nicht nur die eigentliche Amtseinsetzung, sondern eine Initiation, die ihn, den Auserwählten, nichts weniger als in einen anderen Menschen verwandeln und ihn der göttlichen Macht teilhaftig werden lassen will – Caritas Dei, quae te hodie in virum alterum mutavit et numinis sui participem fecit – so hatte es Wipo von Burgund in seinen Gesta Chuonradi dem Kapellan bei der Schilderung der Krönung Konrads II. in den Mund gelegt.3 In dieser hohen Zielsetzung wie in seiner elaborierten Ausformung macht dieses Ritual deutlich, wie vielfältig hier verschiedene Elemente als Bausteine eines Handlungsgefüges zusammenwirken: Symbolhafte Gesten und Sprechformeln, die Übergabe der Insignien als Zeichen der Rechtmäßigkeit und der überkommene christliche Kult vereinigen sich zu einer ästhetischen Inszenierung mit einer komplexen Dramaturgie, die in ihrer formalen Einheitlichkeit integrativ wirkt, Sinn stiftet.4 In Verbindung mit der Messfeier gilt besonders, dass auch die Krönungszeremonie Ort der anderen Zeit und Inbegriff symbolischer Kommunikation ist, denn im Hinblick auf die ewig gültige Heilsordnung wird der Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben.5

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conceptions of the order of existence which they formulate for men meet and reinforce one another. In a ritual, the world as lived and the world as imagined, fused under the agency of a single set of symbolic forms, turn out to be the same world, [. . . ].“ Zit. nach Johannes Fried, „Tugend und Heiligkeit. Beobachtungen und Überlegungen zu den Herrscherbildern Heinrichs III. in Echternacher Handschriften“, in: Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit, hg. v. Wilfried Hartmann, Regensburg 1993 (Schriftenreihe der Universität Regensburg, NF 19), S. 41–85 [53 (Zitat), mit Anm. 47]. Einbezogen sind auch die „Magica“, nicht-sprachliche Handlungen, in denen etwa durch Handauflegen bestimmte gesellschaftliche Eigenschaften – und mithin Legitimität – verliehen werden, wodurch ein Statuswechsel stattfindet. Zum Begriff der Magica, die neben den Zeigehandlungen und Ritualia in die semiotische Theorie eingeführt wurden, vgl. Jürgen Trabant, Elemente der Semiotik, Tübingen und Basel 1996, S. 133 f. Zur sozialen Tragweite des Rituals vgl. u. a. Bernhard Lang, „Kleine Soziologie religiöser Rituale“, in: Religionswissenschaft. Eine Einführung, hg. v. Hartmut Zinser,

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Die weihevolle Musik, Agens des rituellen Ablaufs und Trägerin der heiligen Texte, dient in ihrer Unmittelbarkeit zum Göttlichen ebenso wie in der emotionalen Steuerung der Zeitwahrnehmung dem Bewusstwerden des Aufgehobenseins im Zeit- und Raumkontinuum des Weltganzen. Durch ihren numinosen Charakter werden die Herzen der Teilnehmenden in Bann gezogen; zusammen mit der Architektur, den Kirchenzierden, den prachtvollen Gewändern und den Wohlgerüchen von Weihrauch und Myrrhe wirkte sie auf die Sinne, um diesen bedeutungsvollen Moment im Leben des Königs wie des „Volkes“ in der Erinnerung festzuschreiben. Wie schon im Kult an sich bildet sich in solch tiefgreifenden Erfahrungen ein kollektives Fundament, das der Herstellung und Vergewisserung der sozialen Ordnung dient, besonders bedeutsam in einer vorwiegend oralen Kultur, die auf einem lebendigen Gedächtnis gründet und damit auf Repräsentation, das heißt auf Zur-Schau-Stellung von Herrschaft mittels eines differenzierten Systems von Zeichen, Symbolen und Verhaltensmustern als Formen nonverbaler Kommunikation angewiesen ist.6 Der Wirkung dieser Herrschaftsrituale als Mittel der Machtausübung konnte sich letztlich niemand entziehen, sie übten einen Zwang auf Konformität aus, welcher trotz der Einflussnahme der jeweiligen Interessengruppen auf ihre Gestaltung kaum gemildert wurde.7

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Berlin 1988, S. 73–95. Zur Kirche als Schauraum, akustischem Raum, Duftraum, Geschmacksraum oder als zu erfühlendem Raum bzw. zum Fest der Eucharistie vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 99–127. Zur Begrifflichkeit ritualtheoretischer Ansätze und ihrer Anwendbarkeit auf das Verständnis von Ritual und Zeremonie im 10. und frühen 11. Jh. sowie zur größeren Konzentration auf Ritus und Zeremoniell in einer seit der karolingischen Renaissance wieder stärker oralen statt schriftlichen Vermittlung vgl. Karl Leyser, „Ritual, Zeremonie und Gestik: das ottonische Reich“, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 1–26. Zum Begriff der Repräsentation und der Bedeutung des demonstrativen, rituellen Kommunikationsstils in der mittelalterlichen Rechtsordnung s. Gerd Althoff, „Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit“, in: ebd., S. 27–50 [bes. 29 f.]. Dazu grundlegend Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, bes. S. 199 ff., sowie ders., „Wer verantwortete die ‚artistische‘ Zeichensetzung in Ritualen des Mittelalters?“, in: Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, hg. v. Marion Steinicke und Stefan Weinfurter, Köln, Weimar und Wien 2005, S. 93–104.

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Die Herrschaftsidee des Sakralkönigtums, das sich hauptsächlich durch drei Aspekte – Einsetzung durch Gott, Gottesstellvertreterschaft und priesterähnliche Verantwortlichkeit – definieren lässt8 , spiegelt sich auch in entsprechenden Darstellungen innerhalb des sakralen Buches, in denen die vorgestellte kosmische Ordnung in symbolisch-ästhetischer Form thematisiert wird. In Anlehnung an den Maiestas-Domini-Topos wird der thronende König in seiner ganzen Majestät als Autoritätsinstanz abgebildet, auf dieselbe Weise, wie sie Christus als Mitregent Gottvaters im Himmelreich verkörperte, doch so, als ob dieser die Macht über das irdische Reich an ihn, den weltlichen Herrscher, abgetreten hätte, der damit zum christusähnlichen Beauftragten Gottes wird.9 Einen Grundzug dieser Miniaturen bildet die Nähe zur göttlichen Sphäre, die durch die segnende oder schützende Hand Gottes, die auch krönende Funktion haben kann, gekennzeichnet ist; oft wird sie auch dadurch angedeutet, dass das Haupt des Herrschers in die Mandorla Christi hineinragt. Die heute wie ein Sakrileg wirkende Selbstverständlichkeit, mit der sich der König – wenn auch nicht in einem individuellen Porträt – in Sakramentaren, Evangeliaren oder Perikopenbüchern selbst darstellen ließ, wurde damals keinesfalls so empfunden. Vielmehr entsprang diese Tradition der Sorge um das Seelenheil, denn das liturgische Buch, welches das göttliche Gesetz enthielt, vergegenwärtigte im Ritus die Verbindung zum Heiligen – in ihm wurde dem Glauben und der Hoffnung auf himmlische Erlösung sichtbarer Ausdruck verliehen. Die von Heinrich II. gestifteten Prachthandschriften, die fast ausschließlich liturgisch-zeremonielle Funktionen erfüllten, sollten ihn dem ewigen Gedenken anempfehlen.10 In einem Evangelienbuch – dem „Buch 8

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Vgl. Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, S. 32 f., der betont, dass die sakrale Dimension den Herrschern ohne Zweifel von Anfang an zu ihrer Legitimation diente. Zur Ikonographie des Herrscher- bzw. Krönungsbildes vgl. Joachim Ott, Krone und Krönung. Die Verheißung und Verleihung von Kronen in der Kunst von der Spätantike bis um 1200 und die geistige Auslegung der Krone, Mainz 1998 (mit zahlreichen Abb.); Hagen Keller, Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht, Darmstadt 2002, bes. S. 167–183 (Kap. „Herrscherbild und Herrschaftslegitimation. Zur Deutung der ottonischen Denkmäler“), sowie Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 172–189 (Kap. „Der Herrscher im Bild“). Vgl. Gude Suckale-Redlefsen, „Prachtvolle Bücher zur Zierde der Kirchen“, in: Kaiser Heinrich II. (1002–1024) (wie Anm.1), S. 52–77. Seine Affinität zu Büchern

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des Lebens“ (liber vitae) schlechthin – eingeschrieben zu sein, hieß, sich der Gnade Gottes und mithin auch der Seligkeit nach dem Jüngsten Gericht zu versichern.11 In den einleitenden Versen des Münchner Perikopenbuchs, das Heinrich II. dem Bamberger Dom gestiftet hat, wird dieser Gedanke durch eine Gebetsbitte ausgesprochen:12 Fürst der Kirche, Pförtner der himmlischen Königshalle, o Petrus, mit Paulus, dem gütigen Lehrer des Volkes: diesen dir Ergebenen mach durch deine Bitte über den Sternen selig, zusammen mit Kunigunde, seiner lauwie die engen Bindungen an das Mönchtum dürften mit seiner Ausbildung zum Geistlichen zusammenhängen, u. a. an der Domschule von Hildesheim unter Bischof Bernward, danach durch keinen geringeren als den 1052 heilig gesprochenen Bischof Wolfgang von Regensburg, der zuvor als Lehrer in Einsiedeln geweilt und die Liturgie nach der Reform von Gorze-Cluny mitgebracht hatte. Dies dürfte seine engen Beziehungen zu den gelehrtesten Kirchenmännern seiner Zeit, wie etwa dem Musiktheoretiker und Theologen Bern von Reichenau, wie Bernward von Hildesheim einer seiner Berater, oder zu Odilo, Abt von Cluny, geprägt haben, aber auch sein monastisches Lebensideal einer vita contemplativa, das ihn Gebetsverbrüderungen zur Pflege der Memoria mit mehreren Klöstern eingehen ließ. Vgl. dazu die Biographie von Stefan Weinfurter, Heinrich II. – Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 3 2002, bes. S. 25 ff. und 168 ff. 11 Dass man das Evangeliar (und nicht nur etwa ein Verbrüderungsbuch) als das „Buch des Lebens“ angesehen hat, wird im Speyerer Evangeliar Heinrichs III. (um 1043–46) deutlich, wo dies auf einer eigens gestalteten Schriftseite gesagt wird: „Dies ist das Buch des Lebens, weil es das Leben in sich enthält. Wie himmlischer Tau ist es vom Munde Christi verbreitet zu allen Völkern, zu uns und zu unseren Eltern, damit wir das Böse meiden, das Gute festen Geistes lieben. Wer diese Worte befolgt, wird die himmlischen Reiche erlangen.“ (Hic liber est vitae / qvia vitam continet in se. / Caelesti rore / Christi diffvsvs ab ore / omnes ad gentes, / ad nos nostrosque parentes, / vt mala vitemus / bona condita mentis amemus. / Qui facit haec verba / capiet caelestia regna). Siehe Fried, „Tugend und Heiligkeit“ (wie Anm. 3), S. 49 und 68 (Abb. 3). In der Johannes-Apokalypse werden am Ende der Zeiten vor dem Weltenrichter das ominöse „Buch des Lebens“ geöffnet und die Toten danach gerichtet. Wird jemand nicht im „Buch des Lebens“ aufgezeichnet gefunden, wird er in den Feuersee geworfen (Offb 20,11–15). Zu den Liber-vitae-Dimensionen in der europäischen Kulturgeschichte vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, S. 24 ff. 12 Zum Perikopenbuch Heinrichs II., das die nach dem Kirchenjahr geordneten Textabschnitte (Perikopen) aus den Evangelien enthält (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 4452, Reichenau, zwischen 1007 und 1014), vgl. Kaiser Heinrich II. (1002–1024) (Anm. 1), Kat.-Nr. 75, S. 219 f., die Abb. der Doppelseite mit den Einleitungsversen zu ihm als Stifter (fol. 1v ) sowie seinem Krönungsbild (fol. 2r ) [ebd., S. 28].

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teren Mitherrscherin; das möge der Vater, der Sohn sowie der spendende Geist gewähren, der ewige Gott in seiner Dreieinigkeit.13

Abbildung 1 zeigt „den großen König Heinrich, der triumphierend im Glanz des Glaubens erstrahlt“, wie er gemeinsam mit Kunigunde, von den Apostelfürsten Petrus und Paulus geführt, von Christus gekrönt wird; in der unteren Bildzone huldigen ihnen die Provinzen.14 Darüber ist die göttliche Mahnung an das Herrscherpaar festgehalten: „Handelt gerecht und entscheidet euch immer für das Ehrenvolle. Es möge Nutzen bringen, wie der Rat des Gesetzes es verlangt.“15 Solche Selbstinszenierung zeugt von einer Herrschaftskonzeption mit Absolutheitsanspruch: Christus, der himmlische König, übergibt die Herrschaft seinem Stellvertreter auf Erden, der sie als Erfüllung göttlicher Vorsehung, als geweissagte Erhöhung, die er durch Gott empfangen hatte, begriff. Dahinter stehen nicht Propagandaabsichten, sondern Selbstvergewisserung und der Wille zur Herrschaftslegitimation; als vicarius Christi ist er rex pacificus (Friedensbringer) und als rex iustus hatte er in der Nachahmung Christi die Pflicht, gerecht, unparteiisch und barmherzig zu regieren, die Kirche zu verteidigen und gegen jedes Unrecht vorzugehen.16 Er verkörperte den Willen Gottes; wie einst Moses 13

14

15 16

Vgl. Keller, Ottonische Königsherrschaft (wie Anm. 9), S. 182 und Anm. 105: Princeps aeclesiae, caelestis claviger aulae, / O Petre cum Paulo gentis doctore benigno, / Hunc tibi devotum prece fac super astra beatum / Cum Cunigunda sibi conregnante serena. / Hoc pater, hoc natus necnon et Spiritus almus / Annuat aeternus semper deus omnibus unus. Das Zitat steht am Beginn des Perikopenbuchs (Clm 4452, fol. 1v ): „Der große König Heinrich, der triumphierend im Glanz des Glaubens erstrahlt, genießt die Herrschaft seines Urgroßvaters [Heinrich I.]. Aus der Großmut seines Herzens und der Fülle seiner Liebe hat er fromm aus der Vielfalt seines königlichen Schatzes dem Heiligtum des Tempels [dem Bamberger Dom] dieses Buch mit dem göttlichen Gesetz dargeboten, damit es dieses schmücke auf Ewigkeit.“ (Rex Heinricus ouans fidei splendore coruscans, / Maximus imperio fruitur quo proster auito, / Inter opum uarias prono de pectore gazas / Obtulit hunc librum diuina lege refertum / Plenus amore dei pius in donaria templi / Vt sit perpetuum decus illic omne per aevum). Zit. nach Henry Mayr-Harting, Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte, Stuttgart und Zürich 1991, S. 196 mit Anm. 73, dazu die Abb. 132. Siehe Abb. 1: TRACTANDO IUSTUM – DISCERNITE SEMPER HONESTUM – UTILE CONUENIAT – CONSVLTUM LEGIS UT OPTAT. Stefan Weinfurter, „Die Zentralisierung der Herrschaftsgewalt im Reich durch Kaiser Heinrich II.“ [1968], in: ders., Gelebte Ordnung – Gedachte Ordnung. Ausgewä-

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Abbildung 1: Krönung Heinrichs und Kunigundes, Perikopenbuch, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452, fol. 2r .

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sah er sich beauftragt, dafür Sorge zu tragen, dass die Gebote Gottes zur Grundlage und zum Inhalt des Lebens aller Menschen seines Volkes würden. Sein Reich erscheint als domus Dei, als „Haus Gottes“, das er als Verwalter Gottes zu betreuen hatte, wie es eine Urkunde vom 7. Juli 1005 ausdrückte: Im reich gefüllten Haus Gottes, so ist uns bewusst, sind wir die obersten Verwalter. Wenn wir die Verwaltung getreu ausführen, werden wir selig werden und, indem wir in die Freuden des Herrn eingehen, dessen Güter besitzen. Wenn wir aber untreu sind, dann werden wir in die Folterkammer hinabgestoßen und bis zum letzten Glied gefoltert werden.17

Auch ein König konnte demnach seinem Schicksal nicht entgehen, erfüllte er nicht seine Pflicht. Doch zunächst musste man in den Besitz dieser Würde gelangen, und die war Heinrich keineswegs in die Wiege gelegt. Aus einer Nebenlinie der Ottonen stammend, war er 995 Herzog von Bayern geworden. Als Ende Januar 1002 Kaiser Otto III. einundzwanzigjährig völlig unerwartet starb, ohne einen Sohn oder Erben zu hinterlassen, setzte Heinrich alles daran, seine Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen – der Markgraf Ekkehard von Meißen musste dabei sogar sein Leben lassen. Sein größter Coup war allerdings, dass er sich in den Besitz der Insignien brachte, als man den toten König aus Italien zurückführte, darunter die ehrwürdige heilige Lanze mit den in die Lanzenspitze eingelassenen Nagelpartikeln vom Kreuz Christi, welche Bischof Heribert von Köln, kein Freund des bayerischen Herzogs, vorsichtshalber hatte vorausschicken lassen. Sie sollte bei Heinrichs Krönung das wahrscheinlich erste und zugleich letzte Mal zum Einsatz kommen.18 Heinrichs Position war jedoch ideell und durch geschickte Schachzüge so gefestigt, dass

17 18

hlte Beiträge zu König, Kirche und Reich, hg. v. Helmuth Kluger, Hubertus Seibert und Werner Bomm, Ostfildern 2005, S. 213–263 [254 ff.]. Der Absolutheitsanspruch Heinrichs II., in dessen Regierungszeit die Zentralisierung der Herrschaftsgewalt stark intensiviert wurde, wird bestätigt durch seine Rechtsauffassung, wurde er doch als iusticiae amator, ja als auctor iustitiae bezeichnet. Nach Weinfurter, „Kaiser Heinrich II.“ (wie Anm. 1), S. 20. Percy Ernst Schramm, „Der Ablauf der deutschen Königsweihe nach dem ‚Mainzer Ordo‘ (um 960)“, in: ders., Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters. Bd. 3: Vom 10. bis zum 13. Jahrhundert, Stuttgart 1969, S. 59–107 [76]; ders., „Die Königskrönungen der deutschen Herrscher von 961 bis um 1050“, in: ebd., S. 108–134 [117 f.].

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er – als er sich mit einer List und der Hilfe des Bischofs Burchard aus Worms nach Mainz durchschlagen konnte – dort am 7. Juni 1002 von Erzbischof Willigis gekrönt wurde. Mit der Lanze des Herrn übertrug dieser ihm das Reich und die königliche Gewalt. Nach dem Chronisten Thietmar überragte Heinrich „durch die Gnade der Salbung und der Krone“, das Zeichen der Könige, nun „nach dem Beispiel des Herrn“ alle Sterblichen. Damit war die Sache entschieden, da die etwas konstruiert wirkende erbliche Nachfolge in väterlicher Linie, die paterna successio, alleine nicht zur Durchsetzung des Anspruchs auf das Königtum genügt hatte. Am 10. August krönte Willigis von Mainz auf dem Huldigungsumritt in Paderborn auch Kunigunde; am 8. September, dem Fest Mariae Geburt, bestieg der neue König den Thron Karls des Großen im Marienmünster von Aachen.19 Heinrich II. dürfte nach dem um 961 in Mainz fixierten Krönungsordo, wie er zur Zeit der Krönung Ottos II. nach verschiedenen Vorlagen ausgestaltet worden war, gesalbt und gekrönt worden sein.20 Dieser Ordo, von dem man nicht einmal sicher weiß, ob er genau so jemals benutzt wurde, hatte trotz mehrfacher Umarbeitungen in seinem Kern bis ins späte Mittelalter Bestand, auch wenn sich seine Aussage und seine Bedeutung fundamental veränderten.21 Wie die Krone und die übrigen Herrscherinsignien, die im Krönungsritus überreicht wurden, ist der Ordo selbst von hohem Symbolgehalt erfüllt und subtil in die kirchliche Liturgie einbezogen. Aus diesem Konglomerat verschiedenartigster Bedeutungsträger und der mit ihnen verbundenen Imaginationen lässt sich einiges an Se19 20

21

Zu den politischen Vorgängen rund um die Königskrönung vgl. Weinfurter, Heinrich II. (wie Anm. 10), S. 36–58. Vgl. Percy Ernst Schramm, „Die Krönung in Deutschland bis zum Beginn des Salischen Hauses (1028)“, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 24 (1935), S. 184–332 [bes. 199 ff.], sowie ders., „Der Ablauf der deutschen Königsweihe“ (wie Anm. 18), S. 92–103; Weinfurter, Heinrich II. (wie Anm. 10), S. 43 f., und Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 130 ff. Vgl. Stefan Weinfurter, „Investitur und Gnade. Überlegungen zur gratialen Herrschaftsordnung im Mittelalter“, in: Investitur- und Krönungsrituale (wie Anm. 7), S. 105–123. Beim neuen, in einzelne Symbolhandlungen aufgefächerten Erhebungsakt für den König ging es „nicht mehr um die Christus-Stellvertreterschaft in einem Kirchenreich, sondern um die Rechtsstellung des Königs in einem Ordnungssystem des Reiches, das neben dem der Kirche zunehmende Eigenständigkeit entwickelte“, was einen Umbau des Ordnungssystems im mittelalterlichen Reich gleichkam (ebd., S. 116).

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mantik entschlüsseln, auch wenn letztlich nicht auszuschließen ist, dass der „aufgeklärten“ modernen Forschung tiefere Sinnschichten dieser sakralen Phänomene verborgen bleiben. Wenn die ottonische Reichskrone, in der sich das sakrale Königtum manifestierte, mit ihren acht Goldplatten die Himmelsstadt Jerusalem darstellte und mit ihrem edelsteinbesetzten Kreuz, das als Sieg bringende crux gemmata fungierte, den Schlüssel des menschlichen Heils – den Sieg Christi über den Tod – symbolisierte22 , so war dies nicht Fiktion, sondern wurde als pure Realität einer in die Heilsgeschichte integrierten weltlichen Herrschaft wahrgenommen.23 Sie ist mit den Kategorien irdisch verstandener Herrschaft nicht fassbar, genauso wenig wie die Heilige Lanze, die nach Liutprand (um 960) als Geschenk des Himmels galt, durch das Gott das Irdische mit dem Himmlischen verknüpft hat, als der Eckstein, der aus beidem eines macht:

Zur Reichskrone vgl. u. a. den Bildführer Weltliche und Geistliche Schatzkammer des Kunsthistorischen Museums Wien [Autoren: Rotraud Bauer u. a.], Salzburg 1987, Nr. 153, S. 148–155; Reinhart Staats, Die Reichskrone. Geschichte und Bedeutung eines europäischen Symbols, völlig überarb. neue Ausg., Kiel 2006; Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 161–166, und Hermann Fillitz, „Die Reichskleinodien – Ein Versuch zur Erklärung ihrer Entstehung und Entwicklung“, in: Heilig – Römisch – Deutsch. Das Reich im mittelalterlichen Europa, hg. v. Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, Dresden 2006, S. 133–161. 23 Worauf es dabei ankommt, hat Hubert Seiwert in einem Aufsatz über den Sakralitätsbegriff festgehalten, s. ders., „Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers“, in: Sakralität von Herrschaft (wie Anm. 1), S. 245–265 [260 f.]: „Gemeinsam war jedoch beiden [dem chinesischen Kaiser wie seinen untergebenen Beamten], dass sie davon überzeugt waren, es existiere eine kosmische Ordnung, an der sich auch der Kaiser bei seiner Herrschaftsausübung zu orientieren habe. Die Normen menschlichen Handelns wurden also zurückgeführt auf eine transzendente Ordnung, die unabhängig von menschlichem Wollen und Entscheiden existiere. [. . . ] Damit besaßen diese Bereiche eine Bedeutung besonderer Art, eine Bedeutung, die wir als sakral bezeichnen können. Denn wir können im vorliegenden Fall zugleich feststellen, dass die gleichen Bereiche besonderer Bedeutung in hohem Maße durch rituelle Vorschriften und Tabus geschützt waren. [. . . ] Der für unsere Überlegungen entscheidende Punkt ist, dass durch die Rückführung von Normen auf eine transzendente Ordnung zugleich die Bedeutung der Dinge, auf die sich diese Normen beziehen, als Teil ihres Seins verstanden wird. Wenn es nicht in das Belieben der Menschen gestellt ist, wie sie sich bestimmten Dingen zu nähern haben, dann ist die Bedeutung dieser Dinge diesen inhärent. [. . . ] Eine ‚entzauberte‘ Welt ist eine Welt, in der die Dinge und Vorgänge nur noch ‚sind‘ und ‚geschehen‘, aber nichts mehr ‚bedeuten‘.“

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Sie war nicht nur Reliquie und Insignie zugleich, sondern Unterpfand für die Präsenz Christi in der gegenwärtigen Königsherrschaft, war handgreifliches Trost- und Mahnzeichen einer Wahrheit, die – obwohl unsichtbar im Jenseits gegründet – als wirkende Gotteskraft in dieser Welt erfahrbar ist.24

Die Krönungszeremonie beginnt laut Ordo mit der Einholung des Königs, der in seinem Thalamus abgeholt wird, wozu ein Bischof als Vertreter des Episkopats folgendes Gebet spricht: Lasset uns beten: Allmächtiger, immerwährender Gott, der du deinen Diener würdig befunden hast, zur Königswürde erhoben zu werden: Gewähre ihm, dass er in seinen Zeitläufen alles und jedes zum Wohl der Gemeinschaft ordnen möge. So soll er nicht vom Pfad der Wahrheit abweichen.25

In einer feierlichen Prozession – vorangetragen wurden das Evangelium, zwei Kreuze und Weihrauchfässer – nehmen zwei Bischöfe im Festornat und mit Heiligenreliquien um den Hals den Fürsten in ihre Mitte, ihn zur Rechten und zur Linken stützend26 , bereits dies eine symbolische Handlung, wie sie auch in einem weiteren Krönungsbild im Regensburger Sakramentar aus dem Kloster St. Emmeram festgehalten ist (Abb. 2). Es zeigt Heinrich zwischen den Bischöfen Ulrich von Augsburg und Emmeram aus Regensburg, die ihm mit beiden Händen unter die Arme greifen, während ihm Christus von oben die Krone aufs Haupt setzt. In der Hand trägt er die Heilige Lanze, die Otto I. gegen die Ungarn zum Sieg verholfen hatte, sowie das Schwert; beide Herrscherinsignien werden ihm von Engeln gereicht. In der Umschrift heißt es: Keller, Ottonische Königsherrschaft (wie Anm. 9), S. 170. Zur „Heiligen Lanze“ (des Longinus bzw. des hl. Mauritius oder als virga Dei des Moses) vgl. ebenfalls Weltliche und Geistliche Schatzkammer (wie Anm. 22), Nr. 155, S. 159–164, und Fillitz, „Reichskleinodien“ (wie Anm. 22), S. 134–137. 25 Primum exeunte illo thalamum unus episcoporum dicat hanc orationem: „Omnipotens sempiterne Deus qui famulum tuum regni fastigio dignatus es sublimare, tribue ei, quaesumus, ut ita in huius seculi cursu cunctorum in commune salutem disponat, quatenus a tuae veritatis tramite non recedat.“ Der lateinische Text des Mainzer Ordo wird – auch im Folgenden – zitiert nach Schramm, „Der Ablauf der deutschen Königsweihe“ (wie Anm. 18), S. 92–103 (Der „Mainzer Ordo“) [hier 94]. 26 Ebd.: Postea suscipiant illum duo episcopi dextera levaque, honorifice parati, habentes sanctorum reliquias collo pendentes; ceteri autem clerici sint casulis adornati. 24

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Abbildung 2: Krönungsbild Heinrichs II. im Regensburger Sakramentar. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4456, fol. 11r .

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Siehe, es wird gekrönt durch göttliche Autorität und gesegnet der fromme König Heinrich, emporgehoben zum Himmelsgewölbe seiner väterlichen Ahnen.27

Heinrich II. wird hier in Parallele zu Moses gesetzt, dem die Hohepriester Aaron und Hur die Arme so lange stützten, bis die Feinde Israels besiegt waren (2 Mos 17,11–13). Zudem hatte Moses den Stab Aarons, den Stab der Auserwählten, der Knospen und Blüten trieb, bei der Bundeslade aufzubewahren (4 Mos 17). So erscheint Heinrich als neuer Moses in einem alttestamentarisch begründeten Königtum, dem die beiden erst kurz zuvor geweihten „Siegesheiligen“ Ulrich und Emmeram den Sieg über die Ungläubigen – damals im ostfränkischen Teil des Reichs durchaus noch akut – garantierten. Wie Moses zeigt er sich als Vermittler der Gebote Gottes.28 In den sowohl vor der Prozession wie beim Geleit zum Chor gesprochenen Gebeten wird Gott angerufen, dass sein Diener alles zum Wohle des Volkes ordnen und er auch von allen Widerwärtigkeiten geschützt bleiben möge. Im zur Prozession gesungenen Responsorium Ecce mitto angelum meum wird eine Stelle aus Exodus 23 zitiert, in der Gott spricht: Siehe, ich werde meinen Engel schicken, der dir [dem Volk Israel unter Moses] vorausgehen soll und dich allzeit beschützen soll. Achte und höre meine Stimme! Und ich werde der Feind deiner Feinde sein und zerschmettern deine Zerschmetterer: mein Engel soll dir vorausgehen.

In der Liturgie gehört dieser Wechselgesang in die Matutin des Sonntags Quadragesimae, also in die Fastenzeit, die Zeit der heiligen Trauer; er wird somit eine Woche vor dem Palmsonntag (domenica de passione) vorgetragen, der den Einzug des Königs der Juden, „der da kommt im Namen des Herrn“, in Jerusalem feiert. Der Vers stammt aus Psalm 81 (9– 11) und enthält die Mahnung: „Israel, wolltest du doch auf mich hören! Für dich gibt es keinen andern Gott. Du sollst keinen fremden Gott 27 28

Keller, Ottonische Königsherrschaft (wie Anm. 9), S. 178 (Abb. 3) und 180, sowie Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 180 bzw. 181 (Abb. 12). Noch in der späteren Heinrichsvita (1145/46) klingt diese Vorstellung nach: „So wie Moses den Triumph mehr durch das Gebet als durch Waffen errungen hat, so befriedete auch der glorreichste Herrscher alle Kämpfe glücklich durch die Waffen der Gerechtigkeit.“ Vgl. Weinfurter, Heinrich II. (wie Anm. 10), S. 92.

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anbeten. Ich bin der Herr, dein Gott“, wozu zu denken ist: „der dich heraufgeführt hat aus dem Lande Ägypten!“29 Dieser subtil ausgewählte Text soll dem Fürsten auf dem Weg zur Krönung den Schutz Gottes zusprechen, ihn gleichzeitig aber auch verpflichten, nur das Wort des einen Gottes zu befolgen. Vor dem Eingang zur Kirche hielt der Klerus zu einem Gebet inne, danach erfolgte das Geleit zum Chor mit der Antiphon ‚Dominum, salvum fac regem‘, deren Text den Schluss von Psalm 20 (19) bildet: „Herr verleihe dem König den Sieg! Erhöre uns am Tage, da wir rufen!“ Beim Eintritt in den Chor sprach der Metropolit wiederum ein Gebet: Allmächtiger Gott, Lenker des Himmels und der Erde, der du deinen Diener würdig befunden hast, die Königswürde fortzuführen, gewähre, dass er von allen Widerwärtigkeiten verschont bleibe und geschützt werden möge durch die Gabe des kirchlichen Friedens, und mach, dass er zu den von dir verliehenen Freuden des ewigen Friedens zu kommen verdiene. 30

An dieser Stelle vollzog sich innerhalb der sinnreichen Dramaturgie eine bemerkenswerte Szene: Der Fürst (princeps) deponiert noch vor dem Chor seinen Mantel und seine Waffen und wird dann in den Chor geführt, wo er sich zur monotonen Psalmodie der Litanei mit Bitten an die zwölf Apostel, Märtyrer, Bekenner und Jungfrauen bei den Stufen zum Altar inmitten der Geistlichen in Form eines Kreuzes auf den mit Teppichen bedeckten Boden wirft – humiliter totus in cruce prostratus iaceat. In der Haltung des Gekreuzigten vertritt er neben den zwölf Aposteln Christus, den Erlöser, cuius typum geris in nomine, wie es später zur Übergabe des Schwertes und später noch einmal zur Krönung 29

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Schramm, „Der Ablauf der deutschen Königsweihe“ (wie Anm. 18), S. 94: [. . . ] praecedente sancto evangelio et duabus crucibus cum incenso boni odoris, ducant illum ad ecclesiam, canentes responsorium: „Ecce mitto angelum meum“, cum versu: „Israel si me audieris“, cuncto eum vulgo sequente. Ad ostium autem ecclesiae clerus subsistat, et archiepiscopus dicat hanc sequentem orationem: „Deus, qui scis genus humanum nulla virtute posse subsistere, concede propitius, ut famulus tuus N., quem populo tuo voluisti praeferri, ita tuo fulciatur adiutorio, quatinus quibus potuit praeesse, valeat et prodesse.“ Ebd.: Introeuntes autem praecedentes clerici decantent antiphonam: „Domine, salvum fac regem“, usque in introitum chori. Tunc episcopus metropolitanus dicat hanc subsequentem orationem: „Omnipotens sempiterne Deus, caelestium terrestriumque moderator, qui famulum tuum N. ad regni fastigium dignatus es provehere, concede, quaesumus, ut a cunctis adversitatibus liberatus et ecclesiasticae pacis dono muniatur et ad aeternae pacis gaudia, te donante, pervenire mereatur.“

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heißen wird.31 Diese Geste tiefster Demut und Erniedrigung bringt den Akt in einen Zusammenhang mit der Priesterweihe32 , wo die Proskynese heute noch vollzogen wird, und mit der adoratio crucis, der Kreuzverehrung im dramatischen Karfreitagsritus, wenn zu den Improperien mit dem Trishagion (dem griechischen Dreimalheilig) ebenfalls alle in dieser Stellung vor dem Kreuz verharren. Im Kreuzeskuss und in der prostratio gebühren uns – so hat dies schon Amalar von Metz begründet – Unterwürfigkeit und Demut, genauso, wenn wir Christus in den Tod folgen, und diese humilitas mentis (Demut des Geistes) können wir nicht besser zeigen, als wenn wir uns mit dem ganzen Körper auf die Erde legen.33 Die prostratio des neuen Königs bedeutet also den ersten Schritt, mit dem er in die Aura Christi eintritt; erst dann ist er würdig zur Erhöhung, zur exaltatio, das heißt, um durch die Salbung der Stellvertreter Christi auf Erden zu werden. Überblicken wir dieses Krönungsritual als Ganzes, entspricht es einem „klassischen“ Initiationsritus, wie er auch aus anderen Kulturen bekannt ist. Den Ablauf hat der Ethnologe Arnold van Gennep als drei aufeinander folgende Sequenzen beschrieben: Zunächst die Trennungsphase mit ihren Riten (Tod des Vorgängers, Trennung von der profanen Welt), danach die Schwellenphase respektive die Umwandlungsriten und zuletzt

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Ebd., S. 95: Ibi autem ante chorum designatus princeps pallium et arma deponat atque inter manus episcoporum perductus in chorum usque ad altaris gradus incedat, cunctoque pavimento tapetibus et palliolis contecto, ibi humiliter totus in cruce prostratus iaceat, una cum episcopis et presbiteris hinc inde prostratis, ceteris in choro letaniam breviter psallentibus, id est XII apostolos ac totidem martyres, confessores et virgines, et cetera usque in finem huic benedictioni convenientia. [Hervorhebung durch die Verf.] Der König war ein Beauftragter Gottes wie die Bischöfe – entsprechend orientierte sich seine Einsetzung weitgehend an der der Bischöfe, vgl. Weinfurter, „Investitur und Gnade“ (wie Anm. 21), S. 107. Amalarius von Metz, Opera liturgica omnia. 3 Bde., hg. v. Johannes M. Hanssens, Città del vaticano 1948–67 (Studi e testi, 138–140), Bd. 2 (Liber officialis), S. 100 f.: Ea die qua crux deosculatur, humilitas est pro nobis Patri usque ad mortem, mortem autem crucis. Si huius mortis imitatores esse debemus, necnon et humilitatis oportet esse. Unde prosternimur ante crucem, ut fixa humilitas mentis per habitum corporis demonstretur. Humilitatem mentis non possumus amplius monstrare, quam ut totum corpus ad terram prosternatur. Zur Proskynese als Demuts- und Bußgestus vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 411 f.

