Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 21./22. März 1983. Red.: Dietmar Willoweit [1 ed.] 9783428456659, 9783428056651

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Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 21./22. März 1983. Red.: Dietmar Willoweit [1 ed.]
 9783428456659, 9783428056651

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Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung

Beihefte zu "Der Staat" Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfaeeungegeechichte

Heft 7

Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung

Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 21.122. März 1983

DUNCKER

&

HUMBLOT

I

BERLIN

Redaktion: Prof. Dr. Dietmar Willoweit, Würzburg

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung: Tagung d. Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 21./22. März 1983 I [Red.: Dietmar Willoweit]. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Der Staat: Beiheft; H. 7) ISBN 3-428-05665-5 NE: Willoweit, Dietmar [Red.]; Vereinigung für Verfassungsgeschichte; Der Staat I Beiheft

Alle Rechte vorbehalten

@ 1984 Dunelter & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Prlnted ln Germany ISBN 3-428-05665-5

Inhaltsverzeichnis Wilhelm J anssen:

" ... na gesetze unser lande . . .". Zur territorialen Gesetzgebung im späten Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Johannes Kunisch:

Staatsbildung als Gesetzgebungsproblem. Zum Verfassungscharakter frühneuzeitlicher Sukzessionsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Aussprache

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Ralf Grawert:

Gesetzgebung im Wirkungszusammenhang konstitutioneller Regierung 113 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Verzeichnis der Redner ............. . . ... ... . .. .... .. ... .. . . . . .. ... ... . 178 Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Verzeichnis der Mitglieder . . ... .. . ............ .. .. . ..... .. . . ....... . . . 181

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na gesetze unser lande

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Zur territorialen Gesetzgebung im späten Mittelalter Von Wilhelm Janssen, Düsseldorf I.

Im folgenden sollen Fragen der territorialen Gesetzgebung im Spätmittelalter an den Ländern im Nordwesten des Reiches untersucht werden, vornehmlich also an den niederrheinisch-westfälischen Territorien Kurköln, Kleve-Mark und Jülich-Berg, wobei das südlich angrenzende Erzbistum Trier und die westlich anschließenden - bereits starkem französischem Einfluß ausgesetzten - Fürstentümer Lüttich und Brabant im Blick behalten werden. Für diese räumliche Beschränkung gibt es mehrere Gründe - zuvörderst und vor allem einen handfest-praktischen: Mit der spätmittelalterlichen Quellenüberlieferung dieses Gebietes bin ich einigermaßen vertraut, nicht überall mit der gleichen Intensität, doch immerhin über weite Strecken bis in das ungedruckte Material hinein. Und ich darf - dies bereits ein weiterer Grund - wohl unterstellen, daß man das anstehende Thema einem Archivar in der Erwartung angetragen hat, daß es zwar nicht in Form einer keine Quisquilie aussparenden trockenen Faktenzusammenstellung, aber doch quellennah und ohne Scheu vor dem charakteristischen Detail ausgeführt wird. Denn für einen Überblicksvortrag mit weitergespanntem Horizont, tieferer Problemerfassung und größerer Abstraktionskraft hätten sicherlich berufenere Gelehrte zur Verfügung gestanden. Überdies sind Fragen der landesfürstlichen Gesetzgebung im Mittelalter bisher vornehmlich an den Territorien im Südosten des Reiches behandelt worden, weil hier besonders frühe und besonders eindrucksvolle Spuren legislatorischer Tätigkeit in den Quellen bezeugt sind1 • 1 W. Schnelbögl, Die innere Entwicklung der bayerischen Landfrieden im 13. Jh. (DeutschrechtlBeitrr 13, 2), 1932; H. Lieberich, Kaiser Ludwig der Bayer als Gesetzgeber, in: ZRG GA 76, 1959, S. 173-245; ders., Die Anfänge der

Polizeigesetzgebung des Herzogtums Baiern, in: Festschrift Max Spindler, 1969, S. 307-378; A. Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten in Europa, in: H. Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neueren Privatrechtsgeschichte I, 1973, S. 517---800, bes. S. 597-601; M. Weltin, Das Österreichische Landrecht des 13. Jh. im Spiegel der Verfassungsentwicklung, in: VortrrForsch 23, 1977, S. 381-424.

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Wilhelm Janssen

Da diese Forschungslage zwangsläufig ihre Konsequenzen bis in die allgemeinen Darstellungen der Handbuch- und Einführungsliteratur zeitigt2, ist es vielleicht nicht falsch, ein regionales Gegengewicht zu plazieren, um die Möglichkeit zu bieten, vergleichend Unterschiede, Kontraste, Verschiebungen und - vermutlich erstaunlich häufig - Gemeinsamkeiten zu konstatieren. Schließlich erscheinen die hier untersuchten Territorien nicht übel geeignet, grundsätzliche Probleme territorialer Gesetzgebung zu verdeutlichen. Es handelt sich durchweg um mittelgroße bis kleine Länder, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts alle einen ungefähr gleichen Grad der "Staatlichkeit" erreicht haben, insofern sie administrativ nach dem Flächen- und Amtsprinzip durchstrukturiert sind. Es sind - das eine mehr, das andere weniger - nicht mehr nur "beherrschte", sondern auch schon verwaltete Länder'. Und was das bedeutet, darüber belehrt uns bereits Jean Bodin, der selbst einige Zeit brauchte, um sich endgültig Klarheit darüber zu verschaffen, was denn eigentlich das vorzüglichste (una ac praecipua) Attribut der Souveränität sei: die potestas legislatoria, wie er sich schließlich in seiner Abhandlung über das Gemeinwesen überzeugt zeigte4 , oder die Verwaltungshoheit (... in summis magistratibus creandis et officio cuiusque definiendo), wie noch in seiner etliche Jahre zuvor erschienenen "Methodus ad facilem historiarum cognitionem" zu lesen war5• Es steht jedenfalls außer Zweifel, daß 2 W. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. 1958, S. 52 f.; W. Volkert, Staat und Gesellschaft bis 1500, in: M. Spindler (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte II, 1969, S. 528 ff. 3 Dazu und zum folgenden J. Lejeune, Liege et son pays. Naissance d'une patrie, 1948; F. Petri, Territorienbildung und Territorialstaat des 14. Jh. im Nordwestraum, in: VortrrForsch 13, 1970, S. 383-483; R . Laufner, Die Ausbildung des Territorialstaates der Kurfürsten von Trier, in: VortrrForsch 14, 1970, S. 127-147; W. Janssen, Landesherrliche Verwaltung und landständische Vertretung in den niederrheinischen Territorien 1250-1350, in: AnnHistVNdRh 173, 1971, S. 85--122; A. Uyttebrouck, Le gouvernement du duche de Brabant 1355--1430, 1975; W. Janssen, Die niederrheinischen Territorien in der zweiten Hälfte des 14. Jh., in: RheinVjbll 44, 1980, S. 47-67. - Zum Zusammenhang zwischen Verwaltungsstruktur und Gesetzgebung neuerdings auch D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: K. Jeserich I H. Pohl I G.-Chr. v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte I, 1983, bes. S. 118 ff. 4 J. Bodin, Les six livres de Ia Republique, Ausg. 1583, S. 222: "Voila ... Ia premiere marque de souverainete: qui est le pouvoir de donner loy ou commander a tous en general et a chacun en particulier". Vgl. H. Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 174. 5 J. Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Aug. 1650 (Nachdruck), S. 176; H. Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: Ius commune 4, 1972, S. 190, wozu aber die kritischen Vorbehalte von H. Quaritsch, Souveränität (Anm. 4), S. 261 f. zu vergleichen sind, der nachweist, daß es an dieser Stelle um eine referierende Erörterung, nicht um eine dogmatische Hierarchisierung von Souveränitätsmerkmalen geht.

Zur territorialen Gesetzgebung im späten Mittelalter

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ohne die Etablierung eines wenigstens prinzipiell auf Befehl und Gehorsam ausgerichteten Verwaltungsapparats und einer im wesentlichen schriftlichen Verwaltungspraxis eine auf Wirksamkeit zielende, nicht bloß deklaratorisch-posierende Gesetzgebungstätigkeit undenkbar gewesen wäre und ist. In allen Territorien - Köln und Trier ausgenommen - ist der Landesherr bereits im 14. Jahrhundert an die Mitwirkung der Stände gebunden, in den weltlichen Territorien des Niederrheins schwächer, in Lüttich und Brabant stärker. Während in Jülich und Berg wie später auch in Kurköln auf den Landtagen der Adel den Ton angibt, dominieren in Lüttich, Brabant und Kleve die Städte. In den niederrheinischen weltlichen Territorien ist der Klerus nicht landtagsfähig. In Lüttich und Trier wird die Geistlichkeit durch die Domkapitel vertreten. Die Unterschiede in den für die Territorien jeweils bestimmenden politischen Kräften werden - was die Legislative angeht - noch verkompliziert durch die im 14. und 15. Jahrhundert erfolgten territorialen Zusammenschlüsse Jülich-Geldern (1372-1423), Kleve-Mark und Jülich-Berg, wodurch das ohnehin höchst problematische Verhältnis Land und Herrschaft zum Gegenüber von Ländern und Herrschaft übersteigert wird und geradezu nach einer Reduktion auf den übersichtlichen Bezug von Staat und Souveränität verlangt. Vielleicht hatten die Kölner Juristen, die anfangs der 30er Jahre des 15. Jahrhunderts in einem Rechtsstreit zwischen dem Herzog von Kleve und der Stadt Wesel gutachteten, etwas Derartiges im Sinn, als sie definierten, "quod districtus idem est quod territorium" und daß eine solche "terra" dadurch charakterisiert sei, daß sie "distringitur legibus domini", und nicht etwa dadurch, daß in ihr eine spezifische "lex patriae" oder ein eigenes "ius terrae" gelte 6 , was- nebenbei bemerkt damals noch eine gelehrte Konstruktion war und die historische Wirklichkeit der Zeit nicht trifft. Jedenfalls dürfte die in dem beobachteten Territorienkomplex vertretene Mischung von Progressivität und Beharrung, fürstlicher Dominanz und ständischem Selbstbewußtsein, adeligen und kommunalen Interessenlagen, von ländlichen und städtischen Lebens- und Wirtschaftsformen dafür garantieren, daß wir mit allen jenen Fragen konfrontiert werden, die sich bei einer Untersuchung der territorialen Gesetzgebung im ausgehenden Mittelalter stellen und die von Armin Wolf mehrfach sehr klar formuliert worden sind7 • 6 J. Kahler, Beiträge zur Geschichte des Römischen Rechts in Deutschland. 1. Heft: Das römische Recht am Niederrhein, 1896, S. 73. 7 A. Wolf, Gesetzgebung (Anm. 1); ders., Forschungsaufgaben einer euro-

päischen Gesetzgebungsgeschichte, in: Ius commune 5 (1975), S. 178-191;

ders., Gesetzgebung und Kodifikationen, in: P. Weimar (Hrsg.), Die Renais-

sance der Wissenschaften im 12. Jh., 1981, S. 143-171 -Dazu weiterführend die einen kritischen Forschungsbericht mit methodischen Reflexionen über Aufgaben und Arbeitsweise einer Gesetzgebungsgeschichte im Rahmen der Rechtshistorie verbindende Abhandlung von R. Schulze, Geschichte der neue-

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Wilhelm J anssen

Ausgangs- und steter Bezugspunkt der Überlegungen soll die einschlägige Terminologie der Quellen sein. Nicht als ob hier dem Irrglauben gehuldigt würde, die unreflektierte Verwendung einer quellennahen Begrifflichkeit führe besonders nahe an die damit gemeinte Realität heran! Doch besteht wohl Einvernehmen darüber, daß ohne eine sorgfältige Analyse der Quellensprache die für ein hinreichendes Verständnis notwendige "Übersetzung" in moderne Begriffe nicht gelingen kann. Schon das als Überschrift gewählte Zitat aus einem Schreiben des Herzogs von Jülich-Berg aus dem Jahre 1484 kann dafür als Beispiel dienen8 • Kann man schlichtweg übersetzen "nach den Gesetzen unserer Lande" oder muß man sagen "unseres Landes", und was bedeutet das dann in concreto? Handelt es sich bei den "gesezzen" von 1484 tatsächlich um Gesetze in dem uns geläufigen Sinne? Wie würde diese Formulierung lateinisch lauten? Tatsächlich ist der Begriff der "statuta patrie" den Quellen nicht unbekannt, findet sich aber leider nicht in Urkunden und Gesetzestexten, sondern nur in der Abhandlung des Philipp von Leyden "De cura rei publicae et sorte principantis" aus der Mitte des 14. Jahrhunderts9 • Dagegen lassen sich zahlreiche Belege für die Wendung "secundum leges patrie", "per legem patrie" u. ä. beibringen10. Diese dürfen wir aber nicht mit "na gesezze des lants", sondern müssen sie mit "na lantrecht" wiedergeben, wie es die zeitgenössischen Zeugnisse ja auch tun. Damit drängt sich allein schon vom Sprachgebrauch her die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gesetz auf. Daß das mittelalterliche Recht kein Gesetzesrecht ist, jedenfalls ganz überwiegend nicht, ist ein Gemeinplatz 11 • Aber ob das Gesetz Rechtsren vorkonstitutionellen Gesetzgebung, in: ZRG GA 98 (1981), S. 157-235 und neuerdings B. Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: ZHF 10 (1983), S. 385-420. 8 G. von Below (Bearb.), Landtagsakten von Jülich-Berg 1400--1610 (Publikationen der Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 11), I, 1895, S. 110 Anm.138. 9 Philippus de Leyden, De cura rei publicae et sorte principantis, edd. R. Fruin I P . C. Molhuijsen (Werken der Vereeniging tot uitgave d. bronnen van het oude vaderlandsche recht II 1), 1900, S. 399. 10 Wenige Beispiele: "secundum iudicium et Iegern patrie" (Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch f. d. Geschichte d. Niederrheins I, 1840, Nr. 309); "consuetudine et lege patrie" (N. A ndernach [Bearb.] , Die Regesten der Erzbischöfe von Köln [Publikationen d. Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 21] VIII, 1981, Nr. 1070); "la loy de nostre pays, Iegern et iusticiam patrie, iura et leges patrie" (S. Bormans [Bearb.] Recueil des ordonnances de la principaute de Liege I, 1878, s. 388, 586). 11 F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: HZ 120 (1919), S. 1-79, Sonderausgabe 1952; H. Krause, Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, in: ZRG GA 82 (1965), S. 1-98; ders., Art. Gesetzgebung, in: A. Erler I E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte I, 1971, Sp. 1607-1611; E. W. Böckenförde, Der

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qualität hat, ist höchst fraglich. Wo berühren sich Recht und Gesetz? Berühren sie sich anfänglich überhaupt? Wenn der Erzbischof Wilhelm von Köln in einem Vertrag von 1357 sich vorbehält, in seinem Herzogtum Westfalen Münzen prägen zu lassen "nae deme rechte ind gesetzze desselven unz lands" 12, so läßt eine solche vereinzelte Formulierung völlig offen, ob Recht und Gesetz hier pleonastisch verwendet werden und dasselbe besagen wollen, ob zwei gesondert regulierte Ordnungsbereiche aufgezählt sind oder ob hier bereits ein in die Moderne weisender Bezug gestiftet ist. Die Entwicklung des 15. Jahrhunderts hat in dieser Frage schließlich zu einer größeren Klarheit geführt. Als 1489 der Herzog von Jülich einem Kloster den Gütererwerb in seinem Land gestattete13, konzedierte er ausdrücklich, daß dem nicht entgegenstehen sollte "einich verbot noch landtzgesetz, dat si van unserwegen of van lantzgewoenden". Herrscherliehe Gebote und consuetudines terrae machen also das "landtzgesetz" aus, von dem wir freilich immer noch nicht wissen, ob wir es kühn mit Landesrecht übersetzen dürfen. Landrecht im herkömmlichen Sinne ist es sicherlich nicht, denn dies ist identisch mit den "lantzgewoenden" und stellt am Ausgang des 15. Jahrhunderts nur noch einen Teil jenes Systems von "regulae agibilium" dar, "ordinantes nos [das sind die "underdenigen" bzw. "undersassen"] in commune bonum, habentes coactivam potentiam" - um eine Gesetzesdefinition des Aegidius Romanus zu zitieren14 , dessen Traktat "De regimine principum" wenn nicht den Fürsten selbst, so doch auf jeden Fall dem größeren Teil ihrer Ratgeber bekannt war15• Wir streifen damit unvermittelt die Frage nach dem Verhältnis von zeitgenössischer Rechts- und Staatstheorie zur praktischen Politik. Die geistesgeschichtlichen Tendenzen und die juristischen wie theologischen Erörterungen, die im Hochmittelalter den Umbruch in den traditionellen Rechtsvorstellungen bewirkt und begleitet haben, sind durch eine Anzahl eingehender Untersuchungen aufgehellt worden16• Dieses Feld Rechtsbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Archiv f. Begriffsgesch. 12 (1968), S. 145-165; R. Grawert, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, in: Der Staat 11 (1972), S. 1-25; ders., Art. Gesetz, in: 0. Brunner I W. Conze I R. KoseHeck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe 11, 1975, S. 863-922; R . C. van Caenegem, Das Recht im Mittelalter, in: W. Fikentscher I H. Franke I 0. Köhler (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, 1980, S. 609-667 12 Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch f. d. Geschichte d. Niederrheins 111, 1853, Nr. 574. 13 G. v. Below, Die landständische Verfassung in Jülich-Berg bis zum Jahre 1511, Kap. 111: Die Zeit des Bergischen Rechtsbuchs, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 22 (1886), S. 40 Anm. 146. u Aegidius Romanus, De regimine principum libri 111, Ausg. 1607, S. 526. 15 Vgl. dazu W. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Schriften d. MGH 2), 1938, S. 211 f., 321-328. Auch: H. Patze, Geschichte Thüringens II 1, 1974, S. 273.

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ist zweifellos intensiv beackert worden. Weniger gut oder fast gar nicht sind wir freilich darüber informiert, wie solche Lehrmeinungen sich ausgewirkt haben, ob sie und in welchem Maße sie denen vertraut waren oder nahegebracht wurden, denen theoretisch das Recht zur Gesetzgebung zuerkannt war und die über die nötige "vis coactiva" verfügten, welche seit Thomas von Aquin immer ausschließlicher als der eigentliche Geltungsgrund der lex angesehen wurde17• Es scheint nach unserem Material allerdings gerechtfertigt, die Texte der "ordinancien", der "ingesette" bzw. "versaetinghe, geboide of verboide" oder wie immer die sogen. "Gesetze" bezeichnet werden18, auch auf ihre Anklänge an gängige Theoreme zu überprüfen. Denn diese spielten in den Diskussionen auf den Sitzungen der fürstlichen Räte tatsächlich eine Rolle. Herzog Adolf I. von Kleve, ein bedeutender landesherrlicher Legislator des 15. Jahrhunderts, nahm in den Jahren 1427-1429 in seinen Rat auf: einen "baccalaureus in utroque iure", einen "doctor in legibus" und einen "rdoctor in den geistliken rechten" 19• Diese Ausrüstung mit kano16 M. Odenheimer, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Rechtsgebiet, 1957; H. Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterl. Recht, in: ZRG GA 75 (1958), S. 207-251; S. Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, 1960; R. Sprandel, über das Problem neuen Rechts im früheren Mittelalter, in: ZRG KA 79 (1962), S. 124-137; H. M. Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter, in: Lex et sacramentum im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 6), 1969, S. 157-188; 0. Hageneder, Über das fürstliche Gesetzgebungsrecht beim steirischen Reimchronisten, in: Festschrift Nikolaus Grass I, 1974, S. 459--481. 17 S. Gagner, Studien (Anm. 16), S. 268 ff. Vgl. auch Aegidius Romanus, De regimine (Anm. 14), S. 549: "Nam Ieges et etiam legislatores ut reges et principes coactivam habent potentiam: ut qui amore honesti per increpationes paternas et amicorum non retrahitur ab operibus sceleratis, saltem timore poenae retrahatur ab illis". 18 Einige Beispiele! "Ordonancie" bzw. "ordenunge": F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV (Anm. 20), S. 208; Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch f. d. Geschichte d. Niederrheins IV, 1858, Nr. 300; Th. Ilgen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien (Publikationen d. Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 38). Herzogtum Kleve II 2, 1921, S. 4; J. J. Scotti, Churfürstenthum Trier (Anm. 91), Nr. 45. "Ordonantie ende ghebodt": Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 3; Th.llgen, a. a. 0., S. 48. "Versathinge ende ordonnancie" u. ä.: J . J. Scotti, a. a. 0., Nr. 13, 19, 49; F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV (Anm. 20), S. 201; Th. Ilgen, a. a. 0., S. 43. "Cedule, bevele ind ordinantie": Ders., a. a. 0., S. 48. "Ordonnantie, statuyte ende verclarenisse": Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 264. "Geboide of verboide" u. ä.: Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch 111 (Anm. 12), Nr. 718; 0. R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik I (Anm. 98), Nr. 10; Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 405. - In den 70er Jahren des 14. Jh. hat man in Kurköln wichtige Urkunden abschriftlich in einem Kopialbuch (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf [künftig: HStAD] Kurköln, Kartular 1) unter der Überschrift zusammengefaßt: "Quedam alie ordinationes, constitutiones atque statuta statum ecclesie Coloniensis contingentes", obwohl kein Stück darunter ist, das nach dem heutigen Forschungsstand auch nur entfernt als "Gesetz" gelten könnte.

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nistischer und legistischer Gelehrsamkeit war auch bitter nötig, führte er doch in dieser Zeit mit seiner Stadt Wesel einen grundsätzlichen Streit darüber, ob er an die von seinen Vorgängern verliehenen Privilegien gebunden sei oder nicht. Und die Stadt fuhr schweres gutachtliches Geschütz auf: Zum 9. Mai 1431 -so vermerkt die Stadtrechnung20 "vuer Egbertus to Colne myt unsen privilegien an die doctores to beleren, of wij sculdich weren onsen h. dat gelt nae sijnre bede of nyet; brachte gewisede rechte van den 4 doctoren, dat die stad nae oeren privilegien unsen h. daer nyet af sculdich ensijnt". Die mit Hinweisen auf einschlägige Stellen in den beiden großen Rechtscorpora belegten Argumente kann man in der Ausgabe dieser "gewiseden rechte" (d. h. Gutachten) von Kohler/Liesegang nachlesen21 • Die Stadt säumte nicht, sie dem Stadt- und Landesherrn zur Kenntnis zu bringen mit der brüsk vorgetragenen Bitte "omme eyn antworde, weer hie uns bij unsen rechten laten wolde of enwol.de" 22 • Der Konfrontation mit einem solchen Ansinnen wäre der - fraglos macht- und kraftvoll regierende - Fürst im Verein mit einigen bestenfalls landrechtskundigen ritterlichen Räten kaum gewachsen gewesen. Im Rate seines Sohnes, des am burgundischen Hofe aufgewachsenen Herzogs JohannI. (t 1481), kam es gelegentlich zu einer gereizten Reaktion, als ein "iuris civilis et doctor et peritus" die Meinungen von Bartalus und Baldus zu einer anstehenden Frage vortrug. Man hielt ihm entgegen, daß er sich den Rückgriff auf Autoritäten ersparen könne, da sie - die Zeitgenossen - genug Scharfsinn besäßen, um aus eigenem ingenium festzustellen, was rechtens sei: "Sunt et hodie homines suapte raciocinacione suoque ingenio non minus in dicendis legibus periti quam Bartalus ipse tuus et Baldus . . ." 23 • Interessant ist in diesem Zusammenhang weniger die sich artikulierende Animosität gegen die gelehrte juristische Methode als die Tatsache, daß man im herzoglich-klevischen Rat die Werke der Postglossatoren zur Hand hatte und daß deshalb die Entdeckung terminologischer Assoziationen und Entsprechungen zwischen dem Wortlaut fürstlicher Edikte und Ordnungen einerseits und gängigen rechtstheoretischen Formeln andererseits durchaus realiter begründet sein kann und nicht von vornherein als Konstrukt einer Subtilitäten nachjagenden Gelehrsamkeit abgetan werden darf. 18 Th. Ilgen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien (Publikationen d. Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 38). Herzogtum Kleve II 1, 1921, Nr. 273, 274, 278. zo F. Gorissen (Bearb.), Regesten zur politischen Geschichte des Niederrheins: Stadtrechnungen von Wesel (Publikationen d. Gesellschaft f Rheinische Geschichtskunde 55) IV, 1963, S. 99. u J. Kahler, Beiträge (Anm. 6). zt F . Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV (Anm. 20), S. 118. 28 F. W. Oediger (Bearb.), Schriften des Arnold Heymerick (Publikationen d. Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 49), 1939, S. 274.

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Dieser erste Einstieg in die Quellen dürfte hinlänglich dargetan haben, daß von ihrer Analyse Aufschluß über den Zusammenhang, das Auseinandertreten und den Konflik:t von und zwischen ius, consuetudo und lex: recht, gewoende und ordnunge bzw. satinge, ferner über das Verhältnis zwischen der gesetzgeberischen Gewalt des Landesherren einerseits und seinem hergebrachten Recht auf Gebot und Verbot andererseits wenn nicht zu erwarten, so doch wenigstens zu erhoffen ist. Auskunft vermögen uns die Quellen auch über die Lebensbereiche zu geben, die im 15. Jahrhundert gesetzlich geregelt wurden, wobei- das sei schon vorab bemerkt - der schmale Kanon jener Materien, die einer gesetzlichen Regelung zugänglich erscheinen, von Brabant bis Bayern24 nahezu derselbe ist. Weiterhin werden durch den Quellenbefund zur Debatte gestellt die Fragen nach dem Geltungsgrund der territorialen Gesetze im Zusammenspiel zwischen fürstlicher Gesetzgebungsgewalt und ständischem Konsens- oder gar Initiativrecht und nach dem Geltungsbereich fürstlicher Gesetze, deren territoriale Allgemeinheit ja keineswegs Ausgangspunkt und Kennzeichen landesherrlicher Legislative ist - wie ich selbst zunächst wähnte - , sondern deren Ziel. Noch Bodin behandelt ja die "loix particulieres" - die Anordnungen, Dienstanweisungen u. dgl. - praktisch ebenso wie die "loix generales" - die Gesetze25 • In dem Maße, in dem es dem "princeps" gelingt, seinen Befehlen- "befehlen" bzw. "wollen" sind die Leit- und Schlüsselbegriffe, die für gesetzliche Anordnungen in unserem Raum charakteristisch sind26 - , in dem Maße also, in dem es ihm gelingt, sei24 H. Lieberich, Polizeigesetzgebung (Anm. 1). Als regionaler Gegenpol ist zu vergleichen J.-M. Cauchies, La IE~gislation princiere pour le comte de Hainaut. Ducs de Bourgogne et premiers Habsbourgs (1427-1506), (Publications des Facultes Universitaires Saint-Louis 24), 1982, bes. S. 495-588. 25 J. Bodin, Republique (Anm. 4), S. 150. Zum Problem der "Allgemeinheit" von Gesetzen, das aufs engste mit der Gegenüberstellung von "zentralstaatlicher Regelungstätigkeit" und den Selbstdispensationen und eigenständigen Normsetzungen intermediärer Obrigkeiten verquickt ist, vgl. R. Schulze, Gesetzgebung (Anm. 7), S. 163-167. !I Etwa Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch III (Anm. 12), Nr. 86: "statuimus et ordinamus" (1310); Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 1 f.: "sub pena ... districtissime precepimus valentes ..." (1315); Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 12, 71: "voert wyllen wy dat" (1325, 1328); L. Ennen, Quellen zur Geschichte der Stadt Köln V, 1875, Nr. 262: "ordinabimus et disponemus"; J . J . Scotti, Churfürstenthum Trier (Anm. 91), Nr. 13: "han wir ... geerdinieret und gesatzt" (1400); Doorninck, Acten 1400-1404 (Anm. 136), S. 7: "so willen wij .. . , wairomme wij u ontbieden ende bevelen mit allen onsen ernste" (1400); Th. Ilgen, a. a. 0., S. 20: "hevet ... ingesat ind bevalen" (1431); J. Hansen, Seester Fehde (Anm. 123), Nr. 13: "gebieden wij ernstlichen" (1433); F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV (Anm. 20), S. 259: "van den bevele, dat unse g. h .... dede doin" (1447); 0. R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik I (Anm. 98), Nr. 33: "bevelen uch, so wir ernstliebste moigen" (1467) usw. - Dies ist übrigens kennzeichnend für den Gesetzesstil des ganzen europäischen Ancien Regime, vgl. H. Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Anm. 5), bes. S. 199-208.

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nen Befehlen in seinem ganzen Lande bzw. in allen seinen Landen Geltung zu verschaffen und sie für alle seine Untertanen trotz deren unterschiedlicher Rechtsstellung verbindlich zu machen, treibt er den Verstaatungsprozeß seines Territoriums voran. Und deshalb setzt er mit seiner gesetzgeberischen Aktivität in der Regel in jenen Bereichen ein, die im Sinne entgegenstehender Berechtigungen und Privilegien rechtsfrei sind (er besteuert seine Adligen nicht, sondern verbietet ihnen das Würfelspiel) oder in denen seine eigene hergebrachte Rechtsposition so stark ist, daß ein gefährlicher Konflikt nicht zu befürchten ist: das gilt einmal für sein Domanialgut, seine grundherrliehen und vogteiliehen Rechte und .die Regalien, und das gilt zum andern für seine verliehene oder usurpierte, am Ausgang des 14. Jahrhunderts jedenfalls unbestrittene Position als Friedensbewahrer und -garant in seinem Lande27• Anders ausgedrückt: Dort, wo von der Tradition nicht zugestellte oder allzu eingeschränkte Entscheidungsräume offenstehen, beginnt die fürstliche "potestas legislatoria" allererst zu greifen. Die Frage nach Geltungsgrund und -bereich territorialer Gesetze provoziert zwangsläufig diejenige nach ihrer Wirksamkeit. Konnte die strikte Befolgung dieser "statuta" durchgesetzt werden, sollte sie es nach modernen Maßstäben gemessen - überhaupt? Daraufhin sind die Formen des Erlasses von Gesetzen, die Art und Weise ihrer Publikation, die mit ihnen verbundenen Sanktionen und Strafstipulationen zu überprüfen. Dabei ergibt sich im Rahmen des uns vorliegenden Materials ganz überraschend das Problem, ob - von allen historischen wie gelehrten Definitionen einmal abgesehen - die Schriftform für das Gesetz tatsächlich konstitutiv ist28 , oder ob wir auch mit mündlich erlassenen Gesetzen, Geboten, zu rechnen haben, wobei die Zeitgenossen zwischen beiden keinen großen Unterschied machten. Es fällt nämlich bei der Durchsicht der spärlich erhaltenen Brüchtenprotokolle auf, daß gelegentlich Leute für Delikte bestraft wurden - Beamtenbeleidigung, Fluchen, Würfelspiel -, die erst Jahrzehnte später gesetzlich verboten worden sind29• Wie ist in diesen Fällen die allgemeine, schriftlich erlassene und auf die übliche Weise publizierte "ordinancie" in ihrer Funk17

A. Uyttebrouck, Duchede Brabant (Anm. 3), S. 117.

Dazu für alle anderen A. Wolf, Gesetzgebung (Anm. 1), S. 518 f. - Das Merkmal der Schriftlichkeit wird vor allem von den gelehrten Theologen oder Juristen nachdrücklich betont. So ist bei Aegid.ius Romanus De regimine (Anm. 14), S. 519 zu lesen: "lus vero positivum quia non sie est scripturn in corde [wie das ius naturale], ne a memoria recederet, oportuit ipsum scribi in aliqua exteriori substantia"; und bei Philipp von Leyden (Anm. 9) findet sich S. 391 die Bemerkung: "Multum expedit principi ad conservationem iurisdictionis suae, si in civilibus causis habeat praesidentem, qui causas expediat in scriptis et de iure scripto" . 2u Siehe unten S. 31 f. 28

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tion und im Hinblick auf ihre nichtschriftlichen Vorläufer zu beurteilen? Erlauben Sie, den Fragenkatalog hier abzubrechen und die angerissenen Probleme nicht systematisch in der Abfolge ihrer Aufzählung, sondern in lockerer Form angelehnt an jene Quellenauszüge zu behandeln, die ich im folgenden vorstellen möchte.

11. Im Jahre 1448 erläßt der Herzog Adolf I. von Kleve "umb selicheit will onßer, onser erven ind nakomelinge zielen [ = Seelen} ind onsen ondersaten to genaden ind to troist ... ind umb den gemeynen orber eyn ordinancie ... ind ingesette [op weterynge, dijckinge etc. (also ein Deich- und Entwässerungsgesetz)J ... ten ewigen daigen toe to duren, ten weir wij of onse erven bij onsen gemeynen lande tot meirre orber oft beter reden anders hijrop ordinierende wurden". Er befiehlt, zwei authentische Exemplare dieser "ordinancie" in den Schöffenschreinen der Städte Kleve und Kaikar zu hinterlegen, von denen jeder Untersasse auf eigene Kosten eine Abschrift anfertigen lassen kann30• Dieses Gesetz - und es ist nach den strengsten inhaltlichen und formalen Kriterien ganz ohne Zweifel ein solches - schließt eine Serie von "ordinancien und ingesetten" ab, die Herzog Adolf seit 1424 teils erlassen, teils geplant hat. Es ist freilich das einzige davon, das in den Formen einer herkömmlichen Herrscherurkunde ausgestellt ist und damit eine Art Präambel enthält, in der der Erlaß des Gesetzes begründet und seine von vornherein befristete Geltung festgelegt wird. Die verwendeten Formeln - Entlastung der Untertanen, Förderung des gemeinen Wohls- sind zwar Gemeinplätze, zeigen die klevische Kanzlei aber auf der Höhe der Zeit und mit den gängigen juristischen und moraltheologischen Theoremen vertraut31 • Der Herzog selbst dürfte freilich eigene Vorstellungen vom Wohl seiner Untertanen gehabt haben. Ein Zeuge aus seiner Umgebung, der Xantener Stiftsdechant Arnold Heymerick (dem wir auch die oben gehörte Anekdote über den Bartolus- und Baldusverehrer verdanken), berichtet nämlich, von ihm den Ausspruch vernommen zu haben, daß das Volk zu einem anständigen Leben geKleve II 2 (Anm. 18), S. 43 f. Mit der Förderung des "bonum commune" bzw. des allgemeinen Nutzens werden der Erlaß von Gesetzen und Änderungen der Rechtsordnung in der Theorie ungemein häufig gerechtfertigt. S. Gagm?r, Studien (Anm. 16), S. 276 ff.; H. M. Klinkenberg, Veränderbarkeit (Anm. 16), S. 179 f., 186; R. Sprandel, Problem neuen Rechts (Anm. 16), S. 131 f. - Eine den Zeitgenossen besonders bekannte Stimme: "Nulla est ergo lex, quae non sit edita ab eo, cuius est dirigere in bonum commune" (Aegidius Romanus, De regimine [Anm. 14], S. 526). so Th. Ilgen,

at

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zwungen werden müsse32 : "Honestum in vulgo esse nihil nisi coactum Adolphus dixisse accepimus". Diesem pessimistischen Menschenbild und großen fürstlichen Selbstbewußtsein entsprechend sind seine "ordinancien" in der Regel im stilus objectivus verfaßt und ausschließlich durch den in seinen Motiven und Absichten nicht weiter erläuterten Willen des Herrschers gerechtfertigt. So beginnt die klevische Landesordnung von 1431 lapidar: Im Jahre 1431 "hevet die hogeboren furste Adolph ... ingesat ind bevalen ...", noch kürzer wird die Gerichtsordnung von 1440 eingeleitet, wo den Untertanen eröffnet wird, "dat unse g. h. hertoige van Cleve etc. gheerne hedde, dat ..." (principi placuit!)33• Trotz des barschen und bestimmenden Tons soll - glaubt man dem schon erwähnten Arnold Heymerick34 - die Durchsetzung dieser "Ordnungen" keine Schwierigkeiten gemacht haben. "Tarn ... Adolphus ... fuit creditus et dilectus, ut quitquid statuere ei liberet equissimo quisque animo exequeretur". Das mag richtig sein, solange der Herzog darauf achtete, daß Recht und Ordnung nicht miteinander in Konflikt kamen, daß mithin die "alden rechte, goide gewoenten ind herkommen" 35 nicht verletzt wurden. Der Überlieferung der Landesordnung von 1431 im Stadtrechtsbuch von Kalkar36 ist freilich die Anmerkung hinzugefügt: " ... dat, doe g. h. hartough ... dese vurscr. ordinantie had doen setten, hegerende doe van den steden, dat sy dartoe voigen ind mede besegelen n F. W. Oediger, Schriften d. Arnold Heymerick (Anm. 23), S. 219. Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 20, 32. - Zum Topos "Quod principi placuit, legis habet vigorem" (Inst. 1.2.6) vgl. A. Wolf, Gesetzgebung (Anm. 1), S. 528 ff. und H. M. Klinkenberg, Veränderbarkeit (Anm. 16), S. 182 f. - Im übrigen verzichten die Fürsten unseres Raumes fast durchweg darauf, sich für den Erlaß von Gesetzen selbst zu legitimieren. Ausdrückliche Berufungen auf ihre "Herrschaft" oder "Obrigkeit" fehlen zumeist. Eine Ausnahme ist eine Verordnung des Herzogs Wilhelm von Jülich-Geldern aus dem Jahre 1395, in der dieser kundtut, "dat wij bij rade ende guetdunken onser vryende ende rade overmids onser heirlichede, die wij van den Heligen Rijke halden, hebben gesatt ende setten ..." (P. N. van Doorninck, Acten betr. Gelre en Zutphen 1377-1397, 1901, S. 99 f.) - eine Formulierung, die sich ganz ähnlich auch bei Herzog Albrecht III. von Bayern findet (H. Lieberich, Polizeigesetzgebung [Anm. 1], S. 323). Den Begriff "oberkeit" gebraucht ein Gesetz des Trierer Kurfürsten von 1510 (J. J. Scotti, Churfürstenthum Trier [Anm. 91], Nr. 45). Er scheint damals noch nicht weiter nach Nordwesten vorgedrungen zu sein. 34 F. W. Oediger, Schriften des Arnold Heymerick (Anm. 23), S. 227. 35 E. Liesegang, Niederrheinisches Städtewesen, vornehmlich im Mittelalter (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 52), 1897, S. 569. - Ahnliehe Formulierungen z. B. auch im bergischen Rechtsbuch vom Ende des 14. Jh. (Düsseldorfer Jahrbuch 39, 1937, S. 143): "dat alde recht, herkomen ind die gewonheyt des lantz"; in einer geldrischen Landrechtsbestätigung von 1423 (Gelders Placaet-Boeck [Anm. 47], App. Sp. 15 ff.): "niet verkort t'syn in oeren gueden alden regten ende privilegien"; in der Weseier Stadtrechnung zum Jahre 1433 (F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV [Anm. 20], S. 118): "up unse alde recht ende gewoenten". 36 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 19 f. 33

2 Der Staat, Beiheft 7

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walden, dair sy ter tijt weigeringe in deden, umb dat sommige punten der ordinantien tegen der stede rechten gesatt waeren". Es ist im gegebenen Fall schwer auszumachen, worin sich die Städte in ihrem Recht gekränkt fühlten. Die Landesordnung behandelt vornehmlich die Vergabe und Verwaltung der herzoglichen Güter - drängt hier auf eine Steigerung des Ertrags und eine Umwandlung des Vergabemodus (statt Leibgewinn: Verpachtung) - , verpflichtet zur Anlage von Obstgärten, begrenzt die Wagen- und Pflugdienste für die landesherrlichen Beamten, regelt die Eintreibung ·der Brüchten, schreibt für Stadt und Land .ein einheitliches Biermaß vor und reguliert den Bierpreis, verbietet den Wirtshausbesuch nach Sonnenuntergang, das Würfelspiel und die unbeaufsichtigte Viehtrift und schreibt schließlich vor, daß ein städtischer Gläubiger einen ländlichen Schuldner dieser Schuld wegen nur vor dem für ihn zuständigen Gericht auf dem Lande, nicht vor dem Stadtgericht belangen kann. Von diesem letzten Punkt abgesehen bewegt sich die Landesordnung auf einem Gebiet, das im herkömmlichen Sinne "rechtlich" nicht geregelt war, wenn man "recht" -und dazu zwingt uns der Sprachgebrauch unserer Quellen - als ein Ensemble durch Gewohnheit eingespielter Verhaltensnormen und Leistungserwartungen versteht, das höchstens partiell in Privilegien fixiert ist, im allgemeinen aber eine nichtschriftliche Existenz in einem recht nebulosen Rechtsbewußtsein führt, aus dem heraus es dann in der Form von "vondenissen" (Urteilen) konkrete Gestalt annimmt37 • Es ist seinem Bedeutungsschwergewicht nach eher Berechtigung als Recht im Sinne eines objektiven Normensystems und bezeichnet eher das, was man hat und darf, als das, was man muß. Soviel läßt sich guten quellenkritischen Gewissens sagen, ohne in der seit einiger Zeit geführten Kontroverse um den (früh)mittelalterlichen Rechtsbegriff38 Position beziehen zu müssen. Dieses 37 Zur "rechtsschaffenden" Funktion von Urteil und Weistum im Mittelalter s. W. Ebel, Gesetzgebung (Anm. 2), S. 12-20, sowie H. Krause, Gesetzgebung (Anm. 11), Sp. 1607, und K. H. Bunneister, Genossenschaftliche Rechtsfindung und herrschaftliche Rechtssetzung. Auf dem Weg zum Territorialstaat, in: HZ Beih. 4 (NF), 1975, S. 171-185. - Kritisch zur Vorstellung eines im Mittelalter geltenden, als System objektiver Normen vorgegebenen, sich durch die Gewohnheit legitimierenden "Überzeugungsrechts" K. Kroeschell, "Rechtsfindung". Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung, in: Festschrift Hermann Heimpel, 111, 1972, S. 498-517. Gegen Kroeschell hinwiederum G. K. Schmelzeisen, Rechtsfindung im Mittelalter?, in: ZRG KA 91 (1974), S. 73-89. 38 Dazu neben den einschlägigen Arbeiten von K. Kroeschell, die in seinem Aufsatz über die Rechtsfindung (Anm. 37) zitiert sind, vor allem G. Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 7), 1971. Dazu jüngstens mit dem nicht ohne Vorbehalte unternommenen Versuch, die Kern'sche These von dem in der Gewohnheit bestehenden guten alten Recht zu retten: H. Vollrath, Herrschaft und Genossenschaft im Kontext frühmittelalterlicher Rechtsbeziehungen, in: Historisches Jahrbuch 102 (1982), S. 33-71. - In unserem Zusammenhang spielt diese Kontroverse allerdings

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Recht sich selbst und seinen Untersassen zu bewahren, gilt auch noch im 15. Jahrhundert als die oberste Fürstenpflicht In den seit der Mitte des 14. Jahrhunderts vorliegenden klevischen Amtmannbestallungen39 wird dem Amtmann nach festem Formular die Verpflichtung auferlegt, "to richten mit vondenisse end mit rechte, also als ons dat lantrecht daer gelegen is". Die kölnischen Amtleute sind angehalten, die Amtsuntersassen in ihren hergebrachten Rechten zu bewahren40• Dieser betont konservative Grundzug landesherrlicher Politik kommt auch im sog. ,.Neuen Regiment" des Herzogs Johann IV. von Brabant von 1422 zum Ausdruck41 , wo zuoberst garantiert wird, "dat men eenen iegeligken binnen den voorscr. onsen lande vonnis ende recht doen sal onvertoghen van allen saecken die te vonnisse staen". Mit dieser Einschränkung ist jedoch zugleich der Punkt markiert, an dem das moderne "Gesetzesrecht" eingreifen konnte oder sogar mußte. Sofern das Mittelalter dahin tendierte, das Gewöhnliche für das Richtige zu nehmen, "ius" und "consuetudo" gleichzusetzen42 , mußte eine neue außergewöhnliche Situation zwangsläufig Desorientierung, Unordnung hervorrufen. Und solcherart Lagen häuften sich - bedingt durch den steigenden Bevölkerungsdruck - seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Gleichzeitig wurden die politischen und sozialen Verhältnisse so komplex, daß sie sich nicht mehr "per consuetudinem" gleichsam von selbst regulierten. Es bedurfte rational steuernder Eingriffe; die Stunde des Territorialstaats schlug. Schon die Landfriedensbewegung hatte ja in immer neuen Anläufen versucht, mit bislang ungewohnten oder als immer unerträglicher empfundenen Störungen des sozialen Lebens fertig zu werden. Nicht von ungefähr ist die erste gesetzesähnliche Verfügung in unserem Gebiet ein Mandat, in dem Graf Dietrich von Kleve den "homines terre nostre", die sich an Bittprozessionen "incurate . .. et indevote cum gladiis et fuscibus tamquam pugnaturi" beteiligen, das Waffentragen bei keine Rolle; denn daß im Spätmittelalter die Überzeugung von der "Richtigkeit" des alten, gewohnten Rechts herrschend war, bedarf wohl keines Beweises. Es ließe sich allerdings fragen, ob diese Überzeugung nicht gerade dadurch verfestigt worden ist, daß nun die Möglichkeit zumindest denkbar wurde, auch das Ungewohnte, das Neue könne rechtens werden. 89 Etwa Th . Ilgen, Kleve II 1 (Anm. 19), Nr. 89, 112, 120, 131, 133 u. ö. 40 Einige Beispiele: W. Janssen (Bearb.), Die Regesten der Erzbischöfe von Köln (Publikationen d. Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 21) VI, 1977, Nr. 238, 258, 586, 678, 865, 1092, 1407; VII, 1982, Nr. 81, 184, 214, 475, 752,

834,996. 41

Placcaeten ende ordonnantien van de hertoghen van Brabandt IV, 1677,

s. 379.

