Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15.3.–17.3.1993. Red.: Reinhard Mußgnug [1 ed.] 9783428489541, 9783428089543

Das Entstehen des modernen Staates und sein Heranwachsen zu seiner heutigen Gestalt sind gründlich untersucht und vielfa

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Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15.3.–17.3.1993. Red.: Reinhard Mußgnug [1 ed.]
 9783428489541, 9783428089543

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Entstehen und Wandel verfassungsrechtIichen Denkens

BEIHEFTE ZU "DER STAAT" Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenrorde, Winfried Brugger, Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Fritz Ossenbühl, Helmut Quaritsch, Rainer Wahl

Heft 11

Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens

Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15. 3. - 17. 3. 1993

Duncker & Humblot · Berlin

Redaktion: Prof. Dr. Reinhard Mußgnug, Heidelberg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Der Staat I Beihefte] Der Staat: Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte. - Berlin : Duncker und Humblot. Teilw. mit Nebent.: Beihefte zu ..Der Staat" Reihe Beiheft zu: Der Staat NE: Der Staat / Beihefte H. 11. Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens. - 1996 Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen DenkeRs: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15.3. - 17.3. 1993/ [Red.: Reinhard Mussgnug]. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Der Staat; H. 11) ISBN 3-428-08954-5 NE: Mussgnug, Reinhard [Red.]; Vereinigung für Verfassungsgeschichte

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 3-428-08954-5

Inhaltsverzeichnis Jürgen Miethke: Die Anfänge des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späteren Mittelalters ................................................................

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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Stolleis: Die Idee des souveränen Staates

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Aussprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerhard Robbers: Die Staatsrechtslehre im 19. Jahrhundert

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Aussprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 120

Peter Badura: Die Dogmatik des Staatsrechts im Wandel vom Bismarckreich über die Weimarer Republik zur Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 133 Aussprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158

Martin Heckel.· Die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert.. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. 165 Aussprache....................................................................... 195 Zusammenfassende Aussprache .................................................... 201 Verzeichnis der Redner .............................................................. 231 Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte ............................... 232 Verzeichnis der Mitglieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 235

Die Anfänge des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späteren Mittelalters* Von Jürgen Miethke, Heidelberg

Das mir gestellte Thema führt in mehrfache Ungewißheit. Wenn ich hier die Unsicherheit ~iner genaueren Bestimmung dessen, was mit "Säkularisierung" gemeint sein könnte, zunächst einmal beiseite lassel, so lautet seine These, daß, zumindest in seiner säkularisierten Form, der "Staat" der Neuzeit erst im Laufe des Mittelalters "angefangen" hat, daß er zu Beginn des Mittelalters noch nicht existierte, an dessen Ende aber greifbar wird. Diese These nimmt implizit Stellung zu jenem alten Streit um den "Staat des Mittelalters", der heute zwar nicht ausgestanden, wohl aber abständig ist. Dietmar Willoweit hat in seiner Deutschen Verfassungs geschichte auf wenigen Seiten ein knappes Resümee gezogen und seine eigene Aufgabe definiert als "die Ermittlung jener geschichtlichen Elemente, welche die politische Ordnung einer Zeit bestimmt haben,,2. Damit wird bei der verfassungsgeschichtlichen Arbeit der Begriff des Staates nicht mehr vorausgesetzt, sondern soll selbst zum Objekt einer Bemühung um "diejenigen rechtlichen Regeln und Strukturen" werden, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägten. Hier wird ein "historischer Verfassungsbegriff" zum Ziel gesetzt, der seine juristische Dignität nicht aus der Methode, sondern aus der Konzentration des Blicks auf die Rechtsvorstellungen im Gemeinwesen gewinnt. • Der Vortrag wird hier im allgemeinen in der Form belassen, in der er am 15. 3. 1993 in Hofgeismar zur Diskussion gestellt worden ist. Nur Belege und Nachweise wurden in strikter Beschränkung ergänzt, auch wurde er um exemplarische Skizzen einzelner Positionen mittelalterlicher Theorien erweitert, die aus Zeitmangel im Referat nur angedeutet werden konnten. Abgeschlossen wurde das Ms. im September 1993. 1 Dazu eingehend und weiterführend Martin Heckel, Säkularisierung, Staats kirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie, in: ZSRG kan. Abt. 66 (1980), S. 1-163; vgl. auch Werner Conze, Wollgang Strätz, Hermann Zabel, Säkularisation, Säkularisierung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Hrsg. atto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 789-829. 2 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, München 2. Aufl., 1992, vgl. bes. S. 1-8, Zitate: 3 und 2.

Jürgen Miethke

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Der alte Streit zwischen den Fakultäten der Juristen und Historiker scheint damit wenn nicht geschlichtet, so doch auf eine gemeinsame Basis gehoben, in einen gemeinsamen Raum von Bemühungen um das Verständnis vergangener Lebenswirklichkeiten gestellt. Ein Historiker wird sich in diesem Raum in derselben Unbefangenheit bewegen dürfen wie der Jurist. Auch ich betrete bei den folgenden Überlegungen zu den Anfängen des säkularisierten Staates im Mittelalter diesen Raum, freilich mit allgemein historischer, nicht spezifisch juristischer Blickrichtung. Ich werde also nicht nach jenen Elementen der juristischen Begriffsbildung in der Lehre mittelalterlicher Rechtsgelehrter fragen, die später für das Staatsrecht wichtig geworden sind. Ich kann auch in der knappen Frist, die mir gesetzt ist, nicht die politischen und sozialen Entwicklungen der mittelalterlichen Herrschaftsordnung selber in den Blick nehmen, die zu dem hinführten, was man den Staat der frühen Neuzeit nennt. Ich beschränke mich vielmehr auf das Selbstbewußtsein, das Zeitgenossen im Mittelalter im Blick auf Staat und Staatlichkeit entwickelt haben, und will berichten über die Anfänge des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späten Mittelalters, frage also nicht nach objektiven Elementen, die sich als Teilformen oder Vorformen des säkularisierten Staatsbegriffs der Moderne bereits im Mittelalter auffinden lassen, sondern nach deren Wahrnehmung im Mittelalter allgemein, um zu prüfen, ob sich eine gewisse Tendenz feststellen läßt. Vielleicht hilft dieser Ansatz auch dazu, am Ende einige Bemerkungen zum Begriff der Säkularisierung im Zusammenhang unseres Themas zu versuchen. Auch in dieser Einschränkung ist die Aufgabenstellung immer noch fast unerträglich breit gespannt. Kaum läßt sie sich in einem Vortrag erfüllen. Ich muß daher um Nachsicht bitten dafür, daß ich, wo geduldige Einzelinterpretation nötig wäre, mich mit knappen Charakterisierungen begnügen muß, vor allem aber, daß ich vorwiegend nur einige Scharnierstellen der Entwicklung anspre~hen kann, nicht dagegen die verschiedenen Ansätze und Entwürfe "unterwegs", die doch für die Gesamtentwicklung vielleicht ebenso wichtig waren. Damit sehe ich mich zu jener durchaus nicht unproblematischen geistesgeschichtlichen Darstellung gezwungen, die Friedrich Meinecke einmal anschaulich als "Gratwanderung" zwischen den Gipfelmassiven der Hauptautoren beschrieben hat 3 , eine Wanderung, die auf die Wirklichkeit in den einzelnen Tälern, die sich unterhalb der Höhen öffnen, eine häufig nur verzerrte Perspektive freigibt, sofern sich diese Täler nicht ganz dem Blick entziehen, so daß jedenfalls eigene Explorationen dieser Täler dringend erforderlich bleiben. Hier aber kann solche Erkundung leider nicht geleistet werden. Freilich will ich versuchen, bei unserer Gratwande3

Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München 1936, S. 6.

Die Anfänge des säkularisierten Staates

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rung auch einen allgemeinen Blick auf die Generalkarte nicht zu unterlassen, d. h. ich werde skizzenhaft und andeutungsweise auch einige Bemerkungen zu dem allgemeinen institutionellen Rahmen der mittelalterlichen theoretischen Arbeit nicht vermeiden können, um wenigstens eine grobe Verortung der hier angeleuchteten Positionen im gesellschaftlichen Kontext ihrer eigenen Lebenswirklichkeit zu ermöglichen. Fragen wir nach den Anfängen eines säkularisierten Staates, so ist es ratsam, Staat und Staatlichkeit vor allem in ihrer Konfrontation mit Kirche und Kirchlichkeit aufzusuchen. Wir werden in dieser Konfrontation, die in ihrer Bedeutsamkeit sich vielfältig begründen und einsichtig machen ließe, jedenfalls am ehesten mit Aussicht auf Erfolg unsere Suche beginnen können. Es wäre schön, könnten wir uns nun sogleich an die politische Theorie des Mittelalters wenden, um zu prüfen, was dort über Staat, Staatlichkeit, Herrschafts ordnung usw. ausgesagt ist. Aber wo die Ordnung des Gemeinwesens schon für einen heutigen Betrachter allenfalls in Rudimenten als "Staatswesen" identifizierbar ist, kann eine politische Theorie von Zeitgenossen, die als Staats denken oder als Verfassungsdenken qualifiziert werden könnte, nicht unmittelbar erwartet werden. Im frühen Mittelalter ist es überhaupt schwierig, Texte auszumachen, die sich als "politische Theorie" charakterisieren lassen. Gewiß, politisches Denken hat es auch damals vielfältig gegeben; eine theoretische Bemühung um politische Fragen aber, die Phänomene und Regelungen der politischen Ordnung der Gesellschaft mit theoretischer Absicht abgrenz bar im Horizont einer besonderen Denkbemühung, und also "theoretisch", ins Auge fassen wollte, gab es doch nur in eher schüchternen Ansätzen und in - freilich bedeutsamen - Ausnahmefällen. Die politische Ordnung war im Frühmittelalter allgemein noch ungeteilt und ununterschieden Teil des allgemeinen Lebens, wie sich auch Herrscher und Kirche nicht eigentlich gegenüberstanden, sondern beide, König und Bischof, sich als Träger verschiedener Ämter in dem einen größeren Ganzen, dem christlichen Volk Gottes, der ecclesia, verstanden haben, ohne freilich dieses Gesamt selbst zum Gegenstand ihrer Reflexion zu machen. Das alles schloß natürlich ein "massives Staatskirchentum,,4 keineswegs aus, durch welches Herrscher, wie vor allem die Karolinger, immer wieder die Mittel und Möglichkeiten der Kirche, ihre materiellen Ressourcen und ihr Legitimationspotential in voller Breite und unmittelbar zu ihren eigenen Gunsten in Anspruch genommen haben. Und umgekehrt konnte der Herr4 So charakterisiert etwa Theodor Schieffer die Kirchenherrschaft Karls des Großen in: Handbuch der europäischen Geschichte, Hrsg. Theodor Schieder, Bd. 1: Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter, Hrsg. Th. Schieffer, Stuttgart 1979, S.569.

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scher an seine Pflichten aus solcher Wurzel auch von der Kirche durchaus nachhaltig erinnert werden. Politische Theorie im näheren Verstande hat sich aus all dem nicht, noch nicht entwickelt. Duo sunt quippe, imperator auguste, quibus principaliter mundus hic regitur, auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas, in quibus tanto gravius pondus est sacerdotum, quanta etiam pro ipsis regibus hominum in divino reddituri sunt examine rationem ... 5. Diese berühmte "gelasianische Formel" aus dem Ende des 5. Jh., die Kirche und politische Welt nicht wie zwei voneinander abgrenzbare Institutionen einander gegenüberstellte, sondern Herrscher und (römischen) Bischof als Doppelinstanz gleichsam nebeneinander setzte, war und blieb in ihren elastischen Formulierungen vielfacher Auslegung fähig. Im Frühmittelalter jedenfalls zwang sie den Träger eines kirchlichen Amtes keineswegs in unüberbrückbare Gegnerschaft zum weltlichen Herrscher und damit in eine Situation, welcher die Kirche kaum schon gewachsen gewesen wäre. Freilich hielt der Text beide Instanzen ja gerade zu einem Zusammenwirken an, machte den Priester, den Bischof gleichsam erst zu einem kooperationsfähigen Partner, der dem Inhaber der politischen Gewalt als eigenständige Kraft gegenüber trat, ja versteckt und verschwiegen ließ sich die Formel auch bereits dahin verstehen, daß der priesterlichen Würde ein höherer Rang als dem weltlichen Herrscher gebühre, ohne daß vorerst irgendwelche konkreten Folgerungen aus dieser Behauptung gezogen schienen. Wir brauchen uns in die Mäander der Auslegungs- und Anwendungsgeschichte der Formel 6 nicht hineinzubegeben. In seiner schwebenden Ungenauigkeit, ihrer nur scheinbaren, weil durch rhetorische Begriffsumschreibungen bestimmten Beleuchtung eines schwierigen Verhältnisses war der Text geeignet, sehr unterschiedlichen Lagen als Etikettierung zu dienen. Und diese Brauchbarkeit verlor die Formel auch nicht, als längst die früheren Verhältnisse sich gewandelt hatten, als im Hoch- und Spätmittelalter nicht mehr "nur" Herrscher und Bischof, regalis potestas und auctoritas sacrata pontificum, einander gegenüberstanden, sondern mehr und mehr die Kirche selbst sich als eigene Organisation, als eigene Institution aus dem Gesamtgefüge der Christenheit ausgrenzte und ausgliederte, als sie ein eigenes Selbstbewußtsein immer deutlicher formulierte und damit auch An5 Gelasius 1., Ep. ad Anastasium I. imperatorem (a. 494), ed. Eduard Schwarz, Publizistische Sammlungen zum akazianischen Schisma, in: Abh. Bayer. Akad., Philos.hist. Klasse, NF 10, München 1934, 20,5-28; danach leicht zugänglich etwa bei Heinrich Denzinger, Enchiridium symbolorum, bearb. von Adolf Schönrnetzer, 32. Aufl., Barcelona, Freiburg i.B. 1963, nr. 347. 6 Klassisch geblieben ist die Studie von Lotte Knabe, Die gelasianische Zweigewaltentheorie bis zum Ende des Investiturstreits ([Eberings] Historische Studien, 292) Berlin 1936. Für das spätere Mittelalter vgl. etwa die Skizze in: Jürgen Miethke, Arnold Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, Zum Verhältnis von Staat und Kirche im späten Mittelalter (Historisches Seminar, 8) Düsseldorf 1988, S. 13-59.

Die Anfänge des säkularisierten Staates

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sprüche, herkömmliche und bislang unerhörte gleichermaßen, an die nunmehrige Außenwelt stellte. Daß das Zeitalter der Kirchenreform im sogenannten Investiturstreit eine neue Stufe der politischen Theorie in der mittelalterlichen Geschichte selber erreicht hätte, kann nicht ohne weiteres behauptet werden. Es läßt sich fast im Gegenteil sagen, daß diese Epoche des radikalen Umbruchs und der erbitterten Konflikte für theoretische Reflexion dieser Art eher weniger förderlich gewesen ist1. Die Auseinandersetzungen um Verbot von Laieninvestitur und Priesterehe, um simonistische Ketzerei und die kirchliche Freiheit verlangten zwar fast ständig und überall nach Begründung und Legitimation des Herkömmlichen ebenso wie auch ganz ungewohnter Schritte, gleichwohl gingen solche Überlegungen keineswegs sofort in jene Richtung, in der sich später politische Theorie im eigentlichen Sinn entwickeln sollte. Zunächst ging es um die Reinigung der Kirche von als unerträglich empfundenem Mißbrauch, weniger um eine theoretische Durchdringung und Konstruktion des Gebäudes oder gar seine Einpassung in seine Umgebung. Für die Zukunft freilich wurde mit der Durchsetzung der scharf gezogenen Trennungslinie zwischen Geistlichem und Weltlichem, zwischen Klerikern und Laien, zwischen Kirche und Welt eine neue Grundlage gelegt: es sollte sich zeigen, daß die neue Lage noch lange die Bedingungen der politischen Reflexion mitbestimmte. Freilich hatte die Partei der Kirchenreformer am Ende nicht die alte Welt völlig aus den Angeln gehoben, wenn auch kräftig verändert. Vielfältig erwiesen sich die Kräfte der alten Ordnung als lebensfähig und zeigten ihre Beharrlichkeit. Auch die sich konsolidierende Amtskirche erschien weiterhin in ihrer gesellschaftlichen Umwelt fest verwurzelt, zu fest, als daß eine reinliche Absonderung der Sphären realistisch vollziehbar gewesen wäre. Nach langem schmerzhaftem Ringen wurde schließlich in den Konkordaten des frühen 12. Jh. eine praktische Grundlage für künftige Entwicklungen gelegt. Die intellektuellen Anstrengungen, die diese Lösungen vorbereitet und ermöglicht hatten, welche vor allem von kirchlichen Intellektuellen, von Kirchenjuristen, erbracht worden waren, ließen allgemein ein neues Selbstvertrauen und einen gewissen Theorieoptimismus entstehen. Freilich waren es nicht allein diese Leistungen der Vergangenheit, die dann im 12. Jh. eine neue Phase der theoretischen Arbeit auch auf dem Felde der politischen Reflexion heraufführten. In dieser Zeit veränderten sich 7 Die Tiefe des Wandels verdeutlicht (in einem nachgelassenen Aufsatz) Karl Leyser, Am Vorabend der ersten europäisch~n Revolution, Das 11. Jh. als Umbruchszeit,

in: HZ 257 (1993), S. 1-28. Eine neuere Ubersicht über die "politischen Ideen" dieser Zeit bietet Tilman Struve, Regnum und Sacerdotium, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Hrsg. !ring Fetscher, Herfrled Münkler, Bd. 2: Mittelalter, München 1993, S. 189-242.

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Jürgen Miethke

im Zuge großer allgemeiner Umbrüche auch die Bedingungen theoretischer Bemühungen in ganz Europa fundamental, da mit der europäischen Universität der institutionelle Rahmen theoretischer Arbeit in ein neues Stadium trat 8 . Es war nicht allein die Verdichtung des Netzes von Unterrichtsorten in verschiedenen Gegenden Europas, die diese neue Qualität heraufführte, wenn auch ohne Frage die generelle Vermehrung der Quantität von qualifiziertem Personal einen qualitativen Sprung in der Entwicklung bedeutet hat. Wo früher ein Magister seine Schule geleitet hatte, drängten sich nun Konkurrenten: das zeitgenössische Stichwort für die Folgen ist invidia 9 , die Konsequenzen sind Streitigkeiten und disziplinäre Kalmierungsversuche. Aber die Entwicklung ließ sich, wie es sich rasch erwies, nicht eigentlich steuern. An einigen Orten, und zwar bezeichnend genug an verschiedenen Orten unabhängig voneinander, wurde ein Ausweg aus dem Wildwuchs gefunden in der Formierung der Universität als einer genossenschaftlichen Korporation, die in Selbstbestimmung und privilegiengeschützter Autonomie ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln lernte. Die Universität wurde nicht schlagartig oder in einem bewußten Erfindungsakt geboren, sondern entstand tastend, in mehreren Anläufen, in Konflikten, auch von Parallelentwicklungen anderwärts lernend und fremden Vorbildern nacheifernd, z.T. auch vom rechtlichen Gestaltungswillen der päpstlichen Kurie mitgeformt (aber nicht hervorgebracht)lO. Es ist bezeichnend, daß unter höchst unterschiedlichen lokalen Bedingungen und weit entfernt voneinander, in Bologna, sodann (wohl ein wenig später) in Paris und (wiederum wahrscheinlich in leichter zeitlicher Versetzung) in Oxford, damals Hochschulen entstanden sind, die allesamt durchaus zu Recht Universitäten genannt werden dürfen und die allesamt auch einen so breiten Fundus von funktional durchaus äquivalenten Regelungen ihres Innenlebens und ihrer Außenbe8 Zusammenfassend dazu jetzt: A History of the University in Europe, ed. Walther Rüegg, voLl: Universities in the Middle Ages, ed. Hilde de Ridder-Symoens, Cambridge 1992 (dt.: Geschichte der Universität in Europa, Hrsg. Walther Rüegg, Bd. 1: Mittelalter, München 1993). 9 Der bekannteste Beleg dafür dürfte die "Historia calamitatum" Peter Abaelards sein, vgl. die Ausgabe von Jacques Monfrin (ed), Abelard: Historia calamitatum (Bibliotheque des textes philosophiques) Paris (1. Aufl. 1959) 2. Aufl. 1967. - Die (inzwischen modisch gewordenen) Zweifel an der Authentizität dieses Textes teile ich nicht: ich gehe weiterhin davon aus, daß diese Schrift im wesentlichen aus Abaelards Feder stammt, kann das hier aber natürlich nicht im einzelnen belegen. Besonders schwerwiegend erscheint mir die Argumentation von Arno Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, Welten des Mittelalters, München 1988, S. 172 f., der auf die Identität der Zeiterfahrung in der Hist.cal. und bei Abaelard hinweist. 10 Vgl. Jacques Verger, Patterns, in: History of the University (FN 8), bes. S. 35-74, dt.: "Grundlagen", S. 49-80. Vgl. auch Werner Maleczek, Das Papsttum und die Anfänge der Universität im Mittelalter, in: Römische Historische Mitteilungen 27 (1985), S. 85-143, der freilich m.E. Gestaltungsfreiheit und Gestaltungswillen der Kurie überschätzt.

Die Anfänge des säkularisierten Staates

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ziehungen aufweisen, daß sie, je für sich oder gemeinsam, bald anderwärts ein eifrig nachgeahmtes Vorbild neuer Gründungen abgeben konnten. Für uns ist wichtig, daß hier eine Institution gefunden war, in der sich die konkurrierende Kollegialität verschiedener Gelehrter aus unfruchtbarem Zwist zu gemeinsamer Arbeit bündeln konnte. Der langgestreckte Entwicklungsprozeß der Universität war um 1300 noch keineswegs abgeschlossen, vielmehr markiert das erste Jahrzehnt des 14. Jh. mit dem ersten Auftauchen des Namens universitas in unseren Quellen gerade erst den Beginn eines selbstbewußten Weges, der sich noch Jahrzehnte lang hinziehen sollte. Damals erst wurden in langsamer und nicht immer klar belegbarer Entwicklung die inneren Organisationsformen: die Fakultäten, die Nationen, die Rektoratsverfassung, die Graduierungen, definitiv ausgeprägt. Jetzt erst konnte die Rechtssicherung durch Privilegien des königlichen Landesherren oder des Papstes wie auch eine stetigere Finanzierung Schritt für Schritt in Angriff genommen werden. Vor allem aber kam es, auf der Basis, die das 12. Jh. gelegt hatte, erst jetzt zu einer definitiven Fixierung der Grundmethoden des Unterrichts im "scholastischen" Wissenschaftsbetrieb. Damals wurde der Kanon der Wissenschaften für Jahrhunderte fixiert. Ich will nur ein Beispiel herausgreifen: die altüberkommene Ordnung der sieben Artes liberales wurde auch an den jungen Universitäten gewiß weiter gepflegt, doch sie bestimmte auch an den Artes-Fakultäten, die doch nach dieser Tradition ihren Namen führen, bald, und das heißt bereits im 13. Jh., nicht mehr ausschließlich oder auch nur maßgeblich die Tafel der Unterrichtsfächer oder Lehrgegenstände. Wie die Konkurrenz der Magister an einem Ort in die korporative und kooperative Verfassung der Universität gemündet war, so fand die Ausdifferenzierung der Wissensgebiete und Gegenstandsbereiche ihre Entsprechung in der Gliederung der Universitäten in den fachlich gebundenen Fakultäten. Jede Fakultät bildete über ganz Europa und seine Universitäten hin wiederum in einer erstaunlichen Gleichförmigkeit und mit großer Schnelligkeit nicht nur die methodischen Instrumente des jeweiligen wissenschaftlichen Vorgehens, die "scholastische Methode" in ihrer je fachspezifischen Sonderausprägung aus, alle Fakultäten haben darüber hinaus - in der Regel bereits bis zur Mitte des 13. Jh. - auch die für die scholastische Buchwissenschaft maßgeblichen Textgrundlagen festgelegt, z.T. indem sie längst vorliegende Bücher als solche Grundlagen anerkannten, z.T. indem sie den Stoff allererst verfügbar machten durch neue Übersetzungen oder durch kompendiöse Zusammenfassung zu neuen Textcorpora. Bibel und Sentenzenbuch des Lombarden wurden so bei den Theologen, die griechischen und arabischen Ärzte bei den Medizinern, die Rechtscorpora bei den Juristen, und bei den Artisten wurde zunehmend vor allem

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Jürgen Miethke

Aristoteles die maßgebliche Grundlage. Darüber hinaus haben die Universitäten in dieser Zeit auch - und das ebenfalls weitgehend gleichförmig die ersten Arbeitsinstrumente fixiert, die es erlaubten, mit diesen Grundtexten auch auf dem Niveau gemeinsamer Standards umzugehen. Die jeweilige "Glossa ordinaria" zur Bibel, zum Corpus Juris Civilis, zu Dekret u:nd Dekretalen, der Commentator Averroes bestimmte künftig die bei der Arbeit an den Grundtexten zu bewältigende Stoffmenge zumindest mit, und daran sollte sich auch in Zukunft, noch ganze Jahrhunderte lang, nichts Wesentliches ändern. Was hat das alles mit unserer Frage nach den Anfängen des säkularisierten Staates im Mittelalter zu tun? Ich wollte mich mit diesen - zugegebenetwas weitgefaßten Bemerkungen einiger zwar bekannter, oft aber nicht genügend in Rechnung gestellter Vorbedingungen theoretischer Arbeit im späteren Mittelalter vergewissern, die auch für die Frage nach Elementen einer modernen Staats auffassung in der politischen Theorie des Mittelalters wichtig gewesen sind 11. Dabei mußte ich nolens volens davon absehen, mich mit nur einem bestimmtem Fach, mit nur einer einzigen Fakultät zu beschäftigen, da politische Theorie - und damit das Problemfeld, innerhalb dessen wir für unsere Frage nach den Anfängen eines Staatsbegriffs eine Antwort suchen wollen - im Fächerkanon der mittelalterlichen Universität keinen spezifischen Platz hatte. In keiner einzigen der mittelalterlichen Fakultäten hat sich "Politik" als festes, regelmäßig behandeltes und in sich abgeschlossenes pflichtmäßiges Spezialfeld etablieren können. Das sollte nun aber keinesfalls etwa ausschließlich als Nachteil gebucht werden, ist es doch zugleich auch Ausdruck der damals üblichen und immer wieder anzutreffenden Situation, daß nämlich für politische Fragen grundsätzlich alle verschiedenen Fächer als gleich zuständig bzw. unzuständig gelten konnten. Dementsprechend konnte man sich im Zweifelsfall, wenn man denn überhaupt einen" theoretischen" Expertenrat wünschte, prinzipiell an sehr verschiedene Adressen wenden. Und in der Tat, betrachten wir die Debatten, in denen politische Theorie sich ausformte, so zeigt es sich, daß sich keineswegs etwa nur eine einzige Fakultät an der Diskussion beteiligt hat. Daß an der mittelalterlichen Universität von politischen Phänomenen nicht eigens die Rede war, hatte demnach nicht nur einen Hemmungseffekt, sondern hat zugleich auch das Spektrum der Sprachangebote verbreitert, in denen sich die theoretische Formulierung politischer Fragen vollziehen konnte. Damit waren die "Leitdisziplinen" vermehrt, in deren Rahmen man sich orientieren konnte, mit deren Mitteln man Antworten auf drängende Fragen suchen mochte und in deren 11 Dazu auch Jürgen Miethke, Politische Theorie und die Wissenschaften der mittelalterlichen Universität im 14. Jh., in: Revista da Faculdade de Ciencias Sociais e Humanas. Universidade Nova de Lisboa 7 (1994), S. 329-358.