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die „Auferstehung“ (die endgültige Weihe, die rituelle Angliederung an die sakrale Welt).34 Auf die Litanei folgte bei der Investitur die Befragung durch den Metropoliten – im Falle Heinrichs war es Willigis von Mainz – in der sich der Fürst zum protector und defensor der Kirche und des Glaubens verpflichten musste, was er jeweils durch volo (ich will) beantwortete. Bischöfliche Befragung des Fürsten: Willst du den hl. Glauben, den dir die Würdenträger der katholischen Kirche übergeben haben, halten und mit gerechten Werken bewahren? Volo [Ich will]. Willst du den hl. Kirchen und den Dienern dieser Kirchen Schützer und Verteidiger sein? Volo. Willst du dein Königreich, das dir von Gott gegeben wurde, nach der Gerechtigkeit deiner Väter lenken und verteidigen? Ich will, und ich werde so stark sein, wie mich der göttliche Beistand stärkt und der Trost aller seiner Gläubigen, und so verspreche ich, in allem treu zu handeln.35

Danach fragte der Metropolit in gleicher Weise das Volk, ob es sich einem solchen Lenker unterwerfen und seinen Befehlen gehorchen wolle, was dieses zusammen mit dem Klerus mit fiat, fiat. Amen bekräftigte. Bischöfliche Befragung des Volkes: Wollt ihr euch einem solchen Fürsten und Lenker unterwerfen, sein Königtum festigen, im festen Glauben stärken und seinen Befehlen gehorchen, wie es der Apostel sagt (1 Petr 2,13): „Jeder sei der obersten Macht unterworfen, vor allem dem König, der alle überragt“? Volk und Klerus: Fiat, fiat. Amen.36

Vor der eigentlichen Salbung wurden vor dem in devoter Haltung sich neigenden Fürsten drei ausgedehnte Gebete gesprochen, in denen der 34 35

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Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt a. M., New York und Paris 1999 [Les rites de passage, Paris 1909], S. 29 und 109 ff. Schramm, „Der Ablauf der deutschen Königsweihe“ (wie Anm. 18), S. 95: Finita autem laetania erigant se. Sublatus autem princeps interrogetur ab episcopo metropolitano, si sanctas Dei aecclesias ac rectores ecclesiarum necnon et cunctum populum sibi subiectum iuste ac religiose regali providentia iuxta morem patrum suorum defendere ac regere velit. Illo autem profitente in quantum divino fultus adiutorio ac solatio omnium fidelium suorum valuerit, ita se per omnia fideliter acturum esse, [. . . ]. Ebd., S. 96: [. . . ] ipse episcopus affatur populum, si tali principi ac rectori se subicere ipsiusque regnum firma fide stabilire atque iussionibus illius obtemperare velint iuxta Apostolum: „Omnis anima potestatibus sublimioribus subdita sit regi quasi praecellenti?“

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allmächtige Gott, Herrscher der Engel, König der Könige nochmals angerufen wurde, seinem Diener den Segen zu geben und ihn mit seiner starken Hand zu beschützen – so wie er einst die Treue Abrahams stärkte, der Milde des Moses vertraute, die Demut Davids erhöhte und die Weisheit Salomons schmückte, so möge er ihn auf den rechten Weg führen.37 Noch einmal also ein alttestamentarischer Bezug, wenn direkt die Salbung Davids durch Samuel angesprochen wird, ein Bezug, der in der David- und Salomon-Platte der Krone ebenfalls symbolhaft hergestellt wird, wenn beide für das Königsideal der Gerechtigkeitsliebe typologisch in Anspruch genommen werden.38 Eindringlich wird der Segen Gottes für seine ihn fordernden Aufgaben herabgerufen: Fac eum, Domine, beatum esse et victorem de inimicis suis. . . – „Mach, dass er glücklich seine Feinde besiege! Kröne ihn mit der Krone der Gerechtigkeit und der Ehrfurcht zu Gott, damit er aus ganzem Herzen und Geiste an dich glaube und dir dienen, deine Kirche verteidigen und das von dir anvertraute Volk gerecht regieren möge!“ Zur Salbung, die an Haupt, Brust, Schultern und Armgelenken vorgenommen wurde, sprach der Metropolit, der von mehreren Suffraganen unterstützt wurde – darunter auch Heinrichs Lehrer Bernward von Hildesheim: Deine Hände werden mit geheiligtem Öl gesalbt, ganz wie die Könige und Propheten gesalbt wurden und so wie Samuel David zum König gesalbt hat. So seiest du gesegnet und eingesetzt als König in deinem Reich, über dieses Volk, das der Herr, dein Gott, dir gegeben hat, über es zu herrschen und es zu leiten. Dies sei dir gewährt durch seinen Hl. Geist.

Und später: Die überreiche Gnade des Hl. Geistes komme durch unseren demütigen Dienst auf dich herab. So wie du durch unsere unwürdigen Hände mit ir37

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Ebd.: [. . . ] benedictionum tuarum dona multiplica, eumque dextera tuae potentiae semper et ubique circumda, quatinus praedicti Abrahae fidelitate firmatus. Moysi mansuetudidine [!] fretus, Iosue fortitudine munitus, David humilitate exaltatus, Salomonis sapientia decoratus, [. . . ]. König David trägt in seiner Hand ein Schriftband mit Vers 4 aus Ps 98 (HONOR REGIS IUDICIUM DILIGIT), König Salomon eines mit einem Vers aus den Sprüchen Salomonis (TIMETE DOMINUM ET RECEDE A MALO, Spr 3,7). Vgl. Hubert Herkommer, „Typus Christi – Typus Regis, König David als politische Legitimationsfigur“, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg. v. Walter Dietrich und Hubert Herkommer, Freiburg i. Ue. und Stuttgart 2003, S. 383–436 [bes. 401–405].

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dischem Öl gesalbt wirst, sollst du es verdienen, durch sein unsichtbares Öl von innen gesalbt und von seiner geistigen Salbung stets vollkommen erfüllt zu sein. Dies befähige dich, alles Unerlaubte mit ganzer Gesinnung zu meiden und zu verachten. Du mögest ständig bedenken, was dir nützlich sei, dieses wünschen und danach handeln.39

Die Salbung an Brust und Schultern dürfte in den Traditionszusammenhang des Taufritus gehören, dem die Königsweihe im weitesten Sinne ebenso verpflichtet war. Dies würde auf das regale sacerdotium – das königliche Priestertum – hinweisen, von dem der Apostel Petrus in seinem Brief an die kleinasiatischen Gemeinden spricht (1 Petr 2,9) und von dem man annimmt, dass es im fränkischen Reich auch in diesem Wortsinn verstanden wurde.40 Die Übergabe der Insignien begann mit dem Schwert als Symbol der Einweisung in die Herrschaft, das dem neuen König ein dauerndes Mahnzeichen im Glaubenskampf wie in der Verteidigung von Witwen und Waisen sein soll. Der König wird als „Typus Christi“ bezeichnet, als auserwählter Pfleger des Rechts, der mit dem Erlöser der Welt, dessen typus er im Namen führt, ewig zu regieren verdient.41 Der Ring bindet 39

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Schramm, „Der Ablauf der deutschen Königsweihe“ (wie Anm. 18), S. 98 f.: Tunc demum ab episcopo sedis illius de oleo sanctificato unguantur caput, pectus et scapulae ambaeque compages brachiorum ipsius, et dicatur sequens oratio: „Deus, qui es iustorum gloria et misericordia peccatorum, qui misisti filium tuum pretiosissimo sanguine suo genus humanum redimere, qui conteris bella et propugnator es in te sperantium, et sub cuius arbitrio omnium regnorum continetur potestas, te humiliter deprecamur, ut prasentem famulum tuum N., in tua misericordia confidentem, in praesenti sede regali benedicas eique propitius adesse digneris, ut, qui tua expetit protectione defendi, omnibus sit hostibus fortior. Fac eum, domine, beatum esse et victorem de inimicis suis. Corona eum corona iustitiae et pietatis, ut, ex toto corde et tota mente in te credens, tibi deserviat, sanctam tuam aecclesiam defendat et sublimet, populumque a te sibi commissum iuste regat, nullus, insidiantibus malis eum in iniustitiam vertat. Accende, Domine, cor eius ad amorem gratiae tuae per hoc unctionis oleum, unde unxisti sacerdotes, reges et prophetas, quatinus, iustitiam diligens, per tramitem similiter iustitiae populum ducens, post peracta a te disposita in regali excellentia annorum curricula, pervenire ad aeterna gaudia mereatur.“ Vgl. Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 112 ff. (mit weiterer Literatur zur Königssalbung). Schramm, „Der Ablauf der deutschen Königsweihe“ (wie Anm. 18), S. 99 f.: Postea ab episcopis ensem accipiat et cum ense totum sibi regnum fideliter ad regendum secundum supradicta verba sciat esse commendatum, dicente metropolitano: „Accipe gladium per manus episcoporum [. . . ] iustitiaeque cultor egregius, cum mundi salvatore, cuius typum geris in nomine, sine fine merearis regnare.“

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den Träger an den Glauben und befähigt ihn, Unglauben abzuwenden: Der König soll der auctor und stabilitor des christlichen Glaubens werden.42 Mit Szepter und Stab war das Bild der virga virtutis et aequitatis verbunden, der Tugend und Gerechtigkeit, welche die Hochmütigen zugrunde und die Kleinmütigen wieder aufrichtet. Mit dem Stab öffnet sich dem Träger das Tor zu Christus, dem Schlüssel Davids, durch ihn wird er auch erlöst sein.43 Den Höhepunkt bildete jedoch das Aufsetzen der Krone durch den Erzbischof, dieser Krone, die den „Ruhm und die Ehre der Heiligkeit wie das Werk der Stärke und Tapferkeit“ anzeigt und ihn des bischöflichen Ministeriums teilhaftig werden lässt. So wie die Bischöfe in interioribus Hirten und Lenker der Seelen sind, so ist der König in exterioribus der cultor Dei, der defensor gegen die Feinde der Kirche Christi, der executor des Königtums aus Gottesgnaden, schließlich auch der nutzbringende regnator.44

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Vgl. ebd., S. 100: Accintus autem ense, similiter ab illis armillas et pallium et anulum accipiat, dicente metropolitano: „Accipe regiae dignitatis anulum et per hunc in te catholicae fidei cognosce signaculum, quia, ut hodie ordinaris caput et princeps regni ac populi, ita perseverabis auctor ac stabilitor christianitatis et christianae fidei, ut felix in opere, locuples in fide, cum rege regum glorieris per eum, cui est honor et gloria per infinita secula seculorum.“ Ebd.: Postea sceptrum et baculum accipiat, dicente sibi ordinatore: „Accipe virgam virtutis atque aequitatis, qua intellegas mulcere pios et terrere reprobos, errantibus viam pandere, lapsis manum porrigere, disperdasque superbos et releves humiles et aperiat tibi hostium Iesus Christus dominus noster, qui de se ipso ait: ‚Ego sum ostium; per me si quis introierit, salvabitur‘, et ipse, qui est clavis David et sceptrum domus Israhel, qui aperit et nemo claudit, claudit et nemo aperit. Sitque tibi auctor, qui educit vinctum de domo carceris sedentemque in tenebris et umbra mortis, et in omnibus sequi merearis eum de quo David propheta cecinit: ‚Sedes tua, Deus, in seculum seculi, virga aequitatis, virga regni tui.‘ [. . . ]“. Ebd.: Postea metropolitanus verenter coronam capiti regis imponat, dicens: „Accipe coronam regni, quae licet ab indignis episcoporum tamen manibus capiti tuo imponitur, eamque sanctitatis gloriam et honorem et opus fortitudinis expresse signare intellegas et per hanc te participem ministerii nostri non ignores, ita ut, sicut nos in interioribus pastores rectoresque animarum intelligimur, tu quoque in exterioribus verus Dei cultor strenuusque contra omnes adversitates aecclesiae Christi defensor, regnique tibi a Deo dati et, per officium nostrae benedictionis in vice apostolorum omniumque sanctorum, tuo regimini commissi utilis executor regnatorque proficuus semper appareas, ut inter gloriosos athletas, virtutum gemmis ornatus et praemio sempiternae felicitatis coronatus, cum redemptore ac salvatore Iesu Christo, cuius nomen vicemque gestare crederis, sine fine glorieris. Qui vivit et imperat Deus, cum Deo Patre, in unitate.“ Die Insignien wurden alle mit der formelhaften Wendung accipe übergeben.

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Bei der darauf folgenden Thronsetzung (da der Thron ja in Aachen stand, wurde Heinrich II. an dieser Stelle wahrscheinlich die Heilige Lanze übergeben) kommt zum Ausdruck, dass erst durch die von den Bischöfen vollzogene Heiligung die paterna successio, der irdische Nachfolgeanspruch, in ein ius hereditarium, ein Recht auf Erbe, ein Recht darauf, Erbe des himmlischen Königs auf Erden zu sein, überführt wurde. Die beiden Bischöfe weisen also Heinrich II. zum göttlichen Erbe im Königtum, wie im Herrscherbild des Sakramentars festgehalten.45 Und noch ein wichtiger Begriff fällt am Schluss der Thronsetzung, derjenige des „Mediators“, des Mittlers: Christus selbst, der Mittler zwischen Gott und den Menschen (mediator Dei et hominum) setzt ihn als Mittler zwischen Klerus und Volk (mediator cleri et plebis) ein. Damit verkörperte der König nicht das Reich oder gar den „Staat“, sondern die Macht, die ihn einsetzte und der er verantwortlich war; wie die Bischöfe ist er ein Beauftragter Gottes.46 Entsprechend wurde vom cultor Dei die Befolgung der Herrschertugenden wie Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Weisheit und Klugheit erwartet, damit er unter den berühmten Glaubenskämpfern mit den Edelsteinen der Tugenden geschmückt und mit dem Preis der ewigen Glückseligkeit gekrönt sei – ut inter gloriosos athletas virtutum gemmis ornatus et praemio sempiternae felicitatis coronatus; zusammen mit dem Erlöser Jesus Christus, dessen Namen und Amt zu tragen ihm anvertraut sei, möge er ohne Ende gerühmt werden.47 Dies geschah denn auch durch den ambrosianischen Lobgesang des ‚Te Deum‘ (Te Deum laudamus – Dich Gott loben wir), das in der Alten Kirche ursprünglich auf die neu Getauften an Ostern bezogen gewesen sein dürfte, früh jedoch an Sonn- und Festtagen außerhalb der Fastenund Adventszeit zum Schluss der Matutin, aber auch sonst zu Prozessionen, Bischofswahlen, Priesterweihen vorgesehen war und damit im

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Vgl. Weinfurter, Heinrich II. (wie Anm. 10), S. 52. Vgl. Weinfurter, „Investitur und Gnade“ (wie Anm. 21), S. 107. Die Herrschertugenden Iustitia, Pietas, Sapientia und Prudentia sind bildhaft dargestellt im Herrscherbild aus dem Evangeliar von Montecassino, einem bedeutsamen Zeugnis der Reflexion über die Stellung der Herrscher, wobei umstritten ist, ob es sich um Heinrich II. oder Heinrich III. handelt. Vgl. Hagen Keller, „Das Bildnis Kaiser Heinrichs im Regensburger Evangeliar aus Montecassino (Bibl. Vat. Ottob. Lat. 74). Zugleich ein Beitrag zu Wipos ‚Tetralogus‘“, in: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), S. 173–214.

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Mittelalter eine gemeinschaftsbildende Funktion bei wichtigen Ereignissen erfülle: Dich, o Gott, loben wir, Dich, o Herr, bekennen wir. Dir, dem heiligen Vater, huldigt die ganze Erde. Dir jauchzen alle Engel, die Himmel und alle Mächte, Cherubim und Seraphim, mit unablässiger Stimme: Heilig, heilig, heilig, Herr, Gott der himmlischen Mächte. . . Durch Deinen Sieg über den Stachel des Todes öffnetest Du den Glaubenden die himmlischen Reiche. Du sitzest zur Rechten Gottes, in der Herrlichkeit des Vaters. Du wirst als Richter kommen, wie wir glauben. Dich nun bitten wir, komm Deinen Knechten zu Hilfe, die Du mit Deinem teuren Blut erkauft hast. Gewähre, dass wir zur Schar der Heiligen gezählt werden in der ewigen Herrlichkeit! Rette Dein Volk, o Herr, und segne Dein Eigentum. Und lenke es, erhebe es bis in Ewigkeit!

Seit der Krönung Karls des Großen hatte das ‚Te Deum‘ die Aufgabe einer förmlichen Akklamation erhalten, durch welche die Untertanen die Rechtskraft des Aktes der Investitur bestätigten. Für die Rechtskraft war wichtig, dass es von denjenigen gesungen wurde, die ihren Herren damit akzeptierten. Indem sie es sangen, erkannten Sie Gottes Ratschluss und damit den Erwählten an – Ehre für Gottvater und Sohn und Ehre für den irdischen König fallen dabei in eins zusammen.48 Das ‚Te Deum‘ bildete – nach der ‚Benedictio‘ und dem Friedenskuss – den „krönenden“ musikalischen Abschluss der Königsweihe, deren klanglicher Duktus (abgesehen von einzelnen Responsorien oder Antiphonen) sonst hauptsächlich von der Kantillation geprägt war, einer Art Sprechgesang in ausdrucksvoll gestalteter Diktion. Nun begann der Metropolit mit dem Zelebrieren der Messe, die allerdings ein Spezifikum aufweist: Nach dem Kyrie, dem Ruf um Erbarmen – dem „Lob aus der Tiefe“–, dem Gloria, dem Gotteslob der Engel – dem „Lob aus der Höhe“ –, dem Tagesgebet (der Oration), jedoch vor der der ersten Lesung (der Epistel), wurden die ‚Laudes regiae‘ eingeschoben, die als Herrscherlob ein Moment des Herrscherkultes ins Spiel bringen, welches als liturgische Reverenz vor der himmlischen Herrschaft Christi und der irdischen Macht des Kaisers oder Königs und des Papstes noch48

Vgl. Sabine Žak, „Luter schal und sueze döne. Die Rolle der Musik in der Repräsentation“, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda Ragotzky und Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 133–148 [140 f.].

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mals in engster Weise das geistliche mit dem politischen Anliegen verknüpft.49 Solch formelhafte Akklamationen als Zeichen der Ehrerbietung waren schon in der jüdischen wie in der römischen Tradition für den Kaiser, aber auch für Schauspieler oder Athleten üblich. Sie wurden dann in spätantiker Zeit in der Kirche, etwa bei der Bischofswahl, aber auch in den germanischen Nachfolgereichen übernommen.50 Die ‚Laudes regiae‘, entstanden in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts aus der Verschmelzung von spätantik-christlicher Herrscherakklamation, irisch-angelsächsischer Heiligenanrufung und gallikanisch-fränkischer Gesangstradition,51 wirken mit ihrer Bezugnahme auf den österlichen, siegreichen Christus wie eine Fortführung der Botschaft, wie sie auch die Reichskrone übermittelt: Auf ihrer Pantokrator-Bildplatte thront Christus als Weltenherrscher, flankiert von zwei Cherubim, die Rechte zum Segen erhoben, mit der Linken das „Buch des Lebens“ stützend, unter dem Sinnspruch: PER ME REGES REGNANT – durch mich herrschen die Könige (s. Beitrag Burkart in diesem Band, Abb. 3 auf S. 265). 49

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Zum liturgischen Ort vgl. Bernhard Opfermann, Die liturgischen Herrscherakklamationen im Sacrum Imperium des Mittelalters, Weimar 1953, S. 75. In keinem der für den Gottesdienst bestimmten Bücher haben sie einen festen Platz. Vgl. Reinhard Elze, „Die Herrscherlaudes im Mittelalter“, in: ders., Päpste – Kaiser – Könige und die mittelalterliche Herrschaftssymbolik. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Bernhard Schimmelpfennig und Ludwig Schmugge, London 1982, S. 201–223 [203]. In der Hs. 397 der Stiftsbibliothek St. Gallen heißt es z. B. in einer Rubrik zu Beginn: Finita oratione, post Gloria in excelsis Deo, dicat sacerdos: Christus vincit. . . (ebd., S. 219). Der Krönungsritus sowie die gesamte Messe mit den Laudes regiae wurden rekonstruiert und auf einer CD festgehalten: Heinrich II. Anno Domini 1002. Gregorianischer Krönungsritus, Schola Bamberg, Leitung Werner Pees, Heidelberg 2002 [Christophorus CHR 77251]. Akklamatorischen Charakter haben jedoch schon die kirchlichen Zurufe wie das Hosianna, Alleluia, Miserere, Exaudi, das dreimalige Hagios und das Kyrieleison, das in die Litanei und in die Messe eingegangen ist, wo es dann einen bittenden Ton annimmt. Vgl. Bernhard Schimmelpfennig, „Akklamation“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG). Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Sachteil, Bd. 1, hg. v. Ludwig Finscher, Kassel u. a. 2 1994, Sp. 347–351. Sehr kurz dazu Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 167. Zu den komplexen Zusammenhängen in Bezug auf die frühen überlieferten Handschriften (auch in griechischer Sprache) s. Gisbert Knopp, „SANCTORUM NOMINA SERIATIM. Die Anfänge der Allerheiligenlitanei und ihre Verbindung mit den ‚Laudes regiae‘“, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 65 (1970), S. 185–231.

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So wie Christus siegt, regiert und herrscht, so möge in seinem Namen und mit seiner und der Hilfe zahlreich angerufener Heiliger auch der König oder Kaiser in alle Ewigkeit siegen, regieren und herrschen – Kernaussage einer sakral verankerten Herrschaftsideologie.

Laudes regiae52 Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat. Tribus vicibus. Exaudi Christe. Summo pontifici et universali pape vita. Tribus vicibus. Salvator mundi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Petre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Paule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Andrea. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Clemens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Xiste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exaudi Christe. Serenissimo regni nostro a Deo coronato magno et pacifico imperatori vita et victoria. Redemptor mundi. . . . . . . . . . . . . . . . Sancta Maria. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Michahel. . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Gabrihel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Raphahel. . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Johannes. . . . . . . . . . . . . . . . . . Exaudi Christe. Illae Regine nostrae salus et vita. Sancta Perpetua. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancta Agatha. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancta Cecilia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancta Anastasia. . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancta Iuliana. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancta Margareta. . . . . . . . . . . . . . . . . Exaudi Christe. Illo Huius sedis episcopo salus et vita. Sancte Stephane. . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Silvestre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Laurenti. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Hemmeramme. . . . . . . . . . . . . Sancte Floriane. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christus siegt, Christus regiert, Christus herrscht. Dreimal. Höre, Christus! Dem obersten Priester und universalen Papst gewähre Leben! Dreimal. (R) Tu illum adiuva. Steh ihm bei. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva Höre Christus! Unserem durchlauchtigsten, von Gott gekrönten König Heil und Sieg! (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. Höre Christus! Unserer Königin Heil und Leben! (R) Tu illum adiuva.53 (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. Höre Christus! Dem Bischof dieses Sitzes Heil und Leben! (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva. (R) Tu illum adiuva.

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Therese Bruggisser-Lanker Exaudi Christe. Omnibus iudicibus vel cuncto exercitui christianorum vita et victoria. Sancte Hilari. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Martine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Leo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Fabiane. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Sebastiane. . . . . . . . . . . . . . . . . Sancte Vite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christus vincit. Christus regnat. Christus imperat. Murus noster inexpugnabilis. Christus vincit. Misericordia nostra. Christus vincit. Spes nostra. Christus vincit. Auxilium nostrum. Christus vincit. Fortitudo nostra. Christus vincit. Prudentia et temperantia nostra. Christus vincit. Arma nostra invictissima. Christus vincit. Victoria nostra. Christus vincit. Defensio et exaltatio nostra. Christus vincit.

Ipsi soli imperium gloria et potestas per immortalia saecula saeculorum. Amen. Ipsi soli honor laus et iubilatio per infinita saecula saeculorum. Amen. Ipsi soli virtus fortitudo et victoria per omnia saecula saeculorum. Amen.

Höre Christus! Allen Richtern und der gesamten Schar der Christenheit gewähre Leben und Sieg! (R) Tu illos adiuva. (R) Tu illos adiuva. (R) Tu illos adiuva. (R) Tu illos adiuva. (R) Tu illos adiuva. (R) Tu illos adiuva.

Du unsere unbezwingbare Mauer. Christus siegt. Unsere Barmherzigkeit. Christus siegt. Unsere Hoffnung. Christus siegt. Unsere Hilfe. Christus siegt. Unsere Stärke. Christus siegt. Unsere Klugheit und Mäßigkeit. Christus siegt. Unsere unbesiegbare Waffe. Christus siegt. Unser Sieg. Christus siegt. Unser Bollwerk und unsere Erhöhung. Christus siegt. [Doxologie:] Ihm allein gebühren Ruhm und Macht in Ewigkeit durch die unsterblichen Zeitalter der Zeitalter! Ihm allein gebühren Ehre, Lob und Preis in Ewigkeit durch die unendlichen Zeitalter der Zeitalter! Ihm allein gebühren Mut, Stärke und Sieg in Ewigkeit durch alle Zeitalter der Zeitalter! Amen.

Christe audi nos. Christe audi nos. Christe audi nos. Kyrieleison.

Besonders eindrücklich ist der dreifach entfaltete Ruf Christus vincit,

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Christus regnat, Christus imperat, der als gliederndes Element die ‚Laudes regiae‘ prägt. Seine Herkunft ist ungewiss, erstmals erscheint er zwischen 783 und 787 in den frühesten karolingischen ‚Laudes‘. Jedenfalls findet sich nach Kantorowicz etwa dreißig Jahre früher ein mögliches Pendant an einem Kreuz des Papstes Stephan II. (752–57), auf dessen Rückseite die folgende Inschrift angebracht war: Christus iubar regni Romanorum, Christus Dei filius vincit, Christus regnat in aeterna und Christus imperat in saecula.54 Den rhetorischen Charakter kann der Christus-vincit-Ruf jedoch ebenso wenig verleugnen wie seine ursprüngliche Heimat im militärischen Bereich; seine magische Aura bewährte sich außerdem als apotropäische Segnungsformel.55 Auch die Exaudi-Anrufung geht auf römische Vorbilder zurück: Statt Exaudi Christe hieß es einst Exaudi Caesar 56 , schon 499 taucht sie jedoch als Christus-Ruf in den Akten einer Synode von Rom auf.57 In melodischer Hinsicht wird ein ausgesprochen archaisches Muster verwendet, ausgehend vom Tonus currens, einer Art Rezitationston, der in den unteren Tetrachord ausgreift, während im darauf folgenden Exaudi Christe der obere Tetrachord mitein-

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Ernst H. Kantorowicz, Laudes Regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship with a Study of the Music of the Laudes and Musical Transcriptions by Manfred F. Bukofzer, Berkeley und Los Angeles 1946, S. 22. Ebd., S. 31, und Opfermann, Herrscherakklamationen (wie Anm. 49), S. 37 (hier auch weitere Textstellen zu den Begriffen des Trikolons vincere, regnare und imperare). Kantorowicz, Laudes Regiae (wie Anm. 54), S. 17. Man versuchte die Laudes, die im 20. Jh. eine Renaissance erlebten, auch für den Duce des faschistischen Italien zu reaktivieren. Am 11. Februar 1929 wurden die Lateranverträge zwischen Benito Mussolini und dem Hl. Stuhl geschlossen, welche dem Vatikanstaat die Souveränität sicherten und die Versöhnung mit dem Papsttum einleiteten. Der Katholizismus wurde in Italien Staatsreligion, Religion Pflichtfach, der „Duce“ von Papst Pius XI. als „Mann der Vorsehung“ begrüßt. Diese Laudes wurden im selben Jahr im Auftrag des Bildungsministeriums publiziert von Achille Scinelli, in: Canzoniere nazionale. Canti corali religiosi e patriottici, Roma 1929 (zit. nach Kantorowicz, S. 186): Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat! Pio summo pontifici et universali patri pax, vita et salus perpetua! Regi nostro Victorio Dei gratia feliciter regnanti pax, vita et salus perpetua! Duci Benito Mussolini italicae gentis gloriae, pax, vita et salus perpetua! Siehe das Zitat bei Knopp, „Anfänge der Allerheiligenlitanei“ (wie Anm. 51), S. 189.

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bezogen wird. Diese Quarte spielt also eine entscheidende Rolle in der Struktur des stereotyp wiederholten diatonischen Materials.58 Dies verweist auf ein Rezitationsmodell, das wie das ‚Exultet‘ oder das ‚Te Deum‘ noch vor der Ausbildung des von Byzanz übernommenen Systems der acht Psalmtöne (um 800) entstanden sein dürfte.59 Der enge Zusammenhang mit den alten Allerheiligenlitaneien, die als Formularien dienten, wird deutlich, wenn in Litaneiform nach jedem Exaudi-Christe-Ruf jeweils einzelne Reihen von Heiligen angerufen werden, was mit Tu illum adiuva beantwortet wird (statt Ora pro nobis wie in der Litanei).60 Die Namen können je nach Handschrift und nach den jeweiligen Heiligen-Vorlieben der Angesprochenen oder des Entstehungsortes wechseln, so erscheint hier in der Bamberger Handschrift Lit. 6 der hl. Emmeram, denn sie wurde wahrscheinlich noch zur Zeit Wolfgangs am Ende des 10. Jahrhunderts im Kloster St. Emmeram in Regensburg geschrieben. Doch haben sich traditionell einige stabile Heiligengruppierungen herausgebildet: Bei der Akklamation des Papstes werden immer die Apostel Petrus und Paulus genannt, für den Kaiser oder König hochrangige Heilige wie Maria, die Erzengel Michael, Gabriel und Raphael sowie Johannes der Täufer.61 Ein schönes Beispiel mit einer kleinen, aber signifikanten Abweichung haben wir in der Bamberger Handschrift Lit. 7 (D-BAs Lit. 7) vor uns, die manchmal als Gebetbuch Heinrichs II. bezeichnet wird und die, da sie zwischen 1014 und 1024 im Skriptorium des Klosters Seeon geschrieben wurde, explizit die Namen von Heinrich und Kunigunde

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Zur melodischen Fügung der verschiedenen Versionen vgl. Manfred F. Bukofzer, „The Music of the Laudes“, in: Kantorowicz, Laudes regiae (wie Anm. 54 ), S. 189– 221. 59 Schimmelpfennig, „Akklamation“ (wie Anm. 50), Sp. 350. Michel Huglo nimmt an, dass die Nomenklatur des Systems der acht Kirchentonarten bereits vor dem 8. Jh. in die gallikanische Kirche eingeführt wurde, während die modalen Formeln neueren Datums zu sein scheinen und mit der Adaptation der Antiphonen der Epiphanie auf Texte und Melodien byzantinischer Troparien zusammenhängt, die man um 802 in der Capella Palatina durchführte, s. ders., „Les formules d’intonations ‚noeane noeagis‘ en Orient et Occident“, in: Aspects de la musique liturgique au Moyen Age, hg. v. Christian Meyer, Paris 1991, S. 45–51. 60 Kantorowicz, Laudes regiae (wie Anm. 54), S. 212. 61 Vgl. Opfermann, Herrscherakklamationen (wie Anm. 49), S. 47.

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enthält: Heinrico a Deo coronato magno et pacifico imperatori vita et victoria – Chunigunde regine salus et vita. In diesem mit Elfenbeindiptychen eingebundenen Cantatorium ist die Himmelskönigin Maria der irdischen Königin zugeordnet – womöglich ein Zeichen ihrer besonderen Stellung und Wertschätzung. Leider sind in beiden Handschriften, die dem Domstift Bamberg von Heinrich geschenkt wurden, zu den ‚Laudes‘ keine Neumen notiert. Dies ist dafür aber der Fall in einem dritten Beispiel, einem bereits 1001 auf der Reichenau entstandenen Tropar-Sequentiar, wiederum aus der Staatsbibliothek Bamberg (D-BAs Lit. 5), in dem an der entsprechenden Stelle noch Kaiser Otto [III.] erwähnt wird.62 Rekonstruieren kann man die genaue Melodieführung jedoch erst mit einer diastematischen Version auf Linien, und auch solche gibt es in späterer Zeit, zum Beispiel in einem Antiphonar aus der Basilica di San Antonio von Piacenza aus dem 12. Jahrhundert (heute Biblioteca e Archivio Capitulari 65), oder in einem englischen Manuskript aus der Kathedrale von Worchester.63 Man kennt aus Deutschland, Italien, England, Frankreich oder der Schweiz mindestens achtzig Handschriften, die Formulare der ‚Laudes regiae‘ enthalten, denn überall dort, wo ein König am Gottesdienst – vorzugsweise an hohen Kirchenfesten – teilnahm, wurden sie jeweils aufgeführt.64 Auf seinen ständigen Reisen Zu den drei Codices vgl. Hartmut Hoffmann, Bamberger Handschriften des 10. und des 11. Jahrhunderts, Hannover 1995 (Monumenta Germanicae Historica. Schriften, 39), S. 144 f. Die Bamberger Handschrift Lit. 5 enthält, obwohl zum größten Teil auf der Reichenau geschrieben, bereits im 11. Jh. in Bamberg hinzugekommene Nachträge. Die These, dass sie ebenfalls eine Stiftung Heinrichs an den Bamberger Dom gewesen sein könnte, ist jedoch umstritten. Vgl. zu dieser Hs. ausführlich Michael Klaper, Die Musikgeschichte der Abtei Reichenau im 10. und 11. Jahrhundert. Ein Versuch, Wiesbaden 2003 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 52), S. 32–73. Zu den Handschriften Lit. 6 und 7 vgl. David Hiley, „Musik im mittelalterlichen Regensburg“, in: Regensburg im Mittelalter. Bd. 1: Beiträge zur Stadtgeschichte vom frühen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, hg. v. Martin Angerer und Heinrich Wanderwitz, Regensburg 1995, S. 311–322. 63 Vgl. das Faksimile: Antiphonaire monastique (XIII e siècle). Le Codex F 160 de la Bibliothèque de la Cathédrale de Worcester, hg. v. André Mocquereau, Tournai und Paris 1922–1925 (Paléographie musicale, 12), S. 201 f. 64 Incipiunt laudes diebus festis heißt die Rubrik in Bamberg Lit. 6; Lit. 7 verweist auf Ostern. Die Laudes regiae wurden auch ohne Beisein des Königs in Pontifikalgottesdiensten an Festtagen gesungen, ja sie sind noch in die Gradualien des 20. Jhs. eingegangen, so z. B. in einen von der Abtei Solesmes herausgegebenen Li62

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Abbildung 3: Sog. „Gebetbuch Heinrichs II.“, Staatsbibliothek Bamberg, Ms. Lit 7, fol. 76v -77r .