41 H. Krause, Art. Gewohnheitsrecht, in: HRG I (Anm. 11), Sp. 1675 ff.; H. Vollrath, Rechtsbeziehungen (Anm. 38), S. 38, 53 f., z. T. in Auseinandersetzung mit G. Köbler, Zur Frührezeption der "consuetudo" in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 89 (1969), S. 337-371.

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dieser Gelegenheit verbietet49 , und zwar unter der 5 Mark-Brüchte, damit diejenigen, "quos timor dei a malo non revocat, pena saltem cohercat temporalis" - wie ein mit der einschlägigen Literatur vertrauter Kanzleibeamter formuliert hat44. Allerdings hat sich das Landfriedensrecht des 12./13. Jahrhunderts auf Dauer nicht zu einem eigenständigen Rechtsgebiet stabilisiert, sondern ist mit seinen Delikt- und Strafkatalogen sowie seinen Verfahrensvorschriften zu einem Teil des Landrechts geworden, in dessen Rahmen wir es im 14. Jahrhundert überall wiederfinden45; seines ursprünglichen Charakters als Sonderrecht entkleidet und in die allgemeine Rechtsordnung - "dat oude gecostumeerde lantrecht" - eingebunden, wie es in einer 1459 erlassenen brabantischen Polizeiordnung Herzog Philipps des Guten heißt46 • III.

Vorformen bzw. Frühformen landesherrlicher Legislative begegnen in unserem Raum in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und setzen dort ein, wo im Interesse einer materiellen Existenzsicherung Gemeinschaftsaufgaben von einem beispiellosen, ganz ungewohnten Ausmaß in Angriff genommen werden mußten: die Gewinnung neuen Bodens durch Deichbau und Entwässerung. 1321 erließ oder gewährte - wir kommen darauf zurück - Graf Rainald II. von Geldern für das Land zwischen Maas und Waal ein sogen. Deichrecht, dem er folgenden begründenden Vorspann voraufschickte: "Wan't gemeyne lant tusschen Maese ende Waele- beydein der greffschap ende in den Ryck- begeert beyde, dat lant te bedycken ende te weteren, so dat lant daerby gebetert sye, ende 't gemeyne lant des niet overdragen noch volbrengen enkan sonder raet ende hulpe van ans, hieromme hebben wy by raede onser vrunden omme beyde, oirber end behouff ons lant voerschr. gesat gesworen dyckgreve ende heemraeden in dit vorschr. lant" usw....47• Hier ist mit Deutlichkeit ausgesprochen, daß die bisherigen politischsozialen Organisationsstrukturen - Grundherrschaften und Nachbarschatten auf genossenschaftlicher Basis - sich nicht mehr in der Lage Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 1 f. Zum Zusammenhang von Gesetz und Strafe z. B. Thomas von Aquin: "ld autem per quod inducit lex ad hoc quod sibi obediatur, est timor poenae; et quantum ad hoc, ponitur legis effectus punire" (zit. S. Gagner, Studien [Anm.16], S. 268).- Vgl. auch Anm. 17. 45 H. Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, 1966, s. 154--157, 235 f., 448-478. 48 Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 400. 47 Groot Gelders Placaet-Boeck ... II, uytgegeven door W. van Loon, 1703, Appendix Sp. 8. 43

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sahen, die großen Deich- und Entwässerungssysteme anzulegen und an'emessen zu unterhalten; dazu bedurfte es des größer gespannten territorialen Rahmens und qualifizierter herrschaftlicher Verwaltungstechniken48. Sie waren zugleich nötig, um im Interesse der Zukunftsbewältigung Gebiete verschiedener Rechtsqualität innerhalb des gleichen Lebensraums einander anzugleichen. Im Lande zwischen Maas und Waal- ein geldrischer Amtsbezirk- verfügte der Graf einesteils über eigenständige grundherrliche und gräfliche, andernteils über pfandherrliche Rechte an Reichsgut49. Diese Tatsache übrigens, die in der Urkunde von 1321 noch zum Ausdruck kommt, ist späterhin in den konfirmierenden Folgeurkunden50 bezeichnenderweise nicht mehr erwähnt. Assimilierungstendenzen scheinen auch hinter der Serie sogen. Landrechtsverleihungen gestanden zu haben, die der ebengenannte Graf Rainald in den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts vorgenommen hat, offenbar notwendig geworden dadurch, daß im Zuge der großangelegten Kultivierungsarbeiten die bisherigen Siedlungsinseln sich zusammenfügten und neu organisiert werden mußten. Diese sogen. "Landrechte" - der Begriff selbst taucht für diese Art von Dokumenten schon im 15. Jahrhundert auf - hat Rainald für die einzelnen Ämter seines Territoriums mit einem teils ähnlichen, teils aber erheblich abweichenden Inhalt erlassen: 1327 für die Tieler- und Bommelerwaarden, die Ober- und Niederbetuwe51 , 1328 für das Land zwischen Maas und Waal und das Land an der Niers52 , das spätere Oberquartier. Das Landrecht für die Tieler- und Bommelerwaarden53 - das beispielhaft herausgegriffen sein soll- beginnt mit einem Strafenkatalog für Körperverletzungen, Mord und Brand, regelt prozessuale Fragen, die Brüchteneintreibung, geht dann unvermittelt auf den Verkauf von Zins- und Lehnsgut über, fügt daran die Privilegien für die Stadt Zaltbommel an, gibt Vorschriften über die Zusammensetzung, Qualifikation und Wahl der Schöffen am Landgericht, kommt noch einmal auf das Statutarrecht von Zaltbommel zurück und schließt mit Ausführungen über die Pflichten und die Stellung der landesherrlichen Beamten. Die Urkunde wird vom Grafen, seiner ganzen Familie einschließlich Mutter und Schwe48 W. Janssen, Niederrheinische Territorialbildung. Voraussetzungen, Wege, Probleme, in: K. Flink I E. Ennen (Hrsg.), Soziale und wirtschaftl. Bindungen am Niederrhein (Klever Archiv 3), 1981, S. 95-113. 49 L. S. Meihuizen (Bearb.), De rekening betreffende het graafschap Gelre 1294/1295 (Werken ... Gelre 26), 1953, S. 118-130, 94--105. so Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 13-27. 51 Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 71-77 = I. N. Nijhoff, Gedenkwaardigheden uit de geschiedenis van Gelderland I, 1830, Nr. 215; Gelders Placaet-Boeck, a. a. 0., App. Sp. 27-30. 12 Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch 111 (Anm. 12), Nr. 655. 58 I. N. Nijhoff. Gedenkwaardigheden (Anm. 51), Nr. 215.

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stern und vier hohen Adligen besiegelt, die als "onse riddere ende raed" vorgestellt werden, weist also noch eher Elemente einer patrimonialen denn staatsähnlichen Herrschaftsvorstellung auf. Es wird deutlich - und ein Blick in andere "Landrechte" bestätigt dies -, daß hier ausschließlich jene Materien behandelt sind, die das Verhältnis zwischen dem "dominus terrae" und seinen Untersassen unmittelbar berühren, eine Bestimmung im Recht für die Betuwe über die Vormundschaft54 wirkt fast wie ein Fremdkörper. Das Recht wird schriftlich fixiert, vereinheitlicht und territorialisiert; es gilt für alle, "die daer nu wonagtigh syn off naemals sullen woonen" 65 • Allerdings: Substrat dieser Territorialisierung des Rechts ist noch nicht die ganze "terra", sondern sind ihre Untergliederungen: die Ämter. Das fällt insofern auf, als es so etwas wie ein gemeinterritoriales Rechtsbewußtsein schon seit einiger Zeit gegeben haben muß. Zumindest kennen die Quellen dafür den Begriff: die "terre ... consuetudo generalis", unterschieden von den "consuetudines locorum et provinciarum", abgehoben von den "iura canonica vel civilia", wie es in dem Rechtsquellenkatalog einer Einredeverzichtsklausel heißt, mit der eine Xantener Urkunde von 1285 schließt56• Bei der hier genannten "terra" handelt es sich um den mehr oder minder zufällig aus unterschiedlichsten Stücken agglomerierten Herrschaftsbereich eines "terrae dominus", zusammengerafft, nicht zusammengewachsen, teils weiter abbröckelnd, teils sich noch ausdehnend: von der "terre nostre ... consuetudo generalis" spricht 1275 Graf Rainald I. von Geldern57, 1298 ist von "ius et consuetudo patrie seu terre domini comitis Clevensis" 58 die Rede. Die Allgemeinheit dieses Landrechts kann bestenfalls in wenigen Normen oder Regeln von breiterer Geltung und in einem relativ verschwommenen Rechtsbewußtsein gelegen haben, das sich über die "consuetudines provinciarum et locorum" hinaus über die ganze "terra" ausgeweitet und dort dann seine Grenzen gefunden hat. Sie mag sicherlich dazu beigetragen haben, daß dem Landesherrn eine besondere Stellung diesem Landrecht gegenüber, das ja das Recht des von ihm erst geschaffenen Landes war, zugestanden wurde - Zugeständnisse in dem Sinne, daß der Fürst als Wahrer und Garant dieses Rechts selbst nicht striktdarangebunden war, jedenfalls im Einzelfall nicht. Seit dem 15. Jahrhundert ist der Passus in den " Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 28. 55 Ebd., Sp. 11. 58 P. Weiler (Bearb.), Urkundenbuch des Stiftes Xanten I, 1935, Nr. 280. 57 L. A. J. W. Baron Sloet, Oorkondenboek der graafschappen Gelre en Zutfen tot ... 1288, 1872, Nr. 965. 58 P. Weiler, Urkundenbuch Xanten (Anm. 56), Nr. 339.- Gegenüber diesen eindeutigen Quellenzeugnissen wären die Zweifel von R. Schulze, Gesetzgebung (Anm. 7), S. 184 Anm. 95 an der Existenz eines "einheitlichen Territorialgewohnheitsrechts" zu überdenken.

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klevischen Amtmannsbestallungen, wo diesem aufgetragen ist, "alremallich toe richten ind recht toe loten wedervairen na vondenysse ... ind na lantrechten", mit dem Zusatz versehen, "then weir, dat wy oen anders wat bevelen, dat solde hie doen" 59• Davon abgesehen mag der Begriff des territorialen Landrechts der Vorstellung von der Berechtigung des Fürsten, territorial verbindliche Gebote und später Gesetze zu erlassen, durchaus vorgearbeitet haben, weil schon im 13. Jahrhundert die "terra" in ihrer jeweils konkreten Gestalt als ein einheitliches Rechtsgebiet verstanden wurde. Allerdings war der Inhalt dieser "consuetudo terre generalis"noch im 14. Jahrhundert so wenig abgeklärt, daß er sich einer Kodifikation entzog. Die meisten Territorien begannen damals gerade erst, die "consuetudines locorum" in Form von Weistümern aufzuzeichnen60 • Die authentische Kodifizierung von "consuetudines provinciarum", wie sie in Geldern 1327/28 begegnet, stellt demgegenüber bereits einen erheblichen Fortschritt dar und markiert zugleich die Grenzen, die an Rhein und Maas einer gesetzgebenden bzw. quasi-gesetzgebenden Aktivität noch gesetzt waren. Denn es ist allerdings die Frage, ob diese Urkunden Gesetze oder Privilegien sind. Und da fällt der terminologische Unterschied zu den Gesetzestexten des 15. Jahrhunderts doch überdeutlich ins Auge. Die hier behandelten Rechte werden "gegeben"; die Untersassen sollen "erflicken ende ummermeer van ons ... alsulken recht ... hebbenende behouden" und wie die entsprechenden Formulierungen lauten81 • Es ist nicht von "setzen, ordinieren, befehlen" die Rede, sondern von "gewähren, begnaden" und - als Selbstbindung des Gewährenden - von "geloben". Wir haben es hier m. E. mit einer offiziellen und regulierenden Aufzeichnung geltenden Rechts verschiedenen Alters in Privilegienform zu tun82, ähnlich der offiziellen Redaktion der Coutumes in Frankreich63 • Außer dem Bedürfnis nach Nivellierung und Angleichung dürfte es vor 5' Th.Ilgen, Kleve II 1 (Anm. 19), Nr. 250, ähnlich Nr. 227, 230, 240, 248, 262, 272 u. ö. eo Die Aufzeichnung und Zusammenstellung der lokalen bzw. regionalen Rechte des Kölner Erzbischofs erfolgte z. B. in den 70er Jahren des 14. Jh.: HStAD Kurköln, Kartular 2, S. 1-79. et Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 11, 13, 27, 72. 62 Zum Problemkreis Gesetz Privileg vgl. H . Krause, Art. Gesetzgebung (Anm. 11), Sp. 1610 f.; ders., Königtum und Rechtsordnung (Anm. 11), S. 32 ff.; H . Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Anm. 5), S. 209; A. Wolf, Gesetzgebung (Anm. 1), S. 518; R. Schulze, Gesetzgebung (Anm. 7), S. 203-207; B. Diestelkamp, Gesetz (Anm. 7), S. 396-401, der darüber hinaus für eine umfassende Berücksichtigung "von ,gesetzesgleich' verwendeten Rechtstexten" bei der Erforschung der Gesetzgebungsgeschichte plädiert. 68 G. Gudian, Art. Coutumes, in: HRG I (Anm. 11), Sp. 641-648; H. Quaritsch, Souveränität (Anm. 74), S. 170. Siehe auch Th. Bühler, Gewohnheitsrecht und Landesherrschaft im ehemaligen Fürstbistum Basel (Rechtshistorische Arbeiten 8), 1972, bes. S. 179 f.

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allem der Wunsch nach Eindeutigkeit, nach einer "lex certa", gewesen sein, der den Landesherrn zu einer schriftlichen Fixierung der Rechtsbeziehungen zu seinen jeweiligen Untersassen gedrängt hat. Recht in eine authentische Schriftform zu bringen, ist gewiß nicht wenig, aber es ist noch kein gesetzgeberischer Akt stricto sensu. Selbst wenn man unterstellt, es sei hier in der "Tarnform" des Privilegs84 neues Recht festgestellt worden, so bleibt es doch bedenkenswert, daß man die "Tarnform" nicht abstreifte. Aufschlußreich ist auch, daß diese "Landrechte" - ähnlich den sogen. Herrschaftsverträgen, denen sie nahestehen später immer wieder bestätigt wurden, also als "guede alde regte ende privilegien" galten, wie es in einer solchen Konfirmationsurkunde von 1423 heißt65 • Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts werden die bloßen Bestätigungen von ".dijck- ende landtrechten" abgelöst oder ergänzt durch Verfügungen, die das Ziel haben, diese Rechte "deels to verklaeren ind verbeteren ... deels to vernyen ind to veranderen" 68• Dies aber nicht mehr stillschweigend, sondern ausdrücklich in Form einer "ordinancie, die z. g. thoe welvaren ende proffyt [der] lantschappen ... bevelen ende willen also van den officieren ende ondersaten geholden ende agtervolgt t'worden ... op die hoichsten bruecken" 87 • Beabsichtigte und bekundete Rechtsänderung bzw. -erneuerung durch Gesetz gibt es in unserem Gebiet nicht vor dem 15. Jahrhundert. Ich würde sogar sagen, Gesetze als schriftlich konstituierte, durch Gebot einer qualifizierten Allgemeinheit auferlegte Verhaltensnormen, die hinreichend publik sind und deren Nichtachtung durch weltliche Strafen geahndet wird: diese Gesetze gibt es an Rhein und Maas und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in den deutschen Territorien überhaupt nicht vor dem 15. Jahrhundert. Das ist- wenn eine kurze abschweifende Anmerkung gestattet istinsofern erstaunlich, als die bischöflichen Landesherren aufgrund ihrer ordentlichen geistlichen Gewalt schon seit langer Zeit gewöhnt waren, Synodalstatuten zu erlassen, mit denen sie gesetzesförmlich in die "res spirituales et ecclesiasticas" eingriffen88• Trotzdem taten sie sich zum Teil - das gilt etwa für Kurköln - schwer, diese Praxis auch für ihre weltliche Herrschaft zu übernehmen, oftmals schwerer als viele der Laienfürsten in ihrer Nachbarschaft. Nichts verdeutlicht vielleicht ein84 Dazu W. Ebel, Gesetzgebung (Anm. 2), S. 30, 39 ff. es Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 17. 88 Ebd., Sp. 156.

Ebd., Sp. 138. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte: Die katholische Kirche, 4. Auf!. 1964, S. 375 f.; P. Johanek, Synodalia. Untersuchungen zur Statutengesetzgebung in den Kirchenprovinzen Mainz und Salzburg während des Spätmittelalters, Habil.-Schrift Würzburg 1978 (Ms.). '7

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drucksvoller das hemmende Gewicht der Tradition als diese Beobachtung. Das um den herrscherliehen Willen und Befehl gruppierte Wortfeld sollte angesichts des Mangels an einem verbindlichen Gesetzesbegriff als Indiz beim Aufspüren von Gesetzen dienen, weil darin verbal jene Tendenz offenkundig wird, die vorgefundenen Verhältnisse nicht mehr nur zu bewahren, sondern zu gestalten, welche die frühen "Tarnformen der Gesetze" eben nicht erkennen lassen. Wenn wir der Terminologie und dem Stil der Quellen in dem Wunsch nach "Enttarnung" allzu geringe Beachtung schenken, kommen wir sehr rasch in methodische Schwierigkeiten. Nicht nur, daß wir uns dann bis hin zur Gegenwart umgekehrt mit Gesetzen als "Tarnformen für Privilegien" herumzuschlagen haben: wie wollen wir willentlich gesetztes neues Recht bei seinem schriftlichen Auftauchen überhaupt als solches erkennen, wenn die "alte gute Gewohnheit", dergegenüber es materialHer eine Novität darstellen soll, im Dunkel der bloß mündlichen Tradition für uns verschwunden bleibt und nur Gelegenheit für Spekulationen läßt. IV. Es hat ohnehin lange genug gedauert, bis die Landesherren das theoretisch schon lange bereitstehende Argumentenarsenal für eine gesetzliche Änderung bestehenden Gewohnheitsrechts tatsächlich und bewußt einsetzten. In der klevischen Gerichtsordnung von 144089 verfügt der Herzog ausdrücklich, daß die "gewoente", wonach bei einem Gerichtstermin ein Umstehender unvorbereitet von einem anderen bei "sittendem gerichte" zur Verantwortung gezogen werden konnte, "sal afwesen end nyet meir alsoe geschien", weil ihn "dat dunckt vaerlicken end onrecht wesen". "Recht" ist hier im Sinne von richtig, billig, vernünftig gebraucht. So hatte schon der Bischof von Lüttich im Einvernehmen mit seinem Kapitel und seiner Hauptstadt 1403 "plusseurs poins touchans la loy de nostre pays ... discordains a raison . . . pour l'avancissement de bin common et Je profit et utiliteit" geändert, und zwar "par maniere de status" 70• Hier sind die geläufigen theoretischen Reflexionen über die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine Rechtsveränderung zulässig seF1 , ziemlich ausführlich in den Urkundentext eingegangen, während die klevische "ordinancie" zwar wortkarger, aber im gleichen Sinne argumentiert. Es ist sicherlich kein Zufall, daß es in beiden Fäl89 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 33. Auch E. Liesegang, Niederrhein. Städtewesen (Anm. 35), S. 570. 70 S. Bormanns, Ordonnances de Liege (Anm. 10), S. 388. 71 S. Gagner, Studien (Anm. 16), S. 275-278; H . M . Klinkenberg, Veränderbarkeit, und 0. Hageneder, Gesetzgebungsrecht (beide Anm.16), passim.

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len um das Verfahren vor den Schöffengerichten geht. Gerade die Förmlichkeit und schleppende Schwerfälligkeit des traditionellen Prozeßrechts verlangte mit Rücksicht auf die gewandelte Sozial- und Wirtschaftsordnung nach Reformen, und es begreift sich deshalb ohne weiteres, daß auf diesem Gebiet die frühesten Zusammenstöße zwischen dem "ius" und den "statuta patriae" erfolgen mußten. Die Verhältnisse erforderten schlichtweg eine Beschleunigung des Verfahrens und eine Verminderung der prozessualen "vare". Deshalb ist gerade der Fürbzw. Vorsprecher ein bevorzugter Gegenstand legislatorischer Aufmerksamkeit72. Es sei übrigens daran erinnert, daß allem Anschein nach die Städte die Besiegelung der klevischen Landesordnung von 1431 wegen ihrer prozeßrechtlichen Neuerungen verweigerten7s. Bemerkenswert an dieser Weigerung ist aber noch etwas anderes: nämlich daß die Städte überhaupt um ihre Meinung gefragt worden sind, und daß der Herzog den Mut aufgebracht hat, trotz des fehlenden ständischen Konsenses die "ordinancie" zu publizieren. Im allgemeinen nämlich war er vorsichtiger. Denn auch im Falle Kleve - in dem zu dieser Zeit die herrschaftliche Komponente des spätmittelalterlichen Territorialstaats besonders stark war - bestätigt sich die häufig gemachte und formulierte Beobachtung74, daß die mittelalterlichen Territorialgesetze trotz der autokratischen Attitüde des verwendeten Vokabulars (mandare, praecipere, ordinare, statuere - wollen, befehlen, setzen) keineswegs Ausfluß eines nach eigenem Ermessen frei entscheidenden, mit Zwangsgewalt ausgerüsteten Herrscherwillens sind, sondern das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen dem Landesherrn (oder der Institution, die in seinem Namen die Funktion der Landesherrschaft tatsächlich wahrnimmt) und qualifizierten Landsassen, eben den Landständen. Der formale Geltungsgrund der spätmittelalterlichen Gesetze beruht fraglos im herrscherliehen Gebot; doch dürfte sich der Landesherr vorher stets der Anerkennungsbereitschaft von seiten potenter Gesetzesadressaten versichert haben - um eine Formulierung von Rolf Grawert anklingen zu lassen - 75 , und zwar auch dann, wenn im Gesetzestext selbst von einer ständischen Beteiligung nicht die Rede ist. 72 Z. B. Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 16, 32, 83; E. Liesegang, Niederrheinisches Städtewesen (Anm. 35), S. 571. Vgl. G . Richter, Ernestinische Landesordnungen (Anm. 85), S. 41 und J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 560 f. - Die einschlägigen Bestimmungen in den Gerichtsordnungen des 16. Jh. sind für Kurköln, Jülich-Berg und Kleve-Mark nachgewiesen bei Th. Ilgen, a. a. 0., S. 191; für Geldern s. Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 214. 73 Vgl. oben S. 17 f . 1' Zusammenfassend zuletzt H. Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 155-178: Rechtsetzungsbilanz des späten Mittelalters. A. Wolf, Gesetzgebung (Anm. 1), S. 543-548. 75 R. Grawert, Entwicklungslinien (Anm. 11), S. 2 Anm. 9.

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Das läßt sich überzeugend an den Gesetzen demonstrieren, die nicht zustande gekommen sind. Wir bleiben beim Beispiel Kleve. Herzog Adolf I. hatte 1417/18 nach seiner Erhebung zum Herzog in einem "pactum fundamentale" mit seinen Ständen die Unteilbarkeit seiner Lande Kleve und Mark und die Primogeniturerbfolge festgelegt76. 1424 folgten das Rudiment einer Polizeiordnung und eine Deichordnung77, 1431 die schon mehrfach erwähnte Landesordnung mit ihren höchst disparaten Bestimmungen78 und 1440 eine Gerichts- und Prozeßordnung79. Seine legislatorische Tätigkeit schloß mit einer neuen Deichordnung 144880. Dazwischen gab es immer mal wieder Handelssperren und Getreideausfuhrverbote81 , die wenigstens Bodin noch den "loix d'un prince souverain" zurechnet82 • Das ist im interterritorialen Vergleich gewiß eine eindrucksvolle Leistung, im Hinblick auf die frühe Zeit, die behandelten Materien und die relativ dichte Folge der "ordinancien". Und doch ist es nur ein Teil von dem, was der Herzog gesetzlich zu regeln beabsichtigte. Das belegen einige Passagen aus den Stadtrechnungen von Wesel, der bedeutendsten klevischen Stadt: Am 5. September 1437 ritt eine Abordnung zum Herzog "to begeerten ons h., soe sijn genaden gerne eyn mathe in alle sijnen lande hedde gehat ende begeerden daer rades to" 83. Dieser Plan eines territorial einheitlichen Maßsystems ist so bemerkenswert fortschrittlich, daß wir noch einmal darauf zurückkommen müssen, und so unzeitgemäß, daß er nicht zu realisieren war; er scheint rasch aufgegeben worden zu sein. 78 W. Teschenmacher, Annales Cliviae, Juliae, Montium .. . , ed. J. C. Dithmar, 1721, Cod. dipl., Nr. 81-83.- Dazu der Vermerk in der Weseier Stadtrechnung vom 22. November 1417 (F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen [Anm. 20] Ill, S. 175): "bgmr., schepen ende raet ende 8 van der gemeynheit waren to Cleve ... umme der brieven wille, die die stede yn den lande van Cleve besegelen zolden". 77 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 15 f.; Banner Jahrbücher 73 (1882),

s. 166 f.

Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 20-25. Ebd., S. 32 f. 80 Ebd., S. 43 f. 81 Etwa F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen (Anm. 20) III, S. 224: " . . . um dat hie verbaden hadde, dat niimant van sijnen undersaten up of neder varen solde"; IV, S. 55: " ... umb dat verbad van den koern van aver Rijn hier nyet to brengen"; IV, S. 118: " ... dat hie ons wolde laten varen up unse alde recht ende gewoenten"; IV, S. 181: " ... dat sie [die Zöllner] onse borgere solden laten vaeren up oer teyken mit oeren koern, dat in ons h . lande nyet gewassen enwas"; IV, S . 259: " . . . van den bevele, dat unse g. h .. .. dede doin, geen pravande voirt hoger [rheinaufwärts] toe laten varen". 82 J, Bodin, Republique (Anm. 4), S. 151. 83 F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV (Anm. 20), S. 166. 78

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Im August 1441 bat der Herzog die Stadt, "bij oen to komen . .. myt vrynden van anderen sijnen steden, mit oen toe spreken omme redelike versatinghe ende ordinnancie to maken van arbeidsloen ende dienst ende waeren dye men verkoept". Die Verhandlungen zogen sich bis in den April 1442 hin; erst dann ritten die Städtevertreter "toe Rueroert ... ende seyden sijnre genaden oere meyninghe van der ordinancien" 8'. Sie muß ziemlich negativ ausgefallen sein; denn der Herzog verzichtete auf den Erlaß eines solchen Lohn-, Dienstleistungs- und Preisgesetzes und überließ damit den Wettinern den Ruhm, in ihrer Landesordnung von 148285 zum ersten Mal territorialwirtschaftliche Fragen dieser Art zum Objekt einer umfassenden gesetzlichen Regelung gemacht zu haben. Im Januar 1448 "quamen toe Rees die stede 'slantz van Cleve sementlick bij een, ind dat was umb der ordinancien wil van uittrecken, onse g. h. den steden geschict had, dar van sie een antword. scrijven sulden"86. Zwei Jahre zuvor hatten die Städte sogar selbst eine Gesetzesinitiative ergriffen und Abgesandte nach Kleve geschickt, "umb sijnre genaden guetduncken toe weten van dinghtail ind wedersaet, die den steden geraden ducht, dat men die sementlick ind averal afstelde" 87• Dieser Vorschlag dürfte nun selbst dem Herzog allzu progressiv und im übrigen seinen Interessen nicht zuträglich erschienen sein. Wenn auch keine dieser potentiellen "ordonancien" Wirklichkeit geworden ist, so sind die Nachrichten darüber doch in mancher Hinsicht aufschlußreich. Sie zeigen das Maß der erreichten Staatlichkeit, das Zusammenspiel von Land und Herrschaft und machen deutlich, daß Fürst und Stände aus einem gemeinsamen Territorialbewußtsein heraus handelten. Eine wichtige Funktion der spätmittelalterlichen Territorialgesetze liegt ja eben darin, einheitliche Regelungen und Gegebenheiten für die ganze "terra" zu schaffen, um effektiver verwalten, die Ressourcen besser ausschöpfen zu können und das Leben etwas leichter und überschaubarer zu machen. Deshalb ist so häufig die gesamtterritoriale Geltung von Gesetzen nachdrücklich betont. Die klevische Gerichtsordnung von 1440 ist "alle sijnre genaden lande doire to halden" 88 ; ein Jahr später hat der Herzog von Brabant eine "sekere ordonnantie" erlassen "op die maniere, die men overal in onsen landen soude onderhouden" 89 ; Ebd., S. 201, 208, 210. G. Richter, Die ernestinischen Landesordnungen und ihre Vorläufer von 1446 und 1482 (Mitteldeutsche Forschungen 34), 1964, S. 48-51. 88 F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV (Anm. 20), S. 294. 87 Ebd., S. 244. 88 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 32. 89 Placcaeten Brabandt (Anm. 41) I, 1648, S. 260. Zu den Bemühungen der Herzöge um eine "gesamtburgundische" Gesetzgebung vgl. J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 265, 597. - Zur Frage der Territorialisierung der Rechtssetzung A. Wolf, Gesetzgebung (Anm. 1), S. 531 Anm. 4, 533 f. 84 86

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und 1437 - wir haben es schon gehört - "hedde" der klevische Herzog "gerne eyn mathe in alle sijnen lande gehat". Daß nicht nur der Landesherr, sondern gleichermaßen auch die Stände auf Angleichung, Vereinheitlichung und Generalisierung bedacht waren, unterstreicht ein Privileg für die bergischen Stände von 148490 , in dem der Herzog die Zusicherung geben mußte, daß "eynche geboeder in unsme hertzouchdomme van dem Berge •.. antreffende de muntze off anders unse gemeyne lantschafft beroerende ... in unsem lande, ampten ind steden allet gelych gehalden werden". Hier sollen nicht nur - wie sonst auch- die Stadt-Land-Unterschiede eingeebnet, sondem auch das Dispensationsrecht des Fürsten in bezug auf die Territorialgesetze eingeschränkt werden. Die sich am Ende des 15. Jahrhunderts vielfach artikulierende ständische Opposition nimmt ja weniger daran Anstoß, daß der Herrscher "per legem" altes Recht und Herkommen aufhebt und "eincherlei neuwerungen" 91 einführt, sondem daß er die allgemeine Geltung der eigenen Gesetze durch zahlreiche und willkürliche Privilegierungen durchlöchert. Da diese territorialen Ordnungen bzw. Anordnungen trotz ihres formalen Befehlscharakters (urkunden-technisch gesprochen sind es vielfach Reskripte oder Mandate) 92 substantiell Verträge sind - in Jülich-Berg nennt sich ein wichtiges Gesetz von 1478 tatsächlich "ordinancie ind verdrach" 93 - , haben sie zugleich eine integrierende und beide Seiten bindende wie zusammenbindende Funktion im Spannungsfeld von Ständen und Herrschaft. Praktisch relevanter als die Lehre vom "princeps legibus solutus" sind eben ihre Einschränkungen.

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Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 425.

So in einer "Vereinnigung der manne, getrewen und undersassen des ertzstiffts Trier" von 1426; J. J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen ... in dem vormaligen Churfürstenthum Trier I, 1832, S. 150. •z Das von A. Wolf, Forschungsaufgaben (Anm. 7), S. 184 f. und P. Johanek, Methodisches zur Verbreitung und Bekanntmachung von Gesetzen im Spätmittelalter, in: Francia Beih. 9, 1980, S. 90 f. lebhaft beklagte Fehlen einer "Diplomatik der Gesetze" ist inzwischen wenigstens für einen territorial beschränkten Bereich durch die voluminöse Arbeit von J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24) wettgemacht worden. Sie bestätigt allerdings die Vermutung, daß es zwischen der Form eines Schriftstücks und seinem Charakter als Gesetz keine Entsprechung gibt, daß vielmehr Gesetze in den verschiedensten schriftlichen Formen erlassen werden können (S. 596), wobei freilich im zeitlichen Fortgang das typische Verwaltungsschriftwerk der Mandate und Reskripte die eindeutige Vorherrschaft gewinnt. 81 Th . J. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 400. -Auch die "Reformatie der landtrechten der graefschap Zutphen" von 1493 bezeichnet sich selbst als "ordinantie ende averdragt" (Gelders Placaet-Boeck [Anm. 47], App. Sp. 138). 81

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V. An dieser Stelle möchte ich noch einmal neu einsetzen. Wir haben gesehen, daß im 15. Jahrhundert im territorialen Rahmen neue Verhaltens- und Ordnungsnormen gesetzt werden, die zwar nicht im zeitgenössischen, aber doch im heutigen Sinne Rechtscharakter haben. Die "pouvoir de donner loy ou commander a tous en general et a chacun en particulier"14 eignet zwar ausschließlich dem Landesherrn, er übt sie aber nur im Benehmen mit den Landständen aus. Diese "regulae iuris" begegnen als "ordinancien, ordnungen, satzungen" oder - "gebote". Die Verwendung dieses Begriffs hat einige Forscher veranlaßt, die gesetzgeberische Gewalt des "dominus terrae" aus seinem überkommenen Gebots- und Verbotsrecht abzuleiten95• Dagegen hat Dietmar Willoweit kürzlich auf der Grundlage fränkischen Quellenmaterials Verwahrung eingelegt und die Ansicht vertreten, von dem in das Herkommen gebundenen herrschaftlichen Gebots- und Verbotsrecht zur prinzipiell offenen, bestenfalls durch das "ius naturale" als "dictamen rectae rationis" beschränkten "potestas legislatoria" gebe es weder eine institutionelle noch ideelle Kontinuität. Diese "potestas" sei vielmehr eine aus den geistesgeschichtlichen Umbrüchen des Hochmittelalters und einem neuen Herrschaftsverständnis resultierende Novität98• Schon Hermann Aubin hatte seinerzeit bei der Analyse niederrheinischer Weistümer festgestellt, daß Gebot und Verbot kein selbständiges Recht darstellen, sondern Annex bzw. Ausfluß der Gerichtsgewalt sind97• Die Qualität der Jurisdiktionsgewalt- Hoch-, Nieder-, Hofgerichtsbarkeit und dergl.sowie ihre Praktizierung "per consuetudinem" bestimmen also den Umfang der Gebots- und Verbotsbefugnis. Dieses Ergebnis wird von Willeweit in differenzierter Form erhärtet. Doch ist es auffällig, wie häufig der Gebots- und Verbotsbegriff in Verbindung mit den Gesetzestexten des 15. Jahrhunderts erscheint. 1426 spricht Herzog Adolf von Jülich-Berg von "geboide of verboide ... in unsme lande" 98 , 1446 soll in Brabant eine "ordinancie" an den Orten publiziert werden "ghelijk men onse gheboden ghewoonlijck is te Republique (Anm. 4), S. 222. So zuletzt P. Blickle, Landschaften im alten Reich, 1973, S. 396: " ... die wesentlichen Hoheitsrechte wie Gesetzgebung (Gebot und Verbot) .. .". 88 D. Willoweit, Gebot und Verbot im Spätmittelalter. Vornehmlich nach südhessischen und mainfränkischen Weistümern, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 30 (1980), S. 94-130. 87 H. Aubin, Die Entstehung der Landeshoheit nach niederrheinischen Quellen, 1920, S. 199 ff., 358 f. vs 0 . R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des Mittelalters und in der Reformationszeit (Publikationen d. Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 28) 1: Urkunden und Akten 1400-1553, 1907, Nr. 10. 8'

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doene" 90 , 1449 wird denjenigen Strafe angedroht, "die s. g. gebot ind oich der ordinantien nyet gehorsam enweren'' 100; 1451 verpflichtet sich Herzog Philipp der Gute den brabantischen Ständen gegenüber, daß niemand "van onsen wegen egeen ghebode oft verbode en sal legghen sonder consent van de staten" 101 und 1459 bezeichnet sich die Polizeiordnung des gleichen Herzogs innerhalb weniger Zeilen einmal als "dese onse ghebode ende verbode", das andere Mal als "dese voorscr. ordonnantie"102. Gesetz begegnet nicht selten als Glied einer Paarformel sinngleich oder gar austauschbar mit Gebot: Gesetz und Gebot, Gesetz und Verbotl03. Es scheint mir deshalb erwägenswert, ob die Landesherren nicht doch aus ihren konkreten Gebots- und Verbotsrechten ein allgemeines und höchstes Gebots- und Verbotsrecht abstrahiert und für sich in Anspruch genommen haben, so wie sie sich selbst auch eine oberste Herrschergewalt und eine höchstrichterliche Funktion zuerkannten. Der brabantische Herzog hat sich gelegentlich mit Blick auf "de smalre heeren binnen palen ons lants von Brabant heerschap ende recht hebbende" 104 als "overste herre" 105 tituliert, und Erzbischof WHhelm von Köln hat um 1360 den Herrschaftsträgern und Gerichtsherren in seinem Lande gegenüber eine Position als "eyn overste herre ind eyn richter van der hoester gewalt" behauptet" 108. Daß ein solcher supremus iudex auch eine umfassende Gebotsgewalt beanspruchte, scheint mir nicht ausgeschlossen, ja wahrscheinlich. Wie ließe sich sonst etwa ein Vertrag verstehen wie der von 1381, in dem die rheinischen Kurfürsten sich verpflichteten, ihren Untersassen den Beitritt zu einem Städteoder Ritterbund zu verbieten107. Die Interpretation der Gesetzgebung des 15. Jahrhunderts als einer Steigerung und Weiterführung der bisherigen Gebots- und Verbotspraxis könnte auch die Erklärung für eine andere Beobachtung liefern: 1381/82 wird im kölnischen Amt Godesberg "a lusoribus taxillorum" eine Brüchte von 15 Mark erhoben108 , und 1441/42 weist die Amtsrechnung von Blankenberg/Sieg109 eine Strafe Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 265. Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 48. tol Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 236. 10! Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 405. 108 Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch III (Anm. 12), Nr. 718; Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 3; Th. Ilgen, Kleve II 2 {Anm. 18), S. 48; Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 319; G. v. Below, Landständische Verfassung (Anm. 13), S. 40 Anm. 146. 104 So etwa Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 124, 230. 105 A. Uyttebrouck, Duche de Brabant (Anm. 3), S. 117. 1oo W. Janssen, Regesten Köln VI (Anm. 40), Nr. 1384. 107 Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch 111 (Anm. 12), Nr. 857. 108 E. Wisplinghoff (Bearb.), Die Kellnereirechnungen des Amtes Godesberg aus den Jahren 1381-1386, in: Banner Geschichtsblätter 15 (1961), S. 194. 109 G v. Below, Landtagsakten Jülich-Berg I (Anm. 8), S. 138. 99

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von 12 Mark für einen Mann aus, der "weder dat verbot gedobelt hait". Aber weder für Kurköln noch für Berg kennen wir im 15. Jahrhundert ein Gesetz gegen das Würfelspiel, wohl jedoch für Kleve110• 1384/85 wird in Muffendorf ein Mann mit einer Brüchte von 30 Mark "de verbis et malificiis impetratis contra dominum reddituarium" belegt, also wegen Scheltworten und Verwünschungen gegen den erzbischöflichen Rentmeister111 , obwohl die Beamten - außer in Geldernm - gegen Angriffe und Beleidigungen keinen besonderen gesetzlichen Schutz genossen. 25 Gulden, eine beträchtliche Summe, mußte 1399 ein klevischer Untersasse als Strafe dafür bezahlen, "dat hij onsen herre got mispraken hadde mit quaden ontierliken worden" 113• Die frühesten Gesetze gegen das gotteslästerliche Fluchen stammen aber erst aus dem Jahre 1467: der Herzog von Jülich-Berg hat sie unter einer "penen" von 5 Mark erlassen114• Und schließlich ließ - und damit seien es der Beispiele genug- 1432 der Herzog von Kleve "twee vrouweken to Wesel .. . an den kaeck slain" 115• Aber erst in der brabantischen Polizeiordnung von 1459116 begegnen wir Bestimmungen gegen "vrouwen van lichten levene". Wir müssen aus diesem Befund wohl die Folgerung ziehen, daß die Polizeigesetzgebung des 15. Jahrhunderts- und sie stellt den größten Anteil an der Gesetzgebungstätigkeit dieser Zeit überhaupt - bestenfalls in dem Sinne neu ist, als nun in unzweideutiger Weise und territorial allgemein-verbindlicher Form vorgeschrieben wird, was bislang amts- bzw. gerichtsweise mündlich geboten wurde. Dabei ist zu beachten, daß die parallele Verwendung der Begriffe "ordinancie" und "gebot" kaum zufällig ist. Denn "ordinancie" für sich genommen bedeutet ja nicht eigentlich Gesetz, sondern Ordnung, Regelung, Anweisung. Die "vis coactiva" dieser "ordinancien" kommt wesentlich in den Worten "befehlen, gebieten, verbieten" zum Ausdruck. Und dieses Zwangsmoment hängt seinerseits aufs engste mit der Publizität der Gesetze zusammen. "Ad hoc quod lex habeat vim obligandi, oportet eam promulgatam esse" 117• Und die Gesetze haben mit den Geboten den vorzüglichsten modus publicandi gemein: das "kerckengerucht", die münd110 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 25 (25); Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 319. 111 E. Wisplinghoff, Kellnereirechnungen (Anm. 108), S. 253. m I. N. Nijhoff, Gedenkwaardigheden I (Anm. 51), Nr. 215 S. 222. 118 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 230. m 0. R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik I (Anm. 98), Nr. 33. us Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 242. m Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 394. 117 Aegidius Romanus, De regimine principum (Anm. 14), S. 528. Vgl. S. Gagner, Studien (Anm. 16), S. 274 f.