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Sprache man Probleme und Antworten zu formulieren vermochte. Daß wir bei der Suche nach den Anfängen eines säkularisierten Staatsbegriffes keineswegs allein bei den Juristen nachforschen dürfen, ist damit deutlich. Theologen, Angehörige der Artistenfakultät, selbst Mediziner beteiligten sich je und dann an den theoretischen Auseinandersetzungen in wechselnder Intensität und brachten Aspekte ihrer je eigenen Tradition in die Debatte ein. Wenn wir den Anteil der Mediziner 12 einmal hier beiseite lassen, so konnte den Theologen kaum jemand ihre Kompetenz streitig machen, auch in politischen Fragen ihre Stimme zu erheben. Theologen hatten es, auf der Grundlage der biblischen Weisung seit langem, längst vor der Entstehung einer wissenschaftlichen Theologie immer wieder getan und wurden nicht müde, das auch weiterhin zu tun, zumal sie bei verschiedenen Gelegenheiten immer wieder auch zu Predigten, Ratschlägen oder Beurteilungen herausgefordert wurden oder sich herausgefordert fühlten. Freilich hatte die scholastische Theologie wohl vielfältige Aussagen über das Leben der Christen in Welt und Kirche zu machen, eine eigene Betrachtung der Politik, im Sinne einer politischen Ethik, gab es kaum, umso weniger, als auch die Kirche als Institution erst sehr allmählich in das Blickfeld der Theologen trat. Gewiß war die Kirche, ihre Lehre, ihr Leben, ihre Sakramente, ihre Geistlichen und deren Pflichten stetig im Visier der theologischen Arbeit. Die Argumente und Ergebnisse der früh- und hochscholastischen Autoren sind von fundamentaler Bedeutung für ein Verständnis der mittelalterlichen Kirche 13 . Gleichwohl konnte Henri-Xavier Arquilliere einen Text des Jakob von Viterbo aus dem Jahre 1302 bei seiner Erstedition (1926) mit einer gewissen Plausibilität "Le plus ancien traite de l'Eglise" nennen 14 • 12 Hier wäre vor allem an die Bedeutung der Mediziner für die Rezeption der aristotelischen Schriften zu erinnern. Für die frühe Zeit vgl. bereits die Bemerkungen von Aleksander Birkenmajer, Le röle joue par les medecins et les naturalistes daI!s la reception d' Aristote au XII" et XIII" siecles (1. Aufl., 1930), jetzt in: Birkenmajer, Etudes d'histoire des sciences et de la philosophie du moyen äge (Studia Copernicana, 1) Breslau, Warschau, Krakau 1970, S. 73-87; zu Spätmittelalter und Renaissance jetzt vor allem Charles B. Schmitt, Aristoteles bei den Ärzten, in: Der Humanismus und die Oberen Fakultäten, Hrsg. Gundolf Keil, Bernd Moeller, Winfried Trusen (DFG, Mitteilung XIV der Kommission für Humanismusforschung) Weinheim 1987, S. 239266, mit reichen Literaturhinweisen. 13 Kompendiöser knapper Überblick bei Yves Marie-Joseph Congar, L'Eglise de Saint Augustin a l'epoque moderne (Histoire des dogmes IIII3, Paris 1970, dt. u.d.T.: Die Lehre von der Kirche, in: Handbuch der Dogmengeschichte III/3, Freiburg, 1970). 14 Henri-Xavier Arquilliere, Le plus ancien traite de l'Eglise: Jacques de Viterbe, "De regimine Christiano" (1301/1302), Paris 1926, S. 85-310; dazu vgl. etwa David Guttil€rrez, De beati Jacobi Viterbiensis OESA vita operibus theologica, in: Analecta Augustiniana 16 (1937/38) (auch selbständig: Rom 1939); Elcko Ypma, Recherches sur la carriere scolaire de Jacques de Viterbe, in: Augustiniana 24 (1974), S. 247-282; Marino Damiata, Alvaro Pelagio, teocratico scontento (Biblioteca di Studi Francescani 17, Florenz 1984), S. 307-339.

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Das späte Auftreten einer eigenen Literaturform und Traktatgattung De ecclesia bedeutet nun freilich nicht, daß Theologen und Nichttheologen sich davor gehütet hätten, die ekklesiologischen Überlieferungen der Kirche schon früh analog auf andere Argumentationsfelder zu übertragen und überhaupt auf sie in Polemik und Gegenpolemik mehr oder minder ausgiebig zurückzugreifen. In jedem, auch dem handfestesten Konflikt zwischen Bischöfen und Adel konnte solcher Rückgriff hilfreich sein; denn wenn auch eine geschlossene Theologie und Theorie der Kirche nirgendwo zusammengefaßt nachlesbar war, man wußte oder glaubte zu wissen, was Kirche heißt, und konnte dieses Wissen argumentativ einsetzen. Damit standen für die Beschreibung des kirchlichen sozialen Verbandes zugleich auch Autoritäten und Präzedentien in großer Zahl zur Verfügung in einer Dichte, wie sie die Tradition zu anderen Fragen nicht immer bereit hielt. Hier brauchte man nur selten einen älteren Text mit allen Mitteln und Kunstgriffen der scholastischen Interpretation auf einen neuen mittelalterlichen Zweck hin zuzuschneiden, hier konnte man die Texte, wie sie zu finden waren, oft unverändert einsetzen. Freilich sprachen die verschiedenen Texte und Traditionen keineswegs unisono, vielmehr aus sehr verschiedener Richtung, dissonant und verschiedenartig. Für die politische Theorie sind denn auch unterschiedliche Modelle von Wichtigkeit geworden, die hier nicht ahe in Betracht genommen werden sollen. Auf eine Überlieferung freilich sei ein eigener Hinweis gegeben, da sie oft übersehen wird, obwohl sie einen schwer zu unterschätzenden Einfluß auf das Denken der Eliten und zugleich breiter Kreise gewonnen hat, ich meine die Schriften des sogenannten Pseudo-Dionysius Areopagita, die bisweilen gewiß nur über den Begriff der "Hierarchie" ihre Wirksamkeit entfalteten, die aber auch von vielen bedeutenden Theologen der Früh-, Hoch- und Spätscholastik ausführlich ausgelegt und kommentiert worden sind. Hugo und Richard von St. Viktor, Robert Grosseteste, Albertus Magnus, Bonaventura und Thomas von Aquin, Meister Eckhard und Nikolaus von Kues, um nur die wahrhaft illustren Namen zu nennen, reihen sich zu einer Kette, die noch viele weitere Glieder kennt. Hier war, zunächst für die Engelchöre, ein Versuch gemacht worden, aus biblischen Andeutungen, neuplatonischer Spekulation und dunklen Überlieferungen eine Ordnung in die Scharen der himmlischen Geistwesen zu bringen, eine Ordnung, die jedem einzelnen Gliede seine Vollkommenheit ließ, wo aber doch auch alle insgesamt Gottes Vollkommenheit geschlossen widerspiegeln durften. Nach Gottes Willen, so war es die Überzeugung des Verfassers, sollten Obere, Mittlere und Untere gemeinsam und im Einklang miteinander zu Gott kommen; durch die Oberen sollten die Unteren vermittels der Mittleren erleuchtet, gereinigt, geleitet und schließlich vollendet werden, wobei jede Stufe für sich vollkommen werden konnte und sollte nach Gottes Willen.

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War das bereits für die himmlischen Heerscharen ein grandioses und attraktives Bild, so wurde diese spekulative Schau geradezu unwiderstehlich, wo der Autor in einer anderen Schrift "De hierarchia ecclesiastica" in der irdischen Ämterordnung der Kirche eine genaue Entsprechung der transzendenten Hierarchie der Engel identifiziert und breit ausgeführt hat. Auch hier führen im Rhythmus von Dreiergruppen die Oberen über die Mittleren die Unteren zu Gott empor, auch hier teilt sich in einem komplexen, doch in ästhetischer Einfachheit streng symmetrisch aufgebauten Gefüge das Gesamt aller Beteiligten in allseitigem Zusammenwirken miteinander die allgemeine Aufgabe. Die Abstufungen sind klar und unübersteigbar, und doch führt das gesamte System zu dem gottgewollten Zweck. Hier lag eine Anwendung auf das politische System sozusagen in der Luft, denn Kohärenz und die Ausrichtung einer sozialen Gesamtheit auf eine gemeinsame Aufgabe erscheinen hier in einem attraktiven Miteinander zusammengedacht. In der ersten Hälfte des 13. Jh. schon ist der weltliche Herrschaftsapparat von Theologen in Analogie zur hierarchischen Ordnung des Pseudo-Dionysius beschrieben worden, wobei zunächst eine bloße Parallelität ins Auge gefaßt worden zu sein scheine 5 . Wir werden zu verfolgen haben, was am Ende des 13. Jh. geschah, als das Verhältnis von weltlicher Herrschaftsordnung und Amtskirche insgesamt mittels des Hierarchiebegriffs konstruiert und verstanden worden ist. Zunächst bleiben wir bei unserem Rundgang durch die Sprachangebote, die die verschiedenen Fakultäten der jungen europäischen Universität für politische Reflexion bereithielten: neben den Theologen, in gewissem Sinne sogar vor ihnen noch, waren die Juristen zuständig für soziale Beziehungen und ihre Bewertung. Die Kanonisten hatten die komplexen Rechtsüberlieferungen der Kirche zu verwalten, und sie lernten es, durch juristische Kompetenzanalyse und präzise Verfahrensregeln auch harte Konflikte des Alltags zu durchleuchten und nach überprüfbaren Kriterien entscheidbar zu machen. Im Dekret Gratians lag die Tradition gewissermaßen abrufbereit, im Dekretalenrecht der Päpste konnten die Ergebnisse der Begriffsarbeit der Juristen für die alltägliche Praxis der Weltkirche normativ werden. Die Legisten, die das spätantike "Corpus Iuris Civilis" und damit auch eine 15 Insbesondere bei Wilhelm von Auvergne; vgl. bereits B. Vallentin, Der Engelstaat, Zur mittelalterlichen Anschauung vom Staate (bis auf Thomas von Aquino), in: Grundrisse und Bausteine zur Staats- und Geschichtslehre, zusammengetragen zu Ehren Gustav Schmollers, Hrsg. Kurt Breysig, Berlin 1908, S. 41-120; zum Areopagiten allgemein auch Rene Roques, L'univers dionysien, Paris (1. Aufl., 1954) 2. Aufl., 1978. Neuerlich bietet eine knappe Einführung Adol! Martin Ritter (Hg.), PseudoDionysius Areopagita, "Über Mystische Theologie" und "Briefe", eingeleitet, übersetzt und mit Anm. vers. (Bibliothek der griechischen Literatur, 40), Stuttgart 1990, S. 1-73. Eine Monographie zur Dionysiusrezeption des Mittelalters ist von David Luscombe (Sheffield) zu erwarten, der bereits zahlreiche Einzeluntersuchungen vorgelegt hat.

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kaum überschaubare Masse antiker Jurisprudenz und Staatslehre als Grundlage ihrer Überlegungen in Händen hielten, vermochten ihrerseits die zeitlich von ihnen selbst so abständigen Prinzipien des römischen Altertums auf ihre eigene Lebenswelt in heute schwer verständlicher Direktheit anzuwenden 16 . Nicht daß die Juristen sogleich ein Staatsrecht ausgebildet hätten: das konnte erst sehr viel später geschehen, denn allein die Rechtstraditionen in den unterschiedlichen Ländern Europas waren sehr verschieden, so sehr, daß übergreifende Theorien sich nur in Ansätzen zu entwickeln vermochten. Die mittelalterlichen Ausleger des römischen Rechts entwikkelten aber einige wie selbstverständlich angesetzte Prinzipien des spätantiken Dominats zu Rechtsregeln fort, denen sie generelle Bedeutung zuzusprechen gewohnt waren; denn solche Maximen waren in den Texten durchaus zu finden, genug jedenfalls, um die Phantasie anzuregen und Anwendungen zu induzieren. Die römischen Kaiser des Mittelalters, die Herrscher des deutschen Reichs, des imperium, bzw. regnum Romanorum, die sich als unmittelbare Fortsetzer und Rechtsnachfolger der antiken Imperatoren verstanden, hatten scheinbar zunächst die besten Chancen, solche antiken Vorstellungen aufzugreifen. Die Schwierigkeit bestand auch nicht in einem Mangel an Versuchen, die seit dem 12. Jh., seit Barbarossa und Heinrich VI., mit mehr oder minder großem Schwung unternommen worden waren. Sacrum imperium, imperator dominus mundi, crimen lese maiestatis, princeps legibus solutus, satis est pro ratione voluntas, error principis facit iUS 17 - das sind die Stichworte, die solche Versuche belegen können; die unbefragte kaiserliche Rechtsetzungskompetenz durch allgemeingültige "Authentiken", die schlicht in die Novellen Justinians eingefügt wurden und so im Rechtsunterricht gleichberechtigt mit den antiken Texten behandelt wurden, beweisen dasselbe durch das bloße Verfahren. Die Schwierigkeit lag aber vor allem darin, daß die oberitalienischen Legistenfakultäten zwar durchaus dem römisch-deutschen Reich, bzw. seinem regnum Italiae angehörten, daß aber die Regierungsgewalt des deutschen Herrschers in Italien damals in der Praxis höchst prekär und auf stetige militärische Durchsetzung gestellt war. In Deutschland selbst dagegen hatte der Hof aus verschiedenen Grün16 Allgemein zu einigen tragenden Prinzipien dieser Juristen gab einen Bericht Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus, Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979; jetzt die breit und penibel belegte Studie von Kenneth Pennington, The Prince and the Law, 1200-1600, Sovereignty and Rights in the Western Legal Traditon, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1993, die mir zur Zeit des Vortrags noch nicht vorlag. 17 Hier verzichte ich auf Belege und Nachweise zu diesen Parömien, nur zur letzten (nicht allzu häufig angeführten) erlaube ich mir den Hinweis auf die Erörterung in: Wilhelm von Ockham, Dialogus, Auszüge zur politischen Theorie, ausgew. und übers. von Jürgen Miethke, 2. Aufl. Darmstadt 1994, S. 204 Anm. 129; vgl. auch Ennio Cortese, La norma giuridica. Spunti teorici nel diritto comune classico (Ius nostrum, 6/12), Mailand 1964, Bd. 2, S. 105 f. Anm. 14, mit weiteren Belegen.

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den nicht die Bindekraft, über stilistische Anleihen hinaus als Zentrum einer "legistischen " Theoriebildung zu dienen. Die Diskrepanz zwischen den theoretischen Möglichkeiten und den praktischen Durchsetzungschancen in der europäischen Politik, die einer umfassenden Aufnahme der dominusmundi-Theorie im Wege stand, und die von den Juristen eilfertig durch die Distinktion von de jure-Ansprüchen und de facto-Situation entschärft wurde, machte zudem für den deutschen Herrscher eine Orientierung an diesen Vorgaben überflüssig, wenn nicht gefährlich, was sich selbst in der Kanzlei des Staufers Friedrich 11. erwies, die es an vollmundigen Formulierungen von Ansprüchen wahrlich nicht fehlen ließ. Sehr früh freilich hatten die Nachbarn und Konkurrenten im Westen und Süden des Reiches, hatten England, Frankreich, auch Kastilien und das Königreich Neapel einen Weg gefunden, sich ihrerseits solche Ansätze zu herrschaftlicher Konsolidierung ihrer regna in römischer Rechtstradition zunutze zu machen, indem sie sich selbst als gleichsam verkleinerte Entsprechung im Weltanspruch des Imperators (- der im "Corpus Iuris Civilis" ja auch zumeist als princeps auftritt -) entdeckten und wiedererkannten. Die Geschichte der Formel rex imperator in regno suo ist hier nicht nachzuzeichnen 18 , sie würde die praktische Nutzanwendung legistischer Ansätze in verschiedenen Königreichen in unterschiedlicher Intensität belegen können. Anerkannt hatten diese Tendenzen der nationalen Königreiche bereits zu Beginn des 13. Jh. die Päpste in ihrer Auseinandersetzung mit den Kaisern. Rex superiorem minime recognoscens, die Formel, die Innozenz IH. benutzte 19 , bezog sich zunächst auf den französischen Herrscher, war aber leicht übertragbar, und war auch von Anfang an als übertragbar gedacht. Die Kanonisten nahmen diese Formel in den Schatz ihrer Instrumente auf. Damit tat das auch die päpstliche Kurie, die mit Hilfe solcher Begrifflichkeit in künftigen Konflikten sich ein Bild von der Lage machen konnte. Die kanonistische Theoriebemühung selbst freilich war nicht primär auf die Ausbildung eines staatlichen Rechtsverständnisses gerichtet, auch nicht auf die Umschreibung der königlichen oder kaiserlichen Gewalt, die große Leistung dieser Juristen lag in der juristischen Konstruktion der Lebensbeziehungen innerhalb der Kirche, die Schritt für Schritt als durch rechtliche 18 Dazu etwa Helmut G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität, Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens, München 1976, bes.S. 65 ff.; Pennington, The Prince and the Law (FN 16), S. 31 ff. 19 X 4.17.13 "Per Venerabilern": Insuper cum rex superiorem in temporalibus minime recognoscit ... ; dazu vor allem Friedrich Kempj, S.J., Papsturn und Kaisertum bei Innozenz 111., Die geistigen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronpolitik (Miscellanea Historiae Pontificiae, XIX/58) Rom 1954, bes. S. 256-262; Helmut G. Walther, Imperiales Königtum (FN 18), bes. S. 14-19.

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Normen geregelte und somit überprüfbare Rechtsbeziehungen verstanden wurden. Die Kirche und ihre Gliederungen wurden jeweils als rechtlicher Verband verstanden und boten dafür angesichts des universalen Anspruchs der Kirche einerseits, durch die Ausklammerung weiter Rechtsbereiche, die in der Kirche nicht unmittelbar von Belang waren, andererseits ein fast ideal zu nennendes Exerzierfeld. Eine lange kirchliche Rechtstradition im Rücken und unter Benutzung der methodischen Möglichkeiten, die sie von ihren legistischen Kollegen übernahmen, haben die Kanonisten hier in jahrzehntelanger Arbeit erhebliche Fortschritte erzielt. Keineswegs waren sie von vornherein darauf aus, die Kompetenz der Spitze der Amtskirche, des Papstes und seiner Kurie, allein zu unterstreichen, ihre Tendenz ging aber bei der Analyse der Rechtsbeziehungen kirchlicher Organe untereinander auf klare Kompetenzabgrenzung und Kompetenzbeschreibung. Dabei hatten sie sehr rasch auch eine Unterscheidung zwischen superior und subditi zu treffen. Wie weit gingen die Mitwirkungsrechte der subditi? Was war genuine Kompetenz des superior? Wer entschied im Konfliktfall? Solche Fragen mußten gelöst werden nicht im Sinne von allgemeinen Proklamationen, sondern im Blick auf die Entscheidung konkreter Streitfälle, die durch die Entscheidung beigelegt werden sollten. Es ist unmöglich, hier auch nur eine Skizze der Leistungen der spätmittelalterlichen Kanonisten zu geben. Nur stichwortartig sei auf ihre Analyse der Rechtsetzungskompetenz in der Kirche hingewiesen, die zwischen Papst und Konzilien, zwischen überliefertem Recht, auch Gewohnheitsrecht, das durch Herkunft und Alter geheiligt war, einerseits und dem Satzungsrecht des ius novum, das seine rationabilitas für sich ins Feld zu führen vermochte, andererseits vermitteln mußte. So unterschiedlich im einzelnen die Lösungen waren, die Dekretalentechnik der kurialen Kirchenregierung, die Kurie als höchste Appellationsinstanz und Kontrollstelle der Kirche, die plenitudo potestatis, die dem römischen Bischof in Aufnahme alter Vorrechte zugeschrieben wurde 20 , all das gab dem kanonistischen Kirchenverständnis eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft, gerade wenn es um das Verstehen großräumiger Sozialverbände ging. Zeitgenossen haben das nicht nur dadurch anerkannt, daß sie das kanonische Recht in Gebrauch nahmen, daß sie Kanonisten in ihren Dienst stellten und ihnen gewaltige Karrierechancen eröffneten; auch ausdrückliche Akzeptation ihrer Kompetenz gerade in politischen Fragen findet sich bereits vor der Mitte des 13. Jh. In den harmlosen Texten von Pariser Artistenmagi20 Vgl. nur Robert L. Benson, "Plenitudo potestatis", Evolution of a Formula from Gregory IV to Gratian, in: Collectanea Stephan Kuttner (Studia Gratiana, 14) Bologna 1967, S. 195-217; Jürgen Miethke, Geschichtsprozeß und zeitgenössisches Bewußtsein, Die Theorie des monarchischen Papats im hohen und späteren Mittelalter, in: HZ 226 (1978), S. 564-599; Kenneth Pennington, Pope and Bishops, The Papal Monarchy in the 'I\velfth and Thirteenth Centuries, Philadelphia, PA 1984, S. 43-57.

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stern, die "für Examenszwecke" eine schematische Aufgliederung des Kosmos aller Wissenschaften zu geben versuchten 2 1, nennen verschiedene Verfasser auch - im Anschluß an antike Vorlagen - eine damals sonst nicht sehr häufig geübte sciencia, die politica. Dem Schema des literarischen Genres entsprechend, das sie verfolgen, machen diese Traktate dann die Grundtexte und Hauptbücher auch für diese Disziplin namhaft; freilich zeigt sich mit dem Fortschreiten in der Zeit sogleich eine bezeichnende Akzentuierung: Die Zahl der Gewährsautoren wächst gleichsam von Jahrzehnt zu Jahrzehnt: Um 1230/40 weiß ein Pariser Anonymus für politische Fragen eine scientia zuständig, que traditur legibus et decretis, que 'politica' dicitur22 . Um 1250 wird dann bereits neben die Juristen ein vager Hinweis auf Cicero gestellt und damit die Autorität der höheren juristischen Nachbarfakultäten durch einen für die Artes selber spezifischen Text sozusagen ins Gleichgewicht gebracht: Et hanc [scientiam] dicunt quidam haberi per leges et decreta, alii [!] Tullio traditam esse in quibusdam libris, qui non multum a no bis habentur in usu [!]23. Und noch vor 1260 werden dann weitere Anonymi bereits zusätzlich darauf hinweisen, daß auch Aristoteles ein Buch zur Politik geschrieben habe, welches freilich dem lateinischen Westen noch nicht übersetzt vorliege 24 . 21 So die Charakteristik durch Martin Grabmann, der zuerst auf einen wichtigen derartigen Text aufmerksam gemacht hat: Eine für Examinazwecke abgefaßte Quaestionensammlung der Pariser Artistenfakultät aus der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts, 1. Auf1., 1934, jetzt in: Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben, Bd. 2, München 1936, S. 183-199. Zur Textgattung allgemein P. Osmund Lewry, ThirteenthCentury Examination Compendia From the Faculty of Arts, in: Les genres litteraires dans les sources theologiques et philosophiques medü~vales, Definition, critique et exploitation, Hrsg. Rob,ert Bultot, Leopold Genicot (Universite Catholique de Louvain, Publications de lInstitute d'Etudes Medievales, II.5) Louvain-la-Neuve 1982, S. 101-119; neuerdings Claude Lafleur, Les "Guides de l'Etudiant" de la Faculte des Arts de lUniversite de Paris au XlIIe siede (Cahiers du Laboratoire de Philosophie ancienne et medievale de la Faculte de Philosophie de lUniversit~ Laval, 1) Quebec 1992; ders., Les "guides de l'etudiant" de la Faculte des arts de lUniversite de Paris au XlIIe siede, in: Philosophy and Learning, Universities in the Middle Ages, edd. M. J. F. M. Hoenen, J. H. J. Schneider, G. Wieland, (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 6) Leiden / New York / Köln 1995, S. 137-199. 22 "Le Guide d,e l'Etudiant" d'un maitre anonyme de la Faculte des Arts de Paris au XlIIe siede. Edition critique provisoire du ms. Barcelone, Arxiu de la Corona d'Arag6, Ripoll 109, ff.134ra-158va, ed. Claude Lafleur avec la collaboration de Joanne Carrier (Publications du Laboratoire de Philosophie ancienne et medievale de la Faculte de Philosophie de lUniversite Laval, 1) Quebec 1992, S. 53f, bes. 54 §75. 23 Z.B. Arnulfus Provincialis, "Divisio scientiarum" (ca. 1250), ed. Claude Lafleur, Quattre introductions a la philosophie au XlIIe siec)e. Textes Fitiques et etudes historiques (Universite de Montreal, Publications de lInstitut d'Etudes Medievales, 23) MontreallParis 1988, S. 333-335, 1. 513 sq. (Zur Datierung ed. Lafleur, S. 127 f.). Zu Amulfus auch Rene-Andre Gauthier, Amoul de Provence et la doctrine de la fronesis, vertu mystique supreme, in: Revue du moyen-äge latin 19 (1963), S. 129-170. 24 Ruedi Imbach, Einführungen in die Philosophie aus dem XIII. Jahrhundert; Marginalien, Materialien und Hinweise im Zusammenhang mit einer Studie von Claude Lafleur, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 38 (1991), S. 471-493, hier S. 490: nach beiden (anonymen) Texten gleichermaßen (zu datieren

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Bezeichnend ist diese Reihe schon: Noch auf der letzten Etappe werden die Juristen, werden leges und decreta (als Spezialisten also die Legisten und die Kanonisten), und auch Cicero, weiterhin als wichtige Autoritäten benannt, denn "der" philosophus, der mit dem Corpus seiner Schriften zunehmend die Artes-Fakultäten beherrschte, lag damals noch nicht vollständig in lateinischer Sprache vor25 . Seine Schriften zur praktischen Philosophie sind bekanntlich als allerletzte dem Abendland bekannt geworden, die "Politik" erst um 1260, als Wilhelm von Moerbeke sie unmittelbar aus dem Griechischen übertrug. Als das Buch aber einmal vorlag, wurde es fast unmittelbar in den Unterricht nicht nur, sondern auch in die politische Reflexion aufgenommen. Mit diesem Spätankömmling unter den Schriften des "Corpus Aristotelicum" hat die politische Theorie dann freilich neuen Bewegungsspielraum, neue Sprach- und Denkmöglichkeiten gewonnen. An der Einführung des Textes in den akademischen Unterricht waren von vorneherein nicht nur die Artisten, sondern ebenso stark, eher noch stärker die Theologen, insbesondere die Bettelordenstheologen beteiligt: neben und vor den Pariser Artisten Siger von Brabant und Petrus de Alvernia stehen mit frühen Kommentaren in Paris die Dominikanertheologen Albertus Magnus und Thomas von Aquin26 • auf ca.1250/60) sind yconomica and politica behandelt worden (1.) in legibus et decretis, (2.) a Tullio in libro "De officiis" (3.) alii dicunt quod Aristoteles fecit in lingua arabica quandam scienciam de hoc, que nobis adhuc non est translata (clm 14460, fol. 168ra), freilich ist der Text der "Politik" den Arabern, soweit wir wissen, nie bekannt geworden, bzw.: eciam secundum alios Aristoteles composuit scienciam de hiis, sed nondum est adhuc translata nobis in Latinum (Ms. Brügge, BibI. de la Ville 496, fol.80ra). - Auf weitere Texte dieser Art wies Flüeler, Rezeption (FN 26), S. 9 f., hin; zuletzt vgI. Francisco Bertelloni, Politologische Ansichten bei den Artisten um 1230/ 1240, Zur Deutung des anonymen Pariser Studienplans Hs. Ripo1l109, in: Theologie und Philosophie 69 (1994), S. 34-73, bes. S. 49ff. Ich bin Herrn Bertelloni zu Dank verpflichtet dafür, daß er mir bereits die Fahnen dieses Aufsatzes zugänglich machte. 25 Eine Skizze der Aristoteles-Rezeption in Antike und Mittelalter mit den Hinweisen auf die wichtigsten neueren Forschungen jetzt in: Thomas von Aquin, Prologe zu den Aristoteleskommentaren, Hrsg. und Ubers. von Francis Cheneval, Ruedi Imbacl~. (Klostermann-Texte Philosophie) Frankfurt, Main 1993, p.xiii-xli; zu Moerbekes Ubersetzungen zu vergleichen ist der Sammelband: Guillaume de Moerbeke, Recueil d'etudes a l'occasion du 700e anniversaire de sa mort (1286), ed. Jozef Brams, Willy Vanhamel, (Ancient and Medieval Philosophy, De Wulf-Mansion Centre, Sero 1/ vii) Löwen 1989. Allgemeine Bemerkungen bei: Jürgen Miethke, Politische Theorie in der Krise der Zeit, Aspekte der Aristotelesrezeption im früheren 14. Jh., in: institutionen und Geschichte, Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, Hrsg. Gert Melville (Norm und Struktur, Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 1) Köln, Wien 1992, S. 157-186. VgI. jetzt vor allem die Studie von Flüeler (FN 26). 26 Den derzeitigen Wissensstand hat zuletzt (mit umfassenden Literaturhinweisen, Textbeispielen und neuen Einsichten) ausgearbeitet Christoph Flüeler, Rezeption und Interpretation der aristotelischen "Politica" im späten Mittelalter (Bochumer Studien zur Philosophie, 19/1-2) AmsterdamlPhiladelphia, PA 1992, zugleich PhiI. Diss. Freiburg/Schweiz 1989, zu den früheren Datierungen bes. Bd. 1, S. 15-29.

