Res publica: Bürgerschaft in Stadt und Staat. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1987. Red.: Gerhard Dilcher [1 ed.] 9783428465224, 9783428065226

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Res publica: Bürgerschaft in Stadt und Staat. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1987. Red.: Gerhard Dilcher [1 ed.]
 9783428465224, 9783428065226

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Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat

BEIHEFfE ZU "DER STAAT" Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Rolf Grawert, Fritz Ossenbühl, Helmut Quaritsch, Rainer Wahl, Eberhard Weis, Bernard Willms

HeftS

Res publica Bürgerschaft in Stadt und Staat

Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1987

Duncker & Humblot · Bertin

Redaktion: Professor Dr. Gerhard Dilcher, Frankfurt

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Res publica: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1987 I [Red.: Gerhard Dilcher].Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Der Staat: Beiheft; H. 8) ISBN 3-428-06522-0 NE: Dilcher, Gerhard [Red.); Vereinigung für Verfassungsgeschichte; Der Staat I Beiheft

Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz : Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06522-0

Inhaltsverzeichnis Gerhard Dilcher: Einleitung

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Peter Moraw: Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich, besonders im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Wolfgang Mager: Respublica und Bürger. Überlegungen zur Begründung frühneuzeitlicher Verfassungsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Heinz-Günther Borck: Bürgerschaft und Stadtregierung. Das Beispiel Hildesheim

95

Aussprache ........ . ...... .... . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . ... . .. . . ..... .. . 134

Hans-Peter Schneider: Der Bürger zwischen Stadt und Staat im 19. Jahrhundert

143

Aussprache .... . . .......... .. .... . . . . . . ... . . . . . . .. . .. . .. .. . . .. . ... 161

Giorgio Chittolini: Städte und Regionalstaaten in Mittel- und Oberitalien zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit ... . .. . .......... .. .... . ............ . . . ... 179 Verzeichnis der Redner . . . ...... . .. ..... . . ... .. . .... . .. . ... . ...... . . ... 201 Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte

202

Verzeichnis der Mitglieder . . . . . ... . ... ......... .. . . . . ... . .. . . . .... . . . .. 205

Einleitung Im Gegensatz zu den bisherigen Tagungsbänden der Vereinigung für Verfassungsgeschichtebedarf der vorliegende nach der Überzeugung des Vorstandes einer kurzen Einführung. Wie bei den früheren Tagungen auch war das übergreifende Thema "Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat" nicht nur als lockere Verbindung der Einzelreferate, sondern auch als Vorgriff auf ein Ergebnis aus den Referaten formuliert worden. Ein solches Ergebnis wollte sich aber im Verlauf der Tagung so nicht abzeichnen, und das gilt natürlich auch für die Publikation. In ihren Ausführungen, auch auf Anfragen in der Diskussion verweigerten sich die Referenten sogar aus sehr begründeten Positionen heraus, auf den Horizont dieser Gesamtthematik mehr als geschehen zuzuschreiten. In der Diskussion wie in Gesprächen während und nach der Tagung wurde von vielen Teilnehmern andererseits diese Begrenzung eher als Zwischenergebnis einer eingeleiteten Diskussion denn als ein festgeschriebener Stand des Problems angesehen. Um dieses Spannungsverhältnis zwischen den Ergebnissen der Referate und der angesprochenen Thematik angemessen und produktiv festzuhalten, sind darum noch einige Worte zu der letzteren notwendig. Karl Kroeschell hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 1963 gezeigt!, wie die Stadtrechtsgeschichte (auch gerade im Sinne einer Stadtverfassungsgeschichte) im 19. Jh. Aufschwung und Antrieb aus dem engen Zusammenhang erhielt, den die Erforschung der mittelalterlichen Stadt mit dem Finden eines Selbstverständnisses der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh. einging. Auf einen Höhepunkt führte Otto von Gierke diese Betrachtungsweise, dem im Rahmen seines monumentalen Deutschen Genossenschaftsrechts die Stadt im öffentlichen Recht als "weder ein antiker Staat noch eine kirchliche Anstalt, sondern ein staatliches Gemeinwesen" erschien- und zwar "als das älteste wahrhaft staatliche Gemeinwesen in Deutschland", was "nicht mehr und nicht weniger als die Durchführung des Staatsgedankens im Rahmen des städtischen Gemeinwesens" bedeutete2 • Die begriffliche Überhöhung, die wir so historisch nicht mehr mitvollziehen würden, ist dabei deutlich. Aber auch jener Rechtshistoriker, der sicher am meisten zu einem "mittelal1 Karl Kroeschell, Stadtrecht und Stadtrechtsgeschichte, zuerst in: Studium Generale 16, (1963), jetzt auch in: C. Haase (Hrsg.), Die Stadt des Mittelalters, Bd. 2, Recht und Verfassung, 1972. 2 Die zitierten Stellen in 0. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs, 1873, S . 828, 705, 733.

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Einleitung

terlichen" Verständnis der mittelalterlichen Stadt, nämlich vom Bürgereid und von der Verwillkürung eigenen Rechts her, getan hat, Wilhelm Ebel, führt diesen Gedanken fort, wenn ihm die mittelalterliche Stadt als "eine Art kleiner bürgerlicher Rechtsstaat", als ein "Treibhaus moderner Staatlichkeit" erscheint3. Ein ebenso "mittelalterlicher" Historiker, Karl Bosl, zieht aus dieser Sicht nur die Folgerungen, wenn er in den Rechten der Stadtbürger "die ersten Ansätze eines modernen Staatsbürgerrechts aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wurzeln" erkennt4 • Es mußte deshalb als eine wichtige Aufgabe dieser Vereinigung erscheinen, diese Linie vom Spätmittelalter bis in die staatsbürgerliche Verfassung des deutschen 19. Jh. durchzuziehen; wie es in einem der die Tagung vorbereitenden Schreiben hieß, in der Meinung, "daß hier neben Monarchie und Ständeturn eine wichtige, zu wenig beachtete Wurzel der europäischen Verfassungsentwicklung aufzuzeigen ist"5. Der Entwurf des Tagungsprogramms sah vor, in einer verfassungsgeschichtlichen Betrachtung des Spätmittelalters den Ausgangspunkt zu umreißen, je in einem theoriegeschichtlichen und einem an der historischen Empirie, am Exemplum einer einzelnen Stadt ausgerichteten Vortrag zwei sich ergänzende und wechselseitig erhellende diachronische Aufrisse zu entwerfen und diese Entwicklungen wieder vom Konstitutionalismus des 19. Jh. her einzufangen. Wenn diese Teile nicht so wie erhofft zu einem kohärenten Bild aneinanderpassen, wenn auch die Diskussion hier kaum über die offenen Zwischenräume Brücken schlagen konnte, so ist dies wahrscheinlich ebenso aussagekräftig für die Schwierigkeiten des Sachproblems wie für den Entwicklungsstand unserer historischen Wissenschaften, insbesondere des Verhältnisses der so explosiv sich entwickelnden Stadtgeschichte zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Ist aber andererseits wirklich der Rahmen für den modernen Staatsbürgerbegriff erst durch die Staatsbildung des Absolutismus geschaffen, der Inhalt durch die revolutionäre Neukonzeption des citoyen in der französischen Revolution implantiert worden? Vor allem Otto Brunner hat darauf hingewiesen, daß man die Überwindung des "Feudalismus" durch das "Bürgertum" nicht im Bilde eines von der modernen Gesellschaft her konzipierten sozialgeschichtlichen Prozesses deuten kann, ohne aber zu der mehr verfassungsrechtlichen Fragestellung ebenso deutlich Stellung zu nehmens.

3 W. Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, 1958, S.1; ähnlich in seinem Aufsatz: Uber die rechtsschöpferische Leistung des mittelalterlichen deutschen Bürgertums, in: Vorträge und Forschungen Bd. XI, 1966, S. 253f. 4 K. Bosl, in: Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte, Bd.1, 8. Aufl. 1954, S. 671 (§ 250: Kaufmannsgilde und Eidgenossenschaft, Stadtverwaltung und Stadtrecht). Die Formulierung findet sich auch in den Folgeauflagen, 1970 u .ö., Bd. 7, s. 209). s Vgl. den Beitrag von Moraw in diesem Bande am Anfang.

Einleitung

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Nach den Ergebnissen dieses Bandes könnte es so scheinen, als ob neben dem der alteuropäischen Gesellschaft verbundenen Stadtbürger sich das Bild des Staatsbürgers als ein Neuansatz aus einem andersartigen Verfassungsverständnis gebildet habe und sich dann gegen jenen durchsetzen mußte. Die Ansätze und Belege dafür sprechen eine klare Sprache und werden von einer Argumentation, die auf eine Kontinuität zielt, nicht mehr zu übergehen sein. Daß das Problem aber vielschichtiger ist, zeigt schon eine fast gleichzeitige Arbeit eines Autors dieses Bandes, der darauf hinweist, wie aus dem Stadtbürgertum am deutlichsten jene Schicht von qualifizierten Bediensteten des Fürsten gewonnen wird, die den Aufbau des modernen Staates vorantreiben7 • Die Fragestellung schließlich, die in der Formulierung vom "Treibhaus moderner Staatlichkeit" liegt, müßte möglicherweise, geradeangesichtsder Ergebnisse des vorliegenden Bandes, mit einer Neubesinnung in der Richtung angegangen werden, mit welchem Instrumentarium an Fragestellungen und Methoden der Historiker die damit angedeuteten Wirkungsverhältnisse erforschen kann. Mit diesen Bemerkungen, mit dem Festhalten der über der Tagung stehenden Spannung zwischen Thema und Ergebnissen, ist die Hoffnung verbunden, daß Tagung und Publikation die Anstöße geben, auf die sie zielten: Eine alte Fragestellung der verfassungsgeschichtlichen Forschung auf einem neuen Stand der historischen Methoden und Erkenntnisse aufzugreifen und wieder der wissenschaftlichen Diskussion zuzuführen. Um die europäische Breite der Problematik wenigstens anzuleuchten, wurde für den vorliegenden Band noch der Beitrag des italienischen Historikers Giorgio Chittolini gewonnen, der die in vielem andersartigen verfassungsgeschichtlichen Grundlagen in der klassischen Welt der Stadtstaaten, Oberitalien und Toskana, entwickelt. Auch hier zeigt sich, daß nach dem heutigen Forschungsstand keineswegs ein einfacher Zugriff auf das Problem des Tagungsthemas selbst möglich ist. Auch hier also, was dieses Gesamtthema betrifft, mehr Anstöße als Antworten. Die Mitglieder der Vereinigung wie die Bezieher der Beihefte zu "Der Staat" werden eine Lücke seit der letzten Publikation der Tagung von 1983 "Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung" (Heft 7, 1984), festgestellt haben. Aus einer Reihe von Gründen war es nicht möglich, die Ergebnisse der Tagung in Hofgeismar am 18. - 20. März 1985 über das Thema "Die Entstehung der Verfassung im formellen Sinn" geschlossen zu publizieren. Es sind jedoch inzwischen der Beitrag von Hasso Hofmann (Zur Idee des s Vor allem in: Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte, jetzt in: Otto

Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 213-

224.

7 Vgl. den Hinweis von Moraw, S. 11, FN 1 auf seinen Beitrag in dem mit dem vorliegenden gleichzeitig erscheinenden Sammelband.

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Staatsgrundgesetzes, in: ders. [Hrsg.], Recht- Politik- Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, 1986) sowie mein eigener (Vom Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz: Der Staat 27 [1988] S. 161 ff.) veröffentlicht. Gerhard Dilcher

Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich, besonders im 15. Jahrhundert Von Peter Moraw, Gießen I. Im folgenden soll für das deutsche Spätmittelalter, und zwar für das Reich im Ganzen, versucht werden, das "weite und schwierige Thema der Verbindung von Stadtbürgertum und Staatsbürgertum plastisch werden zu lassen". Denn hier sei "neben Monarchie und Ständeturn eine zu wenig beachtete wichtige Wurzel der europäischen Verfassungsentwicklung aufzuzeigen"*. Dieses Aufzeigen ist freilich nicht ganz einfach, handelt es sich doch beim 13., 14. und 15. Jh. um eine Periode, in der ein Staat noch kaum bestand, wenn auch Machtträger (Herren und Obrigkeiten) mit staatsartigen Eigenschaften und Gemeinwesen mit staatlichen Wesenszügen. Auch war es ein Zeitalter, in dem das Stadtbürgertum bei uns nahezu das einzige Bürgertum darstellte!, einer differenzierenden Vorsilbe also noch kaum bedurfte. Statt Staatsbürgern gab es vor allem (adelige) Getreue des Königs, die zu Rat und Hilfe aufgerufen waren, und (städtische und andere) Untertanen des Herrschers, die aus verschiedenen Gründen - auch zum Entgelt für den ihnen gewährten Schutz- als gehorsams-und leistungspflichtig galten. Bei alledem war das Spätmittelalter eine Periode, in welcher Königtum und Reich als hocharistokratische Veranstaltungen aufzufassen sind- mit gewaltigem sozialen Abstand zur Bürgerwelt in den Städten. Immerhin weiß man von diesen Bürgern, daß ihre seit dem Hochmittelalter heranwachsende Wirtschaftskraft sie zur politischen Mitgestaltung zunächst ihres engeren Lebensraums veranlaßte; etwas später griffen sie auch darüber hinaus. Dabei erzielten sie zeitweise beträchtliche Erfolge, so

* Die Zitate entstammen dem Grundsatztext G. Dilchers, der den Inhalten der Tagung die Richtung wies. 1 Vgl. künftig P. Moraw, Cities and citizenry as factors of state formation in the Roman-German Empire of the late middle ages (with a view on the early modern times), in: W. P . Blockmans I Ch. Tilly (Hrsg.), City Systems and State Formation, 1988 (Theory and Society, Special Issue). In diesem Beitrag wird das bisher bei uns unbeachtet gebliebene, nicht an die Einzelstadt gebundene Bürgertum des späten Mittelalters behandelt, das in der Tat auch in Beziehung zum "Staat" trat und zur Vorgeschichte und Geschichte des bisher vor allem im 18. Jh. vorgefundenen Staatsbürgertums gehört.

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PeterMoraw

daß sie unter anderem immer mehr "Freiheit" oder besser mehr "Freiheiten" errangen, was das auch immer konkret bedeuten mochte; die Frage nach der Freiheit wird uns als "Leitfossil" dienen. Schließlich darf man der Tatsache Rechnung tragen, daß es jahrhundertelange Wachstums- und Wandlungsprozesse mit kleinen Anfängen oder- wie oben zitiert- mit "zu wenig beachteten Wurzeln" gegeben hat. Es ist legitim, sich von späterher für diese Wurzeln zu interessieren. Ein Thema freilich, für welches man um im Bild zu bleiben - unter der Erde nachsehen muß, kann schwierig und kompliziert sein. Man wird auf Überraschungen gefaßt bleiben. Auch bedarf man einer nicht zu knappen Einführung; denn ohne die Beschaffenheit des Erdreichs zu erkunden, kann man jenes Wachstum und gegebenenfalls dessen Stocken oder Ausbleiben kaum verständlich machen. Es gibt vor allem drei Möglichkeiten, sich dem Gegenüber von Bürgern, Königen und Reich im späten Mittelalter zu stellen. Die erste Möglichkeit besteht darin, den Spuren der historischen Personenforschung zu folgen. Man beobachtet die Stadtbewohner am Herrscherhof und anderswo im Königsdienst und, seitdem es ihn gibt, auf dem Reichstag. Hof und Tag waren für die Betätigung von Bürgern und für die Gnaden des Königs ihnen gegenüber sehr wesentliche "Plattformen". Man kann sich dann fragen, wie solche und weitere Zusammenhänge zu bewerten sind, ob es ein verbindendes Bewußtsein gibt, usw. Was auf diesem detailreichen Gebiet erarbeitet worden istz, soll nicht wiederholt werden. Vieles davon paßt recht gut zu den Ergebnissen, die hier vorzutragen sind. Ein zweiter Anlauf könnte von der Hochschätzung den Anfang nehmen, die man vielfach in der älteren und in der marxistischen Forschung dem spätmittelalterlichen Bürgertum als antifeudaler, gar protodemokratischer oder kryptarevolutionärer Kraft oder Klasse entgegenbrachte und entgegenbringt3. So erhoffte man auch seinen politischen Erfolg, und weil er nicht eintrat, mußte es Versagen und Feinde gegeben haben. Eine solche Perspektive setzt allerdings ein stark vereinfachtes Bild von der Reichsverfassung voraus und kann zu ebenso bedenklichen allgemeinhistorischen Vereinfachungen führen4. Da die Personenforschung sehr pointillistisch arbeitet und die StändeKlassen-Analyse in Schwarz-Weiß-Manier dem gegenteiligen Extrem ver2 Der Verf. hat sich öfter mit prosopographischen Fragen befaßt und möchte dies hier nicht abermals tun, vgl. etwa P. Moraw, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters (1273- 1493), in: R. Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, 1986, S. 77- 147. 3 z.B. B. Töpfer (Hrsg.), Städte und Ständestaat, 1980. 4 Dies gilt auch für das anregende Buch von Th. A. Brady jr., Turning Swiss, Cambridge usw. 1985, das ein Bündnis des Königs mit den zuvor "verschweizerten" Reichsstädten "fordert", um das Reich gegen die Fürsten zu "retten". Dabei wird u . a. viel zu sehr von den südwestdeutschen Verhältnissen her geurteilt, die für den weitaus größten Teil des Reiches keine Gültigkeit hatten.

Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich

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fallen könnte, sei versuchsweise ein dritter Weg zwischen diesen beiden Vorgehensweisen beschritten. Der Weg ist schmal und quellentechnisch noch nicht vollständig erschlossen, er scheint auch vor der Hauptfigur der Tagung, dem (einzelnen) Bürger, aufzuhören. Andererseits läßt dieser Weg erhoffen, daß man für ein verhältnismäßig wichtiges Teilproblem nahe bei den Realitäten bleibt, daß man diesen Teil in eine vernünftige Relation zum Ganzen zu setzen vermag und daß sich bei alledem überprüfen läßt, ob unser Fragen unter Anachronismusverdacht geraten könnte. Wir blicken auf die Freien Städte zumal des 15. Jh. Es ist derjenige Kreis von Kommunen, dessen Führungsgruppen das absolute Höchstmaß an politischer Beweglichkeit und organisierter Selbstverantwortung errungen haben, das Stadtbürgern im spätmittelalterlichen königsnahen Reich zugekommen ist- zunächst für ihr eigenes Lebensgebiet und dann auch im Reichsganzen. Wir beobachten während der Hochzeit dieser "Freiheit" deren Rahmenbedingungen, deren Dimensionen und Ausmaße, deren Bezugsgrößen und Verstehensgrundlagen- und deren Zukunft. Weiter als bis zu diesem Handlungsgeflecht ging die "Entwicklung" älterer Bürgerberechtigung nicht, auch nicht in der frühen Neuzeit, sondern sah sich fortan kräftig reduziert. Ob eine entwicklungsgeschichtliche Deutung (gar als plausibler Teil der Vorgeschichte des Staatsbürgertums) oder ein konstellationsbezogenes Verständnis (als besten Zugang zu einem sehr zeitgebundenen Phänomen) vorzuziehen sei, wird am Schluß erörtert. Bei den Freien Städten handelt es sich in erster Linie um die rheinischen Bischofsstädte; sie sind bekanntlich die ältesten und zugleich überdurchschnittlich bedeutsamen Städte im älteren Deutschland. Sie haben schon eine langwährende, reiche und komplexe Vergangenheit hinter sich, und diese "kumuliert", wenn sie in unser Blickfeld treten. Ihre Führungsgruppen waren Ratsoligarchien, die- abgesehen von dieser oder jener Grundsatzentscheidung der Gesamtgemeinde - als politisch Handelnde in Frage kommen5 • Der Kreis der sie nach außen vertretenden "Diplomaten" ist noch enger gefaßt und ist nach den Grundsätzen der Abkömmlichkeit und Erfahrung, kaum minder auch des sozialen Ansehens, ausgelesen worden 6 . Daß so verstandenes städtisches und individuell-großbürgerliches Verhalten gegenüber dem Reichsganzen einander nahe standen, erweist unter anderem die gut bezeugte Gleichartigkeit der beiderseitigen Reaktionen auf die jeweilige Attraktivität des Königtums 7 • So kann die Einzelstadt die kleinste Einheit dieser Analyse bilden, ohne daß dadurch viel Kontaktverlust zum s z. B. W. Herborn, Die politische Führungsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter, 1977. 6 z.B. E. Gi/omen-Schenkel, Offenburg, Henman, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2. Auflage, bisher 7 Bände, 1978- 1987, hier: Bd. 7, Sp. 23. 7 P.-J. Heinig, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389 - 1450, 1983, passim.

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Peter Moraw

Rahmenthema eintritt. Prinzipiell ist ohnehin vom Geflechtcharakter der Verfassungswirklichkeit zu sprechen; wie man auch den Schwerpunkt setzt, man wird sich - wie in unserem Fall - immer mit zu wenigen Fäden näher befassen. II.

Die Rahmenbedingungen städtisch-bürgerlichen Verhaltens im Reichsganzen des 15. Jh. sollten eigentlich monographisch dargelegt werden, hier muß man sich mit Stichworten begnügen. Man kann aber nicht darüber hinweggehen; denn viel eher im weitgespannten Bezugsfeld als in einer inselhaft separierten Quelleninterpretation entscheidet sich, welche Deutung die plausiblere und welche weniger plausibel ist. Wie das spätmittelalterliche Reich beschaffen war, kann den zahllosen einschlägigen Belegen, zumeist Mosaiksteinchen, nicht so sehr direkt entnommen als ihnen modellhaft gegenübergestellt und dann auf Widerspruchsfreiheit geprüft werden. Ohne Modellvorstellungen kommt man nicht aus; jede Einzelaussage, die nicht nur mikroskopisch-antiquarisch ist, wird dadurch mitbestimmt. Es handelt sich - das muß man klar sehen - an diesem Punkt um fundamentale Entscheidungen. Von hier aus kommt man beispielsweise sehr rasch zur Einsicht, daß die historische Klassifizierung der eigenen Stadt selbst in modernen und repräsentativen Geschichtsdarstellungen dieser Kommunen irrig sein kanns. Man gerät sogar in die vielleicht paradox erscheinende Situation, daß man über das Ganze mehr als über Einzelfragen zu wissen glaubt (etwa infolge der öfter lokal unkorrigierbar unklaren Ausdrucksweise der heimischen Quellen). Zu jenen Rahmenbedingungen gehört erstens die schon erwähnte hocharistokratische Beschaffenheit der politischen Kultur an der Führungsspitze, und nicht nur dort, gegenüber welcher Alternativen chancenlos blieben; dieser Kultur paßten sich auch soziale Neuerungen an. Wie Hof und Tag funktionierten, läßt sich unter dieser Voraussetzung am besten erklären. Schon deswegen wird man gegenüber der Übernahme der Proportionen des schriftlichen Materials (das die Städte bevorzugt) mißtrauisch sein. Genauso mißtrauisch verbleibt man gegenüber seiner Begrifflichkeit; denn ein einheitliches "horizontales", das heißt, ein das ganze Reich umfassendes, und ein einheitliches "vertikales", das heißt, ein tief in die Vergangenheit zurückreichendes Verfassungswissen dürfen angesichts der bestehenden Nachrichten-, Verkehrs- und Archivverhältnisse nicht vorausgesetzt werden. Dies hat die lokale Forschung oft ohne viel Nachdenken getan. Es ist auch problematisch, eine einheitliche Begriffswelt vorauszusetzen. Der B Vgl. z.B. die Geschichte der Stadt Speyer, hrsg. von der Stadt Speyer, Bd.1, 1982, S. 249 u. ö. (Speyer war niemals Reichsstadt). Entsprechende Unsicherheiten bestehen auch für Regensburg und KÖln.

Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich

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Reichsstadt-Begriff der Zeitgenossen zum Beispiel, der bald als Folie für die Frage nach den Freien Städten dienen wird, hat von Region zu Region und von Zeitalter zu Zeitalter andere Dimensionen und Akzente und damit auch andere Inhalte als der zusammenfassende Reichsstadtbegriff der Historiker9. So sollte es nicht überraschen, daß es auch mehrere, verschiedene "Freiheiten" gab, die sich - immer wieder in ziemlich gleich klingender Formulierung! -eine Freie Stadt als Fundament zugeschrieben hat, und daß solche Fundamente aus moderner Sicht recht dürftig sein mochten. Überdies sollte der Umgang mit Pergament und Papier zeitlich und sozialständisch abgestuft beurteilt werden. Es fällt schwer, im 15. Jh. die Majestät durch Texte welcher Art auch immer quasikonstitutionell ebenso gebunden zu sehen wie die moderne Bürokratiel0 • Den gerade für die Städte so wichtigen Privilegienverkehr wird man prinzipiell so "biegsam" verstehen müssen, wie dies für das Papsttum gelehrt worden ist 11 • So wurden nicht nur (in städtischen Gutachten des 15. Jh.) Kaiserurkunden an ein allgemeines, römisch-rechtlich getöntes Rechtsverständnis zurückgebundenl2, das durchaus nicht mit den Absichten der ausstellenden Hofkanzlei identisch sein mochte, sondern vor allem: Wenn das Privileg daheim auf eine andere Rechtsauffassung stieß, mußte dies in der Region politisch-rechtlich ausgetragen werden. Erst der Austrag entschied über die Realität. Vom Reichsstadtprivileg Köln von 147513 zum Beispiel kann mit gutem Grund behauptet werden, daß es gegen den erbitterten Widerstand des Erzbischofs nie wirksam geworden ist, sondern im städtischen Archiv begraben blieb. So wäre vor einigen Jahren am Rhein grundlos gefeiert worden. Nicht von vomherein abgeklärt war auch zumindest ein Teil, wenn nicht mehr als ein Teil der zeitgenössischen Verfassungsvorstellungen im allgemeinen; vielmehr wurden sie je nach Parteistandpunkt unterschiedlich gehandhabt. Ein schönes Beispiel dafür ist die durchaus negative Haltung der Habsburger des 14. Jh. zum (am Rhein propagierten) Kurfürstentum14, das man heute als seinerzeit allzu allgemein-selbstverständlich akzeptiert ansieht. Die neutralisierende Vogelschau ist aber erst unsere Sehweise. 9

P. Moraw, Reichsstadt, Reich und Königtum im späten Mittelalter: ZHF 6 (1979),

s. 385-424.

1o P. Moraw, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350- 1500), in: K. G. A. Jeserich I H. Pohl I G.-C. v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte 1, 1983, S. 21 - 65. 11 E. Pitz, Die römische Kurie als Thema der vergleichenden Sozialgeschichte: QFIAB 58 (1978), S. 216- 359. 12 E. Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.- 17. Jh.), in: R. Schnur (FN 2), S. 545- 628. 13 A.-D. v . d. Brincken, Köln 1475, des Heiligen Reiches freie Stadt, 1975. 14 P. Moraw, Politische Sprache und Verfassungsdenken bei ausgewählten Geschichtsschreibern des deutschen 14. Jahrhunderts, in: H. Patze (Hrsg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im Spätmittelalter, 1986, S. 695726, bes. S. 714.

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Peter Moraw

Schriftlich fixierte oder dem Gedächtnis anvertraute Synthesen von damals, die nach sachlichem Ausgleich und nach Lückenlosigkeit strebten, sollte man sich besser nicht vorstellen. Erst neue Herausforderungen weckten über einen allgemeinen Grundkonsens (s. u.) hinaus das Interesse an bis dahin wenig beachteten Tatbeständen: Man machte eine Reichsmatrikel samt Städteliste nur, wenn man sie machen mußteis. Ein perspektivisches und ein agonales Grundverständnis der Reichsverfassung als der Verfassung einer "unverdichteten" oder erst auf dem Weg zur "Verdichtung" befindlichen politischen Gesellschaft ist also die Basis unserer Analyse. Je staatlicher und übersichtlicher man sich die Dinge vorstellt, um so mehr gerät man in Schwierigkeiten. So ist beispielsweise die Frage nach einer "Reichsstandschaft des Bürgertums" im deutschen Mittelalter - etwa für das 13. Jh.I 6 - weniger verfrüht als unglücklich gestellt. Denn auch eine klar verneinende Antwort, wie sie die Quellen für das erwähnte Zeitalter erforderlich zu machen scheinen, da man Bejahendes auf keinen Fall auffinden kann, ist keine völlig richtige, das heißt, den zeitgenössischen Rahmenbedingungen entsprechende Antwort. Das ganze Thema ist nämlich überhaupt nicht mittelalterlich. Das Privileg hat noch eine andere Seite, die für unsere Frage wesentlich ist. Seine Dehnung und Überdehnung waren eine allgemein verbreitete, "normale" Handlungsweise. Man dehnte solange, bis man auf unüberwindbaren Widerstand stieß. Privilegien waren demnach, wenn man sie überhaupt benutzen wollte, in der richtigen Hand von großem Gewicht und (sofern man sich dazu auch militärisch bekannte) eine ausreichende Legitimierungsbasis auch in sehr weitgreifenden Zusammenhängen - auch wenn sie uns heute so extrem erscheinen, daß man nach anderen Belegen Ausschau halten möchte. So erkämpfte sich Hamburg, das in der Neuzeit eine Freie (Reichs-)Stadt wurde, die Herrschaft über die Untereibe mit Hilfe eines überaus großzügig ausgelegten Privilegs Karls IV.l7. So schien die Entstehung der Eidgenossenschaft - auch hier handelte es sich bekanntlich in hohem Maß um privilegierte Städte - subjektiv völlig ausreichend legitimiert zu sein durch überdehnte Königsprivilegien aus großenteils längst vergangeneo Zeiten18 ; daher dürfte für das Schweizer Mittelalter die Suche nach einem besonderen legitimierenden Staatsgedanken unnötig sein. Die Mischung von Recht und Unrecht oder "objektivem" und "subjektivem" (FN 10), S. 57 f. E. Engel, Frühe ständische Aktivitäten des Städtebürgertums im Reich und in

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den Territorien bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, in: B. Töpfer (FN 3), S . 33. 17 P. Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Deutschland im späten Mittelalter 1250- 1490, Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3, 1985, 8.115. 18 P . Moraw, Reich, König und Eidgenossen im späten Mittelalter: Jb. d. Hist. Ges. Luzern 4 (1986), 8.15- 33.

Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich

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Recht, die wohl in irgendeiner Dosierung jedes Verfassungsleben charakterisiert, war eben im Mittelalter etwas anders zusammengesetzt als in der Moderne. Aus solchen Gründen könnte man von "Verfassungssituationen" als Denkeinheiten reden, die jeweils aus verschiedenen Rechts- und Machtgewohnheiten und aus schriftlichen Rechtstiteln bestanden; so gesehen wird man dem allein überlieferten Text oder den allein überlieferten Texten nur die Funktion eines Mittels neben anderen, und zwar eines unterschiedlich anwendbaren Mittels, zusprechen. Dies macht es natürlich schwieriger, die Vergangenheit zu handhaben. Kräftespielartig, nicht einfach quasikonstitutionell beschaffen ist auch das hier zugrunde gelegte "Deutungsmuster" der Reichsverfassung und der Existenz der Freien Städte innerhalb ihrer. Nun ist es nicht mehr weit zu den beiden Schlußgedanken dieses Zusammenhangs: Zunächst fanden selbstverständlich Überkreuzungen verschiedener Handlungssysteme statt, so daß in der Realität neben den hier behandelten äußeren Verfassungs- und Rechtsaspekten das entsprechende innere System jeder Stadt sowie andere, übergreifende Systeme, vor allem Wirtschafts- und Marktzusammenhänge und kirchliche Zusammenhänge, zu beachten sind. Sodann hattrotzunserer Aussagen über Agonales und "Univerdichtetes" nur eine einzige Reichsverfassung bestanden, deren Außengrenzen (wenn auch nicht in jeder Hinsicht linear) angegeben werden können. Von dieser Reichsverfassung kann man sagen, sie habe sich entwickelt, und zwar- entgegen dem älteren Verfassungsverständnis vom wachsenden Verfall des Rei.c hes - von weniger "Dichte" zu mehr "Dichte". Wenn es wenig Konflikte gab, so ist dies auch ein Zeichen überwiegenden Nebeneinanders einer (noch) "unverdichteten" Welt. Die Zunahme von Konflikten im dafür berüchtigten 15. Jh. ist auch ein Zeichen von (modernisierender) "Verdichtung". Es ist ein entscheidender Punkt: Erst unter dieser Voraussetzung und nicht wie bisher isoliert kann man die Veränderungen bei der Rolle der Städte und speziell der Freien Städte angemessen beurteilen. Demgegenüber wird man die Veränderungen bei der Rolle der Bürger in höherem Maße auch mit allgemeinen, vor allem sozialen Basisprozessen in Verbindung bringen (Beispiel: Vermehrung der Absolventen der Jurisprudenz). Die dann noch regional unterschiedliche - Prozeßhaftigkeit des Geschehens muß aber sehr ernst genommen werden. Das heißt aber nicht, daß die Zeit gleichmäßig ablief. Hier kommt es vor allem darauf an, beiderseits des großen Verfassungswandels Fuß zu fassen, der sich etwa um und nach 1470 abspielte. Langsam verfloß die Zeit vor dieser Wende- während des hier "Offene Verfassung" genannten Aggregatzustandesl9. Schnelllief die Zeit ab nach 1470, im Zeitalter der "Verdichtung". Nun kann man nur noch den Anfang des Neuen erhaschen, bevor das Thema in die Neuhistorie übergeht. Das meiste von solchen Basisprozessen war wohl seinerzeit unbeeinflußbar 19

Moraw (FN 1 7), passim.

2 Der Staat, Beiheft 8

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und unerkannt- in der Verfassung hingegen ist ein Willensmoment unverkennbar. Es weist auf einen schwierigen Tatbestand hin, den man als Rahmenbedingung wenigstens nennen muß, auch wenn man ihn noch kaum erklären kann: Es bestand ein Grundkonsens im Reich. Sein Minimum war wohl das Bestreben, beisammenzubleiben und notfalls lieber mehr zu zahlen als diesen Zusammenhang aufzugeben; sein Maximum war wesentlich mehr, bis zum leidenschaftlichen Patriotismus. Man kann sich dies alles auch unter dem Bild eines Potentials vorstellen, das aktiviert wurde, wenn es unbedingt notwendig war- nicht zuvor. Die Entscheidung zwischen dem "Prozeß"-modell und dem "Potential"-modell ist im mikroskopischen Zusammenhang des Einzelthemas schwer zu fällen und obliegt mehr dem Gesamtverständnis. Als vierte Rahmenbedingung soll in weiterhin fast unverantwortbarer Kürze postuliert werden, daß die Rolle des Königtums ungeachtet seiner dauernden Überforderung in diesem ganzen Spiel höher zu veranschlagen sei, als dies die ältere Forschung getan hat. Man hat das Ausmaß an Durchgestaltung der Verfassung unterhalb der monarchischen Spitze überschätzt, das vor der letzten Generation des Mittelalters bestand. Diese Überschätzung besitzt vielfach forschungsgeschichtliche Ursachen, auch hat man sich zu wenig vor Anachronismen gehütet. Aus diesem Zusammenhang soll nur ein hier wesentlicher Punkt benannt werden. Die Entstehung des Reichstags ist nicht aus der immanenten Logik eines Repräsentationsdenkens oder überhaupt aus einer pointiert ständischen Anfangskonzeption erklärbar. Diese waren eher sekundär und blieben unvollkommen verwirklicht. Warum befanden sich ständisch Gleiche in verschiedenen Kurien und waren in der gleichen Kurie ständisch Ungleiche, wenn die altständische Gesellschaft den Reichstag so kraftvoll geprägt hat? Die konkrete Situation wird demgegenüber nur dann verständlich, wenn man auch für den Reichstag Königsnähe und Königsferne zum Maßstab und eine extreme Herausforderung zum Anlaß nimmt. Kurfürsten und Reichsstädte als Wähler und Hauptzahler waren dann zu Recht beim Reichstag die ersten. Zuletzt bequemten sich die Fürsten. Auch die Freien Städte zögerten, wie wir hören werden; Fürsten und Freie Städte mußten häufig erst zum Zahlen gebracht werden. Während dies alles geschah und dadurch neben dem Hof ein zweites, wenigstens de facto legitimiertes Zentrum im Reich heranwuchs, bestand der uneinholbare Legitimitätsvorsprung des Königs fort; sein Handlungsspielraum war auch schwerlich auf die Dauer durch Mauern aus Papier begrenzbar2o. Wenn man schließlich das eingangs zitierte Wort von der europäischen Verfassungsentwicklung als Orientierungsrahmen aufgreifen möchte, wird man den hier erörterten Ausschnitt t!twa so kennzeichnen: In dem Höchst2o

Moraw (FN 10), S. 60ff.

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maß an bürgerlicher Freiheit im mittelalterlichen Deutschland, das die Führungsgruppen der Freien Städte des 15. Jh. beanspruchten und teilweise realisierten, war in der Tat ein spezifisch europäisches Erbe enthalten. Man kann dies in Kürze so formulieren: Deutschland hat Anteil an zwei "Europas", die man universalgeschichtlich unterscheiden kann21. Bis zum Rhein und in gewisser Hinsicht bis zur Donau reichte das "Ältere Europa". Es fußte auf dem urbanen Erbe der mittelmeerischen, dann mittelmeerischwesteuropäischen Antike. Damit hatte das "Jüngere Europa" nicht dasselbe oder gar nichts zu tun und erwarb Teile dieses Erbes erst in langwierigen Ausgleichsprozessen. Die mittelalterlichen Freien Städte lagen ausschließlich links des Rheins und südlich der Donau, im "Älteren Europa". Es waren bischöfliche "civitates" als zum Teil sehr weit zurückreichende, jedenfalls vordeutsche kirchliche Mittelpunkte. Herrschaftliches und Feudales waren dann (in Gestalt konkreter Machtausübung) diejenigen Kräfte, die als Neuerungen des deutschen Mittelalters Spezifika seiner Hochkirchen darstellten, anders als bei den Kirchen Frankreichs und Italiens. Mit Hilfe des Mit- und Gegeneinanders des mediterranen und des deutschen Phänomens könnte man den Versuch einleiten (nicht auch beenden) zu erklären, warum es Freie Städte nur im linksrheinischen Deutschland und südlich der Donaugeben konnte. Nur unter den besonderen Bedingungen des deutschen Spätmittelalters freilich konnten die Freien Städte dieses Potential so entfalten, wie es dann geschah; und vor allem: Durch einen der für die deutsche Geschichte so bezeichnenden Ausgleichsprozesse verschwand diese besondere Entfaltung wieder, als schwerwiegende Herausforderungen eine Angleichung auch in diesem Bereich notwendig machten. Ein spezifisch europäisches Erbe ist einem spezifisch deutschen Wandlungsvorgang erlegen. III.

Unter den 3000 bis 4000 deutschen Städten des späten Mittelalters22 kann man vier Gruppen unterscheiden: 1. die Freien Städte; 2. die nach dem Beispiel der Freien Städte (zum Teil wohl auch der Reichsstädte) aus den werdenden Territorien herausstrebenden Städte, die dabei zunächst mehr oder weniger Erfolg, auf die Dauer beinahe keinen Erfolg aufwiesen23; 3. die 21 P. Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: FS W. v. Stromer, Bd. 2, 1987, s. 583- 622. 22 Moraw (FN 17), S. 434 ff., 444 ff., femer: Bibliographie zur deutschen historischen Städteforschung, bearb. v. B. Sehröder u. H. Stoob, Bd. 1, 1986. 23 Für diese "halbautonomen" Städte gibt es bisher weder einen festen Terminus der Forschung noch eine klare Übersicht; Verf. sammelt hierzu Material. Zuletzt dazu: K. Fritze u. a . (Hrsg.), Autonomie, Wirtschaft und Kult11r der Hansestädte, 1984, darin bes. die Beiträge v. E. Müller-Mertens u. E. Engel. Herrn Kollegen B. Schneidmüller danke ich für den freundlichen Hinweis, daß sich etwa Braunschweig 1345 als Freie Stadt bezeichnet (L. Hänselmann [Hrsg.], Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. l , 1873, S. 38f., Nr. 30).

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Reichsstädte24 und 4. die fest in den Territorien verbleibenden Städte. Es gab jedesmal Übergangssituationen, schon weil alle vier Befindlichkeiten dem Wandel im Zeitablauf unterlagen. Auch die Gruppe der Reichsstädte beispielsweise ist weitaus weniger homogen, als man dies vielfach glaubt. Schon die alten "echten" Reichsstädte waren je nach ihrer individuellen Emanzipation an bestimmten Stichjahren unterschiedlich weit vorangekommen auf dem Weg, der von der Königlichen Stadt zur wirklichen Reichsstadt führte; sie mochte diesen Begriff selbst gegen den König wenden (wohl zuerst in Schwaben im späten 14. Jh.). Es gab auch Reichsstädte außerhalb des engeren Regnum Teutonicum (Bern) und solche, die ohne königliche Vorgeschichte erst im 15. Jh. gegen ihren Herrn mit des Herrschers Hilfe dazu geworden sind (Solothurn, Diessenhoven, Winterthur). Die Freien Reichsstädte werden, wie noch zu erläutern ist, nach einer nicht sehr kurzen Übergangszeit erst in der frühen Neuzeit entstehen, indem Freie Städte und Reichsstädte zu einer Gruppe zusammenfanden und sehr wenige Kommunen dazustießen, die sich in der Tat von ihren Territorialherren auf Dauer gelöst haben (Hamburg, Bremen). Quantitativ gesehen war die vierte der oben genannten Städtegruppen die weitaus größte, die ersterwähnte der Freien Städte die weitaus kleinste. Jedoch handelte es sich bei ihnen- wie schon erwähnt - um recht bedeutende und um besonders alte, jedermann bekannte und günstig gelegene Städte. Überhaupt spielte die Größe der Stadt als Voraussetzung für die Mitwirkung von Bürgern in der Reichsverfassung eine ansehnliche Rolle; ohne ein bestimmtes heimisches Mindestsubstrat war die Chance, "oben" mitzutun, gering. Auch für die Gruppe der Freien Städte2 5 ist eine unzweideutig klare Abgrenzung nicht möglich. Man muß zwischen einer modernjuristisch-präzisen und einer zeitgenössisch-vageren Unterscheidung wählen. Im letzteren, hier bevorzugten Fall wird man auch das in der Städteforschung schon üblich gewordene "Merkmalbündel" sowie eine genetische Betrachtungsweise akzeptieren; beide Kategorien sind natürlich juristisch unscharf. 24 Neben FN 9, 17 u. 25: G. Pfeiffer, Stadtherr und Gemeinde in den spätmittelalterlichen Reichsstädten, in: W. Rausch (Hrsg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters, 1974, S. 201- 223; E. Isenmann, Reichsstadt und Reich an derWendevom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit, in: J. Engel (Hrsg.), Mittel und Wege früher Verfassungspolitik, 1979, S. 9- 223; H. Gollwitzer, Bemerkungen über Reichsstädte und Reichspolitik auf der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: FS H. Stoob, Bd. 2, 1984, S. 488- 516; V. Press, Die Reichsstadt in der altständischen Gesellschaft, in: J. Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (ZHF Beiheft 3, 1987), s. 9- 42. 25 Außer Moraw (FN 9), S. 413ff.: A. M. Ehrentraut, Untersuchungen über die Frage der Frei- und Reichsstädte, 1902; G. Landwehr, Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter, 1967; ders., Freie Stadt: HRG 1 (1971), Sp. 12211224; G. Möncke, Zur Problematik des Terminus "Freie Stadt" im 14. und 15. Jahrhundert, in: F . Petri (Hrsg.), Bischofs- und Kathedralstädte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1976, S. 84- 94; E. Isenmann, Zur Frage der Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte, in: FS E . Naujoks, 1980, S. 91- 110; Heinig (FN 7), S. 41 ff.

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Genetisch betrachtet bildeten den Kern der Freien Städte Mainz26 , Worms2 7 und Speyer2B. Einerseits sind Köln29, andererseits Straßburg3o, die beiden größten Rheinstädte, gewissermaßen als Flügelmächte hinzuzurechnen. Zum südlichen Rand hin zählen noch BasePl und Regensburg32 zu dieser Gruppe; die Position weiterer Bischofsstädte links des Rheins beschäftigt uns nicht. Fundamental für die hier getroffene Entscheidung ist der Tatbestand, daß die genannten Städte sich selbst auf längere Zeit für "frei" hielten und daß sie in diesem Rang- als Vorrang- von den anderen Städten, auch zeitweilig vom König, respektiert wurden; nicht entscheidend ist hingegen das Faktum, daß diese Auffassung schlecht und unterschiedlich begründet wurde, daß sie in der Tat schlecht und unterschiedlich begründet war und daß sie am Ende (jedoch nicht wegen der mangelnden juristischen Qualität) verfassungspolitisch unterlag. Dem Historiker von heute, aber nicht unbedingt den seinerzeit Beteiligten (s. u.) scheint klar, inwiefern diese Städte frei waren: Sie hatten sich nach und nach wesentlicher Rechte ihres Stadtherrn, des Bischofs, entledigt und 26 C. Regel, Verfassungsgeschichte von Mainz, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 18 (1882), 2. Abt., S.1 - 243; L. Falck, Mainz im frühen und hohen Mittelalter, 1972; ders., Mainz in seiner Blütezeit als Freie Stadt, 1973; W. Schöntag, Stadtherr und Stadtgemeinde im stauferzeitlichen Mainz: BI. f. dt. Landesgesch.112 (1976), S . 87 - 105; L. Falck, Das spätmittelalterliche Mainz - Erzbischofsmetropole und freie Bürgerstadt, ebd., S . 106- 122; A. Ph. Brück, Mainz vom Verlust der Stadtfreiheit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, 1972; D. Demandt, Stadtherrschaft und Stadtfreiheit im Spannungsfeld von Geistlichkeit und Bürgerschaft in Mainz (11. - 15. Jahrhundert), 1977. 27 F. Zorn, Wormser Chronik, hrsg. v. W. Arnold, 1857; B. Keilmann, Der Kampf um die Stadtherrschaft in Worms während des 13. Jahrhunderts, 1985. 28 E. Voltmer, Reichsstadt und Herrschaft, 1981; Geschichte der Stadt Speyer (FN 8). 29 Außer FN 5, 13 und 33: H. Stehkämper, Über die rechtliche Absicherung der Stadt Köln gegen eine erzbischöfliche Landesherrschaft vor 1288, in: FS E. Ennen, 1972, S. 343- 377; S. Picot, Kurkölnische Territorialpolitik am Rhein unter Friedrich von Saarwerden (1370- 1414), 1977, bes. S. 250ff.; A.-D. v. d. Brincken, Privilegien Karls IV. für die Stadt Köln, in: H. Patze (Hrsg.), Kaiser Karl IV. 1316- 1378, 1978, S. 243- 264; C. v. Looz-Corswarem, La costituzione della citta di Colonia nel tardo Medioevo, in: R. Elze I G. Fasoli (Hrsg.), La citta in Italia ein Germania nel Medioevo: Cultura, istituzioni, vita religiosa, 1981, S. 225- 258 ; H.-J. Becker, Diplomatik und Rechtsgeschichte, in: H. Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606- 1681), 1983, S. 335- 353; K. Militzer, Die feierlichen Einritte der Kölner Erzbischöfe in die Stadt Köln im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit: Jb. d . Köln. Geschichtsvereins 55 (1984), s. 77 - 116. 3° G. Livet I F. Rapp (Hrsg.), Histoire de Strasbourg des origines a nos jours, Bd. 2, 1981. 3l Außer FN 6 und 59: R. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, Bd.1 (1907); R. Patemann, Die Stadtentwicklung von Basel bis zum Ende des 13. Jahrhunderts: ZGO 112 (1964), s. 431- 467. 32 C. Th. Gemeiner, Regensburger Chronik, neu hrsg. v. H. Angermeier, 4 Bde., 1971 (zuerst 1800 - 1824); H. Gollwitzer, Capitaneus imperatorio nomine, in: Aus Reichstagen des 15. und 16. Jahrhunderts (1958), S. 248- 282, bes. S. 265ff.; W. Ziegler, Die Reichsstadt Regensburg, in: M. Spindler (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 3, 2, 2. Aufl. 1979, S.1423- 1438.

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hatten damit dessen "Staats"bildung zugunsten ihrer eigenen durchbrachen. Die Rechte des Königs, wie sie auch konkret beschaffen sein mochten, und die fortbestehende Zugehörigkeit zum Reich schienen diese Freiheit nicht zu berühren. Die Rechtmäßigkeit der Ablösung vom Bischof war und blieb freilich im Mittelalter problematisch. Sie ist von dem Hinausgedrängten nie wirklich anerkannt worden. So hat der Erzbischof im Jahr 1462 die Stadt Mainz gewaltsam in die Territorialbindung zurückgeführt, so daß es fortan nur noch sechs Freie Städte gab. So hat sich das in besonders komplizierten Rechtsbindungen befindliche Regensburg 1486 dem Herzog von Bayem in die Arme geworfen; die überlegene Macht des habsburgischen Kaisers konnte jedoch dieses Geschehen sechs Jahre später rückgängig machen, allerdings nicht zugunsten des alten Status. Vielmehr wurde die Donaustadt Reichsstadt unter vorwaltendem kaiserlichen Einfluß. Ein entsprechendes Privileg im Falle Kölns, das aufs engste mit der besonderen Situation des burgundischen Krieges verknüpft war (1475), und zu vermutende parallele Interessen des Kaisersam landstädtisch gewordenen Mainz blieben ohne Wirkung. So gab es am Ende des besonderen Schicksals dieser Städtegruppe, um und nach 1500, fünf Freie Städte. Dasjenige Zeitalter in der langen Geschichte der hier behandelten Kommunen, das man als freistädtisch bezeichnen kann, setzte nach einer femen Vorgeschichte seit dem späten 11. Jh. (Worms 1073 zu Köln 1074) in der zweiten Hälfte des 13. Jh. ein. Als auffallende Stationen mögen nach dem Rheinischen Bund von 1254/1257 für Straßburg die Schlacht von Hausbergen (1262) und für Köln die Schlacht von Worringen (1288) gelten; der erste bewaffnete Konflikt Kölns mit seinem Erzbischof hatte 1252 stattgefunden33. Es ging bekanntlich um einen de facto-Wandel hin zu mehr politischer Bewegungsfreiheit der Städte, der von den kommunalen Führungsgruppen zu Lasten des Stadtherm betrieben wurde. Intensität und Dauer der Auseinandersetzungen waren verschieden - sehr beträchtlich etwa in Köln, wo man schon 1180 das Stadtgebiet durch einen neuen Mauerbau verdoppelt hatte, ohne den Erzbischof zu fragen. Gleichwohl behielten die Kirchenfürsten ansehnliche Rechte in den Städten, die genügend Anlaß einer. seits zu Hoffnungen, andererseits zu Befürchtungen boten. Zur Legitimierung des Neuen innerhalb des traditionellen Rechtsdenkens, die in einer vorrevolutionären Gesellschaft selbstverständlich geboten war, bediente 33 Außer FN 25- 32: Th. M. Martin, Die Städtepolitik Rudolfs von Habsburg, 1976; R. Kottje, Zur Bedeutung der Bischofsstädte für Heinrich IV.: HJb 97/ 98 (1978), S.131 - 157; H . Jakobs, Vescovi e citta in Germania, in: I poteri temporali dei vescovi in Italia ein Germania nel Medioevo, 1979, S. 283- 328; B. Diestelkamp (Hrsg.), Beiträge zum hochmittelalterlichen Städtewesen, 1982; ders., König und Städte des Regnum Teutonicum in salischer und staufiseher Zeit: HZ Beih. 7 (NF) (1982), S. 24 7 297 ; R. Schieffer, Die Zeit der späten Salier (1056- 1125), in: F. Petri I G. Droege (Hrsg.), Rheinische Geschichte, Bd. I, 3, 1983, 8 . 121- 198; 0. Engels, Die Stauferzeit, ebd., S.199- 275; H. Maurer (Hrsg.), Kommunale Bündnisse Oberitaliens und Oberdeutschlands im Vergleich, 1986.

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man sich in erster Linie abgenötigter "Kapitulationsurkunden" der Bischöfe und der extremen "Dehnung" manchmal ziemlich weit zurückliegender Königsprivilegien. So hatten die Kölner ihre besondere Freiheit mittels einer herrscherliehen Befreiung von fremden Gerichten (1242) akzentuiert, die seinerzeit zugunsten der erzbischöflichen Gerichtspflege erteilt worden war. Ein königliches Freiheitsprivileg für Straßburg von 1205, ebenfalls unter bestätigender Teilnahme des Bischofs, hatte ein weiteres Mal mitnichten die Freiheit der Stadt im Sinne von Autonomie gemeint, sondern galt wohl noch punktueller als in Köln bestimmten Freiheiten der Städter innerhalb des elsässischen Reichsguts. In der Stadt Mainz sammelte man von 1353 an je für sich in zwei Handschriften die erzbischöflichen und die königlichen Urkunden, um additiv argumentieren zu können. Jenes Tun war- wir erinnern uns- weder ungewöhnlich noch besonders bösartig, sondern muß als Teil des üblichen Kräftespiels aufgefaßt werden. Die andere Seite handelte nicht anders, wenn etwa ein Kurkölner Reichsvikariat, das ganz anders gemeint war, gegen die Stadt verwertet wurde3 4 • Es ist klar, daß neben den je verschiedenen Ausgangsbedingungen die jeweilige konkret ausgekämpfte Situation der Einzelkommune die Geschichte der Freien Städte individualisierte- wie bei den Reichsstädten. Insgesamt war das freistädtische Streben - soweit bisher beschrieben nicht nur nicht gegen den König gerichtet, sondern rückte die betroffenen Städte diesem sogar in gewisser Weise näher. Schon die bischöfliche Stadtherrschaft des Hochmittelalters ist (jedenfalls in den Augen der Historiker) ohne das Königtum kaum denkbar35. Dieser Zusammenhang mochte in staufiseher Zeit durch planmäßige Städtepolitik verstärkt worden sein (Basel, Regensburg), er war auch Folge von Konflikten von Herrscher und Bischöfen und genausogut Ergebnis der Friedensaufgabe des Königs, wenn er zwischen Stadtherrn und Stadt vermittelte oder Schiedssprüche bestätigte. Diese Offenheit der Städte gegenüber dem Herrscher bestand freilich nur solange, als er nicht seinerseits Leistungsansprüche erhob. Von diesem Augenblick an war für die führenden Bürger gleichsam eine zweite Front eröffnet, auf die man aber nicht vorbereitet war und die noch größere Legitimierungsschwierigkeiten als zuvor mit sich brachte; denn Königsprivilegien standen nun einem königlichen Willen gegenüber. In diesem Zusammenhang möglicherweise wertvolle päpstliche Urkunden hat man nur selten erlangen können36. Die rechtlich-politische Seite der Situation stellt jedoch nur einen Aspekt der Geamtlage dar. Man kann nicht davon absehen, daß die sich auf den Freistadt-Status zubewegenden Bischofsstädte unfern von anderen KornPicot (FN 29), S. 253. Lit. wie FN 33. 36 Picot (FN 29), S. 266ff. 34 35

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munen lagen, die sich auf dem Weg von der Königlichen Stadt zur Reichsstadt befanden. Mit diesen Nachbarn stand man durch vielerlei Verkehrs-, Handels-, Geld- und Nachrichtenkontakte und durch eine manchmal zum Bündnis gesteigerte gemeinsame Grundhaltung gegenüber den regionalen Adelsmächten in Beziehung. Die unvermeidlichen gegenseitigen Rivalitäten waren schwerlich größer als bei Reichsstädten und Freien Städten je unter ihresgleichen. Man sah sich den gleichen "Basisprozessen", Krisen und Konjunkturen ausgesetzt. In den Lebensbereichen außerhalb der statusempfindlichen Zone der Freien Städte verhielten sich der König zu diesen wie zu Reichsstädten und die Bürger Freier Städte zu ihm wie Bürger von Reichsstädten. Auch hierbei handelte es sich ohne Zweifel um herrschaftliche Momente. Sie ließen in Erinnerung bleiben, daß im Reich ein Herr wirkte und daß ein herrenloses Dasein, wie es den Freien Städten idealiter vorgeschwebt haben mag, eigentlich unmöglich war. Auch die Freie Stadt nahm königliche Privilegien entgegen, mußte das Judenregal dulden, empfing herrscherliehe Mandate in konkreten Angelegenheiten ganz verschiedenen Ranges und ließ sich Eingriffe oder Eingriffsversuche in die eigene Bündnispolitik gefallen. Die gerichtlichen Beziehungen waren vielleicht das wichtigste Begegnungsfeld. Sodann wurden einzelne Bürger belehnt, suchten den Hof und Hoftage auf, gaben dem König Kredite usw. Die Unterschiede zwischen einzelnen Freien Städten und zwischen Freien Städten und Reichsstädten auf diesen Feldern sind mehr von der politischen und Interessengeographie bestimmt worden als von Statusfragen. Schließlich wirkten sich immer wesentlichere Teile der Königspolitik vereinheitlichend aus. Denn ungeachtet der nur von den Reichsstädten entrichteten Jahressteuer wirkten Stil und Inhalte des herrscherliehen Fiskalismus gegenüber allen nicht in festen Händen befindlichen, einigermaßen räumlich königsnahen und finanziell interessanten Städten tendenziell nivellierend. Auch der Herrscher forderte gemäß den Regeln des zeitgenössischen Kräftespiels von vielen vieles, um schließlich einiges von einigen zu erhalten. Der König war eben nicht nur und häufig nicht als erstes eine abstrakte Instanz zur Verteidigung der Reichsrechte, sondern eine politische Figur, die zunächst Selbstbehauptung im Reich mit fast allen greifbaren Mitteln betrieb. Nimmt man dies alles zusammen, dann gibt sich der Freistadtstatus "realpolitisch" gesehen als eine Dimension der Existenz der betroffenen Städte unter anderen Dimensionen zu erkennen37. Entsprechend dem sich schrittweise vollziehenden Aufbau und Ausbau legitimer und nicht legitimer Freiheiten, angesichts der erwähnten Legitimitätsmängel und genausogut infolge der Unübersichtlichkeit von Rechten und Realitäten im allgemeinen hinkte die Terminologie38 den Tatsachen 37

38

Zu all diesem s. bes. Heinig (FN 7). Lit. wie in FN 25.

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nach; wie bei den Reichsstädten39 war sie besonders in der Frühzeit problematisch. In den Königsurkunden kann man offenbar Freistadt-Belege (zuerst wie bei den Reichsstädten im weniger verbindlichen Plural) von Ludwig dem Bayern an auffinden (seit 1322); sie setzten sich bei Karl IV. und Wenzel fort. Straßburg als eine einzelne Freie Stadt wurde zum Beispiel zuerst 1358 vom Kaiser so bezeichnet40 • Auch hier ist vor schematischer Zählung zu warnen und ist auf die je konkrete Situation des Königs und auf die Informiertheit und Sorgfalt seiner Kanzlei sowie auf den Urkundeninhalt zu achten, besonders darauf, ob eine ehrenvolle Betitelung oder eine konkrete Freiheit gemeint war. Entscheidend ist aber dieses: Die Freiheit der Freien Städte aus königlicher Perspektive hatte mit der Freiheit der Freien Städte gegenüber ihrem Bischof inhaltlich-juristisch-prinzipiell nichts zu tun. Dieses galt, selbst wenn es in Einzelheiten und als Nebenwirkung zur Überschneidung der beiden Rechtssphären kommen und wenn die Urkundensprache der Hofkanzlei durch verallgemeinernde und mehrdeutige Begrifflichkeit oder auch durch Gleichgültigkeit gegenüber dem nicht unmittelbar betroffenen Rechtsgut charakterisiert sein mochte; hierher ist auch die Titulatur als Freie Stadt zu zählen. Damit meinte die Kanzlei zweifellos nicht die Freiheit vom Bischof, sondern -wenn das Umfassendste angesprochen war - die Freiheit von den Lasten oder der Haftung der werdenden Reichsstädte oder - partikular - eine jener schon erwähnten Gelegenheitsfreiheiten individuellen Anlasses. Sie mögen im Einzelfall für die Einzelstadt sehr wichtig gewesen sein und können auch je besonderen Dringlichkeiten des Herrschers zugeordnet werden, wie die gegen viel Geld gewährte Befreiung der Mainzer von auswärtigen Gerichten (1355) und ihre Satzungs- und Schatzungsfreiheit (1378) in den Endschwierigkeiten Karls IV. Zu einer neuen Wirkung gebracht wurden diese Situationen von den Städten durch die Thesaurierung und Kumulierung der Rechte und durch deren "gedehnte" Auswertung. Dies führte auch zur Vermischung und zur Steigerung der je vom Bischof und vom König erlangten Freiheiten und damit des bischöflichen und königlichen Freiheitsproblems. Der Wille der kommunalen Führungsgruppen schuf die Freien Städte auf dieser "Rechtsbasis" als politische Realitäten. Weder König noch Bischof konnten im Prinzip und auf die Dauer (anders in Einzelfällen) diesem "usurpatorischen" Verständnis folgen, und das dualistisch werdende und sich institutionalisierende, aber weiterhin hocharistokratische Reich tat dies ebensowenig. Alle diese Kräfte dachten auf der Basis ihrer Traditionen und ihres anders sortierten juristischen Materials anders und handelten politisch anders. So stellte sich früher oder später das Verfassungsproblem und die Machtfrage 39

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Wie in FN 9. Pfeiffer (FN 24), S. 215; Ph. Dollinger, in: Histoire de Strasbourg (FN 30), S. 108.

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-kaum anders als bei einem Doppelkönigtum, für welches die längste Zeit ebensowenig anerkannte Regeln außer denen der Kraftprobe bestanden. Ein Unterschied zwischen beiden Problem-Hälften bestand darin, daß die Bischofs-"Freiheit" von Stadt zu Stadt individuell beschaffen war und bestenfalls durch städtische Solidarität (wie sich zeigte, nicht erfolgreich) zusammengebunden wurde. Die Königs-"Freiheit" führte zur Gruppenbildung. Die erste Situation, in welcher die Königs-Freiheit der Gruppe der Freien Städte auf der Waagschale lag, war diejenige von 1400, die im folgenden Abschnitt behandelt wird. Das 14. Jh. ist für uns Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte kann jedoch schon der einen oder anderen grundsätzlichen Einsicht den Weg bahnen. So wird man summarisch sagen: Ungeachtet des Tatbestands, daß man die Freien Städte (wie auch die fürstliche Landesherrschaft) schwerlich definieren, sondern nur umrißhaft beschreiben kann und als schillerndes Phänomen wird stehen lassen müssen, sind sie auf der Bühne des Reiches ernst zu nehmen. Sie vertraten ihre wenn auch problematische Stellung mit Nachdruck, und gerade solche zwischen Anspruch und Realität schwankenden, auf beschränktem Wissen aufgebauten und in einem beschränkten Radius gültigen Positionen sind typische Kennzeichen des "unverdichteten" Zeitalters der Reichsverfassung. Durch eine so formulierte Befreiung des Rechtshorizonts der Zeitgenossen von anachronistischen Präzisionsforderungen wird auch der Blick auf die je verschiedene historische Substanz frei. Unter dem Vorbehalt, daß eine umfassende Sammlung der Freistadt-Belege und ihres Umkreises noch nicht existiert, sei auf zwei Tatbestände hingewiesen, die für die Suche nach den Wurzeln wesentlich erscheinen. Zum einen sah man offenbar einen Zusammenhang zwischen freien Bürgern und Freier Stadt (Speyer und Köln, auch Worms)41, zum anderen entstand die Auffassung, die Freie Stadt sei gefürstet (Worms) 42 . Beidemehr oder weniger punktuellen Vorstellungen des 13. Jh. verweisen auf das ältere Gegenüber von Stadt und Bischof, nicht auf das jüngere von Stadt und König, und verbreiteten sich wohl schon deshalb nicht allgemein. Freie Bürger konnten in einer parzellierten Privilegiengesellschaft keine Wertvorstellung von übergreifender Werbekraft sein, auch sie waren am Ende frei nur im Hinblick auf bestimmte Einzelrechte. Die "Fürstlichkeit" der Stadt erregte um so mehr Anstoß, je größer die Anteilnahme der Fürsten an der Reichsverfassung zu werden begann, und wurde im 15. Jh. getilgt. Die geringe juristische Qualität dieser Gedankenfiguren korrespondiert mit dem minimalen Wert der historischen Argumentation, auf die sich die Städte in diesem Jahrhundert besinnen werden. In beiden Fällen wäre es eine anachronistische Überforderung von Möglichkeiten und 41

Ehrentraut (FN 25), 8.103, 105, 124f., 171; Militzer (FN 29), 8. 80f.; Isenmann,

(FN 24), 8. 193.

42 Ehrentraut (FN 25), 8 . 103, 116f.; Möncke (FN 25), 8. 86f., 92.

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Fähigkeiten der Zeitgenossen, "staatsrechtliche" Sorgfalt und Genauigkeit zu fordern. Auf benachbarten Feldern tritt solches im gänzlich inkommensurablen Gegenüber von Herrenrecht und in Geld ausgedrückter Entschädigungsforderung oder in der Inkompetenz von Schiedskommissionen zutage. Im historischen Bereich waren Jahrhunderte soviel wert wie Jahrzehnte oder wie "mythische" Figuren wie Dagobert und Basilius - als Verweise jeweils auf "unvordenkliche" Zeiten, in denen die Freiheit bestanden haben sollte, die für die Gegenwart so schlecht beweisbar war. So kann man ein zweites Mal- diesmal der Selbstdeutung entlangvisierend- sagen: Der zentrale Begriff der Freien Stadt war in einem überall von Unausgeglichenheiten charakterisierten Verfassungszustand weder innerlich einheitlich noch sauber begründbar - und war dennoch real und akzeptiert. IV.

Nachdem ein Vierteljahrhundert zuvor der letzte militärische Versuch der Erzbischöfe gescheitert war, Köln zu unterwerfen, verlagerte sich der Schwerpunkt der Freien Stadt-Frage vom Jahr 1400 an (abgesehen von der Mainzer Problematik 1443/62) zum Königtum hin- als ein erster vager Vorklang des großen Themas des späteren 15. Jh.: der "Verdichtung" des Reiches. Um 1400 handelte es sich bei diesem Reich noch um ein Gebilde, das neben dem König nur die Königswähler als Verfassungsorgan in einem engeren Sinn kannte43 und seine übrigen Glieder eher gefolgschaftlieh verstand. Der im genannten Jahr von der rheinischen Kurfürstenopposition gewählte Gegenkönig Ruprecht von der PfalzH suchte in seiner angespannten Finanzlage auch die Freien Städte zu Leistungen zu bewegen. Ein Italienzug sollte ihn als besonders geeigneten Herrscher erweisen. Zum ersten Mal befand sich der König so nahe und war die Situation so dringlich, daß sich die Freien Städte am Rhein gemeinsam betroffen sahen; auch ist die Quellenlage günstig, so daß man die Haltung der einzelnen Kommunen und die Argumentation beider Seiten verfolgen kann. Angesichts der Machtverhältnisse dieser Jahre wird man zwei Städtegruppen unterscheiden: Mainz, Worms und Speyer lagen im königlichen Sanktionsbereich, Köln und Regensburg außerhalb seiner, Straßburg etwa an der Grenze, hatte aber den kurpfälzischen Nachbarn respektieren gelernt. Weil der Herrscher in Zeitnot war, kam man rasch zum Kern der Dinge. Die Städte handelten dabei nach gegenseitiger Abstimmung, die für 43 Vgl. z.B. J. Weizsäcker (Hrsg.), Deutsche Reichstagsakten (künftig RTA) Bd. 4, 1882, Nr.189 (Anordnung der Liste S. 220, Z.15f.). 44 E . Schubert, Probleme der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich. Das Beispiel Ruprechts von der Pfalz, in: R. Schneider (Hrsg.), Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, 1987, S. 135- 184; M. Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd.1, 1988, S.123ff.

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den Sommer 1401 den Kreis der Dazugehörigen praz1se abzustecken erlaubt: Er bestand aus Köln, Mainz, Worms, Speyer und Straßburg, enger gefaßt aus Mainz, Worms, Speyer und Straßburg, während Basel in einiger Distanz Information und Rat erheischte. Es handelte sich um "des Heiligen Reiches Freie Städte am Rhein" 45 , von denen in der summierenden Pluralform gesprochen wurde. Keine von ihnen betitelte sich in Verbindung mit dem Stadtnamen hochoffiziell selbst als "Freie Stadt". Dessenungeachtet wollte man sich in der Königsfrage klar von den Reichsstädten unterscheiden: Nur mit dem Nachrichten- und Wirtschaftszentrum Frankfurt wurden bis heute aufbewahrte, also wohl als wertvoll und verbindlich erachtete einschlägige Informationen ausgetauscht. Wenn man in den kommenden Jahren wegen anderer gemeinsamer Interessen mit Reichsstädten zusammentraf (etwa auf Münztagen), trat die Besonderheit der Freien Städte als höherer Rang zutage und wurde ohne weiteres (selbst von Nürnberg) anerkannt. Dies tat auch der König; er gewährte den Freien Städten mit Ausnahme Basels, dem gegenüber offenbar Informationsschwierigkeiten bestanden (s. u.), die zusätzliche Anrede "ehrsame", die damals zum Beispiel den Frankfurtern versagt blieb (nur: "liebe getreue")46 . Einen höheren Rang hatte auch die Freistadt Regensburg in den achtziger Jahren im Kreis der schwäbischen Reichsstädte beansprucht und zugebilligt erhalten47 . Dieser höhere Rang, der respektiert wurde, ist ein fundamentales oder besser das fundamentale Argument für das zu Unrecht immer wieder angezweifelte tatsächliche Bestehen dieser städtischen Sondergruppe und zugleich ein ~rstes Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Reichsstädten. Die zweite Hauptdifferenz zwischen beiden Städtegruppen betraf die Leistungspflicht gegenüber dem König. Von vornherein forderte man von einer Freien Stadt (mit Ausnahme Basels, das zunächst nicht als solche identifiziert wurde) nichts als einen militärischen oder-Geldbeitrag zum Italienzug. Diese Sachlage war am Heidelberger Hof wohl aus der mittelrheinischen Städtenachbarschaft bekannt. Nicht so sicher war man sich in Köln, wo man bei den "ältesten und erfahrensten Ratsherren" 48 Erkundigungen einzog, die dann zum gleichen Ergebnis führten. Dieser Tatbestand war demnach bei den "rheinischen Fünf" unproblematisch und kann als Bestandteil des Verfassungswissens angesehen werden, dem viel später die ähnlich konstruierte und ebenso unbestrittene Steuereinheit des "Römermonats" entsprang49. Die gezahlten Summen oder gestellten Söldner entsprachen in RTA (FN 43), Bd. 4, Nr. 372; vgl. auch Bd. 5 (1885), Nr. 347. RTA (FN 43), Bd. 4, Nr. 185; Bd. 5, Nr. 263 ff., 275, 342 ff., 357, 360, 364 f. 47 Gemeiner (FN 32), Bd.1, S . 28. 48 RTA (FN 43), Bd. 4, Nr. 371. 49 P. Moraw, Der "Gemeine Pfennig". Neue Steuern und die Einheit des Reiches im 15. und 16. Jahrhundert, in: U. Schultz (Hrsg.), Mit dem Zehnten fing es an, 2. Aufl. 1986, S.130- 142. 45 46

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ihrer Abstufung offensichtlich im großen der jeweiligen Leistungsfähigkeit; aus Köln kamen 9000 Gulden (Aufwendungen für 30 "Gleven" zu je 30 Gulden monatlich für zehn Monate), zwei Drittel davon erbrachten Straßburg und ein Drittel Speyer in Söldnern. Der Mainzer und der Wormser Beitrag sind in ihrer Größe ungewiß. Diese Leistungen und allein diese berührten die Freiheit der Städte nicht; nachdenklich begann man zu werden, als (unrealisierte) Gerüchte aufkamen, Ruprecht wolle mit diesem Heer gegen Böhmen ziehen 50. Die Frage nach Regensburg und Basel stand noch offen. Die Donaustadt in ihrer etwas abgerückten Lage und mit wichtigen Handelsverbindungen zu Wenzels Böhmen, auch von schweren Wirtschaftssorgen geplagt, glaubte nur einen würdigen Empfang des Königs zu schulden, wenn er eintreffe. Ruprecht sah sich nicht in der Lage, demgegenüber konkrete und belegbare Forderungen zu stellen, und verwies stattdessen auf das Tun Kölns und der anderen Freien Städte. Regensburg behauptete seinerseits, nie Entsprechendes geleistet zu haben, brachte dies ohne irgendeinen Nachweis mit seiner alten Freiheit in Verbindung- und blieb unwiderlegt und setzte sich durch. In Wirklichkeit vermochte man bestenfalls (offenbar punktuelle) Privilegien Ludwigs des Bayern und Karls IV. vorzulegen und wieder auf den Ehrenvorrang der Stadt- in Venedig und anderswo- hinzuweisen (Beleg um 1443). Hier wurde Freiheit nicht schon einigermaßen qualitativ wie am Rhein, sondern noch quantitativ verstanden, als eine (angeblich oder wirklich) größere Summe gesammelter Freiheiten im Vergleich zu anderen Städten, ohne daß irgendeine Grenzlinie mitgedacht worden wäre. Für 1401 kann man zusätzlich sagen: Der Umfang der Stadtfreiheit wuchs ungefähr proportional zur Entfernung vom König. So schlugen die Regensburger als Kompromiß beim Besuch des Königs ein größeres Geschenk als Quasi-Steuer vor. Man zahlte dem Ankömmling in der Tat auf diese Weise ungefähr so viel, wie es Speyer getan hatte, und kam damit zusätzlich zur Anerkennung des eigenen Rechtsstandpunkts glimpflich davon51 . Der Abschluß mit Basel ist auf andere Weise bemerkenswert. Während Ruprecht die Basler wie die Berner und Zürcher als Reichsstädter ansprach, behaupteten jene, solches nicht zu sein, ohne freilich angeben zu können, was sie eigentlich seien. Weil sie sich aber als romzugspflichtig (und gegebenenfalls auch zum Heidenkampf dienstbar) verstanden, kam ohne weitere Diskussion eine Leistung in Höhe der Speyerer Zusage zustande52. Die Zahl der Hofjuristen Ruprechts war nicht klein; aber man hat nicht im geringsten den Eindruck, als ob die Freistadtfrage von 1400/1401 und RTA (FN 43), Bd. 4, Nr. 402. RTA (FN 43), Bd. 5, Nr. 16; Gemeiner (FN 32), Bd. 2, S. 352f., vgl. S. 387, und Heinig (FN 7), S. 53. 52 RTA (FN 43), Bd. 5, Nr.17 f., 179. 5o

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ihre Ungereimtheiten und Unausgeglichenheiten in irgendeiner Form als Rechtsproblem der Gesamtverfassung verstanden worden wären. Dafür bestanden - wie wir schon gesehen haben - weder die entsprechenden längerfristigen Rahmenbedingungen noch genügte der konkrete Anlaß. Es handelte sich vielmehr- positiv formuliert- um eine fiskalische Frage im Rahmen einer "unverdichteten" Situation zwischen königlichem Zugriff und städtischer Abwehr. Abhängig war man vom Ausmaß des Grundkonsenses (die Kölner hätten schwerlich zum Zahlen gezwungen werden können) und von den Zugriffsmöglichkeiten des Königs. Die Beteiligten bewegten sich dabei im Rahmen eines Reiches, dessen Gefüge ebenso unvollendet wie unbezweifelt war. In der Folgezeit traf man sich vor allem im Kreis der vier Freien Städte zwischen Mainz und Straßburg vor und nach den vom König einberufenen Tagen, um sich abzustimmen. Gemeinsam lehnte man weitere Kriegshilfeforderungen ab, die in der Praxis und schon im Verfahren ein Heranrücken an die Reichsstädte mit sich gebracht hätten. Sich gegen den Willen der Stadt durchzusetzen war offenkundig nicht möglich. Es ist nicht klar erkennbar, ob man aufseitendes Herrschers eine "necessitas"-Argumentation versucht hat; Erfolg hatte sie jedenfalls nicht53. Beim Romzug Sigismunds beobachtet man dasselbe Verhalten wie beim Unternehmen des Vorgängers54. Der Freistadt-Status hat damit seine Bewährungsprobe bestanden, in die ersten beiden Jahrzehnte des 15. Jh. kann man seine Blütezeit datieren. Die mit diesem Ausgreifen in die Ereignisgeschichte veranschaulichten Positionen haben sich im Hinblick auf den König erst unter Friedrich III. gewandelt, und zwar zusammen mit der Lage der Reichsstädte. Noch vor der Jahrhundertmitte war zuvor eine Beziehungsstörung zum Königtum eingetreten - durch dessen Fernrücken in den äußersten Südosten des Reiches. Dies war auch ein Anlaß für die Kraftprobe des Zweiten Städtekrieges um 1450. Diese Auseinandersetzung bezeichnet bekanntlich den Endpunkt der selbständigen Politik von Städtegruppen und machte das Vorwalten der Fürstenstaaten offenkundigss. Das Neue, das sich zuvor schon- in den späteren Jahren Sigismunds- zu Wort gemeldet hatte, war das Reich in einem neuen Sinn, als ein auch ohne den abwesenden König einigermaßen handlungsfähiges Corpus. Es reagierte auf die bisher unerhörte Herausforderung der Hussiten. Es ist irrig zu meinen, daß damit nur ein kirchlich oder auch kurfürstlich bestimmter Handlungsbereich angesprochen worden ist. Ohnehin können die Kurie und ihre Legaten bis zum Abschied des Papsttums aus der deutschen VerfasRTA (FN 43), Bd. 5, Nr. 275ff., 342ff. H. Herre (Hrsg.), RTA Bd.lO, 1, 1906, Nr.146ff. ss H einig (FN 7), S. 2 f. u. ö. 53 54

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sungsgeschichte, der sich gleichzeitig mit dem Beginn des Zeitalters der "Verdichtung" vollzog, als allgemein anerkannte ordnende und legitimierende Gewalten in Deutschland gelten, auch gegenüber den Städten. Im Jahr 1375 etwa hatte sich die Freie Stadt Köln gegen Erzbischof und Kaiser der Hilfe des Papstes versichert56 • Nun stand das Konzil von Konstanz mit seiner Verflechtung von kirchlichen und weltlichen Dingen vor aller Augen. Das Argument von der Christenpflicht aller Deutschen, den wahren Glauben gegen die Ketzerei zu verteidigen, und nicht das geistliche Argumentationsdefizit der Kommunen stehen in der Tat am Anfang vom Ende der Freistadtherrlichkeit. Damit wandte sich das Reich mit seiner neuartigen Steuer- und Militärorganisation, die auf der königsahgewandten Seite des nun erstmals aufblitzenden "institutionalisierten Dualismus" entwickelt worden war, auch an die Freien Städte, da sie die schwächsten von denen waren, die abseits standen. Geschehen konnte dies nur auf der Basis der "freiwilligen" Selbstverpflichtung, zu der man mit Hilfe der aus der Konziliarismusdiskussion wohlvertrauten Necessitas-Formel gebracht wurde; diese hatte gerade die Papstkirche einigermaßen in Ordnung gebracht. Der christlich-kirchlichen Necessitas beugten sich auch die Freien Städte. Sie wurden in der ersten Reichsmatrikel von 1422 und offenbar auch auf den Städtetagen erstmals wie Reichsstädte behandelt und ließen sich dies gefallen57. An dieser Wendemarke wird man sich der Kriterien vergewissern, die das Besondere der Freien Städte bezeichnen, und dafür anders als die ältere Forschung auch die gerade charakterisierte, sich so rasch verändernde Verfassungsumweltund die oben schon erwähnten bleibend "mittelalterlichen" Rahmenbedingungen heranziehen. Bei den beiden wichtigsten unterscheidenden Merkmalen, abgesehen vom Hauptmerkmal der je besonderen Geschichte der Freien Stadt, ist im Ablauf der Zeit weniger ein Verschwinden als eine Entwertung festzustellen: Der Ehrenvorrang der Freien Städte und die Begrenzung ihrer Leistungen für den König höchstens auf die Romzugshilfe wurden nicht eigentlich beseitigt, sondern sie erwiesen sich als überholt- es war eine oder besser gesagt die für die ältere legitimitätsstarke Reichsgeschichte typische Form des Wandels. Die außerdem gern angeführten Wesenszüge der Freiheit oder (unglücklich formuliert) Befreiung von der Jahressteuer und die Unverpfändbarkeit sind nicht so sehr Besonderheiten der Freien Städte als von den Reichsstädten her negativ formulierte Abgrenzungen; Rechtsgrundlagen für ein solches Wünschen oder Handeln des Königs gegenüber den Freien Städten haben nie bestanden. Das unterschiedliche Huldigungsverhalten dieser Kommunen gegenüber dem König (Speyer und Worms huldigten; die übrigen huldigten- vorerst- nicht) ist 56 57

Picot (FN 29), S. 266ff. D. Kerler (Hrsg.), RTA Bd. 8, 1883, Nr.145.