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liehe Verkündigung in den Pfarrkirchen, in denen die gesamte Bevölkerung allsonntäglich zu erreichen war118• Dazu trat dann vielfach noch die Verlautbarung bei Gerichtssitzungen. So verlangte Erzbischof Dietrich von Köln von seinen Amtskellnern: "Die herna geschriven unse geboide [ = Gesetze] sall man kundigen ind gebieden van stunt ane in allen kirchen ind scheffenstoilen, da der lantman bij sij ind dan vort zo allen hoegedincgen" 119• Dabei korrespondiert der Gesetzescharakter der Gebote mit der regelmäßigen Wiederholung ihrer Bekanntgabe. Auch Herzog Adolf I. von Kleve ließ jenen Passus seiner Landesordnung von 1431, in welchem er den Wirtshausbesuch nach Sonnenuntergang verbietet, "all iair vernijen ind in kirken ... roepen" - Gesetzeserneuerung durch wiederholte Bekanntmachung120• Dagegen stellt die Perpetuierung der Gesetzespublikation durch Anschlag an den Kirchentüren und Vervielfältigung des Textes, wie schon 1449 in Kleve praktiziert121 , zweifellos einen Fortschritt dar, konnte die Verlesung gleichwohl nicht ersetzen; denn die erdrückende Mehrzahl der Gesetzesadressaten war illiterat. VI. Die sehr eingehenden Bestimmungen über die Verkündung von Gesetzen und die rigorose Eintreibung von Strafgeldern bei Gebotsübertretungen vermitteln den Eindruck, daß die territoriale Gesetzgebungspraxis in unserem Gebiet nicht bloß herrscherliches Dekor war, sondern auf Wirksamkeit zielte. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Materien durchmustert, die gesetzlich geregelt wurden, und hier eine gewisse Gleichförmigkeit zwischen den Territorien feststellt, die Verkündigung der Gesetze in den Kirchen: Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. (1478); Th. Ilgen, a. a. 0., Sp. 137 ff. (1493); Th. J. Publikation durch AusS. 3 (1447). Zu dieser in den Niederlanden vorherrschenden Verkündungsform "par voix de criee" s. J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 138 f. - Interessant eine Anfrage des Jülich-Bergischen Hofmeisters an den Landdrosten von 1472 hinsichtlich eines Landfriedensgebots, "wie das die verkundigonge geschien solle: uff was tzijtt, durch was maneren, off idt overmytz m. g. h . schreifft ader durch die amptlude muntlich, mit klockenslage ader anders zugain sulle" (HStAD Jülich-Berg I 1067 BI. 8). 119 HStAD Hs. L V 2 BI. 17 b. Ebenso auch in Bayern: H. Lieberich, Polizeigesetzgebung (Anm. 1), S. 317. 120 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 24. Zu dieser verbreiteten Form der "Wiederauffrischung" von Gesetzen vgl. J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 217 und H . Lieberich, Polizeigesetzgebung (Anm. 1), S. 319. 121 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 47; F. Gorissen, Weseier Stadtrechnungen IV (Anm. 20), S. 206 (" . .. dye versatynghe gescreven, an eyn bret genagelt ende in die kercke gehangen .. ."). Ähnlich die brabantische Polizeiordnung von 1459: Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 405. Dazu J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 226. 118

18), S. 20-25 (1431); HStAD Jülich-Berg I 1444 BI. 10 S. 97 (1487); Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr 498. rufung allgemein: Placcaeten Brabandt I (Anm. 89),

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zwar ganz sicher auf gegenseitiger Anregung beruht, doch zeigt, wie begrenzt jener Bereich der öffentlichen Ordnung und der territorialen Verfassung war, in den hinein zu wirken der Landesherr überhaupt ein Interesse hattem. Schon am Ende des 14. Jahrhunderts tauchen in allen Territorien Bestimmungen zur Abwehr und Einschränkung der geistlichen Gerichtsbarkeit auf123. Hier geht es um die Position des Landesherrn als supremus iudex in seinem Lande und damit um die wesentliche Grundlage der Landesherrschaft. In den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts bereits ist man sich von Kleve bis Brabant darin einig, nur noch Testamentssachen, Ehefragen und Auseinandersetzungen um geistliche Einkünfte und Güter der kirchlichen Gerichtsbarkeit zu überlassen. Selbst Erzbischof Dietrich von Köln muß sich 1438 seinen westfälischen Ständen gegenüber auf eine Begrenzung der eigenen geistlichen Jurisdiktion verpflichten124 - ein Hinweis, daß es hier nicht nur um fürstlichen Unabhängigkeitsdrang, sondern um "staatliche" Interessen geht. Der uns inzwischen sattsam bekannte Herzog Adolf I. von Kleve befiehlt darüber hinaus 1438 allen "kerspelspapen, banbrieve off laidtbrieve" nur noch ".apenbairliken onder der homissen op den prediktstoile" unter Kontrolle also!- entgegenzunehmen12s. In gewissem Zusammenhang damit steht das Bestreben, den Liegenschaftserwerb der toten Hand einzuschränken, um die Zahl der privilegierten Güter nicht weiter anwachsen zu lassen. Einschlägige Gesetze erscheinen 1426 in Jülich-Berg, 1464 in Kleve, 1465 in Brabant und 1469 in Geldern128 - eine Art Kettenreaktion. Besonders interessant ist das klevische Beispiel insofern, als das, was 1464 gesetzlich vorgeschrieben wurde, 45 Jahre zuvor der Stadt Wesel als Privileg verliem B. Diestelkamp, Das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheitsrecht im 16. Jh. aufgezeigt am Beispiel der oberhessischen Erbgewohnheiten von 1572, in: Rechtshist. Studien, Festschrift Hans Thieme, 1977, S. 27-33. - Wie schwer im übrigen gesetzgeberische Akte auf privatrechtlichem Gebiet im Spätmittelalter durchzusetzen waren, zeigt beispielhaft W. Brauneder, Die Geltung obrigkeitrechtlichen Privatrechts im spätmittelalterlichen Wien, in: ZRG GA 92 (1975), S. 195-200. 111 J. Hansen, Westfalen und Rheinland im 15. Jh. I: Die Soester Fehde (Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven 34), 1888, Nr. 7. - Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 1 ff., 235. Vgl. auch G. Richter, Ernestinische Landesordnungen (Anm. 85), S. 39 ff. und J. M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 521 ff. 114 Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 228. m HStAD Kleve-Mark, Akten 3322 BI. 44. 111 0. R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik I (Anm. 98), Nr. 10; J. J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen . . . in dem Herzogthum Cleve und in der Grafschaft Mark ... I, 1826, Nr. 3; Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 75 ff.; Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 168 f. Für den Hennegau s. J .-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 593.

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hen worden war127. Die konzedierte Ausnahme ist zur allgemeinen Regel geworden. Die Absicht, die Steuerkraft des Landes zu erhalten, steht auch hinter den Verboten, die den Verkauf landesherrlicher Schatzgüter an Geistliche, Adlige und Auswärtige untersagen, wie sie für Kurköln und Jülich-Berg bezeugt sind128. Diese Verbote leiten über zu den gesetzlichen Bestimmungen über die Behandlung des fürstlichen Domanialguts, die von der Propagierung des Pachtsystems für die herzoglich-klevischen Güter über Vorschriften hinsichtlich von Waldnutzung und Aufforstung bis hin zu detaillierten Dienstanweisungen für die Zöllner und die Verwalter der eigenbewirtschafteten Höfe des Kölner Erzbischofs reichen121. Einen weiteren bedeutenden Komplex stellen die Ordnungen der Gerichtsverfassung und des Prozeßrechts130 dar, in den niederrheinischen Territorien ·auch die des Deichbaus und der Entwässerung131• Besonders zahlreich sind die Landfriedens- und Polizeigesetze. Gegenstände sind Glücksspiele und Wirtshausbesuch, Hochzeits- und Tauffeierlichkeiten (Kleve)132 , das Fluchen und die Kirchenzucht (JülichBerg)133, Bordelle, Kleiderluxus und Bettelei (Brabant)1 34 , dazu immer wieder Waffenverbote und Straffestsetzungen für Gewalttäter185. 127 F. Gerissen, Weseier Stadtrechnungen (Arun. 20) 111, S. 193, 197: ... "dat privilegium . . . , dat geystlike lude geyn erve boeren enzullen" (1419). Der Text: HStAD Hs. K 111 21 Bl. 94 b-95 b. 1! 8 HStAD Hs. L V 2 BI. 17 b-18 a; Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 400. 118 Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 20-23 (1-13); HStAD Kleve-Mark, Akten 790, Bl. 4--11; HStAD Hs. L V 2; dazu G. Droege, Verfassung und Wirtschaft in Kurköln unter Dietrich von Meers (Rheinisches Archiv 50), 1957, S.147. 110 Etwa Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 230 ff.; J. J. Scotti, Churfürstenthum Trier (Anm. 91), Nr. 13; Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 9; Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 379 ff.; Th. Ilgen, a. a. 0., S. 24 f. (20-23, 26-27), 32 f.- Zum Vergleichs. G. Richter, Ernestinische Landesordnungen (Anm. 85), S. 38 ff. und J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 545 bis 588. 131 Z. B. Bijdragen en Mededeelingen Gelre 5, 1902, S. 297-304; Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 35, 61 ff., 153 ff.; Banner Jahrbücher 73 (1882), S. 166 f.; Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 43 f. Siehe auch Arun. 47. - Dazu 0. Moorman van Kappen, De historisch ontwikkeling van het waterschapswezen, dijk- en waterschapsrecht in de Tieler- en Bommelerwaarden tot het begin der negentiende eeuw, in: Tieler- en Bommelerwaarden 1327 bis 1977 (1977), s. 43-53, 180-188. tu Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 15, 24 f. (22, 25); Th. J . Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 319. 1113 0. R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik I (Anm. 98), Nr. 33, 90, 194.

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An wirtschaftspolitischen Gesetzen kommen nur Münzordnungen in Gestalt territorialer Geldwertfestsetzungen 138 , Getreideausfuhr-137 und Warentransportsperren vor138 , die beiden letzteren wohl vorwiegend als zwischenterritoriale Kampf- und Zwangsmittel angewandt. Der Erlaß von Lohn- und Preisordnungen war entweder gar nicht beabsichtigt oder ist gescheitert. Das Privatrecht wird von der gesetzgeberischen Tätigkeit der Landesfürsten kaum berührt- eine Beobachtung, die keineswegs originell ist, aber gleichsam via negativa demonstriert, was der Sinn der territorialen Gesetzgebung des 15. Jahrhunderts gewesen ist: Zunächst die Konservierung und Verbesserung dessen, was die Quellen als den "staet" des Fürsten bezeichnen, weiterhin die Stärkung der fürstlichen "superioritas" und der herrscherliehen Position als Garant einer zügigen und "gerechten" Judikatur, dann die Sicherung und Intensivierung des Landfriedens als der zentralen Herrscheraufgabe und schließlich vermutlich als Beitrag zur territorialen Befriedung verstanden - die Disziplinierung der Bevölkerung. "Necessarium fuit ad pacem hominum et virtutem, ut leges ponerentur" 139• Diese Disziplinierungsabsicht dürfte als treibendes Motiv hinter den meisten der sogen. Polizeigesetze gestanden haben, wofür wir uns nochmal auf Herzog Adolf I. von Kleve als Zeugen berufen können. Von ihm wird berichtet140 , er habe, als er zu bemerken glaubte "colonos tabernas sepius quam agros frequen134 So besonders die große Polizeiordnung von 1459; Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 394-405. 135 Wie z. B. Placcaeten Brabandt I (Anm. 89), S. 117 ff.; Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 1 f., 97; Placcaeten Brabandt IV (Anm. 41), S. 397, 399. Zu den sog. Polizeigesetzen vgl. G. Richter, Ernestinische Landesordnungen (Anm. 85), S. 36---53; H . Lieberich, Polizeigesetzgebung (Anm. 1), S. 341-344; J .-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 495-520. 138 Teilweise verknüpft mit interterritorialen Münzverträgen. z. B. Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch III (Anm. 12), Nr. 718; J . J. Scotti, Churfürstenthum Trier (Anm. 91), Nr. 7, 33; P N. v. Doorninck, Acten betr. Gelre en Zutphen 1400-1404 .. . , 1901, S. 7; Gelders Placaet-Boeck (Anm. 47), App. Sp. 165 ff.; G. v Below, Landtagsakten Jülich-Berg I (Anm. 8), S. 139; HStAD KleveMark, Akten 518 BI. 33. Vgl. J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S.241-345. . 187 Vgl. oben Anm. 81. Dazu Bijdragen en Mededeelingen Gelre 5, 1902, S. 325; HStAD Jülich-Berg I 1444 BI. 2, 10; ebd. 145 BI. 21 ff.; G. v. Below, Landtagsakten Jülich-Berg I (Anm. 8), S. 168 f.; 0. R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik I (Anm. 98), Nr. 48. Vgl. J .-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), S. 347-410. 138 Vgl. oben Anm. 81. Der Wucher wurde in unserem Raum übrigens nicht durch die weltliche, sondern die kirchliche Gesetzgebung (Synodalstatuten) erfaßt: W. Janssen, Regesten Köln (Anm. 40), VI, Nr. 1000, Vll, Nr. 765 u. ö. 139 Thomas von Aquin, Summa theol. Ia llae 95, 1 zit. nach S. Gagner, Studien (Anm. 16), S. 267. 14° F. W. Oediger, Schriften des Arnold Heymerick (Anm. 23), S. 165.

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tare", sie solange mit "serviciis castrensibus et extraordinariis" ermüdet, daß sie keine Lust mehr zum Wirtshausbesuch hatten. Als Begründung führte er an, es gäbe auf der ganzen Welt nichts Gottverhaßteres als einen faulen, unbeschäftigten Bauern (rusticus inoperosus). Hier spricht sich ein ganz unmittelalterliches, man möchte fast sagen: preußisches Arbeitsethos, keineswegs die übliche zeitgemäße moralische Entrüstung aus. Es ging bei diesen Gesetzen- wie gesagt- um Disziplin, nicht um Moral. Die "virtus", die erzwungen werden sollte, war die soziale Fügsamkeit, nicht die individuelle Wohlanständigkeit Denn wenn auch den Untersassen das Würfelspiel bei Strafe verboten war: die Fürsten selbst gönnten sich diesen ungemein beliebten Zeitvertreib allemal, gelegentlich so exzessiv, daß sie von ihren verantwortlichen Räten zur Selbstdisziplin gezwungen werden mußten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die klevische "ordinantie van einem staite m. g. h." ... , eine Hof- und Regierungsordnung von 1486 141 , in welcher dem Herzog Johann Il., dem etwas haltlosen Enkel des Herzogs Adolf, bedeutet wir:d, "dattet von noeden is, dat sich m. g. lieve herre seiver persönlick wat anders schicken ind regieren moet, dan bisheer geschieet is", unter anderem des morgens so zeitig aufstehen, daß er um 8 Uhr der Ratssitzung beiwohnen kann, nachts nicht in zweifelhafter Gesellschaft durch die Gegend streifen und vor allem nicht "so vele speien ... ind aver den speie dan so vele onnutlicke ind ontuchtlicke worde mit floicken ind anders gebruicken". Die regulierenden Eingriffe der Landesherrschaft in das soziale Leben und die individuelle Lebensführung, wie sie uns seit dem 15. Jahrhundert begegnen, hatten also auch für die Landesherren selbst ihre Konsequenzen, und zwar nicht zum geringsten deshalb, weil - wie das Beispiel anzeigt - durch die Ausübung der Herrschaft in Form einer das ganze Territorium umgreifenden schriftgestützten Verwaltungstätigkeit (und dazu gehört auch die Gesetzgebung) das bürokratische Element in dieser Herrschaft gegenüber dem persönlichen immer mehr an Gewicht gewinnt.

VII. Resümierend stellen wir fest, daß die Gesetzgebung in den besprochenen Territorien nach zeitlichem Auftreten, Verfahren, Formen und behandelten Gegenständen das bisher gewonnene allgemeine Bild bestätigt. Seit dem 2. Viertel des 15. Jahrhunderts begegnen unter den vornehmlich gebr~mchten Bezeichnungen "ordinancien, satinge, ingesette, gebote" und in mannigfach abgewandelter urkundlicher Form gesetzliche Vorschriften, die in der Regel für alle Landsassen unterschied141 K. Schottmüller, Die Organisation der Centralverwaltung in KleveMark vor ... 1609, 1897, S. 84 ff.

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licher Rechtsstellung verbindlich sind und sich selbst als aufhebbar oder veränderbar verstehen. Prinzipielle Gleichbehandlung der Untertanen, territoriale Allgemeinverbindlichkeit Wld befristeter Geltungsanspruch unterscheiden diese "Ordnungen" von Recht im engeren Sinne, das identisch war mit den gewohnten und herkömmlichen Handlungsmustern, geprägt von der normativen Kraft der Tradition141• Kennzeichnend für "recht" und "gewoente" war die durchgängige komplementäre Bezogenheit von Berechtigungen und Verpflichtungen auf der Grundlage eines statisch verstandenen sozialen Ordnungsbildes. Huld und Treue verbanden die Rechtsgenossen. Die neuen gesetzten "Ieges" als "regulae iuris" betonten dagegen deutlich das Moment der Verpflichtung, des Sollens. Dahinter stand im Extremfalle ein mit bestimmten Zielvorstellungen ausgestatteter Gestaltungswille, der nicht bewahren, ausgleichen, stabilisieren, sondern ändern, bessern wollte; im Normalfalle stand dahinter freilich nur die Notwendigkeit, den seit dem 13. Jahrhundert sich immer weiter auftuenden Raum, der "per ius et consuetudinem" nicht erfaßt war, zu ordnen. Der Gesetzgeber erwartete nicht Treue, sondern Gehorsam14s. Die meisten Territorialfürsten waren als Stadtherren schon früh mit diesem Statutarrecht in Berührung gekommen. In den Städten als den fortgeschrittensten sozialen Gebilden, in denen zuerst immer neue und ungewöhnliche Situationen gemeistert werden mußten, hatte sich seit dem 12. Jahrhundert eine Rechtssetzungspraxis ausgebildet, die um 1300 bereits selbst gewohnheitsrechtlieh sanktioniert war. 1310 z. B. ist es für Erzbischof Heinrich von Köln eine "antiqua bona consuetudo", daß die Bürgerschaft von Neuss mit seinem Einverständnis "statuta" erlassen darf, "que vulgariter eyninge et cllyre nuncupantur" 144• Auch das eigene gerichtsherrliche Gebotsrecht gab die Möglichkeit, 'auf dem Wege von Anordnungen neuer Lagen Herr zu werden, zunächst wahrscheinlich durch die herkömmliche Gebotspraxis beschränkt, später aber mit der sich durchsetzenden Interpretation der Landesherrschaft als eines "dominium superioritatis" auf ein immer weiteres Feld ausgreifend. Um diese Zeit - in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts - beruhten ja auch die städtischen "statuta" auf obrigkeitlicher Satzung, nicht mehr auf Verwillkürung der Bürgergemeinde. So wie die städtischen Statuten dazu dienten, den jede 141 H. M . Klinkenberg, Veränderbarkeit (Anm. 16), S. 188 spricht von der "normativen Vergangenheit". 141 P. N. v. Doorninck, Acten betr. Gelre en Zutphen 1376-1392 .. . , 1900, S. 302; Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 48. - Um 1425 werden im kurkölnischen Amt Altenwied fühlbare Geldstrafen "propter inobedientiam" verhängt: Landeshauptarchiv Koblenz, Best. 2 (Kurköln), Nr. 1680 Bl. 6. - Zu Untertänigkeit und Gehorsam im 14. Jh. vgl. auch W. Janssen, Niederrheinische Territorien (Anm. 3), S. 62 f. tu Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch 111 (Anm. 12), Nr. 86.

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Gewalttätigkeit ausschließenden Stadtfrieden zu ermöglichen und zu sichern, so mußte es den Landesherren naheliegen, das gleiche Instrument zur Aufrichtung eines den üblichen Landfrieden an Intensität übersteigenden Territorialfriedens der öffentlichen Ruhe und Sicherheit zu benutzen, sobald die technischen Voraussetzungen dazu gegeben waren, d. h. sobald der Vorsprung in der Verwaltungsorganisation und -praxis, den die Städte bislang hatten, eingeholt war. Und deshalb kam es zu Konflikten zwischen altem Gewohnheitsrecht und neuer Gesetzesordnung - die man im allgemeinen tunliehst und bedachtsam vermied - auf dem Gebiet von Gerichtsverfassung und Verfahrensrecht. Denn- wie Erzbischof Dietrich von Köln seine "ordinancie" zur Verbesserung der Rechtspflege im Herzogtum Westfalen von 1452 einleitete145 - "mach geyn lant in freden bestain, da ensy gericht ind reichte". Und da lag es mit dem überkommenen Gerichtswesen und Prozeßrecht im argen, wenigstens nach einem damals obsiegenden modernen Verständnis von richtig und unrichtig. Nicht von ungefähr sind es gerade verfahrensrechtliche Gewohnheiten, gegen die die von der Theorie seit langem bereitgestellten Argumente der Widervernünftigkeit und damit der Unrechtmäßigkeit zuerst gerichtet werden. Man wird sich allerdings keinen Täuschungen darüber hingeben dürfen, daß die neue Gesetzgebungspraxis stets zu kämpfen hatte mit der konservativen, auf Rechtsbewahrung angelegten Tendenz, die alles in allem auch noch im 15. Jahrhundert in den deutschen Territorien dominierte. Selbst das fortschrittlichste und wenigstens punktuell altes Recht aufhebende Gesetz klang unweigerlich mit der Formel aus: "also doch dat .. . unse ... undersaissen blyven by yre privilegien, fryheiden, rechten ind guden gewoenden" oder einer gleichbedeutenden Wendung148• Dies beleuchtet hinwiederum im Kontrast die nivellierende Kraft, die von den Gesetzen ausging oder die man von ihnen zumindest befürchtete. Die territoriale Th. J. Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 300. us Ebd. J . J. Scotti, Churfürstenthum Trier (Anm. 91), Nr. 24. - Zu der moderaten und eher konservativen fürstlichen Gesetzgebungspraxis des 15. Jh. vgl. auch J.-M. Cauchies, Legislation Hainaut (Anm. 24), s. 606. Allgemein zur Funktion des Herrschers als Hüter des Rechts: H. Krause, Art. Gesetzgebung (Anm. 11), Sp. 1609. Respekt vor dem Gewohnheitsrecht wird den Fürsten auch von den Autoren empfohlen, die sonst deren Legitimation zu einer rechtsändernden Gesetzgebung verfechten: S. Gagner, Studien, (Anm. 16), S. 277 f. und - als ein Beispiel - Aegidius Romanus, De regimine (Anm. 14), S. 539: "Sed hoc simpliciter afferre [i. e. removere Ieges paternas et antiquas propter meliores Ieges noviter inventas] est valde periculosum ... Nam Ieges magnam efficaciam habent ex consuetudine ..." - Ebda., S. 541: "Decet ergo reges et principes observare bonas consuetudines . .. et non innovare patrias (I) Ieges, nisi fuerint rectae rationi contrariae". - Zu der unausgeglichenen Spannung zwischen Innovations- und Regulierungsbestrebungen einerseits und der Anerkennung des herkömmlichen Rechts andererseits, die bis in die zweite Hälfte des 18. Jh. spürbar ist, vgl. auch R. Schulze, Gesetzgebung (Anm. 7), S. 190. 145

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Allgemeinheit des Geltungsanspruchs ließ ständische Differenzen und regionale Besonderheiten unberücksichtigt: das Würfelspiel war dem Bauern, Bürger wie Rittersmann verboten, ob er in Xanten, Dinslaken oder sonstwo im Lande Kleve wohnte. Und diese allgemeine Verbindlichkeit wurde durch die Schriftform augenfällig gemacht, die ja als solche bereits eine Neuerung war, insofern sie mit der gewohnten Mündlichkeit im Gerichtsverfahren und in der Gebotspraxis brach147• Wie durch die auf dem Amtsprinzip beruhende territoriale Verwaltungsorganisation die Landesherrschaft eine abstrakte Allgegenwart gewann, so demonstrierte das in zahlreichen Kopien verbreitete, an den Kirchentüren angeschlagene, in allen Kirchen regelmäßig erneut verkündete Gesetz die Präsenz landesherrlicher Gewalt und Fürsorge, vermittelte das Gefühl territorialer Zusammengehörigkeit und übte eine auf die Landesherrschaft fixierte Haltung des Gehorsams und der Untertänigkeit ein. Schriftlichkeit der landesherrlichen Willensbekundung gab auch die Möglichkeit, zwischen der Landesherrschaft als Institution und dem Fürsten als Person zu trennen, und das Maß der Staatlichkeit, wie es durch das personal allgemein und territorial umfassend geltende Gesetz repräsentiert ist, auch gegen den "dominus terrae" zu behaupten, der gelegentlich noch schlimmer als etwa die Stände auf die Schaffung und Duldung von besonderen Rechten, Ausnahmen, Privilegierungen und Dispensen erpicht war. Insofern hat die territoriale Gesetzgebung des 15. Jahrhunderts - und das ist keineswegs ihre geringste Leistung - mit dazu beigetragen, daß die am Ende dieses Jahrhunderts sich machtvoll steigernde landständische Bewegung zu keiner Zeit die Integrität des Territoriums gefährden konnte und wollte. Der relativ forschrittlieh verwaltete, die Probleme durch gesetzliche Regelungen lösende, klare Über- und Unterordnungsverhältnisse ·anstrebende Territorialstaat des ausgehenden 15. Jahrhunderts hat den spezifisch mittelalterlichen Gegensatz von Land und Herrschaft schon weitgehend überwunden. 147 So konzediert 1451 Herzog Philipp der Gute den brabantischen Ständen, daß in Sachen, die "nae der costuymen onses landt" vor den herzoglichen Rat gezogen werden, mündlich verhandelt werden muß (Placcaeten Brabandt I [Anm. 89], S. 235). - Daß die Schriftlichkeil des Gesetzes als etwas Besonderes empfunden wurde, geht auch daraus hervor, daß die Begriffe "Ordnung, Befehl und Zettel" vielfach einander ganz nahe gerückt werden; vgl. Th. Ilgen, Kleve II 2 (Anm. 18), S. 48: "dese cedule, bevele ind ordinantie"; Placcaeten Brabandt I lAnm. 89), S. 256: " ... eene cedulle daerop ghemaeckt, om tot eeuwigen daeghen onderhouden te werden"; Th. J . Lacomblet, Urkundenbuch IV (Anm. 18), Nr. 228: " . . . sal dat geystliche gericht .. . synen louff ... haven in maissen wir des eyne cedell hain laissen maichen"; J. J . Scotti, Churfürstenthum Trier (Anm. 91), Nr. 13: " . .. an diesen brieff und gesetze tun hencken".

Aussprache Willoweit: Vermutlich dürfen wir davon ausgehen, daß die von Ihnen untersuchten Territorien relativ weit entwickelt sind und sich darum hier die Gründe für die Entstehung des Gesetzgebungsstaates besonders gut erkennen lassen. Die mich am meisten bewegende Frage ist, warum es im späten Mittelalter überhaupt in stetig zunehmendem Maße zur Gesetzgebung kommt. Äußere Vorbilder, hier also der benachbarten burgundischen Territorien, mögen eine Rolle gespielt haben. Daß sie aufgegriffen wurden, hat aber gewiß herrschaftsimmanente Gründe. Ich denke dabei zunächst an Ihren Hinweis, daß es vor dem schriftlichen Gebot und Gesetz in den einzelnen lokalen Ämtern schon mündliche Gebote des Amtmanns im Auftrag seines Herrn gegeben hat. Der Gesetzgebung in Schriftform geht also eine Phase ungeschriebener Gebotspraxis voraus. Der entscheidende Entwicklungsschritt besteht aber nicht nur im Übergang zur Schriftlichkeit, die sich vielleicht in dem Maße durchsetzt, in dem die Amtleute schriftkundig werden. Vielmehr entsteht Gesetzgebung vor allem dadurch, daß die landesherrlichen Gebote auf alle Hintersassen, gleich welchen Rechtsstatus' und welchem Amte zugehörig, ausgedehnt und damit generalisiert werden. Diese These finde ich sehr bemerkenswert, weil sie den Zeitpunkt, von dem ab wir von Gesetzgebung im Sinne des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit sprechen können, präzise bezeichnet. An die Stelle räumlich begrenzter und funktional beschränkter Gebote treten allgemeine Regeln. War das Recht, Gebote und Verbote auszusprechen, ursprünglich und vielerorten noch lange Zeit durch konkrete gerichtliche oder auch grundherrliche Befugnisse ausgefüllt und damit zugleich begrenzt, so wird daraus nun - wie Sie sagen - ein höchstes Gebots- und Verbotsrecht im Sinne einer allgemeinen Gesetzgebungsbefugnis abstrahiert. Dieser Formel kann ich durchaus zustimmen, wenn ich auch weiterhin daran festhalten möchte, daß mit "Gebot und Verbot" von Haus aus nicht die Omnipotenz des Landesherrn gemeint ist. Die weitere Frage ist jetzt nur, warum es zur Generalisierung der Gebote, zu dem von Ihnen betonten Abstraktionsprozeß gekommen ist. Warum werden polizeiliche Anordnungen, die der Amtmann gewiß schon längst auf lokaler Ebene ausgesprochen hat, plötzlich als eine allgemeine Aufgabe des Landesherrn begriffen? Zu einer befriedigenden Antwort auf diese Frage sind wir heute sicher noch nicht in der Lage.

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Ich hätte nur zwei Vorschläge zu unterbreiten. Zum einen möchte ich meinen, daß sich mit dem Vordringen humanistischer Bildung an den deutschen Fürstenhöfen allmählich auch ein neues, an der antiken Staatlichkeit orientiertes Selbstverständnis der Landesherrschaft durchsetzt. Und zum anderen ist vielleicht der Niedergang der Kirche im 15. Jh. zu berücksichtigen. Wenn die soziale Moral und Disziplin nicht mehr durch das Pfarrsystem und die Sendgerichte aufrechterhalten werden kann, dann muß es doch für die weltlichen Herren naheliegen, sich zur Vermeidung größerer sozialer Schäden selbst um Würfelspiel und Wirtshäuser, samt allem, was dazu gehört, zu kümmern. Die Frage ist also, ob durch die landesherrliche Gesetzgebung nicht das Vakuum ausgefüllt wird, das der Autoritätsverlust der Kirche hinterlassen hat.

Kroeschell: Ich wollte mich an die Bemerkungen von Herrn Willeweit noch mit einer knappen Frage anschließen. Muß man wirklich annehmen, wenn in Kleve das Würfelspiel oder das Fluchen bestraft wird Jahrzehnte vor einer entsprechenden Polizeiordnung - , daß es eines mündlichen Verbots durch den Amtmann oder durch den Fürsten selbst bedurft hätte? Muß man dabei nicht einfach in Rechnung stellen - in der Bemerkung von Herrn Willeweit klang das schon an - , daß das Verbotensein solchen Tuns schon aufgrund des kirchlichen Rechts eindeutig feststand? Es war ja zweifellos nicht erlaubt, zu fluchen und Glücksspiel zu betreiben. Mußte es da überhaupt jemanden geben, der das noch einmal ausdrücklich verbot? Ist nicht hier - wie Herr Willeweit schon sagte - der Landesherr einfach nur eingetreten für die vielleicht nicht mehr hinreichend effektive kirchliche Disziplinargewalt? Janssen: Der Verdacht, daß der Landesherr, wenn er Vergehen wie Würfelspiel und Fluchen bestrafen läßt, längst bestehende kirchliche Verbote exekutiert und "ersatzweise" für die unwirksamer werdende kirchliche Gerichtsbarkeit eintritt, drängt sich in der Tat auf und ist nicht von der Hand zu weisen. Irritierend wirkt freilich, daß diese Vergehen mit weltlichen Strafen geahndet werden und daß die kirchliche Statutengesetzgebung sich um solcherlei Delikte entweder gar nicht oder nur am Rande kümmert. Dies läßt nun doch vermuten, daß dahin zielende landesherrliche Gebote Vorläufer oder Vorstufen der späteren Polizeigesetzgebung sind und daß dahinter durchaus "ungeistliche", rein weltliche - auf das "störungsfreie" Funktionieren der sozialen Beziehungen bedachte - Zielsetzungen stehen. Auch die geistlichen Fürsten - und das ist doch bezeichnend - machen in diesen Fällen von ihrer "iurisdictio temporalis" und nicht "spiritualis" Gebrauch. Luntowski: Mir geht es um die Frage, wieweit eine Parallelität der Entwicklung von Recht und Rechtsprechung in den Territorien und den

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Städten festgestellt werden kann. In den Städten entwickelten sich auf der Grundlage von Einzelprivilegierungen und landrechtliehen consuetudines - klammert man hier einmal die Frage der Stadtrechtsfiliationen aus - die einzelnen Stadtrechte, deren erste Niederschriften in unserem Raum (Westfalen und Niedersachsen) in der Regel aus dem 13. Jh. stammen. Subsidiär zu den (kodifizierten) Stadtrechten sehen wir spätestens seit dem 14115. Jh. den Sachsenspiegel in der städtischen Gerichtsbarkeit in Gebrauch (wobei ich jetzt ebenfalls nur vom westfälisch-niedersächsischen Raum spreche); an dritter Stelle begegnet das sog. Kaiserrecht, worunter man noch im 15. Jh. den Schwabenspiegel verstand; es finden sich schließlich auch Rekurse auf das kanonische Recht. Die bekannten prunkvollen Handschriften des Sachsenspiegels z. B. von Lüneburg und Dortmund· entstanden Ausgang 14JAnfang 15. Jh. Sie wurden in den Rathäusern aufbewahrt, wo sie offenbar zur Rechtsfindung benutzt wurden. Seit dem 16. Jh. findet das römische Recht Eingang in die Rathäuser, was u. a. einhergeht mit der Einstellung von rechtsgelehrten Syndici zumindest in den größeren Städten; um diese Zeit setzen auch die Serien der Gerichtsprotokolle ein (schriftliches Verfahren). In Lüneburg haben wir beispielsweise gegen Ende des 16. Jh. eine Stadtrechtsreformation mit starkem römisch-rechtlichem Einschlag. Um auf meine Frage zurückzukommen: Haben wir in den Territorien noch im Mittelalter Rechtsaufzeichnungen wie in den Städten, in welchem Bezug stehen sie zur Praxis der Rechtsprechung, und wie verhält es sich in der Praxis mit der "Rezeption" des römischen Rechts? Janssen: Zu Kodifikationen des territorialen Landrechts ist es in unserem Gebiet während des Spätmittelalters nicht gekommen. Eine gewisse Ausnahme macht nur das Bergische Ritter- und Landrecht vom Ende des 14. Jh., bei dem es sich um eine inoffizielle Aufzeichnung (von der Art der mittelalterlichen Rechtsbücher) handelt, deren Inhalt aber nach und nach "per privilegia" von den Landesherren anerkannt wurde und damit - für Teile zumindest - eine Art Gesetzescharakter gewann. Im allgemeinen existierte das Landrecht als ungeschriebenes Gewohnheitsrecht - materiell wahrscheinlich dem Sachsenspiegelrecht nahestehend. Bei den Kodifizierungen dieser Landrechte im 16./ 17. Jh. ist schwer abzuschätzen, wie weit sie geltendes Gewohnheitsrecht widerspiegeln oder wie weit stillschweigende "Rechtsbesserungen" im Sinne des römischen Rechts darin bereits eingearbeitet sind. Solche Veränderungen festzustellen, ist insofern schwierig, als wir den Inhalt des ungeschriebenen Rechts ja bestenfalls punktuell und indirekt (durch Urteile etwa) kennenlernen können. Immerhin ist in den Gerichtsordnungen der niederrheinischen Territorien aus dem 16. Jh.

Aussprache ausdrücklich festgelegt, daß das "gemeine Recht" gegenüber dem "gebräuchlichen Recht" nur subsidiären Charakter hat. Es kann m. E. aber kein Zweifel sein, daß im Spätmittelalter das städtische Recht das territoriale Recht an Klarheit und Eindeutigkeit noch deutlich übertraf. Wolf: Was die Gesetzgebung der deutschen Territorien betrifft, hat uns Ihre Forschung ganz erheblich weitergebracht. In dieser Weise sind wir ja bisher eigentlich nur über Bayern und einige Städte informiert. Methodisch hat mich besonders überzeugt, wie Sie gerade aus einer gescheiterten Gesetzgebung das Zusammenwirken von Ständen und Herrscher herausgeholt haben, auch wenn es nicht im Text selbst steht. Ebenfalls leuchtet es mir sehr ein, den Landfrieden als zentralen Begriff herauszustellen, und interessant fand ich Ihren Hinweis, daß die Schriftlichkeit zwischen dem Landesherrn als Person und als Institution unterscheiden läßt. Nun habe ich noch zwei Fragen und dann ein paar grundsätzliche Bemerkungen. Das Zitat von 1484, das Sie in Ihrem Vortragstitel genannt haben, "na gesetze unser lande", ist dies das früheste Vorkommen des Wortes Gesetz in diesem Gebiet? Von Frankfurt weiß ich, daß man schon im 14. Jh. von Gesetz und Gesetzbuch spricht.

Dann sagten Sie, das kann man natürlich auch anderswo erkennen, daß an bestimmten Stellen authentische Fassungen eines Gesetzes hinterlegt werden und daß die Möglichkeit besteht, sich davon eine Abschrift herzustellen. Gibt es in Ihrem Bereich auch die Vorschrift, daß Richter oder Amtleute sich Abschriften herstellen müssen, unter Umständen eine Strafe gewärtigen müssen, wenn sie es nicht tun? Jetzt die grundsätzliche Bemerkung. Da geht es darum, was Sie überhaupt als Gesetz bezeichnen wollen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, würde ich vielleicht an einer Stelle den Begriff etwas enger ziehen, an einer anderen Stelle etwas weiter. Ich habe Sie so verstanden, als wollten Sie die mündliche Rechtsetzung, die der Gesetzgebung vorausgeht, auch schon als Gesetzgebung bezeichnen. Ich fürchte, daß man da ein bißeben in Teufels Küche kommt. Nun haben ja schon Herr Willoweit und Herr Kroeschell darauf hingewiesen, daß die Beispiele, die Sie brachten, möglicherweise bereits auf kanonische Vorschriften zurückgehen, daß wir da also eigentlich schriftliche Gesetzgebung schon vorliegen haben, die der Landesherr dann ausführen muß. Sicherlich ist es so, daß der schriftlichen Gesetzgebung eine mündliche Rechtssetzung vorausgeht. Es gibt das einprägsame Beispiel aus der Grafschaft Forcalquier, wo wir urkundlich wissen, daß um 1160 die Sache mündlich beschlossen worden ist, und 1209 wird es dann in Gesetzesform, in Urkundenform, niedergelegt. Da haben wir den Übergang. Ich meine doch, daß man von Gesetzen erst sprechen sollte, wenn es die schriftliche Ur-

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kundenform erreicht hat, weil der Begriff sonst uferlos wird. Ich glaube, er wäre dann nicht praktikabel. Andererseits sollte man vielleicht doch etwas großzügiger sein mit dem Begriff Gesetz. Ich habe Sie so verstanden, als wollten Sie den Begriff reduzieren auf Gebote und auf Neues. Ich meine, daß wenn irgendwo ein bereits geltendes Recht, das aber nicht schriftlich urkundlich festgelegt ist, nachträglich diese Form erhält, dann sollte man dieses formell Neue doch auch schon als etwas Wesentliches anerkennen und nunmehr ruhig von Gesetz sprechen. Auch unsere heutigen Gesetze, z. B. das BGB, sind nicht völlig vom Himmel gefallen, sondern enthalten viele Institutionen, die es schon vorher gab. Ich möchte auch die Tarnformen- ein Begriff, den Ebel geprägt hat- als Gesetze anerkennen. Man sollte auf das Formelle abheben und in dem Übergang zu der schriftlichen Urkundenform etwas verfassungsgeschichtlich so Neues und Wichtiges sehen, daß man von da an von Gesetz sprechen kann.

Stolleis: Erlauben Sie bitte noch eine Nachbemerkung zu der von Herrn Willoweit aufgeworfenen Frage, warum es vom 13. und 14. Jh. an zu dieser Intensivierung der Policey-Gesetzgebung kommt. Die eine Möglichkeit ist genannt worden: das von einer unsicher gewordenen Kirche hinterlassene Machtvakuum, in das der Staat einrückte, um die "Sozialdisziplinierung" zu übernehmen. Die andere Möglichkeit wäre die, daß der Normierungsdruck gerade von einer Intensivierung kirchlichen Lebens ausgeht und die weltlichen Obrigkeiten zum Erlaß von Geboten und Verboten nötigt. Beispiele hierfür sind etwa die Bußpredigten des Franziskaners Johannes Capistranus, unter deren Eindruck die Städte dann neue Kleiderordnungen und Luxusverbote erlassen. Oder man denke an den im späten 16. Jh. von der lutherischen Orthodoxie ausgehenden Druck auf die Obrigkeiten! Sprandel: Ich sehe darin keinen Gegensatz. Denn es geht ja im wesentlichen um den Niedergang oder die Schwächung der Amtskirche, und Bettelmönche könnte man schon zu einerneuen Bewegung im religiösen Rahmen zählen, die dann eventuell sogar einer späteren Staatskirche in die Hand arbeitet: Landesfürsten und Bettelmönche als Zusammenwirkende bei einer neuen Form der Heilssicherung auch im Spätmittelalter. Brauneder: Eine Bemerkung zur Gesetzgebung des ausgehenden Mittelalters: 1420 wird für Wien durch eine Verfügung des Stadtherrn Herzog Albrecht V. (der deutsche König Albrecht II.) eine erbrechtliche Institution, der Beisitz des überlebenden Ehegatten, als üble Gewohnheit ausdrücklich aufgehoben, verboten. Aber damit nicht genug: In einer zweiten Verfügung aus 1421 ersetzt der herzogliche Stadtherr

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jenen Artikel des Stadtrechts aus dem Jahr 1304, in welchem der Beisitz wie selbstverständlich berücksichtigt ist, durch einen neuen Artikel, der die nunmehr verbotene Rechtsfolge nicht mehr erwähnt. Hier folgt ganz deutlich auf eine materielle Derogation ein Akt formeller Derogation. Man frägt sich natürlich, wie kommt es zu dieser modernen Gesetzgebungstechnik. Im Zusammenhang mit anderen Handlungen Herzog Albrechts V. muß man vermuten, daß gemeinrechtlich geschulte Räte hinter diesem Gesetzgebungsakt stehen. Ich würde daher meinen, daß dort gemeinrechtlich geschulte Räte am Werke sein können, wo es zwar nicht direkt faßbar, aber aus Gesetzesstil etc. ableitbar ist. Wolf: Ich möchte etwas ergänzen zu dem, was Herr Brauneder sagte. In den Frankfurter Gesetzbüchern finden wir gelegentlich auch solche Aufhebungen von Gesetzen. Wenn das aufhebende Gesetz an einer anderen Stelle des Buches steht als das aufgehobene Gesetz, wird eigens darauf verwiesen; gelegentlich steht dann da noch am Rande "ist nun abe". In einigen Fällen wird es später sogar wieder eingeführt; das geschieht z. B. bei der Erhebung von Kornsteuern, damit machte man richtig Konjunkturpolitik, indem man bestimmte Abgaben mal verlangte und dann wieder nicht.

Frost: Gestatten Sie Anfragen zu zwei Problemgruppen. Zunächst geht es mir um den Einfluß, den im Spätmittelalter in zunehmendem Maße die Volksfrömmigkeit gewonnen hat. Ich denke dabei an die bis weit in den Laienstand hineinwirkende Ausprägung der "devotio moderna" mit ihrem Einfluß auf die Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben, denen in unserem Zusammenhang wohl Beachtung zukommt. Sodann scheint sich mir das Problem der mit der fortschreitend~n Rezeption des römischen Rechts verstärkten Ablösung der Priorität des "guten alten Rechts" durch ausdrückliche Gesetzgebungsakte zu stellen, die sich zeitlich unterschiedlich, aber in stetem Fortschreiten vollzogen hat; gerade hier dürfte auch ein Zusammenhang mit wirtschaftlichen und handelspolitischen Bestrebungen liegen, auf die mein Herr Vorredner soeben hinwies. Böckenförde: Ich möchte zwei Bemerkungen machen. Die erste knüpft an den von Ihnen gebrauchten Begriff der consuetudo generaUs als erster Umschreibung eines neuen Landrechts an. Diese Umschreibung ist mir besonders deswegen interessant, weil sich hier verschiedene Begriffe des Landes und auch des Landrechts zeigen. Um an Otto Brunner zu erinnern, so steht für ihn das Land dem Herrscher oder mehreren Herrschern noch gegenüber, und das Land ist eine Rechtsgemeinschaft, aber gegründet auf das, was in Ihren Begriffen gesprochen eine consuetudo darstellt. Hier wird aber durch Herrschaftsübung, durch Zusammenfassung von verschiedenen Herrschaften zu einem Territo-

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rium ein neuer Begriff von Land geschaffen, der dann durch ein Recht - Sie haben wohl gesagt, zunächst noch sehr inhaltsarm - geprägt wird, das sich im Grunde auf Gebote und Verbote, die statuta des Landesherrn abstützt. Gleichwohl scheint ein neues und gemeinsames Bewußtsein zu entstehen, eine Art Repräsentanz oder Repräsentation dieses Gemeinwesens, das sein erstes gemeinsames Recht in den Geboten hat, die - noch sehr sporadisch - eine gemeinsame Grundlage für das Zusammenleben in diesem vom Herrscher her gebildeten Territorium schaffen. Es wäre interessant zu wissen - das bedarf aber sicher noch weitergehender Forschungen -, von wann ab und in welchen Gebieten man terra in dem neueren Sinn verstehen kann und darf, und wo noch der alte Begriff von Land, von terra, mitschwingt. Ich habe bei dem Landbegriff immer die Schwierigkeit gehabt, wie sich denn dieses Land abgrenzt. Ist es einfach eine überkommene, auch genossenschaftlich geprägte Gemeinsamkeit, und wie ist es, wenn durch Erbgang oder Kauf oder Verpfändung neue Bereiche oder Gebiete zu dem Land hinzukommen? Sind das zunächst verschiedene Länder das kennen wir ja auch - unter einem Fürsten, und wie und wann wird daraus ein einheitliches Land? Sicher ist das ein fließender Übergang, aber gerade das typologische Gegenüberstellen hilft vielleicht weiter, um die Veränderung, die sich da abspielt, deutlich werden zu lassen. Der zweite Punkt. Ich fand es sehr aufregend in Ihrem Vortrag, daß Sie erstmals den Gesetzesbegriff dort aufgespürt haben, wo er noch nicht den Anspruch erhebt, das Recht zu normieren, sozusagen das Recht zu enthalten und zu sein, sondern wo er sich innerhalb von Recht bewegt, indem Gebote, Verbote, Statuten gesetzt oder vereinbart werden, die sich in den Rahmen des überkommenen Rechts einfügen, darin bewegen. Es werden Freiräume, die vom Recht nicht normativ besetzt sind, ausgenutzt. Dieser anfängliche Begriff des Gesetzes hat dann die Tendenz, das herkömmliche Recht, consuetudo und jus, in sich zu absorbieren, indem sich der zunächst nur im Hinblick auf statuarisches Gebots- und Verbotsrecht erhobene Geltungsanspruch weiter ausdehnt. Dies geschieht nicht zuletzt auf der Grundlage des Herrscheramts und seiner religiösen Begründung, die die Legitimation mit sich brachte, auch Recht zu schaffen. Vielleicht kann man sagen - das würde anknüpfen an das, was wir vor zwei Jahren besprochen haben -, daß das Gesetz zunächst als Amtsrecht erscheint, um dann auch den Bereich zu ergreifen, der seinen Ort noch in der allgemeinen consuetudo hatte. Zur Erhaltung oder Herstellung der guten Ordnung können Gebote und Verbote gesetzt und durchgesetzt werden, und allmählich zieht dieses Amtshandeln dann Rechtssetzung, ja Rechtsschöpfung- das geht aber schon in spätere Jahrhunderte hinein - an sich. Insofern ist die Ver-

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bindung zu den Staatstheorien, auf die Sie hingewiesen haben, durchaus zutreffend. Schon bei Thomas von Aquin in De regimine principum kommt ja ein anderer Rechtsbegriff zum Vorschein als der, der sich in consuetudo et jus ausspricht, nämlich die Orientierung an der salus publica bzw. dem bonum commune. Darin ist der Gedanke von Zweckmäßigkeit, von Steuerung, von Gestaltung, von Erneuerung, von Reform mit enthalten. In der Summa Theologiae definiert er das Gesetz als "quaedam rationis ordinatio ad bonum commune" (qu. 90, art. 4). So geht es beim Gesetz nicht mehr nur darum, das Überkommene, was als consuetudo da ist, zu bewahren und auszugleichen, in welchem Rahmen sich jede Art von Fortbildung nur indirekt, unter dem Deckmantel des eingetretenen Niedergangs des alten Rechts, das es wiederherzustellen gelte, zur Geltung bringen ließ. Zum Abschluß möchte ich unser Problem noch etwas ins Prinzipielle ausweiten. Luhmann hat ja die These vertreten, daß mit der Herausbildung der zur Rechtssetzung befugten Staatsgewalt die sozialen Beziehungen und Ordnungen insgesamt in einen neuen Aggregatzustand überführt werden. Er hat hierfür, wenn ich das recht in Erinnerung habe, als Kriterium angeführt, daß Recht für die politische Gewalt verfügbar wird, daß die Souveränität als Verfügungsmöglichkeit über Recht sich durchsetzt. Auch das deutet darauf hin, daß in der Herausbildung des Gesetzesbegriffs, wie Herr Janssen sie verfolgt hat, sich ein ganz in Anfängen stehender, aber doch prinzipieller Umbruch vollzieht. Es sind die Ursprünge für den Prozeß der Umformung von Recht und Gesetz in Legalität. Heute ist uns das so selbstverständlich geworden, daß wir uns erst wieder rückerinnern müssen, was es eigentlich bedeutet, auch als kulturhistorischer Vorgang bedeutet, daß Recht in Gesetz überführt wird und in der Form von Legalität erscheint.