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Wenn wir in aller Eile den Kreis der wichtigsten Angebote der Einzelfakultäten für eine Formulierung politischer Theorie abgeschritten haben, so haben wir natürlich noch keine ausreichenden, weil allenfalls höchst rudimentäre Vorstellungen von der inhaltlichen Richtung gewonnen, die die Debatten der Fachleute nahmen. Wir bleiben aphoristisch, wenn wir kurz versuchen, hier einige wesentliche Ausformungen von Konzeptionen der politischen Ordnung vorzustellen, um damit anzudeuten, was im Kontext der mittelalterlichen Entwicklung ein "säkularisierter Staatsbegriff" heißen konnte. Dabei verzichte ich bewußt darauf, die Einzelinstrumente zu analysieren, die die Juristen zur Normierung des gesellschaftlichen Lebens ausgearbeitet haben, weil sie sich zuerst kaum zu einer Gesamtkonzeption zusammenfügen wollten. Ich bleibe dabei, hier auf die als Gesamtentwürfe gemeinten Konzepte wenigstens in Umrissen hinzuweisen, um den Gang der Entwicklung verständlich zu machen, der freilich zusätzlicher Detailanalysen bei einer spezifizierten Ausführung dringend bedürfte. Das Gesamt der politischen Normierung der gesellschaftlichen Ordnung kam vor allem dann in den Blick, wenn sich die Ansprüche der Kirche mit den Ansprüchen staatlicher Mächte konfrontiert sahen. Wenn die Kirche Anordnungen Gottes unmittelbar vertrat oder zu vertreten schien, blieb für eine eigenständig begründete staatliche Sphäre wenig Raum. Allenfalls blieb der Laienherrschaft noch die Rolle der Strafe oder der Zurückdrängung der Sünde27 . Eine ganz neue Möglichkeit öffnete hier spätestens die Sozialphilosophie des Aristoteles, des philosophus schlechthin, wie ihn die Abendländer seit dem Ende des 13. Jh. immer häufiger nannten. Freilich war diese Möglichkeit nicht in der Form der scholastischen Wort-für-WortKommentare zu den aristotelischen Schriften selbst zu realisieren, so wichtig solche Kommentare für die Rezeptionsgeschichte des Textes und seiner Theorien auch bleiben 28 . Der erste, der diesen Sachverhalt klar erkannte und entschlossene Folgerungen zog, war Thomas von Aquin. Kurz vor seinem Tode hat Thomas (wohl in den Jahren 1271173) einen Traktat geschrieben, "De regno ad regem Cypri"29, der als erster, wenn auch als grandioses 27 Vgl. dazu die weitgespannten Untersuchungen von Wol/gang Stürner, "Peccaturn" und "potestas", Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 11) Sigmaringen 1987. 28 Eine umfängliche Liste solcher Kommentare legte vor Christoph Flüeler, Mittelalterliche Kommentare zur "Politik" des Aristoteles und zur pseudoaristotelischen "Oekonomik", in: Bulletin de philosophie medü~vale, ed. par la SIEPM, 29 (1987), S. 193-229; stark überarbeitet, vermehrt und berichtigt jetzt in: Flüeler, Rezeption (FN 26), Bd. 2, S. 1-100. 29 Maßgeblich die kritische Ausgabe durch Hyacinthe F. Dondaine in: Sancti Thomae de Aquino Opera omnia, iussu Leonis XIII p. m. edita cura et studio fratrum Praedicatorum (d. h. in der sog. "Editio Leonina"), t. XLII, Rom 1979, Text: S. 447471; praefatio: S. 421-445, dadurch sind alle älteren Drucke überholt. Zur Datierung (auf 1271/1273) mit neuen Argumenten zuletzt Flüeler, Rezeption (FN 26), S. 27 f.;

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Fragment, die theoretischen Möglichkeiten der aristotelischen Politik voll zur theoretischen Grundlegung der gesellschaftlichen Ordnung nutzte und die bisher in den Fürstenspiegeln gebotenen Handlungsanweisungen einer kasuistischen Ständeethik und Verhaltenslehre mit einer Theorie des menschlichen Sozialcharakters unterfing, die zunächst bewußt vor aller kirchlicher Interferenz einsetzte. Thomas hat sich bei diesem seinem Vorhaben auch durchaus dem Problem gestellt, wie mit einer nichtkirchlich begründeten Sozialverfassung die Forderungen der Kirche zusammenpassen sollten. Thomas hatte aus der aristotelischen Teleologie methodisch elegant eine Hierarchie der Zwecke entwickelt, die dieses Problem lösen sollte, sei doch der Mensch allen seinen Zwecken gleichermaßen, aber in abgestufter Ordnung verpflichtet. Wie der einzelne Mensch so hat auch die Gesellschaft verschiedenen Daseinszwekken nebeneinander zu genügen. Der conservatio in esse hat eine vernünftige Selbstverwirklichung zu entsprechen, ein vivere secundum virtutem, und dazu ist auch die menschliche Gesellschaft als ganze hinzuleiten. Darüber hinaus aber muß die Gesellschaft, wie der einzelne, die perfectio supernaturalis anstreben, die allein in der fruitio dei bzw. in der Zugehörigkeit zum Corpus Christi mysticum, zur Kirche, erreicht werden kann. Dieses Ziel darf keinesfalls durch die politisch verfaßte Gesellschaft verhindert oder auch nur gestört werden. Deshalb haben die principes, die Fürsten, wohl selbständig die Sorge um die perfectio naturalis ihrer Untergebenen, d. h. die Sorge um den Lebensunterhalt, um die natürliche Sittlichkeit, um den Frieden: mit all dem ermöglichen sie die Erreichung des höchsten Ziels; dieses selbst freilich können sie nach Auskunft der Offenbarung nicht selbst organisieren, da es allein in der Kirche durch das sacerdocium und durch die Sakramente verwirklicht werden kann. Das aber bringt, abgekürzt gesagt, die Sphäre der Amtskirche, den Papst, ins Spiel 30 . Das Verhältnis beider Instanzen, des in seinen Sphären durchaus selbständigen Monarchen und des Papstes in seiner priesterlichen Verantwortung, wird von Thomas von Aquin nicht näher geklärt. Bei ihm stehen beide Instanzen sich in einer deutlich gestuften Rangfolge einander gegenüber: der Papst hat zunächst dem Fürsten nichts hineinzureden, der Fürst aber darf von sich aus die Arbeit der Kirche nicht nur nicht stören, er soll sie fördern und ihr zuarbeiten. Was jedoch im Falle eines Konflikts bei der Instanzen geschehen soll, wird von Thomas nicht ausgeführt. In einer prekären zur Interpretation ist immer noch vor anderen zu nennen: Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Schriften der MGH, 2) Leipzig 1938, Ndr. Stuttgart 1952, S. 195-211, 317-319; zusammenfassend neuerlich auch etwa Sofia Vanni Rovighi, in: Storia delle idee politiche, economiche e sociali, ed. Luigi Firpo, vol.II, tom.2: 11 medioevo, 'furin 1983, S. 463-495. 30 Berges, Fürstenspiegel (FN.29), S. 206 f.

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Äquilibristik bis in die Formulierungen hinein, versucht Thomas beiden Seiten ihre jeweilige Selbständigkeit zu belassen und nur ihr Zusammenwirken als teleologisch begründet darzustellen. Für ein Auseinandertreten beider Ziele, für einen Widerspruch gar zwischen ihnen, fehlt ihm nicht nur das Verständnis, im Grunde fehlen ihm dafür die Verständniskategorien. Bezeichnend genug wird die Generation der Schüler des Thomas diese Schwierigkeit seines Ansatzes jeweils in entschlossener Einseitigkeit "klären". Was bei Thomas unentschieden geblieben war, wird jetzt festgelegt, freilich nicht von allen in gleicher Weise: schon Tolomeo von Lucca hat ein knappes Vierteljahrhundert nach dem Tode des Aquinaten dessen Entwurf zu einem extrem papalistischen Standpunkt weiterentwickelt, hier hat der Papst die unwiderstehlich letzte Entscheidung über alle Fragen zu treffen 31 • Auf der Basis desselben Thomastextes und der gleichen theoretischen Vorgaben hat aber in der gleichen Zeit der Pariser Theologe Johannes Quidort, vielleicht Thomasschüler und jedenfalls Dominikaner wie Tolomeo von Lucca, theoretisch eine scharfe Kirchenkritik fundiert und dem rex Franciae das Recht zuerkannt, sich gegen ungerechtfertigte Ansprüche des Papstes, selbst mit dem Schwert und gewaltsam, durchzusetzen. Diese diametral unterschiedliche Entwicklung war keineswegs das Ergebnis eines gleichsam selbstläufigen Vollzugs einer rein innertheoretischen Entwicklung in der Dominikanerschule des 13. Jh. 32 gewesen, sondern entsprach dem unterschiedlich gerichteten Engagement der Verfasser in politischen Konflikten ihrer Gegenwart. Hier wie sonst ist sie provoziert von der Konsequenz, mit der Papst Bonifaz VIII. entschlossen seine Schlußfolgerun31 Determinacio compendiosa (ca, 1298/1301), ed. Mario Krammer (MGH, Fontes iuris germanici antiqui, 1) Hannover 1909; zur Datierung halte ich an dem bereits von Hermann Grauert, Aus der kirchenpolitischen Traktatenliteratur des 14. Jhs., in: HistJb 29 (1908), S. 497-536, bes. 531 (vgl. auch seine Rez. von KrammeTS Ausgabe in: HistJb 31, 1910, S. 242 f.) vertretenen Ansatz auf ca. 1300 fest, entgegen der mich nicht überzeugenden Datierung Krammers (auf ca.1281), dem freilich die neuere Forschung in der Mehrzahl gefolgt ist. (Eine eingehende Begründung für meine Meinung würde hier zu weit führen.) - Zu Tolomeo sind jetzt (nach der masch. phil. Diss. FU Berlin 1953: Anne Knoblauch, geb. Kauschke, Die politischen Theorien des Tholomeus von Lucca. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens im Spätmittelalter) literarkritisch vor allem die Aufsätze zu vergleichen, zusammengefaßt in: Charles Till Davis, Dante's Italy and Other Essays, Philadelphia, PA 1984, S. 224-289; zu seiner politischen Theorie auch DolJ Sternberger, Drei Wurzeln der Politik (1. Aufl., 1978), (Suhrkamp Taschenbuch 1032) FrankfurtlMain 1984, bes. S. 58ff.; sowie neuerlich James M. Blythe, Government and the Mixed Constitution in the Middle Ages, Princeton, N.J. 1992, bes. S. 92-117; jetzt auch Harald DickerhoJ, Der Beitrag des Tolomeo von Lucca zu "De regimine principum", Monarchia Christi und Stadtstaat, in: FS Eduard Hlawitschka, Hrsg. Karl Rudolph Schnith, Roland Pauler (Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte, 5) München 1993, S. 383- 401. Eine monographische Behandlung von Tolomeos politischer Theorie (wie sie Davis geplant hatte) dürfte sich weiterhin lohnen, ja ist als dringlich zu betrachten. 32 Zu dieser zusammenfassend immer noch Frederick J. Roensch, Early Thomistic School, Dubuque, Iowa 1964.

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gen aus einer langen und dabei recht gradlinigen Entwicklung des Papalismus gezogen hatte. Geschäftserfahrener Jurist, herrischer Kardinal 33 , Papst mit unbedingtem Anspruch auf Gehorsam, überlegter und überlegener Gesetzgeber3 \ hat er in seiner konfliktreichen Regierungszeit zwar immer wieder Hartnäckigkeit im Verfolgen seiner Ziele, Entschlußfreudigkeit bei der Durchsetzung seiner Absichten, Scharfblick für die Schwächen seiner Gegner, Unempfindlichkeit für eigene Fehler, nicht aber Augenmaß bewiesen. Nicht daß er eine neue Theorie vom päpstlichen Amt und seinen institutionellen Kompetenzen entwickelt hätte: auch noch überscharfe Formulierungen seiner weithallenden Proklamationen, mit denen er seine politischen Entscheidungen seiner Mitwelt mitzuteilen liebte, hat moderne Forschung auf Vorbilder und Vorläufer zurückzuführen vermocht und damit als traditionsvermittelt dargetan. Bonifaz selbst war sich dessen auch bewußt, daß er sich an Vorbilder halten konnte, er wußte sich im Einklang mit der papalen Theorie des ihm vorausgehenden Jahrhunderts 35 • Neu war für sein Zeitalter nicht der Inhalt seiner Argumente, neu war die Vollständigkeit der Addition zuvor verstreuter Ansprüche, war die Unbedingtheit der Gehorsamsforderung, die bis zur Brutalität gehende Härte seiner Grundsätze, die er ohne Rest durchsetzen wollte. Bonifaz VIII. war von seiner Ausbildung her Jurist. Er sah nicht mehr die Kirche nur, er sah die Menschheit als einen einheitlichen Verband, als rechtsförmige Korporation, in der dem Papst als dem obersten Hierarchen der Amtskirche die oberste Gewalt, die Fülle der Gewalt, die plenitudo potestatis zustand. Als Vikar Christi und Gottes war er oberste Instanz, bei ihm lag in jeder Hinsicht die letzte Entscheidung. Ihm untergeben zu sein, war für jede menschliche Kreatur heilsnotwendig 36 . Und an der Kurie fanden sich Kleriker, die 33 Zur Biographie vgl. bereits T. S. R. Boase, Boniface VIII, London 1933; knapp Eugenio Dupre Theseider in: Dizionario biografico degli Italiani 12 (Rom 1970), S. 146-170; auch Tilmann Schmidt in: LexMA 2 (München/Zürich 1983), S. 414-416. Eine scharfsinnige Untersuchung des Prozesses gegen das Andenken Bonifaz' VIII. legte vor ebenfalls Tilmann Schmidt, Der Bonifaz-Prozeß, Verfahren der Papstanklage in der Zeit Bonifaz' VIII. und Clemens V. (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, 19) Köln, Wien 1989 (dort ausführliche Literaturhinweise). 34 Gabriel Le Bras, Boniface VIII, symphoniste et moderateur, in: Melanges d'histoire du moyen äge Louis Halphen, Paris 1951, S. 383-394; Sten Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Acta Universitatis Upsaliensis, Studia iuridica Upsaliensia, 1) Uppsala, Stockholm, Lund 1960; zusammenfassend vorläufig (eine Monographie ist in Vorbereitung): Tilmann Schmidt, Papst Bonifaz VIII. als Gesetzgeber, in: Proceedings of the VIIIth International Congress of Medieval Canon Law (San Diego, 1988), ed. Stanley Chodorow (Monumenta Iuris Canonici, C 9) Citta deI Vaticano 1992, S. 227-245. 35 James Muldoon, Boniface VIII's Forty Years of Experience in the Law, in: The Jurist 31 (1971), S. 449-477. 36 So der beriihmte Schlußsatz der Bulle "Unam sanctam" (vom 18. November 1302), ed. Georges Digard, Les registres de Boniface VIII, Bd. 3, Paris 1906, nr. 5382,

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für diese bislang wohl tendenziell möglichen, in solcher Vollständigkeit und Geschlossenheit aber so zuvor nicht erhobenen Ansprüche einen begründenden Unterbau einzuführen wußten 37 , am radikalsten der Augustinereremit und Theologe Aegidius Romanus, der einen Traktat "De ecclesiatica potestate"38 beisteuerte, in dem er dieses Bild einer päpstlich geleiteten Weltkirche mit kühnen Strichen zu einem geschlossenen Ausdruck brachte. Daß in seiner Theorie die Person des jeweiligen Papstes ganz hinter seiner sozialen Rolle verschwand, nahm gleichsam nur die alte Vorstellung der Amtsheiligkeit in neuer Form auf. In pseudo-dionysischem Reduktionismus sah Aegidius darüber hinaus im Papst als dem summus hierarcha der Kirche Summe und Inbegriff aller kirchlichen Kompetenzen: totum posse, quod est in ecclesia, est in summo pontifice 39 . So verliert sich das Amt des Papstes gleichsam in die Vollmachten, die Christus als Gottmensch selber in seiner Kirche üben kann. Papst und Christus bleiben im Grunde nicht mehr unterscheidbar, beider Figuren verschwimmen ineinander, zumindest was die Frage ihrer Amtskompetenz betrifft. Und damit wird auch die scholastische Beschreibung der göttlichen Weltregierung im concursus generalis und speziellem göttlichen Wunder auf den Papst anwendbar: der Papst kann sich S. 888-890. Vgl. zu dieser viel besprochenen päpstlichen Erklärung die Skizze in: Miethke, Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt (FN 6), S. 33 ff. 37 Zu der in Bonifaz' VIII. Pontifikat beginnenden neuen Literaturgattung vgl. Jürgen Miethke, Die Traktate "De potestate papae" ein 'lYPus politiktheoretischer Literatur im späteren Mittelalter, in: Les genres litteraires (FN 21), S. 198-211. 38 Aegidius Romanus, OESA, "Tractatus de potestate ecclesiastica" ed. Richard Scholz, Leipzig 1928 (ND Aalen 1961). Aus der reichen Literatur sei hier nur genannt: Raphael Kuiters, De ecclesiastica sive de summi pontificis potestate secundum Aegidium Romanum, in: Analeeta Augustiniana 20 (1946), S. 146-214; Friedrich Merzbacher, Die Rechts-, Staats- und Kirchenauffassung des Aegidius Romanus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 41 (1954/55), S. 88-97; Wladyslaw Senko, La doctrine de la perfectio personalis et de la perfectio status dans le De ecclesiastica potestate de Gilles de Rome, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, Hrsg. Albert Zimmermann (Miscellanea medaevalia, 12,2) Berlin / New York 1980, S. 337-340; Heiner Bielefeldt, Von der päpstlichen Universalherrschaft zur autonomen Bürgerrepublik, Aegidius Romanus, Johannes Quidort von Paris, Dante Alighieri und Marsilius von Padua im Vergleich, in: ZRG germ. Abt. 73 (1987), S. 70130, hier 71-82; John R. Eastman, Papal Abdication in Later Medieval Thought (Texts and Studies in Religion, 42) Lewiston, Wueenstown, Lampeter 1989. Wichtige Aspekte auch bei Odd Langholm, Economics in the Medieval Schools, Wealth, Exchange, Value, Money and Usury according to the Paris Theological Tradition, 12001350 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 29) Leiden, New York, Köln 1992, S. 375-390. Vgl. auch Jürgen Miethke, Die Legitimität der politischen Ordnung im Spätmittelalter, Theorien des frühen 14. Jh. (Aegidius Romanus, Johannes Quidort, Wilhelm von Ockham), in: Historia philosophiae medii aevi, Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, FS Kurt Flasch, Hrsg. Burkhard Mojsisch und Olaf Pluta, Amsterdam-Philadelphia, PA 1991 (erschienen 1992), S. 643-674, hier 653 ff. Einen neuen wichtigen Textfund zur Vorgeschichte des Traktats machte Concetta Luna, Un nuovo documento deI conflitto tra Bonifacio VIII e Filippo el Bello: il discorso "De potentia domini papae" di Egidio Romano, in: Documenti e studi sulla trsdizione filosofia medievale 3 (1992), S. 167-243 [Text 221-230). 39 De potestate ecclesiastica III c.9, 193 Scholz (FN 37).

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damit begnügen, als Legitimationsgrund für alle anderen Ämter und Stände der Kirche herzuhalten, wie die Sonne auf Gerechte und Ungerechte scheint, er kann aber auch selbst oder durch Kommissare eingreifen und so das Wirken der unteren und mittleren Instanzen durch eigene Maßnahmen ersetzen 40 . Wie er ein Domkapitel eine Bischofswahl vollziehen lassen kann, die eben darin ihre Legitimität und Gültigkeit gewinnt, daß sie der Papst zuläßt, so kann er auch - ohne besonderen Grund - selbst eingreifen und ohne Wahl entscheiden. Und wie er das in innerkirchlichen Belangen kann, so kann er es auch im Menschheitsverbande, gegenüber den weltlichen Machthabern; die Teilhabe der Päpste an der Weltregierung Christi erstreckt sich auch auf die politische Ordnung. Diese letzte Ausweitung der Argumentationskette wird nicht nur aus dem Christusvikariat hergeleitet, sie wird auch über die Legitimität politischer Herrschaft begründet. Wenn jedermann der Obrigkeit untertan sein muß (Röm 13,1), so muß er sich doch nur einer legitimen Obrigkeit unterwerfen. Legitime Obrigkeit aber kann, als dominium wie als iurisdictio, als Sachherrschaft des Eigentums wie als Rechtshoheit politischer Herrschaft, nur existieren im Rahmen göttlicher Anordnung ("Wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott verordnet"); also, so folgert Aegidius kühn, nur innerhalb der Kirche als eines juristisch konstruierbaren Verbandes, d. h. innerhalb der Amtskirche 41 . In der Kirche aber gibt es zwei Kompetenzen, eine weltliche und eine geistliche. Da die geistliche Gewalt der Priester auf Seelen zielt, ist sie der weltlichen Gewalt überlegen, die nur die Körper trifft. Sie hat den Vorrang, was ihr eine unbedingte Leitungsbefugnis beilegt 42 . Ich will die argumentative Scheinlogik des Aegidius hier nicht im einzelnen bewerten, die Herkunft der Einzelstücke ist zum Teil ohnedies evident. Und klar ist auch, daß diese Konsequenz letzten Endes eine deutliche Überforderung jeder praktischen Durchsetzungsmöglichkeit bedeuten mußte. Diese hochkurialistische Doktrin, die freilich nur die wohl extremste Position in einem ganzen Bündel ähnlicher, wenn auch nicht so zugespitzt entschlossener Entwürfe darstellt, blieb aber natürlich nicht ohne Widerspruch, blieb nicht allein auf dem Felde: diese so entschieden vertretenen Forderungen fanden schon von Zeitgenossen und in den folgenden Jahrzehnten ein Echo, in dem die Mittel der kirchlichen Tradition ernsthaft durchdacht wurden. In diesen antikurialistischen Positionen würde ich die entschiedensten Vertreter eines Staatsdenkens sehen, das für "die Anfänge eines säkularisierten Staates" in Anspruch genommen werden kann. Wiederum ist es mir nicht möglich, das im einzelnen eingehend zu prüfen und

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41 42

Ebenda, 193 f. Scholz (FN 37). II c.7-12, 70-111 Scholz (FN 37). cf. II c.5, 13-17 Scholz (FN 37).

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zu begründen, ich beschränke mich erneut auf eine knappe Andeutung einiger solcher Positionen. Unter den Zeitgenossen Bonifaz' VIII. und Aegidius' Romanus haben im Interesse des französischen Königs vor allem die Pariser Gelehrten Protest eingelegt, theoretisch am wirksamsten der Dominikaner Johannes Quidort, auch er ein Theologe, auch er ein Gelehrter, der sich die neuesten Argumente der Universität zunutze zu machen verstand. In der folgenden Generation waren es dann vor allem der Pariser Artistenmagister, Arzt und Student der Theologie Marsilius von Padua sowie der englische Franziskanertheologe Wilhelm von Ockham aus Oxford, die gegen die kurialistische Argumentation das schwere Geschütz ihrer theoretischen Arbeit ins Felde führten: in allen diesen Fällen wird die große Identifikationskette, die die Kurialisten aufgebaut hatten, radikal in Frage gestellt. Die Konstruktion der politischen Ordnung wird vor allem mit Aristoteles "natürlich" begründet, die Kirche wird entweder (wie bei Marsilius von Padua) in die aristotelisch konstruierte Gesellschaft einbezogen, oder (wie bei den Theologen Quidort und Ockham) als Organisation eigenen Rechts aufgefaßt, die sogar in Konfrontation zu der politischen Gewalt treten kann, die aber gerade nicht die Legitimationsbasis für politische Herrschaft darstellt, im Konflikt der politischen Gewalt dieser ihre Legitimität also auch nicht ohne weiteres entziehen kann. Indem die Legitimität politischer Organisation nicht pauschal auf kirchliche Legitimierung zurückgeführt bleibt, sondern in differenzierter theoretischer Argumentation in ihrer Genese dargestellt werden soll, werden gerade auch vorstaatliche Sphären und damit staatsfreie Sphären menschlicher Freiheit naturrechtlich begründbar. Johannes Quidort 43 hat in einem um 1302 entstandenen Text den Ansprüchen des Papstes Bonifaz VIII. entschlossen die Stirn geboten: dabei macht 43 Johannes Quidort von Paris, Über königliche und päpstliche Gewalt (De regia potestate et papali), Hrsg. Fritz Bleienstein (Frankfurter Studien zur Wissenschaft von der Politik, 4) Stuttgart 1969, vgl. aber die Rezensionen etwa von E. Meuthen, in: HZ 211 (1970), S. 396-399, oder von J. Miethke, in: Francia 3 (1975), S. 799-803. Martin Grabmann, Studien zu Johannes Quidort von Paris, in: SB d. Bayer. Akad. Wiss., Phil.-Hist. Kl. 1922,3, jetzt in: Grabmann, Gesammelte Akademieabhandlungen, Hrsg. Grabmann-Institut der Universität München (Münchener UniversitätsSchriften, Veröff. d. Grabmann-Instituts, N.F.25/1-2) Paderborn, München, Wien, Zürich 1979, Bd. 1, S. 69-128; John T Renna, The populus in John of Paris' Theory of Monarchy, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 42 (1975), S. 243-268; Adalbert Podlech, Die Herrschaftstheorie des Johannes von Paris, in: Der Staat 16 (1977), S. 465-492; Janet Coleman, Medieval Discussions on Property: ratio and dominium According to John of Paris and Marsilius of Padua, in: History of Political Thought 4 (1983), S. 209-228; Reiner Bielefeldt, Päpstliche Universalherrschaft (FN 38), hier S. 82-94; neuerdings auch Gian Carlo Garfagnini, Il "Tractatus de potestate regia et papali" di Giovanni da Parigi e la disputa tra Bonifacio VIII e Filippo il B~llo, in: Conciliarismo, Stati nazionali, Inizi dell'Umanesimo (Atti dei Convegni dellAccademia Tudertina edel Centro di studi sulla spiritualita medievale, n.s. 2) Spoleto 1990, S. 14-180; Miethke, Theorien (FN 38), S. 650-653, 657-662; wichtige Aspekte jetzt auch bei Langholm, Economics (FN 38), S. 390-397.

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er sich - ähnlich wie Aegidius, politisch aber im entgegengesetzten Interesse (dem des französischen Könighofes nämlich) - die damals neuesten wissenschaftlichen Möglichkeiten an der Pariser Universität zunutze. Gewiß hat er Materialien aus seinem Universitätsunterricht in den Text mit aufgenommen, denn er arbeitet überhaupt methodisch ganz nach dem Beispiel einer universitären Quaestionensammlung, wie sie sonst in aller Regel auf universitäre Disputationen zurückgeht; man darf also annehmen, daß Quidort die gleichsam rasch zusammengeheftete Schrift in einer ganzen Reihe von Universitätsdisputationen schon seit längerer Zeit vorbereitet hatte und nun aus gegebenem Anlaß relativ schnell zusammenstellen konnte 44 . Sachlich gebraucht er die aristotelische "Politik" argumentativ und für die Architektur seiner Theorie, freilich auf der Grundlage der schon drei Jahrzehnte zuvor entwickelten politischen Theorie seines Ordensbruders Thomas von Aquin, die er in seinem Text ausführlich (aber unausdrücklich) zitiert und auf die-neue Situation zugespitzt hat 45 • Quidort entwickelt dabei eine Position, die durch die Vorgaben des Aquinaten wohl ermöglicht, von Thomas selbst aber in dieser Klarheit keineswegs erreicht worden war. An die Stelle der von den Kurialisten (wie etwa Aegidius Romanus) metaphysisch, anthropologisch oder heils geschichtlich abgeleiteten absoluten Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt setzt der französische Dominikaner die Gleichberechtigung beider. An die Stelle einer aus einer neuplatonischen Einheitsspekulation im Anschluß an Pseudodionysius Areopagita postulierten massiv einheitlichen Weltstruktur, in der nur noch der summus hierarcha, der Papst, Ziel der reductio ad unum sein kann, tritt bei ihm eine Welt, die ihre Einheit in Gott als ihrem Schöpfer und Urheber findet und die keiner anderen Vereinheitlichung mehr als dieses gemeinsamen Ursprungs bedarf. Gleichursprünglichkeit und Gleichrangigkeit der weltlichen und der geistlichen Gewalt sind damit 44 Den Aufbau des Traktats hat am ausführlichsten analysiert in seiner kritischen Et;stausgabe Jean Leclercq, Jean de Paris et l'ecclesiologie du XIII" siecle (L'Eglise et l'Etat au moyen äge, 5) Paris 1942, S. 39 f. Zur Redaktionsgeschichte neue Gesichtspunkte namhaft gemacht hat Janet Coleman, The Intellectual Milieu of John of Paris, OP, in: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jh., Hrsg. Jürgen Miethke (Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien, 21) München 1992, S. 173-206, fast wörtlich identisch auch u.d.T.: The Dominican Political Theory of John of Paris in its Context, in: The Church and Sovereignty, c.590-1918, Essays in Honour of Michael Wilks, ed. Diana Wood (Studies in Church History, Subsidia, 9) Oxford 1992, S. 187-228, die auf die im Traktat verarbeitete Diskussion zwischen Franziskanern und Dominikanern aus den 80er Jahren des 13. Jh. hinweist. Diese Quellen wird man künftig beachten müssen, wenn ich auch die von C. gezogene Schlußfolgerung, der Traktat müsse dementsprechend weit früher datiert werden als 1302, für ganz verfehlt halte: vgl. Miethke, in: Das Publikum, S. 21; vgl. auch die Bedenken von Bernhard Töpfer in seiner Rezension in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994) S. 1019 f. Die Redaktionsgeschichte des Textes verdiente, wie ersichtlich, eine genauere Untersuchung. 45 Die längste (aber nicht ganz vollständige) Liste der Entlehnungen aus Thomas bei Leclercq, Jean de Paris (FN 44), S. 35 f.