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ein sicherlich bemerkenswerter, historisch individualisierender Tatbestand, zumal ihm die offenbar eher einheitliche Untertanenhuldigung der Reichsstädter gegenüberstand. Doch darf jenes nicht so verstanden werden, als ob die unterlassene Huldigung per se irgendeine Lösung aus den vielfältigen Bindungen der Stadt mit sich gebracht hätte; für die oben angeführten "praktischen" Dimensionen städtischer Existenz blieb mit oder ohne Huldigung alles beim alten. Schließlich konnte die wie auch immer gehandhabte Huldigungs- oder Nichthuldigungspraxis den Wandel der Reichsverfassung hin zu wachsender "Verdichtung", der auch diese Alternative immer weniger wichtig werden ließ, nicht im geringsten aufhalten 5B. Allein die Basler in ihrer besonderen politisch-geographischen Situation wollten weiterhin nur das "unverdichtete" Reich zur Kenntnis nehmen und entschieden sich daher im Jahr 1501, der Eidgenossenschaft beizutreten, wie dies die Reichsstädte Zürich und Bern getan hatten59. Daß sie sich damit auch nach und nach aus dem Reich an und für sich lösen sollten, weil es allmählich nur noch ein "verdichtetes" Reich gab, hat sich damals zweifellos kein Zeitgenosse vorstellen können. Wir tun nun den Schritt über die Wendezeit von etwa 1470 hinaus auch für die übrigen Freien Städte und prüfen ihre Stellung im Zeitalter der "Verdichtung". Die Hussitenzeit war vorübergegangen. Ungefähr 20 Jahre ohne spektakuläre Herausforderung hatten sich angeschlossen, bis dann der Schock des Falles von Konstantinopel (1453) das Problem des Glaubenskrieges als Türkenkrieg neu belebte. Im innenpolitischen Milieu steht - soweit man bisher sieht- die Auseinandersetzung des Kaisers mit Herzog Ludwig von Bayern-Landshut (1461/62) am Übergang, da sie zu (abgelehnten) Geldforderungen auch an die Freien Städte führte 60 • Zu gleicher Zeit erlosch die Stadtfreiheit von Mainz und bezeichnet damit das Enddatum partikular-"unverdichteter", nicht reichsbezogener Freistadtgeschichte. Entscheidend für das Neue waren die Bedrängnisse, die von 1470 an von Türken, Ungarn und Burgundern ausgingen und schließlich durch die Franzosen bedeutend vermehrt wurden, sowie das sich rasch vergrößernde Engagement der von zur Großdynastie heranwachsenden Habsburger am burgundischen Erbe in den Niederlanden und in Flandern. Auch dies geschah immer mehr im Einverständnis mit den politisch denkenden Deutschen, von denen die meisten in größeren Städten wohnten. Quantitativ gesehen stand nun im Vergleich zur Hussitenzeit wohl ein Mehrfaches der Sorgen und der Heilmittel zur Diskussion. Diese Diskussion wurde bald in

Material zur Huldigung bei Ehrentraut (FN 25), S. 76ff. H. G. Walther, Basel: Reichsbewußtsein und Reichsferne am Oberrhein in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: W. Eberhardt I F. Seibt (Hrsg.), Europa 1500, 1987, S. 227- 246; vgl. Gollwitzer (FN 24), S. 506ff. so Isenmann, (FN 24), S. 26, 195ff.; Walther (FN 59), S . 239. 58

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ähnlicher Weise wie seinerzeit, nur viel intensiver, aufwendiger und auf unabsehbare Zeit hinaus von Taten begleitet61. Im Bereich der Kommunen erkennt man das Neue am deutlichsten an den von 1471 an in dichter Folge stattfindenden Städtetagen62 . Deren erster ist vom Regensburger Türkentag desselben Jahres ausgelöst worden, auf dem man zur Verteidigung des Glaubens beträchtliche Forderungen auch an die Städte stellte. Man hatte in Regensburg den Kaiser erwartet und war deshalb zahlreich gekommen. Als er nicht erschien, trat mit der Anwesenheit von vielen Städteboten aus verschiedenen Gegenden auf einem Tag ohne Herrscher über die bisher üblichen regionalen Besprechungen hinaus ein Organisationsmodell vor Augen, das auch intern nutzbar war. Auch der Städtetag war kein Parlament, sondern ein Delegiertenkongreß. Es gab 1471 und später nicht das Auszählen einer Mehrheit, sondern die Orientierung an der Meinung von Führungsstädten. Die entscheidenden Tatsachen kann man knapp zusammenfassen: Es kamen weit mehr einigermaßen autonome Städte zusammen als bisher, und ein konkreter Unterschied zwischen Freien Städten und Reichsstädten war - auch in den Augen der Städter selbst - nicht mehr sichtbar. Beide Gruppen rückten stattdessen je nach dem Rang der Einzelkommune gleichsam im Reißverschlußverfahren ineinander und boten nach und nach Gelegenheit für die anders akzentuierte Rivalität von rheinischen und schwäbischen Städten. Unter den wirtschaftlich-finanziellen Führungszentren Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg, Frankfurt am Main, Köln und Lübeck, weniger unter den organisatorisch-politisch ersten (Frankfurt, Nürnberg, Straßburg, Augsburg/Uhn), behaupteten die Freien Städte gute Positionen. So stellte die neue, wieder als unausweichliche Notwendigkeit bezeichnete und alle Christen betreffende Herausforderung das bisher sorgfältig gepflegte Unterschiedensein in den Schatten, ohne es wie schon gesagt prinzipiell zu beseitigen. Die Gruppenbildung von 1400 erscheint zwei oder drei Generationen später als recht "unverdichtet"; denn nun standen die Städte allesamt einer geographisch und juristisch ferngerückten Majestät gegenüber. Dieses Gegenüber war grundsätzlich geworden, es gab immer weniger Nischen (außer derjenigen, die Basel aufgesucht hatte), im Konfliktfall war nichts Gutes für die Städtefreiheit zu erwarten. Ohne Zweifel hat auch eine ganze Anzahl von andersartigen, leider weder exakt meß- noch datierbaren Entwicklungen zu diesem bemerkenswerten, seinerseits von parallelen "Verdichtungsvorgängen" - wie wir jetzt sagen dürfen - begleiteten Geschehen geführt. Diese Parallelen begannen mit damals kaum bewußt gewordenen 61 Moraw (FN 17), S. 416ff.; E. Isenmann, Integrations- und Konsolidierungsprobleme der Reichsordnung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Eberhardt I Seibt (FN 59), S.115- 149. 62 G. Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, 1984.

3 Der Staat, Beiheft 8

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ökonomischen und sozialen "Basisprozessen" und setzten sich fort mit (vorerst nur zu vermutenden) Mentalitätsveränderungen, mit der Ausbreitung des römischen Rechts als neuer "politischer Wissenschaft" und damit auch mit der Vorstellung von einem allgemeinen Untertanenverhältnis zum Kaiser. Sie mögen geendet haben bei der ehrlichen Überzeugung, daß Gemeinsamkeit besser sei als Isolation. Gleichwohl war es aus städtischer Sicht ein finanziell und "partikular" gesehen unvernünftiges, weil sich selbst zugunsten kaum überschaubarer oder garbeeinflußbarer Situationen unkalkulierbar belastendes Verhalten- auch wenn man am Anfang sicherlich nicht wissen konnte, daß dieser Vorgang unumkehrbar werden und unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Natürlich gab es viel Hin und Her und mehr oder weniger erfolgreichen Widerstand im Detail. Wohin die Entwicklung aber unwiderstehlich ging, zeigt die Unterwerfung unter den bisher immer wieder mit Erfolg abgewehrten Huldigungseid (1475 Köln in beschränkter Form, 1492 Regensburg, 1494 Worms mit einer nun den Reichsstädten angeglichenen Formel, 1547 Straßburg). Nicht schwören hieß immer deutlicher ungehorsam sein - eine Vorstellung, die um 1400 nicht verstanden worden wäre; schon 1462 war gemäß dem neuen Rechtsdenken der (Zahlungs-)Ungehorsam am Oberrhein förmlich festgestellt worden 63 . Ein Neuverstehen der kaiserlichen Privilegierung als den Empfänger fortan verpflichtenden Gnadenerweis scheint damit verbunden gewesen zu sein (gegenüber Regensburg etwa 1480). Im Burgundischen Krieg leisteten die Freien Städte jedenfalls genauso Kriegshilfe wie die Reichsstädte, dann (wenn auch mit starkem Widerstreben wohl wegen des abseitig erscheinenden Schauplatzes) 1481/82 Ungarnhilfe und schließlich 1488/89 Beistand in den neuhabsburgischen Niederlanden. Es ging dabei um beträchtliche Summen, für Straßburg allein nach eigener Angabe zwischen 1476 und 1489 um 50000 Gulden, für Worms 1475 um gegen 8000 Gulden. Das Ausmaß der Beteiligung der Freien Städte an den Städtetagen war beachtlich hoch (1495- 1545: Straßburg 94%, Speyer 91%, Köln und Worms 82 %)64 • Gerade die dichte Abfolge immer neuer Forderungen und Zahlungen schuf neue Realitäten, sie beendete in der Praxis die alte "Freiheit". Vor 1500 schon faßte sich die Speyerer Stadtobrigkeit in reichsstädtischer Manier als vom Kaiser abgeleitet auf; als die Speyerer 1494 vor Maximilian schworen, spielte auf dieser Bühne der Stadtherr, der Bischof, keine Rolle mehr, obwohl die Problematik im lokalen Hintergrund weiterbestand. Die vor allem vom Wormser Reichstag von 1495 an erneuerten Pflichten gegenüber dem dualistisch werdenden Reich- als Selbstverpflichtungen unter kurfürstlich-fürstlichem Druck- kann man wie den Zugriff einer weiteren Autorität verstehen, die die alten Positionen ein zweites oder gar drittes Mal berannte. Insgesamt gesehen waren die Städte ziemlich machtlose Opfer der neuen Konstellation auf dem Reichstag, der eine königlich-kurfürstlich-fürstliche Ange63

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Isenmann, (FN 24), S. 28; vgl. Walther (FN 59), S. 239. Schmidt (FN 62), S. 38; Isenmann, (FN 24), 8 . 121, 127, 228ff.

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legenheit nach hocharistokratischen Regeln verblieb. Die sogenannte Reichsreform änderte daran nicht das geringste und auch der Westfälische Friede beinahe nur Formales. Konsequenzen und Inkonsequenzen dieser Situation sind nicht einfach mit modernen Verfassungsvorstellungen in Einklang zu bringen. Konsequent war die geschilderte Entwicklung insofern, als man das Verhältnis von Reichsstädten und Freien Städten - vielleicht etwas überraschend demjenigen von Kurfürsten und Fürsten parallelisieren kann. Noch 1427, bei der ersten dualistischen Steuerbehörde aus dem Hussitenzeitalter, arbeiteten allein Kurfürsten und Reichsstädte (als die Königsnächsten) zusammen; Fürsten und Freie Städte waren die Zögernden, die noch zwei Generationen Zeit benötigten. Wenig konsequent scheint das frei- und reichsstädtische Verhalten gewesen zu sein, wenn man das bisher gern als (eng ständegeschichtliche) Zielvorstellung vorausgesetzte Streben nach städtischer Reichsstandschaft auf dem Reichstag als Kriterium heranzieht. Die Städte gelangten im freuhd.;feindlichen Umgang mit der von Kurfürsten und Fürsten in Gang gebrachten Mechanik des Dualismus unversehens auf die königsahgewandte Seite dieses Dualismus, sobald sie den ziemlich rücksichtslos ausgeübten Zahlungsdruck auch auf dieser "Front" zu mildem trachteten; denn dann mußte man in Ausschüssen mitwirken und im Reichsregiment vertreten sein. Aber dies widersprach gänzlich dem fundamentalen reichsstädtischen und nun auch für die Freien Städte aktivierten Legitimitätsbezug, der zur anderen, zu der königlichen Seite des Dualismus hinführte. So war es ja auch historisch richtig; denn die Reichsstädte, die die Richtung angaben, waren ursprünglich großenteils Krongutsglieder gewesen und hätten eigentlich nur durch ihren Herrn auf dem Reichstag vertreten werden dürfen, wie es auch für die Erbländer der Herrscherdynastie zu Recht geschah. Die Standschaftsfrage am werdenden Reichstag war also eine komplizierte und ambivalente Angelegenheit. Sie wurde in der politischen Praxis dringlich, als Karl V. vom Reich abwesend war. Er, der sonst in der herrscherüblichen sehr gedämpften, jedoch nicht wirkungslosen Weise für "seine" Städte gesorgt hätte, mußte nun gleichsam auf der Flucht nach vom in die so gefährliche andere Seite des Dualismus hinein ersetzt werden. Weil aber die alte Rechtslage nicht aufgegeben werden konnte, ohne Legitimation und Tradition einzubüßen, fand man sich plötzlich beiderseits der entstehenden Trennungslinie vor. Man wandte sich an den Hof und an den Tag zugleich, so daß eine "schwebende" Lage entstand. Stationen der neuzeitlichen Ereignisgeschichte, die hier nicht mehr zu behandeln sind, entschieden dann die Situation. Bei alledem verhielten sich die Städte verständlicherweise zögernd und reagierend, nicht vorantreibend, auch nicht bei der "Reichsreform". Beachtenswert ist schließlich, daß die immer noch zu konstatierende Geringfügigkeit des verfügbaren Verfassungswissens den Schritt in die neue 3'

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Situation der Freien Städte ziemlich leicht gemacht hat, wie schon einmal auf dem Weg hin zur freistädtischen Blütezeit des frühen 15. Jh. Schon um 1500 und erst recht danach war führenden Städtepolitikern der Unterschied zwischen Reichsstädten und Freien Städten nicht mehr recht klar oder man hielt ihn für äußerlich und unwesentlich. Demgemäß beobachtet man nun erst recht und auf lange Zeit eine außerordentliche Vielgestaltigkeit der Terminologie. In den Reichstagsabschieden von 1495 und 1498 zum Beispiel meinten "Freie Städte" die Rheinischen Frei- und Reichsstädte und "Reichsstädte" die schwäbisch-fränkischen Kommunen. Die von den Historikern gern gebrauchte Formel von den "Freien Reichsstädten" schälte sich erst sehr langsam und nicht eindeutig aus diesem Wirrwarr heraus; sie empfiehlt sich jedoch als moderner Ordnungsbegriff für die nun tatsächlich einigermaßen einheitliche, wenn auch noch nicht einheitlich benannte Gruppe der ,Freien und Reichsstädte der frühen Neuzeit'. Damit kann zum Ausdruck gebracht werden, daß es sich um das Ergebnis eines Prozesses der Vereinigung und Angleichung ursprünglich unterschiedlicher Gruppierungen handelt. In diesem Prozeß hatte freilich das Wort "frei" den Zuammenhang mit den ursprünglich gemeinten Inhalten verloren und bezeichnete nun sekundär die (fiktive oder wirkliche) Teilautonomie der alten Frei- und Reichsstädte innerhalb der Reichsverfassung, als Freisein von Zwischengewalten im Verhältnis zum Herrscher65 . Die Gelegenheit zur Romantisierung Freier Reichsstädte bot sich erst im 19. Jh., als es Kommunen dieser Art nicht mehr gab.

V. Die Prüfung des konstitutionellen, nicht des individuellen Spielraums des deutschen Bürgertums im späten Mittelalter-am Beispiel der Freiheit der Freien Städte - hat vielleicht Ernüchterung hinterlassen. Obwohl das Höchstmaß an politischer Beweglichkeit und organisatorischer Selbstverantwortung herangezogen wurde, das Stadtbürger im königsnahen und damit selbstgestaltungsfähigen Reich realisieren konnten, ist das Ergebnis wohl auch im Rahmen des innermediävistischen Forschungsgesprächs ernüchternd. Ernüchternd ist es vor allem für das langfristig-übergreifende Fragen, das sich in unserem Fall für eine "Wurzel" der modernen "Verbindung von Stadtbürgertum und Staatsbürgertum" interessiert hat. Dieses Fragen hat sich erstens dem (nicht neuen, aber neubestätigten) Resultat zu stellen, daß das horizontal-konstellationsbezogene Verständnis der vertikal-entwicklungsgeschichtlichen Deutung offenkundig überlegen ist. Zum zweiten haben sich selbst die als besonders hoffnungsvolle Thematik ausgewählten Tatbestände der Bürgerwelt samt dem zeitgenössischen Bewußtsein von ihnen weder als sehr reichhaltig und dauerhaft noch als sehr konsistent ss Schmidt (FN 62), S. SOff.; Gollwitzer (FN 24), S. 497.

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oder auch ausdrucksstark erwiesen. Es bestand für unseren Ausschnitt, also für den Bereich des Verfassungspolitischen und für seinen Umkreis, ein bedeutendes Übergewicht der "feudalen Welt", die das bürgerlich-städtische Milieu in sich aufgenommen oder gar nach ihrem Bild gestaltet hat. Auf den Vorwurf Erzbischof Dietrichs an die Mainzer (1443), sie wollten hauptund herrenlos sein, gab es keine "konstruktive" Antwort, sondern nur ein hilfloses Stammeln66 • Man mag jenes Übergewicht auch daraus ersehen, daß der höhere Rang der Freien Städte, der einst mit soviel Anstrengung gegen den bischöflichen Stadtherrn erkämpft und behauptet worden ist, um und nach 1500 fast spurlos verschwand. Durch das Eintreten der Freien Städte in den Kreis der Reichsstädte stellte sich auch keinerlei Anhebungseffekt für die Gesamtgruppe ein. Das heißt: Im Vergleich zur großen Distanz, die die Städte insgesamt von der maßgebenden politischen Kultur trennte, war dieser Schritt belanglos. Die Freien Städte wurden nach unten gedrückt, auch aus dem Wort "frei" ließ sich (selbst wenn man zum Versuch imstande gewesen wäre, was sehr zu bezweifeln ist) kein Kapital schlagen. In der Hauptsache - so darf man vereinfachen - trat eine Effektivitätssteigerung des Reiches zugunsten der dieses tragenden altständischen Gesellschaft ein. Der Abstand zur demokratischen Moderne scheint eher größer geworden zu sein. So führt kein Weg an der Einsicht vorbei, daß sich wenigstens im Fall der Vorgeschichte des Staatsbürgertums sehr langgedehnte Traditionslinien als sehr problematisch erweisen. Primär müssen die in der "Horizontale" bestehenden Zusammenhänge begriffen werden, und zwar in ihrem Ineinanderund Zusammenwirken und unabhängig davon, welche Einzelbestandteile als zukunftsreich aufzufassen sind und welche nicht. Die .engere mediävistische Perspektive sollte die hemmende lokalhistorische Beschränkung überwinden. Die allgemeinhistorische Sicht bedarf des zeitgenössischen "staatlichen" Rahmenwerks von den Institutionen bis zu den ungeschriebenen Selbstverständlichkeiten der Sache wegen ebensosehr, und nicht weniger zum Zweck der "Sinngebung". Eine Zuordnung von "Tatsachen-Inseln" zu bestimmten wesentlichen Expost-Fragestellungen ist nämlich in der Tat erwägenswert und im Rahmen gewisser Grenzen zulässig, auch in unserem Fall. Die hier behandelte Thematik bietet sogar ein schönes Beispiel für die unterschiedlichen Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen. Denn die Perspektive des Historikers entscheidet darüber, wie Verlust und Behauptung der Freiheit der Freien Städte und damit großer Teile des Handlungsspielraums ihrer Führungsgruppen bewertet und der ihrerseits werthaltigen Position des modernen Staatsbürgers zugeordnet werden könnten. In seltener Klarheit standen einander um 1500 als Alternative gegenüber das sich "verdichtende" Reich, 66

Hege! (FN 26), 8 . 161.

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das die allermeisten Freien Städte unterwarf, und die Eidgenossenschaft, der sich die Freie Stadt Basel freiwillig zugesellte, um den neuen Anforderungen jenes Reiches zu entgehen. Betrachtet man die Dinge möglichst unvoreingenommen, so wird man sich kaum der Aussage verschließen, daß die Bewahrung der Freiheit diesmal weniger gut legitimiert war als ihr Verlust- als Ausfluß nämlich der Selbstbehauptung und Wandlungsfähigkeit des Gesamtreiches. Demgegenüber wollten die Basler keinen neuen Staat (gar mit aufgeklärten Bürgeridealen) gestalten helfen, vielmehr im "unverdichteten", kaum belastenden Reich bleiben und sich innerhalb seiner mit Hilfe ihrer Eidgenossen der "Verdichtung" erwehren. Erst viel später ist das hohe Maß an Freiheit des 15. Jh., das die Basler durch diesen Schritt tatsächlich behaupteten, im Sinne neuzeitlicher Ideale umgedeutet worden. So ist die einzige einigermaßen kontinuierlich bewahrte Stadtfreiheit ebensosehr der Sache von 1500 nach wie hinsichtlich ihrer Verknüpfung mit den Idealen des 18. Jh. problematisch. Andererseits war mit dem gut legitimierten Reich die feudale Welt untrennbar verbunden, die den Städten als den Schwächsten und am meisten abseits Stehenden die größten, oft als ungerecht empfundene Lasten aufbürdete. Will man die Zahl der Gesichtspunkte um weitere, den Zeitgenossen unbekannte, vermehren, so kann man darauf hinweisen, daß sich auf dem Weg in die Neuzeit die Mindestschwelle selbständiger Machtausübung ständig hob und damit die städtische Freiheit immer problematischer wurde, oder auch, daß sich im Verlust der Freiheit der Freien Städte ein wünschenswerter Ausgleichsprozeß in Deutschland vollendete, die die inzwischen überholte Vorzugsstellung des "Älteren Europa" (s.o.) auslaufen ließ. Welchen Standpunkt man auch wählen mag, es zeigt sich, daß das Spielen mit isoliert zurückprojizierten Größen wie Stadtbürgertum und Staatsbürgertum und ihren Freiheiten nur mäßigen Gewinn bringt. So ist der direkte Weg von der mittelalterlichen Einzelstadt oder ihrer Führungsgruppe zum modernen Staatsbürgertum wenigstens in Deutschland nicht leicht gangbar. Gleichwohl können einschlägige Beobachtungen nützlich sein für das Verständnis des Handeins von immer mehr Bürgern, deren Beziehung zur heimatlichen Einzelstadt sich lockerte und löste, da sie dem "feudalen" und danach dem absoluten Staat zustrebten, der schließlich eine bürgerliche Gesellschaft aus sich entließ. Jenes Geschehen fand öfter und früher statt, als man im allgemeinen annimmt 67 . Weil der Reichstag bis zum Ende des Alten Reiches eine Veranstaltung von Kaiser und Fürsten geblieben ist, führte der Weg zum bürgerlichen Mithandeln viel eher über das Tun von Beamten, Pfarrern, Intellektuellen und Künstlern am Hof und im Staat als über die Städtekurie am Reichstag. Doch läßt sich zum Abschluß ein methodischer Hinweis von Belang gerade dieser Sphäre ent67

Vgl. oben FN 1.

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nehmen. Das Verhältnis von älterem Ständewesen und neuzeitlichem Parlamentarismus läßt sich nämlich in gewisser Hinsicht mit dem Gegenüber von Stadt- und Staatsbürgertum in alteuropäischer und moderner Welt parallelisieren. Die Zeit der ständischen Konsolidierung um und nach 1500, die in diesem Text bestenfalls aus der "Froschperspektive" der Städteboten gestreift worden ist, läßt bei den höheren Ständen erkennen, in welch hohem Maße damalige Verhaltensweisen "quer" zu modernen Verfassungsvorstellungen verliefen. So forderte man den König fürstlicherseits auf, sich endlich gegenüber den eigenen (zahlungsunwilligen) Standesgenossen durchzusetzen, und so tat der König alles, um die (einigermaßen zahlungswilligen) Stände in ihrem Zusammenhalt zu bestärken- beides Verhaltensweisen, die modern geurteilt die Gegenpartei zum eigenen Nachteil kräftigten. Aber so dachte man offensichtlich nicht - nicht nur nicht, weil man die Zukunft nicht kannte, sondern vor allem, weil Divergenzen, die heute als verfassungstechnisch fundamental gelten, damals gering wogen gegenüber dem ungeschrieben-selbstverständlichen (natürlich "altertümlichen") aristokratischen Milieu. Nur innerhalb dieses relativ zeitlosen Gefüges gab es partielle Modernisierungsvorgänge, die aber an diesem Gefüge ihre Grenze fanden (und auch dieses modernisierten). Die Analyse des Gesamtgefüges und seines Wandels erst gibt zureichende Auskunft über das Detail älterer Verfassungstatbeständeund bietet die Chance, grobe Anachronismen zu vermeiden. Wie gefährdet isoliertes Suchen ist, zeigt der ebenso ehrenwerte wie verfehlte Versuch, von den alten Freiheiten der Freien Stadt Köln eine Linie zum Bonner Grundgesetz zu ziehenss.

ss W. Holbeck, Freiheitsrechte in Köln von 1396 bis 1513, Jb. d. Köln. Geschichtsvereins 41 (1967), S. 31 - 95.

Aussprache Borck: Bei Ihren Aussagen zur Eingliederung der Freien Städte oder Reichsstädte in das System des Reichstages war, wie Sie selbst formuliert haben, nicht der Grundgedanke der ständischen Repräsentation bestimmend, sondern Gesichtspunkte wie Königsnähe oder Königsferne sollen entscheidend gewesen sein. Mich will diese Auffassung nicht ganz befriedigen. Gibt es vielleicht irgendwelche Hinweise darauf, daß das Reichsweistum von 1231, das doch im allgemeinen als die Geburtsurkunde der späteren ständestaatliehen Organisation anzusehen ist, auch Pate gestanden hat bei der Aufnahme der Städte in den Reichstag und ihrer Organisation als dritte Bank, als Städtekurie? Moraw: Ich glaube, man muß die Möglichkeit des Zusammenhalts der ständisch Gleichen sehr differenziert sehen. Auch ich habe lange Zeit geglaubt, was bei Ficker und anderen Autoritäten steht, bis ich habe untersuchen lassen, wer eigentlich wirklich nachweisbar mit seinesgleichen zusammengetroffen ist. Das Ergebnis dieser Nachprüfung wird naturgemäß immer em Mindestertrag sein, denn es wird nur nachgewiesen, was ausdrücklich bezeugt ist. Dieses Ergebnis ist "erschreckend" gewesen. Es scheint so zu sein, daß als Folge der Katastrophe der Staufer Tendenzen (die sicherlich vorher vorhanden gewesen sind) zur Regionalisierung und zum Nichtbefassen mit gemeinsamen Angelegenheiten von großer Bedeutung waren. Natürlich hat man sich getroffen, aber diese Treffen können zumeist aus regionalen Zusammenhängen und von regionalen Uniständen her erklärt werden. Was man "Reichsweistum" nennt und dergleichen, sind Dinge, die über die engeren ökonomischen oder Verkehrs-Regionen hinausweisen müssen. Entscheidend ist: Die weitgespannten Begegnungen sind an Zahl und Teilnehmerzahl bescheiden gewesen. Die Anzahl etwa von Fürsten, die auf den nicht allzu häufigen Durchschnitts"reichstagen" des Spätmittelalters anwesend waren (13. - 14. Jh.), hat ein halbes Dutzend in der Regel nicht überstiegen; fast alle, die anwesend waren, müßte man zunächst einmal von den Gefolgschaften der (ganz wenigen) Protagonisten her zuzuordnen versuchen. D.h., bevor man gewissermaßen flächendeckend denkt, sollte man in der Weise denken, daß die Protagonisten mit ihrem Gefolge aufgetreten sind, beginnend mit dem König- oder es war allein der König. Wenn man diese Gefolgschaftsstruktur in Abzug bringt, kann man nur sagen: Man fragt sich, wie die deutsche Geschichte eigentlich willentlich zusammengehalten wurde. Deswegen habe ich den Begriff des Grundkon-

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senses gebraucht, weil ich ihn benötige (ohne daß ich schon genau weiß, was darin eigentlich enthalten ist), um überhaupt zu erklären, warum man beisammen blieb. Das ist ein schwieriges Problem. Bei den Städten gab es keine dynastischen oder genealogischen Zusammenhänge, die anderswo die Dinge miterklären helfen. Die Wirtschaftslandschaften der Städte deckten sich nicht mit dem, was wir Deutschland nennen. Man muß nun versuchen, die empirischen Befunde zu erklären. Ein Erklärungsmodell habe ich mich bemüht, in aller Kürze im Vortrag zu bieten, und bin dabei zu einem eher skeptischen Bild des Reichszusammenhangs gelangt. Ich glaube auch, daß (wie im Vortrag gesagt) das Gedächtnis der Zeitgenossen kurz gewesen ist. Ich glaube solange, daß man jenes Reichsweistum nicht mehr gekannt hat, bis hilfswissenschaftlieh das Gegenteil nachgewiesen ist. Brauneder: Ich fürchte, ich habe eine relativ naive Frage; aber als Rechtshistoriker ist man sozusagen der Mond, der von der Sonne des Historikers sein Licht erhält. Sie haben erwähnt, nicht der Repräsentationsgedanke sei so sehr wichtig, sondern Königsferne oder Königsnähe: Ist dies nicht in etwa das Modell, welches auch zur Erklärung der Zusammensetzung von Landtagen beiträgt? Und wenn es so wäre, dann frage ich mich gleichsam als Mond, wieso kam die Sonne nicht schon früher auf ihre Idee, denn die Landtags-Diskussion scheint doch schon länger in dieser Richtung zu laufen. Moraw: Wir sollten spekulieren, wieviele Sonnen es gibt. Brauneder: Es gibt ja auch viele Monde durchaus unterschiedlichen

Formats.

Moraw: Wenn jemand auf den Landtag kam, dann hat er einen Sinn damit verbunden, es sollte ihm etwas "einbringen", wenn es auch "nur" eine Heiratsverbindung u. dgl. war. Die Größe des Reiches hat dazu geführt, daß jene Beziehungen, die sich in einer kleinen "Erlebnislandschaft" ungezwungen entwickelten, im Gesamtreich große Schwierigkeiten mit sich brachten. Es besteht, glaube ich, ein eigentümliches Gemisch im Verhältnis von König und Fürsten oder von Reichstag und Landtag beim Voreilen und Nachhinken- als Angelegenheit von Herausforderung und Antwort. Die königlichen gelehrten Juristen waren z. B. wichtiger und früher als die landesfürstlichen. Auf der anderen Seite waren die Landtage "früher" als die Vollentwicklung des Reichstags. Die Tatsache, daß der König früher als die Territorien gelehrte Juristen besaß, wird u . a. plausibel gemacht dadurch, daß er sich mit den Ersten Europas, mit dem Papsttum und mit dem König von Frankreich, auseinanderzusetzen hatte und dabei nicht vollkommen "nackt" dastehen konnte. Für die Priorität der Landtage im Vergleich zum Reichstag

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spricht die Tatsache, daß bei jenen Erlebniswelt und politische Welt zusammenfielen und daß sich dieses viel natürlicher ergab als der Kontakt über riesige Entfernungen. Man brauchte 30 Tage, um von einem Ende des Reiches zum anderen zu kommen; auch kein Brief konnte schneller befördert werden. Da hat man in einem Satz das Problem der Reichsgeschichte. Deswegen kann man auch nur wenig erwarten und muß eher die umgekehrte Frage stellen: Warum ist das alles zusammengeblieben? Auch dafür gibt es Gründe: daß wenige verändernde Herausforderungen eingetreten sind, daß kein böser Feind seit den Mongolen mehr da war, daß bis zum späten 15. Jh. in vieler Hinsicht eine sehr "stille" Zeit bestanden hat. Das wirkte alles zusammen.

Willoweit: Ich habe nur eine kurze Frage, die an Ihre erste Diskussionsantwort anschließt. Welches Reichsverständnis haben eigentlich die Freien Städte? Haben Sie nicht einmal gesagt: Es schwebte ihnen wohl eine herrenlose Existenz vor, sie verweigerten deshalb den Huldigungseid? Stehkämper: Sie sprachen, Herr Moraw, von der Königsnähe und der Königsferne, die sich änderte mit der Lage. Es gibt aber auch eine rechtliche Königsferne und eine rechtliche Königsnähe. Die Freien Städte nahmen ab dem 13. Jh. gegenüber ihren Stadtherren den zu schwörenden Gehorsam in ihrem Eid nach und nach zurück. Sie mußten gleichwohl ihren Stadtherren, die sie zu verlassen dabei waren, auch in folgenden Jahrhunderten weiterhin Eide leisten. Das hielt sich so bis zum Ende des Alten Reiches. Nur verklausulierten sie diesen Eid immer mehr. Die Städte brauchten aber eine rechtliche Stütze gegen ihre Stadtherren. Das war der Huldigungseid an den mehr oder weniger fernen König. Es war kein Gehorsamseid. Gehorsam ließen sie gerade gegenüber ihrem Stadtherrn mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Dem König huldigten sie. So konnten sie sagen: Wir sind, weil wir huldigen, Glieder des Reiches genauso wie der (Erz-)Bischof, denn auch derleistete dem König einen Huldigungseid. Das ist natürlich immer von Fall zu Fall variiert worden, je nachdem, wie stark die Stadt, wie schwach der Stadtherr und wie stark der König gewesen ist. Die Huldigungseide der Städte blieben natürlich in der Formulierung konstant, aber zeitweise sind doch bezeichnende kleine Änderungen getroffen worden. Um Ihre Frage zu beantworten, Herr Willoweit: Der Quaternionenadler stellte die Reichsverfassung bekanntlich im Bilde dar. Diese bildliehe Darstellung des Reiches spielte für das Reichsbewußtsein der Reichsglieder immer eine gewisse Rolle. Köln rangiert im Quaternionenadler innerhalb der letzten Gruppe unter den Bauern des Reiches. Daher kommt es, daß in Köln an mehreren Ecken und Enden der Spruch zu lesen ist: "Halt fass do kölscher Boor, bliev beim Rich, et fall söss of sor" . Die Kölner hatten also das Bewußtsein, beim Reiche konsolidiert und mit ihrer Verfassung dort verankert zu sein. Bei den

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Umwälzungen, die ihre ganze Verfassungsgeschichte reichlich mit sich brachte, gerieten die neuen Verfassungsträger oftmals in Legitimationszwang. Ihre Legitimation holten sie sich immer wieder beim Kaiser. Meine Frage an Herrn Moraw ist die: Wie behandelte der Kaiser dabei die zurückgedrängten Stadtherren der Freien Reichsstädte im Laufe der Zeiten? Die zurückgedrängten Stadtherren mußten doch bei derlei Umwälzungen über den Kaiser die Chance gehabt haben, ihre Verfassungsrechte wenigstens in Erinnerung zu bringen. Moraw: Zuerst zu Herrn Willoweit: Die Frage nach dem Reichsverständnis ist unterschiedlich zu beantworten und ist auch eine Quellenfrage. Am leichtesten erkennt man wohl die Dinge an den Extremen: Ruprecht, der alles versucht hat, weil er kein Geld besaß, hat zu Metz, Basel und Regensburg Beziehungen aufgenommen. Man kann sagen, daß alle drei Städte verschiedene Reichsbegriffe hatten. Alle haben an einem sehr abstrakten Reichsbegriff, der mit der Tatsache verbunden war, daß das Reichsoberhaupt zum Kaiser gekrönt werden solle, als Minimum festgehalten. Das war etwas Hochrangiges, nicht etwas Dürftiges, wie es heute scheinen mag, aber zugleich auch eine Ausrede. So wollten die Metzer gehorchen, wenn der Kaiser käme; der König genügte ihnen nicht. Ähnliche Vorstellungen gab es in Burgund. Es gibt also zwei Grenzpositionen bei der Antwort: Einmal ist es in der Tat so gewesen, daß der Reichsbegriff der Sache nach sehr vielfältig war (siehe den Artikel "Reich" in den "Geschichtlichen Grundbegriffen", wo ich darum gerungen habe), zum zweiten kann man sich, wie bei der Basler Position von 1401, nicht anders helfen als mit der Vorstellung, daß man sich hinter dieser Vielfalt verstecken wollte. Die Basler haben ihre Stellung im Reich nicht definiert, aber haben sich dadurch auch sicher nicht beunruhigt gefühlt. Denn was der König wollte, war eine Aktion, die punktuell verstanden worden ist und die das, was ich Grundkonsens nenne, offenbar überhaupt nicht tangiert hat. Nicht im geringsten sind die Basler deswegen aus dem Reich ausgeschieden. Aber sie konnten sich verbergen. Es konnte schon deshalb keine Einheitlichkeit geben, weil sie im Reich technischpraktisch undenkbar war, und daher besteht eben eine so große Spannweite zwischen dem Basler Verhalten und dem leidenschaftlichen Patriotismus, den man um 1500 aus Straßburg hört.- Zur Frage nach Huldigung und Herrenverlustmuß man zwei Dinge auseinanderhalten. Es gibt aus Mainz einen Quellenbeleg, den ich kurz erwähnt habe, in dem der zweitgenannte Punkt vom Erzbischof recht grundsätzlich aufgeworfen wurde. Die Mainzer konnten keine Antwort geben, weil man ohne Herr in der Tat nicht bestehen konnte. Noch weniger vorstellbar war nur noch die Nichtzugehörigkeit zum Reich. So blieb nichts als Stammeln und Schweigen. Huldigung demgegenüber war nicht gleich Huldigung. Sie ist ähnlich differenziert zu sehen wie das Umgehen mit Privilegien. Die gerade zitierte Szene spielte nach der

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Huldigung an Erzbischof Dietrich; diese Huldigung, die wie zuvor in Mainz eingeschränkt und vorbehaltsreich war, bewahrte ihn vor diesem Konflikt nicht. Zu Herrn Stehkämper: Es ist in Einzelfällen aufgearbeitet worden, wie sich die Beziehungen im Dreieck König-Kaiser/Bischof-Erzbischof/Stadt abgespielt haben. Es ist für die Zeit Karls IV. und für Köln, aber auch sonst geschehen. Daraus läßt sich ableiten, daß man von einer kontinuierlichen Städtepolitik der Zentralgewalt kaum sprechen kann. Es ist besser, auch hier von Regionen her zu denken, so daß sich immer neue Konstellationen rasch ergeben konnten. Es war in Köln in der Tat ein Dreieckspiel, und der Papst spielte auch noch mit. Es macht die Dinge im Spätmittelalter verwirrend, wenn man nur aus einer Perspektive urteilt. Wenn man von der Region her denkt, dann gewinnt das Spiel größere Plausibilität. Man ist dann im Stande, gewisse Kontinuitätendes Gegeneinanders zu erkennen, d.h. man war z.B. der Freund des Nachbarn seines Nachbarn. Wenn einer zum Gegner wurde, wird man mit dessen Gegner bessere Beziehungen aufnehmen usw. Ein durchgehendes Verhältnis des Königs zu Köln kann man nicht leicht sinnvoll formulieren. Diestelkamp: Ich möchte etwas beitragen zur Illustration dessen, was Sie Verschränkung des Mittelalterlichen genannt haben, die von Königsnähe zu Verdichtungen hinführt, zu einer stärkeren Verfassungsform. Das ist möglich auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit. Sie haben die Untersuchung von Ranieri genannt. Die Anschauung, daß das Hofgericht so ineffektiv gewesen sei, stimmt auch nicht. Man kann beobachten, daß in der ersten Hälfte des 15. Jh. Prozesse aus Regionen an den Hof kommen, die seit der Stauferzeit als königsfern galten. Und dies geschieht auf der Grundlage nicht etwa von dem, was wir kontinuierliche Verfassungsbeziehungen nennen würden, sondern durch die Entscheidung von Personen. Personen gehen mit ihren Prozessen an den Königshof; man sieht, wie die beiden Dinge auch hier zusammentreffen. Der Verdichtungsprozeß oder Verrechtlichungsprozeß wird auch getragen von solcher Königsnähe von Personen.

Moraw: Da kann man nur zustimmen. Für Jahrzehnte ist viel Arbeit zu leisten, bis man das alles einigermaßen überblicken wird. Aber man kann jetzt schon sagen, daß es eine deutsche Geschichte auch in dieser Zeit gegeben hat, die von Institutionen her so angekränkelt scheint; es gab eben auch andere, z. B. soziale Zusammenhänge, die offenbar sehr wirksam gewesen sind, und es gab das Rechtsleben, das auch dann wichtig war, wenn das Urteil nicht exekutiert wurde oder wenn es nicht zu einem Urteil kam. Man muß freilich etwas geringere Anforderungen stellen, sowohl an terminologische Schärfe wie auch an das, was man Vollständigkeit oder Korrektheit nennt. Die ganze Lebenswelt der mittelalterlichen Vergangenheit ist eben

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sehr unvollkommen gewesen. Wenn man nicht weiß, wie ein Gewitter funktioniert und sich damit abfinden muß, kann man sich auch mit vielen anderen unerklärten Dingen abfinden und in den Teilbereichen, in denen man sie überblickt, damit umgehen.

Koselleck: Die Frage nach der res publica war ja ein bißeben "modernistisch", hat einen Hauch von Aktualität enthalten. Fällt es nur in die Zuständigkeit der frühen Neuzeit, wenn respublica mit imperiumverbunden wird? Deswegen meine Frage: Gibt es Theorietexte, lateinische Texte aus dem 14./ 15. Jh., wo etwa so formuliert wird, daß der Status eines civis, eines Staatsbürgers, gleichzeitig als Reichsbürger lesbar ist? Ich wei~ es nicht. Die eine Frage: Gibt es eine Theorierezeptionsgeschichte, die parallel aber anders verläuft als die empirische Geschichte, die Sie so destruktiv anschaulich zum Neuaufbau uns vorgeführt haben? Bodins Reichsbeschreibung ist so eindeutig, daß Sie alle Fragen, die Sie vor der Tür lassen, mit Bodin hätten diskutieren können. Zweite Frage: Gibt es innerhalb der Städte Bünde (auch sonst ein wichtiges Phänomen) mit Bürgerbegrifflichkeiten, die überstädtisch konzipiert sind? Oder sind es nur Bünde von internen Stadtbürgern oder zwischen Einzelstädten, die also nicht den Status eines Bürgers im Hinblick etwa auf den schwäbischen Städtebund oder auf einen Teil des Reiches reflektieren? Moraw: Die deutsche politische Theorie des Mittelalters ist ein schwieriges Kapitel schon weg~n der Sprache. Sie konnte nur lateinisch sein, wenn sie wissenschaftlich sein wollte. Dann gab es vorgeprägte "Wissenschafts"sprachen; die des 14. Jh. war bei uns die Kanonistik (damit ist der Rückstand der deutschen Welt etwa gegenüber den französischen Verhältnissen gekennzeichnet). Die Legistik kam dann im 15. Jh. Die lateinische Welt war aber auch sachlich nur in geringem Maße eine deutsche Welt. Die Dinge im empirischen Bereich der deutschen Verfassung, die man ja bis heute so schwer fassen und formulieren kann, interessierten die lateinische Welt relativ wenig. Wenn man fragt, was Nikolaus von Cues zum Reich zu sagen hatte, dann kann man nicht sagen, daß es nicht eindrucksvoll sei. Aber es ist von einer unglaublichen Empirieferne gekennzeichnet; eine Fülle von dem, was ich vorhin Rahmenbedingungen genannt habe, wurde schlechterdings nicht zur Kenntnis genommen. Das macht mich skeptisch. Das war eine Welt, die mehr eine literarische Welt war als eine, die viel mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Man zitiert gern, daß Nikolaus von Cues einmal in der "Concordantia" vom "imperium germanium" sprach, weil das in manche weitgespannten Zusammenhänge tatsächlich gut hineinpaßt; aber ich habe große Mühe, den konkreten Zusammenhang zu finden. Die deutsche politische Theorie in einem engeren Sinne ist also ein großes Problem. So ist jedenfalls zur civis-Frage nichts bekannt. Wir müssen nur Luther lesen, um

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zu sehen, was für eine Mühe es ihm macht, Dinge zu formulieren, die uns einfach erscheinen. Das sagt schon viel. Die Sache mit den Städtebünden hat die Schwierigkeit, daß wir, mit Ausnahme vielleicht von Bünden, bei denen wir ein Archiv mit Aktenüberlieferung haben, im wesentlichen nur Urkundendokumentation besitzen. Urkunden sagen über die gestellte Frage wenig aus. Vor dem Schwäbischen Bund erinnere ich mich an keinen einschlägigen Fall, und der Schwäbische Bund war kein Städtebund mehr. Ein Zusammenhang von Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Diskussion wie in der frühen Neuzeit ist im deutschen Mittelalter nur schwer aufzufinden. Mohnhaupt: Ihr Vortrag, Herr Moraw, verdeutlichte in sehr prägnanter Weise den Verlauf der Einschmelzung der Freien Städte in die Gruppe der Reichsstädte. Dieser Prozeß war immer begleitet vom Einsatz eines rechtlichen Instruments - nämlich dem des Privilegs. Sowohl für den Zeitraum vor wie auch nach der Einschmelzung spielte das Privileg eine entscheidende Rolle. Man muß unwillkürlich fragen: Ist es möglich, daß dieser Statuswechsel der Freien Städte mit Hilfe dieses rechtlichen Instruments zu unterschiedlichen Formen von Einbindungen führen konnte? Das lenkt auf rechtsdogmatische Grundfiguren des Privilegs und - wie ich meine - auf dessen instrumentelle Ambivalenz. So kann man anhand rechtsdogmatischer Elemente des Privilegs den politisch-historischen Verlauf der Einschmelzung, den Sie so plastisch geschildert haben, im Grunde genommen noch einmal juristisch erklärend nachvollziehen.

Drei Elemente haften unter anderen dem Privileg an: einerseits die Erteilung eines Rechtes in dem Sinne, daß eine Sonderrechtsposition der Stadt als Korporation oder einem einzelnen übertragen werden kann. Das war die Phase vor der Einschmelzung. Das Privileg weist zweitens aber auch Elemente eines Schutzanspruchs gegenüber dem Privilegienerteiler auf und besitzt drittens den Charakter eines Gnadenerweises. Sie haben für diesen sehr interessanten und langen Verlaufsprozeß der Einschmelzung der Freien Städte in die Gruppe der Reichsstädte und den Zeitpunkt der eigentlichen Statusveränderung gerade solche Elemente der Privilegienlehre genannt, die dem historisch-politischen Vorgang seine juristische Begründung und Plausibilität verleihen. Die Privilegienlehre spricht in solchen Fällen auch vom sogenannten "modus subjectionis", d.h. das Privileg indiziert mit der Erhebung in einen Sonderrechtsstatus zugleich auch ein gewisses Untertänigkeits-und Abhängigkeitsverhältnis. Anspruch und Angewiesensein auf den Schutz des Rechtserteilers korrespondieren mit der Wahrnehmung der neu erteilten Rechtsposition. Das war für den Rechtshistoriker in Ihrem Vortrag in besonders interessanter Weise zu verfolgen und zugleich typisch für den Erklärungswert rechtsdogmatischer Figuren und deren Instrumentalität in historischen Wandlungsprozessen.

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In diesem Zusammenhang möchte ich noch eine Zusatzfrage stellen: Welche Rolle spielten besonders bei den Herrscherwechseln die Konfirmationen von Privilegien, die ja immer eine große Bedeutung besaßen und mit dem Huldigungseid, von dem ja hier auch die Rede war, einhergehen? So könnte nämlich abnehmende oder zunehmende Häufung von Konfirmationen das angesprochene Subjektions- und Schutzverhältnis zwischen PrivilegienerteHer und Privilegierten erklären helfen. Das ist eine Frage nach der Quantität der Konfirmationspraxis. Die Privilegientheorie hat besonders im 14./15. Jh. auf der Grundlage des römisch-kanonischen Rechts auch solche Fragen der Privilegienkonfirmation mit behandelt. Die von Kohler I Liesegang herausgegebenen Kölner Fakultätsgutachten nehmen auch zu solchen Fragen Stellung.

Meine zweite Frage betrifft den Begriff "res publica". Sie haben gesagt, das Reich als "res publica" zu betrachten, sei wohl möglich. Ich frage, an welchen Begriffsinhalt von "res publica" Sie da denken. Zu Ende des 16./ Beginn des 17. Jh. wird noch "res publica" bei Bodin von Oswaldt mit "gemeinem Nutzen" I "gemeinem Regiment" übersetzt. Der Begriff besitzt also noch keine ausgeprägte staatsrechtliche Bedeutung, wenn auch die Vorprägung im Sinne der aristotelischen Staatsformenlehre erkennbar wird. Wie ist das in bezugauf das komplexe Gebilde "Reich" zu sehen?

Moraw: Zuerst möchte ich sagen, daß ich mich durch das, was Sie sagen, sehr belehrt fühle. Die Frage nach dem Privileg ist in der Tat eine Grundfrage, so sehr auch für die Historiker, daß sich eine der wenigen jüngeren Kontroversen der Mediävisten in den Hilfswissenschaften darauf bezog: Wie konnte man eigentlich als großer Privilegiengeber (der größte war der Papst) umgehen mit der Welt, die gegenüberstand? Wie konnte das funktionieren? Die beiden Standpunkte der Kontroverse sind unvereinbar. Ich habe mich so entschieden, daß das Privileg noch nicht die Vollendung der Thematik in sich barg, die behandelt wurde, sondern daß diese Vollendung nach derErteilungdes Privilegs stattfand. Es kann sein, daß die Wirklichkeit völlig mit dem Privileg übereinstimmt, aber es kann auch sein, daß die Dinge ganz anders abliefen. -Ich habe punktuell die Häufigkeit der Privilegienerteilung untersuchen lassen. Abzüglich der Überlieferungsproblematik, die bei Privilegien eine geringere Rolle spielt als bei anderen Gattungen von Urkunden, kann man sagen, daß das Urkundenwesen der deutschen Könige im späten Mittelalter chronologisch gesehen sehr ungleichmäßig beschaffen war. Es gab starke Privilegienhäufungen bei der Königswahl und -krönung, dies wiederholte sich bei der Kaiserkrönung. Dann hat die Privilegienerteilung (das kann man schon im Hochmittelalter schön sehen) viel zu tun mit der Gegend, in der sich der König aufhielt, d .h., daß man sich in dem Moment, als er dahin kam, an ihn wendete.

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Zur Unterfrage über die Konfirmationen: Das Kölner Beispiel kann man wieder heranziehen. Die Urkunde von 1475, die ich zitiert habe, war im Grunde eine Bestätigung von 13 Privilegien; am Schluß folgte noch eine neue Rechtsaussage, so daß man sagen kann, es bestand ein vierzehntes Privileg, das jetzt dem Datum von 1475 zuzurechnen ist. Man wird sich das so vorstellen, daß die Stadt Köln daran interessiert war, daß es so und nicht anders geschah, nicht die königliche Kanzlei. Es war offensichtlich in hohem Maße rechtsbestärkend, all diese Texte in einer Urkunde beisammen zu haben, obwohl es sich um einen ziemlich bunten Blumenstrauß handelte. Die innere Logik dieser Konfirmation entspricht nicht dem, was wir uns vielleicht von der Moderne her wünschen. Die zweite Frage war die nach der "res publica": Der Gemeinnutzen kommt in der Tat in den Urkundenarengen von spätmittelalterlichen Königen immer wieder vor und zog im 15. Jh. immer weitere Kreise, bis in die Städte hinein. Es gibt darüber Aufsätze von Isenmann und Eberhard, die ich nicht wiederholen möchte. Ich persönlich möchte kein "Regierungsprogramm" daraus entwickeln- es klang aber gut, und es war in der Tat der Reflex einer Art von Säkularisierungsprozeß, insofern als Vorstellungen vorliegen, die nicht mehr die klassischen hochmittelalterlichen Arengen, die wir zu Hunderten und öfter kennen, einfach wiederholen. Die "Res publica" und was dazugehört, meint also, wenn sie erscheint, nicht einen überraschenden Kopfsprung in die Moderne, sondern es war in der Tat immer schon von Gemeinnutzen die Rede.

Dilcher: Ich will eine Nachfrage zu Ihrem anregenden Vortrag versuchen. Sie liegt in ähnlicher Richtung wie die von Herrn Koselleck. Ich möchte Sie nicht etwa auf die im Generalthema vielleicht enthaltene These festlegen, aber Sie doch herausfordern, die Konturen hier noch schärfer zu zeichnen. Es war sehr deutlich, daß die Unschärfe Ihrer Sprache intendiert war als eine Annäherung an die Vergangenheit; das halte ich für legitim; dennoch ist es für den Rechtshistoriker nicht ganz befriedigend, und ein Nachfragen nach schärferen analytischen Kennzeichnungen ist, glaube ich, erlaubt. Ich möchte das an drei Begriffen, die Sie gebraucht haben, festmachen. 1. Verdichtung: Ist das in Ihren Augen, bezogen jetzt auf das Vortragsthema, vor allen Dingen eine Intensivierung, ein Häufigerwerden von bestimmten sozialen Beziehungen, ist es Institutionalisierung, also Zusammenbau von Strukturen; wieweit kann man das Modewort Verrechtlichung mit dieser Verdichtung in Beziehung bringen?

2. Sie haben das Wort Absinkengebraucht in bezugauf die Reichsstädte. Ist das so gemeint, daß hier eine Rechtsstellung nicht mehr beachtet worden ist, oder in dem Sinne, daß dieses Absinken stattfand bis auf ein gewisses Potential, sei es wirtschaftlicher Art, sei es eine Zahl von Bürgern?

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3. Ich möchte Sie ansprechen auf den Begriff Verfassung, den Sie ja selber gebraucht haben, und auf den Begriff res publica - Sie haben ja recht, daß Sie ihn nicht alleine als einen damaligen Zeitbegriff auffassen wollen. Meinen Sie hier mehr konkrete soziale Beziehungen, die bewußt strukturiert werden, oder meinen Sie einen Untergrund normativer Vorstellungen, also Rechtsvorstellungen, in die sich die verändernden Zustände dann wieder einfügen? Als Vereinigung für Verfassungsgeschichte müssen wir ja doch irgendwie versuchen, einen wenn auch weiten und historisch sich verändernden Verfassungsbegriff in das Zentrum unserer Arbeiten zu stellen. Moraw: Auf schwierige Fragen kann ich nur bescheidene Teilantworten geben. Der Historiker neigt zu einer bildhaften Sprache. Wenn man fragt, was vor dem Wort "Verdichtung" vorhanden gewesen sein mag für diesen Bereich und für diese Zeit, müßte man das Wort "Verfall" nennen. Das Wort "Verfall" meinte Zerlegung von Institutionen, Zerstörung von Sozialbeziehungen usw. Ich möchte damit andeuten, daß es sich in beiden Fällen um einen Sammelbegriff handelt, bei dem man bestenfalls von gewissen Unterbegriffen her das Messer des Verstandes anlegen sollte. Denn es ist ein Versuch, ein Zeitalter insgesamt mit einem Einzelwort zu charakterisieren, wie es für den Titel eines Buches notwendig ist. Es ist auch ein Begriff, der über den Bereich der Verfassung hinausgeht, der eine Anzahl von Dingen mitberücksichtigt, die etwa auch technischer Natur sind, wie die Vermehrung von Kommunikation (beginnend mit dem Postwesen), und in der Tat auch das umfaßt, was wir juristisch fassen mit dem Begriff der Institutionalisierung oder der Verrechtlichung und weiteren Begriffen. Es ist schlechterdings unmöglich, wie fch glaube, daß eine Titulatur, die einem ganzen Zeitalter zugedacht ist, einer unserer Spezialwissenschaften voll gerecht wird.

Leichter ist es, die zweite Frage zu beantworten: Aufsteigen oder Absinken ist in der Tat "miterlebbar". Es ist erkennbar an dem, was wir Sitzordnung nennen. Das Verhältnis der Städte zueinander wurde am Städtetag optisch durch die Sitzordnung zum Ausdruck gebracht. Es gab leidenschaftliche Kämpfe um die Frage, wer an erster Stelle und wer an zweiter Stelle saß, usw. Wir können erkennen, wie die Reihenfolge der Freien Städte untereinander beschaffen war, und vor allem sehen wir, daß durch die Einordnung der Freien Städte in die Sitzordnung der Reichsstädte das Absinken geradezu meßbar wird. Die dritte Frage ist die Frage nach der Verfassung: Da möchte ich mich am liebsten- mit Überzeugung- auf Otto Brunner zurückziehen und sagen, daß ich damit die Bauform und das Gefüge des Gemeinwesens meine, daß ich auch- um Herrn Graus in seinem jüngsten HZ-Aufsatz anzusprechenden Bereich der Rechtsgeschichte mitenthalten sehe, ohne daß man diesem Bereich deswegen das eigene Recht nehmen müsse. Der Begriff der "Verfas4 Der Staat, Beiheft 8

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sung" sollte weit gespannt werden, nicht so weit, daß er seine Konturen verliert, aber doch so weit, daß man wie in unserem Fall die Frage der "Verdichtung" mit allen ihren Aspekten und Ungewißheiten in diesem Rahmen erörtern darf. Wolf: Ich möchte zwei Fragen zum Verhältnis Freie Städte/Reichsstädte stellen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, stellen Sie als einen der wichtigsten Unterschiede heraus, daß die Freien Städte nur einen Huldigungseid an den König zu leisten, während die Reichsstädte auch Gehorsam zu schwören hatten. Und Sie brachten das Beispiel aus Frankfurt, als beim Huldigungseid 1442 an Friedrich III. die Frankfurter diesen Gehorsam loszuwerden versuchten. So wie ich die Geschichte aus Frankfurt kenne, war es eher umgekehrt: Der Gehorsam stand vorher gerade nicht im Eid; es gab zunächst nur einen allgemeinen Huldigungseid, und 1442 hat offenbar der Mann, der als Vertreter des Königs die Eidesformel vor der versammelten Bürgerschaft vorlas, den Gehorsam hineinmanipuliert Die Bürgerschaft fühlte sich überrumpelt, sie stand da mit erhobenen Händen, konnte in dem Moment nichts machen, hat aber nachher sofort protestiert und gesagt, das wäre wider die Gewohnheit; sie würden es für diesmal zwar durchgehen lassen, legten aber eine Verwahrung für die Zukunft ein. Daher frage ich, ob nicht unter diesen Umständen Frankfurt doch nicht so sehr im Gegensatz zu den Städten Köln in den 70er Jahren, Regensburg 1492, Worms 1494, Straßburg 1497 stand, daß das vielleicht doch in einer Linie liegt. Das würde für das Verhältnis Freie Städte/Reichsstädte wesentlich sein.

Meine zweit,e Frage geht auf zwei Städte, die nun rechts des Rheines lagen, nämlich Harnburg und Bremen, die nicht zum antiken römischen Reich gehört hatten und Bischofsstädte waren (auch Hamburg: der Bischof residierte zwar in Bremen, aber das zweite Domkapitel saß in Hamburg). Bremen kann man vielleicht als Reichsstadt bezeichnen, aber Harnburg 1768 nicht. Harnburg hat sich beim Reichskammergericht jahrhundertelang dagegen gewehrt, Reichsstadt zu werden und Reichssteuern zu zahlen. Dort hat man gesagt: Wir sind holsteinische Landschaft. Dem Dänenkönig als Grafen oder Herzog von Holstein gegenüber haben sie andererseits gesagt: Wir sind eine Freie Stadt und deshalb brauchen wir Dir auch nichts zu zahlen. Im Endeffekt zahlte Harnburg keinem von beiden. Sind das also nun nach Ihrer Terminologie Freie oder sind das Reichsstädte?

Moraw: Es gibt in der Frage der Huldigung bei den Freien Städten Unterschiede. Es gab Städte, die überhaupt nicht schwören wollten, und es gab solche Städte, die verklausuliert schworen. Ich habe deshalb die Meinung geäußert, daß die Unterschiede im Huldigungsverhalten für meine Frage nicht sehr wesentlich sind. Dies ist nicht nur eine punktuelle Meinung, sondern liegt in der ganzen Linie meines Argumentationsversuchs. - In dem

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Fall Frankfurt darf ich annehmen, daß Sie als Frankfurter recht haben. Dann wäre es ein früher Beleg dafür, daß Friedrichs III. Politik, die in den 60er Jahren für mich sichtbar geworden ist, älter ist und damit konsequenter erscheint. Ich danke Ihnen sehr für diesen Hinweis.- Die Fälle von Harnburg und Bremen sind besondere Fälle. Grundsätzlich wichtig ist dies~ . Harnburg und Bremen haben mit dem, was wir hier Freie Städte des Mittel-" alters genannt haben, nur sekundär etwas zu tun; so rechnet man sie nicht dazu, obwohl ich noch einmal sagen möchte, daß alle Gruppierungen, auch die der Reichsstädte, relativ dehnbar waren (so daß es auch neue Reichsstädte des 15. Jh. im Bereich der heutigen Schweiz gegeben hat, die durch König Sigismund überraschend zu dieser Ehre kamen, ohne daß die üblichen Voraussetzungen bestanden hätten). Die Geschichten von Harnburg und Bremen sind Emanzipationsvorgänge. Bei Harnburg möchte ich den Grafen von Holstein stärker betonen, so war es in der Tat ein Emanzipationsvorgang auch gegenüber einer weltlichen Gewalt. Harnburg bestand aus zwei Städten, so daß einerseits der Graf, andererseits die kirchliche Gewalt zuständig gewesen ist. Es ist ein Fall, den ich mit der Eidgenossenschaft parallelisieren möchte: Es wurde festgehalten an alten Zuständen; die neuen Zustände, eben die, die man mit "Verdichtung" bezeichnen könnte, wurden nicht akzeptiert. Das war der Kern der Angelegenheit. Nun kam es auf die Einzelumstände an, die entschieden, wie lang man das hat durchhalten können und was für Folgen das hatte. Bei den Eidgenossen konnte man es wegen der Randlage auf die Dauer durchhalten, die Folgen sind bekannt. In Harnburg konnte man es nicht mehr durchhalten, als die Grafschaft Holstein an Dänemark gefallen war und der dänische König ernstlich daran dachte, aus seinen Rechten etwas Konkretes zu machen. Wie es beschrieben worden ist mit der Pendelpolitik der Städte, so ist es gewesen: Man hat jeweils dem anderen gegenüber sich so geäußert, daß man auf das Gegenüber verwies, und umgekehrt. Es ist so lange gut gegangen, wie es machtpolitisch möglich war. Das hat in beiden Fällen das zeitliche Auseinanderfallen des kaiserlichen Privilegs, das im zweiten Jahrzehnt des 17. Jh. erteilt worden ist, und der Realitäten mit sich gebracht. Wolf: Harnburg sogar erst im 18. Jh. Moraw: Die Privilegien fielen in der Tat in das zweite Jahrzehnt des 17. Jh., die Anerkennung freilich dieser Situation durch den König von Dänemark ist erst kurz vor der Französischen Revolution erfolgt. Prinzipiell ähnlich ist es in Bremen gewesen. Es gab also eine Differenz von maximal 150 Jahren, bis das kaiserliche Privileg rezipiert worden ist auch von denjenigen, die dadurch geschädigt worden waren. Es war auch hier eine Machtfrage im großen und im kleinen. Es war eine Konsequenz der geographischen Lage von Harnburg und Bremen, daß es hier nicht zur vollen Eigen4'

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staatlichkeit gekommen ist, sondern daß man im Rahmen der deutschen Geschichte blieb. Theoretisch wäre eine Entwicklung in Parallele zur Eidgenossenschaft möglich gewesen. Oexle: Ich möchte eine Frage stellen, die an den Beitrag von Herrn KoselIeck anknüpft, und zwar mit dem Stichwort ,Bünde'. Man könnte auch von ,Einungen' sprechen. Herr Mohnhaupt wies mich darauf hin, daß seine Arbeit über den Begriff der ,Verfassung' gezeigt hat, daß im Bereich von ,Bünden' im Spätmittelalter der Begriff der ,Verfassung' überhaupt zum ersten Mal auftaucht, und zwar sowohl im Sinne eines Geschriebenen als auch im Sinne eines Regelwerks, das einer solchen ,Einung' zugrundeliegt. Und wenn man von solchen Stichworten ausgeht, sieht man sogleich eine Fülle von historischen und sozialgeschichtlichen Phänomenen: von den allseits bekannten Städtebünden oder regionalen Bünden, bis zu den innerstädtischen Einungen, seien es nun Patriziergesellschaften oder Bettler,Zünfte', welche ein derartiges Regelwerk und solche Formen der Verfahrensfindung in irgendeiner Form kennen. Ferner muß man in die Betrachtung einbeziehen, worauf Peter Blickle in vielen Publikationen seit vielen Jahren aufmerksam gemacht hat, daß auch die bäuerliche Welt des Spätmittelalters durchsetzt ist von solchen Einungen. Und wer die hochmittelalterliche Verfassung kennt, weiß, daß man die Geschichte solcher bäuerlicher oder ländlicher Einungen oder Bünde bis ins 11. Jh. zurückverfolgen kann. Sogenannte Bauernunruhen sind keine bloße Rebellion, sind nicht bloß Aufruhr; sie vollziehen sich vielmehr in sehr komplexen Formen, in denen die Meinungsbildung und die Entschlußfassung rechtsförmlich mit Repräsentation und Delegation ins Werk gesetzt wurden. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, daß von allen diesen Phänomenen formeller Verfassung, mit denen die bäuerliche wie die städtische Welt im Hoch- wie im Spätmittelalter reichlich durchsetzt ist, in diesem Fragenkomplex eigentlich gar nichts relevant gewesen sein soll.

Moraw: Es ist durchaus nicht so, daß da nichts vorhanden wäre, nur weil ich nicht davon gesprochen habe. Ich denke an einen Problembereich, den ich nicht habe klären können. In der Situation von 1401, auf die ich angespielt habe, ist ein- oder zweimal im Text (der deutschsprachig ist) von "unseren Eidgenossen" die Rede. Aller Wahrscheinlichkeit nach bezog man sich auf die benachbarten Freien Städte, mit denen man sich aus verschiedenen Gründen abgestimmt hatte. Ich habe mir die Frage vorgelegt, ob dies auf einen präzisen Bündniszusammenhang zurückverweist, von dem wir sonst nichts wissen. Ich habe keine Antwort gefunden. In dieser Richtung mag es noch mehr Möglichkeiten geben. Im Hinblick auf die Gesamtsituation, auf das Gegenüber von "Ständegesellschaften" und (sagen wir ruhig) "Kommunalismus", wenn wir uns vom Speziellen ins Allgemeine wenden,

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möchte ich mich auf die Seite von Herrn Willoweit stellen und möchte nicht so weit gehen, wie Herr Blickle in mancher Hinsicht geht. Scheel: Hinsichtlich der Königsnähe und -ferne möchte ich auf eine Stadt aufmerksam machen, die ähnlich wie Harnburg und Bremen weder Reichsstadt oder Freie Stadt noch Erb- oder Landstadt gewesen ist. Ich meine die Stadt Braunschweig, die bereits im 15. Jh. als Reichsstadt angesehen wurde, obgleich sie sich niemals bemüht hat, eine Reichsstandschaft zu erlangen. Nach Abwägung der Vor- und Nachteile einer Reichsstandschaft gelangte man in Braunschweig zu der Überzeugung, daß die Bewahrung der gewachsenen Verfassungszustände für die Stadt günstiger wäre als eine mit erheblichen finanziellen Verpflichtungen verbundene Reichsstandschaft. Die Stadt hatte nämlich erreicht, daß dem jeweiligen Landesherrn erst dann gehuldigt werden sollte, wenn dieser vorher ihre Privilegien bestätigt hatte. Die Stadt Braunschweig hat sich erfolgreich dagegen gewehrt, in den Status einer Landstadt herabgedrückt zu werden, denn in diesem Moment wäre sie vor der Privilegienbestätigung zur Huldigung verpflichtet gewesen. Diese von der Stadt Braunschweig verfolgte Politik ist außerordentlich erfolgreich gewesen, denn sie hat als letzte Stadt in Norddeutschland ihre Freiheit verloren. Erst durch die Eroberung im Jahre 1671 ist sie eine in den Territorialstaat eingegliederte Landstadt geworden.

Meine Frage: Kennen Sie andere Städte, die gleichfalls die Möglichkeit gehabt hätten, Reichsstadt zu werden, aber keinen Versuch gemacht haben, dies zu erreichen?

Moraw: Das ist ein Thema, das ich schon lange in einer Monographie bearbeiten lassen oder bearbeiten möchte; es ist mir nur noch nicht gelungen. Aus der Typologie, die ich geboten habe, geht hervor, daß ich grundsätzlich zustimme. Das Problem ist aber kompliziert. Es beginnt mit der Qualität der Reichsmatrikel, das ist noch eine ungelöste Frage. Ich stelle mir vor, daß man in gewisser Weise, wenn man etwa die Anordnung des Textes mit der realen Geographie vergleicht, bestimmte Intentionen ablesen und dann vielleicht auch bestimmte Fehler abklären könnte. Göttingen als "Fehler" könnte man genauso zitieren wie Braunschweig und andere mehr. Es ist die Frage: Was hat man an einem zentralen Punkt gewußt über die Verhältnisse weit außerhalb dieses zentralen Punktes? In der Tat hat man im 15. Jh. mehr gewußt als im 14. Das kann man nahezu nachmessen, wenn man z.B. Hansetexte von Band zu Band durchgeht. Die andere Seite ist der Tatbestand, daß es in vielen Landesherrschaften schwierig war, Adel und Städte zu domestizieren. Auch in Hessen, wo wir uns befinden, hat es darum leidenschaftliche Kämpfe gegeben. Weil hier die Städte relativ klein und schwach waren, ist es gelungen, sie mehr oder weniger rasch zu domestizieren. Die Städte, die Sie meinen, waren groß. Braunschweig war eine der gro-

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ßen Städte Deuschlands. Auch das Problem der großen Städte ist von der regionalen Situation her zu deuten: Da kann man, an der Ostsee beginnend, Rostock nennen, man kann an die Mosel gehen, nach Trier, an der Lahn kann man Limburg nennen, usw. Im Prinzip war es genauso mit Danzig gegenüber dem Deutschen Orden. Spätestens im 17. Jh. ist damit Schluß gemacht worden, außer in Sonderfällen. Quantitativ gesehen gab es wahrscheinlich bis dahin viele Fälle, bei denen man graduell abgestuft dieses Phänomen vorfinden kann. Die Frage ist noch, wer ist das Vorbild gewesen? Dies ist nicht so leicht zu beantworten, wenn man sich kritisch vorstellt, was man von außen her gesehen von der Situation und Verfassung einer vorbildhaften Stadt hat wissen können. Rational gesehen kann man sich normalerweise nicht denken, daß eine Reichsstadt Vorbild war; denn die Freien Städte haben bessere Positionen innegehabt. Trotzdem wird es sich de facto natürlich um eine möglichst nahegelegene Stadt gehandelt haben. Wenn keine Freie Stadt zur Verfügung stand, wird wohl doch die Position der Reichsstadt, zumal wenn der König weit weg war, als erstrebenswert angesehen worden sein. Man muß weiterhin feststellen, daß die Matrikeln viele Fehler enthalten; man kann die Fehler vielleicht gruppieren oder fragen, was für Motive vorliegen. Daß darum auch Kämpfe geführt worden sind, hängt natürlich damit zusammen, daß es der nervus rerum, das Geld, gewesen ist, um das es in der Matrikel ging.

Quaritsch: Ich hätte gerne gewußt, was der Huldigungseid bedeutete, wenn mit ihm Gehorsam nicht beschworen wurde. Die zweite Frage schließt sich eigentlich an: Stand hinter dem Eid nicht mehr als bloße Gewohnheit, nämlich auch irgendwie eine Selbsteinordnung, das Gefühl, dem Reichsverband anzugehören? Wenn ja, hat sich das in den Quellen ausgedrückt? Sie hatten die Möglichkeit einer "Ideengeschichte" des Reiches für die Zeit, die Sie untersucht haben, abgelehnt; sie existiere erst sehr viel später. Gleichwohl: Die Städte mußten wissen, wohin sie gehörten, wenn sie dem König durch einen Huldigungseid verbunden waren, sie lebten nicht auf dem Mond. Schließlich: Hatten die Städte nur ihr individuelles Interesse als Stadt im Auge oder fühlten sie sich gleichzeitig dem größeren Verband eingeordnet und verpflichtet? Moraw: Ich kann nur einen Teil der Frage beantworten, weil es bei den halbautonomen Städten, wie man sie nennen mag, m. W. keine vergleichende Untersuchung über Huldigungseide gibt. Trotzdem scheinen die Grundzüge klar zu sein: Die Reichsstädte waren in der Tat, ob nun das Wort Gehorsam jedesmal buchstäblich erschien oder nicht, zum Gehorchen verpflichtet. Was heißt das? Da beziehe ich mich auf die Formel, die häufig in den Quellen steht und die Otto Brunner, der vielzitierte, ans Tageslicht

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gehoben hat: Wenn man (Rat und) Hilfe schuldig ist, so steht Schutz und Schirm dagegen. Das ist ein Verhältnis, das doch sehr real gewesen ist. Die Reichsstadt zahlte normalerweise eine Jahressteuer. Wenn der König in die Stadt kam, wurden ihm die Schlüssel ausgehändigt, er war in der Tat der Herr. Wenn man das Wort Gehorsam vermeiden will, kann ich anders formulieren und sagen: Er war der Herr. Darüber hat nie Zweifel bestanden, ob es nun im konkreten Fall realisierbar war oder nicht: Wenn sich die Ulmer nicht haben erobern lassen, dann war man sich bewußt, daß sie als Ungehorsame ein Unrecht taten. Ich möchte die rechtliche Seite der Reichsverfassung nicht auflösen, nur ergänzen, nur sagen, daß die Spanne zwischen Theorie und Praxis sehr groß gewesen ist, ohne daß darüber die Theorie mit der Praxis prinzipiell in Konflikt gekommen wäre. Wenn eine Reichsstadt nicht verpfändet war, trat der Fall kaum ein, daß sich der Reichsstadtstatus verdünnt oder verflüchtigt hätte. Auch die Schweizer Reichsstädte verwiesen in der Neuzeit weiterhin auf ihre Privilegien, die sie einst vom König erhalten hatten. Wenn sie um 1500 sagten, wir zahlen den "Gemeinen Pfennig" nicht, so haben sie das nicht in der Weise getan, daß sie prinzipiell den Gehorsam verweigerten, sondern sie sagten: Wir sind durch königliches Privileg davon befreit, das sie eben extrem weit gedehnt haben. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, daß es immer ein Rechtsverhältnis gegeben hat, daß dieses Rechtsverhältnis zwar sehr dehnbar war, daß es aber zwischen König und Reichsstädten auch sehr häufig realisiert wurde.

Stehkämper: Vielleicht illustriert das, Herr Quaritsch, der konkrete Fall. Die Kölner schworen dem Erzbischof treu und hold, also treu und gewogen zu sein, während die Bonner ihrem erzbischöflichen Landesherren Rat und Hilfe, consilium et auxilium, schworen. Treu und gewogen zu sein, schworen die Kölner auch dem König. Konkret sah das gegenüber Wilhelm von Holland in Köln folgendermaßen aus: Da hat der König die Stadt 1247 so privilegiert: Er, der König, will in die Stadt keinen Reichstag einberufen, er will in die Stadt kein Reichsheer hineinbringen, er will, wenn er selber kommt, sich mit einem Gefolge von 12 oder 15 Rittern begnügen. Das ist Selbstbeschränkung des Königs in seiner Macht. Er ist trotzdem Herr der Stadt, aber er kommt mit einer eingeschränkten Macht. Die Huld der Stadt für den König erträgt und erlaubt nur eine zurückgenommene Königsmacht Richard von Cornwall beschwört das 1257 wieder. Die Freiheit der Stadt besteht u. a. in der Selbstbeschränkung des Reichsoberhaupts. Rudolf von Habsburg hat dies so nicht mehr bestätigt und Adolf von Nassau auch nicht. Dafür erklärten sie, die Kölner dürften nicht angegriffen werden, solange sie sich vor dem Königsgericht zur Verantwortung bereit zeigten. Damit hoben sie die Selbstbeschränkung der Interregnums-Könige zwar auf, sicherten aber gleichwohl der Stadt Köln die aufgrundihrer Huld für den König ihr beim König zukommende Nähe. Die Stadt bemühte dabei das ihr 1242 von Friedrich II. gewährte ius de non evocando.

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Wolf: Ich möchte noch etwas zu diesem Punkt sagen, weil die Frage von Herrn Quaritsch sehr zentral zu sein scheint. Offenbar muß zwischen einem allgemeinen Treu- oder Huldigungseid und dem Eid des Gehorsams ein erheblicher Unterschied gewesen sein, sonst hätten sich die Frankfurter nicht dermaßen gegen dieses Hineinmanipulieren des Wortes Gehorsam in den Eid gewehrt. Ich will eine Möglichkeit andeuten, worauf der Unterschied vielleicht zurückzuführen ist. Herr Moraw sagte, wenn der König da ist, ist er auf jeden Fall der Herr in der Reichsstadt, das ist anerkannt. Aber meistens ist der König ja nicht da. Vielleicht hängt es davon ab, ob er dann dort einen Vertreter haben kann. Frankfurt ist Reichsstadt geworden, indem es das Amt des Reichsschultheißen 1372 pfandweise erwarb. Karl IV. brauchte Geld, dann haben die Frankfurter bezahlt und bekamen dafür dieses Amt. Seitdem konnten sie den obersten Richter in der Stadt einsetzen. Die Stadt selbst hatte ihren obersten Richter. Sie hat aber bis zum Ende des Alten Reiches Angst gehabt, daß der Kaiser die Pfändung einlöst und wieder den obersten Richter stellt. Dann wäre sie ihre Freiheit los gewesen. Um diese Furcht zu illustrieren, will ich aus "Dichtung und Wahrheit" zitieren: "Als der Vorgänger des Reichsschultheißen Textor (Goethes Großvater) starb, wurden mitten in der Nacht die wahlberechtigten Schöffen zusammengetrommelt, um ganz schnell - der Reichsschultheiß hatte kaum die Augen geschlossen- sofort einen neuen Nachfolger zu wählen, nämlich den Großvater Goethes, damit ja nicht inzwischen aus Wien ein kaiserlicher Kommissar kommt, der dann Schultheiß gewesen wäre." Offenbar hätte es die Qualität Frankfurts als Reichsstadt berührt, wenn der Reichsschultheiß vom Kaiser eingesetzt worden wäre und nicht mehr von der Stadt - man sagt, Frankfurt wurde Reichsstadt, indem es 1372 das Schultheißenamt kaufte. Moraw: Es ist kaum möglich, ein genaues Datum zu finden, das im Hinblick auf die Reichsstadtqualität alles abdeckt. Man kann für Frankfurt sagen, daß schon vor 1372 die Situation dadurch unterlaufen worden ist, daß der Schultheiß, der noch ein kaiserlicher Schultheiß war, doch ein Frankfurter gewesen ist, so daß die "Sozialgeschichte" die "Rechtsgeschichte" "ausgetrickst" hat. Der Reichstadtbegriff ist überhaupt ungemein gefährlich. Ich habe darüber geschrieben und will das nicht wiederholen, nur einen Punkt: Der Reichstagsbegriff kommt in den Quellen viel seltener vor, als man denkt. Man kann erkennen, wann er zum ersten Mal pointiett•·vorkommt: bei den schwäbischen Reichsstädten in den 1370er Jahren. Das war ein Gegenbegriff gegen den Wunsch Karls IV., Geld zu erpressen, um Brandenburg endgültig zu erwerben und um die Wahl Wenzels zu bezahlen. Normalerweise verwandte man das Wort "Reichsstadt" nur selten, es war nicht sehr nötig. "Unsere Stadt zu X " oder "zu Y" genügte aufseitendes Königs. Wenn die Reichsstadt an den König schrieb, verwandte man den Begriff

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auch seltener, als man denkt, da wurde etwa von "Eurer Stadt" geschrieben. Gleichwohl ist es heute notwendig, den Reichsstadtbegriff zu verwenden. Aber vorsichtig sollte man sein. Der Begriff "Reichsstadterhebung" ist z. B. gefährlich, dies hat es wahrscheinlich kaum gegeben, es sei denn im 15. Jh. bei "Pseudo"-Reichsstädten wie Solothurn oder dgl., die aus politischen Gründen von Sigismund dazu gemacht worden sind. "Echte" Reichsstädte, wenn ich so sagen darf, sind "gewachsen" und nicht erhoben worden.