Janssen: Ich darf zunächst anknüpfen an Herrn Brauneder, der betont, daß die gelehrten Räte zweifellos stimulierend auf diese neue Gesetzgebungspraxis der Territorien eingewirkt haben. Ich möchte dies durch den Hinweis auf den Streit zwischen dem Herzog von Kleve und der Stadt Wesel, der schon zur Sprache gekommen ist, noch einmal unterstreichen und illustrieren. Es ging dabei um die schwierige Frage, ob der Fürst an die von seinen Vorgängern erteilten Privilegien gebunden sei. Die Stadt Wesel wandte sich an die Universität Köln und ließ sich von der juristischen Fakultät Gutachten in ihrem Sinne anfertigen. Der Herzog sah sich also gezwungen, auch seinerseits gelehrte Räte zu nehmen, wenn er nicht hoffnungslos unterliegen wollte. Und es kann durchaus sein, daß er bei dieser Gelegenheit auf den "Geschmack" gekommen ist und eingesehen hat, welches Arsenal an Waffen das neue gelehrte Recht seinen Absichten und Wünschen zur Verfügung stellte.

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Es scheint so, als sei er zunächst widerwillig auf einen Kampfplatz gezwungen worden, den er dann al!; ungemein günstig für sich erkannte. Im Rahmen des Streits zwischen dem Herzog und Wesel mußten sich die "doctores" auch Gedanken darüber machen, wie die Begriffe "disstrictus" und "territorium" zu verstehen seien. Sie kamen zu dem Schluß, das Territorium sei dadurch gekennzeichnet, daß es "distringitur legibus principis". Ich halte diese Definition zwar für unzeitgemäß, aber sie führt zu der Frage, die Sie, Herr Böckenförde, angeschnitten haben: nach der "terra" und dem Landrecht. Ich halte sie für eine der schwierigsten Fragen der spätmittelalterlichen Verfassungs- und Rechtsgeschichte überhaupt und muß gestehen, daß es mir immer schwerer fällt, zu verstehen, was mit diesen Begriffen in den verschiedenen Quellen gemeint ist. Sicher ist nur, daß die "terra comitis Clivensis" von 1300 nicht als Land im Brunnersehen Sinne zu deuten ist. Wir müssen vielmehr mit durchaus unterschiedlichen "terra"-Begriffen rechnen und operieren. Damit nähern wir uns von einer anderen Seite wiederum der Frage, die Sie, Herr Willoweit, eingangs gestellt haben, wie es aus einem partikularen land- und gewohnheitsrechtlich begründeten und beschränkten Gebotsrecht des Landesherrn zu einer Art territorial und sachlich allgemeinen fürstlichen Gebotsrecht kommen konnte. Ich möchte zu Diskussion stellen, ob die aus der Enge in die Weite, vom Besonderen zum Allgemeinen, aus der Konkretion zur Abstraktion verlaufende Entwicklung, die wichtige Rechtsbegriffe wie Herrschaft, Land u. ä. im Spätmittelalter erfahren haben, nicht auch andere Begriffe und deren Inhalte- wie z. B. "Gebot und Verbot" in diesen Trend mitgezogen haben kann. Vor allem die Vorstellung vom "Landrecht" bedürfte dringend einer Analyse ihrer verschiedenen Inhalte vom 10.-16. Jh. Was den Gesetzesbegriff angeht, Herr Wolf, gebe ich gerne zu, daß man auch die schriftliche Fixierung alten Rechts als Gesetz gelten lassen muß. Allerdings sollte man für Zeiten, die formaliter das Gesetz wie das Privileg kennen, doch einen Unterschied machen, ob Recht "gesetzt" oder "gewährt" wird, weil sich hieraus deutliche Hinweise auf das Rechtsbewußtsein ergeben. Bei dem Problem des Verhältnisses von "Staat" und Kirche in bezug auf das Wohlverhalten der Untertanen bzw. Gläubigen, das die Herren Stolleis, Sprandel und Frost angesprochen haben, wäre zu fragen, ob es über eine durch die religiösen Bewegungen des Spätmittelalters ausgelöste allgemeine Sensibilisierung in Fragen der Moral hinaus einen Interessengleichklang zwischen den "Gewalten" gegeben hat. Hatte der das Glücksspiel verbietende Landesherr das "Heil" der Betroffenen oder die territoriale "pax et securitas" im Auge? Ich glaube eher an das 4 Der Staat, Beiheft 1

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letztere, zumal die angesprochenen religiösen Bewegungen so gut )Vie ausschließlich in den Städten, aber weder auf dem Land noch an den Fürstenhöfen wirksam gewesen sind. Allerdings dürften hier pauschalierende Antworten fehlgehen. Kunisch: Sie haben in Ihrem Vortrag eine Reihe von allgemeinen Gründen angeführt, aus denen die Notwendigkeit spätmittelalterlicher Gesetzgebung in Umrissen erkennbar wird. Nun werde ich in meinem Vortrag morgen früh auf das Problem der politischen Unumgänglichkeit von Gesetzgebung sehr konkret zu sprechen kommen. Insofern meine Frage, ob nicht in der Gesetzgebung auch des Mittelalters schon auf jeweils sehr konkrete Regelungsdefizite Bezug genommen wurde. Ich habe den Eindruck, daß auch in den entsprechenden mittelalterlichen Texten bereits politische Gründe genannt werden, warum man sich zu Gesetzgebungsverfahren entschlossen hat. Naujoks: Parallel zu der Frage von Herrn Kunisch möchte ich Herrn Janssen fragen, ob sich die im Spätmittelalter zunehmende Machtfülle des Fürsten in den behandelten Beispielen auch darin ausdrückt, daß er sich in seinen Gesetzen auf seine "superioritas" - also obrigkeitlichherrschaftliche Gewalt - beruft?

Borc1c: Zu dem soeben angesprochenen Begriff der superioritas drängt sich mir die Frage auf, ob es Beziehungen -und wenn ja: welche zwischen dieser Ausbildung staatlicher Gesetzgebungstätigkeit in den Territorien, was immer im einzelnen konkret unter diesem Begriff "Gesetzgebungstätigkeit" zu verstehen ist, und der vorhergehenden Aktivität des Reiches in dieser Hinsicht gibt. Sie haben, wenn ich das richtig verstanden habe, den Begriff der superioritas angewandt auf eine Erscheinung, die man gleichsam als den Aufstieg vereinzelter Rechte auf die Ebene höherer staatlicher abstrakter Gesetzgebung bezeichnen könnte. Nun finden sich derlei Vorgänge, wie Sie sie auf territorialer Ebene für das 15. Jh. geschildert haben, ja bereits zwei und mehr Jahr· hunderte früher auf der Ebene des Reiches. Ich denke dabei etwa an den Begriff der superioritas territorialis im zweiten Mainzer Reichslandfrieden von 1235, ich greife noch weiter zurück und erwähne die constitutio contra incendiarios aus dem Jahre 1184: beide richten sich genau in der Art und Weise, wie Sie dieses für Gesetze beschrieben haben, wie Sie den Gesetzgebungsakt gekennzeichnet haben, ohne Ansehen des Standes gegen jedermann; die Voraussetzungen Ihres Gesetzesbegriffes dürften damit erfüllt sein. Mit Recht haben Sie darauf hingewiesen, auch im einzelnen mit vielen Beispielen deutlich gemacht, daß die meisten dieser Gesetzgebungsakte gleichsam auf der Basis einer zuweilen wohl auch stillschweigenden Vereinbarung mit den Ständen, d. h. letztlich unter der Voraussetzung von deren Zustimmung, zustan-

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degekommen sind. Auch hier, meine ich, sollte man das Vorbild des Reiches anführen: ich denke an das berühmte Reichsweistum von 1231, das die Zustimmung bei allen grundsätzlichen Änderungen des Rechtes im jeweiligen Territorium an die Zustimmung der optimi et meliores terrae bindet. Ich will jetzt die Liste möglicher Beispiele hier nicht fortsetzen, sondern aus dem Gesagten die folgende konkrete Frage formulieren: Gibt es zwischen diesen offensichtlichen Anstrengungen von Gesetzgebungstätigkeit im Reiche und dem, was Sie uns in den Territorien vorgeführt haben, einen Zusammenhang? Noch genauer gefragt: Ist die Ausbildung des Territorialstaates letztlich der Gesetzgebung des Reiches zu verdanken? Und wenn es so ist: Warum liegen 200 Jahre dazwischen?

Janssen: Es kann, Herr Borck, keine Frage sein, daß der Kaiser mit dem Versuch, Gesetze zu erlassen, den Landesherren um Jahrhunderte vorausgegangen ist. Hier ist auf die Arbeiten von Hermann Krause zu verweisen. Wie weit die Landfriedensgesetzgebung des Reiches Gesetzes- oder Einungscharakter zeigt, ist, wie Sie wissen, umstritten. Der Unterschied zwischen der hochmittelalterlichen Reichsgesetzgebung und der spätmittelalterlichen Territorialgesetzgebung dürfte m. E. darin liegen, daß erstere doch mehr herrscherliebes Dekor als gezielte Operation war. Dem Reich fehlte die Voraussetzung für eine wirksame legislatorische Tätigkeit: der Verwaltungsapparat. Den aber hatten die Territorien seit der Mitte des 14. Jh. Die Gesetzesterminologie bezogen Reich wie Territorien aus dem Corpus juris samt seinen Kommentatoren und aus den einschlägigen moraltheologischen Werken. Der Begriff der "superioritas", wenn ich das noch hinzufügen darf, begegnet schon im 14. Jh.; das entsprechende deutsche Wort "Obrigkeit" habe ich in dem von mir durchgearbeiteten Material bis 1500 nicht gefunden; es dürfte also seiner Herkunft nach oberdeutsch sein. Im Nordwesten scheint man statt dessen "Hoheit" gebraucht zu haben. Willoweit: Das Wort "Obrigkeit" kommt auch im oberdeutschen Raum nicht viel früher vor. Die ältesten bisher bekannt gewordenen Belege, und zwar aus Städten, stammen aus der Zeit kurz vor der Mitte des 15. Jh. - Fragen möchte ich noch nach der Beteiligung der Stände an der Gesetzgebung, die Sie ja besonders betont haben. Ist dies nicht nur eine Konsequenz, welche sich aus der allgemeinen Stärke ständestaatlicher Strukturen im 15. Jh. ergibt? Denn im 16. Jh. ist es doch vielfach, wenn auch nicht überall, der einseitige obrigkeitliche Befehl, der dem Gesetz zugrunde liegt. J anssen: In dem von uns beobachteten Gebiet waren die Stände auch im 16. Jh. noch sehr stark, so daß sich in der Gesetzgebungspraxis kein Unterschied zum 15. Jh. erkennen läßt. In den "ordinancien", die

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sein "domanium" oder Gegenstände der später sog. Polizeigesetzgebung bestrafen, scheint der "dominus terrae" stets eine relativ freie Hand gehabt zu haben. Boldt: Sie haben an mehreren Stellen in Ihrem Vortrag einen großen Bogen geschlagen und bis auf den sozialen Wandel im Hochmittelalter zurückgegriffen. Nun ist es ja ohne weiteres einsichtig, daß dieser soziale Wandel, die Zunahme der Bevölkerung und ihrer sozialen Differenzierung, zu einem größeren Regelungsbedarf führen mußte. Sie haben darauf hingewiesen, daß es infolgedessen auch eine stärkere Reglementierung gab, nämlich in den Städten. In den Territorien dauerte dieser Prozeß wohl etwas länger. Ihm ist nicht nur die mittelalterliche Gesetzgebung zuzurechnen, sondern auch die im 15. und 16. Jh. Offenbar gab es hier so etwas wie eine kontinuierliche Zunahme des Regelungsbedarfs über die Jahrhunderte hinweg. Mir fällt in diesem Zusammenhang aber auf, daß es dennoch so etwas wie eine legislative Stagnationsperiode gegeben hat, im 14. Jh. Ich weiß nicht, ob das auch für den Nordwesten, über den Sie referiert haben, gilt. Ursächlich dafür ist vermutlich die sog. Krise des 14. Jh. mit ihrem Bevölkerungsrückgang im Schnitt um ein Drittel und die sich daran anschließende demographische und wirtschaftliche Stagnation. Auf sie hat der Staat, haben die damaligen Territorialhoheiten gesetzgeberisch nicht geantwortet, wie man das vom modernen Staat aus denkend vermuten möchte. Dazu waren die damaligen Territorialhoheiten gar nicht in der Lage. Ich möchte gern wissen, ob diese Krise sich auch im Nordwesten des Reichs so bemerkbar gemacht hat. Janssen: Am Niederrhein deuten verschiedene Zeugnisse darauf hin, daß die seit der Mitte des 13. Jh. beschleunigt vorangetriebene Landerschließung bis um 1400 durchläuft, seit etwa 1360, nach den schweren Pestwellen, allerdings merklich abgeschwächt. Die in den 20er Jahren des 15. Jh. einsetzende Gesetzgebungstätigkeit wäre dann die Antwort auf die Herausforderung durch die damals erreichte "Komplexität" der Lebensverhältnisse. Dieses Verlaufsmodell unterscheidet sich von dem allgemein üblichen, das um die Mitte des 14. Jh. einen deutlichen Bruch mit einer folgenden Stagnation oder gar Rückentwicklung zeigt. Demnach stellten sich die sozialen Probleme, die schon am Anfang des 14.Jh. aufgetaucht waren, erst mit dem ausgehenden 15. Jh. erneut. Damals aber verfügten die politischen Gewalten über ein Instrumentarium, damit fertig zu werden, das um einiges besser und griffiger war als das, was man 150 Jahre vorher hatte. Sprandel: Das Loch in der Entwicklung zwischen Hochmittelalter und 15. Jh., auf das Herr Boldt hingewiesen hat, bleibt aber trotz dieser Er-

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klärungen bestehen. Auf Fragen des Hochmittelalters wurde in Kleve im späten 15. Jh. geantwortet. Dieser Rückstand hängt sicherlich auch zusammen mit unserer so widersprüchlichen Reichsgeschichte, dem Streben des Kaisers und vieler Kräfte des Reiches nach einer anderen Lösung der Ordnungsprobleme als jener, wie sie durch den Territorialstaat tatsächlich gefunden wurde; so ergibt sich eine zwei Jahrhunderte dauernde Hängelage in Deutschland, nicht nur bedingt durch demographische und wirtschaftliche Faktoren, sondern vor allem bedingt durch die große Verfassungs- und Reichsgeschichte, eine Hängelage, die wahrscheinlich nicht sehr angenehm war für die Menschen, die damals lebten.

Stourzh: Ich möchte eine terminologische Frage zu den von Ihnen verwerteten Quellen stellen. Es werden ja verschiedene Begriffe genannt für Gebote oder Gesetze, sehr häufig kommt der Begriff der "ordinantie" vor. Es wäre interessant zu erfahren, ob bzw. inwiefern die verschiedenen Termini für landesfürstliche Gebote austauschbar waren, oder ob sich vielleicht eine Art von Hierarchie der Normen aufgrund verschiedener Bezeichnungen feststellen läßt. Janssen: Nach meiner Kenntnis ist es so, daß der Begriff der "ordinantie" der weiteste Begriff für landesherrliche Regelungen ist. Als "ordinantie" werden auch bloße Dienstanweisungen für landesherrliche Beamte bezeichnet. Wenn der Erzbischof von Köln - um beispielhaft konkret zu werden - seinen Amtskellnern bis ins Detail vorschreibt, wie dieser oder jener Hof zu bewirtschaften ist, dann gilt das auch als "ordinantie". "Ordinantie" ist sowohl das allgemein verbindliche Gesetz als auch die Vorschrift für den Einzelfall, während der Begriff des "ingesette" bzw. der "versatinge", der unserem Gesetzesbegriff am nächsten kommt, für dergleichen Einzelfallregelungen nicht gebraucht wird. Es. ist allerdings erstaunlich, daß dieser farblose Begriff der "ordinantie" der am meisten gebrauchte Begriff auch für Gesetze im engeren Sinne ist, vielfach allerdings von einem Zusatzbegriff wie "ingesette", Befehl, Gebot o. ä. begleitet. Kroeschell: Ich möchte mich gern mit einer ebenfalls terminologischen Frage anschließen: Wann verliert eigentlich das Wort "Gesetz" ganz den Sinn des sprachlichen Satzes und bedeutet nur noch Satzung und Rechtssetzung? Es wurde schon gesagt, daß es überhaupt erst seit dem 14. Jh. üblich wird, das Wort Gesetz im heutigen Sinne zu verwenden. Wird das Wort von nun an nur noch in dieser Bedeutung gebraucht, oder muß man auch im Spätmittelalter noch damit rechnen, daß "Gesetz" einfach nur ein Satz ist oder ein Satzgefüge? Ich meine mich zu erinnern, daß "Gesetzlein" zu dieser Zeit etwa die Strophe eines Gedichts oder eines Liedes bedeuten kann.

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Willoweit: Zu der Frage, wann wir von "Gesetzgebung" in einem uns begreiflichen Sinne sprechen dürfen, noch ein kleines Beispiel. Ende des 15. Jh. schreibt der Erzbischof von Mainz seiner Stadt Dieburg einen Brief, in welchem er zur Beilegung erbrechtlicher Streitigkeiten das Eintrittsrecht der Enkel anstelle des verstorbenren Vates anordnet. Am Ende dieses Schreibens, das typologisch etwa als Privileg zu bezeichnen wäre, erklärt der Landesherr aber die neue erbrechtliche Regelung als verbindlich für alle seine Städte und Ämter. Dieses Vorgehen ist vom modernen Gesetzesgedanken her nicht zu verstehen. Wenn erwartet wird, daß sich nach einem an bestimmte Adressaten ergehenden Privileg auch Dritte richten, dann muß es wohl üblich gewesen sein, den Inhalt solcher Dokumente durch Kopien oder auch durch mündliche Mitteilungen unter den verschiedenen Amtsträgern zu verbreiten. Herr Wolf wollte mündliche Gebote nicht als Gesetzgebungsakte verstanden wissen. Ich glaube aber, daß es fließende Obergänge gibt, und daß wir nicht umhin können, das hier von mir geschilderte Verfahren als eine Form landesherrlicher Gesetzgebung zu verstehen. Diestelkamp: Ich möchte anknüpfen an das, was Herr Willeweit gesagt hat, und davor warnen, einseitig nur das ins Blickfeld zu rücken, was Satzung oder - wie hier - "ordinantie" genannt wird. Es ist keine Ausnahme, daß ein Landesherr gleichgerichtete Privilegien erteilt und damit rechtsgestaltend für sein Territorium wirkt. Beim Beispiel, das Herr Willeweit gebracht hat, wäre also noch zu prüfen, ob nicht in den anderen mainzischen Städten ähnliche Privilegien vorhanden sind. Ich werde diese Erscheinung in Kürze in der ZHF abhandeln. Obwohl die typische Privilegienform benutzt wird, liegt doch - wenn man die Gesamtpraxis und nicht nur das Einzelprivileg ansieht - Gesetzgebung vor. In der Mehrzahl der Privilegien offenbart sich in solchen Fällen ein einheitlicher herrschaftlicher Rechtssetzungswille. Dies geschieht im übrigen nicht nur auf dem Gebiete des Polizeirechts, sondern auch auf dem des alten Rechts. - Sodann möchte ich, genau wie Herr Willoweit, noch einmal auf das Problem der Mündlichkeit der Rechtssetzung zurückkommen. Dazu sind schon einige Bemerkungen gemacht worden, die dazu anregen, das Problem unter einigen Aspekten neu zu überdenken. Doch scheint mir damit das Ganze noch nicht hinreichend ausgelotet zu sein. Wenn in dem von Herrn Janssen angeführten Beispiel mündlich weltliche Strafen angedroht werden, und zwar sogar für Taten, die sonst durch geistliche Strafen erledigt werden, so nötigt dies zur Folgerung, daß die Möglichkeit mündlicher Rechtssetzung als Normalfall in die Gesetzgebungsgeschichte einzubeziehen sein wird. Man wird wohl den Gesetzesbegriff epochenspezifisch fassen müssen und dann erkennen, daß in der Anfangsphase Schriftlichkeit für die Rechtssetzung keineswegs zwingend gefordert war. Auch dafür

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verweise ich auf meinen Aufsatz in der ZHF. Schließlich kommt man damit auch zur Frage der Publikation. Uns erscheint es selbstverständlich, daß Gesetze publiziert werden müssen. Dies ist jedoch in Frage zu stellen angesichts dessen, was wir über die Möglichkeit mündlich vorgenommener Rechtssetzung erfahren haben. Doch gibt es nicht nur im Spätmittelalter solche Gründe, an der Notwendigkeit der Publikation zu zweifeln. In der frühen Neuzeit gibt es zahlreiche Texte, die gesetzesgleich verwendet wurden, obwohl sie eindeutig niemals publiziert worden sind wie z. B. gescheiterte Gesetzesentwürfe, übernommene Gesetze benachbarter Territorien oder gar Gewohnheitsrechtsaufzeichnungen oder Lehrbücher. Man wird sich also nicht damit begnügen können, immer wieder auf das hinzuweisen, was in gelehrten Schriften bezüglich der publicatio als zwingend genannt wird, um daraus auf die Rechtswirklichkeit zu schließen. So forderte Baldus, städtische Statuten seien zu publizieren "per preconem in certis partibus civitatis". Doch erscheint es mir ein wenig realitätsfern, wenn diese Forderung auf die Verhältnisse des Reiches und auch nur der Territorien übertragen wird, nur weil dieses Zitat in der rechtsgelehrten Literatur weiter tradiert wird. Untersucht man die Rechtspraxis näher, so stößt man auf polizeiliche Gebote, die in der Tat publiziert wurden und ihrer Natur nach auch der Publikation bedurften. Dagegen gibt es weite Teile der Gesetzgebung, die dessen nicht bedurften, für die man daher auch nicht nach Publikationsakten wird suchen dürfen. - Zum Abschluß möchte ich noch ein von Ihnen, Herr J anssen, gebrachtes Beispiel ergänzen. Sie haben uns berichtet, daß Graf Reinald II. von Geldern im Jahre 1321 eine Deichordnung für sein Territorium erlassen und in den Ämtern Landrechte verliehen habe. Diese Maßnahmen haben Sie zu Recht als Bemühung um die Vereinheitlichung des Rechtsstatus seines Territoriums interpretiert. Dieses Bemühen zeigt sich aber auch gegenüber den Städten. Allerdings müssen wir, um dies zu erkennen, auf das Privilegienwesen zurückgreifen. Schon im Jahre 1310 hatte sich Graf Reinald II. von König Heinrich VII. ein Urteil erteilen lassen, daß alle von seinen Vorfahren und ihm den Städten gegebenen Privilegien und Freiheiten wegen fehlender königlicher Genehmigung nichtig seien und deshalb von ihm aufgehoben werden dürften. Unter Berufung auf dieses Urteil hob er 1312 für sämtliche geldrischen Städte die bisherigen Privilegien auf und erteilte ihnen neue, die aber nunmehr alle gleichen Inhalts waren. Damit hat der Graf von Geldern schon vor der Deichordnung und den Landrechten in den Ämtern für seine Städte einen einheitlichen Rechtsstatus geschaffen - und zwar mit Hilfe der Privilegienform. Will man die Gesetzgebung eines Territoriums erfassen, bedarf es also auch der Berücksichtigung der Privilegien, worauf anhand dieses Beispiels noch einmal hingewiesen werden sollte.

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Wolf: Ich wollte gerne auf den Beitrag von Herrn Böckenförde zum Begriff des Landes eingehen. Dann habe ich noch die Wendung gehört, Otto Brunner ist tot. Da wollte ich noch sagen, daß man den Grundgedanken von Otto Brunner durchaus retten kann. Sie sagten, es gebe Schwierigkeiten mit dem Begriff des Landes bei Otto Brunner, indem man einen alten Begriff und einen neuen Begriff des Landes unterscheiden müsse. Sie fragten: Wie ist es, wenn Länder hinzugeerbt werden, wenn ein Land erweitert wird, wie ist das da zu betrachten? Wenn ein Land existiert mit einem solchen ausgeprägten Recht, dann bleibt es zunächst bestehen. Wenn Christoph von Dänemark dann auch König in Schweden und Norwegen wird, muß er als allererstes die Rechte dieser Länder beschwören. Oder der König von Aragon, der vier oder fünf oder sechs Königreiche in seiner Hand vereinigt, hat selbstverständlich in all diesen einzelnen Ländern eigenes Recht, eigene Gesetzgebung usw. Erst im Absolutismus beginnen Bemühungen, das zu vereinheitlichen, in den Ländern der spanischen Krone auf der iberischen Halbinsel eigentlich erst nach 1707; auch die Schweden versuchen in Hailand und Schonen, was sie den Dänen abgenommen haben, schwedisches Recht einzuführen. Das geht sogar im Absolutismus nur sehr mühsam. Also wo ein solches Rechtsgebiet da ist und ein Land ist, bleibt das auch bestehen. Ich würde mal die These aufstellen - es wurde heute auch in dem Referat sehr deutlich - ein Territorialstaat bildet sich gerade dort, wo ein Gebiet mit Hilfe einer gemeinsamen Gesetzgebung integriert wird. Man kann das alte und das neue Land unterscheiden, aber in einer Formel vereinigen: so wie bei Otto Brunner ein gemeinsames Recht ein Land konstituiert, so konstituiert eine gemeinsame Gesetzgebung einen modernen Territorialstaat. Böckenförde: Wenn ich unmittelbar dazu etwas sagen darf. Die Beispiele, die Sie jetzt angeführt haben, das sind ja schon die Länder des späteren Mittelalters; der König von Aragonien usw., in Dänemark und Norwegen. Für mich ist interessant, was sich in diesen Ländern abspielt, die ja wieder als Territorialländer aus mehreren Ländern in dem alten Sinn zusammengesetzt sind. Auch die Länder bei Otto Brunner, wenn ich das recht in Erinnerung habe, sind ja zum Teil sehr kleine Länder, nicht nur die Herzogtümer, nicht nur Kärnten und Steiermark und Tirol. Es gibt da sehr viele, es gibt das Land Radeln, es gibt das Land Salms, also Länder, die viel kleiner waren als ein Territorium, die nun auch nicht völlig aufgesogen wurden. Meine Frage ist, wieweit es dann innerhalb des Territoriums, was sich durch Gesetzgebung bildet, diese Länder noch gab, wieweit wurden sie abgebaut oder absorbiert.

Wolf: Ich habe die Beispiele mit Aragon und der Nordischen Union gebracht, weil das die gleiche Zeit ist wie der Zeitraum, der im Vortrag

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behandelt wurde. Aber wenn es jetzt auch um die kleineren Territorien geht, noch das allgemeine preußische Landrecht wurde für die preußischen Staaten erlassen. Noch im 19. Jh. gibt es die Sammlung für fortgeltendes altes Provinzialrecht. Also das lebt und lebt und lebt. Und wenn Sie jetzt in Spanien die Autonomiebewegung von Katalonien und den Baskenländern oder in Schottland und der Bretagne sehen, das sind doch immer noch die alten Länder aus dem späten Mittelalter.

Brauneder: Zu Otto Brunner noch eine Bemerkung. Es ist wohl richtig, daß Brunner das Landrecht neben anderen Elementen wie Landesfürst, Landsgemeinde, Landeswappen etc. als Wesensmerkmal des mittelalterlichen Landes nennt. Die Bezeichnung "Landrecht" steht aber nicht etwa nur im Sinne Brunners wie z. B. "Landrecht von Steiermark". Vielfach begegnet der Ausdruck auch in kleineren Gemeinschaften. Noch aus dem 16. Jh. ist aus Salzburg ein "Rauriser Landrecht" überliefert; Rauris ist nun ein kleines Gebirgstal im Lande Salzburg, damals mit wichtigem Goldbergbau. "Landrechte" besitzen auch die bäuerlichen Gemeinden Vorarlbergs, das sich im 16. Jh. erst zum Land entwickelt. Naujoks: Beim Nachdenken über das Referat von Herrn Janssen ergibt sich für mich noch eine weitere Frage. Der Referent hat die mün~­ liche Publikation der Gesetze quasi als Vorstufe derselben dargestellt und betont, daß erst später die Schriftlichkeit auf diesem Gebiet folge. Man kann jedoch einwenden, daß die mündliche Publikation - auch in der frühen Neuzeit- weiterhin bleibt, daß diese sogar- um des Erfolgs beim Publikum willen - mehrfach erfolgen konnte. Ich möchte deshalb Herrn Janssen fragen, wie er gegenüber dem von mir gemachten Einwand das zeitliche Verhältnis von mündlicher und späterer schriftlicher Form der Gesetzesverkündigung beurteilt. J anssen: Das Verhältnis von allgemeinem Geltungsanspruch und Publikationsmodus spätmittelalterlicher Gesetze gibt gewiß noch manches Rätsel auf. Für bestimmte Gesetze genügte es, wenn sie verwaltungsintern bekannt waren, die Beamten danach handelten und die von diesen Gesetzen Betroffenen zu gegebener Zeit in Kenntnis setzten. Bei anderen Gesetzen - wie etwa den sogenannten "Polizeigesetzen" - erforderte es ihre Zielsetzung zwingend, daß sie allgemein bekannt gemacht wurden. Bei den meisten hier herangezogenen Gesetzen ist übrigens der Publikationsbefehl Teil des Gesetzes. Vielleicht wäre es nicht unergiebig, die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesetze einmal nach dem Kriterium der Veröffentlichung zu sortieren.

Stolleis: Ich möchte gerne noch einmal auf den Inhalt der Gesetzgebung eingehen. Hierüber haben wir bisher relativ wenig gesprochen.

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Man kann wohl drei große Gruppen von Gesetzesmaterien unterscheiden: (1) Ver-fahrensrecht und Kompetenznormen-bis ins 18. Jh. hinein immer wieder die Kernmaterie der Gesetzgebung; (2) Recht der Policey, Regelung der sozialen Ordnung (Schwören, Trinken, Spiel, Kleider, gute Sitten usw.); (3) Marktrecht, Preise, Handwerksrecht. Wie hat sich das Verhältnis dieser drei Gruppen zueinander vom 13. bis 15. Jh. verschoben? Dies wäre ein Indiz für eine Veränderung des Regelungsbedarfs, für die wechselnden "Herausforderungen" des Gesetzgebers. J anssen: In der zeitlichen Abfolge beginnt es mit Landfriedensgesetzen, die ich ausgeklammert habe, weil hier der Vereinbarungscharakter - auch in Form territorienübergreifender Verträge - den Gesetzescharakter z. T. doch deutlich überwiegt. Es folgen Gesetze zur Einschränkung der geistlichen Gerichtsbarkeit, Bestimmungen gegen den Liegenschaftserwerb der Toten Hand sowie "ordinancien" zur besseren Nutzung des fürstlichen Kammerguts und der fürstlichen Gerechtsame. Daran schließen sich Gerichtsordnungen und Regelungen des Verfahrensrechts an. Dazwischen eingestreut begegnen seit der Mitte des 14. Jh. immer wieder Münzordnungen und Getreideausfuhrverbote. Den Schluß bilden die Polizeigesetze, während gegen Ende des 15. Jh. erste "staatliche" Regulierungen auf dem Gebiet des Kirchenwesens auftauchen. Wenn man will, kann man sagen: der "princeps" betätigt sich als "legislator" zunächst dort, wo seine Aufgaben als "conservator pacis" und "supremus judex in territorio suo" sowie seine Interessen als Grundherr angesprochen sind; erst später geht er zu sozialdisziplinierenden Gesetzen über, um dann letztendlich auch Aufgaben der in ihrer Autorität erschütterten geistlichen Gewalt zu übernehmen.

Luntowski: Zu den Ausführungen von Herrn Brauneder fällt mir das von Albert Hömberg geprägte Wort vom "territorialen" Nationalgefühl" ein, das sich meist in den kleinen, überschaubaren Territorien des späten Mittelalters herausgebildet und als regionales, durchaus noch politisch wirksames Zugehörigkeitsgefühl vielerorts bis heute erhalten hat, trotz der Bildung der Großterritorien bzw. der modernen Flächenstaaten im 18. und 19. Jh. Wie zählebig sich solche alten, vielfach doch aus den Zufälligkeiten dynastisch bestimmter Entwicklungen hervorgegangenen territorialen Gebilde in vielfacher Hinsicht erwiesen haben, dafür ist meines Erachtens das Ruhrgebiet ein bemerkenswertes Beispiel. Die Industrialisierung hat zwar diesen, historisch gesehen, bunt zusammengewürfelten Raum ökosoziologisch weitgehend eingeebnet. Trotzdem hat sich daraus keine strukturelle Homogenität des Ruhrgebiets ergeben; vielmehr bestehen gerade hier Inhomogenitäten, die weit über das Maß dessen hinausgehen, das in anderen vergleich-

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baren Ballungsräumen anzutreffen ist. Die Gebietsreformen haben daher im Revier zu erheblichen Integrationsproblemen geführt, die heute noch überall greifbar sind. Frost: Lassen Sie mich noch einmal auf die abwehrenden Einschränkungen der bis dahin als verbindlich angesehenen kirchenrechtlichen Bestimmungen im 14. Jh. eingehen. Wir müssen in diesem Zusammenhang berücksichtigen, daß die Universalkirche während jenes Zeitraums in zwei großen geschichtlichen Schüben entscheidende Schwächungen erfahren hat. Dies gilt zum einen für die Avignonesische Gefangenschaft der Päpste, zum anderen für das sich unmittelbar daran anschließende Große Abendländische Schisma mit seinen Auswirkungen bis tief in das 15. Jh. Gangl: Einen ersten Zugang zu unserem diesjährigen Tagungsthema habe ich durch die mir sehr interessant erscheinenden Seiten in Herbert Krügers "Allgemeiner Staatslehre" gefunden, wo der Verfasser bei der Analyse der Faktoren der Staatsbildung neben den "äußeren Vorgegebenheiten" (diese wiederum unterteilt in eine "innere" und eine "äußere" Lage) die geistigen Voraussetzungen unterscheidet, zu denen Säkularisation, Rationalismus und Aktivität gehören sollen. Innerhalb der Aktivität des Herrschers ist nun dem Gesetz eine wichtige Aufgabe zugewiesen, nämlich die, das "vornehmste und eigenartigste Instrument der staatlichen ,Revolution von oben'" zu sein. Daß der moderne Staat ein Gesetzgebungsstaat ist, wird ja schon an dem frühen Beispiel der "Konstitutionen von Melfi" Friedrichs II. deutlich. Besonders aufschlußreich ist die - von Olivier-Martin mustergültig dargestellte- Verfassungsentwicklung in Frankreich, wo um die Mitte des 12. Jh. die ersten königlichen Vorschriften allgemeinen Charakters unter der Bezeichnung "etablissements" erlassen worden sind. Was die Gesetzgebungsbefugnis des Königs in besonderer Weise kennzeichnet, ist einmal der Umstand, daß dieser als die "lebendige Quelle des Rechts" an die Gesetze seiner Vorgänger nicht gebunden ist. Andererseits stellen nicht nur die sogenannten "lois fondamentales", die als Gesetze des Staates und nicht des Königs gelten, sondern auch die göttlichen Gesetze und die Gebote der natürlichen Moral eine Schranke für seine gesetzgeberische Tätigkeit dar. Nachdem der Ausdruck "etablissement" außer Gebrauch gekommen war, wurde die neue Bezeichnung "ordonnance" für die Mehrzahl der königlichen Vorschriften allgemeinen Charakters üblich, die jedoch keine dem modernen Gesetz vergleichbare "Regelungsbreite" aufwiesen, da daneben das alte territoriale Gewohnheitsrecht fortbestand, in das allerdings der König im Zuge von Reformbestrebungen eingreifen konnte.

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Der wünschenswerten Effizienz der königlichen Legislativgewalt trugen dabei vor allem die "ordonnances sans adresse ni sceau" Rechnung, da sie von einer Registrierung durch die souveränen Gerichtshöfe ausgenommen waren und von den in der Vollzugsklausel genannten Behörden sofort vollzogen werden mußten. Wurden in dieser vereinfachten Form im allgemeinen organisatorische Maßnahmen auf militärischem Gebiete (z. B. Kriegserklärungen) erlassen, so war für Justizund Finanzangelegenheiten die Form der "lettres patentes" vorgesehen, die, mit Adresse und Siegel versehen, der Registrierungspflicht durch die souveränen Gerichtshöfe unterlagen. Die Registrierung der königlichen "lettres patentes" war um die Mitte des 14. Jh. aufgekommen, womit die souveränen Gerichtshöfe- ursprünglich sogar auf Wunsch des Königs - den Anspruch verbanden, gegen den Gesetzesinhalt Vorstellungen (remontrances) zu erheben. Durch eine eingehende Reglementierung dieses Vorstellungsrechts wurde eine Beeinträchtigung der obersten Autorität des Königs zunächst noch vermieden. Eine grundlegende Änderung trat jedoch ein, als die immer stärker werdenden politischen Ambitionen der Parlamente den König zu Gegenmaßnahmen herausforderten und die ursprüngliche Zusammenarbeit durch eine Kraftprobe zwischen diesen beiden Machtfaktoren abgelöst wurde, was zu Krise und Untergang der Monarchie ganz entscheidend beitragen sollte. J anssen: In bezug auf einige der letzten Diskussionsbeiträge möchte ich noch einmal auf die vorgetragene Anekdote verweisen, derzufolge Herzog Adolf von Kleve die Bemerkung gemacht haben soll, gut würde das Volk nur unter Zwang handeln. Dies ist zweifellos Ausdruck jener fürstlichen Mentalität, aus der Polizeigesetze geboren werden. Ob darin auch ein bestimmtes Herrscherethos zu sehen ist, dem das zeitliche und ewige Wohl der Untertanen angelegen ist und das jene Lücke auszufüllen sich bemüht, die der Verfall der kirchlichen Zucht und Ordnung immer weiter aufgerissen hat, ist freilich sehr die Frage.

Zur Frage des "Landes" eine kleine historische Information: Als 1346 die Grafschaften Berg und Ravensberg für immer unter einem Herrscher vereinigt werden, bleiben beide "Länder" erhalten. Der Fürst tituliert sich Graf bzw. Herzog von Berg und Graf von Ravensberg. Als 30 Jahre vorher die Grafen von Kessel (an der Maas) ausstarben, teilten sich die Grafen von Jülich und Geldern in das Erbe, wobei die Grafschaft Kessel als "Land" völlig ausgelöscht wurde. In diesen wenigen Jahrzehnten müssen also im rheinisch-westfälischen Raum hinsichtlich der "terra" Stabilisierungs- und Verfestigungstendenzen wirksam gewesen sein, die im einzelnen noch eine genauere Untersuchung lohnen.

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Im übrigen sind in der Diskussion immer wieder jene Fragen zur Sprache gekommen, die bei der Behandlung der territorialen Gesetzgebung im Spätmittelalter von zentraler Bedeutung sind: die Struktur der spätmittelalterlichen "terra" und das Wesen des Landrechts; das Verhältnis von Gesetz zu Recht und Gewohnheit; die Spannung zwischen dem allgemeinen Geltungsanspruch des Gesetzes und der vielfach eingeschränkten Form seines Erlasses (Privileg) bzw. seiner Verkündung; Probleme der Gesetzesdefinition und Gesetzesterminologie; der mögliche Zusammenhang zwischen den "moralisierenden" religiösen Bewegungen des Spätmittelalters (devotio moderna) und der territorialen Polizeigesetzgebung; soziale Voraussetzungen und Herausforderungen für eine landesherrliche Gesetzgebung. Daß ich auf Fragen häufiger, als mir lieb war, mit einem "Nescio" antworten mußte, ist sicherlich zunächst der Begrenztheit meiner Kenntnisse anzulasten, liegt aber auch an dem verbesserungsbedürftigen Forschungsstand und daran, daß wir es hier mit Fragen zu tun haben, die an den Nerv der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichtsforschung gehen. Und darauf lassen sich selten bündige Antworten geben. Ich danke für die vielfache Belehrung und hoffe, zumindest anregend gewirkt zu haben.

Staatsbildung als Gesetzgebungsproblem Zum Verfassungscharakter frühneuzeitlicher Sukzessionsordnungen

Von Johannes Kunisch, Köln I.

Es ist bekannt, daß der Prozeß frühneuzeitlicher Staatsbildung begleitet wird von einer Fülle gesetzgeberischer Maßnahmen. Sie hatten z. B. den gesamten Bereich sozialer Interaktionen zum Gegenstand und sind deshalb nicht nur Ausdruck einer allgemeinen Verrechtlichungstendenz, sondern auch eines Reglementierungs- und Disziplinierungsstrebens, das Gerhard Gestreich als das Kennzeichen frühneuzeitlicher Staatsbildung schlechthin bezeichnet hat1• Gustaf Klemens Schmelzeisens zweibändige Edition der Polizei- und Landesordnungen des Reiches und der Territorien des 16. und 17. Jahrhunderts mit all ihren bis ins 18. Jahrhundert reichenden Einzelverordnungen mag dafür ein Anhaltspunkt sein2 • Doch sollen im folgenden nicht diese, auf die Sicherstellung des inneren Friedens und die Formierung einer Untertanengesellschaft gerichteten Satzungen untersucht werden3 , sondern die Grundgesetze und Sukzessionsordnungen der regierenden Häuser. Denn so prägend die Landesordnungen und Polizeigesetze für die Konstituierung des frühneuzeitlichen Herrschaftsstaates auch gewesen sein mögen - sie berühren unheselladet aller einheitsstiftenden Tendenz, 1 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, zuletzt in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, 1969, S. 179-197. 1 Polizei- und Landesordnungen, bearb. von Gustaf Klemens Schmelzeisen (Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands 2), 2 Bde., 1968. a Vgl. dazu etwa Reiner Schulze, Die Polizeigesetzgebung zur Wirtschaftsund Arbeitsordnung der Mark Brandenburg in der frühen Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N.F. 22), 1978; ders., Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert (Schriften zur Rechtsgeschichte 25), 1982; ders., Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung. Zu Forschungsstand und Methodenfragen eines rechtshistorischen Arbeitsgebietes, in: ZRG German. Abt. 98 (1981), S. 157-235; Karin Plodeck, Zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der absolutistischen Polizei- und Landesordnungen, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 39 (1976), S. 79 bis 125. Zusammenfassend: Richard van Dülmen, Formierung der europäischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 5-41, hier etwa S. 23 f.

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Johannes Kunisch

die mit der von Staats wegen durchgeführten "Sozialdisziplinierung" (Gerhard Oestreich) verbunden war, den als Ziel politischen Handeins überall sichtbar werdenden Gesamtstaat nur in einer vermittelten Form. Von eben diesem Gesamtstaat aber, dem sich über das "ganze Haus"

(Otto Brunner) zu unumschränkter Machtvollkommenheit erhebenden

Fürstenstaat, soll hier die Rede sein. So werden jene Gesetzgebungsvorgänge zur Debatte stehen, deren erklärtes Ziel neben der verfassungsrechtlichen Sicherstellung dynastischer Kontinuität zugleich die Verstaatlichung des zusammengesetzten Territorienverbandes war4 • Ausgangspunkt ist dabei der Satz, daß es der Fürstenstaat frühmoderner Prägung war, der über die Versachlichung seiner Hausangelegenheiten Staatlichkeit im eigentlichen Sinne erst zustandebrachte6 • Denn durch die verfassungsrechtliche Regelung der Sukzessionsproblematik gelang ihm zugleich auch die Konsolidierung des Staates als eines am Prinzip der territorialen Integrität orientierten Ganzen. Weniger um die Rechtsinstitute als solche und die Gesetzgebungsverfahren im einzelnen geht es hier also, sondern um ihre Einordnung in die politischen Zusammenhänge der Zeit.