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nicht zwangsläufig gesetzt, aber doch theoretisch ermöglicht. Selbst ein von Quidort konzedierter Würdevorrang der geistlichen vor der weltlichen Gewalt schließt keine Hierarchisierung ein, vor allem läßt sich daraus keine Anordnungsbefugnis der geistlichen Gewalt gegenüber der weltlichen ableiten. Gleichursprünglichkeit und Gleichrangigkeit beider Ordnungen haben für die politische Philosophie beachtliche Konsequenzen, erlauben sie es dem Dominikanertheologen doch, Kirche und Staat - sofern wir für diese Zeit bereits so prägnant sprechen dürfen - eine je verschiedene Struktur zuzuschreiben. Während Kirche und Priestertum ganz der Heilsgeschichte zugehören, kann die politische Sphäre ganz aristotelisch verstanden werden und damit allein mit den Mitteln der natürlichen Vernunft vor aller Intervention der Offenbarungswahrheit konstruiert und begriffen werden. Die von Thomas von Aquin entwickelte hierarchische Zuordnung der je verschiedenen Zwecke von kirchlicher und staatlicher Ordnung46 , die bei Thomas voller Zweideutigkeit geblieben war und die die anderen ThomasSchüler (wie Aegidius Romanus oder Tolomeo von Lucca) zu der Begründung hochkurialistischer Ansprüche vereinseitigt hatten 47 , vereinseitigt Quidort zugunsten einer deutlichen Trennung beider Sphären, die trotz ihrem gemeinsamen Ursprung verschiedenen Zwecken dienen, verschiedenen Lebensbereichen zuzuordnen sind und nach verschiedenen Prinzipien ihr Leben ausrichten. In der Kirche kann dem Papst mit Hilfe der traditionellen "mendikantischen Ekklesiologie" des 13. Jh. 48 die unbefragte Spitzenstellung eingeräumt werden, für den Staat hat das keine bedeutsamen Folgen, weder unmittelbar, noch auch mittelbar: auch eine bloße Analogie wird abgelehnt, die den Kaiser nach dem Bilde des Papstes versteht; selbst die herkömmlichen universalen Ansprüche des Kaisers, wie sie Autoren des 12. und 13. Jh. noch eifrig mit alten und neuen Argumenten haben bekräftigen wollen, können von dem französischen Autor schlicht negiert werden: Ex divino statuto est ordo omnium ministrorum (ecclesiae) ad unum, non sic autem fideles laici habent ex iure divino quod subsint uni supremo monarchae in temporalibus 49 . Vielmehr kann mit aristotelischen Formulierungen des ThoVgl. oben FN 30. Vgl. die FN 30 und 37 zitierte Lit. 48 Dazu vor allem Yves Congar, L'Eglise (FN 13), bes. S. 215 ff. Bei Quidort wird das noch deutlicher als in seinem Traktat in einer (mit 6 Mss. relativ häufig überlieferten) Universitätsquästion "De confessionibus audiendis" zuletzt Hrsg. Ludwig Hödl (Mitteilungen des Grabmann-Instituts der Universität München, 6) München 1962; eine frühere Redaktion ist gedruckt bei: Odorico Rinaldi, Cesare Baronio, Annales ecclesiastici, Continuatio, etwa ed. Johannes Dominicus Mansi, Bd. 5, Lucca 1750, S. 164-170. 49 c.3, 82,3-5 Bleienstein (FN 43). 46 47

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mas von Aquin gezeigt werden, daß die Menschen, ihrem natürlichen Instinkt folgend, qui ex deo est (!)50, in bürgerlichem Verband und in Gesellschaft leben. Daher haben sie, um diesem Antrieb zu folgen und zum guten Leben zu gelangen, auch das Recht, Herrscher einzusetzen. Freilich - und dieser Zusatz präzisiert thomasische Formulierungen - setzen Menschen je verschiedene Herrschaft für verschiedene communitates 51 . Für Quidort ist somit die Vielfalt verschiedener Staaten anthropologisch begründet, ihr Unterschied zur kirchlichen Organisation ist tief verwurzelt und radikal. Im Konflikt zwischen Bonifaz VIII. und Philipp dem Schönen hatte (nach dem Bericht einer englischen Chronik) Pierre Flotte 52 im Jahr 1300 dem Papst in einer persönlichen Unterredung schneidend entgegengehalten, die päpstliche Gewalt sei sprachlich, auf das Wort gestellt, die königliche Macht dagegen sei real 53 . Bei Quidort findet diese Unterscheidung einen deutlichen Widerhall, wo er die Sanktionsgewalt in Kirche und Staat beschreibt: Geistliche Strafen sind, wie auch er anmerkt, sprachlich, treffen deshalb - das ist ihr Vorteil - mit derselben Leichtigkeit und Sicherheit die Nahen wie die Fernen; gerade darum kann die Kirche ja als Weltkirche organisiert sein. Nicht so verhält es sich mit der königlichen, der staatlichen Gewalt: sie kann mit ihren Strafen Entfernte nicht so leicht erreichen, cum sit manualis; facilius enim est extendere verbum quam manum 54 • Auch in ihrem Verhältnis zu Einkünften und zu ihrem Eigentum unterscheiden sich Kirche und Staat: die Kirche kennt für sich nur Gemeineigentum, das einheitlich verwaltet und disponiert werden sollte. Bei den Laien dagegen gilt: quilibet est dominus suae rei tamquam per suam industriam acquisitae, darum bedarf es hier keiner zentralen königlichen Verwaltung, die für alle und 50 c.3, 82,6 Bleienstein (FN 43). 51 Immer noch c.3 S. 82; vgl. zu dem ganzen Abschnitt, so auch hier, Thomas von Aquin, Liber de veritate catholicae fidei contra errores infidelium seu "Summa contra gentiles" IV176, Hrsg. C. Pera, P. Marc, P. Caramello, Bd. 3 ('!Urin, Marietti 1976), nr. 4102 ff., S. 384, wo freilich der Satzteil diversos quidem secundum diversitatem communitatum gerade fehlt; vgl. auch die genaueren Ausführungen Quidorts: 82,1218; 83,12-20 Bleienstein (FN 43), die kein Pendant bei Thomas haben. 52 Literatur etwa neuerlich bei Philippe Contamine, Flotte, Pierre, in: LexMA Bd. 4, Zürich, München 1989, S. 595. 53 William Rishanger, Chronicon, Hrsg. H.T. Riley (RS 28/2) London 1865, S. 197 f.: "Nos habemus" inquit "utramque potestatem". Et mox Petrus pro domino suo respondit: "Utique domine, sed vestra est verbalis, nostra autem realis ". Vgl. bereits Georges Digard, Philippe le Bel et le Saint-Siege de 1285 a 1304, Ouvrage posthume publie par Fran~oise Lehoux, Bd. 2, Paris 1936, ND Aalen 1972, hier Bd. 2, S.47f. 54 e.3, 82,19-24 Bleienstein (FN 43): ... non tantum suffieit unus ad dominandum toti mundo in temporalibus sieut unus suffieit in spiritualibus, quia potestas spiritualis eensuram suam potest faciliter transmittere ad omnes, propinquos et remotos, eum sit verbalis. Non sie potestas saeeularis gladium suum eum effeetu potest tamfaciliter transmittere ad remotos, eum sit manualis, facilius est enim extendere verbum quam manum.

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über alle Eigentümer bestimmen könnte. Nur bei Streit zwischen den Eigentümern ist eine gerechte Entscheidung nötig. Auch für die Abwendung von Not oder zum gemeinen Nutzen darf ein Herrscher von einzelnen Untertanen Beiträge zwingend fordern 55 . Diese klare Unterscheidung von Eigentum und Herrschaft, ihre Beziehung aufeinander und ihr verschiedener Gebrauch im Gemeinwesen ist eine große Leistung der Theorie des Johannes Quidort, die noch lange den Lesern der Schrift eingeleuchtet hat. Freilich hatte Quidort in seinem Text (dessen konkrete, auf den Konflikt des königlichen Hofes mit der päpstlichen Kurie bezogenen Thesen wir hier nicht näher betrachten können) wohl die Unterschiede von Kirche und Staat herausgestrichen, auch die staatliche Sphäre ohne Rückgriff auf die Offenbarung recht massiv mittels aristotelischer Argumente konstruieren können. So gewiß ihm das auch eine argumentative Basis für eine erfolgreiche Polemik gegen kurialistische Ansprüche gab, so konnte er damit doch die konstruktiven Chancen der aristotelischen Philosophie nicht gänzlich ausschöpfen, zumal er sich über die Geltung der für die Kirche maßgebenden Prinzipien nur im Vorbeigehen und nicht kohärent geäußert hatte.

Marsilius von Padua, fast eine ganze Generation später, ist dann in seinem 1324 abgeschlossenen "Defensor pacis"56 einen Schritt weiter gegangen: die aristotelische Sozialphilosophie bleibt für ihn die unverrückbare Grundlage seines Nachdenkens über den Staat im Verhältnis zur Kirche, wie sie das auch für Quidort gewesen war, nur radikalisiert Marsilius die Anwendung dieses Instrumentariums, wenn er die Unterscheidung von weltlich-laikaler Herrschaft und kirchlicher Organisation ganz von Aristoteles her bedenkt und versteht und menschliche Vergesellschaftung grundsätzlich mit aristotelischen Kategorien erfassen will, also auch die Kirche. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Staat und Kirche, aber für das politische Leben haben diese Unterschiede keine wahrnehmbaren Konsequenzen. Marsilius sieht die Unterschiedenheit der Politik von anderen Kommunikationsformen bereits anthropologisch begründet in einer Unterscheidung zwischen menschlichen Akten einerseits, die im Bereich der Vorstellungen bleiben (actus immanentes), und Akten, die auf andere Menschen oder auf Gegenstände Wirkungen ausüben (actus transeuntes) andererseits, da politische Organisation sich ausschließlich auf letztere Handlungen er55

Wiederum c.3, 82 f. Bleienstein (FN 43).

56 Hrsg. Richard Scholz (MGH, Fontes iuris germ. antiqui, 7) Hannover 1932-1933,

hiernach künftig zitiert als "DP"; Hrsg. u. Übers. Horst Kusch, Walter Kunzmann, (Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen) A 2/1-2, Berlin (Darmstadt) 1958, dort p. lxxxiv-lxxxvii, auch eine ältere Auswahlbibliographie; Ergänzungen dazu nunmehr in: Jürgen Miethke, Literatur über Marsilius von Padua (1958-1992), Bulletin de philosophie mediE~vale, ed. par la S.LE.PM., 35 (1993), S. 150-165. 3 Der Staat, Beiheft 11

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streckt: Was immer die Kirche oder eine andere Institution im Bereich der Vorstellungen und Meinungen soll sagen und bedeuten dürfen, im Bereich der Handlungen ad extra bleibt - Exzesse restringierend und somit funktional normierend - allein der Staat zuständig 57 • Aristoteles hat bereits, so glaubt Marsilius, alle sonstigen wesentlichen Ursachen für die alle menschliche Gemeinschaft auflösende Zwietracht dargelegt, nur eine einzige pestifera radix der Staatsgefährdung konnte er noch nicht kennen, da sie sich erst aus der historisch lange nach seiner Lebenszeit ereigneten Menschwerdung Gottes, nämlich durch die Kirche und ihre Ansprüche, ergeben hat 58 . Der Traktat will die precipue cause quibus conservatur et extat civilis pax sive tranquilitas et hec eciam propter quas opposita his oritur vor aller Augen stellen. Jeder, ein Regierender wie ein Regierter, wird begreifen, wie er sich verhalten muß, um Frieden und Freiheit zu behalten59 . Die Analyse, die von der Normierung des Lebens ausgeht, hat ihr Zentrum in einer neuartigen Begriffsbestimmung der Norm des Gesetzes: Anders als Aristoteles, anders auch als Thomas von Aquin und Dante, sieht Marsilius den Menschen auf Gesellschaft hin angelegt nicht bloß deshalb, weil er ein vernünftiges und sprachlich-kommunikatives Wesen ist: der Mensch bildet zwar Gesellschaft aus einem "natürlichen Antrieb "so, wie schon Aristoteles betont hatte S1 , Marsilius präzisiert das nun aber ausdrücklich weiter in eine so ursprünglich bei Aristoteles wohl nicht geplante Richtung hin, wenn er sagt, daß dieser Antrieb unter der realen physischen Not und Bedrohung erwächst, welche dem Menschen verdeutlicht, daß er nur in Gemeinschaft mit anderen eine sufficientia vite erreichen kann: gegen die Not hilft er sich durch die Notwehr gemeinsamer Existenzsicherung. Das aber kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft zusammengehalten wird. Deren Auflösung würde die Existenz des Einzelnen bedrohen. Darum sind die Normen, die das Zusammenleben regulieren, fundamentale Voraussetzungen für die Subsistenz. Die Einsicht in diese Notwendigkeit macht den Zusammenschluß der Menschen zu einem primär voluntativen Akt S2 • Die Vertragstheorien der frühen Neuzeit zeichnen sich ab.

DP 1.5.7,23 f. Scholz (FN 56). DP 1.1. 7, 8 f. Scholz (FN 56). 59 DP III.3, 611 f. Scholz (FN 56). 60 nature impetus: DP 1.4.3; 17,19 Scholz (FN 56). 61 Pol.I.2 (1253a29 Bekker). 62 Das hat zu Recht betont Helmut G. Walther, Ursprungsdenken und Evolutionsgedanke im Geschichtsbild der Staatstheorien der ersten Hälfte des 14. Jh., in: Antiqui und moderni, Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, Hrsg. Albert Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, 9) Berlin 1974, S. 236261. Vgl. auch Antony Black, Guilds and Civil Society in European Political Thought from the 1\velfth Century to the Present, London 1984, S. 55. 57

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Aus dieser Grundtatsache, verbunden mit der Forderung, daß pax und libertas zusammen bestehen müssen 63 , leitet sich systematisch der Dreh- und Angelpunkt von Marsilius' politischer Philosophie ab: Gesetze als Normen müssen Geltung haben, sonst können sie die Gesellschaft nicht regulieren. Eine Definition des Aristoteles radikalisierend und formalisierend bestimmt Marsilius ein Gesetz als eine Regel, die zu ihrer Durchsetzung und Geltung eine zwingende Sanktion bei sich führt 64 . Ohne zwingende Sanktion, die sich aus zwingender Gewalt herleitet, kann keine Norm Gesetz im strengeren Sinn sein. Nicht die Wahrheit oder die Güte ihrer Absichten macht eine Norm zum Gesetz, sondern allein der Erlaß durch die Stelle, die zwingende Gewalt besitzt, das hält Marsilius ausdrücklich fest 65 . Naturrecht oder Religion als Geltungsgrund für Gesetze scheiden damit aus. Noch wenige Jahre zuvor hatte Dante in seiner "Monarchia" festgehalten, Gesetze, die nur dem Namen nach Gesetze sind, seien nicht wirklich als Gesetze zu verstehen 66. Daß Marsilius die Geltung der Gesetze so ausschließlich auf formelle Kompetenzen des Gesetzgebers stellt, macht nun die Frage nach dem Gesetzgeber zum entscheidenen Mittelpunkt von Marsilius' Theorie: er beruhigt sich weder bei den Aussagen des Aristoteles, der ihm hier keine eindeutige Antwort vorgeben konnte, noch bleibt er beim princeps der römischen Juristen und ihrer mittelalterlichen Nachfolger stehen. Als Gesetzgeber kann für ihn "ausschließlich die Gesamtheit der Bürger selbst oder ihr wichtigerer Teil" in Frage kommen 67 , denn, so darf man den Gedankengang ergänzen, nur so ist gesichert, daß mit zwingender Gewalt letztlich der einzelne lediglich sich selber zwingt. Es braucht uns hier nicht zu beschäftigen, was Marsilius aus dieser zentralen These alles ableitet. Er bleibt jedenfalls konsequent. Die Gesamtheit, der Gesetzgeber, kann sehr verschiedene Organe mit der Durchführung beauftragen, vor allem die pars principans, die die Zwangsgewalt zur Sanktionierung der Gesetze hat. Das ungewöhnliche Kunstwort, das ersichtlich DP 1II.3; 612,9 f. Scholz (FN 56) DP 1.10.4; 50, 8-14 Scholz (FN 56) - vgl. überhaupt DP 1.10; 1I.8.5; 1I.9.3; 47-51; 224,12-19; 233,4-8 Scholz (FN 56). 65 DP 1.10.5; 50 f. Scholz (FN 56). 66 Dante, Monarchia, II.5.3 (ed. Pier Georgio Ricci, Le opere di Dante Alighieri, Edizione Nazionale, 5, Mailand 1965, S. 185): Quod si ad utilitatem eorum, qui sunt sub lege, leges directe non sunt, leges nomine solo sunt, re autem leges esse non possunt: leges enim oportet homines devincere ad invicem propter utilitatem. Der Text Ricci's liegt auch der vorzüglich kommentierten und mit seitenparalleller Übersetzung versehenen "Studienausgabe" von Ruedi Imbach, Christoph Flüeler zugrunde: Dante Alighieri, Monarchia (Reclams Universal-Bibliothek, 8531) Stuttgart 1989, Zitat hier S. 132, vgl. den Kommentar, ebenda, S. 299. 67 DP I.12.5; 65 Scholz (FN 56): pertinet igitur ad universitatem civium aut eius valenciorem partem tantummodo [!] legacionis seu institutionis auctoritas. 63 64

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von Marsilius selber gebildet ist, enthält in sich den princeps und imperator ebenso wie den kommunalen Magistrat, erlaubt es dem Autor daher, seine aristotelischen Begriffe auf sehr verschiedene Staatsformen analytisch anzuwenden 68 . Auch seine Analyse des Konflikts zwischen Kirche und Staat im 14. Jh. wollen wir hier nicht verfolgen. Eisern hält Marsilius jedenfalls durch den gesamten Text seiner Hauptschrift daran fest, daß auch kirchliche Normen gesellschaftliche Geltung als Gesetze nur haben können, sofern sie von den dafür kompetenten Organen als solche erlassen und sanktioniert worden sind. Damit entfernt er sich merklich von seinen Zeitgenossen: Hatte Aegidius Romanus noch behauptet, daß staatliche Macht ausschließlich dann, wenn sie von der Kirche und ihrem summus hierarcha, dem Papst, legitimiert ist, überhaupt Bestand und Geltung haben kann, so wird hier das (weltliche) Wirken der Kirche radikal abhängig gemacht von einer aristotelisch konstruierten Gesetzgebungskompetenz "staatlicher" Organe. Die oberitalienischen Kommunen (die er von seiner Vaterstadt her kannte), das Königreich Frankreich (das er als Rektor der Pariser Artistenuniversität näher kennenlernte), das deutsche Imperium Romanum (das ihm als Flüchtling bald Aufnahme und Schutz gewähren sollte) gewannen unter diesem Zugriff ein gleichartiges, ein "modernes" Ansehen. Für unsere Frage nach der Entwicklung der säkularen Staatsidee ist der Entwurf einer politischen Theorie durch Marsilius von Padua ohne Zweifel besonders aussagekräftig. In einer Zeit, da von einem "Staatsdenken" im eigentlichen engeren Sinn noch keine Rede sein kann, hat er sich gedanklich einem für sich allein, ohne Intervention der Kirche, aktionsfähigen und agierenden Staat vielleicht am weitesten angenähert. Auch wenn das erst in spezifischer Weise durch einen Rückgriff auf die aristotelische Sozialphilosophie möglich wurde, auch wenn das nur in Konfrontation mit der Kirche und päpstlichen Ansprüchen formulierbar wurde, ist doch der "Defensor pacis" immer wieder als besonders "modern" empfunden worden. Ohne das hier im einzelnen diskutieren zu wollen, können wir doch so viel festhalten, daß Marsilius nicht nur Aristoteles "angewendet" hat 69 ; er hat Aristoteles benutzt und zu68 Die Juristen hatten ein ähnliches Problem schließlich gelöst durch ein verallgemeinerndes Verständnis der Vokabel princeps im 13. Jh. - freilich erst nach heftigen Debatten darüber, ob neben dem Kaiser auch andere Herrscher die Kompetenzen des princeps besäßen, vgl. Pennington, The Prince and the Law (FN 16), bes. S. 32-37, 91, 104f. 69 Das meinte zuletzt vor allem Dol! Sternberger, Die Stadt und das Reich in der Verfassungslehre des Marsilius von Padua, in: SB der Wissenschaftl. Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. Main 18,3 (1981), S. 87-149, abgedruckt in: Sternberger, Die Stadt als Urbild (Suhrkamp Taschenbuch 1166) FrankfurtlMain 1985, S. 76-142. Bei seiner Aristotelesrezeption erweist sich Marsilius in der Tat auf der Höhe seiner Zeit, wie erneut Christoph Flüeler zeigen konnte: Marsilius stützt sich auf damals aktuelle Kommentare der Pariser Artistenfakultät zur "Politica" des Aristoteles, insbes. auf den Quästionenkommentar des Petrus de

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gleich verwandelt, er hat die politische Philosophie des Griechen an die Verhältnisse des 14. Jh. angepaßt, hat aristotelische Themen formalisiert und auf prozedurale Lösungen weiter zugespitzt. Damit aber hat er im Konflikt seiner Zeit gewissermaßen vorgreifend und maßstabsetzend seinen Zeitgenossen und noch dem 16. Jh. Wege gewiesen.

Wilhelm von Ockham 70, der englische Franziskanertheologe, der nach seiner Flucht aus Avignon sich und sein Geschick mit dem des deutschen Herrschers Ludwig des Bayern verbunden hat, war gewiß nicht radikaler als Marsilius, vielleicht auch nicht so "modern" wie dieser, aber seine politische Theorie, die er unermüdlich in mehr oder minder umfänglichen Streitschriften entwickelte, nimmt die mittelalterlichen Traditionen breiter auf, wirkte wohl auch unmittelbarer auf seine Zeit und die nächste Zukunft. Auch hinsichtlich eines säkularisierten Staatsdenkens hat er durchaus ein wichtiges Angebot zu machen. Ockham kommt, anders als Marsilius, nicht unmittelbar von Aristoteles her, seine politische Theorie hat sich aufgrund seiner Parteinahme im Armutstreit seines Ordens mit Papst Johannes XXII. entfaltet 71 . Das freilich hinderte ihn keineswegs daran, sich aller Mittel zu bedienen, die die Wissenschaften seiner Zeit ihm zur Verfügung stellen konnten, und also auch der aristotelischen Sozialphilosophie72 . Mit größter Unbefangenheit benutzt Ockham etwa die aristotelischen Argumente bei der Analyse der kirchlichen Organisation, ja vorwiegend bei der Untersuchung der Kirchenstrukturen73 . Kirche und politische Ordnung werden von Ockham jeweils als soziale Organisationen gleicher Art verstanden, die sich - anders als bei Johannes Quidort - beide nach den gleichen Prinzipien verstehen lassen. Gewiß gibt es Unterschiede in ihrer Zielrichtung. Während der Staat ein Alvernia, vgl. Flüeler, Rezeption (FN 26), S. 120-131, aber das macht den Paduaner doch nicht zu einem reinen - oder gar bloßen - Aristoteles- Exegeten! 70 Von einer Bibliographie kann ich mich hier entlasten durch den Hinweis auf: Jan P. Beckmann, Ockham-Bibliographie 1900-1990, Hamburg 1992, wo fast Vollständigkeit erreicht ist; weitere Literatur zur politischen Philosophie Ockhams auch bei Ockham: "Dialogus" Auszüge (FN 17), S. 251-260; zusätzlich vor allem Bernard Willms, Kontingenz und Konkretion, Wilhelm von Ockham als Wegbereiter des neuzeitlichen Rechts- und Staatsdenkens, in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Hrsg. Roman Schnur, Berlin 1986, S. 13-49; zur Theologie Ockhams ist künftig zu beachten Volker Leppin, Geglaubte Wahrheit, Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 63) Göttingen 1995 [= Theol. Diss., Heidelberg 1995]. 71 Das ist die Hauptthese von Jürgen Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969. 72 Evident etwa in III Dialogus I, ii, ce. 3-8; im Druck bei Johannes Trechsel, Lyon 1494 (ND London 1961), fo1.191va -193va, übersetzt in: Ockham, "Dialogus" Auszüge (FN 17), 98-108. 73 Dazu zuletzt etwa Roberto Lambertini, Wilhelm von Ockham als Leser der "Politica", Zur Rezeption der politischen Theorie des Aristoteles in der Ekklesiologie Ockhams, in: Das Publikum (FN 44), S. 207-224.

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principatus dominativus ist, hat die Kirche als principatus ministrativus zu gelten 74. Aber solche Differenzen heben die Notwendigkeit nicht auf, auch die Kirche als sozialen Verband zu begreifen, der als solcher prinzipiell denselben Funktionen genügen muß wie die politische Organisation. Ockham hat seine Sozialtheorie sogar vorwiegend am Paradigma der Kirche entwickelt und über die staatliche Ordnung sich gleichsam nur im Vorbeigehen geäußert. Dadurch, daß er die reiche ekklesiologische Tradition aber als Frageraster mitbringt, kann er auch unabhängig vom aristotelischen Entwurf Zweckbestimmung und Leistungsfähigkeit des staatlichen Verbandes mit neuer Schärfe akzentuieren. Nur die Kirche ist etwa nach dem Wort des Jakobusbriefes 75 unmittelbar dem Evangelium als der lex libertatis unterworfen, aber diese Forderung färbt gleichsam durch auch auf den staatlichen Bereich, wo die aristotelische Tradition des Vorrangs einer Herrschaft über Freie vor der über Unfreie wie selbstverständlich unterstrichen wird76 . Ockhams politische Philosophie läßt sich nicht leicht in wenigen Sätzen zusammenfassen77 • Vor allem muß unterstrichen werden, daß Ockham seine Thesen nicht vorwiegend aus der Perspektive der staatlichen bzw. kirchlichen Organisation oder ihrer Leitungsorgane entfaltet, sondern aus dem Blickwinkel des einzelnen, der in diesen Organisationen steht, ihr unterworfen ist und sich zu ihr verhalten muß. Das theoretische Problem, das sein Nachdenken in Bewegung brachte, war zunächst nicht die Herrschaft des Menschen über Menschen, die trat erst später in sein Blickfeld, sein Ausgangspunkt war die Frage, ob die altissima paupertas, die höchste Armut, die der Heilige Franziskus seinem Orden in seiner Regel und in seinem Testament auferlegt hatte, überhaupt denkbar und einer Verwirklichung zugänglich sei. Ockham setzt also an bei dem Verhältnis des Men74 Diese Unterscheidung macht Ockham im ausdrücklichen Anschluß an Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium papam II.6.10sq., in S. Bernardi Opera, ed. Jean Leclercq u. H. M. Rochais, Bd. III, Rom 1963, S. 417- 419, besonders deutlich in seiner späten Schrift "De imperatorum et pontificum potestate" c. 7, Hrsg. Richard Scholz, Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern, Bd. 2 (Bibliothek des Kgl. Preußischen Historischen Instituts, 10) Rom 1914, S. 461-464; vgl. auch - weniger explizit - etwas früher "Breviloquium" II.2, Hrsg. Richard Scholz, Wilhelm von Ockham und sein "Breviloquium de principatu tyrannico" (Schriften der MGH, 8) Leipzig 1944, Ndr. Stuttgart 1952, S. 75-79, bes. 76; oder "Octo Quaestiones", VIII. 5; 202 f. Offler (FN 88); bzw. "An princeps" c.3 (ed. H.S. Offler, ebd., S. 237 f.). 75 Iac.1.25, vgl. dazu III Dialogus I.i.5-7; fo1.183rb -185ra Trechsel (FN 72). 76 z. B. III Dialogus II.ii.20 (fo1.255va). 77 Eine Skizze bei Jürgen Miethke, Ockhams Theorie des politischen Handelns, in: Rechts- und Sozial philosophie des Mittelalters, Hrsg. von Erhard Mock, Georg Wieland (Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie, 12) Frankfurt a. M. (usw.) 1990, S. 103-114; derselbe, Wilhelm von Ockham und die Institutionen des späten Mittelalters, in: Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen, Hrsg. Gerhard Göhler, Kurt Lenk, Herfried Münkler, Manfred Walther, Opladen 1990, S. 89-112. Vgl. auch das Nachwort in: Auszüge (FN 17), S. 209-242.