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durch sein Reich hatte er auch häufig Gelegenheit, „unter der Krone zu gehen“, etwa beim Herrscheradvent, der feierlichen Einholung beim Besuch einer Stadt oder eines Klosters, oder bei Synoden, wo seine herausgehobene, gottesnahe Stellung durch den erhöhten Thron markiert war, um den sich in fein abgestufter Rangfolge die kirchlichen Würdenträger und Laien formierten.65 Jedes feierliche kirchliche Zeremoniell geriet jeweils im Beisein des Königs zum eigentlichen repräsentativen Staatsakt, der zum Ausdruck brachte, dass das Reich vom liturgischen Ordnungsprinzip her strukturiert sein soll. Es weist auf die enge Bindung von Königtum und Kirche in einem Reiche hin, das eben durch diese Feste sein geschichtliches Selbstverständnis bezog, die Gesellschaftsordnung definierte und die personalen Bindungen vertiefte. Das Reich, an seiner Spitze der König, wurde in seiner Verankerung in der von Gott gegebenen Verfassung überhaupt erst sichtbar gemacht. Diese in der Transzendenz legitimierte hierarchische Weltordnung stand ganz im Zeichen des Kreuzes: Der Papst hatte Heinrich II. bei der Kaiserkrönung 1014 einen goldenen Globus – Abbild des Kosmos wie der Erde – überreicht, der von zwei gekreuzten Edelsteinbändern umspannt und von einem Kreuz überragt wurde, um ihn an diese Ordnung zu erinnern. Heinrich verstand, woran ihn Benedikt VIII. gemahnte, und schickte das insigne imperiale den Mönchen von Cluny, weil sie „den Pomp der Welt mit Füßen treten und dem Kreuze des Erlösers mit größerer Freiheit nachfolgen“. Die „frühere Krone“ (man ist sich nicht ganz sicher, welche es denn war) ließ er gleich in Rom als Opfergabe über dem Altar von St. Peter aufhängen, den kostbaren blauen Sternenmantel, den er 1020 geschenkt erhalten hatte, stiftete er der von ihm geförderten neuen Bischofskirche in Bamberg und legte damit sein Kaisertum symbolisch in die Hände Christi zurück.66 Er selbst überantwor-

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ber cantualis von 1978. Vgl. dazu auch Opfermann, Herrscherakklamationen (wie Anm. 49), S. 77 ff. und 99 f., mit einer großen Auswahl an verschiedenen Formularen. Vgl. das Beispiel der Synode von Frankfurt a. M. 1027, wo die genaue Sitzordnung bekannt ist, bei Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 168 f. Vgl. Weinfurter, Heinrich II. (wie Anm. 10), S. 184 und 238 f., sowie ders., „Kaiser Heinrich II.“ (wie Anm. 1), S. 26 f., und Joachim Wollasch, Cluny. Licht der Welt. Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft, Düsseldorf 2001, S. 125. Der Sternenmantel, auf den mit Goldfäden das gesamte Himmelsfirmament mit allen Sternzeichen eingestickt war, trug die Inschrift: „O Zierde Europas, Kaiser

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tete sich am Ende seines Lebens ebendieser Königskirche in Bamberg, nachdem er am 4. und 5. April 1024 ein letztes Mal beim Osterfest in Magdeburg seine Pracht hatte entfalten können.67 Begraben wurde er, wie er es angeordnet hatte, auf der Mittelachse des Hauptschiffes vor dem Altar des heiligen und siegreichen Kreuzes und beim ersten Märtyrer Stephan, der den Weg zum ewigen Leben weist. 1146 wurde dieser widersprüchliche autokratische Herrscher, der seine Herrschaft als erster ganz auf die im Krönungsordo festgehaltenen Maximen ausgerichtet hatte, heiliggesprochen. Damit wurde der kinderlos gebliebene Monarch mit seinem Mönchsideal eines kontemplativen Lebens, das – wie der Domdekan und Schulvorsteher der Domkirche von Hildesheim berichtet – von einem von Gott verliehenen „Schatz an göttlicher und menschlicher Weisheit“ erfüllt war, in der Erinnerung vieler Generationen endgültig zum „frommen König Heinrich“ verklärt.68 Im Bewusstsein des einfachen Volkes scheint bis ins späte Mittelalter ein tief verwurzelter Königsmythos verbreitet gewesen zu sein, der von der Faszination und Ausstrahlung der Glücksverheißung und der

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Heinrich, selig bist du, deine Herrschaft mehre dir der König, der herrscht in alle Ewigkeit“ (O decus Europae, caesar Heinrice, beare, augeat imperium tibi rex, qui regnat in aevum). Vgl. Gerald Beyreuther, „Die Osterfeier als Akt königlicher Repräsentanz und Herrschaftsausübung unter Heinrich II. (1002–1024)“, in: Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes, hg. v. Detlef Altenburg, Jörg Jarnut und Hans-Hugo Steinhoff, Sigmaringen 1991, S. 245–253. Besonders spektakulär war die Begegnung Heinrichs mit Papst Benedikt VIII., der ihn an Ostern 1020 in Bamberg besuchte und mit ihm unter großem zeremoniellem Aufwand das Osterfest beging, s. hierzu auch Weinfurter, Heinrich II. (wie Anm. 10), S. 243–245. Weinfurter, Heinrich II. (wie Anm. 10), S. 269 ff. und Anm. 7: Thangmar, „Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis“, hg. v. Georg Heinrich Pertz, in: MGH Scriptores in folio IV, Hannover 1841, S. 757–782 [768, cap. 22]: in quem Dominus cunctos thesauros divinae et humanae sapientiae contulit. Der Priester Thangmar war schon um 970, als der spätere Bischof Bernward in die Domschule kam, primicerius scholae puerorum. Sein Todesjahr ist unbekannt, doch soll er dem Kloster St. Michael 55 Bücher geschenkt haben. 1000/1001 reiste er zweimal nach Rom, von wo er, reich beschenkt von Kaiser Otto III., kurz vor dessen Tod (am 24.1.) am 11. Januar 1002 wieder nach Hildesheim zurückkehrte, vgl. Knut Görich, „Thangmar“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 18, Hamm 2001, Sp. 1359– 1365. Theoretisch könnte er Heinrich als Schüler in Hildesheim, möglicherweise auch danach im Zusammenhang mit der Krönung kennengelernt haben.

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Wunderkraft der Wohltaten zehrte, die man der besonderen Heiligkeit und Gottesnähe eines Königs zusprach.69 Vielleicht ist im Bild vom Märchenkönig ein letzter Nachhall vom Glanz jenes archaischen mittelalterlichen Königtums in die tiefen Schichten des Unbewussten noch des modernen Menschen eingegangen, verbunden mit jener geheimnisvollen Ahnung „und wenn er nicht gestorben ist . . . “. So lebte und lebt der gekrönte König oder Kaiser auch nach der Säkularisierung und „Entthronung der Metaphysik“ (Peter L. Berger) auch dank seiner Mythisierung fort, nicht zuletzt als Symbol nationalstaatlicher Einigung in Stein gemeißelt wie der scheinbar aus jahrhundertetiefem Schlaf wieder auferstehende Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser-Denkmal, das zu Ehren Kaiser Wilhelms I. 1896 eingeweiht wurde. Aber das ist eine andere Geschichte, die Historiker beschäftigen muss, ebenso wie die ideologische Instrumentalisierung sakraler Repräsentation durch diktatorische Regimes des 20. Jahrhunderts, die vor der totalen Pervertierung der christlichen Reichsidee nicht zurückschreckten.

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Dazu ausführlich Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 8), S. 215–225 [Kap. „Rückblick und Ausblick“]. Die Heiligsprechung als eine den sakralen Glanz erhöhende Auszeichnung dürfte eine gewisse Rolle gespielt haben, ebenso das Thaumaturgentum der französischen und englischen Könige, der Glaube an ihre Fähigkeit, Skrofulöse durch Handauflegen zu heilen. Das 12. Jh. wurde zu einem Säkulum der heiligen Könige: Neben Heinrich II. und Karl dem Großen (1165) wurden noch Knut der Heilige von Dänemark, Edward der Bekenner oder Erich der Heilige von Schweden heiliggesprochen.

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Macht- und Herrschaftsrituale bei Shakespeare Werner Senn (Bern) Obwohl William Shakespeares Werk als Inbegriff neuzeitlicher Theaterkunst gelten darf, ist es gerade in der diesem Band zugrunde liegenden Perspektive sinnvoll, dieses Werk in Beziehung zu setzen zum Mittelalter und seinen Nachwirkungen in der englischen Renaissance, insbesondere in Bezug auf die politische Geschichte des englischen Königtums. Das rege Interesse von Shakespeares Zeitgenossen an dieser Thematik wurde durch einige populäre Chroniken genährt und zudem gefördert durch das Bemühen der Tudor-Monarchen, ihren eigenen dynastischen Mythos als Friedensbringer der englischen Nation aufzubauen. Diesem Interesse ist der elisabethanische Dramatiker offensichtlich auch auf der Bühne erfolgreich entgegengekommen. Eine volkstümliche Theatertradition reichte in England ins frühe 13. Jahrhundert zurück und blieb in den Mysterien- und Mirakelspielen bis in Shakespeares Jugendzeit lebendig. Das Verhältnis von Shakespeares Dramen zu dieser einheimischen Tradition mit ihrer allegorischen Dramaturgie ist inzwischen gründlich erforscht.1 Dies gilt auch für seine Geschichts- oder Königsdramen, die stofflich vorwiegend auf den Chroniken beruhen. Zu Recht sieht die Forschung in diesen Theaterstücken eine Dramatisierung des Übergangs Englands vom Mittelalter zur Neuzeit, von einer Feudalordnung zu einem Nationalstaat.2 Während mit der von Heinrich VIII. verordneten Reformation und der Aufhebung der Klöster 1539 der Einfluss des mittelalterlichen Erbes zurückgedrängt und insbesondere die Bedeutung kirchlicher und religiöser Zeremonien stark eingeschränkt wurde, spiegeln Shakespeares 1

2

Vgl. David M. Bevington, From ‚Mankind‘ to Marlowe, Cambridge/Mass. 1962; Bernard Spivack, Shakespeare and the Allegory of Evil, New York 1958; Robert Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, Berlin 1967; Glynne Wickham, Shakespeare’s Dramatic Heritage, London 1969. Naomi Conn Liebler, Shakespeare’s Festive Tragedy: The Ritual Foundations of Genre, London und New York 1995, S. 79.

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Dramen eine Vielzahl höfischer, politischer und öffentlicher Zeremonien und Rituale wider, die seinem Publikum zweifellos bekannt waren. Eine Betrachtung seines Werks aus dieser Perspektive vermag daher interessante und für die Kultur- und Theatergeschichte aufschlussreiche Einblicke zu eröffnen. Dies trifft vor allem für jene Text zu, in denen Macht- und Herrschaftsrituale eine wichtige Rolle spielen, also die Geschichtsdramen, aber auch für die Mehrzahl der Tragödien. Diese Dramen führen anschaulich vor, wie traditionelle Rituale und Zeremonien in neuzeitlichen säkularen Kontexten gezielt verwendet werden, um bestimmte Positionen (von Personen und Institutionen), bestimmte Moralvorstellungen, Werthaltungen und Weltsichten zu legitimieren und zu sanktionieren.3 Es kann hier nicht um eine umfassende und systematische Darstellung von Shakespeares künstlerischem Verfahren gehen. Vielmehr soll seine Verwendung von Riten und Zeremonien im dramatischen Zusammenhang an ausgewählten Texten exemplarisch aufgezeigt und sollen deren Erscheinungsformen und Funktionen näher bestimmt werden. Der Begriff „Ritual“ wird in der Shakespeare-Forschung (und nicht nur dort) in unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht, die oft schwer abgrenzbar sind und vom Magischen bis zum rein Zeremoniellen reichen können.4 Shakespeare selbst verwendet die Begriffe rite und ceremony oft nahezu synonym, etwa wenn Brutus anordnet, Cäsar solle mit all true rites and lawful ceremonies bestattet werden (‚Julius Caesar‘ 3.1.243), wenn Prospero seinen zukünftigen Schwiegersohn Ferdinand zum Respekt vor Mirandas Jungfräulichkeit anhält, bis All sanctimonious ceremonies may / With full and holy rite be ministered (‚The Tempest‘ 4.1.16–17), oder when Lord Stanley in ‚Richard III‘ im gleichen Atemzug von ceremonious vows of love und rites of love spricht (5.5.51, 54).5 3 4

5

Ebd., S. 174. Linda Woodbridge und Edward Berry, „Introduction“, in: True Rites and Maimed Rites: Ritual and Anti-Ritual in Shakespeare and His Age, hg. v. dens., Urbana und Chicago 1992, S. 1–33 [28]. Zum Begriff ritual in der Shakespeare-Kritik vgl. auch Marjorie Garber, Coming of Age in Shakespeare, London und New York 1981, Kap. 1, S. 1–29. Zitiert nach William Shakespeare, The Complete Works, hg. v. Stanley Wells und Gary Taylor, Oxford 1988. Sämtliche Originalzitate in Text und Fußnoten stammen aus dieser Ausgabe.

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Die Zerstörung und Entleerung von Riten und Zeremonien Shakespeare stellt eine Vielzahl von festlichen, zeremoniellen und rituellen Anlässen und Ereignissen dar, seien es Hochzeiten (in den Komödien)6 oder Begräbnisse (in den Tragödien), seien es Gerichts-, Audienzoder Ratsszenen, Aufmärsche, Prozessionen, Zweikämpfe, Schlachtszenen oder Bankette, Prophezeiungen oder Verfluchungen, oder Übergangsriten wie Taufe, Heirat, Krönung oder Abdankung.7 Auffallend ist dabei, wie oft feierliche Zeremonien und rituelle Handlungen abgebrochen, verkürzt oder gar verstümmelt sind, maimed rites, wie Hamlet das formlose Begräbnis Ophelias nennt (5.1.214). Ophelias Bruder Laertes ist schockiert und fragt zweimal: what ceremony else? (5.1.217–19). ‚Hamlet‘ liefert weitere anschauliche Belege. Mit Wut hatte Laertes die heimliche Bestattung seines Vaters Polonius beklagt, der, von Hamlet versehentlich erstochen, ohne die ihm gebührenden höfischen Zeremonien begraben wurde: Kein Schwert noch Wappen über seinem Leichnam, Kein heiliger Brauch, noch weltliches Gepränge.8

Laertes’ Empörung findet ihre Entsprechung in Hamlets eigenem Entsetzen über das mangelnde Zeremoniell beim Begräbnis seines Vaters, des Königs von Dänemark, und über die abstoßende Vermischung von Trauer- und Hochzeitsritus in der geradezu obszönen Hast, mit welcher seine Mutter den jüngeren Bruder seines Vaters heiratet; umso eindrücklicher wirkt dem gegenüber die militärische Totenfeier, die Fortinbras am Schluss für den Prinzen Hamlet anordnet, ein eigentliches Staatsbegräbnis, d. h. eine öffentlich-politische Zeremonie. Ambivalent sind die beiden Totenfeiern in der Tragödie ‚Julius Caesar‘, und dasselbe gilt für das Staatsbegräbnis für Coriolan, das sein Erzfeind Aufidius aus politischem Kalkül für ihn ausrichten lässt.9 Auch das Motiv des 6 7 8

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Vgl. Edward Berry, Shakespeare’s Comic Rites, Cambridge 1984. Woodbridge und Berry, „Introduction“ (wie Anm. 4), S. 21 f. Romeo und Julia, Julius Caesar, Hamlet, übers. v. Erich Fried, München 1968, S. 269. No trophy, sword, nor hatchment o’er his bones, No noble rite nor formal ostentation. (‚Hamlet‘ 4.5.212–13) Michael Neill, „‚Exeunt with a Dead March‘: Funeral Pageantry on the Shakespearean Stage,“ in: Pageantry in the Elizabethan Theater, hg. v. David M. Bergeron, Athen/Georgia 1985, S. 153–193 [170].

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abgebrochenen feierlichen Banketts zieht sich durch das ganze Werk, vom frühen ‚Titus Andronicus‘ über Macbeths Krönungsmahl, das von Banquos Geist gestört wird, bis zu Prosperos Bankett für seine Gegenspieler, welches Ariel unvermittelt wegzaubert.

Die Instrumentalisierung von Ritualen im Theater Angesichts der Vielfalt der Erscheinungsformen mögen einige theoretische Überlegungen hilfreich sein. In ihrer aufschlussreichen Studie ‚Shakespeare’s Festive Tragedy: The ritual foundations of genre‘ (1995) hat Naomi Conn Liebler eingehend die Bedeutung von rituellen Mustern und Handlungen in Shakespeares Tragödien und Geschichtsdramen untersucht. Eine ihrer Grundthesen lautet, dass das Versagen des tragischen Helden immer auch ein Versagen der Gesellschaft ist, in die er eingebettet ist. Er verkörpert geradezu deren Krise, ist davon kontaminiert, er internalisiert und objektiviert sie; als Sündenbock zieht er alles Übel auf sich und sichert durch seinen Untergang oder Opfertod das Überleben der Gesellschaft. ‚Hamlet‘ mag hierfür als Beispiel gelten (there’s something rotten in the state of Denmark), aber auch ein Stück wie ‚Richard III‘ zeigt unmissverständlich, dass der Aufstieg des machtgierigen Herzogs nicht zuletzt dem Zustand der Gesellschaft zuzuschreiben ist, auf deren Normen er sich erfolgreich beruft, wenn er seine eigenen Interessen verfolgt.10 Das Opferritual kanalisiert gewissermaßen die unkontrollierte Gewalt in der Gesellschaft in einen Akt der Reinigung, durch den eine (nicht unbedingt die) Ordnung wieder hergestellt und ein gemeinsames Wertesystem wenigstens vorläufig geklärt und gefestigt werden.11 Deshalb kann auch Tragödie, nicht nur Komödie, mit Liebler als festive bezeichnet werden, insofern sie gemeinsame, kommunale Werte in säkularer Form zelebriert. In einer theoretischen Perspektive lassen sich denn auch zwischen Ritual und Bühnenschauspiel gewisse Gemeinsamkeiten feststellen: beide bringen durch Aufführung (representation) ideelle Inhalte zur Darstellung, die erst in ihrer Rezeption durch ein Publikum, eine Gemeinschaft, ihren Sinn und ihre Bedeutung gewinnen. Rituale dienen dann 10

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Vgl. Wolfgang Iser, Shakespeares Historien: Genesis und Geltung, Konstanz 1988, S. 73; William C. Carroll, „‚The form of law‘: Ritual and Succession in Richard III“, in: Woodbridge und Berry (Hg.), True Rites (wie Anm. 4), S. 203–219 [204 f.]. Liebler, Festive Tragedy (wie Anm. 2), S. 17 f.

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dazu, einer Gemeinschaft solche Werthaltungen in Erinnerung zu rufen, sie sind also eine Art Aufführung (performance), die der ständigen Wiederholung bedarf, und in dieser Hinsicht einer Theateraufführung vergleichbar.12 In ‚Julius Caesar‘ findet sich eine wundervolle dramatische Vignette, die genau dies auf den Punkt bringt. Während die Verschwörer unmittelbar nach dem Mord an Cäsar, den sie im Namen von peace, freedom, and liberty ausgeführt haben, ihre Hände rituell in Cäsars Blut waschen, um dann so vors Volk zu treten, meint einer von ihnen, Cassius: Noch nach wieviel Zeiten Ahmt einst man nach dies unser hehres Schauspiel In ungebornen Ländern, künftigen Sprachen!

Brutus fügt bei: Wie oft soll Caesar noch zum Schauspiel bluten, Der nun zu Füssen des Pompeius liegt, Nicht mehr geehrt als Staub.

Und Cassius ergänzt: So oft das sein wird, So oft nennt man auch uns dann als die Männer, Die ihrem Land die Freiheit wiedergaben.13

Theater ist nicht Ritual, aber es kann Rituale wiederholt darstellen, zur Ergötzung (in sport!) und zur Belehrung (oder Indoktrination) des 12

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Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe“, in: Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘: Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. v. Jürgen Martschukat und Steffen Patzold, Köln, Weimar und Wien 2003, S. 33–54. Fried, Julius Caesar (wie Anm. 8), S. 138. Cassius. How many ages hence Shall this our lofty scene be acted over, In states unborn and accents yet unknown! Brutus. How many times shall Caesar bleed in sport, That now on Pompey’s basis lies along, No worthier than the dust! Cassius. So oft as that shall be, So often shall the knot of us be called The men that gave their country liberty. (3.1.112–119)

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Publikums; es kann, wie diese Stelle exemplarisch vorführt, die soziale Konstruktion von Traditionen und Werten sichtbar machen, die eine Zivilisation tragen, oder die Interessen offen legen, denen Ritual dient. Bei den hier zur Diskussion stehenden Macht- und Herrschaftsritualen handelt es sich denn auch weniger um rituelle Handlungen mit sakralem Charakter oder mythischem Bezug als um höfische und politische, d. h. vorwiegend säkulare Zeremonien. Diese können freilich ebenfalls rituellen Charakter haben und normative Prägungen abbilden, Grenzen ziehen und Traditionsbildung fördern: ritual action is a community’s way of containing events within the boundaries of understandable and thus manageable meanings,14 wie Liebler festhält, wobei solche rituellen Praktiken der Eingrenzung, Einbindung und Sinngebung natürlich immer auch gesellschaftlich und damit hierarchisch bestimmt sind.

Rituelle Handlungen und Zeremonien und die Person des Herrschers Wenden wir uns nun einigen Beispielen von Shakespeares Verwendung und Darstellung ritueller Handlungen und Zeremonien zu. Ein äußerst ergiebiges Feld sind die Geschichtsdramen, die, in zwei Tetralogien geordnet, eine umfassende Dramatisierung der Geschichte des englischen Königtums darstellen. Sie beruhen stofflich weitgehend auf den populären Chroniken von Froissart, Hall und Holinshed, in denen der TudorMythos seinen deutlichsten Ausdruck fand. Die Geschichte des englischen Mittelalters erscheint demnach auf der Shakespeare-Bühne in doppelter Brechung. Zum einen sind die Chroniken selbst natürlich keineswegs objektive Geschichtsdarstellungen, zum andern benutzte und kombinierte Shakespeare sie sehr selektiv, verband sie mit anderen Quellen und fügte manches hinzu. Seine erste Tetralogie besteht aus den drei Teilen von ‚Henry VI‘ und aus ‚Richard III‘ und entstand ca. 1590–93. Der Sieg Henry Tudors über Richard III. in der Schlacht bei Bosworth, mit dem das vierte Stück endet, beendete 1485 auch den Konflikt zwischen den Häusern Lancaster und York und ist zugleich der Beginn der Tudor-Monarchie, für britische Historiker oft gleichbedeutend mit dem Beginn der Neuzeit in England: Henry Tudor wird Heinrich VII., der 14

Liebler, Festive Tragedy (wie Anm. 2), S. 87. Vgl. auch Victor Turner, Vom Ritual zum Theater, Frankfurt a. M. 1989.

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Vater Heinrichs VIII. und Großvater Elisabeths I. Die zweite, spätere Tetralogie besteht aus ‚Richard II‘, den zwei Teilen von ‚Henry IV‘ und ‚Henry V‘. Ihr Stoff ist der Hundertjährige Krieg, der 1327 mit der Invasion Frankreichs durch König Eduard III. begann und bei Shakespeare mit dem Sieg Heinrichs V. über die Franzosen in der Schlacht von Agincourt 1415 und seiner Heirat mit der französischen Prinzessin Catherine endet. Diese vier Stücke wurden ca. 1595–99 geschrieben und aufgeführt. Die erste Tetralogie zeigt gemäß Wolfgang Iser den Verfall des Königtums, die zweite „die innere Festigung des Herrschers“.15 Von allen in den Geschichtsdramen dargestellten Monarchen ist Richard III., der notorische Bösewicht, zweifellos der begabteste Schauspieler. Er beherrscht jede Rolle, versteht es aber auch wie kein anderer, die demotische Wirkung von Ritualen und Zeremonien zu instrumentalisieren, den Ordnungsglauben der Bürger für seine Zwecke zu missbrauchen. Ein besonders kühner dramatischer Einfall ist jene (in keiner Quelle belegte) Szene, in der er der Witwe des von ihm ermordeten Prinzen Edward, Lady Anne, den Hof macht (1.2). Ist dies an sich schon eine skrupellose Unverschämtheit, so unterstreicht die zeremonielle Gelegenheit, die er für sein Vorhaben benutzt, die machiavellische Natur dieses moralisch verwerflichen, theatralisch aber faszinierenden Machtpolitikers noch zusätzlich. Er scheut sich nicht, den feierlichen Trauerzug zum Begräbnis König Heinrichs VI., den Anne begleitet, aufzuhalten und ihr gewissermaßen auf offener Straße einen Heiratsantrag zu machen. Er pervertiert damit nicht nur traditionelle Brautwerbungsriten, sondern gleichzeitig auch die dem ermordeten König zustehende Trauerzeremonie. Es ist dies nur der Anfang von Richards konsequenter Aushöhlung aller rechtsstaatlichen Normen und Formen, von Riten, Sakramenten und der Staatsordnung selbst, obwohl er dauernd vorgibt, der form of law verpflichtet zu sein. Zu Recht stellt Alvin Kernan fest: Richard turns ritual into drama and pageant into politics and history, und William C. Carroll spricht von Richard’s relentless and, in every sense, fruitless assault on ritual and order.16

15 16

Iser, Shakespeares Historien (wie Anm. 10), S. 61. Alvin Kernan, „From Ritual to History: The English History Play“, in: The Revels History of Drama in English, Bd. 3: 1576–1613, hg. v. John Leeds Barroll u. a., London 1975, S. 267; Carroll, „Form of Law“ (wie Anm. 10), S. 204.

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Die Umkehrung ritueller Handlungen in ‚Richard II‘ In krassem Gegensatz zu Richard III. steht Richard II., dessen Glaube an sein traditionelles Recht auf die Krone ungebrochen ist. Während er seine Autorität als Statthalter Gottes für absolut hält, versäumt er es indessen, solche Macht angemessen, d. h. den tradierten Formen entsprechend öffentlich-politisch geltend zu machen. Für den Neuhistoriker Leonard Tennenhouse ist das zentrale Problem in ‚Richard II‘ geradezu des Königs failure to exercise force.17 Wenn der Gegensatz zwischen Privatem und Öffentlichem als Grundzug der ganzen Tetralogie betrachtet werden kann, wie Iser meint, so inszeniert Shakespeare diesen in ‚Richard II‘ als „Widerspiel von Amt und Person“ des Herrschers.18 Das ganze Stück ist denn auch durchsetzt mit verfehlten, verbrauchten oder in ihr Gegenteil verkehrten Ritualen.19 Bereits die Eingangsszene stellt ein solches dar: Die beiden verfeindeten Vasallen Mowbray und Bolingbroke tragen dem König ihren seit langem schwelenden Konflikt zur Beurteilung vor. Beide beschuldigen sich wechselseitig des Verrats. Der König ist befugt, aber auch verpflichtet, den Streit zu schlichten oder zu entscheiden. Er befiehlt den Kontrahenten, sich zu versöhnen. Mowbray, obwohl er noch „am stärksten aus dem Glauben an die unverbrüchliche Geltung der Feudalordnung lebt“,20 verweigert sich dem Befehl des Königs mit der Begründung, seine Ehre als höchstes Gut dulde keine Befleckung der Art, wie Bolingbroke sie ihm zugefügt habe. Für den König als obersten Lehnsherr in der Feudalstruktur muss Ehre genauso ein Wert sein wie für die Lehnspflichtigen, und für Mowbray bricht deshalb dieses Wertsystem (und damit sein Selbstwertgefühl) zusammen, wenn gerade der König, der es verkörpern sollte, es aufhebt. Nach Iser weist dieses „Auseinandertreten von kosmologischer und feudaler Ordnung“ auf ein zentrales Thema der zweiten Tetralogie hin.21 Aus persönlichen Interessen, wie später ersichtlich wird, kann der König weder dem einen noch dem andern Recht geben und greift da17 18 19 20 21

Leonard Tennenhouse, Power on Display: The Politics of Shakespeare’s Genres, London 1986, S. 77. Iser, Shakespeares Historien (wie Anm. 10), S. 86. Liebler, Festive Tragedy (wie Anm. 2), S. 65. Iser, Shakespeares Historien (wie Anm. 10), S. 89. Ebd., S. 90.

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her auf ein traditionelles Entscheidungs-Ritual zurück, den ritterlichen Zweikampf. „Durch das Turnier glaubt [Richard] sich von der Verantwortung der zu treffenden Entscheidung entbunden, gibt aber damit die Sache auch aus der Hand“.22 Das Turnier beginnt im Beisein des Hofes mit dem traditionell vorgesehenen Zeremoniell, doch noch vor dem Kampf greift der König ein, wirft in einer symbolträchtigen Geste seinen Regentenstab zu Boden und bricht damit das Ritual aus eigennützigen Gründen ab. Spontan entschließt er sich, Mowbray lebenslänglich und Bolingbroke auf Zeit zu verbannen und den Besitz des letzteren der Krone zuzuschlagen. Damit setzt er die Feudalordnung, die er selbst zuvor angerufen hatte, dort wieder außer Kraft, wo er Gefahr läuft, die Kontrolle zu verlieren. Dieses ganze höfische Ritual dramatisiert nicht nur Richards Unfähigkeit zu regieren – obwohl er sich hier noch mit Willkür durchsetzt – sondern auch die politische Veränderung, den Ordnungsschwund im System selbst, das zunehmend fragwürdig und damit der Machtpolitik Einzelner ausgesetzt erscheint. Der Bruch mit den verbindlichen Normen setzt denn auch eine ganze Reihe von Verstößen gegen die (noch) herrschende Ordnung in Gang, die für den Verlauf der gesamten Handlung der Tetralogie bestimmend sind. Seine Lehenspflichtigen sehen in Richard nicht mehr den gesalbten König von Gottes Gnaden, sondern nur noch den landlord of England, der das Königreich, diesen Garten Eden, this blessed plot, this other Eden, demi-paradise (2.1.50, 42) an Günstlinge verschachert habe. Der verbannte Bolingbroke kehrt mit einer Armee nach England zurück, zunächst in der bloßen Absicht, den König zur Widerrufung seiner Verbannung und zur Herausgabe seines rechtmäßigen Erbes zu bewegen, dann aber, die Gunst der Stunde nutzend (Richards missglücktes Unternehmen in Irland), um ihn abzusetzen. Bereits in der Mitte des Stücks lässt Shakespeare den König auf den Tiefpunkt seiner Herrschaft hinabsinken, wo die Aufspaltung in private und öffentliche Person radikal sichtbar wird. Seinen verbleibenden Getreuen gegenüber verbalisiert Richard ausdrücklich den Gegensatz von Herrscheramt und Person, bekennt sich zu seinem Menschsein und sperrt sich gegen jegliches höfische Zeremoniell, wie es ihm als Herrscher zustehen würde:

22

Ebd., S. 88.

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Bedeckt die Köpfe, höhnt nicht Fleisch und Blut Mit Ehrung und Respekt: werft fort die Achtung, Brauch, Sitte, pflichtschuldige Zeremonie! Denn ihr habt mich die ganze Zeit verkannt: Ich leb von Brot gleich euch, ich fühle Mangel, Koste das Leid, brauch Freunde. Untertan All dem, wie könnt ihr mich noch König nennen?23

Dieser Verzicht auf die dem König gebührenden Zeremonien bedeutet einen krassen Bruch mit der Tradition, und der Rückzug auf das bloß Menschlich-Existentielle kommt einer vorweggenommenen Abdankung gleich. Darin verdeutlicht sich die Krise des Wertsystems, die Shakespeare hier im Drama der Person fassbar macht. Bolingbrokes Abgesandtem gibt Richard eine versöhnliche Antwort, tadelt sich aber gleich selbst für diese unverzeihliche Großmut einem Verräter gegenüber und erwartet dennoch ängstlich Bolingbrokes Replik. In seinem Stolz gedemütigt, spielt er in einem sarkastischen Monolog erstmals mit dem Gedanken, auf die Krone zu verzichten, entthront sich sozusagen selbst, wiederum in einer verbalisierten Zeremonie: Was muss der König nun tun? Sich ergeben? Der König wird es tun. Muss er entthront sein? Der König wird’s zufrieden sein. Verlieren Den Namen König? Sei’s, in Gottes Namen! Für einen Rosenkranz meine Juwelen Geb ich; meinen Palast für eine Klause, [. . . ] Mein Zepter für des Pilgers Wanderstab; [. . . ] Mein grosses Reich für ein ganz kleines Grab.24 23

24

Richard II. und Heinrich V., übers. v. Erich Fried, Berlin 1969, S. 36. Cover your heads, and mock not flesh and blood With solemn reverence. Throw away respect, Tradition, form, and ceremonious duty, For you have but mistook me all this while. I live with bread, like you; feel want, Taste grief, need friends. Subjected thus, How can you say to me I am a king? (‚Richard II‘, 3.2.167–173) Fried, Richard II. (wie Anm. 23), S. 40. What must the King do now? Must he submit? The King shall do it. Must he be deposed? The King shall be contented. Must he lose

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Auch hier erscheint ein ins Gegenteil verkehrtes Krönungs- oder Investitur-Ritual, das auf die spätere Absetzung bzw. die erzwungene Abdankung vorausdeutet. Mit bitterer Ironie sieht sich der König bereits in der Rolle des Untertanen, der dem Usurpator die Reverenz erweist: „Meldet, was König Bolingbroke gesagt hat“ (3.2.172). Zur Stärkung seiner Position und zur Legitimierung seiner Usurpation verlangt Bolingbroke nun von Richard nicht bloß den erklärten Verzicht auf die Krone, sondern vor versammeltem Gefolge eine öffentliche, formelle Abdankung und ein Eingeständnis seiner Verfehlungen als Herrscher. Dies geschieht in der berühmten Abdankungs-Szene (Akt 4.1), welche bezeichnenderweise in den ersten drei Quarto-Ausgaben des Stückes zensuriert und erstmals im Q4 (1608, fünf Jahre nach Königin Elisabeths Tod) vollständig gedruckt wurde. Die Fakten bezog Shakespeare aus seiner Hauptquelle, der Chronik von Holinshed, aber das hochsymbolische Zeremoniell ist ganz seine eigene Erfindung. Daraus hier nur ein Ausschnitt: Vor Bolingbroke und dem gesamten Hof nimmt Richard sich die Krone vom Kopf und führt eine eigentliche Umkehr des Krönungsrituals vor, in einer theatralen und zugleich verbalen Handlung: Nun seht, ich will mich selbst zunichte machen: Die schwere Last hier leg ich ab vom Kopfe, Dies ungefüge Zepter aus der Hand, Den Stolz der Königsmacht aus meinem Herzen, Mit eignen Tränen wasch ich weg den Balsam, Mit eigner Hand geb ich weg meine Krone, Mit eignem Mund meine geheiligte Macht, Mit eignem Atem lös ich jeden Treueid.25

25

The name of King? A God’s name, let it go. I’ll give my jewels for a set of beads; My gorgeous palace for a hermitage; [. . . ] My sceptre for a palmer’s walking staff; [. . . ] And my large kingdom for a little grave. (3.3.142–152) Fried, Richard II. (wie Anm. 23), S. 48. Now mark me how I will undo myself. I give this heavy weight from off my head, And this unwieldy scepter from my hand, The pride of kingly sway from out my heart. With mine own tears I wash away my balm,

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In der gleichen Szene bezeichnet er sich, der nicht mehr König ist, dennoch als König, nämlich als König seiner Schmerzen, und stellt so wiederum das private Menschsein dem Herrscheramt entgegen. Wie Iser treffend bemerkt, „erborgt sich [Richard] die Attribute des Königseins, um in dem Augenblick seine Person zu überhöhen, in dem er als Herrscher machtlos geworden ist“.26 Die Souveränität, mit der Richard hier seinen Machtabstieg beinahe zelebriert, steht in scharfem Kontrast zu seiner früheren Unfähigkeit, als Monarch seine Macht auszuspielen. „Erst der Verlust der Macht zeigt ihn als wahren König“, meint Iser, erst „das erlebte Fiasko vermag die Potentiale der Person zu mobilisieren, [. . . ] erst die wirkliche Katastrophe bringt den eigentlichen Menschen zum Vorschein“.27 Damit verlagert Shakespeare den Akzent weg von einem vorgegebenen, normativ verstandenen Werte-Kanon, der in den wechselnden geschichtlichen Bedingungen keine Orientierungshilfe mehr bietet, auf die Bedeutung des Individuums hin. Diese Verlagerung wird dramatisch hervorgehoben durch die Darstellung von Ritualen und Zeremonien, die entleert, umgekehrt oder abgebrochen werden. Dafür ein letztes Beispiel: Beim erzwungenen Abschied von seiner Gemahlin, die allein nach Frankreich geschickt wird, ist Richard für einen Augenblick versucht, auch die Hochzeitszeremonie umzukehren, um ihnen beiden die Trennung zu erleichtern: Lass du mich den Schwur, der Dich an mich knüpft, lösen mit einem Kuss. Doch nein, mit einem Kuss ward er besiegelt. – Northumberland, trenn du uns.28

In seiner existentiellen Unsicherheit wird Richard II. zu einer Figur mit tragischen Zügen, von keinem unwandelbaren Wertsystem mehr gehalten, sondern willkürlich handelnd und dem geschichtlichen Prozess ausgeliefert. Damit erscheint er auch als Modellfall für alle späteren Protagonisten in der zweiten Tetralogie.29

26 27 28 29

With mine own hands I give away my crown, With mine own tongue deny my sacred state, With mine own breath release all duteous oaths. (4.1.193–200) Iser, Shakespeares Historien (wie Anm. 10), S. 97. Ebd., S. 98. Fried, Richard II. (wie Anm. 23), S. 52. Vgl. Kernan, „From Ritual to History“ (wie Anm. 16), S. 276.