Eine methodologische Bemerkung noch vorweg. Ein grundsätzliches Problem besteht bei den hier anzustellenden Überlegungen darin, daß der Prozeß frühneuzeitlicher Staatsbildung allzu schnell und unreflektiert in eine Perspektive der Dynamik und Zwangsläufigkeit gerückt wird, die dem Erfassen der Eigentümlichkeit dieser Epoche im Wege stehen kann. Er wird vielfach immer noch gemessen an Vorstellungen und Begriffen, die aus einer gänzlich anders strukturierten Wirklichkeit hergeleitet sind. Einheit und Geschlossenheit etwa erscheinen in diesem Lichte wie die a priori vorgegebenen Ziele jeder Art von staatlicher Veranstaltung und werden in den Rang von Prinzipien erhoben, denen fast kanonische Bedeutung zuerkannt wird. Ganz im Sinne solcher Begrifflichkeit argumentiert die 1928 im Druck erschienene Akademieabhandlung des Berliner Althistorikers Eduard Meyer (1855-1930), die bis heute die einzige grundsätzliche und umfassend informierende Auseinandersetzung mit dem Erbfolge4 Vgl. dazu G. Oestreich, Die verfassungspolitische Situation der Monarchie in Deutschland vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: ders., Geist und Gestalt (Anm. 1), S. 290-310, und Johannes Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates (Historische Forschungen 21), 1982. 5 R. van Dülmen, Formierung der europäischen Gesellschaft (Anm. 3), S. 31. Andere Akzente setzt Hermann Weber, Die Bedeutung der Dynastien für die europäische Geschichte der frühen Neuzeit, in: Das Haus Wittelsbach und die europäischen Dynastien, 1981 (zugleich Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 44/1), S. 5-32.

Staatsbildung als Gesetzgebungsproblem

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problern geblieben ist8 • Meyers Staatsideal ist eindeutig der geschlossene, durch "naturwüchsigen Zusammenhang" gekennzeichnete Nationalstaat spätneuzeitlicher Prägung. An dieser Leitvorstellung mißt er den "durch die Zufälle des Erbrechts" zustandegekommenen Fürstenstaat des Mittelalters und der frühen Neuzeit mit seinen "ganz unbegreiflich erscheinenden Kuriositäten" 7 • So setzt er die "wahren" Bedürfnisse und Interessen der Völker und Staaten von denen der Dynastie ab und nennt die zufälligen, aus dem Erbrecht hervorgegangenen Territorialgebilde "widersinnige" Verbindungen8 , die "innerlich zum Begriff des Staates in schroffem Widerspruch" 9 stehen. Er leugnet nicht, daß aus dynastischen Spekulationen große Reiche von außerordentlicher Machtfülle und relativer Beständigkeit hervorgegangen sind. Aber neben diesen Beispielen einer "aufsteigenden Linie", wie Meyer sie etwa in Brandenburg-Preußen festzustellen glaubt, sieht er das verheerende Prinzip der Erbteilungen, das "die verhängnisvolle Zersplitterung" der Länder in zahlreiche kleine und kleinste Fetzen heraufbeschworen habe10 , wo doch bis in die Gegenwart hinein Revolutionen und die äußere und innere Notlage Geschlossenheit und Einheit gebieten11. Es besteht kein Zweifel, daß in dieser Vorstellungswelt und Begrifflichkeit eine Staatsidee zum Ausdruck kommt, die vom unbedingten Primat einer auf Kontinuität und Rationalität gegründeten Herrschaft ausgeht und nur den festumrissenen, geo- und ethnographisch abgerundeten Einheitsstaat als vollentwickelte Organisationsform eines Gemeinwesens anerkennt. Sie steht in einer langen, bis weit ins 19. 6 Eduard Meyer, Ursprung und Entwicklung des dynastischen Erbrechts auf den Staat und seine geschichtliche Wirkung, vor allem auf die politische Gestaltung Deutschlands, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. 28, 1928, S. 144-159. Zur Kritik an Meyer vgl. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik: I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer (1906), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., hrsg. von Johannes Winkelmann, 1973, S. 215-265, und Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, 2. Aufl. 1979, S. 286 bis 333, bes. S. 305-311. Zum Grundsätzlichen auch Stephan Skalweit, Der "moderne Staat". Ein historischer Begriff und seine Problematik (Rheinischwestfälische Akademie der Wissenschaften- Geisteswissenschaften- Vorträge G 203), 1975, und Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Schriften zur Verfassungsgeschichte 1), 1961. 7 E. Meyer, Ursprung und Entwicklung (Anm. 6), S. 158. 8 Ebd., S. 152-154. 9 Ebd., S. 144. 10 Ebd., S. 157. 11 Ebd., S. 156. Vgl. zu einem ähnlichen Argumentationsmuster in der neueren Historiographie Karl Dietrich Bracher, Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik, in: Faktoren der politischen Entscheidung. Festgabe für Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag, hrsg. von G. A. Ritter und G. Ziebura, 1963, S. 115-148.

5 Der Staat, Beiheft 7

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Jahrhundert zurückreichenden Tradition und hat einen typischen Vertreter auch in Albert Wenninghoff (1869-1923), der in Halle mittelalterliche Geschichte lehrte und 1915 eine Abhandlung über den Rechtsgedanken von der Unteilbarkeit des Staates in der deutschen Geschichte veröffentlichte12 • Immer aufs neue erwecke die politische Kurzsichtigkeit Erstaunen, schreibt er, wie einer mühsam errungenen Machtstellung durch Erbteilung der Garaus bereitet worden sei. Jedes Studium der landschaftlichen Überlieferung an Urkunden und Darstellungen werfe die Frage auf, .,ob denn das Iaikaie Reichsfürstentum niemals die Folgen solchen Atomisierens sich vergegenwärtigte, warum es so selten sich bemühte, der Lust an Zersplitterung und der Vorliebe für vielgestaltiges Besitzrecht selbst an Zwergterritorien irgendwelche Schranken zu setzen. Verwiesen nicht treubesorgte Schriftsteller in ihren Fürstenspiegeln auf die .,verderblichen Wirkungen dieser Teilungen als der Urquelle alles Haders, des Herabgleitens der Familien von einst stolzer Höhe?" 13 • Die Vorstellungswelt der Zeit, heißt es an anderer Stelle, kreiste noch um klein zu nennende Staatsgebilde .,im Hinblick auf die Wahrheit, daß wirklich politischer Sinn nur in einem großen Staate gedeihen kann u Albert Werminghoff, Der Rechtsgedanke von der Unteilbarkeit des Staates in der deutschen und brandenburgisch-preußischen Geschichte (Hallesche Universitätsreden 1), 1915. Vgl. zu Werminghoff den Nachruf von Edmund E. Stengel, in: Historische Vierteljahrschrift 21 (1922/ 23), S. 501-504. Eindeutig wertend auch Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 91 f., mit weiteren Belegen, und Gustaf Klemens Schmelzeisen, Der verfassungsrechtliche Grundriß in Veit Ludwig von Seckendorffs ,.Teutschem Fürstenstaat", in: ZRG Germ. Abt. 87 (1970), S. 190-223, hier S. 203. ,.Nicht wahrgenommen ist", schreibt er im Hinblick auf Seckendorffs Staatslehre, ,.daß die Primogenitur der Überwindung des patrimonialen Denkens und der inneren Festigung und Verselbständigung des Staatswesens dienen konnte. Es hat noch bis ins 19. Jahrhundert hinein gedauert, daß sich diese Einsicht allgemein durchsetzen konnte". 18 A. Werminghoff, Der Rechtsgedanke von der Unteilbarkeit (Anm. 12), S. 8. Vgl. ferner ders., Drei Fürstenspiegel des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Geschichtliche Studien. Albert Hauck zum 70. Geburtstag, 1916, S. 152-176, hier S. 156 f. und S. 166. Zur Fürstenspiegel-Tradition ferner neben dem Standardwerk von Wilhelm Berges (1938, ND 1952) Bruno Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Bibliographische Grundlagen und ausgewählte Interpretationen: Jakob Wimpfeling, Wolfgang Seidel, Johann Sturm, Urban Rieger , 1981, etwa S. 142 f. Aufs Ganze gesehen ist freilich nicht zu übersehen, daß das Problem der Erbfolgeregelung im 16. Jahrhundert noch nicht im Mittelpunkt der Fürstenspiegel-Literatur stand. Vielmehr scheint es sich um marginale, aus Gründen der Vollständigkeit angeführte Hinweise zu handeln. So bestätigt sich auch hier, daß es offenbar erst eines durch die Religions- und Bürgerkriege geschärften Bewußtseins bedurfte, um die Notwendigkeit eindeutig festgelegter Sukzessionsordnungen zu erweisen. Erst das 17. Jahrhundert hat den politischen Willen und das begriffliche Instrumentarium hervorgebracht, um das Erbfolge- und Unteilbarkeitsprinzip des monarchischen Fürstenstaates endgültig zur Geltung zu bringen. Vgl. J. Kunisch, Einleitung zu: ders (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 4), S. IX-XV.

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und wird". Der Fürstenpädagogik des Spätmittelalters hafte "ein Zug ins Enge und Kleinliche" an, wie er sich auch in den Fehden der Reichsstände um geringfügige, oft kümmerliche Interessen offenbare. Die Gesamtheit des Reiches und seiner Aufgaben kam dabei nirgends in Betracht14. Was sind die Normen, an denen sich Einschätzungen von solcher Entschiedenheit orientieren? Werminghoff gibt sie zu erkennen durch ein aufschlußreiches Ranke-Zitat aus dem ersten Band der Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation: Die natürlichen Bedürfnisse des deutschen Volkes und seiner Stämme seien darin begründet, daß "die Mannigfaltigkeit ihrer Bestrebungen sich in einem individuellen Bewußtsein vereinige und ausgleiche, ein Wille zugleich der allgemeine sei, das vielstimmige Begehren in einer Brust zu dem Entschlusse reife, der den Widerspruch ausschließt. Darin besteht auch das Geheimnis der Macht: sie wird erst dann zum Gebrauch ihrer gesamten Hilfsquellen gelangen, wenn alle Kräfte dem Gebote freiwillig Folge leisten" 15. So problematisch dieses, historischer Erkenntnis nicht eben förderliche Instrumentarium mit all seinen pointierten Wertungen auch sein mag - bedeutsam ist, daß hier mit einer Grundkategorie staatlicher Gestaltungsmöglichkeiten argumentiert und insofern auch Richtiges erfaßt wird. Denn ungeachtet der offenkundigen Blickbeengtheit solcher Urteile ist das Prinzip von Einheit, Geschlossenheit und Wachstum ein überzeitliches Leitbild, eine Konstante jeder Form von Vergesellschaftung. Die Quellenaussagen des Mittelalters und der frühen Neuzeit verweisen jedenfalls auf eine Staatsauffassung, nach der Einheit und Zusammenfassung unbeschadet aller tatsächlich ins Werk gesetzten Erbteilungen eine Handlungsmaxime konkreter Politik war. Auch dem in Kaiserurkunden verwendeten Epitheton "semper augustus" - "zu allen Zeiten Mehrer des Reiches" liegt eine Vorstellung zugrunde, die in Wachstum und Konsolidierung eine Herrschertugend sah. So setzte sich die durch "Vernunft und tägliche Erfahrung" gewonnene Erkenntnis durch, daß - wie es in der dänischen Lex regia von 1665 heißt - "eine gesammelte und verbundene Macht" stärker und kraftvoller sei als eine geteilte und gespaltene16. Gewiß handelte es sich u A. Werminghoff, Drei Fürstenspiegel des 14. und 15. Jahrhunderts (Anm. 13), S. 174. 15 Ebd., S. 176, bzw. Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (Gesamtausgabe der Deutschen Akademie, hrsg. von P. Joachimsen), Bd. 1, 1925, S. 339. u Vgl. die Übersetzung von Theodor Olshausen, abgedruckt bei Kersten Krüger, Absolutismus in Dänemark - Ein Modell für Begriffsbildung und Typologie, in: Ztschr. d. Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte 104 (1979), S. 171-206, hier S. 201. Vgl. zum Hintergrund auch Dietrich GerhaJ·d, Probleme des dänischen Frühabsolutismus, in: Dauer und Wandel der 5•

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hier nicht um jene spezifische Einheit, die E. Meyer und A. Werminghoff im Auge hatten. Im Vergleich zu der Geschlossenheit des Nationalstaates ist sie eher relativ und ohne Zweifel von geringerer Intensität. Aber unbestreitbar ist, daß spätestens im 17. Jahrhundert der Grad an tatsächlicher oder verfassungsrechtlich postulierter Einheitlichkeit als Maßstab für das Vermögen von Staat und Herrschaft gewertet wurde, mit den spezifischen Problemen einer "dynastischen Union von Ständestaaten" (Otto Brunner) fertig zu werden. Vor allem die Konfessionnoch bei Ludwig XIV. -und die Sprache waren Elemente, mit deren Hilfe Einheit und Geschlossenheit als staatliche Veranstaltung durchgesetzt werden sollten17 • Josef II. etwa befahl am 18. Mai 1784 die Einführung der deutschen Sprache in allen öffentlichen Ämtern, auch in Ungarn. "Wie viele Vortheile", begründete er seinen Schritt, "dem allgemeinen BeBten zuwachsen, wenn nur eine einzige Sprache in der ganzen Monarchie gebraucht wird und wenn in dieser allein die Geschäfte besorgt werden, daß dadurch alle Theile der Monarchie fester untereinander verbunden und die Einwohner durch ein stärkeres Band der Bruderliebe zusammengezogen werden, wird ein ieder leicht einsehen und durch die Beispiele der Franzosen, Engländer und Russen davon hinlänglich überzeigt werden" 18 • Insofern erscheint auch das von Meyer verwendete Bild einer aufsteigenden Linie selbst bei Vorbehalten gegen eine offenkundig teleologische Betrachtung der Geschichte nicht ganz fehl am Platze. Denn anscheinend hat es die Zeit selber als Errungenschaft von beträchtlichem Gewicht empfunden, wenn es den Regenten gelang, den Forderungen nach Einheit, Sicherheit und Unteilbarkeit in Staat und Dynastie Geltung zu verschaffen und in entsprechenden Grundgesetzen zu verankern. Die Vorstellung eines notwendigen Fortschreitens vom patrimonialen Territorienstaat zum geschlossenen Staatsverband ist deshalb wohl nicht nur eine spätere Projektion, sondern bereits eine zeitgenössische Kategorie. So ist bei aller Vorsicht, die gegenüber einer von allzu gegenwartsbezogenen Leitbildern geprägten Beweisführung vonnöten ist, festzuhalten, daß mit den Grundsätzen der Unteilbarkeit und dynastischen Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer, hrsg. von R. Vierhaus und M. Botzenhart, 1966, S. 269-292, zuletzt auch in: ders., Gesammelte Aufsätze (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 54), 1977, S. 89-111. 17 Vgl. etwa Ulrich Scheuner, Staatsräson und religiöse Einheit des Staates. Zur Religionspolitik in Deutschland im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, 1975, S. 363-405. 18 Gesetze Kaiser Josephs II., Bd. 7 (1786), 929, in Auszügen abgedr. bei Hanns Leo Mikoletzky, Österreich. Das große 18. Jahrhundert - Von Leopold I. bis Leopold II., 1967, S. 333 f.

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Kontinuität vorrangige Ziele frühmoderner Staatsbildung umschrieben sind. Denn die strukturellen Mängel der zusammengesetzten und von Erbteilungen bedrohten Fürstenstaaten wurden angesichts innerer wie äußerer Konflikte als eine schwere und nicht länger mehr zu tragende Hypothek betrachtet. II.

Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Haus- und Grundgesetze, Familienverträge und Testamente dienten in erster Linie der Regelung zweier eng miteinander verknüpfter Grundprobleme: der Erbfolgefrage und der Sicherung der territorialen Integrität des Landes19. In vielen der auf dynastische Erbfolge gegründeten Fürstenstaaten herrschte zunächst noch die patrimoniale Auffassung vor, daß die Landesherrschaft allen erbfähigen Familienmitgliedern zufallen solle; das alleinige Erbrecht des Erstgeborenen wurde als unrechtmäßige Zurücksetzung der jüngeren Söhne empfunden2G. Dieser Vorstellung von der Teilbarkeit des Patrimoniums lag eine Besitzauffassung zugrunde, derzufolge "Herrschaft als Aggregat verschiedenartiger dinglicher und persönlicher Rechte" angesehen wurde. Solange, schreibt Jellinek in seiner Allgemeinen Staatslehre, "die Eigenschaft des Staatsgebietes als eines Momentes des Staatssubjektes nicht anerkannt war, konnte es nur als eine Sache betrachtet werden, die ihrer Natur nach teilbar war" 21 . Daraus ergab sich ein Erbteilungsprinzip, das noch für die meisten Testamente regierender Reichsfürsten des 16. und 17. Jahrhunderts verbindlich war und erst allmählich zurückgedrängt wurde22. Gelegentlich - wie etwa unter dem Großen Kurfürsten - kam es auch dann noch zur Geltung, als längst eine Teilung durch hausgesetzliche Regelung auszuschließen versucht worden war (1603) 23 . Eine Zwischenstufe auf dem Weg zu einer den Gesamtbesitz erhaltenden Erbschaftsregelung bildeten die sog. "gesamthänderischen Gemein19 Vgl. neben den Arbeiten von Meyer und Werminghoff auch Hermann Schulze, Das Recht der Erstgeburt in den deutschen Fürstenhäusern und

seine Bedeutung für die deutsche Staatsentwicklung, 1851. 20 E. Meyer, Ursprung und Entwicklung (Anm. 6), S. 148 f. 21 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7. ND. der 3. Aufl., 1960, S. 402. 22 Fritz Hartung, Der deutsche Territorialstaat des 16. und 17. Jahrhunderts nach den fürstlichen Testamenten, in: ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, 1940, S. 94-111, hier S. 109. Vgl. ferner Thomas Klein, Verpaßte Staatsbildung? Die Wettinischen Landesteilungen in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: J. Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 4), S. 89-114, hier bes. S. 89 ff. 23 Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 2 Bde., 1971178, hier Bd. 2, S. 317 ff.; Ludwig Tümpel, Die Entstehung des brandenburgisch-preußischen Einheitsstaates im Zeitalter des Absolutismus (1609-1806), ND. der Ausgabe von 1915, 1965, s. 18--28.

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schaften" (auch Gesamtherrschaften), nach denen die Landesherrschaft im Wege der Erbfolge auf mehrere Erben übertragen wurde, entweder in der Weise, daß diese gemeinschaftlich regierten, sich in der Regierung abwechselten oder aber einer- als sog. "Vorgeher" -eine Sonderstellung den anderen Erben gegenüber zu beanspruchen berechtigt war24• Aufschlußreich für die konkreten Schwierigkeiten, mit denen eine unter allen Söhnen aufgeteilte "Regiments-Verfassung" zu kämpfen hatte, ist der Hauptvergleichsrezeß Herzog Friedrichs von SachsenGotha vom 24. Februar 1680. Obwohl man, heißt es in der Präambel, die Hoffnung gehabt habe, daß trotz der getrennten Hofhaltung die Zusammengehörigkeit des Gesamthauses aufrechterhalten werden könne, "haben sich doch von neuem immerzu andere Unbequemlichkeiten (hervorgetan), zumahlen bey denen von Gott verhängten unruhigen Zeiten, so wohl wegen der Communication in Publicis, welche bey denen gesonderten Hoflägern nicht so füglieh gefallen, als (auch) bey dem Gemeinschaftlichen Cammer-Wesen und in unterschiedlichen anderen Puncten (...), worzu insonderheit kommen, daß Ihre Fürstlichen Durchleuchtigkeiten grösten theils mit Ihren Deputaten nicht auszukommen getrauet, auch um mehrers Respects willen bey Ihren assignirten Aemtern die Iurisdictionalia und andere Iura zu haben verlanget" 25 • Deshalb habe man "dahin gedacht, wie ein expediens zu ergreifen, wodurch denen sämtlichen Jüngeren Herren Brüderen ein mehrer Zugang an Renthen und Einkommen, wie nicht weniger die verlangte Fürstliche Authorität, Gewalt und Rechte beygeleget, und dennoch das gesamte hohe Hauß bey seinem Respekt, Macht und Ansehen erhalten (...) werden möchte" 28 • Wie immer man sich jedoch vor den zerrüttenden Folgen einer Erbteilung auch zu schützen versuchte, - es blieb angesichts einer allgemeinen Tendenz zur Zusammenfassung und organisatorischer Durchdringung von Staat und Gesellschaft eine unlösbare Aufgabe, die Macht und das Ansehen einer Herrschaft zu gewährleisten, die noch die Erbberechtigung aller Söhne anerkannte. Gerade' im Bereich der Finanzen und der Rechtsprechung waren Entwicklungen im Gange, deren ein solchermaßen verfaßter Fürstenstaat nicht Herr zu werden vermochte27 • 24 Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2: Neuzeit bis 1806, 1966, S. 239 f. Vgl. im einzelnen etwa Th. Klein, Verpaßte Staatsbildung? (Anm. 22), S. 94 ff., bes. S. 111-113. 25 Hermann Schulze, Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, 3 Bde., 1862-1883, hier Bd. 3, S. 148. 20 Ebd., S. 149. 27 Thomas Klein ist der Auffassung, daß das Modernisierungs- und Regelungsdefizit der immer von neuem geteilten Territorialstaaten besonders im Hinblick auf die Aufstellung und den Unterhalt eines stehenden Heeres her-

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Auch wenn man sich hüten mag, eine der Zeit nicht gemäße Dynamik in die Geschichte zu projizieren, scheint mir evident, daß die patrimoniale Auffassung von Staat und Herrschaft nicht geeignet war, den Problemen frühmoderner Staatlichkeit gerecht zu werden. Das Gebot der Stunde lautete spätestens im 17. Jahrhundert: Vereinheitlichung und höhere Effizienz. Das wird an den im folgenden noch heranzuziehenden Quellen deutlich werden28 • Je mehr sich herausstellte, daß das Teilungsprinzip auch bei einer gemeinschaftlichen, gewissermaßen geschäftsführenden Regierung des Ältesten zu einer erheblichen Schwächung der Dynastie führte29, trat an die Stelle der althergebrachten Erbteilung das Recht der Erstgeburt. Es sah vor, daß von mehreren Söhnen nur der Erstgeborene und dessen männliche Nachkommenschaft mit dem Vorrang der Erstgeburt, bei dessen Wegfall ohne männliche Nachkommen der Nächstgeborene mit seiner männlichen Deszendenz nachfolgen sollte, während die von der Herrschaft ausgeschlossene Nachkommenschaft mit standesgemäßen Apanagen zu entschädigen war. Es sei alter Brauch, heißt es in der zweiten der "Siete Partidas" König Alfons X. von Kastilien (II, tit. XV, ley li), "daß die Väter gemeinhin Sorge tragen für alle Söhne und nicht wollen, daß der älteste alles, sondern daß jeder von ihnen seinen Teil hätte. Aber zusammen damit vortrat. "Man wird schließen dürfen", schreibt er, "daß eine neue Stufe der Staats- und vor allem Kriegsfinanzierung eine umfassende Neubewertung der Primogenitur auch im thüringischen Kleinstaatenrevier heraufgeführt hat. Während das Teilungsprinzip im Falle größerer Staaten, wollten sie nicht ihre Position einbüßen, spätestens beim Übergang zum Söldnerheer aufgegeben werden mußte, erzwang dies im Falle der ernestinischen Staaten, in denen sich infolge ungünstiger Umstände im 16. Jahrhundert die einheitliche Erbfolge und das Primogeniturprinzip nicht durchsetzen konnte, erst der Schritt zum stehenden Heer und zum politisch-diplomatischen Kräftespiel gegenüber Ludwig XIV.". So vollzog sich der Übergang vom patrimonialen, teilbaren Fürstenstaat älterer Prägung zum straff organisierten Obrigkeitsstaat des Absolutismus hier erst vor dem Hintergrund eines verstärkten Konkurrenzdrucks von außen. Vgl. Th. Klein, Verpaßte Staatsbildung? (Anm. 22), S. 113 f. und 103. 28 Eine systematische Untersuchung der Primogenitur- und Unteilbarkeltsproblematik in der Staatslehre der frühen Neuzeit fehlt bisher. Vgl. einige Anhaltspunkte in der zur Fürstenspiegel-Tradition angeführten Literatur (Anm. 13), bei Th. Klein, Verpaßte Staatsbildung? (Anm. 22), S. 97 f. und S. 103-111, und G. K. Schmelzeisen, Der verfassungsrechtliche Grundriß in Veit Ludwig von Seckendorffs "Teutschem Fürstenstaat" (Anm. 12), S. 203 und 223. Die folgenden Erörterungen beziehen sich vornehmlich auf die Haus- und Fundamentalgesetze und die Sukzessionsordnungen der deutschen Dynastien selbst. Sie liegen in der dreibändigen Edition von Hermann Schulze (Anm. 25) vor und gewähren einen umfassenden Einblick in den Verrechtlichungsprozeß spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fürstenherrschaft. 19 Eine Reihe von Beispielen bei E. Meyer, Ursprung und Entwicklung (Anm. 6), S. 155-159.

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bedachten die alten Weisen die allgemeine Wohlfahrt und erkannten, daß dies in den Königreichen nicht geschehen könne, um sie nicht zu zerstören, denn unser Herr Jesus Christus sagt, daß jedes geteilte Königreich verderben würde, und so hielten sie für Recht, daß allein der iilteste Sohn die Herrschaft des Königreichs nach dem Tode seines Vaters haben sollte"so. Im Reich war die Primogeniturerbfolge und das Unteilbarkeitsprinzip für die weltlichen Kurlande in den Kapiteln VII und XX der Goldenen Bulle von 1356 festgelegt worden. Sie regelte in eingehenden Bestimmungen die Erbfolge jeweils des ältesten unter den ehelich geborenen Söhnen der Kurfürsten, damit - wie es heißt - die Gerechtigkeit sich kräftige, die Untertanen sich des Friedens und der Ruhe erfreuten, am wenigsten aber die Säulen zu Schaden kämen, auf denen das Reich ruhe31 • Wie ernst es dem kaiserlichen Gesetzgeber tatsächlich mit dem Prinzip der Unteilbarkeit war, wird ersichtlich aus dem Proömium der Goldenen Bulle, das sich wiederum auf biblische Sentenzen beruft. "Jedes Reich", heißt es dort, "das in sich selbst zerspalten ist, wird zugrundegehen; denn seine Fürsten sind Diebsgesellen. Darum hat der Herr unter ihnen einen Schwindelgeist ausgegossen, auf daß sie am Mittag tappen wie im Dunkel der Nacht. Ihre Leuchter hat er weggestoßen von ihrer Stätte, so daß sie Blinde sind und Führer von Blinden. Wer aber im Finstern wandelt, der stößt an. Und die blinden Geistes sind, vollbringen Missetaten, die in Uneinigkeit geschehen. Sprich, Hochmut, wie hättest du den Teufel beherrschen können, wenn du nicht die Uneinigkeit als Beistand gehabt hättest? (...) Sprich, Zorn, wie hättest du den römischen Staat zugrunde richten können, wenn du nicht Pampejus und Julius in Uneinigkeit mit wütenden Schwertern zu inneren Kriegen aufgehetzt hättest?" So gelte es, lautet die Schlußfolgerung, dem Einsturz des ganzen Gebäudes zu wehren und den künftigen Gefahren der Uneinigkeit und Zwietracht entgegenzutreten32 • Im Verlaufe der frühen Neuzeit haben sich die in der Goldenen Bulle verankerten Grundsätze der Primogeniturerbfolge und der Unteilbarkeit dann auch in den meisten anderen Reichsterritorien durchgesetzt. 30 Los c6digos espafioles, tom. 2: C6digo de las Siete Partidas, hier Bd. 1, 2. Aufl. 1872, S. 410 f. Vgl. auch Jose Antonio Maravall, Vom Lehnswesen zur ständischen Herrschaft. Das politische Denken Alfons des Weisen (König Kastiliens, gewählter Römischer König), in: Der Staat 4 (1965), S. 307-340, hier S. 318, und Horst Pietschmann, Reichseinheit und Erbfolge in den spanischen Königreichen, in: J. Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 4), S. 199-246, hier S. 208-211. 31 Bulla Aurea Karoli IV. Imperatoris anno MCCCLVI promulgata (MGH - Fantes Juris Germanici antiqui in usum scholarum XI), 1972, S. 60-62 und s. 76 f. 32 Ebd., S. 45 f. Die Übersetzung in Anlehnung an Wolfgang D. Fritz, Die Goldene Bulle. Das Reichsgesetz Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356, 1978, S. 41 f.

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Württemberg schritt voran mit dem Herzogsbrief Kaiser Maximilians I. von 1495. Ihm folgten Bayern (1506), Brandenburg-Preußen (1603), Hessen-Darmstadt (1606), Hessen-Kassel (1627) und neben vielen anderen zuletzt auch die sächsischen und mecklenburgischen Häuser33 . SachsenMeiningen etwa gab die patrimoniale Erbfolge nach den "Mißhelligkeiten und Schäden, welche aus solchen gemeinschaftlichen Regierungen entstehen", erst im Jahre 1802 auf34 • Einen eigenen Weg beschritt das Haus Österreich, das in der Pragmatischen Sanktion von 1713 die Primogeniturerbfolge in Verbindung mit dem Unteilbarkeitsprinzip endgültig festlegte, zugleich aber die Thronfolge der weiblichen Deszendenz ausdrücklich zu legitimieren suchte36 • Daß es bei der Regelung der Nachfolgefrage um essentielle Probleme frühneuzeitlicher Staatsbildung ging, wird dadurch unterstrichen, daß sich auch die Stände der Dringlichkeit entsprechender grundgesetzlieber Bestimmungen nicht entzogen. So beteiligten sie sich vielfach an Absprachen, die die Thronfolge, die Erbteilungsfrage und die Heirat und Apanagierung der Töchter betrafen, und setzten dabei - wie etwa in Mecklenburg - durch, daß Teilungspläne verworfen wurden und die Einheit des Landes gewahrt blieb36• 33 Vgl. hierzu die von Helmut Neuhaus zusammengestellte Übersicht zu den erb- und thronfolgerechtliehen Bestimmungen europäischer Fürstenhäuser und Staaten, in: J. Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 4), S. 385-390. Ferner Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Aufl., 1969, S. 63, und G. Oestreich, Die verfassungspolitische Situation der Monarchie in Deutschland (Anm. 4), S. 268 bis 270. 34 H. Schulze, Die Hausgesetze (Anm. 25), Bd. 3, S. 246-252, hier S. 246. as Hans Sturmberger, Vom Weißen Berg zur Pragmatischen Sanktion, in: ders., Land ob der Enns und Österreich. Aufsätze und Vorträge, 1979, S. 211-245, und Winfried Schulze, Hausgesetzgebung und Verstaatlichung im Hause Osterreich vom Tode Maximilians I. bis zur Pragmatischen Sanktion, in: J. Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 4), S. 253 bis

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38 H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte (Anm. 24), S. 243; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre (Anm. 12), S. 92, .A,nm. 34; G. Oestreich, Ständeturn und Staatsbildung in Deutschland, in: ders., Geist und Gestalt (Anm. 1), S. 277 bis 289, hier bes. S. 281; ders. und Inge Auerbach, Die ständische Verfassung in der westlichen und in der marxistisch-sowjetischen Geschichtsschreibung, in: ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, 1980, S. 161-200, hier bes. S. 182 f. Vgl. ferner Rudolf Vierhaus, Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert, in: HZ 223 (1976), S. 4()-...QO, hier S. 48 f. und 55; UZTich Lange, Der ständestaatliche Dualismus - Bemerkungen zu einem Problem der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Blätter f. dt. Landesgeschichte 117 (1981), S. 311-334, hier etwa S. 318. Hans Jaachim Ballschmieter, Andreas Gottlieb von Bernstorff und der mecklenburgische Ständekampf (1680-1720) (Mitteldeutsche Forschungen 26), 1962, S. 25 ff. Ein Gegenbeispiel stellen die Landesteilungen im Hause Wettin dar. Hier nahmen die Landstände weder fördernd noch hindernd Einfluß auf die Teilungsprojekte und bildeten auch keine landständische Union über die neugezogenen Grenzen hinweg, wie dies gelegent-

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Auch das innen- und reichspolitische Anerkennungsverfahren für die Pragmatische Sanktion belegt mit großer Eindringlichkeit, daß auf Seiten der Stände der politische Wille vorhanden war, dem Gesamthaus auf der Grundlage einer verfassungsrechtlich verbindlichen Sukzessions- und Unteilbarkeitsregelung zu einer neuen Form staatlicher Integrität zu verhelfen37 • Sie erkannten an, daß angesichts der von innen wie außen drohenden Gefahr die territorial verschwommene, lose und intermittierend zusammenhängende Polyarchie des Erzhauses einer stärker als bisher gesicherten Klammer bedurfte, um Ruhestand und Wohlfahrt der Stände und Untertanen gewährleisten zu können. Sie verbürgten sich deshalb ausdrücklich für die Einhaltung dieser "lex perpetuo valitura und unzerbrechlichen norma (...) der Künfftigen (...) Erb-Sukzession" 38 • 111.

Über die konkreten Bestimmungen zu Fragen der Thronfolge hinaus verweisen die Haus- und Grundgesetze der europäischen Dynastien aber zugleich auf eine tiefere Dimension historischer Wirklichkeit. Denn mit der immer subtileren Fixierung der Gesetzesinhalte als solcher traten Intentionen zutage, die Grundsätzlicheres dokumentierten als die augenblickliche Regulierung von Erbschaftsangelegenheiten. Sie verweisen vielmehr auf ein Gesamtkonzept dynastischer Herrschaftsauffassung - auf Ziele und Perspektiven, die letztlich den gesamten Bereich politischen Handeins umfaßten und erstmals im Rahmen patrimonialer Herrschaft ein "politisches" Kalkül, die spezifische Staatsräson dynastischer Fürstenherrschaft, zu erkennen geben. Schon in den Siete Partidas von Kastilien (II, tit. XV, ley V) werden Gründe genannt, denen zufolge die Herrschaft des Königreichs nach Herkommen und Gesetzgebung weder geteilt noch veräußert werden dürfe. "Erstens aus Treue zu seinem Herren", um zu zeigen, daß sein Ansehen und Wohl befördert werde. "Zweitens wegen des eigenen Ansehens". Denn je größer die Herrschaft und ihr Gebiet (tierra), desto höher die Wertschätzung und das Ansehen des einzelnen. Drittens um lieh anderswo der Fall war. Vgl. Th. Klein, Verpaßte Staatsbildung? (Anm. 22), S. 90, 97 und 101 f.

37 Vgl. im einzelnen J. Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus (Historische Forschungen 15), 1979, S. 41-62, und ders., Hausgesetzgebung und Mächtesystem. Zur Einbeziehung hausvertraglicher Erbfolgeregelungen in die Staatenpolitik des aneien regime, in: ders. (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 4), S. 49-80, mit dem Nachweis der älteren Literatur; vgl. in diesem Zusammenhang bes. S. 56. 38 Gustav Turba (Hrsg.), Die Pragmatische Sanktion. Authentische Texte samt Erläuterungen und Übersetzungen, 1913, S. 91.

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des Schutzes von König und Untertanen willen: Denn je größer die Herrschaft, desto besser kann dieser Schutz gewährt werden30 • Es hat den Anschein, als wenn der eigentliche Bezugspunkt dieser Deduktionen die Reputation des Herrschers ist, in deren Widerschein auch der einzelne zu seiner Geltung kommt. Gewiß wird auch die Relation von der Größe des Landes zu seiner Fähigkeit, Herrscher und Einwohnern Schutz zu bieten, hergestellt und damit ein Argument angeführt, das schon auf den nackten Utilitarismus späterer Epochen zu verweisen scheint. Aber im Mittelpunkt steht doch unverkennbar der König als zentrale Verkörperung jener Figuration, die man mit der Wortprägung vom Personenverbandsstaat auf den Begriff zu bringen versucht hat. Um der Ehrwürdigkeit seiner Stellungwillen also soll das Land ungeteilt bleiben. Ungleich politischer werden dann in der frühen Neuzeit die gleichen Probleme erörtert. Im Sukzessionsvertrag des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel vom 12. Februar 1627 etwa wird ausgeführt, daß man im Hinblick auf die Regelung der Thronfolge reiflich betrachtet und wohl erwogen habe, .,was der liebe Friedt undt Einigkeit bawen, nehren und erhalten, dargegen aber Unfriedt, Zwitracht und Uneinigkeit zerstören, umbwerffen und verderben, das schädliche Mißtrawen auch, sonderlich auch bey diesen letzten schwürigen und geiehrlichen Zeiten vor unheilbare Riß, unwiderbringlichen Schaden undt gentzlichen Untergangk erwecken und verursachen könne" 40 • Man habe deshalb einen Vertrag geschlossen .,zu friedtlicher Composition undt Vergleichung" • .,zu Erhaltung Gott undt den Menschen wohlgeieiligen Friedt und Ainigkeit, Verhütung alles Wiederwillens, gentzlicher Abschneidung und Ausrottung künftigen Mißtrawens, undt darab dependirender verderblichen inconvenientien und Zerrüttungen, zuforderst aber zue des Allmechtigen Gottes und seines Nahmens Ehr, und Conservation, Gedeyen undt Uffnehmen des Hochfürstlichen Hauses Hessen Casselischer Linien" 41 • In der Bestätigungsurkunde des ungarischen Landtags für die Pragmatische Sanktion von 1723 wird als eigentlicher Zweck grundgesetzlieber Sukzessionsregelungen der Schutz vor inneren wie äußeren Wirren und den Übeln eines Interregnums angeführt, .,die leicht zu entstehen pflegen und gerade den Ständen von alters her nur zu gut bekannt sind" 42 • Auch die polnische Maiverfassung von 1791, deren Ziel au 40

C6digo de las Siete Partidas (Anm. 30), Bd. 1, S. 423 f. H. Schulze, Die Hausgesetze (Anm. 25), Bd. 2, S. 101-107, hier S. 101.

41 Ebd., S. 101 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Vertrag zwischen der Landgräfin Amalie Elisabeth und dem Landgrafen Georg II. von Hessen, .,die Marburger Succession betreffend", vom 14. April 1648, ebd., S. 111 f. 42 Abgedr. bei G. Turba (Hrsg.), Die Pragmatische Sanktion (Anm. 38),

S.180.

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die Einführung einer Erbmonarchie war, geht von einer ähnlichen Erfahrung aus: "Die zur Genüge erfahrenen Übel der die Regierung periodisch zertrümmernden Zwischenreiche", heißt es im Kapitel über den König und die vollziehende Gewalt, "unsere Pflicht, das Schicksal jedes Polen sicherzustellen, den Einfluß auswärtiger Mächte auf immer zu steuern( ...), die Notwendigkeit, Fremde vor dem Streben nach dem Thron zurückzuhalten und dagegen mächtige Polen zu einmütiger Beschützung der Nationalfreiheit zurückzuführen, haben uns nach reifer Überlegung bewogen, den polnischen Thron nach dem Gesetz der Erbfolge zu vergeben" 43. Die Beispiele für dieses Argumentationsmuster ließen sich vermehren. Ausgangspunkt ist in den meisten dieser Dokumente der Hinweis auf die inneren wie äußeren Wirren, die - wie es im Schwarzburgischen Erbvergleich von 1713 heißt - "wie insgemein also auch Unserm Hause jederzeit schädlich gewesen" 44, die Gefährlichkeit der "Conjunkturen" und den Mißstand "der die Regierung periodisch zertrümmernden Zwischenreiche". Gerade Ungarn und Polen hatten damit ihre Erfahrungen. Aus diesen Gravamina und Mißständen werden sodann die Ziele der neuen Verfassungen hergeleitet: Schutz, Sicherstellung, Wahrung der eigenen Autonomie und Verhinderung jeder Form von Einflußnahme und Außensteuerung - alles Grundsätze und Postulate, wie sie in klassischer Reihung schon in § 65 des Prager Friedens von 1635 formuliert sind: "lntegritet, Tranquillitet, Libertet und Sicherung" 45 •

IV. Zunächst also die Mißstände, die Krise, als Erfahrungshintergrund. Auch in der dänischen Lex regia König Friedrichs 111. von 1665 wird sie zum Ausgangspunkt aller weiteren Schritte auf dem Weg zur Durchsetzung des "Alleinherrschafts-Erbkönigtums" genommen und in den Rang einer alle Ordnungsvorstellungen legitimierenden Norm erhoben. Während noch in den Siete Partidas und der Goldenen Bulle die Losungen der Heiligen Schrift den ausschlaggebenden Legitimationsgrund lieferten, ist hier die Empirie, die allen gemeinsame Erfahrung, das entscheidende Argument. "Nachdem wir (der König)", heißt es in der Präambel des Gesetzes, "nicht nur durch das Beispiel anderer, sondern am eigenen Leib erfahren haben, wie wunderbar der große und allmäch43 Zitiert nach der anonym erschienenen Broschüre: Vom Entstehen und Untergang der Polnischen Konstitution vom 3ten May 1791, 1792, S. 215 f . 41 H . Schulze, Die Hausgesetze (Anm. 25), Bd. 3, S. 340. 45 (J ohann Jakob Schmauß I H einTich Christian von Senckenberg [Hrsg.] ), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, welche von den Zeiten Kaiser Konrads II. bis jetzo auf den Teutschen Reichs-Tägen abgefasset worden .. . , 4 Teile in 2 Bden., 1747, hier Tl. 3, S. 544.

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tige Gott über alle Könige und Fürsten nach dem unerforschlichen Ratschluß seiner Weisheit herrscht und die über uns, unserem Königlichen Haus und unseren Königreichen schwebende Gefahr eines fast augenscheinlichen Untergangs abgewendet hat (...)" 46 • Es folgt dann in einer kausalen Satzanknüpfung die Aufzählung der politischen Schlußfolgerungen, die aus den ohne Zweifel dramatisch verlaufeneo Umwälzungen des Nordischen Krieges (1657-1660) gezogen worden sind. Die Krise steht ebenso wie ihre Überwindung im Dienste eines göttlichen, das Handeln der Könige lenkenden Heilsplans, der zwar unerforschlich bleibt, den Menschen aber empirisch erfahrbar ist. Sie erscheint angesiedelt in einer Sphäre, die dem menschlichen Zugriff entzogen ist. Sie wird aufgefaßt als Exempel und Unterpfand der göttlichen Allmacht, Vorsehung und Weisheit und ist insofern Ausdruck eines Sakralrechtes, wie es sich auch in protestantischen Ländern erhalten hatte und gerade in den skandinavischen Monarchien zu besonderer gedanklicher und zeremonieller Ausprägung gelangte47 • Aber sie bleibt zugleich die auf allgemeine Erfahrung sich stützende Legitimation und insofern unerläßliche Vorbedingung für die wunderbare Wendung, die das vom Untergang bedrohte Schicksal des Königs, seines Hauses und seiner Königreiche genommen hat. Worin bestand nun die Rettung des Königtums? Unser damaliger Reichsrat, lautet die Auskunft der Präambel, und sämtliche Stände, adlige und nichtadlige, geistliche und weltliche, seien aus göttlichem Ratschluß dazu bewogen worden, ihre früheren Prärogativen und Wahlrechte aufzugeben und darin einzuwilligen, die zuvor von uns unterschriebene Handfeste mit all ihren Abschriften, Punkten und Klauseln für null und nichtig zu erklären und uns in jeder Beziehung un(,i ohne Ausnahme von unserem Eide freizusprechen, den wir beim Antritt unserer Regierung geleistet haben. Auf den Widerruf und die Sistierung der bisher bestehenden Verfassungsgesetze folgen die Verfügungen über die Einsetzung des neuen 46 Lex regia, nach der Übersetzung von Th. Olshausen; abgedr. bei K. Krüger, Absolutismus in Dänemark (Anm. 16), S. 196 f. Zur Gesamtinterpretation der Lex regia J. Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik (Anm. 37), S. 17

bis 40, mit dem Nachweis der Spezialliteratur. 47 Hans Liermann, Untersuchungen zum Sakralrecht des protestantischen Herrschers, zuletzt in: ders., Der Jurist und die Kirche. Ausgewählte kirchenrechtliche Aufsätze und Rechtsgutachten, hrsg. von M. Hecke! u. a. (Jus ecclesiasticum 17), 1973, S. 56-108, und Otto }3runner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3. Aufl., 1980, S. 160--186. Vgl. ferner J . Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik (Anm. 37), S. 21-30, und neuerdings: Herrscherweihe und Königskrönung im frühneuzeitlichen Europa, hrsg. von Heinz Duchhardt (Schriften der Mainzer Philosophischen Fakultätsgesellschaft 8), 1983.