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schen zu Sachen, bei dessen Verfügungsrecht über die Güter der Welt. In seinen Aussagen bleibt er tief den Traditionen seines Ordens, wie sie sich im 13. Jh. herausgebildet hatten, verpflichtet: das strukturiert seine komplexen Überlegungen, liefert auf der anderen Seite aber auch vielfältige und verschiedenartige Materialien aus dem breiten Strom christlicher Überlieferungen seit der Väterzeit, die Ockham ingeniös neu zu akzentuieren weiß. Eigentum wurde dem Menschen nicht unmittelbar von Gott übertragen, das würde es nämlich unausweichlich, unverzichtbar und in seiner rechtlichen Form unveränderlich machen. Vielmehr hat Gott dem Menschen nach dem Sündenfall nur die Möglichkeit eingeräumt, durch die Zuordnung bestimmter Güter zu bestimmten Personen und Personengruppen den Folgen der Sünde, dem Bösen, zu wehren. Weil Gott dem Menschen nur die potestas acquirendi dominium einräumte, nicht die spezifischen Formen einer Aneignung von Gütern (des Eigentums), bleiben die konkreten Rechtsinstitute des bürgerlichen Rechts, das Eigentum und sein Schutz, Sache menschlicher Absprache und damit historisch wandelbarer Entscheidungen. Damit wird Verschiedenheit der Rechtsordnung örtlich und zeitlich möglich. Vor allem kann die Rechtsordnung zwar die Lebensverhältnisse der Menschen ordnen, aber nicht total bestimmen: im Fall der Not und des Vers agens der (menschlich eingerichteten) rechtlichen Verabredungen oder im Falle eines freiwilligen Verzichts auf solche Absicherung bleibt der Mensch in dem ihm ursprünglich zugedachten Verhältnis zu den Gütern oder tritt neu in dieses ursprüngliche Verhältnis ein: In casu necessitatis omnia sunt communia, i.e. communicanda 78. Kaum hatte Ockham diese Vorstellungen einigermaßen entfaltet, da hat er sie, klarsichtig, auch auf das Feld der sozialen Organisation übertragen. Analog zur Eigentumsbildung erhielt der Mensch in der postlapsarischen Situation auch die Befugnis zur Herrschaftsbildung, d. h. zur sozialen Organisation. Schließlich werden beide Möglichkeiten, die Formen des menschlichen Weltverhältnisses im Eigentum und die seiner politischen Institutionen, ausdrücklich eine duplex potestas genannt, scilicet appropriandi res temporales et instituendi rectores iurisdictionem habentes 79. Auch bei der politischen Herrschaftssetzung hat dieser Ansatz - wie bei der Eigentumsbildung - wichtige Konsequenzen. Die Geltung der politischen Verfassung kann sich nicht unmittelbar auf göttliches Gesetz berufen, Herrschaft ist (wie das Eigentum) Ergebnis menschlicher, fast kann man sa78 Ockham beruft sich immer wieder auf diesen traditionellen Satz; zu dessen Geschichte vgl. Brian Tierney, Medieval Poor Law, Los Angeles 1949; Gilles Couvreur, Les pauvres, ont-ils des droits? Recherches sur le vol en cas d'extreme necessite depuis la Concordia de Gratien (1140) jusqu'a Guillaume d'Auxerre (+1231), (Analecta Gregoriana, 111) Rom, Paris 1961; jetzt auch Langholm, Economics (FN 38), S. 72 ff. 79 Breviloquium III c.8 ;128 Scholz (FN 74).

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gen: historischer Entscheidungen, freilich auf der Basis allgemeiner anthropologischer Vorgaben. Diese Auffassung ermöglicht es Ockham, sehr verschiedene Traditionen wie selbstverständlich in seine Überlegungen einzubeziehen: die augustinische Vorstellung von einem generale pactum societatis humane 80 stützt seine Auffassung, die spätere Theorien von einem Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag vorbereitet, die aristotelische These vom animal sociale et politicum wird damit konkretisiert und gleichfalls wiederum historisiert. Daß Herrschaft ist, ist göttliche (postlapsarische) Anordnung, wer Herrscher ist und in welcher Form Herrschaft geübt wird, das fällt in menschliche Verantwortung. Es ist daher für Ockham ganz unstrittig, daß Herrschaft auch bei Heiden und Ungläubigen legitim geübt wird, unabhängig von jeder Einmischungsmöglichkeit der Kirche oder ihrer Sakramentsverwaltung. Der Streit Ludwigs des Bayern mit der Kurie von Avignon, die Auseinandersetzungen um das Königswahlrecht der Kurfürsten und die Mitwirkungsrechte des Papstes an der deutschen Herrschaftssetzung werden freilich nur in einer einzigen Schrift (und nicht im "Dialogus") explizit angesprochen 81 : die Auffassung Ockhams ist gerade nicht eine bloße Argumentationshilfe, sondern ergibt sich aus den Basisannahmen seiner politischen Theorie. Das alles bedeutet nicht, daß Ockham mit seiner Auffassung in seiner Zeit ganz allein stünde. Daß Menschen durch ihre Wahl den konkreten Herrscher bestimmmen, und daß somit ein Herrscher seine Herrschaft auch positivrechtlichen Akten verdankt, war eine weitverbreitete Aussage der Theoretiker82 . Ockham hat diese These aber sogleich energisch mit einem aus diesem Sachverhalt gefolgerten naturrechtlichen Widerstandsrecht im Notfall ausgefüllt. Die menschlich eingesetzte Herrschaft hat nämlich eine Funktion, sie dient zur repressiven Niederhaltung des Bösen unter den Bedingungen der Sünde 83 , und damit dient sie, ähnlich wie die Eigentumsordnung, dem Menschen als Werkzeug zur Lebensfristung. Wenn Herrschaft existiert und zu Recht existiert, haben die Herrscher das Recht, Gehorsam zu erwarten, und die Beherrschten haben die Pflicht, Gehorsam zu leisten, jedoch nur, solange diese Einrichtung auch ihren funktionalen Sinn erfüllt, im Rahmen gewissermaßen der Systembedingungen. Ein Herrscher darf

111 Diaiogus II.ii c.28; fo1.259ra Trechsel (FN 72); vgl. ebenda c.26, fo1.258ra. Octo quaestiones, ed. Hilary Seton Offler, in: Guilleimi de Ockham Opera politica, Bd. 1,2. Aufl. Manchester 1974. 82 Auch (um nur wenige, verschieden eingestellte Autoren hier zu nennen) Johannes Quidort, Marsilius von Padua, Augustinus von Ancona oder der Jurist Bartoius von Sassoferrato haben das vertreten. 83 Vgl. dazu Gian Luca Potestii, Rm 13,1 in Ockham, Origine e iegittimita dei potere civile, in: Cristianesimo nella storia 7 (1986), S. 465-492; Stürner, "Peccatum" und "potestas" (FN 27), S. 227 ff. 80 81

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seine Herrschaft üben in licitis, d. h. innerhalb der Grenzen, die ihm Natur und Sittlichkeit setzen 84 . Damit macht Ockham klar, ganz im Einklang mit der mittelalterlichen Tradition der politischen Ethik, wie sie sich zuletzt in den Fürstenspiegeln noch deutlich manifestiert hatte, daß die herrscherliehe Position nicht schrankenlos ist, sondern an höhere Gesetze gebunden bleibt. Deutlicher als seine Tradition markiert Ockham aber die Auffassung, daß der Notfall, der casus necessitatis, diese Entscheidungen widerrufbar macht, wenn der Herrscher schuldhaft versagt, jedoch auch dann, wenn ein persönliches Versagen des Herrschers nicht unmittelbar ersichtlich wird: Wo der Herrscher oder die Herrschaft ihre Funktion verfehlen, wo sie ihren Zweck nicht erreichen, fällt die Kompetenz einer neuen Anordnung (wie bei der Eigentumsordnung) wieder an die Gesamtheit der in dieser Herrschaft organisierten Menschen zurück, die Herrschaftsordnung wird durchlässig und es erwacht wieder die naturrechtliche Ursprungssituation: Rex enim superior est regulariter toto regno suo, et tamen in casu est inferior regno, quia regnum in casu necessitatis potest regem suum deponere et in custodia detinere. Hoc enim habet ex iure naturali 85 . Es ist sicher, daß es Ockham auf dieses Widerstandsrecht besonders ankam, begründete es doch seinen und seiner Freunde Kampf gegen den Herrscher der Kirche, den Papst. Bezeichnenderweise begründet er Recht und Pflicht zum Widerstand aber für beide, für Kirche und Staat, ununterschieden, gebraucht hier indessen die zeitgenössische Praxis der Herrscherabsetzung86 und natürlich auch die relativ breite theoretische Tradition zu deren Rechtfertigung 87 als Ausgangspunkte für Überlegungen, die weit über diese Traditionen hinausführen sollten. Hier soll dem nicht weiter gefolgt sein. Es dürfte ohnedies klar geworden sein, daß und wie auch dieser Franziskaner in die Geschichte der SäkulariVgl. III Dial II.ii.28, fol.259ra, Trechsel (FN 72). Octo Quaestiones 11.8, vgl. auch 11.9; 83, vgl. 85 Offler (FN 81). Vgl. auch Breviloquium VI.2; 200 Scholz (FN 74); I Dialogus VI c.55, 58, 63; VII c. 45, 57; fol. 75va-b, 76vb, 80va, 145va, 152rb Trechsel; III Dialogus II.i.c.1 u. 18; fol.231va u. 238vb-239va Trechsel. 86 Zum 14./15. Jh. zusammenfassend Frantisek Graus, Das Scheitern von Königen: Karl VI., Richard II., Wenzel IV., in: Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, Hrsg. Reinhard Schneider (Vorträge und Forschungen, 32) Sigmaringen 1987, S. 17-39; Helmut G. Walther, Das Problem des untauglichen Herrschers in der Theorie und Praxis des europäischen Spätmittelalters, in: Zeitschrift für historische Forschung 23 (1996), S. 1-28. 87 Klassisch die Studie von Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter (1. Aufl., 1910), 2. Aufl., Hrsg. Rudolf Buchner, Darmstadt 1954; neuerdings am eingehendsten Edward M. Peters, The Shadow King, "Rex inutilis" in Medieval Law and Literature, S. 751-1327, New Haven, London 1970; zu einem Einzelfall neuerlich Helmut G. Walther, Der gelehrte Jurist als politischer Ratgeber, Die Kölner Universität und die Absetzung König Wenzels, 1400, in: Die Kölner Universität im Mittelalter, Hrsg. Albert Zimmermann (Misellanea mediaevalia, 20) Berlin, New York 1989, S. 467-487. 84

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sierung der Staatsvorstellung gehört, weil Staat und staatliche Ordnung in ihrer Legitimität ganz unvermittelt durch die Kirche bei ihm wie selbstverständlich vorausgesetzt sind und die Kirche am Staat wie der Staat an der Kirche gewissermaßen gespiegelt werden. Nicht geringer als der Einfluß des Aristotelikers Marsilius von Padua darf die Nachwirkung Ockhams in der Geschichte des politischen Denkens veranschlagt werden. In der großen Krise der spätmittelalterlichen Papstkirche, im sog. Großen Schisma sollten die Intellektuellen, die sich auf den Konzilien versammelten, folgerichtig an beide anknüpfen können. 88 Das alles hat die politische Philosophie der Frühen Neuzeit weder vorweggenommen noch überflüssig gemacht. Hier, in diesen Debatten des 14. Jh., findet sich aber unter dem Mantel der Legitimationsanalyse meiner Auffassung nach zum ersten Male im Mittelalter eine Theorie von politischer Ordnung, die Staatlichkeit in ein "natürliches" Gesamtsystem einzuordnen und unabhängig von der Willkür einer nichtstaatlichen Instanz theoretisch zu begründen versuchte. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß in den Jahren dieser Debatten in Deutschland auch die Schrift eines Juristen veröffentlicht wurde, die, zwar gewiß mit zweifelhaften Gründen, jedoch nicht ganz unplausibel, als erster Entwurf eines Reichsstaatsrechts angesehen worden ist, "De iuribus regni et imperii" des Lupold von Bebenburg. Dieser in Bologna promovierte Kanonist, zur Zeit der Niederschrift seines Textes Offizial des Bischofs von Würzburg und später Bischof von Bamberg, hat seine kanonistischen Kenntnisse und Methoden entschlossen dazu verwandt, die Haltlosigkeit kurialer Ansprüche auf Mitwirkung bei der Einsetzung des rex Romanorum darzutun. Hatte ein König der westeuropäischen Königreiche schon zuvor als rex imperator in regno suo gewirkt, so wurde hier die These verfochten, daß auch der Imperator Romanorum nicht anders denn (wie man formulieren könnte) rex in imperio suo, d. h. als Herrscher wie andere Herrscher auch, verstanden werden könne und müsse. Die Besonderheiten des deutschen Kaiserwahlrechts werden durch Lupold keineswegs aufgehoben, sie werden aber in scharfsichtiger und scharfsinniger Argumentation als rechtliche Normen dargetan, die eine allgemeine staatliche Frage, die Sukzession im Herrschaftsrecht, regeln und die daher der Mitwirkung des Papstes an der Kaiserkrönung zu ihrer Legitimation nicht mehr bedürfen. Die Goldene Bulle Karls IV. sollte diesem Gedanken dann reichsrechtlich definitiv zum 88 Zur Nachwirkung des Marsilius und Ockhams im 14. und 15. Jh. vgl. außer den Bemerkungen bei Georges de Lagarde, La naissance de l'esprit lalque au declin du moyen-age, edition refondue, Bd. 3, Paris, Brüssell970, S. 358- 381; Jürgen Miethke, Marsilius und Ockham, Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späteren Mittelalter, in: Medioevo 6 (1980), S. 543-558; Hilary Seton Offler, The fnfluence' of Ockham's Political Thinking: The First Century, in: Die Gegenwart Ockhams, Hrsg. Wilhelm Vossenkuhl, Rolf Schönberger, Weinheim 1990, S. 338-365.

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Siege verhelfen; der Papst hat - nicht zuletzt durch dieses Gesetz - seinen Einfluß auf deutsche Königswahlen noch im 14. Jh. politisch unwiederbringlich verloren 89 • War der Traktat des Lupold auch gewiß kein vollständiges Reichsstaatsrecht, so ist doch eine wesentliche Frage der politischen Verfassung hier mit juristischen Mitteln entschieden worden. Nicht ohne Grund galt die Goldene Bulle von 1356, an deren Zustandekommen, wie zu vermuten ist, Lupold von Bebenburg als Bischof von Bamberg wohl einen unmittelbaren Anteil genommen hat 90 , noch Jahrhunderte lang als so etwas wie ein Reichsgrundgesetz 91 . Den Anfängen des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späteren Mittelalters wollten wir nachspüren. In unserem Bericht haben wir nur die ersten Schritte in sehr grober Übersicht in den Blick genommen. Eines ist aber, so hoffe ich, deutlich geworden, daß Säkularisierung hier keineswegs heißt, ursprünglich kirchliches Eigentum einer weltlichen Verwendung zuzuführen, denn Staat und Staatlichkeit waren nicht eigentlich kirchliche Domänen, die der Kirche hätten entfremdet werden können. Die allmähliche Emanzipation der theoretischen Konstruktion politischer Ordnung profitierte zwar ohne Zweifel von der Übersteigerung eines amtskirchlichen Zugriffs, die zu Protest und Widerspruch herausforderte, die theoretischen Positionen, die die mittelalterlichen Theoretiker aber schließlich erreicht haben, lebten ihrerseits aus den gleichen kirchlichen Traditionen, die auch der kurialistischen Zuspitzung der papalen Ideologie zum Material gedient hatten. Etwas zugespitzt ausgedrückt ließe sich die These vertreten, daß die Säkularisierung des Staatsbegriffs im Mittelalter in der Kirche und durch die Kirche begonnen hat.

89 Zusammenfassend Jürgen Miethke, Approbation der deutschen Königswahl, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3.Aufl., Hrsg. Walter Kasper, Bd. 1, Freiburg 1993. Scharfsinnig Giovanni de Vergottini, Lezioni di Storia deI Diritto Italiano, n Diritto Pubblico Italiano nei Secoli XII-XV, [31959-19601, Neudruck Hrsg. Carlo Dolcini, Mailand 1993, bes. S. 145-178. Eine Edition von Lupolds Traktat ist in Vorbereitung, dort vgl. die Einleitung. 90 Das freilich läßt sich nicht im einzelnen belegen, nur plausibel vermuten, vgl. vor allem die - unentschiedene - Erörterung bei Bernd-illrich Hergemöller, Der Nürnberger Reichstag von 1355/56 und die "Goldene Bulle" Karls IV., Phil.Diss. Münster 1978, S. 395-415. In der Buchfassung hat Hergemöller diese Ausführungen auf wenige Zeilen komprimiert: Fürsten, Herren und Städte zu Nürnberg 1355/56, Die Entstehung der "Goldenen Bulle" Karls Iv. (Städteforschung, A.13) Köln, Wien 1983, S. 161. 91 Vgl. nur Adolf Laufs, Goldene Bulle, in: HRG 1 (Berlin 1964-1971) Sp. 17391746; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 2), S. 69-71; neuerlich Jürgen Miethke, Die päpstliche Kurie des 14. Jh. und die "Goldene Bulle" Kaiser Karls IV. von 1356, in: Papstgeschichte und Landesgeschichte, FS Hermann Jakobs, Hrsg. Joachim Dahlhaus, Armin Kohnle (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 39) Köln, Weimar, Wien 1995, S. 437-450.

Aussprache Schneider (Hannover): Ich habe eine einfache Frage. Was heißt in bezug auf den mittelalterlichen Staat "säkular"? Ehe diese Frage nicht wenigstens annähernd beantwortet ist, könnten wir auf Abwege geraten. Nach meinem Eindruck ist der Staat immer ein christlicher, also ein religiös gebundener Staat geblieben, auf den das Attribut "säkular" nicht paßt. Auch die Unterscheidung zwischen Staat und Kirche, die Ausdifferenzierung der Gewalten, hat mit Säkularisierung wenig zu tun. Darum die schlichte Frage: Was verstehen Sie, Herr Miethke, unter "Säkularität"? Miethke: Fragen, die "schlicht" und "einfach" daherkommen, entpuppen sich häufig als die schwierigsten. Ich könnte es mir leicht machen und Sie an die Veranstalter verweisen, die mein Thema formuliert haben. Aber darauf möchte ich mich nicht zurückziehen. In meinem Referat habe ich versucht, zumindest Andeutungen einer Antwort zu geben. Im Mittelalter war der Staat natürlich immer ein christlich gebundener Staat. Was aber heißt "ein christlich gebundener Staat"? Es gibt ein breites Spektrum möglicher Antworten, welche die höchst unterschiedlichen staatlichen Konstitutionen und Kompetenzen sowie deren Grenzen formulieren. Das Denken in solchen Fragen war dem Mittelalter nur mit Hilfe der von der Kirche bereitgestellten begrifflichen Instrumentarien möglich. Mit diesen Instrumentarien hat die Kirche die Entwicklung vorangetrieben. In meinem Vortrag habe ich eine gewisse Verkürzung vorgenommen, indem ich die kritischen Positionen nur skizziert und nicht im einzelnen interpretiert habe. Ich wollte aber zeigen, daß eine Übersteigerung der kirchlichen Zugriffswünsche auf staatliches Handeln, wie es im 13./14. Jh. innerhalb der kirchlichen Theorieentwicklung etwa bei Johannes Quidort, bei Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham zu beobachten ist, eine Kritik heraufbeschworen hat, die dann zu dem hingeleitet hat, was man später den "säkularisierten Staat" nennen könnte. Eine besondere Schwierigkeit meines Themas, so wie man es mir gestellt hat, lag darin, daß der Begriff "säkularisierter Staat" (im Gegensatz zu der Idee des "souveränen Staates") kein Quellenbegriff ist. Das kann er gar nicht sein. Der Begriff der Säkularisierung hat, wie Herr Heckel es ausführlich darstellte, eine dichte Geschichte erst seit dem 17. Jh. Vorher kommt dieses Wort nur in ganz marginalen Zusammenhängen vor. Das macht es

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schwer, im Zusammenhang mit dem Staat von Säkularisierung zu sprechen. Man findet in einem spezifischen Sinn im 14. Jh. nicht einmal einen Staatsbegriff. Wenn wir nur Quellenbegriffe benutzen, dann geraten wir freilich in die bekannten Schwierigkeiten. Ich habe versucht, eine These vorzustellen, die andeutet, was im Mittelalter "säkular" heißen kann. "Säkular" heißt nicht eine völlige Außerkirchlichkeit, heißt auch nicht die Enteignung des Kirchenguts, auch nicht die Übertragung kirchlicher Instrumentarien, Begriffe, Vorstellungen, Besitztümer auf die weltliche Sphäre. "Säkular" heißt in diesem Falle eine zunehmende Differenzierung und eine zunehmende Autonomisierung der einzelnen Bereiche. Damit bereitet sich das vor, was Herr Stolleis erhellend zusammengefaßt hat als einen von einem neuen Begriff ausgehenden neuen Ansatz, der die Problematik im 17. Jh. mit neuen Augen sehen lehrt, wobei freilich zu sagen ist (auch das hat Herr Stolleis betont), daß dem mittelalterliche Wurzeln voraus liegen. Einige dieser mittelalterlichen Wurzeln habe ich, vielleicht allzu mikroskopisch, betrachtet. Habe ich damit Ihre schlichte Frage schlicht genug beantwortet?

Schneider (Hannover): Ich weiß, wie kompliziert das ist. Ich denke aber, daß Sie uns im wesentlichen doch sagen wollten: Hier sind Bestrebungen im Gange, weltliche Herrschaft aus dem Totalitätsanspruch der Kirche zu lösen. Das bedeutet: relative Autonomie weltlicher Herrschaft. Ob man diesen Befund schon mit dem Begriff "Säkularisierung" bezeichnen sollte, möchte ich mit einem Fragezeichen versehen. Aber wenn es das ist, bin ich zufrieden. Miethke: Das wollte ich zwar auch sagen. Aber das war nicht alles. Der kirchliche Anspruch, den ich Ihnen etwa bei Bonifaz VIII. vorgestellt habe, ist keineswegs von Anfang bis zum Ende des Mittelalters unverändert der gleiche geblieben. Ich wollte zeigen, daß auch eine Dynamik zu beobachten ist, und daß der Welt anspruch des Papsttums am Ende des 13. Jh. nicht etwas ist, was man im Grunde schon im 11. Jh. finden kann. Es geht nicht ausschließlich um ein reines Emanzipationsbestreben und eine bloße Autonomisierung weltlicher Herrschaft. Es gibt eine Dynamisierung des kirchlichen Anspruchs; es gibt eine Dynamisierung staatlicher, herrschaftlicher Verdichtung. Das können Sie in der Verfassungsgeschichte finden, in den politischen Aktivitäten, in der Ablösung einer universalen "kaiserlichen" Struktur durch die nationalstaatlichen Bestrebungen des 14. Jhs. Das läßt sich in verschiedenen Phänomenbereichen nachweisen. Auch das Phänomen dessen, was man abgekürzt "Säkularisierung" nennt, gehört dazu. Ich bin nicht ganz zufrieden, wenn Sie sagen, Säkularisierung sei nur Autonomisierung. Wäre dem so, warum sollten wir dann nicht besser nur von Autonomisierung sprechen? Das wäre einfacher; es schützte uns davor, ei-

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nen ohnehin komplizierten Sachverhalt durch zusätzliche Komplizierung zur Unverständlichkeit zu verbiegen. Ich versuchte daher, auch die Dynamik des Prozesses mitaufzugreifen. Darin habe ich den Sinn der Fragestellung der Veranstalter gesehen. Das Thema "Die Anfänge des säkularisierten Staates" war eine Idee der Veranstalter; aber ich habe mir ihre Idee in diesem Sinne zu eigen gemacht.

Luntowski: Gestatten Sie auch mir einen kurzen eigenen Beitrag. Ich sehe eine deutliche Zuspitzung der dynamischen Entwicklung, von der Sie sprechen, zu Anfang des 14. Jh. Man könnte mit Auguste Comte sagen, das 14. Jh. sei "der Beginn der revolutionären Epoche der Weltgeschichte". Es ist hier ein Durchbruch der "säkularen" Ideen erfolgt, zum erstenmal jedenfalls in dieser Schärfe und Deutlichkeit (etwa im Begriff des legislator humanus im Defensor des Marsilius), dem andererseits die Forderung nach einer Spiritualisierung der Kirche durch den Entzug der potestas coactiva entspricht. Hier liegen m.E. sehr wesentliche geistige Wurzeln des "säkularisierten S taa tes" . Boldt: Das Thema der "Säkularisierung" kann man sicherlich nicht nur im Rahmen des 15. Jh. anschlagen, was Sie ja auch nicht getan haben. Sie haben Ihren Vortrag mit dem Investiturstreit begonnen. Wenn man schon von Säkularisierung des Staates als einem Vorgang im Mittelalter spricht, so muß man sie als einen Prozeß begreifen, zu dem auch dieser Streit gehört. Ein Moment dieser Säkularisierung ist dann wohl auch, daß man im Investiturstreit von päpstlicher Seite den König nicht mehr als eine geistliche Autorität akzeptiert, sondern ihn rex terrenus nennt; ihm kommt nur noch ein weltliches Amt zu. Die Entsakralisierung des Königtums ist m.E. ein sehr frühes Zeichen des Säkularisierungsvorgangs. Hier stößt die Kirche den Staat bzw. die Person des Königs aus dem religiösen Bereich aus. Nicht der Staat löst sich von der Kirche ab; die Dinge verliefen umgekehrt. Es handelt sich nicht um eine Entchristianisierung, sondern nur um eine Entsakralisierung des Staates. Miethke: Von einer Entsakralisierung möchte ich nur ungern reden, weil sich die Kirche im Investiturstreit selbst als Amtskirche definiert und von der Laienwelt abgegrenzt hat. Erst das hat den König entsakralisiert. Daß man seine Heiligkeit angezweifelt hat, war eher sekundär. Man hielt dem König entgegen: "Was immer Du sein magst, Du gehörst nicht zur Amtskirche, so wie sie aufgrund ihres göttlichen Auftrags Ansprüche erheben kann." Erst damit wurde die Entsakralisierung zum Problem. Der König ist nicht mehr eo ipso Mitglied der Amtskirche, sondern Laie. Damit werden seine Eingriffe in die Kirche und ihr Eigentum zur Simonie: Also mußte der König ausgegliedert und ausgegrenzt werden. Das ist zunächst nur eine Ausgrenzung, nicht eine Negativbestimmung: die Negativbestimmung ist

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die Folge der Ausgrenzung. Aber die Frage ist, ob das eine "Säkularisierung" ist. Natürlich wird mit der Konzentration der Kirche auf die Amtskirche zugleich die Welt verweltlicht. Das ist ein Prozeß, der bis in die Gegenwart weiterläuft, daß die Kirche mit einer stärkeren Differenzierung des Heiligen und des Nichtheiligen das Nichtheilige selber immer stärker verweltlicht. In diese Weiten wollte ich das Thema eigentlich nicht entfliehen lassen. Deswegen habe ich das im Referat nur angedeutet, ohne darauf einen starken Ton zu legen. In der Tat fallen im 14. Jh. Entscheidungen, die dann auch für die Zukunft wichtig werden. Ich möchte das mit einem einzigen Hinweis andeuten. Autoren wie Ockham, Quidort, oder Marsilius sind natürlich nicht unbedingt Autoren des "main stream", sondern Oppositionsautoren, was sich auch an ihren persönlichen Schicksalen zeigen läßt. Auf der anderen Seite kann man schon bei einem Autor wie Marsilius als Vorgriff auf spätere Zeiten lesen, daß ein Gesetz zum Gesetz wird, weil es von dem zur Gesetzgebung kompetenten Organ erlassen wird (also nicht durch seine innere Richtigkeit). Liegt einem Gesetz eine falsche Einsicht zugrunde, so ist es allein deshalb keineswegs ungültig. Das ist spezifisch marsilianisch; bei Ockham und bei Dante sieht das anders aus. Aber solche Positionen kommen vor und damit liegen Vorgriffe auf Entwicklungen vor, die erst Jahrhunderte später ihren Abschluß oder ihre Ausprägung finden. Gleichwohl ist es natürlich immer gefährlich, in einem bestimmten Jahrhundert die Revolution, die "Achsenzeit" der Weltgeschichte zu entdecken. Die "Achsenzeit" ist ein schöner Begriff von Karl Jaspers, der auf den ersten Blick auch einleuchtet. Sieht man jedoch genauer hin, so wirkt er nicht mehr ganz so treffend. Erst recht schwierig wird es, wenn man sich darauf kapriziert, die Achsenpunkte des Mittelalters zu suchen. Darum habe ich lieber versucht, phänomenal zu beschreiben, was geschehen ist. Daß im 14. Jh. in der Tat wichtige Entwicklungen vor sich gehen, ist ganz unbestreitbar.