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Zeremonie und königliche Ordnungsmacht Im Vergleich zu ‚Richard II‘ tritt in den drei folgenden Stücken die Bedeutung von Ritualen zurück. Bolingbrokes Krönung als Heinrich IV. wird nicht auf der Bühne gezeigt. In Wirklichkeit war sie, wie der Chronist Froissart berichtet, ein riesiges Spektakel, u. a. mit einem Umzug von sechstausend Reitern.30 Es finden sich dennoch zahlreiche Anklänge an rituelle Handlungen und Zeremonien. Solche Verweise, eher sprachlich evoziert als szenisch dargestellt, mögen das zeitgenössische Publikum an die ihm vertrauten königlichen Auftritte und Umzüge und die damit verbundenen öffentlichen Festlichkeiten und Schaustellungen erinnert haben, deren sich Elisabeth I. und später auch Jakob I. bewusst, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, bedienten.31 Anstelle der feierlichen, aber ausgehöhlten Zeremonien Richards II. gibt es bei Heinrich IV. konzise verbale Bilder militärischer Ordnung, so bereits in seiner Eingangsrede: „jene Kriegerscharen, die [. . . ] Noch jüngst erst mörderisch zusammenstießen, [. . . ] Soll’n jetzt gemeinsam zieh’n in Reih und Glied / Den einen Weg“.32 Der Usurpator kann und will sich nicht auf verblasste Rituale und zeremonielle Handlungen verlassen, sondern setzt alles daran, Widerstände tatkräftig zu überwinden und als Monarch Autorität zu gewinnen. Darüber hinaus stellt das Stück höfisches Zeremoniell und herrscherliche Gesten, wie sie Richard selbstgefällig pflegte, erstmals auch parodistisch in Frage durch die karnivaleske Figur des Sir John Falstaff. Krone und Zepter dienten Richard II. als Herrschafts- und Machtsymbole; für den neuen König dagegen sind sie Zeichen der Bürde des verantwortungsvollen Herrschers.33 Shakespeare zeichnet Heinrich IV. als einen von Schuldgefühlen gequälten, seiner Macht nie sicheren Herrscher, welcher dem Land nicht die erhoffte Stabilität zurückzugeben vermag und der Rebellion des Adels im Norden und Westen des Landes 30 31

32 33

Vgl. Barbara D. Palmer, „‚Ciphers to this great Accompt:‘ Civic Pageantry in the Second Tetralogy“, in: Pageantry, hg. v. Bergeron (wie Anm. 9), S. 114–129 [129]. Palmer, „Ciphers“ (wie Anm. 30), S. 118; vgl. Jonathan Goldberg, „Shakespearean Inscriptions: The Voicing of Power“, in: Shakespeare and the Question of Theory, hg. v. Patricia Parker und Geoffrey Hartman, New York und London 1985, S. 116– 137 [134]. “Heinrich IV. Teil I“, in: William Shakespeare. Die grossen Dramen. 10 Bde., übers. v. Rudolf Schaller, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 5, S. 7. Palmer, „Ciphers“ (wie Anm. 30), S. 122.

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nur mit Mühe und militärischer Gewalt Herr werden kann. Er erfährt darin die tragische Notwendigkeit historischer Prozesse, insbesondere die Folgen seiner Rebellion gegen Tradition und Ritual, gegen den gesalbten König selbst, die zu endloser Rebellion führen. Entschlossener Pragmatismus ist seine Devise: Are these things then necessities? / Then let us meet them like necessities.34 So wird ‚Henry IV‘ gewissermaßen zur Dramatisierung der Frage, ob Ordnung oder Chaos im britischen Königreich herrschen soll und ob ein nicht von Gottes Gnaden eingesetzter Monarch seine Macht zum Wohl der staatlichen Gemeinschaft durchzusetzen vermag. In diesem Zusammenhang zeigt die zweite Tetralogie wiederholt die mit Absicht eingesetzte Verwendung von zeremoniellen Handlungen als Machtinstrumente.35 So markiert Shakespeare den entscheidenden Wendepunkt im Machtkampf Heinrichs IV. mit den rebellischen Adligen durch einen erfundenen, stilisierten Zweikampf zwischen dem anscheinend nichtsnutzigen Kronprinzen Hal und Percy Hotspur, welcher die überholten Normen der Feudalwelt in extremer Weise verkörpert. Durch den Zweikampf auf dem Schlachtfeld werden aber diese Normen vollends demontiert: „nicht dass sein Körper vom Schwert getroffen wird“ empfindet Hotspur als die eigentliche tödliche Verwundung, „sondern dass Prinz Hal ihm Stellung und Titel nimmt. [. . . ] Folglich ist Hotspurs Tod nicht sein leibliches Sterben, sondern der Zusammenbruch seiner Welt“.36 Prinz Hal dagegen hat sich mit diesem symbolhaften Sieg endgültig vom zwielichtigen Zechkumpanen Falstaffs zur verlässlichen Stütze seines Vaters gewandelt und dessen Befürchtungen zerstreut, er könnte seine Bemühungen um Ordnung im Königreich zunichte machen und mock at form.37 Freilich wird auch dieser vielversprechende Thronfolger nicht aus den tragischen Verstrickungen des von seinem Vater in Gang gesetzten geschichtlichen Prozesses herausfinden, wie Shakespeare in einer weiteren symbolischen Szene meisterhaft andeutet. Als der todkranke König 34 35

36 37

Henry IV, Part II, 3.1.87–88. Vgl. Kernan, „From Ritual to History“ (wie Anm. 16), S. 285. Vgl. Palmer, „Ciphers“ (wie Anm. 30), S. 116: Rather than static spectacle, pageantry or ceremony is a gauge of the king’s power, a metaphor for the way in which and the success with which he governs. Iser, Shakespeares Historien (wie Anm. 10), S. 143–144. Henry IV, Part II, 4.3.247.

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neben seiner Krone einschläft, tritt Hal ein, hält seinen Vater für bereits gestorben, setzt sich die Krone auf und spaziert aus dem Zimmer.38 Er wiederholt damit, in aller Unschuld zwar, das alte Verbrechen, den König vor seinem Ableben der Krone zu berauben. Wie schon die Krönung seines Vaters, so wird später auch Hals eigene nicht auf der Bühne gezeigt, jedoch sein feierlicher Einzug nach der Krönung in ‚Henry IV, Part II‘ höchst bühnenwirksam inszeniert.39 Bezeichnenderweise ist es auch dieser öffentliche zeremonielle Anlass, den der König dazu benutzt, seinen anarchischen, sensualistischen Gefährten Falstaff mit herrscherlicher Geste zurückzuweisen (I know thee not, old man, 5.5.47) und damit seine Rolle als verantwortungsbewusster Herrscher eindrücklich ins Licht zu rücken. ‚Henry V‘ schließlich präsentiert den neuen König als mirror of all Christian kings (Akt II, Chorus, 6). Bühnenwirklichkeit und Lebensrealität müssen bei solch dominierender Herrschergestalt zwangsläufig weiter auseinander treten. Die Chorus-Figur, die jeden der fünf Akte einleitet, weist das Publikum auf die Diskrepanz zwischen der bloß theatralen Darstellung und dem wirklichen königlichen Zeremoniell, dem full course of their glory (‚Henry V‘, Epilogue, 5) hin. Wir sollen unsere Fantasie walten lassen, meint der Chorus, um uns z. B. Heinrichs triumphalen Einzug in London vorzustellen – Dinge also, die „hier nicht in ihres Lebens wahrer Größe / Gezeigt sein können“ (Akt V, Chorus, 5–6). Das äußerliche Gepränge würde ohnehin von der Substanz ablenken, von dem, was wahres Königtum bedeutet, und was Heinrich V. in idealer Weise zu verkörpern scheint. So wird die rein physische Beschränktheit der elisabethanischen Bühne, die dem Prunk einer öffentlichen Zeremonie niemals gerecht werden könnte, durch die Wortkunst des Dichters in einen Vorteil verwandelt, so etwa in Heinrichs berühmter Rede vor der Schlacht von Agincourt. Noch einmal, aber in ganz anderer Art als in ‚Richard II‘, kommt hier das Widerspiel von HerrscherAmt und Person zur Sprache, wenn Heinrich V. sich über das Wesen und den Wert des Königtums und des königlichen Zeremoniells Gedanken macht: Wie manche Herzensfreude muss dem König Entgehen, die der Untertan genießt. 38 39

Henry IV, Part II, 4.3.174–78. Vgl. Palmer, „Ciphers“ (wie Anm. 30), S. 123.

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Was hat er denn dem Untertan voraus Als nur den Prunk? [save general ceremony?].40

Mit großer Rhetorik wird königliches Zeremoniell evoziert und zugleich als performance, als Inszenierung durchschaut: Ich weiss, Es ist nicht Balsam, Reichsapfel und Zepter, Nicht Schwert und Stab, und nicht des Herrschers Krone, Nicht das Gewand, mit Gold gewirkt und Perlen, Der Titel, der gebläht dem König vorläuft, Der Thron, auf dem er sitzt, auch nicht die Flut von Pomp, Die schlägt ans steile Ufer dieser Welt, Nein, all dies, du dreifach gedunsener Prunk, All dies, ins königliche Bett gelegt, Schläft nicht so ruhig wie der arme Knecht.41

Mit klarem Blick erkennt der König den Sinn öffentlicher Zeremonie in ihrer politischen Funktion, als Mittel zur Machtausübung: „Prunk . . . was bist du mehr als Vorzug, Rang und Form, / Die Scheu und Bangen einflößt andern Menschen“ [O ceremony . . . / Art thou aught else but place, degree, and form, / Creating awe and fear in other men? 4.1.241–44]. Macht ist für diesen Herrscher ein Mittel politischer Notwendigkeit und dient in erster Linie zur Aufrechterhaltung eines geordneten Staatswesens, also dem Gemeinwohl. Darin unterscheidet er sich grundsätzlich von seinem Vorgänger Richard II. Der Unterschied spiegelt aber auch Shakespeares Verständnis der veränderten politischen Bedingungen, von Alvin Kernan treffend auf den Punkt gebracht: 40 41

Fried, Heinrich V. (wie Anm. 23), S. 106. Ebd., S. 106 f. I know ’Tis not the balm, the sceptre, and the ball, The sword, the mace, the crown imperial, The intertissued robe of gold and pearl, The farcèd title running fore the king, The throne he sits on, nor the tide of pomp That beats upon the high shore of the world – No, not all these, thrice-gorgeous ceremony, Not all these, laid in bed majestical, Can sleep so soundly as the wretched slave. (4.1.256–65)

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The world of Henry V with its state rituals and ceremony looks much like a restoration of the English Eden, ordered, prosperous and united under a hero king. But under the surface all is changed. In Richard’s feudal kingdom, society was ideally organized and life lived in accordance with the great unchanging patterns of order, mutual support and hierarchy [. . . ]. In Henry’s national state, [. . . ] action is taken not because it is morally, unchangeably right, but because it will bring about the desired result.42

Zeremonie wie sie in ‚Henry V‘ evoziert wird, ist nicht Spektakel um ihrer selbst willen, sondern steht auch hier im Dienste von Shakespeares Dramatisierung der Königsidee, als politisches Instrument.43 Diese Konstante – bei aller politischen Veränderung – bestätigt sich nochmals bei einem abschließenden Blick zurück auf die erste Tetralogie. Während ‚Henry V‘ (und damit die zweite Tetralogie) mit dem optimistischen Ausblick auf die Hochzeit des Königs mit seiner französischen Braut endet, beginnt die einige Jahre früher geschriebene erste (‚Henry VI, Teil I‘) mit einem prunkvoll inszenierten Begräbnis für eben diesen Heinrich V., welches dessen ritterliches Herrschertum und die von ihm erreichte politische Stabilität zelebrieren soll. Doch diese Feierlichkeiten werden jäh unterbrochen von einem Boten, der Niederlagen des englischen Heeres in Frankreich ankündigt.44 Dieser dramatisch wirkungsvolle Abbruch einer Zeremonie deutet so schon zu Beginn der ersten Tetralogie, die mit ‚Richard III‘ endet, auf deren zentrales Thema, den Zerfall des englischen Königtums unter Heinrich VI. voraus.45 Weisen die Geschichtsdramen, wie eben gezeigt, bisweilen tragische Züge auf, so teilen gerade jene Tragödien Shakespeares, die auf historischen Stoffen beruhen, ebenfalls ein markantes Interesse an rituellen und zeremoniellen Vorgängen bzw. deren Fragwürdigkeit. Beispielhaft dafür stehen ‚Julius Caesar‘ und ‚King Lear‘, zwei recht unterschiedliche Tragödien, in denen ebenfalls tiefgreifende Veränderungen in der politischen Struktur der communitas den Mittelpunkt des Bühnengeschehens bilden. 42 43 44 45

Kernan, „From Ritual to History“ (wie Anm. 16), S. 298. Vgl. Palmer, „Ciphers“ (wie Anm. 30), S. 127. Henry VI, Part I, 1.1.57–61. Vgl. Neill, „Exeunt“ (wie Anm. 9), S. 170. Vgl. David Bevington, Action is Eloquence: Shakespeare’s Language of Gesture, Cambridge/Mass. 1984, S. 146 f.

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Ritual, Zeremonie und Tragödie Der Stoff zu ‚King Lear‘ entstammt, wie jener zu den Königsdramen, Holinsheds Chronik; für die römischen Tragödien ‚Julius Caesar‘, ‚Coriolanus‘ und ‚Antony and Cleopatra‘ benutzte Shakespeare vor allem Plutarchs Lebensbeschreibungen vornehmer Griechen und Römer in der Übersetzung von Sir Thomas North (gedruckt 1579, 1595, 1603 und später). Die Handlung setzt mitten in den Festlichkeiten der Luperkalien ein, gemäß Plutarch die ältesten und heiligsten Reinigungs- und Fruchtbarkeitsriten des römischen Kalenders.46 Deren symbolische und mythische Bedeutung jedoch ist Shakespeares Römern bereits fremd geworden, ist für sie ein ambivalentes oder gar sinnentleertes, säkulares Ritual. Die Plebejer bekränzen die öffentlichen Standbilder Cäsars im Glauben, es würde sein jüngster militärischer Sieg gefeiert. Der Bezug zum Mythos, wie er von Andreas Kotte als wesentliche Dimension von Ritual hervorgehoben wird,47 ist ihnen abhanden gekommen. Sowohl Cäsar und Antonius wie ihre Gegenspieler, die Volkstribune und die späteren Verschwörer, besonders Brutus, versuchen die Feier für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren.48 Cäsars kaiserlichen Ambitionen möchte Brutus die alten republikanischen Ideale entgegenhalten und appelliert an die traditionellen Werte. Nicht zufällig wird er von einem Mitverschwörer als „Seele Roms“ bezeichnet und als „Exorzist“, der seelische Krankheit auszutreiben vermag (2.1.320–22). Die Handlung des Stücks fällt demnach in eine Zeit des Umbruchs, zwischen Luperkalien und Iden des März, eine Zeit der Unsicherheit und machtpolitischen Spannungen, wie sie Victor Turner mit dem Begriff der Liminalität charakterisiert hat.49 Gerade dies macht die Bedeutung von Ritualen und Zeremonien offensichtlich. Brutus’ Taktik zielt darauf, den Mord an Cäsar als ein religiöses Opferritual im Namen von peace, liberty, and freedom erscheinen zu lassen (3.1.110). Für Cassius ist der Mensch Cäsar „nun ein Gott geworden“, ein Götzenbild, das es zu stürzen gilt: 46 47 48 49

Liebler, Festive Tragedy (wie Anm. 2), S. 90. Vgl. Andreas Kotte, „Ritualia, Magica und szenische Handlungen,“ in diesem Band S. 21–39. Vgl. Liebler, Festive Tragedy (wie Anm. 2), S. 92. Vgl. Victor Turner, Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. u. a. 1989 (ND 2000).

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Breitbeinig steht er auf der Enge Der Welt, wie der Koloss zu Rhodos! Wir Gehen winzig durch zwischen den Riesenbeinen, Und jeder sucht schon sein ehrloses Grab.50

In der Tat deuten auch die erschreckenden kosmischen Vorzeichen, die Träume, Wunder, Krankheiten und Verwirrungen, die schon vor der Verschwörung auftreten, darauf hin, dass das Machtgefüge selbst in Unordnung geraten ist, das Gemeinwesen seine grundlegenden Werte verloren hat und sich in einer Krise befindet, einem Schwellenzustand. Das Volk ist wankelmütig, wie Mark Antons rhetorisch brillante Grabrede vor Augen führen wird. Alles ist zweideutig, wie Cicero beinahe exemplarisch festhält: „Menschen deuten Dinge oft von sich aus, / Ganz unberührt vom Sinn der Dinge selbst“ (1.3.34–35). Calpurnias Traum erfährt widersprüchliche Interpretationen, Portia missversteht die Kriegsberichte, die aufgebrachte Menge lyncht den falschen Cinna, Cassius missdeutet Siegesrufe und begeht Selbstmord, was seinen Gefolgsmann Titinius zum Ausruf veranlasst: „du hast das alles falsch gedeutet“ (5.3.83). The time is out of joint könnte man mit Hamlet sagen (‚Hamlet‘ 1.5.189). Die Krönung, die Cäsar gemäß Mark Anton dreimal abgelehnt hat, hätte das Ende der römischen Republik bedeutet; seine Ermordung jedoch vermag die Republik auch nicht zu retten. Das Ritual des Blutopfers, welches Brutus anstrebt, bewirkt keine echte Reinigung und Erneuerung der polis, hat seine Symbolkraft längst eingebüßt.51 Die true rites and lawful ceremonies (3.1.243), mit denen Cäsar auf Brutus’ Geheiß begraben werden soll, erweisen sich als hohle Geste, ein Konstrukt der Verschwörer, die sich als „Reiniger und nicht Mörder“ sehen möchten [sacrificers, but not butchers; purgers, not murderers, 2.1.166, 180]. Brutus’ selbsttäuschende Rhetorik ist jedoch entlarvend, die Diskrepanz zwischen Person und Herrscheramt zu radikal, um das Opferritual wirksam werden zu lassen: 50

51

Fried, Julius Caesar (wie Anm. 8), S. 109. [. . . ] he doth bestride the narrow world Like a Colossus, and we petty men Walk under his huge legs, and peep about To find ourselves dishonourable graves. (1.2.136–139) Liebler, Festive Tragedy (wie Anm. 2), S. 99 f.

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Wir stehen alle gegen Caesars Geist auf, Und in dem Geist des Menschen ist kein Blut. O könnten wir doch Caesars Geist beikommen Und seine Glieder heil lassen. Doch, ach: Caesar muss für ihn bluten! – Edle Freunde: Kühn lasst uns Caesar töten, doch nicht wütend, – Sein Blut vergießen als Gericht für Götter, Nicht ihn zerfleischen als ein Aas für Hunde!52

Brutus instrumentalisiert hier das luperkalische Blutopfer für einen machtpolitischen Akt, und es ist Mark Anton ein Leichtes, aus diesem Widerspruch für sich selbst Kapital zu schlagen. Obwohl Gegner der Verschwörung, benutzt auch er das Konzept des Opferrituals. Während Brutus die Leiche Cäsars ritualisiert und den Mord als gemeinschaftsstiftend hinstellt, vermarktet und kommodifiziert Antonius die Leiche als heiliges Objekt.53 Wüssten die römischen Bürger von Cäsars Testament zu ihren Gunsten, sagt er in seiner öffentlichen Grabrede, Sie würden Caesars Todeswunden küssen Und Tücher tauchen in sein heiliges Blut (3.2.133–34).

Jeder Römer könnte so ein kleines Stück des großen Cäsar nach Hause tragen, zusammen mit den 75 Drachmen, die er jedem von ihnen hinterlassen habe. Diese Kommerzialisierung des angeblichen Opfertods bringt die schon zu Beginn des Stückes angedeutete Entleerung und Sinnkrise eines Rituals, das der Reinigung und Erneuerung dienen sollte, krass zum Ausdruck. Bekanntlich führte der Mord nicht zu peace, freedom, and liberty (3.1.111), sondern zum Bürgerkrieg und zum Selbstmord der beiden Hauptakteure Cassius und Brutus. Das ganze Stück, 52

53

Fried, Julius Caesar (wie Anm. 8), S. 123 f. We all stand up against the spirit of Caesar, And in the spirit of men there is no blood. O, that we then could come by Caesar’s spirit, And not dismember Caesar! But, alas, Caesar must bleed for it. And, gentle friends, Let’s kill him boldly, but not wrathfully. Let’s carve him as a dish fit for the gods, Not hew him as a carcass fit for hounds. (2.1.166–174) Liebler, Festive Tragedy (wie Anm. 2), S. 102.

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meint Liebler, sei geprägt von Ritualen und Zeremonien, some observed, some ignored, some twisted to suit particular interests.54 Welchen Macht-Interessen Zeremonien und Rituale dienlich gemacht werden können, ist eine Frage, der Shakespeare nicht nur in ‚Julius Caesar‘ intensiv nachgegangen ist, wie ein abschließender Blick auf ‚King Lear‘ zeigen soll. Stephen Greenblatt diagnostizierte in dieser Tragödie ein quälendes Gefühl von Ritualen, die entleert und wirkungslos geworden sind, was besonders am Anfang und am Schluss der Tragödie auffällt.55 Nach einem kurzen Auftakt, in welchem Gloucester dem Earl of Kent scherzend seinen unehelichen Sohn Edmund vorstellt und so die traditionelle Institution der Ehe beiläufig abwertet, erscheint in der zweiten Szene König Lear mit Fanfaren und Gefolge in einem wahrhaft königlichen Aufzug, um in einem feierlichen Staatsakt im Beisein ausländischer Fürsten abzudanken und sein Königreich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen. Dass er mit solcher Willkür seine Herrscherpflicht und das Gemeinwohl missachtet, ist nur Teil einer sehr viel weiteren und tieferen Krise, die mit dem Zeremoniell überspielt werden soll. Lears Aufforderung an seine Töchter, ihre Liebe zu ihm öffentlich kundzutun und sich so einen Teil des Erbes zu sichern, vermischt in fataler Weise Herrscheramt und Vaterschaft, widerspricht allen politischen Ordnungsprinzipien, den traditionellen Prinzipien des Königtums und der Erbfolge, verletzt das Wohl der sozialen Gemeinschaft und schließlich auch familiäre Bande. Denn als Cordelia, die jüngste, sich weigert, ihre Liebe öffentlich zu beteuern, verstößt er sie und sagt sich mit größter Formalität los „von aller Vaterpflicht, / Verwandtschaft und Gemeinsamkeit des Bluts“.56 Kents Fürsprache zu Cordelias Gunsten weckt Lears Zorn und bringt auch ihm, dem treusten Gefolgsmann, die Verbannung. So zerstört der König in einer Szene, die durchwegs von seinem Verlass auf Zeremonie und Ritual zeugt, paradoxerweise gerade jene Bindungen, die er als Herrscher, Lehnsherr und Vater pflegen und fördern müsste. 54 55

56

Ebd., S. 105. ‚King Lear‘ is haunted by a sense of rituals and beliefs that are no longer efficacious, that have been ‚emptied out‘, s. Stephen Greenblatt, „Shakespeare and the Exorcists“, in: Shakespeare and the Question of Theory, hg. v. Patricia Parker und Geoffrey Hartman, New York und London 1985, S. 163–187 [177]. Schaller, König Lear (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 11.

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Das Chaos ist absehbar und lässt in der Tat nicht lange auf sich warten. Bürgerkrieg überzieht das Reich, und der König selbst, in Wahnsinn versinkend, verkörpert dessen Zerfall. Sein Umherirren auf der sturmgepeitschten Heide könnte man mit Victor Turner als Übergangsritus in einem Raum der Liminalität sehen, als Schwellenzustand, aus dem Reinigung und Heilung des Gemeinwesens hervorgehen können. Doch das Ende der Tragödie impliziert keine Neuordnung oder gar Erneuerung. Statt dessen bietet es in der letzten Szene noch einmal ein hoch formalisiertes Ritual, das wie so oft bei Shakespeare eben gerade eine tief sitzende Skepsis bezüglich sozialer Ordnungsstrukturen und letztlich die Furcht vor dem Chaos erahnen lässt.57 Edgar, der rechtmäßige Sohn Gloucesters, fordert seinen unehelichen Halbbruder, den Schurken und Intriganten Edmund, zum Zweikampf, um seine Legitimität zu beweisen. Edmund pflegt nicht nur ein Verhältnis mit den beiden verheirateten Schwestern Cordelias, er hat auch seinen Vater durch Täuschung dazu gebracht, Edgar zu verstoßen und zu enterben und hat dessen Namen und Titel usurpiert. Wie in ‚Richard II‘ beginnt das Zeremoniell höfisch-ritterlich, mit Fanfaren und Herolden. Doch gerade die übertriebene Förmlichkeit lässt Edgars Unterfangen zweifelhaft erscheinen – wie die ganze vorangehende Handlung gezeigt hat, können Recht und Legitimität nicht (mehr) unter Berufung auf irgend eine überweltliche Instanz (in diesem Fall ein Gottesurteil) hergestellt werden.58 Schon im Auftakt des Dramas war offenkundig, dass Ritual und Gesetz nur zum Schein Teil einer geordneten Welt sind. Freilich siegt erwartungsgemäß der legitime Sohn Edgar über den Bastard Edmund, Gerechtigkeit scheint also doch von oben sanktioniert – „die Götter sind gerecht“, meint Edgar selbstzufrieden (5.3.170) – doch ging über diesem Duell etwas Wichtigeres vergessen: der sterbende Edmund enthüllt, dass auf seinen Befehl König Lear und die mit ihm versöhnte Cordelia gefangen genommen und zum Tod verurteilt wurden. Die Bestätigung einer höheren Gerechtigkeit, wel57

Vgl. Gillian Murray Kendall, „Ritual and Identity: The Edgar-Edmund Combat in King Lear“, in: Woodbridge und Berry (Hg.), True Rites (wie Anm. 4), S. 240– 255 [246]. Vgl. auch Malcolm Vale, „Aristocratic Violence. Trial by Battle in the Later Middle Ages“, in: Violence in Medieval Society, hg. v. Richard W. Kaeuper, Woodbridge 2000, S. 159–181. 58 Kendall, „Ritual“ (wie Anm. 57), S. 244. Vgl. Richard Barber und Juliet Barker, Die Geschichte des Turniers, Düsseldorf und Zürich 2001.

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che der rituelle Zweikampf anscheinend erbracht hat, erweist sich als hohl angesichts des tragischen Todes der beiden Hauptfiguren. In bedeutungsvollem Unterschied zu seinen Quellen lässt Shakespeare Lear und Cordelia nicht triumphieren, sondern bringt ihren Tod als Inbegriff sinnlosen Leidens auf die Bühne, eines Leidens, das in keiner Form begriffen, in keinem denkbaren Ritual aufgehoben und mit Sinn erfüllt werden kann. Der moralistische Edgar spricht die blassen Schlussverse, und die beiden Toten werden zum Klang eines Trauermarsches, aber ohne jede Zeremonie weggetragen.59

Ausblick Es wurde hier bewusst darauf verzichtet, eine Systematik von Shakespeares Gebrauch ritueller und zeremonieller Handlungen zu entwerfen. Statt dessen ging es darum, einen Eindruck zu vermitteln von ihrer Vielfalt, dramatischen Vitalität und politischen Bedeutung. Zusammenfassend darf man wohl festhalten, dass sie in Shakespeares Dramen eine wichtige Rolle spielen. Dabei steht nicht die Wiederbelebung alter Bräuche und Traditionen im Vordergrund, sondern vielmehr ein stetes Hinterfragen der Absichten, mit welchen Herrscher, oder Mächtige überhaupt, sich dieser traditionellen kulturellen Formen und Praktiken bedienen. Dass sie untrennbar mit Macht und Herrschaft verbunden sind, wird in den Historien und Tragödien offensichtlich, doch die Fragestellung ließe sich auch auf andere Gattungen und Stücke ausdehnen. Wenn es den Anschein hat, dass sich für Shakespeare die Moderne erst durch die Dekonstruktion überkommener symbolischer Formen konstituiert, so ist andererseits freilich auch die Frage gestattet, ob damit im Gegenteil möglicherweise ein gewisses Maß an Nostalgie verbunden sei, ein Wunsch nach der Verbindlichkeit von fest gefügten Normen, wie sie in Ritualen und Zeremonien zelebriert und instruiert wurde. Angesichts der Ironie und Ambivalenz, mit welcher Shakespeare rituelle und zeremonielle Handlungen durchwegs darstellt, ist eine eindeutige Antwort auf diese Frage kaum zu erwarten. Am ehesten dürfte die Vermutung zutreffen, dass Shakespeare wie keiner seiner Zeitgenossen in seinem Werk die Widersprüche in der Konstitution der politischen Strukturen selbst zu spiegeln versteht: die Konflikte zwischen den 59

Neill, „Exeunt“ (wie Anm. 9), S. 173.

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Machtansprüchen der Monarchin oder des Monarchen gegenüber einer in sich zerstrittenen Aristokratie und dem aufstrebenden und zunehmend (auch wirtschaftlich) einflussreichen Bürgertum, zwischen dem Zerfall der mittelalterlichen Feudalstrukturen und einer neuen Tudorund Stuart-Bürokratie.

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Urloup nemen: Abschiede im Mittelalter Hubert Herkommer (Bern) Urloup nemen: Diese weitverbreitete mittelhochdeutsche Redewendung steht als Motto über meiner Abschiedsvorlesung.1 Mit dieser Thematik beschließe ich zugleich die den „Riten, Gesten und Zeremonien“ gewidmete Ringvorlesung des Berner Mittelalter-Zentrums, das in diesem Herbst sein zehnjähriges Bestehen feiern darf.

Zur Bedeutung von urloup Mittelhochdeutsch urloup heißt nicht „Urlaub“, wie viele vielleicht vermuten, die sich sagen, der Abschiedsredner habe sich ausschließlich aus biologischen Gründen einen beneidenswerten Dauerurlaub eingehandelt, gehe am 28. Februar, in diesem Jahr der Fastnachtsdienstag, also das Ende der Narrenzeit, offiziell aus der Universität heraus, um am Aschermittwoch des 1. März seine ewigen Ferien beginnen zu lassen, mit dem Psalmvers der Tagesliturgie auf den Lippen: liberavit me – „Er befreite mich“ (Ps 56 [57], 4). Und das verkünde er jetzt, ein bisschen mediävistisch verbrämt, ganz ungeniert, nur weil er die magische Grenze der 65 Lebensjahre erreicht habe. Urloup klingt zwar wie das neuhochdeutsche Wort „Urlaub“, bedeutet aber trotzdem nicht dasselbe, so wie auch die mittelhochdeutschen Vokabeln bescheidenheit oder schimpf nicht das heißen, was wir mit unseren neuhochdeutschen Ohren hören: bescheidenheit steht für eine bescheidwissende, unterscheidungsfähige, weisheitserfüllte Intellektualität und schimpf für unterhaltsamen Scherz, für Spiel und Zeitvertreib.2 Kreisen wir also den Sinn des Wortes urloup mit einigen Belegen näher ein. 1 2

Gehalten am 9. Februar 2006 an der Universität Bern. An zwei Beispielen lässt sich dieser Sachverhalt besonders gut illustrieren. Der Lehrdichter Freidank hat seiner Sammlung moralisch-religiöser Sinnsprüche den hochrangigen Titel ‚Bescheidenheit‘ gegeben: Ich bin genant Bescheidenheit, / diu aller tugende krône treit. Die lateinische Hexameterversion bezeichnet mit discrecio diese Krone aller Tugenden: Incepto nomen operi discrecio donat, / Virtutes alias

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Der König des althochdeutschen Ludwigsliedes – es ist Ludwig III., ein Ururenkel Karls des Großen, der 881 bei Saucourt an der Mündung der Somme die Wikinger besiegte – pflanzte mit godes urlub, also im Einverständnis mit Gott, das Kriegsbanner auf: Tho nam her godes urlub, huob her gundfanon uf.3 In den frühmittelalterlichen Glossaren ist urloup der althochdeutsche Ausdruck für lateinisch licentia, also für die Freiheit, die man von anderen erhält, zu deutsch: die Erlaubnis. Dementsprechend werden mit urloup/urloub auch permissus(-um) und venia übersetzt.4 Da licentia aber nicht nur die Freiheit ist, die man von anderen erhält, sondern auch die Freiheit, die man sich selber nimmt, taucht in solchen Kontexten ebenfalls der altdeutsche urloub auf. So kann Martin Luther 1520 in seiner Schrift ‚An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung‘ im Blick auf die von ihm als „rechte Räuberei“ gebrandmarkte Einziehung freigewordener Pfründe durch den Papst sagen: Den Fursten unnd Adel sollen drob sein, das das gestolen gut werd widder geben, die diebe gestrafft, und die yhrs urlaubs miszprauchen, urlaubs beraubt werden.5

3

4

5

que summa laude coronat. Zitate nach: Fridankes Bescheidenheit, hg. v. Heinrich Ernst Bezzenberger, Halle 1872 (ND Aalen 1962), 1,1 f., S. 67, und Fridangi discrecio. Freidanks bescheidenheit lateinisch und deutsch, aus der Stettiner Handschrift veröff. v. Hugo Lemcke, Stettin 1868 (Beilage zum Programm Gymnasium Stettin, 1868), V. 5 f. Vgl. die entsprechenden Parallelbelege bei Bezzenberger, S. 281. Der Franziskanerprediger Johannes Pauli gibt seinem unterhaltsamen, lustig-ernsten Schwankbuch von 1522 den Titel ‚Schimpf und Ernst‘. Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, hg. v. Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters, 1/Bibliothek deutscher Klassiker, 62), S. 146–149 (Text mit Übersetzung) und 1135–1140 (Kommentar) [V. 27, S. 148]. Vgl. die Belege bei Jochen Splett, Abrogans-Studien. Kommentar zum ältesten deutschen Wörterbuch, Wiesbaden 1976, S. 530; Althochdeutscher und altsächsischer Glossenwortschatz, hg. v. Rudolf Schützeichel, Bd. 10, Tübingen 2004, S. 301; Lorenz Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis, Frankfurt a. M. 1857 (ND Darmstadt 1968, 1997), S. 327 (Licentia) und 610 (Venia). Zur klösterlichen Glossierungsarbeit vgl. Wolfgang Haubrichs, Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60), Frankfurt a. M. 1988 (Geschichte der dt. Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, 1/1), S. 228–240. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Weimar 1888, S. 381–469 [420, Z. 2–4].