Becker: Um zu charakterisieren, was das Erstrebenswerte am Status einer Reichsstadt war, ist insbesondere auf den Begriff der "iurisdictio" abzustellen. Dies ist in der Entwicklung der Reichsstadt Frankfurt zu verfolgen, wird aber vielleicht noch deutlicher am Beispiel Kölns. Die Kölner sammeln bei Königen und Kaisern zwar unglaublich viele Stadtprivilegien, davon war schon die Rede, doch können sie das Ziel nicht ganz erreichen: Die oberste Gerichtsbarkeit bleibt nach wie vor in den Händen des früheren bischöflichen Stadtherrn. Köln nennt sich Reichsstadt und ist als solche auch weitgehend anerkannt, aber nach wie vor hat der als Stadtherr vertriebene Bischof die Spitze der "iurisdictio" in seinen Händen. Weil der Reichsstadt Köln die volle "iurisdictio" fehlt, kommt es bekanntlich zu dem Prozeß "Köln contra Köln" (Stadt Köln gegen Kur-Köln) vor dem Reichskammergericht, der allerdings Jahrhunderte hindurch in der Schwebe bleibt, ohne daß er bis zum Untergang des alten Reiches entschieden worden wäre. Zum zweiten möchte ich noch auf eine Quellengattung hinweisen, die man leicht übersieht, weil sie dem Historiker nicht konkret genug ist. Herr KoseHeck hat ja nach theoretischen Vorstellungen von "Verfassung" gefragt. Mir scheint, daß es im Hoch- und Spätmittelalter Ansätze dazu in der sog. Reformliteratur gibt. Ich habe versucht, das im Artikel "Reichspublizistik" im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte zusammenzustellen: angefangen etwa bei Petrus Crassus, über die "libelli de lite", über die gesamten "Staatsschriften" des Mittelalters bis hin zu den Vertragstexten der Städtebünde mit ihren programmatischen Aussagen. Es gibt eine ganze Menge an Reflexion, die insbesondere virulent wird, wenn es gilt, im Konflikt mit dem Papsttum oder im Konflikt etwa mit Frankreich die Eigenkompetenz des Reiches abzugrenzen. Auch innerhalb des Reiches, etwa im Spannungsverhältnis zwischen Kurfür sten und Kaiser, im Kurverein, gibt es durchaus die Überlegung, was nun eigentlich das Zentrum des Reiches ist und wie die Gewichte zu verteÜeii siD.d. Es gibt also eine gewisse Quellengattung, aus der man Ansätze zu einer Reflexion über das Reich entnehmen kann. Nikolaus von Cues z.B. verweist in der schon erwähnten "Concordantia" auf ausländische Vorbilder. Für einen Gerichtshof, ein zentrales Reichsgericht, verweist er auf das Parlament von Paris und für eine Hauptstadt verweist er auf London. Das sind die Modelle, die ihm vorschweben, er kann freilich in Deutschland ähnliches noch nicht finden.

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Schindling: Ich habe zwei Fragen, Herr Moraw, erstens möchte ich an die Debatte um die norddeutschen Städte anknüpfen, worauf vor allem Herr Scheel hingewiesen hat. Kann man die norddeutschen Städte vielleicht typologisch als "autonome Städte" bezeichnen, um sie zusammenzufassen, von Harnburg und Lübeck über Braunschweig bis hin zu den westfälischen Bischofsstädten Münster, Osnabrück und Paderborn? Für alle diese norddeutschen Städte ist ja die Stellung als autonome Stadt im Territorium charakteristisch. Meine zweite Frage knüpft an die geistesgeschichtliche Perspektive von Herrn KoseHeck an. Wenn wir nach der theoretischen Reflexion des Bürgers, nach seinem Selbstverständnis fragen, nach solchen Begriffen wie "cives" und "res publica" und nach ihrer Deutung in den Städten des späten Mittelalters, müssen wir nicht dabei noch stärker den kirchlich-religionsgeschichtlichen Bereich miteinbeziehen, was bei Ihnen, Herr Moraw, ja auch einmal anklang? Es ist nun gerade 25 Jahre her, daß die einflußreiche Studie "Reichsstadt und Reformation" von Bernd Moeller erschienen ist. Von Bernd Moeller wird die spätmittelalterliche deutsche Stadt als ein "Corpus Christianum im Kleinen" gerade auch in einer kirchlich-religiösen Sicht interpretiert. Für ihn ist eine der bedeutendsten Freien Städte des Reiches, nämlich Straßburg, das HauptbeispieL Straßburg spielt in der Argumentation von Moeller eine sehr große Rolle. Aus der Geschichte der Vorreformation und der Reformation in den Städten kann man vielleicht einige Anhaltspunkte für das Selbstverständnis von Stadt und Bürgertum finden, über die Quellen des profanen städtischen Lebens hinaus.

Moraw: Zur ersten Frage: Man muß in der Tat eine Überschrift finden für alldiese Städte, von denen wir schon gesprochen haben. Warum sollte man sie nicht (halb-)autonome Städte nennen? Es ist schwer, einen Quellenbegriff zu finden; ich kann mir nicht vorstellen, daß man da etwas Überzeugendes über das ganze Reich hinweg aufbieten kann. Auch die Freien Städte hatten alle "undichte Stellen" in ihrem Rechtsgebäude; der Bischof, der ihnen gegenüber stand, war sicherlich nicht ahnungs- und hilflos. Die konkrete Situation hat darüber entschieden, ob an diesen Stellen ein Einbruch geschehen ist oder nicht. Daß die Freien Städte immer in Unsicherheit geschwebt haben, kann man als Faktum ansehen. Deswegen ist der Abstand zu den (halb)autonomen Städten nicht so groß, weil dort die Dinge ähnlich gewesen sind. Die Frage, ob man das städtische Selbstverständnis in gewisser Weise von kirchlich-religiösen Strukturen her beleuchten kann, wird in Einzelfällen zu bejahen sein. Daß es Stadtheilige gibt, wie St. Reinhold in Dortmund oder St. Sebald in Nürnberg, der monographisch untersucht worden ist, kann man natürlich bis tief ins Mittelalter zurückverfolgen. Gerade dann, wenn die spätmittelalterliche Deutung dieses Heiligen nicht mit dem übereinstimmt, was die uns zugänglichen ältesten Quellen aussagen, wird es

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interessant. Das ist für St. Sebald und Nürnberg ziemlich klar. Wenn man weiter zurückgeht, könnte man an Trier denken, wo sogar die Stadttore gewissen Heiligen zugewiesen wurden. Dann wird es offenkundig, daß Kirche und Selbstverständnis der Stadt miteinander zu tun hatten. Nur ist dies nicht ohne weiteres in der Breite systematisierbar.

Borck: Mir will nicht recht die Vermengung der Begriffe Freie Stadt, Freistadt und autonome Stadt gefallen. Ich meine, man müßte doch versuchen, zu klären, ob sich nicht bessere, nachprüfbare und durch Dokumente gesicherte Unterscheidungskriterien ermitteln lassen. Es kommen doch in allen diesen Fällen sehr unterschiedliche Aspekte zum Tragen. Teils handelt es sich um Städte, die die Reichsstandschaft besaßen, die also später in der Städtekurie des Reichstages saßen; teils handelt es sich aber auch- etwa im Falle Braunschweig - um Landstädte, die sich nur relativ weitgehende Regierungsrechte angeeignet hatten. Ich möchte jetzt auch, wie es für den Referenten des Hildesheimthemas auf dieser Versammlung naheliegt, diese ostfälische Bischofsstadt ins Spiel bringen, die zwar keine Reichsstandschaft hatte, aber auch nicht auf dem Landtag vertreten war: Sie hatte sich mithin das besondere Privileg erkämpft, auch zu den Landtagen nicht gezogen zu werden und Landessteuern nicht zu zahlen. Hier zeigt sich, daß auch andere Kategorien bei der Einordnung der Städte noch zu berücksichtigen sind: Hier bedarf es einer begrifflichen Klärung. Moraw: Die Frage, was eine Reichsstadt sei, ist nur indirekt angeklungen, da es nicht das Thema war. Die Frage, was Freistädte sein wollten, kann man von der Selbstdeutung her zu beantworten versuchen, und man kann moderne Kategorien bilden. Beides ist richtig, und beides muß sich nicht decken, darauf habe ich hingewiesen. Herr Stehkämper zum Beispiel hatte vollkommen recht: Es ging in Köln um ein punktuelles Freiheitsprivileg; auf eine von mehreren punktuellen "Freiheiten" haben die Kölner mit allem Nachdruck ihre Gesamtfreiheit zurückgeführt. Das ist ein Verfahren, das im Mittelalter üblich gewesen ist, aber begrifflich nicht besonders befriedigt. Die Probleme der Begrifflichkeit erheben sich am schärfsten bei den Städten, die Herr Schindling autonome Städte genannt hat: Da werden Fakten erst vom Historiker beschrieben, die ihm eindeutig scheinen. Einst hat dies der Landesherr ganz anders gesehen und formuliert als die Stadt. Mit diesem Dilemma wird auch heute der Historiker anders umgehen als manche Juristen. Er wird nicht versuchen zu sagen, was richtig sei, sondern die Perspektivität bestehen lassen und genetisch denken. Quaritsch: Eine Nachfrage: Herr Becker hat auf das Reformschrifttum des späten Mittelalters hingewiesen. Ist dieses Reformschrifttum pure "Ideengeschichte" gewesen, also sehr gelehrt, sehr interessant, aber "einpi-

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riefem"? Hat sich dieses Reformschrifttum wenigstens in Ansätzen, in Versuchen in der verfassungsgeschichtlichen Wirklichkeit niedergeschlagen? Das erscheint mir ein nicht ganz unwichtiger Punkt bei der Erörterung. Moraw: Ich glaube, diese Frage kann man mit einem ziemlich klarenNein beantworten. Es ist allerdings eine in der Forschung nicht völlig gleichartig beantwortete Frage. Wenn ich die Forschungslage überblicke, möchte ich sagen: Herr Boockmann nimmt in mehreren Veröffentlichungen die Position ein, die ich auch habe. Einen Grund, eher skeptisch zu sein, könnte man in aller Kürze daraus ableiten, daß über eine Reformschrift aus dem Zeitalter Maximilians, den sog. "Traum des Hans von Hermannsgrün", nicht zu vereinbarende Ansichten bestehen zwischen Herm Wiesflecker und Herm Angermeier. Schon daraus mögen Sie entnehmen, daß der Bezug zur Wirklichkeit, falls es ihn gegeben hat, so locker ist, daß man nicht imstande ist, ihn eindeutig zu bestimmen. Wir kennen auch noch nicht alle Teile der Wirklichkeit in dem Maße, wie man sich das wünscht, aber es ist so, daß wir das, was wir kennen, bei den Theoretikem nicht leicht wiederfinden. Es sind da stark konstruierende, spekulative Elemente enthalten. Wenn z.B. eine Gerichtsstruktur für das Reich entworfen wird mit zwölf Gerichtsbezirken, ohne daß gesagt wird, wo sie in der konkreten Geographie anzuordnen seien, so ist das wohl so zu verstehen, daß die Zahl12 als Idealzahl gebraucht wird. Die vielleicht interessanteste Frage, die man an diese Literatur stellen kann, ist die Frage danach, was nicht darin vorkommt. Nikolaus von Cues z.B.ließ in seiner Vorstellung vom Reich die Mitarbeit der Fürsten weit zurücktreten. Das ist wohl für seine Zeit richtig gesehen. Überhaupt nicht sah man aber die sehr reellen unüberwindlichen praktischen Schwierigkeiten des Königs. Ihm wurde stets alles zugemutet- ohne zu erwägen, auf welche Weise er das leisten sollte. Willoweit: Ich möchte noch einmal auf die übergreifende Thematik dieser Tagung zurückkommen und auf den Dissens zwischen Herm KoseHeck und Herrn Moraw. Ist es wirklich so, Herr Moraw, daß Ihre Überlegungen zu unserem Gesamtthema gar nichts beitragen können, wie Sie behauptet haben? Vielleicht ist die Freie Stadt ein Paradigma spätmittelalterlicher Bürgerfreiheit. Denn sie steht ja an der Spitze einer ganzen Stufenleiter weniger weitgehender Privilegien der Reichsstädte etwa oder selbst schlichter Landstädte. Vielleicht sind die von uns insofem getroffenen kategorialen Abgrenzungen von sekundärer Bedeutung und nur die Folge mehr oder minder starker Privilegierung. So gesehen erscheinen dann die Freien Städte als Gipfel, als das glänzendste Exemplum spätmittelalterlicher Bürgerfreiheit Dann aber fragt es sich, warum diese Verfassungsform wieder verschwindet. Sie selbst haben gesagt: Am Ende meines Referats ist der Abstand zur Modeme größer als am Anfang. Möglicherweise ist diese Frage von einer

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ganz anderen Seite her zu beantworten: Das Maximum spätmittelalterlicher Stadtfreiheit geht verloren, weil sich die Hocharistokratie als endgültiger Inhaber der politischen Macht etabliert.

H.-P. Schneider: Ist es nicht eine außerordentlich moderne Entwicklung, wenn Freie Städte nach und nach mit den Reichsstädten egalisiert werden? Die Gleichheit des Stadtbürgers fällt mir dabei ein. Ich will keine unmittelbaren Parallelen ziehen, aber mir scheint doch die Endphase der "Mediatisierung" von Stadtstaaten im späten Mittelalter eine außerordentliche Nähe zum 19. Jh. zu haben, wo wir eine ähnliche Entwicklung der "Verstaatlichung" von Städten beobachten können. Ist das richtig? Moraw: Beide Vorredner haben etwas gesagt, was man zu Recht aus meinem Vortrag hat heraushören können, so daß ich keinen Grund habe zu widersprechen, auch wenn die Aussagen beider widersprüchlich scheinen. Man kann dies aber "versöhnen". Die Freie Stadt war der Gipfel dessen, was es an politischer Beweglichkeit und auch wohl an Freiheit im eigenen Selbstverständnis im königsnahen Reich gegeben hat. Diese Freiheit war immer zerbrechlich, auch das ist gesagt worden, und diese Freiheit war die Freiheit der Führungsgruppen, auch dies ist gesagt worden. Demgegenüber hat mit Herrn Schneider in anderer Perspektive auch der Staat sein Recht. Wenn im Reich mehr Leute für Dinge zahlten, die offenkundig bezahlt werden mußten, dann war dies eine Art Modernisierung, mit der ich sympathisiere, wenn ich eine gemeindeutsche Geschichte als einen Wert empfinde. Nur mit der direkten Verbindung zum 19. Jh. bin ich etwas ängstlich. Es gibt eine in einer Anmerkung zu erwähnende Arbeit aus Köln, die den Bogen von der alten Kölner Freiheit zum Bonner Grundgesetz schlägt. Da habe ich doch sehr große Bedenken. Man kann Analogien nicht abstreiten; man kann auch nicht abstreiten, daß es im sehr allgemeinen Sinne eine Entwicklung vom 15. zum 19./20. Jh. gibt. Ich möchte nur vorsichtig sein bei der Herauslösung eines einzelnen Fadens, weil dies mir jedenfalls nicht "historisch" genug wäre. Aber man kann nicht sagen, daß nicht in die richtige Richtung geblickt wird. Koselleck: Die Analogie-Frage an die französische und auch englische Geschichte ist natürlich aufregend. Die englische Wahlrechtsdebatte von 1832 zielte nicht dahin, eine britische citizenship auszuweiten oder allgemeine Rechte einem englischen Bürger zu verleiten. Solche Argumente tauchen nicht auf. "Citizen" ist ein Privilegierter z.B. von Sheffield oder von Bristol mit bestimmten Wahlrechten, und diese werden ausgebreitet für diesen einen Wahlkreis und für Leute, die "citizen" oder "subjects" oder "freemen" jeweils rechtsspezifisch genannt werden. Die ganze Wahlrechtsdebatte wird nicht geführt über die Ausbreitung eines Staatsbürgerrechts,

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sondern über die stadtbürgerlichen Privilegien, die die Briten jeweils schon hatten. Moraw: Es ist schwierig, darauf in kurzer Zeit zu antworten. Beim Reichstitel war die häufigste Bezeichnung wohl "Heiliges Reich" (in deutscher Sprache). Man dachte nicht mehr an die Emphase, die einst im Stauferkampf darauf gelegt worden war, sondern man hat das im raschen Fluß der Worte gesagt. Als Friedrich III. eine Art von Testament schrieb und~eine Sorgen darüber ausdrückte, wie sein Reich aussah, sprach er vom "Heiligen Reich", und man sieht, daß sein Herz dar an hing. Der Begriff des "Römischen Reiches" war offenbar weniger populär, trotzdem wurde er gebraucht, und zwar weil dies die staatsrechtlich korrekteste Form war, die demgemäß der Urkundensprache angehörte. In der Urkundensprache mußte man der Legitimität halber stets "römisch" sagen, auch dann, wenn man "deutsch" meinte. Es ist aber unhistorisch, beides gegeneinander auszuspielen. Die Frage nach dem Begriff "deutsch" und nach der "Nation" sind zwei verschiedene, komplizierte Dinge; ich werde in der Druckfassung eines Braunschweiger Vortrags davon handeln. Zur Kritik älterer Auffassungen, die auf ein Entweder-Oder bei der Begriffswahl hinauslaufen, formuliere ich die Frage: Wie denkt man sich die Herstellung einer gemeinsamen Begrifflichkeit? Wie soll das funktioniert haben? Die Antwort lautet: Es kann nicht funktioniert haben, also kann es keine einheitliche Begrifflichkeit gegeben haben. Das schließt natürlich nicht aus, daß es eine Zunahme von Belegen vom ersten Jahrzehnt des 15. Jh. an und daß es eine Entwicklung für das ganze 15. Jh. gab. Die "deutschen Lande" spielten auch eine bekannte Rolle. Ich nehme mit Grund an, daß auch, wenn "nur" vom "Heiligen Reich" die Rede war, "Deutschland" gemeint war, jedenfalls derselbe Gefühlswert enthalten war, als ob man von der "deutschen Nation" sprach. Jetzt zum andern Teil der Frage. Wie soll man diejenigen, die zum Reich gehörten, nennen? Darauf kann es wohl im Mittelalter, d.h. vor etwa 1470, noch keine einheitliche Antwort geben. Das würde die soziale Situation zugunsten einer politischen Aussage in einer Weise vereinheitlichend charakterisieren, wie ich das nicht so wagen möchte. Im 16. Jh. ist dies wohl deutlicher. Ich habe keine Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß es im Mittelalter "Deutschland" vor den (vereinheitlichten) Deutschen gab. Moraw: Es wäre im 14. Jh. viel schwieriger gewesen, so zu schreiben, das setzt auch das Denken vom "modernen" Kommunikationsmittel her voraus. Die Geschichtsschreibung des 14. Jh. scheint mir noch nicht so zu formulieren, daß schlechthin alle Christen ohne Unterschied, ob handlungsfähig oder nicht, als Deutsche gemeint sind. Und ob man Bürger im umfassenden Sinne vorfindet? Ich finde verschiedene Gruppen der Gesellschaft und verschiedene Stände vor, ich finde auch, daß es Zusammenhänge zwischen

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ihnen gibt. Aber ich kann den gemeinsamen Begriff in dem Sinne, wie Sie es wünschen, nicht finden.

Frost: Liegt nicht, zumindest in der späteren Zeit, also vom ausgehenden 15. bis ins 16. Jh. im Begriff "deutscher Nation" auch ein Eingrenzungsmoment, gewissermaßen als Sprachabgrenzung zum Italienischen? Der Begriff wird zwar mehr politisch verwendet, aber er trägt zugleich eine gewisse Gliederung des Reiches in sich. Moraw: Ich möchte meinen, daß es beide längst bekannten Bedeutungen nebeneinander gab: Die erste Bedeutung meint die Abgrenzung zu den "Welschen", die zweite Bedeutung meint, daß die deutsche Nation hervorgehoben wird. Es besteht kein Grund anzunehmen, daß das eine das andere ausschließt, das ist schon von der Kommunikationsstruktur her gesehen unwahrscheinlich. Triftiger nach meiner Beobachtung ist der Begriff, der die deutsche Nation positiv hervorhebt; die Leute, die schrieben, hatten in vieler Hinsicht ein ausgeprägtes Nationalgefühl. R. Schneider: Mit der Frage nach der Nation wurde eine wichtige Frage berührt, die freilich auf ein neues thematisches Feld führt. Bedacht werden muß, daß das Reich ein supranationales Gebilde ist, daß in zunehmendem Maße die deutsche Nation in diesem Reiche zum Kern wird und sich als solcher immer bewußter empfindet. Dies kommt zum Ausdruck in Abgrenzungen, natürlich gegenüber den Welschen und anderen, obwohl es sich auch hierbei um ein schwieriges Terrain handelt. Zum Beispiel gehören ja zahlreiche Welsche (insbesondere Französischsprecher), und man denke nur an Metz, wo in Stadt und Territorium deutsche und französische Einsprachigkeit nebeneinander stehen. Metz bekennt sich zum Reich, propagiert im 15. Jh. in allen möglichen Bezügen seinen Charakter als freie Reichsstadt, weil es seine Freiheit gegenüber drängenden Nachbarn (Lothringen, Burgund, Frankreich) behaupten will. Trotz solcher Einschränkungen bleibt die stärkere Konzentration auf den Kern des supranationalen Gebildes offenkundig, also eine Konzentration auf die deutschen Lande und die deutschen Bewohner. Gerade in den Grenzbereichen, auch in den slawischen, läßt sich dies recht gut greifen, wenngleich nicht durchgängig. Anknüpfend an diese Bemerkung möchte ich eine Frage stellen: Burkart Zink schreibt in Augsburg, die Städte seien das Reich. Was meint er damit? Handelt es sich nur um Stolz, um Selbstbewußtsein oder liegt hier möglicherweise eine Kombination mit einem spezifischen Freiheitsverständnis vor, so daß man daraus ableiten könnte: Die Städte stellen den besseren Teil dieses Reiches dar. Wenn das Reich aus seiner Ohnmacht und aus seinem Unglück genesen will, dann kann es zu dieser Freiheit finden. Wenn diese Deutung zuträfe, hätte man vielleicht einen Ansatz von der als städtisch

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empfundenen Freiheit hin zu einer Freiheit, die zum Reich gehöre. Dabei muß nicht sogleich von Staatsbürgern gesprochen werden, aber in methodischer Hinsicht könnte vielleicht mancher historiographische Rahmen das leisten, was viele Rechtsquellen und auch Programmschriften im allgemeinen nicht vermögen. Hinsichtlich der Rechtsquellen will ich ferner darauf verweisen, daß der große Kölner Schied von 1258 für manche Fragen, die in die Zukunft weisen, Modellcharakter zu haben scheint. In der sorgsamen Form, in der hier Machtansprüche, Freiheitsverständnisse seitens der Stadt und des Landesherrn austariert werden, wird vielleicht ein Vorbild für gültige Verfassungsentwicklungen gegeben. So läßt sich der Schied als recht eigenständige Form einer Art "Verfassungsentwurf" werten, den Albertus Magnus zustande gebracht hat. Aber vielleicht sehen die anwesenden Kölner dies anders.

Borck: Lassen Sie mich eine kurze Bemerkung zu der hier aufgeworfenen "Deutschlandfrage", der Frage einer Abgrenzung des deutschen Gebietes innerhalb des Reiches machen: 1. Es gibt im Mittelalter die Gliederung der kaiserlichen/königlichen Kanzlei in die drei Erzämterper Galliam, per Italiam und per Germaniam, woraus eine räumliche Identitätsvorstellung deutlich wird.

2. Es gibt in der Literatur schon im 13. Jh. eine ziemlich genaue geographische Definition. Ich denke an das berühmte erste Deutschlandlied Walthers von der Vogelweide, in dem ja mit der Formel "Von der Elbe bis zum Rhein und her wieder bis zum Ungarland" (hochdeutsch zitiert!) mit wünschenswerter Deutlichkeit räumlich definiert wird, was als Deutschland gilt. Das ist ein Beispiel von vielen.

Moraw: Zur Multinationalität (vielleicht ist es einfacher, Mehrsprachigkeit zu sagen) gibt es eine interessante Quellennachricht, die sich auf die Seelsorge in den Volkssprachen bezieht. Ende des 14./ Anfang des 15. Jh. gab es demnach in Frankreich vier oder fünf Sprachen, in denen Volksseelsorge betrieben wurde, in Deutschland waren es drei: Oberdeutsch, Niederdeutsch und Tschechisch, nach Auskunft der Kurie, die es wahrscheinlich gut gewußt hat. Man hat gesagt, das Reich werde im 15. Jh. immer deutscher, ohne daß dies bedeutet, daß man die Nichtdeutschen gewissermaßen als nicht vorhanden aufgefaßt hätte. Der "status politicus" war übrigens in höherem Maße deutsch als die einfachen Leute, fÜr die. man sich unter politischem Aspekt ohnehin nicht interessiert hat. Dü:'seDinge sind noch relativ übersichtlich. Das kann man nicht sagen für den Reichsbegriff. Der Reichsbegriff ist beinahe das schwierigste, wovon man bei uns überhaupt reden kann. Es gibt jenen Versuch der Zusammenfassung, von dem ich schon

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gesprochen habe. Über den Reichsbegriff in der Stadt gibt es eine Arbeit von H. Schmidt. Darüber hinaus ist der Begriff des Reiches unglaublich vielfältig. Er kann sich von der Bezeichnung einiger Dörfer (im "Kröver Reich") bis zum universalen Anspruch auf "Weltherrschaft" erstrecken, der im früheren 16. Jh. noch politisch zitiert wurde, also noch eine Art von Realität besaß. Bei der Nation hat jeder, der Latein sprach, zuerst an die Geburtsherkunft gedacht (nasci, natus); das muß also nicht so politisch sein, wie es aus der Modeme her gesehen klingen mag. Universitätsnationen müssen keineswegs politisiert sein, sie können aber politisiert werden, z. B. in Prag im späten 14. und frühen 15. Jh. Die Nationen an den Universitäten waren häufig stark an Himmelsrichtungen orientiert, d. h. sie sind nur in lockerer Form mit unserem Nationsbegriff in Verbindung zu bringen. Viel deutlicher ist dies bei den Konzilsnationen, die in Konstanz auch als politische Handlungseinheiten hervortraten. Es gibt von Herrn Kahl eine lange Abhandlung über den Begriff der Nation im Mittelalter. Was man daraus zuerst entnehmen kann, ist dieses, was Begriffsgeschichte für das Mittelalter so oft zur Verzweiflung treibt: Es gibt immer zugleich einen engen technischen Gebrauch und einen sehr weiten Gebrauch desselben Wortes; beide laufen nebeneinander her; und es gibt genügend Zwischenstufen, damit das Bild nicht zu einfach ist.

Zwischenruf: Um auf den Rechtsstand des Bürgers zu kommen: Ein Bürger ist jemand, der durch seine Stadtluft frei geworden ist. Zwischenruf: Ein Bürger hat keinen Herren? Diestelkamp: Das ist unser Erkenntnisstand. Ob es aber die Anschauung der Zeit ist, daß man von Rechts wegen auch einen Bürgerstand hat? Zwischenruf: Wenn ein Herr einen Bürger auf der Straße in der Stadt traf, konnte er ihn nicht so behandeln wie einen Leibeigenen. Diestelkamp: Ihre Frage legt Wert darauf, ob wir einen rechtlich konstituierten Stand haben können, den dritten Stand. Kroeschell: Nur eine punktuelle Beobachtung zu Ihrer Frage: Der Bürger einer Stadt in Westfalen konnte in Ermangelung anderer freier Leute Schöffe in einem ländlichen Freigericht sein. Nicht weil er Bürger war, sondern weil er frei war! Meine Frage wäre, ob nicht dies das Verbindungsglied ist: nicht ein allgemeines Recht der Bürger, sondern ein gemeinsames Recht der Freien, denn der Bürger konnte auf dem Lande die dort fehlenden Freien in ihrer Funktion ersetzen. 5 Der Staat, Beiheft 8

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Dilcher: Ich möchte noch eine Antwort versuchen. Der Bürger hatte den Rechtsstatus seiner Stadt. Andererseits waren die Rechtsverleihungen an die Städte oft zusammengefaßt, aufeinander bezogen, typisiert. Dann kommt aber als generelles Merkmal der städtischen Kommune der Bürgereid hinzu. Man wußte, daß der Stadtbürger in diesem konkreten kommunalen Verband stand, von ihm geschützt wurde und in ihm pflichtig war, steuerpflichtig etwa. Die Frage, wieweit es nun einen Bürgerstand gab, kann nicht in diesem Rahmen als reine Rechtsfrage gestellt werden, daß etwa alle den genau gleichen Rechtsstatus gehabt hätten. Die Frage wäre vielmehr an die mittelalterliche Ständelehre weiterzugeben. Außerdem ist die Frage zu stellen, wieweit die gleiche Typik der Stellung der individuell unterschiedlichen Bürgerschaften das gemeinsame Bewußtsein, zu einem Stande zu gehören, entstehen ließ. Die Quantität, das Gewicht der bürgerlichen Gemeinschaften in der Gesamtgesellschaft, könnte auch ein Faktor der Bewegung zur Moderne gewesen sein. Dieses ließe sich aus den Quellen der Zeit selbst nicht allein beantworten, sondern wäre Ergebnis einer Analyse des Historikers. Ich meine zusammenfassend: Wir müssen bei unseren Fragen sehr scharf trennen, welcher Art sie sind; ob wir von den Quellen eine direkte Antwort erwarten dürfen, und Quellen welcher Art - Rechtsurkunden, Chroniken, Abhandlungen zur politischen Theorie- auf welche Fragen, auch auf welchem Verallgemeinerungsniveau, Antwort geben wollen. Darüber hinaus aber können wir als Historiker, die wir auch die weitere Entwicklung noch kennen, unsere Schlüsse ziehen. Oexle: Zum Stichwort Stände: Es gibt klare mittelalterliche Kriterien für die Stadt, aber es gibt keinen mittelalterlichen Begriff, der die Stadtbewohner in ihrer Gesamtheit in einer Weise bezeichnete, die Begriffsbildungen und Ständebezeichnungen wie clericus, laicus, monachus, rusticus oder miles entspräche. Frost: Hier muß auf die sozialgeschichtliche Komponente hingewiesen werden, gerade im Anschluß an den letzten Diskussionsbeitrag. Die Abstufung der Rechte innerhalb der Städte, also nach innen, ist immerhin ziemlich stark gewesen. Mit Vollrechten versehen waren ja im wesentlichen auf der einen Seite die Stadtpatrizier, auf der anderen Seite die Handwerksmeister. Die Mehrzahl der Menschen, die sich in Städten aufhielt, war dagegen in einem sehr starken Abhängigkeitsverhältnis. Die Handwerksgesellen und was sich darum scharte, lebten in einer Position minderen Rechts, wenn sie natürlich auch freier waren als die Abhängigen in der Landbevölkerung. Man wird bedenken müssen, daß die Quellen wesentlich auf die Führungsschichten in der Stadt ausgerichtet sind. Das ist eine Frage, die wir jetzt nicht ausdiskutieren können, die aber bei dem Begriff der frühen Anschauung vom Bürger sicher der Berücksichtigung bedarf.

Respublica und Bürger Überlegungen zur Begründung frühneuzeitlicher Verfassungsordnungen

Von Wolfgang Mager, Bielefeld Zu sprechen habe ich über "Respublica und Bürger". Diese Thematik wie auch der Untertitel "Überlegungen zur Begründung frühneuzeitlicher Verfassungsordnungen" bedürfen einiger Erläuterungen1 . Vorab möchte ich bemerken, daß ich das Thema selbstverständlich nicht erschöpfend behandeln kann, dazu reichen weder die knappe Zeit noch. meine Kompetenz. Ich vermag lediglich einige Aspekte der Thematik aufzugreifen. Dies möchte ich im wesentlichen auf begriffsgeschichtlichem Wege versuchen. Es soll gefragt werden, welche Bedeutungen und Bedeutungsveränderungen den Ausdrücken respublica und Bürger, lat. civis, in Alteuropa seit dem hohen und späten Mittelalter zugekommen sind, seit der Rezeption des justinianischen Rechtswerkes und der Wiederentdeckung der politischen Philosophie des Aristoteles. Einen hervorragenden Rang in den Bemühungen der Juristen um eine gerechte und der Philosophen um eine zweckmäßige Ausgestaltung der politischen Verfassung nahmen Begriffsbestimmungen ein, zentrale Begriffe waren diejenigen der respublica und des civis. Sie sollen im Zentrum der Betrachtung stehen. Im ersten Teil wird die juristische Ausgestaltung von respublica und Bürger vorgestellt und die Eingrenzung der Bedeutung von respublica aus ,Gemeines Wesen' zu ,Freistaat' erörtert. Im zweiten Teil wird die Begriffsbildung im politischen Aristotelismus und in der seit dem 16. und 17. Jh. an dessen Stelle tretenden Naturrechtslehre behandelt. Der Ausdruck respublica entstammt der römischen Verfassungswelt. "Res -publica" wurde in Rom nach der bekannten Definition des Cicero als "res populi" verstanden, als Gesamtheit der Institutionen und Werthaltungen, 1 Wiedergabe des am 31. März 1987 auf der Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte gehaltenen Vortrags. Der Duktus der mündlichen Rede wurde beibehalten. Die Anmerkungen wurden auf den Nachweis der Zitate beschränkt. Die Ausführungen beruhen im wesentlichen auf den Materialien zu dem von mir verfaßten Art. Republik, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, 1984, S. 549- 651.

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die dem populus romanusals dem Träger des politischen Verbandes zu eigen waren. Cicero definierte den populus als "coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus", als Vergesellschaftung im Rechtskonsens und zum gemeinen Nutzen2. Respublica war ein normativer Begriff. Hierin unterschied sich respublica von politeia in der politischen Philosophie des Aristoteles. Beim Stagiriten bezeichnete politeia jedwede Ordnung der polis: die Monarchie, Aristokratie und Politie wie auch deren Entartungen, die Tyrannis, Oligarchie und Demokratie. Respublica ist von den Glossatoren und Kommentatoren des Corpus Juris Civilis im hohen und späten Mittelalter als Rechtsbegriff aufgenommen und auf die zeitgenössische Verfassungsentwicklung angewandt worden. Kennzeichnend hierfür war die zunehmende Umwandlung des Personenverbandes in den frühmodernen institutionellen Staat. Die Zivilisten trugen dieser Entwicklung Rechnung, indem sie nicht länger den populus als Träger der politischen Organisation begriffen, sondern die universitas, also die anstaltlieh organisierte Körperschaft. Die Qualität der respublica wurde denjenigen universitates zugesprochen, "quae superiorem non recognoscunt", also unabhängigen politischen Verbänden. Diesen wurde das mit respublica verbundene Vermögen zuerkannt, das ius publicum zu verwirklichen, das nach der Definition des Ulpian "ad statum rei Romanae spectat" 3 • In dieser anstaltlichen, zugleich normativen Bedeutung ist respublica während des späten Mittelalters und in der Frühen Neuzeit auf unabhängige Herrschaftsorganisationen jedweder Art bezogen worden. Hierzu wurden neben den Fürstenherrschaften auch die von ihren Bürgern regierten Kommunen gezählt, nachdem die Lehre des Bartalus allgemeine Anerkennung gefunden hatte, daß eine unabhängige Kommune das Prädikat der "civitas sibi princeps" beanspruchen dürfe.

Neben der weiten Bedeutung von respublica, welche sich im deutschen Ausdruck Gemeinwesen bis heute erhalten hat, kam die engere Bedeutung ,Freistaat' als Gegenbegriff zu ,Fürstenstaat' auf. Sie entstand offenbar in Oberitalien, wo dieser Wortgebrauch bereits im 14. Jh. nachweisbar ist. Seit dem 15. Jh. war diese Bedeutung insbesondere in der volkssprachlichen Ausprägung repubblica gängig. Erinnert sei an den bekannten Eingangssatz aus Machiavellis "Principe": "Tutti li stati, tutti e' dominii ehe hanno avuto et hapno imperio sopra ei uomini, sono stati e sono o republiche o principati4." 2 Die vollständige Definition lautet: "Est igitur ... res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus", Cicero, De re publica, Buch 1, Kap. 25, 39, Ed. E. Breguet, Bd. 1, Paris 1980, S. 220. 3 "Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem: sunt enim quaedam publice utilia, quaedam privatim", Dig. 1,1,1,2. 4 N. Machiavelli, 11 principe, Kap. 1, in: ders., Opere, hrsg. v. S. Bertelli, Bd. 1, Mailand 1968, S . 7.

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Die Eingrenzung der Bedeutung von respublica auf ,Freistaat' erfolgte sprachlich durch Hinzufügung des Attributs libera zu respublica. Unterschieden wurde zwischen fürstlich beherrschter respublica regni und fürstenfreier, insoweit libera respublica. Im verkürzenden Sprachgebrauch wurde daraus die Entgegensetzung von regnum und respublica. Nachdem einmal das Wortpaar regnum - respublica ausgebildet war, ergab sich die terminologische Schwierigkeit, dieses zweigliedrige Verfassungsschema mit der dreigliedrigen Klassifikation des Aristoteles in Übereinstimmung zu bringen. Die Juristen haben dieses Problem gelöst, indem sie die libera respublica in die beiden Spielarten der aristokratischen und demokratischen Republik untergliederten, wobei sie ,demokratisch' nach dem Wortgebrauch des Polybius als gute Ausprägung der Volksherrschaft faßten. Von libera respublica als Bezeichnung der fürstenfreien politischen Körperschaft war der Weg nicht weit bis zum Staatsnamen. In der Frühen Neuzeit diente respublica bzw. repubblica als Staatsname für die bekannten oberitalienischen Freistaaten, die Republiken Venedig, Genua, Lucca und San Marinos, ferner für Ragusas. Die Schweizer Eidgenossenschaft und die Vereinigten Niederlande nahmen während der frühen Neuzeit nicht den Staatsnamen ,Republik' an. Als Aussteller in amtlichen Schriftstücken fungierten bei den Eidgenossen "Wir Burgermeister, Schultheiß; Landammann, Räthe und Gemeinden der Eidgnoßischen Republiken und Mit-Verbündeten Ständen" 7 • Gängigerweise wurde die Eidgenossenschaft als "Corpus Helveticum" oder "Corps Helvetique" bezeichnets. Als Aussteller in amtlichen Schriftstücken der Niederlande erschienen die "Staten General der Vereenigde Nederlanden" ("Les Etats Generaux des Provinces-Unies des Pa'is-Bas")9 oder die "Heeren Staten Generael" ("Seigneurs Etats Generaux") 10 oder die "Hooch ende Magende Heeren Staten Generael der Vereenichde Nederlanden" ("Hauts et Puissants Seigneurs les Etats Generaux des Provinces-Unies des Pa'isBas")ll. Offenbar haben die Schweizer Eidgenossenschaft und die Generals Nachweise bei J. H. Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Art. Venedig, l:Sd. 46, 1745 (ND 1962), Sp. 1193- 1264; Art. Genua, Bd. 10, 1735 (ND 1961), Sp. 902- 907; Art. Lucca, Bd. 18, 1738 (ND 1961), Sp. 661 - 666; Art. St. Marino, Bd. 19, 1739 (ND 1961), Sp. 1566. 6 Vgl. Zedler (FN 5), Art. Ragusa, Bd. 30, 1741 (ND 1961), Sp. 652f. 7 Vgl. U. Im Hof, Ancien Regime, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich 1977, S. 675, Anm. 2. s Ebd. 9 So in der Vollmacht der niederländischen Unterhändler zu den Friedensverhandlungen mit Spanien, ausgestellt am 22. März 1646, s. J. Du Mont, Corps universei diplomatique du droit des gens, Bd. 6, Teil1, Amsterdam I Den Haag 1728, S. 436. 1o Ebd., S . 437. u Im Freundschaftsvertrag mit Dänemark v. 9. Oktober 1649, s. Du Mont (FN 9), s. 530.

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staaten den Staatsnamen ,Republik' gemieden, weil sie bündisch verfaßt waren. Pufendorf, auf den die juristische Lehre von der Föderation zurückgeht, hat in seiner "Dissertatio de systematibus civitatum" und in einem Abschnitt seines Werkes "De jure naturae et gentium" 12 zwischen der Personalunion von Einzelstaaten und dem "alterum genus systematum" unterschieden, "quod constat ex pluribus civitatibus foedere perpetuo inter se nexis", und unter letzterem ausdrücklich die "Provinciae Belgii Uniti" und die "Foederati Pagi Helvetici" subsumiert13. Die Zeitgenossen haben lebhaft die Frage erörtert, inwiefern ungeachtet ihrer föderativen Verfassung die Schweiz oder die Niederlande als Gesamtstaaten zu begreifen seien, als (freistaatliche) Republiken. Die Ausführungen Zedlers, unter dem Stichwort "Vereinigte Republicken" 14 , blieben die Antwort schuldig; es heißt hier, ein "Systema vereinigter Republicken" entstehe, "wenn verschiedene freye Republiquen durch ein gemeines Band, dergestalt mit einander vereiniget und verknüpffet sind, daß sie zwar eine, Republick auszumachen scheinen, und dennoch eine Jede die höchste Gewalt über ihre Unterthanen behält" 15 . In dem Artikel "Vereinigte Niederlande"16 kam Zedler zu dem Ergebnis, daß in staatsrechtlicher Betrachtung die Niederlande als Föderation anzusehen seien, im zwischenstaatlichen Verkehr hingegen als Völkerrechtssubjekt, Republik. Die sieben Provinzen hätten sich in der Utrechter Union von 1579 gegen Philipp li. von Spanien verbunden, um "zusammen einen besondern freyen Staat zu formiren, jedoch dergestalt, daß keine dieser Provintzien über die andere, noch die stärckere über die schwächere, zu gebieten haben solte". "Und weil unter ihnen die Provintz Holland die erste, reicheste, mächtigste, und ansehnlichste Provintz ist; so werden von ihr die sämmtlichen sieben vereinigten Provinzien auch und insgemein Holland oder die Republick Holland genennetl7." Der Autor des Artikels gab zu bedenken: "Es ist aber die RegierungsForme dieser vereinigten Provintzien nicht eigentlich eine Republick, sondern vielmehr eine Confoederation und Bündniß sieben freyer Provintzien zu nennen." Er kam dann zu dem Schluß: "Wenn aber alle Provintzen zusammen treten, so formiren sie eine der mächtigsten Republicken in der Weltls." Zu einem ähnlich schwankenden Urteil kam Zedler in dem Artikel 12 S. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, Buch 7, Kap. 5, §§ 16- 21, hrsg. v. G. Mascovius, Frankfurt a. M. I Leipzig 1759 (ND 1967), Bd. 2, S . 200- 209. 13 Ebd., S. 204. 14 Zedler (FN 5), Bd. 47, 1746 (ND 1962), Sp. 477f. 15 Ebd. 16 "Vereinigte Niederlande, insgemein die Republick Holland genannt, Frantz. Provinces Unies du Pais bas, Lat. Provinciae foederatae Belgii, Belgium foederatum, Respublica Batavorum, Respublica Provinciarum unitarum Belgii", Zedler (FN 5), Bd. 47, Sp. 426-477. 17 Ebd., Sp. 426. 1a Ebd., Sp. 456.

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"Schweitzerland" 19 • "Die Eydgenoßische Regiments-Forme belangend, kan man nicht sagen, daß da eine einige ordentliche und unter einem Haupt stehende Republick sey, so wie es etwa vor Zeiten zu Rom, zu Athen oder Carthago gewesen, oder wie sichs heut zu Tage bey Venedig, Qenua etc. befindet; sondern es ist dieses Corpus eigentlich ein Systema civitatum foederatarum, oder ein gemeines aus vielen kleinen für sich selbst freyen und souverainen Ständen bestehendes und durch Bündnisse zur gemeinen Sicherheit und Erhaltung zusammen gefaßtes Wesen zu nennen, ungefehr von der Art, wie vormahls die zwölff verbundene Griechische Städte in Achaja und wie noch auf heutigen Tag die sieben Niederländische vereinigte Provintzien sind: Daher auch der Titul Republick der gesammten Eydgenossenschafft nicht übel zugelegt, und ihr unter der Zahl der übrigen Republikken der Rang gleich nach Venedig, als der ältern, gegeben wird2o. " Anders als die Staatsrechtslehrer haben die Politiker nicht gezögert, den Niederlanden und der Schweiz den Charakter von Staaten zuzuerkennen. Die Unterhändler der Generalstaaten zu den Friedens- und Unabhängigkeitsverhandlungenmit Spanien wurden in ihrer Vollmacht ausdrücklich als "Plenipotentiarissen van desen Staet" ("Plenipotentiaires de cet Etat") 21 , d.h. der Niederlande, bezeichnet. In der Ratifikation des am 30. Januar 1648 mit Spanien abgeschlossenen Vertrages beurkundeten die "Estats Generaux des Provinces Unies Libres du Pays-Bas" erneut im Namen ihres Staates, "au nom, et de par l'Estat de toutes les Provinces Unies, Pays associes, Seigneuries, Villes, et Membres d'iceux et icelles" 22 . Bereits 1644 berichteten die französischen Gesandten auf dem Westfälischen Friedenskongreß aus Münster, daß die Niederländer ihren Bund als mächtige Republik und unabhängigen Staat verstanden wissen wollten: "Messieurs lesEstatz ... alleguent ... la puissance de leur Republique qui a une estroitte liaison avec la France, en quoy ilz croyent avoir avantage sur Venise, et l'independance absolue de leur Estat23." Für die Beobachter der Friedensverhandlungen zwischen den Generalstaaten und Spanien litt es 1647 keinen Zweifel, daß "von königen in Spanien die Holländer für frey erklehrt" 24 und "iezt vom könig in Spanien pro republica libera solten declarirt werden"25. Als die Generalstaaten nach dem Vorbild Venedigs den Vorrang vor den Kurfürsten 19 "Schweitzerland, Schwitzerland, sonsten schlechthin die Schweitz, Schwitz, auch die Eydgenoßschafft, Lat. Respublica Helvetiorum, Helvetia, Frantz. la Suisse, genannt", Zedler, (FN 5), Bd. 36, 1743 (ND 1962), Sp. 358- 372. 2o Ebd., Sp. 365f. 21 Du Mont (FN 9), S. 437. 22 Ratifikationsurkunde v. 18. April1648, s. Du Mont (FN 9), S. 438. 23 K. Repgen (Hrsg.), Acta Pacis Westphalicae, Serie II, Abt. B, Die französischen Korrespondenzen, Bd. 1, 1644, Münster i. W. 1979, S . 141. 24 Repgen (FN 23), Serie III, Abt. A, Protokolle, Bd. 1. Die Beratungen der kurfürstlichen Kurie, 1, 1645- 1647, Münster i. W. 1975, S. 837. 2s Ebd., S. 836.

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beanspruchten, wurde auf einer Konferenz der kaiserlichen und kurfürstlichen Gesandten 1645 in Münster festgehalten, es hätten "die Staden von Holland sich palam vernehmen laßen dörffen, daß sie zwischen den Venedigern und ihnen niemandts zu dulden, sondern ihre stell auf die rempublicam Venetarn zue behaubten gedencken, derenexempeldie Schweitzer, Genueser, Luckeser und andere geringe respublicae sonder zweiffel einzufolgen sich unterstehen"26. Von den Diplomaten wurden die Schweiz und die Niederlande als staatliche Einheiten in den Kreis der europäischen Republiken eingereiht. Dem folgte Zedler in dem Artikel "Republick" 27 . Er unterschied zwischen "Republick, das gemeine Wesen, Lat. Respublica, Fr. Republique" und "Republick, in besonderm Verstande, heisset ein freyes Volck, Land, Stadt oder Gemeinde, so kein Oberhaupt, oder doch auf gewisse und limitirte Art erkennet" 28 und faßte unter Republik in diesem engeren Sinne zwei Hauptgattungen: "die erste, so ein Oberhaupt, Hertzogen, oder anders titulirten Regenten auf Lebens- oder determinirte kurtze Zeit erwählet, als Venedig, Lucca, Genua etc. Die andere erkiesen oder erwählen aus denen Vermögensten und Vornehmsten ihrer Stadt und Staats etliche, die das RegimentsRuder entweder Wechselsweise, oder auf Lebenszeit führen müssen, als Genf etc. wohin auch die vornehmsten Reichs-Städte zu zühen." Er fügte dann eine dritte Gattung hinzu, "wenn nemlich verschiedene Landschafften, Stände und Städte zusammen in einen Bund und Societät treten, und einen gesammten Cörper oder Republick formiren, deren jede aber ihre besondere Form und Regierungsart behält" 29 , und nannte als Beispiele die Niederlande und die Schweizao. An die Seite der kommunalen und föderativen Republiken wurde im 17. und 18. Jh. der Flächenstaat Polen gestellt, auch wenn dieser dem Staatsnamen nach ein Königreich war. Polen galt als Republik, da der gewählte König nur geringe Kompetenzen hatte und die tatsächliche Macht in der Hand des Adels lag. In Zedlers Artikel "Polen" 31 liest man, Polen sei "ein Wahl-Königreich in Europa"32 ; das Regiment sei "status mixtus, nemlich monarchisch und aristocratisch", dergestalt, daß der "König in der potestate jubendi et consulendi fast nicht vielmehr als ein anderer OberRegent in einer freyen Republic zu sagen" habeaa.

Ebd., S . 158. Zedler (FN 5), Art. Republick, Bd. 31, 1742 (ND 1961), Sp. 656- 665. 2s Ebd., Sp. 656 u. 665. 29 Ebd., Sp. 665. 30 " •. • dergleichen die Holländische und Schweitzerische sind", ebd. 31 Zedler (FN 5), Bd. 28, 1741 (ND 1961), Sp. 1104 - 1151. 32 Ebd., Sp. 1104. 33 Ebd., Sp. 1148. 26

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Zum Staatsnamen eines Flächenstaates ist Republik in Großbritannien zwischen 1649 und 1660 nach der Hinrichtung König Karls I. aufgerückt, im Ausdruck "Commonwealth and free state", gemäß dem Gesetz vom 19. Mai 1649. Als man den Commonwealth schuf, bezog man sich im übrigen ausdrücklich auf das Vorbild der Niederlande, die man als Republik auffaßte. Die Royalisten sprachen abschätzig vom Dutch Design34. In Deutschland stellte sich die Frage, ob angesichts der weitreichenden Landeshoheit der Reichsstände die freien Reichsstädte den Rang von liberae respublicae beanspruchen dürften. Johann Jacob Moser führte dazu in seinem "Teutschen Staats-Recht" aus: "Einige Reichs-Stätte besitzen zwar ziemlich schöne Gebiete, also daß eine solche Staet in sensu Juris publici Europaei so gut und besser eine Republic als Lucca und S. Marino abgeben könnte; in sensu Juris publici universalis hat es auch den geringsten Anstand nicht, daß alle Reichs-Stätte Republiquen seyen und so genannt werden können: Weil aber das Wort: Republique gemeiniglich heut zu Tag von einem Souverainen, nächst auf die gecrönte Häupter kommenden, Staat genommen zu werden pflegt; so ist es prudentiae, daß sich die Reichs-Stätte dises Praedicats in Stylo curiali enthalten, wann sie nicht damit anstossen wollen35 . "

Nach der Ansicht Mosers waren die Reichsstädte zumindest völkerrechtlich gesehen Republiken. Dem entsprach es, wenn die Könige von Frankreich und England bestimmten Reichsstädten in Anschreiben das Prädikat der Republik zuerkannt haben. Moser nannte als Beispiele ein Schreiben des französischen Königs an die Stadt Regensburg und ein weiteres des englischen Königs an die Stadt Köln. Im ersten Schreiben lautet die Anrede: "A Nos tres-chers et bon amis, les Messieurs et Senat de la Ville et Republique de Ratisbone"3 6 • Die Anrede im zweiten Schreiben lautet: "Magnificis, Nobilissimis, Spectabilibus Viris, Consulibus et Senatui Urbis et Reipublicae Coloniensis, Amicis nostris perdilectis, salutem"37. Hermann Conring hat herausgearbeitet, das Deutsche Reich sei eine umfassende Körperschaft, eine "respublica Imperii Germanici communis"as, welche mannigfaltige untergeordnete Körperschaften umfasse. "Notandum ... nostram rempublicam esse corpus conflatum ex variis rebuspublicis", das Reich bestehe aus Fürstentümern, die more regio verwaltet werden, und freien Reichsstädten. Diese seien zu betrachten als "quasi liberae respubli34 H.-Chr. Schröder, Die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert, 1986,

s. 134- 137.

35 Johann Jacob Moser, Teutsches Staats-Recht, Buch 3, Kap. 118, Sectio 1, § 4 = Teil 39, Leipzig I Ebersdorff 1749 (ND 1968), S. 281. 36 Moser (FN 35), Buch 3, Kap. 195, § 4 = Teil43, 1751 (ND 1969), S. 119. 37 Ebd., S. 120. 38 Vgl. den Titel der "Dissertatio de republica Imperii Germanici communi, Lampadio praemissa", in: H. Conring, Opera, hrsg. v. J . W. Göbel, Bd. 2, Braunschweig 1730 (ND 1970), S. 5 - 22.

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cae, et sui juris, et singularem constituunt rempublicam, licet non administrentur a monarchis"39. Manche Reichsstädte zögerten nicht, sich förmlich als respublicae zu benennen. In einem Streit zwischen dem Erzbischof von Bremen und der Stadt Bremen von 1641 warf der Prälat der Kommune vor- ich folge Mosers Bericht im "Teutschen Staats-Recht" -, "daß sie sich, in praejudicium Archiepiscoporum, aus eiteler Ambition, gleich den Venetianern, Genuesern, Schweitzern, selbst auf ihren Müntzen eine Rempublicam genennet und solchen Titul auch in ihrem edirten Vortrab (d.h. einem Rechtsgutachten- W.M.) urgiret habe. Die Statt aber antwortete: Daß sie denselben mit gutem Recht ... laut ihres Müntz-Privilegii, in welchem ihro dises Gepräg vorgeschriben seye, führe. Sie halte sich damit nicht denen Venetianern, Genuesern und Schweitzern gleich, sondern allen andern des H. Reichs freyen ohnmittelbaren Stätten, denen der Titul einer Republic von dem Kayser und gantzenReich vorlängst gegönnet worden40 . " Der Reichshofrat hat während des 18. Jh. die im Westfälischen Frieden den Reichsständen zugesprochene Landeshoheit von der vollen Souveränität unabhängiger Staaten abgegrenzt und den Reichsstädten die Selbstbenennung als Republik untersagt. In einer vielzitierten Resolution des Reichshofrates vom 21. Juni 1717, die auch Moser wiedergibt, tat der Gerichtshof "die Erinnerung", "das ungewohnliche Wort: Republique von denen Reichs-Stätten allenthalben zu unterlassen" 41. Neben der freistaatliehen hat sich während der Frühen Neuzeit die weitgefaßte Begriffsfüllung erhalten, welche die Zivilisten im späten Mittelalter entwickelt haben, die Bedeutung von respublica als ein auf dem Rechtskonsens der Bürger beruhender, die allgemeine Wohlfahrt anstrebender, anstaltlieh gefaßter unabhängiger politischer Verband. Freilich belegen die Wörterbücher seit dem 17. Jh., daß die freistaatliche Bedeutung in den Volkssprachen die übliche geworden war. So liest man im Dictionnaire der Französischen Akademie von 169542 : "Republique. Estat gouverne par plusieurs." Die weite Begriffsfüllung erschien nur noch als Nebenbedeutung: "Il se prend quelquefois pour toute sorte d'Estat, de Gouvernement." "Republicain" im Sinne von ,Republikaner' bezog sich gar ausschließlich auf Freistaaten; nachgewiesen wurden hierfür die Bedeutungen "Qui vit dans une Republique", "Celuy qui aime le gouvernement des Republiques" sowie der Parteibegriff "Mutin, seditieux, qui a des sentimens opposez a l'Estat Monarchique, dans lequel il vit." Als Ebd., S. 5. Moser (FN 35). u Ebd., S . 282. 42 Legrand dictionnaire de l'Academie alle Belege in Bd. 2, S. 398. 39 40

Fran~aise,

2. Aufl. Paris 1695 (ND 1968);

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Beispiele hierfür gab das Wörterbuch an: "C'est un franc Republicain, un esprit republicain." Der Parteibegriff bezog sich offenbar auf die englischen Commonwealthmen. In Hübners Lexikon findet sich 1717 die Eintragung: "Republicains, Republicaner, sind solche Leute, welche der Königlichen Gewalt zuwider seynd, oder keine unumschrenckte Gewalt in der Republic einführen wollen. In Engelland sind die so genannten Republicaner von Olivier Cromwels Anhängern und den Rebellen selbiger Zeit übrig geblieben. Sie bestehen aus einigen Presbyterianern und aus allen Independenten im Königreiche43". Die emotionale Aufladung des freistaatliehen Begriffs der Republik zu einem Parteibegriff dokumentiert die Verabsolutierung einer bestimmten Spielart von respublica, der libera republica, zur besten politischen Ordnung. Der körperschaftliche Begriff der respublica war, wie ausgeführt, von seinem Ansatz her nicht auf eine bestimmte Verfassung festgelegt. Die seit der Antike mit respublica verbundene normative Konnotation bezog sich auf die Sicherung des Rechtskonsenses und die Verwirklichung des Gemeinwohls im politischen Verband. Die respublica mochte sowohl durch. eine persona publica, einen Monarchen, als auch durch kommunale Bürgerversammlungen und Amtsträger repräsentiert werden und rechtsverbindlich handeln. Zwei Verfassungsausprägungen wurden während der Frühen Neuzeit freilich häufig als besonders geeignet herausgestellt, die Freiheit der Bürger zu sichern. Zum einen die eingeschränkte Monarchie nach dem Beispiel der englischen "Ancient Constitution", in welcher Fürst und Stände bei allen grundlegenden Entscheidungen wie Gesetzgebung, Steuererhebung und Krieg zusammenwirken. In der eingeschränkten Monarchie realisierte sich nach Ansicht der Zeitgenossen das Gemeinwohl und damit der normative Gehalt der respublica ganz wesentlich durch den Schutz der altüberkommenen "Rechte und Freiheiten" gegenüber der Fürstengewalt, durch Wahrung der libertas im Sinne ständischer Libertät. Die andere Spielart der Freiheitssicherung schien in der sich selbst verwaltenden Bürgergemeinde nach dem Beispiel der oberitalienischen Kommunen vorgezeichnet. Im Unterschied zur negativen Freiheit der eingeschränkten Monarchie verwirklichte sich hier nach dem Urteil vieler Zeitgenossen, denen sich Hans Baron44 und J. G. A. Pocock45 mit ihrem Konzept des Civic Humanism angeschlossen haben, partizipatorische oder positive Freiheit. 43 J. Hübner, Reales Staats-, Zeitungs- und Conversations-Lexicon, 8. Aufl., Leipzig 1717, Sp. 1439; es ist zu lesen "keine" statt irrtümlich "eine unumschrenckte Gewalt". 44 H . Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance: Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, 2. Aufl. Princeton, NJ, 1966. 45 J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton, NJ, 1975.

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Als Voraussetzung für deren Wirksamkeit galt die Bürgertugend. Ptolemäus von Lucca hat in seinem Beitrag zum Traktat "De regimine principum" des Thomas von Aquin herausgearbeitet, die Bürgerfreiheit bedürfe einer spezifischen politischen Ethik, die an den Zustand der Menschheit vor dem Sündenfall gemahne und den Geist der Tugend, Weisheit und Freiheit atme, so wie er im republikanischen Rom geherrscht habe46 oder wieer-der Autor schrieb um 1300- in manchen Gebieten Oberitaliens zu beobachten sei47. Wo die Einwohner eine verdorbene und knechtische Gesinnung haben, sei die Monarchie die angemessene Regierungsform48. Bereits Thomas von Aquin hat in dem von ihm verfaßten Teil von "De regimine principum" die segensreichen Auswirkungen des Bürgersinns hervorgehoben: "Experimento videtur quod una civitas per annuos rectores administrata, plus potest interdum quam rex aliquis, si haberet tales tres vel quatuor civitates", das Beispiel der römischen Republik erweise das49. Andererseits hat der Aquinate festgehalten: "Fere omnium multorum regimen est in tyrannidem terminatum, ut in romana republica manifeste apparetso." In einer Phasenverschiebung von eineinhalb bis zwei Jahrhunderten folgte auf die schöpferische Allverwandlung des Corpus Juris Civilis durch die hochmittelalterliche Jurisprudenz die an Aristoteles anknüpfende Begründung einer politischen Philosophie, der scientia politica. Nachdem Wilhelm von Moerbeke die "Politik" des Aristoteles im späten 13. Jh. ins Lateinische übersetzt und Thomas von Aquin dazu einen Kommentar verfaßt hatte, wurde die politische Theorie des Stagiriten für Jahrhunderte zum grundlegenden Referenztext politischer Reflexion, bis im Verlauf der Frühen Neuzeit die Naturrechtslehre bestimmend wurde. Ich komme damit zum zweiten Teil meiner Ausführungen, zum Gebrauch von respublica im politischen Aristotelismus und in der Naturrechtsschule. In den zahlreichen Traktaten über Politik, welche seit dem 14. Jh. Aristoteles' politische Theorie fortentwickelten und auf die zeitgenössischen Verhältnisse und Probleme anwendeten, läßt sich in einem zentralen Punkt eine folgenreiche Akzentverschiebung beobachten, nämlich in bezug auf das Verhältnis von polis und politeia, bei Moerbeke latinisiert in civitas und politia. Aristoteles hatte politeia als bios oder taxis poleos definiert, als Leben oder Ordnung der polis. Unter polis oder koinonia politike verstand 46 Ptolemaeus de Lucca, De regimine principum continuatio, Buch 2, Kap. 9, in: Thomas von Aquin, Opera omnia, hrsg. v. R. Busa, Bd. 7, 1980, S. 552. 47 Ebd., Buch 4, Kap. 1, S. 562. 48 Ebd., Buch 4, Kap. 8, S . 564. 49 Thomas von Aquin, De regimine principum, Buch 1, Kap. 5, in: ders. (FN 46), Bd. 3, S. 596. so Ebd., Buch 1, Kap. 6, S. 598.

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Aristoteles die Bürgergemeinde, den Personenverband der freien Hausväter oder Bürger, der polites, mit Ausschluß der Metöken und Sklaven. Der Bürgerverband wurde beim Stagiriten als umfassende politische Vereinigung oberhalb der Dorfgemeinden und Haushalte gefaßt. Politeia umschrieb das Wirken der Bürger in Ämtern und Behörden, die Herrschaft der Bürger über ihresgleichen und natürlich über die Nichtbürger. Polis, der Bürgerverband, stand im Zentrum der Verfassungstheorie, politeia zielte auf die institutionelle Ausgestaltung des Bürgerverbandes. Im frühneuzeitlichen Aristotelismus wurde demgegenüber politia nicht so sehr als die institutionelle Ordnung aufgefaßt, in deren Rahmen die Bürgerschaft tätig wird, sondern weit mehr als Wirkkraft begriffen, als forma, welche die Bürgerschaft im Sinne einer materia des Politischen überhaupt erst zum politischen Verband konstituiert. Politia wurde in den Rang einer die politische Einheit stiftenden Kraft erhoben. Aristoteles hatte politeia als taxis poleos definiert- bei Moerbeke las man dementsprechend: "Est autem politia ordo civitatis" 51 -, Thomas ging einen Schritt weiter und paraphrasierte in seinem Kommentar: "Dicit quod politia nichil est aliud quam ordinatio civitatis52." Nicole Oresme stellte dann in seiner 1374 vollendeten kommentierten Übersetzung von Aristoteles' Politik fest: "Les hommes ou les gens sont la matiere de la cite, mes l'ordenance et la gubernacion de elle, ce est la forme de ellesa." Während Aristoteles die politische Organisation der polis aus der genuin politischen Natur des Menschen ableitete, wurde nun die Bildung des politischen Verbandes entsprechend dem Entwicklungsmodell der Entelechie als Ergebnis einer Formierung interpretiert. Die in diesem Sinne zu verstehende Entpolitisierung der civitas schlug sich in einer Schule machenden Neuübersetzung von koinonia politike und koinonia politon nieder. Moerbeke hatte hierfür die Ausdrücke communicatio politica und communicatio civium gewählt, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus und Marsilius von Padua verwendeten in gleicher Bedeutung auch communitas politica, communitas civilis, communicatio civilis. Oresme übersetzte: "Et ceste communite c'est celle qui est appellee cite et communicacion politique54 ." An die Stelle solcher Wendungen trat seit dem 15. Jh. societas civilis. Societas wurde von den Juristen der Zeit nicht zuletzt zur Bezeichnung von Kaufmanns- und Handelsgesellschaften verwendet, die nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten gebildet waren. Der Übergang von communio oder communitas zu societas entsprach dem Übergang von der Gemeinschaft zu Gesellschaft im Sinne von Tönnies' 51 In der Übersetzung von Buch 3, Kap. 5, in: Thomas von Aquin, Opera omnia iussu Leonis XIII P.M. edita, Bd. 48, Rom 1971, Teil A, S. 200. 52 Thomas von Aquin, Sententia libri politicorum, ebd., S. 201. 53 N. Oresme, Le livre de politiques d' Aristote, hrsg. v. A. Douglas Menut, Philadelphia 1970 (= Transactions of the American Philosophical Society 60/6 N. F.), S. 119 A. 54 Die Belege bei Mager (FN 1), S. 569.

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Begriffsbildung. Die Idee, daß die politische Ordnung der Bürgerschaft aus der politischen Natur der Bürger erwachse, trat in den Hintergrund, die Bürgerschaft wurde zunehmend als Ergebnis einer Setzung begriffenss. Die Neubestimmung des Verhältnisses von polis (civitas) und politeia (politia) im politischen Aristotelismus des späten Mittelalters erlangte in dem Augenblick folgenreiche Auswirkungen auf die Begriffsgeschichte von respublica, als im 15. Jh. Moerbekes Latinisierung von Aristoteles' Politik durch die Neuübersetzung des Humanisten Leonardo Bruni verdrängt wurde, in welcher durchgängig politeia mit respublica wiedergegeben war. Statt "Est autem politia ordo civitatis" (Moerbeke) las man bei Bruni: "Est autem respublica ordinatio civitatisss." Brunis Übersetzung hat nicht zuletzt deshalb schulbildend gewirkt, weil Ludovicus Valentina, der 1492 Thomas' Kommentar zur Politik des Aristoteles edierte, dieser Ausgabe Brunis Übersetzung beigab und im Text des Aquinaten durchweg politia durch respublica ersetzte. So las man statt "Dicit quod politia nichil est aliud quam ordinatio civitatis" (Thomas v. Aquin) jetzt: "Dicit quod respublica nihil est aliud quam ordinatio civitatis57." Alle Editionen des Kommentars vor der Leonina (1971) sind der Valentina gefolgt und haben damit die Autorität des Aquinaten für die nichtauthentische Verwendung von respublica an Stelle von politia in Anspruch genommen. Der politische Aristotelismus der frühen ~euzeit hat sich den von Leonardo Bruni und Ludovicus Valentina propagierten Wortgebrauch zu eigen gemacht, zumal auch die 1576 erschienene, vielbenutzte Übersetzung von Aristoteles' Politik durch Petrus Victorius politeia mit respublica wiedergab58. Als Beispiel sei das Traktat "De Republica, seu relectionis politicae libri duo" des Helmstedter Professors Henning Arnisaeuss9 angeführt, über das eine Monographie meines Bielefelder Kollegen Horst Dreitzel vorliegt60 • Das Werk zerfällt in zwei Bücher, "quorum primus-ich gebe den Wortlaut des Untertitels wieder- agit de civitate et familiis, secundus de rerumpublicarum natura et differentiis". In immer neuen Ansätzen bekräftigte Arnisaeus seine Grundthese, daß die civitas als Stoff, die respublica als Form des politischen Verbandes zu Ebd., S. 569f. L . Bruni, Aristotelis libri politicorum, in: Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Bd. 3, Libri moralem totam philosophiam complectentes, Ed. Venedig 1562 (ND 1962), fol. 249 v. 57 Thomas von Aquin, 1n octo libros politicorum Aristotelis expositio, hrsg. v. R. M. Spiazzi, Turin I Rom 1966, S. 136; vgl. Mager (FN 1), S. 566f. 58 Abgedr. in: Conring (FN 38), Bd. 3, S. 496-717. 59 Erschienen 1615, benutzt nach der 2. Aufl. Straßburg 1636. 60 Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ,Politica' des Henning Arnisaeus (ca. 1575- 1636), 1970. 55

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betrachten sei: "Respublica enim est forma simul et finis civitatis61 ." Die civitas blieb bei Arnisaeus ein herrschaftsfreies Aggregat von Haushalten, "potestas vero et leges ad civitatem non pertinent" 62, die civitas wurde begriffen "ab omni majestate, legibus, jurisdictione et caeteris partibus Reipublicae abstrahenda"63. Nach Arnisaeus erhält die amorphe civitas erst durch die respublica ihre Gestalt. Der Autor definierte in Anlehnung an Aristoteles respublica als "ordo civitatis, turn aliorum imperiorum, turn praecipue summae potestatis, a qua profluit regimen per medios magistratus in universos subditos" 64 oder knapper als "ordo inter parentes et imperantes, dependens potissimum ab una summa potestate, quam nos Majestatem proprie dici ... probabimus"65. Nach dieser Definition von respublica, welche Bodins Souveränitätsbegriff aufnahm, bestimmte sich der souveräne politische Verband durch Zentralgewalt, Rechtsordnung, Verwaltungsstab und die Umformung der Bürger in. Untertanen. Die von Arnisaeus als Entelechie begriffene Formierung der civitas durch die respublica entsprach einer Grundanschauung der politischen Aristoteliker der Frühen Neuzeit. Die Belege dafür sind Legion. Ich füge ein signifikantes Beispiel an, es stammt von Balthasar Cellarius, der respublica wie Arnisaeus als "ordo ... qui inter parentes est et imperantes" 66 definierte und das Verhältnis von civitas und respublica dann wie folgt umschrieb: "Subjectum primum atque immediaturn Reipublicae est civitas, quae quatenus talis est, sine ordine concipienda atque ab omni imperio abstrahenda. Ordinata enim civitas etiam formam complectitur, quae est Respublica, unde et civitatis appellatur vita67." Zu fragen ist, was die Verdrängungvon politia durch respublica zu bedeuten hat. Es sei daran erinnert, daß der spätmittelalterliche und frühneuzeitliche politische Aristotelismus auf eine spezifische Problemlage bezogen war. Der körperschaftliche Begriff der respublica setzte die Ausbildung anstaltlieh organisierter Einheiten voraus und umschrieb die institutionellen Modalitäten der Vertretung, Haftung und Gewaltenübertragung. Die politischen Aristoteliker thematisierten demgegenüber die Begründung, Durchsetzung und Konsolidierung des frühmodernen institutionellen Staats als dynamischen Prozeß und faßten diesen Prozeß mittels des Begriffs der politia, verstanden als forma civitatis, als Wirkkraft. Indem bei den politischen Aristotelikern respublica an die Stelle von politia trat, erhielt respuArnisaeus (FN 59}, Buch 1, Kap. 5, Abschnitt 3, Nr. 4, S. 216. Ebd., Nr. 6, S. 216. 63 Ebd., Nr. 9, S. 217. 64 Arnisaeus (FN 59}, Buch 2, Kap. 1, Abschnitt 1, Nr. 14, S. 296. 65 Ebd., Nr. 12, S. 296. 66 B . Cellarius, Politicae succinctae, ex Aristotele potissimum erutae .. . libri duo, Buch 2, Kap. 1, § 13, erschienen 1645, benutzt nach der 9. Aufl. Jena 1674, S. 89. 67 Ebd., § 9, S. 88. 61

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blica neben der juristisch-instrumentellen Bedeutung, die nicht verlorenging, eine philosophisch-dynamische Begriffsfüllung. Zwei Ausprägungen dieses dynamischen Begriffs der respublica lassen sich beobachten, die bürgerschaftliehe und die fürstlich-obrigkeitliche. Respublica wurde im Umfeld des Civic Humanism als Bürgergemeinde begriffen, die aus dem Bürgerwillen hervorgeht, von der Bürgertugend beseelt wird und sich in den von Bürgern vollzogenen Wahlen und den von ihnen bekleideten Ämtern institutionalisiert. Wie Pocock deutlich gemacht hat, wurde dieser im Florentiner Humanismus entwickelte dynamische Begriff der bürgerschaftliehen respublica und des vivere civile unter veränderten Umständen seit dem 17. Jh. in England und in Nordamerika geschichtsmächtig. Im fürstlichen Umfeld entstand demgegenüber ein obrigkeitlicher Begriff der dynamischen respublica. Anstaltlieh organisierte Territorialherrschaft wurde hier auf das fürstliche Regiment zurückgeführt, das untergeordnete Herrschaftsgebilde überformt und zur Einheit des politischen Gesamtverbandes integriert, wobei die normative Konnotation von respublica den von Fürsten vorangetriebenen Staatsbildungsprozeß zugleich legitimiert. Zu beachten ist, daß gemäß dieser Ausprägung von respublica die ständischregionalen Partikulargewalten ihrer angestammten Autonomie teilhaftig bleiben, solange nur Fürstenherrschaft im Rahmen der "gemäßigten Monarchie" ausgeübt wird. Selbst Bodin, der die "summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas" des Fürsten herausstrich, bekannte, ohne die "Bande der Freundschaft und des Wohlwollens" 68 könne die Republik nicht bestehen, "laquelle amitü~ ne se peut maintenir que par alliances, societes, estats, communautes, confrairies, corps et colleges". Der Autor betonte: "Demander si les communautes et colleges sont necessaires ala Republique, c'est demander si la Republique peut estre maintenue sans amitie, sans laquelle mesme le monde ne peut subsister69 . " Der Anspruch kirchlicher Körperschaften auf weitgehende Unabhängigkeit von der weltlichen Gewalt wurde freilich zunehmend als widersinniges Pochen auf "respublica in republica" verworfen70. In dem Maße, wie die frühmodernen bürokratisch-zentralistischen Obrigkeiten in den monarchisch verfaßten Staaten die "Rechte und Freiheiten" der teilautonomen Korporationen und Regionen beseitigten, also dazu tendierten, die civitas in die respublica einzuschmelzen, ging die Gesellschaft der von Bodin angesprochenen "Freundschaft" verlustig, ihres inneren 68 "L'amitie et bienveillance des uns envers les autres" , J. Bodin, Les six livres de la Republique, Buch 3, Kap. 7, erschienen 1576, benutzt nach der Aufl. Paris 1583 (ND 1961), S. 495. 69 Ebd., S. 496. 1o Vgl. Mager (FN 1), S. 572 .

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Zusammenhalts. Damit wurde dem politischen Aristotelismus im Umfeld der absoluten Monarchien die Grundlage entzogen. Die Antwort auf den Plausibilitätsverlust des politischen Aristotelismus gab das Sozial- und Verfassungsprogrammder Naturrechtsschule. Die politische Theorie der Naturrechtier ist im 16. Jh. als sogenannte Schule von Salamanca entstanden, im 17. Jh. sind die klassischen Schriften von Grotius, Hobbes und Pufendorf herauszuheben, im 18. Jh. erreichte die ältere Naturrechtsdoktrin bei Christian Thomasius und Christian Wolf/ihre vollkommenste Ausprägung. Im folgenden werde ich mich auf die Wiedergabe einiger Definitionen von civitas und respublica beschränken, die Christian Wolffs Schriften entnommen sind. Sie wurden teilweise vom Autor in lateinischer und deutscher Fassung vorgelegt und eignen sich deshalb besonders gut für eine begriffsgeschichtliche Untersuchung. Wolff leitete den Staat (civitas) aus dem Bedürfnis der Menschen ab, "dasjenige durch gemeinschaftliche Kräfte zu erhalten, was eintzele Häuser vor sich nicht erhalten können", nämlich "hinlänglichen Lebensunterhalt" (sufficientia vitae), "Ruhe" (tranquillitas) und "Sicherheit" (securitas)n. Der Staat entsteht, indem sich eine Menge Menschen mittels Vertrag um des gemeinen Bestenwillen zusammenbegibt und insofern als "Bürger" die bürgerliche Gesellschaft begründet72. "Eine Gesellschaft, die zu dem Ende gemacht wird, heisset ein Staat (civitas)1 3 . " Zugleich mit dem Staat entsteht "Herrschaft", nämlich die "Herrschaft in einem Staate" oder "die Staatsherrschaft" (imperium civile)14, welcher "die höchste Gewalt" (imperium summum) eignet75. Zentral war der Gedanke, daß, "da die Herrschaft in einem Staate aus seiner Absicht ermessen werden muß", "sie sich nicht weiter als auf die Handlungen der Bürger, welche zur Beförderung der gemeinen Wohlfahrt gehören", erstreckt. Daraus folgt: "Da nur bloß in Absicht 71 Chr. Wolf!, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, § 972, Halle/Saale 1754 (ND 1980 = Gesammelte Werke, hrsg. v. J. Ecole u.a., Abt. I, Deutsche Schriften, Bd. 19, Hildesheim I New York), S. 697. 72 Zum Unterschied von Mensch und Bürger bemerkt Wolff, ebd., § 974, S. 698: "Die Menge der Menschen die sich in einen Staat zusammen begeben, nennt man ein Volck (populus, gens). Eine Menge Menschen also, die in einer andem Absicht als derjenigen, die bey einem Staate statt findet, sich in eine Gesellschaft zusammen begeben, ist kein Volk. Die Glieder eines Staats, oder alle und jede, welche eine bürgerliche Gesellschaft ausmachen, werden Bürger (civis) genannt." n Ebd., § 972, S. 697; lat. Fassung dieses §: "Societas eo fine contracta Civitas appellatur", Institutiones juris naturae et gentium, Halle an d. Saale I Magdeburg 1750 (ND 1969 = Gesammelte Werke, hrsg. v. J. Ecole u.a., Abt. II, Lateinische Schriften, Bd. 26, Hildesheim), S. 597. 74 Ebd., § 979, S. 701. 75 Ebd., § 981, S. 702.