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Regiments. Auch sie werden hergeleitet aus der über alle Könige und Fürsten herrschenden Weisheit Gottes, als deren Vollstrecker erneut Reichsrat und Stände hervortreten. Denn diese ließen sich nach Auskunft des als Bericht verfaßten Textes dazu bestimmen, dem König und seiner männlichen wie weiblichen, aus rechtmäßiger Ehe abstammenden Nachkommenschaft ungezwungen und ohne jedes Zureden, Fordern und Befehlen das Erbrecht mit allen jura majestatis, absoluter Macht, der Souveränität und allen königlichen Vorrechten und Regalien anzutragen und zu überantworten. "Sie stellen es auch", heißt es dann wörtlich, "in unseren eigenen allergnädigsten Willen, nicht allein auf welche Weise die Regierung in Zukunft eingerichtet werden solle, sondern auch wie es mit der Sukzession und den Erblinien ordentlich in aufeinanderfolgender Reihe in männlicher und weiblicher Linie gehalten werden und auf welche Weise die Regierung während eines minderjährigen Königs jüngeren Alters (...) geführt und verwaltet werden solle und hierüber nach unserem eigenen gnädigsten Gutdünken und Wohlgefallen eine Verordnung zu machen, welche sie gelobt und eidlich sich verpflichtet haben als ein sie, ihre Erben und Nachkommen bindendes Fundamental-, das ist ein unveränderliches GrundGesetz, zu halten und in allen seinen Punkten und Klauseln zu befolgen (...). So haben wir auch solche sonderbare Schickung der göttlichen Vorsehung und unserer lieben und getreuen Untertanen große Liebe und aller untertänigste Devotion zu uns gebührend erwogen und betrachtet und deswegen billig unsere Gedanken dahin gewendet und gerichtet, solche Regierungsform und Erbsukzession zu verordnen und zu bestellen, wie solches Alleinherrschafts-Erb-Königtum und Regiment es schließlich fordert und verlangt, welches wir auch mit und in diesem Königsgesetz als des Königreiches rechtem unveränderlichem Fundamental-Gesetz verordnet und bestellt haben wollen, das von unseren Erben, ihren Nachkommen und Deszendenten sowie auch von sämtlichen Einwohnern unserer Königreiche und Länder, vom höchsten bis zum niedrigsten, keiner ausgenommen, für eine vollkommen unerschütterliche und unwidersprechliche Verordnung und ein Gesetz für ewige Zeiten gehalten und geachtet werden soll" 48. Nun enthält auch dieser Text ähnlich wie die oben angeführten Dokumente eine Reihe von Zielsetzungen und programmatischen Absichtserklärungen. Denn auch hier wird die absolute Herrschaft nicht um ihrer selbst willen proklamiert. Vielmehr wird sie mit dem Anspruch ausgestattet, wirkungsvoller als die überkommene Form des eingeschränkten Fürstenregiments den Mißständen der Vergangenheit zu begegnen. So wird mit dem Verlangen nach blühendem Gedeih und Zu'8

Lex regia, nach der Übersetzung von Th. Olshausen; abgedr. bei K. Krü-

ger, Absolutismus in Dänemark (Anm. 16), S. 196 f .

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wachs des königlichen Hauses auch das umfassendere Ziel der allgemeinen Sicherheit und des ruhigen Wohlstandes der Erbkönigreiche verknüpft und in der feierlichen Schlußerklärung die Gewißheit geäußert, daß durch das vorliegende Gesetz nun alles so geordnet und festgesetzt sei, "wie nach Unserer Meinung aller Schaden und Nachteil am besten und bequemsten könne abgewehrt werden und Unsere innig geliebten Untertanen in Frieden und Ruhe ohne Furcht vor innerem Zwist und Aufruhr sicher bauen und wohnen können" 49 • Sicherheit und Ruhe sind also auch hier die entscheidenden Zielvorstellungen; hinzu treten Wohlstand und der ausdrückliche Schutz vor dem permanenten Bürgerkrieg, aus dem bekanntlich auch Thomas Hobbes die eigentliche Legitimation der starken, unumschränkten Fürstenmacht herzuleiten suchte50 • Und schließlich fällt nach Auffassung des königlichen Gesetzgebers das höhere Maß an Effizienz bei der Erfüllung dieser für Staat und Dynastie gleichermaßen entscheidenden Aufgaben ins Gewicht. Es ist die Potenzierung der Staatsgewalt, die hier im Sinne einer Herrscher wie Untertanen umschließenden Zielsetzung zur Geltung zu bringen versucht wird. Doch wird in der Lex regia neben diesen nach innen gerichteten Perspektiven ausdrücklich auch ein außenpolitisches Argument angeführt. Wie Vernunft und tägliche Erfahrung zur Genüge lehre, heißt es in § 19, seien der König und seine Untertanen "vor dem Anfall aller auswärtigen Feinde" viel besser geschützt, wenn die Erbkönigreiche und alle ihre Provinzen, Inseln, Festungen und königliche Herrlichkeiten und Gerechtsame ungetrennt und ungeteilt blieben. Denn "eine gesammelte und verbundene Macht (ist) viel stärker und von mehr Kraft und Nachdruck als eine geteilte und gespaltene". Die Sicherheit des Landes wachse also, "je größer die Macht und Herrschaft ist, die ein Herrscher und König besitzt" 51 • Hier tritt - wiederum unter Hinweis auf Einsicht und Empirie eine zusätzliche Kategorie zutage. Denn zugeordnet zu den Leitmotiven von Schutz und Sicherheit erscheint nicht nur das Prinzip der Unteilbarkeit des Gesamthauses, sondern auch das Postulat der ZusammenEbd., S. 206. Zum Einfluß der Hobbes'schen Staatslehre auf die Lex regia Knut Fabricius, Kongeloven. Dens tilblivelse og plads i samtidens natur og arveretlige udvikling, ND. der Ausgabe von 1920, 1971, etwa S. 4--20; Hinweise auf den "Leviathan als garantierte Vertragsgesellschaft" bei Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre, ND. der 3. Aufl. von 1925, hrsg. von K.-H. Ilting, 1971, S. 235-255, und Bernard Willms, Die Antwort des Leviathan Thomas Hobbes' politische Theorie (Politica 28) 1970, S. 115-175. 51 Lex regia, nach der Übersetzung von Th. Olshausen; abgedr. bei K. Krüger, Absolutismus in Dänemark (Anm. 16), S. 201. 49

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fassung aller dem Staate verfügbaren Resourcen: das Prinzip der Stärke und Macht. Je kraftvoller das Auftreten des Fürsten, desto sicherer das Leben der Untertanen. Es hat den Anschein, als wenn in dieser Formel die eigentliche Zielsetzung des frühneuzeitlichen Fürstenstaates hervortritt. Denn nicht nur in der Staatstheorie eines Hobbes, sondern auch in der praktischen Politik standen Richtlinien, wie sie in der Lex regia mit mustergültiger Klarheit auf den Begriff gebrapl.t sind, im Vordergrund. Was die Zeitgenossen- in Dänemark wie im übrigen Europa- an Hobbes' Lehre so nachhaltig beschäftigte, war weniger ihr verborgener revolutionärer Gehalt: die rationale Ableitung der absoluten Staatsgewalt aus dem Unterwerfungsvertrag, sondern ihre Beweiskraft gegen die Kampfparolen des Widerstandsrechts und für die Autorität des legitimen Herrschers. In dieser Kontroverse gab es auf allen Seiten und in vielen Ländern - in England wie auf dem Kontinent - Erfahrungen, die nicht nur in der Staatstheorie, sondern auch bei einer ganzen Generation von Regenten und Ministern tiefe Spuren hinterlassen haben52.

V. Von Bedeutung ist nun die Frage, unter welchen historischen Voraussetzungen sich dergleichen Grundsatzerklärungen als eine Maßnahme erwiesen haben, die offenbar notwendig und unabweisbar erschien. Alle die oben angeführten, an Vernunft und Erfahrung der Zeitgenossen appellierenden Begründungen für die Hausgesetzgebung der Dynastie beziehen sich - wie ausgeführt - auf eine durch Unsicherheit, Willkür und Anarchie gekennzeichnete Krise, - die Krise des Ständestaates im 16. und 17. Jahrhundert. Erst hier- so scheint mirentstand das Bewußtsein für die Notwendigkeit, die Modalitäten der Erbfolge aus einer Sphäre hausinterner, häufig testamentarischer Verfügungen in den Rang von Grundgesetzen zu erheben, denen nicht nur für Staat und Dynastie, sondern auch die auswärtigen Mächte verfassungsrechtliche Verbindlichkeit zuerkannt wurde53• Es bedurfte allem Anschein nach erst eines geschärften Bewußtseins dafür, daß der Fortbestand der "dynastischen Union von Ständestaaten", als die sich auch die Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts noch darstellten, nur durch eine dauerhafte Konsolidierung der einheitsstiftenden Klammer von Krone und Dynastie zu erreichen war. "Durch den König", heißt es 52 Stephan Skalweit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts, zuletzt in: Absolutismus, hrsg. von W. Hubatsch (Wege der Forschung 314), 1973, S. 248 bis 267, hier S. 264. 53 Vgl. J. Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik (Anm. 37), S. 75-80, ders., Hausgesetzgebung und Mächtesystem (Anm. 37), S. 49-56, und ders., Einleitung zu: Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 4), S. IX-XV.

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schon in den Siete Partidas (II, tit. I, ley V), "erhalten die Glieder die Einheit, die sie zu einem Körper werden läßt" 5'. Es mangelte den frühneuzeitlichen Fürstenstaaten an organisch gewachsenem Zusammenhalt. Sie hatten sich durch Heirats- und Erbschaftsspekulationen und die Machtkämpfe der Dynastien von Territorialstaaten zu zusammengesetzten Territorienstaaten entwickelt und waren ebenso leicht zu teilen, wie sie zusammengefügt werden konnten. Eine fortschreitende Intensivierung staatlicher Einflußnahme hatte sie zwar mit ihrer Population und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit allmählich zu festen, berechenbaren Größen gemacht, die ein in den Staat inkorporiertes Heerwesen, eine an Effektivität und Unbestechlichkeit orientierte Beamtenschaft und eine einheitliche Rechtsordnung besaßen. Doch blieben sie dynastische Gebilde, ungeachtet eines sich beschleunigenden Verstaatlichungsprozesses, und insofern bedroht von einem allgegenwärtigen "Esprit de partage", der sich im Aufspüren von Besitzansprüchen und Tauschprojekten von unerschöpflichem Erfindungsreichtum erwies5 5. Das Erfordernis war also Zusammenfassung und Kontinuität. Um diesem Ziel näher zu kommen, bedurfte es in erster Linie entschiedener Anstrengungen zur Verrechtlichung jener eigentümlichen Konfiguration des dynastischen Verbandes, als der die Fürstenstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts unheselladet aller Arrondierungsbestrebungen noch in Erscheinung traten56 • Die Gesetzgebung, die das Sukzessionsproblem der regierenden Häuser und damit zugleich auch die Unteilbarkeit des gesamten territorialen Besitzstandes zu regeln trachtete, berührte also ein erstrangiges Problem frühmoderner Staatsbildung. Sie betraf die Existenz der allmählich an innerer und äußerer Kontur gewinnenden Fürstenstaaten in zentraler Weise, weil die verfassungsrechtliche, nach innen wie außen verbindliche Grundlage für die unanfechtbare Fortdauer und territoriale Integrität der Staaten geschaffen werden mußte. Es galt, in einem klar umgrenzten Gebiet eine gesammelte, unwidersprochen legitimierte, verwaltungsfähige öffentliche Gewalt zur Geltung zu bringen, die als Kontinuität stiftende und verbürgende Ordnungsmacht den Konflikt der widerstreitenden Bürgerkriegsparteien zu überwinden und den inneren wie äußeren Frieden sicherzustellen befähigt war. 54 C6digo de las Siete Partidas (Anm. 30), Bd. 1, 325. " Vgl. etwa Karl Otmar Freiherr von Aretin, Tausch, Teilung und Länderschacher als Folge des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 30 (1981), S. 53-68. 58 Hermann Heller, Staatslehre, 6. Aufl. bearb. von B. Niemeyer, 1983, 146.

6 Der Staat, Beiheft 7

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So unterschiedlich die Machtfülle der einzelnen Fürsten und die Formen ihrer politisch-sakralrechtlichen Stilisierung auch gewesen sein mögen: von entscheidendem Gewicht für die Vorstellungswelt des 17. und 18. Jahrhunderts war die überall verbindliche Überzeugung, daß der Herrscher nur Herrscher sein konnte, sofem er als solcher geboren war57 • In§ 15 der dänischen Lex regia wird unter nochmaligem Hinweis darauf, daß die Stände dem König und seinen herabsteigenden männlichen und weiblichen Linien die "unumschränkte AlleinherrschaftsKönigsmacht (...) erblich zu besitzen einmal übertragen haben", proklamiert, daß "künftig sogleich, wenn ein König mit dem Tode abgeht, dem nächsten in der Erblinie Krone, Zepter und Titel sowie Macht eines Alleinherrschafts-Erbkönigs in demselben Augenblick gehört und zukommt". Denn, so lautet die Begründung, die Könige zu Dänemark und Norwegen sind "künftig zu ewigen Zeiten, solange irgendeiner von unserem königlichen Erbstamm übrig ist, gezeugte und geborene, nicht aber gekorene und gewählte Könige" 58 • Der Fürstenstaat des ancien regime steht am Ende einer langen Entwicklung, in der die Erblegitimität zum entscheidenden Kriterium der Herrscherwürde geworden war. Er fußte auf einem Gottesgnadentum von Geburt, das die Idoneität des Herrschers - im weitesten Sinne des Wortes - begründete59 • Es bezeichnete nicht nur den geheiligten Ursprung seiner Stellung, sondern zugleich die bald mystisch, bald psychologisch gedeutete Quelle seiner wundertätigen Fähigkeiten. Auf dem Geburtsrecht der Fürsten beruhte die fortwährende Kraft der Erbmonarchie und ihre besondere Utilität im Vergleich mit jenen Staatsund Regierungsformen, die den Zufälligkeiten von Wahlen und Parteibildung und der Einflußnahme auswärtiger Mächte unterworfen waren80. Bemerkenswert ist jedoch, daß die Erblegitimität nicht nur den stärksten Rechtsgrund der Monarchie bildete, sondem zugleich auch ihre wirksamste Beschränkung. Denn es war unumstritten, daß dem Herrscher ein Verfügungsrecht in der Frage der Thronfolge nicht zustand. Auch für die absolute Monarchie hatte die Sukzessionsordnung die Bedeutung eines geschriebenen oder ungeschriebenen Staatsgrundgesetzes, das über dem Fürsten stand. Er mochte tatsächlich oder dem Anspruch nach sich im Besitz aller Jura majestatis und unumschränkter 57

58

St. Skalweit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts (Anm. 52), S. 264.

Lex regia, nach der Übersetzung von Th. Olshausen; abgedr. bei K. Krü-

ger, Absolutismus in Dänemark (Anm. 16), S. 200. 58 St. Skalweit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts (Anm. 52), S. 265, und 0. Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip (Anm.

47),

60

s. 174 f.

St. Skalweit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts (Anm. 52), S. 265.

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Herrschaft befinden: in der Frage der Erbsukzession des eigenen Hauses stießen seine Machtprätentionen an eine Barriere, die er um der Legitimität und des ungeschmälerten Fortbestandes der Dynastie willen zu respektieren gezwungen war. "Es soll", heißt es in den Paragraphen 2 und 3 der Lex regia, "der Alleinherrschafts-Erbkönig von Dänemark und Norwegen künftig sein und von allen seinen Untertanen gehalten und geachtet werden (als) das oberste und höchste Haupt hier auf Erden über allen menschlichen Gesetzen, das kein anderes Haupt und keinen Richter über sich anerkennt, weder in geistlichen noch in weltlichen Sachen, denn Gott allein. Es soll daher auch der König allein die höchste Macht und Gewalt haben, Gesetze und Verordnungen zu machen nach seinem guten Willen und Wohlgefallen, sie zu erklären, verändern, vermehren, vermindern, ja früher von ihm selbst oder von seinen Vorfahren gegebene Gesetze auch ganz aufzuheben - dieses Königsgesetz allein ausgenommen, welches als der rechte Grund und das Grundgesetz des Königreichs ja durchaus unveränderlich und unerschütterlich bleiben muß - so wie (er) auch (die Macht haben soll), was und wer ihm gefällt, von den allgemeinen Vorschriften des Gesetzes auszunehmen" 61 • Der König war also unbestritten der oberste Gesetzgeber, in geistlichen wie weltlichen Angelegenheiten. Aber er blieb ebenso wie seine Nachfolger gebunden an das Grundgesetz der Lex regia, deren Kernstück die Einführung des Erbkönigtums war. Das dynastische Erbrecht auf den Staat wurde so zum höchsten Ausdruck einer durch Herkommen geheiligten Ordnung, in der auch dem absoluten Fürsten ein vorgezeichneter Platz zugewiesen war. Er akzeptierte ihn, weil die Stabilisierung des dynastischen Verbandes das eigentliche Ziel seiner gesetzgeberischen Maßnahmen war und ohne die verfassungsrechtliche Bindung auch des unumschränkt konzipierten Fürstenregiments eine auf Dauer gesicherte Herrschaft nicht zu begründen war. Die Unterscheidung von König und Tyrann, die tief im Bewußtsein der Zeit verankert war, hat sich hauptsächlich an dieser Rechtsnorm ausgeprägt und zur scharfen Abgrenzung zwischen dem abendländischen Königtum und der Despotie des Orients geführt62• Vor diesem Hintergrund gewinnt die durch Geburt erworbene Legitimität des Herrschers eine über ihre staatsrechtliche Funktion hinausreichende Bedeutung. Sie blieb unabhängig vom Umfang der tatsächlich ausgeübten Macht, denn sie galt auch für Potentaten, die ~ wie der König von England - keine unumschränkte Herrschaftsbefugnis 61

Lex regia, nach der Übersetzung von Th. Olshausen; abgedr. bei K. Krü-

62

St. Skalwcit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts (Anm. 52), S. 265.

ger, Absolutismus in Dänemark (Anm. 16), S. 198. 6•

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besaßen. Sie war zudem auch an keine Konfession gebunden. Vielmehr hat auch der Protestantismus an den Traditionen des Jus divinum festgehalten und sich an seiner Fortentwicklung beteiligt63 • VI.

Alles, was hier auszuführen war, verweist darauf, daß sich das Problem der grundgesetzliehen Regelungen des Thronfolge- und Unteilbarkeitsprinzips mit unabweisbarer Dringlichkeit erst im 16. und 17. Jahrhundert stellte. Die Hausgesetzgebung der europäischen Dynastien ist damit ein Reflex auf jene Epoche der Rebellion und Anarchie in Staat und Gesellschaft, die man als die Krise des 17. Jahrhunderts zu bezeichnen pflegt, und insofern ein wesentliches Element jenes offenbar unabwendbaren Prozesses, der zur Ausprägung des absoluten Königtums hinführt84 • Es hat den Anschein, als wenn erst in dieser Phase frühmoderner Staatsbildung Staat und Dynastie zu einer Einheit verschmolzen sind. Das Erbrecht blieb zwar ein dominierender Faktor; es steht noch immer selbstherrlich über dem Staat und erzwingt seine Respektierung. Aber es wird nun bewußter als zuvor mit den spezifisch politischen Erfordernissen des Staates verknüpft und durch den hohen Grad seiner rechtlichen Differenzierung zu einem wesentlichen Element gesamtstaatlicher Stabilität. So tritt der Staat als Figuration aus eigenem Recht erstmals neben die Dynastie und bringt Prinzipien zur Geltung, die auf territoriale Integrität und Kontinuität der Herrschaft zielen. Daß es die Einheit auch der zusammengesetzten Territorienstaaten aufrechtzuerhalten galt, wird nun als Grundlage aller Entscheidungen in der Erbfolge und auch aller Streitigkeiten und Kriege darüber anerkannt. Mit der fortschreitenden Verrechtlichung geht die Verstaatlichung des dynastischen Verbandes einher. Wie stark der politische Handlungsdruck auf die Dynastien angesichts der politischen und militärischen Umwälzungen des 17. Jahrhunderts tatsächlich war, ist an zwei Beispielen zu belegen. Im anhaltinischen Erbeinigungs- und Senioratsvertrag von 1635 wird dies mit aller Deutlichkeit sichtbar. "Nachdem Unser gesambtes Fürstenthumb", heißt es in der Präambel dieser "Fundamentalverfassung", "bey den ietzigen 13 H. Liermann, Untersuchungen zum Sakralrecht des protestantischen Herrschers (Anm. 47); 0. Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip (Anm. 47), S. 175 f.; St. Skalweit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts (Anm. 52), S. 266 f., und Herrscherweihe und Königskrönung im frühneuzeitlichen Europa (Anm. 47), vor allem die Beiträge von Erich Hoffmann und Heinz Duchhardt, S. 57-68 bzw. S. 82-95. " Zusammenfassend und in wesentlichen Aspekten weiterführend Helmut G. Koenigsberger, Die Krise des 17. Jahrhunderts, in: ZHF 9 (1982), S. 143 bis

165.

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vergangenen Kriegs Unwesen viel anstösse erlitten, welchen aber durch Gottes Hülffe, bey gebrauchter guter Vorsichtigkeit, insonderheit aber durch die vermittelst göttlicher Gnade bisshero erhaltene gute Einigkeit und Vertraulichkeit ziemlicher masse remediret, Wir aber gleichwohl nicht unbillig in der Beysorge begriffen, da etwa ins künfftige bey unserer Posterität eine solche einmüthige Zusammensetzung der Rathschläge und Gemüther, wie bisher bey Uns vorgangen, nicht erfolgen solte, dass dadurch Unserm Fürstlichen Hause und gesambten Fürstenthumb allerhand Ungelegenheit, ja wohl der endliche ruin entstehen möchte. Dass derowegen aus getrewer Sorgfalt vor die Wohlfahrt und Conservation Unsers gantzen Fürstlichen Hauses, damit dasselbe bey seinem wohlhergebrachten Fürstlichen Stande und Wesen erhalten, gute Einigkeit und Vertraulichkeit auf die Posteritaet fortgepflantzet, und alle Trennungen und Separationes verhütet bleiben mögen, (haben) Wir Unsere und Unserer löblichen Vorfahren aufgerichtete Verträge revidiret, (und) dasjenige, was zu Conservation Unsers Fürstlichen Hausses, dessen Standes und gesambten Unterthanen Wohlfahrt dienlich, reifflieh erwogen, und folgender Puncten mit einander Freundbrüder- und Vetterlieh verglichen" 85• Auch hier zunächst die altbekannten Zielsetzungen: Einigkeit und Vertrauen, Wohlfahrt und Konservation von Stand und Wesen des Fürstenhauses - alles im Blick auf die "Posteritaet", über deren Verläßlichkeit offenbar Zweifel angebracht waren. Bemerkenswert ist jedoch die Einschätzung der allgemeinen Lage als in solchem Maße krisenhaft und bedrohlich, daß gesetzgeberische Maßnahmen und die Präzisierung bereits bestehender Verträge und "hergebrachter Observanz" dringend geboten schienen, um jede Art von Teilung und Veräußerung auszuschließen. Ganz ähnlich argumentiert auch der zwischen den Linien des Welfenhauses geschlossene "Accidenzvertrag" vom 10. Dezember 1636. "Allss Wir Unnss die Allgemeine Noth Jammer und Elendet, darinnen Vnser liebes Vaterlandt Teutscher Nation durch das nunmehr vber die Achtzehen Jahr angestandenes leidiges Kriegswesen gerahten, Insonderheit die Unsern Fürstenthumben (. . .) vnnd Landen imminirende grosse gefahr, tragenden Hohen Fürstlichen Regierungs Ampts halber pillig zu Hertzen gezogen, Dabeneben Vnns auch der nahen Anuerwandtnuss (...) dan erinnert, Wie (...) Vnnd welcher gestalt Vnsere löbliche Vorfahren von etlichen Hundert Jahren hero heilsahme dienliche Verfass: vnndt Vereinigungen vnter sich gehapt, sich auch, so lange dieselbige gehalten vnd in schuldige Obacht genommen, woll befunden, So palt dieselbige aber verlassen vnnd übergangen, es zu höchstschädtlichen 65

H. Schulze, Die Hausgesetze (Anm. 25), Bd. 1, S. 35-43, hier S. 35 f.

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Landt vnnd Leuten zum eussersten Verderb gerahtenen Zertrennungen hinausgeschlagen" 66 : das alles bedenkend, heißt es dann, habe man sich zusammengetan und "nachgesetzter massen ohnwiederruflich vnnd Ewigwehrendt verglichen und vereiniget" 67 • Wenn es jemals eine Zeit gegeben habe, zu welcher "gute treweyfferige Zusammensetzung" vonnöten war, so jetzt, wo sich im Heiligen Römischen Reich seit geraumer Zeit schreckliche Veränderungen und fortwährender Streit zwischen Kurfürsten und Ständen ereigneten und jedem den gänzlichen Ruin und Untergang fast täglich androhten und vor Augen stelltene8 • Krisenbewußtsein also auch hier. Aber von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß angesichts der die Zeit beherrschenden Konflikte eine Regelung des dynastischen Verfassungsproblems nicht nur durch die völlige Neuschöpfung von Recht und Gesetz erfolgen mußte, wie es etwa in Böhmen (1627) und Dänemark (1655) der Fall war, sondern auch durch deren Verbesserung und Vereinheitlichungdurch eine schärfere A~zentuierung der entscheidenden Rechtsnormen. Viele der Grundprinzipien dynastischer Herrschaft waren wie hier auch in Braunschweig längst zum festen Bestandteil hausgesetzlichen Herkommens geworden. Doch schuf erst die außerordentliche Bedrohung, die von den Religions- und Bürgerkriegen ausging, die Voraussetzungen dafür, um das ganze Gewicht der Hausgesetzgebung für die Sicherheit und Wohlfahrt von Dynastie und Staat ermessen zu können. Insofern gehört der Verrechtlichungsschub dynastischer Herrschaft, der über die Reichsterritorien hinausweisend als Phänomen von gesamteuropäischer Bedeutung in Erscheinung tritt, in ganz wesentlicher Weise zur Signatur des 17. Jahrhunderts. Er ist Indikator des Wandels von der "bedingten" zur absoluten Mönarchie. Ich will nicht unterschlagen, daß es gesetzgeberische Maßnahmen zur Fixierung der Thronfolge im Zusammenhang mit der Unteilbarkeit des territorialen Besitzstandes auch schon früher gegeben hat. Die hier mehrfach angeführten Siete Partidas König Alfons' X. von Kastilien, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erlassen worden sind, oder die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 mögen als gewichtige Beispiele dafür angeführt werden, daß auch im Mittelalter schon das Streben nach Stabilisierung dynastischer Fürstenherrschaft nachweisbar ist. "Nicht ein ,neues' Recht begründete die neue Staatlichkeit, sondern eine systematisierte territorial-staatliche Selektion alter Rechtsvorstellungen und Rechtsgrundsätze" 69 • Aber nicht nur die Häufung 86 67

68 69

Ebd., Bd. 1, S. 453-461, hier S. 453. Ebd., S. 454. Ebd., S. 453. R. uan Dülmen, Formierung der europäischen Gesellschaft (Anm. 5), S. 33.

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hausgesetzlicher Sukzessionsregelungen im 16. und 17. Jahrhundert verweist auf ein geschärftes, erstmals wirklich politisches Bewußtsein hinsichtlich der dem Erbfolgeproblem innewohnenden Gefahren, sondern auch die Tendenz, die bis dahin häufig als testamentarische Verfügungen erlassenen Sukzessionsregeln zu veröffentlichen und ihnen neben der innen- auch die außenpolitische Anerkennung zu verschaffen70 • Der Verrechtlichung der Beziehungen innerhalb der Dynastien, die zur Aufhebung innerterritorialer Konkurrenz von Herrschaften führte, korrespondierte eine Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen durch international verbürgte Verkehrsregeln, die vor allem in der gegenseitigen Respektierung der Fundamentalgesetze und Sukzessionsordnungen der Dynastien beruhte. So erscheint das 17. Jahrhundert als der Kulminationspunkt einer Entwicklung, die aus der leidvollen Erfahrung fortwährender Ständeund Verfassungskonflikte hinführt zu dem politischen Willen, das Erbfolgeproblern des monarchischen Fürstenstaates endgültig zu regeln und damit seine innere wie äußere Stabilität sicherzustellen. Denn in dieser entscheidenden Übergangsphase ging es gar nicht in erster Linie darum, einen vorhandenen Staat absolutistisch zu organisieren, sondern um den viel grundsätzlicheren Schritt, durch die Etablierung absolutistischer Fürstenherrschaft den Staat im Sinne von obrigkeitlicher Souveränität und territorialer Integrität überhaupt erst zustande zu bringen. Überall wird die Gefahr innerer und äußerer Krisen im Falle von Erbstreitigkeiten und Interregna beschworen, um sodann zugleich mit der Bestätigung der Erbfolge und Unteilbarkeitsordnung der Dynastie den engeren Zusammenschluß der Territorienstaaten mit dem Ziel ihrer inneren wie äußeren Arrondierung voranzutreiben. Im "Pactum familiae" der Schwarzburger vom 7. September 1713, "welches vim legis perpetuae valiturae haben und eine Pragmatica Sanctio in Unsern Fürstl. Hause seyn und bleiben soll", heißt es schließlich, daß man "in eine ewige unverbrüchliche Vereinigung, association und Verfassung getreten" sei in Nachfolge "wo nicht aller, (so) doch der meisten Fürstl. Häuser, welche Uns hierunter mit Exemplis vorgegangen" 71 • Was man sich unter der vielbeschworenen Krise des 17. Jahrhunderts auch immer vorstellen mag: - im Streben der europäischen Dynastien nach grundgesetzlicher Regelung der Thronfolge ist jedenfalls eine auf Krisenbeherrschung gerichtete Staatsräson nachweisbar, die die Gefährdung der zusammengesetzten, von Bürgerkrieg und Intervention 70 Im einzelnen J. Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik (Anm. 37), und ders., Hausgesetzgebung und Mächtesystem (Anm. 37). Zur Frage der Veröffentlichung im besonderen S. 18 f. bzw. S. 50, mit weiterführender Literatur. 71 H. Schulze, Die Hausgesetze (Anm. 25), Bd. 3, S. 340-351, hier S. 340.

Johannes Kunisch

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bedrohten Monarchien durch Sicherung der verfassungsmäßigen Grundlagen des Staates einzugrenzen trachtete. Sie ist ein wesentlicher Faktor der relativen Ruhe, die die inneren Verhältnisse des ancien regime charakterisiert72.

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H. G. Koenigsberger, Die Krise des 17. Jahrhunderts (Anm. 64), S. 161.

Aussprache Grawert: Die Sukzessionsordnungen und Hausgesetze, die Sie, Herr Kunisch, uns dargestellt haben, betonen ausdrücklich ihre Unabänderlichkeit und die Ewigkeit ihrer Geltung mit Hilfe von Formeln, die man im ausgehenden Mittelalter ebenso finden kann, wie noch im 19. Jh. Derartige Geltungsformeln haben wohl Appellationsfunktion. Doch stellt sich überdies die Frage, was man sich unter "Ewigkeit" und dergleichen mehr eigentlich vorzustellen hat, welche Zeitspannen gemeint waren und wie lange solche Normzwecke dann tatsächlich galten.

Meine zweite Frage bezieht sich auf Ihre Feststellung, daß der König unter den Hausgesetzen oder unter dem Familienvertrag steht. Wie sind solche Bindungen konstruiert oder erklärbar? Liegt eine Selbstbindung vor? Ist das eine Bindung kraft alter Tradition oder hängt sie damit zusammen, daß auch andere Hausmitglieder an der Formulierung vertragsgemäß mitwirken? Ich habe das letztgenannte Verfahren der Vertragsgestaltung manchmal im 19. Jh. beobachtet. Dort wurde etwa vom fürstlichen Familienoberhaupt das Hausgesetz, die Heiratsordnung oder Erbfolgeregel mit den übrigen Familienmitgliedern abgesprochen. Die Normwerke vermerken diesen Umstand eigens. Darin ist wohl der Hinweis auf eine vertragsmäßige Bindung zu sehen, die zu der gesetzlichen hinzutreten kann, eine Bindung also, die von der aus Einsicht in Notwendigkeiten zu unterscheiden ist, von der gestern gesprochen wurde. In jedem Fall geht es aber darum festzuhalten, daß der jeweilige Inhalt nicht einseitig verfügbar ist. Auch dies ist ein Weg, Rechtsnormen Dauer zu verleihen. Hartmann: Herr Kunisch, Sie haben in Ihrem Referat davon gesprochen, daß die Frage der Thronfolge vor allem im 16., 17. Jh. festgelegt worden sei. Meine Frage: glauben Sie nicht, daß in Frankreich diese ganze Regelung der Thronfolge schon viel früher festgelegt war? Ich denke hier an die lois fondamentales, besonders die loi salique, also das salische Grundgesetz, das schon vor dem 16. Jh. gültig war und sich als ein ganz besonders weises Grundgesetz für die Erbthronfolge erweist. In Frankreich gab es ja keine Thronfolgekriege. Durch diese extreme Betonung der männlichen Erbfolge, selbst wenn man Jahrhunderte zurückging, war immer ein potentieller Thronfolger zur Verfügung. Nach dem Tod von Heinrich 111. kamen z. B. nicht die Schwester oder

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irgendwelche nahen Verwandten zum Zuge, sondern ein ganz, ganz entfernter Verwandter in männlicher Linie, der spätere Heinrich IV., ein Cousin 21. Grades von Heinrich III.; man mußte also ganz weit zurückgehen, um diese Verwandtschaft noch zu ermitteln. Dieses weise Grundgesetz ist ja schon im Spätmittelalter (1361 bzw. 1328) eingeführt worden. Böckenförde: Ich möchte einen Bogen zu unserer gestrigen Diskussion schlagen. Die Notwendigkeit der Erbregelung in der Form von Sukzessionsordnungen entsteht doch wohl aus einer Herausforderung, um die Regierungsfähigkeit, den Bestand, des sich bildenden Gemeinwesens zu sichern. Vom Staat her betrachtet sind diese Regelungen Gebotsnormen, die sicherstellen sollen, daß und wie weiter regiert werden kann. Da es sich aber um Erbregelungen handelt, greifen sie zurück in den Bereich des alten Rechts, von consuetudo und jus, und müssen sich daraus legitimieren können. Kommt nicht die in den Präambeln immer wieder hervortretende Beschwörung, sei es der Stellung des Herrschers, sei es der Notwendigkeit, Frieden(?) und Recht zu sichern, aber auch die Versicherung, daß es nun auf Ewigkeit und auf Dauer als ein Grundgesetz festgelegt werden soll, gerade daher, daß es recht zweifelhaft ist, diese Fragen durch einseitige Auferlegung statt durch Vereinbarung oder nach hergebrachter Gewohnheit zu regeln. Damit dies auch akzeptiert wird, muß man die Geltung in besonderer Weise postulieren, denn man tut etwas, was von den alten Entstehungs- und Fortbildungsgrundlagen des Rechts doch etwas Revolutionäres war, nämlich das Einbrechen in das alte Erbrecht. Der Staatsgedanke ist noch nicht so stark, daß die Thronfolge sich vom Erbrecht lösen kann. Sie sagten mit Recht, Herr Kunisch, das Erbrecht steht noch über dem Staat. Aber es wird jetzt mit dem politischen Ziel der Staatserhaltung und Herrschaftskonsolidierung verknüpft. Gleichwohl mußte man es doch noch an jus und consuetudo rückbinden. Daher immer wieder die große Deklamation, manchmal sogar bis ins Theatralische, um die an sich sehr fragwürdige Geltung doch sicherzustellen. Als Brücke - wie als legitimierendes Leitbild im Absolutismus überhaupt - bietet sich dabei die starke religiöse Verankerung der Herrscherstellung an. Dadurch, daß der Monarch die Grundlage seiner Stellung noch in der alten religiös-traditional fundierten Ordnung hat, erhält auch das von ihm ausgehende Gebotsrecht eine Legitimation als Recht (jus) über das bloß Gebotsmäßig-Zweckhafte hinaus. Ich habe die Vermutung, daß darin auch einer der Gründe für die Legitimation des Gesetzgebungsanspruchs des absoluten Königtums liegt, so wenig absolut es in der Praxis auch gewesen sein mag. Das Handeln des Monarchen ließ sich auf diese religiös-traditionale Grundlage seiner Stellung rückbeziehen, und die Gesetze, die von ihm ausgingen, hatten an dieser Legitimationsgrundlage teil.

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Meine Frage ist, Herr Kunisch, ob Sie diesen Interpretationsversuch bestätigen würden oder ob Sie dagegen Einwände hätten. Kunisch: Vielleicht sollte ich in diesem Punkt doch erst einmal eine Auskunft geben. Zu Ihrer Frage, Herr Grawert, was mit der Beschwörung ewiger Gültigkeit der Gesetze gemeint ist, so handelt es sich hier sicherlich um einen Topos, der nicht allzu viel besagen dürfte. Gewiß wird in all diesen Dokumenten von einer solchen Kategorie gesprochen, und gerade für die Lex regia ist festzuhalten, daß sie auch außerordentlich lange in Kraft geblieben ist, nämlich bis 1848. Man hat sich also im Rahmen des Möglichen durchaus an diese Dinge gehalten.

Zu Ihrer zweiten Frage ist zu sagen: in Dänemark kann man eindeutig davon ausgehen, daß König Friedrich 111. zusammen mit seinem Kanzler Peter Schumacher maßgeblich war für Gesetzgebungsverfahren und die Familie wohl wenig beteiligt gewesen ist. Friedrich 111. hatte 1648 seine Herrschaft unter einem verschärften Ständeregiment angetreten und sich einem Krönungszeremoniell unterwerfen müssen, das die starke Stellung der Stände sinnfällig zum Ausdruck brachte. Dann folgte die von außen hereinbrechende Krise des Nordischen Krieges und das Zusammengehen des Königs mit der Kopenhagener Bürgerschaft. So eröffnete sich die Möglichkeit zur völligen Umgestaltung der Verfassungsverhältnisse. Aus diesem "Umsturz" ging die Lex regia hervor, die dann tatsächlich von der Ewigkeit des nun erreichten Zustandes spricht. Das Gesetz sollte nicht nur den König selbst, sondern auch seine Familie binden. Aber es hat den Anschein, als wenn der König als alleiniger Gesetzgeber in Erscheinung tritt. Die anderen von mir angeführten Hausgesetze, z. B. der sachsen-meiningische Vertrag von 1802, scheinen im Familienrat, wenn man das so sagen will, beschlossen worden zu sein und führen zu einem Widerruf der Erbansprüche der jüngeren Brüder des regierenden Fürsten. Es wird dabei ausdrücklich auf die Mängel der Gesamtherrschaft hingewiesen und dann ein entsprechender Beschluß gefaßt. Und nun zu Herrn Hartmann und Herrn Böckenförde. Sicherlich stellt Frankreich das berühmte Gegenbeispiel dar. Und gewiß läßt sich nicht bestreiten - ich habe es zum Schluß meines Vortrags ausdrücklich gesagt -, daß es schon im Mittelalter Erbschaftsregelungen mit Grundgesetzcharakter gegeben hat. Die Siete Partidas sind ein grandioses Beispiel dafür, und zwar als Text (im Gegensatz zu gewohnheitsrechtlichen Sukzessionsregelungen in Frankreich). Auch die Goldene Bulle ist an Eindeutigkeit kaum zu übertreffen. Dennoch würde ich sagen, daß trotz dieser ins Mittelalter zurückreichenden Tradition im 16. Jh. ein Neuansatz erfolgt. Neben die Heilige Schrift, die in beiden

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dieser mittelalterlichen Dokumente angeführt wird, tritt jetzt die Empirie: das ist meine These. Es wird jetzt immer wieder an die Erfahrung aller Beteiligten, z. B. an die Kriege, erinnert. Und das geschieht in Dänemark ebenso wie in Hessen-Kassel oder in Brandenburg-Preußen (Jenaer Vertrag von 1603). Meine Prämisse ist also, daß es selbstverständlich alte Rechtstraditionen gab, die jedoch im 16. und 17. Jh. unter den Einfluß eines politischeren Denkens kamen und den konkreten Erfahrungsbereich mit einbezogen, um so eine neue Legitimationsbasis zu schaffen. Und das gilt auch für Frankreich. In dem von mir herausgegebenen Tagungsband: "Der dynastische Fürstenstaat" findet sich ein sehr guter Beitrag über Frankreich (Ulrich Muhlack), in dem gerade dieses Problem sehr genau ausgeführt ist. Stolleis: Herr Kunisch, Sie haben die Neuartigkeit der leges fundamentales im Kontext der frühen Neuzeit unterstrichen, und dies ist auch, wie ich meine, ganz zutreffend. Betrachtet man aber die einzelnen Elemente, aus denen dieses neue Instrumentarium gebaut ist, dann muß jene "Neuartigkeit" doch wieder relativiert werden. Als Beispiel kann Art. 3 der dänischen Lex regia dienen, in dem es zur Gesetzgebungsmacht heißt, es komme allein dem König zu, Gesetze zu geben und zu interpretieren, aufzuheben, zu ersetzen und Ausnahmen davon zu erlauben. Die dort verwendete Formel "leges condere et interpretari" steht u. a. bei Bodin und läßt sich über viele - vor allem kanonistische - Zwischenstufen bis auf Justinian zurückführen. Es handelt sich also um einen alten, bei Justinian, bei den Juristenpäpsten des Hochmittelalters und im neuzeitlichen Absolutismus jeweils aktivierten Traditionsstrang, in dem der Herrscher den Anspruch erhebt, alleiniger Gründer, Interpret, Veränderer und Dispensberechtigter der Gesetzgebung zu sein.

Eine zweite Bemerkung zielt auf den Unterschied zwischen der Setzung der leges fundamentales und der Gesetzgebung im engeren Sinn. Sie haben diesen Unterschied, wenn ich richtig verstanden habe, weitgehend eingeebnet. Die Staatstheorie der Zeit legt dagegen auf den Unterschied großen Wert, weil sie verhindern möchte, daß der "absolutistische" römischrechtliche Satz "Princeps legibus solutus" sich auf die Fundamentalgesetze bezieht. Da dies nach Meinung der Zeit gerade nicht sein darf, wird den Fundamentalgesetzen fast durchweg Vereinbarungscharakter mit Bindungswirkung zugesprochen, während für die darauf aufbauende Gesetzgebung im engeren Sinn dann das alleinige Verfügungsrecht des Fürsten akzeptiert wird. Insofern darf man wohl auch einen Zusammenhang zwischen der Installierung der Fundamentalgesetze im 16./17. Jh. und der darauf gründenden eigentlichen Kodifikationsbewegung im späten 17. und vor allem im 18. Jh. vermuten?