Heckel: Wenn ich Ihre Schlußthese mit Zustimmung aufgreifen darf, möchte ich nochmal die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß der Säkularisierungsbegriff in der Geistesgeschichte in der Regel zu eng verwendet wird. Das geht auf die Arbeiten von Hermann Lübbe und Hans Blumenberg zurück, vor allem aber auf die Diskussion des Säkularisierungsbegriffs in der missionswissenschaftlichen Literatur der frühen Zwanziger Jahre. Man hat da versucht, den allgemeinen geisteswissenschaftlichen Begriff der Säkularisierung, weil er ins Unscharfe zu zerfließen droht, stringent zu klären durch die Analogie und Ausrichtung nach dem juristischen Begriff der Kirchenguts-Säkularisierung. Weil dies viel zu eng ist, ist man auf einen Abweg geraten. Auch stellt die Kirchenguts-Säkularisierung nur eine der vielen Spielarten juristischer Säkularisierungsvorgänge dar. Als einseitiger

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staatlicher Akt des Kampfes gegen die Kirche hat die Kirchenguts-Säkularisierung etwas Zwangsmäßiges; das Stigma des Rechtsbruchs charakterisiert sie. Mit diesem Säkularisierungsbegriff verbaut man sich die Erfassung der bruchlosen Wandlungsprozesse des Rechts. Säkularisierung geschieht ganz allgemein, wenn sich eine kirchliche oder sakrale Erscheinung in etwas Weltliches verwandelt. Man muß sich hierbei von dem speziellen Kirchenguts-Säkularisierungsbegriff lösen, der ja zum erstenmal in den westfälischen Friedensverhandlungen von dem französischen Unterhändler ins Spiel gebracht wurde, um das Kirchengut als Verfügungsmasse für die Entschädigung der fremden Mächte zu verwerten. Bei der Säkularisierung muß man sich zunächst darüber klar werden, wer als ihr Subjekt zu gelten hat. Es kann sich die Kirche säkularisieren oder der Staat, und das kann jeweils in ganz verschiedenem Sinn und Werturteil gemeint sein. Wenn von der Säkularisierung der Kirche gesprochen wird, wird dies eher abwertend gesagt: Die Kirche verliert ihren eigentlichen geistlichen Auftrag, büßt ihr geistliches Wesen ein und gleitet in Weltherrschaft, weltliche Finanzausbeutung usw. ab. Dieser Säkularisierungsbegriff wurde insbesondere von der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung seit der Aufklärung eingeführt und auf die katholische Kirche angewandt. Im Hinblick auf den Staat wurde der Säkularisierungsbegriff ganz anders verwendet. Man bezeichnete mit ihm in der Regel die Emanzipation des Staates aus kirchlichen Bindungen oder überhaupt aus dem theologischen Denken. Dieser Säkularisierungsbegriff ist geistesgeschichtlich vor allem von den Links-Hegelianern entwickelt worden. Das ist in sehr verschiedenen, langen Begriffsketten geschehen, die sich vielfach verschlingen und verknüpfen. Wenn die Säkularisierungsdebatte beim Investiturstreit beginnt, kommt sie sogleich in die genannte Schwierigkeit: Auf welcher Seite lag bei ihm die Säkularisierung? Säkularisierung vollzieht sich hier als Entsakralisierung der ottonisch-salischen Königskirchenherrschaft, wenn der Verlust ihres sakralen Wesens von der Cluniazenser-Reformpartei erstrebt wird. Aber von seiten dieser Cluniazenser-Reformpartei sieht man gerade in dieser bekämpften Königskirchenherrschaft vor dem Investiturstreit eine Säkularisierung - eine Säkularisierung der Kirche, die durch die Rückkehr zum wahren geistlichen Wesen der Kirche beseitigt werden muß, wie dies der Grundgedanke der Cluniazenserreform fordert. Diese Spiritualisierung der Kirche führt in der Tat zu einer Revolution LS. der Säkularisierung des Reichskirchenrechts, wenn man so will. Aber die Entsakralisierung der germanisch-deutschen Königskirchenherrschaft führt nicht zu deren Säkularisierung L S. ihrer Lösung aus der theologischen und kirchlichen Begründung und Verpflichtung, sondern zu ihrer Unterwerfung unter die Weltherrschaft der Päpste, die zum erstenmal im Dictatus Papae Gregors VII. pro-

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klamiert und dann von Bonifaz VIII. relativ konservativ juristisch aus geformt wird und damals gar nichts Neues mehr darstellte. Welche Säkularisierungsvorgänge sind hier nun eigentlich passiert? Hat sich nicht auch die Kirche "säkularisiert", d. h. innerlich verweltlicht, indem sie über die Kirchengewalt hinaus die Weltherrschaft in Anspruch nahm? Oder hat sie die Säkularisierung der Kirche durch die Laienherrschaft der deutschen Könige überwunden? Dies ist jeweils eine Frage der Definition, d. h. der Maßstäbe, und deshalb muß die historische Darstellung und Bewertung jeweils die näheren Kriterien ihrer Aussagen offenlegen. Sonst redet man weit aneinander vorbei. Besonders schwierig ist das Verständnis der Vorgänge und rechtlichen Prozesse in der Reformation. Die Reformation geht von einem ganz anderen theologischen Begriff der "Welt" und "Weltlichkeit" aus, der die weltliche Obrigkeit (im Angesicht der reformatorischen Neubesinnung der weltlichen Herrschaft) der Botmäßigkeit der Kirche i.S. des Kanonischen Rechts entzieht. In der Eigenständigkeit ihres weltlichen Berufes wird die weltliche Obrigkeit in einem Sinn von "Welt" verstanden, der die Eigenständigkeit der Welt insgesamt scharf gegenüber dem katholischen Denken und Recht hervorhebt. Aber dies ist der theologische Begriff von "Welt" der Reformation. In diesem Sinn ist auch die Ehe für die Reformatoren ein "weltlich Ding". Aber dieses theologische Verständnis von Welt und Weltlichkeit ist scharf zu unterscheiden von dem Gedanken der "Säkularisierung" als Emanzipation der säkularisierten Welt von der Kirche und Theologie, wie wir ihn später in der Aufklärung finden. So wie Sie, wenn ich Sie recht verstanden habe, den Begriff der Säkularisierung verwenden, wird damit zum einen das Bestreiten der päpstlichen Weltherrschaft, der Universaljurisdiktion des Papstes über die Welt ausgedrückt, zum anderen der Versuch einer eigenständigen innerweltlichen Begründung der weltlichen Obrigkeit und ihrer Kompetenzen und Funktionen umschrieben. Dies scheint mir sehr sinnvoll; doch muß man es abgrenzen gegenüber anderen Säkularisierungsbegriffen und -ideen.

Miethke: Ich danke für die Ergänzung. Ich kann nur unterstreichen: die Kritik an der rein kirchlichen Übermächtigung weltlicher Herrschaft führt zu zweierlei Entwicklungen: zur Konstruktion (meist mit aristotelischen, philosophischen Mitteln) einer Staatlichkeit auf einer natürlichen, oder doch zumindest naturrechtlichen Grundlage, und zweitens auch in der Kompetenzanalyse ihrerseits zu einer bestimmten Begrenzung auch staatlich politischer Herrschaft, die bei Marsilius, bei Ockham, bei Quidort, bei Dante, usw. im einzelnen verschieden vorgenommen wird. Es sind jeweils bestimmte Begrenzungen angesetzt, die aber nicht jeweils die kirchliche In4 Der Staat, Beiheft 11

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stanz zur federführenden Instanz der Begrenzung staatlicher Macht machen. Die Staatlichkeit wird so definiert, daß sie in sich selbst als eine begrenzte gedacht wird. Das ist ein zukunftsträchtiger Gedanke, der auch noch in der Zeit des 17. Jh. eine gewisse Rolle spielt, wenn er auch bis dahin zunächst einmal in den Hintergrund getreten ist. Aber im Mittelalter ist die Frage nach der Begrenzung staatlicher Macht das eigentlich entscheidende thema probandum. Hier wird eine Diskussion ausgetragen um die Begrenzung staatlicher Macht durch eine unbegrenzte kirchliche Gewalt, die zunächst überhaupt nicht weiter befragt wird; diese kirchliche Gegenmacht wird in der Diskussion aber immer stärker begrenzt. Es wird gesagt, der Papst dürfe selbst kraft seiner plenitudo potestatis bestimmte Dinge nicht tun, er dürfe seine plenitudo potestatis nur im Sinne des allgemeinen Besten, im Dienste einer evidens utilitas oder in einer evidens necessitas ausüben (so Ockham). Oder man sagt, der Staat dürfe im Grunde alles, aber dann müßten alle dies wollen (so etwa Marsilius von Padua). Es werden Begrenzungen gesucht, die die Begrenzung durch die kirchliche Instanz vermeiden. Auch damit geschieht etwas, was man Säkularisierung nennen kann.

Wolf: Sie sagten, Herr Miethke, daß Sie das Thema nicht selbst formuliert haben. Insofern richtet sich meine Frage vielleicht auch nur zum Teil an Sie. Aber Sie sagten, Sie hätten sich das Thema zu eigen gemacht. Als ich hierher reiste, habe ich mich gefragt, was es meint: die Anfänge des säkularisierten Staates, und einen andern gibt es nicht? Oder ist gemeint: die Anfänge des säkularisierten Staates im Gegensatz zu einem anderen nicht säkularisierten Staat? Anders ausgedrückt: ist der Staat per se säkularisiert, und geht es um die Entstehung dieses Staates, der als säkularisiert definiert wird, oder geht es um die Entstehung eines säkularisierten Staats, der vorher anders war, theokratisch, oder wie immer. Sie brachten am Anfang die Hierarchie der Engel des Pseudo-Dionysios Areopagita. Läuft da wirklich eine Linie von den neun Chören der Engel zum säkularisierten Staat? Ich denke an ein Bild der Engelschöre aus der Zeit, über die Sie gesprochen haben. Es gibt ein Bild im Louvre, etwa um 1400, auf dem die Hierarchien der Engel nicht etwa kreisförmig in Himmelssphären angeordnet sind; die Engel sitzen sich wie eine mittelalterliche Ständeversammlung auf mehreren Bankreihen gegenüber; am Kopfende der Thron Gottes. Auf diesem Bild ist nicht der Staat säkularisiert, sondern eher umgekehrt: die Menschen stellten sich die Chöre der Engel so vor, wie eben ihr "tatsächlicher Staat" organisiert war. Dieser Blickwinkel wäre eine Alternative.

Blaschke: Mein Einhaken betrifft die gleiche Stelle, von der Herr Wolf gesprochen hat. Heißt "säkularisierter Staat", daß es vorher einen nicht säku-

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larisierten Staat gegeben habe? Das würde die Frage nach dem Begriff des Staates aufrühren, Herr Stolleis hat dann darauf hingewiesen, daß wir im Mittelalter nicht vom Staat sprechen können, weil der Staat eigentlich erst in der Neuzeit beginnt. Das verbietet es, im Mittelalter vom "Staat" zu reden. Im Mittelalter gibt es Imperium, es gibt Herrschaft auf verschiedensten Ebenen, aber keinen Staat. Das wäre die eine Interpretationsmöglichkeit; es gibt immer Staat und dieser Staat ist vorher sakraVsakramental und säkularisiert. Das könnte ich nicht mitvollziehen. Die zweite Interpretationsmöglichkeit sieht den Staat per definitionem als säkular an. Dem könnte ich zustimmen. Herr Miethke hat eine Reihe von Argumenten dafür gebracht, daß im Prozeß der Entsakralisierung von öffentlicher Gewalt der moderne Staat entsteht. Das führt sogleich zu der Frage, ob man den Staat so, wie er sich in der Neuzeit wirklich herausgebildet hat, als säkularisiert bezeichnen kann. Denken Sie an den protestantischen Territorialstaat, der aus der Konversionszeit hervorgeht und dementsprechend starke geistliche Ansprüche zumindestens verkörpert und eine förmliche Einheit von geistlicher und kirchlicher Gewalt in der Person des Landesfürsten hervorbringt. Kann man das einen säkularisierten Staat nennen? Ich würde eher sagen, hier haben sich die Dinge umgekehrt. Während vorher die öffentliche Gewalt unter dem großen Dach der Kirche und der geistlichen Gewalt steht, ist es jetzt die weltliche Gewalt, die sich die Kirche nutzbar macht. Da möchte ich fragen, ob nicht doch das von Ihnen als Antwort auf Herrn Schneider gebrauchte Wort der Emanzipation sinnvoller ist. Das was hier beschrieben worden ist, ist vielleicht in Wirklichkeit eine Emanzipation einer weltlichen öffentlichen Gewaltausübung von der Kirche als Institution. Aber auch inhaltlich findet zeitweise eine Emanzipation von den geistlichen Zielen statt. Aber diese geistlichen Staats-Ziele bleiben auch im frühneuzeitlichen Territorialstaat in Deutschland noch immer erhalten. Beim französischen Nationalstaat oder in der anglikanischen Kirche verhielt es sich ähnlich. Der weltliche Sektor herrschaftlicher Gewalt wird stärker, das scheint mir das Entscheidende zu sein; der geistliche Sektor bleibt gleichwohl bestehen.

Schneider (Saarbrücken): Herr Miethke, Sie haben die gedankliche Entflechtung und Lösung der Staatlichkeit oder des auf den Staat bezogenen Denkens aus der kirchlich-christlichen Bindung behandelt und herausgestellt, daß die Säkularisierung des Staatsbegriffs bzw. des Staatsdenkens in der Kirche begonnen hat und durch sie gefördert worden ist. Diese These ist wohl stark quellenbedingt. Für das Frühmittelalter fehlen bekanntlich entsprechende Traktate; das macht die Quellenfrage besonders prekär. Stellt man jedoch auf das staatliche Handeln ab und unterstellt man, daß es vermutlich genau überlegt ge4·

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wesen ist, so muß sich in ihm auch eine Form des Denkens spiegeln. Den Zugang zu diesem Denken kann die Historiographie öffnen. Sie ist nicht immer ausschließlich heilsgeschichtlich orientiert. Pseudo-Fredegar im 7. Jh. beispielsweise beschreibt ausdrücklich und bewußt acta regum et bella gentium. Dieser Autor behandelt die gentes in einer Weise als Einheiten, daß man denken könnte, sie besäßen in ihrer Staatlichkeit so etwas wie eine Außenhaut. Bemerkenswerterweise empfindet Fredegar Rom und eben auch Byzanz jeweils als gens. Hier scheint ein weitgehend entchristlichtes, wenn Sie so wollen säkularisiertes Denken faßbar. Mindestens für die Merowingerzeit scheint es auch mit dem staatlichen Handeln zu korrespondieren.

Sprandel: Die Bemerkung von Herrn Schneider bringt mich auf die Frage, ob man säkularisierende Denktendenzen nicht auch als Wellenbewegung sehen kann. Herr Schneider sprach ein frühmittelalterliches Beispiel an, das auf einen "säkularen Staat" hindeutet und vielleicht noch Nachwirkungen aus spätantikem Staatsdenken erkennen läßt. Dann kommt in der Karolinger- und Ottonenzeit eine starke Verchristlichung, Sakralisierung dieser Art des Staatsdenkens. Auf sie folgt eine Rückbewegung, aus welchen Gründen auch immer, und in der Reformationszeit eine neue Aufladung des "Staates" mit christlichen Aufgaben, mit religiösen Kompetenzen. Meine eigentliche Frage an Herrn Miethke ist freilich eine andere. Er hat mehrfach von dynamischen Tendenzen gesprochen, von Dynamismus. Herr Stolleis sprach von Entwicklung. Was meint das eigentlich? Geht es um ein Grundgesetz, das wir nicht weiter hinterfragen, oder handelt es sich um eine Vereinfachung, in der viele Kontingenzen - historische Ereignisse, plötzliche Mutationen - stecken, die wir ein bißchen planieren, indem wir rückblickend von einer "Entwicklung" sprechen? Wenn ich mich auf das Referat von Herrn Miethke konzentriere, erscheinen zwei treibende Kräfte besonders wichtig. Die eine ist die Kirche; auch die Kirche, die überspannt, überfordert, provoziert; die Kirche, die frei macht. In ihr tritt das religiöse Denken als großer Motivator der abendländischen Entwicklung in Erscheinung. Die andere Kraft ist die Begegnung mit der Antike: der wiedergelesene Aristoteles, das wiedergefundene Römische Recht. Dies sind Leistungen, die zwar in Berührung mit der Kirche, aber doch nicht eigentlich in ihrem Dienste erfolgen, sondern eher gegen sie. So verhält es sich zumindest bei Aristoteles. Gibt es neben diesen beiden Kräften noch weitere? Oder machen sie allein das aus, was Sie Dynamismus und Entwicklung nennen?

Dilcher: Ich möchte auf einem Umweg noch einmal zu dem Punkt im 11. Jh. zurückkommen, der schon mehrfach angesprochen ist. Der säkulare Staat ist für mich eine Erscheinung, die nur unser Kulturkreis hervorgebracht hat. Darauf gehen die weltweiten Schwierigkeiten zurück, das euro-

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päische Staatsmodell und das europäische Rechtsmodell zu exportieren. Wenn man die Frage nach dem säkularen Staat stellt, muß man sie aus dieser Perspektive stellen, sonst scheint mir das Beiwort "säkular" nicht sinnvoll, weil man mit ihm nicht den Kern dieser Bewegung in den Griff bekommt, sondern an kurzfristigen Entwicklungen haften bleibt. Sie, Herr Miethke, haben die kirchliche Reformbewegung, oder den Investiturstreit oder wie immer man den Ausgangspunkt nennen mag, angesprochen und immer wieder darauf Bezug genommen. Mir scheint dieser Punkt bei Ihnen weniger zentral zu sein, als ich ihn verstehen würde. Die Welt des 11. Jh. war keineswegs eine im Politischen von der Kirche dominierte Welt; diese Welt wurde vom Königtum und vom germanischen Adel dominiert. Sie lebte allerdings in einem religiösen Weltbild, in einem archaischen, nicht rationalen, auch nicht im Sinne des antiken Christentums rationalen Weltbild. Hier scheint mir der entscheidende Umschlag stattgefunden zu haben, indem die Dinge in der Befreiungsbewegung der Kirche im Rückgriff auf ein Arsenal von antiken und christlichen Gedanken neu definiert worden sind, und zwar mit Hilfe eines beginnenden juristischen und dialektischen Denkens, das die institutionellen rechtlichen Zuständigkeiten und in einem Komprorniß auch die Legitimationsgrundlagen neu definiert. Von diesem Ausgangspunkt her findet ein dauerndes Infragestellen von regnum und sacerdotium, also von Staat und Kirche, statt, was einen Prozeß in Gang gebracht hat, der in dem säkularisierten Staat des 17.118.Jh. geendet hat. Es ist das ständige machtmäßige Auf-die-Probe-Stellen, in welchem keiner der beiden Bereiche den anderen überwinden konnte, von dem Vorgang zu trennen, in dem aus den anerkannten Legitimationsvorstellungen keiner den anderen geistig entlegitimieren und dadurch überwinden konnte. Erst in den religiösen Kriegen des 16.117.Jh., aus denen dann Bodin und Hobbes hervorgegangen sind, fand eine Bewegung statt, die man wirklich als Säkularisierung bezeichnen kann. Aber ich meine, daß dieses Auf-die-Probe-Stellen und ständige Durchleuchten als jahrhundertelanger Prozeß, den Herr Miethke eingehend geschildert hat, das Vorspiel dazu ist. Meine Frage lautet: Müßte nicht der Ausgangspunkt des 11. Jh. etwas stärker beleuchtet werden, als Sie das in Ihrem Vortrag getan haben?

Mohnhaupt: Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Begriff der Säkularisierung vor allen Dingen darin repräsentiert zu sehen, daß Königtum und Kirche - wie Herr Miethke es genannt hat - einander mit konträren Ansprüchen gegenübertreten. Ich glaube, daß gerade das ein entscheidender Punkt ist. Darin verdeutlicht sich ein Prozeß, den man als Säkularisierung im Sinne einer allmählichen Dominanz der weltlichen Gewalt bezeichnen kann. Dieser Prozeß verläuft natürlich nicht bruchlos und geradlinig. Darin zeigt sich auch, wie mir scheint, die Frage nach neuen Hierarchien oder ein Prozeß der neuen Hierarchisierung und Kompetenzbestimmungen.

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In diesem Zusammenhang wollte ich nur darauf verweisen, daß der Gebrauch der Corpus-Metapher in der Traktatliteratur - nicht nur in der medizinischen, die Sie ausgespart haben - interessante Hinweise geben kann. Diese Hierarchisierung im Sinne von Kompetenzordnungen kann auch als Säkularisierungstendenz gedeutet werden. Johannes von Salisbury benutzt zum Beispiel die Corpus-Metapher dazu, die Hierarchieordnung in neuer Form und mit neuen Stellenwerten bildhaft zu veranschaulichen. Es ist sehr gut in seinem "Policraticus" zu beobachten, wie und wo er die geistliche Gewalt in dem als Einheit gedachten Körper lokalisiert, wie der gesamte Organismus vom Kopf bis zu den Füßen als "staatlicher" Aufgabenbereich gedeutet wird, und welche officia rei publicae dem Herrscher und den Ständen vor oder nach den Geistlichen zugeordnet werden. Hier sind ferner Marsilius von Padua und die medizinische Literatur des 16. Jh. zu beachten. Auch sie repräsentieren eine politische Theorie, die weit über die Ebene naturaler Metaphorik und bildhafter Anschauung hinausgeht und über "Säkularisierung" Aussagen zu machen erlaubt.

Zlinszky: Herr Stolleis hat darauf hingewiesen, daß Europa aus Einzelfällen besteht. Ich möchte auf einen solchen Einzelfall aus dem 16. Jh. hinweisen. Aus praktischen und politischen Gründen ist der wohl erste säkularisierte Staat in Europa in Siebenbürgen entstanden, in dem zwei, drei unabhängige Nationen in einer für Religionsfehden geradezu prädestinierten Zeit einen Staat gegründet haben und bewußt von jedem Eingriff in religiöse Fragen abgesehen haben, um überhaupt existieren zu können. Sie haben vier gleichberechtigte Religionen angenommen, zu denen dann einige weitere hinzugetreten sind. Dabei haben sie jeden Anspruch auf eine führende Religion bewußt abgelehnt. Die Jesuiten wurden nie zugelassen, um die Gegenreformation auszusperren. Dieser Staat bestand bis ins 19. Jh. trotz der Habsburger Herrschaft ab dem 18. Jh. in reiner Trennung von Religion und Staat, in der keine der beiden Seiten auf die andere Einfluß nehmen wollte. Das ist Säkularisation in der Gestalt der Toleranz. Der Staat unterstützt die Kirche nicht, weder finanziell noch in seinen Gesetzen, und die Kirche hat keinen Einfluß auf die Politik des Staates. Dabei ist es zweieinhalb Jahrhunderte lang ohne Unterbrechung so geblieben. Quaritsch: Herr Blaschke verweist auf die im 16. und 17., auch im 18. Jh. noch außerordentlich starke und bewußte Christlichkeit der weltlichen Herrschaft. Das Thema "Die Anfänge des säkularisierten Staates" ist nicht über die Inhalte zu erfassen, sondern von der Zuständigkeit, von der Frage also, was zu den geistlichen oder weltlichen Dingen gehört. Auch Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham waren fromme Leute; sie wollten keine unchristliche weltliche Herrschaft, vielmehr die weltlichen und die geistlichen Dinge den weltlichen und geistlichen Instanzen zur Alleinentscheidung zuweisen. Im übrigen setzt die Diskussion des säkularisierten

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Staates das Christentum und seine besondere Organisation voraus. Aristoteies und Cicero hätten diesen Streit überhaupt nicht verstanden, weil die priesterlichen Ämter in der polis wie in der res pub li ca besetzt wurden wie die Ämter der Strategen und der Konsuln. Erst mit dem Christentum ist eine eigene Organisation entstanden und von den weltlichen Herrschaftsverbänden im Kern immer getrennt geblieben. Seit Gelasius wird zwar das weltliche von dem geistlichen Schwert unterschieden, aber erst mit der kluniazensischen Kirchenreform, also seit dem 11. Jh., wird um die Zuständigkeiten gekämpft. Die neue Selbstbehauptung im kirchlichen Bereich forderte die Selbstbehauptung des weltlichen Bereichs heraus. Der jahrhundertelange Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum wurde geführt, weil jede Seite glaubte, in existentiellen Fragen auch für den anderen Bereich zuständig zu sein. Bis in die Gegenwart hinein versteht sich weltliche Herrschaft in Europa und in den USA, überhaupt in den vorwiegend von Christen bewohnten Staaten, niemals als " unchristlich " oder areligiös, der Staat beansprucht aber die Kompetenz, in seinem Bereich das letzte Wort zu haben und über die Grenzziehung zwischen geistlicher und weltlicher Zuständigkeit entscheiden zu können.

Link: Ich möchte einen Schritt weitergehen als Herr Quaritsch. Die Frage nach der Säkularisierung des Staates kann man nicht sinnvoll stellen mit dem Blick auf Kompetenzen der weltlichen und der geistlichen Gewalt und ihr Ringen um die Dominanz. Sinn gewinnt die Säkularisierungsfrage nur, wenn sie sich am Staatszweck orientiert. Denn im Grunde geht es um die Frage: Wozu ist der Staat da? Herr Miethke hat Thomas von Aquin zitiert. Thomas vergleicht den Staat mit einem Schiff. In seiner Staatsschiffmetapher spielt der weltliche Herrscher die Rolle des Steuermanns, der das Schiff lenkt, aber nicht seinen Kurs bestimmt. Den Kurs legt der Schiffsherr fest, also Christus, vertreten durch den Papst. In diesem Bild versteht sich von selbst, daß der Steuermann die Aufgabe hat, das Staatsschiff zu den Gestaden der ewigen Seligkeit zu lenken. Das bedeutet: Der Staat ist zur Sorge für das Seelenheil seiner Bürger verpflichtet. Von einem säkularisierten Staat können wir erst von dem Augenblick an sprechen, in dem der Primat dieses Staatszieles in Zweifel gezogen wurde. Dies geschah im 17. Jh. Pufendorf bestritt, daß die Staaten um der Religion willen gegründet worden seien. Damit war ausgesprochen, daß der Bereich der Religion schon im Ansatz jenseits der staatlichen Zuständigkeit liegt. Der Staat kann sich mit der Kirche nicht um die Kompetenz für diesen Bereich streiten, weil eine staatliche Kompetenz für ihn nicht mehr vorstellbar erscheint. So gesehen war selbst der Staat Maria Theresias noch kein säkularer Staat, weil sich Maria Theresia ohne Wenn und Aber für das Seelenheil ihrer Untertanen verantwortlich gefühlt hat. Deshalb kann man auch bei der Reformation bei aller Verweltlichung im religiösen Sinn keineswegs von einer Säkularisie-

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rung sprechen. Denn die Obrigkeit ist nach wie vor mit Bestimmtheit auf das Seelenheil der Untertanen bedacht. Deswegen ist die Säkularisierung, so wie wir sie heute verstehen, ein freiheitssicherndes Phänomen. Natürlich nahm der Staat im religiösen Bereich noch lange Kompetenzen für sich in Anspruch. Er tut das in manchen Bereichen noch heute. Aber das hat mit dem Begriff der Säkularisation nichts zu tun. Für mich stellt die Säkularisation die Frage nach dem Staatszweck. Sie fragt, ob der Staat für das Seelenheil der Untertanen verantwortlich ist. Das ist zum ersten Mal im 17. Jh. dezidierter verneint worden.

von Unruh: Ich glaube, daß die cura religionis in den einzelnen Territorien unterschiedlich gehandhabt worden ist. So verzichtete in Brandenburg-Preußen der Kurfürst nach seinem Übertritt zum Calvinismus auf sein ius reformandi gegenüber der mehrheitlich lutherischen Bevölkerung. Man hat damals und später teilweise sogar "Sektierer" geduldet. Herzog Albrecht in Preußen begründete dies gegenüber Luther mit dessen eigenen Lehrsätzen. Liegt nicht bereits im ius emigrandi des Augsburger Religionsfriedens, dem Recht, sich dem Glauben des Landesherrn nicht anschließen zu müssen und stattdessen das Land verlassen zu dürfen, implizit die rechtliche Anerkennung der individuellen Glaubensfreiheit? Zur Entsakramentalisierung des Herrschers ergänze ich das Referat von Herrn Miethke: Der Römische Kaiser wurde bis zum Schluß in Frankfurt in Gewändern priesterlichen Ursprungs gekrönt, mag auch die kirchliche Lehrmeinung damit keine Erhöhung des Monarchen über den Laienstand verbinden. Unwidersprochen galt die Krone jedoch als ein "Heiltum", das haben auch die evangelischen Reichsstände akzeptiert, bewahrte man sie doch mit anderen zum Teil religiös verehrten Gegenständen, wie der heiligen Lanze, in der evangelischen Reichsstadt Nürnberg auf, von wo sie unter patrizischem Geleit jeweils zur Krönung nach Frankfurt gebracht wurden. Erwähnenswert ist auch, daß die österreichische "Hauskrone" ganz deutlich einer bischöflichen Mitra nachgebildet ist. Dem König von Frankreich verleiht die Salbung aus der merowingischen ampulla sogar die Fähigkeit, Wunder zu tun, wie Skrofeln zu heilen, was noch im 18. Jh. rituell geübt wurde. Noch für Goethe hatte "eine politisch-religiöse Feierlichkeit", er meinte die Krönung Josephs 11. 1764, einen "unendlichen Reiz". Wie weit und wie lange solche Vorstellungen im konstitutionellen Zeitalter noch Wirkung gezeigt haben, bedarf noch näherer Untersuchungen.