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dieser Handlungen die natürliche Freyheit der einzelen Glieder eingeschränkt wird; so bleibt sie in Ansehung der übrigen Handlungen ungekränckt76 ." Mit anderen Worten: Soweit der Staatszweck verfolgt wird, ist die Souveränität unbegrenzt, sie reicht andererseits nicht weiter als bis zum Einsatz der Mittel, die zur Verwirklichung des Staatszwecks erforderlich sind. Zum Verhältnis von civitas - "idiomate patrio ein Staat" 77 -und respublica- "idiomate patrio das gemeine Wesen" 78 - stellte Wolff fest : "Die Einrichtung eines Staats nennt man das gemeine Wesen (respublica). Obgleich einige den Staat und das gemeine Wesen für einerley halten, so geschieht dieses doch mit Unrecht; massen der Vertrag, wodurch ein Staat errichtet wird, von der Einrichtung desselben unterschieden ist, in welcher man die Mittel, die Absicht des Staats zu erreichen, fest stellet. Denn aus jenem erhält der Staat noch nicht seine besondere Art (forma specifica), sondern aus dieser79." Respublica umschrieb die Regierungsverfassung. Wolff unterschied davon Verwaltung und staatliche Daseinsvorsorge, bezeichnete diese als "constitutio Reipublicae", "Einrichtung einer Republick" 80, und hob hervor: "Ut respublica rite constituatur, ostendendum est, quid fieri debeat, ut in civitate abundent ea, quae ad vitae necessitatem, commoditatem et jucunditatem requiruntural." Worin lag die Neuartigkeit in Wolffs Begriffsfüllung von civitas und respublica sowie in seiner Bestimmung des Verhältnisses von civitas und respublica? Der Naturrechtier zog die Konsequenz aus der Entpolitisierung der Gesellschaft, der Auflösung der ständisch-korporativen "Bande der FreundEbd., § 980, S. 701. Definition der civitas bei Chr. Wolf!, Jus naturae methodo scientifica pertractatum, Teil 8, De imperio publico, seu jure civitatis, § 4, Halle an d. Saale I Magdeburg 1748 (ND 1968 = Gesammelte Werke, hrsg. v. J. Ecole u. a., Abt. II, Lateinische Schriften, Bd. 24, Hildesheim), S. 5: "Societas inter plures domus contracta eo fine, ut conjunctim sibi parent ad vitae necessitatem, commoditatem ac jucunditatem, immo felicitatem requisita, et curent, ut unusquisque jure suo quiete fruatur et tuto ab alio id consequatur, atque se suaque adversus vim quamlibet extemam defendant, Civitas dicitur, idiomate patrio ein Staat." 78 "Civitat_is ordinatio dicitur Respublica, idiomate patrio das gemeine Wesen", ebd., § 16, S . 11. 79 Wolf! (FN 71), § 973, S. 698; lat. Fassung: "Civitatis ordinatio Respublica dicitur, quamvis civitas et Respublica a nonnullis pro synonymis habeantur, sed perperam, cum aliud sit pactum, quo civitas constituitur, alia conventio, qua consentitur in media finem civitatis consequendi. Ex illo nimirum civitas formam suam specificam nondum nanciscitur, quam ex hac demum acquirit" , Institutiones, § 973, S . 598. 80 " Die Einrichtung einer Republick ist die Bestimmung der Art, wie der Endzweck eines Staats erhalten werden soll" , Wolf! (FN 71), § 1017, S. 729; "Constitutio Reipublicae est determinatio modi, quo finis civitatis obtinendus", Institutiones, § 1017, s. 624. 81 Wolf! (FN 77), Teil 8, § 394, S. 293. 76

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schaftund des Wohlwollens", ohne die nach Bodin das Gemeinwesen nicht existieren kann. Der Bürger galt nicht länger, wie im Aristotelismus, als vorgegeben, sondern als zu schaffen. Darin lag der tiefere Sinn des naturrechtlichen Vertragsmodells. Die Naturrechtier gingen in ihrer Gesellschaftsund Staatskonzeption nicht, wie die Aristoteliker, vom Bürger aus, sondern vom Menschen (homo), den sie als frei von jedweder ständischen Qualität konzipierten. Nach diesem Ansatz verwandelt sich der Mensch in den Bürger, indem er sich mit seinesgleichen vergesellschaftet. Als unausgesprochene oder ausgesprochene Vorbedingung zur Teilhabe am Gesellschaftsvertrag wurde eine Qualität neuer Art angesehen, die Verfügung über Besitz und Bildung. Civitas umriß die Vereinigung der in diesem Sinne autonomen Hausväter zur bürgerlichen Gesellschaft als dem Träger der Souveränität. Daraus ergab sich eine neuartige Bestimmung des Verhältnisses von civitas und respublica. Im politischen Aristotelismus stand civitas für die Gesamtheit der Bürger (im Sinne ständisch-korporativer Macht- und Gewaltenträger), die auf bürgerschaftliebem (im Sinne des Civic Humanism) oder fürstlich-obrigkeitlichem Wege zum Gesamtverband, der respublica, integriert werden, vollendete sich die civitas, entsprechend dem Prozeßmodell der Entelechie, in der respublica. Demgegenüber stellte für die Naturrechtier die Erzeugung eines einheitlichen politischen Willens der über Besitz und Bildung verfügenden Hausväter den entscheidenden Schritt zur Bildung des politischen Verbandes dar. Civitas rückte in den Vordergrund, respublica wurde zum "Mittel, die Absicht des Staats zu erreichen", zum Instrument im Dienste des Staatszwecks82 herabgestuft, zum "Modus habendi imperium", wie Wolff ausführte, und zwar dergestalt, wie er hervorhob, "ut modus habendi imperium nihil mutet in ipso imperio" 83 . Trat bei den Aristotelikern für respublica der volkssprachliche Ausdruck ,Staat' ein, so setzte Wolff ganz im Gegenteil civitas mit ,Staat' gleich und gab respublica mit "Einrichtung eines Staats" wieder. Es lag die Konsequenz nahe, respublica durch einen Ausdruck zu ersetzen, der die angesprochene modale Funktion wiedergibt, nämlich durch ,Verfassung', ,Konstitution'. Bei Wolff deutete sich der terminologische Umschwung bereits an. In den breit angelegten Ausführungen "De Republica constituenda" ("Von der Einrichtung einer Republik") erscheint constitutio im Sinne der "determinatio modi, quo finis civitatis obtinendus"84. Eine solche modale Verwendung von Konstitution oder Verfassung findet sich in Montesquieus "De l'esprit des lois" an zentraler Stelle, nämlich in der Überschrift von Buch 11: "Des lois qui forment la liberte politique dans son rapport avec la constitution", sowie in der Überschrift zum Kapitel 6 82

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Wolf! (FN 71), § 973, S. 698. Wolf! (FN 77), Praefatio. Wolff(FN 71), § 1017, S . 624.

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dieses Buches mit den berühmten Ausführungen über die englische Verfassung: "De la constitution d' Angleterre". Constitution wurde in England 1771 zum politischen Schlagwort, als sich während der Agitation um die Ausweitung des Wahlrechts zum Unterhaus die Constitutional Society und die Grand National Society for Restoring the Constitution bildeten. Einen erheblichen Einfluß auf die Begriffsbildung von Konstitution und Verfassung übte dann das vielgelesene Werk des Schweizer PublizistenJean-Louis de Lolme über die "Constitution de l'Angleterre" (1771)85 aus, die deutsche Fassung (1776) trägt den Titel "Die Staatsverfassung von England, oder Nachricht von der englischen Regierung, worinn sie mit der republikanischen Form und gelegentlich mit den andern Monarchien in Europa verglichen wird" . Es wird nicht überraschen, wenn seit dem späten 18. Jh. die deutschen Naturrechtier in volkssprachlichen Texten respublica durch Konstitution oder Staatsverfassung ersetzten. So erklärte Theodor Schmalz in seinem Traktat über "Das natürliche Staatsrecht": "Der Inbegriff aller Modificationen des Unterwerfungsvertrages heißt die Staatsverfassung, die Regierungsform (forma reipublicae)as." Unter den Begriff der Konstitution oder der Staatsverfassung wurde eine neuartige Problematik gefaßt, welche sich aus der naturrechtliehen Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Regierung ergab. Innerhalb der Grenzen, die der Staatszweck zieht, hat nach naturrechtlicher Konzeption die Regierung unumschränkte Befugnisse. Es stellte sich das Problem der Domestizierung und Kontrolle der Regierung zur verfassungsmäßigen Sicherung der politischen Freiheit. Im modernen Konstitutionalismus wurde vor diesem Hintergrund das Programm der Gewaltenteilung, der Repräsentativverfassung und der Grundrechtssicherung entwickelt.

Rousseau entfaltete daran anschließend im "Contrat Social" einen neuartigen Begriff der Republik, an den die seitherige Reflexion über die Legitimität politischer Ordnung angeknüpft hat: "J'appelle ... republique tout Etat regi par des lois, SOUS quelque forme d'administration que ce puisse etrea7." "Pour etre legitime, il ne faut pas que le gouvernement se confonde avec le souverain, mais qu'il en soit le ministre: alors la monarchie elle meme est republique88."

85 Der Untertitel lautet: "Etat du gouvernement anglais compare avec la forme republicaine et avec les autres monarchies de l'Europe". 86 Th. Schmalz, Das natürliche Staatsrecht, § 200, erschienen 1794, benutzt nach der 2. Aufl. Königsberg 1804 (ND 1969), S. 108; s. auch ebd., § 86, S. 52: "Der Inbegriff aller Bedingungen des Unterwerfungs-Vertrages heißt: Die Staats-Verfassung, Regierungsform, Constitution". 87 J. J. Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique, Buch 2, Kap. 6, Ausg. Classiques Garnier, Paris 1954, S. 259. 88 Ebd.

Aussprache Quaritsch: Der Vortrag hat mir außerordentlich viel gegeben. Unklar ist mir noch der Grund, weshalb die Republik als die Staatsform der aristokratisch oder demokratisch regierten Gem~inwesen begriffen und den souveränen Monarchen bis ins 18. Jh. gegenübergestellt wurde. Das war, wenn ich richtig sehe oder verstanden habe, die Sprache der politischen Praxis, während die Gelehrten im 17. und 18. Jh. den Begriff der Republik erweiterten, so daß schließlich die souveräne Monarchie nur eine Form der respublica und das aristotelische Schema wiederhergestellt war. Ich möchte einen Erklärungsversuch anbieten, weshalb die "Republik" zunächst die Monarchie nicht einschloß. In dem Begriff der respublica verdeutlichte sich ein Denken, das in ihr die Heimstatt freier Bürger sah, oder, um ein Wort von Herrn Willoweit aufzunehmen, der Begriff stand für das Paradigma bürgerschaftlicher Freiheit, nämlich die freie Reichsstadt, die dann, das wäre nachzutragen, immer mehr verschwand und von fürstlichen Flächenherrschaftsstaaten aufgesogen wurde. In der praktischen Politik bis zur ersten Hälfte des 18. Jh. wurde die Republik nicht oder jedenfalls nicht nur so betrachtet, sondern als Stichwort für eine überholte Verfassungsform genommen. "Republik" signalisierte politische Schwäche. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. hat in seinem politischen Testament von 1722 die "Republik" Polen seinem Nachfolger geradezu ans Herz gelegt: "Ihr müßtet mit aller macht bearbeitten das es eine Republicke bleibe und das nicht ein suwerener König seyn sondern bestendig eine freie Republicke verbleibe." Warum? "Polnische Freiheit" garantierte, daß Polen für Preußen gefahrlos blieb. Als durchorganisierte souveräne Monarchie wäre Polen eine natürliche Gefahr für Preußen geworden, eine gewiß realistische Einschätzung der geopolitischen Lage Preußens. Die Republik der Niederlande war im europäischen Kräftespiel des 18. Jh. kein ernsthafter politischer Faktor mehr. Könnte es sein, daß zwischen Republik und Monarchie kein echter Gegensatz mehr bestand und deshalb die begriffliche Trennung von Republik und Monarchie, die sich von Machiavelli bis Friedrich Wilhelm I. findet, die reale Grundlage verloren hatte? Mager: Bei der Verwendung von respublica ist zwischen juristischem und philosophischem Sprachgebrauch zu unterscheiden. In der juristischen Körperschaftslehre steht respublica für die universitas, die Körperschaft, "quae superiorem non recognoscit". Die mit deren Angelegenheiten betrauten Handlungsträger gelten als rechtliche Vergegenwärtigung (repraesentatio)

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der universitas, die im Namen der Körperschaft beraten und entscheiden. Die Körperschaft handelt mittels Mitgliederversammlungen (bzw. Ausschüssen), d.h. Versammlungen der Körperschaftsmitglieder als Teilen der rechtlichen Gesamtpersonen (ut universi), und mittels bestallter Personen oder Personengruppen, welche im Rahmen der ihnen von der Körperschaft übertragenen Aufgaben und Zuständigkeiten (officia) als Amtsträger (officiarii) tätig werden und in dieser amtlichen Eigenschaft (nomine dignitatis suae), nicht als Privatperson (nomine proprio), die Körperschaft rechtlich verpflichten. Bartolus hat in einer epochemachenden Formulierung als Träger der oberitalienischen Kommunen den populus sibi princeps oder populus liber bestimmt. Daraus ergab sich die Umschreibung des gemeindlichgenossenschaftlich organisierten politischen Verbandes als libera respublica. Baldus hat die Unterscheidung zwischen dem Fürsten als Amtsperson und als Privatperson, als persona publica und persona privata, entwickelt und festgestellt: "Res publica nihil per se agit, tarnen qui regit rem publicam, agit in virtute n!i publicae, et dignitatis sibi collatae ab ipsa re publica." Aus diesem Ansatz ergab sich die Umschreibung des vom Fürsten regierten politischen Verbandes als respublica regni. Wurde der körperschaftliche Begriff der respublica als Oberbegriff auf fürstlich regierte wie kommunal verfaßte politische Einheiten bezogen, so bürgerte sich in verkürzender Ausdrucksweise das Begriffspaar respublica (für libera respublica) und regnum (für respublica regni) ein. Diese Dichotomisierung spiegelt die europäische Verfassungswirklichkeit wider, welche seit dem hohen Mittelalter durch den Gegensatz von Fürsten- und Freistaat bestimmt war. Erinnert sei an Machiavellis Eingangssatz zum "Principe". Soweit die juristische Begriffsbildung von respublica im Rahmen der Körperschaftslehre. Abzuheben hiervon ist die philosophische Begriffsbildung seit der Rezeption von Aristoteles' "Politik". Sie vollzog sich im Umfeld des freistaatliehen Civic Humanism Italiens anders als im Umfeld der monarchisch verfaßten Staatenwelt Mittel- und Westeuropas. Das Schwergewicht meiner Betrachtungen lag auf dem politischen Aristotelismus der frühen Neuzeit, soweit er die von Fürsten vorangetriebene, anstaltlieh organisierte Flächenherrschaft untermauerte. Respublica, begriffen als forma civitatis, als dynamische Wirkkraft im Sinne der Entelechie, nahm in diesem Kontext eine obrigkeitliche Einfärbung an. Im allgemeinen Sprachgebrauch der frühen Neuzeit setzte sich die juristische Bedeutung von respublica im Sinne von Freistaat durch. Hierzu mag ganz wesentlich beigetragen haben, daß zahlreiche Freistaaten den Staatsnamen "Republik" annahmen. Eine andere Frage ist es, wie die Zeitgenossen den Entfaltungsspielraum und die Überlebenschancen der Freistaaten im Zeitalter der Monarchie einschätzten. Ich kann mich in dieser Hinsicht den Ansichten von Herrn Quaritsch voll anschließen. Am ehesten wurden

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Republiken Chancen gegeben, wenn sie sich wie die Schweizer Eidgenossen oder die Vereinigten Niederlande zu Föderationen zusammenschlossen. Cromwells Commonwealth wurde von den Zeitgenossen als eine Verlegenheitslösung betrachtet. Die Restauration der Stuarts schien zu bestätigen, daß für einen großen Flächenstaat die republikanische Verfassung schwerlich geeignet sei. Von den Juristen wurde bis ins 18. Jh. respublica im körperschaftlichen Sinne begriffen, und zwar in den beiden Hauptausprägungen, von denen die Rede war, der freistaatliehen in der Tradition des Bartalus und der fürstenstaatlichen in der Tradition des Baldus. Insofern war in den Augen der Juristen die Monarchie durchaus als respublica, als körperschaftliches Gemeinwesen, zu verstehen. In diesen Zusammenhang gehört der Ausdruck respublica christiana. Verstanden wurde darunter die Christenheit als Körperschaft unter der Leitung des Papstes. Johannes von Torquemada hat den Vergleich zwischen der weltlichen und der kirchlichen Körperschaft ausdrücklich gezogen: "Quemadmodum in omni republica bene ordinata dandus erat unus praesidens in ea, qui totam rempublicam posset auctoritate sua movere ad omnia, maxime sine quibus salus reipublicae stare non posset; ita etiam in communitate ecclesiae necessario erat dandus unus princeps, qui ad ea quae maxime conferunt ad salutem fidelium ... sua auctoritate et magisterio totam ipsam christianam rempublicam moveret et dirigeret", nämlich der Romanus pontifex als "presidens super totam rempublicam christianam" (Summa de ecclesia, Buch 2, Kap. 107). Respublica im Sinne eines fürstlich regierten Gemeinwesens schloß den Bürgerbegriff nicht aus. Die Mitglieder der Körperschaft ut universi, also als Teile der rechtlichen Gesamtperson, wurden als cives gefaßt: Ut singuli, also als einzelne, waren sie subditi.

Borck: Eine kleine Randbemerkung möchte ich hier machen, die sich auf die Kameralisten bezieht. Mir scheint nämlich, daß die von Herrn Quaritsch vorgetragene Gleichsetzung von Republik und Schwäche sich in dieser allgemeinen Form als Meinung des 18. Jh. nicht vertreten läßt. Ich habe jetzt vor Augen beispielsweise die Veröffentlichung von Johann Heinrich Gottlob von Justi, Staatswirtschaft, von 1748. Nicht die allgemeine Definition der Staatsaufgaben als Sorge für die allgemeine Wohlfahrt, die sich dort findet, ist hier von Interesse, wichtig ist vielmehr die von Justi gestellte Frage: Wodurch wird Wohlfahrt, wodurch wird Wohlstand der Bevölkerung erreicht? Als leuchtende Beispiele werden nun gerade die freien Republiken Europas angeführt. Dabei beschäftigt sich der Kameralist im wesentlichen mit der Frage, ob die in den absolutistischen Polizeistaaten in Überfülle existierenden Gesetze und obrigkeitlichen Regelungen den Wohlstand der Bevölkerung herbeiführen können oder ob das Gegenteil der Fall ist. Dies ist

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bekanntlich ein Gedanke, der durchaus aktuell ist, der in der heutigen Tagespolitik eine Rolle spielt. Auch Justi ist der Meinung, die wir heute vom amerikanischen Präsidenten Reagan kennen: Je weniger Gesetze, desto besser die Möglichkeiten der freien Entfaltung der Bürger, und je freier die Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger, desto leichter die Gewinnung von Wohlstand. Die Gewinnung des Wohlstandes aller einzelnen aber führt zur allgemeinen öffentlichen Wohlfahrt. Dieses Prinzip sieht Justi am besten verkörpert in den freien Republiken, nämlich in Italien und in Holland. Dies ist, wie ich meine, das Gegenteil der uns vorgetragenen Gleichsetzung. Frost: Ich möchte eine ganz kleine begriffsgeschichtliche Komponente noch hinzutragen zur Verhältnisbestimmung zwischen den Provinzen und den Vereinigten Niederlanden. Sie brachten also die Definition, daß keine der Provinzen über die andere Macht oder Herrschaft haben sollte, daß also von dorther die Gleichberechtigung der Glieder dieser quasi-föderativen Vereinigung zu bestimmen sei. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß dies eine gewisse calvinistisch-kirchenrechtliche Wurzel hat. Bei den ersten Versuchen, eine Kirchenordnung für die niederländischen Reformierten herzustellen, 1571 auf der Synode zu Emden, ist in der Anfangsklausel fast der gleiche Wortlaut für die Verhältnisbestimmung zwischen der Gemeinde und der Synodalen Gesamtkirche gewählt worden. Wahrscheinlich liegt dort der sprachliche Ursprung, wenn damals formuliert wurde: "Es soll keine Gemeinde über die andere, es soll kein Amtsträger über den anderen, kein Prediger über den anderen, kein Diakon über den anderen usw. irgendeine Form von Macht oder Herrschaft haben." So ist damit fast wörtlich die Verhältnisbestimmung der Provinzen zum Gesamtstaat schon wurzelmäßig angelegt. Mager: Es ist völlig einleuchtend, daß wirtschaftliche Stärke und politische Macht auseinandertreten konnten. Für einen Fürsten war die politische Macht das Entscheidende.

Ogris: Aber mit dieser Frage hat sich Justi auseinandergesetzt. Er hat gesagt: Die Stärke eines Staates kann nur darauf beruhen, daß die freie Entfaltung seiner Bürger möglich ist, ein Staat muß nach außen durch eine starke Armee und nach innen durch eine gute Verteilung des Volkswohlstandes geschützt werden. Mager: Die politische Reflexion kreiste seit der Rezeption von Aristoteles' "Politik" durchaus um Fragen der angeschnittenen Art. Das Interesse der politischen Aristoteliker richtete sich überwiegend nicht so sehr auf die Bestimmung der im absoluten Sinne besten Verfassung als vielmehr darauf herauszuarbeiten, welche Verfassung bei gegebenen Rahmenbedingungen

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jeweils die adäquate sei. Bekannt ist die Kasuistik, die Bartolus in seinem (nicht juristischen, sondern philosophischen) Traktat "De regimine civitatis" in dieser Hinsicht entwickelt hat. Der Autor unterscheidet zwischen Herrschaften ersten, zweiten und dritten gebietsmäßigen Umfangs ("in primo, secundo, tertio gradu magnitudinis") und weist das "regimen ad populum" kleinen politischen Einheiten, das "regimen bonorum" mittelgroßen und das "regimen regis" umfänglichen, aus mehreren Provinzen zusammengefügten Herrschaftseinheiten zu. Immer dann, wenn Gebietsumfang und Verfassungstyp inkongruent werden, droht die Entartung der guten zur schlechten Verfassung, des "regimen ad populum" zum "regimen populi perversi", des "regimen bonorum" zum "regimen malorum" und des "regimen regis" zur "tyrannis". Kleine Kommunen wie Pisa, Perugia und Siena sind nach Bartolus für die .Volksherrschaft prädestiniert, mittelräumige wie Florenz und Venedig für die Adelsherrschaft und großräumige Einheiten wie das Römische Reich oder Gebiete der reges particulares für die königliche Herrschaft. In der frühen Neuzeit bestand die Tendenz, kleinräumigen Freistaaten eine Affinität zu Handel und Gewerbe, großräumigen Fürstenstaaten zu militärischer Stärke zuzusprechen. Pufendorf hat in seiner Lehre von der Föderation unter ausdrücklichem Hinweis auf die Vereinigten Niederlande und die Schweizer Eidgenossen den Versuch unternommen, beide Gesichtspunkte miteinander zu versöhnen, die wirtschaftliche Kraft des freiheitlichen Kleinstaats und die Macht des Großstaats. Die Gründungsväter der Vereinigten Staaten haben bei ihrer föderativen Verfassungsbildung an solche Überlegungen angeschlossen.

Willoweit: In dieser Kontroverse neige ich eher Herrn Quaritsch zu. Jeder kennt doch aus der Lektüre der staatsrechtlichen Literatur des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jh. die Verteidigung der absoluten Monarchie als der optimalen Staatsform. Das war nicht Hofjurisprudenz, sondern Überzeugung. Friedrich Wilhelm I. ist insofern kein Sonderfall. Justi gehört schon dem Zeitalter der Hochaufklärung an, als der freie Staat aller Bürger zu faszinieren begann. Aber bis dahin hat man einfach erlebt und auch theoretisch hergeleitet, daß der absolute Fürstenstaat die höchste Entwicklungsform des Staatswesens überhaupt ist. Polen galt als GegenbeispieL Ich erinnere auch an Herrn Kunischs Arbeiten zu den Sukzessionsordnungen. Das absolute Regiment muß noch festgezurrt werden durch die dynastische Familiengesetzgebung, damit die Staatsform selbst der Disposition des Fürsten entzogen ist. Fragen möchte ich den Referenten nach seiner doch recht scharfen Abgrenzung zwischen den Aristotelikern und den Naturrechtlern. Wird wirklich erst bei den Naturrechtlern die Obrigkeit an Staatszwecke gebunden? Ich glaube nicht. Das bonum commune als generelle Staatszielbestimmung kann man aus den neuaristotelischen Texten gar nicht wegdenken.

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Dem entspricht in der Praxis die gute Polizei, und im Konfessionsstaat dieser Epoche weiß man ganz genau, was das alles konkret zu bedeuten hat. Eine weitere Frage wäre: Wie sieht das eigentlich auf der anderen Seite aus, beim Bürger? Der Bürger ist ja nach Aristoteles derjenige, der an den politischen Angelegenheiten teilhat. Und daraus haben die Aristoteliker gefolgert, Bürger seien die Inhaber der politischen Macht. In der Staatsrechtslehre führt das bekanntlich zu der etwas paradoxen Annahme, die Bürger des Reiches seien die Reichsstände. Meine Frage lautet: Ist das bei den Naturrechtlern im Prinzip anders? Ich glaube, sie wechseln irgendwo nur den Bürgerbegriff aus. Diesen Wandel habe ich nicht ganz verstanden. Mager: Zum ersten Punkt, der absoluten Monarchie als der besten Staatsform. Ich bin nicht ganz Ihrer Meinung. Die Verfechter der absoluten Monarchie bildeten einen Grenzfall. Einen weiteren Grenzfall stellten die Monarchomaehen dar. Dazwischen lag ein breites Spektrum weiterer Positionen. Ich erinnere an die Anhänger der "Ancient Constitution" in England, an die Verfechter der Mischverfassung, an die Befürworter der gemäßigten Monarchie.

Willoweit: Ich räume ein, daß ich die Dinge aus der verengten Reichsperspektive betrachte. Mager: Zum zweiten Punkt, der Abgrenzung zwischen Aristotelikern und Naturrechtlern in bezug auf Ausrichtung des obrigkeitlichen Handelns, möchte ich festhalten: Gemäß dem Wortgebrauch der Aristoteliker hat die Obrigkeit dem bonum commune zu dienen, gemäß naturrechtlicher Ausdrucksweise hat sie die salus publica herbeizuführen. Diese Unterscheidung zwischen Gemeinwohl und öffentlicher Wohlfahrt ist keine terminologische Spitzfindigkeit. Bonum commune umschreibt das Wohl der ständischen, korporativen, regionalen und sonstigen Untergliederungen der Gesellschaft und faßt das Gesamtwohl als deren Inbegriff. Demgegenüber zielt salus publica auf das Heil des Staates als einer von der Gesellschaft abgehobenen Herrschafts- und Verwaltungsorganisation, die dem Ziel zu dienen hat, den Staatszweck zu erfüllen. Hierunter wird zum einen die Selbsterhaltung des Staates verstanden, sodann zweitens die Verfolgung spezifischer Ziele wie Machterweiterung, militärische Stärke, Pflege der Religion, Ausweitung des Handels, innerer Frieden, Förderung der Schiffahrt etc., gegebenenfalls auch politische Freiheit- ich folge hier der Aufzählung möglicher Staatszwecke, die Montesquieu in dem berühmten 11. Buch des "Esprit des lois" im einzelnen benennt (Kap. 5), nachdem er festgestellt hat: "Quoique tous les Etats aient en general un meme objet, qui est de se maintenir, chaque Etat en a pourtant un qui lui est particulier. L'agrandissement etait l'objet de Rome", etc. Es folgt der Katalog der Staatszwecke, der in der typologisie-

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renden Beschreibung der englischen Verfassung als einer politischen Ordnung gipfelt, die dem Staatszweck der Erhaltung der "liberte politique" dient.

Willoweit: Darf ich noch mal ganz kurz zum Punkt 2 replizieren. Wenn Sie meinen, die Zwecke seien vom Staat erst zu setzen und daraus ergebe sich eine Beliebigkeit staatlichen Handelns, dann tut sich eine Kluft auf zwischen meinen bisherigen Vorstellungen und Ihrem Vortrag. Ich darf zu meiner Unterstützung auf das neue Buch von Peter Preu über "Polizeibegriff und Staatszwecklehre" (1983) hinweisen. Preu meint sogar, daß Christian Wolff nicht nur das Recht "vernünftig" verstehe, sondern auch die Politik. Er spricht wörtlich von der "Verrechtlichung des politischen Bereichs" (S. 133). Das, meine ich, verträgt sich nicht mit der Idee, die Zwecke seien frei setzbar gewesen. Vielleicht ist zu berücksichtigen, auf welcher Ebene wir diskutieren. In der Realität ist der aufgeklärte Monarch im Hinblick auf die respublica natürlich frei, er kann entscheiden, welche Unternehmen er subventioniert oder gegen wen er Krieg führt. Aber nach dem Selbstverständnis der aufgeklärten, z.B. preußischen Monarchie geht es um ein determiniertes Handeln. Deswegen schafft man sich Ratskollegien, die Politik als Gegenstand der Erkenntnis zu erfassen versuchen. Mager: Die Staatszwecke fallen nicht vom Himmel. Sie sind der Regierung aufgegeben, aber wer setzt sie? Entweder die aufgeklärte Öffentlichkeit oder die Philosophen oder aber, institutionell, Repräsentativkörperschaften, das Parlament, im modernen Konstitutionalismus und Parlamentarismus. Die Regierung handelt dann im Rahmen der ihr gesetzten Zwecke und vorgegebenen Gesetze.

Koselleck: Bevor ich Herrn Kunisch das Wort gebe, möchte ich auf den theoretischen Ort von Kant hinweisen, der durch die Formalisierung der Bedingungen möglicher Freiheitserfüllung nunmehr diese Setzbarkeit beliebiger Inhalte theoretisch ermöglicht - sofern sie gebunden bleiben an den kategorischen Imperativ, der die Bedingung möglicher konkreter Politik definiert, ohne sich inhaltlich zu bestimmen. Der Kautsehe Ansatz zeigt genau den Punkt, wo die bisher immer noch inhaltlich vorgegebenen, in irgendeiner Weise abgeleiteten, Inhaltsbestimmungen völlig zur Verfügung der Menschen stehen, sofern sie sich frei wissen. Kunisch: Es gibt in der "Histoire de mon temps" Friedrichs des Großen ein Schlußkapitel, in dem die Republik der Monarchie als Herrschaftssystem gegenübergestellt wird. Friedrich geht, wie in der Regel, von der Monarchie aus, stellt aber fest, daß sie durch ausgesprochene Inkontinuität gekennzeichnet ist, also dadurch, daß sie auf Erbfolge beruht, wobei nie-

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mand weiß, wie der Thronfolger befähigt sein wird. Dagegen stellt Friedrich die Republik und führt aus, daß sie durch eine starke Kontinuität gekennzeichnet ist, die in der Wirksamkeit der Gesetze besteht. Ich wüßte gern, in welcher politiktheoretischen Tradition diese Wertung der Republik eigentlich steht. Mager: Die Kontinuität der Gesetze im Gegensatz zur Diskontinuität der Herrscher wird meines Wissens bereits von Thomas herausgestellt. Die institutionelle Überordnung des Gesetzgebers über die Amtsträger findet sich besonders deutlich bei Marsilius von Padua. Das Problem der Dauerhaftigkeit der politischen Ordnung wurde in der frühen Neuzeit häufig in bezug auf Venedig und den Mythos seiner republikanischen Verfassung diskutiert. Entscheidendes Gewicht wurde auf die kontinuitätsstiftende Mischverfassung gelegt.

Die Termini forma und structura sind zeitgenössisch. Forma ist ein Leitbegriff im politischen Aristotelismus, umschreibt die Integration der gesellschaftlichen Gruppen zum politischen Verband im Sinne der Entelechie. Structura bezeichnet bei Pufendorf "in corpore humano" die "dispositio omnium membrorum et partium", im politischen Bereich die Regierungsverfassung. Zu fragen ist, auf welche unterschiedlichen Problemlagen die beiden Termini bezogen sind und welche unterschiedlichen politischen Verfassungskonzepte sie implizieren. Forma ist gemäß dem aristotelischen Entelechiebegriff der materia zuzuordnen. Respublica, begriffen als forma civitatis, zielt ab auf die Formierung der ständisch-regionalen Glieder der Gesellschaft, der societas civilis cum imperio, in Hinblick auf die Ausbildung einer umfassenden Friedens- und Herrschaftsordnung, welche die herrschaftliche oder genossenschaftliche Autonomie der gesellschaftlichen Gruppen erhält und zugleich überwölbt, also im Regelsehen Doppelsinn aufhebt. Bodin hat erkannt, daß sein Souveränitätsbegriff in letzter Konsequenz die Autonomie der gesellschaftlichen Gruppen, der cives, auslöscht, da diese neben der majestas keinen Bestand haben. Deshalb seine emphatische Anrufung der amite, der ständischen Integration. Bodin hat also die Aporie erahnt, daß die Vollendung der innerstaatlichen Souveränität die Legitimitätskrise der absoluten Monarchie heraufführen werden. Der politische Aristotelismus bot auf diese Problemlage keine Antwort, da nach dem Entelechiekonzept die Formierung von der civitas, dem Inbegriff der cives, der ständisch-regionalen Gruppierungen der Gesellschaft, ausgeht. Die Naturrechtsschule ging von dem bestehenden Monopol der politischen Gewalt beim Innehaben der Souveränität aus, damit zugleich von der vollzogenen Entpolitisierung der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Politik wurde als eigenes System neben Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im Rahmen einer funktional-differenziellen Sozialordnung begriffen. Nach

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diesem Ansatz erwuchs Herrschaft nicht aus ständischer Herrenposition, gilt sie nicht im aristotelischen Sinne als naturgegeben, sondern ist sie zu konstituieren. Die Fiktion des Sozialvertrags dient dem Zweck, die civitas neu zu begründen. Ging der politische Aristotelismus vom genuin politischen Charakter des Menschen aus, so begründet die Naturrechtsschule die civitas aus einer Setzung. Danach verwandeln sich Menschen in Bürger durch den contrat social, das "pactum, quo civitas constituitur" (Wolff), stiften sie in Gestalt des Gemeinwillens die Bürgerschaft, civitas, den "Staat". Respublica wird als nachgeordnete Größe begriffen und aus einer nachgeordneten Vereinbarung abgeleitet, der "conventio qua consentitur in media finem civitatis consequendi" (Wolff). Respublica bezieht sich auf die institutionelle Ausgestaltung der civitas mittels Regierung und Verwaltung und gilt insofern den Naturrechtlern als Verfassung oder Struktur. Quaritsch: Nur eine kurze Ergänzung zum Verhältnis respublica und Bürger. Es gibt eine Metapher, die Aristoteles wie Bodin gebrauchen, beide Theorie wie Praxis ihrer Zeit gleichermaßen treffend. Aristoteles vergleicht den Staat mit einem Schiff, und bei ihm gehören die Bürger zur Mannschaft, also zu den aktiv Handelnden und Beteiligten. Bodin gebraucht dasselbe Bild, aber bei ihm sind die Bürger die Passagiere des Schiffes. Bodin trennt also Staat und Gesellschaft. Die Metapher erhellt die Realität der frühneuzeitlichen ~espublica wie ein Blitz: Die Bürger sind Passagiere geworden, sie zahlen die Passage (Steuern), haben aber nicht mehr mitzuarbeiten und auch nichts mehr zu sagen. Mohnhaupt: Ich möchte noch einmal an die Diskussion über das "bonum publicum" anknüpfen und in Parallele dazu den gemeinen Willen stellen die "volonte general". Begrifflich und sachlich scheinen mir "gemeines Wohl" und "gemeiner Wille" in einer gewissen Nachbarschaft zu stehen. Da besteht ein Korrelationsverhältnis. Wir haben hier schon kurz erörtert, daß das Definitionsmonopol für das, was "bonum publicum" oder "gemeines Wohl" sein kann, im 18. Jh. bei der staatlichen Zentrale liegt. Es ist ein typisches Merkmal des Absolutismus oder des monarchischen Prinzips schlechthin, dieses dort zu verankern, wo die monarchische Spitze die Letztentscheidung besitzt und ausübt. Der bereits zitierte Moser darf hier vielleicht noch einmal angeführt werden. Er sagt sehr treffend ungefähr folgendes: Man bediene sich jetzt einer "Universal-Staats-Medicin", genannt das "gemeine Beste". Aber die Frage sei nur, wer entscheide darüber, was das gemeine Beste ist? "Antwort: Wer sonst, als der Regent." Man könnte also sagen, daß in dem Moment, wo statt der alleinigen "voluntas principis" mehrere oder eine Gemeinschaft der "voluntates" über dieses Element staatlichen Handeins oder diese staatliche Zielvorgabe zu entscheiden haben , eine andere Qualität staatlichen Handeins eintritt. Gönner hat 1804

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noch erklärt, daß selbstverständlich der Fürst den "gemeinen Willen" repräsentiere und verwirkliche. Er setzt aber auch sehr deutlich hinzu, daß das selbstverständlich nicht der "empirische" Volkswille sei, sondern die Vernunft, die durch den Fürsten allein repräsentiert werde. Man kann natürlich fragen, was hier Vernunft bedeutet, denn sie ist angekettet an den Begriff bzw. an die Vorstellung von Pluralität der Willen. Wenn also diese Sicht sich - verfassungsrechtlich im weitesten Sinne - durchsetzt, d. h. die Mehrzahl von Willen zum Entscheidungsfaktor wird, wird auch die Position des Bürgers- des "civis" -auch automatisch eine andere. So kann man vielleicht sagen, daß also "res publica", wenn sie die Gesamtheit der Willen in einer Entscheidungskompetenz über das "bonum commune" repräsentiert, auch den Bürger als "Staatsbürger" auf einen neuen Begriff gebracht hat.

Bürgerschaft und Stadtregierung Das Beispiel Hitdesheim

Von Heinz-Günther Borck, Hildesheim "Unsere meisten Geschichtswerke sind zusammengetragene Lügen, mit einigen Wahrheiten untermischt ... Seit dem Wiederaufblühen der Wissenschaften ist die Schreiblust zur wahren Wut geworden ... Man darf sich aber bloß an die kleine Zahl derjenigen Schriftsteller halten, die Ämter bekleideten, die mitwirkende Personen waren, die zum Hofe gehörten, oder welche von ihren Landesfürsten die Erlaubnis hatten, die Archive zu durchsuchen ... " Diese Worte Friedrichs des Großen aus der "Geschichte meiner Zeit" 1 können dem Archivar in den Sinn kommen, der den Arbeitsauftrag erhält, in einem Kreise wie der Vereinigung für Verfassungsgeschichte, die sich wesentlich mit Deutungsentwürfen und Konzeptionen befaßt, zum Generalthema "Res publica -Bürgerschaft in Stadt und Staat" am Beispiel einer einzelnen Stadt das Verhältnis von Bürgerschaft und Regierung für den ganzen historisch überschaubaren Zeitraum tatsächlicher oder relativer städtischer Selbständigkeit nachzuzeichnen. Lassen Sie es mich überspitzt ausdrücken: Der manchmal drohenden Flut der Phantasie soll ein Wall der Wirklichkeit entgegengesetzt werden. Wie sieht diese Wirklichkeit in Hildesheim, einer der Bischofsstädte des unter Karl dem Großen christianisierten Sachsenlandes, aus? I. Vorgeschichte

Da für die Zeit von der Gründung des Bistums Hildesheim, die für das Jahr 815 vermutet wird, bis zum Jahre 1200 ganze 49 Urkunden vorliegen2 , bleiben die Anfänge der Stadtgeschichte im DunkeP. Mag auch der Wider1 F. X. Wegele, Ausgewählte Werke Friedrichs des Großen (Übers. H. Merkens), Bd.1, 1973, S. 249ff. 2 R. Doebner (Hrsg.), Urkundenbuch (abgek.: UB) der Stadt Hildesheim, B Bde., 1881- 1901, Bd.l. a Zur allgemeinen Situation vgl. H . Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter, Graz, Köln 1954, S. 54ff. E. Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, 2. Aufl. 1975, S. 73ff. Vgl. auch B. Schwineköper, Königtum und Städte bis zum Ende des Investiturstreits. Die Politik der Ottonen und Salier gegenüber den werdenden Städten im östlichen Sachsen und in Nordthüringen (Sonderband 11, Vorträge und Forschungen, hrsg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte), 1977; vgl.

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stand der Hildesheimer gegen eine Auslieferung der Befestigungsanlagen an den Markgrafen Egbert von Meißen im Jahre 1089 Anfänge einer Selbstorganisation der Einwohnerschaft gegen den Willen des bischöflichen Stadtherrn Udo zeigen und vielleicht auf eine Schwurgemeinschaft der Kaufherren in Analogie zu den Vorgängen in Worms 1073 oder Cambrai 1076 hinweisen; deutlicher zeichnen sich die Umrisse einer neuen politischen Macht, der Bürgerschaft und ihres Rates, erst im 13. Jh. ab. Der bischöflichen Verpflichtung in der Wahlkapitulation vom Jahre 1216, die Stadtvogtei nicht zu entfremden und sie nur vor dem Domkapitel und u. a. den Hildesheimer Bürgern (burgenses) zu übertragen, folgt bereits im Jahre 1217 die erste Nennung eines Domus communionis Hildensem, also eines Rathauses, das für einen fortgeschrittenen Organisationsgrad der Bürgerschaft sprechen kann. Auch die Verwendung eines eigenen Siegels mit der Umschrift "Sanctus Godehardus episcopus de Hildensem" ab 1217 zeigt, daß das Siegeln in eigener Sache und damit die Entwicklung einer eigenen Rechtspersönlichkeit der Stadtgemeinde begonnen hat, auch wenn die Legende nur den bischöflichen Stadtpatron nennt4 . Wenn Bischof Conrad von Metz 1221 "dilectis suis consiliariis et toti civitati Hildensemensi" schreibt und gleichzeitig Klagen Bischof Conrads Il. von Hildesheim gegen seine Bürger ("quod burgenses sui in omni iure et servicio contrarii sint et rebelles") bekannt werden, so mag dies auf die Entstehung jener Ratsorganisation deuten, die auch in anderen niedersächsischen Städten etwa gleichzeitig (Bremen 1227, Braunschweig 1226/27, Göttingen 1229, Hildesheimer Dammstadt 1232) belegt ist5. Daß konkreter Handlungsbedarf seitens der geistlichen Stadtherren gegen eine derartige Entwicklung bestand, zeigt ja auch der Reichsschluß gegen die Freiheit der Bischofsstädte vom April1232, der die Einsetzung von communia undconsiliadurch die universitas civium ohne ausdrückliche Zustimmung des Stadtherrn verbot. Zweifelsfrei treten in Hildesheim consules civitates erst im Jahre 1236 auf6 • Die bischöfliche Zurückweisung aller Rechtsansprüche der Ratsherren über die Schuhmacherinnung bestätigt im Grunde nur, daß das ganz selbstauch H. v. Jan, Bischof, Stadt und Bürger, Aufsätze zur Geschichte Hildesheims (mit zahlreichen Einzelbeiträgen), 1985, hier bes. S.17ff. Für Hildesheim bleibt maßgebend die Stadtgeschichte von J. H. Gebauer, Geschichte der Stadt Hildesheim, Bde.1 und 2, 1922, 1924, hier Bd. 1, S. 2lff. 4 UB (FN 2), Bd.1, Nr. 73 u. 74. 5 UB (FN 2), Bd.1, Nr. 86, 87. Vgl. Gebauer (FN 3), Bd.1, S. 54, Planitz (FN 3), S. 297ff. bes. S. 305f. (für Hildesheim mit falschen Zeitangaben); B. Scheper, Anmerkungen zur Entstehung des Rates in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der nordwestdeutschen Städte, in: Die alte Stadt, Bd. 7, 1980, S . 237ff., Karl Kroeschell, Stadtrecht und Stadtverfassung, in: Stadt im Wandel, Kunst und Kultur des Bürgertums in No•·ddeutschland, 1150- 1650, Ausstellungskatalog Bd. 4, 1985, S . 1lff., bes. S . 16f. mit weiterer Lit. 6 UB (FN 2), Bd. 3, Nachtrag Nr.l3.

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verständlich als vorhanden vorausgesetzte Ratsorgan offensichtlich auf dem Wege war, den stadtherrlichen Einfluß zurückzudrängen. Noch deutlicher zeigt sich das bei Vorgängen des Jahres 12347 , als König Heinrich (VII) den Bürgern untersagen mußte, krafteigener Autorität Kleriker zum Tode zu verurteilen- die Vermutung liegt nahe, daß es sich bei diesen Übergriffen um aktive Erscheinungsformen einer Ratsgerichtsbarkeit handelt, wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß das Gericht des Stadtvogtes gemeint ist: Dann müßte allerdings dieser, der seit 1216 praktisch auch an die Zustimmung der Bürger gebunden war, vom König als rechtlich von der Bürgerschaft abhängend betrachtet worden sein, was wenig wahrscheinlich ist. Die Festigung der Ratsorganisation schritt in diesen Jahren schnell vorwärts; schon 1240 treten consules eiusdem anni auf, auch wenn die spätere Zwölfzahl sich noch nicht nachweisen läßta. Immerhin ist es ein fester Kreis von Geschlechtern, der sich in der Wahrnehmung seiner Befugnisse vielleicht auch durch das Reichsweistum vom 1. Mai 1231 bestätigt gefühlt haben mag, das die principes des Reiches an den "Consensus primitus meliorum et maiorum terrae" band9• Abgesehen vom regelmäßigen Wechsel der 29 Mitglieder aber fehlen über den entstehenden Rat alle näheren Angaben; über etwaige Wahlberechtigung, Wahlverfahren und innere Organisation ist nichts bekannt; bekannt ist nur der wachsende Einfluß als Verwaltungsorgan, das zunehmend die Bürgerschaft vertritt (Zinsentrichtung "per manus consulum")IO. II. Die Periode der Stadtrechte Am 11. Mai 123211 verlieh der Vogt des Hildesheimer Moritzstiftes seiner als Konkurrenzgründung errichteten Dammsiedlung ein detailliertes Stadtrecht, das unter anderem freies Erbrecht, Erhalt des Erbes auch bei Straftaten und Rechtszugregelungen, außerdem auch Wahlrecht für zwei Ratsherren vorsieht. 7 UB (FN 2), Bd.1, Nr.131. s UB (FN 2), Bd.1, Nr. 165. Die Ratsentwicklung dargestellt bei H. Beilizen, Die Entstehung der Hildesheimer Rats- und Ratsgerichtsverfassung, 1921, S. 16ff., der sich auch mit der älteren Lit. und den Entstehungstheorien auseinandersetzt Allg. bei Planitz (FN 3), S. 302f., 305, 310ff. 9 Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. 32), hrsg. von L. Weinrich, 1977, Nr.101). to UB (FN 2), Bd.1, Nr.195. 11 UB (FN 2), Bd. 1, Nr. 122: neu veröffentlicht und übersetzt in H.-G. Borck (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Hildesheim im Mittelalter, 1986, S. 19 ff. Druck auch bei H. Stoob (Hrsg.), Urkunden zur Geschichte des Städtewesens in Mittel- und Niederdeutschland bis 1350, 1985, Nr. 36 (mit knappen Literaturhinweisen, aber reichlichem, vergleichbarem Urkundenmaterial; daneben bleibt F. Keutgen, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, 1901, [Neudruck 1965) unverzichtbar).

7 Der Staat, Beiheft 8

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Für Hildesheim liegt ein Stadtrecht erst aus dem Jahre 1249 vor; es ist die Gegenleistung des aus einer Doppelwahl siegreich hervorgegangenen Kandidaten Heinrich für die Unterstützung der Bürger, denen zunächst die Domburg ausgeliefert und dann eine Festschreibung der bestehenden Rechtsverhältnisse gewährt wird. Der Rat erscheint nur als Urkundsbehörde im Stadtrecht und damit einmal mehr von der Obrigkeit sanktioniert. Für die allgemeine Stadtgeschichte freilich ist es wichtiger, daß das Stadtrecht auch einen der berühmtesten Rechtssätze der deutschen Stadtgeschichte, nämlich das "Stadtluft macht frei" in lateinischer Fassung enthält (§ 52)12.

Noch stehen consules und universitas burgensium nebeneinander, wie ein Bündnisvertrag mit den Braunschweiger Welfen von 1256 zeigt, noch erscheint 1250 der Vogt an der Spitze der Urkundenaussteller, und das Rathaus heißt immer noch Domus burgensium, nicht Domus consulum wie am Ende des Jahrhunderts. Mit der wachsenden Abschließung der Ratsgeschlechter, unter denen seit der Jahrhundertmitte 45 Jahre lang kein Handwerker mehr auftaucht, wächst auch die politische und rechtliche Stellung des Rates, dem der Bischof 1281 sogar die Befugnis überträgt, in Zweifelsfragen durch Eideszeugnis von zwölf Hildesheimer Ratsherren Gewohnheitsrecht beweisen zu können ("hoc debebit pro justicia observari")l3 . Wie sehr der Rat als Leitungsorgan die volle Verantwortung auch gegenüber dem Stadt- und Landesherrn trägt, zeigen die Vorgänge um die 1294 vorgefallenen Ausschreitungen gegen das Domkapitel, bei denen nicht nur das Interdikt gegen die Stadt verhängt wird, sondern auch alle Ratsherren einzeln exkommuniziert werden. Immerhin ist 1294 unter den Helfershelfern bereits ein Mitglied des einflußreichen Amtes der Schuhmacher und Gerber genannt, das demnach über einen mit den patrizischen Familien konkurrierenden politischen Einfluß verfügt haben dürfte. Die Vermutung wird dadurch zur Gewißheit, daß der Rat 1300 angesichtseiner nicht näher zu bestimmenden Unzufriedenheit der Handwerker mit der ausschließenden Handhabung der Ratsbesetzung durch die Patrizier eine paritätische 812 UB (FN 2), Bd.l, Nr. 209; vgl. Gebauer (FN 3), Bd.l, S. 55ff. und A . v . d. Groeben, Zur Entstehung der Stadtverfassung in Hildesheim: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 83, 1918, S.102ff. sowie Beitzen (FN 8), S. 26ff. über die Entwicklung der Jahre 1249- 1300. Zum Rechtssatz vgl. B. Diestelkamp, Die Städteprivilegien Herzog Ottos des Kindes (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 59), 1961, S. 51 ff. Vgl. auch Zusammenfassung mit älterer Literatur bei H. Conrad, Deutsche Rechtsg_eschichte, Bd. 1, 2. Aufl., 1962, S. 330ff., sonst Planitz (FN 3), S . 106f., H. Mitteis, Uber den Rechtsgrund des Satzes: "Stadtluft macht frei", in: H. Mitteis, Die Rechtsidee in der Geschichte. Geschichtliche Abhandlungen und Vorträge, Weimar 1957, S. 708ff. und E. Werner, Stadtluft macht frei, 1976. 13 UB (FN 2), Bd. 1, Nr. 548; Borck (FN 11), S. 22 f. (1281 Jan. 6). Es handelt sich hier um ein in der Folgezeit in seiner praktischen Bedeutung stark ausgeweitetes, "überdehntes" (Moraw S.l6 dieses Bandes) Privileg. Bei Beitzen (FN 8), S. 36f. nähere Angaben über turnusmäßigen Wechsel der Ratsherren, die festgefügte Gruppen bleiben.

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Mann-Kommission einsetzen mußte, deren Aufgabe es war, "dat se der stat recht bescriven laten, also alse et endunke, dat et der stat evene kome, beide den armen unde den riken"l4. Zwar hat die auf Dauer angelegte Kommission, die jährlich vierzehn Tage vor Martini zusammentreten sollte, nie wieder getagt, die paritätische Besetzung durch Rat und Handwerksämter und der völlige Ausschluß des Restes der Bürger aus dem Prozeß der Willensbildung zeigt aber, wie schwach der politische Einfluß der alten universitas civium inzwischen geworden war. Was leistet das Stadtrecht von 1300?15 Von seinen fast 300 Artikeln sind unter dem Gesichtspunkt unseres Themas zunächst am wichtigsten die Artikel 53ff., die die Unterordnung des doch bischöflichen Vogtes unter das neue Recht und damit die Zurückweisung der Stadtherrschaft verdeutlichen: Wegen Rechtsverzögerung, Rechtsbeugung oder Rechtsverweigerung drohen dem Vogt Strafen, und auch die Verhängung der Schoßpflicht (Art. 273a), also die Leistung der allgemeinen städtischen Vermögenssteuern, behandelt den Vogt wie einen Bürger, der er im 16. und 17. Jh. auch geworden ist. Wesentlich für das Verhältnis von Bürgerschaft und Stadtregierung sind dann die Ratswahlbestimmungen. Art. 173 des Stadtrechts statuierte die volle und uneingeschränkte Selbstergänzung der drei Räte, an denen zwar lt. Artikel 176 auch grundsätzlich Handwerker aus den Ämtern beteiligt werden konnten, wenn sie sich eidlich zum Vorrang der Ratspflichten im Falle etwaiger Interessenkonflikte verpflichteten. Zur inneren Organisation gibt Artikel 165 mit der Festsetzung der Verbindlichkeit von Ratsschlüssen für abwesende Ratsherren- einer Vorstufe des Mehrheitsbeschlusses - ebenso Auskunft wie die in Artikel 166 des Stadtrechtes erwähnte "oberste Bank", die in Zusammenhang mit dem vierteljährlichen Wechsel der Kontrolleure des Weinkellers, der städtischen Weinherren, eine Gliederung des Sitzenden Rates in vier Bänke wahrscheinlich machtl6. Aktive Beteiligung der gewöhnlichen Bürger, die weder zu den Ratsfamilien noch zu den Ämtern gehörten, gibt es lediglich im Zusammenhang mit der Überwachung der städtischen Liegenschaft~n, für die eine Zweierkommission aus einem Ratsherrn und einem gewöhnlichen Bürger ("ene hier ave") gebildet wird. u UB (FN 2), Bd. l, Nr. 547. Über die rechtliche Stellung des Handwerks in der Stadtverfassung vgl. M. Hartmann, Geschichte der Handwerksverbände der Stadt Hildesheim im Mittelalter, 1905, besonders S. 35ff. 15 UB (FN 2), Bd.l, Nr. 548; Borck (FN 11), S. 23ff. (Auszug) und ebd., Einleitung, S.lOf. ; vgl. Gebauer (FN 3), S. 81ff. 1s Beitzen (FN 8), S. 38f. 7*

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Sonst aber sind die Bürger vor allem als Steuerobjekte von Interesse. Jeder von ihnen unterliegt der Schoßpflicht, die sich auf alle beweglichen und unbeweglichen Güter von Anfang an (seit 1292) erstreckt haben dürfte17 • Die Schoßpflicht begründete sich rechtlich auf den Anfang Februar jährlich abzulegenden Schoßeid, der zugleich in sich die Verpflichtung enthielt, dem Stadtrat getreulich beizustehen und dabei zu helfen, Rat und Bürger in Einigkeit zu erhalten, der also auch im Sinne eines allgemeinen Bürgereides den Rechtsgrund für die Tätigkeit des Rates darstellte. Die in späterer Zeit energisch durchgesetzte Schoßpflicht auch für geistliche Inhaber von Bürgerhäusern ist tendenziell bereits im Art. 160 des Stadtrechts angelegt, der den Verkauf schoßpflichtiger Objekte an Geistliche nicht nur verbietet, sondern Verträge mit ihnen geradezu für ungültig erklärt. Am Rande sei erwähnt, daß im Stadtrecht häufiger von "borgere" und "borgersche" ebenso die Rede ist wie in einer ganzen Reihe weiterer Dokumente des 14. Jh. Das Stadtrecht enthält eine Reihe die Rechtsstellung der Frau betreffender Regelungen, darunter die dem Sachsenspiegel wörtlich entnommene Bestimmung, daß eine Frau mit Unkeuschheit ihres Leibes ihre weibliche Ehre kränken könne, damit aber nicht ihr Recht und auch nicht ihr Erbe verlierets.

lll. Bildesheims erste Revolution: "Der Uplop van den Penninghen" Hatte das 14. Jh. mit der Aufschreibung eines Stadtrechts ohne Mitwirkung des Stadtherrn und also mit einem Eingriff in die bischöflichen Befugnisse begonnen, so setzte es sich mit der Privilegierung von Handwerksämtern, der Huldigungsverweigerung für den Landesherrn und damit weiteren Emanzipationsversuchen fort. Die kostspielige politische Niederlage in der Dammstadtsühne von 1333, die bis zum Ende des Jahrzehnts zu einer Verfünffachung des Schuldenstandes auf fast 10000 Mark führte, hatte auch Verfassungserschütterungen zur Folge. Da der in seinen praktischen Auswirkungen zwischen 0,9% und 11% liegende Schoß zur Abtragung der 17 P. Huber, Der Haushalt der Stadt Hildesheim am Ende des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Volkswirtschaftliche und wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen I), 1901, S . 45ff., bes. S . 56ff. 18 Stadtrecht Art.1 (FN 15): Sachsenspiegel Landrecht I, 5. § 2. Zur Bedeutung des Sachsenspiegels in den norddeutschen Stadtrechten vgl. K. Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit. Das Beispiel Sachsenspiegel, in: Recht und Schrift im Mittelalter (Vorträge und Forschungen, Bd. 23), 1977, S. 349ff. Zur Stellung der Hildesheimer Stadtrechte vgl. G. Pischke, Die Entstehung der niedersächsischen Städte. Stadtrechtsfiliationen in Niedersachsen, (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsen, H. 28), 1984, S . 56ff. ; M. C. Lockert, Die niedersächsischen Stadtrechte zwischen Aller und Weser, Vorkommen und Verflechtungen, 1979; und L. Zeppenfeldt, Die Frau im mittelalterlichen Hildesheim: Hannoversche Geschichtsblätter, Jg. 1918, H. 1 und 2.

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Schulden nicht ausreichte, schrieben die drei patrizischen Räte-angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung des Schrittes gemeinsam- am 25. Januar 1342 eine allgemeine Sondersteuer in Höhe des zehnten Pfennigs aus, behielten sich allerdings für die untersten Vermögen von weniger als zehn Mark die Milderung vor. Die im 14. Jh. wegen der Exklusivität der Ratsgeschlechter wohl wachsende und durch die politischen Mißerfolge noch genährte Mißstimmung anderer, zum Teil auch finanzstarker bürgerlicher Kreise führte jetzt in Hildesheim zur Wiederbelebung der in der praktischen politischen Entwicklung fast bis zur Unkenntlichkeit verlorengegangenen, aber eben doch nicht aufgelösten Schwurgemeinschaft der Bürger19. Als der Rat noch zusätzlich das Pfandrecht an der Münze erwarb und durch einen zweiten Münzverruf im Jahr allen Bargeldbesitzern empfindliche Nachteile drohten, kam es zwischen dem 1. Mai und 6. Juni 1343 offensichtlich zu einer förmlichen Absetzung des Rates durch eine von den sechs Bäuerschaften der Meinheit gewählte Sechserkommission2o. Die im Juni 1343 gegebenen Urfehdeversprechen gelten nicht nur dem von der Sechserkommission neu eingesetzten Rat, sondern auch den Sechsern selbst, die nach dem politischen Scheitern der neuen Räte in der Auseinandersetzung zwischen den Bischöfen Erich und Heinrich im Dezember 1345 auch erneut einen diesmal aber "vollmächtigen Rat" einsetzten. Die wenigen aus der Zwischenzeit vorliegenden Dokumente machen deutlich, daß klare Regierungsverhältnisse 1343/45 nicht bestanden hatten, so daß nach dem Siege des Bischofs Heinrich das Sechsergremium der Meinheit fürchten mußte, zur Rechenschaft gezogen und insbesondere finanziell in Regreß genommen zu werden. In zwei Rezessen vom 10. und 11. Dezember 1345 wird nun die Stadtverfassung neu geordnet2 1 . Nach der Sicherstellung der Sechser als Vertreter der Meinheit und der Vereinbarung eines neuen Schwurbündnisses zur Bekräftigung des wiedergewonnenen Stadtfriedens wird im Statut über die Ratsbesetzung das bisherige Dreiersystem von Vorrat, Sitzendem Rat und Nachrat bestätigt; die Ersteinsetzung aller drei Räte nehmen die Sechser vor. Für die 36 Ratsherren wird eine Quotierung festgesetzt: zwölf stammen 19 Zur Frage der Schwurgemeinschaft vgl. W. Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, Weimar 1958, S. 21 ff. Zu Vorgeschichte und Verlauf des Uplops B. Schwarz, Der Pfennigstreit in Bildesheim 1343 (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Bildesheim, Bd. 6), 1978, die sich auch zur finanziellen Belastung (S.12 ff.) und zur Schwurgemeinschaft (S. 31ff.) äußert (enthält eine vollständige Literaturübersicht). Zur Schoßberechnung s. Huber (FN 17), S. 60f. 2° Huber (FN 17), S. 56ff. ; Schwarz (FN 19), S. 36ff. Genaueres über Organisation und Aufgaben der Bäuerschaften wird erst von Henning Brandis in seinem Diarium, 1896, S . 15, 20, 146 für das späte 15. Jh. überliefert. 21 UB (FN 2), Bd. 1, Nr. 948, 950; vgl. auch Ratsstatut v. 1345 Dez. 11 (ebd. Nr. 949), durch das der neue "vollmächtige Rat" eingesetzt wird. Genaue Angaben bei B. Schwarz (FN 19), S. 52ff.

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aus dem alten Rat, also den patrizischen Familien, die hier eine ständische Abschließung erfahren, zwölf aus Ämtern und Gilden und zwölf aus der Meinheit. Im Todesfalle ist die Nachwahlkommission aus Bürgermeister und vier Ratsherren an die Herkunftsgruppe des Verstorbenen, im übrigen aber nur an "der menen stad beste" gebunden. Acht Tage vor der Ratssetzung sollte eine Lutterung durch Vorrat und Sitzenden Rat prüfen, ob noch jemand in den Sitzenden Rat des Nachjahres hineingehöreoder ob daraus jemand "nicht nutte en si des jahres" und daher (ohne Ehrverlust) ausgeluttert werden könne. Neu war schließlich auch die Übernahme der 1343 in einer allerdings strittigen Urkunde bereits genannten Institution des Bürgermeisters. Die Vorgänge der Jahre 1343- 1345 führen bei Aufrechterhaltung des Kooptationsverfahrens im Rat zu einer Drittelparität in der Stadtverfassung. Die Patrizier verlieren zwar das Ratsmonopol, die ständische Abschließung aber garantiert ihnen ein Drittel der Ratssitze auch für die Zukunft. Ämter und Gilden sind anders als 1300 jetzt dauernd am Stadtregiment beteiligt, und auch die Meinheit ist, wenn auch ohne direktes Wahlrecht, dauernd mit einem Drittel im Rat vertreten, hat allerdings die 1343 gewonnene beherrschende Stellung, die sich im Machtmonopol der Sechserkommission zeigte, wieder verloren. Von einer systematischen demokratischen Repräsentation nach Art der in Süddeutschland von den Zünften angestrebten Verhältnisse kann hier nicht die Rede sein, zumalessich auch bei den Vertretern des Handwerks nur um vier Ämter und fünf Gilden, also neun privilegierte Zünfte handelt22. IV. Bildesheim im Jahrhundert der Verfassungsreformen Das Ratsstatut von 1345 hat sich fast ein Jahrhundert lang als Organisationsform des Verhältnisses zwischen Bürgerschaft und Stadtregierung bewährt. Für die Festigung der Ratsmacht spricht die Ausdehnung auch der Ratsgerichtsbarkeit. Gefestigt durch das Privileg König Sigmunds vom 16. September 1418 "de non evocando"23, unterwarfen die Ratsstatuten von 1445 durch die Bestellung von Richteherren endgültig das 1447 dem Rat noch zusätzlich verpfändete Vogtgericht, das eindeutig zum Untergericht wird und aus dem Gesichtskreis der Beteiligten überhaupt verschwindet24. Mit dem im 15. Jh. wachsenden Wohlstand der Stadtbevölkerung wächst erneut der Unwille über die zwar nicht rechtlich, aber doch praktisch nach 22 Vgl. W. Tuckermann, Das Gewerbe der Stadt Hildesheim bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, 1906 (Phil. Diss., Tübingen 1905, S. 21 ff., der bis zum 15. Jh. 91 in den Urkunden genannte Handwerksberufe aufführt, wovon Anfang des 15. Jh. nach S. 28 36 als Gewerbe organisiert waren); ähnlich M. Hartmann (FN 14), S . 16ff. Prosopographische Untersuchungen zur Ratszusammensetzung liefert B. Schwarz (FN 19), s. 74ff. 23 UB (FN 2), Bd. 3, Nr. 856; Borck (FN 11), S. 39 ff. 24 Beitzen (FN 8), S. 44ff., Gebauer (FN 3), S. 210ff.

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wie vor bestehende beherrschende Stellung der patrizischen Geschlechter im Rat, aus denen mehr als die Hälfte aller Ratsherren stammte. Seit 1423 schürte ein ausgelutterter Bürgermeister, Albert von Mollem, die Unruhe in der Bürgerschaft, und die Verpfändung von Münze und Juden 1428 an den Rat brachte diesem nicht nur zusätzliche Einnahmen, sondern auch die mit Münzverruf und Münzreform einhergehenden Probleme, die nun einmal mit der Übernahme von Verantwortung in diesem empfindlichen Währungsund Wirtschaftsbereich verbunden waren25, Am 21. November 1435 beginnt ein Vierteljahrhundert der Verfassungsreformen26. Mit dem Zugeständnis des Rates, daß auch Mitglieder aus den Ämtern auf der oberen Bank des Ratsstuhles sitzen dürften, nicht mehr zufrieden, setzten Handwerk und Bürgerschaft eine völlige Umkehrung der Verfassungsverhältnisse durch. Ein neues, paritätisch aus Zünften und Meinheitsvertretern zusammengesetztes Vierzigerkollegium tritt mit der Kompetenz, in allen wichtigen Sachfragen von Krieg und Frieden bis hin zu Satzungen mit dem Rate mitentscheiden zu müssen, neben diesen, entspricht aber, wie die genaue Aufschlüsselung der Handwerksvertreter erkennen läßt, wohl mehr den Wünschen der Zünfte; denn die Aufteilung der zwanzig Vertreter der Meinheit bleibt ungeregelt27 .

Die Tatsache, daß die Auswahl der Vierziger dem Rate selbst übertragen ist und daß für die Zukunft die Selbstergänzung statuiert ist, läßt freilich erkennen, daß es sich eher um eine Scheinreform als um die Rückkehr der alten universitas civium als politische Entscheidungsmacht handelt. In der Tat haben die Bürger das neue Organ nicht akzeptiert, und schon am 30. Januar 143628 kommt es durch neuen Rezeß des Rates mit Ämtern, Gilden und Meinheit zu einer grundlegenden Neuerung: Alle nicht patrizischen Ratsherren mußten im Falle schwerwiegender Entscheidungen "zurücksprechen" mit Ämtern, Gilden und Meinheit. Deren organisatorischer und damit politischer Schwäche wurde abgeholfen durch die Schaffung eines Achtzehnerkollegiums (drei je Bäuerschaft), das direkt gewählt und Entscheidungsträger war. 25 Zur Zusammensetzung des Rates vgl. die Aufsätze von Hans Schlotter, Die Ratmannen der Stadt Hildesheim bzw. Bürger und Ratmannen der Stadt Hildesheim in der Norddeutschen Familienkunde 1975, S . 277ff.; 1977 S.17ff.; 1979 S . 321ff. und S. 401 ff. Zur Wirtschaftslage und Vermögensentwicklung K. J. Uthmann, Sozialstruktur und Vermögensbildung im Hildesheim des 15. und 16. Jahrhunderts (= Schriften der wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft zum Studium Niedersachsens, N.F. 65 [Veröffentlichungen des Nieders. Amtes für Landesplanung und Statistik, Reihe A: Forschungen zur Landes- und Volkskunde 1), 65), 1957. 26 Vgl. Gebauer (FN 3), Bd.1, S.llOff. Rezeß; UB (FN 2), Bd. 4, Nr. 259 und Borck (FN 11), S . 46ff.; ebd., Einl., S. 13- 16. 27 W. Tuckermann (FN 22), S. 33 ff., behandelt leider vorwiegend die politische Einwirkung des Rates auf die Ämter, nicht dagegen die Teilhabe der Ämter an der Stadtregierung. 2a UB (FN 2), Bd. 4, Nr. 264 und Borck (FN 11), S. 49f.

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Für eine ganze Reihe von Jahren funktioniert das neue System, und ob es nach den bisherigen Beispielen wieder die aus der Münzordnung des Rates von 1440 und den nachfolgenden Währungsregelungen auch in Lohn- und Preisfragen sich ergebenden Schwierigkeiten waren, die zu neuem Verfassungsstreit führten, kann allenfalls aus der Feststellung des neuen Rezesses vom 31. Oktober 144529 , wonach im Rat verschiedene Parteien gegeneinander gestanden hätten, vermutet werden. Diesmal wird grundlegend reformiert. Das imperative Mandat von 1436 und das System der Gruppenwahl fallen ebenso wie die Organisation der drei Räte. Über kreuz wählen Meinheit und Ämter je sechs Vertreter der Gegenseite, und Aufgabe des neuen Zwölferkollegiums ist die Bestimmung zweier Räte aus 24 Personen, für die eine Quotierung nicht mehr gilt: Sie sollen von keiner Partei wegen, sondern von der gemeinen Stadt wegen im Rate sitzen. Nach Durchführung der Ratswahl soll sich das Zwölferkollegium nach demselben Wahlmodus um weitere zwölf Mann ergänzen und als Vierundzwanzigerkollegium künftig am 2. Januar zusammen mit dem Sitzenden Rat den bisherigen Nachrat luttern. Ihm selbst aber war das Recht der Selbstergänzung so gegeben, daß vor der Ratslutterung künftig zwei Teile der Vierundzwanzigmann den eigenen dritten Teilluttern sollten. Für das Zurücktreten des Einflusses der Meinheit spricht es in diesem Zusammenhang, daß nur noch für den Fall gravierender neuer Belastungen von der Vollmacht des gemeinen Volkes die Rede ist, sonstige Entscheidungen in "großen Sachen" aber den Vierundzwandzigern übertragen sind. Offenbar waren sowohl die Handwerker als auch die Patrizier mit der Neuregelung unzufrieden, denn mit dem Ratsstatut vom 13. Dezember 144630, drei Wochen vor dem Zusammentreten des Vierundzwanzigerkollegs verabschiedet, kehrt das System der drei Räte zurück, jedoch mit anderen Quotierungen. Die Patrizier "oder ihresgleichen" erhalten acht Vertreter, vier Ämter und fünf Gilden ebenfalls je acht und die Meinheit zwölf. Die in der Kontrollkommission für die Stadtfinanzen vorgesehene Parität der Bürgerschaft (zwei Mann aus der Meinheit, zwei aus Ämtern und Gilden) scheint die Meinheit, die in dem ersatzlos weggefallenen Vierundzwanzigerkollegium wesentlich besser repräsentiert war, nicht befriedigt zu haben; denn unter demselben Datum vom 13. Dezember 144631 sah man sich zur Schaffung eines neuen Gremiums der "Olderlude" gezwungen, also eines Zwölferorgans der gemeinen Bürger, das jedoch vom Rat zusammengesetzt wurde und eigenartiger Weise nicht nur acht- mit den vorhandenen Bäuerschaften also nicht korrespondierende- Vertreter der Meinheit, sondern auch vier Patrizier haben sollte. Angesichts fehlender Zuständigkeiten 29 30

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UB (FN 2), Bd. 4, Nr. 592. UB (FN 2), Bd. 4, Nr. 634. UB (FN 2), Bd. 4, Nr. 635.

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des neuen Organs handelt es sich mehr um ein kosmetisches Zugeständnis an die Meinheit, das freilich in der Folge noch größere Bedeutung gewinnen sollte. Was an den Regelungen von 1446 den tatsächlichen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen wohl nicht mehr entsprach, war die Wiedereinführung des Gruppensystems insbesondere zur Berücksichtigung der Patrizier; der Anteil der Vermögenslosen (0- 10 Mark) war seit Jahrhundertbeginn von 11,3 auf 0,2% zurückgefallen, und die wohlhabender gewordene Bevölkerung wollte sich die Bevormundung, wie sie im alten Quotierungssystem zum Ausdruck kam, nicht mehr gefallen lassen3 2 • Am 27. 11. 144933 kehrte der neue Rezeß zu den Verfassungsprinzipien von 1445 zurück: Dreiersystem und Quotierung fallen, die Vierundzwanziger werden nach den 1445er Vorschriften neu gebildet, die Parität zwischen Ämtern und Gilden einerseits und der Meinheit andererseits ist damit wieder hergestellt. Die städtische Finanzkontrolle wird dem aus Ämtern, Gilden und Meinheit direkt gebildeten Viererkollegium entzogen und nun einem aus der Mitte der Vierundzwanziger gewählten Sechsergremium übertragen, dem, den bewährten Verfassungsprinzipien entsprechend, wieder das Recht der Selbstergänzung gewährt wird. Für die zahlreichen anderen städtischen Verwaltungsaufgaben, für die meist je zwei nicht aus Rat und Vierundzwanzigern stammende Personen zu wählen waren, behielt das Sechserkolleg die Aufsicht.

Für die Beteiligung der Bürgerschaft insgesamt, die alte universitas civium, findet sich 1449 lediglich die dehnbare Formel, daß man die Bürger mit Beschwernissen nicht belasten wolle ohne ihre Vollmacht; hier kam es also auf die Entwicklung der tatsächlichen Machtverhältnisse an, und sie lief naturgemäß in Richtung auf eine wachsende Stärkung des Rates, der immer häufiger mit der Formel "we de rat der stad Hildensem" begegnet. Die Begründung des welfischen Erbschutzes 1440 nannte noch die Beteiligung der Bürger, nicht aber mehr das 1454 abgeschlossene Bündnis mit Herzog Friedrich dem Jüngeren von Lüneburg, das den Rat stellvertretend auftreten sieht und eine Zustimmung der Vierundzwanziger und der Meinheit mindestens nicht erwähnt34. Gleichwohl kommt es am 19. Dezember 146035 noch einmal zu einer Verfassungsreform, die nun für lange Zeit abschließende Regelungen trifft . Das bisher unverbunden neben Rat und Vierundzwanzigerkollegium stehende Oldermannsgremium, jetzt aber aus 12 Vertretern der Meinheit bestehend und um weitere je sechs Vertreter von Ämtern und Gilden ergänzt, wird zu Vgl. Uthmann (FN 25), S. 23 ff. UB (FN 2), Bd. 4, Nr. 712 und Borck (FN 11), S. 51 ff. 34 Vgl. UB (FN 2), Bd. 4, Nr. 383 (1440 Sept. 29); UB (FN 2), Bd. 7, Nr.144 (1454 Feb. 9). 35 UB (FN 2), Bd. 7, Nr. 397 u. Borck (FN 11), S. 55f. 32 33

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Lasten der Vierundzwanziger, deren Selbstergänzung wegfällt, in das Verfassungssystem eingebunden: Es erhält die Lutterungsbefugnis für die Vierundzwanziger, denen die alleinige Lutterung des Rates zusteht. Keine Regelung war für die Wahl des Oldermannskollegiums selbst getroffen, so daß es rechtlich und praktisch bei der 1446 vorgesehenen Selbstergänzung blieb. Das Ergebnis der mittelalterlichen Verfassungsbewegung in Bildesheim ist also ein doppeltes Lutterungsverfahren, gekennzeichnet durch die Selbstergänzung des ersten Lutterungsorgans, des Oldermanns, und durch fehlende direkte Wahlmöglichkeiten der Bürgerschaft. Ergebnis ist aber auch die Beteiligung nur unterdurchschnittlich wohlhabender Bürger an der Stadtverwaltung, wie Untersuchungen der Schoßlisten gezeigt haben3 6 •

V. Reformation und Union Im Vorfeld der Reformationszeit37 erschütterte 1519- 1523 die Stiftsfehde Hildesheim. Sie brachte dem bischöflichen Landesherrn den Verlust von 2/a seines Territoriums und der Stadt eine empfindliche Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Interessen, für die sie sich in den Zwanziger Jahren durch Zwangsmaßnahmen gegen die Klöster und die Festsetzung allgemeiner Waffen- und Leistungspflicht für alle in dingpflichtigen Häusern Wohnenden schadlos zu halten suchte, d.h. auch Geistliche mußten seit dem 10. Januar 1528 unbeschränkt ihre Dingpflicht erfüllen, wie eine von "Rat, Vierundzwanzigmann, Aldermann der Gemeinheit, vier Ämter und fünf Gilden und allen, die mit für Bildesheim raten" beschlossene Ratswillkür deutlich macht. Mit den seit 1524, besonders aber 1526- 1530 meist von den "heren von dem rade" beschlossenen protestantenfeindlichen Maßnahmen, die bis hin zur Verhängung der Todesstrafe reichten- hierbei waren ausnahmsweise auch die Vierundzwanziger herangezogen worden - hatten die Ratsorgane allerdings den Bogen überspannt und die Grenze ihrer durch wirkliche Bürgerbeteiligung nicht sanktionierten Regierungsgewalt erreichtas. Nicht der Konfessionsstreit, sondern betrügerischer Umgang der von den Vierundzwanzigern eingesetzten Kämmerer mit den städtischen Geldern motivierte die Olderleute 1531, sich zum Sprecher des ohnehin wachsenden Unmuts besonders im protestantischen Bevölkerungsteil über den Rat zu machen und unter Berufung auf die verfassungsgemäß den Bürger in wichtigen Fragen zustehende Entscheidungsbefugnis deren Einberufung zu verUthmann (FN 25), S . 40ff.; vgl. Schlotter (FN 25), 1979, S. 321ff. Zur allgemeinen Situation Gebauer (FN 3), Bd. 1, S . 288ff. A . Bertram, Geschichte des Bistums Hildesheim, Bd. 2, 1916, S. 99ff. und W. Hartmann, Hildesheim im Jahrhundert der Reformation, 1929. as Urkundliche Belege im UB (FN 2), Bd. 8, Nr. 706, 739, 815, 816 u. a . 36

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langen. Als der Rat nachgab, waren die Tage eines Teils der Vierundzwanziger und des Rates gezählt; mitten im Jahr setzten die Häuerschaftsversammlungen Ersatzwahlen durch für die Herren aus dem Rathaus, denen man das Einlager befohlen hatte. Weitere Häuerschaftsversammlungen und zunehmende Unruhe erzwangen schließlich unter dem 4. April 1531 eine neue "Konstitution und Ordnung der Stadt Hildesheim, Geldes und Gutes halber" (die im Urkundenbuch fehlt), die ein neues Sechserkollegium zur Kontrolle der städtischen Kämmerer schuf39. Mitglied konnte jeder Bürger werden, geluttert wurde es jährlich zusammen mit den Vierundzwanzigern durch den Oldermann. Alle Einnahmen und Ausgaben mußten hinfort von den Kämmerern vor diesen Sechsern abgerechnet werden, die in der Öffentlichkeit wegen ihres Zuschauens bei der Kämmererarbeit die Bezeichnung "Bikieker" trugen4o. Kam es wohl in den dreißiger Jahren mehrfach zu Bewährungsproben der Stadtverfassung, als die Gremien sich weigerten, Häuerschaftsversammlungen in der Religionsfrage einzuberufen und damit deutlich machten, wie sehr das Prinzip der Selbstergänzung sich als Kontaktsperre zur Bevölkerung auswirkte, so blieben doch dank der starken Persönlichkeit des Bürgermeisters Wildefüer die Ratsorgane praktisch unverändert, blieb der natürliche Abschied durch Tod Hauptkriterium des Wechsels. Wenn selbst der Religionsumsturz des Jahres 1542 41 die Stadtverfassung unverändert bestehen ließ, obgleich die Durchsetzung des neuen Glaubens gegen Rat, Vierundzwanziger und Oldermann von den Bäuerschaftsversammlungen, die in einer Art Korrespondenzverfahren Beschlüsse faßten, und damit letztlich von der alten universitas civium erzwungen wurdewiederholt zeigte sich die Schwäche der sich selbst ergänzenden Ratsorgane, die mehrfach als Generäle ohne Bataillone dastanden -, so ist dies wohl darauf zurückzuführen, daß der Wortführer der Protestanten, der MajorisBäuerschaftssprecher Christoph von Hagen, 1543 selbst in den Rat gewählt wurde und 3f4 der Ratsherren und Vierundzwanziger ausgeluttert worden waren. Immerhin machen die im Umfeld der Augsburger Interims 1548 immer wieder einberufenen Bäuerschaftsversammlungen ebenso wie das Auftreten der "ganzen Gemeine der Stadt Hildensem" im Religionsrezeß vom 21. Juni 155342 mit Bischof Friedrich von Holstein deutlich, daß in den 39 Zu den im einzelnen unklaren Vorgängen vgl. M. Buhlers (Hrsg.), Joachim Brandis des Jüngeren Diarium, 1902, S.13ff. und K. Euling (Hrsg.), Chronik des Johann Oldekop, 1891, S. 179ff., sowie die Darstellung bei Gebauer (FN 3), S. 306ff. Unterlagen über die Versammlungen im Stadtarchiv Bildesheim (abgek. SAH), Best. 50, Nr. 19, die Konstitution ebd., Best.1, Nr.1059. 40 Die Zusammensetzung des Gremiums wird für das 17. Jh. dokumentiert in SAH (FN 39), Best. 50, Nr. 39. 41 Literatur wie FN 37; vgl. SAH (FN 39), Best. 50, Nr.184 (Protokoll der Bäuerschaftsversammlungen), Best. 100/ 153, Nr.132, 135. Zum weiteren Verlauf der Religionsauseinandersetzungen Akten in SAH (FN 39), Best.100/135.