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Vor diesem Hintergrund versteht man das bei Sebastian Franck, Luthers jüngerem Zeitgenossen, aufgeschriebene Sprichwort: freiheit gibt urlaub zur boszhayt.6 Ganz allgemein heißt also „Urlaub“, fernab jeder Ferienstimmung, die „Erlaubnis, die einem gewährt wird“, aber auch die „Erlaubnis, die man sich selbst herausnimmt“. Letztere Erlaubnis kleidet man gerne, wenn man jemand attackiert, entschuldigend in eine kleine Formel, die wegen ihrer mittelniederdeutschen Herkunft nicht „mit Urlaub“, sondern „mit Verlaub“ heißt.7 Natürlich würde der so Angegangene es keineswegs erlauben, dass man ihn eines besseren belehrt; aber der Angreifer hat sich ja, „mit Verlaub“, die Erlaubnis bereits geholt. Bis weit in die Neuzeit hinein bleibt die Bedeutung von „Urlaub“ gleich „Erlaubnis“ vorherrschend. Von dort her entwickelt sich schließlich die Bedeutung für unseren „Urlaub“, der ja nichts anderes ist als die im Arbeitsrecht verankerte „Erlaubnis“, für einige Zeit in die Ferien zu gehen. Dazu gehört auch der Landurlaub der Matrosen – d. h. die den Seeleuten zugestandene Erlaubnis, für eine bestimmte Zeit das im Hafen liegende Schiff zu verlassen – oder der Forschungsurlaub von Professoren, der in der Regel nicht auf Teneriffa, sondern in Labors und Bibliotheken stattfinden soll, mit der zeitlich befristeten Erlaubnis, die Lehrveranstaltungen auszusetzen und den Fakultätssitzungen fernzubleiben. Besonders gut gefällt mir beim militärischen Sprachgebrauch dieses „Erlaubnis-Urlaubs“ der Befehl des Preußenkönigs Friedrich des Großen über die Ordnung auf Märschen: den burschen soll bei spieszruthenstrafe verboten sein, aus den zügen zu gehen, ohne urlaub von den officiers zu nehmen,8

will heißen: ohne die Offiziere ausdrücklich um Erlaubnis zu bitten, 6

7

8

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 11, III. Abt., Leipzig 1936, Sp. 2467. Vgl. Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, hg. v. Karl Friedrich Wilhelm Wander, Bd. 1, Leipzig 1867 (ND Augsburg 1987), Sp. 1156; Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begr. v. Samuel Singer, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bd. 3, Berlin und New York 1996, S. 459. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 12, I. Abt., Leipzig 1956, Sp. 737, hier Belege für „die noch bis heute übliche, formelhafte redensart ‚mit verlaub‘, besonders als einführung einer möglicherweise anstöszigen sache und rede sowie besonders gern beim entschuldigen eines unpassenden, anstöszigen wortes“. Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 6), Sp. 2471.

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austreten zu dürfen. Es ging auch nicht an, seinen Aufenthaltsort oder Aufenthaltsraum zu verlassen, ohne den Höhergestellten oder auch den Gastgeber dazu um Urlaub, d. h. um Erlaubnis zu bitten. Das ist genau die Stelle, wo das Weggehen ritualisiert erscheint und mittelhochdeutsch urloup seine Bedeutung „Abschied“ erhält. Wer nicht förmlich urloup nemen will, sondern seinen Abschied klammheimlich vollzieht, begeht einen gesellschaftlichen Faux-pas. Die Verletzung dieser Anstandspflicht hieß früher einmal „hinter der thür, von der klinke oder im Taubenhaus urlaub nehmen“. Wir sagen dazu „französisch Abschied nehmen“, die Franzosen sagen filer à l’anglaise, die Engländer to take a French leave, und bei den Ostpreußen hieß das einmal „polnischen Abschied nehmen“.9 Wenn ich also, meine sehr verehrten Damen 9

Vgl. die entsprechenden Belege in Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 6), Sp. 2473 f., unter der folgenden Rubrik: „da die förmlichkeit des abschiednehmens im volksund gesellschaftsleben alter zeit eine grosze rolle spielte, sind ausdrücke entstanden, in denen die unerläszlichkeit regelrechter verabschiedung betont und die verletzung dieser anstandspflicht gerügt wird.“ Weiteres bei Lutz Röhrich, Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 3 Bde., Freiburg, Basel und Wien 1991–1992, Bd. 1, S. 470, und Bd. 2, S. 1190. – Einen mehrfachen „französischen Abschied“ notiert ein Erfurter Chronist bei der Mainzer Hochzeit Kaiser Heinrichs V. mit der englischen Königstochter Mathilde am 7. Januar 1114. Viele der offensichtlich lustlos daran teilnehmenden Fürsten verließen einfach das Fest, ohne zuvor das Einverständnis des Kaisers eingeholt zu haben: cui copule multi de principibus regni sine leticia interfuerunt, quorum plurimi eciam sine licencia illius discesserunt. Da der Kaiser ihnen ohne weiteres eine Abfuhr hätte erteilen können, haben sie lieber gar nicht erst um ihren Abschied nachgesucht, s. „Cronica S. Petri Erfordensis moderna“, in: Monumenta Erphesfurtensia saec. XII. XIII. XIV., hg. v. Oswald Holder-Egger, Hannover und Leipzig 1899 (MGH SSrG 42), S. 117–369 [161, Z. 8–10]. Zur Gewährung und Verweigerung einer solchen Erlaubnis vgl. Ludwig Weiland, „Die Reichsheerfahrt von Heinrich V. bis Heinrich VI. nach ihrer staatsrechtlichen Seite“, in: Forschungen zur Deutschen Geschichte 7 (1867), S. 113–188 [159]; Paul Guba, Der Deutsche Reichstag in den Jahren 911–1125: Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1884 (Historische Studien, 12), S. 74; Carl Wacker, Der Reichstag unter den Hohenstaufen: Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1882 (Historische Studien, 6), S. 57; Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, bearb. v. Gerhard Seeliger, Berlin 2 1896, S. 441. – In der höfischen Literatur ist es der Ritter Iwein, der nach seiner Verfluchung durch Lunete jede Contenance verliert und unbemerkt aus der festlichen Zeltstadt der Artusgesellschaft verschwindet: er stal sich swîgende dan (daz ersach dâ nieman) unz daz er kam vür diu gezelt ûz ir gesihte an daz velt.

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und Herren, heute urloup neme, so verabschiede ich mich in aller Form von Ihnen.

Abschiede à la bernoise Mein Thema der „Abschiede im Mittelalter“ hätte ich, getreu dem didaktischen Prinzip, die Menschen immer dort abzuholen, wo sie sich gerade aufhalten, gerne von einem neuzeitlich-bernischen Material aus entwickelt. Doch die Suche nach Abschiedlichem in der Berner Stadtund Universitätsbibliothek verlief nicht so erfolgreich wie erhofft. Dort stieß ich zwar auf die ‚Abschiedspredigt des schwäbischen Pfäffle zu Spoichlingen gehalten am Sylvesterabend 1853‘, also eines Landsmannes von mir, was mir gut gefiel, zumal diese Abschiedspredigt, nach 1853 in Bern gedruckt, als Nr. 11 der mir bis anhin unbekannten Reihe „Schweizerkäs und Schwabenspätzle“ erschienen war.10 Wer den Namen der Reihe für einen verfrühten Aprilscherz hält, kann sie finden in der berühmten Bibliothek Samuel Singers, meines akademischen UrZitiert nach Hartmann von Aue, Iwein. Text der 7. Ausgabe v. Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff. Übersetzung und Anmerkungen v. Thomas Cramer, Berlin und New York 3 1981, V. 3227–3230. Ganz anders reagiert Parzival auf seine Verfluchung durch Kundrie. Er lässt sich nicht nur trösten, sondern hält sich auch an das Abschiedsprotokoll: So sagte der Waliser zu Artus, dem Britannen, zu den Rittern und den Damen: mit ihrer freundlichen Erlaubnis breche er zur Reise auf (er wolt ir u r l o u p schouwen unt mit ir hulden vernemn). Keinem wollte es gefallen, daß er losritt, derart traurig – ich glaub, es tat dort allen leid (331,3–10).

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Zitiert nach Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert v. Eberhard Nellmann. Übertragen v. Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters, 8/1.2/Bibliothek deutscher Klassiker, 110), Bd. 1, S. 548 f. Abschiedspredigt des schwäbischen Pfäffle zu Spoichlingen gehalten am Sylvesterabend 1853, Bern o. J. [nach 1853] (Schweizerkäs und Schwabenspätzle, 11), nachgewiesen in Universitätsbibliothek Bern, Signatur: Singer XIII. 506 (25).

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urgroßvaters auf dem Berner Lehrstuhl.11 Doch leider beginnt diese schwäbische Abschiedshomilie gleich mit einer wüsten Publikumsbeschimpfung: Heut, moine hochgeöhrten – – Zuhörer! brauch ich e koine Bibel, da brauch ich den Kalender, um euch den Tag z’bestimme, wo euch älle der Teifel holt! [. . . ] Die Mißgunst, die klebt euch aun [i. e. allen] an als wie der Dreck dem G’moindstier.12

Dies und alles weitere aus der deftigen Strafrede war absolut unbrauchbar für den heutigen Anlass. Mehr erwartete ich von dem 68seitigen Heft der ‚Abschiedslieder der nach dem Staat Missouri in Nordamerika ausgewanderten Familie Schneider, von Dießbach bei Büren. Bern, 1837. Gedruckt bei C. A. Jenni‘.13 In dieser Anthologie der Familie Schneider befinden sich unter der Nummer 13 „Abschiedsworte und gefühlvolle Ausdrücke des F. D. Fête von Courtebert, gehalten am Tage seiner Hinrichtung, den 2. Christmonat 1835“.14 Doch auch sie kamen schwerlich als Aufhänger in Frage. Da müsste man schon ein Stadtneurotiker wie Woody Allen sein, um eine gedankliche Brücke zu den Ergüssen des Berner Delinquenten zu schlagen und seinen eigenen Rücktritt mit einer Hinrichtung zu assoziieren (aber wer hätte da nicht – zuletzt im Zusammenhang mit einem Zürcher Nobelpreisträger – das Wort von der Altersguillotine vernommen). Ich werde jedenfalls nicht „BALdis“ beitreten, dem in Köln gegründeten „Büro gegen Altersdiskriminierung e. V.“ Denn mit F. D. Fête von Courtebert kann ich sagen: Ich habe jetzt mit Reu’ und Leid Auf meinen Tod mich vorbereit’t; Und leid’ nun gern den Tod Allhier auf dem Schaffot.15 11

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14 15

Vgl. Hochschulgeschichte Berns 1528–1984: Zur 150-Jahr-Feier der Universität Bern, hg. im Auftrag des Regierungsrates des Kantons Bern v. der Kommission für bernische Hochschulgeschichte, Bern 1984, S. 706–708; Die Dozenten der bernischen Hochschule: Ergänzungsband zu: Hochschulgeschichte Berns 1528–1984, Bern 1984, S. 139 f. Auf Samuel Singer (1904–1930) folgten Helmut de Boor (1930–1945), Walter Henzen (1946–1965) und Maria Bindschedler (1965–1976). Abschiedspredigt (wie Anm. 10), S. 3 und 5. Abschiedslieder der nach dem Staat Missouri in Nordamerika ausgewanderten Familie Schneider, von Dießbach bei Büren, Bern 1837, nachgewiesen in Universitätsbibliothek Bern, Signatur: Laut. 649 (28). Abschiedslieder (wie Anm. 13), S. 26–28. Abschiedslieder (wie Anm. 13), S. 27.

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Endlich glaubte ich richtig fündig geworden zu sein. Da tauchte nämlich im alten Berner Bibliothekskatalog dieses auf: ‚Abschieds-Lied einer Schweizerin, als ihr Mann ins Feld zog. 1798‘.16 Sogleich witterte ich die Chance, am Ende meiner Laufbahn noch einen, wenn auch späten Beitrag zur feministischen Literaturwissenschaft zu liefern. Doch unglücklicherweise predigte das hier einer Frau in den Mund gelegte Abschiedslied einen patriotischen Stoizismus übelster Art: Ich – weibisch seyn? – beweinen dich? – Zurücke wünschen? – Nein! – Geh’ hin! – jezt lebst du nicht für mich, Für’s Vaterland allein. [. . . ] Gedenk an Weib und Kind jezt nicht, Ich liebe keinen Mann, Der an sein Weib denkt, wenn er ficht, Und dann nicht siegen kann. [. . . ] Ich hab’ ein Herz, bin Patriot, Und bin doch nur ein Weib: Dies Herz ist dein, doch – will es Gott, – Bleib in Bataille! – bleib.

Der beigefügten Regieanweisung gemäß war das Lied zu singen nach der Melodie „Nein, vor dem aufgesteckten Hut etc.“ Dabei handelt es sich um das 23strophige ‚Tellenlied‘ aus dem aargauischen Muhen – bestimmt kennen Sie es alle – das, wie dort gefordert wird, „schnell, dezidiert“ zu singen ist und so anfängt: „Nein, vor dem aufgesteckten Hut, du Mörderangesicht, bückt sich kein Mann von Heldenmut, bückt Wilhelm Tell sich nicht.“17 Ernüchtert von diesen neuzeitlichen Abschiedsprodukten konzentriere ich mich lieber ganz auf mein Mittelalter. Diese in aufklärerischer 16 17

Abschieds-Lied einer Schweizerin, als ihr Mann ins Feld zog, o. O. 1798, nachgewiesen in Universitätsbibliothek Bern, Signatur: Laut. 279 (6). Volkslieder aus dem Kanton Aargau. Gesammelt v. Sigmund Grosimund, Basel 1911 (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, 8), Nr. 222, S. 185–187, 256. Der Text des Liedes stammt von Johann Caspar Lavater. Vgl. Schweizerlieder: Von einem Mitgliede der Helvetischen Gesellschaft zu Schinznach, Bern 2 1767, S. 25–28.

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Attitüde gern als finster apostrophierte große abendländische Epoche hätte jedenfalls, wenn Abschied angesagt war, sich keine solchen Töne einfallen lassen, wie sie 1798 das ‚Abschiedslied einer Schweizerin‘ anstimmte. Schon gar nicht, wenn eine zärtliche Frau ihren edlen Geliebten ziehen lassen musste. Und wann waren im Mittelalter Abschied und Trennung angesagt? Pausenlos, in der Literatur ebenso wie in der Wirklichkeit. Zuvorderst bei den Trennungen der Liebenden unter dem Druck gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und auch dann, wenn der Aufruf zum Kreuzzug Paare trennte, beim Ausritt und Anmarsch gen Jerusalem.

Minnesang und Tagelied In Sachen Liebe, mittelhochdeutsch minne, existieren im Mittelalter mit seinem Reichtum an literarischen Gattungen – Lyrik, Epik, Novellistik, Traktat und Predigt – und mit seinen diversen Publikumshorizonten, gebildet aus weltabsagenden Mönchen, weltzugewandten höfischen Rittern oder standes- und moralbewussten Patriziern, eine ganze Reihe sich zuweilen heftig widersprechender Konzeptionen zur Frage, wie denn das Verhältnis zwischen Mann und Frau gedeihlich zu gestalten wäre.18 Da erscheint auf der einen Seite die Frau, schon in der Bibel 18

Zu diesem Fragenkreis vgl. folgende Literaturauswahl: Andreae Capellani regii Francorum De amore libri tres, hg. v. E. Trojel, Kopenhagen 1892 (ND München 1964, 1972); Andreas Capellanus, Über die Liebe. Eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen v. Fidel Rädle, Stuttgart 2006 (Bibliothek der mittellateinischen Literatur, 1); Andreas aulae regiae capellanus, De amore libri tres. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen v. Fritz Peter Knapp, Berlin 2006. – Eduard Wechssler, Das Kulturproblem des Minnesangs: Studien zur Vorgeschichte der Renaissance. Bd. 1: Minnesang und Christentum, Halle a. d. S. 1909 (ND Osnabrück 1966); Denis de Rougemont, Die Liebe und das Abendland. Mit einem Postscriptum des Autors, übers. v. Friedrich Scholz und Irène Kuhn, Zürich 1987 [L’Amour et l’Occident, Paris 1939]; Alfred Karnein, „Europäische Minnedidaktik“, in: Europäisches Hochmittelalter, hg. v. Henning Krauß, Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, 7), S. 121–144; Rüdiger Schnell, Causa amoris: Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern und München 1985 (Bibliotheca Germanica, 27); Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 11 2005, S. 503–582 („Höfische Liebe“); Christoph Cormeau, „Minne“, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Bd. 22, Berlin u. a. 1992, S. 759–762; Georges Duby, „Das höfische Modell“, in: ders. und Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen. Bd. 2: Mittel-

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reichlich dokumentiert, die wie bei Samson und Dalila oder bei David und Bathseba aus Männern Minnesklaven macht.19 Am anderen Pol der mittelalterlichen Einschätzung der Frau aber ist ihre reine, verehrungswürdige „Idee“, das „Ewig-Weibliche“ angesiedelt. Der Dichter Heinrich Frauenlob bringt seine Würdigung mit einer eigenen Etymologie auf den Punkt: Die Frau heißt mittelhochdeutsch wîp, ein süzer nam, weil seine drei Buchstaben die Aura und die Verheißung der Frau bezeichnen: w wie wunne, i wie irdisch und p wie paradis.20 Eine solche Würdigung freilich rechnet mit einer idealen Wirklichkeit. In ihr regiert ein Frauenkult, der die Adelsresidenzen ganz Europas beflügelt, gespeist von jenem elitären Pathos der Liebe, das in immer neuen Variationen die provenzalischen Troubadours und die nordfranzösi-

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20

alter, hg. v. Christiane Klapisch-Zuber, edit. Betreuung der dt. Ausgabe Claudia Opitz, Frankfurt a. M. 1993, S. 265–282; Walter Haug, Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, erweiterte Neufassung, Berlin 2004 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie, 10). Vgl. hierzu Friedrich Maurer, „Der Topos von den ‚Minnesklaven‘. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 182–206; András Vizkelety, „Minnesklaven“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. v. Engelbert Kirschbaum, Bd. 3, Freiburg i. Br. 1971, Sp. 269 f.; Jutta Eißengarthen, Mittelalterliche Textilien aus Kloster Adelhausen im Augustinermuseum Freiburg, Freiburg i. Br. 1985, S. 23–30 (Malterer-Teppich). Frauenlob VIII,17,6 f.: ‚wip‘, süzer nam: wunne, irdisch paradis; III,22,1–4: Wip schribet sich mit drin buchstaben: w wunne wil zu diute haben, i irdisch in im hat begraben, p paradis gesprochen; V,102,10 f.: ob ich recht erkenne, den namen W unne Irdisch Paradis ich von schulden nenne. Zitiert nach Frauenlob (Heinrich von Meißen), Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. v. Karl Stackmann und Karl Bertau, 2 Bde., Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philolog.-hist. Klasse, 3. Folge, 119), Bd. 1 (Einleitungen, Texte), S. 502, 362 und 449.

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schen Trouvères inszenieren.21 Deren zehrender Sehnsuchtsschmelz gegenüber der ebenso unnahbaren wie begehrten Frauenschönheit stand auch Pate, als an den deutschen Höfen der Stauferzeit der klassische Minnesang aus der Taufe gehoben wurde.22 Der Reiz dieser globalisierten europäischen Sangeskunst liegt im stoisch – in unserem heutigen Unverständnis würden wir sagen masochistisch – durchlebten Verzicht auf die körperliche Erfüllung der Liebe. Die bis zum Exzess durchexerzierte Sublimation setzt, wenn auch unter Schmerzen, jene spirituellen Kräfte frei, die von den Sängern intendiert sind, wenn sie mit entsagungsvoller Inbrunst die weibliche Schönheit verehren, hinter der oft das Bild der Madonna aufleuchtet.23 Hohe Minne nennen sie das.24 Ein Walther von der Vogelweide definiert sie wie folgt: hôhiu minne reizet unde machet, daz der muot nâch hôher wirde ûf swinget (L 47,8 f.).25 21

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Vgl. hierzu im einzelnen Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I: Lieder der Trobadors. Provenzalisch/Deutsch, ausgew., übers. und komm. v. Dietmar Rieger, Stuttgart 1980; Mittelalterliche Lyrik Frankreichs II: Lieder der Trouvères. Französisch/Deutsch, ausgew., übers. und komm. v. Dietmar Rieger, Stuttgart 1983; Ulrich Mölk, „Die provenzalische Lyrik“, in: Europäisches Hochmittelalter (wie Anm. 18), S. 19– 36; ders., „Die französische Lyrik“, in: ebd., S. 37–48; Hans-Herbert Räkel und Elisabeth Aubrey, „Troubadours, Trouvères“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hg. v. Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 9, Kassel u. a. 1998, Sp. 921–971. Vgl. etwa Wolfgang Haubrichs, „Deutsche Lyrik“, in: Europäisches Hochmittelalter (wie Anm. 18), S. 61–120; Hans-Herbert S. Räkel, Der deutsche Minnesang: Eine Einführung mit Texten und Materialien, München 1986; Günther Schweikle, Minnesang, Stuttgart 2 1995; Eva Willms, Liebesleid und Sangeslust: Untersuchungen zur deutschen Liebeslyrik des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts, München und Zürich 1990 (Münchener Texte und Untersuchungen zur dt. Literatur des Mittelalters, 94); L. Peter Johnson, Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30), Tübingen 1999 (Geschichte der dt. Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, 2/1), S. 45–225; Ingrid Kasten, „Minnesang“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin und New York 2000, S. 604–608. Vgl. hierzu besonders Peter Kesting, Maria-frouwe: Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide, München 1965 (Medium Aevum, 5). Vgl. Friedrich Neumann, „Hohe Minne. Mit einem Nachtrag“, in: Der deutsche Minnesang, hg. v. Hans Fromm, Darmstadt 1963 (Wege der Forschung, 15), S. 180– 196. Zu einzelnen Belegen aus der Minnedichtung vgl. Kasten, Deutsche Lyrik (wie Anm. 25), Register unter hôhe minne. Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeite-

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Hohe Minne wirkt derart stimulierend, dass Geist und Gemüt sich emporschwingen zu den erhabensten Werten.

Richard Wagners ganz der Venusminne verfallene Tannhäuser-Figur konnte eine solche Eros-Ethik natürlich nicht verstehen. Und so kann Tannhäuser im Wartburg-Sängerkrieg, sich mit Heftigkeit erhebend, Walther von der Vogelweide nur dies entgegensingen: O Walther, der du also sangest, du hast die Liebe arg entstellt! Wenn du in solchem Schmachten bangest, versiegte wahrlich wohl die Welt! 26

Zu deutsch: Mit der Hohen Minne haben wir ein demographisches Problem. Der verzichttrunkene Minnesang hat sich jedoch zugleich eine Nische geschaffen, gewissermaßen ein Ventil für seine ästhetisch-moralisch aufgestaute Triebenergie: Es gibt Lieder, in denen er genau das thematisiert, was sonst einem poetischen Tabu unterliegt. Es ist die körperliche Umarmung der Liebenden, von der zu sprechen einer eigenen lyrischen Gattung, dem Tagelied, aller anbetungsvollen Entsagungsrhetorik zum Trotz gestattet ist.27 Fernab des platonischen Minnegeplänkels im Hohen Minnesang erheben sich glutvolle Erinnerungsbilder vollbrachter te Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns, hg. v. Christoph Cormeau, Berlin und New York 1996, S. 97. Die zitierten Verse stammen aus Walthers berühmtem und kontrovers diskutiertem Lied ‚Aller werdekeit ein füegerinne‘ (L 46,32). Zur Interpretation vgl. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare v. Ingrid Kasten. Übersetzungen v. Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters, 3 /Bibliothek deutscher Klassiker, 129), S. 921–924. 26 Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg, 2. Akt, 4. Szene; zit. nach Richard Wagner, Die Musikdramen. Vollständige Ausgabe mit einem Vorwort v. Joachim Kaiser, München 3 1983, S. 238. 27 Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, ausgew., übers. und komm. v. Martina Backes, Einleitung v. Alois Wolf, Stuttgart 1992; Alois Wolf, Variation und Integration: Beobachtungen zu hochmittelalterlichen Tageliedern, Darmstadt 1979 (Impulse der Forschung, 29); Schweikle, Minnesang (wie Anm. 22), S. 135–138. Zur internationalen Verbreitung der Tagelied-Motivik vgl. Arthur Thomas Hatto, „Das Tagelied in der Weltliteratur“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 36 (1962), S. 489–502; Eos: An Enquiry in the Theme of Lovers’ Meetings and Partings at Dawn in Poetry, hg. v. Arthur Thomas Hatto, London, Den Haag und Paris 1965; ders., „Mediaeval German“, in: ebd., S. 428–472; Peter Dronke, Die Lyrik des Mittelalters: Eine Einfüh-

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Liebesnächte, die leider, Grund zu melodramatischen Abschiedsklagen, abgebrochen werden mussten, weil es Tag wurde und damit die geschärften Augen und gespitzten Ohren der moralisch-gesellschaftlichen Kontrollinstanzen auf den Plan traten. Diese höfische Sozialdisziplinierung heißt mittelhochdeutsch huote, und merkaere heißen ihre Tugendbolde.28 Um in der Bilderwelt dieser Poesie zu bleiben, drängt sich der Abschied auf, wenn das morgendliche Trillern der Lerche schon viel zu lange das schluchzende Crescendo der Nachtigall vertrieben hat, des Paradiesvogels für die illegalen, weil sozial unverträglichen, gleichwohl aber in Lieb und Leid einander zugetanen Paare. Man versteht schon, warum sich der rechtschaffene Bamberger Schulrektor Hugo von Trimberg in seiner ‚Der Renner‘ betitelten Lehrdichtung darüber ereiferte, dass auch ein Abt von St. Gallen Tagelieder produzierte; der heilige Gallus jedenfalls habe dergleichen nicht gesungen, aber eine fette Pfründe habe aus Mönchen und Pfaffen schon manchen Affen gemacht.29 Denn so spielt die Musik im Tagelied: Der trûric man nam urloup balde alsus: ir liehten vel, diu slehten, kômen nâher, swie der tac erschein. weindiu ougen – süezer vrouwen kus! sus kunden sî dô vlehten ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein. Swelch schiltaer entwurfe daz,

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rung, München 1977 [The Medieval Lyric, London 1968], S. 182–202; Willms, Liebesleid (wie Anm. 22), S. 200–214. Vgl. Lilli Seibold, Studien über die Huote, Berlin 1932 (Germanische Studien, 123) (ND Nendeln/Liechtenstein 1967); Winfried Hofmann, Die Minnefeinde in der deutschen Liebesdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts: Eine begriffsgeschichtliche und sozialliterarische Untersuchung, Diss. Würzburg 1974. Zu einzelnen Belegen aus der Minnedichtung vgl. Kasten, Deutsche Lyrik (wie Anm. 25), Register unter huote. Die tiefsinnigste huote-Kritik entfaltet Gottfried von Straßburg, vgl. hierzu Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort v. Rüdiger Krohn, Bd. 3 (Kommentar, Nachwort und Register), Stuttgart 4 1995, Kommentar zu V. 12196, S. 180, und zu V. 17817–18114, S. 252–254. Zum huote-Exkurs des Tristanromans vgl. auch Christoph Huber, Gottfried von Straßburg: Tristan, Berlin 2 2001, S. 112–119. Wem sölte daz niht wol gevallen, Daz ein abt von sant Gallen Tageliet machte sô rehte schœne,

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geselleclîche als si lâgen, des waere ouch dem genuoc. ir beider liebe doch vil sorgen truoc, si pflâgen minne ân allen haz.30

An einer anderen Stelle sagt Wolfram von Eschenbach, nicht nur Schöpfer des Parzivalromans, sondern auch grandioser Tagelieddichter,31 über den sich in Sicherheit bringenden Rittersmann: urloup er nam, daz dâ wol zam, nu merket wie: dâ ergie ein schimpf bî klage.32

Einmal muss sogar der Wächter, der mit den Liebenden unter einer Decke steckt, die Frau nachdrücklich ermahnen, den Geliebten doch endlich gehen zu lassen: Daz sant Galle sô hôch gedœne Durch werltlich êre nie gesanc? Des habe sîn abt immer danc, Daz man dâ bî gedenket sîn! Ô volliu pfrüende, diu schult ist dîn! Du machest leider manigen affen Beide ûz münichen und ûz pfaffen. Zitiert nach Hugo von Trimberg, Der Renner, hg. v. Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort und Ergänzungen v. Günther Schweikle, 4 Bde., Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des Mittelalters), Bd. 1, S. 173, V. 4191–4200. 30 Wolfram von Eschenbach, „Den morgenblic bî wahtaeres sange erkôs“ (L 3,1), Strophe 3, zit. nach Backes, Tagelieder (wie Anm. 27), S. 90 f.: „Der Mann nahm voller Trauer entschlossen Abschied: ihre hellen, glatten Körper kamen sich noch einmal ganz nah, obwohl der Tag anbrach. Weinende Augen – zärtlicher Kuß der Geliebten. So verflochten sie ineinander Mund, Brust, Arme und ihre leuchtend weißen Beine. Jeder Maler, der darstellen wollte, wie sie zärtlich beieinander lagen, wäre damit überfordert. Obwohl ihre Liebe mit großer Gefahr verbunden war, gaben sie sich ganz einander hin.“ 31 Peter Wapnewski, Die Lyrik Wolframs von Eschenbach: Edition, Kommentar, Interpretation, München 1972, S. 15–169, 245–258 (Der Wächter und das Tagelied: Zur Reihenfolge der Lieder Wolframs) und 263 f. (Anhang III: Die Nomenklatur von Wolframs Tageliedern im Bereich des Erotischen); Backes, Tagelieder (wie Anm. 27), S. 88–103; Kasten, Deutsche Lyrik (wie Anm. 25), S. 534–539 und 542– 547, mit Kommentar S. 1051–1058 und 1061–1068. Vgl. auch Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart und Weimar 8 2004, S. 34–39. 32 Wolfram von Eschenbach, „Ez ist nu tac“ (L 7,41), Strophe 3,3 f., zit. nach Backes, Tagelieder(wie Anm. 27), S. 100 f.: „Er nahm Abschied, wie es sein mußte, nun hört, wie: Lust und Schmerz mischten sich dort.“

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nu gip im urloup, süezez wîp. lâze in minnen her nâch sô verholn dich, daz er behalte êre unde den lîp.33

Ein einziges Mal hat es einer dieser zur Morgendämmerung immer wieder verschwindenden Minneritter endgültig satt. Er wird nicht mehr so schnell zurückkehren: Urloup der ritter dô genam von der vil lieben frouwen sîn. [. . . ] ein lieplîch wehsel dâ geschach. mit mangem kusse der ergienc.

Die Liebesnacht hat ihn aber, nach dem kühnen Einfall des Burggrafen von Lienz, eines Tiroler Ministerialen und Sängers, nicht, wie in der Tagelied-Gattung üblich, trübsinnig werden lassen ob der bevorstehenden Trennung, sondern militant fromm: ich hân gedingen in daz lant dâ got vil menschlîch inne gie. [. . . ] mîn wille stêt ze Kristes grabe.34 33

34

Wolfram von Eschenbach, „Sîne klawen durch die wolken sint geslagen“ (L 4,8), Strophe 3,3–6, zit. nach Backes, Tagelieder (wie Anm. 27), S. 92 f.: „Nun laß ihn gehen, schöne Frau. Laß ihn später noch einmal dich so heimlich lieben, damit er Ansehen und Leben behält.“ Zur Rolle der Figur des Wächters vgl. Wapnewski, Die Lyrik Wolframs (wie Anm. 31), Register unter „Wächter“; Backes, Tagelieder, S. 245 und 247 f.; Kasten, Deutsche Lyrik (wie Anm. 25), S. 1052, 1056 f., 1062 und 1064–1067. Burggraf von Lienz, „Ez gienc ein juncfrou minneclîch“ (KLD 36,I), Strophen 5,1 f.5 f. und 6,5 f.10, zit. nach Backes, Tagelieder (wie Anm. 27), S. 130 f.: „Daraufhin nahm der Ritter Abschied von seiner geliebten Dame. [. . . ] Ein lieblicher Austausch fand dort statt, der sich mit vielen Küssen vollzog. [. . . ] Ich will in das Land ziehen, in dem Gott ganz als Mensch gelebt hat. [. . . ] Mich zieht es zu Christi Grab.“ Vgl. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. v. Carl von Kraus, Bd. 2: Kommentar, besorgt v. Hugo Kuhn, Tübingen 1958, S. 300–302; Backes, Tagelieder, S. 258 f.

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Verholniu minne sanfte tuot, eine Liebe, die im Verborgenen bleiben kann, tut wohl: mit einem solchen Gesang des Wächters eröffnet Ulrich von Winterstetten sein Tagelied.35 Das ist die Sorte Liebe, die der Minnesang schätzt. Keine solche, die die Spatzen von den Dächern pfeifen oder die ein Prahlhans herumposaunt: Taugen minne div ist guot, si chan geben hohen muot.