Kühne: Herr Miethke hat stark auf die Kompetenzen abgestellt und damit das Thema für die Historiker wohl sehr juristisch behandelt. Das veranlaßt mich zu der Frage, ob der Begriff der Säkularisierung nicht institutionell anreicherbar ist? Hierbei sei insbesondere die von Herrn Miethke ins Spiel gebrachte Universität angeführt, die in der damaligen Zeit Herbert

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Grundmann zufolge gegen Kirche und Adel als den damals vorherrschenden Gewalten ins Leben gerufen worden ist. Hier wäre ein Element von institutioneller Säkularisierung im frühen Staat gegeben, jedenfalls wenn man die Universität als erste nichtchristliche Abteilung des Schulwesens betrachtet. Zugleich wäre damit vielleicht eine Erklärung dafür zu finden, warum die Universität gerade im oberitalienischen Raum entsteht, d. h. in einer Pufferzone zwischen den damals vorherrschenden Gewalten von Kaiser- und Papsttum. Ist nicht gerade die Universität institutionell auch der Promotor für die von Herrn Miethke weiter dargelegte Säkularisation?

Brauneder: Ich habe mich eigentlich nur spontan zu Wort gemeldet auf eine Feststellung von Herrn Quaritsch. Er sagte, es sei wichtig, wer entscheidet. Ich würde dem noch vorschalten: wichtig ist Kompetenzverteilung. Wegen der Kürze der Zeit will ich auf ein Beispiel hinweisen. Es gibt die Bereichstheorie der Legisten, die genau abgrenzt, was ins weltliche und was ins kanonische Recht gehört. Es gibt eine weitere Differenzierung mit Zuständigkeiten ratione materia bzw. ratione personae, dann die Zuteilung nach temporalia und spiritualia. Dieses Zuordnen zu Herrschaftsträgern ist sicher doch auch ein wesentlicher Motor hin zum säkularisierten Staat oder zum Staat im Gegensatz zur Kirche. Es macht es möglich zu erkennen, daß eine Person wie etwa der Erzbischof von Salzburg bei verschiedenen Funktionen spiritualia und temporalia ausübt, aber trennbar. Baumgart: Herr Miethke, ist es denkbar, daß eine Brücke zwischen dem von Ihnen nur skizzierten und hier in der Diskussion vielfach problematisierten Säkularisierungsbegriff zu den Phänomenen der Frühen Neuzeit geschlagen werden kann, die in dem Referat von Herrn Stolleis so vielfach inhaltlich ausgeführt worden sind? Ist das Ganze, auf eine Formel gebracht, nicht lediglich eine oppositionelle Vorwegnahme dessen, was gewissermaßen in der Frühen Neuzeit aufscheint? Wo gibt es reale Verbindungsglieder zwischen Ihren Beispielen und den Phänomenen der Frühen Neuzeit? Einen zweiten Begriff möchte ich gern in die Diskussion einfügen, auch im Anschluß etwa an das, was Herr Kühne ausführte über institutionalisierte Säkularisierung. Liegt es nicht nahe, den Rationalisierungsbegriff als einen korrelativen Begriff in die Diskussion einzuführen? Er würde in der Tat vieles plausibler erklären, nicht nur im Sinne der alten Thesen Max Webers, sondern auch im Sinne eines leichteren Verständnisses und Zugangs in der Begriffsbildung. Die hier skizzierte Entstehung der Universität und des dortigen Denkens ist doch, meine ich, in erster Linie ein Rationalisierungsprozeß, ein Vorgang, den wir gewissermaßen als Paradebeispiel für Rationalisierung in dieser Zeit sehen können. Das wäre die eigentliche Antizipation des Prozesses, den wir in den konkreten Auswirkungen seit dem 14. Jh., sicher aber mit Schwerpunkt seit dem 16. Jh. verfolgen können. Ich bitte um Belehrung.

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Miethke (Schlußwort); Wenn ich in meinem Schlußwort auf jeden Beitrag antwortete, dann säßen wir noch in einer Stunde hier. Sie aber hätten nichts davon, als nur mich eine Stunde lang extemporieren zu sehen, was nicht sehr spannend wäre. Also bitte ich um Verständnis, daß ich nicht zu allen Einwürfen Stellung nehmen kann, die natürlich alle wichtig und ernst zu nehmen sind, die aber manchmal doch die Thematik, die ich mir gestellt habe, in eine Richtung ergänzen, die ich gar nicht verfolgen konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte, weil ich mir vorgenommen hatte, nicht das Phänomen der Säkularisierung zu zeigen, sondern die Möglichkeit des Mittelalters, Phänomene der Säkularisierung wahrzunehmen, und auch das nur in einem beschränkten Bereich, nämlich im Rahmen der politischen Theorie. Ich wollte nicht über Säkularisierung im Mittelalter schlechthin sprechen. Das ermöglichte es mir, die Frage des Investiturstreits nicht so stark zu betonen, weil er für die politische Theorie zunächst einmal zwar ungemein wichtige Folgen gehabt hat, politische Theorie selber aber hat es im Investiturstreit noch nicht in vollem Sinne gegeben. Es hat natürlich Ansätze gegeben, aber nicht in dem Umfang, der für eine Theoriegeschichte ins Gewicht fiele. Aber ich will die Bedeutung des Investiturstreits nicht herabspielen. Ich habe versucht, im Referat darauf hinzuweisen, daß er ein wichtiger Einschnitt ist. Aber ich konnte das nicht im einzelnen ausführen, weil ich eine andere Fragestellung hatte. Das war der eine Punkt, den ich unterstreichen möchte. Ein anderer sei mir noch erlaubt: Hier wurde die Frage gestellt, ob man nicht besser von Emanzipation der weltlichen öffentlichen Gewaltausübung aus geistlichen Zwängen sprechen soll. Herr Blaschke und auch Herr Wolf haben in diese Kerbe gehauen. Auch das sind freilich Probleme, die ich nicht erörtern wollte. Ich wollte nicht untersuchen, was im Mittelalter geschah, sondern wie das Mittelalter die Dinge, die geschehen sind, wahrgenommen hat. So muß ich die Frage, die Sie stellen, als berechtigt anerkennen, aber brauche sie hier nicht zu beantworten. Die Frage, die Herr Sprandel stellte, hat, wie ich meine, Herr Baumgart beantwortet. Herr Sprandel hat, verstehe ich ihn recht, gefragt, ob es neben den treibenden Kräften des Prozesses, den ich angesprochen habe, neben der Kirche, dem religiösen Denken, dem Phänomen der religiösen Erfahrung einerseits und der Begegnung mit der Antike andererseits noch etwas weiteres gibt. Ich hatte mir, bevor Herr Baumgart sich zu Wort meldete, notiert: wenn man unbedingt etwas nennen wolle, so müsse man sicher den Prozeß der Rationalisierung nennen. Das ist in der Tat etwas, was jenseits der religiösen Erfahrung liegt; denn religiöse Erfahrung braucht sich nicht zu rationalisieren. Und es liegt auch jenseits der Begegnung mit der Antike, denn Rationalisierung geschieht losgelöst von der Antike. Schon im 12. Jh.

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gibt es die Debatte bei der Universität, Johannes von Salisbury berichtet in seinem "Metalogicon", daß es da die sogenannten Cornificiani gibt, Leute, die möglichst schnell mit Dialektik Geld verdienen wollen; diese gehen nicht zu den antiken Autoren; sie setzen auf Rationalismus pur. Das hält Johannes von Salisbury natürlich für eine ganz schlimme Abirrung. Aber er macht seine Karriere selbst auf diesem Wege. Das Phänomen der Rationalisierung ist ganz gewiß eine Tendenz, eine eigene Triebfeder der Entwicklung, die wir unter keinen Umständen vergessen sollten. Ich würde mich freilich doch entschieden wehren gegen die Charakteristik der Universität, die Herr Kühne mit einer radikalisierten GrundmannThese angedeutet hat. Grundmann hätte nie gesagt, die Universität sei eine gegenkirchliche Gründung gewesen. Er hat nur gesagt, daß sie nicht im allgemeinen Zug der Zeit lag und einer freiheitlich-emanzipatorischen, von der Ständegesellschaft abgehobenen Entwicklung die Bahn öffnete. Diese These Grundmanns ist in der neueren sozialgeschichtlichen Forschung zur Universität vielfach in Zweifel gezogen worden. Ich gehe nicht soweit, sie als erledigt zu betrachten, weil ich in ihr einen wichtigen und richtigen Kern entdecke. Ich wehre mich aber doch dagegen, die Universität als eine gegenkirchliche Säkularisierungsinstitution innerhalb der Kirche zu sehen. Allein die alte Debatte kann das verdeutlichen, die darüber entbrannte, ob die Kleriker, die an der Universität wirkten, die Universität zu einem kirchlichen Institut machten: Es gibt die Ansicht, daß die mittelalterliche Universität völlig in die Kirche integriert gewesen sei. Es gibt auch die Vorstellung, daß die Universität nur ein Spiegelbild der umgebenden Gesellschaft gewesen sei. Ich halte diese Thesen so zugespitzt nicht für richtig, aber man müßte sie diskutieren, bevor man eine derartig ungeschützte Radikalisierung des Grundmann'schen Ansatzes vornimmt. Die Frage nach der Brücke zwischen dem, was im Mittelalter als Säkularisierung zu sehen ist (wobei ich noch die Differenzierungen, die Herr Heckel gemacht hat, einfügen und diskutieren müßte), und dem, was wir in der Frühen Neuzeit beobachten können, wirft natürlich ein ganz schwieriges Problem auf, nämlich das der Kontinuität der Geschichte überhaupt. Wenn danach gefragt wird, was die Brücke zwischen dem Mittelalter und heute sei, dann muß man eigentlich die ganze Geschichte erzählen, um diese Brücke beschreiben zu können, und so ist es auch in diesem Fall. Ich würde mich mit aller Entschiedenheit dagegen wehren zu sagen, daß wir hier sozusagen "nur" Vorläufer ergreifen. Das ist das Denkmodell des 16. Jhs.: testes veritatis oder "Vorreformation" in der protestantischen Geschichtsschreibung. Im 14. Jh. gibt es einige Leute, die hatten die richtige Richtung, aber man hat sie zum Schweigen gebracht. Im 16. Jh. jedoch macht man dann alles ganz richtig. Das scheint mir eine späte Glorifizierung und ist sicherlich nicht die Beschreibung der Brücke, da bin ich mit Ihnen einer Meinung.

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Freilich, wenn ich sage, daß das so nicht gewesen sein kann, dann bin ich trotzdem in großer Schwierigkeit zu formulieren, wie es denn eigentlich gewesen ist. Wie Sie wissen, ist das die Aufgabe des Historikers. Diese Aufgabe in einem kurzen Satz lösen zu sollen, würde mich doch überfordern. Ich weiche also dieser Frage aus, obwohl sie in der Tat eine ganz entscheidende Frage ist und bleibt, und kann dazu nur Bemühenszusagen geben, keine fertige Antwort. Was Herr von Unruh gesagt hat, halte ich für wichtig, kann aber darauf natürlich jetzt von mir aus nicht antworten. Ich muß mich bescheiden mit dem Hinweis auf das, was ich am Anfang gesagt habe. Die Frage der spätmittelalterlichen Königsmystik ist in der Tat ein Problem, das immer wieder auftaucht, auch in den von mir in den Blick genommenen Prozessen. Darauf konnte ich aber heute nicht zu sprechen kommen. Schon der Normannische Anonymus entwickelte am Beginn des 12. Jhs., nach den Erfahrungen des Investiturstreits, eine geradezu exorbitante Königsmystik. Damit nimmt er Gedanken vorweg, die erst im 15. Jh. in ganz anderen Texten (die den Text des Normannen gar nicht kennen) wieder aufgegriffen werden. Königsmystik kommt später immer wieder vor, sie kommt im Ritual der Königserhebung in allen europäischen Ländern und noch Jahrhunderte nach dem Mittelalter weiter vor. Das ist ein Problem, das sicherlich neben der Säkularisierung herläuft; es wäre gewiß ein grober Fehler, wollte man behaupten, daß das Phänomen der Säkularisierung, auch die Wahrnehmung von Säkularisierung im Mittelalter, die einzige oder auch nur die wichtigste Frage zu jeder Zeit des Mittelalters gewesen wäre. Das kann man nicht mit Grund behaupten. Ich habe mir einen komplexen Prozeß zum Gegenstand gemacht, habe auf die verschiedenen Sprachangebote der verschiedenen Fakultäten hingewiesen, habe dabei auch einige Sprachangebote genannt, die man noch näher untersuchen müßte. Pseudodionysius ist sicherlich ein wichtiger Autor, der ein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung stellt. Aber er ist so, wie er im 5. Jh. geschrieben hat, nicht immer und überall unmittelbar rezipiert worden; er ist im Laufe der Zeit abgewandelt worden; gerade die Abwandlung ist das Interessante. Neben der Analyse der Säkularisierung, Rationalisierung, Ausdifferenzierung, Emanzipation, oder wie immer man die Einzelphänomene nennen möchte, sind natürlich auch andere Entwicklungen zu beobachten, das sollte kein Historiker vergessen. Auch das Mittelalter dachte, wie gesagt, nicht unisono, die Autoren sprachen nicht unisono, und, Gott sei Dank, wir selbst denken nicht unisono, wie man es in der Diskussion erleben konnte. Eine letzte Bemerkung noch zu Thomas von Aquin. Herr Link, ich lese Thomas von Aquin anders, ich muß es so knapp sagen. Der Schiffsherr, von dem Sie reden, ist leider so

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deutlich gar nicht ausgeführt. Er ist Ihre Interpretation, die Sie aus dem ersten Kapitel des Fürstenspiegels ziehen, Thomas selbst hat es so nicht formuliert. Der Thomasschüler, Johannes Quidort, der Thomas seitenweise in seinem Traktat zitiert, hätte sich damit auseinandersetzen müssen, was er nicht tun mußte, weil Thomas es so nicht formuliert hat. Vielleicht ist das eine Möglichkeit der Interpretation, dazu müßte man sich die Texte herausnehmen und sich das ansehen. Gubernatio ist ein wichtiger Begriff von Thomas, und in der Tat gebraucht er hier ein aristotelisches Bild. Aber in welcher Beziehung der Steuermann zum Schiffsherrn steht, dafür finde ich keine Aussage in Thomas' Text. Dort sieht die Sache etwas komplizierter aus, und manche katholischen Theologen wären froh, wenn Thomas sich so klar ausgedrückt hätte, wie Sie es hier dargestellt haben. Ich selber sehe bei Thomas eine äquilibristische Zuteilung von Kompetenzen und Zuständigkeiten, wohl eingebunden in eine Hierarchie der Zwecke, aber doch so, daß jedem das Seine bleibt, jedem sein Recht zukommt. Die Schwierigkeit des thomasischen Ansatzes ist es, daß Thomas kein Konfliktmodellliefert, sondern ein "Schönwettermodell ". Tritt ein Konflikt auf (und er tritt ja durchaus auch zu seiner Zeit auf, ohne daß sich Thomas darüber äußerte), ist Thomas' Theorie nicht mehr unmittelbar von Nutzen. Dann "muß" eben z. B. Tolomeus von Lucca Papalist werden und Johannes Quidort wird Royalist auf der Basis derselben Theorie und derselben Zitate. Seitenweise werden jeweils von beiden Texte des Meisters zitiert. Doch haben beide 30 Jahre nach dem Tode von Thomas von Aquin politisch völlig verschiedene Stellungnahmen für nötig gehalten. Das ist ein auffälliges Phänomen. Thomas von Aquin war anscheinend im 13. und 14. Jh. nicht im selben Maße Kirchenlehrer wie er es im 16., im 19. Jh. und im beginnenden 20. Jh. wurde. Aber Thomas ist und bleibt ein bedeutender Autor, dessen theoretische Leistungen ganz außer Zweifel stehen.

Luntowski: "Die größte Kunst liegt im Weglassen", könnte man auch diese Diskussionsrunde überschreiben. Sie haben gesehen - die Liste der Diskutanten wäre noch beliebig zu verlängern gewesen -, wieviel Fragen Sie durch Ihr Referat angeregt und wieviel Stoff Sie uns zum Nachdenken gegeben haben. Wir danken Ihnen sehr herzlich dafür.

Die Idee des souveränen Staates Von Michael Stolleis, Frankfurt

I.

"Der Staat ist eine im Abstieg begriffene Kategorie. Für den souveränen Nationalstaat ist das nicht zweifelhaft; mit der Neuzeit stieg er empor, mit ihr findet seine Souveränität auch ihr Ende l ". Was hier mit dem Ton der Unausweichlichkeit verkündet wird, hat eine gewisse suggestive Plausibilität für sich. Aber es erzeugt zahlreiche neue Fragen. Was war es, was da "aufstieg", und warum nannte es sich souverän? Warum soll es nun, wenn die Neuzeit wirklich zu Ende ist und die Postmoderne beginnt, sein Ende finden? Haben nicht andere recht, wenn sie sagen: "Die Möglichkeit einer postmodernen, nach-neuzeitlichen Überwindung des Staates ist nicht in Sicht2 ,,? Könnte man nicht sogar vorhersagen, daß in einer Epoche neuer Nationalismen und Fundamentalismen, wie sie anzubrechen scheint, gerade die reine Ordnungs-. und Befriedungsleistung eines entmythologisierten "Leviathan" wieder gebraucht wird? Wie auch immer über die Zukunft des menschlichen Kunstgebildes "Staat" spekuliert werden mag, jedenfalls hängen die dabei zugrundegelegten Ansichten eng mit unserem Wissen über das historische Phänomen Staat zusammen. Dieses Wissen ist weder zureichend noch kann es als Summe objektiv wahrer Sätze vermehrt werden 3 . Es gibt vielmehr jeweils zeitund kontextabhängige Deutungsangebote, über die mehr oder weniger stabile Übereinstimmungen erzielt werden können. Um hierbei nicht mißverstanden zu werden, sollte Klarheit über die Ziele und Reichweite der Aussagen hergestellt werden. Das mir vorgeschlagene Thema "Die Idee des souveränen Staates" mag suggerieren, es gehe um geschichtsphilosophische Aussagen. Das ist jedoch nicht beabsichtigt. Meine Haltung gegenüber der idealistisch angeleiteten Geschichtsphilosophie ist vielmehr die des mißtrauischen Historikers, der nicht die Entwicklung von "Ideen" verfolgen, J. H. Kaiser, Staatslehre, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 5 (1989), Sp. 195. A. Hollerbach, Recht, in: Staatslexikon, 7. Aufl. Bd. 6 (1992), Sp. 43. 3 G. Patzig, Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff, in: ders., Tatsachen, Normen, Sätze, 1980, S. 76ff. 1

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sondern die Relationen von Sprechen und Handeln anhand von Texten beobachten will 4 . Im vorliegenden Fall scheint es sinnvoll zu sein, mit dem durch den Gegenstand "Recht" gelenkten Blick die historischen Bedingungen der sprachlichen Konstituierung von "Souveränität" in der Frühen Neuzeit zu erörtern. Zeitlich ist dies die Phase zwischen dem gewissermaßen souveränitätslosen "Staat des Mittelalters" - wie dieses Gebilde kraft Vereinbarung genannt werden mag - und dem die Souveränität in sich aufnehmenden "Nationalstaat" des späten 18. und des 19. Jh. Das auf diese Weise "historisierte" Thema ist freilich von einer solchen Allgemeinheit, zumal wenn es europäisch verstanden wird, daß man auf so begrenztem Raum kaum mehr als allgemeine Aussagen erwarten darf. Allenfalls kann eine teils normativ entworfene, teils realgeschichtlich durchgesetzte Tendenz bezeichnet werden. Die enorme Forschungsliteratur zur "Souveränität im Mittelalter"5, zu den von Bodin verarbeiteten Quellen und Traditionen6 , zur 4 Näher hierzu M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 (1988), S. 43-57. 5 W Ullmann, The Development of the Medieval Idea of Sovereignty, in: Engl.Hist.Review 65 (1949), S. 1; S .Mochi-Onory, Fonti canonistiche dell' idea moderna dello Stato. Imperium spirituale, jurisdictio divisa, sovranitil., Milano 1951; P .Riesenberg, Inalienability of Sovereignty in Medieval Political Thought, New York 1956; F. Calasso, I glossatori e la teoria della sovranitil., 3. Aufl. Milano 1957; H. Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, ZRG Germ. Abt. 75 (1958), S. 206-251; W Goez, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, 1958; S. Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholm 1960; M.J. Wilks, The Problem of Sovereignty in the later Middle Ages. The Papal Monarchy with Augustinus Triumphus and the Publicists, Cambridge 1963; E. Stengel, Kaisertitel und Souveränitätsidee. Studien zur Vorgeschichte des modernen Staatsbegriffs, in: ders., Abhandlungen und Untersuchungen zur Geschichte des Kaisergedankens, 1965, S. 241 ff.; G. Post, Studies in Medieval Legal Thought. Public Law and the State, 1100-1322, Princeton 1964; ders., Vincentius Hispanus, "Pro ratione voluntas" and Early Modern Theories of Sovereignty, in: Traditio 28 (1972), S. 159-184; R.L. Benson, Plenitudo potestatis. Evolution of a Formula from Gregory IV to Gratian, in: Studia Gratiana 14 (1967), S. 193-217; Y BonJ}ert, Vers la formation d'un pouvoir legislatif royal (fin 11e - debut 13e siecle), in: Etudes offertes il. Jean Macqueron, Aix-en-Provence 1970, S. 127-140; L. Buisson, Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter, 2. Aufl. 1982; B. Tierney, "Divided Sovereignty" at Constance. A Problem of Medieval and Early Modern Political Theory, in: Annuarium Historiae Conciliorum 7 (1975), S. 238-256; H.G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität. Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens, 1976; J. Gaudemet, La contribution des romanistes et des canonistes medievaux il. la theorie moderne de l'Etat, in: Diritto e potere nella storia europea. Atti in onore di Bruno Paradisi, Firenze 1982, Bd. 1, S. 1-36. 6 P.Mesnard, Jean Bodin en la historia deI pensamiento, Madrid 1960; M. Imboden, Johannes Bodinus und die Souveränitätslehre, 1963; R. Schnur, Die französischen Juristen im Bürgerkrieg des 16. Jh., 1963; ders., Neue Forschungen über Jean Bodin, in: Der Staat 13, 1974, S. 111ff.; H. Ouaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, 1970 m. Nachw. d. älteren Lit.; R.E. Gisey, Medieval Jurisprudence in Bodin's Concept of Sovereignty, in: H.Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der Internationalen Bodin-Tagung in München, 1973, S. 167-186; Jean Bodin, Actes du Collogue interdisciplinaire d'Angers, 1985; A. Serrano Gonzdlez, Come lobo entre ovejas. Soberanos y marginados en Bodin, Shakespeare, Vives, Madrid 1992, S. 61ff.

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europäischen Bodin-Rezeption sowie das gesamte auf "Souveränität" bezogene staatstheoretische Schrifttum7 muß dabei vorausgesetzt werden. Das gleiche gilt für die länderbezogene historische Literatur, die sich mit der "Entstehung des modernen Staates"B in länderspezifischen Zusammenhängen beschäftigt. Zur Entlastung des Textes sei vorweg auch gesagt, daß ich speziell in der komprimierten Darstellung des frühneuzeitlichen Souveränitätsproblems durch Helmut Quaritsch von 1986 die wesentlichen Fragen erörtert und die Akzente richtig gesetzt finde: in der Unterstreichung der Unterschiede zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Denken, in der trotz aller "Vorläufer"-Diskussion nach wie vor geltenden Ausnahmestellung Bodins, schließlich in der Herausarbeitung der juristisch entscheidendenPunkte.

11. Die Tagung steht unter dem Oberthema "Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens". Auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Gegenstände werden behandelt. Es muß also ein weiter, vom 19. und 20. Jh. unterschiedener " historisierter " und vorkonstitutioneller Verfassungsbegriff zugrundegelegt werden. Was sich vom Spätmittelalter bis an die Schwelle des eigentlichen Verfassungszeitalters vollzieht, ist in diesem weiten Sinne Verfassungswandel 9 , eine in ganz Europa sich vollziehende Verschiebung der politischen Gewichte, der als legitim empfundenen und rechtlich verfestigten Herrschaftsstrukturen sowie der voraus-, mit- oder nachlaufenden gedanklichen Begründungen. - Als besonders verdienstvoll ist hier die von B. Wimmer geleistete Arbeit der deutschen Übersetzung und der Kollationierung der verschiedenen Ausgaben Bodins zu erwähnen: Sechs Bücher über den Staat, Bd. 1 (1981), Bd. 2 (1986), Hrsg. C. MayerTasch. 7 Zusammenfassend L. Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, in: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. FS K. Eichenberger, 1982, S. 134-145. Ausdrücklich vorausgesetzt werden D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975; ders., in: Dt. Verwaltungsgeschichte Bd. 1 (1983); H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die "Politica" des Henning Arnisaeus (ca.1575-1636), 1970; ders., Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, 2 Bde, 1991; ders., Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland. Ein Beitrag zu Kontinuität und Diskontinuität der politischen Theorie in der frühen Neuzeit, 1992; Chr. Link, Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, 1979 sowie besonders H. Ouaritsch (FN 6); ders., Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, 1986. B Kritik an dieser Formel bei S. Skalweit, Der "moderne Staat" .Ein historischer Begriff und seine Problematik, 1975. 9 Hierzu aus heutiger Perspektive E. W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff des Verfassungswandels, in: P. Badura/R. Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. FS P. Lerche, 1993, S. 3 ff. 5 Der Staat, Beiheft 11

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Um die Gründe für diese Verschiebung einigermaßen zu erfassen, müßten im zeitlichen Längsschnitt vom Spätmittelalter bis zum Ende des Ancien Regime die eigentlichen Antriebskräfte identifiziert werden. Dabei pflegt man auf das ,,'JYpische" abzuheben und das "Untypische" als Ausnahme zu verstehen, so etwa die spezielle Lage des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation; denn es ist bekannt, daß der komplexe Vorgang der" Verstaatlichung des dynastischen Verbandes" (R. Vierhaus) in Deutschland nicht auf der obersten Ebene ablief und auch auf den mittleren und unteren Ebenen äußerst variantenreich war. Blickt man aber in dem langen Zeitraum vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution über den kulturgeographischen Raum, den wir Europa nennen, dann vermehren sich die Unsicherheiten. Überall vollzieht sich jene berühmte "Entstehung des modernen Staates" anders. Nach Dtto Hintzes anregenden Überlegungen, die auf das Verhältnis von beherrschtem Raum und "den verfügbaren Kultur- und Herrschaftsmitteln,,10 abstellen und eine stufenweise Überwindung des alten Feudalsystems durch neuzeitliche Strukturen annehmen, rangiert England zeitlich vorn. In den räumlich größeren Verhältnissen Frankreichs und Deutschlands, so Hintze, bildeten sich zunächst Untereinheiten mit wachsender Staatsqualität, in denen der sie prägende Dualismus zwischen Ständen ("Landschaft") und Landesherrn nach langem Ringen zugunsten des Absolutismus überwunden worden sei. Erst dann sei die wahrhaft öffentlichrechtliche Staatsidee, die Souveränität, aufgestiegen, entweder auf der Ebene des Gesamtstaats wie in Frankreich oder auf der Ebene der Territorien wie in Deutschland und in den italienischen Stadt- und Kleinstaaten. Je mehr sich die Herrschaftsmittel verfeinerten, desto größer wurde der beherrschte Raum, und desto höher wurden auch die Durchsetzungschancen einer Zentralgewalt. Dies ist als induktiv gewonnenes Ergebnis plausibel, hilft aber wenig bei der Deutung der Einzelfälle. Europa scheint aus Einzelfällen zu bestehen. Versucht man zu bestimmen, wann sich die sog. "Idee des souveränen Staates", verstanden als Konzentration der Herrschaft in einer Hand, in den einzelnen Teilsystemen des Kontinents realisiert, dann gerät man in zahllose Aporien. Im klassischen Land der Souveränität, Frankreich, setzt sich diese "Idee" deutlich wohl erst seit Richelieu durch, also ab 1624, in Preußen etwa seit dem Großen Kurfürsten, in Dänemark mit Friedrich 111. und exakt im Jahre 1660, in Schweden seit Karl XI. mit der Souveränitäts erklärung von 1693, undeutlich wieder in Spanien etwa seit Karl I. (1516-1556) und in Österreich seit Kaiser Ferdinand I. (15561564), in Rußland entweder mit der Entstehung der Autokratie unter Ivan III. (1462-1505) oder unter seinem Enkel Ivan IV. (1533-1584) oder erst unter Peter I. d. Gr. (1689-1725). Für alle diese Ansätze gibt es diskutable Argu10 o. Hintze, Staatenbildung und Verfassungsentwicklung. Eine historisch-politische Studie, in: ders., Staat und Verfassung, Leipzig 1941, S. 35.