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Umbrüchen der Reformationszeit es die Bürger der Meinheit waren, die die nach den Verfassungsrezessen ihnen nur noch in geringem Umfang verbliebenen politischen Rechte zu blühendem Leben erweckt hatten. Der gemeinsame Gegensatz gegen den katholischen Landesherrn führte am 15. August 1583 zu der Union mit der seit 1215 selbständig bestehenden Hildesheimer Neustadt, deren Verfassungsverhältnisse seit dem 30. Juni 1499 im wesentlichen denen der Altstadt entsprachen, auch wenn die Mitgliedszahlen der Ratsorgane wesentlich geringer waren (zwölf anfangs direkt gewählte Olderleute, Zwölfmann und Zwölferrat)43. Für die Verfassung der Altstadt hatte dieses Ereignis insofern eine Bedeutung, als nunmehr ein Samtrat und eine Samtregierung gebildet wurden, und zwar aufgrund des Unionsvertrages, der im Grunde ein Beherrschungsvertrag der Altstadt über die Neustadt mit einer Stimmenquotierung darstellt, die der Neustadt eine dauernde Minderheitsposition aufzwang. Hatte sich in der Braunschweiger Stadtverfassung 1408 die Altstadt von den weiteren Stadtteilen im Verhältnis 12 : 23 majorisieren lassen44, so war im Hildesheimer Samtrat mit 24: 4 Stimmen das Übergewicht der Altstadt zementiert, und in der Samtregierung sah es mit 72: 12 Stimmen nicht anders aus. Dem entspricht auch, daß die Hauptprotokollreihe der Stadt wohl in den Sitzungen zwischen Rat und Samtrat, Regierung und Samtregierung unterscheidet, von der Existenz der Neustädter aber direkt keine Notiz nimmt, was sich unter anderem in der Weiterführung der Bezeichnung Vierundzwanzigmann, die doch nun ein Achtundzwanzigmanngremium meinte, zeigt. Für das Verhältnis von Bürgerschaft und Stadtregierung in Hildesheim folgt aus der Art der Union, nämlich dem Hinzutreten von Teilen der Neustädter Gremien zu den Ältstädtern, daßtrotzeinheitlichen Bürgerrechts keine unmittelbare Beziehung zwischen den Bürgern und der neugebildeten Samtregierung der Stadt begründet wurde. Die Ratsbekanntmachungen der Folgezeit45 lassen erkennen, daß von Bürgermeister und Rat eigentlich nur noch bei reinen Polizeiverordnungen die Rede ist, während in den meisten Fällen die an Bürger, Bürgerinnen, Bürgerskinder und Einwohner gerichteten Bekanntmachungen wirtschaftlicher und politischer Bedeutung von der Samtregierung, also "Bürgermeister, Samtrat, Vierundzwanzigmann, Alterleuten der Gemeinheit, vier Ämtern und fünf Gilden und also der löblichen Samtregierung der Stadt HildesUB (FN 2), Bd. 8, Nr. 896. Vgl. Bertram (FN 37), S.187ff. J. H. Gebauer, Geschichte der Neustadt Hildesheim, 1937, S. 47ff. ; Gebauer (FN 3), Bd. 2, S . 13ff.; H .-G. Borck, Die Vereinigung von Alt- und Neustadt Hildesheim, in: Alt Hildesheim, Bd. 54, 1983, S. 65 ff. , H. v . Jan (FN 3), S . 89 ff. - Der Unionsvertrag ist in UB (FN 2), Bd. 8, Nr. 964 abgedruckt. 44 Ordinarius Brunsvicensis von 1408, abgedruckt bei L. Haenselmann und H. Mack (Hrsg.), 1872, Bd.1, S . 145ff. 45 SAH (FN 39), Best. 50, Nr. 257, Bde.1- 4. 42 43

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heim" erlassen werden. Indes ist, wie eine Prüfung der Ratsprotokolle ausweist, die Samtregierung als das wichtigste und umfassendste Organ mit 84 und mehr Personen im Regelfall nur drei- bis viermal im Jahr, manchmal seltener zusammengetreten; ein einzelner Rat tagte praktisch überhaupt nicht mehr, mindestens waren es in Rechtsfragen beide Räte, sonst aber Rat und Vierundzwanzigmann bzw. die entsprechenden Samtgremien. Nur in Einzelfällen wird erkennbar, daß sich die Ratsorgane und insbesondere das seit 1460 praktisch völlig unabhängige und jeder Kontrolle entzogene Oldermannskolleg weitgehend selbständig organisierten, zahlreiche Sonderregelungen und Privilegien bis hin zu eigener Kassenverwaltung und Betrieb eigener Kreditgeschäfte zur Verbesserung der Einkünfte aneigneten. Gelegentlich wird deutlich, daß das Oldermannsgremium in seine zwei Teile, den eigentlichen Oldermann der Meinheit und die übrigen zwölf Vertreter der vier Ämter und fünf Gilden auseinanderfiel, deren Selbstverwaltung vom Rat völlig unangetastet blieb, so daß sich die Bestellung der Vertreter für Amt und Gilden jedem weiteren regulierenden Einfluß entzog46 • VI. Die Einziehung der Stadtverfassung im Dreißigjährigen Kriege

Die mehrfache militärische Besetzung Hildesheims im Dreißigjährigen Kriege seit 1632 führt teils zu von oben verordneten Eingriffen in die Ratsverfassung, teils zu politischen Kämpfen zwischen Bürgerschaft und Rat und der Ratsorgane untereinander47 • Die obrigkeitlichen Eingriffe beginnen nach der Kapitulation Hildesheims am 30. September 1632 und seiner Besetzung durch die Truppen des Ligafeldherrn Pappenheim mit der Anweisung des vom Landesherrn eingesetzten Restitutionskommissars, den zur Deckung der Kriegskontributionen erforderlichen fünfzehnfachen Schoß nur auf protestantische Bürger umzulegen, und dem Befehl an die Lutteranten, auch katholische Bürger in den Rat zu wählen und die Namen der Gewählten schriftlich einzureichen. Trotz der militärischen Besetzung jedoch lehnten Bäuerschaftsversammlungen und Lutteranten den Gehorsam ab, und als der Restitutionskommissar übrigens der Osnabrücker Bischof Franz Wilhelm von Wartenberg- einige Personen aus der Ratsliste strich, blieb diese das Jahr 1633 über unvollständig. Erstmals mußte sich der protestantische Rat von der bischöflichen Kanzlei bestätigen lassen, und die fast in Permanenz tagende Samtregie46 Vgl. z.B. das Oldermannsbuch (SAH (FN 39], Best. 50, Nr. 52) mit Beschlüssen ab 1594 und Nachrichten in den Ratsprotokollen vom August 1617 und Dezember 1618 (SAH [FN 39), Best. 50, Nr. 154, Bd. 6). 47 Zur allgemeinen Geschichte Bildesheims 0. Fischer, Die Stadt Bildesheim während des Dreißigjährigen Kriges, 1897, und Gebauer(FN 3), Bd. 2, S. 35ff., sowie Bertram (FN 37), Bd. 3, S. 3ff., bes. S. 25ff.

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rung nahm immer öfter ihre Zuflucht bei den Bäuerschaftsversammlungen, auf deren Entscheidung sie eigene Beschlüsse aussetzte48 . Nachdem am 17. Juli 1634 die katholischen Truppen die Stadt verlassen und zwei Tage später protestantische und welfische Truppen sie besetzt hatten, kehrten dieselben Probleme unter umgekehrten Vorzeichen zurück. Jetzt zahlten die Katholiken den fünfzehnfachen Schoß nach, jetzt wurde der gegen den erbitterten Widerstand der Ratsorgane und der Bürgerschaft eingeführte Gregorianische Kalender wieder abgeschafft, und am 16. September 1634 traf ein Befehl Herzog Georgs von Braunschweig-Wolfenbüttel ein, die Katholiken aus dem Rat zu entfernen. Der Rat beugte sich, indem er die katholischen Mitglieder nicht mehr zu den Ratssitzungen fordern ließ, wollte aber von einem von Oldermann und Vierundzwanzigern gemachten Angebot, die Katholiken förmlich abzuwählen, nicht Gebrauch machen49. Im November/Dezember 1634 sahen sich die Ratsorgane wegen der vom faktischen neuen Landesherrn verlangten Beseitigung der Mißbräuche beim Stadtregiment gezwungen, in Überlegungen wegen einer Verfassungsreform einzutreten, die nach dem Willen der in der Stadt anwesenden braunschweigischen Räte als "Einziehung", also Verkleinerung der Personenzahl gedacht war. Bezeichnend für die Hildesheimer Regierungsverhältnisse mag man es nennen, daß der Bürgermeister Dr. Mellinger selbst erst Erkundigungen einzog, wieviel Personen eigentlich an der Stadtregierung beteiligt waren nach seinen Erkundigungen waren es 109 und damit 25 mehr, als nach den Rezessen zu erwartenso! Nachdem Herzog Georg am 28. Dezember mitgeteilt hatte, daß zwar die Katholiken aus allen Ratsgremien entfernt werden müßten, die Entscheidung über eine künftige Neuorganisation des Stadtregiments aber bis auf weiteres ausgesetzt werde, konnte man einen Deputationsvorschlag beraten, der bei unveränderter Fortgeltung des Verfassungssystems in der alten Form eine Verringerung der Person aller Ratsorgane auf 18 Mann vorsah, wobei lediglich im dritten Gremium die Frage entstand, ob diese zu gleichen Teilen auf Meinheit, Ämter und Gilden oder paritätisch 9 : 9 auf Bürger und Handwerk verteilt werden sollten. Die Deputation hatte für die Regierung 117 Personen gezählt, die nunmehr auf 54 reduziert werden sollten. Am interessantesten sind die Verhandlungen über das Abstimmungsverfahren; hier wird erstmals deutlich - und in der Literatur ist dies völlig unbekannt- daß es im Hildesheimer Stadtregiment nur drei Voten gab, ähnlich den Verhältnissen im Reichstag, wobei beide Räte zusammen eine 48 Ratsprotokolle vom 14. und 22. 12. 1632 (alter Stil), ebenso vom Dez. 1633 (SAH [FN 39], Best. 50, Nr. 154, Bd. 12). 49 Ratsprotokoll vom 16. 9. 1634 (SAH [FN 39], Best. 50, Nr. 154, Bd. 13). 50 Ratsprotokoll vom 22. 12. 1634 (ebd.).

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Stimme, die Vierundzwanzigmann eine Stimme und Oldermann, Ämter und Gilden ebenfalls eine Stimme besaßen. Üblich war auch ein dem Re- und Korrelationsverfahren des Reichtstages ähnliches Hin- und Her-Beraten zwischen den drei Verfassungsorganen mit dem Ziele der Einstimmigkeits!. Das reichstagsähnliche Verfahren wird durch die Vorgänge vom 31. Dezember 1634 deutlich, als sich Ämter und Gilden darüber beschwerten, ihr votum resolutivum sei bei der letzten Ratssitzung nicht berücksichtigt worden und der dort gefaßte angebliche Ratschlag deshalb ungültig. So mußte man den Beschluß, sämtliche Ratsorgane auf 18 Mann einzuziehen, wiederholen. In den Kern des Verfassungsstreits aber geriet die künftige Zusammensetzung des dritten Verfassungsorgans, weil bei der vorgesehenen Neunerzahl für vier Ämter und fünf Gilden die Ämter eine Überstimmung befürchteten und diese nicht zulassen wollten; unter Berufung auf den Rezeß von 1460 verlangten beide deshalb die alleinige Reduzierung der Vertreter der Meinheit auf sechs Personen, um so die damals Ämtern und Gilden eingeräumte Zahl von je sechs Vertretern zu retten. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Hälften des dritten Ratsorgans insgesamt wie auch zwischen den beiden Teilen - Ämtern und Gilden - der einen Hälfte ähneln zweifellos dem Rangstreit, wie er im Reichstag zwischen geistlichen und weltlichen Fürsten des Reichsfürstenrates so häufig vorkam und sich letztlich nur durch die Strophenregelung gütlich ausgleichen ließ52. Den Hildesheimer Verfassungsstreit erschwerte die verfassungspolitische Grundsatzfrage, ob man die Bürgerschaft die letzte Entscheidung treffen lassen solle, was die höheren Kollegien mit der Behauptung, "der Stadtrezeß sei von der Stadtregierung gemacht und die Bürgerschaft nicht dabei adhibiert worden", ablehnten. Gegen den Widerstand der Gilden blieb es schließlich bei der Alternation zwischen Ämtern und Gilden, denen abwechselnd fünf und vier Vertreter zustehen sollten. Die Rangfrage, wer als erster mit der fünften Stimme alternieren dürfe, wurde vom Bürgermeister durch "Dezision von oben" zugunsten der lautstark protestierenden und kontradizierenden Gilden gelöst, während die Grundsatzfrage der :r-{eustrukturierung des Oldermannes durch etwaige Wahl ungelöst blieb. 51 Vgl. J. J. Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 49, Frankfurt/M. und Leipzig 1753, S. 117 ff. Zum Vergleich mit den Reichstagsstrukturen vgl. auch H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, 1966, S. 88ff., sowie J. J. Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bde. 4- 6, Frankfurt/M. 1767- 1774. 52 Ratsprotokoll vom 21. 12. 1634 in SAH (FN 39), Best. 50, Nr. 154, Bd. 13. Zur Organisation des Reichstages vgl. J. J. Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 48, Frankfurt a. M. I Leipzig 1752, S. 1 ff. Ahnlieh konzipierte Organisationsverhältnisse gab es auch im Schwäbischen Reichskreis, wo innerhalb der fünf Bänke die vierte - die Grafenbank- in zwei Hälften auseinanderfieL H.-G. Borck, Der Schwäbische Reichskreis im Zeitalter der französischen Revolutionskriege 1792 - 1806, 1970, S. 39 ff. (Veröffentlichung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Bd. 61).

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Bei der Ratssetzung zeigte sich, daß die welfische Regierung mit der eigenmächtigen Ratseinziehung ohne Zustimmung des Landesherrn höchst unzufrieden war; die neugewählten Achtzehner standen nach getaner Wahl auf und wollten sich nicht wieder setzen aus Sorge, es könne den neuen Herren nicht gefallen. Schließlich blieb aber der Streit doch auf sich beruhen, zumal auch in der Neustadt die Reduzierung der Räte von 12 auf 8, der übrigen Kollegien von 12 auf 6 Personen erfolgt wars3. Während das Verhältnis zwischen Altstadt und Neustadt durch zunehmendes Übersiedeln von Neustädter Bürgern in die Altstadt immer größeren Spannungen ausgesetzt war- der Neustädter Rat verlangte seine Bürger zurück -, kam es wegen der Belastungen durch Service und Einquartierungen auch zum Streit über die Privilegien der Bürgermeister und ihrer Witwen. Als Oldermann, Ämter und Gilden diese ablehnten, erklärten sie gegen die Feststellung der oberen Kollegien, mit zwei Stimmen sei schon ein Ratschlag zustande gekommen, ganz dreist, "sie wüßten von keinem Schluß, denn wenn es ein Schluß sein sollte, müßte derselbe von ihnen herkommen, denn sie drei Stimmen hätten, und sich auf eine alte Gewohnheit beriefen"54. Dieser den Vorgängen bei den französischen Generalstaaten 1789 ähnelnde Versuch des unteren Kollegiums, die Vertretung der Bevölkerung und damit die größere Stimmenzahl für sich in Anspruch zu nehmen, ließ sich indes nicht durchsetzen. Doch verlangte der Oldermann im Gegenzug Freiheit von den unbeliebten Wachten, die ihm auch früher zugestanden hatte, und erklärte sich zur Eidesleistung und damit Mitwirkung an der Stadtverfassung erst nach monatelangen Auseinandersetzungen, die ihm schließlich die Wachtfreiheit brachten, bereit. Daß jetzt jede Kleinigkeit zur Prinzipienfrage gemacht wurde, zeigte sich auch im November 1635, als die beiden oberen Gremien wiederum gegen das dritte mit 2: 1 Stimmen es durchsetzen mußten, daß entsprechend den Reichsabschieden gelehrte Bücher nicht zum Schoß herangezogen wurden, wohingegen Oldermann, Ämter und Gilden meinten, sie müßten ja auch ihre Handwerksinstrumente zur Schoßzahlung veranlagenss. Im Vorfeld der Lutterung flammte im Dezember 1635 der Rangstreit zwischen Ämtern und Gilden erneut auf und konnte nur durch eine Vermehrung des dritten Kollegiums auf 20 Personen, davon 5 aus Ämtern und 5 aus den Gilden, beigelegt werden. Nun aber ging der Streit mit dem Oldermann weiter, weil dieser in das Achtzehnerkollegium nur acht Mann, Ämter und Gilden dagegen je fünf Mann bestellen solltenss. Ratsprotokolle vom 2.- 14. Jan. 1635 (FN 49). Ratsprotokoll v. 23. März 1635 (ebd.). 55 Ratsprotokolle v. 30. 4., 22. 5., 12. 11.1635 (SAH [FN 39], Best. 50, Nr.154, Bd.14). ss Ratsprotokoll v. 3.12. 1635 (ebd.). 53

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So war der Boden für schönsten Unfrieden bereitet, als der Rat die Vorjahresfrage einer Lutterung des Oldermannes wieder aufgriff und damit einen Kampf aller gegen alle auslöste. Die Vierundzwanziger waren zwar für die Lutterung, wollten aber den Rat als Lutterungsorgan nicht anerkennen. In der Tat hätte sich ja auch das gesamte Verfassungssystem völlig im Kreise gedreht, wenn der Oldermann die Achtzehner, die Achtzehner den Rat und der Rat wieder den Oldermann zu lutterngehabt hätte (11. Dezember 1635). Der Oldermann selbst dachte nicht daran, sich dem Wunsche des Rates, "von dem gefaßten Wahnab-und nicht steif dabei bestehen zu bleiben", zu beugen, war auch nicht mit einer Kompromißlösung, die ihn interimsweise bestätigt hätte, einverstanden, sondern verlangte eine Abstimmung der Bürgerschaft. Im Gegensatz zu seiner bisherigen Auffassung legte Bürgermeister Oppermann nun doch den Bäuerschaften die Fragen vor, ob erstens der Oldermann perpetuierlich sein und zweitens im andern Falle der Rat die Inspektion über die Olderleute haben solle. Das Ergebnis entsprach gar nicht den Ratswünschen, da die Bäuerschaften etwas beantworteten, was nicht gefragt worden war: Sie sprachen sich für die jährliche Direktwahl von zehn Olderleuten durch die sechs Bäuerschaften nach einem von ihnen selbst beschlossenen Wahlmodus aus. Den Erklärungen des sich in seiner obrigkeitlichen Autorität verletzt fühlenden Rates, man könne sich von der Bürgerschaft nicht die Lutterung vorschreiben lassen, erwiderte der Sprecher des bei den Bäuerschaftsversammlungen gewählten Bürgerausschusses, Conrad Lilie, die Bürger "wollten in dem Unwesen nicht mehr leben" und selbst entscheiden. Aus mehreren Denkmodellen entwickelte der Rat daraufhin den Kompromißvorschlag, die Bäuerschaften sollten 24 Personen wählen, aus denen der Rat zehn Alterleute bestätigen könne. Tag um Tag wurde nun um kleinliche Modalitäten gestritten, die freilich die grundsätzliche Autorität des Rates berührten. Partout wollte man die Bürgerschaft nicht zehn Personen wählen lassen, man verlangte eine größere Zahl, aus der der Rat entsprechend dem Verfahren von 1446, also der Einsetzung des Oldermannskollegiums durch den Rat, eine Entscheidung treffen könne. Lilies äußerster Kompromiß war es, an Stelle der erforderlichen zehn Mann zwölf wählen zu lassen, von denen der Rat dann zwei dimittieren könnte; der Rat reduzierte seinen Wahlwunsch von 24 über 20 schließlich auf 15- 16 Personen. Trotzdem kam es zu einer Einigung nicht: "Weil aber die Obrigkeit solche beharrliche Widersetzlichkeit nicht billigen könne, auch sich nicht schuldig erachtet, ihren Untertanen zu weichen," brach der Bürgermeister unter Berufung auf die vota libera der Regierung die Verhandlungen mit Lilie ab, und der Ausschußvorsitzende antwortete mit der klassischen Erklärung, "daß dieses Stadtregiment von ihnen, den Bürgeren, herkäme, denn wenn 8 Der S taat, Beiheft 8

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sie nicht wären, wäre auch keine Rat, und der heute Ratsherr, wäre des anderen Jahres ein gemeiner Mann" 57. Ohne Ratsgenehmigung wurden nun die Bürger Mann für Mann befragt und entschieden sich fast einmütig, zwölf Personen zu Papier zu bringen, ganz gleich, was der Rat beschließen würde. So mußte sich der Rat schließlich beugen, tat es aber nur unter Vorbehalt seiner Rechte, deren Anerkennung durch die Gegenpartei er wünschte58 : Nur so wollte er sich mit der Wahl von zwölf Personen für diesmal zufrieden geben. Als der Bürgerausschuß die Ratsentscheidung nur in genere annehmen wollte, weil er sich gegen die Protestationen und Reservationen des Rates seine eigenen Rechte vorzubehalten gedachte, verlangte der Rat die bedingungslose Annahme, holte sich aber eine Abfuhr. Daraufhin traf er eine klassische Hildesheimer Entscheidung: In Abwesenheit der Bürgerschaftsdeputierten erklärte er trotz deren ausdrücklich gegenteiliger Stellungnahme die Annahme seiner Ratssignatur per Ratsbeschluß als "pure", unterstellte also die Anerkennung der in Wahrheit gerade durch den Gegenprotest nicht anerkannten Ratsprotestationen und-reservationenund wahrte damit in seinem nichtöffentlichen Protokoll seine papierenen Rechte. Erst jetzt wurde die Ratswahl 1636 möglich. Hatte man sich das ganze Jahr über mit der Aufstellung einerneuen Kontributionsrolle unter Beteiligung der Bürgerschaft, von der neun Vertreter hatten mitarbeiten sollen, beschäftigt, wobei der Oldermann anstelle der Vermögenssteuer eine Art Klassensteuer in die Diskussion einbrachte, die aber am Einspruch des Bürgermeisters scheiterte, so kehrte am 6. Dezember 1636 mit nahendem Jahresende der Streit um die Lutterung des Oldermanns zurück. Während Rat, Achtzehner und auch Ämter und Gilden aus dem dritten Kollegium den Oldermann in der gegenwärtigen Form beizubehalten gedachten, weil sie eine Ausdehnung des direkten Wahlverfahrens auf ihre eigenen Stühle fürchteten, waren es jetzt die Olderleute, die nicht im Amt bleiben wollten. Die Bürgerdeputation des Vorjahres verlangte vom Rat Neuwahlen, sah sich aber mit dem Argument konfrontiert, daß auch ihr eigenes Mandat nicht das Ergebnis einer Neuwahl war, sondern lediglich aufgrund der Vorjahreswahlen weiter beansprucht wurde; schließlich verbot man ihr geradezu die Vorbereitung neuer Präsentationen zum Oldermann. Das am 23. Dezember 1636 vorgeschlagene indirekte Wahlprojekt des Bürgermeisters Brandis, 12 Personen aus den Bäuerschaften aufs Rathaus zu fordern, die 15 präsentieren sollten, aus denen der Rat zehn zu bestimmen hätte, fand in den Gremien keine Zustimmung, so daß schließlich Oldermann, Ämter und Gilden unter Hinweis auf ihren Eid den Befehl erhielten, die Lutterung vorzunehmen59. 57

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Ratsprotokoll v. 15.12. 1635 (ebd.). Ratsverordnung v. 17.12. 1635 im Ratsprotokoll (ebd.).

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So geschah es, und es versprach neuen Streit, daß der neue Bürgermeister Dr. Johannes Mellinger anläßtich seiner Beeidigung am 17. Januar 1637 60 erklärte, die jährliche Wahl des Oldermannes setze die alten Rechte des Ratstuhles herab, und er werde auch künftig dem alten Herkommen gemäß Oldermann, Amt und Gilden nur ein Votum in der Stadtregierung gestatten. Die Probe aufs Exempel erfolgte am 14.Juli 1637, als der Brandissehe Vorschlag vom Jahresende wieder aufgegriffen und gegen die Stimmen der Achtzehnmann zum Ratschlag erhoben wurde, wobei der Bürgermeister erklärte, "daß zum Rate nur drei Vota fielen und demzufolge die Ablehnung des Achtzehnmannes nicht attendieret zu werden brauche" 61 . Die Entwicklung in der Folge zeigt jedoch, daß es dabei nicht blieb, und in den kommenden Wochen tauchen immer neue Projekte auf, die sich im Kern um Präsentation und Lutterung durch den Rat drehen. Was eben noch Ratschluß war, wurde in der nächsten Sitzung umgestoßen, "difficultiert", wie es in den Quellen heißt, und der Oldermann beharrte jetzt auf seiner Meinung, "es müsse die Wahl von unten auf und nicht von oben herunter geschehen" 62 • Kompliziert wurde die Frage weiter durch die plötzlich von den Achtzehnern aufgestellte und völlig aus der Luft gegriffene Forderung, die zur Lutterung zu bestellenden Personen sollten Amt und Gilde haben, wogegen sich die Olderleute als Vertreter der Meinheit energisch zur Wehr setzten. Gleichwohl fand ein solches Projekt schließlich am 9. Oktober 1637 in der Bürgerschaft eine Mehrheit: Zehn Mann aus der Bürgerschaft, davon möglichst viele mit Amt und Gilden, sollten vom Rat bestellt werden und nach der Vereidigung zehn Personen zum Oldermann präsentieren und das Wahlverfahren gegebenenfalls so lange fortsetzen, bis der Rat alle bestätigt hätte. Die Direktwahl des Oldermannes war also verhindert, die Neuorganisation führte praktisch zur Stärkung der Ratsautorität Freilich geschah zum Jahresende, was zu erwarten war: Angesichts der drohenden Absetzung behauptete der Oldermann, der von Rat und Achtzehnmann der Bürgerschaft vorgelegte Beschluß habe gar keine Gültigkeit, weil Oldermann, Ämter und Gilden drei Stimmen besäßen und demnach ein rechtskräftiger Ratschlag gar nicht zustande gekommen sei, über den man abstimmen könnte. Tatsächlich gelang es dem Oldermann, auch die Achtzehnmann zu überzeugen, so daß diese schließlich am 1. Dezember 1637 erklärten, "Wer einen Ratschluß mache, dürfe denselben auch wieder abtun", und damit wieder zum Nullpunkt zurückkehrten. Jetzt wurden alle längst abgetanen Verfassungsprojekte nebeneinander und durcheinander erörtert, und am Ratsprotokoll in SAH (FN 39), Best. 50, Nr. 134, Bd. 15. Ebd., Bd.16. 61 Die Mehrheitsmeinung der zwei Voten stand indes am 27.Juli 1637 bereits wieder zur Disposition, s. Ratsprotokoll (ebd.). 62 Ratsprotokoll v. 14.9.1637 (ebd.). 59

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11. Dezember 1637 war unter den Protestationen und Reprotestationen aller Beteiligten keine Einigkeit mehr darüber zu erzielen, ob überhaupt und wenn, was für ein Ratsbeschluß eigentlich vorlag, ja, über welches Projekt man eigentlich beriet. Als man sich endlich am 16. Dezember doch noch auf den ja schon Monate vorher gefaßten Beschluß einigte, zwölf Personen aus den Bäuerschaften vom Sitzenden Rat bestimmen zu lassen, die Amt und Gilde besitzen sollten, und diese dann nach Beeidigung zehn Personen zum Oldermann wählen zu lassen, da war die Auseinandersetzung endlich am Ziel. Allerdings tauchten 1638 und 1639 ganz andere und neue Probleme auf, denn da man wegen des passiven Wahlrechts keine Regelung getroffen hatte, ergab sich zur unangenehmen Überraschung der höheren Stühle, daß die Oldermannswähler in den Oldermann Mitglieder des Rates und des Achtzehnmannstuhles wählen wollten63 • Dieser Schock führte in den beiden oberen Kollegien am 20. Dezember 1638 zur Einsicht, daß das alte Verfahren vor der Reform des Oldermanns doch das bessere gewesen war; eine Lutterung fand bis zur nächsten Verfassungsreform im 18. Jh. nicht mehr statt, die jahrelang so wütend bekämpfte Perpetuierung des Kollegiums war wieder Wirklichkeit geworden. Bis 1702 blieb man im Oldermannskollegium, bis man starb oder in einen höheren Stuhl gewählt wurde 64 • VII. Die Reform der Stadtverfassung von oben

Während Bischof Jobst Edmund von Brabeck sich wegen seiner Rekatholisierungsversuche in lang andauernde Streitigkeiten mit dem evangelischen Teil seiner Landstände verwickelte, geriet die wegen des welfischen Erbschutzes davon unberührte Stadt Hildesheim in innere Wirren. Ursache war die desolate Finanzsituation, die im wesentlichen auf die chaotischen Kassenverhältnisse zurückzuführen war. Was Eingeweihte längst wußten, wurde im Januar 1701 deutlich, als die Kämmereikasse völlig erschöpft war und Anweisungen aus den Kassen anderer Ämter an die Kämmereikasse beschlossen werden mußten. Zum Ärger um die nirgendwo funktionierende Rechnungslegung - besonders in der Brauereigilde herrschte heftiger Streit -kamen Verfassungsstreitigkeiten, die sich an der Abwahl des Ratsherrn Jobst Hansen zu Weihnachten 1701 entzündeten. Dieser sah seine Hauptgegner bei den Ämtern, ließ sich zum Gildemeister der Wollenwebergilde wählen und hetzte nun die Gilden gegen die Stadtregierung aufss. Ratsprotokoll1638/39 SAH (FN 39), Best. 50, Nr.154, Bd.17. So ist es dem Oldermannsbuch (s. FN 46) zu entnehmen. 65 Zur allgemeinen Situation Gebauer (FN 3), Bd. 2, S. 121 ff. und ders., Die Hildesheimer Unruhen vom Winter 1702/1703 .. . : Zeitschrift des Harzvereins, Bd. 50, 1917, S . 65ff. (auch: Ausgewählte Aufsätze zur Hildesheimer Geschichte, 1938, S . 48ff.). 63

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Nachdem der Versuch der fünf Gilden, Abschriften der gültigen Stadtrezesse zu verlangen, an der Behauptung des Rates gescheitert war, die Rezesse seien keine instrumenta communia66, entfachte Hansen einen Streit um das dritte Ratsorgan, den Oldermann, der, wie es in einer der Ende 1702 eingereichten Beschwerdeschriften hieß, durch die Weigerung, sich luttern zu lassen, eine wahre Tyrannei ausübe. Als ein Versuch der Regierung, die Konvokationen der Gilden verbieten zu lassen, nicht fruchtete und die Gildevorsteher unter Hinzuziehung weiterer Gildemitglieder am 8. Dezember 1702 in großer Zahl aufs Rathaus kamen, um die Ratsverhandlungen unter Druck zu setzen, kapitulierten die städtischen Gremien auf der ganzen Linie: Mehrere Ratsherren wurden aus der Ratsarbeit ausgeschlossen und arretiert, die Lutterung des Oldermanns eingeleitet67. Der dadurch erzielte Zeitgewinn war jedoch von kurzer Dauer, denn nun rotteten sich die über den ungebührlichen Einfluß der Gilden erbosten Bürger zusammen, verlangten den Abtritt der Gildemeister aus den Ratsverhandlungen und präsentierten schließlich drei Forderungen: 1. Sofortige Rechnungslegung, 2. Lutterung des Oldermanns, 3. Neueinsetzung des Sechsmanngremiums. Erst danach wollten sie die Lutterung der Achtzehner zulassen. Angesichts der wütenden Stimmung der Bürger, die sich durch die auf das Drängen der Gilden voreilig durchgeführte Beurlaubung einiger ihrer Vertreter beeinträchtigt sahen, rief der Rat die Arretierten wieder zu seinen Sitzungen und setzte das Lutterungsverfahren aus. Die Frage, ob die neuen und jetzt nicht mehr gebrauchten Olderleute nun eigentlich in Amt und Würden waren oder nicht, spielte indes praktisch keine Rolle mehr, weil am 28. Dezember die Bäuerschaften zur Bestellung eines Sechsunddreißigerkollegiums schritten, das sich am 3. Januar 1703 beim Bürgermeister legitimiertess. Aus Furcht, die Entwicklung könne dem Rat aus den Händen gleiten, hatte er schon im Dezember dem Schutzherrn über die Schwierigkeiten berichtet; am 9. Januar 1703 legte der braunschweigisch-lüneburgische Hofrat Johann Christoph von Hedemann nun ein Kreditiv Herzog Georg Wilhelms vor, und die Regierung nahm dankbar und einmütig die Mediation des Schutzherrn an. Diese Rechnung aber war ohne den Wirt gemacht; die Sechsunddreißigerdeputation verlangte sofortige Rechnungslegung vor Stadtverfassungsverhandlungen, und Hedemann mußte fluchtartig die Stadt verlassen. Erst unter dem Eindruck der Drohung, "die Stadt im Klumpen liegen zu sehen", kam es zu einem einhelligen geheimen Beschluß der SamtregieRatsprotokoll vom 17.10.1702, SAH (FN 39), Best. 50, Nr.154, Bd. 56. Das Handwerk war im 18. Jh. Hildesheims bedeutendster Erwerbszweig, von dem 1/3 der Gesamtbevölkerung abhing. (K. H. Kaufhold, Das Handwerk der Stadt Bildesheim im 18. Jahrhundert, 2. überarb. Aufl. 1980, S. 236f.). Hieraus dürfte sich der Anfangserfolg der Gilden erklären. 68 Ratsprotokoll v. 4.1. 1703 (wie FN 66). 66 67

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rung, ohne Rücksicht auf die Bürgerschaft die Tore zu öffnen und die Cellischen Truppen in die Stadt zu lassen. So konnten am 23. Januar 1703 unter dem Schutze der als niedersächsische Kreistruppen deklarierten welfischen Soldaten und unter Aufsicht des Hofrates Hedemann die Verhandlungen über eine Neuorganisation der Stadtverfassung beginnen, die angesichts der heillosen Zerstrittenheit der Hildesheimer von den verfassungsmäßigen Organen wohl niemals hätte zustande gebracht werden können. Auf dem Tische lag immer noch die Forderung der Bürgerdeputation, erst 18 Vertreter der Bürgerschaft zu wählen, dann die Rechnungen sofort ablegen zu lassen und erst im letzten, dritten Schritt Bestellung und Reduzierung des Stadtregiments durchzuführen. Diese Prioritäten machten die Bürgerdeputierten auch dem Vermittler sofort deutlich, und angesichts der trotz der stationierten Soldaten drohenden Unruhen und auch wegen der Konfusion in den Ratsorganen bei der Prioritätenfrage gab die Regierung nach und begann, die Rechnungen abzulegen. Indessen wehrten sich die drei Gremien gegen die von den Bürgern verlangte Reihenfolge der Verhandlungspunkte und erklärten Hedemann, das neue Regiment sollte das alte sein, nämlich in bisheriger Form und Observanz nach den alten Rezessen zustande kommen, gaben allerdings zu, daß die Bürgerschaft in diesem Punkte "different" sei. Nach dieser Erklärung vom 27. Januar allerdings war es mit der Einigkeit vorbei: Nicht einmal die von Hedemann geforderte Vollmacht für die Mediation kam ordnungsgemäß zustande, zumal dem Rat die im Verhandlungsauftrag stehende freie Wahl in die Ratsgremien suspekt schien. Schließlich wurde die Vollmacht doch vom Rat unterschrieben, nicht aber von den Achtzehnmann und auch nur teilweise vom Ständestuhl; sie wurde also unterschrieben ohne einen ordnungsgemäß zustande gekommenen Ratschluß. In den weiteren Verhandlungen verständigten sich Stadtregierung und Vermittler auf eine Einziehung der Ratsstühle, konnten sich aber über die Zahlen zunächst nicht einigen, auch blieb die Einrichtung eines großen Bürgerkollegs strittig. In eine Existenzkrise geriet der Achtzehnerstuhl, als die anderen Organe sich für seine ersatzlose Streichung und die Besetzung des Rats und Altermannstuhles (wie der alte Oldermannsstuhl nun meist genannt wurde) mit je 16 Personen aussprachen59. Kern der Ratsdiskussion war die Lutterungsfrage, weil sie an die Wurzeln der Ratsmacht rührte. Vor der Auslieferung des Lutterungsverfahrens für den Altermannsstuhl an die Bürgerschaft scheute der Rat zurück. Befangen im korporativen Denken langer Jahrhunderte, sah er in der direkten Beteili69 Ratsprotokoll v. 20. 4. 1703 (ebd.); Unterlagen über die Verhandlungen zwischen Hedemann und einzelnen Ratsorganen im SAH (FN 39), Best. 100/170, Nr. 44.

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gung der Bürger an der Stadtverfassung nichts als ein Element der Unruhe, das es auszuschalten galt. So vergingen die Monate, der Verfassungsstillstand dauerte an, und eigenmächtige Wahlen bei den Gilden zeugen vom Schwund der Ratsautorität, auch wenn sie nicht überall so bühnenreif abliefen wie bei der Schmiedegilde. Dort hatte der Rat, um eine Neuwahl des Gildevorstandes zu verhindern, Cellische Soldaten vor dem Brauergildehaus aufmarschieren lassen, die Schmiedegildeverwandten aber stiegen durch die Hinterfenster, wählten den neuen Gildevorsteher und führten ihn vor den Augen der gerade zur Parade angetretenen Soldaten über den Marktplatz feierlich in sein Haus zurück70• Derartige Vorgänge nährten Befürchtungen in der Stadtregierung, die Bürger könnten selbständig eine Lutterung des Altermanns vornehmen, und so mußte man den Hofrat Hedemann um Schutz der Ratsgerechtsame bitten. Erstes Ergebnis dieser Aktion war freilich das Verbot des Vermittlers, eigene Ratsverhandlungen mit der Bürgerschaft ohne seine Beteiligung zu führen. Immerhin zeichnete sich jetzt ein Verhandlungsergebnis ab, bei dem nur noch Existenz oder Nichtexistenz eines großen Bürgerkollegiums offen war. Die von der Stadtregierung auf die "beliebige Decision" des Schutzherrn ausgestellte Regelung fiel am 29. Juni gegen das Bürgerkollegium aus 71 . Daraufhin konnte am 1l.Juli der neue Stadt- und Wahlrezeß vor beiden Räten und achtzehn Deputierten der Bürgerschaft verlesen, gesiegelt und in einem Exemplar auch den Bürgerdeputierten ausgehändigt werden72 . Dieser Rezeß- das erste Verfassungsdokument seit 1249, das durch Einwirkung von außen zustande gekommen war und das, obgleich als Vergleich zwischen streitenden Parteien charakterisiert, durch die Selbsternennung des Schutzherrn zum Garanten auch für die Zukunft eigenständige Verfassungsregelungen ausschloß- griff tief in die bisherige Verfassungsorganisation ein. Der Sechsmannstuhl von 1531 wurde ebenso wie der Achtzehnmannstuhl aufgehoben, die Stadtregierung bestand hinfort aus zwei Stühlen (§ 2). Den Ratsstuhl (§ 3) bildeten zwei Bürgermeister und zehn Ratsherren, zu denen noch Syndikus und Vizesyndikus hinzukamen, der Ständestuhl setzte sich aus sechs Alterleuten der Gemeinde sowie drei Vertretern der Ämter unddreiender Gilden zusammen. Für die Samtregierung traten vier Vertreter der Neustadt zu den beiden Stühlen hinzu. Neu im Hildesheimer Verfassungsleben war ein collegium secretius (§ 7), dem neben dem Sitzenden Rat auch der Nachbürgermeister, die Syndici sowie der Altermannssegger angehören sollten. Erhalten blieben die Kollegialvoten; bei 1o Vgl. Ratsprotokolle v. 30. 4.- 9. 5.1703 (FN 66). 71 Vgl. Ratsprotokolle v. 19.- 22. und 29. 6. 1703 (ebd.). 72 SAH (FN 39), Best. 1, Nr. 883, gedruckt bei P. J . Hillebrandt, Sammlung StadtBildesheimischer Verordnungen, Hildesheim 1791, S. 351ff.

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Stimmengleichheit kam dem regierenden Bürgermeister das votum decisivum zu (§ 8). Für die Lutterung des Oldermannes war nun gegen die Ratswünsche ein Wahlrecht der Bürgerschaft statuiert: In jeder Bäuerschaft sollten drei Kandidaten bestimmt und hiervon schließlich einer für die Bäuerschaft in das Rathaus gewählt werden. Ämter und Gilden behielten ihre Entsendungsrechte in den StändestuhL Mit Rücksicht auf die bekannten Rangstreitigkeiten enthielt der Rezeß auch die Regelung, daß in einem Vierjahresturnus, der insoweit den Strophen des Reichsfürstenratsam Reichstag ähnelt, die Meinheit zwei Jahre, dann Ämter und Gilden nacheinander je ein Jahr den Segger des Ständestuhles zu stellen hatten. § 14 beseitigte eine bis dahin sehr beliebte Waffe gegen mißliebige Beamte, indem deren Wahl in eines der Ratsgremien verboten wurde- des seit dem 15. Jh geltenden Inkompatibilitätsgrundsatzes wegen hatte man diese bis dahin oft vor die Frage stellen können, entweder unter Verlust ihrer Bezüge in den Rat zu gehen oder bei Verweigerung der Wahl die Stadt zu verlassen73.

Daß auch der neue Stadt- und Wahlrezeß die traditionellen Hildesheimer Wirren nicht endgültig hatte beseitigen können, zeigte sich schon zwei Monate später, als es in der Frage der Neubestellung von Kämmerern und Kassierern zur Kollision zwischen Rat, der unter Berufung auf die alten Traditionen der städtischen Obrigkeit beide hatte einsetzen wollen, und Ständestuhl kam, der eine eigene Wahl vornahm. Auf wie schwachen Füßen das votum decisivum des § 8 des Rezesses für den Bürgermeister stand, erwies sich am 12. September 1703, als dieser dieses ihm zustehende Recht zwar dem Ständestuhl entgegenhielt, aber nicht die Probe aufs Exempel zu machen wagte und die Wahl durch den Ständestuhl hinnahm. Trotz des in den Folgemonaten andauernden Kleinkrieges zwischen Rat und Ständestuhl, in dem es um die Macht in der Stadt ging und bei dem das votum decisivum keine praktische Geltung erlangte, ging doch der erste Ratswechsel 1703/1704 nach dem neuen System erstmals ohne nennenswerten Streit vor sich. Die neue Stadtregierung brachte es sogar fertig, die im Stadt- und Wahlrezeß nicht erledigte Frage einer Neuorganisation der Stadtfinanzen zu beraten und schließlich bis August 1704 auch zu Ende zu bringen. Der sogenannte Ökonomierezeß vom 5. August 1704 (in der Literatur meist mit dem 24. Mai 1704 datiert) sah die Abschaffung der zahlreichen 73 Vgl. dazu SAH (FN 39), Best. 50, Nr. 89 (Akten über die Wahl des Stadtsekretärs Brauns 1681). Die praktischen Auswirkungen des Irrkompatibilitätsgrundsatzes beschreibt sehr anschaulich G. 0. Fischer, Geschichte des Gymnasiums Andreanum von 1546- 1815, Hildesheim 1862, S. 40f.

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miteinander konkurrierenden, kostspieligen und schwer zu kontrollierenden Kassen vor74 • Hinfort sollten alle städtischen Einnahmen entweder in die Kämmerei oder in die Cassa gelangen. Kämmerer sollte ein nicht dem Rat- oder Ständestuhl angehörender Bürger sein, und für die Rechnungslegung war das in Hitdesheim so beliebte mittelbare Wahlverfahren bestimmt. Der Ständestuhl sollte aus jeder Bäuerschaft sechs Personen benennen, dieses 36er-Wahlmännergremium sollte 12 Bürger wählen, für die den beiden Stühlen ein Bestätigungsrecht nicht zustand. Ähnlich war auch das Verfahren bei der Kassenadministration. Den Keim einer fortdauernden Verwirrung der städtischen Kassenverhältnisse trug allerdings die in Artikel4 des Ökonomierezesses enthaltene Bestimmung in sich, daß besondere Gremien für die Kassenadministration der Ämter, "soweit sie im bisherigen Stande verblieben", gebildet werden sollten; dies nahm die tatsächliche spätere Entwicklung, nämlich den Fortbestand aller eigentlich abzuschaffenden Kassen, vorweg. Immerhin schien dadurch, daß zu Rats- und Ständestuhl auch zwölf Deputierte der Bürgerschaft zur Rechnungskontrolle hinzugezogen werden mußten, eine größere Durchsichtigkeit der städtischen Finanzen auf dem Papier sichergestellt, auch wenn das indirekte Wahlverfahren eine zu unangenehme Kontrolle durch die Bürgerdeputierten ausschloß. Bleibt zu erwähnen, daß die Neustadt unter dem Einfluß der Verfassungsänderungen in der Altstadt 1703 ihre Verfassungsorgane auf zwei Bürgermeister und zwei Senioren, einen Sekretär, vier Alterleute und vier 1709 abgeschaffte Deputierte reduzierte. Dort wurden nach dem Wahlrezeß vom 28. Juli 1714 sowohl die vier Alterleute als auch die vier Mitglieder des Ratsstuhles jährlich durch eine Vierundzwanzigerdeputation gewählt (Wahlmännerverfahren)15. Vlll. Auf dem Wege zur Französischen Revolution

Es entspricht den alten Hildesheimer Traditionen der Selbstergänzung der Verfassungsorgane, wenn recht bald nach dem Inkrafttreten des Stadtund Wahlrezesses wieder Versuche begannen, gleichsam eine Wahl auf Lebenszeit durchzusetzen76 . 1717 beschlossen beide Räte, Wahlen für nichtig zu erklären und Gewählte nicht zu admittieren, wenn nicht auch die jeweils abtretenden Mitglieder der Stadtorgane auf die Wahlzettel gesetzt würden77 . Ebenso wurde das besonders raffinierte Abwahlverfahren von 74 7S

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Hillebrandt (FN 72), S . 369 ff. und Ratsprotokoll v. 5. 8. 1704 (wie FN 66). Hillebrandt (FN 72), S. 402ff. Vgl. Gebauer, Neustadt (FN 43), S.125ff. Gebauer (FN 3), Bd. 2, S . 151 ff. Beschluß vom 13. Dez. 1717 (SAH [FN 39], Best. 50, Nr. 154, Bd. 62).

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Mitgliedern des Nachrates verboten, das darin bestand, Verwandte der Ratsherren in den Ständestuhl zu wählen, so daß die im Nachrat Sitzenden wegen des seit 1345 bestehenden Verbotes der gleichzeitigen Wahl naher Verwandter automatisch ausscheiden mußten7B. Es vergiftete freilich das innerstädtische Klima, daß die 1717/18 und 1729 versuchten geheimen Verhandlungen mit England zur Sicherung einer lebenslangen Wahl doch durchgesickert waren, und Argwohn und Mißtrauen führten immer wieder zu "unordentlichen passionierten Prozeduren" bei der RatswahF9. Ein schriftliches Wahlverfahren existierte nicht, und wenn die Wahlordnung davon spricht, daß niederträchtige Leute fast mehr auf eine freie Zeche und unanständige Schmausereien als auf ihre Bürgerpflichten Rücksicht genommen hätten, wirft dies ein bezeichnendes Licht auf den Ablauf der Hildesheimer Ratswahlen, die besonders in der Neustadt immer wieder unter Tupmlten und mit Schlägereien abliefen, während in der Altstadt mehr das "Durchschreien", also das Durchbringen eigener Kandidaten einfach aufgrund der größeren Stimmenstärke, berüchtigt war. Es spricht für die Resignation in der Bürgerschaft, vielleicht auch für das mangelnde Interesse an der ehrenamtlichen Ratstätigkeit wegen fortschreitender Verarmung, daß der Wechsel von Vorrat zu Nachrat im 18. Jh. zu reiner Routine erstarrteso. Erst unter dem Eindruck der in den Juni- und JuliAusgaben 1789 der Privilegierten Hildesheimischen Zeitungs! sich häufenden Nachrichten über die "herumziehenden Haufen tollkühnen Pöbels" und den schließliehen Triumph des Volkes über König und Soldaten in Paris entlud sich in Hildesheim die sicher latent vorhandene, aber nicht greifbare Unzufriedenheit mit den verkrusteten VerfassungsstrukturenB2 . Aus nichtigem Anlaß- der Rat hatte den Mönchen des Godehardiklosters gegen das Herkommen das Abmähen einer Wiese ohne Hinzuziehung der städtischen Weideherren erlaubt- kam es am 28.August 1789 zum Auflauf der von den Weideherren aufgehetzten Bürger vor dem Rathaus und zum Abbruch der Ratssitzung. Ohne Erlaubnis durch eines der Ratsorgane traten die Bürger in den Bäuerschaften zusammen und wählten nach dem Beispiel des großen Bürgerkollegiums von 1702/3 ein Sechsunddreißigergremium, in das auch die zwölf Weideherren aufgenommen wurden. Die selbstautorisierten Vertreter der Bürgerschaft - denn von einem geordneten Wahlverfahren ist Beschluß v. 29. 12. 1718 (ebd.). Vgl. auch SAH (FN 39), Best. 100/170, Nr. 53 a. Ratswahldekret vom 31.12. 1729 für die Neustadt bei Hillebrandt (FN 72), S. 453ff. (Vgl. auch SAH [FN 39], Best. 50, Nr. 257, Bd. 2). Die gescheiterten Verhandlungen mit England in SAH (FN 39), Best.l00/170, Nr. 51. 80 Vgl. Gebauer (FN 3), Bd. 2, S. 151f. Von fortdauernden Wahlwirren zeugen die Ratsbekanntmachungen in SAH (FN 39), Best. 50, Nr. 257, Bd. 3. 8t SAH (FN 39), Best. 500, HAZ. 82 Gebauer (FN 3), Bd. 2, S.153ff.; 0. Fischer, Die Hildesheimer Revolution von 1789, Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte, 1859, S. 121 ff. 78

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nichts bekannt- nannten sich "Repräsentanten" und wählten den Kaufmann Christoph Friedrich Lüntzel zu ihrem Präsidenten83 . Um ein in der Stadtgeschichtsschreibung so bezeichnetes "Revolutionsorgan" handelt es sich allerdings kaum, denn die neuen Repräsentanten ließen sich vom Rat vereidigen, wahrten damit die Legitimität und erkannten auch die weiterbestehende Ratsobrigkeit praktisch an. Die zahlreichen Vorwürfe gegen die Verfassungszustände Rüdesheims legten die Repräsentanten am 16. September 1789 als Druckwerk vor: "Vorläufige Beschwerden, welche löbliche Bürgerschaft Alterstadt Hildesheim, durch ihre dazu bevollmächtigten Deputierten und Weideherren an die hochlöbliche Stadtregierung am 16. September 1789 einreichen lassens4." Auf 28 Seiten und in 70 Paragraphen machten vor allen Dingen die Wahlbeschwerden deutlich, daß auf den Versammlungen meist die Wahlberechtigung der Teilnehmer - sie war an die Entrichtung des Schoßes gebundennicht kontrolliert, daß bei Ämtern und Gilden überhaupt keine Wahlen, sondern Konfirmationen durchgeführt worden waren und daß man im Grunde nichts weiter verlange, als die strikte Anwendung des Stadt- und Wahlrezesses von 1703 und damit die Wiederherstellung des ohnehin geltenden, aber mißachteten alten Rechts (§ 11 - 15). Neben einem schriftlichen Wahlverfahren zur Abstellung der zahlreichen Mißbräuche forderte die Schrift die Bestellung des großen Bürgerkollegiums auf Dauer als Kontrollorgan des Verfahrens, das jährlich auch neu gewählt werden sollte. Zweiter Hauptbeschwerdepunkt war die Beseitigung der chaotischen Finanzverhältnisse, denn die Organisation in zwei Kassen war nie rezeßmäßig durchgeführt worden, auch die in § 2 des Rezesses vorgesehene Kontrolle der Kämmerei durch zwei Vertreter der Bürgerschaft hatte nie stattgefunden. Die Regierung versprach zwar strengere Beachtung der Rezesse, lehnte aber in drei aufeinander folgenden Beschlüssen die Einrichtung des rezeßwidrigen Großen Bürgerkollegs strikt ab, ohne damit freilich der beim Näherrücken der Wahlen immer hitziger werdenden öffentlichen Diskussion Herr werden zu können. Immerhin sah eine zum Jahreswechsel erscheinende und in der Stadt verbreitete Schrift "Freimütige Gedanken über verschiedene Einrichtungen, die die Herren Repräsentanten in der Stadt Hildesheim zu machen gedenken", die sich unter den von Friedrich Carl von Maser übernommenen Spruch "Ein Staat ist geschwinder ruiniert als reformiert" als Devise stellte, im Gegensatz zu den Repräsentanten das Grundübel der Hildesheimer Verfassung gerade in den immerwährenden 83 Vgl. die Ratsprotokolle vom 10. und 28.8. 1709 (SAH [FN 39], Best. 50, Nr. 154, Bde.101- 110). 84 SAH (FN 39), Best. 100/170, Nr. 87 a.

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Wahlen und erwartete von der zusätzlichen Wahl eines Großen Bürgerkollegiums als dritten Verfassungsorgans lediglich höhere Kosten, mehr Haß, Erbitterung und Parteisucht. Das Ergebnis der Ratswahl 1790 war indes ein durchschlagender Erfolg der ReformparteL Der Präsident der Repräsentanten, Christoph Friedrich Lüntzel, wurde Bürgermeister, und vom alten Rat des Jahres 1788 wurden mit einer Ausnahme sämtliche Mitglieder ausgeluttert, der Ständestuhl sogar völlig erneuert85 . Mit Lüntzel als Bürgermeister und dem früheren Neustädter Advokaten Rostmann als Syndikus machte zunächst zwar die Ablegung der Rechnungen Fortschritte, allerdings wechselte der neue Bürgermeister geschwind die Front im Verfassungskampf und nahm den Zweikampf mit den Repräsentanten auf, denen er nach alter Ratsmanier die Zusammenrufung der Bürger ohne Zustimmung des Rates nicht gestatten wollte. Tatsächlich brachte er eine Entscheidung der Bürger in den Bäuerschaften gegen die Repräsentanten zuwege, so daß diese am 9. Oktober 1790 ihrer Eide entbunden werden konnten. Allerdings herrschte in der Bürgerschaft dann wohl doch eine rechte Mißstimmung, denn erst nach mehreren vergeblichen Anläufen gelang es, die Zwölferdeputation für die Rechnungsablegung zusammenzubringen, und für den Zusammenbruch einer geordneten Finanzverwaltung spricht der Auftrag an die Deputierten, die Ablegung der Kämmereirechnungen von 1766 an vorzunehmen86 . Angesichts der allgemeinen Mißstimmung witterten übrigens selbst die seit 1635 aus dem Verfassungsleben praktisch ausgeschiedenen und zu den Wahlen nicht durch Boten geladenen Katholiken Morgenluft und verlangten ihre künftige Vorladung, doch wurde der Antrag in der Regierung "ausgesetzt" und eine Beratung nicht wieder aufgenommens7. Wie schnell der revolutionäre Schwung des Jahres 1789/90 erlahmt war, zeigt nicht nur der seit 1791 wieder andauernde regelmäßige und ungestörte Turnus zwischen den Bürgermeistern Marheinecke und Lüntzel, sondern auch die 1799 in Hildesheim verbreitete Schrift "Gedanken eines patriotischen Bürgers über die Verfassung der Stadt Hildesheim", in der es voller Hohn heißt: "Manche setzen das Wesen und die Vollkommenheit der Bildesheimischen Stadtverfassung in einer gewissen, ihr besonders eigenen Verwirrung und versicheren, daß die Stadt Hildesheim nur durch Unordnung erhalten und regiert werden könness." Gebauer (FN 3), Bd. 2, S.155; vgl. Schlotter (FN 25), 1979, S. 420. Ratsprotokoll v. 20.1., 11. und 22.10.1790 (SAH [FN 39], Best. 50, Nr. 154, Bd.l11). 87 Ratsprotokoll v. 25.11. 1790 (ebd.). 88 SAH (FN 39), Best. 100/170, Nr. 100 a, S. 3. Zur städtischen Verfassung vgl. die Beschreibung bei K. Stuke, Geschichte der Verfassung der Stadt Hildesheim, 1906, s. 20ff. 85

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Auslösendes Moment der Kampfschrift war die geplante Vermögenssteuer, in deren Planlosigkeit der Autor eine wahre Brandschatzung zu erkennen meinte und auch durch 14 Seiten Besteuerungsbeispiele nachwies, und hart mußte die Stadtregierung der Vorwurf treffen, daß noch immer die Rechnungen selbst aus den 70er Jahrenunrevidiert geblieben waren, daß also die alten Mißstände aus der Zeit vor 1789 fröhliche Urständ feierten. Dies alles macht deutlich, daß selbst im Angesicht der von der Französischen Revolution drohenden Gefahren die Hildesheimer eine Reform ihrer Stadtverfassung aus eigener Kraft nicht mehr leisten konnten. Den Gordischen Knoten, den hartnäckige Rechthaberei, Eigennutz und Inkompetenz geschnürt hatten, konnte wohl nur das Schwert eines auswärtigen Herrn durchschlagen. IX. Ausblick auf die Neuordnung der Stadtverfassung durch den Staat 1806 - 1851 1. Preußen. Nachdem der mit dem ersten Konsul Bonaparte abgeschlossene Entschädigungsvertrag vom 23. Mai 1802 Preußen unter anderem auch das Fürstbistum Hildesheim als Entschädigung zugesprochen hattes9, nahm der Besitzergreifungskommissar, Graf von der Schulenburg-Kehnert, am 3. August 1802 an den Toren der Stadt die auf silbernem Brett präsentierten Schlüssel in Empfang. Die Bürgerschaft nutzte den Wechsel der Landesherrschaft zu einer Adresse (8. August 1802), die nicht nur auf die alten Wahl- und Freiheitsrechte hinwies, sondern auch eine Bannmeile für die eigenen Brauerei- und Handwerkserzeugnisse und - angesichts der drohenden Kantonspflicht- die Einräumung von Reluitionszahlungen statt Naturalstellung der Soldaten erbat. Dies alles schien dem Besitzergreifungskommissar Manifestation des Grundsatzes "Eigennutz vor Gemeinnutz", und er lehnte die Weiterleitung eines derartigen Gesuches rundweg ab 90 .

Nach der förmlichen Huldigung der Entschädigungslande am 10. Juli 180391 begann die preußische Besitzergreifungskommission unbeeinflußt von den Wünschen der neuen Untertanen mit gewohnter Gründlichkeit zu arbeiten. Was sich ihr bei der Prüfung der Stadtfinanzen darbot, war ein Bild des Chaos. Eine im Oktober 1804 aufgestellte Übersicht über Besoldung und Emolumente der Magistratspersonen, Offizianten und Stände der Altstadt Hildesheim ergab nicht nur 77 Zahlungsempfänger, sondern völlig

89 Gebauer (FN 3), Bd. 2, S. 255ff.; E. v . Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, 1898, S. 109ff.; über die Stadtverfassungen der Folgejahre sehr summarisch auch Bd. 2, 1899, S. 460ff. 9o SAH (FN 39), Best. 101/39, Nr.l. 91 Ebd. Best. 101/2, Nr. l.

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systemlose Einzelzahlungen von Leistungen aus verschiedensten Kassen, die sich beim Bürgermeister Lüntzel auf 34 Einzelpositionen addierten. Zwar wurde das alte Verwaltungssystem seit dem 3. August 1802 interimistisch weitergeführt, aber der als Stadtdirektor neu bestellte Kriegs- und Steuerrat Otto Lohde bereitete für die 11108 Seelen zählende Stadtbevölkerung eine völlige Neuorganisation der Stadtverfassung und Stadtverwaltung vor, die vor allem auf eine Trennung von Stadtgericht und Polizeimagistrat und eine wesentliche Reduktion des Personals, das sich nur noch auf 12 bzw. 14 Personen belaufen sollte, abzielte92. Die seit 1704, als sie eigentlich aufgelöst werden sollten, immer noch weiter bestehenden 12 verschiedenen Kassen wurden von Lohde bei den Vorarbeiten für die Haushaltspläne 1805- 1807 in der einen Kämmerei zusammengefaßt. Die aus der Einführung der preußischen Akzise sich ergebenden Einnahmeausfälle im Stadthaushalt wurden durch ein Sustentationsquantum, das später "Zuschußquantum" genannt wurde und 9 000 Reichstaler betrug- der Haushalt belief sich insgesamt auf 31200 Reichstaler -, ausgeglichen, was indes erstmals den Stadthaushalt von Zuweisungen von außen abhängig machte93. Der seit August 1802 andauernde Übergangszustand der Stadtverfassung endete mit dem am 5. Januar 1806 in Berlin unterzeichneten Rathäuslichen Reglement94, das in der Sache einen völligen Umsturz der Stadtverfassung darstellt, auch wenn der neue Landesherr dem überflüssig gewordenen Personal die bei ihm übliche schonende Behandlung angedeihen ließ. Alle alten Ratsorgane und Amtsträger wur den offiziell abgeschafft, den Personen freilich ihre Existenz durch Übergangsregelungen gesichert 95 . Beseitigt waren die Räte von Alt- und Neustadt, beseitigt waren Samtregierung und Samtrat ebenso wie die Ämter. Die Justizausübung war ganz aus dem Bereich der eigentlichen Stadtverwaltung herausgenommen, der neue Magistrat auf Pqlizei- und Verwaltungsgeschäfte reduziert. Im Augenblick ganz vom König ernannt, war für die Zukunft nur die Ernennung des Stadtdirektors vorgesehen, während im übrigen der Magistrat selbst mit Stimmenmehrheit Kandidaten zu wählen und der übergeordneten Halberstädter Kriegs- und Domänenkammer zur Prüfung und zur Bestätigung zu präsentieren hatte.

Ebd. Best. 101/39, Nr. 4 u . 5. Vgl. Stuke (FN 88), S. 51ff. Der erste Haushaltsplan 1805/ 06 in Best.101/39, Nr. 2. Zu seiner Bedeutung für die städtischen Finanzen der Folgezeit vgl. H .-J. Heinrich, Die Finanzwirtschaft der Stadt Hildesheim während der Zugehörigkeit zum Königreich Hannover 1815- 1866, 1987 (liegt im SAH als Manuskript vor, Veröffentl. in der Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek in Vorbereitung), Kap. 4.2.1.3 (mit weiterer Literatur). 94 Original in SAH (FN 39), Best. 50, Nr. 325. 95 s. FN 89 (Gebauer und Stuke). Die Entscheidungen des von Preußen eingesetzten Stadtdirektors Lohde in SAH (FN 39), Best. 101/39, Nr. 4 (darin auch Abschrift des Reglements). 92

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Weniger der sechsköpfige Polizeimagistrat, dessen lebenslange Bestellung sich kaum von den tatsächlichen Verhältnissen vor 1806 unterschied, als vielmehr die völlige Entmachtung der Bürgerschaft in§ 21 des Reglements stellt den eigentlichen Bruch mit den jahrhundertelangen Verfassungstraditionen Bildesheims dar. Zwar wurden von den mit Grundstücken angesessenen Bürgern neun Altermänner oder Worthalter gewählt und in allen Finanzangelegenheiten zur Beratung hinzugezogen, ein Widerspruchs- oder gar ausdrückliches Steuerbewilligungsrecht aber wurde ihnen nicht eingeräumt. Welche geringe Bedeutung dem neuen Organ zukam, macht mehr als alles andere die in § 24 getroffene Regelung deutlich, daß die bisherigen Alterleute aus der Zeit des Ständestuhls so lange bleiben durften, bis natürlicher Abgang ihre Zahl auf weniger als neun reduziert hätte. Das Rathäusliche Reglement hob mit einem Federstrich die 600 Jahre alte Hildesheimer Selbstverwaltung auf. Aufgehoben war nun auch der jahrhundertelange Hader zwischen Altstadt und Neustadt, deren um 1583 nur auf dem Papier durchgeführte Einigung nun staatlicher Zwang vollendete, eingetauscht waren die Bürgerfreiheiten gegen eine straff organisierte, effektive Verwaltung, die sich erst in der Zukunft bewähren mußte. 2. Westphalen. Die preußische Zukunft ging schon am 14. Oktober 1806 mit der Schlacht bei Jena und Auerstedt zu Ende, aber auch die 1807 folgende westphälische Herrschaft blieb ein kurzes Zwischenspiel96. Nach der Verwaltungsordnung vom 11. Januar 1808 hatte Bildesheim einen aus 20 Mitgliedern bestehenden Munizipalrat zu erhalten, dessen Mitglieder auf Vorschlag der Departementskollegien vom König zu ernennen waren. Von einer Mitwirkung der Bürgerschaft an der Stadtregierung konnte mithin nicht die Rede sein. Dies galt um so mehr, als sich der Munizipalrat nur am 15. November eines jeden Jahres für maximallO Tage versammeln und im wesentlichen über Rechnungsangelegenheiten beraten durfte, und dies auch nur nach vorangegangenem Autorisationsdekret des zuständigen Präfekten. Aus der von Stadtdirektor Lohde Anfang 1808 weisungsgemäß zusammengestellten Liste von 66 Einwohnern ergibt sich, daß zur Aufnahme in den Munizipalrat nur geeignet war, wer jährliche Einkünfte mindestens in der Größenordnung von 200 Franken besaß; dies waren in Bildesheim ein Wirt und der frühere Stadtsyndikus Hostmann, aber auch Fleischer, Tischler, Bäcker und Essigfabrikanten97. 96 Gebauer (FN 3), Bd. 2, S. 276ff. Am detailliertesten ist die Darstellung von H. Kloppenburg, Hildesheim zur französisch-westfälischen Zeit 1806- 1813 ... , 1913. Vgl. W. Kohl, Die Verwaltung der östlichen Departements des Königreichs Westfalen 1807- 1814, Diss. Berlin 1937 (Historische Studien 323). 97 Gesetzbulletin 1, S. lff., 67 ff., 203ff. Die örtliche Ausführung der Verwaltungsordnung in SAH (FN 39), Best. 101/2, Nr. 4.

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Die erste Hildesheimer Munizipalversammlung tagte 1809 und beschäftigte sich auch mit Klagen über die allgemeine Wirtschaftslage - wie man hier eingedenk der alten städtischen Traditionen versuchte, im Munizipalrat über den engen Rahmen der Verwaltungsordnung hinaus zu beraten, so mag es wohl auch in anderen Städten des Satellitenkönigreichs gewesen sein, denn im Oktober 1809 wies ein Ministerialerlaß die Präfekten an, darauf zu achten, daß die Munizipalräte über Schulden zu beraten, nicht aber die Kommunalverwaltung zu leiten hätten: "Der Munizipalrat ist angeordnet, um die Einwohner zu repräsentieren und ihre Wünsche auszudrücken; diese Versammlung nimmt keineswegs an der wirklichen Administration teil ... ". Der hier in Ansätzen erkennbare Machtkampf zwischen Verwaltung unddoch nur verordneter- Repräsentation wurde durch die politische Entwicklung verhindert9a. 3. Hannover. Wie die Schlacht bei Jena und Auerstedt die preußische, so beendete die Völkerschlacht bei Leipzig die westphälische Herrschaft. Nach dem Besitzergreifungspatent des Prinzregenten Georg vom 5. November 1813 begann in Hildesheim die Hannoversche Regierungskommission unter Heranziehung der städtischen Verwaltungsspitze im September 1814 mit Verfassungsberatungen, die ohne unmittelbare Beteiligung einer Vertretung der Bürgerschaft - der Munizipalrat war noch vorhanden - am 29. April 1815 zum Erlaß der Konstitution der Stadt Hildesheim durch das Hannoversche Kabinettsministerium führten 99 . Die neue Verfassung für 11034 Hildesheimer orientierte sich am Rathäuslichen Reglement von 1806, stellte indes die Verbindung von Justiz und Administration in einem Gesamtmagistrat von 8 Mitgliedern und damit den vorrevolutionären Verfassungszustand wieder her. Repräsentanten der Bürgerschaft sollten bei den Aufgaben des administrativen Magistrats, vor allen Dingen in Finanz- und Grundstücksangelegenheiten herangezogen werden. Zum Abstimmungsverfahren heißt es in der Verfassungsurkunde: "In diesen Fällen konkurrieren die Vota der Repräsentanten der Bürgerschaft mit den Votis der Magistratsmitglieder, so daß unter sämtlichen die Majorität entscheidet" (§ 16). Die Wahl der Repräsentanten (§ 17) sollte durch die mit städtischen Grundstücken angesessenen Bürger in den alten Stadtdistrikten, den neun 98 Protokolle in SAH (FN 39), Best.101/125, Nr.120a (dort auch Ministerialerlaß v. 25. Oktober 1809). 99 Gebauer (FN 3), Bd. 2, S. 303ff. Grundlegend für die Kommunalverfassung E. v. Meier (FN 89), Bd. 2, S. 461ff. Die Konstitution von 1815 in SAH (FN 39), Best.101/ 77, Nr. 1. Abgedruckt bei C. H. Ebhardt, Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben für das Königreich Hannover, Bd. 3, Hannover 1840, S. 161 ff. (dort S . 137 ff. die Reihe der Verfassungsurkunden, die mit Osnabrück [31.10.1814] beginnt) und T. Hagemann, Sammlung der Hannöverschen Landesverordnungen und Ausschreiben 1815, Hannover 1815, S. 311 ff.

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Bäuerschaften, erfolgen; für das passive Wahlrecht war ein Zensus von 3000 Talern Vermögen festgelegt. Im Stadtarchiv liegt ein vom damaligen Stadtsyndikus Ziegemeyer ausgearbeitetes Promemoria100 zu den§§ 16 und 17 vor, das Zweifelsfragen erörterte und entschied. Danach wird zunächst der Gedanke, auch Frauen könnten wählen, da sie ja auch Grundstücke besitzen dürften, als dem Herkommen widersprechend abgewiesen. Die Frage, ob mehrfacher Grundbesitz auch mehrfache Stimmabgabe rechtfertige, wird geprüft und verneint. Schließlich wird auch die Mündlichkeit des Wahlverfahrens aus der Tatsache gefolgert, daß die Verfassung eine vorherige Präsentation der Namen nicht vorschreibe. Die 1815 gewährte Repräsentation der Bürger schuf keine Volksvertretung. In der Anknüpfung an das Preußische Reglement von 1806 blieb sie weit hinter den in Preußen 18081°1 längst erreichten Fortschritten der Städteordnung zurück, die auch Bürger ohne Hausbesitz als Stadtverordnete zugelassen und die Wahl auf drei Jahre festgelegt, vor allem aber den Stadtverordneten die Befugnis gegeben hatte, grundsätzlich den Magistrat zu wählen (§ 47 der Städteordnung), während § 19 der Hildesheimer Verfassungsurkunde die Ernennung sämtlicher Mitglieder des Magistrats durch den Landesherrn bzw. die von ihm autorisierte Regierung vorsah, der gemäß § 21 in allen erheblichen Stadtangelegenheiten auch die Entscheidung übertragen war. Die Stadtkonstitution von 1815 schuf weniger ein Selbstverwaltungsorgan als vielmehr eine untere lokale Verwaltungsbehörde des Staates mit weitgehend bedeutungslosen repräsentativen Dekorationen. In den ersten Wahlen, die im Juni 1815 stattfanden1o2 , schwankte die Wahlbeteiligung zwischen 31 und 61%, und 10% der Stimmberechtigten reichten aus, um einem Kandidaten zum Siege zu verhelfen. Wegen Verstoßes gegen die Zensusvorschriften abgehaltene Nachwahlen reduzierten die Wahlbeteiligung auf 20- 30%; dabei fällt auf, daß in den folgenden Jahren das Zensuserfordernis bald lockerer, bald strenger gehandhabt wurde, wohl weil es das ganze Wahlsystem in Mißkredit zu bringen drohte. Als 1832 bei den Wahlen zur allgemeinen Ständeversammlung die Deputierten der Undatiert in SAH (FN 39), Best.101/99, Nr. 1. Steinsehe Städteordnung v. 19.11.1808, in: Preußische Gesetzsammlung 18061810, S. 324 ff. Vgl. H. Brüning, Die preußische Städteordnung vom 19. 4. 1908 im Vergleich mit den Verfassungen der hannoverschen Städte von 1814- 1848 und den Hannoverschen Städteordnungen von 1851 und 1854, in: Hannoversche Geschichtsblätter 1915, S. 253 ff. und E. Siebert, Die hannoverschen Städteordnungen von 185111858 und die Städte im Königreich Hannover, phil. Diss. Hannover 1975, S. 25ff. Die latente Unzufriedenheit in Hildesheim mit der hannoverschen Regierung behandelt H.-M. Tietzel, Hildesheim und die königlich-hannoversche Regierung, 1956 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 55). 102 SAH (FN 39), Best. 101/99, Nr. 2. 1oo 101

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Städte nach Maßgabe der jeweiligen Verfassungsverhältnisse von Magistrat, Bürgervorstehern und einer ebenso großen Anzahl von Wahlmännern zu wählen waren, protestierten in Hildesheim die sämtlichen Wahlmänner schriftlich gegen die Forderung, Erklärungen über ihr Vermögen abzugeben, und einer von ihnen erklärte gar: "Von einer freien Wahl könne aber nicht die Rede seien, sobald die Wählenden daran gebunden seien, daß der zu Wählende gerade 3000 Taler an Vermögen haben sollte, zumal es in mehreren Bäuerschaften zu wenige Bürger gäbe, die gerade so vermögend, als verlangt, wären 103. " Während die Landdrostei mit einer Verfügung vom 12. April 1832 dazu neigte, die Wahl der Bürger auch ohne Nachprüfung dann zu genehmigen, wenn sie als wohlhabende Bürger notorisch bekannt seien, stellte der Magistrat inquisitorische Nachforschungen an, die den einen oder anderen Wahlmann dazu veranlaßten, sein Mandat hinzuwerfen. Der offene Widerstand gegen den Zensus veranlaßte im Mai 1832 selbst den Magistrat, bei der Landdrostei um eine völlige Abschaffung, im übrigen auch um eine Verkürzung der Amtsdauer der Repräsentanten nach dem Muster der Verfassung für die Residenzstadt Hannover von 1824 nachzusuchenlo4. Zur eigenen Überraschung erhielten Magistrat und Bürgervorsteher am 8. Juni 1832 von der Hildesheimer Landdrostei in Vollziehung eines Beschlusses des Kabinettsministeriums eine Modifikation 105 des § 17 der Verfassungsurkunde, die eher eine grundlegende Revision darstellte. Wichtigste Punkte: Für die Gültigkeit der Wahl ist ein Quorum von 2!J erforderlich Die Abgabe der Stimmen erfolgt persönlich; lediglich Beamte, Ärzte und

Frauen können schriftlich abstimmen

Zur Abstimmung werden Wahlzettel eingereicht Die Bürgervorsteher werden auf drei Jahre gewählt und in einem Dreijahresturnus je drei ausgeschieden. Ziffer 30 der Modifikation sah bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Magistrat und Bürgervorstehern die Entscheidung der Landdrostei vor. Damit war 15 Monate vor dem Inkrafttreten des Staatsgrundgesetzes vom 14. September 1833 in Hildesheim ein neuer Verfassungszustand geschaffen worden, der die weitergehenden Regelungen der Landesverfassung, etwa über die selbständige Wahl des Magistrats, behinderte und die auch in HilSAH (FN 39), Best.101110, Nr. l. Ebd. Vgl. H .-J. Behr, Selbstverwaltung beiMöserund Stüve und die Hannoversche Städteordnung von 1851/1858, in: H. Naunien (Hrsg.), Städteordnungen des 19. Jahrhunderts, 1984, S. 159ff., bes. S.173, sowie die dort angegebene Lit. 1os Veröffentlicht als Beilage zur Hildesheimischen Zeitung vom 28.7.1832 (SAH [FN 39), Best. 500), auch: Hann. Gesetzsammlung (abgek. GS) 1832, T. 3, S.108ff. 103

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desheim begonnenen Arbeiten an einer neuen Stadtverfassung schließlich einschlafen ließ. Die Bürgervorsteher waren damit ganz zufrieden, denn in eigener Hildesheimischer Interpretation der Stadtkonstitution hatten sie im Stillen in gemeinsamen Verhandlungen mit dem Magistrat wieder eine Art vorrevolutionärer "Stadtregierung" gebildet, in der sie mit 9 gegen 8 Stimmen die Magistratsmitglieder überstimmen konntenlo6. Dieser für die Vertretung der Bürgerschaft in der Stadtregierung glückliche Zustand endete schlagartig am 1l.Januar 1839, als der im Vorjahr ernannte, König Ernst August politisch nahestehende Landdrost von Landesberg das im Hildesheimer Rathaus üblich gewordene Regierungsverfahren für konstitutionswidrig erklärte und eine eigene, sozusagen authentische Interpretation der Bestimmungen von 1832 gab, wonach diese eine der Sache nach weitergehende Abänderung der Verfassungsurkunde seien und insbesondere die vorhin erwähnte Ziffer 30 ein korporatives Abstimmungsverfahren mit zwei Voten eingeführt habe, deren eines dem Magistrat und deren zweites den Bürgervorstehern zustehel 07. Damit waren alle Fortschritte, die die Bürgervorsteher sich seit 1815/1832 erkämpft hatten, mit einem Federstrich beseitigt. In die städtischen Gremien war das Verfahren der Bankstimmen zurückgekehrt, wie es einstmals zwischen Rat, Vierundzwanzigern und Oldermann in der Stadt oder zwischen Kurfürstenkolleg, Reichsfürstenrat und Städtebankam alten Reichstag des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bestanden hatte, nur daß der dort in früherer Zeit herrschende Einigungszwang jetzt durch die obrigkeitliche Entscheidungsgewalt des Landdrosten ersetzt war. Da half es auch nicht, daß sieben der Bürgervorsteher ihr Amt niederlegten, denn Strafandrohungen und die Erklärung, man werde das Wahlrecht der Bäuerschaften suspendieren, brachten die Bürgervorsteher zur Raison und das Verfassungsleben wieder in Ganglos. Es paßte in die politische Landschaft, daß König Ernst August am 16. Januar 1845 ohne Rücksicht auf die ihm vorgelegten Wünsche der städtischen Gremien eine neue, die letzte Verfassungsurkunde für die Stadt Bildesheim in Kraft setztelo9. Der Gesamtmagistrat blieb in alter Form erhalten, wurde aber um ein Mitglied auf neun erweitert und damit auf dieselbe Zahl wie das Bürgervorsteherkollegium gebracht. Bei der Neubesetzung von Magistratsstellen durften die Bürgervorsteher mitstimmen, allerdings nur in 1os Vgl. Gebauer (FN 3), S. 323ff., bes. S. 338ff., der die Bedeutung der Modifikation allerdings kaum erkennt. Zu den einschlafenden Verfassungsbemühungen in Eildesheim SAH (FN 39), Best.101177, Nr.l. 107 SAH (FN 39), Best.101/38, Nr. 2; vgl. hierzu und zum Folgenden Gebauer (FN 3), Bd. 2, S. 341ff. 1os SAH (FN 39), Best.101/77, Nr.1; Best.101/99, Nr. 6. 109 SAH (FN 39), Best.101/38, Nr. 6 (zur Vorgeschichte ebd. 101/104, Nr.13), Gedruckt in Hann. GS (FN 105), 1845, T. 3, S. 21ff.; vgl. Heinrich (FN 93), Kap. 1.3. 9'

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zahlenmäßiger Parität mit den verbliebenen Magistratsmitgliedem, deren Majorisierung also auch im Wahlfall unmöglich war. Das Wahlgremium besaß für die Stelle des Bürgermeisters ein Präsentationsrecht, mußte aber drei Personen präsentieren. Mit zwei Ausnahmen wurden sämtliche Magistratsmitglieder auf Lebenszeit gewählt. Stimmfähig waren nach wie vor die volljährigen, mit einem Wohnhaus angesessenen Bürger; gestrichen wurde das 1832 eingeführte Stimmrecht der Frauen, das diese in den dreißiger Jahren ausweislich der Wahlprotokolle gelegentlich wahrgenommen zu haben scheinen. Ein Quorum gab es nicht mehr. Die Erfordernisse für das passive Wahlrecht stimmten mit denen für das aktive überein; der Zensus war abgeschafft. Einer Obstruktionspolitik der Bürgervorsteher wie 1839/40 war dadurch vorgebaut, daß von vomherein Bürgervorstehervertreter mitzuwählen waren, die automatisch an die Stelle fernbleibender Bürgervorsteher traten. Am empfindlichsten aber schränkte das politische Durchsetzungsvermögen der Bürgervertretung § 60 der Verfassungsurkunde ein, wonach weiterhin ausschließlich korporative Abstimmung erfolgte. Wie ohnmächtig in der Tat die Verfassungsurkunde mit ihren Präsentationsbestimmungen die Bürgerschaft machte, zeigten 1846 die Vorgänge um die Neubesetzung des Justizbürgermeisterpostens, als die Landdrostei von vier Personen - an erster Stelle waren zwei Kandidaten mit gleicher Stimmenzahl gewählt - ausgerechnet den mit der geringsten Stimmenzahl Präsentierten zum Bürgermeister ernannte 110 . Die aus diesen Ereignissen erwachsene und mit Nachrichten über die Veruntreuung städtischer Gelder sowie durch die wegen verschiedener Mißernten zunehmende Not genährte Mißstimmung in der Bürgerschaft endlud sich 1847, als Bürgermeister Lüntzel in extensiver Auslegung des § 32 der Verfassungsurkunde, der ihm in eiligen, keinen Aufschub duldenden Fällen die Befugnis gab, Verwaltungsangelegenheiten sofort zu entscheiden, von der Ermächtigungsklausel Gebrauch machte und die städtische Marktabgabe auf Leder senkte. Zweimonatige Auseinandersetzungen um die nach Ansicht der Bürgervorsteher verletzten "wesentlichsten Befugnisse", nämlich die Erhebung städtischer Abgaben, wischte die Landdrostei mit der bündigen und ohne jede weitere Begründung gegebene Feststellung vom Tische, der Bürgermeister sei zum Erlaß der strittigen Verfügung berechtigt gewesen. Der Versuch der Bürgervorsteher, das Ausufern des § 32 zu einem in dieser Form in keiner früheren Hildesheimer Verfassung vorhanden gewesenen Diktaturparagraphen zu verhindern, war damit gescheitert111 . Aus eigener Kraft ist es zu einer Änderung der Stadtverfassung nicht mehr gekommen. Zwar legte eine städtische Kommission 1848 noch einmal 11o 111

SAH (FN 39), Best.lOl/40, Nr. 2. Ebd. 101/38, Nr. 7; vgl. Gebauer (FN 3), Bd. 2, S . 359ff.