„Verschwiegene Liebe – die ist gut.“ Denn sie zeitigt hohen muot, will sagen: sie schenkt ein Gemüt voll souveräner Ausstrahlung, löst seelische Hochstimmung aus, führt zu Großmut und Hochherzigkeit.36 So verkündet es eine mittelhochdeutsche Strophe aus den ‚Carmina Burana‘.37 Die hier angeratene Heimlichkeit hat nicht einfach nur ihren verstohlenen, den Minner anscheinend so beflügelnden Reiz: Schon 35

Ulrich von Winterstetten, „Verholniu minne sanfte tuot“ (59,XXIX), Strophe 1,1, zit. nach Backes, Tagelieder (wie Anm. 27), S. 158; vgl. ebd., S. 269 f., und Deutsche Liederdichter (wie Anm. 34), S. 591. 36 Zum hôhen muot vgl. August Arnold, Studien über den Hohen Mut, Leipzig 1930 (Von deutscher Poeterey, 9). Der in der höfischen Lyrik und Epik allgegenwärtige hôhe muot gehört zu den mittelhochdeutschen Begriffen, die sich einer linearen Übersetzung entziehen. Das ist nicht weiter verwunderlich angesichts der in dieser Geisteshaltung vollzogenen Bündelung ästhetischer, ethischer und sozialer Komponenten. Eingedenk der Tatsache, dass der hôhe muot eine Lehnübersetzung der lateinischen magnanimitas bzw. der magnitudo animi ist, die ihrerseits der griechischen megalopsychia nachgebildet sind, betrachtet man die Breite und Vielschichtigkeit seiner Bedeutung am besten auf der Folie der einschlägigen Tugenddiskurse in der griechisch-römischen Antike und im lateinischen Mittelalter. Vgl. hierzu W. Haase, „Großmut“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 3, Darmstadt 1974, Sp. 887–900, und Rudolf Rieks u. a., „Hochherzigkeit“, in: ebd., Sp. 1147–1150. Ergänzend, im Blick auf den staatsmännischen Charakter, den Einhard Karl dem Großen aus der Perspektive Suetons zugeschrieben hat, Siegfried Hellmann, „Einhards literarische Stellung“, in: Historische Vierteljahrschrift 27 (1932), S. 40–110, wiederabgedr. in: ders., Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters, hg. und eingel. v. Helmut Beumann, Darmstadt 1961, S. 159–229 [210–215]. Die Aktualität dieser Begrifflichkeit für den politischen Raum wird eingefordert in dem Essay von Walter Gut, „Von der Hochherzigkeit im öffentlichen Bereich. Ethischer Aufruf zum Umgang mit Macht“, in: Neue Zürcher Zeitung, 7./8. Juni 1986, Nr. 129, S. 37. 37 Carmina Burana 175a, s. Carmina Burana: Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hg. v. Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters, 13 / Bibliothek deutscher Klassiker, 16), S. 568 f. und S. 1188 (Kommentar). Vgl. Kasten, Deutsche Lyrik (wie Anm. 25), S. 32 f. (8. II), mit S. 577 f.

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aus Gründen eines ehrenvollen Weiter- und Überlebens ist man wohl beraten, tougenlîche, also heimlich zu lieben. Solange dieses Szenario funktioniert, braucht auch niemand die leidvolle Erfahrung eines endgültigen urloup nemen zu machen. Doch wehe, wenn der Schleier der Heimlichkeit einmal weggerissen ist. Dann ist der urloup nicht nur unausweichlich geworden, sondern auch unumkehrbar, nicht so wie in den Tageliedern, in deren Liebesnächte die Paare immer wieder von neuem eintauchen können bis zur süßen, tränenreichen Wehmut der morgendlichen Abschiedsstunde.

Trennung auf immer: Tristan und Isolde Die Stunde eines gnadenlosen, weil definitiven Abschieds hat Tristan und Isolde38 geschlagen, als der bis dahin listig und erfolgreich gehörnte, zwischen Argwohn und Gutgläubigkeit hin und her pendelnde König Marke seine Frau, diu süeze Isot, diu reine,39 mit sinem neven Tristande40 in flagranti ertappt (Abb. 1). Im Baumgarten entdeckt er die beiden Geliebten mit armen zuo zein ander gevlohten nahe und ange, ir wange an sinem wange, ir munt an sinem munde.41

Ganz eng lagen sie beisammen: 38 39 40 41

Der Roman wird nach folgender Ausgabe zitiert: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Friedrich Ranke, Berlin 7 1963 [1930]. Ebd., V. 8054. Ebd., V. 15448. Ebd., V. 18196–18199: in wechselseitiger Umarmung, eng und fest umschlungen, an seiner Wange ihre Wange, an seinen Lippen ihre Lippen. Die Übersetzung folgt Dieter Kühn, Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg, Frankfurt a. M. 2003. Zu Kühns langjähriger Auseinandersetzung mit dem Tristanroman vgl. ebd., S. 755–765. Kühn folgt der Edition von Friedrich Ranke (wie Anm. 38). Die Erstausgabe der Übersetzung (in Zusammenarbeit mit Lambertus Okken) war 1991 beim Insel-Verlag erschienen.

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ir arme unde ir hende, ir ahsel unde ir brustbein diu waren also nahe in ein getwungen unde geslozzen: und wære ein werc gegozzen von ere oder von golde, ezn dorfte noch ensolde niemer baz gevüeget sin. Tristan und diu künigin die sliefen harte suoze, ine weiz nach waz unmuoze.42

Der Maler der Münchener Tristan-Handschrift43 hat die Erkenntnis, dass von diesem Augenblick an für das Paar abrupt die Zweisamkeit ihrer einen Liebe abgeschnitten ist, in naturhafte Anschauung umgesetzt. Seine Miniatur zeigt am linken Bildrand zwei Stämme, die aus einer Wurzel emporwachsen und einander umschlingen, doch können sich mit einem amputierten Stamm keine zwei Kronen mehr aus dem einen Baum der unzertrennlichen Liebe herausbilden. 42

Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Ranke (wie Anm. 38), V. 18204– 18214: beider Arme, beider Hände, beider Schultern, Oberkörper, sie waren derart schön zusammen, eng beisammen: wär aus Bronze oder Gold ein Doppelstück gegossen worden, man hätte es nicht noch genauer fügen können oder dürfen. Tristan und die Königin, sie schliefen schön und tief – weiß nicht, nach welchem Akt . . .

43

München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 51, 2. Viertel des 13. Jahrhunderts. Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde. Mit der Fortsetzung Ulrichs von Türheim. Faksimile-Ausgabe des Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Textband mit Beiträgen v. Ulrich Montag und Paul Gichtel, Stuttgart 1979. Zur Münchener Tristan-Handschrift Thomas Klein, „Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik“, in: Deutsche Handschriften 1100–1400: Oxforder Kolloquium 1985, hg. v. Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 110–167 [161– 163]; Sabine Keller, Die Text-Bild-Beziehungen der Münchener Tristan-Handschrift, Lizentiatsarbeit Bern 2001.

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Abbildung 1: Marke entdeckt Tristan und Isolde im Baumgarten (oben). Als er mit Zeugen zurückkommt, ist Isolde allein. München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 51 (Gottfried von Straßburg, Tristan), fol. 90v .

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Zu spät hat Tristan gemerkt, dass sie von Marke ertappt worden sind. Jetzt geht alles sehr schnell. Denn Tristan muss, will er sein Leben retten, verschwunden sein, bis Marke mit Zeugen wiederkommt. Tief bedrückt sagt Tristan zu Isolde: herzevrouwe, schœne Isot, nu müeze wir uns scheiden so wætlich, daz uns beiden so guotiu state niemer me ze vröuden widervert als e.44

Die Geliebten versprechen einander, sich für immer in ihren Herzen festzuhalten: vergezzet min durch keine not. duze amie, bele Isot, gebietet mir und küsset mich! 45

So hören wir Tristan sprechen. Und von Isolde vernehmen wir die Worte: herre, unser herze und unser sin diu sint dar zuo ze lange, ze anclich unde zange an ein ander vervlizzen, dazs iemer suln gewizzen, waz under in vergezzen si.46 44

Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Ranke (wie Anm. 38), V. 18266– 18270: Herzensdame, schöne Isolde, wir müssen uns jetzt trennen; sehr wahrscheinlich finden wir nie mehr so gute Möglichkeiten für unser Glücklichsein wie früher.

45

Ebd., V. 18283–18285: Vergeßt mich nicht! Auf keinen Fall! Douce amie, belle Isolde – gebt mir zum Abschied einen Kuß!

46

Ebd., V. 18288–18293: Herr, unser Herz und unser Kopf, die sind schon viel zu lange,

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Isolde schenkt ihrem Tristan zum Abschied einen Ring: daz lat ein urkünde sin der triuwen unde der minne.47

Beim Abschiedskuss sagt Isolde zu Tristan: Tristan und Isot, ir und ich, wir zwei sin iemer beide ein dinc ane underscheide. dirre kus sol ein insigel sin daz ich iuwer unde ir min beliben stæte unz an den tot, niwan ein Tristan und ein Isot.48

Tief bekümmert macht sich Tristan auf den Weg: sin lip, sin ander leben, Isot beleip mit manegem leide.49

Als König Marke mit seinem Kronrat ankommt, findet er nur noch Isolde vor. Der König muss sich nun anhören, wie ihn seine Begleitung der Verleumdung seiner Gemahlin beschuldigt. Auf der Miniatur steht jetzt hinter Isoldes Liebesstatt nur noch ein einsamer Baum, dessen leicht gewellter Stamm daran erinnert, dass sich ihm einmal ein viel zu eng und viel zu innig aufeinander angewiesen, als daß sie je erfahren könnten, was für sie Vergessen heißt. 47

Ebd., V. 18308 f.: er sei für Euch ein Unterpfand der Treue, liebenden Gedenkens.

48

Ebd., V. 18352–18358: Tristan, Isolde, Ihr und ich, wir beide sind zu aller Zeit ein Wesen, ungeteilt. Dieser Kuß soll Siegel sein: Ich bin Euer, Ihr seid mein, und dies getreu bis in den Tod – einTristaneineIsolde!

49

Ebd., V. 18362 f.: Isolde, sein Leib, sein zweites Leben, sie blieb zurück, mit großem Schmerz.

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zweiter Stamm einschmiegte. Der Ernstfall in einer Beziehung ist eingetreten, die Katastrophe, dass sich zwei Menschen trennen müssen, obgleich sie weiter einander lieben. Nicht das Übliche ist geschehen, das Erich Kästners Gedicht ‚Sachliche Romanze‘ kühl seziert: Als sie einander acht Jahre kannten (und man darf sagen: sie kannten sich gut), kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.50

Im realen Leben zeitigt ein Schicksal, wie das von Gottfried von Straßburg an Tristan und Isolde vordemonstrierte, schwerste seelische Folgen, die ein unheilbares Trauma hinterlassen. Igor Alexander Caruso, der 1981 verstorbene Salzburger Professor für Tiefenpsychologie, Sozialpsychologie und Klinische Psychologie, hat in seinem 1968 erschienenen, seit 2001 in einer Neuauflage vorliegenden Buch ‚Die Trennung der Liebenden. Eine Phänomenologie des Todes‘ sich eindringlich mit solchen Phänomenen beschäftigt. Er beschreibt die Erfahrung, die getrennten Liebenden dauerhaft widerfährt, mit diesen Worten: „Das Problem der Trennung ist das Problem des Todes zwischen Lebenden. Die Trennung ist der Einbruch des Todes in das menschliche Bewußtsein – nicht ‚bildlich‘, sondern konkret und buchstäblich. Die Trennung kann zu einem größeren ‚Ärgernis‘ werden als der physische Tod, weil sie – im Dienste des Überlebens – das Bewußtsein von einem Lebenden in einem Lebenden tötet.“51 Der Tristan-Autor Gottfried von Straßburg hätte dieser fundamentalen Einsicht gewiss nicht widersprochen. Doch hat er – 750 Jahre früher – nicht psychoanalytisch über die Dialektik von Liebe und Tod räsonniert, sondern in seiner musikalischen Poesie dieses brutale Faktum ästhetisiert und damit seine Annahme ein wenig erträglicher gemacht: Tristandes leben und sin tot, sin lebender tot, diu blunde Isot, 50

51

Die ‚Sachliche Romanze‘ stammt aus Kästners zweiter Gedichtsammlung ‚Lärm im Spiegel‘ (1929), zit. nach Erich Kästner, Gesammelte Schriften für Erwachsene. Bd. 1: Gedichte, Zürich 1969, S. 111. Vgl. auch Der Neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch von den Anfängen bis zur Gegenwart, neu hg. und aktualisiert v. Karl Otto Conrady, Düsseldorf und Zürich 3 2003, S. 637. Igor A. Caruso, Die Trennung der Liebenden: Eine Phänomenologie des Todes. Mit einem Vorwort von Josef Shaked, Wien 2001 [Bern und Stuttgart 1968] (ND 2004 u. 2006), S. 31.

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der was we und ande. des tages do si Tristande und sinem kiele nach sach, daz ir daz herze do niht brach, daz schuof daz, daz er lebende was. sin leben half ir, daz si genas; sin mohte leben noch sterben ane in niht erwerben. tot unde leben hæt ir vergeben: sin mohte sterben noch geleben. [. . . ] dan was weder leben noch tot und waren doch da beide.52

Das urloup nemen, wie es sich in der Dichtung des Mittelalters spiegelt, muss aber nicht immer nur die notwendige Folge gesellschaftlichmoralischer Antagonismen sein. Es kann auch unmittelbar von einer konkreten historisch-politischen Realität ausgelöst werden. Die Wirklichkeit von Kreuznahme und Kreuzzug macht den Abschied zu einem zentralen, emotionalen wie ästhetischen und sogar religiösen Thema.

52

Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Ranke (wie Anm. 38), V. 18467– 18485: Tristans Leben und sein Tod, sein lebender Tod, Isolde la belle, erlitt nur Schmerzen, Qualen. An jenem Tage, da sie Tristan und seinem Schiff mit Blicken folgte – daß ihr das Herz dabei nicht brach, geschah allein, weil er noch lebte; sein Leben half ihr überleben; sie konnte Leben oder Sterben nicht ohne ihn erwerben; ihr waren Leben, Tod vernichtet; nicht sterben konnte sie, nicht leben. [. . . ] Es war da weder Tod noch Leben, und dennoch waren beide da.

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Verabschiedung des Kreuzfahrers: Ludwig IV. und Elisabeth von Thüringen Urloup nemen, um auf den Kreuzzug zu gehen, stellt eine besonders extreme Form dar unter den Abschieden im Mittelalter. Für den Kreuzritter bewahrheitete sich allzu oft, was Wirnt von Gravenberg in seinem Wigalois-Roman bei der Verabschiedung seines in ein lebensgefährliches Kampfabenteuer ziehenden Helden in die Worte gekleidet hat: sus nam er urloup in den tôt.53 Der Künstler, der die Grabskulptur des Grafen Hugo I. von Vaudémont und seiner Gemahlin Adeline von Lothringen gemeißelt hat (Abb. 2),54 brachte in den Gesichtern des schon totgeglaubten Spätheimkehrers aus dem zweiten Kreuzzug (1147–1149) und seiner Frau, die 14 Jahre auf ihn gewartet hatte, die zerrüttenden Wirkungen des Krieges ergreifend zum Ausdruck: Die verhärmte Ehefrau schmiegt sich nicht nur eng an ihren Mann, einen als Pilger gekleideten Kreuzzugsveteran, sondern stützt und hält ihn zugleich an Hals und Brust mit der Umarmung ihrer Hände. 53

Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausgabe v. Johannes Marie Neele Kapteyn übers., erl. und mit einem Nachwort versehen v. Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin und New York 2005, V. 3173, S. 73. Für Thomasin, den Kleriker am Hof des Patriarchen von Aquileja, sind der Anfang und das Ende des Menschenlebens nichts anderes als ein notvoller Empfang und eine Verabschiedung in den Tod: wan daz ist der werlde gruoz, daz si uns enphæht mit nôt und gît uns urloup mit dem tôt.

54

Zitiert nach Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. v. Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung und einem Register v. Friedrich Neumann, Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des Mittelalters), V. 5390–5392, S. 147. Martin Erbstösser, Die Kreuzzüge: Eine Kulturgeschichte, Leipzig 1977, S. 200. Die Skulptur ist ebenfalls abgebildet bei Chiara Frugoni, „Frauenbilder“, in: Duby und Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen (wie Anm. 18), S. 359–429 [367]; Jonathan Riley-Smith, „Die Mentalität der Orientkreuzfahrer 1095–1300“, in: Illustrierte Geschichte der Kreuzzüge, hg. v. dems., übersetzt v. Christian Rochow, Frankfurt a. M. 1999 [The Oxford Illustrated History of the Crusades, Oxford 1995], S. 83–109 [87]; Jacques Le Goff, Das Mittelalter in Bildern, übers. v. Renate Warttmann, Stuttgart 2002 [Un Moyen Âge en images, Paris 2000], Abb. 43, S. 53; Reinhard Barth, „Frauen bei den Kreuzzügen“, in: Welt und Umwelt der Bibel 29/3 (2003) („Die Kreuzzüge“), S. 21. Vgl. zuletzt La France romane au temps des premiers Capétiens (987–1152), Paris 2005, Kat.-Nr. 107, S. 159 f.

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Abbildung 2: Die Rückkehr des Kreuzfahrers: Graf Hugo I. von Vaudémont und seine Frau Adeline von Lothringen, 3. Viertel 12. Jh., Kalkstein, 129×39 ×23 cm, Nancy, Musée Lorrain.

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Kehren wir zur deutschen Dichtung zurück, so drängen sich einem angesichts der menschlich-allzumenschlichen Ausstrahlung dieser Grabplastik die während Kaiser Friedrichs II. Kreuzzugsunternehmen 1228/29 entstandenen Sprüche des Dichters Freidank über Akkon auf, die am Mittelmeer gelegene Hauptstadt des lateinischen Königreichs, Sitz von vier Ritterorden und wichtiger Militärstützpunkt. Konnte eine Generation zuvor Hartmann von Aue mit dem Gestus der Weltabsage noch Jubeltöne anstimmen – swanne ich in Kristes schar mit fröiden wunneclîche var –,55

so ist Freidank ein solches fundamentalistisches Pathos fremd. Frei von jeder Ideologie blickt er aus eigener Anschauung illusionslos auf die Kreuzzugswirklichkeit, die er bitterbös kommentiert: Akers diu ist sühte rîch, der tôt ist dâ sô heimelîch, und stürben tûsent alle tage, da enhôrte nieman lange klage. 55

Hartmann von Aue, „Dem kriuze zimt wol reiner muot“ (MF 209,25), Strophe 6,11 f.: während ich in Christi Kriegsschar herrlich und in Freude aufbreche. Zitiert nach Kasten, Deutsche Lyrik (wie Anm. 25), S. 214 f. Zu Hartmanns berühmtem Kreuzlied vgl. Kastens Kommentar: ebd., S. 721–726. Unbestimmt muss freilich bleiben, ob der alemannische Dichter Hartmann von Aue überhaupt an einem Kreuzzug teilgenommen hat, und wenn ja, an welchem: am Kreuzzug Kaiser Friedrichs I. Barbarossa von 1189/90 oder an dem Kaiser Heinrichs VI. (1197/98). Vgl. Christoph Cormeau, „Hartmann von Aue“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon2 [im folgenden VL2 ], hg. v. Kurt Ruh, Bd. 3, Berlin und New York 1981, Sp. 500–520 [500–503]; Kasten, Deutsche Lyrik, S. 742–747 (Kommentar zu Hartmann von Aue, „Ich var mit iuweren hulden“, MF 18,5). – Zur Kreuzzugsthematik in der mittelhochdeutschen Lyrik vgl. besonders die Textauswahl in: Kreuzzugsdichtung, hg. v. Ulrich Müller, Tübingen 4 1998 (Dt. Texte, 9). Genannt seien ferner folgende Gesamtdarstellungen: Maria Böhmer, Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik, Rom 1968 (Studi di filologia tedesca, 1); Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Kreuzzugsdichtung des Mittelalters: Studien zu ihrer geschichtlichen und dichterischen Wirklichkeit, Berlin 1960; Roswitha Wisniewski, Kreuzzugsdichtung: Ideal in der Wirklichkeit, Darmstadt 1984 (Impulse der Forschung, 44); Wolfgang Haubrichs, „Kreuzzugslyrik“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin und New York 2000, S. 340–342.

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[. . . ] Swer ungerne lange lebe, dem râte ich, daz er z’Akers strebe. [. . . ] Akers ist des tôdes grunt, da ist niht wan tôt od ungesunt; und stürben hundert tûsent dâ, man klagete ein esel mê anderswâ.56

Ein aus der Sicht der Überlieferung einmaliger und uns bis zum heutigen Tage tief anrührender Abschied vollzog sich im Jahre 1227 auf der Wartburg, als der 27jährige Landgraf Ludwig IV. von Thüringen, Sohn des mächtigen und literarisch hochgebildeten Landgrafen Hermann, sich dem Kreuzzug Friedrichs II., seines Vetters, anschloss. Er musste sich nach sechsjähriger Ehe von seiner 20 Jahre alten, schwangeren Gemahlin trennen, der ungarischen Königstochter Elisabeth, Mutter des fünfjährigen Hermann und der dreijährigen Sophie.57 Am 24. Juni 1227, dem hohen Heiligenfest Johannes des Täufers, brach Ludwig mit seinem Heer von Schmalkalden auf. Zu seinem Gefolge gehörte auch 56

Akkon ist voller Seuchen, dort ist der Tod daheim, und wenn dort täglich tausend sterben ist die Klage nur von kurzer Dauer. [. . . ] Wer nicht lang leben will, dem rate ich, sich auf den Weg nach Akkon zu machen. [. . . ] Akkon ist ein Abgrund des Todes, nur Tod oder Krankheit gibt es dort; und stürben dort hunderttausend so würde man an anderen Orten lauter über einen Esel klagen.

Mittelhochdeutscher Text zitiert nach Müller, Kreuzzugsdichtung (wie Anm. 55), Nr. 72: Aus Freidanks ‚Bescheidenheit‘: Die ‚Akkon-Sprüche‘, 154,18–164,1, S. 102–109 [155,23–26, 156,4 f. und 156,24–27, S. 103 f.]; vgl. Fridankes Bescheidenheit (wie Anm. 2), S. 208–216 [209 f.]. Zu Freidanks Akkon-Sprüchen vgl. Wentzlaff-Eggebert, Kreuzzugsdichtung (wie Anm. 55), S. 311–315; Wisniewski, Kreuzzugsdichtung (wie Anm. 55), S. 130–137; Joachim Heinzle, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90), Königstein/Ts. 1984 (Geschichte der dt. Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, 2/2), S. 192 f. 57 Elisabeth (b1207, d17.11.1231) ist die Tochter des Königs Andreas II. von Ungarn (b1176/77, d26.10.1235) und der Gertrud von Andechs-Meranien (ermordet

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28.9.1213). Im Jahre 1211 kam die vierjährige Elisabeth auf die Wartburg und heiratete 1221 14jährig den 21jährigen Landgrafensohn Ludwig, nachdem dessen älterer Bruder Hermann, für den sie wohl ursprünglich bestimmt war, 1216 gestorben war. Elisabeth ist die Mutter von Landgraf Hermann II. von Thüringen (b28.3.1222, d2./3.1.1241), Herzogin Sophie von Brabant (b20.3.1224, d29.5.1284) und Gertrud, Meisterin von Altenberg (b29.9.1227, d13.8.1297). Elisabeths Tante ist die heilige Hedwig, Herzogin von Schlesien, ihr Onkel Bischof Ekbert von Bamberg, der Bauherr des Domes. Zum gesamten politischen und kulturellen Hintergrund vgl. im einzelnen Paul Gerhardt Schmidt, „Die zeitgenössische Überlieferung zum Leben und zur Heiligsprechung der heiligen Elisabeth“, in: Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige. Aufsätze, Dokumentation, Katalog, hg. v. der Philipps-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Sigmaringen 1981, S. 1–6; s. im selben Band Fred Schwind, „Die Landgrafschaft Thüringen und der landgräfliche Hof zur Zeit der Elisabeth“ (S. 29–44); Josef Leinweber, „Das kirchliche Heiligsprechungsverfahren bis zum Jahre 1234. Der Kanonisationsprozeß der hl. Elisabeth von Thüringen“ (S. 128–136); Renate Kroos, „Zu frühen Schrift- und Bildzeugnissen über die heilige Elisabeth als Quellen zur Kunst- und Kulturgeschichte“ (S. 180–239); Ursula Braasch, „Die Eltern der hl. Elisabeth“ (Katalog Nr. 1, S. 317– 319); Thomas von Bogyay, „Die ungarischen Vorfahren der hl. Elisabeth, Stammtafel“ (Katalog Nr. 2, S. 319–322); Ursula Braasch, „Die Landgrafen von Thüringen, Stammtafel“ (Katalog Nr. 16, S. 342–344); Michael Gockel, „Wartburg und Eisenach“ (Katalog Nr. 26, S. 356–359); Matthias Werner, „Kreuzzugsaufruf Papst Gregors IX. an Landgraf Ludwig IV.“ (Katalog Nr. 60, S. 397 f.); Ursula Braasch, „Die Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs IV. von Thüringen, Karte“ (Katalog Nr. 62, S. 400 f.); Irmgard Fees, „Bericht Kaiser Friedrichs II. über den Tod Landgraf Ludwigs IV.“ (Katalog Nr. 63, S. 402–404), sowie Erika Dinkler-von Schubert, „Elisabeth von Thüringen (1207–1231)“, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Bd. 9, Berlin u. a. 1982, S. 513–520; Alois Schütz, „Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter. IV. Elisabeth, Landgräfin von Thüringen“, in: Herzöge und Heilige: Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, hg. v. Josef Kirmeier und Evamaria Brockhoff, Regensburg 1993 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 24/93), S. 131–144; Wolfgang Stürner, Friedrich II., 2 Teile, Darmstadt 1992–2000 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Teil 2, S. 131 f. – Herbert Wolf, „Die deutsche Literatur im Mittelalter“, in: Geschichte Thüringens, hg. v. Hans Patze und Walter Schlesinger, Bd. 2,2, Köln und Wien 1973 (Mitteldeutsche Forschungen, 48/2,2), S. 188–249 [200–211, „Die höfische Epik“ mit S. 349–351]; Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter: Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979, Register unter „Hermann I. von Thüringen“ und „Ludwig IV. von Thüringen“; Ursula Peters, Fürstenhof und höfische Dichtung: Der Hof Hermanns von Thüringen als literarisches Zentrum, Konstanz 1981 (Konstanzer Universitätsreden, 113). – Den jüngsten Forschungsstand dokumentieren jetzt umfassend die beiden zur 3. Thüringer Landesausstellung erschienenen Bände: Elisabeth von Thüringen – Eine europäische Heili-

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Berthold, sein Hofkaplan und enger Vertrauter.58 Aus dessen Feder stammen die sogenannten ‚Gesta Ludowici‘ von 1227/28, eine Biographie des Landgrafen, die zwar verlorengegangen ist, aber ziemlich originalgetreu erschlossen werden kann über drei spätere Texte: die ‚Cronica Reinhardsbrunnensis‘, eine Geschichtskompilation aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, in die auf dem Umweg über die gleichfalls verlorene ‚Vita Ludowici‘ eines Reinhardsbrunner Mönches aus der Zeit um 1308/14 große Teile der Bertholdschen Darstellung eingegangen sind; die Übersetzung ins Ostmitteldeutsche, die Friedrich Köditz von Saalfeld, der Rektor der Reinhardsbrunner Klosterschule, zu Beginn des 14. Jahrhunderts nach der damals noch zugänglichen, Bertholds ‚Gesta Ludowici‘ ausschreibenden anonymen ‚Vita Ludowici‘ angefertigt hat; und die ‚Vita S. Elisabeth‘ des Dietrich von Apolda.59 Aus Bertholds Be-

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ge. [1] Katalog. [2] Aufsätze, im Namen der Wartburg-Stiftung Eisenach und der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Mitarbeit v. Uwe John und Helge Wittmann hg. v. Dieter Blume und Matthias Werner, Petersberg 2007. Vgl. Helmut Lomnitzer, „Bertholdus Capellanus“, in: VL2 1 (1978), Sp. 805–807; ders., „Bericht über die Rückführung der Gebeine Landgraf Ludwigs IV.“, in: Sankt Elisabeth (wie Anm. 57), Katalog Nr. 64, S. 405 f. Vgl. Anm. 59 und 69. „Cronica Reinhardsbrunnensis“, hg. v. Oswald Holder-Egger, in: Supplementa tomorum XVI-XXV, Hannover 1896 (MGH SS 30,1), S. 490–656; Das Leben des heiligen Ludwig, Landgrafen in Thüringen, Gemahls der heiligen Elisabeth, nach der lat. Urschrift übers. v. Friedrich Ködiz von Salfeld, hg. v. Heinrich Rückert, Leipzig 1851; Die Vita der heiligen Elisabeth des Dietrich von Apolda, hg. v. Monika Rener, Marburg 1993 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 53). Vgl. Oswald Holder-Egger, „Studien zu Thüringischen Geschichtsquellen II. Ueber die Composition der Chronik von Reinhardsbrunn und ihre verlorenen Quellen“, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 20 (1895), S. 569–637; ders., „Studien III. Ueber die Ueberlieferung und die Ableitungen der Reinhardsbrunner Chronik“, in: ebd. 21 (1896), S. 235–297; Hans Patze, „Landesgeschichtsschreibung in Thüringen“, in: Geschichte Thüringens (wie Anm. 57), Bd. 1, Köln und Graz 1968 (Mitteldeutsche Forschungen, 48/1), S. 1– 47 [10–13 mit S. 383]; Wilhelm Wattenbach und Franz-Josef Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter: Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnums, Bd. 1, hg. v. Franz-Josef Schmale unter Mitarbeit v. Irene Schmale-Ott und Dieter Berg, Darmstadt 1976, S. 410–413; Matthias Werner, „Cronica Reinhardsbrunnensis“, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 353 f.; Stefan Tebruck, Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter: Klösterliche Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich, Frankfurt a. M. 2001 (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 4); Helmut Lomnitzer, „Köditz, Friedrich“, in: VL2 5 (1985), Sp. 5–7. Über die Reinhardsbrunner Chronik und die Übersetzung von Friedrich Köditz ist in der Liste der Kreuzzugsteilnehmer auch das Selbstzeugnis

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richt erhalten wir ein klares Bild der Abschiedsszene auf der Wartburg. Der Fürst vertraut seine Mutter, die bayerische Herzogstochter Sophie, und seine Gemahlin Elisabeth mit ihren Kindern Hermann und Sophie der Obhut seines Bruders Heinrich Raspe an. Dann wendet er sich der Landgräfinmutter zu: in grozir libe kuste he sine mutir an iren munt: vor grozem jamer konde he ir nicht zu gesprechen. Mutter und Sohn umfangen einander gar fruntlich da mit armen, groz jamer durch ir herze ging: wen sold diz nicht erbarmen? kommentiert Berthold, was sich hier vor seinen eigenen Augen abspielt.60 Dann folgt die herzergreifende Episode, die auch als Glasmalerei aus den Jahren 1235 bis 1249 auf einem der Chorfenster der Marburger Elisabethkirche festgehalten ist – der Kirche, die im Anschluss an die Heiligsprechung Elisabeths von Thüringen erbaut wurde.61 Unter Tränen – vel mer den ich nu sprechen wel – hält die Mutter ihren Sohn fest, Elisabeth redet auf ihren Mann ein: di eine zoch hen, di andere her, ab her noch wolde blibe.62 Das Hin- und Hergezerre an dem Abrittbereiten entsprach wohl kaum dem höfischen Zeremoniell des urloup nemen. Die Emotionen schwemmten die Etikette beiseite. wer kan uz gespreche di liebe unde leide di da vormischet was? schreibt der in der höfischen Literatur mit ihrer Liebe-und-Leid-Dialektik offenbar bewanderte Augenzeuge.63 Auch Landgraf Ludwig was jamers vol: her kunde

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des landgräflichen Kaplans Berthold greifbar: Bertoldus sacerdos et capellanus, de cuius manu hec omnia notata sunt atque conscripta (S. 611, Z. 10 f.); er [Herr] Berlt, ouch sin cappellan, von des hant alle dise geschichte beschrebin unde gemerkit sin (S. 58, Z. 33–S. 59, Z. 1). Eine neuhochdeutsche Übertragung des von Berthold verfassten Augenzeugenberichts findet sich in Elisabeth von Thüringen. Die Zeugnisse ihrer Zeitgenossen, hg. v. Lee Maril, Zürich und Köln 1960 (Menschen der Kirche in Zeugnis und Urkunde, NF 5), S. 9–49. – Zu Ludwigs Kreuznahme und ihren historischen Zeugnissen vgl. jetzt Stefan Tebruck, „Militia Christi – Imitatio Christi: Kreuzzugsidee und Armutsideal am thüringischen Landgrafenhof zur Zeit der heiligen Elisabeth“, in: Elisabeth von Thüringen, Aufsätze (wie Anm. 57), S. 137–152. Zu Dietrich von Apolda vgl. Anm. 75. Rückert, Leben des heiligen Ludwig (wie Anm. 59), S. 56, Z. 10–13. Vgl. Kroos, „Zu frühen Schrift- und Bildzeugnissen“ (wie Anm. 57), S. 216; Monika Bierschenk, Glasmalereien der Elisabethkirche in Marburg, Berlin 1991, S. 191, mit Abb. 465 und Tafel C. Hierzu jetzt: Anette Kindler, „Das Marburger Fenster“, in: Elisabeth von Thüringen, Katalog (wie Anm. 57), Nr. 158a, 158b, S. 234–238. Vgl. auch die Internetpräsentation http://www.elisabethkirche.de /rundgang mit einem Link zu den historischen Farbfenstern des Ostchors. Rückert, Leben des heiligen Ludwig (wie Anm. 59), S. 56, Z. 14–16. Ebd., S. 56, Z. 18 f. Für die hier durchklingende Minnekonzeption ist die mit der Liebe einhergehende Leiderfahrung unausweichlich und unverzichtbar. Program-

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doch nicht blibe. Zuletzt ermannt er sich – ving her einen starken mut – und reißt sich mit Gewalt los.64 Doch die Fürstin Elisabeth kehrt nicht mit der Burgmannschaft zurück: ires herzin smerzin, liebe unde leide erlauben ihr nicht, sich so schnell von ihrem Gemahl zu lösen.65 Zwei Tagereisen lang begleitet sie ihn in obirswenkir liebe, in der Zwiespältigkeit ihrer übermächtigen Liebe: si wuste nicht ab si med om [mit ihm] wolde adir ab si wolde blibe.66 Dann aber befindet ein landgräflicher Begleiter, jetzt sei es genug: „gnediger herre, iz ist zit, lazit unse gnedigen frouwen widder kere: iz muz doch si.“ 67 Da wünscht der Fürst seiner Gemahlin Elisabeth, die er allir liebiste swestir min nennt, Gottes Segen und in mariologischem Timbre fährt er fort: got geseine ouch di frucht dines libes di du treist (benedictus fructus ventris tui, sagte nach Lukas 1,42 Elisabeth zu Maria).68 Mit diesen Worten schiet sich lieb von liebe, der edele furste von siner allir liebisten wirtinne. ach wer kan betrachte mit welchem jamere unde betrubnisse si sich schidin! ir beidir herze leit groze quel: sufzin weinen unde heizer zeere da nicht gebrach. o wi bitter was daz scheidin! 69 Elisabeth kehrt unter Tränen und Jammer auf die Wartburg

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matisch ist die Einheit von Liebe und Leid im Prolog von Gottfrieds Tristanroman ausformuliert (V. 204–210): swem nie von liebe leit geschach, dem geschach ouch liep von liebe nie. liep unde leit diu waren ie an minnen ungescheiden. man muoz mit disen beiden ere unde lop erwerben oder ane si verderben. Wen nie die Liebe leiden ließ, dem schenkte Liebe niemals Glück. Glück und Leid, sie waren stets unzertrennlich in der Liebe. Man muß mit diesen beiden Lob erringen, hohen Rang – oder scheitern, ohne sie. Zitiert nach den Ausgaben von Ranke (wie Anm. 38) und Kühn (wie Anm. 41). Rückert, Leben des heiligen Ludwig (wie Anm. 59), S. 56, Z. 20 f. Ebd., S. 57, Z. 11–13. Ebd., S. 57, Z. 13–15. Ebd., S. 57, Z. 18 f. Ebd., S. 57, Z. 30–32. Ludwigs Biograph Berthold schildert den Abschiedsschmerz mit rhetorischer Wucht: Quis putas gemitus, que suspiria, qui singultus, que lacrime, quis motus vel

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zurück. Sie legt das Gewand der Fürstin ab und zieht ahnungsvoll das Witwenkleid an. Uns soll hier noch kurz beschäftigen, wie der letzte Abschied von Ludwig und Elisabeth ausgesehen hat. Wir wollen nicht wie ein Reporter mit der Fernsehkamera darauf schauen, sondern der Wahrnehmungsform der Künstler nachgehen, wie sie die Trennung dieser jungen Eheleute dargestellt haben, die nicht Mann und Frau zueinander sagten, sondern sich geschwisterlich als Bruder und Schwester ansprachen. strepitus cordis, ubi tam importuna et vehemens scissio et tam amara et violenta intercidit separacio! Secedunt tamen et discedunt ab invicem. O intolerabilis et amarissima discessio, in qua abscondita est ab oculis omnium intuentium consolacio! Zitiert nach Dietrich von Apolda, Vita der heiligen Elisabeth (wie Anm. 59), S. 67 (IV,3). Vgl. „Cronica Reinhardsbrunnensis“ (wie Anm. 59), S. 610, Z. 57–60. In der mittelhochdeutschen Nachdichtung lautet diese Passage wie folgt: Ei lieben alle, sagent an, Ei wes bedunket ie den man, Wie gar sufzenbere Di sunderunge were Des edelen unde der reinen? Wielich ir beider weinen, Ir rienen unde ir fnissen, Ir sufzen unde ir gissen? Wie dugentlich ir beider clage, Ir herzen biben unde ir wage? Wielich ir beider quale Were ieso zu male, Da si so swindecliche, Sus unversehenliche In allen disen leiden Ein ander solden scheiden? Doch schieden si zu jungest sich. Eia wi unlidelich Was dise sunderunge, Die sunder hoffenunge Drostes aller frunde Frouden sich enzunde! Wande ir was verborgen Ir drost in disen sorgen, Ir aller die si sahen Unde iergen wolden nahen. Zitiert nach Das Leben der heiligen Elisabeth vom Verfasser der Erlösung, hg. v. Max Rieger, Stuttgart 1868 (Bibliothek des Litterarischen Vereins, 90), S. 189, V. 4463– 4488.