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Kunisch: Ich bin ja nun, Herr Stolleis, kein Rechtshistoriker. Aber mir steht bei der Lex regia immer vor Augen, daß zunächst eine Vereinbarung mit den Ständen getroffen worden ist, in der entscheidende Passagen der Lex regia vorweggenommen sind. Es handelt sich hier um ein Dokument, das einem Herrschaftsvertrag im frühneuzeitlichen Sinne (Werner Näf) noch sehr ähnlich ist. Was nun die Lex regia selbst betrifft, so ist daran zu erinnern, daß sie zunächst nicht veröffentlicht worden ist und sich insofern von einem klassischen Gesetzgebungsverfahren unterscheidet. Erst relativ spät, 1709, ist sie publiziert worden und dann in aufwendiger Form unter die Leute gebracht und bei auswärtigen Höfen hinterlegt worden. Aber andererseits ist der Erlaßcharakter im Unterschied zum Herrschaftsvertrag deutlich ausgeprägt. Insofern scheint es mir hier um Gesetzgebung zu gehen. Stolleis: Gestern waren wir uns eigentlich einig, daß Publizität nicht zu den Essentialia der Gesetzgebung gehört. Kunisch: Dann möchte ich die Lex regia als Akt der Gesetzgebung betrachten. Der ganze Duktus scheint mir darauf hinzuweisen. Dilcher: Im Hintergrund der Entwicklung von Gesetzgebung und Gesetzgebungstheorie, die wir gestern und heute betrachtet haben, scheint mir doch die Grundauffassung zu stehen, daß Gesetzgebung nicht das Normale sei, nicht die selbstverständliche und hauptsächliche Grundlage der Rechtsordnung. Ein Umbruch findet hier wohl erst statt in den Kodifikationen um 1800, im preußischen ALR noch behutsamer in der Sammlung des Landesrechtes und der subsidiären Geltung des Gesetzes, entschiedener dann in den französischen Codes und der Gesetzgebung der Folgezeit; ein weiterer Schritt zur sozialgestaltenden und gesellschaftsplanenden Gesetzgebung über liberale Freiheitsgewährung hinaus liegt dann wohl erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh., in der beginnenden sozialstaatliehen Gesetzgebung. - Für die Zeit vor dem Ende des 18. Jh. kommt es für den Charakter der Gesetzgebung m. E. sehr auf das Gebiet an, in welches diese regelnd eingreift; die Legitimation ist da sehr verschieden. Am selbstverständlichsten besteht eine Legitimation der Herrschaft zur Regelung alltäglicher, irgendwie regelungsbedürftiger Probleme (deutlich schon seit den Kapitularien der Karolinger), was dann übergeht seit dem späten Mittelalter in die klassischen Gebiete der Polizeiordnungen - die ja eben "Polizey", nicht "Recht" darstellen. Viel schwieriger steht es bei Eingriffen in den alten Bereich von jus und consuetudo, eben des "Rechts". Gerade dies versuchen aber die Fürsten immer wieder, doch der volle Durchbruch gelingt, wie gesagt, erst am Ende des Absolutismus. Ich habe den Eindruck, daß für die ganze Zeit vorher der kanonistische, schon von Gre-

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gor VII. im Dictatus Papae herausgestellte Grundsatz leitend bleibt, daß nur unter dem Eindruck der necessitas, eines dringenden regelungsbedürftigen Problemes, ein obrigkeitlicher gesetzgeberischer Eingriff legitimiert ist. Gesetzgebung bleibt damit eine Antwort, kein planender Entwurf, etwas eher Passives, nichts Aktiv-Gestaltendes - im Mittelalter als Gegengewicht gegen den durch die Sündhaftigkeit (malitia) verursachten dauernden Niedergang der Welt (in den Topoi etwa der diversitas temporum, des mundus senescens), auf den eine renovatio alter Werte antworten muß. - Ein zweiter rechtlicher Gesichtspunkt, der herrscherliehe Gesetzgebung legitimieren kann, scheint mir der der Offenkundigkeit zu sein - nämlich des konkreten Bedürfnisses nach rechtlicher Regelung. Offenkundigkeit ist ein prozeßrechtlicher Gesichtspunkt, er erübrigt gegebenenfalls formelles Verfahren, vor allem der Beweiserhebung. M. E. versucht der Fürst, in seiner "Gesetzgebungspropaganda" durch den Topos Offenkundigkeit ein herrscherliebes gesetzgeberisches Eingreifen, unter Umgehung der Konsensgebundenheit des Eingriffes in die Rechtsordnung, des nova iura facere (i. S. des Reichsspruchs von 1231), zu legitimieren. Das Verwischen der Grenzen zwischen "Recht" und "Ordnung", die zunehmende Bereitschaft, das Vorliegen einer necessitas zu bejahen, und schließlich die Ausschaltung des Konsensprinzips durch den Gesichtspunkt der Offenkundigkeit scheinen mir maßgebende Faktoren, die zur Legitimation der wachsenden Gesetzgebungsgewalt des Fürsten herangezogen werden. Kunisch: Vielleicht gleich ein Wort dazu, Herr Dilcher. Ihre Vermutungen scheinen mir sehr zutreffend und einleuchtend. Das Prinzip der Offenkundigkeit ist mit Händen zu greifen. Es wird die neue Form der Legitimation. Im übrigen wird Offenkundigkeit sicherlich auch herbeigeführt durch die fiktive Darstellung der Vorgänge, - in der Lex regia ganz unverkennbar. Ich habe zu der Darstellung des historischen Ablaufs der Geschehnisse in der Präambel ausdrücklich gesagt: aus der Sicht des Gesetzgebers! Denn es handelt sich vielfach um geschickte Verschleierungen der tatsächlichen Vorgänge; es wird ein Konsens mit der Ständepartei behauptet, der in dieser Form sicherlich nicht vorhanden war. Praktisch hat ein Kampf stattgefunden, und der Reichsratsadel ist mit relativer Hemdsärmeligkeit beiseite geschoben worden, nachdem er sich politisch ungeschickt verhalten hatte. Beide Elemente, Offenkundigkeit und Fiktionalität der Argumentation, sind in der Lex regia anzutreffen.

Vielleicht ein Wort noch zu Ihnen, Herr Stolleis. Mir scheint, daß die Lex regia im Gegensatz zu den Korliftkationen des späteren 18. Jh. noch keine Perspektive im Hinblick auf die Gestaltung des Untertanenver-

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bandes hat. Ich war, als ich den Text gelesen habe, immer wieder überrascht, wie wenig explizit von den Zielen staatlicher Veranstaltung, etwa Wohlfahrt und Glückseligkeit, die Rede ist. Ein solcher Orientierungspunkt tritt erstmals in § 19 hervor, und dann noch einmal ganz zum Schluß, wo die Überzeugung geäußert wird, daß das absolute Königtum doch die optimalste Lösung sei, damit die Leute sicher bauen und wohnen können; so etwa heißt es. Der Bezug auf ein allgemeines Wohlfahrtsideal, wie es dann für den aufgeklärten Absolutismus maßgeblich wird, ist hier nicht die eigentliche Absicht. Vielmehr steht im Vordergrund, den Absolutismus und die Primogeniturerbfolge durchzusetzen. Eine Legitimation vor denen, die das Gesetz zu akzeptieren hatten, erscheint nur in verschlüsselter Form. Insofern stellt sich wiederum die Frage nach dem Charakter der Gesetzgebung. Mir scheint, daß es in der Lex regia wohl eher noch um eine Legitimierung vor sich selbst oder vor der Familie, vor dem Hof, nicht aber vor den Untertanen in ihrer Breite geht. Möglicherweise ist das ein Kriterium für die Einschätzung und Klassifizierung des Gesetzgebungsverfahrens in Dänemark. Luntowski: Wenn ich richtig verstanden habe, dann haben die Landstände bei der Durchsetzung des Primogeniturrechts eine ziemlich große Rolle gespielt, z. T. sind sie offensichtlich die treibende Kraft dabei gewesen und haben so zu einer "Entprivatisierung" des Staates und damit überhaupt zur Entstehung eines Staatsprinzips beigetragen. Jedenfalls waren sie seit dem Spätmittelalter an dieser Entwicklung beteiligt. Ich erinnere mich an Hömberg, der von einem "territorialen Nationalgefühl" sprach, das die Stände entwickelten. Kompliziert wird das dann freilich in den zusammengesetzten Territorien, aus denen ja die größeren und mittleren deutschen Staaten hervorgingen; denn die Landstände in den einzelnen Landesteilen blieben zumeist bestehen und führten dort ihr Leben weiter. Allgemeine oder "vereinigte" Landstände gab es ja erst seit dem 19. Jh. Im Grunde genommen haben die Stände, obwohl sie sich als Gegengewicht zur fürstlichen Landesherrschaft verstanden, zumindest mittelbar dem absolutistischen Staate Vorschub geleistet und an der Entwicklung des modernen Einheitsstaates mitgewirkt. Sprandel: Ich möchte in der Diskussion etwas weiter zurückkehren und auf die Stichworte Teilbarkeit, Einheitsgedanke kurz eingehen, um zu versuchen, mit Ihnen zusammen die besondere Stellung der frühen Neuzeit etwas zu beleuchten. Der Mediävist denkt ja, wenn er Unteilbarkeit hört, zunächst einmal an den Aufsatz von Gerd TelZenbach von der Unteilbarkeit des deutschen Reiches. Das betrifft einen Vorgang, der um 900 passierte. Damals gab es schon Tendenzen auf

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Unteilbarkeit des deutschen Reiches hin, eine andere Unteilbarkeit als die, die Sie uns jetzt dargestellt haben bei neuzeitlichen Fürstentümern. Es ist eine Unteilbarkeit, die sehr stark lebt von einem Reichsgedanken, der kultisch mitgeprägt war. Es gab eine Einheitspartei, eine Reichs~ partei, die u. a. ihre Bindungen an die Einheitskirche besaß. Vielleicht läßt sich noch auf andere Weise diese ältere Unteilbarkeit von der neueren unterscheiden. Kunisch: Zuerst zur Ständefrage. Sie berührt natürlich ein ganz zen~ trales Problem und ist von Gerhard Gestreich in seinem Aufsatz über Ständeturn und Staatsbildung kurz berührt worden. Nicht zu bestreiten ist demnach, daß die Stände tatsächlich an Staatsbildung im Sinne von Vereinheitlichung und Verrechtlichung mitgewirkt und vielfach darauf gedrungen haben, daß das Land möglichst ungeteilt blieb; wobei bei G. Oestreich unter den Tisch fällt, aus welchen durchaus naheliegenden und durchschaubaren Motiven das geschehen ist. Denn es war natürlich im Sinne der Stände, daß der Kammerbesitz des Fürsten möglichst unangetastet blieb, so daß sie selber möglichst wenig zum Unterhalt von "Staat" und "Hof" beisteuern mußten. Es wird in den entsprechenden Dokumenten deutlich, daß die Stände keineswegs altruistisch, sondern sehr eigennützig argumentiert haben; sie wollten den Fürsten ausgestattet sehen mit einem halbwegs komfortablen Auskommen. In den wettinischen Territorialstaaten wurde so lange geteilt, bis der Landesfürst mit den Prätentionen, die er von Standes wegen aufrecht zu erhalten hatte, nicht mehr zurechtkam und schließlich die Stände die Zeche bezahlen mußten. Sie haben aber insgesamt den territorialen Konsolidierungsprozeß zumindest nicht verhindert.

Interessant ist aber, daß in der Lex regia z. B. die Stände einfach ausmanövriert werden. Von ihnen ist nicht mehr die Rede, während in vergleichbaren Dokumenten, etwa der Verneuerten Landesordnung von Böhmen 1627, die Stände eine Funktion behalten für den Fall, daß die Dynastie ausstirbt. Dann sollte ihnen wieder ein Wahlrecht zustehen, sie sollten zusammentreten und einen neuen Herrschaftsvertrag schließen, der eine Dynastie auf den Thron bringt, die wiederum nach dem Prinzip der Primogeniturerbfolge erbberechtigt ist. Wenn man dann die Staatsrechtlehre des späteren 18. Jh. hinzunimmt, etwa Beck oder Martini, dann behalten die Stände auch dort eine Funktion im Falle des A,ussterbens der Dynastie. Sie bleiben als Korporation erhalten mit dem Auftrag, ein neues Herrscherhaus zu wählen. Gerade für das Haus Österreich galt diese Vorstellung als konstitutiv. In der Lex regia dag.e gen ist diese Frage ausgeklammert. Insofern ist sie tatsächlich die radikalste Ausprägung absolutistischen Herrschaftsanspruchs. Die Möglichkeit einer Erbfolgekrise wird hier überhaupt nicht mehr erörtert.

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Es wäre ohne Zweifel eine lohnende Aufgabe, einmal eingehend zu untersuchen, welche Stellung die Stände zu den Verfassungsproblemen ihrer Dynastien bezogen haben. Dann zu Herrn Sprandel: Das Problem der Unteilbarkeit. Dieser "Rechtsgedanke" ist von Albert Werminghoff, der ja Mediävist war, sehr gut herausgearbeitet worden. Er hat darauf hingewiesen, daß es gerade auch in Wahlreichen den Gedanken der Teilbarkeit zunächst nicht gegeben hat. Hier wurde von der Einheit des Reiches ausgegangen, es ist als solches konzipiert gewesen. Erst mit der Territorialisierung nimmt das Teilbarkeitsprinzip überhand und ist in seinen verhängnisvollen Folgen im späteren Mittelalter sichtbar geworden. Dann erfolgt ein Umbruch. Wann er sich vollzieht und in welcher Region er sich am ehesten und am deutlichsten abzeichnet, ist schwer auszuma~ chen. Jedenfalls beginnt mit den Siete Partidas Alfons X. eine neue Phase, in der die Einheit ausdrücklich gefordert und die Gefahr von Erbteilungen beschworen wird. In diesen Texten treten dann klare Wertungen hervor,- Dinge, bei denen ich, als ich sie bei Eduard Meyer verwendet fand, erst einmal sehr skeptisch war. Aber sie finden sich eben in den Dokumenten selber und besagen unmißverständlich, daß Teilungen zerstörerisch sind und die Reiche ruinieren. Zu den in diesem Zusammenhange auftretenden Fragen habe ich schon eine Veröffentlichung vorgelegt (Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus, 1979). Es ist sehr interessant zu sehen, daß spätestens mit Beginn des 18. Jh. die Hausgesetze Gegenstand internationaler Verträge werden und dann auch bei fremden Mächten als das für den jeweiligen Staat gültige Grundgesetz hinterlegt werden - mit der stillschweigenden Aufforderung, daß man sich daran zu halten habe, und zwar nicht nur die Untertanen oder die Dynastie, sondern eben auch die auswärtigen Mächte. Der berühmteste Vorgang dieser Art ist die Einbindung der Pragmatischen Sanktion in die internationale Politik in den 20er und 30er Jahren des 18. Jh. An diesem Beispiel ist abzulesen, wie man sich mit Gegengeschäften, etwa die Aufhebung der Ostendekompanie, um die Anerkennung der neuen Sukzessionsregelung bemüht hat. Und das Paradoxe besteht nun darin, daß mit der zunehmenden Verrechtlichung der Thronfolgeproblematik die Erbfolgekrisen nicht gemeistert, sondern womöglich verschärft wurden, wie 1740. Dieser eigentümliche Widerspruch ist nicht mit einer stringenten Beweiskette aufzulösen. Wahl: Ich möchte ansetzen bei Ihrer Überlegung, Herr Kunisch, daß die Überwindung der Erbteilungen nach innen die Wirkung hatte, daß die Untertanen vor Unruhen und Kriegen aus Anlaß der Erbstreitigkeiten bewahrt wurden. Ich möchte auf eine Grenze dieser Wirkung 7 Der Staat, Beiheft 7

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aufmerksam machen: der Erbgedanke als solcher blieb ja erhalten, und er wirkte sich im Verhältnis zu anderen Ländern aus, namentlich dann, wenn beim Aussterben eines Fürstenhauses die Fürsten anderer Länder Erbansprüche erhoben. Der Erbfolgekrieg war ja die typische und häufig aktuell gewordene Form des Krieges in der damaligen Zeit, und das Erbrecht ist der Legitimationstitel für diese Kriege. Insoweit sind die Untertanen vom Erbrecht und seinen Auswirkungen immer noch betroffen, weil es sich grundsätzlich um eine Ordnung handelt, die von Dynastien ausging. Daran knüpft sich eine weitere Überlegung. Die Dynastien waren die treibenden Kräfte in dieser Zeit; im dynastischen Gedanken lag aber auch die Grenze in dieser Phase des Verstaatlichungsprozesses. Zum einen ist die Zeit geprägt von der Vorstellung, daß jemand nur Herrscher sein kann, der zum Herrscher geboren ist; die Abstammung war danach der tragende Gesichtspunkt der Berufung zur legitimen Herrschaft. Die Dynastie veranschaulichte die Herrschaft. Zum anderen wies aber diese Ordnung über die Person des Fürsten und über die Dynastie hinaus. Zur Begründung der Überwindung des Erbrechts nach innen mußte sich das Fürstentum auf das allgemeine Wohl beziehen; es reichte nicht aus, auf die Macht oder Machtsteigerung des Hauses zu verweisen, sondern der Herrschaftsanspruch mußte sich auch durch den Bezug auf das allgemeine Wohl und das allgemeine Beste begründen. Es sind solche Leistungen gegenüber den Untertanen, die je länger desto mehr grundlegend für das Verhältnis von Fürst und Untertan wurden. Diese "Leistungsbilanz" wird dann aber gestört, wenn es wegen Aussterben des Hauses zu Erbfolgekriegen kam, wenn die Untertanen Kriege aus Anlaß der Erbauseinandersetzungen im Außenverhältnis zu anderen Fürstenhäusern hinnehmen mußten. Darin scheint mir eine Grenze des dynastischen Fürstenstaates zu liegen.

Koselleck: Ist die Primogenitur nicht auch ein außenpolitischer Rationalisierungsfaktor gewesen? Ich meine, daß Erbverträge zwischen den Dynastien und daraus entspringende Rechtsansprüche leichter zu erlangen waren, wenn durch die gesetzliche Regelung des Erstgeburtsrechts die Voraussetzungen, unter denen ein vertraglich gesicherter Anspruch geltend gemacht werden konnte, geklärt waren. Bei einer Vielzahl von Erben mußte der Wert erbvertraglicher Abmachungen doch geringer sein, weil im Konfliktsfall auch mit einer größeren Zahl von Erbschaftsansprüchen zu rechnen war. Kunisch: Ich würde so sagen, daß bei den frühneuzeitlichen Sukzessionsordnungen zunächst einmal die innenpolitische Komponente im Vordergrund stand, und ich würde auch die Lex regia noch dazuzählen, weil sie eine Legitimationsgrundlage vor der Dynastie, vor den Stän-

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den, also nach innen zu schaffen versuchte. Aber in einem der späteren Paragraphen wird dann auch der außenpolitische Aspekt angeführt, das habe ich schon erwähnt. Er besagt, daß ein geschlossenes Reich kräftiger sei als ein geteiltes, auch mit Blick nach außen. In den Anerkennungsurkunden für die Pragmatische Sanktion findet sich ein ähnliches Bild. Hier wird das außenpolitische Argument zum eigentlich tragenden. Das zeigt sich z. B. in der Argumentation des Reiches, das ja auch in das Gesetzgebungsverfahren im Hause Österreich einbezogen war. In den Bestätigungsschreiben zahlreicher Reichsfürsten wird das außenpolitische Argument übernommen, das in der Proposition des Kaisers bereits insinuiert worden war. Insofern wird das Prinzip der Unteilbarkeit und territorialen Integrität tatsächlich Bestandteil außenpolitischer Argumentation, selbst wenn beide Postulate immer wieder durchbrachen worden sind.

Naujoks: Frage: Was geschieht, wenn der vorgesehene Nachfolger bei der Primogenitur wegen seiner beschränkten Fähigkeiten, wegen seines geistigen Habitus oder gravierender körperlicher und sonstiger Mängel mit einiger Sicherheit als Thronfolger nicht die Erwartungen erfüllen kann, die man in den ältesten Sohn setzen muß? Liegt nicht der Gedanke nahe, dem fähigeren jüngeren Sohn die Nachfolge zu übertragen? Gibt es überhaupt Erbfolgeordnungen, in denen Überlegungen angestellt bzw. Bestimmungen eingesetzt werden, wenn beim ältesten Sohn und Thronfolger ein solcher Fall sehr kraß auftritt? J anssen: Sie haben, Herr Kunisch, konstatiert, daß diese Sukzessionsgesetze vor allem ein Produkt des 17. und 18. Jh. sind. Da Territorialteilungen im späten Mittelalter nicht so häufig sind, wie gelegentlich angenommen wird, könnte man vermuten, daß das Erbproblem innerhalb der Dynastenfamilien sich um diese Zeit, d. h. nach der Reformation, erst in voller Schärfe zu stellen begann, insofern diese Familien von da an dem Zwang ausgesetzt waren, die nachgeborenen Söhne vom Status des Herrschers auszuschließen und zu bloßen Privatleuten herabzustufen, während sie ja vorher durch die zahlreichen geistlichen Fürstentümer die Möglichkeit hatten, diesen Söhnen den Herrscherstatus weiterhin zu erhalten. Ein Beispiel für das problematische Verhältnis von Erbfolgerecht und Staatsintegrität ist die Teilung von Kleve-Mark-Jülich-Berg 1609, wo erbrechtliche Ansprüche ja noch einmal obsiegten, vielleicht begünstigt dadurch, daß der große Territorienverbund sich noch nicht zu einem staatsförmlichen Gemeinwesen hatte verfestigen können. Interessant dabei ist, daß die Doppelterritorien, aus denen sich dieses "Staats"-Gebilde zusammensetzte und die sich im ausgehenden Mittelalter gebildet hatten, gegen Teilungen bereits resistent waren.

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Kunisch: Vielleicht noch ein Wort zu Herrn Naujoks. Das Problem der Idoneität wird in den Erbfolgeregelungen, soweit ich sehe, nicht mehr erörtert. Es gibt nur eine Ausnahme, den seltsamen Fall Peters des Großen, der ein Erbfolgegesetz erlassen hat, das ihm die Auswahl eines Nachfolgers nach der Befähigung einräumte. Aber wie auch in dem erwähnten Sammelband "Der dynastische Fürstenstaat" in einem entsprechenden Artikel nachzulesen ist, blieb diese Thronfolgeregelung Episode. Die Romanoffs haben sich später zu einer ganz ausgeprägten Dynastiebildung bekannt. In Gesetzen wie der Lex regia findet sich die• serGedanke nicht mehr, und erwiesenermaßen ist ja gerade Dänemark ein Beispiel dafür, wie man nicht nur Schwachsinnige, sondern bösartig Schwachsinnige auf dem Thron geduldet hat.

Herr Janssen, die von Ihnen angestellten Überlegungen erscheinen mir äußerst erwägenswert. Auch Albert Werminghoff hat in seinem mehrfach zitierten Aufsatz schon Gedanken in dieser Richtung geäußert. Er hat meines Wissens als einziger ein entlastendes Argument auch zugunsten der Kinderhäufigkeit und der Notwendigkeit, alle Nachfahren standesgemäß auszustatten, vorgebracht und darauf hingewiesen, daß die Reformation hier einen Einschnitt bedeutet, weil die Möglichkeit der geistlichen Pfründen entfiel. Dadurch hat sich in vielen, gerade dann protestantisch gewordenen Territorien die Notwendigkeit der Apanagierung oder der Teilung ergeben. Das klassische Beispiel ist Sachsen, das in dem Tagungsband "Der dynastische Fürstenstaat" auch als ein Gegenbeispiel angeführt wird unter dem Titel: "Verpaßte Staatsbildung?". Ich habe damals während des Kolloquiums immer wieder die Frage gestellt, ob man das so sehen könne oder damit irgendwelchen fatalen Vereinfachungen aufsitze. Herr Klein aus Marburg, der Referent, hat bestätigt, daß das Teilungsprinzip von den Betreffenden als Beeinträchtigung und Gefährdung der territorialen Integrität empfunden worden ist. Dennoch hat man in den wettinischen Territorien in großem Stile geteilt. Aber sicherlich trifft zu, daß die Reformation eine Zäsur bedeutet und das Problem der Erbteilung in einigen Territorien verschärft hervortreten läßt. Kleinheyer: Drei Faktoren sind hier beteiligt: das Haus, die Stände und die Auswärtigen. Das Verhältnis dieser drei zueinander ist mir noch nicht ganz klar.

Da wäre zunächst das Haus. In erster Linie scheint die Erbfolgeregelung Sache des Hauses zu sein. Es vollzieht sich doch wohl dort die Überwindung des angeborenen Erbrechtes zugunsten der Primogenitur. Man vereinbart die Geltung der Primogenitur. Mir scheint die Schwierigkeit darin zu legen, daß hier im Grunde zwei Prinzipien aufeinanderstoßen, nämlich das privatrechtliche Erbprinzip, zum anderen das

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Prinzip der Abdingbarkeit durch Übereinkommen. Von seiten der Agnaten wirkt eine solche Übereinkunft wie ein Ermächtigungsgesetz: man begibt sich der eigenen Fähigkeit, dann noch Verfassungselement zu sein. Woher die Bindung der dann folgenden Generationen kommt, ist nicht leicht erklärbar, wie auch die Bindung an innere Hausgesetze überhaupt. Meine Frage wäre, ob es zur Begründung der Bindung der Nachkommen eventuell wieder erbrechtliche Faktoren gibt- etwa so, daß das Regiment des nun Regierenden als ererbt gilt und von denen anzuerkennen ist, die ihrerseits nachfolgen oder die Rolle der Nichterstgeborenen fortführen. Gibt es da erbrechtliche Kategorien, die zur Anerkennung führen, oder sind das dann Kategorien des Staatsrechts, etwa die Staatsnotwendigkeit? Meine zweite Frage gilt der Rolle der Stände. Wie oft ist die Mitwirkung der Stände hier wirklich genauso konstitutiv wie bei anderen Fundamentalgesetzen? Spielen sie nicht auch schon im Verhältnis zur Festlegung im Haus die Rolle von Auswärtigen, so daß hier eine Mitwirkung an sich nicht erforderlich ist? Das würde erklären, daß man sich in der Lex regia eigentlich über sie hinwegsetzt. Vielleicht haben wir hier zwei verschiedene Arten von leges fundamentales, nämlich solche, die vom Haus selbst festgelegt werden, und solche, die der Mitwirkung der Stände bedürfen, wie etwa die Reichsgrundgesetze und viele andere Fälle, in denen es um Angelegenheiten der Stände geht. Bei der Erbfolge handelt es sich eben nicht um eine ständische Angelegenheit, sondern um eine Angelegenheit des Hauses. Andererseits ist die Mitwirkung von Auswärtigen zumindest teilweise damit erklärbar, daß da auch Erbprätendenten in Frage kommen; auch sonst aber kennen wir die Hinzuziehung Auswärtiger zur Garantie innerer Verfassungszustände - sie ist nicht auf den Bereich der Erbfolge beschränkt. Kunisch: Herr Kleinheyer, ich würde gerade hier sehr vorsichtig sein, von öffentlichrechtlich und privatrechtlich zu sprechen. In der frühneuzeitlichen Form von Staatlichkeit ist das doch wohl eine Einheit. Meine These, von der ich ausgegangen bin, lautet ja etwa so, daß der monarchische Fürstenstaat des Absolutismus sich konstituiert durch die Dynastie als ein Rahmen, der natürlich zunächst durch Privatrecht, wenn man eine solche Begrifflichkeit nun übernehmen will, gekennzeichnet ist. Er regelt in einem für unsere Vorstellungen privatrechtliehen Sinne seine Erbfolgefrage durch Testamente, die in der Schublade des Fürsten bleiben und dann im Todesfall hervorgeholt werden. Selbst die Lex regia trägt ja bis zu einem gewissen Grade noch Züge des Arcanbereichs: man hat sich zu einem Veröffentlichungsakt dann ganz ausdrücklich erst sehr viel später entschlossen. Meine Vorstellung

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ist also, daß man die Hausangelegenheiten zunächst immer relativ privat geregelt hat. Im Laufe des 17. Jh. jedoch tritt dann immer mehr der Gedanke hervor, daß die Thronfolgefrage nicht nur die Familie angeht und auch nicht nur die Räte, sondern bereits viel weitere Kreise zieht. Diese Kreise werden immer größer, gehen über die Untertanen, das Land, die Territorien hinaus und erweitern sich schließlich zu einem Problem der internationalen Politik. Um die Mitte des 18. Jh. spätestens ist es dann üblich, die Erbfolgeregelungen der Dynastien bei den Höfen der anderen Mächte gewissermaßen zu hinterlegen, um ihnen auch die außenpolitische Anerkennung zu verschaffen. Zur Ständeproblematik ist mir noch ein weiterer Gedanke gekommen. Die Reichsstände haben in die Thronfolgefrage gelegentlich, z. B. im Bruderzwist des Hauses Habsburg, unmittelbar eingegriffen. Sie haben in der Wahlkapitulation für Kaiser Mattbias festgelegt, daß im Falle eines regierungsunfähigen Monarchen ein neuer proklamiert werden könne. Das ist ein wichtiger Vorgang, an dem abzulesen ist, daß auch die Stände staatsbildend gewirkt und Wert darauf gelegt haben, daß die monarchische Spitze, in welcher Form auch immer, handlungsfähig blieb. Dazu gehörte ein funktionsfähiges Haus mit den entsprechenden Kammergütern ebenso wie die Regierungsfähigkeit des Fürsten im Sinne der Idoneität. - Ihr außenpolitisches Argument ist mir nicht ganz klar geworden, Herr Kleinheyer. Kleinheyer: Es besagt, daß die Einbeziehung Auswärtiger keine auf Erbfolgeregelungen beschränkte Besonderheit darstellte, sondern ein allgemeines Instrument der Stabilisierung von Verfassungsregelungen war, wie dies der Westfälische Frieden zeigt. Kunisch: Aber ich würde doch sagen, Herr Kleinheyer, daß die Pragmatische Sanktion an sich eindeutig war. Die kaiserliche Diplomatie hat bloß eine Rücksprache mit Bayern unterlassen. Aber im übrigen war das Verfahren völlig legitim, ähnlich wie die Erbfolgefrage in AnsbachBayreuth, in die sich Österreich mit fadenscheinigen Rechtstiteln einzuschalten versucht hat. Brauneder: Zum Erbrecht hätte ich folgende Frage: Kann man einen Unterschied zwischen Sukzessionsordnungen von jenen Dynastien machen, die einer Monarchischen Union von Ständestaaten vorstehen, und jenen, die nur ein Land besitzen. Die Gefahr des Zerfalls der Monarchischen Union in ihre Länder, in einzelne Reichslehen (bis 1806) ist ja weit größer, als die Möglichkeit der Teilung eines Landes, eines Reichslehens. - Zum zweiten hat mich im Hinblick auf die Pragmatische Sanktion des Hauses Österreich sehr beeindruckt, daß die anderen Zwecke neben der Unteilbarkeit erwähnt wurden. Ausdrücklich auf

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diesen Teil der Pragmatischen Sanktion wird im politischen und verfassungsrechtlichen Geschehen des 19. Jh. des öfteren Bezug genommen: Aus ihnen leitet 1848 die Wiener Regierung einen Vorrang gegenüber der ungarischen ab; 1860 baut auf ihnen der Verfassungsversuch des "Oktoberdiploms" auf, von ihnen geht 1861 die neue "Reichsverfassung" aus, 1867 dienen sie dem sogenannten "Ausgleich" als Grundlage. Freilich ist nicht zu übersehen, daß es über die Art, wie alle Zwekke zu verfolgen und besorgen seien, unterschiedliche Auffassungen gab: Kurz skizziert war man in Wien der Meinung, diese Zwecke verlangten nach einem gemeinsamen Staat mit Ungarn; in Ungarn hingegen sah man lediglich eine bestimmte Verbindung zwischen zwei Staaten als gefordert an. - Noch die Antwort zu Herrn Stolleis: In Österreich folgte unmittelbar auf die Pragmatische Sanktion die Kodifikationsbewegung. Willoweit: Sukzessionsregelungen mit Anordnung der Primogenitur gibt es in größerer Zahl ja schon seit dem späten 15., als weit verbreitete Erscheinung seit dem 16. Jh. In dieser Zeit sind die machtpolitischen Ziele vor allem der mittleren und kleineren Territorien, in denen es die Primogenitur nun auch gibt, sicher begrenzt. Es geht um die Erhaltung des Erworbenen und um die Existenzsicherung des regierenden Hauses. Denn Teilungen bedeuten: weniger Untertanen, geringere Einnahmen, schwindender politischer Einfluß und damit Gefährdung durch mächtigere Nachbarn. Ich glaube daher nicht, daß für die Entstehung der dynastischen Erbfolgeregelungen schon Gesichtspunkte der inneren Entwicklung, die sich in einem Großstaatswesen besser vorantreiben läßt, eine Rolle spielen. Der Gedanke, die innere Struktur des Territoriums, etwa durch Ansiedlung neuen Gewerbes, fortzuentwikkeln, dürfte erst um die Wende vom 16. zum 17. Jh. Bedeutung gewinnen, wohl unter dem Einfluß des niederländischen Vorbilds. Ich glaube daher nicht, daß schon die Sukzessionsordnungen etwas mit staatlicher Entwicklungspolitik zu tun haben. Nicht selten, z. B. in Württemberg, sind es auch die Stände, welche in erster Linie an der Einheit des Staates interessiert sind. Andererseits hat selbst der Große Kurfürst, der die innere Entwicklung seines Staates wirklich vorantrieb, nichts dafür getan, das Konglomerat seiner Territorien dynastisch zusammenzuschmieden.

Gesetzgebungsgeschichtlich scheint mir die Bedeutung der Sukzessionsordnungen darin zu liegen, daß mit ihnen die Gesetzgebung das politische Gemeinwesen als Ganzes erfaßt. Der Staat wird selbst Gegenstand des Gesetzes. Dies scheint mir gegenüber sonstigen Formen der Gesetzgebung in der Tat etwas ganz Neues zu sein. Ohne diesen Schritt, ohne den Staat selbst zum Objekt der Gesetzgebung zu machen, wenn

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auch vorerst noch im Gewande einer dynastischen Regelung, hätte der Staat kaum Bestand haben können. Grimm: Es ist mir wie Herrn Willeweit in der Diskussion klar geworden, daß das Problem der Sukzessionsordnungen vielleicht in einen größeren Zusammenhang gestellt werden müßte. Dieser Zusammenhang scheint mir in der Aufspaltung der Rechtsordnung in höherrangiges. und niederrangiges Recht zu liegen. Eine solche Aufspaltung wird nötig, sobald Herrschaft nicht mehr als Wahrung einer vorgegebenen Ordnung betrachtet wird, sondern diese Ordnung allererst schaffen muß. Sie nimmt dann politischen Charakter an und kann wegen der unterschiedlichen Auffassungen über Politik nicht mehr unumstritten ausgeübt werden. Historisch unabweisbar tritt diese Situation nach früheren Ansätzen mit der Glaubensspaltung ein, die die unbestreitbaren überpositiven Grundlagen der Herrschaft zerstört. Damit entsteht die Notwendigkeit, Herrschaft auf neuer Grundlage außer Streit zu stellen, und zu diesem Zweck wird innerhalb des positiven Rechts eine Schicht höherrangigen Rechts abgesondert, das die Funktion des alten göttlichen Rechts. erfüllt. Einen wesentlichen Bestandteil dieses herrschaftsstabilisierenden höherrangigen Rechts, aber doch nur einen unter anderen, bilden die Sukzessionsordnungen. Kunisch: Was Sie gesagt haben, Herr Willoweit, ist ziemlich genau mein Anliegen gewesen. Ich bin von der Prämisse ausgegangen, daß sich die Dynastien in ihrer Selbsteinschätzung soweit versachlicht haben, daß sie sich schließlich als Organ eines schon abstrakt gesehenen Staates verstanden haben. Und insofern wird auch die Hausgesetzgebung plötzlich Bestandteil staatlichen Handelns. Das sehe ich auch so. Aber nun zu Ihrem Einwand. Mir scheint, daß da ein Mißverständnis vorliegt. Ich habe in meinem Vortrag ein Beispiel für die Zerstrittenheit unter geteilten Territorien gebracht. Diese schließen einen Vertrag untereinander mit dem Ziel, die Gravamina abzustellen, die etwa die verschiedenen Hofhaltungen mit sich bringen. So wird beklagt, daß es Finanzprobleme gab, weil jede der Hofhaltungen sehr viel Geld verschlang. Und im übrigen beanspruchten alle die Jurisdiktionsrechte. Aber gerade hier war eine Teilung schwer zu vollziehen. So entstanden Probleme, mit denen eine geteilte oder eine Herrschaft zur gesamten Hand nicht fertigwerden konnte. Ich habe das angeführt, um auf das Regelungsdefizit hinzuweisen, dessen nur ein geschlossener Fürstenstaat Herr zu werden vermochte. Vielleicht muß man das etwas abschwächen und im Einzelfall modifizieren, aber im Grunde bin ich Ihrer Meinung, daß es bei der Erhaltung der Einheit ganz einfach um die Erhaltung der Ressourcen und damit auch der Reputation ging. Das ist ein wichtiger Begriff, der schon bei Alfons X. von Kastilien auftaucht.

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Württemberg ist neben Mecklenburg ein Beispiel, wo sich auch die Stände an solchen Prinzipien orientieren. Und Brandenburg-Preußen: ich habe auf den Großen Kurfürsten hingewiesen, der tatsächlich ja zugunsten der Nachkommen seiner zweiten Frau Teilungsabsichten gehabt hat, die 1688 dann allerdings beiseite geschoben wurden. Am Ende ist man also bei der Primogeniturerbfolge geblieben, während die Erbteilungen Kaiser Ferdinands I. eben nicht korrigiert worden sind und nur durch das Aussterben der Nebenlinien schließlich wieder im Gesamtstaat aufgegangen sind. Nun noch ein Wort zu Ihnen, Herr Brauneder. Es gibt natürlich sehr unterschiedliche Staatsverbände in der frühen Neuzeit. Sie mögen mehr oder weniger der "Union von Ständestaaten" entsprechen, wie sie Otto Brunner gekennzeichnet hat. Als Beispiele sind Österreich, Brandenburg-Preußen und Schweden anzuführen. Aber wenn man genau hinsieht, sind die meisten Staaten dieser Zeit - wenigstens an den Rändern - noch teilbar gewesen. Ebenfalls standen überall bei den sich überschneidenden Erbrechten Territorien zur Disposition, und alle Kriegsziele des 18. Jh. verweisen darauf, daß jeder im System der Mächte mit fadenscheinigen Erbansprüchen sich die nächstbeste Randprovinz zu sichern versuchte. Insofern trifft die Vorstellung vom zusammengesetzten Territorienstaat generell wohl zu, - mehr oder weniger, das würde ich einschränkend sagen.

Kroeschell: Zunächst eine kleine Randbemerkung zu der Diskussion zwischen Herrn Kunisch, Herrn Kleinheyer und jetzt zuletzt Herrn Willoweit. Vielleicht darf man darauf hinweisen, daß es im 18. Jh. ja die juristische Teildisziplin des Fürstenprivatrechts gibt, die große Domäne von Johann Stephan Pütter in Göttingen. Das ist begrifflich zweifellos Privatrecht, als Thronfolgerecht aber zugleich in gewissem Sinne öffentliches Recht, und gehört so zum Arbeitsgebiet dieses großen Publizisten. Das drückt die Randlage dieses ganzen Fragenkomplexes ganz anschaulich aus. Was ich eigentlich sagen wollte, war etwas ganz anderes und führt vielleicht ein bißchen von dem weg, was zuletzt diskutiert worden ist. Ich wollte nur noch einmal zurückkommen auf das schon gestern erörterte Problem der Schriftlichkeit des Gesetzesrechts im Spätmittelalter und in der Neuzeit, insbesondere die Frage, ob zur Gesetzgebung unbedingt die Publikation in der einen oder anderen Form gehört. Es wäre vielleicht gut, sich noch einmal auf die großen Linien der Rechtsquellenlehre zurückzubesinnen, die im Mittelalter im kanonischen Recht ausgeprägt wurde und das gelehrte Recht auch später beherrschte. Da gibt es einerseits das jus oder die lex, also das Recht, das eines Beweises nicht bedarf, und zwar in der doppelten Erscheinungsform des

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jus commune und der örtlichen statuta. Es gibt auf der anderen Seite die Gewohnheiten (consuetudines), die aber des Beweises bedürfen, der dadurch sehr erleichtert werden kann, daß die consuetudines aufgeschrieben worden sind - was nichts daran ändert, daß sie Gewohnheiten sind und beweisbedürftig bleiben, im Unterschied zum Recht! Allerdings kann die Annäherung an die Geltungsqualität des Rechts sehr weit gehen, so daß man bisweilen dann zweifeln kann, ob die consuetudo in scripturn redacta nicht doch schon auf Haaresbreite an das Recht herangekommen ist, aber der grundsätzliche Unterschied bleibt doch bestehen. Zum Recht gehört nun aber in dieser Tradition des kanonischen und überhaupt des gelehrten Rechts ganz wesentlich, daß es ein jus scripturn ist, und dieses Merkmal der Schriftlichkeit vermag dann sogar den Unterschied von Recht und Gewohnheit zu überbrükken. Daß die consuetudo in scripturn redacta ist, ändert nichts an ihrer Qualität als consuetudo, aber sie ist immerhin eine consuetudo scripta und damit in wesentlichen Punkten an das jus scripturn angenähert. Das sind die ein wenig sich überkreuzenden Leitgedanken der mittelalterlichen Rechtsquellenlehre, von denen ich mir denken könnte, daß sie auch für die Beurteilung dieser Gesetzgebungsfragen von Bedeutung bleiben. Die Publikation freilich ist eine Frage für sich, denn die schriftliche Niederlegung eines Rechtstexts macht seine Publikation als Gesetz oder Statut nicht überflüssig. Vielleicht noch ein letztes Wort, auch das nur als Merkposten, ohne daß ich konkrete Folgerungen ziehen könnte. Man darf vielleicht daran erinnern, daß die sanctio pragmatica auch ein terminus technicus des spätantiken römischen Rechtes war, ein feierliches Kaiserreskript mit ganz bestimmten Begriffsmerkmalen wie etwa dem öffentlichrechtlichen Charakter. Vielleicht führt hier doch eine Linie von Traditionszusammenhängen aus der Antike über das Mittelalter in die neuzeitliche Gesetzgebungslehre hinein.

Stourzh: Sie erwähnten kurz, daß bei der Lex regia der Einfluß von Hobbes nachweisbar sei; es würde mich interessieren, von welcher Art hier die Hinweise oder Belege sind; es hat dann Herr Stalleis auch auf Bodin aufmerksam gemacht. Mich würde die Rolle Peter Schumachers gerade unter Bezug auf seine Rezeption der genannten politischen Denker interessieren. Eine weitere Frage zur Lex regia: Sie erwähnten, daß die Veröffentlichung erst wesentlich später- 1709- erfolgte. Gab es konkrete Anlässe dafür, und vor allem: wie weit ging der Arcancharakter der Lex regia vor dieser doch erst mehr als vierzig Jahre später erfolgenden Veröffentlichung; wie weit waren nicht doch die Grundlagen zumindest einem beschränkten Kreis auch im Ausland bekannt.

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Schließlich möchte ich zu einer ganz anderen Frage, die gerade erst von Herrn Willeweit angesprochen wurde, übergehen. Herr Willeweit betonte, daß in den Sukzessionsgesetzgebungen der Staat Gegenstand der Gesetzgebung wird, daß ja hier ein wesentlicher Schritt der Staatsbildung vorliege, und es wurde vom Umschlagen des patrimonialen in den modernen Staat gesprochen. Nun möchte ich an die Republiken, überwiegend Stadtrepubliken, des hohen und späten Mittelalters und der frühen Neuzeit erinnern. Es stellt sich die Frage, inwieweit ein gewissermaßen "abstraktes" staatliches Bewußtsein nicht in den Republiken des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, jenen "europäischen Ausnahmen" anzutreffen ist, früher als zumindest in einigen der von Dynastien, von "Häusern" beherrschten Territorialstaaten. Ich erinnere an eine Episode vom 21. Mai 1534, als Gaspara Contarini im Großen Rat der Republik Venedig die Nachricht von seiner Ernennung zum Kardinal erfuhr. "Che Cardinale? Io son Consigliere della Signoria di Venetia" soll er ausgerufen haben. Bedenkt man die zahlreichen Wahlgesetze, die zahlreichen Normierungen über die Bestellung und Sukzession von Amtsträgem in Republiken, bedenkt man, daß die "Entpersönlichung des Amtes" in den Republiken wohl früher entwickelt war als in dynastischen Staaten, eben weil es eine Mehrzahl von hohen und höchsten Amtsträgern, auch eine Rotation im Amte, gab, dann stellt sich die Frage, ob nicht der Staatsbildungsprozeß, unheselladet aller oligarchischen Verkrustungen, in den Republiken früher als in dynastischen Territorien vorangetrieben wurde.

Weis: Es wurde vorher über einen möglichen Zusammenhang zwischen den Primogeniturgesetzen und der Reformation gesprochen. Ich möchte zur Vorsicht raten: Die Primogeniturgesetze Badens, Brandenburgs, Württembergs, des albertinischen Sachsens und Bayerns sowie der Tübinger Vertrag von 1514, das Grundgesetz Württembergs, sind sämtlich vor der Reformation erlassen worden. - Zu einem zweiten Punkt: Ich bin ebenfalls der Ansicht, daß man - wie Herr Kleinheyer angeregt hat - unterscheiden muß zwischen Erbfolgegesetzen, die im Einvernehmen mit den Ständen erlassen wurden, und solchen, die als Familienverträge realisiert worden sind. Dabei spielen wohl auch die Epochenunterschiede eine Rolle. Das bayerische Primogeniturgesetz von 1506 ist im Einvernehmen mit den Landst änden und unter deren maßgeblicher Mitwirkung entstanden. Dagegen sind die Hausverträge der Wittelsbacher Linien im 18. Jh., welche die Grundlage der Erbfolge von 1777 und 1799 bildeten, ohne Mitwirkung der Stände zustandegekommen, was auch damit zusammenhängt, daß die Kurpfalz und Zweibrükken keine Stände besaßen und Altbayern nur Provinzialstände hatte. - Noch eine dritte Bemerkung: Wir haben hier von der großen Zeit der Dynastie gesprochen, auch von der geschichtlichen Rolle der Dy-

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nastien bei der Ausbildung des frühmodernen und des absolutistischen Staates, vom 15. bis zum 17. Jh. Es war aber auch in der späteren Zeit entscheidend wichtig, daß die Erbfolge geordnet war, damit der Staat funktionsfähig bleiben konnte. Wie bedeutsam dies war, wird klar, wenn man daran denkt, daß gerade besonders wichtige Vertreter des aufgeklärten Absolutismus keine Söhne hatten: Friedrich li., Josef II., Karl 111. von Spanien, Max 111., Joseph von Bayern und andere. In der Zeit des aufgeklärten Absolutismus modifiziert sich das Verhältnis zwischen Staat und Dynastie. In den großen Territorien wird die Dynastie schon jetzt mehr und mehr zum Organ des Staates; andererseits wird eine Trennung zwischen Staat und Dynastie, zunächst auf vermögensrechtlichem Gebiet, in die Wege geleitet, ein Prozeß, der sich dann in der deutschen Reformzeit auch für die mittleren deutschen Territorien fortsetzt. Seit der Reformzeit kann die neue Bürokratie mehr und mehr selbständig arbeiten, so daß sie auch bei Unfähigkeit des Herrschers die Geschäfte allein - und erfolgreich - führen kann.