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einen umfassenden Entwurf vor, der nicht nur ein Quorum von zwei Dritteln und eine Wahlpflicht einführen, sondern auch auf den 36-köpfigen Bürgerrat des Jahres 1702, jetzt freilich für zwei Jahre gewählt, zurückgreifen und die Wahl der Magistratsmitglieder auf zwölf bzw. drei Jahre festsetzen wollte, aber die politische Entwicklung im Lande schritt darüber hinweg. Nicht die Konservierung der Vorstellungen von mittelalterlicher Städtefreiheit, sondern die Schaffung eines einheitlichen Kommunalrechtes im Königreich war das Ziel der Verfassungspolitik, das mit der Hannoverschen Städteordnung vom 1. Mai 1851 erreicht wurde112 • Endlich wurden auch in Hannover Justiz und Verwaltung voneinander getrennt, der Magistrat als reines Verwaltungskollegium blieb auf Lebenszeit gewählt. Die Bürgervorsteher wie auch die nicht besoldeten Magistratsmitglieder wurden auf sechs Jahre gewählt, doch stand dem Zugeständnis, in allen Angelegenheiten des Gemeinwesens die Stadtgemeinde gegenüber dem Magistrat vertreten zu dürfen, nach wie vor die gesonderte Abstimmung nach Kollegien gegenüber. Bei der Anpassung an die örtlichen Verhältnisse setzte das Ortsstatut für Hildesheim 1852 die Wahl von zwölf Bürgervorstehern, darunter acht aus der Klasse der hausbesitzenden Bürger, festllJ. In der revidierten Städteordnung vom 24. Juni 1858 wurde erneut bei der Magistratswahl die Majorisierung durch die Bürgervorsteher ausgeschlossen und die grundsätzliche lebenslange Bestellung aller Magistratsmitglieder wieder eingeführtll4.

In dieser Form hat die von Preußen nach dem Anschluß Hannovers 1866/ 67 beibehaltene Städteordnung bis in die Weimarer Zeit hinein, wenn auch mit seit 1919 modifiziertem Wahlrecht, weiterexistiertns. Ob es sich aber um die Städteordnungen der Jahre 1851 und 1858, um die deutsche Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 oder um die heute geltenden Gemeindeordnungen der Bundesländer handelt, ihnen allen ist gemeinsam, daß sie die örtlichen Verfassungsverhältnisse durch staatliche Gesetzgebung und ohne eine verfassungsmäßig organisierte Beteiligung der unmittelbar Betroffenen geregelt haben. Indes zeigt die Kommunalpolitik unserer Tage ebenso wie die Hildesheimer Entwicklung seit 1815, daß diese staatliche Rahmengesetzgebung für die Selbstverwaltung eigenständige kommunale Entwicklungen nicht zu behindern braucht. m Hann. GS (FN 105), 1851, T. l, S. 63ff. Vgl. im einzelnen Meier (FN 99), Bd. 2, S. 556ff., sowie Behr (FN 104), und Siebert (FN 101), S. 60ff., S.169ff. 113 Beratung des Ortsstatuts in SAH (FN 39), Best.101/77, Nr. 3. Es trat am 18. 9. 1852 in Kraft. 114 Hann. GS (FN 105), 1858, T. 1, S.14lff.; vgl. Meier (FN 99), Bd. 2, S. 576ff., Heinrich (FN 93), Kap. 1.4 und 1.5 sowie H. Brüning, Die Hannoversche Städteordnung v. 1858, Hann. 1906, und SiebeTt (FN 101), S . 276ff. m Vgl. C. Engel und W. Haus, Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, 1975, S . 9ff. ; S . 345ff.; S. 699ff.

Aussprache Stehkämper: Vielleicht werden wir Schwierigkeiten haben, Herrn Borcks Ausführungen in das Rahmenthema einzufügen. Aber methodisch, so glaube ich, muß sich das Rahmenthema am Gebotenen messen lassen. Herr Borck hat seine Ausführungen zeitlich gut gegliedert und schließlich hat er immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wann Bürgerschaft, vielleicht auch Einwohnerschaft, die sich nicht durch den Rat vertreten glaubte, Möglichkeiten auf mehr oder minder rechtliche Art verschaffte, sich doch ein Mitspracherecht zu verschaffen. Wie dieses Mitspracherecht dann schließlich ausfiel, dies ist - im Hinblick auf das Rahmenthema - wohl ein Gesichtspunkt, der möglicherweise die Diskussion vertiefen wird. Moraw: Ich möchte den Dank an den Vortragenden mit einigen kurzen Fragen verbinden. Die erste Frage: Bei den doch recht zahlreichen Verfassungsänderungen in Hildesheim ist mir die Frage, wie diese legitimiert worden sind, ein Problem. Legitimierung kann man sich in ganz verschiedener Weise vorstellen (im Mittelalter beginnt das bei Symbolen und geht dann in den Bereich der Schriftlichkeit hinüber). Die zweite Frage betrifft den Weg des Rates oder der Ratsgremien vom Bürgerausschuß zur Obrigkeit. Es gibt den bekannten, damals sehr bedeutenden Aufsatz von Erich Maschke, der am Beispiel von Speyer vorgeführt hat, wie sich aus dem Bürgerausschuß die Obrigkeit der Stadt entwickelte. Maschke hat dies innerhalb des Mittelalters entwickelt, spielt also nicht auf die Zeit der Aufklärung oder dergleichen an. Kann man das in Hildesheim ähnlich sehen? Und kann man das datieren? Dann noch zwei kurze Fragen, die mich sachlich interessieren: Erstens: Wen vermuten Sie sozial hinter der "Meinheit"? Es ist eine Frage, die nicht nur Hildesheim betrifft, die auch sonst nicht klar ist. Zweitens: Was stellen Sie sich unter Bürgerinnen vor? Waren das Witwen, oder an wen soll man denken? Borck: Punkt 1: Legitimierung. Die Frage nach der Legitimierung richtet sich auf den Landesherrn. Ich habe ja versucht auszuführen, daß in Hildesheim einige Privilegien der Art, wie sie gestern als "überdehnte Privilegien" bezeichnet wurden, auch existierten. Eines davon war das Privileg von 1281, das Änderungen des Herkommens des in der Stadt geltenden Gewohnheitsrechtes durch einen gültigen Beschluß der zwölf Ratsherren zuließ und damit in das Ermessen des Rates stellte. Ein zweites ähnliches Privileg ist im 15. Jh. das über die Steuerfreiheit der Stadt (1437). Auch hier stützt sich auf

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einen an sich singulären Vorgang, auf die Regelung einer militärpolitischen Tagesfrage, eine verfassungsrechtliche Sonderstellung, die erst 1806 ihr Ende fand. Die Änderungen der Verfassung der Stadt Bildesheim sind- so muß man mutmaßen, denn expressis verbis ist nirgendwo etwas darüber zu finden auf der Basis der angenommenen Legitimierung durch das Privileg von 1281 in der Folgezeit allesamt ohne jede Zustimmung des Landesherrn zustande gekommen. Erst die militärische Besetzung der Stadt im Dreißigjährigen Kriege 1632/34 schafft hierin einen ersten Wandel. Alles dagegen, was bis zu diesem Zeitpunkt an Verfassungsänderungen beschlossen wurde- ob es sich um das Stadtrecht von 1300, ob um die großen Verfassungsreformen des 15. Jh. oder um die Neuordnung der Finanzverfassung im Jahre 1531 handeltgeschah völlig in eigener Regie. Kein Dritter wirkte ein, keine Zustimmung, aber auch keine Ablehnung durch den Landesherrn ist zu verzeichnen. Dieser ist vielmehr seit dem Ende des 14. Jh. praktisch aus der Hildesheimer Stadtverfassung hinauskatapultiert worden. Deshalb, das sagte ich gestern schon, nimmt Bildesheim die eigenartige Stellung ein, daß es weder Reichsstadt war - dieser Status war zeitweise in der Zeit der Reformation angestrebt worden- noch gewöhnliche Landstadt genannt werden konnte, denn es war auch am Landtage nicht beteiligt. Diese besonderen Rechtszustände haben noch im 17. Jh., in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, eine gewisse Rolle gespielt. Damals luden die neuen welfischen Herren, die diese Verfassungsverhältnisse nicht kannten, den Rat zum Landtag, und dieser wagte angesichts der Machtverhältnisse die Einladung nicht abzuschlagen. Als dann jedoch die Hildesheimer Abgesandten nach Hannover kamen, hatte sich mittlerweile der welfische Syndikus informiert und teilte ihnen mit, er bedauere das Mißverständnis; sie durften ohne Heranziehung zu den kostenträchtigen Beschlüssen des Landtages wieder nach Hause ziehen. Es blieb also bei der ungewöhnlichen, nahezu völligen Herausnahme der Stadt aus der sonstigen Landesverfassung. Man kann insgesamt sagen: Eine Legitimierung durch Dritte hat es bei der Verfassungsentwicklung der Stadt Bildesheim bis zum Dreißigjährigen Krieg nicht gegeben. Es gilt allerdings die Einschränkung, daß dies vorzugsweise die Altstadt Bildesheim betrifft, nicht gleichermaßen die Neustadt. Dies sei hier nur global angedeutet- die Darstellung der Hildesheimer Verfassungsverhältnisse war ja, wie ich vermute, angesichts der zahlreichen organisatorischen und machtpolitischen Änderungen inhaltlich kompliziert genug. Die Neustadt habe ich deshalb weithin ausgespart, da die Betrachtung ihrer Verfassungsverhältnisse zu weiteren Differenzierungen hätte führen müssen. Dort hatte der Dompropst als Stadtherr bis in das 18. Jh. hinein sich eine etwas stärkere Stellung bewahrt. In der Neustadt sind deshalb

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Verfassungsänderungen immer wieder bestätigungsbedürftig gewesen, in der Neustadt sind auch Eingriffe des Stadtherrn in die Stadtverfassung erfolgt. Dort gab es also eine obrigkeitliche Legitimation, in der Altstadt Hildesheim, dem bei weitem bedeutenderen Teil der Doppelstadt, gab es diese nicht. Zweite Frage: Wann ist der Rat zur Obrigkeit geworden? In den Ratsverhandlungen des Dreißigjährigen Krieges wurde deutlich - und ich hatte ja eine dieser Stellen aus den zahlreichen, sehr weitschweifigen Diskussionen der städtischen Gremien hier zitiert -, daß die Frage einer Obrigkeit des Rates in der Tat eine Rolle gespielt hat, daß der Bürgermeister selbst die These von der Obrigkeit des Rates vertrat. Ich meine jedoch, auch deutlich gemacht zu haben, daß es immer wieder seit dem späten Mittelalter Rückgriffe auf die alte universitas civium gab. Ich erinnere an das Stichwort der "groten Saken", also die Heranziehung der Bürger für Grundsatzfragen, für die Setzung neuer Satzungen, bei der Erhebung etwaiger neuer Steuern usw. Wichtige politische und finanzielle Grundsatzentscheidungen blieben im Prinzip immer an die Zustimmung der Bürger gebunden mit Ausnahme der Zeit, als das Vierzigerkollegium eintrat in die Rechte der Bürgerschaft und deren Zustimmung ersetzte. Ich glaube, man kann hier nicht davon sprechen, daß in Hildesheim nach Art der patrizischen Obrigkeiten in anders verfaßten Städten sich eine ausgesprochene Stadtobrigkeit herausgebildet hat. Auch die Vorgänge in der Reformationszeit machen sehr deutlich, daß eine etwa sich ausbildende Obrigkeit des Rates auf sehr enge Grenzen stieß. Freilich möchte ich dieses Urteil mit derselben Vorsicht abgeben, mit der gestern auf manche ähnlichen Fragen reagiert und operiert wurde. Als Historiker sieht man die große Zahl der retardierenden Momente, die sehr zahlreichen gegensätzlichen Entwicklungen, die einer derartigen Qualifikation entgegenstehen, vielleicht allzu aufmerksam und vergißt darüber manchmal die Beobachtung allgemeiner Entwicklungsstränge. Dann fragten Sie: Was ist die "Meinheit"? Dazu ist dies zu sagen: Ich habe mehrfach von den Ämtern und Gilden gesprochen, hätte vielleicht genauer von den vier Ämtern und fünf Gilden sprechen sollen. Das hätte deutlicher werden lassen, daß in Hildesheim- auch dies ist wiederum ein Kuriosum der dortigen Stadtverfassung-dieBeteiligung des Handwerks nicht etwa in der Art der manchem von Ihnen vielleicht vor Augen stehenden süddeutschen Zunftverfassung als eine allgemeine Demokratisierung der Stadtverfassung gemeint war; hier sind vielmehr diese vier Ämter und fünf Gilden selbst privilegierte Zünfte. Dagegen gibt es dann bis zum 18. Jh. eine ganze Reihe, nämlich an die 90 verschiedene andere Handwerke, von denen mindestens 36 in Gilden organisiert waren: Von allen Gilden sind aber nur die im 15. Jh. privilegierten fünf bis zum Ende der städtischen Selbständigkeit am Stadtregiment beteiligt worden. Der ganze nicht auf die vier Ämter und fünf Gilden aufgeteilte Rest der Bürgerschaft, also die Bürger, die nicht Hand-

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werker waren und die Handwerker, die nicht zu den vier Ämtern und fünf Gilden gehörten, bildeten insgesamt die "Meinheit". Punkt 4: Was sind Bürgerinnen? Die Ausübung gewerblicher Unternehmen, beispielsweise die Betreibung eines Handwerks, war an das Bürgerrecht gebunden. Auch die Witwen der Bürger waren Bürgerinnen und konnten das Handwerk weiterführen. Selbst das Stadtrecht von 1300 nennt bereits ausdrücklich Bürger und Bürgerinnen als Adressaten. Genauere Mitteilungen über den Umfang der Rechte der Bürgerinnen kann ich Ihnen im Augenblick allerdings nicht machen; hier gibt auch die vorhandene Literatur noch allzu wenig her, es bedarf weiterer wissenschaftlicher Forschung. Fest steht nur, daß Bürgerinnen nicht das Wahlrecht ausgeübt haben. Hierbei ist es ganz interessant, daß 1815 nach der von Hannover gegebenen Konstitution eine Überprüfung des § 17 der Stadtkonstitution durch den neugebildeten Magistrat auch unter dem Aspekt stattfand, ob das neue, an Hausbesitz geknüpfte Wahlrecht eigentlich bedeute, daß jeder Hausbesitzer ohne Rücksicht auf das Geschlecht wählen dürfe. Die stadtinterne Prüfung kam 1815 zu dem Ergebnis, daß auch Frauen zwar Bürgerinnen seien und im Grunde das Wahlrechtserfordernis erfüllten, weshalb sie auch in die Bürgerrolle, aufgrundderen die Wahlen vorgenommen wurden, eingetragen werden müßten. Ergebnis der Prüfung war aber auch, daß in der Bürgerrolle anläßlich der Einladung zum jeweiligen Wahlakt nach den Namen der Bürgerinnen ein Strich (für Nichtteilnahme) zu machen sei, weil es dem städtischen Herkommen widerspreche, Frauen zur Wahl zu laden. Hier verfuhr man mit den Frauen nach 1815- übrigens nicht in der Zeit von 1832- 1845- ebenso, wie man bis in die Zeit der Französischen Revolution mit den Katholiken verfahren war. Schulze: Einleitend hat Herr Borck seinen Vortrag unter das Ziel gestellt, einen "Wall der Wirklichkeit" gegen die "Flut der Spekulation" zu errichten. Dieser "Wall" sollte freilich nicht das eine Feld historischer "Wirklichkeit", auf das uns Herr Borck so kenntnisreich geführt hat, von den anderen Feldern historischer "Wirklichkeit" trennen, die sich uns in den vorangegangenen Referaten erschlossen haben. Ich möchte deshalb mit drei Fragen an Herrn Borck- und auch an Herrn Mager als Vorreferenten- den Blick auf mögliche Zusammenhänge lenken. Denn wir müssen zwar von erheblichen Unterschieden der Begriffsverwendungen und Denkformen in den jeweiligen Untersuchungsbereichen ausgehen. Schon in den vorangegangenen Referaten hat sich eine spannungsreiche Mehrheit von Begriffsverwendungen für Bürger, res publica usw. gezeigt: der Begriff des Juristen etwa im Unterschied zu jenem des "Politologen" bei der Aristoteles-Interpretation. Herr Borck hat jetzt eine weitere Perspektive aus dem Quellenmaterial der rechtlichen und politischen Praxis einer Stadt hinzugefügt. Aber verdient dieses Quellenmaterial nicht besonderes Interesse auch deshalb, weil sich

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Begriffe und Denkformen in den jeweiligen konkreten Theorie- und Praxiszusammenhängentrotz der Verschiedenheit nicht völlig losgelöst voneinander entwickeln? Daher meine erste Frage: Herr Borck hat uns- ausgehend von der universitas civium und der Rolle der consules - eindrücklich die Entfaltung der Ämter im Stadtregiment vor Augen geführt. Korrespondiert diese Entwicklung nicht schon im Ansatz sehr stark dem, was wir auf der theoretischen, juristischen Ebene im ersten Vortrag gehört haben über den universitasBegriff der Legisten? Ist das nicht eine Art von Praxis und Theorie im Wechselspiel, oder würden Sie Differenzen prinzipieller Art sehen? Zweite Frage: In Ihrem Vortrag kam, eher punktuell aufleuchtend, der Begriff Stadtregiment vor. Wenn man sich aber die Inhalte, die Sie dazu vorgetragen haben, vor Augen führt, kam es mir beinahe vor wie ein Parallelbegriff, oder vielleicht eine Anwendungsweise dessen, was Herr Mager für die res publica als "Form" in ihrer "Formierungstendenz" gesagt hat. Könnte man hier vielleicht einen Ansatz finden, um Zusammenhänge zu sehen zwischen der Stadt mit dem Stadtregiment einerseits und den Verständnissen der res publica, die im Vorreferat in abstrakterer Form betrachtet wurden, andererseits? Allerdings wäre dabei nach einem zeitlichen Vorlauf städtischer Praxis gegenüber den theoretischen Modellen zu fragen. Die Parallele ließe sich zudem nicht mehr ziehen für jene spätere Zeit, in der die res publica- in der Begrifflichkeit des Vorreferats- von der "Formierung" in die naturrechtliche "Strukturierung" übergeht und in der die Stadt schließlich integriert wird in den Staat im neueren Verständnis, auf den diese naturrechtliche "Strukturierung" im Grunde bereits zugeschnitten ist. Aber könnte man für die vorhergehende Zeit nicht für die Entwicklungen, die beide Referate aufgezeigt haben, Parallelen zwischen den wissenschaftlichen Betrachtungsweisen der res publica als "Form" und den konkreten Formen des Stadtregiments erkennen? Die dritte Frage zielt auf das zweite "Leitmotiv" unserer Tagung neben der res publica, nämlich auf den "Bürger". Der Bürger-Begriff, den Sie uns vorgeführt haben, unterscheidet sich von dem Begriff des civis, den wir bei Herrn Mager zumindest für den neuen Aristotelismus kennengelernt haben. Wenn ich es richtig sehe, erschien bei Ihnen der Bürger - und selbst die "Bürgerin" -nicht so sehr eingebunden in amorphe Strukturen und in ein Aggregat von Haushalten, sondern schon stärker individualisiert. Mich würde interessieren, wie lange sich diese Anschauung gegenüber den anderen Vorstellungsweisen in der Staatstheorie behauptet hat, und ob sich die Linie hier gar durch die frühe Neuzeit hindurchziehen läßt. Ihre Belege betrafen mehr den Beginn der Neuzeit. Hält sich das Verständnis des Bürgers aus dieser Zeit in der Stadt durchgehend bis hin zu jenen Entwicklungen im 19. Jh., auf die Herr Schneider noch eingehen wird, oder geht es zuvor mit der politischen Integration der Stadt verloren?

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Borck: Schwierige Fragen, auf die ich nur zum Teil antworten kann. Vielleicht beginne ich mit der dritten. Es scheint mir, daß die Voraussetzung, die Sie unterstellen, nicht zutrifft. Die Stadt Hildesheim wird in dieser Zeit nicht, wie unterstellt, vom territorialen Staat aufgesogen. Deshalb kann sich auch der Bürgerbegriff in der Stadt Hildesheim nicht unter dem Aspekt eines neuen, aus der Zugehörigkeit zu einem Territorium entwickelten Bürgerbegriffes gewandelt haben. Die Bürgerrechtsfragen sind wesentlich schon im Stadtrecht von 1300 geregelt. Der Bürgerbegriff ist konkret an die Zahlung des Schoßes, der gemischten Kopf- und Vermögenssteuer gebunden. Sie führt dazu, daß die Bürger in die Schoßbücher eingetragen sind, daß sie in die Bürgerbücher aufgenommen werden und damit ihr Wahlrecht ausüben können. Wie ich schon sagte, stehen auch Bürgerinnen in diesen Registern, dies auch bereits in der frühen Neuzeit, seit es die Bürgerbücher gibt; doch werden sie zu den Wahlen nicht geladen. Ein ähnlicher Sachverhalt ist zu beobachten seit 1635, für die Katholiken, die ebenfalls Bürger sind, aber durch die städtischen Beamten, die Umklöpper, zu den Wahlen nicht geladen werden und bis in die Französische Revolution hinein aus dem Verfassungsleben praktisch ausscheiden. An diesen Verhältnissen hat sich bis zum Ende der städtischen Selbständigkeit nichts geändert. Es gibt in Hildesheim ebenso wie in anderen Städten die Doppelformel Bürger und "Medewohner" (=Einwohner). Medewohner sind diejenigen, die Anteil an den städtischen Lasten haben, nicht aber die städtischen Rechte genießen. Vorzugsweise handelt es sich dabei um die Gruppen des Klerus und der Juden sowie eine Reihe weiterer wirtschaftlich minderprivilegierter Personen, wie z.B. die Untermieter in Bürgerhäusern und dergleichen, die zu städtischen Wachten und ähnlichen Bürgerpflichten herangezogen wurden, ohne das Bürgerrecht zu besitzen. In späterer Zeit, wohl im 18. Jh., konnten sie es indes erhalten. Im 19. Jh. fällt der alte Inhalt des Bürgerrechts mit einem Federstrich aufgrundder Neuorganisation des Staates, zunächst des französischen Satellitenkönigreichs Westphalen, völlig hinweg. Auch wenn Hildesheim in den Jahren 1815/1845 noch einmal eine eigene Stadtverfassung erhalten hat, so zeigen doch die vorliegenden Untersuchungen über die Reihe der hannoverschen Stadtverfassungsurkunden, daß einige einheitliche leitende Gesichtspunkte in allen Konstitutionen enthalten sind. Auch die Hildesheimer Stadtkonstitution 1815 weist selbst darauf hin, daß ein einheitliches Städterecht in Form einer Städteordnung für das Königreich vorgesehen sei. Zum Erlaß dieser Städteordnung kam es allerdings erst 1851; die scheinbar individuellen Konstitutionen haben also noch jahrzehntelang bestanden. Dennoch aber kann man wohl den Faden des alten, individuellen städtischen Bürgerrechts nicht mehr weiterspinnen; er reißt 1802 mit der faktischen Besitznahme der Stadt durch eine auswärtige Macht (Preußen) und der Suspendierung der bisherigen Verfassungs-

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verhältnisse ab. Eine Definition des Bürgerrechts aus eigener Kraft findet in der Folge nicht mehr statt. Künftig sind es von Staats wegen die Hausbesitzer, die das Bürgerrecht erhalten. Eine reine Einwohnergemeinde gibt es noch nicht, sie bahnt sich erst in der Mitte des Jahrhunderts an, ohne daß formal die Bürgergemeinde beseitigt wäre; Bürgerrecht mußte auch nach 1851, obgleich mit minimalen Zahlungen, erworben werden. Die staatliche Gesetzgebung führt also dazu, daß in der Praxis der Begriff des Bürgers sich nur noch wenig von dem des Einwohners unterscheidet. Sie fragten nach der Bedeutung des Stadtregiments. Stadtregiment ist ein Begriff der Quellen und wird im wesentlichen angewandt als ein anderes Wort für Stadtregierung. Stadtregiment meint also die Summe der Tätigkeiten der Verfassungsorgane, nämlich der beiden Räte, des 24er-Kollegs und des Oldermanns in seinen beiden Teilen. Bei allen diesen Organen handelt es sich um organisierte Behörden, um mit Kompetenzen ausgestattete Organisationsformen, die ihre Existenz in der jeweiligen Form den Verfassungsrezessen des 15. Jh. sowie weiteren städtischen Konstitutionen verdanken. Die Besonderheit der Hildesheimer Stadtverfassung und ihrer Organe ist es gerade, daß sich Änderungen der Struktur, also Ausdehnung des Wahlrechts auf neue Teile der Bürgerschaft, aufgrunddes schon im 15. Jh. erreichten, die gesamte Bürgerschaft erfassenden Zustandes praktisch bis in den Anfang des 18. Jh. hinein nicht ergeben haben. Vielleicht kann sich aber zu dieser Frage der Formierung und Strukturierung noch einmal Herr Mager äußern. Mager: Zum Problem der universitas und der consules. Diese Termini stehen in der juristischen Körperschaftslehre für zentrale Sachverhalte. Universitas bezeichnet Körperschaft. Nach legistischer Vorstellung handelt diese zum einen mittels der Bürger (der cives) ut universi, also als Teile der rechtlichen Gesamtperson, in Form von Mitglieder-(Bürger-)Versammlungen oder -ausschüssen (Räten). Die universitas handelt zweitens mittels bestallter Personen oder Personengruppen - dazu zählten die consules und der Magistrat- in deren Eigenschaft als Amts träger, nomine dignitatis suae. Mitgliederversammlungen (bzw. -ausschüsse) wie Amtsträger gelten als rechtliche Vergegenwärtigung (repraesentatio) der universitas, d.h. beide Institutionen entscheiden und handeln rechtlich verbindlich im Namen der universitas. Im Alltag der Geschäfte treten nur die officiarii auf, bei grundlegenden Entscheidungen wie Gesetzgebung oder auch Überprüfung der Tätigkeit der officiarii tritt die Bürgerversammlung oder der Rat in Aktion. Das Zusammentreten der Bürger ut universi ist nicht als Rebellion oder Revolution zu begreifen, sondern als ein im Rahmen des Korporationsrechts vorgesehener Vorgang, der freilich in Konfliktsituationen dramatische Formen annehmen kann.

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Borck: Diese Theorie entspricht der Wirklichkeit nicht in allen Fällen, wie die Vorgänge der Jahre 1343- 1345 zeigen. Der Versuch der an der Absetzung des Rates beteiligten Partei, sich nach dem Ende der Auseinandersetzungen durch eine allseits gesiegelte Vereinbarung schadlos stellen zu lassen, zeigt, daß mindestens im Bewußtsein der Beteiligten nicht ohne weiteres von der Rechtmäßigkeit des Widerstandes gegen den Rat ausgegangen werden kann. Da es in der Stadtverfassung keine als Schiedsrichter fungierende, ein justizförmiges Verfahren gestattende Stelle gibt, vollzieht sich zwangsläufig die Auseinandersetzung immer in der Form eines politischen Kampfes. Die Stadtverfassung selbst kennt kein Widerstandsrecht der Bürger gegen den gewählten Rat, die Wahrnehmung der Rechte der universitas civium müßte sich im Wege der Wahl, zum Beispiel der Abwahl ganzer Ratsgremien vollziehen- dies ist aber aufgrunddes Verfahrens der Selbstergänzung bis zum Beginn des 18. Jh. nicht ohne politische Auseinandersetzung, also ohne Machtkampf, möglich. Mager: Ich habe das juristische Instrumentarium beschrieben, nicht die Wirksamkeit der Institutionen in Konfliktlagen. Wenn die Bürgerversammlung den Magistrat in die Schranken weist, so ist dies institutionell gesehen ein normaler Vorgang, wie dramatisch er sich auch bei Machtkämpfen zwischen politisch-sozialen Gruppen darbieten mochte. Die Diskursebene verschiebt sich von der juristischen Terminologie zur philosophischen, wenn die consules oder der Magistrat als Regiment, als Obrigkeit benannt wird und die Bürger als Gehorchende. Man befindet sich dann in aristotelischer Begrifflichkeit, gemäß der die res publica als ordo imperantium et parentium und in dieser Stoßrichtung als ordo civitatis umschrieben wird. Soweit res publica als forma, als herrschaftsstiftende Kraft im Sinne des aristotelischen Entelechiebegriffs gefaßt wird, rücken die Bürger letztendlich auf die Stufe von Untertanen herab. Es mag das gemeinschaftliche Handeln der Bürger gegen den Magistrat dann als Rebellion erscheinen. Anders stellen sich die Dinge dar, wenn man auf das Modell der Mischverfassung rekurriert. Es rechtfertigt Bürgerhandeln.

Borck: Die Selbstdefinition des Rates, des Regiments als Obrigkeit, wobei der Rat nach eigener Definition und nach der inneren Organisation der städtischen Gremien nur Teil des Regiments war, ist in Hitdesheim in krasser Form erst im Dreißigjährigen Krieg zum Ausdruck gekommen. Bis dahin gab es immer, wie ich ausgeführt habe, gewisse Wellenbewegungen: Dem jeweiligen Zuwachs an Amtsgewalt standen immer wieder Rückgriffe auf die universitas civium gegenüber. Beteiligung der Bürger an Finanzkontrollen und an politischen Grundsatzentscheidungen, wie etwa der Einführung der Reformation, lassen erkennen, daß die möglicherweise tendenziell zu beobachtende Entwicklung des Rates zur Obrigkeit hin bis zum Dreißig-

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jährigen Kriege immer wieder Einschränkungen unterworfen war. Deutlich prallen die beiden gegensätzlichen Grundauffassungen vom Rat als Obrigkeit und vom Rat als Bürgeramt in den Dreißiger Jahren des Dreißigjährigen Krieges aufeinander; entschieden wird der Streit 1703 mit der Niederlage des Obrigkeitsanspruches, denn von nun an ist die Direktwahl des Rates, die dieser bis dahin im Sinne obrigkeitlicher Ausdeutung des Regiments selbst in den Stürmen des Dreißigjährigen Krieges zu verhindem gewußt hatte, eingeführt, und Versuche in der Folgezeit, die Konsequenzen der Direktwahl rückgängig zu machen oder einzuschränken, haben nicht zum Erfolg geführt. Mohnhaupt: Ich habe eine kurze Frage: Was bietet der militärische Aufgabenhereich innerhalb der Bürgerschaft und innerhalb der Stadt für die Definition des Begriffs "Bürger"? Ich meine, daß wir diesem Aspekt bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben.

Borck: Solange eine selbständige Stadtverfassung existierte und soweit dies nachweisbar ist, haben die Bürger stets mit der Leistung des Bürgereides die Verpflichtung übernommen, sich militärisch für ihre Stadt einzusetzen. Im Bürgereid heißt es, daß sie Harnisch und Spieß zur Stadtverteidigung bereithalten sollen. Sie haben konkrete Aufgaben, beispielsweise die Übernahme der Wachen an den Toren, sowie lange Zeit auch direkte militärische Leistungen übernehmen müssen, bis endlich im Jahre 1643 ein miles perpetuus, also ein besoldetes stehendes Heer in Hildesheim eingeführt wurde. Die Erbringung militärischer Leistungen ist bis dahin von Anfang an und fortdauernd ein selbständiger, notwendiger Bestandteil des Bürgerrechts, solange überhaupt Urkunden vorliegen. Mager: Eine kurze Notiz dazu: Wehrhaftigkeit ist zentral in Machiavellis Konzept der Republik, das vivere civile ist armiert. Ganz in diesem Sinne haben sich die Schweizer Eidgenossen als wehrhaft verstanden und die Niederländer in ihrem Kampf gegen die Spanier.

Borck: Vielleicht kann man hier noch darauf hinweisen, daß vom Beginn des hier nachgezeichneten Verselbständigungsprozesses der Stadt und ihrer Bürger, also von der Mitte des 13. Jh. an, in der Tat auch die Befestigungshoheit bei der Stadt lag. Zusammen mit der Gewährung des Stadtrechtes durch Bischof Heinrich I. im Jahre 1249 erfolgte auch der Verzicht auf die Befestigungshoheit, der universitas civium wurde die Bewachung der seit den Zeiten des Bischofs Bemward landesherrlichen Domburg übertragen und damit ein wesentlicher Schritt für die Ausscheidung des Stadtherrn aus dem städtischen Machtbereich getan.

Der Bürger zwischen Stadt und Staat im 19. Jahrhundert Von Hans-Peter Schneider, Hannover "Ich will und kann kein Bürger sein, wenn alles Bürger sein soll" 1 . Mit diesen Worten versuchte Adam Müller zu Beginn des 19. Jh. schon den Anfängen einer Entwicklung zu wehren, an deren Ende sich der "Stadtbürger" als Angehöriger des Dritten Standes zum freien und gleichen "Staatsbürger" verallgemeinert hatte. Seine Warnung kam jedoch zu spät. Denn bereits damals war erkennbar, daß sich dieser Prozeß nicht werde aufhalten lassen. Deshalb versuchte Novalis aus ähnlich romantisch-konservativem Geist, dem künftig "einheitlichen" Staatsbürger wenigstens einen Rest an Hoheit und Würde zu bewahren. Ganz im Sinne von Schillers ästhetischer Erziehung schrieb er 1798: "Jeder Staatsbürger ist Staatsbeamter" 2 und "Aus jedem echten Staatsbürger leuchtet der Genius des Staats hervor.... Aus Ökonomie gibt es nur einen König. Müßten wir nicht haushälterisch zu Werke gehen, so wären wir alle Könige3 . " Allerweltsbürger sein: nein; König sein: ja! Das war die widersprüchliche, mehrfach in sich gebrochene Devise eines Bürgertums, das in der Staatsbürgerschaft als neuer Rechtsform einer unmittelbaren Staat/Bürger-Beziehung nicht nur die Chance der Emanzipation aus ständisch-feudalen Fesseln, sondern im monarchischen System auch die Gefahr der Nivellierung zu einer rang- und namenlosen Masse von Untertanen erblickte. Angesichts dieser Ambivalenz und Zwiespältigkeit des Bürgertums gegenüber seiner eigenen Stellung in Staat und Gesellschaft, schwankend zwischen Staatsverachtung und Staatsvergötzung, ist es nicht übertrieben, den "Bürger" von Stadt und Staat als eine zumindest signifikante, vielleicht sogar zentrale Schlüsselfigur für das Verständnis der verfassungsgeschichtlichen Umbrüche von der altständischen Herrschaftsordnung zum modernen Volksstaat zu bezeichnen. Nicht ohne Grund hatte auch Smend in seiner ergreifenden Rede zur Reichsgründungsfeier 1933 über "Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" 4 noch wenige Tage vor Hitlers Machtüber1 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst (1809), hrsg. von J. Baxa, Bd. 1, Jena 1922, s. 305. 2 Novalis, Glaube und Liebe oder der König und die Königin (1798), in: Die Herdflamme, Bd. 8, hrsg. von J . Baxa, Jena 1924, S. 155. a Ebd., S. 179f. 4 Abgedr. in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 309- 325 (310f.).

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nahme "Begriff und Bild des Menschen und Bürgers einer bestimmten Zeit ... zu den Denkvoraussetzungen des Rechts einer Zeit" gezählt, "so daß ein positives Recht ohne die Kenntnis dieser Voraussetzung, dieses Menschenbildes unverständlich ist". Seine fachliche Selbsteinschätzung, wonach sich hier "der Jurist sogar in einem gewissen Vorteil vor dem Historiker" befinde, "weil seine Begriffe und Bilder notwendig einfacher, eindeutiger und dauerhafter sind als die des Historikers", vermag ich freilich nicht ganz zu teilen. Zwar ist die Begriffs- und Bedeutungsgeschichte von "Bürger"· und "Untertan", "Stadt-" und "Staatsbürger" dank der wegweisenden Arbeiten von Weinacht5, Riedel6, Grawert7 und Stolleiss inzwischen weitgehend erschlossen und aufgehellt. Im Ergebnis vermitteln diese Untersuchungen aber ein so buntes, facettenreiches, ja geradezu verwirrendes Bild, daß es außerordentlich schwerfällt, hier klare Konturen zu erkennen oder eindeutige Veränderungen festzustellen, etwa im Sinne einer gradlinigen Entwicklung vom Stadt- zum Staatsbürger, vom "bourgeois" zum "citoyen" oder gar vom ständisch-feudalen zum egalitär-liberalen Gemeinwesen. All diese Tendenzen sind zwar als Grundströmungen unleugbar vorhanden, im konkreten Erscheinungsbild der historischen Ereignisse ebenso wie in den Rechtsquellen und Verfassungstexten indes nur eng ineinander verflochten, wechselseitig aufeinander bezogen, parallel verlaufend, ja gelegentlich sogar phasen- und zeitverschoben wahrnehmbar. Nicht nur für den Historiker, auch für den Juristen schwebt - mit den Worten Smends9- "die Gestalt des deutschen Bürgertums im 19. und 20. Jh. noch vielfach in schwankender Erscheinung". Mag es ihm als großem Verfassungsgelehrten durchaus gelungen sein, "sie um so mehr zu befestigen mit dauerhaften Gedanken", so ist mein Ziel ein sehr viel bescheideneres. Ausgehend vom Idealtypus des "Bürgers", wie er sich zunächst mit der aristotelisch-ciceronianischen Tradition und sodann als unmittelbare Folge der Französischen Revolution herausgebildet hat und, vermittelt durch Philosophie, Literatur und politisches wie staatsrechtliches Schrifttum, im 19. Jh. auch für Deutschland maßgeblich geworden ist (I.), wird zunächst seine verfassungsrechtliche Stellung in Stadt und Staat betrachtet (li.), sodann seinen Wandlungen und Metamorphosen im 5 Paul-Ludwig Weinacht, "Staatsbürger". Zur Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs: Der Staat 8 (1969), S. 41- 63. 6 Manfred Riedel, Art. "Bürger, Staatsbürger, Bürgertum", in: 0. Brunner I W. Conze IR. KoseHeck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. 672- 725. 7 Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit. Verfassungsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Staatsangehörigkeit, 1973. 8 Michael Stolleis, Untertan - Bürger - Staatsbürger. Bemerkungen zur juristischen Terminologie im späten 18. Jahrhundert, in: R. Vierhaus (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, 1981, S . 65 - 99. 9 (FN 4), S. 311.

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Vor- und Nachmärz unter besonderer Berücksichtigung der ökonomischen Dimension nachgegangen (III.), um schließlich diese Entwicklung in eine verfassungstheoretische Reflexion münden zu lassen (IV.) und am Beispiel des Finanz-, Militär- und Gerichtswesens in ihren verfassungspraktischen Konsequenzen näher zu untersuchen (V.). I. 1. Will man sich gleich zu Beginn einen unmittelbaren Eindruck von der Mehrdeutigkeit und Vielgestaltigkeit des Bürgerstatus im späten 18. Jh. verschaffen- zu einer Zeit übrigens, in der die Begriffe "Bürger", "Staatsbürger" und "Untertan" im modernen Sinn bereits voll ausgebildet und Gegenstand einer heftigen verfassungspolitischen Kontroverse warento - , dann empfiehlt es sich zunächst, das preußische Allgemeine Landrecht heranzuziehen. Im ALR ist vom "Bürger" bereits auf dreifache Weise die Rede: Erstens wird er als Angehöriger eines Geburtsstandes im Unterschied zum Adels- und Bauernstand betrachtet (statusrechtliche Bedeutung). Hierzu heißt es in§ 1 II 8: "Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats in sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel noch zum Bauernstande gerechnet werden können". Schon im nächsten Paragraphen aber begegnet uns mit dem "Stadtbürger" der zweite Sinngehalt (ortsrechtliche Bedeutung): "Ein Bürger im eigentlichen Verstande wird derjenige genannt, welcher in einer Stadt seinen Wohnsitz aufgeschlagen, und daselbst das Bürgerrecht gewonnen hat" (§ 2 II 8). Zugleich erscheint aber auch hier der Stadtbürger keineswegs als einheitliches Rechtssubjekt, sondern unterliegt seinerseits einer ständischen Differenzierung in einfache Bürger, "Eximierte" (d.h. aufgrundvon Beruf, Würden oder besonderen Privilegien von der Ortsgerichtsbarkeit Befreite) und bloße "Schutzverwandte" ohne Bürgerrecht. Das allenthalben selbst in den Städten übliche Zensuswahlrecht sorgte zudem noch für weitere Abstufungen in der politischen Beteiligung. Schließlich kannte auch das ALR bereits den allgemeinen "Staatsbürger", der im Verhältnis zur Obrigkeit als "Unterthan" (§ 1 li 17) oder schlicht als "Einwohner" (§ 3 II 17) bzw. "Mitglied" des Staats (§ 22 Einl.) bezeichnet wurde (staatsrechtliche Bedeutung). In diesem dritten Sinne bestimmen etwa § 22 Einl.: "Die Gesetze des Staates verbinden alle Mitglieder desselben ohne Unterschied des Standes, Ranges oder Geschlechts", und§ 1 II 13: "Alle Rechte und Pflichten des Staats gegen seine Bürger und Schutzverwandten vereinigen sich in dem Oberhaupte desselben". Schon dieser grobe Überblick zeigt, wie bereits gegen Ende des 18. Jh. der Bürgerbegriff im positiven Recht nicht nur mehrere Sinnvarianten aufweist, sondern diese verschiedenen Bedeutungsschichten selbst einander auch noch wechselseitig beeinflussen, bedingen und partiell sogar überlagern11 • 1o

Vgl. dazu Stolleis (FN 8), S. 66ff. (et passim).

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2. Ähnlich komplett und umfassend ausgeprägt ist auch der Wortgebrauch im philosophisch-politischen Schrifttum der Zeit, namentlich bei Kant, Regel und Marx, wenngleich hier jeweils einseitig bestimmte Eigenschaften des Bürgers besonders hervorgehoben und als wesentlich betrachtet werden. In bewußter Anknüpfung an die seit Bodin überlieferte und durch die Französische Revolution neu belebte Unterscheidung zwischen dem Stadtbürger ("bourgeois") und dem Staatsbürger ("citoyen") bezeichnete Kant nur letzteren als "Bürger", insofern er das Stimmrecht bei der Gesetzgebung hatl2. Vor dem Hintergrund des geltenden Rechts indes mußte diese Sicht eher zu Mißverständnissen als zu begrifflicher Klarheit führen. Denn an der Gesetzgebung beteiligt war zweifellos auch der Stadtbürger, soweit es um Ortsrecht oder ständische Repräsentanz ging. Offenbar hatte Kant beim "Bürger" vor allem den "Mitgesetzgeber" im Auge, also den an der Rechtserzeugung politisch unmittelbar beteiligten "Aktivbürger", den er "Staatsbürger" (citoyen) nannte, und zwar ganz unabhängig davon, ob dieser seine Gesetzgebungsbefugnis formal in städtischen oder staatlichen Institutionen ausübtel3. "Bürger" war also für Kant nur, wer kraft seiner Selbständigkeit als Glied des gemeinen Wesens aus eigenem Recht einen "öffentlichen" (politischen) Willen zu bilden vermochte.

Dagegen stellte Regel weniger auf formale (und zu jener Zeit noch kaum vorhandene) Möglichkeiten der politischen Beteiligung ab als vielmehr auf die tatsächliche Interessenlage des Bürgertums, und entwickelte unter diesem Aspekt- modern gesprochen- einen eher "soziologischen" Bürgerbegriff. Ausgehend von seinem Modell der "bürgerlichen Gesellschaft", die als Verfallserscheinung und Negation der geordneten Familie durch den ökonomischen Kampf aller gegen alle beherrscht wird, vermochte Regel in den "Bürgern" des äußeren Staates nur "Individuen" zu erblicken, genauer: "Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben"l4, wobei "der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung ... ein System 11 Nähere Einzelheiten bei Reinhard Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 2. Aufl. 1975, S. 87 ff.; Vgl. auch den "Exkurs II: Zu den Begriffen des Einwohners, Mitglieds, Untertansund Staatsbürgers im ALR" (ebd., S. 660- 662). 12 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), hrsg. von J. Ebbinghaus, 1968, S. 46: "Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d. i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois)". 13 Die einzige Voraussetzung "außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei)" bestand für Kant allein darin, "daß es sein eigener Herr (sui juris) sei, mithin irgendein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann)". Da zu jener Zeit aber nur der Grundbesitz oder die Ausübung eines Gewerbes das Stadtbürgerrecht vermittelte, mußte Kant, um neben dem Besitz auch dem Faktor "Bildung" Geltung zu verschaffen, bei der Definition des Bürgers die organisatorische Trennung zwischen Stadt und Staat zugunsten des sachlichen Kriteriums der politischen Beteiligung aufgeben, mit der er konsequent den Begriff des "Staatsbürgers" verband, über den auch das Bildungsbürgertum, etwa durch Ausübung von öffentlichen Ämtern, der Bürgereigenschaft teilhaftig werden konnte.

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allseitiger Abhängigkeit" begründet, und zwar dergestalt, "daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und das Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist"l5. Demzufolge konnte nach Regel die Mitgliedschaft des Einzelnen im Staatsverband nur über ständische Gliederungen (Korporationen und Assoziationen) begründet werden. Nur soweit er in ständischen Ordnungen lebte, also materiell "Stadtbürger" war, besaß er auch die "Staatsbürgerschaft". Hier zeigt sich deutlich, daß Regel im Unterschied zu Kant nicht den "citoyen", sondern in erster Linie den eigennützigen "bourgeois", den Wirtschaftsbürger meinte, wenn er allgemein von "Bürger" (auch im Sinne des "Staatsbürgers") sprach. Diese Identifizierung des "bourgeois" nicht nur mit dem Bürger, sondern mit dem Menschen (homme) schlechthin nahm Marx zum Anlaß für seine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates als eines Systems von Klassenherrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat. Um wahrhaft "Staatsbürger" zu werden, d.h. politische Bedeutung und Wirksamkeit zu erlangen, habe der Einzelne indes aus der bürgerlichen Gesellschaft herauszutreten, sich von ihr zu befreien und sein Klasseninteresse zu überwinden16. Da jeder Staat als System selbstsüchtiger Zwecke aber notwendigerweise Klassenstaat sei, müsse die Emanzipation des Staatsbürgers durch eine Befreiung des Menschen selbst von ökonomischer Ausbeutung durch andere begleitet und vollendet werden, so daß schließlich der "citoyen", das freie selbstbestimmte Individuum als gesellschaftliches Gattungswesen und "Bürger" einer klassenlosen Welt in Erscheinung trete 17 . Damit hatte Marx ganz im Sinne der klassisch-humanistischen Tradition zum "Menschen" (homme) als der zentralen Bezugsgröße Rousseaus ebenso wie der Französischen Revolution zurückgefunden und nichts weniger als die Einlösung und Verwirklichung seiner ursprünglichen Rechte auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verlangt. 3. Versucht man, auf dieser rechts- und geistesgeschichtlichen Grundlage für das 19. Jh. einen "Idealtypus" des Bürgers zu entwerfen, so zeichnen ihn auf den Ebenen der Stadt wie des Staates -mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung- im wesentlichen folgende Merkmale aus, deren Besonderheit gerade darin besteht, daß sie sowohl ständisch-feudale als auch egalitärliberale Züge tragen: 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1831), hrsg. von J. Hoffmeister, 4. Aufl. 1955, § 187 (S. 167). 15 Ebd., § 183 (S. 165): "Man kann dies System zunächst als den äußeren Staat, Notund Verstandesstaat ansehen". 16 Karl Marx, Kritik des Regelsehen Staatsrechts (1843), in: MEW, Bd. 1, 1957, s. 281. 17 Vgl. Marx, Zur Judenfrage (1844), in: MEW, Bd. 1, S. 355, 361ff., 388. Ferner Riede! (FN 6), S . 716ff.

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a) Die wichtigste Eigenschaft eines Bürgers ist seine FreiheitlB. Sie besteht einerseits in persönlicher Unabhängigkeit von fremder Herrschaft und gehört damit seit dem Mittelalter zu den bekannten Kernelementen der Stadtbürgerschaft ("Stadtluft macht frei"). Obwohl ständisch vermittelt, trug diese Stadtfreiheit bereits liberale Züge und kehrt im 19. Jh. als Freiheit vom Staat sowohl des Stadt- wie des Staatsbürgers wieder, welche nicht nur der negativen Abwehr staatlicher Eingriffe in Leben, Person und Eigentum dient, sondern darüber hinaus auch die individuelle Selbstbestimmung und politische Mitwirkung des als "Bürger" verstandenen, gemeinschaftsbezogenen Menschen zum Gegenstand hat. Insofern ist mit dem Bürgerstatus wesensmäßig immer ein Stück Emanzipation und Aneignung von politischer Herrschaft verbunden. Trotz großer Fortschritte im Kampf um die individuelle Freiheit hat das Bürgertum jedoch die unmittelbare Geltung der Grundrechte auch gegenüber der Gesetzgebung erst in jüngster Zeit durchzusetzen vermocht. Während des gesamten 19. Jh. standen die in den Verfassungen der Einzelstaaten gewährleisteten "staatsbürgerlichen Rechte" (ich würde lieber von bloßen "Freiheitspositionen" sprechen) unter Gesetzesvorbehalt, waren durch den Gesetzgeber zu verwirklichen und wurden daher bestenfalls als Gesetzgebungsdirektive aufgefaßt19. b) Ein weiteres Merkmal des Bürgerstatus bildete die Gleichheit, und zwar sowohl im Sinne formaler Rechtsgleichheit verstanden, als auch auf soziale Gleichstellung hin orientiert20 . Da allerdings nicht nur das städtische Bürgerrecht bis weit in das 19. Jh. hinein an Grundbesitz oder Gewerbe geknüpft war, sondern auch innerhalb der Bürgerschaft selbst noch lange nach den preußischen Reformen mannigfache Privilegien, Exemtionen und Rangunterschiede fortbestanden, die teils auf dem weiterhin existierenden Zunftwesen, teils auf der Ämterordnung und dem Zensuswahlrecht beruhten, war die Gleichheit des Stadtbürgers zumindest im Vormärz ausweislich der Städteordnungen noch stark mit dem Erbe ständischer Strukturen belastet und politisch nur schwer durchzusetzen. Schrittmacherdienste leistete hierbei dagegen die Staatsbürgerschaft als eine von vornherein auf Rechtsgleichheit angelegte und im Gesetzesgehorsam sich erschöpfende direkte Beziehung zwischen der den Staat repräsentierenden monarchischen Obrigkeit und dem aus gleichen "Untertanen" bestehenden Volk. Man kann daher - überspitzt formuliert - feststellen, daß die allenthalben garantierte Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte nicht nur mit der Ungleichheit des Stadtbürgers vereinbar war, sondern dieselbe bis weit in das 19. Jh. hinein Näheres bei Stolleis (FN 8), S. 81f. Dazu Ulrich Scheuner, Begriff und rechtliche Tragweite der Grundrechte im Übergang von der Aufklärung zum 19. Jahrhundert: Der Staat, Beiheft 4, 1980, S. 105ff.; Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 192ff. 20 Vgl. Gerd Kleinheyer, Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz: Der Staat, Beiheft 4, 1980, S. 7 ff. 1a 19

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weiter aufrechtzuerhalten und zu verteidigen erlaubte, und zwar ungeachtet des auch im staatlichen Bereich praktizierten Zensuswahlrechts. c) Als dritte unabdingbare Voraussetzung wird seit Kant die Selbständigkeit des Bürgers angesehen. Gemeint ist seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung (Autonomie), die auf ein Mindestmaß an materieller Unabhängigkeit gegründet sein muß. Kant selbst griff dabei auf die Formel von "Besitz und Bildung" zurück, wohl wissend, daß letztere zu seiner Zeit allein noch nicht ausreichte, um das Stadtbürgerrecht zu erwerben. Es mußte wenigstens ein öffentliches Amt hinzukommen, das für die gebildeten, aber besitzlosen Schichten noch am ehesten in staatlichen Diensten (Verwaltung, Militär) zu erlangen war. Obwohl also auch hier der Staatsbürger vor niedrigeren Hürden stand als der Stadtbürger, trug gerade das Element der Selbständigkeit schon im Denkansatz eher traditionalistische, altständische Züge, welche die immer stärker anwachsende Zahl der lohnabhängig Beschäftigten nicht nur von der Stadt-, sondern im Prinzip auch von der Staatsbürgerschaft auszuschließen erlaubten. Das Indigenat als Grundlage des Erwerbs der formellen Staatsangehörigkeit hat desh~lb von diesem Erfordernis stets abstrahiert, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil an die Staatsbürgerschaft sowohl die Steuerpflicht als auch die Wehrpflicht geknüpft war. So spielte auch hier beim Verzicht auf ein materielles oder geistiges Substrat des Bürgerstatus als Residuum ständischen Denkens der Staat des 19. Jh. eine Vorreiterrolle. d) Das vierte Charakteristikum idealtypisch betrachteter bürgerlicher Existenz stellt die Chance unmittelbarer Einflußnahme auf politische Entscheidungen, die Teilhabe an öffentlicher Herrschaft dar, die bei Kant in der prägnanten, auf Rousseau zurückgehenden Wendung vom "Mitgesetzgeber" zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht war eher die städtische Gemeinschaft das Vorbild. Denn hier verfügte der Bürgertrotz aller Standesschranken nach den Stadtrechten schon seit dem Mittelalter über eine Vielzahl direkter Mitwirkungsmöglichkeiten, die von der Wahl des Magistrats über die Teilnahme am Stadtregiment bis hin zur Wahrnehmung der städtischen Gerichtsbarkeit reichten. Demgegenüber blieb der Bürger auf staatlicher Ebene trotz intensiver Bemühungen namentlich im Vormärz von einer effektiven Teilhabe an politischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen. Die Parlamente als Ort der Repräsentation bürgerlicher Interessen hatten wegen des monarchischen Prinzips auf die tatsächliche Machtausübung im Staat nur geringen Einfluß, so daß sich der Staatsbürger bis zum Ende des 19. Jh. im wesentlichen mit seiner Rolle als "Untertan" abfinden mußte und allenfalls in die Privatheit des Biedermeier, in die Kulturnation der Romantik oder in das Unternehmertum der Gründerjahre flüchten konnte. Das Ausmaß an politischer Beteiligung, wie es traditionell in den Städten vorhanden war, hat er jedenfalls bis zum Beginn des 20. Jh. im Staate niemals zu erreichen, geschweige denn zu übertreffen vermocht.

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e) Das letzte und vielleicht signifikanteste, jedenfalls aber dynamischste (d. h. die Entwicklung in Stadt und Staat vorantreibende) Merkmal ist unbestreitbar die tendenzielle Allgemeinheit (Universalität) des Bürgerstatus21. Eng mit der Gleichheit verwandt, aber nicht mit ihr identisch, beruht sie auf der nicht erst seit der Französischen Revolution, sondern bereits durch das rationale Naturrecht (Grotius, Hobbes) hergestellte Verbindung von Bürger (civis) und Mensch (homo). Bürgerrechte wurden von da an zum großen Teil als Menschenrechte verstanden und umgekehrt. Mit Ausnahme des Zugangs zu öffentlichen Ämtern, der Teilnahme an der Gesetzgebung (Wahlrecht) und Beamtenbestellung sowie der Eigentumsgarantie und der Gewerbefreiheit waren schließlich in der "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 alle Gewährleistungen nicht nur als Bürger-, sondern als Menschenrechte konzipiert. Zugleich sind hier jene staatsbürgerlichen Reservate außerordentlich bezeichnend, weil sie exakt den Kreis jener Rechte umfassen, die traditionell dem Stadtbürger vorbehalten waren. So läßt sich auch in Deutschland unter dem Einfluß der Französischen Revolution während des 19. Jh. eine permanente Ausdehnung und Verallgemeinerung von Bürgerrechten feststellen: Stadtbürgerliche Privilegien wurden auf der staatlichen Ebene zu Staatsbürgerrechten, städtische Freiheiten vielfach sogar zu allgemeinen Menschenrechten erweitert. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zuerst im Norddeutschen Bund, später auch für das Kaiserrecht dar, von dem allerdings Frauen noch bis 1918 ausgenommen blieben. Faradoxerweise wurde dieser Universalisierungsprozeß gerade durch die Staatsunmittelbarkeit des Bürgers als "Untertan" wesentlich gefördert. 4. Zugleich wandeln sich mit diesen Rechtsänderungen auch die Begriffe oder besser: sozialen Rollen, die dem Bürger zugeschrieben wurden, nämlich des "bourgeois" und des "citoyen". Brachte diese Zweiteilung für Kant noch den Unterschied zwischen Stadt- und Staatsbürger zum Ausdruck, so bezeichnete sie für die Vorstellungswelt des ausgehenden 19. Jh., in die bereits ein Gutteil der Kulturkritik am bürgerlichen Zeitalter eingegangen war22 , vor allem den Gegensatz zwischen dem politisch engagierten, am öffentlichen Leben teilnehmenden und sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlenden "Aktivbürger" einerseits und dem unpolitischen, privatisierenden und nur auf seinen persönlichen Vorteil bedachten "Wirtschafts-" oder "Spießbürger" andererseits. In diesem Sinne hat sich die Unterscheidung von "citoyen" und "bourgeois" nicht nur im literarischen2J und verfassungs21 Vgl. Reiner Schulze, Statusbildung und Allgemeinheit der Bürgerrechte in Verfassungstexten und Staatslehre des frühen deutschen Konstitutionalismus, in: G. Dilcher u. a. (Hrsg.), Grundrechte im 19. Jahrhundert, 1982, S. 85ff. 22 Dazu grundlegend Reinhard Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 1969. 23 Vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, hrsg. von P . de Mendelssohn, 1983; darin vor allem das Kapi-

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rechtlichen 24 Schrifttum niedergeschlagen, sondern im allgemeinen Bewußtsein bis heute erhalten. Überträgt man sie rückblickend auf das 19. Jh., dann stellt man fest, daß der Bürger jene "Doppelrolle" stets auf beiden Ebenen, d.h. in Stadt und Staat gespielt hat: Sowohl der Staatsbürger als auch der Stadtbürger waren nicht nur potentiell, sondern aktuell immer zugleich "citoyen" und "bourgeois", wobei wiederum paradoxerweise der Aktivbürger dem Anspruch nach auf den Staat bezogen, real aber weit häufiger in der Stadt anzutreffen war. Gegen Ende des 19. Jh. kehrte sich das Verhältnis sogar um: Während für den staatlichen Bereich eher der "bourgeois" als typische Erscheinungsform des Bürgers galt, hatte das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung in den Städte- und Gemeindeordnungen zu einer erheblichen Stärkung des "citoyen" geführt. Das ergibt sich nicht zuletzt aus einer Analyse der verfassungsrechtlichen Situation, die nunmehr kurz beleuchtet werden soll, wobei das Hauptaugenmerk auf den Verhältnissen in Preußen liegen wird. II.

1. Im kommunalen Bereich hat die viel gepriesene Stein'sche Städteordnung von 1808 für Preußen keineswegs schon jene Gleichstellung aller Stadtbürger gebracht, welche für die Stellung des Bürgers im Staat von Anfang an kennzeichnend gewesen ist. Zwar waren die Stadtbürger erstmals unter sich, d.h. innerhalb des Bürgerstandes, gleichberechtigt25; nicht jeder Einwohner aber konnte das Bürgerrecht erwerben. Hierzu war vielmehr nach wie vor die Ausübung eines bürgerlichen Gewerbes oder städtischer Grundbesitz erforderlich. Ausgeschlossen blieben also weiterhin die Berufe des Bildungsbürgertums, dessen Angehörige (Beamte, Akademiker, Künstler und Literaten) als "Eximierte" behandelt wurden, und die unselbständig Beschäftigten (Gesellen, Tagelöhner, Arbeiter und Hausgesinde), die wie bisher dem ALR zufolge "Schutzverwandte" blieben. Die ständische Gliederung innerhalb der Städte wurde also nicht beseitigt (dies hätte auch dem Grundkonzept Steins widersprochen) und damit der Übergang von der feudalen Bürger- zur egalitären Einwohnergemeinde gerade noch nicht vollzogen26 . tel "Bürgerlichkeit" (S. 101 ff.): "Der harte Bürger, das ist der Bourgeois. Es gibt den geistigen Bürger nicht mehr" (S. 137). 24 Vgl. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen (FN 4). 25 Dazu Koselleck (FN 11), S. 562. 26 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 2. Aufl. 1967, S. 174f. Eine gewisse Ausnahme bildeten lediglich die Rheinbundstaaten und das Königreich Westfalen nach 1806 mit "einer Staatsordnung, in der die bürgerliche Gleichheit und Freiheit zwar als Rechtsprinzip anerkannt war, in der aber doch effektiv ein System aristokratisch-bürokratischer Oligarchie sich weiterhin durchsetzte" (ebd., S. 88ff.).

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Dieses Beispiel zeigt, daß, wenn man von Freiheit oder Gleichheit der Bürger im 19. Jh. spricht, zunächst geklärt werden muß, ob jene Begriffe in einem ständisch-feudalen oder in einem egalitär-liberalen Sinn oder Kontext gemeint sind. Nur wenn die nach 1808 in Preußen zunächst noch fortbestehende ständische Binnengliederung der Städte als Rahmenvorgabe akzeptiert wird (was dem Vergleich mit der egalitären Staatsbürgerstellung als Untertan zuwiderläuft), kann von einer Gleichstellung aller Bürger die Rede sein. Ein Großteil der Sprachverwirrung beim Thema "Bürger" schon im 19. Jh. beruhte nämlich schlicht darauf, daß sämtliche genannten Merkmale des Bürgerstatus sowohl in einem ständisch-feudalen wie in einem egalitär-liberalen Sinne verstanden werden konnten und verwendet worden sind. Auf die Problematik der "Selbstverwaltung" werde ich noch gesondert eingehen. Eine Änderung des geschilderten Rechtszustandes trat erst mit der Revidierten Städteordnung von 1831 ein, die jedem Einwohner ohne Ansehen seines Standes das Bürgerrecht und damit ebenso das Wahlrecht zu den Stadtverordnetenversammlungen verlieh. Die Kosten dieses Zugewinns an stadtbürgerlicher Gleichheit waren allerdings beträchtlich: Es wurde nicht nur die Stellung des Magistrats gegenüber dem Rat gestärkt und die Polizeigewalt auf den Bürgermeister übertragen; auch der in der Städteordnung von 1808 relativ niedrig angesetzte Wahlzensus erfuhr eine deutliche Anhebung. Im Ergebnis blieb damit ein Großteil der neuen Bürger, obwohl nunmehr unbeschränkt steuerpflichtig, weiterhin von politischer Mitwirkung ausgeschlossen und in dieser Hinsicht die alte ständische Ordnung erhalten, wie überhaupt ständische Strukturen namentlich in den Städten das ganze 19. Jh. hindurch ein erstaunliches Beharrungsvermögen aufwiesen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den starken Widerständen und Schwierigkeiten, denen die Versuche der Einführung jener Revidierten Städteordnung begegneten. Nur die Provinz Sachsen fügte sich klaglos. In den alten Provinzen Brandenburg, Preußen, Pommern und Schlesien behielten fast sämtliche Städte27 die Stein'sche Ordnung von 1808 noch bis zum Jahre 1853 bei, was ihnen freigestellt war. Bei den vier neuen Provinzen führte die vorgesehene Beratung mit den Provinzialständen ebenfalls zu erheblichen Verzögerungen2s. Ähnlich war auch in den mittel- und süddeutschen Staaten der Übergang von der ständischen Bürger- zur egalitären Einwohnergemeinde nur um den Preis einer massiven Anhebung des Wahlzensus möglich. 27 Mit Ausnahme von Königsberg in der Neumark, Wendisch-Buchholz und Kremmen. 28 Trotz mehrfacher intensiver Bemühungen konnte in Preußen sogar bis 1919 niemals eine gemeinsame (einheitliche) Städteordnung durchgesetzt werden. Vgl. dazu Heide Barmeyer, Der Entwurf einer Städteordnung für Preußen 1876 im politischen Meinungsstreit, in: H. Naunin (Hrsg.), Städteordnungen des 19. Jahrhunderts, 1984, s. 203ff.

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2. Anders auf der staatlichen Ebene: Hier war die ständische Ordnung deshalb leichter zu überwinden, weil einerseits schon der Absolutismus intermediäre Mächte beseitigt hatte und so die innerstaatlichen Rechtsbeziehungen als unmittelbares Gewaltverhältnis zwischen Fürsten und Untertanen zu konstruieren erlaubte, andererseits aber auch die Rechtsgleichheit selbst, d. h. die Gleichstellung der Rechtsunterworfenen gegenüber der Staatsgewalt, zu den Durchsetzungsbedingungen des modernen Anstaltsstaates (im Sinne Max Webers) gehörte. Erste Schritte auf dem Weg zur einheitlichen Staatsbürgerschaft wurden in Preußen allerdings nicht mit Hilfe neuen Verfassungsrechts, sondern durch die Gesetzgebung unternommen. Nachdem mit der Gewerbereform die Zulassung zu einem Gewerbe verstaatlicht, d. h. ausschließlich von einer staatlichen Genehmigung abhängig gemacht worden war, mußte der Staat auch gewährleisten, daß dieser Gewerbeschein in allen Städten anerkannt wurde. Dafür sorgte bereits das Gewerbepolizeigesetz von 1811, welches zumindest für diesen begrenzten, aber äußerst wichtigen Bereich staatlicher Tätigkeit ein "gesamtstaatliches Bürgerrecht" erzwang2s. Überhaupt war vielfach der Zugriff des Staates auf ehemals städtische oder regionale Aufgaben, Kompetenzen oder Privilegien das eigentliche Vehikel zur Beförderung eines einheitlichen Staatsbürgerrechts, viel eher jedenfalls noch als die Schaffung von Grundrechten in den Verfassungen des Vormärz.

Im übrigen begegnet uns der Begriff "Staatsbürger", mit dem in der Regel nicht nur die formelle Staatsangehörigkeit, sondern ihr zufolge auch der Genuß staatsbürgerlicher Rechte gemeint ist3°, als Gesetzesbestandteil zu Beginn des 19. Jh. erstmals im preußischen Emanzipationsedikt von 1812, worin die Juden "für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten" angeordnet wurde31. Auf Verfassungsebene verwendeten ihn zunächst die süddeutschen Konstitutionen, in den dreißiger Jahren auch die mitteldeutschen Verfassungen mit den Formeln "Staatsbürger-Rechte" 32 oder "staatsbürgerliche Rechte"JJ, welche allen Landeseinwohnern in gleicher Weise zustanden und deren Inanspruchnahme lediglich an die formelle Staatsangehörigkeit geknüpft war, die entweder durch das "Indigenat", zu verstehen So Kaselleck (FN 11), S. 562ff. Vgl. dazu Paul-Ludwig Weinacht (FN 5), S. 41 - 63; Rolf Grawert (FN 7). 31 Vgl. § 1 des "Edikts betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate" vom 11. März 1812 (Preuß. GS S . 17). 32 So Abschn. IV, §§ 2ff. der Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818 (GEL S. 101); Abschn. III, § 19 der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819 (RegEL S. 633) ; Abschn. III, § 23 der Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen vom 5. Januar 1831 (GVS. S. lff.); Abschn. III, § 25 der Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4. September 1831 (GVBL S. 241). 33 So Abschn. II, §§ 7 ff. der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22 . August 1818 (RegEL S . 1425); Abschn. III, § 21 der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg (FN 32). 29

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als Inbegriff der durch Geburt erworbenen Heimatrechte34 oder durch Naturalisierung begründet wurde. Erst mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der Reichsverfassung von 1871 wurde schließlich das Indigenatsprinzip zwar nicht formell aufgehoben, aber doch praktisch in der Weise beseitigt, daß man ein einheitliches Indigenat für das gesamte Bundes- bzw. Reichsgebiet schuf35. Im Ergebnis hatte damit das Staatsrecht des 19. Jh. den Typus des modernen gleichberechtigten Staatsbürgers geschaffen, ein Rechtsstatus, der grundsätzlich allen Bewohnern des Landes zukam. Gleichwohl war aber der Stadtbürger des Mittelalters und der frühen Neuzeit keineswegs bruchund problemlos in diese neue Rolle geschlüpft, ja mitunter geradezu hineingedrängt worden. Noch bis ins ausgehende 19. Jh. hafteten ihm Relikte ständischer Provenienz an. Seine Freiheit bestand lediglich in begrenzten Handlungsspielräumen nach Maßgabe der Gesetze. Auch die staatsbürgerliche Gleichheit schloß berufsständische Privilegierungen keineswegs aus. Zwar wurde auf das Erfordernis von "Besitz und Bildung" verzichtet, das Ausmaß politischer Teilhabe aber in weitgehend machtlosen Honoratiorenparlamenten von der Steuerleistung und damit vom Vermögen abhängig gemacht. Die mit dem häufig verschärften Zensuswahlrecht verbundenen Differenzierungen innerhalb der Stadt- und Staatsbürgerschaft führten namentlich in der Literatur vielfach zur Wiederbelebung der alten Unterscheidung zwischen "eigentlichen" oder "wahren" Bürgern und bloßen Staatsangehörigen oder Landeseinwohnernas. Weitere Zugeständnisse an die überkommene Ständeordnung lagen in der Einrichtung zweiter Kammern, deren Mitglieder überwiegend dem Adel entstammten und unliebsamen Gesetzen ihre Zustimmung verweigern konnten, sowie in der Erhaltung ständischer Institutionen unterhalb der zentralstaatlichen Ebene mit ebenfalls weitreichenden Mitwirkungsbefugnissen beim Gesetzesvollzug (Provinzialstände). All dies muß mitbedacht werden, wenn die zweifellos epochale Leistung des 19. Jh., die ihm zu Recht Dazu Grawert (FN 7), S. 179f.; Schulze (FN 21), S. 95f. Vgl. Art. 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April1867 (BGBl. S. 2) und Art. 3 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 (RGBL S. 63). Letztere Vorschrift lautet: "Für ganz Deutschland besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Untertan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist". 36 In bezug auf jene politisch privilegierte Bürgerschicht verwendet Karl Theodor Welcker (Art. "Stand", in: Rotteck I Welcker, Das Staats-Lexikon, 2. Aufl. 1845 ff., Bd. 12, S. 408) den treffenden Ausdruck "Staatsbürgerstand" (S. 106). Vgl. dazu Riede! (FN 6), S . 71lf.; Schulze (FN 21), S. 105 ff.: "Staatsbürgerstatus und staatsbürgerliche Ungleichheit im frühliberalen Sozialdenken". 34 35

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den Namen "bürgerliches Zeitalter" eintrug, nämlich die Universalisierung des Bürgers zum Staatsbürger, d.h. die Konstituierung der Staat/BürgerBeziehung als allgemeines Rechtsverhältnis, angemessen gewürdigt werden soll. 3. Zur Vervollständigung des verfassungsrechtlichen Gesamtbildes vom "Bürger" im 19. Jh. muß schließlich noch ein Seitenblick auf die Rechtsbeziehungen von Stadt und Staat selbst geworfen werden. Die oft gerühmte Einführung der kommunalen Selbstverwaltung durch die Stein'sche Städteordnung, die nach landläufiger Ansicht das bürgerschaftliehe Element gestärkt haben soll, war für viele Städte, verglichen mit dem früheren Rechtszustand, eigentlich ein Danaergeschenk. Wichtige Kompetenzen wie die Polizeigewalt (im wesentlichen also die innere Verwaltung) und die Gerichtsbarkeit wurden ihnen völlig entzogen, alle übrigen Angelegenheiten zumindest der staatlichen Rechtsaufsicht unterworfen. Insbesondere mußten sogar die Wahlen der Magistratsmitglieder von staatlichen Behörden bestätigt werden. Bei der Bestellung des Bürgermeisters hatte die Stadt vielfach nurmehr ein Vorschlagsrecht3 7• Die egalisierende, ja nivellierende Dynamik des bürgerlichen Staates machte also wie vor den Ständen auch vor den Städten nicht ha:lt. Herabgestuft zu Selbstverwaltungseinheiten innerhalb des staatlichen Gesamtverbandes, verloren nicht nur die Städte selbst, sondern mit ihnen zugleich die Stadtbürger rasch an politischer Bedeutung.

Auf der anderen Seite ist auch der monarchische Staat von dieser Entwicklung nicht unbeeinflußt geblieben. Die städtische Ämterorganisation, die Aufteilung in normsetzende, vollziehende und rechtsprechende Instanzen, die Gliederung in Korporationen und Assoziationen, die Wahlverfahren und nicht zuletzt die Rechtsstellung der Bürger sind für den nachabsolutistischen Staat des 19. Jh., wie schon Otto v. Gierke bemerkt hat3B, geradezu Vorbild geworden. Man kann daher insofern durchaus auch von einer gewissen "Verstädterung" (Urbanisierung) des Staates sprechen39. In dem Maße aber, in dem der Staat städtische Strukturen in sich aufnimmt, wird gewissermaßen auch der Staatsbürger zum "politischen Beruf" des Stadtbürgers. Dies führt namentlich im Bereich der Verwaltung zu einer wechselseitigen Verschränkung und Durchdringung von Stadt und Staat, die es am Ende des 19. Jh. rechtfertigt, nicht mehr von der Staatsbürgerschaft auf die Staatsangehörigkeit, sondern umgekehrt von der übergeordneten Staatsangehörig37 Dazu grundlegend Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 2.Aufl. 1969, S. 95ff. 38 Otto v . Gierke, Das Deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, 1968, S. 252ff., 258ff., 320ff.; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, 1961, s. 172ff. 39 Dazu grundlegend Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, 1985.

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keit auch auf die Möglichkeit der Wahrnehmung städtischer Rechte zu schließen. III.

Vor dem Hintergrund dieser komplexen, hier nur in Grundzügen wiedergegebenen Rechtslage, wie sie für Umbrüche eines Verfassungssystems typisch ist, stellt sich prinzipiell die Frage, ob und inwieweit unsere heutigen Vorstellungen vom demokratischen Bürger überhaupt auf die damaligen Verhältnisse im 19. Jh. übertragen werden können. Wir sind gewohnt, die neuere deutsche Verfassungs- und Sozialgeschichte als Gegensatz von Feudalismus und Bürgertum, von "feudaler" und "bürgerlicher" Gesellschaft zu begreifen. Dabei werden beide Systeme als Erscheinungsformen einer vom absoluten Verwaltungsstaat des 17. und 18. Jh. abgesetzt, "getrennt" gedachten Gesellschaft verstanden. Gegen die feudale Gesellschaft der "Privilegierten" erhebt sich aus dieser Sicht die neue bürgerliche Gesellschaft gleicher und freier "citoyens", bis auch diese zu bloßen "Wirtschaftsbürgern" verkommen und damit nunmehr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, von Kapital und Arbeit, als das die sozialgeschichtliche Entwicklung bis zum heutigen Tage beherrschende Thema aufbricht40 . Mit einer solch eindimensionalen, zutiefst unhistorischen Betrachtungsweise verstellt man sich jedoch im Grunde den Blick für die realen geschichtlichen Vorgänge und Gegebenheiten in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, Komplexität und Wechselbezüglichkeit. So ist auch die verfassungspolitische Entwicklung des Bürgertums im 19. Jh. keineswegs gradlinig nur in eine Richtung verlaufen, etwa vom Stadt- zum Staatsbürger oder gar umgekehrt vom "citoyen" zum "bourgeois". Zu Recht hat in diesem Sinne bereits StolZeis festgestellt, "daß von einer einfachen Aufeinanderfolge vom mittelalterlichen ,Stadtbürger' über den naturrechtliehen ,Bürger und Untertan' zum ,Staatsbürger' des Frühkonstitutionalismus nicht die Rede sein kann" 41 . Seiner Bemerkung, die Bedeutungen dieser Begriffe liefen "nebeneinander her, genauso wie das politische und soziale Gefüge der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Parallelitäten älterer und jüngerer Schichten aufweist", ist nur noch hinzuzufügen, daß dies selbstverständlich auch für das 19. Jh. gilt. Gehen wir also diesen "Parallelitäten" und "Phasenverschiebungen" nach und fragen wir uns, ob und welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen Stadt- und Staatsbürger bestanden haben. Der allgemein geläufigen Unterteilung in Vor- und Nachmärz zufolge stellt auch in dieser Hinsicht die Jahrhundertmitte einen deutlichen Ein40 Kritisch dazu bereits Otto Brunner, Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, s. 213ff. 41 Stalleis (FN 8), S. 65.