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Die Hessische Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt besitzt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts eine kleine Handschrift vom Format 10 auf 7 cm, die ein Psalterium-Diurnale enthält, also außer den Psalmen auch brevierähnliche Teile besitzt. Die Handschrift ist für Gertrud angefertigt worden, die nach dem Tod des Vaters geborene jüngste Tochter Elisabeths.70 Als kleines Mädchen von eineinhalb Jahren wurde Gertrud von ihrer Mutter der Obhut des Prämonstratenserinnenklosters Altenberg bei Wetzlar anvertraut. Im Alter von 21 Jahren übernahm Gertrud als Meisterin die Leitung dieses Klosters.71 Die in der Handschrift enthaltene kolorierte Federzeichnung gilt als Wiedergabe des Abschieds Elisabeths von Ludwig (Abb. 3). Die junge Fürstin im pelzgefütterten Mantel reicht dem wegreitenden Landgrafen die Hand. Die hier etablierte Hierarchie zwischen dem vom hohen Ross herunter Elisabeths Hand ergreifenden Fürsten und seiner zurückstehenden Ehefrau wiederholt sich um 1415/20 auf dem Elisabethfenster in der Pfarrkirche von Münnerstadt.72 Die älteste künst70

Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Hs 2230. Vgl. Hermann Knaus, „Das Psalterium-Diurnale der seligen Gertrud von Altenberg, Tochter der hl. Elisabeth“, in: Studien zur Buchmalerei und Goldschmiedekunst des Mittelalters. Festschrift für Hermann Usener zum 60. Geburtstag, Marburg a. d. Lahn 1967, S. 267–274; Leo Eizenhöfer und Hermann Knaus, Die liturgischen Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Wiesbaden 1968 (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, 2), Nr. 86, S. 218–224; Renate Kroos, „Abschiedsszene aus dem Psalterium-Diurnale (der Gertrud von Altenberg)“, in: Sankt Elisabeth (wie Anm. 57), Katalog Nr. 61, S. 398 f. Hierzu jetzt: Christian Schuffels, „Elisabeths Abschied von Landgraf Ludwig IV. von Thüringen“, in: Elisabeth von Thüringen, Katalog (wie Anm. 57), Nr. 167, S. 255–257. 71 Zu Gertruds Bedeutung für das Kloster Altenberg, wo sie 1297 im Alter von fast 70 Jahren verstarb, vgl. Ulrich Reuling, „Kloster Altenberg bei Wetzlar. Grabmal der sel. Gertrud“, in: Sankt Elisabeth (wie Anm. 57), Katalog Nr. 49 u. 50, S. 375–377. Hierzu jetzt: Christian Schuffels, „ ‚Beata Gerdrudis, filia sancte Elysabet‘. Gertrud, die Tochter der heiligen Elisabeth, und das Prämonstratenserinnenstift Altenberg an der Lahn“, in: Elisabeth von Thüringen, Aufsätze (wie Anm. 57), S. 230–244. 72 Rainer Kahsnitz, „Das Fenster der Heiligen Elisabeth in Münnerstadt“, in: Mainfränkische Glasmalerei um 1420: Fenster aus den Kirchen in Münnerstadt und Iphofen, Nürnberg 1974, S. 23–49, Abb. 1, 2, 7–13 [Abb. 8]; Julia und Christian Hecht, Meisterwerke mittelalterlicher Glasmalerei in der Pfarrkirche St. Maria Magdalena zu Münnerstadt, Münnerstadt 2001 (Henneberg-Museum Münnerstadt, 4), S. 29– 33, Abb. 17–30 [Abb. 18]; Die heilige Elisabeth in der Kunst – Abbild, Vorbild, Wunschbild. Ausstellung im Marburger Universitätsmuseum für bildende Kunst, be-

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Abbildung 3: Abschied des Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen und seiner Gemahlin Elisabeth. Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Hs 2230 (Psalterium-Diurnale), fol. 8v .

lerische Darstellung der eigentlichen Abschiedsszene geht jedoch von einer völlig anderen Konstellation zwischen Mann und Frau aus (Abb. 4): Auf dem Schrein der heiligen Elisabeth zu Marburg, zeitgleich mit dem Ost-Bau und den Glasfenstern zwischen 1235 und 1249 entstanden,73 stehen die beiden in großer Intimität und auf gleicher Augenhöhe ganz eng zusammen. Durch das klare Profil verstärkt sich noch der Gestus arb. v. Brigitte Rechberg, Marburg 1983 (700 Jahre Elisabethkirche in Marburg 1283–1983. Katalog, 2), Nr. 1, S. 14 f.; Eva Ulrich und Hartmut Krohm, Die Magdalenenkirche in Münnerstadt, Königstein/Ts. 5 2004, S. 22–25 [23, Abb.]. 73 Erika Dinkler-von Schubert, Der Schrein der hl. Elisabeth zu Marburg: Studien zur Schrein-Ikonographie, Marburg a. d. Lahn 1964; Kroos, „Zu frühen Schrift- und Bildzeugnissen“ (wie Anm. 57), S. 215–221 mit Abb. 2–16; Dieter Großmann, „Schrein der hl. Elisabeth“, in: Sankt Elisabeth (wie Anm. 57), Katalog Nr. 144, S. 518–521; Eberhard Leppin, Die Elisabethkirche in Marburg: Ein Wegweiser zum Verstehen, Marburg 1983 (700 Jahre Elisabethkirche in Marburg 1283–1983. Katalog, E), Nr. 15, S. 36–40; Die heilige Elisabeth in Hessen. Ausstellung, für die Philipps-Universität Marburg bearbeitet v. Walter Heinemeyer unter Mitarbeit v. Werner Houck und Ulrich Hussong, Marburg 1983 (700 Jahre Elisabethkirche in Marburg 1283–1983. Katalog, 4), Nr. 28, S. 103 mit Abb. 14; Viola Belghaus, Der erzählte Körper: Die Inszenierung der Reliquien Karls des Großen und Elisabeths von Thüringen, Berlin 2005. Hierzu jetzt: Anette Kindler, „Reliquienschrein der heiligen Elisabeth“, in: Elisabeth von Thüringen, Katalog (wie Anm. 57), Nr. 130, S. 201–206.

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Abbildung 4: Abschied des Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen und seiner Gemahlin Elisabeth. Schrein der heiligen Elisabeth, Marburg, Elisabethkirche.

einer letzten Hingabe des sich in engstem Blickkontakt umarmenden Paares.74 Die in der lateinischen Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda überlieferten Verse charakterisieren die Aufgewühltheit der Trennung wie folgt: Illic mota viscera, corda tremuerunt, Dum alter alterius in colla ruerunt.75 Zur Ikonographie der Szene vgl. Dinkler-von Schubert, Der Schrein (wie Anm. 73), S. 99 f.; Kroos, „Zu frühen Schrift- und Bildzeugnissen“ (wie Anm. 57), S. 216 f. 75 „In diesem Moment waren sie bis ins Mark getroffen und ihre Herzen bebten, als sie einander um den Hals fielen.“ Lateinisches Zitat nach Dietrich von Apolda, Vita der heiligen Elisabeth (wie Anm. 59), S. 65 (IV,2); vgl. „Cronica Reinhardsbrunnensis“ (wie Anm. 59), S. 610, Z. 18 f. Eine freiere neuhochdeutsche Übertragung bietet Leben und Legende der heiligen Elisabeth. Nach Dietrich von Apolda. Mit 14 Miniaturen der Handschrift von 1481, übers. und mit einem Nachwort versehen v. Rainer Kößling, Frankfurt a. M. und Leipzig 1997. Die 1297 vollendete ElisabethVita des Erfurter Dominikaners wurde um 1300 von einem unbekannten Geistli74

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Gleichwohl geht von diesem Paar eine tiefe Ruhe aus, die der Goldschmied erreicht hat, indem er Augen darstellte, deren Blicke aus der Personmitte heraus unverwandt ineinander fließen – eine ganz singuläre Komposition für einen Abschied mutmaßlich auf immer.76 Bei der ästhetischen Hochkultur Thüringens darf man hier gewiss auch an die

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chen versifiziert, s. Leben der heiligen Elisabeth (wie Anm. 69); neuhochdeutsche Übersetzung: Das Leben der heiligen Elisabeth. Von einem unbekannten Dichter aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts, aus dem Mittelhochdeutschen übers. und hg. v. Manfred Lemmer, Graz, Wien und Köln 2 1982. Vgl. Helmut Lomnitzer, „Dietrich von Apolda“, in: VL2 2 (1980), Sp. 103–110; Ludwig Wolff und Helmut Lomnitzer, „‚Das Leben der heiligen Elisabeth‘ (mhd. Verslegende)“, in: VL2 5 (1985), Sp. 632–635; Margret Lemberg, Die Marburger Fragmente der mittelhochdeutschen Verslegende vom Leben der heiligen Elisabeth, Marburg 1991 (Marburger Drucke, 6). Zur zentralen Bedeutung von Dietrichs Elisabeth-Vita vgl. jetzt Matthias Werner, „[Einleitung zu Kap. VIII] Europäischer Horizont und regionale Bezüge – die Elisabethtexte des Spätmittelalters“, in: Elisabeth von Thüringen, Katalog (wie Anm. 57), S. 420–423; Werner, „Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda“, ebd., S. 426–428 mit den Kat.-Nr. 281–282 (Werner), 283–284 (Volker Honemann), 285 (Christoph Mackert/Falk Eisermann) und 286 (Honemann), sowie Volker Honemann, „Die ‚Vita Sanctae Elisabeth‘ des Dietrich von Apolda und die deutschsprachigen ‚Elisabethleben‘ des Mittelalters“, in: Elisabeth von Thüringen, Aufsätze (wie Anm. 57), S. 421–430. Reinhold Schneider hat 1956 in einem eindrucksvollen Essay diesen Moment so beschrieben: „die Gatten, Ludwig als Pilger gekleidet, sehen einander mit wissendem Todesernst in die Augen“, s. Reinhold Schneider, Elisabeth von Thüringen. Mit einem Geleitwort von Bernhard Vogel, hg. v. Karl-Josef Kuschel, Walter Schmitz und Carsten Peter Thiede. Mit Bildern v. Moritz von Schwind, Frankfurt a. M. und Leipzig 1997, S. 7 [Die großen Deutschen: Deutsche Biographie, hg. v. Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg, Bd. 1, Berlin 1956, S. 130–153]. Das einfühlsame Bild vom „wissenden Todesernst“, das dem tragischen Geschichtsverständnis des modernen Dichters geschuldet ist, erhält durch eine denkwürdige Nachricht aus dem Umfeld des Thüringer Hofes eine mittelalterliche Grundierung. Von Caesarius von Heisterbach hören wir, dass das Landgrafenpaar vor Ludwigs Aufbruch zum Kreuzzug der von ihm veranlassten Aufführung eines Passionsspiels in Eisenach beiwohnte: Qui beatus in signum sue magne devotionis in castro Ysennacke per clericos traditionem Salvatoris, passionem et mortem, acsi ea oculis presentialiter intueretur, presentari fecit, eiusdem ludi omnes expensas solvens, sicut ab illis didici, qui presentes erant. Zitiert nach „Die Schriften des Caesarius von Heisterbach über die heilige Elisabeth von Thüringen: Das Leben der heiligen Elisabeth. Die Predigt über ihre Translation“, hg. v. Albert Huyskens, in: Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach, hg. v. Alfons Hilka, Bonn 1937 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 43,3), S. 329–430 [354, Z. 24–28]. Vgl. Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen

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literarische Bedeutung der Augen erinnern, durch deren Pforten nach der Überzeugung der zeitgenössischen Minneanthropologie die Liebe ungehindert direkt ins Herz strömt und aus diesem wieder herausfließt, in einem dauernden Kreislauf der Gefühle. Gottfried von Straßburg liefert dafür mit seinem Liebespaar ein berückendes Zeugnis: si begunden dicke in dem tage ir ougen understricken mit inneclichen blicken in der menege und under liuten, da blicke sulen tiuten und wehselmære meinen, mit den man sich vereinen aller gelieben liebe mac.77

Landgraf Ludwig sollte nicht mehr zurückkehren. Noch vor seiner Einschiffung nach Palästina verstarb er am 11. September 1227 in Otranto, vermutlich an Typhus. Am 29. September brachte Elisabeth auf der fernen Wartburg das Töchterchen Gertrud zur Welt, eben jene Gertrud, die in dem Bildchen aus dem Darmstadt-Altenberger Psalterium-Diurnale eine Aufnahme des Abschieds ihrer Eltern sehen wollte. Über die Liebes- und Ehegeschichte des Landgrafenpaares machte sich das Volk seinen eigenen Reim. Beim Heiligsprechungsprozess der Elisabeth von Thüringen wurde als Zeugin auch die 50jährige Mechthild aus dem Städtchen Biedenkopf unweit Marburgs einvernommen. Sie gab unter Eid zu Protokoll, dass sie auf dem linken Auge blind gewesen

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Sprachgebiet. 2 Bde., München und Zürich 1987 (Münchener Texte und Untersuchungen zur dt. Literatur des Mittelalters, 84–85), Bd. 1, S. 305. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Ranke (wie Anm. 38), V. 12976– 12983: Sie fingen oft bei Tage an, sich offnen Auges zu verstricken mit ihren liebevollen Blicken – unter Leuten, in der Menge, wo die Blicke Zeichen geben, ja ganze Dialoge sind, in denen die geliebte Liebe volle Übereinkunft findet. Vgl. zu dieser Stelle Gudrun Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, 2 Bde., München 1985 (Münstersche Mittelalter-Schriften, 35,1–2), Bd. 2, S. 922.

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sei. Am Grab der Landgräfin wurde sie auf dem linken Auge wieder sehend, erblindete daraufhin aber zum allgemeinen Gelächter auf dem rechten Auge. Doch als sie gehört habe, was die Menschen über die jammervolle Trennung Elisabeths von ihrem Gatten bei seinem Aufbruch ins Heilige Land gesungen hätten, sei sie zu Tränen gerührt gewesen und habe dadurch wieder ihr Augenlicht zurückerhalten. Was genau haben denn die Menschen auf deutsch, Teutonice, gesungen de separatione flebili Elisabethae et mariti sui Ludewici lantgravii in terram sanctam ituri?78 Im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Wienhausen wurde 1934 ein Liederbuch entdeckt, unter dessen geistlichen Liedern sich eine Ballade über Elisabeth und Ludwig befindet.79 Es gibt überzeugende Gründe, in diesem um 1470 eingetragenen Text einen unmittelbaren Reflex des im Wunderprotokoll erwähnten deutschen Liedes zu sehen. Sein nach fast 250 Jahren verwitterter und zersungener Inhalt gibt ganz deutlich zu erkennen, wie man sich im Volk die näheren Umstände der Trennung vorgestellt hat. Für unser Thema sind besonders die zweite und dritte Strophe aufschlussreich, denn sie evozieren vor der eigentlichen Trennung eine Tageliedsituation für Ludwig und Elisabeth, die Liebesnacht vor dem Aufbruch am Morgen: 78

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Vgl. Albert Huyskens, Quellenstudien zur Geschichte der hl. Elisabeth, Landgräfin von Thüringen, Marburg 1908, S. 91 f.; Matthias Werner, „Der Bericht der päpstlichen Kommissare von Januar/Februar 1233“, in: Sankt Elisabeth (wie Anm. 57), Katalog Nr. 104, S. 465 f. Hierzu jetzt: Ingrid Würth, „Bericht über die Heilung Mathildes aus Biedenkopf“, in: Elisabeth von Thüringen, Katalog (wie Anm. 57), Nr. 124, S. 194 f. Kloster Wienhausen b. Celle, Hs. 9, Blatt 32r /32v . Ausgaben: Heinrich Sievers, Das Wienhäuser Liederbuch, [I.] Faksimile, [II.] Kommentar, Wolfenbüttel 1954; Peter Kaufhold, Das Wienhäuser Liederbuch, Wienhausen 2002 (Kloster Wienhausen, 6), Nr. 42, S. 151–153 (Landgraf Ludwig und die heilige Elisabeth); Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien, hg. v. Lutz Röhrich und Rolf Wilhelm Brednich, Bd. 1: Erzählende Lieder. Balladen, Schwänke, Legenden, Düsseldorf 1965, Nr. 59, S. 321–324 (Die heilige Elisabeth). Vgl. Ludwig Wolff, „Zur Ballade vom Landgrafen Ludwig und der heiligen Elisabeth“, in: Niederdeutsches Jahrbuch 69/70 (1943/47), S. 47–55; Helmut Lomnitzer, „‚Elisabeth von Thüringen‘ (Ballade)“, in: VL2 2 (1980), Sp. 494 f.; ders., „Lied über Elisabeth und Ludwig“, in: Sankt Elisabeth (wie Anm. 57), S. 408–410. Hierzu jetzt: Martin Schubert, „Wienhäuser Liederbuch“, in: Elisabeth von Thüringen, Katalog (wie Anm. 57), Nr. 125, S. 195. Zum Inhalt des Liederbuches und seiner literarischen Stellung vgl. Johannes Janota, „‚Wienhäuser Liederbuch‘“, in: VL2 10 (1999), Sp. 1046–1052.

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Se legen de nacht to samde de nacht want an den dach. Sie lagen die ganze Nacht beisammen bis der Tag anbrach.

Der morgendliche Dialog enthält ein minnesängerisches Element in Verbindung mit der Kreuzzugsmotivik: Die Frau – also Elisabeth – klagt Gott, dass sie ihren Ludwig, der sie nun verlassen will, je kennengelernt hat. Dieser erwidert, wenn sie Gott klage, dass sie ihn kennengelernt habe, so wolle er jetzt über das Rote Meer und wieder zurückkommen, wenn es ihm vergönnt sei: Nu klaghe ik gode van hymmel, dat ik juck jw gesach. Klaghe gy gode van hymmele dat gy my jw gheseghen, so wyl ik over dat rode mer unde hir wedder, ifft ik mach.80

Der Beitrag des Goldschmieds, der die beiden Gesichter so meisterhaft aus dem Goldblech getrieben hat, bleibt freilich unübertreffbar. Dieser anonyme Künstler hat die Überwindung der Trennung von Liebenden zeitenthoben in der Vereinigung der Augen als Verschmelzung zweier Seelen zur Anschauung gebracht. Sie werden jetzt bestimmt sagen, so traurig hatten wir uns eigentlich diese Abschiedsvorlesung nicht vorgestellt. Und da haben Sie auch recht, unbeschadet der Tatsache, dass das französische Sprichwort Partir, c’est mourir un peu gültig bleibt und man dem verstorbenen Berliner Philosophen Wilhelm Weischedel wird zustimmen müssen, dass eine Skeptische Ethik ohne die Grundhaltung der Abschiedlichkeit nicht auskommt: 80

Röhrich und Brednich, Deutsche Volkslieder (wie Anm. 79), S. 322. Vgl. auch Kaufhold, Wienhäuser Liederbuch (wie Anm. 79), S. 151. – Elisabeths Worte erinnern an die Klage der Dido vor dem scheidenden Eneas in der am Thüringer Hof bestens bekannten ‚Eneit‘ Heinrichs von Veldeke: 69,4 ouwê, daz ich ûch ie gesach! 71,33 mir is leit daz ich ûch ie gesach. Zitiert nach Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort v. Dieter Kartschocke, Stuttgart 2 1997. Über die Beziehung Veldekes zum Landgrafenhof vgl. Bumke, Mäzene (wie Anm. 57), S. 113–115.

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Der Ausdruck ‚Abschiedlichkeit‘ meint die zur Haltung gewordene Tätigkeit des Abschieds. Wer abschiedlich existiert, der nimmt ständig von dem Abschied, worin er sich aufhält: von der Situation, in der er fraglos der Welt und sich selber verhaftet ist. [. . . ] Die Abschiedlichkeit in ihrem doppelten Aspekt – als Abschied von der Welt und als Abschied von sich selbst – bringt den Skeptiker in seine innerste Freiheit.81

Die Abschiedsposse von dem Stricker Aber wie in der Antike ein echter Theatertag nicht nur aus einer tragischen Trilogie bestand – bei uns waren das die Tageliedsituation, die Tristanminne und der Kreuzzug –, sondern mit einem Satyrspiel zu Ende ging,82 schulde ich Ihnen noch einen heiteren Ausklang. Es gibt nämlich auch Fälle, in denen das urloup nemen von den Protagonisten ganz anders erlebt, ja geradezu herbeigewünscht wird. Der Autor, der dies in Szene setzt, heißt „der Stricker“. Seinem Schwank hat die Literaturwissenschaft den Titel ‚Ehescheidungsgespräch‘ gegeben.83 Ein Mann spricht zu seiner Frau: wænest du, daz ich bî dir belîbe iemer allez mîn leben?

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Wilhelm Weischedel, Skeptische Ethik, Frankfurt a. M. 1976, S. 194 f. Vgl. Bernd Seidensticker, „Das Satyrspiel“, in: Das griechische Drama, hg. v. Gustav Adolf Seeck, Darmstadt 1979 (Grundriss der Literaturgeschichten nach Gattungen), S. 204–257 [255]: „Das Satyrspiel offeriert nach der tragischen Weltsicht einen unkomplizierten optimistischen Blick auf das menschliche Leben. Ziel ist dabei nicht Ironisierung und Kritik, Korrektur oder gar Karikatur der Tragödie, sondern die beruhigende Erinnerung: das gibt es auch!“ Der Stricker, Verserzählungen I, hg. v. Hanns Fischer, Tübingen 5 2000 (Altdeutsche Textbibliothek, 53), S. 22–27; Der Stricker, Erzählungen, Fabeln, Reden. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und komm. v. Otfrid Ehrismann, Stuttgart 1992 (ND zuletzt 2004), S. 143–151. Vgl. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. und erw. Auflage besorgt v. Johannes Janota, Tübingen 1983, besonders S. 409 mit Regest 127d, S. 523; Karl-Heinz Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969 (Hermaea, N.F., 26), Register. Zum Stricker als dem Begründer der Gattung des Märe vgl. Novellistik des Mittelalters: Märendichtung, hg., übers. und komm. v. Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters, 23 / Bibliothek deutscher Klassiker, 138), S. 1008 f. mit dem Kommentar zu den ausgewählten Stricker-Novellen S. 1019–1055.

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Hubert Herkommer

niht! ich wil dir urloup geben noch hiute über ein jâr.84

Sogleich bereut er diese lange Scheidungsfrist und verkürzt Schlag auf Schlag den Termin auf vierzig Wochen, ach Unsinn, nur dreißig werden es sein. Ich werde mich schon anstrengen, dass es in zwanzig geht. Schließlich hat er das dafür veranschlagte Zeitbudget auf drei Tage heruntergefahren, um dann auszurufen: du bist mir sô leide bî, daz wir uns scheiden morgen,

nein heute: mir grûset, swenne ich dich sehen sol! 85

Weiterleben kann ich nur ohne dich! Die Frau, die diesen hysterischen Wortschwall schweigend hat über sich ergehen lassen, macht nun ihrerseits eine gnadenlose Gegenrechnung auf: Am liebsten Scheidung jetzt, aber warum nicht morgen, um dann das Zeitfenster immer größer werden zu lassen, bis sie schließlich die Scheidung in vierzig Wochen in Aussicht stellt: Dune kumest niemer von mir, der tôt scheide mich von dir. [. . . ] ich zerbriche dich rehte als ein huon, sprichest einez wort dâ wider.86

Es kommt zum moralisch motivierten Happy-End. Der eingeschüchterte Mann führt seine unbesonnene Rede auf seinen Weinkonsum zurück und kann sich an nichts mehr erinnern: Nie habe er eine vollkommenere noch schönere Frau gesehen als die seine, behauptet er jetzt. Dieses und andere Komplimente stellen die Frau zufrieden: hie nam der zorn ein ende. Anschließend versöhnen sich beide im Bett: 84

85 86

Der Stricker, Verserzählungen (wie Anm. 83), S. 22, V. 2–5. Übersetzung von Ehrismann (wie Anm. 83), S. 143: „Glaubst du vielleicht, ich würde mein ganzes Leben lang bei dir bleiben? Gewiß nicht! Noch heute in einem Jahr werde ich dir den Abschied geben.“ Ebd., V. 30 f. und 43. Ebd., V. 91–97: „Du kannst nicht abhauen, nie kommst du von mir weg, höchstens wenn der Tod uns scheidet. [. . . ] Ich zerquetsche dich wie ein Huhn, wenn du nur ein einziges Wort dagegen sagst.“

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dâ ergie ein suone under in, diu grôze vröude mahte.

Beide lachten.87

Eine kleine Abschiedstypologie aus gegebenem Anlass Wollte man, von unseren spektakulären Einzelfällen einmal abgesehen, versuchen, für die zahllosen, oft eher beiläufigen Abschiede in der mittelalterlichen Literatur eine Typologie aufzustellen,88 so träte vielleicht dieser oder jener Aspekt ans Licht, der auch für den heutigen Anlass kennzeichnend ist. Der Scheidende bittet um Urlaub, das habe ich getan, und der Wirt, also der Erziehungsdirektor des Kantons Bern, hat ihn mir auch gewährt. Der Weggehende erhält beim Abschied Geschenke – da lass’ ich mich überraschen. Man befiehlt ihn dem Schutze Gottes, das ist – kein Wunder – unterblieben, denn welcher Dekan kennt schon den 87 88

Ebd., V. 129–134. Zu den Abschiedsformeln und Abschiedsszenen in der Epik und Lyrik vgl. Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. 2 Bde., Leipzig 1879–1880 (ND Kettwig 1991), Bd. 1, S. 450 und 499; Emil Kettner, „Zur Kritik des Nibelungenliedes. IV. Abreise und Abschied“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 17 (1885), S. 129–173; Elsa-Lina Matz, Formelhafte Ausdrücke in Wolframs Parzival, Diss. Kiel 1907, S. 28–39; Walther Bolhöfer, Gruß und Abschied in Ahd. und Mhd. Zeit, Diss. Göttingen 1912, S. 10–12 und 58–79; Marianne von Lieres und Wilkau, Sprachformeln in der mittelhochdeutschen Lyrik bis zu Walther von der Vogelweide, München 1965 (Münchener Texte und Untersuchungen zur dt. Literatur des Mittelalters, 9), S. 134–141 und 188–195; Renate Roos, Begrüßung, Abschied, Mahlzeit: Studien zur Darstellung höfischer Lebensweise in Werken der Zeit von 1150–1320, Diss. Bonn 1975, S. 235–335; Rosemarie Marquardt, Das höfische Fest im Spiegel der mittelhochdeutschen Dichtung (1140–1240), Göppingen 1985 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 449), S. 250–253; Harald Haferland, Höfische Interaktion: Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren dt. Literatur, 10), S. 149; Albert Bremerich-Vos, „Abschiedsrede“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 5–11 [7]. Ungeachtet des reichen literarischen Belegmaterials zum urloup fehlt es im Unterschied zu den Begrüßungsritualen an einem verbindlichen Abschieds-Ordo. Vgl. Horst Fuhrmann, „‚Willkommen und Abschied‘. Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Mittelalter“, in: Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit, hg. v. Wilfried Hartmann, Regensburg 1993 (Schriftenreihe der Universität Regensburg, NF 19), S. 111–139 [138]. Diese Regensburger Abschiedsvorlesung ist leicht modifiziert und ohne wissenschaftlichen Apparat wiederabgedruckt in: ders., Überall ist Mittelalter: Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996, S. 17–39 und 273–275 (Literaturhinweise) [39].

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Weingartner Reisesegen auswendig.89 Dem Abreisenden wird häufig ein Geleit gegeben; genau das geschieht gerade hier bei meinem abendlichen Übergangsritus und für dieses besondere Geleit bin ich Ihnen sehr dankbar. Das Scheiden des Gastes wird beklagt. Das ist geschehen. Die Damen weinen – darauf warte ich noch. Der Abreisende hat es eilig fortzukommen – das gilt für heute abend nicht. Die Damen geleiten den Ausreitenden zuvor noch in eine Kemenâte, wo er die Rüstung anlegt. (Eine durchaus interessante Perspektive, die freilich weniger auf einen Rücktritt passt.) Und schließlich: Der Gast zieht froh von dannen, die Zurückbleibenden sind traurig. Dafür möchte ich aber jetzt nicht die Hand ins Feuer legen! Ich komme zum Schluss. Meine eingangs angesprochene Suche nach Berner Abschiedsstoffen hat zu guter Letzt doch noch einen Text zutage gefördert, mit dem ich gerne den Endpunkt setzen möchte unter meine langjährige Tätigkeit an der Universität Bern. Der kleine Passus stammt aus der ‚Abschieds=Rede gehalten am Bernischen Schulfest, den 10. May 1817, durch Friedrich von Mutach, gewesener Kanzler der Akademie zu Bern [der Vorgängerin unserer Universität]. Bern, gedruckt bey Witwe Stämpfli, geb. Ernst‘:90 89

90

Der Weingartner Reisesegen ist nach seiner Stuttgarter Handschrift abgedruckt in: Gedichte von den Anfängen bis 1300. Nach den Handschriften in zeitlicher Folge hg. v. Werner Höver und Eva Kiepe, München 1978 (Epochen der dt. Lyrik, 1), S. 49. Die beigefügte Übersetzung lautet: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Ich schaue dir nach, ich sende dir nach mit meinen fünf Fingern fünfundfünfzig Engel. Gott erhalte dich gesund, sende dich heim! Offen sei dir das Tor zum Sieg, ebenso sei dir das Tor zum Glück, verschlossen sei dir das Tor des Meeres, ebenso sei dir das Tor der Waffen! Der Segen des guten heiligen Ulrich vor dir und hinter dir und über dir und neben dir, wo du dich aufhältst und wo du bist, damit dort ein ebenso guter Friede herrsche, wie dort war, wo meine heilige Frau Maria den heiligen Christus zur Welt brachte.“ Vgl. Hugo Moser, „Vom Weingartner Reisesegen zu Walthers Ausfahrtsegen. Gereimte Gebetssegen des frühen und hohen Mittelalters“, in: Festschrift für Elisabeth Karg-Gasterstädt zum 75. Geburtstag, Halle 1961 (Sonderband der Beiträge zur Geschichte der dt. Sprache und Literatur, 82), S. 241–268, wiederabgedruckt in: ders., Studien zur deutschen Dichtung des Mittelalters und der Romantik. Kleine Schriften II, Berlin 1984, S. 133–149; Hans-Hugo Steinhoff, „‚Weingartner Reisesegen Ic dir nach sihe‘“, in: VL2 10 (1999), Sp. 818 f. Friedrich von Mutach, Abschieds=Rede gehalten am Bernischen Schulfest, den 10. May 1817, Bern 1817, nachgewiesen in Universitätsbibliothek Bern, Signaturen: Laut. 290 (4), H. XXIII. 164 (1) und Mut. 171 (15). Zu Abraham Friedrich

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Ich breche ab, die Abschiedsstunde schlägt. Gefühle innigster Rührung und Dankbarkeit erfüllen mich – gegen meine verehrte Regierung, deren huldreiche Hand mich in einen der schönsten Wirkungskreise des Lebens zu versetzen, und zum Werkzeug ihrer wohlthätigsten und landesväterlichsten Vorsorge zu machen, gewürdigt hatte, welche die Beschwerden meines Amtes durch Aufmunterungen und den kräftigsten Schutz erleichterte, und bey dem hohen Interesse, das ich billig an der Erhaltung unseres Erziehungswesens nehme, durch die, wie wir hoffen sollen, nächst zu treffende Wahl eines würdigern Nachfolgers, mich wahrhaft beglücken und verpflichten wird.91

91

von Mutach vgl. Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Neuenburg 1929, S. 223 f.; Hochschulgeschichte Berns (wie Anm. 11), Register. Mutach, Abschieds=Rede (wie Anm. 90), S. 14.

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Die Autoren Prof. Dr. Urs von Arx (Bern) Urs von Arx, geb. 1943 in Solothurn. Theologiestudium in Bern, Paris und Oxford, danach Pfarramt. 1986–2008 Professor für Neues Testament, Homiletik und (seit 1993) Geschichte des Altkatholizismus an der Christkatholisch-theologischen Fakultät (heute Departement für Christkatholische Theologie) der Universität Bern. Veröffentlichungen zu exegetischen, kirchengeschichtlichen, ekklesiologischen und liturgietheologischen Themen. Mitarbeit in internationalen ökumenischen Dialogkommissionen.

Marie Aschehoug-Clauteaux (Paris) Nach dem Abschluss des Studiums am Institut Catholique de Paris und an der Université Paris IV–Sorbonne mit einer Maîtrise im Fach Geschichte, erwarb Marie Aschehoug-Clauteaux im Juni 2003 ein DEA an der École Pratique des Hautes Études (EPHE), Paris, unter der Betreuung von Michel Pastoureau. Sie arbeitet derzeit an einer Dissertation in mittelalterlicher Geschichte, die sie voraussichtlich Ende 2009 an der EPHE verteidigen wird. Das Thema ihrer Dissertation lautet: Die Farben des Körpers in illuminierten Handschriften vom Ende des 10. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts: Eine Studie zu den Beziehungen zwischen Farbe und Körper im mittelalterlichen Bild. Ausgehend vom konkreten Bild untersucht diese Arbeit die Ikonographie des Körpers und mögliche Darstellungen von Statusaspekten durch Farbigkeit.