Borck: In den Ausführungen meiner Vorredner wurde bei der Frage der Trennung des Territoriums von der Person der Territorialherren die Zeit des 16. Jh., also die Zeit der Reformation und das Verhältnis zur Reformation, mehrfach angesprochen. Mir scheint, es wäre interessant - auch wenn die Zeit es jetzt nicht mehr erlaubt, das Problem zu vertiefen, das Augenmerk doch noch einmal auf eine Sonderfrage zu richten, nämlich die Frage, ob und wenn ja, in welcher Weise die Ausbildung der Reichsverfassung im 16. Jh., die endgültige Organisation der Institutionen des Reiches, die ja in den Jahrzehnten nach 1495 erfolgte, Auswirkungen auf das heute erörterte Problem hatte. Wie nämlich 1356 in der Goldenen Bulle für die Unteilbarkeit der fürstlichen Territorien im Grunde die Sanktionierung der Organschaft dieser Kurfürsten ausschlaggebend war- das Kurfürstenkolleg als Wahlkörperschaft und auch numerisch die Siebenzahl der Kurfürsten blieben für Jahrhunderte festgelegt -, so kann man im älteren Reichsstaatsrecht des 18. Jh. ein zweites fixes Datum ausmachen. Nicht nur Johann Jakob Moser hat in seinem Teutschen und Neuen Teutschen Staatsrecht immer wieder herausgestellt, daß sich die Lösung des Stimmrechtes der Reichsstände und ihrer Reichsstandschaft von der Person des jeweiligen Landesherren, daß sich die Stimmrechtsbindung an die Übertragung des ganzen jeweiligen Territoriums auf das Jahr 1580 fixieren läßt; demgegenüber wären vorher, etwa in der Wormser Reichsmatrikel des J ahres 1521, die im Reichstag vertretenen Reichsstände in der Gestalt ihrer Fürsten, also natürlicher Personen geführt. 1521 konnten deshalb für ein Territorium noch mehrere Stimmführer in der Matrikel stehen; seit 1580 ist das nicht mehr der Fall. Von 1580

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an werden Stimmen nur noch für ganze Territorien gewährt und geführt. Es gibt daher, dies meine These zu den Ursachen der Staatsbildung durch Gesetzgebung, schon von der Reichsverfassung, vom Territorialprinzip der Reichsstandschaft, also der Vertretung im Reichstag, her die Notwendigkeit, eine Regelung auf der Ebene des jeweiligen Territoriums zu finden, weil die Stimmen seit 1580 sozusagen, um in der Sprache der Zeit zu bleiben, "dem Territorium ankleben". Meine Frage: Ist Ihnen dieser Gesichtspunkt der Reichsstandschaft, der Vertretung des Territoriums auf dem Reichstag, in der territorialen Gesetzgebung als Motiv begegnet? Kunisch: Meiner Erinnerung nach wird das Problem der Reichsstandschaft und der Stimmführung auf Reichs- und Kreistagen gelegentlich zwar erörtert, aber nicht als zwingendes Argument für die Beibehaltung oder Wiederherstellung der territorialen Einheit angeführt. Kunisch: Herr Stourzh, zuerst zu Ihnen. Zu den beiden konkreten Fragen nach Hobbes und Bodin und nach ihrer Bedeutung für die Lex regia gibt es sehr gute dänische Literatur, vor allem von Knut Fabricius. Darüber hinaus hat sich Carl 0. Böggild-Andersen mit diesen Problemen beschäftigt. Zum einen hat er eine Biographie von Peter Schumacher, dem Autor der Lex regia, geschrieben. Darüber hinaus liegt vom selben Autor das Buch: Statsumvaeltningen i 1660 vor. Dann zu der Publizierungsfrage: es gibt zwischen dem Datum der offiziellen Drucklegung im Jahre 1709 und der Abfassung der Lex regia noch ein Mitteldatum, nämlich die Thronbesteigung Christians V., des Nachfolgers Friedrichs 111., im Jahre 1670. Aus diesem Anlaß wurde die Lex regia wie später auch die Pragmatische Sanktion in der Form eines rechtssymbolischen Aktes in der Schloßkirche von Frederiksborg promulgiert. Aber festzuhalten ist, daß die Lex regia relativ früh schon einer relativ großen Öffentlichkeit bekannt war, bevor sie dann in aufwendiger Form gedruckt wurde. Dann zu Ihrem dritten Punkt, der Frage nach der Republik. Das ist ein sehr interessantes Problem. Ich hatte eigentlich vor, in meinem Vortrag Bezug zu nehmen auf eine Äußerung Friedrichs des Großen zu den verschiedenen Staats- und Herrschaftsformen. In seinem "Antiholbach" von 1770 hat er zugegeben, daß die Republik die besseren Gesetze habe, daß die Verfassung besser eingespielt und ausgefeilter sei als die der Dynastien. So brauchten die Dynastien zu ihrer Funktionsfähigkeit einen guten Monarchen. Das betrachtete er als eine schwere Hypothek. Aber er setzte wie auch die Staatsrechtier seiner Zeit, also etwa Justi, stillschweigend voraus, daß der Regent immer der gerechte, der aufgeklärte, der gute Monarch sei. Insofern hielt er die Staatsform letztlich für zweitrangig. Aber

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grundsätzlich schien ihm, daß die Republiken wegen ihrer differenzierten Verfassungsgesetze - gerade auch in Fragen der Nachfolgean sich wohl funktionsfähiger seien. Und nun zu Ihnen, Herr Weis. Vielleicht sollte man das Argument herumdrehen und sagen, daß die Reformation die Ausstattung der nachgeborenen Kinder für protestantische Familien erschwert hat. Die Habsburger, Wittelsbacher oder Schönborns haben nachgeborene Kinder immer mit geistlichen Pfründen ausstatten können. Für protestantische Familien war diese Möglichkeit der Versorgung praktisch verschlossen. Insofern trat dort eher die Notwendigkeit hervor, teilen zu müssen. Gerade Sachsen hat diesem Begehren nachgegeben. Und das ist möglicherweise doch mit der Reformation in Verbindung zu bringen. Ein solcher Gedanke wird auch bei Albert Werminghoff geäußert. Hofmann: Erlauben Sie mir, mit einer begrifflichen und zugleich begriffsgeschichtlichen Randbemerkung an die Diskussionsbeiträge der Herren Böckenförde, Kleinheyer und Willeweit anzuknüpfen. Und zwar möchte ich auf die Merkwürdigkeit, ja Widersprüchlichkeit hinweisen, die sich ergibt, wenn man auf die von Herrn Kunisch so eindringlich dargelegten Erscheinungen frühneuzeitlicher Staatsbildung durch fortschreitende Verrechtlichung des dynastischen Verbandes den Begriff der Erblegitimität anwendet. Denn wenn und insoweit diese quasi verfassungsrechtlichen Sukzessionsordnungen dynastischer Herrschaft Legitimität vermitteln, ist das Charakteristische an dieser Legitimität ja gerade, daß sie aus der Verneinung des traditionellen Erbrechts resultiert. Allerdings bezwecken die fraglichen Sukzessionsordnungen nicht, eine ererbte Herrschaft als solche zu rechtfertigen. Das war weder für den Landesherrn, der sich als Haus-Gesetzgeber betätigte, noch für dessen Nachkommenschaft das Problem. Problematisch und begründungsbedürftig war allein der Ausschluß möglicher Mit-Erben von der Herrschaft. Und dieses Ziel kann mit den erbrechtliehen Mitteln von Testament und Vertrag nur sehr unvollkommen erreicht werden. Es bedarf einer unpersönlichen Regel - eines Gesetzes. Die frühneuzeitliche Erblegitimität ist demnach eher eine Art legaler Herrschaftsbegründung.

Der Begriff der Erblegitimität hat in diesem Zusammenhang freilich noch einen anderen Aspekt. Er verneint die ständische Mitwirkung bei der Herrscherbestellung - freilich in einer ebenso indirekten wie elementaren Weise. Wird die Primogenitur nämlich nicht nur als eine Art Traditionsregel gehandhabt, sondern als bewußte politische Konstruktion eingesetzt, so entzieht sie jeder ständischen Mitwirkung einfach den Boden. Die Herrschaftsnachfolge hört damit ja auf, eine politische Frage zu sein. Sie wird zu einer religiösen Frage an den Herrn über Leben, Geburt und Tod einerseits und zu einer Frage more geometrico

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demonstrierbarer Verwandtschaftsbeziehungen andererseits. Mir scheint das eine typisch frühneuzeitliche, recht barocke Kombination von Religion und Kalkül. Im politischen Ergebnis bedeutet sie eine enorme Steigerung des Zufalls-Moments in der Frage der individuellen Tauglichkeit des Herrschers. Diese Zufälligkeit wird bewußt in Kauf genommen und - gerade in protestantischen Ländern - religiös kompensiert.

Gesetzgebung im Wirkungszusammenhang konstitutioneller Regierung* Von Ralf Grawert, Bochum "Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ,Es ist möglich', sagt der Türhüter, ,jetzt aber nicht'." Die Parabel entstand etwa ein Jahrhundert nach dem Bau von Verfassungszugäugen zum Gesetz. Sie stammt von einem Juristen, dessen einhundertsten Geburtstages in diesem Jahr zu gedenken ist, von Franz Kafka1 • Ihr zeitloser Sinn trifft viele geschichtliche Wirklichkeiten. Aus den Erwartungen, die sie ausdrückt, ist der Verfassungsstaat keineswegs entlassen. Aber er gibt - um im Bilde zu bleiben dem Gesetz ein neues Haus und zeigt den Wartenden einen gangbaren Weg. Wo dieser endet, muß immer wieder erfahren werden. Alle Unterhaltungen mit dem "Türhüter", die im zeitgebundenen Rahmen stattfinden, meinen letztlich Annäherungen an jenes "Gesetz", dessen Glanz der "Mann vom Lande" an seinem Ende wenigstens sieht. Am Anfang des 19. Jahrhunderts standen jedenfalls Ideen und Utopien von Gesetz und Gesetzgebung als Mittel zum Recht in Fülle bereit, um Neuordnungen des Gemeinwesens Maßstäbe zu geben2 • Durch

* Die in () gesetzten Passagen wurden aus Zeitgründen nicht vorgetragen. In den folgenden Fußnoten wird auf Schrifttumsnachweise weitgehend zugunsten von legislativen Quellen verzichtet, die wegen der Themenstellung und mangels einschlägiger Vorarbeiten zum Gesetzgebungsvergleich in einem repräsentativen, die folgenden Thesen über Reibungen und Häufigkeiten belegenden Umfang herangezogen werden, und zwar aus: Braunschweigische (Brg.) "Verordnungs-Sammlung" bzw. "Gesetz- und Verordnungs-Sammlung" (GV); Hannoversche (Hann.) "Gesetz-Sammlung" (GS) Abt. I, II, III; Großherzoglich-Hessisches (Hess.) "Regierungsblatt" (RegBl.); "Landes-Verordnungen des Fürstheutbums Lippe", ab Bd. 9 = Bd. 1 "Gesetz-Sammlung für das Fürstenthum Lippe" (Lipp. GS 8 bzw. 911); "Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten" (Preuß. GS); "Gesetzsammlung für das Königreich Sachsen" (Sächs. GS). Manuskript abgeschl. April 1983. 1 Franz Kafka (1883-1924), Vor dem Gesetz (Nov./Dez. 1914), aus: Ein Landarzt, zit. Franz Kafka, Die Erzählungen, Ausg. S. Fischer 1961, S. 135. 2 Dazu E.-W. Böckenförde, Gesetz u. gesetzgebende Gewalt. 2. Aufl. 1981; R. Grawert, Art. Gesetz, in: 0 . Brunner I W. Conze IR. Koseliek (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, S. 863, 879 ff. 8 Der Staat, Beiheft 7

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Rolf Grawert

die Konstitutionen der einzelnen Staaten wurden sie kanalisiert und infolge der Verfassungsanwendung Alltagsgeschäft. Dieser Vorgang soll in der Rechtswirklichkeit beobachtet und ausgemessen werden. Die Beobachtung beginnt im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts und endet bei der Gründung des Norddeutschen Bundes. Sie erfaßt die Gesetzgebungen von Staaten, die diesem Bund angehören und deren Entwicklungen alsdann in den Zusammenhang der Föderation eingehen werden: Braunschweig, Hannover, Hessen-Darmstadt, Lippe-Detmold, Preußen und Sachsen. Der Umfang des Anschauungsmaterials mag vor Kurzschlüssen schützen, zwingt aber auch zu Verallgemeinerungen und Vereinfachungen, wo die Praxis vielfältig ist. Der Staatenvergleich setzt Systematisierung voraus. (Bevor die Gesamtstaatsbildung seit dem Norddeutschen Bund gelingt, vollzieht sich die Gesetzgebung der konstitutionell-repräsentativen3 Monarchie in differenzierten, spannungsreichen Bezügen. Der Sache nach geht es um die Überleitung der bestehenden Verhältnisse des ancien regime in staatlich-staatsbürgerliche Ordnungen und um deren Strukturen. So erwachsen Gesetze aus dem ständigen Interessenstreit und -austrag zwischen monarchisch, altständisch und parlamentarisch orientierten Verfassungskräften. Die legislativen Leistungen sind teils auf die Einzelstaats- und teils auf die Bundesstaatsbildung ausgerichtet, die das zerstörte Reichsdach ersetzen soll 4 • Andererseits wirken die föderierten Gesetzgebungsgewalten des Deutschen Bundes und des Zollvereins von außen steuernd auf die landesbesonderen Initiativen zur rechten und zweckmäßigen Ordnung ein5 • Aus mehrfachem Anlaß sind also Stockungen, Beschleunigungen und Umbrüche der Rechtsetzung zu erwarten. In der Tat treten solche Momente im Laufe der beobachteten etwa fünfzig Jahre auf, vor allem in der nachnapoleonischen Anfangsphase, infolge revolutionärer Turbulenzen um 1830 und um 1848/49 sowie im Zuge des Preußischen Verfassungskonfliktes. Gleichwohl gibt es ansonsten eine bemerkenswerte Normalität, Pragmatik und Kontinuität gesetzgeberischen Wirkens. Insgesamt gesehen ' Zum Begriff H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, 2. Theil, 5. Aufl. Leipzig/Heidelberg 1863, § 343; der Begriff ist umstritten.

4 Die Lipp. Regentin begründet den Erlaß einer eigenen Ordnung des Verfahrens in Civil-Rechtssachen für die Ober- u. Untergerichte v. 27. 2. 1816 (GS 6, 299) mit der "Aufhebung der früheren Reichsgerichte" u. dem Umstand, daß die Bundesakte (BA) "die Selbständigkeit und Unabhängigkeit deutscher Fürsten glücklich sichert". 5 Systemat. Übersicht bei H. Zoepfl (Anm. 3), §§ 442 ff.; dazu BA 1815 Art. 12, 14, 16, 18, Schlußakte (SchiA) 1820, Art. 53 ff. i. V. m. den Karlsbader Beschlüssen u. Maßnahmegesetzen des Bundes. Zur Zollgesetzgebung E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 1960, S. 282 ff., 294 ff. Die Lipp. GS wird seit 1830 angefüllt von vorgegebenen Normwerken typisch für ein kleines Land.

Gesetzgebung im Wirkungszusammenhang konstitutioneller Regierung 115 - und eine solche Gesamtschau ist der Institution Staat allein angemessen - , vollzieht sich die Gesetzgebung in den Bahnen der laufenden Regierungstätigkeit. Sie bestimmt im wesentlichen Tempo und Umfang legislativer Staatsentwicklung und administrativer Staatsdurchbildung, eingebunden allerdings in die Maßgaben des konstitutionellen Systems.) Bevor die halbhundertjährige Gesetzgebungspraxis systematisch entfaltet wird, soll deshalb ihr Verfassungsrahmen bezeichnet werden. Dafür genügt eine Skizze, die die Hauptpunkte hervorhebt: die Gesetzgebungsorganisation und die Gesetzgebungsprogrammatik. I.

Die Bedeutung der Verfassungsgrundlagen läßt sich auch ohne staatstheoretische Einstimmungen aus der Handhabung der legislativen Gewalt ersehen. Seit der Geltung kodifizierter Konstitutionen weisen die Gesetze in besonderer Weise auf vorgegebene Regelungsaufträge und auf die Verfassungsmäßigkeit ihres Zustandekommens hin. Das Bemühen um die Verfassung als Grund und Grenze der Gesetzgebung ist offensichtlich. Es leitet zuweilen selbst den Verfassungsbruch, der als funktionsgerechter Ausnahmefall legitimiert wird0 • (So werden Ständekonflikte nicht selten durch legislative Notbehelfe überbrückt; aber man sieht gemeinhin zu, den Boden der Konstitutionen alsbald wieder zu erreichen7 • Dahinter steht nicht nur das strategische Konzept einer Verfassungsintegration der Staaten. Dahinter 8 Vgl. Hann. G., die mangelhafte Befolgung der Gesetze u. Verordnungen, sowie die Errichtung eines Staatsgerichtshofes betr., v. 7. 10. 1855 (GS I 241), das als NotVO ohne ständ. Zustimmung die Kontrolle von Gesetzen durch allg. Gerichte ausschließt, dann vorgelegt u. durch G. v. 7. 6. 1859 (GS I 669) aufgehoben wird. - Hess. Edict, die Übertragung der Polizeigerichtsbarkeit, einschl. der Forstgerichtsbarkeit in den Provinzen Starkenburg u. Oberhessen betr., v. 6. 6. 1832 (RegBl. 3). Erlaß "provisorisch" bis zum "verfassungsmäßigen Gesetz". - Die Auffassungen der Gesetzgebungskräfte entsprechen nicht der These von U. Scheuner, in: Bundesverfassungsgericht u. Grundgesetz, Bd. 1, 1976, S. 1 ff., 40, der Verfassungsvorrang sei in Deutschland nicht anerkannt worden. Bereits die preuß. Kammerverhandlungen lehren anderes. Allerdings fehlten weithin Sanktionsinstanzen u. -verfahren. Über die Praxis der Geltung von Staatsbürgerrechten wird Verf. demnächst berichten. Grundsätzlich zum Thema R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 7 Vgl. I-Iess. G., die gleichförmige Besteuerung der Gewerbe betr., v. 4. 12. 1860 (RegBl. 365), das nach ständ. Zustimmung die "einstweilen" erlassene VO v. 16. 7. 1858 ersetzt. - Zum Kurhess. Verfassungs- u. Budgetkonflikt vgl. die - zukunftsweisende - Stellungnahme des Preuß. AbgH, Anl. 96 zu StenBer. 1859/60. Ferner: Graf v. Merveldt in der Diskussion zur Jagdgerechtigkeit Preuß. HerrenH, 16. Stzg. 18. 2. 1854, StenBer. S. 182: "Eine Verfassung stellt . .. die Schranken für die Gesetzgebung selbst."

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steht auch nicht nur die Sorge vor den Folgen einer Verfassungswidrigkeit von Gesetzen, die das Schrifttum beschäftigen; Robert v . Mohl 8 akzeptiert immerhin den staatsbürgerlichen Ungehorsam, durch den "das Recht im constitutionellen Staate" letztlich "auf die Spitze gestellt" werden kann. Ungeachtet solcher äußeren Zwänge spielt doch das Prinzip der Legitimität eine eigene, tragende Rolle. Die Verfassungskaditikationen formalisieren dieses Prinzip und machen es durch Kompetenz- sowie durch Verfahrensbestimmungen praktikabel.) Ordnungspolitisch zeigen die Verfassungen eine Mischung aus Tradition und Konstruktion, das heißt: einerseits die "Rücksicht auf bestehende Verhältnisse" 9 , andererseits das Unternehmen einer "den gegenwärtigen Verhältnissen angemessenen" 10 Staatsgestaltung. Wie bekannt, durchläuft die sogenannte Verfassungsbewegung das 19. Jahrhundert keineswegs gradlinig. Bevor sie die Höhen des konstitutionellen Fortschritts in breiter Linie erreicht, gibt sie mehrfach der Neigung zum Alten nach. Das Bild der Entwicklung enthält daher die altständische Vergangenheit ebenso wie die napoleonische Zwischenordnung und den konstitutionellen Staatsentwurf. Bis auf wenige Ausnahmen wirkt allerdings der moderne Verfassungspositivismus auch dort kompositorisch und konstruktiv, wo das Hergebrachte berufen wird, da altständische Vorgänge gemeinhin in neu formierte Systemzusammenhänge eingeführt werden. (Jedenfalls weisen die Verfassungsentwicklungen und -lagen der verschiedenen Staaten beachtliche Unterschiede auf. Man muß daher schon "vom höheren Standpunkte" eines Robert v. Mohl 11 aus sehen, um in allem "nur verschiedene Spielarten derselben Gattung" erkennen zu können. Ein solcher Standpunkt mag für die konstitutionelle Doktrin richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Denn das Alltagsgeschäft der Gesetzgebung richtet sich nach den jeweils geltenden Verfassungen und nach den konkreten Verfassungsumständen der einzelnen Staaten. Daher lassen sich die "Spielarten" nur aufgrund ihrer Eigenheiten typisieren.) Einige Verfassungen organisieren die Gesetzgebung in Anlehnung an altständisch-dualistische Herrschaftsverhältnisse. Den Ständen werden gegenstands- und hoheits-, statt funktionsbezogene Mitwirkungrechte eingeräumt. Legislative Befugnisse machen dann nur einen Teil der Ständeposition aus, wenn die verbriefte Regierungsteilhabe auf wich8 R. v. Mahl, Staatsrecht, Völkerrecht u. Politik, 1. Bd., Tübingen 1860, S. 95; dazu das Anm. 6 zit. G. 8 Bad. Verfassungsurkunde (VU) 1818, Vorspruch. 1o Württ. VU 1819, Vorspruch. 11 R. v . Mohl (Anm. 8), S. 49.

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tige, aber verschiedenartige Landesangelegenheiten bezogen ist12. Die Verfassungsentwicklung läuft jedoch vornehmlich darauf hinaus, die Gesetzgebung in den Mittelpunkt der Ständezuständigkeiten zu rükken. In diesen Zusammenhang werden auch die - im Folgenden ausgesparten - Budgetangelegenheiten eingestellt, die maßgebend werden, je mehr der Staat Verwaltungsstaat wird. Was nun die Form der ständischen Mitwirkung an der Legislative anbetrifft, so verharren manche Konstitutionen gemäß altständischen Überlieferungen beim einfachen Beratungsrecht der Ständeversammlungen in Gesetzgebungssachen: so die bayerische von 1808, die hannoverische von 1819 und die braunschweigische von 1820. Ausdrücklich soll das "Recht auf Zuratheziehung bei neu zu erlassenden, allgemeinen Landesgesetzen" der allgemeinen Ständeversammlung Hannovers nicht mehr geben, als den einzelnen Provinziallandschaften zustand und zusteht13. Dieser Zustand wird zwar 1833 überwunden, 1840 aber restauriert und erst 1848 historisch. Er veranlaßt zum Vergleich mit den "konsultativen" - Beratungskompetenzen der preußischen Provinzialstände und des preußischen Staatsrates - beides neuabsolutistische Konstruktet4. (Immerhin bieten diese Regelungen mehr als die lippische Verfassung von 1836, die das Thema der legislativen Mitarbeit nicht anspricht. Dennoch gelangt die Praxis der Gesetzgebung ungeachtet monarchischer Widerstände gegen eine konstitutionelle Anerkennung von Ständerechten - bei restaurativen Unterbrechungen- zu "Beirath" und sogar zu "Zustimmung" 15, behält insgesamt aber ihren landesherrlichen Zuschnitt.) 12 Dazu umfassend P. M. Ehrle, Volksvertretungen im Vormärz, Teil 1, 1979, S. 73 ff., bes. S. 105 ff. (Waldeck, Nassau); Lipp, VU 1836, §§ 5 ff. 13 Hann. Patent, die Verfassung der allg. Stände-Versammlung des Kgrs. betr., v. 7. 12. 1819 (GS I 135) § 6, Zum Folgenden: Grundgesetz des Kgrs. v. 26. 9. 1833 (GS I 286) § 85: "Zustimmung"; Landesverfassungs-Gesetz für das Kgr. v. 6. 8. 1840 (GS I 141) samt Proclamation, die hiesige VerfassungsAngelegenheit betr. v. 10. 9. 1839 (GS I 195): Rückkehr zum Paten 1819;

dann G., verschiedene Änderungen des Landesverfassungs-Gesetzes betr., v. 5. 9. 1848 (GS I 261) § 65: "Landesgesetze ... nur unter Zustimmung der allg. Ständeversammlung . ..", aber "beschränkt . . . auf den wesentlichen Inhalt der Gesetze. Die Bearbeitung ... nach Maßgabe der ständischen Beschlüsse verbleibt der Regierung." 14 Preuß. Allg. G wegen Anordnung der Provinzialstände v. 5. 6. 1823 (GS 129) mit Ergänzungsgesetzen: vgl. G. A. Grotejend, Die Gesetze u. Verordnungen nebst den sonstigen Erlassen für den preuß. Staat u. das deutsche Reich, 1. Bd., Köln/Neuß 1875, S. 331 f.; VO wegen Einf. des Staatsraths v. 20. 3. 1817 (GS 67) 15 Zur Verfassungslage P. M. Ehrle (Anm. 12), S. 182 ff.; G. Engelbert, Der Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jg., Der Staat, Beih. 1, 1975, S. 103 ff., 108 ff Zur Praxis: VO, die Gemeinde-Verfassung betr. v . 2. 3. 1841

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Die meisten Verfassungen räumen hingegen den - gemeinhin in zwei Kammern gegliederten - "landständischen" Versammlungen ein echtes Mitbestimmungsrecht der Gesetzesbewilligung ein, das die staatsleitende Funktion der Gesetzgebung betrifft. Hierbei handelt es sich um die Teilnahme an der Ausübung der einheitlichen Staatsgewalt, deren Auftrag generell auf Beförderung der Staatseinheit lautet. Zwar wird dieses Konzept insoweit verformt, als Kammerzusammensetzungen besonderen Vertretungsinteressen folgen und nicht die gesamtstaatliche Repräsentation anstreben, wie sie insbesondere das auf das "Volk" bezogene, freie Abgeordnetenmandat ermöglicht16 • Doch stehen die gesetzgebenden Kräfte im Gesamtzusammenhang des Staatsorganismus, der Ordnung und Ziel ihres Wirkens ist. Grundsätzlich bleibt zwar der Monarch auch unter konstitutionellen Bedingungen Inhaber der Staatsgewalt, mithin der GesetzgebungsgewaJt1 7 • Aber er trägt sie schon unter dem Dach der Staatssouveränität. Und die Verfassungen führen die gewaltengliedernden Strukturen gemäßigter Regierungsformen ein. Wenn Art. 62 der preußischen Verfassung von 1850 bestimmt: "Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt", so wird mit der Gliederung zugleich die Zuordnung vorgenommen, die Entscheidungsbildungen ermöglichen soll. Die Gesetzgebungszuständigkeiten sind zwischen Ständen und Krone allerdings schon deshalb ungleichgewichtig verteilt, weil letzterer neben der Ausfertigung das weitreichende Verordnungsrecht verbleibt. Zuweilen bleiben noch "Gesetze" in Haus-18 und Kirchenangelegenheiten19 zustimmungsfrei. (Das mitwirkende Gesetzesbewilligungsrecht der Stände ist teils gegenständlich und gebietlieh begrenzt, teils auf die Wesensgehalte der Gesetze konzentriert20 , teils umfassend, wenn jedes (GS 8, 541): "Beirath"; VO, die Besteuerung des Brannteweins u. Biers betr., v. 18. 12. 1841 (GS 8, 779): "Zustimmung". 16 Dazu P. M. Ehrle (Anm. 12), S. 39 ff., 283 ff., sowie H. Zoepfl (Anm. 3), §§ 345 ff. 17 Vgl. u. a. L. v. Rönne, Das Staats-Recht der Preußischen Monarchie, 3. Auf!., Bd. 1/1, Leipzig 1869, S. 172. 18 Das Preuß. Edikt und (I) Hausgesetz über die Veräußerlichkeit der Kgl. Domänen v. 6. 11. 1809 (GS 604) gilt es lt. Vorspruch "abzuschließen" - dies betr. wohl die "Zuziehung aller Prinzen Unsers Kgl. Hauses" - u. zu beraten - dies betr. wohl die Zuziehung der Stände in den Provinzen" -: vertragen u. verordnen. In der VO v. 9. 3. 1819 (GS 73), die das Edikt auf weitere Landesteile erstreckt, gelten diese Normen als "staatsrechtliche Bestimmungen Unserer Monarchie"; sie erhalten damit die gleiche Qualität wie in anderen Staatenaufgrund der Verfassung. 19 Die Ausführung von Art. 15 Preuß. VU wurde von v. Raumer als Iandesherr!. Angelegenheit betrachtet. Aus Anlaß entspr. Petitionen reklamiert das AbgH. in den 60er Jahren insoweit die legislative Mitwirkung u. das Recht, die Verfassungserfüllung zu überwachen; vgl. bes. Bericht der X. Kommission des AbgH, Anl. 141 zu StenBer. 1862/63, S. 1498 ff.

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Gesetz in jeder Hinsicht der Beistimmung bedarf. So bestimmt § 86 der sächsischen Verfassung von 1831, ganz nach dem württembergischen Vorbild von 1819: "Kein Gesetz kann ohne Zustimmung der Stände erlassen, abgeändert oder authentisch interpretiert werden." Wo dagegen mit Gesetzen gerechnet wird, die entweder zustimmungsfrei oder zustimmungsbedürftig sind, leistet hauptsächlich die Freiheits- und Eigentumsklausel Abgrenzungshilfen. Doch bleibt hier wie dort die Bestimmung der Reichweite des Gesetzesvorbehaltes ein wesentliches Problem des konstitutionellen Verfassungsrechts. Bis es durch den Übergang zur demokratischen Parlamentsgesetzgebung abgelöst wird21 ,) bildet die Unterscheidung von Gesetz und Verordnung Anlaß zu verfassungspolitischen Auseinandersetzungen:!?. Die beobachtete Praxis läßt allerdings eher Verständigung erkennen23 . (Gesetzentwürfen der Krone wendet man sich in den Kammern und Kommissionen mit Ernst und Fleiß selbst dann zu, wenn das politische Klima ansonsten gereizt ist. Dafür gibt die Praxis in Preußen zahlreiche Beispiele ab. Nicht immer folgt Zustimmung. Aber die Arbeit des Eingehens und Überzeugens findet bemerkenswert häufig und intensiv statt. Dabei gibt es subtile Erörterungen der "Bedürfnisfrage", der "Territorialfrage" und der "Prinzipienfrage", wie jemand im Herrenhaus unterscheidet. Durchweg steht das Prinzipielle im Vordergrund - manches Gesetz steht und fällt mit den Beratungen seiner Tendenz und seines ersten Artikels. Die Zeitgenossen wissen sich im Umbruch und suchen Wege zur Sicherung oder Beförderung des "Richtigen".) Bereitschaft und Notwendigkeit der Verständigung ermöglichen auch die nahtlose Überleitung der vorkonstitutionellen Rechtsordnung in die nachkonstitutionelle. Die konstitutionelle Monarchie kennt insoweit keine "Stunde Null". Die Verfassungen formieren bestehende Staatsgebilde, statt neue zu begründen. So bleiben die geltenden Rechtsnormen trotz konstitutioneller Vorbehalte der Verfassungskonformität24 prinzipiell in Kraft25 • Ihr Fortbestand läßt die "bestehenden 20 Vgl. u. a. Brg. LandschaftsO v. 12. 10. 1832, §§ 95, 98 f.; Hann. VU 1848 (Anm. 13). 21 Dazu R. Grawert, Gesetz u. Gesetzgebung im modernen Staat, Jura 1982, s. 247 ff., 300 ff. 22 Nach dem Streit über die Zustimmungsbedürftigkeit der Vereinigung Lauenburgs mit Preußen löst Bismarck die Kammer auf: Preuß. AbgH 5. Stzg. 3. 2. 1866, StenBer. S. 58 ff.; spätere Gebietserwerbungen erfolgen durch Gesetz. 23 Vgl. u. a. die Hess. Abschiede 1822/24 (RegBI. 37), 1826/27 (RegBI. 145), 1829/30 (RegBI. 377), 1838/41 (RegBI. 21), 1841/42 (RegBI. 305), 1856 (RegBl. 333), 1856/58 (RegBI. 253), 1859/62 (RegBl. 263), 1862/65 (RegBI. 245) - dazwischen erhebliche Konflikte mit Ständeauflösungen. Ferner Lipp. LandtagsAbschiede 1845 (GS 313), 1847 (GS 24). 2' Brg. LandschaftsO 1832 § 232; Hann. VU 1840 § 182; Sächs. VU 1831 § 154.

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Verhältnisse" weiterhin intakt, bis der Gesetzgeber die Revision unternimmt. Auch dafür sind die gesetzgebenden Kräfte aufeinander angewiesen. Die Praxis zeigt, daß sie typischerweise aufeinander zugehen, um staats- und gesellschaftsbildend zu wirken. (In den hessischen Abschieden für die Stände-Versammlung pflegen die Umstände und Ergebnisse der Verhandlungen festgehalten zu werden. 1830 wird u. a. verzeichnet, daß das Gesetz über die Pensionierung von Widerrufsbeamten zustande gekommen ist, doch fügt der Großherzog hinzu: "Der Gesetzentwurf ... ist durch die in beiden Kammern erfolgten Abstimmungen dergestalt modifiziert worden, daß Wir Uns die wohltätigen Wirkungen . . . nur noch sehr unvollständig .. . versprechen können. Indessen werden Wir denselben ... mit den Abänderungen ... als Gesetz publiciren lassen, indem Wir Uns vorbehalten, diesen Gegenstand auf künftigen Landtagen abermals zur Sprache zu bringen, so lange, bis er auf eine . .. den wahren Interessen des Staatsdienstes entsprechende Weise erledigt worden ist." Das Gesetz von 1830 erhält dann 1858 seine neue Gestalt26. Der Vorgang verdeutlicht:) Die Intentionen und Anstöße kommen vomehmlich von seiten der Krone. Denn dort sind die Kenntnisse über die Lage des Landes organisiert. Dort ressortiert das Fachwissen einer ausgebildeten Staatsdienerschaft Dort laufen die Rückmeldungen zusammen, die aus dem administrativen Vollzug und aus der judikativen Anwendung27 der Gesetze entstehen. Dort werden Anregungen und "Bedürfniß" erwogen und den Ständen gegebenenfalls in Form von Gesetzesentwürfen präsentiert28 • Von dort aus kann überdies das Ver25 Repräsentativ Hann. Patent, die Publiestion des Grundgesetzes des Kgrs. betr., v. 26. 9. 1833 (GS I 279, 285): Aufrechterhaltung der "bestehenden" Gesetze usw. gern. dem, "was zu der Zeit ihrer Erlassung der Verfassung oder dem Herkommen gemäß war." Ebenso Hann. VU 1840, Schluß; Bad. VU 1818 § 82. 28 Hess. Abschied 1829/30 (RegBI. 377, 388); G. v. 14. 12. 1830 (RegBI. 467), v. 8. 1. 1858 (RegBI. 49). 27 Dazu Hann. G., die verbindliche Kraft der durch die Gesetz-Sammlung bekannt zu machenden Präjudicien des Ober-Appellations-Gerichts u. die Beseitigung einander entgegenstehender Entscheidungen in den Senaten betr., v. 7. 9. 1838 (GS I 213): Anzeigen an Justiz-Minister. 28 Ausweislich der Preuß. Praxis erwächst das "Bedürfniß" aus konkreten Umständen, deren Kenntnis durch Verwaltungs- u. Gerichtsberichte, insbes. durch Petitionen vermittelt wird. Die Kammern pflegen die an sie adressierten Petitionen in Kommissionen und Plenen zu beraten, um entweder "zur Tagesordnung" überzugehen oder an die Staats-Regierung zu überweisen, sei es "zur Erwägung", sei es zur "Berücksichtigung"; die Regierung pflegt zu reagieren - das diesbezügliche Material müßte noch ausgewertet werden. Der Sache nach veranlassen erfahrene Mißstände, Regelungslücken, Realentwicklungen Verfassungsaufträge. Vgl. z. B. Preuß. 1. Kammer 27. Stzg. 25. 2. 1854, StenBer. 1853/54, S. 439 ff. (Arbeitsmarktstörungen auf dem Lande - Gesindezucht); 2. Kammer Anl. 117 zu StenBer. 1854/55, S. 626 ff. (Konkursrecht u. Wirtschaftsentwicklung); Drs. 55 AbgH V. LP/2. Sess. 1860

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ordnungsrecht zur Intensivierung, Ergänzung, Initiierung und Ersetzung von Gesetzen aktiviert werden, letzteres vor allem aufgrund der Notverordnungskompetenz in Dringlichkeitsfällen. Bei der Krone werden Gesetzgebungspolitik und -praxis ständig und im Zusammenhang der monarchischen Regierung29 betrieben. Deshalb werden die internen Verfahren der legislativen Vorarbeit für den Monarchen auf Regierungsseite häufiger institutionalisiert und normiert. (Man denke an die einschlägigen Regelungen der Verordnung über die veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden in der preußischen Monarchie von 1810 sowie an die Verordnung wegen Einführung des Staatsraths von 181730 oder an die hannoverische Einrichtung eines GeheimrathsCollegiums "zur Berathung wichtiger Landesangelegenheiten, insbesondere der zu erlassenden Gesetze und Verordnungen", wie es in§ 154 des Grundgesetzes von 1833 heißt; 1848 tritt dafür ein beratender Staatsrat ein, dem Gesetze und Verordnungen als nunmehr "wichtige Regierungs-Angelegenheiten" anvertraut werden31 .) Insgesamt gesehen, organisiert also die monarchische Regierung aufgrund ihrer staatsleitenden Funktion auch das Geschäft32 der Gesetzgebung als Mittel zur Ordnung des Gemeinwesens und zum Ausbau des Landes, als Mittel zur Steuerung der Administration und zur Bindung der Rechtsprechung, -

als Mittel zur Umsetzung der außenpolitischen Vertragsgebarung.

(Verkehr mit Staatspapieren: "Anregungen aus der Kauffmannschaft"); HerrenH 6. Stzg. 4. 3. 1862, StenBer. 1862, S. 36 ff. (Ministerverantwortlichkeit gern. "Geist der Verfassung"). - Lt. Lipp. Landtags-Abschied 1845 (GS 9/1, S. 313, 335) sollen aufgetretene "Rechtscontroversen" nach Benehmen der Regierung mit den Obergerichten im Gesetzgebungswege zur "Entscheidung" gebracht werden. 29 Im umfassenden Sinne der Zeit, vgl. J. v. Pözl, Lehrbuch des Bayerischen Verfassungsrechts, 5. Auf!., München 1877: die "formellen Regierungsrechte" des Königs schließen ein die "gesetzgebende Gewalt" u. die "Regierungsgewalt"; R. v. Mahl, Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 2. Auf!., Tübingen 1840, S. 196 ff.; im übrigen W. Frotscher, Regierung als Rechtsbegriff, 1975, S. 105 ff. 30 VO v. 27. 10. 1810 (GS 3); VO v. 20. 3. 1817 (GS 67). Zur Arbeit des Staatsrates Hans Schneider, Der preußische Staatsrat 1817- 1918, 1952, s. 134 ff., 148 ff. 31 Hann. G. v. 5. 9. 1848 (GS I 261) § 104, dazu VO, den Staatsrath betr., v. 14. 2. 1849 (GS I 15). Ferner Lipp. VO, die Errichtung eines fürstl. Cabinets betr., v. 12. 9. 1853 (GS 11/3, S. 105); Hess. Bek. v. 10. 6. 1849 (RegBl. 357): "Gesammt-Ministerium" zur Stärkung der "Kräfte der Regierung", u. a. für "Gesetz-Entwürfe". 32 Preuß. InnMin. v. Westphalen (1. Kammer 68. Stzg. 9. 5. 1853, StenBer. S. 1441): "Die Regierung ist überhaupt nicht gewohnt, ohne vorherige Begründung und Sammlung der erforderlichen Materialien Gesetzesvorlagen vor dieses hohe Haus zu bringen."

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Von Verfassungs wegen beruht die Maßgabegewalt in erster Linie auf dem Recht des Monarchen zur Gesetzesinitiative. (Es ist in vielen Staaten bei ihm monopolisiert. So bestimmt § 76 der großherzoglich-hessischen Verfassung von 1820: "Gesetzesentwürfe können nur von dem Großherzoge an die Stände, nicht von den Ständen an den Großherzog gebracht werden." Infolgedessen können die Anlässe und Umstände der legislativen Kooperation einseitig gelenkt werden, zumal dann, wenn der Monarch auch wählen darf, ob er sein Gesetzesvorhaben bei der Ersten oder der Zweiten Kammer oder bei beiden zugleich beginnt33. Die weitere Befugnis, die Ständetagungen anzuberaumen und zu beenden, verstärkt diese Maßgabegewalt34 .) Die Stände können damit nur unvollkommen konkurrieren, sieht man einmal von der wechselnden Bedeutung ihrer politischen Stärke ab. Etliche Verfassungen gestehen ihnen lediglich das Recht der Gesetzespetition zu - so in Hessen-Darmstadt, aber auch in Baden35 • Kompetenter macht dann das Recht des Gesetzesantrags, das etwa die bayerische Verfassung von 1818 und die sächsische von 1831 konstituieren38. Wenn letzterenfalls sogar ein Gesetzentwurf samt Motiven vorgelegt werden darf, wird die Schwelle zur Befugnis der Gesetzesinitiative betreten. Diese Befugnis wird häufiger im Zuge der Verfassungsreformen von 1848 erstritten. Jetzt gilt für Bayern: "Das Recht der Initiative für Gesetze, die keine Verfassungsgesetze sind, steht jeder der beiden Kammern zu." In Sachsen hat 1849 sogar jeder Abgeordnete das Recht, in der Kammer, zu welcher er gehört, Gesetzesentwürfe einzubringen37 . Diese Vielfalt der Initiativen trägt gewiß zum Wettbewerb mit der Regierung bei, bedeutet Publizität und Einfluß auf den Verfahrensablauf, kann auch die Verantwortung der Stände stärken. Doch bleibt die konstitutionelle Kräftegewichtung gewahrt, indem Kammerinitiativen - wie in Preußen - oder Ständeinitiativen - wie anderwärts - vom Monarchen verworfen werden dürfen38. Der maßaa I. d. R. Wahlfreiheit außer bei Steuer- u. Finanzgesetzen, die erst an die 2. Kammer gehen; vgl. u. a. Preuß. VU 1850 § 62 111, dazu aber die Verfassungs- u. Geschäftsordnungskontroverse im AbgH 14. Stzg. 24. 1. 1853, StenBer. S. 143 ff., sowie den Kommissionsbericht Anl. 71 zu StenBer. der 2. Kammer 1859/60. Ferner Hess. G. hinsichtl. der größeren Werke der Gesetzgebung v. 10. 5. 1842 (RegBl. 237). u H. Zoepfl (Anm. 3), § 370: Regierungsumbildung oder Ständeauflösung als Lenkungsmittel des Monarchen. a5 Hess. VU 1820 § 76 S. 2; Bad. VU 1818 § 67; zuerst so Nassau 1814 § 2

Nr. 2. 36 Bayer. VU 1818 Tit. VII § 19; Sächs. VU 1831 § 85 II, 111. u. ähnlich Hann. vu 1833 § 88. 37 Bayer. G., die ständ. Initiative betr., v. 4. 6. 1848, Art. 1; Sächs. G. über

das Recht der Kammern zu Gesetzesvorschlägen v . 31. 3. 1849 (GS 58); ferner Preuß. VU 1850, Art. 64 I.

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gebende Erlaß der Gesetze und Verordnungen bleibt dem Monarchen vorbehalten. Er setzt die Beschlüsse in Kraft. Dadurch wahrt die monarchische Regierung die Rechtsbeziehung zu den Gesetzesadressaten, an die sich die Gesetze nicht in kooperativer, 38 In Preußen verteilen sich die Gesetzesinitiativen u. -beschlüsse pro ausgewählter Session des HerrenH wie folgt (HerrenH StenBer. 1858/59, Bd. 1, S. 415; 1859/60, Bd. 2, S. 768 ff.: Beil. zur 37. Stzg.; 1860/61, 1. Bd., S. 725 f.: Beil. z. 35. Stzg. 1861/62 u. 1862, 2. Bd.: Anl. S. 211, Beil. z. 23. Stzg.; 1863/64 Drs. 49; 1864/65 Drs. 140 aus 1865, S. 180 f.; 1866/67 Drs. 161, S. 136 f. - es handelt es sich um Ergebnisberichte des Präs. des Herrenhauses; ()-Angaben sind errechnet).

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