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schnitt in der sozialgeschichtlichen und verfassungspolitischen Entwicklung des Bürgertums dar. Bis zu jenem Zeitpunkt hat im wesentlichen staatliches Handeln den modernen Staatsbürger hervorgebracht, so daß man geradezu von einer "Verstaatlichung" des Stadtbürgers sprechen kann. Der konstitutionelle Staat zog zunehmend kommunale Aufgaben an sich, die er im gesamtstaatlichen Interesse, also nicht nur für Stadtbürger, sondern für alle Einwohner seines Herrschaftsgebietes gleichartig und gleichwertig erfüllen mußte. Die dadurch überwiegend im Wege der einfachen Gesetzgebung herbeigeführte Egalisierung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land war der eigentliche Motor einer sozialen und ökonomischen Herausbildung des Staatsbürgertums. Erst in zweiter Linie trug dazu auch das verfassungspolitische Ziel des Frühkonstitutionalismus bei, den Stadtbürger in den Staat einzugliedern und durch Gewährung staatsbürgerlicher Rechte mit ihm zu versöhnen. Auf diese Weise entstand geradezu eine "Staatsbürgergesellschaft"42, in der Gemeinsinn und vaterländische Gesinnung, orientiert an den Werten "Nation" und "Volk", den "Krämergeist" des Stadt- oder Spießbürgers zu verdrängen begannen. Nach 1850 indes ist eher eine Umkehrung dieses Entwicklungsprozesses zu beobachten, die man (zugegeben etwas plakativ) mit der Überschrift "Verbürgerlichung des Staates" versehen kann. Sie vollzog sich freilich eher unmerklich und weniger auf dem Felde der Politik, wo das Bürgertum weiterhin von der Mitwirkung an staatlichen Entscheidungen selbst im Bereich der Gesetzgebung ausgeschlossen blieb, als vielmehr auf dem Gebiet der Verwaltung, des Rechtswesens und der Justiz. Hier eröffnete sich dem Stadtbürgertum, namentlich den gebildeten Schichten, die zunehmend das Behördenpersonal stellten, ein neues Betätigungsfeld im staatlichen Raum, das es massiv in Besitz zu nehmen begann und mit dem bürgerlichen Geist des modernen "Wirtschaftsmenschen" 43 erfüllte. Nun vermittelt auch nicht mehr das Stadtbürgerrecht in der Form des "Indigenats" die Staatsangehörigkeit, sondern umgekehrt die Staatsbürgerschaft den Status des Gemeindemitglieds. Und dennoch haben die überkommene ständische Ordnung innerhalb des Stadtbürgertums ebenso wie der Absolutismus über das monarchische Prinzip im staatlichen Bereich noch sehr lange nachgewirkt und paradoxerweise gerade dadurch die verfassungspolitische Entwicklung hin zu einem allgemeinen Staatsbürgertum entscheidend gefördert. Dies läßt sich besonders deutlich am Beispiel der Gewerbefreiheit demonstrieren. Auf der einen Seite hat Willoweit überzeugend nachgewiesen, daß bereits im 18. Jh. das Gewerbewesen im Hinblick auf die "natürliche Gewerbefreiheit" }.md das Gewerbeprivileg unter Widerrufsvorbehalt keiSo Böckenförde (FN 38), S. 34f. Vgl. dazu Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, 1913, S. 135ff. 42

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neswegs so unfrei organisiert gewesen sind, wie gemeinhin angenommen wird44 . Andererseits wissen wir aber auch nicht erst durch die Arbeiten von Bergmann45 , mit welch starker Skepsis, ja teilweise sogar unverhohlener Ablehnung das privilegierte Stadtbürgertum dem Gewerbesteueredikt von 1810 begegnet ist. Es wurden nicht nur erhebliche Widerstände gegen die als "aufgezwungen" empfundene Gewerbefreiheit mobilisiert. Auch das Zunftwesen bestand weiter fort und erwies sich noch lange Zeit "als erstaunlich intakt und lebendig" 46 . Die Polizeiberichte für Potsdam beispielsweise entschuldigten die mangelnde Durchsetzung der Gewerbefreiheit bis 1817 mit der stereotypen Wendung, der Zunftgeist stelle sich ihr noch zu sehr entgegen. Man kann also beobachten, wie sowohl das Festhalten der Stadtbürgerschaft an ständischen Strukturen in der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit als auch die aus dem Absolutismus überkommene Rechtsfigur des "Untertanen" nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer traditionalen Elementeaufgrund eines Staat und Gesellschaft umfassenden, wechselseitigen "Entlastungsvorgangs" die Herausbildung des modernen allgemeinen Staatsbürgertums maßgeblich bestimmt und erleichtert hat. Die Gesamtsituation des Gewerbewesens änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit der Entstehung eines Groß- und Industriebürgertums47, das staatsübergreifend agierte und Handel wie Handwerk in die volkswirtschaftliche Provinz des "Mittelstandes" verwies.

IV. Bemüht man sich abschließend, die geschilderte Entwicklung des Bürgertums zwischen Stadt und Staat im 19. Jh. mit Hilfe der vertrauten verfassungstheoretischen Denkfiguren zu begreifen, so stellt man überraschend fest, daß nahezu sämtliche eingefahrenen Schemata dabei versagen. Die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, derzufolge der Bürger im Staate gleich, aber unfrei, in der Gesellschaft indessen ungleich, aber frei sein soll, verdeckt mehr Probleme, als sie erhellt. Der historische Befund48 jedenfalls spricht gegen eine solche Aufspaltung, die in der Verfassungs44 Vgl. Dietmar Willoweit, Gewerbeprivileg und "natürliche Gewerbefreiheit. Strukturen des preußischen Gewerberechts im 18. Jahrhundert, in: K. 0. Sch erner I D . Willoweit (Hrsg.), Vom Gewerbe zum Unternehmen, 1982, S. 60- 111. W. gelangt sogar zu dem Schluß, daß die Gewerbefreiheit des 19. Jh. in Preußen zwar sicherer gewesen sei, aber "weniger ,frei' als die in der friederizianischen Zeit zwischen Zunft und Manufakturprivilegien mögliche ungehinderte Gewerbeausübung." 45 Jürgen Bergmann, Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, 1973, insbes. S. 35 - 54. 46 Bergmann (FN 45), S . 38. 47 Dazu Friedrich Zunkel, Industriebürgertum in Westdeutschland, in: H.-U . Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 5. Aufl. 1976, S . 309 ff. 48 Dazu der wichtige Sammelband von W. Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815- 1848, 2. Aufl. 1970.

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Wirklichkeit nicht existiert hat und hier selbst für das 19. Jh. auch verfassungstheoretisch nur einen sehr begrenzten Erkenntniswert besitzt, wenn man den Dualismus nicht auf die Spitze treiben und den Bürger in Stadt und Staat als Bewohnerzweier Welten ansehen will. Ähnlich muß die kantische Gegenüberstellung von "bourgeois" und "citoyen" als Erklärungsmodell für die Zeit des 19. Jh. mit einem deutlichen Fragezeichen versehen werden, es sei denn, man schließt sich dem landläufigen Verständnis einer Rollenverteilung zwischen "privat-ökonomischem" und "öffentlich-politischem" Handeln und Wirken des Bürgers an. In diesem Sinne müssen dann aber der Stadtbürger wie der Staatsbürger stets zugleich als "bourgeois" und "citoyen" betrachtet werden, um ein zutreffendes, ideologisch unverdächtiges Bild zu. erhalten. Denn in beiden Sphären existiert der Aktiv- wie der Spießbürger, der Bürger als Mensch und Untertan. Analogien oder ParalieHtäten zwischen dem Stadt- und dem Staatsbürger im 19. Jh. lassen sich daher nur feststellen, wenn man sich auf die genannten Merkmale eines idealtypischen Bürgerstatus einigt und daran konkrete historische Entwicklungen mißt. Eher hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Bezugnahme auf geistesgeschichtliche Tendenzbegriffe wie "ständisch-feudal" oder "egalitär-liberal"49, weil sie nicht nur unterschiedliche Denkströmungen zum Ausdruck bringen, sondern auch historisch belegbar sind und darüber hinaus einen prinzipiellen ordnungspolitischen Richtungsstreit mit verfassungsrechtlichem Hintergrund bezeichnen, der sich noch durch das ganze 19. Jh. zieht. Zur Vermeidung von Mißverständnissen unumgänglich ist es darüber hinaus, zwischen dem formalen Aspekt bloßer Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit zu einem Stadt- oder Staatsverband sowie den Voraussetzungen ihrer Begründung einerseits und der materiellen Inhaberschaft konkreter Rechte und Pflichten andererseits zu differenzieren. Gerade die Entwicklung des allgemeinen Bürgerstatus zeigt, daß hier beide Dimensionen auseinanderfallen können, woraus mannigfache Verwerfungen und Brüche resultieren. Ich möchte statt eines Schlußworts diesen Gedanken noch ganz kurz und stichwortartig an drei Beispielen verdeutlichen, die in der Aussprache vielleicht noch vertieft werden können, nämlich am Finanz-, Militär- und Rechtswesen.

49 Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß diese "Bindestrich"-Begriffe auch in sich selbst nicht frei von Spannungen sind: Wie schon im 18. Jh. die ständische Ordnung nicht mehr einfach mit "feudal" gleichgesetzt werden kann, treten seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. "egalitär" und "liberal" in einen die politische Arena geradezu beherrschenden Gegensatz.

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V. Viel aussagekräftiger nämlich als die im Sinne von Individualansprüchen nur schwach ausgeprägten konstitutionellen Grundrechtsgarantien sind die staatsbürgerlichen Pflichten, an deren Spitze die Steuerpflicht und die allgemeine Wehrpflicht stehen. Die Neuordnung des staatlichen Finanzwesens, welche in Preußen über ein Jahrzehnt erforderte, führte im Ergebnis zu einer weitgehend einheitlichen Besteuerung der gesamten Bevölkerung in Stadt und Land, wobei nach dem Grundsatz der öffentlichen Lastengleichheit verfahren und bei der allgemeinen Einkommensteuer sogar geringfügige Jahresverdienste unter 100 Talern zu einem allerdings eher symbolischen Steuersatz von weniger als einem Prozent herangezogen wurden5o. Jeder einzelne konnte also die praktischen Auswirkungen seines neuen Staatsbürger-Daseins unmittelbar am eigenen Geldbeutel spüren, weshalb es ihn keineswegs nur mit vaterländischem Stolz erfüllte. Ähnlich verhielt es sich mit der Schaffung eines Volksheeres durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (in Preußen zwischen 1807 und 1814). Zwar wirkten in der Trennung von Stehendem Heer (Linie) und Landwehr (Volksmiliz) ständische Elemente noch nach. Auch blieb der Zugang zum Offizierskorps neben dem Adel fast ausschließlich stadtbürgerlichen Oberschichten vorbehalten 51 . Die Tatsache jedoch, daß von nun an jeder wehrfähige Mann zu einem für alle gleichen Militärdienst herangezogen wurde, hat das staatsbürgerliche Bewußtsein unter dem Banner der Nation in großen Teilen der Bevölkerung stärker gefördert, als alle mehr oder weniger eingelösten Verfassungsversprechen mit den darin enthaltenen Staatsbürgerrechten zusammen genommen. Eine vergleichbare Wirkung hatte schließlich auch die Reform des Gerichtswesens. Den Städten wurde ihre Gerichtshoheit entzogen, die Patrimonialgerichtsbarkeit der Gutsherren schrittweise beseitigt. Die rasch fortschreitende Verstaatlichung der Justiz war eine zwangsläufige Folge zunehmender Ablösung des gemeinen Rechts durch staatliche Gesetze, die nicht nur ständische Schranken durchbrechen sollten, sondern auch das Ziel größerer Rechtsvereinheitlichung und Rechtsklarheit verfolgten und deshalb zugleich nach einem Höchstmaß an übereinstimmender Rechtsauslegung verlangten. Auch dieses letzte Beispiel zeigt uns ein weiteres Mal, daß weniger die bürgerlichen Freiheitsrechte als vielmehr die Rechtsgleichheit und die Rechtseinheit innerhalb des Staates die beiden entscheidenden Triebkräfte des komplexen Übergangs vom Stadtbürger zum Staatsbürger im 19. Jh. gewesen sind.

5o 51

Näheres bei Huber (FN 26), Bd. 1, S. 208- 215 . Vgl. Huber (FN 26), S . 216ff., 239ff.

Aussprache Koselleck : Ich möchte eine ganz allgemeine Überlegung anstellen: Es wird ja, trotzder Heterogenität der bisherigen Beiträge, immer spannender. Denn Ihre Argumentationsfiguren sind natürlich partiell auf Herrn Moraws Vortrag übertragbar und wiederfindbar in den Argumenten von Herrn Mager, weil sie ja theoretische Allgemeinheiten enthalten, und das gilt ebenso für Herrn Borck. Also, Sie bringen Argumente, die je nach der Vergleichsebene, auf der man sie ansiedelt, verschiedene Kraft entfalten. Die Opposition ständisch-feudal versus egalitär-liberal ist natürlich eine plausible Opposition in der Situation von 1800, aber sie arbeitet weiter. Viele ständische Privilegien werden transformiert in Berufsqualifikationen, die der Staat verteilt oder die die Berufsgruppen selbst verwalten. Dann läßt sich auf der Schnittebene der liberalen Privilegierung vieles zeigen, was gleichzeitig diese sich selbst etablierende liberale Bürgergesellschaft in Opposition zur egalitären, sozialistisch-radikal-demokratischen Bürgerschaft bringt, die ihre eigenen Ansprüche staatsrechtlich nur partiell durchsetzen kann. D.h., was man gemeinsam als Opposition für bestimmte Zeiträume definieren kann, entwickelt eine eigene interne Opposition im Laufe des 19. Jh. Nach 1848 ist egalitär und liberal nicht mehr zusammenzudenken. Diese methodische Überlegung, einmal auf die Frage der Staatsbürgerschaft übertragen, läßt sich, wenn man die Vergleiche ausweitet auf England oder Frankreich, sehr schön durchführen: Die deutsche Semantik ist eine Semantik der Misere, weil man nur einen Bürgerbegriff kennt und mit "Bürger" alles gemeint sein kann, von dem sozialistischen, nicht entfremdet sein sollenden Bürger von Marx bis hin zum Stadtbürger, der ganz bestimmte Rechte innehat. Immer wird derselbe Ausdruck abgerufen. D.h.: Wenn wir heute darüber reden wollen, müssen wir immer definieren, was wir jeweils meinen. In England ist das generell überhaupt nicht möglich. Ich sagte gestern schon, die Wahlrechtsdebatte läuft über die Verteilung von Wahlrechten an citizens, freemen, burgers, burgesses, die ganz konkret ihre chartersund privileges in bestimmten Orten hatten, und im Parlament wurde gefragt, welche Interessen vertreten sie, 'which interests should be represented in our Parliament'? Und dann definieren die Abgeordneten konkrete Interessengruppen der middle classes, die sie zulassen oder nicht zulassen wollen. Der Vorgang der Wahlrechtsausweitung läuft nicht über Grundrechte, von Bürgerrechtsbestimmungen ist überhaupt keine Rede, der Begriff "citizen" verschwindet sogar aus der Britischen Encyclopedia nach 1850. Das wird 11 Der Staat, Beiheft 8

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ein Ausdruck, der als historischer Terminus verwendet wird, um den römischen Bürger mit einem englischen Wort wiederzugeben. Citizen ist als politischer Begriff ein amerikanischer Ausdruck. Nachdem die Besitzklausel des britischen Wahlrechts 1832 von 10 auf 40 Pfund angehoben wurde- eine liberale Einstufung- verschwindet gleichsam der "citizen" als potentieller "Staatsbürger"! In Frankreich haben wir immer die bourgeois und die citoyens, aber seit Diderot sauber getrennt. Die neue Opposition wird zur polemischen Alternative: Der citoyen, Staatsbürger, wird gegen den bourgeois ideologiekritisch eingesetzt, zwei durchlaufende Figuren im französischen Argumentationshaushalt und jeder Wahlrechtsdebatte. Über diese Grundsatzdefinition trennen sich die politischen Lager, was in Deutschland nicht möglich war. Wie die Leute im Rheinischen Provinziallandtag einmal sagten: Im Preußischen Recht könne jeder Bauer Marschall, aber Bürger kann er nicht werden. Das war um 1840. "Bürger" konnte im Deutschen Stadtbürger, Wirtschaftsbürger oder Staatsbürger meinen, ohne daß das Wort selbst darüber Auskunft gab. Es war immer plurivalent, mehrdeutig. Was im Englischen nur rechtlich konkret gedacht wurde, was im Französischen auf eine klare polemische Alternative reduziert wurde, das blieb im Deutschen vage und definitionsbedürftig. Nun, das war nur ein methodischer Hinweis. Die Differenz zwischen dem, was man durch die Worte jeweils bezeichnen kann, zu dem tatsächlichen Sprachgebrauch ist unendlich groß. Und wenn man anfängt zu definieren, hat man drei Möglichkeiten: entweder man untersucht die Begriffsgeschichte intern- eine in sich völlig konsistente Methode, oder man untersucht die Wortgebräuche im Hinblick auf das, was sozial- oder politischhistorisch gemeint war. Und diese Differenzbestimmung ermöglicht es einem, drittens per definitionem zwischen Begriffen und Sachverhalten zu entscheiden. Und da es in Deutschland immer nur denselben Ausdruck "Bürger" gab, wird er in unseren Debatten ungeheuer belastet, weil wir immer von "Bürger" reden müssen, der im Grunde von Fall zu Fall anders definiert sein möchte. Ständische Privilegien in liberale Privilegien transformiert, können rechtlich sehr verschieden, sozialhistorisch sehr ähnlich sein. Diese methodische Kritik wird nur geübt, um die Verunsicherung erst einmal voranzutreiben.

Schneider: Für mich war die Begriffsgeschichte des "Bürgers" im 18. und 19. Jh. weitgehend erforscht. In den genannten Arbeiten von Weinacht, Riede! und Stolleis liegt soviel Material vor, daß ich dazu nichts Neues beitragen konnte. Ich finde auch, die Begriffsgeschichte führt in den Sachproblemen nicht sehr viel weiter, sie führt eher zu einer absolut ausweglosen Verwirrung. Nicht nur unsere heutige Diskussion ist mit diesem außerordentlich

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komplexen Bürgerbegriff belastet; auch die historischen Quellen weisen aus, daß man im Grunde keinen klaren Begriff vom Bürger entwickelt hatte. Der Begriff des Bürgers war und ist völlig amorph und unscharf. Das macht einerseits seine politische Attraktivität aus. Andererseits bringt es uns in die Schwierigkeit, den Begriff des Bürgers in bezug auf den jeweiligen Gegenstand unseres geschichtlichen Interesses immer neu bestimmen zu müssen. Im übrigen kann ich nur bestätigen, was Sie sagen: "liberal-egalitär" ist natürlich eine Sache der politischen Zielsetzung, die in dieser Verbindung vielleicht für die erste Hälfte des 19. Jh. gelten mag; danach brechen liberale und egalitäre Strömungen auseinander. "Ständisch-feudal" ist eine ähnlich gewagte Wortschöpfung, denn auch "ständische" und "feudale" Bestrebungen und Interessen gehen nicht nahtlos zusammen. Ich habe im Grunde das Problem weiterer begrifflicher Differenzierung ausgeklammert, weil es mich in die Notwendigkeit versetzt hätte, die beiden Richtungen, die Sie angedeutet haben, mindestens in der heutigen Literatur zu verorten, wo man - wie ich festgestellt habe - kaum fündig wird. Ich kann das nur als wichtige und notwendige Ergänzung dankbar zur Kenntnis nehmen.

Oexle: Ich möchte danken für den faszinierenden Vortrag, der für den an der alteuropäischen Gruppenkultur Interessierten sehr hilfreich war. Denn der Vortrag hat verdeutlicht, daß die Wandlung von der alteuropäischen Kultur zum 19. Jh. sich nicht, wie vielfach behauptet wird, im Sinne vollständiger Veränderungen, sondern vielmehr in mannigfachen Verschränkungen und Kontinuitäten vollzogen hat. Ein Beispiel bietet das Thema der Gewerbefreiheit und Vereinigungsfreiheit. Denn einerseits argumentierten in der letzten Phase des 18. Jh. u .a. Rousseau und Adam Smith, freilich mit ganz verschiedenen Gründen, gegen Assoziationen und Korporationen und hob Turgot 1776 die Korporationen überhaupt auf. Die Revolution hat dieses Werk vollendet: die Loi Le Chapelier von 1791 erklärte, Gruppenbildung sei ein Anschlag auf die Freiheit und auf die Erklärung der Menschenrechte. Dem traten andererseits die Arbeiter und Gesellen entgegen, die, durchaus im Geiste der ständischen Gesellschaft, davon ausgingen, daß Gruppenbildung ein Recht sei, das man sich riicht nehmen lassen wolle. So entfaltete sich die "moderne" Forderung der Vereinigungsfreiheit aus dem vormodernen Ancien Regime heraus. Da gibt es also einen Üpergang, in dem sehr komplexe Motive und Vorgänge impliziert sind im Hinblick auf das, was man die feudale Gesellschaft und die moderne Gesellschaft nennt. Dasselbe Phänomen hat Ihr Vortrag überzeugend herausgearbeitet. Schneider: Dazu eine kurze Zwischenbemerkung: Ich habe lange überlegt, ob ich als exemplarisches Testobjekt die Gewerbefreiheit nehmen soll oder die Vereinigungsfreiheit. Man wird bei Regel darauf gestoßen, für den die Korporationen und die Polizei die Schnittstelle von Staat und Gesellu•

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schaft bilden, also den Ort bezeichnen, wo die Gesellschaft in den Staat hinein vermittelt wird. Wenn man also dem Problem des Verhältnisses "freier" Assoziationen und "gebundener" Korporationen bei Regel weiter nachgeht, kommt man im Grunde auf Ihre Fragestellung. Die Korporationen mit ihrem ständischen Erbe sind "modernisiert" und in den Staatsaufbau eingefügt worden. Die Korporation wird dann Teil der mittelbaren Staatsverwaltung (mit Zwangsmitgliedschaft, Pflichtbeiträgen etc.) und erfüllt öffentliche Aufgaben. Die auf freiwillige Zusammenschlüsse (Assoziationen) reduzierte Vereinigungsfreiheit ist daher ein ähnlicher Testfall wie die Gewerbefreiheit, die ebenfalls nicht ohne staatliche Regulierung denkbar ist.

Willoweit: Ich habe eine Rückfrage zu Ihrer Begrifflichkeit. Es scheint mir in Ihrer Gegenüberstellung voncitoyenund bourgeois eine Vermengung von normativen und deskriptiven Kategorien zu liegen. Denn Sie setzen die Begriffe gleich mit Staatsbürgerschaft und Stadtbürgerschaft, politischer Bürgerschaft und Wirtschaftsbürgerschaft. Sie haben auch vom Geist des Stadt- oder Spießbürgers gesprochen. Welche Bedeutung hat das- nicht bei Marx, sondern: in Ihrem Gedankengang? Ist es nicht naheliegend zunächst einmal deskriptiv zu fragen, wie Staatsbürgerschaft und Stadtbürgerschaft in dieser Zeit inhaltlich beschaffen sind, und erst dann die analytischen Kategorien anzusetzen? Eine Frage habe ich auch zu Ihrem Untertanbegriff. Einerseits sprechen Sie davon, der Deutsche sei bis zum Ende des 19. Jh. ein Untertan. Und dann sagen Sie aber doch- meines Ermessens zu Recht - , die Jahrhundertmitte bilde einen tiefen Einschnitt. Ich glaube, man müßte diesen Einschnitt in der Mitte des Jahrhunderts viel ernster nehmen, als es bisher geschehen ist. Leo Just hatte die ersten Jahrzehnte noch dem Spätabsolutismus zugerechnet. Ich würde die erste Hälfte des 19. Jh. so deuten wollen: Die Stadt- und Staatsbürger sind ihrer wohlerworbenen Rechte weitgehend beraubt. In anderer Form benötigen sie diese Rechte aber. Daher stimme ich Ihnen zu, wenn Sie sagen: Die Ständegesellschaft lebt weiter, da staatsbürgerliche Rechte noch nicht in genügendem Maße erworben werden konnten. Schneider: Ihre letzte Bemerkung kann ich nur bestätigen: Wir müssen umdenken. Vor allem stört mich immer in der verfassungsgeschichtlichen Literatur, daß da gesagt wird: Der Staatsbürger war Inhaber der sog. "staatsbürgerlichen Rechte" in den frühkonstitutionellen Verfassungen. Das ist einfach Unsinn. Denn als "subjektiv-öffentliche Rechte" im modernen Sinn, als Ansprüche gegen den Staat, waren sie damals (noch) nichts wert. Zu der anderen Frage vielleicht noch eine Bemerkung. Die Unterscheidung zwischen "citoyen" und "bourgeois" seit Bodin, die noch bei Kant wiederkehrt und für Smend Grundlage seines Vortrags war, ist eigentlich auf

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deutsche Verhältnisse nicht übertragbar. Es handelt sich um einen Gallizismus, das haben sie angedeutet. Ich wollte nur darauf hinweisen, wie weit der Bogen gespannt ist von Kants Rezeption der klassischen Unterscheidung zwischen "bourgeois" als Stadtbürger und "citoyens" als Staatsbürger bis hin zu dem heute noch negativ besetzten Verständnis von "Bourgeoisie" in einem apolitischen und privatistisch-ökonomischen Sinn. Beim "Untertan" bin ich wieder unschlüssig. Ich habe diesen Begriff durchgängig für das 19. Jh. benutzen wollen, weil auch die Bürger als Mitglieder der Parlamente damals im wesentlichen noch ausgeschlossen waren von der politischen Gestaltung. Ich bin ein Freund des Parlamentarismus und würde sagen: die zunehmende Parlamentarisierung der Reichsgewalt im späten 19. Jh. bringt da langsam etwas in Bewegung mit der Tendenz zur Vollparlamentarisierung im Jahre 1918. Aber die direkte Einflußnahme der im Parlament vertretenen Bürger auf Regierungsentscheidungen bleibt doch eigentlich, wenn man sie am englischen Parlamentarismus mißt, eher marginal. Die Regierung konnte eben nicht gestürzt werden. Insofern ist das monarchische Prinzip durchgängig bis 1918 maßgebend geblieben. Von daher habe ich eigentlich keinen Anlaß gesehen, vom Begriff des "Untertan" für das 19. Jh. Abschied zu nehmen, wohl wissend, daß das Bürgertum im Bereich von Verwaltung, Militär, Gerichts- und Rechtswesen sehr stark mit dem Staat verbunden war und auch reale Macht innehatte. Das habe ich dann mit meiner Chiffre von der "Verbürgerlichung des Staates" nach der Jahrhundertmitte zu kennzeichnen versucht.

Murakami: Ich frage mich, ob Kant wirklich eine saubere Unterscheidung zwischen Stadt- und Staatsbürger kannte. Er hat zwar das Wort "cives" mit dem deutschen "Staatsbürger" gleichgesetzt, aber im Sinne der "zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer societas civilis". Dabei meint Kant gar nicht die passiven Staatsbürger eines territorialen bzw. nationalen Machtstaates, sondern sicherlich die aktiven Stadt- und Staatsbürger in der traditionellen, nunmehr als Keim eines demokratischen Verfassungsstaates fungierenden societas civilis. Bekanntlich war es Rousseau, der in seiner Kritik an Bodin zwischen bourgeois und citoyens unterschied, allerdings auf der Bühne des Stadtstaates Genf. Damals wollte man zwar die citoyens im Sinne der aktiven Stadt- und Staatsbürger von den bourgeois unterscheiden, aber nicht das Stadt- vom Staatsbürgertum. Diese Phase der Doppelschichtigkeit scheint mir für die Entwicklung des Begriffs der Bürgerschaft sehr wichtig gewesen zu sein, weil man erst dadurch die aktive Teilnahme der Stadtbürger an der politischen Verfassung in die Größenordnung eines Territorial- oder Nationalstaates umsetzen konnte. Schneider: Auch ich habe Zweifel, ob Kant die ganze französische Begriffswelt geläufig war.

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Dilcher: Auch ich bin fasziniert von der Schilderung der Vielschichtigkeiten, von Parallel- und Gleichläufen und von Gegenläufigkeiten, die sich nicht einfach in dialektische Beziehungen auflösen ließen. Innerhalb dieses Rahmens möchte ich gerne kurz auf den Gegensatz von Staat und Gesellschaft eingehen, dessen Erklärungskraft Sie ja etwas angezweifelt haben. Eines scheint mir wichtig, das auch bei anderen Punkten, etwa der Gewerbefreiheit als dynamischen Prinzips, zum Ausdruck kam: Die Freiheitsrechte wie auch die Trennung von Staat und Gesellschaft haben eine Richtung, eine Tendenz, nämlich Freiheits- und Emanzipationschancen aufzureißen. Insofern haben sie nur teilweise deskriptiven, vor allem aber normativen Charakter. Beides geht freilich teilweise ineinander über, wir sollten es aber um der Klärung willen trennen. -Wichtig scheint mir: Im Rückblick auf die alteuropäische Gesellschaft stellt die Trennung von Staat und Gesellschaft einen Paradigmawechsel dar, der im Vortrag von Herrn Mager im Übergang vom Aristotelismus zum Gesellschaftsvertragsmodell deutlich wurde. Das ist ja schon von Otto Brunner als notwendige Vorklärung zum Verständnis der alteuropäischen Gesellschaft entwickelt worden. Im Rahmen des Gesamtthemas unserer Tagung können wir die Bedeutung der älteren Stadtbürgerschaft für die Ausbildung einer Staatsbürgergesellschaft nur unter diesem Gesichtspunkt methodisch richtig angehen, d. h. wir dürfen die neuen, emanzipationsbezogenen und damit normativen Paradigmen nicht auf der gleichen Ebene wie die Erklärungsmodelle der alten Gesellschaft diskutieren. Freilich haben wir unsere modernen Begriffsinhalte und Voraussetzungen so tief internalisiert, daß sie uns immer wieder dazwischenkommen. Bei der Stadtbürgergesellschaft dürfen wir also nicht eine Trennung von "Staat" und Gesellschaft erwarten, auch nicht das nur in diesem Rahmen denkbare Gleichheitspostulat. Wenn wir das sehen, dann relativiert sich die Verschiedenheit städtischer Privilegienstellung von Rechtsstatus des Bürgers in dieser und jener Stadt sehr stark. -Als Rechtshistoriker möchte ich hinzufügen, daß wir dann auch die Fragen des Rechtsbegriffs anders sehen müssen, etwa jenes "Überdehnungsphänomen" in der Rechtsinterpretation, das Herr Moraw so plastisch angesprochen hat. In unserer Rechtsordnung haben wir das Bundesverfassungsgericht, das solche Überdehnungen der Interpretation legitimiert- in der altständischen wurde zu diesem Zweck Macht und wirtschaftliches Potential in die Waagschale geworfen, d. h . es erfolgte gegebenenfalls im Konflikt, ohne daß wir das notwendig als außerhalb des Rechtsbegriffes geschehend sehen müssen. Ich verweise wieder auf Otto Brunner.- Zurück zur Trennung von Staat und Gesellschaft. Sie behält m.E. ihre Erklärungskraft für das 19. Jh., wenn wir sie als Tendenz, als normatives Projekt auffassen und nicht als Zustandsbeschreibung. Vor allem ist sie wichtig für den historischen Rückblick unter der Fragestellung, unter welchen methodischen Voraussetzungen können wir nach altständischen Faktoren für den europäischen Prozeß der Herausbildung einer Staatsbürgergesellschaft fragen. Ich möchte dies noch einmal

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in eine Formulierung von Dieter Grimm fassen : Wieweit sind die alteuropäischen Stadtbürgergesellschaften historische Bedingung der Entstehung einer Staatsbürgergesellschaft oder auch des Verfassungsstaates.

Schneider: Sie haben auf ein auch für mich noch ungelöstes Problem hingewiesen. Die These, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, auch als analytische Kategorie verstanden, gebe für das 19. Jh. nicht viel her, ist natürlich sehr gewagt. Nur: Ich bin auf diese Idee gekommen, weil ich mich gefragt habe: Was ist eigentlich "Stadt"? Gehört sie eher zum Bereich der Gesellschaft oder ist sie bereits Teil des "Staates"? Oder was ist der "Bürger": Wurzelt er in der Welt der Gesellschaft oder in der des Staates? Überall, wo ich hingriff, stellte ich fest, "Stadt" und "Bürger" sind in beiden Sphären verankert. Man kommt also mit solchen analytisch-theoretischen Kategorien bei meinem Thema, das gewissermaßen "quer" zu ihnen liegt, nicht sehr viel weiter. Ich jedenfalls habe ihnen insoweit keinen besonderen Erklärungswert beimessen können. Dilcher: Aber würden Sie nicht auch meinen, daß diese Gegenüberstellung eine gewisse Bedeutung für die unterschiedliche Einordnung dieses ambivalenten Bürgers in Verfassung und Rechtsordnung besitzt, in Abgrenzung zur alteuropäischen Gesellschaft? Schneider: Nur wenn ich hinzufüge: "Staat" des 19. Jh., "Gesellschaft" des 19. Jh. Dann ja. Brauneder: Zum Begriff Bürger und Untertan: Für das Privatrecht zu Beginn des 19. Jh. war die Unterscheidung klar, denn im Rechtsverkehr untereinander galten die Staatseinwohner als Bürger und waren insofern gleichberechtigt, gegenüber den Obrigkeiten aber waren sie Untertanen. Der Begriff Staatsbürger, nicht Bürger schlechthin, knüpft wohl an den Untertanenbegriff an; so existiert eine Darstellung des Österreichischen "Untertanenrechts" aus dem Vormärz, das dann in der unveränderten Zweitauflage nach 1848 statt vom Untertanen vom Staatsbürger spricht. Die Anknüpfung des Staatsbürgers wohl nicht an den Stadtbürger, sondern an den Untertanen hat für mich Herr Koseliek mit einem Wort angedeutet, nämlich "Interessen". "Interessenvertretung" oder "Volksvertretung" sind ja auch die beiden Parlamentsmodelle des 19. Jh., wie sie schon bei RotteckWelcker auseinandergehalten werden: Vertretung bestimmter staatsbürgerlicher Interessen auf der Basis eines gegliederten Staatsvolkes im ersten Fall, im zweiten Fall aller Staatsbürger ohne Gliederung. In wohl allen Staaten des Deutschen Bundes geht die Entwicklung von der ersteren zur letzteren Vertretung zufolge der Überwindung eines Klassen- oder Kurienwahlrechts. Auch die sich selbst organisierende bürgerliche Gesellschaft des

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Vormärz steht überwiegend auf dem Interessenstandpunkt, wie dies zahlreiche Vereine mit ihren Aufnahmemodalitäten und schließlich die Vereinslandschaft insgesamt erweisen. Der ungleiche Untertan setzt sich gleichsam vorerst einmal im ungleichen Staatsbürger fort. Weil von den Grundrechten die Rede war: Auch in ihrem Bereich finde ich diesen Grundzug. Nach Ansicht des 19. Jh. und ihrer Einordnung in Verfassungstexte umfassen sie als allgemeine Rechte nicht alle politischen Rechte: Dies deshalb, weil eben manche politischen Rechte nicht allgemein allen Staatsbürgern zustehen. Etwa bei der Eigentumsfreiheit ist dies der Fall, nicht aber, und zwar am eindeutigsten, beim Wahlrecht: Viele sind von ihm ausgeschlossen, so daß ja tatsächlich erst 1918 das Wahlrecht als Grundrecht verstanden wird, weil es nun auch egalitären Charakter erhalten hat. Brandt: Herr Schneider, Sie haben zu Anfang die Frage aufgeworfen, ob der Stadtbürger der Neuzeit sich zum Staatsbürger des 19. Jh. entwickelt habe, und Sie haben diese Frage verneint. Sie haben des weiteren gefragt, ob der Bürger der preußischen Kommunalreform von 1808, wie Stein es zum Programm erhob, zur Schule des Konstitutionalismus geworden sei. Und sie haben auch dies, zu Recht, nicht anerkennen wollen.

Andererseits darf indes nicht übersehen werden, daß Staatsbürgerrecht und Verfassungssystem im 19. Jh. auf das engste untereinander verbunden waren. Dies zeigte sich vor allem im Wahlrecht, das ja ein Derivat des Ortsbürgerrechts darstellte. Die Verquickung von Staatsverhältnissen und Kommunalverhältnissen trat aber auch darin hervor, daß die Durchführung der Urwahlen ganz in die Kompetenz der Ortsbehörden gegeben war- mit allen Fehlern und Unwägbarkeiten, welche diese Aufgabenzuweisung mit sich brachte. Bei der Kompliziertheit der Vorschriften ist es nicht selten vorgekommen, daß die Schultheißen am Ende über die Vergabe des Wahlrechts entschieden. Schließlich ist auch die Parteibildung in manchen Fällen über die Station der Wahlvereine-von den Kommunen ausgegangen. Wenn über Fragen wie die vorstehende gehandelt wird, ist natürlich nicht belanglos, von welchen Teilen Deutschlands die Rede ist: ob von Preußen oder von "Nicht-Preußen", von Süddeutschland vor allem. Ihre Formulierung, Herr Schneider, daß man sich abgefunden habe mit der Rolle des Untertanen, gilt- cum grano salis- nur für die erste der genannten Regionen. Ein Wort noch zum Stichwort Parlamentarisierung, auf das Sie kurz eingegangen sind. Ansätze einer Parlamentarisierung oder doch Vorstellungen einer "informellen" Steuerung der Politik der Regierungen durch die Parlamente hat es gegeben, seit es Parlamente in Deutschland gab. Der Chauvinismus der 1860er Jahre hat die Entscheidung darüber, ob diese Tendenzen politisch erfolgreich wurden, für weitere fünfzig Jahre vertagt.

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Schneider: Ich würde Ihnen sofort zustimmen bei den Staaten, die sie genannt haben: Württemberg und Hessen-Kassel z.B. sehen ganz anders aus. Ich würde dort auch von effektiver Teilhabe des Bürgers reden wollen, zumindest im Vormärz. Insofern muß man das Bild etwas korrigieren, zumindest was die Ausgestaltung des Wahlrechts angeht. Wenn ich das Thema aus dem Blickwinkel einer "Verstädterung des Staates" betrachte, habe ich zu meiner großen Überraschung feststellen können, daß die staatlichen Wahlrechte im 19. Jh. weitgehend den städtischen Wahlrechten nachgebildet worden sind. Deswegen dringt umgekehrt zugleich der Staat in die Stadt vor. Auch Geschäftsordnungen und Verfahren werden aus den städtischen Traditionen übernommen. Es kommt also zu einer Verschränkung von Stadt und Staat. Ich möchte meine eigene These so modifizieren, daß dabei ein linearer Übergang ohne Brüche, ohne Phasenverschiebung jedenfalls nicht sehr wahrscheinlich ist. Mohnhaupt: Ich möchte noch einmal auf ein Grundmuster ihres Vortrags zurückkommen, nämlich auf die widerstreitenden Prinzipien "ständischfeudal" auf der einen Seite und "egalitär-liberal" auf der anderen Seite im Wandlungsprozeß des 18. zum 19. Jh. Diese Entwicklung ist klar und deutlich belegt. Sie dringt jedoch im 19. Jh. in Deutschland nicht zur idealtypischen Eindeutigkeit des "egalitär-liberal" voran. Die Relikte traditionell ständischer Strukturen zeigen im 19. Jh. noch eine große Beharrungskraft. So ist wohl von einer Mischung beider Prinzipien zu sprechen, die typisch ist für den Charakter einer mit Bedacht organisierten "Reform". Schneider: Als "Reform" wurde es vom Staat bezeichnet, von den Bürgern nicht so empfunden. Also Umbruch. Mohnhaupt: Daß das so gesehen wurde, ist sicherlich auch zu verstehen vor dem Hintergrund des Umbruchs und der Revolutionserfahrung in Frankreich. Man kannte diesen Weg in Deutschland und versuchte, scharfe Brüche zu vermeiden, was wiederum verständlich macht, daß man deshalb viele der überkommenen Formen, die Sie "ständisch-feudal" genannt haben, weiterführen mußte. Als ein Beispiel dafür möchte ich kurz auf die Frage eingehen - Herr KoseHeck tat dies auch schon -, inwieweit versucht wurde, ständische Privilegien in eine Art und Form staatsbürgerlicher Rechte überzuleiten. Ich erinnere mich an eine Schrift, die 1800 in München erschienen ist, und nichts anderes darstellt als eine ausgewählte Zusammenstellung der alten bayerischen Ständeprivilegien seit 1516. In dem bemerkenswerten Vorwort wird darauf hingewiesen, daß man auf diese Form der Rechte und Rechtspositionen zurückgreifen müsse, weil man noch keine Konstitution habe. Man sei sich aber sehr wohl bewußt, daß diese alten Rechte noch keine "Constitution" darstellten. Hier wird etwas von dem

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deutlich, was Sie mit "ständisch-feudal" und Überleitungsreform bezeichnet haben. Es ging aber auch darum, den Stadtbürger durch "Verfassung" zu einem Staatsbürger umzuformen. Hier gab es ja bereits 1807 auch eine französische Erfahrung in Deutschland in Gestalt des Königreichs Westfalen und seiner "Constitution". Dort ist versucht worden, das französische Vorbild des "citoyen" einzuführen und Wirklichkeit werden zu lassen. Es war auf ständisch-feudale Verhältnisse übertragen worden. Von heute auf morgen war der Stadtbürger eben auch ein Staatsbürger- ein "citoyen" - geworden. Man muß dann auch fragen, inwieweit diese Erfahrung in Deutschland eigentlich für das politische Bewußtsein und die politische Praxis auch andauernde Folgen gehabt hat. Gervinus hat einmal gesagt: Diese Zeit ist auch eine "politische Schule" gewesen. Man fragt sich unwillkürlich, wie lange und wie intensiv diese Schulzeit gewirkt hat? Ein zweiter Punkt: Sie haben für das Prinzip der "egalite" auch auf die Rechtsgleichheit und Rechtsvereinheitlichung hingewiesen. Letztere war ja in dieser Reformzeit auch in Deutschland ein sehr wichtiger Punkt der Reformarbeit und Diskussion über die Möglichkeiten und Formen der Kodifikation. Aber der Unterschied zu Frankreich wird noch 1871 deutlich, da man in der Reichsverfassung zunächst vergessen hatte, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rechtseinheit auf dem Gebiet des "bürgerlichen" Rechts zu schaffen. In Frankreich dagegen war bereits durch die Verfassung von 1791 die Ausarbeitung eines Code für die egalitäre Bürger-Gesellschaft vorgeschrieben gewesen. Damit waren ganz andere Voraussetzungen für einen "Staatsbürger" im Vergleich zu Deutschland geschaffen worden.

Schneider: Der Hinweis auf die bayerische Entwicklung ist mir sehr wertvoll. Ich werde ihn überprüfen und gegebenenfalls noch einarbeiten. Auch der zweite Hinweis auf das Königreich Westfalen ist interessant; es gibt ja weitere Parallelen in den Rheinbundstaaten. Sie sind nach französischem Vorbild gleichgeschaltet worden, so daß von heute auf morgen die Einwohnergemeinde eingeführt wurde. Demgegenüber war die Entwicklung in Preußen stark verzögert, und zwar dadurch, daß überall Sonderrechte bestanden haben, die erst allmählich beseitigt worden sind. Daher ist es hier auch nie zu einer einheitlichen Städte- und Gemeindeordnung im 19. Jh. gekommen. Quaritsch: In Ihrem sehr beeindruckenden Vortrag, Herr Schneider, haben Sie eine überraschende Feststellung getroffen: Das Staatsbürgertum sei nicht so sehr durch die Freiheiten, sondern durch die Pflichten ins Bewußtsein des einzelnen gehoben worden, nämlich durch Steuerzahlung

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und vor allem durch die allgemeine Wehrpflicht. Damit gingen Sie von einer politischen Wertung des Begriffs "Staatsbürger" aus, die in der Tat bei einigen Autoren des 19. Jh. bereits anzutreffen ist, z.B. bei Zoepfl. Es gab aber noch im 19. Jh. auch einen anderen Sprachgebrauch. Sie haben über den "Staatsbürgerbegriff des Allgemeinen Landrechts" vorgetragen. Das Allgemeine Landrecht verwendet diesen Begriff jedoch nicht oder jedenfalls nicht einheitlich; es ist ebenso von den "Mitgliedern" und den "Einwohnern", aber auch von den "Untertanen" des Staats die Rede. Im Allgemeinen Landrecht steht jene berühmte Bestimmung, nach der jeder Einwohner des Staates, ohne Unterschied des Standes dem Oberhaupt des Staates zum Gehorsam verpflichtet ist (§ 1 II 13) und daß im Falle des Konflikts die "Pflichten der Untertanen gegen die Herrschaft [Grundherrschaft] den Pflichten gegen den Staat ... weichen" müssen (§ 136 II 7). Die Grundhörigen wurden auf diese Weise unmittelbare Staatsuntertanen. Die Untertaneigenschaft aller Einwohner wurde als ein großer Fortschritt aus dem feudalen Zeitalter heraus betrachtet, so daß der Begriff des Untertaus überwiegend nicht den pejorativen Beigeschmack hatte, den er später bekommen hat. Wenn jemand erklärte, er sei "preußischer Untertan", dann war das ein preußisches "civis Romanus sum". Interessanterweise hatte dann der Untertanbegriff, der bei der Begründung des modernen Staatsbürgerrechts in den 30er und 40er Jahren des 19. Jh. eine große Rolle spielte (ich verweise auf das Buch von Herrn Grawert), in der deutschen Rechtswissenschaft sehr lange einen engeren, aber präzisen Inhalt. Bis zur letzten, 1919 erschienenen (7.) Auflage des führenden "Lehrbuchs des Deutschen Staatsrechts" von Georg Meyer und Gerhard Anschütz wurden in diesem Werk die Einwohner als "Untertanen" bezeichnet, soweit sie dem Staat gegenüber zu Gehorsam und zu Leistungen verpflichtet waren (S. 946- 1022: "Rechtsverhältnisse der Untertanen"). Der Untertan war "Staatsbürger", soweit er Schöffe, Ratsherr oder Wähler war, soweit er also an der staatlichen Tätigkeit selbständig Anteil nahm. Diese Unterscheidung wurde bis 1919 durchgehalten. Die Juristen besaßen mithin einen technischen Untertanbegriff. Im Grunde ist auch dieser Untertanbegriff erledigt worden durch Heinrich Mann. Der Tod des "Untertans" war ein Spätsieg, das Buch erschien nach 1918 und war ein Stück liberaler Vergangenheitsbewältigung. Herbert Krüger versuchte 1964, den juristischen Untertanbegriff wieder auferstehen zu lassen (Allgemeine Staatslehre, Viertes Buch: Staatsgewalt und Untertanengehorsam, S. 818 - 988): "Der Untertan ist der Bürger, sofern er sich dem Staat unterordnet und dessen Befehle befolgt" (S. 940/41). Er ist mit dieser Revitalisierung gescheitert. Schon an der Verwendung des Wortes stießen sich die Rezensenten. Der Begriff ist Vergangenheit. Im 19. Jh. gab es jedenfalls im juristischen Schrifttum neben dem Staatsbürger im Untertan einen speziellen Anknüpfungspunkt für die Pflichten.

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Eine letzte Bemerkung: Wenn vom Staatsbürger die Rede ist, kommt das Nationale sofort zum Vorschein. Dem "citoyen actif" des Jahres 1791 der französischen Nationalversammlung wird sofort hinzugesetzt: "il faut etre fran~ais". Die staatsbürgerliche Aktivbürgerschaft ist kein Jedermannrecht, man muß Franzose sein. Überall dort, wo in den seit 1818 ergehenden deutschen Verfassungen des Vormärz der "Staatsbürger" geschaffen wird, ist er sofort auf die eingesessenen "Staatsangehörigen" bezogen; Staatsbürger sind zugleich bayerische, badische, württembergische und hessische Staatsbürger. Der Durchbruch zur aktiven Mitgestaltung und zur staatsbürgerlichen Freiheit ist gekoppelt mit dem Durchbruch zur Nation, in Deutschland nur gebremst durch die hier übliche Kleinstaaterei. In der französischen Revolution wird sogleich klar, daß der Staatsbürger kein Weltbürger, sondern Nationalstaats-Bürger ist. Diestelkamp: Ich habe eine ganz kurze ergänzende Bemerkung zu diesem Punkt: Die Mitte des 19. Jh. ist gewissermaßen eine Trendwende. In der 2. Hälfte vollzieht sich eigentlich eine Revitalisierung, eine Rückkehr zu städtischen Elementen, wie ich es allgemein ausdrücken will. Man sollte sich erinnern an die Bevölkerungsentwicklung. Stichwort: Bevölkerungsexplosion, Verdoppelung der deutschen Bevölkerung. Am Anfang des Jahrhunderts: 10% wohnen in den Städten, 90% auf dem Land-am Ende: die Hälfte in den Städten. Der Bevölkerungszuwachs ging vorwiegend in die Städte hinein. Das umfaßt natürlich das Problem der Industrialisierung. Da ist es nun für meine Vorstellung gar nicht so sehr verwunderlich, daß die städtischen Elemente wieder stärker in den Vordergrund rücken, denn für einen sehr viel größeren Teil der Bevölkerung ist nun dieses städtische Element auch wieder von erheblicher Bedeutung. Ich entsinne mich, daß mein Großvater immer voller Stolz seinen Hannoverschen Bürgerbrief vorzeigte, den er noch am Ende des vorigen Jahrhunderts erwerben mußte. Das war nicht etwa nur eine Nebensache, sondern das war für ihn ein wichtiger Akt, daß er Hannoverscher Stadtbürger geworden war. In dieser Zeit wechselte auch die Mentalität.

Wenn man die Fragestellungen von Herrn Oexle noch einmal aufgreift: Es galt nicht mehr allein die alte Einteilung Deutschlands in Preußen und Nicht-Preußen, sondern wenn man diese Momente nimmt, dann kommen auch Sachsen und andere Gebiete als eigenständige Faktoren ins Spiel, die durch Urbanisierung und Industrialisierung von diesem Prozeß miterfaßt waren. Da können dann altständische oder alteuropäische Vorstellungen etwa in der Arbeiterbewegung in Sachsen zum Tragen kommen. Die Vorstellung, im 20. Jh. habe es neben einer Verstärkung der städtischen Elemente vielleicht auch Rückgriffe auf alte Dinge gegeben, müßte also vielleicht vor diesem Hintergrund gesehen werden.

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Grimm: Ich hätte am liebsten nach Herrn Dilcher gesprochen, denn es sind die beiden bereits von ihm angeschnittenen Themen, die jetzt wiederkehren: erstens Staat und Gesellschaft und zweitens Grundrechte. Herr Schneider, die Trennung von Staat und Gesellschaft ist nach meiner Meinung die verallgemeinemde Kurzformel für einen komplexen Vorgang, der in dieser Allgemeinheit nicht stattgefunden hat. Was sich hinter der Kurzformel verbirgt, läßt sich präziser als die Abkoppelung verschiedener Sozialbereiche von politischer Steuerung beschreiben. Diese vollzieht sich in Deutschland aber nicht auf einmal, sondern nach und nach. Daraus erklärt sich die Gleichzeitigkeit verschiedener Bürgerstände, Bürgerbegriffe und Bürgerrechte, ohne daß deswegen schon die Trennung von Staat und Gesellschaft als analytisches Instrument unbrauchbar würde. Zudem provoziert dieser Vorgang sofort eine Gegenbewegung, weil die von der Politik abgekoppelten sozialen Subsysteme, die in die private Verfügung übergehen, mit dem politischen System kompatibel gehalten werden müssen. Das erfordert eine Wiederverbindung dieser beiden Bereiche, und diese erfolgt mittels der Volksvertretung. Sie beruht anfangs noch nicht auf dem allgemeinen Wahlrecht, aber in der Wiederverbindung liegt der Sinn der Ausweitung der ständischen Vertretungen in den Verfassungen des 19. Jh. Deswegen darf es Sie auch nicht überraschen, daß Sie gleichzeitig dem Bourgeois und dem Citoyen begegnen. Das ist kein Argument gegen den Nutzen der begrifflichen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, denn in der Doppelung von Citoyen und Bourgois spiegelt sich der doppelte Vorgang von Privatisierung der Gesellschaft auf der einen und Politisierung der Gesellschaft auf der anderen Seite. Aus demselben Grund darf man sich die Trennung von Staat und Gesellschaft auch nicht als personelle vorstellen. Häufig wird die Wertlosigkeit der Unterscheidung auf die Unmöglichkeit einer solchen Teilung gestützt. Indessen geht es nicht um eine Teilung der Bevölkerung in einen Teil, der dem Staat, und einen, der der Gesellschaft zuzurechnen ist. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vollzieht sich nicht auf der Basis von Personen, sondern auf der Basis von Rollen und Kommunikationen. Zum zweiten Punkt: Grundrechte. Sie sagen, sie seien in der ersten Hälfte des 19. Jh. nichts wert gewesen. Ich widerspreche dem nicht rundheraus, sondern relativiere die Aussage nur. Die Grundrechte werden in den Verfassungen universal formuliert. Sie beziehen sich auf die Staatsbürger und greifen damit durch die Ständegesellschaft hindurch, zu der sie in erklärter Opposition stehen. Sie leiten programmatisch einen Prozeß ein, den man durch das gesamte 19. Jh. und noch weiter verfolgen kann, nämlich den Prozeß der Inklusion, der immer weiteren Ausdehnung von Vergünstigungen und Rechtspositionen, die bis dahin nur als Privilegien vorgekommen waren. Die Grundrechte nehmen aber noch nicht die Gestalt subjektiver

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Rechte an. Aus diesem Grund vermuten Sie wahrscheinlich, daß sie nichts wert seien. In der Tat erscheinen sie zunächst einmal als Auftrag an den Gesetzgeber, und wenn man betrachtet, was die Staatsrechtslehre des Vormärz besonders interessiert und was ständig angemahnt wird, dann ist es die gesetzgeberische Ausführung der grundrechtliehen Gesetzgebungsdirektiven. Deswegen würde ich aber nicht sagen, daß sie nichts wert seien. Ihr Wert besteht darin, daß sie Zukunftsrecht an den Horizont projizieren und dazu Kompetenzen für die modernen Volksvertretungen begründen, die an allen Rechtsänderungen im Grundrechtsbereich beteiligt werden müssen. Ihre Annahme, die Grundrechte seien nichts wert, trifft eigentlich erst für die zweite Hälfte des 19. Jh. zu, wenn auch aus einem anderen Grund: In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wurden nämlich die Verheißungen der Grundrechte sukzessive gesetzgeberisch eingelöst, so daß das Programm schließlich in den Augen des Bürgertums als erfüllt gelten konnte. Erst jetzt wandelten sie sich zu subjektiven Rechten des Einzelnen, vermittelten ihm als solche aber nur noch den Anspruch, nicht ungesetzlich behandelt zu werden. Die neue Wertlosigkeit bestand also darin, daß sie im Gesetz aufgingen und den ursprünglich vorhandenen gesetzesüberschießenden Gehalt abstreiften. Von rechtlichem Wert sind sie überhaupt erst unter dem Grundgesetz, wo die objektive Komponente und die subjektive Komponente zusammengefügt werden und das Bundesverfassungsgericht als eigene Durchsetzungsinstanz für Grundrechte auch gegenüber dem Gesetzgeber in Erscheinung tritt.

Schneider: Ich gebe in bezugauf die Frage der Grundrechte zu: "nichts wert" ist vielleicht eine Nuance zu weit. Mit meiner Akzentuierung der staatsbürgerlichen Pflichten habe ich eigentlich nur zum Ausdruck bringen wollen, daß die Grundrechte bis dato jedenfalls nicht "lntegrationselement" des Staatsbürgers gewesen sind, wie es Smend später für die Grundrechte der Weimarer Zeit behauptet hat, sondern es sind andere Faktoren gewesen: die Pflichten, die Nation. Insofern irren alle die, die retrospektiv meinen, vor allem die Grundrechte seien der eigentliche Anknüpfungspunkt für die Staatsbürgerschaft gewesen. Im übrigen: "Staat und Gesellschaft" als kommunikationstheoretische Kategorie, das ist mir relativ neu. In unserem etwas simplen staatstheoretischen Begriffsraster werden beide Bereiche für das 19. Jh. einfach als antithetische Sphären gegenübergestellt. So gesehen kann man sagen: Der Bürger ist im Staat gleich, aber unfrei; in der Gesellschaft ungleich, aber frei. Dennoch verdeckt diese Feststellung mehr, als sie zu erklären vermag. - Das Problem der "Urbanisierung" in der zweiten Hälfte des 19. Jh. habe ich in einer meiner Anmerkungen kurz gestreift. Es gibt dazu ja eine Reihe interessanter sozialgeschichtlicher Untersuchungen. Ich hatte in meinem Referat ursprünglich auch einen Abschnitt "Nation und Volk" vorgesehen, mit dem ich jedoch nicht zu Rande gekommen bin.

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Das hätte mein Thema gesprengt, wenn man nur daran denkt, was da über "Volksstaat" etwa bei Gerber zu lesen ist. Und: was ist Nation? Natürlich definiert sich der deutsche Staat von 1900 als "Nationalstaat" , der Bürger als "Nationalbürger", als Glied eines Volkes, genannt: die "Nation". Sie ermutigen mich, das geplante Kapitel vielleicht noch einmal in Angriff zu nehmen. Ich bin mit dem, was Sie zum "Untertan" gesagt haben, völlig Ihrer Meinung und kann mich eigentlich darüber gar nicht so aufregen wie Sie, Herr Willoweit. Und daß ich mich etwas von Smend entfernt habe, nimmt der Bedeutung seines Vortrags nicht sehr viel.

Schiera: Ich möchte gern kurz auf den verfassungsgeschichtlichen S~el­ lenwert hinweisen, den die Frage Bildung und Legitimierung der führenden Schichten im Problemzusammenhang der Entstehung der modernen Welt (nicht nur in Deutschland, aber dort besonders vordergründig) gehabt hat. Diese Frage wird bekanntlich durch den philosophisch-institutionellen Komplex Bildung bezeichnet. Diese verdient Beachtung unter mehreren, miteinander konkurrierenden Gesichtspunkten. 1. Unter dem Gesichtspunkt der Mentalitätsgeschichte ist Bildung an der Entstehung der modernen öffentlichen Meinung beteiligt und verweist damit auf den allgemeinen Prozeß der Zivilisation. Diese erste Bedeutung umschließt derart starke soziale und politische Inhalte, daß sie unmittelbar eine zweite, spezifischere nach sich zieht.

2. Ich beziehe mich hierbei auf die akademische, tendentiell bereits "berufliche" Bildung der Mitglieder einer Führungsklasse, deren Organisierung sich parallel zur modernen Staatswerdung vollzieht. Bereits in dieser Phase beginnt die Trägerrolle der Universität als öffentlicher, ja mehr und mehr "staatlicher" Institution hervorzutreten. 3. Aber diese Trägerrolle macht sich erst im 19. Jh. vollends geltend, als die Bildung (vor allem dank der Humboldtschen Reform) zur entscheidenden Kraft bei der Neuordnung der Universität und dadurch bei der Neuausrichtung der wissenschaftlichen Forschung wird. Dabei entsteht das eindrucksvolle Phänomen der Deutschen Wissenschaft. Es besteht aus folgenden Elementen: a) Organisierung des Wissens und der Bildung (im Sinne der Professionalisierung) der neuen Berufsstände; b) Festlegung der Lehrgänge in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des sich konsolidierenden Bürgertums; c) Monopolisierung der Forschung und der höheren Bildung durch den Staat; d) Funktionalisierung der Forschungsinhalte (sowohl auf natur- als auch auf sozialwissenschaftlichem Gebiet) nach dem wachsenden sozialpolitischen Handlungsbedarf des Staates.

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Diese Elemente schließen sich sowohl auf ideologischer Ebene (Forschung oder Konsens- und Legitimationsbildung) als auch auf institutioneller Ebene zu einem engmaschigen System von Beziehungen zusammen. Innerhalb dieses Systems findet meiner Meinung nach die sogenannte Auseinandersetzung von Staat und Gesellschaft statt, die die letzte Phase der europäischen Neuzeit nachhaltig prägt. Dabei wird deutlich, daß die hier angesprochene Frage, Bildung und (sowohl autonome wie heteronome) Legitimierung der Führungsschichten, nicht nur Gegenstand einer oder mehrerer Fachgeschichten (Wissenschafts- oder Erziehungsgeschichte usw.), oder der (quantitativen oder auch qualitativen) Sozialgeschichte, sondern auch einer regelrechten Verfassungsgeschichte sein kann. Der Faktor Wissenschaft/Bildung ist nämlich aus dem Zusammenhang von Funktionen, Aufgaben und Kompetenzen, die die Entstehung und die Entwicklung des modernen Staates begleitet haben, zumal dann nur schwer wegzudenken, wenn sein wechselvolles Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft dabei mit im Blick bleibt. Die verfassungsgeschichtliche Behandlung der Frage Universität und moderne Wissenschaft gewinnt neuerdings an Breite: a) Für den Zeitraum Spätmittelalter u.nd frühe Neuzeit. Für diesen Abschnitt wird vor allem die Bedeutung der genossenschaftlichen Universität hervorgehoben. Ich messe diesem Aspekt unter verfassungsgeschichtlichem Blickwinkel große Bedeutung bei und möchte ihn in Beziehung setzen zur allmählichen Behauptung der Souveränität als Hauptmerkmal des modernen Staates. b) Jedoch erst in der Spätphase der Neuzeit (18. - 19. Jh.) setzt sich die Universität, mehr und mehr zentraler Ort der Forschungsorganisation und der höheren Lehre, als regelrechter Verfassungsfaktor des Staates durch. Dessen Gesetzgebungs- und Verwaltungsfunktionen werden immer präzisere und differenziertere technisch-wissenschaftliche Leistungen. c) Auf dem geschichtlichen Höhepunkt des modernen Staates, von der Hälfte des 19. Jh. an, wird der Wissenschafts- und Bildungsapparat Universität zum tatsächlichen Träger der Verfassungsentwicklung über den Rechtsstaat hin zum Sozialstaat. Das liegt begründet in der gleichzeitig erfolgenden Steigerung der Leistungsfähigkeit der Staatsmaschine sowie im Legitimationsbedürfnis und im sozialen Aufstieg immer breiterer Schichten, die der Industrialisierungsprozeß freisetzt. Ausgehend von diesen sehr kurzen und schematischen Überlegungen halte ich für wünschenswert, daß auch der Verfassungshistoriker sein fachliches Augenmerk auf den Themenkomplex richtet, den ich zuvor beschrieben habe. Ich verspreche mir davon zweierlei: a) eine klarsichtigere und umfassendere Behandlung der hier angesprochenen Themen, als dies bis-

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lang, ausgehend von den allzu begrenzten, herkömmlichen Ansätzen, geschehen ist; b) eine inhaltliche und methodologische Vertiefung und Differenzierung der Verfassungsgeschichte selbst hin zu einer- von den großen Gründem der modernen Verfassungsgeschichte stets ins Auge gefaßtenimmer umfassenderen Globalität. Brauneder: Im Vortrag wurde sehr treffend formuliert: Allgemeinheit ist nicht Gleichheit, aber mit ihr nahe verwandt. Dies erhärtet besonders deutlich das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs von 1811 (ABGB): "Allgemein" bedeutet bloß, daß es in allen deutschen Erbländern Österreichs (nicht in Ungarn) galt, hier war nun das Privatrecht vereinheitlicht; daher fehlte auch beim Bürgerlichen Gesetzbuch für Galizien, da nur in einem Land geltend, der Zusatz "allgemein". Trotz Rechtsvereinheitlichung brachte aber das ABGB kein gleiches Recht, sondern kannte in seinem Text und vor allem durch Verweisungen auf andere Rechtsquellen mannigfache ständische Differenzierungen. Sodann zur sogenannten Verstädterung des Staates: Ich habe Zweifel, ob man dem vom Standpunkt Österreichs- und wohl auch anderer Staaten im Deutschen Bund - zustimmen kann, denn das Gemeindewahlrecht unterscheidet sich in Österreich gerade unter diesem Aspekt sehr wesentlich vom Landtags- und Reichsratswahlrecht: Ersteres ist Dreiklassenwahlrecht, die beiden letzteren aber nach einem Kurien- und Zensussystem organisiert, wobei Stadtgemeinden und Landgemeinden je eine Kurie neben dem Großgrundbesitz und den Handels- und Gewerbekammern bilden- gerade dieses Wahlrecht zeigt, daß der Staat nicht verstädtert werden, sondern eine neoständische Schichtung bekommen sollte. Ich möchte zudem betonen, daß die Grundrechte auch dort, wo sie bloße Staatszielbestimmungen waren, ihren Wert hatten. So konnten in den Parlamenten die Liberalen und die Demokraten auf die Grundrechte in der Verfassungsurkunde verweisen und sie als Maßstab für die Staatstätigkeit benutzen- das ist auch geschehen wie dies die Herren Scheunerund Wahl in Aufsätzen dargetan haben. Dann gab es auch spezielle Fernwirkungen wie in Österreich die, daß man in der anti-konstitutionellen Zeit vor 1867 zwar nichtdarandenken konnte, einen Grundrechtskatalog zu aktivieren, aber einzelne Grundrechte in strafrechtlichen Nebengesetzen realisierte. Auch die Autorität des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs ab 1867, des Reichsgerichts, gab den Grundrechten besondere Kraft: Seine Erkenntnisse hatten keine kassatorische Wirkung, dennoch galten sie für die Behörden als verbindlich. - Noch ein Grundrechtsaspekt: Ich glaube, daß der Eigentumsschutz nicht nur egalisierende Wirkung hatte, sondern vorerst auch eine konservierende in Hinblick auf die Stände- und Gesellschaftsordnung, nämlich solange es Ober- und Untereigentum gab. Das Grundrecht 12 Der Staat, Beiheft 8

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schützte beide Formen, somit auch den Obereigentümer und dadurch den Grund- und Lehnsherren. Schneider: Ich danke für diesen Hinweis auf die Sonderentwicklung in Österreich. -Bei den Grundrechten stimme ich Ihnen zu. Sie waren Gesetzgebungsaufträge an die Landtage, hatten keinen staatsbürgerlichen Integrationswert und verbürgten vor allem kein einklagbares Recht. Ausnahme ist das Eigentum. Da gab es einen Anspruch, dessen Verletzung eine staatliche Entschädigungspflicht auslöste.

Frost: Ich darf noch einmal auf den Schluß des Referates zurückkommen. Es hat mich sehr beeindruckt, daß Sie zum einen auf das Anwachsen von Rechten aufmerksam machten, so für die Finanz- und Wirtschaftskreise wie für Militärs, Beamte und Richter, die sich auch staatsbürgerlich umsetzten, zum anderen auf den damit entstehenden Pflichtenkodex. Ich möchte darauf hinweisen, wie sich dann aber aus dieser gesellschaftlichen Bewertung eine neue Hierarchisierung der Gesellschaft am Ende des Jahrhunderts ergeben hat, und zwar infolge der starken Bewertung des Reserveoffiziers, sich so eine gewisse Schicht herausbildet, die eine gleichmäßige gesellschaftliche Formung erfährt und sich auch schichtenspezifisch verhält. Mit absinkendem Kulturertrag, wenn wir es Kultur nennen wollen, entwickelten sich in der Bevölkerung zugleich andere Schichten, die man nicht mit dem herkömmlichen Klassenbegriff erfassen kann, etwa in den neuen großen Industrieunternehmen. Die hierarchische Abschichtung der Arbeiterschaft, vom Werkmeister bis zu den Hilfsarbeitern, ist dafür typisch. Gleichzeitig entstehen bei Werksmeistern und ähnlichen Spitzenkräften starke Bindungen auch an das Nationale. Das ist ein Faktor, der von der Spätwilhelminischen Periode bis in die Gegenwart die konservative Grundhaltung und das starke Nationalgefühl der deutschen Arbeiterschaft merklich beeinflußt hat. Diese schichtenspezifischen Momente, letztlich eine neue Form von Bürger- und Nationalbewußtsein haben alte ständische und klassenbewußte Anschauungen verdrängt. Die genannte Entwicklung verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihr im allgemeinen zugewandt wird.

Städte und Regionalstaaten in Mittel- und Oberitalien zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit* Von Giorgio Chittolini, Mailand Im 15. Jh. zeigt sich Italien, gleich anderen europäischen Gebieten, in ein System von Regionalstaaten gegliedert: Es war aus dem Prozeß der Überwindung jene!> ,Partikularismus' hervorgegangen, der in ganz Europa die zentralen Jahrhunderte des Mittelalters gekennzeichnet hatte. Dieser Prozeß hatte überall dahin gewirkt, das Gewicht der Stadt zu begrenzen sowie ihre Stellung und politische Rolle innerhalb der jüngsten Staatenbildung neu zu bestimmen. Das Verhältnis Staat/Stadt weist jedoch in Mittel- und Oberitalien andere Aspekte auf als im übrigen Europa. Andere Aspekte hatte es ja bereits im Laufe des Prozesses hervorgekehrt, der dann zur Bildung der Regionalstaaten geführt hatte. Das ist bekanntlich auf einige Grundzüge der italienischen kommunalen Stadt zurückzuführen, besonders auf ihre Fähigkeit, eine starke und weitreichende Territorialherrschaft auszuüben, dank Selbstbestimmungsrechten und Regierungsfunktionen, die sie zu einem regelrechten Staat gemacht hatten. Um einige zusammenfassende Elemente des Vergleichs mit dem übrigen Europa bereitzustellen, soll an dieser Stelle auf folgende Grundzüge kurz eingegangen werden: 1. die ursprüngliche territoriale Ausrichtung der italienischen Kommune; 2. ihre Stellung inmitten jener Prozesse territorialer Neugliederung, die auf regionaler Ebene in Italien ebenso wie im übrigen Europa zwischen dem 13. und 15. Jh. hervortreten; schließlich die starke Einbindung der Stadt in das Staatensystem der Renaissance. Diese Einbindung hat 3. für die untertänigen und Provinzstädte die breite Festigung der alten Fähigkeit, ihr Territorium zu kontrollieren, zur Folge; 4. für einige größere Zentren die Fähigkeit, ihrem Herrschaftsraum regionale Ausmaße zu verleihen. I. Will man verstehen, wie die Stadt in weiten Teilen Italiens eine nicht so sehr wirtschaftliche denn politisch-institutionelle Physiognomie ausbilden konnte, die sie so deutlich von den Städten jenseits der Alpen absetzt, ist es • Übersetzung aus dem Italienischen von Klaus-Peter Tieck (Trient). 12•

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wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß die italienischen Stadtgemeinden sehr früh schon zu einer umfassenden Autonomie gegenüber jedweder übergeordneten Autorität gelangten. "Die Kommunen jenseits der Alpen, welche juristische Grundlage oder welches Ausmaß ihre Selbstregierung auch immer haben mochte, machten sich nie von ihren Herren völlig unabhängig"1: Kaisertum, Königreiche, Fürstentümer gaben weiterhin die mehr oder weniger festen politisch-territorialen Strukturen vor, in die sich die Städte zu finden hatten. In Mittel- und Oberitalien war es diesen Strukturen nicht gelungen, sich durchzusetzen oder sich eine dauerhafte Grundlage zu schaffen. Die Landesfürstentümer wurden in ihrer Entwicklung durch die Entstehung kleinerer Herrschaften (die aus der Vermehrung der castra und der Bildung großer Grundherrschaften hervorgegangen waren) und durch den rapiden politischen Aufstieg der Stadtzentren gehemmt und innerlich ausgehöhlt2. Dem Regnum gelang es nicht, zu einem starken Herrschaftsbau oder zu einer dynastischen Tradition vorzudringen. Das Kaisertum selbst war in der zweiten Hälfte des 12. und dann während der ersten Jahrzehnte des 13. Jh. Gegenstand der Restaurationsversuche Friedrich Barbarossas und Friedrichs II. gewesen und fand sich frühzeitig aus dem italienischen Kräftespiel (als eine aktiv politische Kraft wenigstens) ausgeschlossen3. Es blieb demnach den in starken kommunalen Organismen herangewachsenen Städten überlassen, als hauptsächliche, wenn nicht einzige Träger der Prozesse politischer Organisation und territorialer Gliederung Ober- und Mittelitaliens zu wirken. Diesen Städten, den nicht sehr zahlreichen Zentren (fast ausschließlich sehr alten Ursprungs) war es gelungen, im Früh- und Hochmittelalter der Aufgabe weiterhin gerecht zu werden, Kerne einer breit um sich herum gefächerten territorialen Organisation zu bilden. Diese wuchs ihnen aus der vielfach innerhalb der Organisation der römischen municipia eingenommene Stellung zu, die zudem zwischen Spätantike und Frühmittelalter, als diese zu Diözesansitzen geworden waren, durch die Zusammenlegung der Funktionen weltlicher und geistlicher Regierung verstärkt worden war. Auch aus diesen Gründen hatten sich die Städte bereits zu Beginn der kom1 N. Ottokar, Art. Comuni, in: Enciclopedia italiana, Bd. XI (1931), jetzt auch in Ottokar, Studi comunali e fiorentini, Florenz 1948, S. 3- 49 (unter dem Titel: I

comuni cittadini nel Medioevo), S. 41. Zu dem Folgenden siehe auch meinen Beitrag: Cities, City-States and Regional States, demnächst veröffentlicht in: W. Bioclonans I Ch. Tilly (Hrsg.), City systems and State formation, Sondernummer der Zeitschrift Theory and Society, 1989. 2 G. Sergi, L'Europa carolingia e la sua dissoluzione, in: N. Tranfaglia IM. Firpo (Hrsg.), La storia, Bd. II: Il Medioevo. Popoli e strutture, Turin 1986, S. 231 - 262, vor allem S. 255 - 258. 3 G. Tabacco, Egemonie sociali e strutture politiche nel Medioevo italiano, Turin 1979, S. 190ff., 266ff.; R. Manselli I J. Riedmann (Hrsg.), Federico Barbarossa nel dibattito storiografico in Italia ein Germania, Bologna 1982. Über die Merkmale der kaiserlichen Regierung im 12. Jh. : A. Haverkamp, Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien, 2 Bd., 1970 und 1971.

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munalen Entwicklung als Stätten ausgewiesen, an denen nicht nur kaufmännische oder handwerkliche, sondern auch grundherrliche, feudale Stände und Interessen zusammenliefen und auseinandertraten. Diese Stände hatten an der Bildung und Konsolidierung der Kommune großen, ja eigentlich maßgeblichen Anteil4 • Diese Pluralität von Funktionen, Gewalten und gesellschaftlichen Gruppen, in denen Elemente aus Stadt und Land gleichermaßen vertreten waren, prägte den italienischen Städten einen Grundzug auf, der nicht durch den Gegensatz zum Umland, sondern vielmehr durch die Symbiose mit diesem bestimmt wurde. Das war die Voraussetzung für die starke politische und wirtschaftliche Machtausstrahlung, die die Städte ja dann auch tatsächlich ausübten (aber auch für die Polarisierung unterschiedlicher sozialer Interessen und Stände innerhalb der Stadt). Es sei an dieser Stelle darauf verzichtet, die Phasen des ,comitatinanza' durchzugehen, jenes Prozesses nämlich, der zur Eroberung des Territoriums innerhalb der durch das Gebiet der Diözese bezeichneten Grenzen und zur Schaffung des ,Umlandes' (contado) führte 5 • Aber es sei darauf hingewiesen, daß die Ausdehnung der Stadt tief und dauerhaft in das politische und institutionelle Organisationsgefüge des Territoriums eingriff. Während im übrigen Europa die Grundherrschaft als vorherrschende Struktur territorialer Gliederung bestehen blieb und, unter mehr oder weniger feudalen Formen, zur Ursprungszelle der später in Italien sich durchsetzenden neuen regionalen oder nationalen Staatsgefüge wurde, "ging der unmittelbare und notwendige Zusammenhang zwischen Grundbesitz und Herrschaftsausübung verloren ... Die örtlichen Landesaristokratien und die größeren Kirchen waren nicht mehr ipso facto Träger einer Gesamtheit von öffentlichen Rech4 Der klassische Beitrag hierzu E. Sestan, La citta comunale italiana dei secoli XIXIII nelle sue note caratteristiche rispetto al movimento comunale europeo, in: Congres international des Seiences Historiques, Stockholm, 21 - 28 Aout 1960, Rapports, II, Moyen Age, Göteborg I Stockholm I Uppsala 1960, S. 75- 95, wieder er schienen in: Sestan, ltalia medievale, Neapel1968, S . 91 - 120, S. 105; vgl. G. Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, 1967; Ph. Jones, Economia e societa nell'Italia medievale: la leggenda della borghesia, in: R. Romano I C. Vivanti (Hrsg.}, Storia d'Italia Einaudi, Annali, Bd. 1: Dal feudalesimo al capitalismo, Turin 1979, S.187- 372, S. 200ff. ; H. Keller, Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien, 1979; 0. Capitani, Citta e comuni, in: G. Galasso (Hrsg.), Storia d'Italia, Bd. IV, Turin 1981, S . 5- 57; A. I. Pini, Dal comune citta-stato al comune ente amministrativo, ebd., S. 451 - 587, jetzt in: Pini, Citta, comuni, corporazioni nel Medioevo italiano, Bologna 1986; A. Haverkamp, Die Städte im Herrschafts- und Sozialgefüge Reichsitaliens: HZ, Beiheft 7, 1982, S.149 -245; R. Bordone, La societa urbana nell'Italia comunale, secoli XI- XIV, Turin 1984. 5 Abgesehen von den in FN 4 aufgeführten Arbeiten seien hier genannt: E. Conti, La formazione della struttura agraria moderna nel contado fiorentino, Bd. I und Bd. 11112 (als einzige erschienen}, Rom 1965; G. Cherubini, Signori, contadini, borghesi. Ricerche sulla societa italiana del basso Medioevo, Florenz 1974; F. Bocchi, La citta e l'organizzazione del territorio in eta medievale, in: R. Elze I G. Fasoli (Hrsg.), La citta in ltalia ein Germania nel Medioevo, Bologna 1981, S. 51- 80; P. Cammarosano, Le campagne nell'eta comunale, meta sec. XI- meta sec. XIV, 2. Aufl., Turin 1976; R. Bordone, Tema cittadino e "ritorno alla terra" nella storiografia comunale recente: Quaderni storici XVIII (1983}, S. 255- 277.