PD Dr. Therese Bruggisser-Lanker (Bern) Therese Bruggisser-Lanker studierte Musikwissenschaft, Mittelalterliche und Neuere Geschichte an der Universität Bern, wo sie 1999 promoviert wurde. 2007 Habilitation mit einer Arbeit über Musik und Tod

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Die Autoren

im Weltbild des Mittelalters (im Druck). Von 1996-2001 wirkte sie als Dozentin an der Musikakademie St. Gallen, seit 2000 als Lehrbeauftragte an den Universitäten Bern und Zürich sowie als Gastprofessorin an der Universität Freiburg/Schweiz. Seit 2002 ist sie Präsidentin der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft. Ausgewählte Publikationen: Musik und Liturgie im Kloster St. Gallen in Spätmittelalter und Renaissance, Göttingen 2004; „Monteverdis Combattimento di Tancredi e Clorinda“, in: Paare und Paarungen, Stuttgart 2004; „Zur Herkunft des Fugenthemas in Mozarts Jupiter-Sinfonie“, in: Acta Mozartiana 52 (2005); „Ritus und Memoria. Die Musik im liturgischen Buch“, in: Buchkultur im Mittelalter, Berlin/New York 2005; „Engelsmusik und Marienverehrung“, in: Engel, Teufel und Dämonen, Basel 2006.

Prof. Dr. Lucas Burkart (Basel/Luzern) Studium der Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und Literaturwissenschaften in Basel und Bologna. 1995-1997 Graduiertenkolleg „Die Renaissance in Italien und ihre europäische Rezeption. Kunst – Geschichte – Literatur“ in Bonn. Forschungsaufenthalte in London, Verona, Venedig und Florenz. Promotion 1998 in Basel, Habilitation (Mittlere und neuere Geschichte) ebendort 2005. Von 1998–2007 Assistent am Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters in Basel. Seit 2007 SNFFörderprofessor an der Universität Luzern mit dem Projekt „Von der Präsentation zum Wissen. Athanasius Kircher und die Sichtbarmachung der Welt“. Publikationen: Das Blut der Märtyrer. Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze, Köln, Weimar und Wien 2008 (Norm und Struktur, 31); Die Stadt der Bilder. Familiale und kommunale Bildinvestition im spätmittelalterlichen Verona, München 2000; „Das Verzeichnis als Schatz. Überlegungen zu einem inventarium thesauri romane ecclesiae der Biblioteca Apostolica“, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 86 (2006), S. 144–207. L.B. et al., Le trésor au Moyen Âge. Questions et perspectives de recherche – Der Schatz im Mittelalter. Fragestellungen und Forschungsperspektiven, Neuchâtel 2005. Forschungsschwerpunkte: Stadt-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Bild-, Medien-

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Die Autoren

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und Kommunikationsgeschichte, Mittelalterliche Geschichte Italiens und Roms, Intellectual History, Wissenschaftsgeschichte.

PD Axel Christoph Gampp (Basel) Axel Christoph Gampp (*1964) studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Soziologie in Basel und Zürich. Abschluss mit einer Arbeit über Santa Rosalia in Palestrina und das ästhetische Konzept der Magnificentia, erschienen in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 29 (1994). Promotion 1994 über den Städtebau im römischen Umland 1600–1750 (Die Peripherie als Zentrum, Worms 1996); Habilitation 2002 mit einer Arbeit aus dem Bereich der italienischen Kunsttheorie (Ars und Opus – Kunstbegriff und Werkbegriff in der italienischen Kunst der frühen Neuzeit, im Druck). Seit 2002 Privatdozent für Allgemeine Kunstgeschichte an der Universität Basel. Interessenschwerpunkte im Bereich der italienischen Kunst und Kunsttheorie der Frühen Neuzeit, in Kunst und Kultur des Schweizer Barock sowie hinsichtlich der Bedeutung von Mimik und Gestik in der Bildenden Kunst. Jüngste Publikationen zu den genannten Bereichen (etwa zu Franz Xaver Messerschmidt, zur Brunnenprogrammatik in Fribourg und zum barocken Kirchenbau in der Schweiz).

Prof. Dr. Hubert Herkommer (Bern) Hubert Herkommer, geboren 1941 in Schwäbisch Gmünd, war Professor für germanistische Mediävistik an den Universitäten Kassel (1973– 1977) und Bern (1977–2006). Seine Forschungsarbeiten gelten dem Weltbild und der Bedeutungslehre des Mittelalters, den theologisch-liturgischen Traditionen, der volkssprachlichen Geschichtsschreibung, der Dichtung der Stauferzeit und des Spätmittelalters, der Ars moriendi und der Erbauungsliteratur. Zu seinen gewichtigsten Publikationen zählen der Kommentar zur Weltchronik des Rudolf von Ems und zu Strickers Karlsroman (1987) sowie die Edition der Sächsischen Weltchronik (2000). Hubert Herkommer ist Mitherausgeber und Mitautor der Sammelbände König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt (Freiburg/Schweiz 2003) und Engel, Teufel und Dämonen. Einblicke in die Geisterwelt des Mittelalters (Basel 2006). Er ist Mitherausgeber der Bibliotheca Germanica und des Deutschen Literatur-Lexikons.

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Die Autoren

Prof. Dr. André Holenstein (Bern) André Holenstein ist Professor für Ältere Schweizer Geschichte an der Universität Bern. Seine Forschungsinteressen beinhalten die Verfassungsgeschichte des Alten Reichs und der vormodernen Schweiz sowie die Kulturgeschichte ökonomischen Wissen und ökonomischer Praktiken. Zu seinen Publikationen zählen unter anderem Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800), Stuttgart / New York 1991; Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 38), München 1996; (hg. mit Peter Blickle, Heinrich R. Schmidt, Franz-Josef Sladeczek) Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002; (hg. mit Frank Konersmann, Josef Pauser, Gerd Sälter) Policey in lokalen Räumen. Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002; „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach). 2 Bde., Epfendorf/Neckar 2003; (hg. mit Sabine Ullmann) Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit, Epfendorf/Neckar 2004; (hg. mit Claudia Engler u. a.) Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2006.

Prof. Dr. Andreas Kotte (Bern) Studium der Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft und Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion 1985 mit einer Arbeit zum Halberstädter Adamsspiel, einem Grenzfall mittelalterlicher Theaterkultur (ersch. Tübingen 1994). 1988 Habilitation zu den Strukturveränderungen im ungarischen Theater 1980–1987. Seit 1992 Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Herausgeber der Buchreihen Theatrum Helveticum und Materialien des ITW Bern, bisher 20 Bände, sowie des viersprachigen, dreibändigen Werkes Theaterlexikon der Schweiz, Zürich 2005. Forschungen zur europäischen Theatergeschichte und zur Systematik der Theaterwissenschaft, Köln 2005. KoLeitung von STEP – Project on European Theatre Systems. Präsident der internationalen Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V., Sitz Mainz.

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Die Autoren

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Dr. Klaus Oschema (Bern/Heidelberg) Studium der Mittelalterlichen Geschichte, Philosophie und der Englischen Sprachwissenschaft und Mediävistik in Bamberg und Paris XNanterre. 2004 Promotion in einem co-tutelle-Verfahren an der École Pratique des Hautes Études (Paris) und der TU Dresden, mit einer Arbeit zu Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund, Köln, Weimar und Wien 2006. Von 2002 bis 2007 Assistent für mittelalterliche Geschichte an der Universität Bern, seit Oktober 2007 an der RuprechtKarls Universität Heidelberg. Publikationen zur spätmittelalterlichen, insbesondere burgundischen, Adelskultur, zu Ritualen und Gesten der Freundschaft sowie zu Europa-Konzepten des Mittelalters, u. a. „Bloodbrothers: A Ritual of Friendship and the Construction of the Imagined Barbarian in the Middle Ages“, in: Journal of Medieval History 32 (2006), S. 275–301, und „Si fut moult grande perte . . . : L’attitude paradoxale de l’idéologie chevaleresque envers la mort (XVe –XVIe siècles)“, in: Francia 31/1 (2004), S. 95–120.

Prof. Dr. Ulrich Rehm (Bochum) Ulrich Rehm hat in Köln und München Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie studiert. Nach dem Magister Artium an der LudwigMaximilians-Universität 1990 wurde er 1994, ebenfalls dort, mit der Dissertation Bebilderte Vaterunser-Erklärungen des Mittelalters (BadenBaden 1994) promoviert. Seit 1990 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München in der Redaktion des Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte und nahm 1994 einen Lehrauftrag an der Universität Passau wahr. 1994/95 war er als Wissenschaftlicher Volontär am Bayerischen Nationalmuseum tätig. 1995 wechselte er als Wissenschaftlicher Assistent nach Bonn an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, wo er sich 2001 mit einer Arbeit zu Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung (München und Berlin 2002) habilitierte. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Privat- und Hochschuldozent an der Universität Bonn und Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Frankfurt a. M. und Heidelberg folgte er 2007 dem Ruf an die Ruhr-Universität Bochum.

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Die Autoren

Dr. Thomas Richter (Aschaffenburg) Geboren 1967 in Stuttgart. Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Bauforschung in Bamberg, Rennes und Würzburg. Magister Artium 1995 über Das ‚Weltgericht‘ am Chorbogen des Ulmer Münsters. Dissertation 1999 in Würzburg bei Prof. Dr. Gosbert Schüßler, Universität Passau: Paxtafeln und Pacificalia. Studien zu Form, Ikonographie und liturgischem Gebrauch (Weimar 2003). Volontär und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Staatlichen Museen Kassel, Kustos und Ausstellungskurator bei den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale. 2003 Werner-Hauger-Preis des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, München. 2004 Konservator für Kunsthandwerk und Gemälde am Historischen Museum Bern. Seit 2006 Leiter der Museen der Stadt Aschaffenburg. Publikationen zum Bildgebrauch in der Liturgie, zur Ikonographie mittelalterlicher Kunst, über verschiedene Gattungen des Kunsthandwerks und des Designs, insbesondere zur Goldschmiedekunst.

Prof. Dr. Barbara Schellewald (Basel) Barbara Schellewald studierte Kunstgeschichte, Indologie, Klassische und Christliche Archäologie sowie Italienische Philologie an den Universitäten Heidelberg und Bonn, wo sie 1982 promoviert wurde. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg, einer Assistenz in Bonn und mehreren Forschungsaufenthalten in Süd- und Osteuropa, erhielt sie 1993 einen Ruf an die Universität Leipzig für Osteuropäische Kunstgeschichte. 1994 habilitierte sie sich an der Universität Bonn, wo sie im gleichen Jahr einen Ruf als Professorin für Kunstgeschichte des Mittelalters mit dem Schwerpunkt byzantinische Kunstgeschichte erhielt. Seit 2004 ist sie Ordinaria für Allgemeine Kunstgeschichte des Mittelalters an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die byzantinische Bildproduktion und -programmatik, Reliquien, Bild und Text-Relationen, Kulturtransfer zwischen Ost und West im Mittelalter und Wissenschaftsgeschichte.

Prof. Dr. Jens Schlieter (Bern) Jens Schlieter, geb. 1966, Studium der Philosophie, Religionswissenschaft und Tibetologie/Buddhismuskunde in Wien und Bonn, Promotion 1999

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Die Autoren

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mit einer Arbeit zum Vergleich buddhistisch- und westlich-philosophischer Sprachauffassungen. Nach einer Anstellung als Fachbereichsleiter an der Urania Berlin wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten in München (LMU) und Bonn. Seit September 2005 Assistenzprofessor am Institut für Religionswissenschaft der Universität Bern. Habilitation 2007 ebendort mit einer Arbeit zur den zeitgenössischen bioethischen Diskursen und deren ideengeschichtlichen Grundlagen in den buddhistischen Traditionen Süd- und Südostasiens. Forschungs- und Lehrschwerpunkte: Ideengeschichte des indo-tibetischen Buddhismus, theoretische bzw. systematische Religionswissenschaft, Bioethik der Religionen.

Prof. Dr. Werner Senn (Bern) Werner Senn (geb. 1942) studierte Anglistik und Germanistik an den Universitäten Bern, Wien und Liverpool, erwarb 1968 das Bernische Gymnasiallehrerpatent und promovierte 1972 in Bern mit einer Arbeit zur Dramaturgie von Shakespeares Zeitgenossen Robert Greene und George Peele. 1978 habilitierte er sich an der Universität Bern mit der Studie Conrad’s Narrative Voice: Stylistic Aspects of his Major Fiction. Swiss Studies in English, 100. Bern: Francke, 1980. 1984 wurde er zum Professor für neuere englische Literatur an der Universität Bern ernannt. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Intermedialität, postkoloniale (v. a. australische) Literatur und motivgeschichtliche Fragestellungen (Labyrinth, Berge, Inseln). Er ist Herausgeber mehrerer Sammelbände und Verfasser zahlreicher Aufsätze zu diesen Gebieten. Seit Sommer 2007 ist er im Ruhestand.

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Index

Aachen, 13, 259, 260, 264, 271, 273, 297, 308 Abdankung, 323, 330, 331 Aberglauben, 248 Abschied, 350, 354, 372, 378, 381 Abschiedsklagen, 358 Achener Krönung, siehe Krönung Adeline von Lothringen, Gfn. von Vienne, 369 Adelphos, 14, 18 Agnus Dei (Lamm Gottes), 122, 123, 129, 131 Akkon, 371 Albrecht von Brandenburg, Kardinal, 129, 134 Altarkuss, 132 Amalar von Metz, 107, 303 Andrea del Castagno, 205 Anthropologie, XII, XIII, 167, 254, 255, 382 Antiphon, 33, 81, 302, 309, 314, 315 Apfel, 273, 274, 336 Apostelkommunion, 147, 154, 156, 165 Apostolische Konstitutionen, 117, 120 Argenteuil, 127 Aribert, Ebf. von Mailand, 262 Arnestus, Ebf. von Prag, 121 Asteriskos, 149, 163 Athelston, 70 Aufklärung, IX, XXIV, XXXVI, 105, 139, 167, 168, 248, 249, 353

Augsburg, 137 Augustinus, hl., Bf. von Hippo, 73, 81–83, 93 Avignon, XXV, 127 Babcock, Ivan, 284, 287 Balduin IX., Gf. von Flandern, 64, 65 Balduin V., Kg. von Jerusalem, 65 Bamberg, 21, 25, 293, 314, 315, 317, 318, 358 Barmherzigkeit, 237 Bart, 73, 76–78, 80, 82, 83, 215 Basel, 229, 231, 232, 270 Basileios der Große, 141, 142, 158– 161 Basileios-Liturgie, 142, 149, 159 Bathseba, 355 Bema, 147, 148, 151, 153 °programm, 153, 157, 161 °raum, 154 °seitenwände, 156 benedictio fontis, 103 Benedikt VIII., Papst, 317 Bergpredigt, 231, 244, 245 Bern, 34, 97, 229, 230, 246, 351– 353, 387, 388 Bernardin von Siena, 199 Bernardo Bandini, 204 Bernhard von Clairvaux, 114, 119 Bernhard von Cles, Kard., 123 Bernward, Bf. von Hildesheim, 259, 305 Beuron, 139

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402 Bevilacqua, Giovanni Ambrogio, 135 Bloch, Marc, 253 Blut, 44–46, 49–54, 56, 57, 59–70, 73, 74, 76, 78–83, 91, 104, 109, 123, 165, 173, 180, 309, 325, 330, 339–341 Böhmen, 275 Bolingbroke, Henry (Heinrich IV., Kg. von England), 328, 329 Borromeo, Carlo, 137 Botticelli, Sandro, 203 Brautwerbungsriten, 327 Bullinger, Heinrich, 245, 246 Burchard, Bf. von Worms, 297 Byzanz, siehe Konstantinopel Calliopius, 11 Carmina Burana, 36, 361 Castelfiorentino, 132 Cherubikon, 165 Chorgericht, 229, 230 Chrisam, 105 Christus, XXXIV, 10, 33, 56, 57, 61, 89, 92–95, 99–102, 104–106, 108, 112, 117, 118, 120, 127, 132, 134, 136, 138, 145–147, 149– 151, 154, 156, 158, 160– 165, 208, 209, 227, 231, 238, 240, 241, 244, 245, 259, 268, 292–294, 296, 298, 299, 302, 303, 307, 308, 310, 311, 317 Chrysostomos, Johannes, 141, 145, 157, 158, 160, 161 Chrysostomos-Liturgie, 142 Cicero, Marcus Tullius, 276 Clemens VI., Papst, 127 Clemens XI., Papst, 138 Cluny, 317 Cremona, 132

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Index

Cronica Reinhardsbrunnensis, 374 Cuchullainn, 60 da Vinci, Leonardo, 205 Dalila, 355 David, Kg. von Israel, 305, 355 Decorum, 19 Deesis, 145 Dekalog, 236 depositio crucis, 109, 110 depositio hostiae, 113 Deutschland, 278, 286 Diakon, 123 diataxis (ordo), 142 Dietrich von Apolda, 374, 380 Dietrich, Bf. von Metz, 261 Dreifaltigkeit, 236, 238 Dresden, 135 Drittes Reich, 287 Drogo-Sakramentar, 118 Dürer, Albrecht, 5 Efron, David, 7 Egeria, 94 Ehegericht, 229 Ehre, 197, 201, 246, 309, 328 Eidbruch, 234, 236 Eidesauslegung, 238 Eidesermahnung, 236–238, 242 Eideslehre, 233, 235, 236, 238, 244, 247, 249 eikon, 150 Ekman, Paul, 7 ekphrasis, 165 elevatio crucis, 109, 110 elevatio hostiae, 113 Elisabeth I., Kgn. von England, 372, 375–378, 383, 384 Elisabeth, hl., Gfn. von Thüringen, 369, 382 Elisabeth-Vita, 380 Emmeram, hl., Bf. von Poitiers, 299

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Index

Epiklese, 146 Ethnologie, XI, XXII, XXVII, 42, 44, 167, 169, 254, 255, 289, 303 Eucharistie, 56, 57, 132, 134 °feier, 96, 107 eucharistischer Leib, 132 Europa, 278 Exeter, 121 Exorzisieren, 105 Falstaff, Sir John, literar. Figur, 333, 335 Fechtbücher, 4 Florenz, 198, 203 Flugblatt, 242 Foucault, Michel, 197 Fra Angelico, Guido di Pietro, 223 Franck, Sebastian, 349 Frankreich, 129 Freidank, 371 Fremdbeschreibung, 43 Fremde, 42 Fremdzuschreibungen, 50 Freundschaft, 51, 52, 59, 64 Freundschaftsbund, 47 Friedenskuss, 117, 118, 121, 309 Friedensritual, 73, 132, 134 Friedensritus, siehe Friedensritual Friedrich II., Ks., röm.-dt. Kg., 271, 273, 274, 371, 372 Friedrich III., Ks., röm.-dt. Kg., 272, 273, 284 Friedrich der Große, preuß. Kg., 349 Friedrich der Schöne, dt. (Gegen-)Kg., 270, 271 Friesen, Wallace, 7 Gebärde, 4 Gebetshaltung, 26 Geertz, Clifford, 254 Gegenwart Christi, 120

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403 Geleit, 388 Geoffroi de Vinsauf, 27 Germanos, hl., Patr. von Konstantinopel, 150 Gertrud von Altenberg, sel., 378, 382 Geschenke, 387 Geschichtsdramen, 324 Gesta Ludowici, 374 Geste, 4, 24, siehe auch Zweifingergeste hinweisende G., 8, 16, 18–20 ideographische G., 8, 10, 14, 16, 18–20 malerische G., 8, 19, 20 rhythmisierende G., 8 gesticulatio, 26 Gestik, 77 Gestus, 24, siehe auch Segensgestus, siehe auch Trauergestus der Rede, 9, 10 gestus offerentis, 17 Gewalt, 183, 189, 190, 214, 215, 217, 226, 227, 324, 334 politische G., 232, 235, 244, 273, 297 Gewissen, 231, 233–235, 247, 249, 250 Giraldus Cambrensis, 58, 62 Girolamo Savonarola, 199, 200, 203, 207, 208 Gisela, Ksn., röm.-dt. Kgn., 262 Goebbels, Joseph, 279 Gottfried von Straßburg, 367, 382 Gregor I., der Große, Papst, 118, 165 Gregor von Nazianz, 161 Gregor von Tours, 255 Gregorianischer Schmerzensmann, siehe Schmerzensmann Guy de Monceaux, Abt von St. Denis, 127

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404 Haarlem, 137 Habsburg, Dynastie, 137, 138 Hagia Sophia, 142, 166 Halleluja, dreifaches, 107 Hamlet, 323 Handauflegung, 36 Hartmann von Aue, 371 Heauton Timorumenos, 14, 16 heilige Lanze, siehe Lanze (heilige) Heilige Schrift, 244 Heilsgemeinschaft, 234 Heiltumsbuch, 131 Hallesches H., 129 Heimlichkeit, 361, 362 Heinrich I., ostfrk.-dt. Kg., 260 Heinrich II., Ks., röm.-dt. Kg., 257, 259–261, 268, 292, 293, 297, 301, 308, 314, 317 Heinrich VII., Ks., röm.-dt. Kg., 271 Heinrich „von Meißen“ (Frauenlob), 355 Helena, Mutter Konstantins des Gr., 260 Heribert, Ebf. von Köln, 258, 259, 296 Herodot, 45, 47 Herrad von Landsberg, Äbt. von Hohenburg, 30, 223 Herrenreliquie, 127 Herrschaftsideologie, 311 Herrschaftsinsignien, 256, 262 Herrschaftslegitimation, 294 Herrscheradvent, 34, 317 Herrscherakklamation, 310 Herrschertugenden, 308 Hervorhebung, 29, 31 Hetoimasia, 163 Historia Ecclesiastica, 150, 162 Histrionen, 28 Hitler, Adolf, 280–282 Hochzeitszeremonie, 332

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Index

Hodegetria, 166 Hohelied, 119, 136 Holinshed, Raphael, 331, 338 Homosexualität, 198, 200 Hortus deliciarum, 30, 223 Hostie, 127, 132, 134, 138 Hugo I., Gf. von Vaudémont, 369 Hugo von St. Viktor, 24 Hugo von Trimberg, 358 Ikone, 149, 166 Ikonostase, 147, 151, 162, 166 Illumination, 107 Imago Pietatis, 126, 132, 134, 166 Initiationsriten, 35, 105, 290, 303 Innozenz VI., Papst, 127 Insignien, 257, 261, 290, 296, 306 Instrumenta pacis, 121, 122, 126, 127, 129, 131, 132, 134, 135, 137 Interkolumnien, 142, 148, 152, 162 Inthronisation, 138, 262, 270, 297, 308 Isidor von Sevilla, 73 Isolde, literar. Figur, 362, 365–367 Jean le Bel, 63, 65 Jerusalem, 94, 144, 156, 158, 298 Johann II., Hz. von Berry ( Jean de Berry), 126 Johannes Chrysostomos, siehe Chrysostomos, Johannes Jüngstes Gericht, 235, 237, 238 Julius II., Papst, 129 Känischbauer, Johann Baptist, 137 Kästner, Erich, 367 Kaiserkrone, 138 Kannibalismus, 56 Kant, Immanuel, 247, 248 Kantillation, 309 Kantorowicz, Ernst, 263, 313

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Karl (I.) der Große, Ks., frk. Kg., 13, 264, 273, 274, 277– 279, 297, 309 Karl IV., Ks., röm.-dt. Kg., 274 Karl V., Ks., röm.-dt. Kg., 137 Karl VI., Ks., röm.-dt. Kg., 137, 138 Karl V., Kg. von Frankreich, 126 Karlskrone, siehe Reichskrone Kartäuserorden, 129 Kirchenraum, 107 Klosterneuburg, 139 Königseinzug, siehe Herrscheradvent Königsweihe, 306 Königtum, 317 Körper, 200, 208, 225 Körperstrafen, 197 Kommunikation, symbolische, 290 Kommunion, 132, 134 Konrad II., Ks., röm.-dt. Kg., 261– 263, 266, 268, 290 Konstantin, der Große, Ks., 260 Konstantinische Schenkung, 275 Konstantinopel, 64, 142, 144, 154, 165, 204, 314 Kreuz, 268 Kreuzritterbibel, 214, 226 Kreuzzug, 217, 368, 371, 385 Krönung, 265, 270, 283, 290 Aachener Krönung, 273 Krönungs°ritual, 266 °ritus, 297 °zeremonie, 289 Krönungsordo, 297, 318 Krone, 256, 268, 273, 299, 305, 307, siehe auch Reichskrone Kumanen, 44–46, 49, 63 Kunigunde, Ksn., röm.-dt. Kgn., 261, 294, 297, 314

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405 Kurbinovo, Georgskirche in, 162, 163 Kusstafel, siehe Paxtafel Kyburg, 271 Laien, 121 Langdarma, Kg. von Tibet, 184, 185, 189 Lanze (heilige), 258–260, 265, 266, 268, 271, 296, 298, 299, 308 Laster, 218 Laudes regiae, 309, 310, 313, 315 Lausanne, 242 Le Goff, Jacques, 253 Lechfeld, 260 Lentulus, 134 Leo X., Papst, 129 Leo, Ebf. von Konstantinopel, 154, 157 Leopold I., Ks., röm.-dt. Kg., 137, 138 Leopold, hl., 138 Lesungen (aus dem Alten Testament), 101 Leue, Friedrich Gottfried, 249 Lévy-Strauss, Claude, 254 Lichtfeier, 98 Lichtritus, 96 Liebe, 354–356, 361, 382 Liebel, Willy, 280 Ling-ga (anthropomorphes Opfersubstitut), 175, 177, 179, 181, 183, 188 Lionello, Niccolo, 131 liturgische Geräte, 129 Liutprand von Cremona, 260, 298 Logos, 145, 165 London, 121, 122 Longinus, 259 Lorenzetti, Ambrogio, 218 Ludwig (I.) der Fromme, Ks., frk. Kg., 13

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406 Ludwig (IV.) der Bayer, Ks., röm.dt. Kg., 271 Ludwig I., Hzg. von Anjou, 126 Ludwig IV., Ldgf. von Thüringen, 369, 372, 375, 377, 378, 382, 383 Ludwig IX., der Heilige, Kg. von Frankreich, 209, 217, 227 Ludwigslied, 348 Lukian, 46, 48, 50, 51 lumen Christi, 99 Luperkalien, 338 Luther, Martin, 348 Märtyrer, 54 Magdeburg, 318 Magica, 35 Maiestas Domini, 292 Mainz, 262 Makedonien, 162 Malinowski, Bronislaw, 254 Manastir, 164 Man.d.ala, 174 Manessische Liederhandschrift, 5 Margarethe von Landsberg, 271 Mariazell, 137 mariologische Bildthemen, 131 Marke, König, literar. Figur, 362, 365, 366 Martyrium, 208 Maskentanz, 169, 170 Mauss, Marcel, 254 Medici, Lorenzo de’, 204 Meineid, 229–231, 234–237, 242, 245, 249 Melismos, 164 Messe, 107 Michelozzi, Michelozzo, 136 Mimesis, 150 Mimik, 11 Minne, 356 Minnesang, 354, 357, 361 Missale Romanum, 87, 96, 110

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Mittelalter (Begriff), 167, 168 Moissac, 73 Monte Soracte, 257 Moral, 235 Moraltheologie, 247 Moses, 294, 301, 305 Motiv, 69, 71 Münsterland, 236 Muffel, Niklaus, 272, 273 Musik, 291 Nachtwache, 89 Naos, 147, 148, 151, 153, 162, 163 Nationalsozialismus, 279, 280, 283, 284, 286 Neapel, 131 Nerezi, 162, 163 Panteleimonkirche in N., 162, 165 Neri, Filippo, hl., 137 Neues Testament, 245 Nietzsche, Friedrich, 22, 23 Niketas Choniates, 57, 64 Nikolaos Mesarites, 165 Nikopoia, 154 Nisan (14.), 90 Nürnberg, 272, 273, 279–281, 284 Ohrid, 154, 156, 158, 161–163 Sophienkirche in O., 153, 156, 158 Opferritual, 324, 338–340 Oratorianer, 137 Ordnung, soziale, 291 Ordnungsschwund, 329 ore ad os, 118, 119 Ornamenta ecclesiae, 120, 126 Osculatorium, 120 Osculum pacis, 118, 120, 136 Osterkerze, 98 Osternacht, 87 Osternachtfeier, 87, 89

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Otto I., der Große, Ks., ostfrk. Kg., 260, 299 Otto II., Ks., ostfrk. Kg., 297 Otto III., Ks., ostfrk. Kg., 257, 260, 296, 315 Pacificale, 129, 137, 138 Paris, 121, 126, 127 Paris de Grassis, 129 Parzivalroman, 359 Paschasius Radbertus, 56 Passafest, 90 Passion Christi, 131 Pathosformel, 6 Patmos, 142 Paulus, Apostel, 145, 157, 158, 246, 314 Pavia, 262, 264 Pax Christi, 117, 123, 135 Paxtafel, 121, 123, 126, 127, 131, 132, 137, 139 Pedro, Gf. von Urgell, 127 Performanz, 234 Petachja von Regensburg, 43, 45, 49, 57 Petrus, Apostel, 314 Phormio, 14 Piacenza, San Antonio von, 315 Piccolomini, Enea Silvio (Pius II., Papst), 274–276, 284 Plutarch, 338 Poliziano, Angelo, 200, 201 Prag, 121 Pranger, 199 Pressburg (Bratislava), 242 Priesterweihe, 303 Proskomidie, 145, 149, 159 Proskynese, 303 Prostratio, 303 Protheoria, 148, 150, 151, 161 Prototypus, 150 Prudentius, 218, 220 Psalmtöne, 314

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Psychomachia, 218, 220 Purgationseid, siehe Reinigungseid Quintilian, 9, 10, 14, 19 Raibolini, Francesco (Il Francia), 135 Raimund III., Gf. von Tripolis, 65, 66 Rasengang, 60 Redegestus, siehe Gestus der Rede Reform, katholische, 137 Regel de tri, 99, 104, 107 Regensburg, 240, 314 Regensburger Sakramentar, 299 Reichsadler, 138 Reichsapfel, siehe Apfel Reichsinsignien, 273 Reichskleinodien, 257, 273, 280, 282, 284 Reichskreuz, 266, 268 Reichskrone (sog. Karlskrone), 265, 266, 271, 286, 298, 310 Reichsparteitagsgelände, 280, 284 Reinigungseid, 229, 230 Rekonziliation, 36 Reliquiar, 256 Reliquie(n), 120, 123, 127, 131, 259 Repräsentation, 291 Responsorien, 309 Rhetorik, 9, 11 Rhipidia, 142, 158 Ring, 306 Ritterschlag, 36 Ritualdolch, 169, 178, 179, 183 Ritualia, 33 Ritualisierung, 257 Rom, 129, 134, 272, 273, 317 Rosenberg, Alfred, 279 Rothschild-Gebetbuch, 123 Rudolf I. (von Habsburg), röm.-dt. Kg., 271

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408 Sachsenspiegel, 210, 212, 213, 226, 255 Saint-Denis, 126 Sakralkönigtum, 289, 292 Sakralraum, Tanzfläche als, 173 Saladin (˙Sal¯ah.add¯ın Y¯ usuf ibn Ayy¯ ub), 65–67 Salbung, 270, 290, 306 Samson, 355 Sarazenen, 63, 65 Savonarola, siehe Girolamo Saxo Grammaticus, 59, 60 Schandbilder, 203, 205 Schande, 197 Schatz, 260, 265, 266, 268, 270, 275, 277, 280, 282–284, 286, 287 Scheidung, 386 Schmerzensmann, 132, 134 Schmitt, Jean-Claude, 24, 253 Schweiz, 139 Schwellenzustand, 339 Schwert, 256, 271, 273, 274, 306 Schwur, 80, siehe auch Eid. . . Schwurhand, 234, 236, 238, 243 Seelenheil, 229, 230, 233–235 Seeon, 314 Segensgestus, 10 sepulc(h)rum Domini, 110 Seyss-Inquart, Arthur, 280 Sigena, Kloster (Katalanien), 127 Sigismund, Ks., röm.-dt. Kg., 272, 274 Sinnkrise, 340 Sittengericht, 229 Sittenordnungen, 235 Skythen, 45–48, 58 Sodomie, 198, 199 Sphära, 256 Spiel, 29, 31 Stab, 307 Stapfer, Johann Friedrich, 246

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Staufer, Dynastie, 277 Stephan II., Papst, 313 Stereotyp, 55 Sternenmantel, 317 Strafen, spiegelnde, 213, 218 Stricker, Der, 385 Symbol, Symbolik, 236, 238, 241 szenische Vorgänge, 23, 28, 31 Szepter, 256, 273, 307 Tacitus, 61 Taddeo di Bartolo, 223 Täufer, 245, 246 Tagelied, 354, 358, 362, 385 Tannhäuser, 357 Tanzritual, 180, 181, 189 Taufe, 95, 96, 103 Taufritus, 306 Tellenlied, 353 Templon, 147, 151, 152, 156, 162 Terenz, 11, 13, 14, 17, 19 Teufel, 68 Thüringen, 381 Thangmar, 259 Theater, 22 Theaterpraxis, 11 Thietmar von Merseburg, 258–260, 297 Thomas von Chobham, 28 Thron, 264 Thronsetzung, siehe Inthronisation Todesstrafen, 212 Tonus currens, 313 Totenfeiern, 323 Toxaris, 46, 47 Tränen, 375, 376, 383 Traditionsbildung, 326 Trankopfer, 173 transitus Domini, 92, 93, 106, 108, 113 transitus populi, 92 Transsubstantiation, 132

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Index

Trauergestus, 6 Trauerzeremonie, 327 Trennung, 354, 367, 380 Treueschwur, 79–81 Triduum paschale, 92 Trient, 123, 131 Konzil von T., 137 Trishagion, 145 Tristan, literar. Figur, 362, 363, 365–367 Troubadour, 355 Tugenden, 218 Turner, Victor, XVI, XXIX, 254, 326, 338, 342 typologische Korrelierung, 91 Ulrich, hl., Bf. von Augsburg, 299, 301, 388 Ulrich von Lilienfeld, 224 Ulrich von Winterstetten, 361 Usurpation, 331 Valla, Lorenzo, 275–277 Valois, Dynastie, 126, 127 van Gennep, Arnold, XXIX, 35, 303 Vatikanisches Konzil, II., 139 Vechigen, 229, 231, 232 Venedig, 255 Ver-Gewisserung, 234, 235 Vera Crux, 134 Vera Icon, 134 Vergeltung, 235 Vernunft, 246, 247, 249 Versöhnungsritual, 82 Verwandtschaft, künstliche, 52, 58

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Vigilgottesdienst, 87 visitatio sepulcri, 111 Vita Ludowici, 374 Vita S. Elisabeth, 374 Waffenbrüderschaft, 69 Wagner, Richard, 357 Walter Gray, Ebf. von York, 120 Walther von der Vogelweide, 5–7, 356, 357 Warburg, Aby, XX–XXII, 6 Weihe, 266, 270 Weischedel, Wilhelm, 384 Weltgerichtsbilder, 238, 244 Widukind, westfäl. Adliger, 279 Wien, 123, 135, 242, 243 Wiener Neustadt, 273 Wigalois, 369 Wilhelm von St. Thierry, 136 Willigis, Ebf. von Mainz, 297, 304 Wipo, 261–264, 271, 290 Wirnt von Gravenberg, 369 Wolfram von Eschenbach, 359 Worchester, 315 Wortgottesdienst, 96, 101 York, 120 Zürich, 245 Zeigehandlung, 32 Zelebranten, 123 Zepter, siehe Szepter Zigarette, 286 Zweifingergesten, 9 Zweikampf, 334, 342 Zwingli, Huldrych, 246

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