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ten. Zwar verblieben ihnen viele Vorrechte und Abgaben, diese waren aber isoliert und unverbunden und trugen im wesentlichen patrimoniale Züge"6. Dieser Komplex von Rechten und Gewalten ging stattdessen zum großen Teil auf die Stadtgemeinden über, die sich als vorrangige Kernstücke der territorialen Gliederung, als Zentren relativ ausgedehnter und kompakter Bezirke herausschälten. Schon Otto von Freising fiel es in der zweiten Hälfte des 12. Jh. auf, daß Italien sich" tota inter civitates ferme divisa" darbot, während die Grundherrschaften, zerstreut und durch kein königliches oder fürstliches Herrschaftsgefüge verbunden, in ihrem Ausmaß beschränkt und an die Ränder der Stadtbezirke gedrängt sich vorfanden. Derart geschwächt waren sie gezwungen, sich demimperiumder Stadt zu fügen7 . Das System von Stadtgebieten, von regelrechten Stadtstaaten, das auf diesem Wege frühzeitig heranreifte, zeichnet sich durch große innere Geschlossenheit und somit durch nachhaltige Stabilität aus. Während im übrigen Europa des späten Mittelalters immer neue Städte entstehen, bleiben die Neugründungen oder die Erhöhung eines Ortes zur civitas in Mittelund Oberitalien seltene Ausnahmen. Die Zahl der civitates ist somit zwischen dem 12. und 15. Jh. außerordentlich stabil und relativ begrenzt geblieben. Wenige Zentren hatten nämlich, gestützt auf ihre alte Tradition als römische municipia und Bischofssitze, ihre Institutionen kommunaler Selbstbestimmung und ihre Herrschaft über den Contado umfassend ausgebildet. Diesen Zentren allein gebührt der Titel Stadt. Unausgesprochen stand er für den Begriff von Hauptstadt eines Stadtgebietes, des Contado, und gleichzeitig von Hauptstadt eines Kirchenbezirkes, der Diözese, die sich noch dazu weitgehend decktens. Neben den eigentlichen Stadtzentren entstanden mit Sicherheit viele andere, die mit der Zeit eine bemerkenswerte wirtschaftliche und demographische Stärke entfalteten (Tausende von Einwohnern, Handwerke, Handel) und allmählich Hunderte von europäischen ,Städten' an Gewicht übertrafen. Das gilt zum Beispiel für Vigevano, für Monza, Prato, S. Gimignano, und für viele andere Gemeinden ("borghi"), Länder ("terre"), Burgen ("castelli") oder einfach ,Kommunen', wie sie durchweg genannt wurden. Dennoch erlangten diese während des gesamten Mittelalters nicht den Titel s P. Cammarosano, L'economia italiana nell'eta dei comuni e il modo feudale di produzione: Societa e storia, li (1979), S. 495- 520, S. 515. 7 G. Waitz I B. de Simson (Hrsg.), Ottonis et Rahevini Gesta Friderici I imperatoris, 1912, S. 116. Über das begrenzte Gewicht der adligen Landaristokratien in der spätmittelalterlichen italienischen Gesellschaft (gegenüber den herrschenden Ständen der Stadt) im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, siehe die Überlegungen von 0. Capitani, Introduzione all'edizione italiana, in: K. Bosl, Modelli di societa rnedievale, Bologna 1975 (Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters, 1975); Elemente des Vergleichs zu Frankreich bietet Ph. Contamine, La noblesse et les villes dans la France de la fin du Moyen Age: Bullettino dell'Istituto storico italiano per il Medioevo XCIV (1985), S. 467- 489. a Darüber jüngst Haverkamp (FN 4), S. 115 - 128.

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,Stadt'. In den Bereich von Bezirken eingelassen (contado und Diözese), an deren Spitze andere Zentren, regelrechte civitates standen, erhielten sie nach Auseinandersetzungen und Kämpfen sowohl von den Stadtgemeinden, von denen sie abhängig waren, als auch vor allem im Rahmen der Regionalstaaten, in dem sie sich später wiederfanden, Privilegien, Immunitäten, Eigenständigkeit zugebilligt9. Sie hatten jedoch nicht die Kraft, das alte und konsolidierte Gefüge der Stadtgebiete aufzubrechen und sich einen eigenen territorialen Raum zu schaffen, der einigen Bestand haben konnte: eine unverzichtbare Vorbedingung, um jene Würde einer Stadt zu erlangen, die sie anstrebten. Die Zahl der Städte (und somit der Diözesen) blieb deshalb feststehend, "geschlossen". Die wenigen Ausnahmen betrafen Zentren am Rande des Gebietes der großen Stadtstaaten. Wurde der Titel der Stadt in seltenen Fällen verliehen, so blieb er bloßer Name (wie in Sarzana) oder geriet schnell in Vergessenheit (wie in Angera), da er durch den effektiven Bestand eines Contado nicht gedeckt wurde. Der geringen Zahl der Städte (im Raum der Poebene und der Toskana finden sich auf einer Fläche von vielleicht 100000 Quadratkilometern lediglich wenige Dutzend) entspricht die große Ausdehnung der Stadtgebiete. In demselben Raum kommt man auf eine mittlere Ausdehnung zwischen 1000 und 2000 Quadratkilometern, mit hohen Spitzenwerten bei den größten Stadtgemeinden (Mailand, Bologna, Florenz) und Minimalwerten, die tausend Quadratkilometer selten unterschreiten. Die Lage ist demnach völlig anders als bei den Städten jenseits der Alpen, die die Grenze von 1000 Quadratkilometern nur in den seltensten Ausnahmefällen (Nürnberg und Zürich zum Beispiel) übertreffen, während andere Städte, selbst wenn sie stark und wichtig sind, Territorien aufweisen, die auf wenige hundert, oftmals sogar auf wenige Dutzend Quadratkilometer beschränkt sind. Merkmal der großen mittel- und oberitalienischen Stadtkommunen ist es, daß sie eine relativ umfassende Herrschaft über ihre Gebiete anstreben und weitgehend auch zu festigen vermögen. Diese stehen auf niese Weise als sehr viel kompaktere, diszipliniertere und definiertere Gebilde da, als dies vergleichsweise jenseits der Alpen der Fall sein kann. Im Gegenteil, es ist schwierig, dort ein Gegenstück zum Contado der italienischen Kommune zu entdecken. Wir werden vielmehr einem Mosaik kleiner Territorien begegnen, über die die Stadt, auf der Grundlage unterschiedlichster Titel, einschneidende Steuer- oder Justizrechte ausübt. Über andere Territorien wird sie dafür geringere Rechte innehaben, die sich jedoch mit denen anderer Rechtsträger überschneiden. Vollends mittelbar und ausschnitthaft ist der Einfluß der Städte auf Territorien, die Gegenstand herrschaftlicher Vor9 G. Chittolini, Le ,terre separate' nel ducato di Milano in eta sforzesca, in: Milano nell'eta di Ludovico il Moro, Sitzungsberichte des intemationalen Symposiums, Mailand 1983, S.115- 128.

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rechte von Dynasten oder städtischen kirchlichen Institutionen sind. Noch mittelbarer fällt der Einfluß aus, den sie, manchmal auch auf weitläufigen und fernen Gebieten, durch Bewilligung der Stadtbürgerschaft, Versorgungsregeln, Handels- und Steuerverträge, Überwachung von Straßen und Wasserwegen und durch Markrechte gegenüber dem, was allgemein als ihr Umland bezeichnet worden ist, geltend machen10 • Dieser Einfluß bleibt jedoch lediglich auf gewisse Sektoren beschränkt und schließt nicht aus, daß auf denselben Gebieten starke und zuweilen politische und militärisch sich bekämpfende Herren und Potentaten ihren Einfluß ausüben. Sehr viel vollkommener und umfassender ist die Kontrolle über den Contado hingegen in Italien. Sie orientiert sich an einem Modell, das die Ausschaltung mediatisierter und indirekter Regierungsformen, die Schaffung eines Systems kleinerer Bezirke unter der Verwaltung von Stadtbeamten (podesta, Vikare), die Ausdehnung des Stadtrechts, der städtischen Statuten und Verordnungen auf dem Gebiet der Finanzen, der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung auf das gesamte Territorium vorsieht. All diese Bestandteile fügen sich zu einem einheitlichen Körper zusammen, wie das bekannte Bild es unterstellt, dessen Haupt die Stadt, dessen organisch und untrennbar verbundene Glieder das umgebende Land ist11 . Dieser territorialen Kontrolle entspricht endlich eine engmaschige wirtschaftliche Kontrolle, die sich sowohl auf die Handels- und Gewerbepolitik als auch vor allem auf die Landwirtschaft und den Grundbesitz erstreckt. Der Contado ist vielmehr der natürliche Ausdehnungsraum eines städtischen Besitzes, der stark begünstigt wird und ständig anwächst. Die Energie, mit der die starken Kommunen der Po-Ebene zwischen dem 13. und 14. Jh. (oder in manchmal engeren Territorialbereichen, die Kommunen der Toskana oder Umbriens) diese Politik der Kontrolle und der territorialen Gliederung verfolgten, bewirkt eine Einteilung der italienischen Landschaften in Stadtstaaten, die eine große Ausdehnung erreichen und ohne größere Durchbrechungen aneinander angrenzen. Grundherrschaften können sich dabei an den Grenzen oder am Rande der Umländer, die zum Beispiel im Gebiet des Apennins oder an gewissen Abschnitten des Po, erhalten12 . "Nulle terre sans seigneur". Dieser Ausdruck war im Europa des 10 Siehe z.B. den Sammelband: R. Meynen (Hrsg.), Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung, 1979 (vor allem die Beiträge von R. Kiessling und G. Wunder), aus dem das jenseits der Alpen unterschiedlich gestellte Problem Stadt/Territorium deutlich hervorgeht. Einen vergleichenden Überblick bietet nun die Sondernummer (36) der Zeitschrift Storia della citta, 1986, die dem Thema "Citta e campagne in Europa (1350 - 1800 circa)" gewidmet ist. n Siehe die unter FN 4 und 5 angeführten Arbeiten. Darüber hinaus zu besonderen Aspekten: P. Racine, Plaisance du x• a la fin du XIII• siecle. Essai d'histoire urbaine, 3 Bd., Lille I Paris 1980; A. Grohman, Citta e territorio tra Medioeva ed eta moderna (Perugia, secc. XIII- XVI), Perugia 1981. 12 Übersicht und Bibliographie bei G. Chittolini, Signorie rurali e feudi alle fine del Medioevo, in: Galasso (FN 4), S. 591 - 676.

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11. und 12. Jh. gängig, um die allgemeine Verbreitung der Grundherrschaft, den notwendigen Bezug der Bauern und des Bodens auf eine grundherrschaftliche Gliederung zu bezeichnen. Ebenso allgemein setzt sich in Italien ab der späten Zeit der Kommunen diese ,städtische Form' der Organisation des Umlandes durch, dietrotzmancher Ausnahmen als gleichermaßen typischer territorialer Bezugsrahmen empfunden wird.

n. Das alles trägt dazu bei, die im Prozeß der politischen Neugliederung der spätmittelalterlichen Jahrhunderte zwischen Italien und Europa hervorgetretenen Unterschiede hervorzuheben. Jenseits der Alpen faltet sich dieser Prozeß in einen Gegenstand aus, in dem auf der einen Seite die großen oder kleinen Städte stehen, die diesen Prozeß weder steuern können noch wollen. Auf der anderen Seite aber widerstreiten und widerstehen sie jenen anderen Kräften (Souveränen, Landesfürsten), die Träger jenes Prozesses sind und entschieden bestrebt waren, einheitliebere und zentralisiertere Herrschaftsstrukturen zu schaffen. Die Lagen sind sehr vielschichtig. Dem König von Frankreich oder den iberischen Souveränen können die Stadtzentren entgegentreten, um bestenfalls eine höhere Stufe der Autonomie zu erreichen. Mit ungleich größerer Kraft und Entschlossenheit begegnen die flämischen Städte ihren Fürsten, um ihre erworbene Stellung der Halbunabhängigkeit zu verteidigen. Wieder anders ist die Lage der deutschen Städte (sie ähnelt manchmal der der italienischen). Aber auch die Freien Städte und die Reichsstädte (ebenso wie, auf einer anderen Ebene, die Landesstädte) sehen sich Potentaten gegenüber (Landesfürsten oder dem Kaiserreich), die oftmals feindselig eingestellt und darauf bedacht sind, ihre Autorität gegenüber den Stadtzentren zu erweitern und zu festigen. Aber auch diese selbst streben es in der Regel nicht an, analoge und entgegengesetzte Territorialgefüge zu begründen (ein Weg, der in der Tat kaum praktikabel war und sich vielleicht auch nicht mit den wirtschaftlichen und politischen Richtungen vertrug, die von einem Großteil der herrschenden Stände geteilt wurden). Ziel bleibt es, jene Freiheiten zu bewahren, die sie verfassungsmäßig im Rahmen der Landesfürstentümer oder des Reichs im Verhältnis zu den anderen ständischen Kräften beanspruchen können. Dieses Bestreben bestimmt auch den Charakter der Städtebünde zur Verteidigung gemeinsamer Interessen gegenüber anderen, unterschiedlich gestaffelten, wirtschaftlichen und politischen Interessen13 • Hieraus ergibt sich auch die wachsende Bedeutung der Standesorganismen und Repräsen13 H. Maurer (Hrsg.), Kommunale Bündnisse Oberitaliens und Oberdeutschlands im Vergleich, 1987; R. Bordone, La citta comunale, in: P. Rossi (Hrsg.), Modelli di citta. Strutture e funzioni politiche, Turin 1987, S. 347- 370.

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tativversammlungen, institutionellen Stätten der Begegnung und des Austausches, die aus dem Miteinander von unterschiedlichen Kräften und Interessen innerhalb ein und desselben Verfassungsgefüges zwangsläufig hervorgehen. Die Städte sind demnach eher darauf aus, Prozesse der Staatenbildung zu hemmen und werden auch nicht zu deren Trägern. Im europäischen Lexikon der Geschichte kontrastieren die Begriffe Stadt und Staatsbildung. In Mittel- und Oberitalien bestimmen zwischen dem 12. und 15. Jh. die politischen Kräfte der Stadt weitgehend die politisch-institutionelle Dynamik. Politische Kräfte anderen Ursprungs sind nicht vorhanden oder spielen eine untergeordnete Rolle. In den Städtebünden oder vielmehr in den Bündnissen, zu denen sich verschiedene Städte zusammenschließen, formieren sich vor allem nach dem Verblassen der Reichsgewalt eher Stadtgemeinden gegen andere Stadtgemeinden als Städte gegen Fürsten. Die Auseinandersetzung findet innerhalb eines Städtesystems statt, zwischen politischen Organismen, die selber Interessen territorialer Eroberung vertreten und es mit Gegnern zu tun haben, die ähnliche politische Organismen darstellen. Hieraus ergibt sich das zerrissene und verworrene Bild der italienischen politischen Landschaft, vor allem im Bereich der Poebene, zwischen dem 13. und 14. Jh. Es entsteht der Eindruck eines chaotischen, unter Wiederholungen ablaufenden Reigens von Ereignissen, in einer Situation, die lange Zeit unbeweglich bleibt und keinerlei Entwicklungslinien erkennen läßt: Endlose Kämpfe zwischen einzelnen Städten spielen sich ab, Gruppen von Städten, die als Kommunen organisiert sind, dann ab der Mitte des 13. Jh. immer häufiger von einem Herrn geführt werden, treten in Gegensatz zu anderen. Es entstehen immer neue, aus mehreren Städten zusammengesetzte Territorialaggregate, die, zwar labil, bald wieder zerfallen und sich in unterschiedlichen Formen wieder zusammenfügen (stets aber bleibt der Stadtstaat, d.h . die Stadt mit dem untrennbar an sie gebundenen Territorium, die Grundeinheit jeder Aggregation und Dekomposition) 14 • Deutlich hervor tritt die Schwierigkeit, bei Fehlen von superiores oder äußeren Regulatoren, von vorgegebenen territorialen Bezugsrahmen neuen Gefügen eine feste Grundlage zu geben. Diese Gefüge hatten sich jedes Mal zu richten nach den inneren unterschiedlichen und widersprüchlich ablaufenden Kräfteverhältnissen der städtischen Welt, nach einer veränderlichen Hierarchie von Vorherrschaften, Hegemonien, nach Bündnissystemen, die zwischen verschiedenen Zentren verliefen. Innerhalb eines solchen Umfeldes von Auseinandersetzungen und Kämpfen setzten sich in den Städten monokratische Regierungsfarmen und institutionelle Gebilde durch (podesta, capitano del 14 "Die Dekomposition erfolgte nach Städten, genauso wie die schichtförmigen Felsen und Kristalle in ihrer ursprünglichen Entwicklungsrichtung brechen ... " : C. Cattaneo, La citta considerata come principio ideale delle istorie italiane, 1858, jetzt in: ders., Scritti storici e geografici, hrsg. von G. Salvemini und E. Sestan, Bd. II, Florenz 1957, s. 381- 437, s. 432.

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popolo), die in den Grundzügen, wie sie sich in Italien ausprägen, der übrigen europäischen Städtewelt unbekannt bleiben. Und in demselben Umfeld wächst auch allmählich das spezifisch italienische Institut der ,signoria' heran15 . Die Machtübernahme der Herren und Tyrannen in den italienischen Städten ist ein bedeutendes Ereignis, das mit der vorhergehenden politischen Tradition bricht und langfristige und weitreichende institutionelle Entwicklungen einleitet. Es veränderten sich nicht nur die Regierungsformen der Stadtzentren ("der Untergang der städtischen Freiheiten"). Unter dem neuen Regime fanden nicht nur einige ländliche Kräfte (adlige Führungsgruppen, aber auch kleinere Landgemeinden), die sich bislang der Stadtgemeinde strikt hatten unterordnen müssen, neue Spielräume16. Es gelang vor allem einigen der größten Stadtherrschaften (und zwar dort, wo zur Stärke der Stadt der Ehrgeiz energischer und aggressiver Herrscherdynastien hinzutrat) zu Aggregationspolen für andere Städte zu werden. Auf diese Weise entstanden mehrere Städte umfassende Herrschaften und, auf dem beschwerlichen oben nachgezeichneten Weg, stabilere Regionalstaaten. Dynastien dieser Art waren die Este, die Scaliger, die Carrara und vor allem die Visconti. Vornehmlich letztere standen im Mittelpunkt der zwischen Ende des 13. und Anfang des 15. Jh. in Mittel- und Oberitalien ausgetragenen Kämpfe17. Dennoch darf dabei ein Tatbestand nicht übersehen werden. Zwar entstammt der Stadtherr zuweilen den adligen und militärischen Führungsgruppen und übernimmt die Rolle des Statemakers. Dabei gerät er in Auseinandersetzungen mit anderen Herren und freien Stadtgemeinden und begründet einen ähnlichen Gegensatz zwischen Fürsten und Städten, wie er im übrigen Europa anzutreffen ist18. Dennoch hat dieser Stadtherr nichts mit den europäischen Landesherren und Landesfürsten gemein. Diese sind nämlich Ausdruck einer anderen Tradition von Territorialherrschaft, die sich unter ganz eigentümlichen Formen innerhalb gänzlich verschiedener sozialer und politischer Systeme durchgesetzt und entfaltet hat. Der italie15 Sestan, La citta comunale (FN 4), S.ll7- 120; Tabacco (FN 3), S. 352ff.; 0 . Capitani, Dal comune alla signoria, in: Galasso (FN 4), S . 137- 175; E. Artifoni, Tensioni sociali e istituzioni nel mondo comunale, in: Tranfaglia I Firpo (FN 2), S. 459- 491. Siehe auch die deutsche Ausgabe des wichtigen Aufsatzes von E. Sestan, Le origini delle signorie cittadine: un problema storico esaurito?, 1961, in: H. Stoob (Hrsg.), Altständisches Bürgertum, Bd. I, 1978, S. 346- 379, mit bibliographischen Zusätzen. 16 D. Waley, Die italienischen Stadtstaaten, 1969; Jones (FN 4), S. 296ff. ; Chittolini (FN 12), S. 615 - 638. 17 Die organischste und gleichzeitig detaillierteste Rekonstruktion dieses Zusammenhangs noch heute in: L. Simeoni, Le signorie, 2 Bd., Mailand 1950 und in: N. Valeri, L'ltalia nell'eta dei principati dal1343 al1516, 2. Aufl. Mailand 1969. 1s z. B. im Kampf zwischen Gian Galeazzo Visconti und Florenz Ende des 14. Jh.: H . Baron, The Crisis of the Early Renaissance: Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tiranny, 2. Aufl. Princeton 1966.

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nische Stadtherr geht vor allem aus der Entwicklung der städtischen Welt hervor, in dieser hat er seine Wurzeln. Er ist vornehmlich Ausdruck der sozialen und politischen Kräfte der Stadt. An die Spitze der Kommune gestellt, um die innere Ordnung zu bewahren und die Stadt durch die Kämpfe zu führen, die Italien zwischen dem 13. und dem 14. Jh. heimsuchen, bildet sich um ihn eine neue Regierungsform, die dem Schutz der Stände und der überkommenen Interessen dient. Die Institutionen der ,signoria' und des Prinzipats sind der Weg, auf dem das System der Stadtstaaten in der Poebene aus seiner Krise herausfindet. Sie schufen straffer gegliederte, feste und geordnete Territorialgefüge und erfüllten damit eine wesentliche Funktion. Sie führten, diesmal in territorialen und nicht mehr bloß städtischen Dimensionen, nach Maßgabe neuer Modelle neue Regierungsstrukturen ein, die den erheblichen Umbau des Sozialgefüges widerspiegelten und ihrerseits beförderten, ihnen standen aber, gestützt auf das schwerwiegende Erbe des ,Stadtstaates', starke festgefügte Interessenausprägungen, Aggregationen, Territorialgefüge entgegen, an denen sich ihre Erneuerungskraft vielfach brach19 .

m. Der Rahmen der politischen Ordnung Italiens im 15. Jh., in einem Zeitraum, wo das System der Regionalstaaten fest verankert ist, spiegelt die komplexe Struktur der neuen Organismen wider und legt den Blick frei auf die alten Schichtungen, über die jene sich geschoben haben. Die Halbinsel hat ein anderes geographisches Antlitz als zwei Jahrhunderte vorher: kein Mosaik von Stadtstaaten mehr, sondern einige große Staatenbildungen, die nicht nur durch größere Ausdehnung, sondern auch durch die Vielfalt und die Artikulierung der institutionellen Organisationsformen gekennzeichnet sind. Größere Stabilität weist nicht nur ihr inneres Gefüge auf, sondern auch das gesamte, von ihnen getragene politische System (das sogenannte ,italienische Gleichgewicht'). Die glorreiche und einzigartige Aufstiegsparabel des Stadtstaates ist beinahe überall abgebrochen, und die alten freien Kommunen sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu abhängigen und untertänigen Städten, zu Provinzen der neuen Staaten herabgesunken. Erst jetzt geraten sie in eine Lage, die mit der der übrigen europäischen Stadtzentren vergleichbar ist: Sie werden abhängig von der Autorität eines Fürsten (oder einer dominierenden Stadt). Es ist eine Autorität, die auf neuen 19 Die jüngste Zusammenfassung bei G. M. Varanini, Dal comune allo stato regionale, in: Tranfaglia I Firpo (FN 2), S. 693 - 724 (mit reicher Bibliographie). Siehe auch G. Chittolini (Hrsg.), La crisi degli ordinamenti comunali e le origini dello stato del Rinascimento, Bologna 1979; E. Fasano Guarini, Gli stati dell'Italia centro-settentrionale fra Quattro e Cinquecento: continuita e trasformazioni: Societa e storia VI (1983), s. 617 - 639.

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Legitimitätsgrundlagen aufbaut, weitgefaßte Souveränitätsvorrechte beansprucht und ein neues Herrschaftsbild darbietet (das drückt sich auch rein äußerlich in der Zelebrierung und Sublimierung jener Gestalten und Stätten aus, an denen die Herrschaft materiell greifbar ist). Vor allem beansprucht sie eigene und breitgefächerte Eingriffsbereiche (Gesetzgebung, Fiskus, Justiz, kirchliche Institutionen) und stellt neue Instrumente und neues Personal (Beamte, aber auch Hofleute, Prälaten usw.) für die Regierung bereit20 . Die alten, doch so weitreichenden städtischen Freiheiten werden stark eingeengt. Auch die Herrschaft der Stadt über den Contado gerät in Gefahr und bröckelt ab: In den ,podesterie' des Contado sind auswärtige Beamte tätig. Landgemeinden, Grundherren und Landbezirken werden vor allem während der ersten Aufbauphase der neuen Staaten größere Räume von Autonomie zuerkannt. Einige Staaten, besonders die der Visconti und der Sforza, beginnen eine regelrechte Feudalisierungspolitik und überlassen Grundherren, Condottieri, Höflingen und Gläubigern Gerichts- und Steuerrechte über Dörfer und Länder, die Teil der alten Stadtgebiete sind2 1 . Die Städte und ihre herrschenden Schichten sind sich der neuen Lage schmerzhaft bewußt. Überall ertönen Klagen ob der verlorenen Freiheiten, und lebendig bleibt im 15. Jh. und bis ins 16. hinein das Utopistische Bestreben, die volle Freiheit wiederherzustellen. Die Begründung der Regionalstaaten hat dennoch nicht den ,Untergang der Stadt' gegenüber dem ,Aufkommen des Staates' eingeläutet und jene feste Grundlage der städtischen Blüte ins Wanken gebracht, die in der Herrschaft über den Contado zum Ausdruck gekommen war. Zwischen regiona20 Diese Aspekte haben, unter dem Gesichtspunkt einer Entstehungsgeschichte des ,modernen Staates', Untersuchungen hervorgehoben wie die von A. Marongiu, Storia del diritto pubblico. Principi e istituti di governo in Italia dalla meta del IX alle meta del XIX secolo, Mailand I Varese 1956 (s. z.B. S. 238ff. über den Staat der Visconti) oder G. Astuti, La formazione dello stato moderno in Italia, Turin 1953. Siehe auch über die Literatur der vorangegangenen Jahrzehnte: F. Chabod, Gli studi di storia del Rinascimento, in: C. Antoni IR. Mattioli (Hrsg.), Cinquant'anni di vita intellettuale italiana, 1896- 1946, Bd. I, 2. Aufl. Neapel1966, S.125- 238, vor allem S. 207ff. Von demselben Autor eine Auseinandersetzung über die Neuheiten und Anzeichen von ,Modernität' in den Staaten der Renaissance: Y a-t-il un Etat de la Renaissance? in: De Petrarque a Descartes, Bd. III, Actes du Colloque sur la Renaissance, Paris 1958, S. 57- 78 (beide jetzt in F. Chabod, Scritti sul Rinascimento, Turin 1979, S.147- 219 und S . 591 - 623). Ein wichtiger Beitrag zur Entstehung des modernen Staates, insbesondere des Kirchenstaates (ein sehr eigentümlicher Staat, der jedoch allgemeine Entwicklungen vorwegnimmt) ist die jüngst erschienene Arbeit von P. Prodi, Il sovrano pontefice. La monarchia papale nella prima eta moderna, Bologna 1982. Über die fürstlichen Höfe - die auch unter sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten heute großes Interesse finden- siehe P. Merlin, Il tema della corte nella storiografia italiana ed europea: Studi storici XXVII (1986), S. 203 - 244. Siehe auch verschiedene Hinweise zur Symbologie der Herrschaft in den republikanischen Staaten in: E. Mui r, Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton 1981 und R. Trexler, Public Life in Renaissance Florence, New York 1980. 21 G. Chittolini, La formazione dello stato regionale e le istituzioni del contado, Turin 1979, besonders S. 36ff.; ders. (FN 12), S . 639ff.

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ler Herrschaft und Stadt hat sich eine Art Teilung und wechselseitige Ergänzung von Funktionen und Gewalten eingespielt, im Gefolge jenes alten Vertrages, auf dessen Grundlage die Stadtzentren seit dem 13. Jh. die Autorität eines ,dominus' anerkannt und in d er ,signoria' ein stabileres und sicheres Ordnungsgefüge gesucht hatten. Dem Fürsten wird die Autorität zuerkannt, die er braucht, um die alten Bedürfnisse der städtischen Welt zu befriedigen: Ordnung nach innen, Verteidigung und Frieden nach außen, ein neues territoriales Gleichgewicht (und das sind in der Tat die Aufgaben, die die neuen Regimes wahrzunehmen haben)2 2 • Was die inneren Ordnungen betrifft, so sieht der Vertrag die Anerkennung und Legitimierung der alten Kernstücke politischer Organisation vor- vor allem der Städte-, wobei die Freiheitssphären innerhalb einer artikulierten und elastischen Struktur weit bemessen sind23. Nach der relativ zentralistischen und ,totalitären' Erfahrung des Stadtstaates gewinnt der Regionalstaat nunmehr eine Physiognomie, die vielleicht als "dualistisch" bezeichnet werden kann. Mit jener anderer europäischer Gebiete verbindet sie, daß sich einerseits eine überstädtische Zentralautorität und andererseits eine Reihe von Territorialkörpern gegenüberstehen und austarieren, die ihre Kompetenzen und Rechte wechselseitig definieren24 • Aber eben dieser ,Dualismus', auf den 22 N. Valeri, La liberta e la pace. Orientamenti politici del Rinascimento italiano, Turin 1942, S. 71 ff. 23 Über Wirkungsbereiche und Grenzen der Herrschaftsausübung des Fürsten (oder der .,dominanten" Städte) in den spätmittelalterlichen Staaten siehe verschiedene Hinweise in: J. Macek , Il rinascimento italiano, Rom 1972; B. Pullan, A History of Early Renaissance Italy, London 1973, S. 299- 301; Jones (FN 4), S. 343- 353; Tabacco (FN 37), S. 393- 395. Über den Staat Mailand einige Hinweise bei G. Chittolini, Governo ducale e poteri locali, in: Gli Sforza a Milano e in Lombardia e i loro rapporti con gli Stati italiani ed europei (1450 - 1535), Mailand 1982, S. 27 - 41 (vgl. auch G. Soldi Rondinini, Saggi di storia e storiografia visconteo-sforzesche, Mailand 1984, S. 21ff., mit reicher Bibliographie); über die Republik Venedig siehe J. E. Law, Un confronto fra due stati ,rinascimentali' : Venezia e il dominio sforzesco, in: Gli Sforza, ebd., S. 397- 413; J. S. Grubb, Alla ricerca delle prerogative locali: la cittadinanza a Vicenza, 1404 - 1509, in: G. Cracco IM. Knapten (Hrsg.), Dentro lo .,Stado italico". Venezia e la Terraferma fra Quattro e Seicento, Trient 1984, S. 17- 31 (von Grupp siehe auch: When Myths lose powers: Four Decades of Venetian Historiography: The Journal of Modern History 58 [1986], S. 34- 94). Besonders wichtig für die Erhellung der Verhältnisse zwischen Venedig und dem Festland sind die Studien von G. Cozzi, Ambiente veneziano e embiente veneto. Governanti e governati nel dominio di qua dal Mincio nei secoli XV-XVIII, in: G. Arnaldi I M. Pastore Strocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta, Bd. IVI2, Vicenza 1984, S. 495- 539; ders., Repubblica di Venezia e stati italiani. Politica e giustizia dal secolo XV al secolo XVIII, Turin 1982. Einschränkend über die Selbstbestimmung der Stadtzentren und Territorien des Veneto A. Ventura, Politica del diritto e amministrazione della giustizia nelle Repubblica di Venezia: Rivista storica italiana XCIV (1982), S. 599ff., wobei er auf Thesen Bezug nimmt, die er verfochten hat in seinem Buch: Nobilta e popolo nella societa veneta del '400 edel '500, Bari 1964. 24 Chittolini, Einleitung zu: La crisi degli ordinamenti comunali (FN 19), S. 38ff. Über die spezifische Bedeutungsschattierung, die der Ausdruck .,Dualismus" in der deutschen historiographischen Tradition je nach den institutionellen und territorialen Gefügen einnimmt, auf die er sich bezieht, siehe G. Nobili Schiera, A proposito della traduzione recente di un'opera di 0 . Brunner, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts IX (1983), S. 391- 412.

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sich in vielen europäischen Räumen die Staatsordnungen der frühen Neuzeit gründen, faltet sich in Italien in ein Polaritätsverhältnis auseinander, in dem sich Fürsten (oder herrschende Städte) auf der einen und im wesentlichen die Städte in ihrer überkommenen Physiognomie als territoriale Hauptstädte auf der anderen Seite gegenüberstehen. Daß Repräsentativinstitutionen in den mehrständischen Ausprägungen, wie sie in anderen europäischen Gebieten zur Gewohnheit geworden waren, nicht vorhanden sind, hängt nicht bloß mit der Schwierigkeit zusammen, in Mittel- und Oberitalien nunmehr Institutionen aus dem Boden zu stampfen, die ihrer politischen Tradition fremd sind. Ein entscheidender Grund dafür ist vielmehr das starke Bestreben der Städte gegenüber dem Fürsten oder der herrschenden Stadt als alleinigen Repräsentanten des gesamten Territoriums, als deren privilegierter Gesprächspartner aufzutreten25 . Diese Tradition findet ihrerseits eigene und andere Kanäle als "Stände" oder ,Parlamente', so zum Beispiel die periodischen Kapitulationen oder die Praxis der Gesandtschaften, um jene Ansprüche aufrechtzuerhalten, zu ,repräsentieren' und zu vertreten, die ihrer Meinung nach auf unbestreitbaren Rechten beruhen, die von den neuen Regimen genau in dem Augenblick anerkannt werden, in dem die Städte deren Souveränität akzeptiert haben26 . In der Tat werden die alten Institutionen der Stadtgemeinden (Statuten, Ratsversammlungen, Ämter) neben den Einrichtungen der Zentralregierung geduldet und anerkannt. Im Bereich der Selbstverwaltung werden ihnen von Rechts wegen oder faktisch weitreichende Zuständigkeiten eingeräumt. Als Gesamtbild ergibt sich eine Art von "Diarchie", wie dieses System zuweilen definiert worden ist. Im besonderen aber behält die Stadt (wenngleich je nach Gebiet unterschiedlich wirksam) eine breite Kontrolle über ihren alten Contado- und dies ist wohl der bedeutungsvollste Aspekt, das festeste Fundament der hervorgehobenen Stellung der Stadt27. Die alten 2s Zur Verbreitung und zu den Merkmalen der repräsentativen Institutionen in Italien, siehe H. Königsberger, Parlamenti e istituzioni rappresentative negli antichi stati italiani, in: Dal feudalesimo al capitalismo (FN 4), S. 577- 613. Vgl. auch W. Blockmans, A Tipology of representative institutions in late Medieval Europe: Journal of Medieval History IV (1978), S. 189- 215. Bezeichnenderweise haben es die Organismen "Contadi" und "Territori" (jeweils im Staat Mailand und in der Republik Venedig) schwer, sich bei der Aufteilung der Steuerlasten als Repräsentativorgane der Landgemeinden im Gegensatz zu den Stadtzentren zu konstituieren - ein Prozeß, der sich erst Ende des 16. Jh. entfaltet: s. den monographischen Band von Studi bresciani 13 (1983), mit Beiträgen von D. Parzani, A. Rossini, B . Molteni, M. Occhielli, C. Porqueddu, G. Chittolini und M. Knapton, 11 Territorio vicentino nello Stato veneto del '500 e primo '600: nuovi equilibri politici e fiscali, in: Dentro lo "Stado italico" (FN 23), S. 33 - 115. 26 Einige Hinweise bei G. Chittolini, I capitoli di dedizione delle comunita Iombarde a Francesco Sforza: motivi di contrasto fra citta e contado, in: Felix olim Lombardia. Studi di storia padana dedicati a G. Martini, Mailand 1978, S. 673- 698; A. Menniti Ippolito, Le dedizioni e lo stato regionale. Osservazioni sul caso veneto: Archivio veneto, s. Bd. CXXVI (1986), S. 5- 30. 27 M. Berengo, La citta di antico regime: Quaderni storici IX (1974), S. 662- 692; ders., Citta e contado dal XV al XVIII secolo: Storia della citta 36 (1986), S. 107- 111;

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Stadtstaaten sind ohne große territoriale Veränderungen für gewöhnlich Provinzen der neuen Regionalstaaten geworden (teilweise ausgenommen, vor allem Anfang des 15. Jh. , die Toskana 28.) Die Selbstverwaltung von Landgemeinden und Landbezirken, von Gebirgslandschaften und herrschaftlichen Einsprengseln haben die zentralen Gebiete der alten Contadi nicht wesentlich angegriffen. Sie sind an deren Rand geblieben oder stellen begrenzte Immunitätsinseln dar. Wo das Lehen sich wie in der Lombardei bis in das Herz der alten Stadtgebiete hinein erstreckt hat, wird es zunehmend durch Normen geregelt, die es in die Regierungsstrukturen einfügen29 . Die Städte werden automatisch und natürlich als jeweilige kleine Hauptstädte der neuen Provinzen anerkannt: nicht als neutrale Verwaltungshauptstädte, sondern als Organismen, die über eigene Vollmachten und über die Autorität verfügen, sie geltend zu machen. Im Bereich der Gerichtsbarkeit wird weiterhin im gesamten Provinzterritorium dem Statut, dem Gericht und dem Juristenkolleg der Stadt Vorrang eingeräumt. Es kommt nicht selten vor, daß die Bürger, auf Bestimmung der Zentralregierung hin oder aufgrunddes den Stadträten zuerkannten Ernennungsrechts, die Justiz in verschiedenen Zentren des Umlandes weiterhin selbst verwalten3o. Im steuerlichen Bereich behalten die Stadträte ihr Gewicht als Verhandlungspartei bei der Bestimmung der global für die Provinz festgesetzten Steuerlast. Auch üben sie weitgehenden Einfluß auf die Aufteilung der Last zwischen Stadt und Umland aus, auf die Wahl der Best~uerung, auf die Kriterien der Lastenaufteilung zwischen den Landgemeinden, auf die Erhebungsmechanismen und die Zollkonzessionen31 . Analoge Kompetenzen und Eingriffsinstrumente fallen ihnen in Sachen Getreide- und Wasserwesen sowie StraF. Bocchi, Citta e campagne nell'Italia centro-settentrionale (secc. XIII- XIV), ebd., S. 101- 104; Chittolini, La formazione dello stato regionale (FN 21), S. XXI- XXXIII; Pini (FN 4), S. 505ff.; Varanini (FN 19). 28 E. Fasano Guarini, Citta soggette e contadi nel dominio fiorentino tra Quattro e Cinquecento: il caso pisano, in M. Mirri (Hrsg.), Ricerche di storia moderna, Bd. I, Pisa 1976, S. 1 - 94. 29 C. Magni, Il tramonto del feudo lombardo, Mailand 1937, S. 152- 173; G. Petronio, Giurisdizioni feudali e ideologia giuridica nel duccato di Milano: Quaderni storici IX (1974), S. 351- 402; Chittolini (FN 9). 30 Cozzi, La politica del diritto nella Repubblica di Venezia, in: ders., Repubblica di Venezia (FN 23), S. 217- 318; A. Mazzacane, Lo stato eil dominio nei giuristi veneti durante il "secolo della terraferma", in: Arnaldi I Pastore Strocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta, Bd. IIII1, Vicenza 1980, S. 577- 650 ; G. M. Varanini, Il distretto veronese nel Quattrocento. Vicariati del comune di Verona e vicariati privati, Verona 1980; M. C. Zorzoli, Il collegio dei Giudici di Pavia e l'amministrazione della giustizia. Le basi normative, dallo Stato visconteo alle Nuove costituzioni: Bollettino della Societa pavese di storia patria LXXXI (1981), S. 56 - 90. 31 M. Knapton, Il fisco nello stato veneziano di Terraferma tra "300 e "500: la politica delle entrate, in: G. Borelli I P. Lanaro I F . Vecchiato (Hrsg.), Il sistema fiscale veneto. Problemi e aspetti, XV- XVIII secolo, Verona 1982, S. 17- 57; G. Martini, L'amministrazione finanziaria del dominio visconteo, in: Giuseppe Martini. Scritti e testimonianze, Rom 1981, S. 325- 336.

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Benbefestigung zu. Zur Vorrangstellung, die die Stadtgemeinde gegenüber dem Umland bewahrt, gesellt sich ein dauerhaftes Privileg der cives gegenüber den Landbewohnern (comitatini). Das gilt für die Handels- und Gewerbetätigkeiten, für die Rechte der städtischen Handelskollegien und Zünfte32, für die Besteuerung. So werden zum Beispiel die ,städtischen' (d. h. von den Stadtbürgern besessenen) Güter weniger besteuert als die ,ländlichen' (d.h. die von den Einwohnern des Contado besessenen). Endlich kommt das Privileg in den Gerichtsverfahren der cives als Landbesitzer gegen die rustici laboratores terrarum zum Ausdruck (damit hängt dann auch die Erweiterung des städtischen Grundbesitzes in den ländlichen Gebieten zwischen dem 15. und 16. Jh. zusammen)33. Der Raum des städtischen Privilegs hat nicht nur in den verschiedenen Regionen der Halbinsel von Fall zu Fall unterschiedliches Ausmaß, er findet auch an einer gewissen Ausgleichsfunktion der Regionalregierung seine Grenze34. Vielfach bedrohen ihn innere Zersetzung und tiefe Einschnitte. Der ständige und intensive Dialog, der zwischen untertänigen Städten und Regionalstaaten während des ganzen 15. Jh. stattfindet, erlaßt die einzelnen Fragen der Verwaltungs- und Steuerkontrolle des Contado, die Gerichtsprärogativen, die Bedingungen des städtischen Grundbesitzes, die Privilegien betreffend Getreideabgaben, Handel und Gewerbe. Das sind die großen Themen der Auseinandersetzung. Sie werden beständig neu definiert und umgearbeitet. Der Regionalstaat wächst sozusagen aus sich selbst heraus. Zwar verfolgt der Regionalstaat von sich aus keineswegs das Ziel einer kapillaren Durchdringung oder Zentralisierung des Verfassungsgefüges, vielmehr gestattet er es den Untertanen in weitgehendem Maße, jene Fragen, die seine primären Vorrechte nicht berühren, unter sich zu regeln. Und dennoch ist er bestrebt, seinen Handlungsbereich, vor allem in Steuersachen, zu erweitern, schon um jene Funktionen zu gewährleisten, die ihm die Städte selbst antragen. Überdies sind die institutionellen und territorialen Gliederungen nur eines jener Elemente, die heranzuziehen sind, wenn man das Gewicht der Städte und der herrschenden städtischen Schichten innerhalb der neuen politischen Ordnungen der Renaissance richtig einschätzen will. 32 Trotz der Schwierigkeiten und Beschränkungen, verursacht durch wirtschaftliche Aktivitäten im Zusammenhang mit den Handels- und Handwerksaufgaben innerhalb der Regionalstaaten: P . Malanima, La formazione di una regione economica: la Toscana nei secoli XIII- XV: Societa e storia VI (1983), S. 229- 269; M. Knapton, City Wealth and State Wealth in Northeast Italy, 14th - 17th centuries, in: N. Bulst I J. Ph. Genet (Hrsg.), La ville, la bourgeoisie et la genese de l'etat moderne (XII• - XVIII• siecles). Actes du colloque de Bielefeld, Paris 1988, S. 183210. 33 G. Cherubini, La proprieta fondiaria nei secoli XV e XVI nella storiografia italiana: Societa e storia I (1978), S . 9 - 33. 34 Siehe z.B. L. E. Law, "Super differentiis agitatis Venetiis inter districtuales et civitatem". Venezia, Verona e il contado nel '400: Archivio veneto, s. V, Bd. CXVI (1981), s. 5 - 32.

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In diesem Zeitraum wird zum Beispiel das Beziehungsnetz zwischen Familien und Personen auf der Grundlage von Klientel, Parteiung und Verwandtschaft breiter und engmaschiger. Die großen Patrizierhäuser, die Fürstendynastien oder politischen Mittelpunkte wie der römische Hof sind die Knotenpunkte. Neue Privilegienräume zeichnen sich ab, neue Mechanismen gesellschaftlichen Aufstiegs setzen sich in Bewegung, die die Horizonte der Stadt übersteigen und in viel größerem Ausmaße Eliten heranbilden und in Bewegung setzen. Diese Prozesse scheinen sich im Laufe des 16. Jh. zu verstärken. Ebenso wird die institutionelle Dynamik im neuen Jahrhundert, innerhalb der Situation, in der die Halbinsel während und nach den italienischen Kriegen stehen wird, stark beschleunigt35 . Dennoch ist es der Bipolarismus von Stadtzentren und Regionalregierungen, der den Rahmen der politischen Ordnungen nachhaltig prägt. Die Züge der Stadt, die Umrisse des Stadtstaates treten weiterhin deutlich hervor. IV.

Bezeichnend für diese Kraft der Stadt, für ihre territoriale und staatliche Ausrichtung, ist ein andersartiges Element der politischen Geographie Italiens in der Renaissance im europäischen Rahmen gesehen: die schon erwähnte Gegenwart einiger großer Staaten regionalen Ausmaßes, die von den ,dominant' gewordenen alten Stadtrepubliken und ihren Oligarchien regiert werden. Das gilt für Florenz bis zu den dreißiger Jahren des 16. Jh. und vor allem für Venedig, dessen Macht die ganze Neuzeit überdauert. In diesen Fällen haben es die alten städtischen Organismen verstanden, unter Rückgriff auf die Stärke der alten städtischen Tradition, sich in Regierungsstrukturen umzuwandeln, die Territorien großen Ausmaßes zu beherrschen vermochten. Die alten herrschenden Schichten der Stadtgemeinde haben sich über den örtlichen Bereich hinaus als Führungsschichten zu etablieren vermocht. Dabei bewiesen sie erstaunliche Energie und Entschlossenheit sowie eine bemerkenswert anpassungsfähige und umfassende Strategie. Eine Hauptströmung der Historiographie sieht in der Gestalt des Fürsten das eigentümlichste und am stärksten erneuernd wirkende Element in Italien zwischen dem 15. und dem 16. Jh. Zum einen hatte er Ähnlichkeit mit Regierungsformen, die sich woanders durchgesetzt hatten, zum anderen wies er eine Physiognomie auf, die eben für Italien eigentümlich war. Aber der Fürst der Renaissance ist nicht so sehr als Moment eines Prozesses zu sehen, der zur Bildung fester und zentralisierter ,absolutistischer' Ordnungen führt. Vielmehr erweist er sich- und so beschreibt ihn, soweit ich sehe, auch Machiavelli36- als eine Gestalt, die in der Lage ist, ein zerbrechliches 35

Fasano Guarini (FN 19), S. 632ff.

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und unzulänglich verbundenes politisches Gefügekraft persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten und nicht so sehr durch die Wirksamkeit eigener und spezifischer staatlicher Instrumente zusammenzuhalten. Die Strukturen der fürstlichen Regierungen, die Höfe und die Verbindungen, die um diese herum verlaufen, auch das neue Bild von Souveränität, das das Fürstentum vorstellt, schlagen nur schwer Wurzeln in einem Boden, der aufgrund alter politischer und kultureller Tradition nur wenig aufnahmebereit und nachgiebig ist. Die Dauerhaftigkeit des fürstlichen Regimes, die Durchschlagskraft ihres Handelns, die Neuheit der politischen, territorialen und sozialen Gliederungen, die sie einzuführen trachten, gehen daraus geschwächt hervor. Das wird in vielen geschichtlichen Abschnitten der Fürstentümer, der Este, Visconti oder Sforza, im 15. Jh. deutlich3 7 • Auch die Republik Florenz oder die ,Serenissima signoria' Venedig begründen keine neuen und einheitlichen Staatsverbände (ebensowenig gelingt es ihnen, jene bruchstückhaften Territorialstrukturen zusammenzufassen, die die Tradition des Stadtstaates sowohl auf dem Festland der Republik Venedig als auch in der Toskana am Leben erhält). Es scheint vielmehr ihrer Absicht fernzuliegen, abgesehen vielleicht von einem kurzen Abschnitt in der florentinischen Politik, radikal erneuernde territoriale Regierungssysteme und politische Ordnungen zu schaffen. Ihr Ziel scheint es vielmehr zu sein, Hegemonien, die bereits in begrenzterenRäumen gefestigt sind, auf regionale Dimensionen auszudehnen und in ihnen Instrumente territorialer Regierung zur Anwendung zu bringen, die bereits weitgehend erprobt sind. Dennoch bieten sie sich, vielleicht gerade deshalb, im 15. Jh. als festgefügte und widerstandsfähige politische Organismen dar, die imstande sind, relativ wirkungsvolle Strukturen regionaler Regierung aufzubauen. Paradoxerweise war die staatliche und territoriale Ausrichtung von Florenz und vor allem von Venedig anfangs rec}?.t schwach gewesen. Wie andere Städte ausgesprochen kaufmännischer Prägung (Genua und Pisa, zum Beispiel), geographisch am Rande des in der Po-Ebene gegründeten Systems von Stadtstaaten gelegen und andererseits fest in das mediterrane und europäische Handelsnetz eingebunden, hatten sie sich im Zeitalter der Kommunen weniger auf territoriale Eroberungen in den umliegenden Gebieten, als vielmehr auf eine Politik konzentriert, die den Abschluß von Handelsverträgen, 36 F. Chabod, Del ,Principe' di Niccolo Machiavelli (1925), jetzt in ders., Scritti sul Machiavelli, Turin 1964, besonders S. 31ff.: P. Anderson, Lineages of the Absolutist State, London 1974, S. 163- 168. 3i Über den Einfluß, den Feldherrn-Fürsten auf das politische Leben Italiens ausüben, auch wenn sie nicht von starken Staatsgefügen getragen werden, siehe A. K. Isaacs, Condottieri, stati e territori nell'Italia centrale, in: G. Cerboni I G . Chittolini I P. Floriani (Hrsg.), Federico di Montefeltro. Lo stato, le arti, la cultura, Bd. I, Rom 1985, S. 23- 60.

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also umfassendere und fernere Ziele, im Auge hatte. Ihnen ging es um die Errichtung von Handels- und Finanzhegemonien, bei Gelegenheit auch von Kolonien und Seestützpunkten bis in den fernen Osten hinein. Auch ihre innere politische Entwicklung unterschied sie von den Zentren der PoEbene. Die republikanischen Institutionen erwiesen sich als vitaler und widerstandsfähiger. Die Signoria fehlte ganz oder vermochte es nicht, Fuß zu fassen (das notwendige Gleichgewicht der inneren Gliederungen wurde in anderer, zumeist oligarchischer Form gesichert). Zudem bestanden starke Handelspatriziate und, damit zusammenhängend, festgegründete und politisch überaus aktive Korporationsorganismen. Diese Grundzüge rücken sie in die Nähe anderer großer europäischer Handelszentren. Über lange Zeit hinweg hatten sie sich an einer territorialen Expansion wenig interessiert gezeigt. Ihr Augenmerk war vielmehr auf eine Politik der Abkommen und der Bündnisse38 , auf die Bewahrung eines aus freien Kommunen oder kleinen städtischen und ländlichen Herrschaften zusammengesetzten neutralen Raums gerichtet gewesen. Als sie sich aber, zwischen Ende des 14. und Anfang des 15. Jh. starken und aggressiven Signorien und vor allem der entschlossenen und systematischen Expansionspolitik der Visconti gegenüberfanden, begannen Florenz und Venedig sich in große Territorialstaaten umzuwandeln und weitreichende, straff gegliederte Herrschaftsgebiete zu gründen. Das war innerhalb der politischen Ordnungen Italiens zur notwendigen Überlebensbedingung geworden. Florenz hatte bereits im Laufe des 14. Jh. seine Kontrolle auf einige Zentren der Toskana (Pistoia, Arezzo, Prato, San Gimignano, Volterra) ausgedehnt, deren Ausübung jedoch zwischen regelrechter Herrschaft und einfachem Protektorat die Mitte behielt. Innerhalb von dreißig Jahren auf den Eroberungsversuch von Gian Galeazzo Visconti reagierend, besetzte es jedoch andere Territorien (besonders den Raum Pisa, darüber hinaus Cortona und verschiedene Appenninländer) und dehnte den eigenen Herrschaftsraum beträchtlich aus, etwa auf 12 000 Quadratkilometer. Vor allem brachte es eine Reorganisierung der Verwaltung und des Steuerwesens auf den Weg, die der Stadt eine sehr viel tiefgreifendere Kontrolle ihres neuen Staates sicherte39. Venedig, das jahrhundertelang keine Herrschaft auf dem Festland angestrebt hatte (sein Gebiet umfaßte bekanntlich lediglich einen schmale Landzunge unmittelbar an der Lagune und erst ab 1339 den Raum um Treviso), wurde innerhalb von wenigen Jahren, zwischen 1404 und 1428, zur stärksten italienischen Territorialmacht Die Entscheidung war schwer umkämpft. An ihr entzündeten sich scharfe Gegensätze innerhalb der Füh38 T. Dean, Venetian Economic Egemony: the case of Ferrara, 1220- 1500: Studi veneziani, n.s., XII (1986), S . 45- 98; A. Vasina, Ravenna e Venezia nel processo di penetrazione in Romagna della Serenissima (secoli XIII- XIV), in: D. Bolognesi (Hrsg.), Ravenna in eta veneziana, Ravenna 1986, S. 11 - 29. 39 Chittolini (FN 21), S. 293- 352.

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rungsschicht Venedigs, denn sie bedeutete den Bruch mit politischen Traditionen, die das Commune Venecianum über Jahrhunderte hinweg beibehalten hatte4o. Die meisten hielten jedoch diesen Bruch für unumgänglich. Zwischen 1404 und 1428 eroberte Venedig Vicenza, Feltre, Belluno, Verona, Padua, die Patria des Friaul und, jenseits des Gardasees, die Provinzen Brescia und Bergamo. Dabei schob es seine Grenzen bis auf15Meilen an Mailand heran und erreichte eine Ausdehnung von ungefähr 30 000 Quadratkilometern, schätzungsweise den Umfang, den es im Jahre seines Falles, 1797, aufwies. Eine ausgedehnte Territorialherrschaft begründen hieß aber wenigstens anfänglich weder für Florenz noch viel weniger für Venedig, auf ihre alte Stellung als große Handelszentren Verzicht zu leisten. Die Landherrschaft war im Gegenteil als Voraussetzung und Bedingung gedacht für die Möglichkeit, in Frieden und ohne Bedrohungen den Weg intensiver wirtschaftlicher Tätigkeit fortsetzen zu können. Dennoch schlugen die großen venezianischen und florentinischen Oligarchien innerhalb des staatspolitischen Systems Italiens einen Weg ein, der weitab lag von dem der anderen großen europäischen Handelszentren41 . Diese fanden die Bedingungen für eine intensive wirtschaftliche Tätigkeit (und breite Räume für Selbstbestimmung) dank einer privilegierten Stellung innerhalb größerer Staaten (dem Reich, Fürstentümern, Königreichen) oder in städtischen Bündnis- und Föderationssystemen wie der Hanse bereits vorgegeben42 . Florenz und Venedig wurden ihrerseits zu großen Regionalstaaten. Das ist ein eigentümliches Ergebnis, das kaum ein Gegenstück von einiger Bedeutung im institutionellen Panorama des Kontinents hat und auch mit anderen Staatenbildungen kaum zu vergleiChen ist, in denen die Freiformen des Stadtstaates auf die eine oder andere Weise überdauerten (der Schweizer Eidgenossenschaft zum Beispiel und später der Republik der Vereinigten Niederlande). (Und die Unterschiede zu den großen europäischen Handelsemporien sollten noch zunehmen, ]..tnd zwar in dem Maße, wie in Venedig und Florenz neue, ,territoriale', Interessen aufkamen, die Grundbesitz, Ämterausübung, Pfründenverwaltung betrafen. Sie veränderten deren Physiognomie in dem Maße, wie die alten Möglichkeiten als Handels- und Manufakturzentren zwischen dem 16. und 17. Jh. 40 G. Cozzi, Politica, societa, istituzioni, in: G. Cozzi und M. Knapton, La Repubblica di Venezia nell'eta moderna, Turin 1986, besonders S. 3ff. 41 Anders bei Genua, das seine territoriale Expansion auf den ligurischen Küstenstrich beschränkte: begünstigt durch die geographische Lage, geschützt durch die Kette des Apennins, aber vor allem durch das weitgespannte Netz von Beziehungen und Bündnissen, in das die Stadt und ihre Aristokratie sich eingebunden hielten: vgl. J. Heers, Genesau XV• siecle. Activite economique et problemes sociaux, Paris 1961; V. Piergiovanni, Il sistema europeo e le istituzioni repubblicane di Genova nel Quattrocento: Materiali per una storia della cultura giuridica XIII (1983), S . 3 - 46. 42 Th. Brady, Turning Swiss, Cities and Empire, 1450- 1550, Cambridge 1985; Ph. Dollinger, La crisi del modello repubblicano: patriziati e oligarchie, in Tranfaglio/ Firpo (Hrsg.), La storia, Bd. III: L'eta moderna. I quadri generali, Turin 1986, S. 553584.

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dahinschwanden43 . Aber gerade auf diesen neuen Grundlagen, so kann män hinzusetzen, gründete in den Jahrhunderten der Neuzeit weitgehend ihr Wohlstand). Bedeutsam ist jedenfalls die Tatsache, daß die alten kommunalen Organismen dieser Städte und die sie führenden Aristokratien in bezugauf das Aufkommen dieserneuen territorialpolitischen Interessen relativ einschneidende und festgefügte Strukturen regionaler Regierung zu entwickeln vermochten. Das war aber nicht, wie gesehen, der Schaffung eines neuen Stadttypus und auch nicht der Zusammenfassung der verschiedenen Territorien des Herrschaftsgebietes und ihrer führenden Schichten in einen neuen einheitlichen und kompakten politischen Körper zu danken. Die untertänigen Städte und die Provinzialaristokratien blieben in weit größerem Maße, als dies bei den fürstlichen Regimen der Fall war, von der Regierung des Staates ausgeschlossen. Wie Machiavelli zutreffend bemerkte, hielt man sie in einem größeren Verhältnis der Unterordnung als in den Fürstentümern (und in diesem Willen zur Hegemonie und zur Ausgrenzung ist oft die während der gesamten Neuzeit nicht überschrittene innere Grenze der venezianischen Verfassung, der Grund ihrer Unbeweglichkeit und ,Schwäche' gesehen worden). Aber im 15. Jh. scheint der Bestand der Stadtrepubliken gerade auf der Fähigkeit zu beruhen, Energien und Willensakte freizusetzen, die zugleich öffentlich und privat sind und bei den Vertretern der herrschenden Oligarchien eng ineinander verwoben sind. Was im 13. und 14. Jh. für die Kommunen der Contado gewesen war, umfing nunmehr den gesamten Herrschaftsbereich (nicht von ungefähr bezeichnen die florentiner Urkunden Anfang des 15. Jh. die neuerworbenen Provinzen und Städte als "verum et originale territorium et comitatus de territorio et comitatu civitatis Florentiae"). Damals wie jetzt ist dieses sowohl für die Kommune als auch für die cives von vitaler Bedeutung. Das ist das Gebiet, auf dem sie ihren Grundbesitz ausdehnen, das Gebiet, das ihren Markt mit Getreide versorgt, Waren und Produkte liefert (dabei sind wohlgemerkt Regeln zu beachten, die verhindem sollen, daß den städtischen Zünften und Kollegien Schaden erwächst). Es ist ein großes Sammelbecken von Pfründen und Kirchenbesitzeinkommen, ein Gebiet, das durch gewinn- und prestigeträchtige Ämter zu verwalten ist44. Jetzt wie damals setzen der "Regierungsbetrieb" und die "Staatsbewahrung" in großem Ausmaß soziale und politische Kräfte in Bewegung (die jedoch auf die Oligarchien beschränkt bleiben). Einerseits werden ihre Interessen betroffen, andererseits wird ihnen gemäß den Prinzipien der 43 Einen exemplarischen Vergleich bietet P. Burke, Venice and Amsterdam. A Study of seventeenth-century elites, London 1974. 44 S. Bertelli IN. Rubinstein I C. H. Smyth (Hrsg.), Florence and Venice: Comparisons and Relations, Bd. I, Quattrocento, Bd. II, Cinquecento, Florenz 1979 und 1980; G. Spini (Hrsg.), Potere centrale e strutture periferiche nella Toscana del'500, Florenz 1980; G. Del Torre, Venezia e la Terraferma dopo la crisi di Cambrai, Mailand 1986.

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Kommunalregierung in weitreichendem Maße die Möglichkeit geboten, an der Verwaltung der ,res publica' teil zu haben. Auf diesem Wege können Institute entstehen wie die florentinische und venezianische öffentliche Schuldverschreibung, "Herz der Stadt", "Verteidigung und Bewahrung der Freiheit", wie es in Florenz heißt: ein Institut, das individuellen Nutzen und öffentliches Interesse eng miteinander verbindet, indem es sie auf gemeinsame Ziele hin ausrichtet45. Darauf beruht wohl weitgehend das Bild von Stärke und Geschlossenheit, das der venezianische und der florentinische Staat im Laufe des 15. Jh. bieten46. Als das italienische politische System durch den Zusammenprall mit den europäischen Großmächten Anfang des 16. Jh. schwer erschüttert wird, beweisen die beiden Republiken entschieden mehr Reaktionsfähigkeit als das Herzogtum Mailand. Während das Fürstentum der Sforza, beinahe ohne Widerstand zu leisten, zusammenbricht (das Mailänder Patriziat ist sofort bereit, sich mit den neuen Herren zu verständigen), sind in Venedig (nach der Niederlage von Agnadello im Jahre 1509) und- wenngleich weniger glücklich und unter schweren inneren Belastungsproben - in Florenz (bis zum Sturz der Republik 1530) Bürger und Patrizier fest entschlossen, ihr Regime zu stützen und ihre Herrschaftsgebiete zu verteidigen. Auf der Grundlage dieser Strukturen von städtischer Regierung, so ist oft geäußert worden4 7 , konnten sich langfristig keine neuen und modernen Staatsformen entwickeln. Ebenso zutreffend ist es, daß die italienische 45 E. Conti, L'imposta diretta a Firenze nel Quattrocento (1427- 1494), Rom 1984, S. 361 (und S. 36 zu den Überlegungen von Leonardo Bruni und Goro Dati über den ,Monte': "Wie kann es sein, daß die Bürger gerne so viel Geld zahlen? ... warum verlieren die Bürger es nicht oder leihen es der Kommune aus, und wenn die Kommune in Frieden lebt und ihren Wohlstand mehrt, erhalten sie es zurück; und während sie um die Rückgabe bangen, vedieren sie keine Zeit, sondern erhalten jedes Jahr 5% Provision, als hätten sie es in Land investiert . .. "). Siehe auch M . M . Becker, Economic Change and the Ernerging Florentine Territorial State: Studies in the Renaissance XXX (1966), S . 7 - 39; A. Molho, Florentine Public Finance in the Early Renaissance, 1400- 1433, Cambridge (Mass.) 1971; über Venedig siehe außer G. Luzzatto, I! debito pubblico nella Repubblica di Venezia, Mailand 1963; F. Lane, Public Debt and private wealth; particularly in sixteenth century Venice, in: Melangesen l'honneur de Fernand Braudel, Toulouse 1973; M. Knapton, Guerra e finanza, in: Cozzi I Knapton (FN 40), S. 275- 345, besonders S. 311ff. 46 Siehe z. B. die Berichte der Botschafter des Venetos G. Caroldo (1520) und G. Basadonna (1533), in: A. Segarizzi (Hrsg.), Relazioni degli ambasciatori veneti al Senato, Bd. II, Bari 1913, S. 29 und 46. 47 Jüngst von E. Stumpo, Finanze e ragion di stato nella prima eta moderna. Due modelli diversi, Piemonte e Toscana, Savoia e Medici, in: A. De Maddalena I H. Kellembenz (Hrsg.), Finanze e ragion di stato in ltalia nella prima eta moderna, Bologna 1984, S. 181 - 223; ders., L'organizzazione degli stati: accentramento e burocrazia, in: Tranfaglia I Firpo (FN 42), S. 431- 57, besonders S. 450ff. Eine Untersuchung des italienischen Falls innerhalb der Diskussion über das Verhältnis zwischen Urbanisierungsintensität und Geschlossenheit (und Frühreife) von Staatsgefügen bietet S. Rokkan, Dimensions of State formation and Nation Building, in: Ch. Tilly (Hrsg.), The Formation of National State in Western Europe, Princeton 1975, S. 526- 600, hier s. 575ff.

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Stadt durch die Verwirklichung ihrer ,territorialen' Ausrichtung mit der Zeit zu einem Hemmnis und einem Element der Rückständigkeit wurde48 • Aber noch am Anfang der Neuzeit scheint diese eigentümliche Kombination von städtischen und territorialen Regierungsinstituten ein Stärkefaktor, ein fester Träger jener Städtekultur zu sein, die Italien kennzeichnet.

48 Jones (FN 4), S. 361ff.; M. Nobili, L'equazione citta antica/comune medievale e il mancato sviluppo italiano nel saggio di Ph. Jones: Societa e storia III (1980), S. 891 907 ; R. Romano, Una tipologia economica, in: Romano I Vivanti (Hrsg.) (FN 4), S. 256 - 304; ders., Tra due crisi. L'Italia del Rinascimento, Turin 1971.

Verzeichnis der Redner

Becker 57 Borck 40, 59, 64, 87f., 95ff., 134ff., 139f., 141f., 142 Brandt 168 Brauneder 41, 167f., 177 f.

Moraw llff., 40f., 41f., 43f., 44f., 45f., 47f., 49f., 50f., 51f., 52f., 53f., 54f., 56f., 58f., 59, 60, 61, 62f., 63, 64f., 134 Murakami 165

Chittolini 179 ff.

Oexle 52, 66, 163 Ogris 88

Diestelkamp 44, 65, 172 Dilcher 48f., 66, 166f., 167 Frost 63, 66, 88, 178 Grimm 173f. KoseHeck 45, 61f., 91, 161f. Kroeschell 65 Kunisch 91 f. Mager 67ff., 85ff., 88f., 90f., 91, 92f., 140, 141, 142 Mohnhaupt 46f., 93f., 142, 169f.

Quaritsch 54, 59f., 85, 93, 170ff. Scheel 53 Schiera 175ff. Schindling 58 Schneider, H.-P. 61, 143ff., 162f., 163f., 164f.,165,167, 169, 170, 174f., 178 Schneider, R. 63f. Schulze 137f. Stehkämper 42f., 55, 134 Willoweit 42, 60f., 89f., 90, 91, 164 Wolf 50, 51, 56

Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung

§

1

1. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe:

a) wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts .,Steuerbegünstigte Zwecke" der Abgabenanordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3. Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main. § 2

Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4. 10. 1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.

§3 1. Mitglied der Vereinigung kann werden: wer

a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschl. der Verwaltungsgeschichte seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche

Vereinigung für Verfassungsgeschichte

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Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlungbeschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs.l lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit o/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.

§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von V:! der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden. § 5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet. § 6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.

§

7

Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.

§

8

Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß

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Vereinigung für Verfassungsgeschichte

bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden. § 9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.

Verzeichnis der Mitglieder (Stand 31. Oktober 1988)

Vorstand 1. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 6240 Königstein/Ts.

2. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Kalkstraße 14, 4000 Düsseldorf 31 3. Koselleck, Dr. Reinhart, Professor, Stieghorsterstraße 70, 4800 Bielefeld 2

Beirat 1. Banneyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professorin, Auf den Bohnenkämpen 6, 4930 Detmold

2. Borck, Dr. Heinz-Günther, Am Steine 7, 3200 Hildesheim 3. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Christoph-Mayer-Weg 5, 8700 Würzburg 4. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Eichendorffstraße 13, 6601 Saarbrücken-Scheidt 5. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Kleiststraße 16, 6670 St. Ingbert/Saar

Mitglieder 1. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Heinrichstraße 26, A-8010 Graz

2. Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rotenberg Süd 4, 8113 Kochel (Universität München) 3. Banneyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professorin, Auf den Bohnenkämpen 6, 4930 Detmold (Universität Hannover) 4. Battenberg, Dr. Friedrich, Privatdozent, Christian-Stock-Straße 29B, 6102 Pfungstadt 5. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Am Schenkelfeld 11a, 8707 Veitshöchheim (Universität Würzburg) 6. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Leichtensternstraße 11, 5000 Köln 41 7. Behr, Dr. Hans-Joachim, Ltd. Staatsarchivdirektor, Bohlweg 2, 4400 Münster (Staasarchiv Münster) 8. Birke, Dr. Adolf M., Professor, Ligusterstraße 9, 8581 Eckersdorf (Universität Bayreuth)

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Verzeichnis der Mitglieder

9. Birtsch, Dr. Günter, Professor, Fb III Geschichte der Universität Trier, Postfach 3825, 5500 Trier 10. Blickle, Dr. Peter, Professor, Heimstraße 26, CH-3018 Bern 11. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 7801 Au bei Freiburg (Universität Freiburg) 12. Boldt, Dr. Hans, Professor, Joseph-Bordmann-Straße 10, 4000 Düsseldorf 31 13. Borck, Dr. Heinz-Günther, Am Steine 7, 3200 Bildesheim (Stadtarchiv und Stadtbibliothek) 14. Botzenhart, Dr. Manfred, Professor, Michaelstraße 42, 4401 Havixbeck (Universität Münster) 15. Brandt, Dr. Hartwig, Privatdozent, Krummbogen 28c, 3500 Marburg 16. Brauneder, Dr. Mag. Wilhelm, Professor, Flamminggasse 58, A-2500 Baden (Universität Wien) 17. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Madre Cabrini, I-20122 Milano 18. Dann, Dr. Otto, Professor, Stumbshof-Straße 40, 5030 Hürth-Alstädten (Universität Köln) 19. Diestelkamp, Dr. Bernhard, Professor, Kiefernweg 12, 6242 Kronberg 2 (Universität Frankfurt) 20. Dietrich, Dr. Richard, Professor, Sachsenstraße 17, 3500 Kassel41 21. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 6240 Königstein/Ts. (Universität Frankfurt) 22. Droege, Dr. Georg, Professor, Am Hofgarten 22, 5300 Bonn 1 23. Duchhardt, Dr. Heinz, Professor, Universität Bayreuth, Postfach 3008, 8580 Bayreuth 24. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Feithstraße 152, 5800 Hagen 25. Endres, Dr. Rudolf, Professor, An den Hornwiesen 10, 8520 Buckenhof (Universität Erlangen) 26. Ermacora, Dr. Felix, Professor, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 27. Fenske, Dr. Hans, Professor, Kardinal-Wendel-Straße 45, 6720 Speyer 28. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Universita degli Studi di Firenze, Piazza Indipendenza 9, I-50129 Firenze 29. Friauf, Dr. Karl Heinrich, Professor, Eichenhainallee 17, 5060 Bensberg-Frankenforst (Universität Köln) 30. Frost, Dr. Herbert, Professor, Kringsweg 24, 5000 Köln 41 31. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Habichtstalgasse 32, 3550 Marburg 32. GaU, Dr. Lothar, Professor, Gräfstraße 76 IV- V, 6000 Frankfurt/M. 33. Gangl, Dr. Hans, Professor, Universitätsplatz 3, A- 8010 Graz 34. Giesen, Dr. Dieter, Professor, Boltzmannstraße 3, 1000 Berlin 33 35. Graus, Dr. Frantisek, Professor, Historisches Seminar der Universität Basel, Hirschgäßlein 21, CH-4051 Basel 36. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Aloysiusstraße 28, 4630 Bochum 1

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37. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Bachstraße 24, 7500 Karlsruhe 1 (Universität Bielefeld) 38. Grube, Dr. Walter, Professor, Hangleiterstraße 2, 7000 Stuttgart 1 39. Hartlieb v. Wallthor, Dr. Alfred, Auf den Bohnenkämpen 6, 4930 Detmold (Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung Münster) 40. Hartmann, Dr. Peter Klaus, Professor, Hammerberg 4a, 8390 Passau 41. Hecke!, Dr. Martin, Professor, Liesehingstraße 3, 7400 Tübingen 42. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Privatdozent, Landauer Warte 1, 6720 Speyer 43. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Christoph-Mayer-Weg 5, 8700 Würzburg 44. Hoke, Dr. Rudolf, Professor, Schottenbastai 10- 16, A-1010 Wien 45. Huber, Dr. Ernst Rudolf, Professor, In der Röte 2, 7800 Freiburg-Zähringen i.Br. 46. Hüttenberger, Dr. Peter, Professor, Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Universität Düsseldorf, 4000 Düsseldorf 47. lshibe, Dr. Masakuke, Professor, Sumiyoshiku Sugimotocho, Osaka, Japan 48. lshikawa, Dr. Takeshi, Professor, Faculty of Law, Hokaido-University, Kita-ku, Kita 9, Nishi 7, Sapporo, Japan 49. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Kalkstraße 14, 4000 Düsseldorf 31 (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf) 50. Johanek, Dr. Peter, Professor, Historisches Seminar, Universität, Domplatz 20 - 22, 4400 Münster 51. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Steinergasse 58, 5305 Alfter (Universität Bonn) 52. Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Baroper Straße 235, 4600 Dortmund 50 53. Koselleck, Dr. Reinhart, Professor, Stieghorsterstraße 70, 4800 Bielefeld 1 54. Krieger, Dr. Karl-Friedrich, Professor, Universität Mannheim, Schloß M 404, 6800 Mannheim 55. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Schloßbergstraße 17, 7801 Au bei Freiburg i.Br. (Universit ät Freiburg) 56. Krüger, Dr. Peter, Professor, Haspelstraße 26, 3550 Marburg/Lahn 57. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Institut f. VölkerR u. ausland. öffentl. Recht d. Univ. zu Köln, Gottfried-Keller-Straße 2, 5000 Köln 41 58. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Heinrich-Heine-Straße 23b, 5000 Köln 50 59. Landwehr, Dr. Götz, Professor, Schlüterstraße 28, 2000 Harnburg 13 60. Laufs, Dr. Adolf, Professor, Brunsstraße 31, 7400 Tübingen 61. Link, Dr. Christoph, Professor, Michaelisweg 4, 3400 Göttingen 62. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Präsidentenstraße 14, 4600 Dortmund (Universität und Stadtarchiv) 63. Mager, Dr. Wolfgang, Professor, Hengstenbergerstraße 13, 4905 Spenge 64. Malettke, Dr. Klaus, Professor, Pappelweg 28, 3550 Marburg-Marbach (Universität Marburg) 65. Maurer, Dr. Hans-Martin, Staatsarchivdirektor, Liesehingstraße 47, 7000 Stuttgart 80

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Verzeichnis der Mitglieder

66. Menger, Dr. Christian-Friedrich, Professor, Piusallee 108, 4400 Münster/Westf. 67. Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, S-221 05 Lund 1 68. Mößle, Dr. Dr. Wilhelm, Professor, Schwindstraße 19, 8580 Bayreuth 69. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Freiherr-vom-Stein-Straße 7, 6000 Frankfurt/M. (MPI) 70. Moormann van Kappen, Dr. Olav, Professor, Gerhard Noodt lnstituut, Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Postbus 9049, NL-6500 KK Nijmegen 71. Moraw, Dr. Peter, Professor, Triebstraße 1, 6300 Gießen 72. Morsey, Dr. Rudolf, Professor, Blumenstraße 5, 6730 Neustadt 22 (Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) 73. Murakami, Dr. Junichi, Professor, The University of Tokyo, Faculty of Law, 7-3-1 Hongo, Bunkyo-ku, 113 Tokyo, Japan 74. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Keplerstraße 40, 6900 Heidelberg 75. Naujoks, Dr. Eberhard, Professor, Wildermuthstraße 32, 7400 Tübingen 76. Neuhaus, Dr. Helmut, Privatdozent, Universität Köln, Fb Geschichtswissenschaft, 5000 Köln 77. Oexle, Dr. Otto Gerhard, Professor, Wiesenstraße 13, 3000 Hannover 1 78. Ogris, Dr. Werner, Professor, Schottenbastei 1-10, A-1010 Wien 79. Peterson, Dr. Claes, Professor, University of Stockholm, Faculty of Law, S-10691 Stockholm 80. Peyer, Dr. Hans Conrad, Professor, Rosenbühlstraße 28, CH-8044 Zürich 81. Press, Dr. Volker, Professor, Autenriethstraße 16, 7400 Tübingen 82. Putzer, Dr. Peter, Professor, A-5101 Bergheim 311 (Universität Salzburg) 83. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Otterstadter Weg 139, 6720 Speyer 84. Randelzhofer, Dr. Albrecht, Professor, Van't-Hoff-Straße 8, 1000 Berlin 33 85. Ranieri, Dr. Filippo, Privatdozent, Friedrichstraße 2 - 6, 6000 Frankfurt/M. (MPI) 86. Russocki, Dr. Stanislaw, Professor, Uniwersytet Warszawski, Instytut Historii Prawa, ul. Krakowskie Przedmiescie 26/28, PL-00-927 Warszawa 87. Scheel, Dr. Günter, Ltd. Archivdirektor, Forstweg 2, 3340 Wolfenbüttel (Nds. Staatsarchiv) 88. Schiera, Dr. Pierangelo, Professor, Universita degli Studi di Trento, Via Verdi 26, 1-381 000 Trento 89. Schindling, Dr. Anton, Professor, FB Kultur- u. Geowissenschaften der Universität Osnabrück, Schloßstraße 8, 4500 Osnabrück 90. Schlaich, Dr. Klaus, Professor, Wolkenburgstraße 2, 5205 St. Augustirr 2 (Universität Bonn) 91. Schmitt, Dr. Eberhard, Professor, Feldkirchenstraße 21, 8600 Bamberg 92. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Straße 44, 6900 Heidelberg 93. Schneider, Dr. Hans-Peter, Professor, Delpweg 16, 3000 Hannover 94. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Eichendorffstraße 13, 6601 Saarbrücken-Scheidt (Universität Saarbrücken)

Verzeichnis der Mitglieder

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95. Schnur, Dr. Roman, Professor, Lindenstraße 49, 7407 Rottenburg 5 (Universität Tübingen) 96. Schott, Dr. Clausdieter, Professor, Dorfstraße 37, CH-8126 Zumikon (Universität Zürich) 97. Schubert, Dr. Werner, Professor, Grevenkamp 11, 2300 Kiel-Klausdorf (Universität Kiel) 98. Schütz, Dr. Rüdiger, Professor, Kopernikusstraße 16, 5100 Aachen (RWTH Aachen, Historisches Institut) 99. Schulz, Dr. Gerhard, Professor, Wilhelmstraße 36, 7400 Tübingen 100. Schulze, Dr. Reiner, Privatdozent, Heusenstammer Weg 49, 6050 Offenbach (Universität Frankfurt) 101. Scupin, Dr. Hans-Ulrich, Professor, Robert-Koch-Straße 46, 4400 Münster/Westf. 102. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Steubenstraße 16, 8700 Würzburg 103. Stehkämper, Dr. Hugo, Ltd. Stadtarchivdirektor, Am Hang 12, 5060 Bensberg (Historisches Archiv Köln) 104. Steiger, Dr. Reinhard, Professor, Oberhof 16, 6307 Linden (Universität Gießen) 105. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Waldstraße 15, 6242 Kronberg 2 (Universität Frankfurt) 106. Stourzh, Dr. Gerald, Professor, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 107. Stürmer, Dr. Michael, Professor, Kochstraße 4, 8520 Erlangen 108. von Unruh, Dr. Georg-Christoph, Professor, Steenkamp 2, 2305 Kitzeberg (Universität Kiel) 109. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Kleiststraße 16, 6670 St. lngbert/Saar (Universität Saarbrücken) 110. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Sundgauallee 68, 7800 Freiburg i.Br. 111. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ainmillerstraße 8/11 , 8000 München 40 112. Weitzel, Dr. Jürgen, Privatdozent, Heinrich-Tessenow-Weg 23, 6000 Frankfurt/M. 90 113. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Domerschulstraße 16, 8700 Würzburg 114. Wolf, Dr. Armin, Friedrichstraße 2, 6000 Frankfurt/M. (MPI) 115. Würtemberger, Dr. Thomas, Professor, Universität Trier, Postfach 3825, 5500 Trier

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