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mente. Wie auch immer man entscheiden mag, die jeweiligen "Verfassungen" wandeln sich keinesfalls nach einem einheitlichen Muster. Vielmehr ist für Europa gerade die Ungleichzeitigkeit typisch, außerdem das Nebeneinander unterschiedlichster Formen, insbesondere die Koexistenz von Monarchien und Republiken 11. Der Blick auf die Staatsformen, von den ältesten "Gaustaaten" der schweizerischen Urkantone (0. Hintze) über die aristokratischen Stadtstaaten, die freien Reichsstädte und die polnische Aristokratie bis zu den in unterschiedlichstem Maße "absolutistischen" Monarchien, verstellt jedoch das Problem. Zwar kommt in der Kraftanstrengung des Absolutismus, den Herrschaftsapparat zu zentralisieren und intermediäre Gewalten möglichst auszuschalten, die "Idee der Souveränität" besonders prägnant zum Ausdruck. Es gibt selbstverständlich Affinitäten; aber Absolutismus und Souveränität sind nicht identisch. Der Träger der Souveränität und ihr Inhalt sind zu unterscheiden. Es geht bei der Frage nach der Souveränität nicht darum, gewissermaßen statistisch zu bestimmen, wann und wie in Europa der für den Ständestaat charakteristische Dualismus von Fürst und Ständen in eine einheitliche Staatsgewalt eingeschmolzen wurde 12 ; denn selbst Staaten mit weitgehender Machtteilung galten auch damals als souverän. Vielmehr muß man m.E. das gemeinsame inhaltliche Element aller dieser Erscheinungen dort suchen, wo die in Europa rivalisierenden und koexistierenden Herrschafts gebilde (gleich welcher Form) beginnen, sich als territorial definierte Einheiten zu verstehen. Man muß fragen, wo sie so etwas wie eine völkerrechtliche und wirtschaftspolitische "Außenhaut" bilden und wo sie zugleich versuchen, auf die in ihrem Innern wohnenden Menschen zuzugreifen, eben weil diese Menschen jetzt primär territorial, nicht mehr personal erfaßt werden 13 . Das Wort "Außenhaut" deutet darauf hin, was hier als entscheidend angesehen wird: die Entstehung politischer Grenzen, die Unterscheidung von Inländern und Ausländern. Daß das Wort "Grenze" ein im 16. Jh. aufgenommenes Lehnwort aus dem slawischen "granitza" ist 14 und daß auch die Worte "Ausland", "Unterthan" sowie die Unterscheidung von 11 H. G. Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit, München 1988; U. Scheuner, Nichtmonarchische Staatsformen in der juristischen und politischen Lehre Deutschlands im 16. und 17. Jh., in: R. Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, 1984, S. 737774. 12 Vgl. O. Hintze, 'JYpologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes (FN 10), S. 110 ff., 112. 13 Zu weitgehend m.E. Link (FN 7), S. 73: "Grundlage der souveränen Gewalt bis zum Ende des 18. Jh. (ist) nicht das beherrschte Territorium, sondern die ... Gesellschaft (civitas), d. h. ein durch soziale Verhältnisse in besonderer Weise verbundener und konstituierter Personalverband ". 14 J. Grimm, Deutsche GrenzalterthÜlner, in: Kl. Schriften, Bd. 2,1865, S. 30-74; H. Siems, Flurgrenzen und Grenzmarkierungen in den Stammesrecq.ten, 1979.



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cives - peregrini erst im 16. Jh. auftaucht oder jedenfalls besonderes Gewicht bekommt 15 scheint kein Zufall zu sein. Gewiß kann für diese Vorgänge ebensowenig ein fester Zeitpunkt angegeben werden wie für die Durchsetzung der "Einherrschaft" . Auch hier handelt es sich um zeitlich langgestreckte Prozesse, bei denen oft die Erhebung des politischen Anspruchs der faktischen Durchsetzung vorauseilt. Offenbar gehen auch personale und territoriale Bindungen ebenso jahrhundertelang nebeneinander her wie es Mischungen rationaler und theonomer Herrschaftsbegründungen gegeben hat 16 . Auch das Lehenwesen existierte im absolutistischen Beamtenstaat fort und seine letzten Attsläufer wurden erst im konstitutionellen Zeitalter beseitigt. Umgekehrt bildeten sich schon lange vor der Hauptepoche der Souveränitätsdoktrin, dem 16. und 17. Jh., die Elemente moderner Herrschaft, also die Tendenz zur Zentralverwaltung durch einen Stab loyaler und fungibler Amtsinhaber und die Erlangung eines aktiv gehandhabten Gesetzgebungsmonopols. Dies alles ist bereits mittelalterlich, jedenfalls dort angelegt. Das Papsttum, die staufischen Kaiser und das französische Königtum haben Machtkonzentration, Rationalisierung ihrer Herrschaft durch aktive Gesetzgebung und Aufbau eines Beamtentums in unterschiedlicher Weise erreicht und mit Erfolg eine "suprema potestas" beansprucht. In Deutschland werden die gleichen Energien in den größeren Landesherrschaften sichtbar. So besteht heute Einigkeit darüber, daß sowohl die faktischen als auch die ideologischen Elemente der Souveränitätstheorie des 16. Jh. (Verschriftlichung, Zentralverwaltung durch ein von den Lehensträgern unterschiedenes "Beamtentum", Streben nach einem Gesetzgebungsmonopol, Rechtfertigung der Gesetzgebung aus ihrem Befehlscharakter [pro ratione voluntas], tendenzielle Trennung geistlicher und weltlicher Angelegenheiten) in das Hochmittelalter zurückreichen. In diesem Sinn kann man von "Frühformen" des modernen Staates im Spätmittelalter sprechen 17 , kann auch - kontextbezogen und mit dem Bewußtsein wechselnder Bedeutungsinhalte - eine mittelalterliche Souveränitätsidee beschreiben und feststellen, daß "Volkssouveränität" und "Herrschaftsvertrag" auch im Spätmittelalter gedacht wurden 18 .

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Vgl.etwa J. E. Linck, Dissertatio de civibus et peregrinis, Straßburg 1729; C. F.

Hammel, Dissertatio de usu hadiemo divisionis hominum in cives et peregrinos,

Leipzig 1750. 16 Zu letzterem Link ( FN 7), S. 83 f. 17 Zum spätmittelalterlichen Ständestaat als "postfeudale Frühform des modernen Staates" siehe W Näf, Frühformen des "modernen Staates" im Spätmittelalter, HZ 171 (1951), S. 225. 18 Bezold, Die Idee der Volkssouveränität im Mittelalter, HZ 36 (1876) S. 315; W Ullmann, Zur Entwicklung des Souveränitätsbegriffs im Spätmittelalter, FS N. Grass, Innsbruck 1974/75, Bd. 1; H. Fuhrmann, "Volkssouveränität" und "Herrschaftsvertrag" bei Manegold von Lautenbach, in: FS H. Krause, 1975, S. 21-42.

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Voraussetzung ist freilich methodisch, daß damit keine unveränderbaren ideellen Entitäten behauptet werden und daß der mittelalterliche Zusammenhang ernstgenommen und nicht auf die Stufe eines "Vorläufers" des modemen Staates herabgedrückt wird. Das damit angedeutete Problem der Rekonstruktion eines mittelalterlichen Souveränitätsdenkens im Papsttum und bei den weltlichen Gewalten kann hier nicht vertieft werden. Skepsis ist aber angebracht 19 , vor allem weil terminologische Verwirrung droht, wenn man Worte wie "Staat", "Nationalstaat" und "Souveränität" bis zur Unkenntlichkeit ausdehnt, den Kontakt zum Wortgebrauch der Quellen verliert und auf diese Weise doch wieder Universalien einführt, mit denen mehr Geschichtsphilosophie als wirklich Geschichte getrieben wird. Aus historischer Perspektive spricht m.E. viel mehr dafür, die klassische Trennungslinie zwischen Mittelalter und früher Neuzeit nicht zu verwischen, und zwar nicht im Sinne eines Konservativismus der Periodisierung, sondern weil sich in der Tat im 16. Jh. grundlegend Neues anbahnt 2o . Die in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Einsichten über die verbindenden strukturellen Elemente zwischen Mittelalter und Neuzeit und über die "lange Dauer" des Mittelalters sind gewiß wertvoll. Aber sie sind auch nicht wertvoller als jene Beobachtungen, die bis weit in die Neuzeit hinein das Fortleben einer universalen Reichsidee oder des Lehenswesens belegen. Noch bis in die Mitte des 17. Jh. haben z. B. deutsche Juristen nicht nur die Fortexistenz eines Universalreichs römischrechtlich begründet, sondern auch die Lehre von den vier Reichen nach dem Propheten Daniel (Dan. 2, 37ff., 7,17ff.) vertreten 21 • Das Mittelalter ragt auf diese Weise genauso tief in die Neuzeit hinein, wie man den Beginn der Neuzeit in das Mittelalter verlegen kann. Deshalb kommt es letztlich doch wieder entscheidend darauf an, auf welche Elemente man sich im wissenschaftlichen Diskurs als "modern" verständigt und wie man, eventuell unterschiedlich in verschiedenen Teilsystemen, die feinen Risse bestimmt, die Mittelalter und Neuzeit voneinander scheiden. Daß es sie gibt, scheint mir unzweifelhaft. Wo man sie ansetzt, ist eine Frage des Sprachgebrauchs und der wissenschaftlichen Verständigung.

Ebenso Ouaritsch (FN 6), S. 44 ff., 79 ff. R. Vierhaus, Vom Nutzen und Nachteil des Begriffs "Frühe Neuzeit". Fragen und Thesen, in: ders., (Hrsg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne?, 1992, S. 13-25. 21 G. Lübbe-Wolf!, Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen für das Staatsrecht des römisch-deutschen Reiches, in: Der Staat 23 (1984), S. 369-389; H. Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, 1991, Bd. 1, S. 172-182. 19

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ill. 1. Um eine solche Verständigung zu versuchen, sei zunächst die Gesetzgebung hervorgehoben. Die vom 13. bis zum 16. Jh. reichende Geschichte der europäischen Gesetzgebung und der sie begleitenden Gesetzgebungstheorien 22 ist durch Bodins Theorem fast schlagartig in ein anderes Licht getaucht worden. Indem er 1576 "la puissance de donner loy a tous en general, & a chacun en particulier" als das eigentliche Kennzeichen der neuzeitlichen Souveränität hervorhob und Gesetzgebung als "le poinct principal de la maieste souveraine" bezeichnete (I 8), machte er die Fähigkeit zu befehlen zum eigentlichen Kriterium. Stellt man hierauf ab, um herauszufinden, wo die Trennlinie zwischen alt und neu verläuft, dann sieht man, daß die Traktate vor Bodin, ja sogar noch Bodin selbst im "Methodus" von 1566 23 , sich eine wirklich "souveräne" Gesetzgebung nicht vorstellen mochten, eine Gesetzgebung also, die einem einzigen Willen (real oder fiktiv) entsprang, die auf kein Paktieren mehr angewiesen war und die älteres Recht, Gesetze der Vorgänger, Gewohnheitsrecht und Privilegien beiseiteräumen konnte 24 . Dies gilt nicht nur für die von Quaritsch hervorgehobenen Claude de Seyssel (1450-1520) und Charles Dumoulin (1500-1566), sondern auch für den in Deutschland noch nicht hinreichend erforschten Traktat "De officio et potestate principis" des mit Dumoulin gleichaltrigen Jakob Omphalius (15001567)25. Erst Bodin tut diesen Schritt, gewiß unter Verwendung der seit Antike und Mittelalter verwendeten Formel, "condere leges et interpretari" sei das Recht des Imperators 26 , aber eben mit neuer Akzentsetzung. Seine "Ge22 S. Gagner, Studien (FN 5); A. Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Nationalstaaten, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1, 1973, S. 517-800 (demnächst separat in einer ergänzten Fassung). 23 Kapitel VI: De statu rerum publicarum. Zum Unterschied zwischen dem Bodin von 1566 und 1576 besonders J. H. Franklin, Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory, Cambridge 1973 (nun auch in französischer Übersetzung durch Jean-Fabien Spitz "Jean Bodin et la naisssance de la theorie absolutiste", Paris 1993). 24 Ouaritsch (FN 6), S. 169-178. 25 Basel 1550. Hierzu R. v. Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. 1, S. 483-485; Teichmann, ADB 24 (1887) S. 352 f.; B. Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, München 1981, S. 97: "Was Omphalius hier gibt, sechsundzwanzig Jahre vor Bodins Republique (1576), ist eine bis in viele Einzelheiten (Eingriffe in Prozesse, Testamente, Vormundschaften, Legitimierung unehel. Kinder, Aufhebung der Leibeigenschaft, Verleihung des Doktorgrads ohne Prüfung u.ä.) durchgestaltete, aus dem röm. Recht u. dessen scholast. Glossatoren, z.T. auch aus zeitgenöss. Juristen bis hin zu Zasius selbständig erarbeitete Souveränitätslehre" . 26 M. Stolleis, Condere leges et interpretari. Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung in der frühen Neuzeit, in: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, 1990, S. 167-196. Noch am Ende des 18. Jh. wird die alte Formel wiederholt: "Das Recht, Gesetze und allgemeine Polizeiverordnungen zu geben, dieselben wieder aufzuheben, und Erklärungen darüber mit gesetzlicher Kraft zu erteilen, ist ein Majestätsrecht" (ALR § 6 II, 13).

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setzgebung" ist nicht mehr dualistisch an die Mitwirkung der Stände (corps & colleges, estats) oder der Großen des Reichs gebunden. Sie ist Emanation jenes einen, dauerhaften, unteilbaren und unwiderstehlichen Willens, sie überwindet das entgegenstehende Recht jeder Art, ausgenommen freilich göttliches Recht und Naturrecht (loy de Dieu & de nature), völkerrechtliche Verpflichtungen des Herrschers und seiner Vorfahren, die eigenen Verträge mit den Untertanen sowie die leges imperii (fundamentales). Man mag in der Anerkennung dieser letzten Schranken theoretische Inkonsequenzen sehen, speziell in der immer noch konsensual angelegten Steuererhebung27 . Das ist jedoch nicht weiter wichtig; denn in der durch Bodin 1576 formulierten Gestalt ist die "Idee des souveränen Staates" aufgestiegen und in dieser Gestalt ist sie historisch wirksam geworden. Der Souverän ist zwar nicht Herr des Rechtsinhalts wie bei Hobbes, aber wenn das positive Recht den höherrangigen Normen nicht widerspricht, dann gilt es bei Bodin kraft Autorität, nicht kraft Wahrheit. Insofern ist das Gebot des Souveräns qualitativ überlegen, es mag Einzelfallgebot sein oder abstraktes Gesetz - dieser Unterschied spielte damals keine Rolle. Es gilt "unwiderstehlich"; ein Untertan darf sich dagegen nicht auf höheres Recht berufen, um Widerstand zu üben und so die Ordnungsleistung der Souveränität wieder zu sprengen. Dies ist der eigentliche Bruch mit dem Mittelalter; die Verletzung höheren Rechts hat keine praktischen Auswirkungen mehr. Dabei mußten notwendig die Konturen religiös begründeter Wahrheitsansprüche verblassen, wie die Vertreter der Orthodoxie aller Konfessionen Bodin auch tatsächlich vorgeworfen haben. Die alte Unterscheidung weltlicher und geistlicher Kompetenzen löste sich auf, m.a.w. die alte Begrenzung mittelalterlicher Souveränitätsaussagen auf die Temporalien entfiel. Die Allkompetenz des souveränen Gesetzes verschlang (zunächst theoretisch) den systemsprengenden konfessionellen Streit. Die Religionsausübung wurde mindestens tendenziell private, gesetzesgebundene Tätigkeit. Auch in Deutschland, wo die religiösen Kontroversfragen nicht souverän entschieden, sondern 1555 und 1648 durch Formelkompromisse, Verfahrensregeln und kunstvolle Ausklammerungen aus dem Reichsverfassungsrecht herausgenommen wurden 28 , war die Tendenz erkennbar, die Ordnung und den friedlichen Ausgleich vor die theologischen Wahrheitsfragen zu setzen. Daß die Entscheidung über die Religion der Untertanen von der Herrschaftsmacht über das Territorium abhängig gemacht wird, ist der deutlichste Beleg für diese Tendenz. 2. Ein zweiter, ebenso deutlicher Punkt, an dem die Trennlinie zum Mittelalter verläuft, ist die Wandlung der richterlichen Funktion. 27 28

Ouaritsch (FN 7), S. 60 ff. M. Heckel, Das konfessionelle Zeitalter, 1983 m. w. Nachw.

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Mit dem energischen Akzent auf der Gesetzgebung rückt auch die das gesamte Mittelalter beherrschende Stellung des Richters in das zweite Glied bei Bodin erscheint das unter dem Gesetz stehende Richterturn erst an dritter Stelle. Daß ein Richter die Konflikte streitender Individuen und Gruppen punktuell beheben könne, setzt eine im Prinzip in sich ruhende und vom allgemeinen Konsens getragene Rechtsordnung voraus. Gibt es sie, dann entscheidet der Richter als ihr Repräsentant; er spricht (findet, schöpft) "Recht". Gibt es dagegen fundamentale Zweifel an der Rechtsordnung oder herrscht gar Bürgerkrieg, dann bedarf es eines von inhaltlichen Prämissen gelösten, einem zentralen Willen entspringenden Gebots, dem die Richter dann zu folgen haben. Die Souveränität konstituiert gewissermaßen das Gemeinwesen von einem höheren Punkt aus. Daß es überhaupt ein durchsetzbares Gebot gibt, ist wichtiger als sein Inhalt. Ordnung geht nun vor Wahrheit. Der Richter repräsentiert nicht mehr die Rechtsordnung, er dient ihr. 3. Da der nun inthronisierte Gesetzgeber, um souverän genannt zu werden, von niemandem rechtlich abgängig sein darf, verwirft Bodin konsequenterweise alle Vorstellungen von der Teilhabe mehrerer an der höchsten Gewalt, wie es die seit der Antike wegen ihrer Flexibilität und Stabilität gepriesene "gemischte Verfassung" vorsah 29 . Auch die dualistischen Konsensmodelle zwischen Fürst und Ständen wurden nun theoretisch verabschiedet - ausgenommen bei den Steuern, sei es aus Traditionsgründen, sei es aus politischer Klugheit. Das war für den seine Kräfte sammelnden (Früh)absolutismus, aber nicht nur für ihn, das entscheidende Stichwort. Nur wo es gelang, einen von allen rivalisierenden Kräften anerkannten Willen als höchsten durchzusetzen, schienen in der Konkurrenzsituation der Frühen Neuzeit Herrschaftsgebilde üb erleb ensfähig. Intermediäre Gewalten mit störender Eigendynamik waren im Prinzip zu beseitigen. Mit dieser Intention wurde der Adel entmachtet, an die personell enorm anschwellenden 30 Höfe gezogen, dort in das Gewebe eines immer komplizierter werdenden Zeremoniells eingesponnen 31 , in die Verwaltung oder in das Heer integriert32 . Mit dieser Intention 29 w: Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, 1980. 30 M. H. Dausch, Zur Organisation des Münchner Hofstaates in der Zeit von Herzog Albrecht V. bis zu Kurfürst Maximilian, phil.Diss. (M.schr.) München 1944; ALbert Cremer, Der StruktUIwandel des Hofes in der Frühen Neuzeit, in: Vierhaus (FN 20), S. 75 ff. 31 M. Vec, Zeremonialwesen, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (im Druck) m.w.Nachw. 32 J. v. Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus, 1973; P. Baumgart, Der deutsche Hof der Barockzeit als politische Institution, in: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jh., Hamburg 1981, Bd. 1, S. 25-43.

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wurden Städte degradiert, wurden die Kirchen der staatlichen Zwecksetzung unterworfen, die Zünfte bekämpft usw. Aus den für das Mittelalter so typischen vielfach gestaffelten und sich überschneidenden Rechtskreisen mit unterschiedlichen Loyalitäten (Einungen, Schwurverbände) wird der zwar immer noch ständisch gestufte, aber immer stärker vereinheitlichte Untertanenverband 33 . Auch daß das substantivierte Adjektiv "Untertan" (subditus, subiectus) in der Neuzeit vordringt3\ ist bezeichnend für jenes nun entstehende Immediatverhältnis. Die Untertanen werden mit einer Fülle von Mandaten, Ordnungen und Gesetzen überzogen, die wenigstens tendenziell sich an alle richten, um sie zu lenken, zu bessern oder zu disziplinieren35 • Erst der damit (zunächst nur theoretisch vorweggenommene und stufenweise angestrebte) Durchgriff des Gesetzgebungsbefehls auf die untere Ebene der Untertanen gibt dem Aufbau eines entsprechenden Beamtenapparats Sinn. Nun bildeten sich, wie oft beschrieben worden ist, mit Rat und Kanzlei, Geheimrat und Kabinett die Zentralnervenpunkte, von denen aus die Impulse des souveränen Willens nach unten gelenkt wurden. Auf der mittleren und unteren Ebene entstanden immer breiter nach unten gefächerte Einrichtungen, an denen sich langsam ein "Staatsdienertum" mit entsprechendem Ethos heranbildete 36 . Nun kann das Herrschaftsgebiet als "Territorium" erfaßt werden, d. h. als ein von festen, eventuell militärisch gesicherten "Grenzen" umschlossenes Land. Nun beginnen auch die ersten Versuche, eine Handelsbilanz für das gesamte Territorium zu erstellen, das Land als Ganzes wirtschaftspolitisch zu steuern und eine bewußte Ein- und Ausfuhrpolitik zu treiben. 4. Ein wesentliches Element der Binnenverfassung des souveränen Staates war das Geld, der Nervus rerum gerendarum 37 . Auch hier wird Bodin (VI,2) der geistige Bezugspunkt einer europäischen Debatte. Wer souverän ist, so heißt es, kann "tributa imponere" (imperare). Hatte man ursprünglich mit den Bibelworten zur Zehnt- und Zinspflichtigkeit als "jus divinum positivum universale" zur Intensivierung der Geldaufbringung operiert und die Erhebung von Abgaben als sakrales Königsrecht verstanden, so rückte nun die Souveränität als innerweltliche Begründung konzentrierter Hoheitsmacht nach, und dabei ist das Recht der Auferlegung von Abgaben Ouaritsch (FN 6), S. 202 ff. H. Conring, Diss. de subiectione et imperio, Helmstedt 1641. 35 K. Härter, Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jh., in: Jus Commune XX (1993), S. 61 ff. 36 H. Hattenhauer, Geschichte des deutschen Beamtentums, 2. Aufl. 1993, S. 87ff.; M. Stolleis, Grundzüge der Beamtenethik (1550-1650), in: ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, 1990, S. 197 ff. 37 M. Stolleis, Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, 1983, S. 103 ff. 33

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ganz wesentlich: "impositio collectarum est unum de juribus reservati supreme potestati(s)38." Vom Abgabenrecht läßt sich auf die Souveränität schließen: "Hoc qui habet, comparatur habendi plenum et absolutum dominium et suis et alteris legibus solutus est 39 ." Und umgekehrt: Die Fürsten, die Krieg erklären und den Staat unabhängig von anderen verwalten können, "habent potestas imperandi tributa". Solange allerdings die Finanzierung der Staatsfunktionen aus eigenen Mitteln, aus lehenrechtlichen Abgaben, Jurisdiktionsgefällen, Regalien, indirekten oder direkten Steuern und sonstigen außerordentlichen Abgaben gemischt war, fiel die Zusammenfassung der Finanzgewalt als Teil der Souveränität schwer. Die "causae" aus den verschiedenen Rechtsrnassen bestimmten die zivil-, lehens-, kirchenoder öffentlichrechtliche Natur der jeweiligen Abgabe. Aber die Entwicklung, an deren Ende die Steuerhoheit stand40 , ging in diese Richtung. Die "causae" der Abgaben verblaßten und als ihr Rechtsgrund trat immer stärker die "superioritas principis" hervor. Außerdem mußten die Unterschiede zwischen Fiskus und Aerarium (Landes-Cassa)41 in dem Maße eingeebnet werden, in dem sich der Absolutismus über die Stände erhob. Souveränität und Besteuerungsrecht stützten sich praktisch und theoretisch gegenseitig. Wflr die "privilegia fisci" und das Besteuerungsrecht hatte, "habet intentionem superioritatis fundatam 42 ." Das gleiche Ergebnis erreichte man, wenn man die Rechte des Fiskus und das Besteuerungsrecht aus dem "dominium eminens" entwickelte und jenes wiederum aus der Souveränität43 . Letztlich liefen die Entwicklungslinien dort zusammen, wo die gestiegene Macht des Souveräns und damit auch der gestiegene Geldbedarf ihren Sitz hatten44 . 5. Die Durchsetzung der Souveränität nach innen war die Voraussetzung für die Bildung jener völkerrechtlich relevanten "Außenhaut", von der ein38 Petrus de Ubaldis, De collectis, in: Tractatus et variis iuris interpretibus collectorum, Leiden 1549, Bd.XI, Nr. 2. 39 J. Althusius, Jurisprudentia Romana, 2. Aufl., Herborn 1588, Cap. 16. 40 J. J. Moser, Von der Landeshoheit in Steuersachen wie auch anderen Geld- und Naturalabgaben, nach denen Reichs-Gesetzen und dem Reichsherkommen, Frankfurt und Leipzig 1773. 41 J. J. Moser, Neues Teutsches Staats-Recht Bd. 16.5, Frankfurt und Leipzig 1773, Cap. 5, § 3. 42 Stolleis, Pecunia nervus rerum (FN 37), S. 112 Anm. 34. 43 M. A. Pergerinus, De Privilegiis et Juribus Fisci (1588), 6. Aufl. Vicenza 1626; F. Mevius, Diss. de Fisco, Greifswald 1620; S. Reifferath, Delineatio totius iuris fisci, Basel 1621; G. D. Locamer, Diss. de iure fisci, Straßburg 1622; M. Stephani, Diss. de fisci principiis, Rostock 1624; J. Binting, Diss. de iure fisci, Straßburg 1650; F. Volschow, Diss. de iure fisci, Greifswald 1651; J. F. Ruhl, Diss. de iure fisci, Basel 1653; W A. Lauterbach, Diss. de iure fisci, Tiibingen 1659; Ch. Pitt, De iure fisci, Leiden 1674; G. Schroeder, De iure fisci in res alienas, Basel 1674; J. Chr. Falkner, Diss. de iure et privilegiis fisci, Jena 1678. 44 Vgl. etwa H. Dollinger, Staatsräson und Staats finanzen in Bayern im 16. und frühen 17. Jh., in: A. De Maddalena - H. Kellenbenz (Hrsg.), Finanzen und Staatsräson in Italien und Deutschland in der frühen Neuzeit, 1992, S. 249 ff.

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gangs gesprochen wurde. Der schon seit dem Hochmittelalter zu beobachtende Prozeß der Ausformung teils geographisch-ethnischer, teils dynastisch bedingter Einheiten, die sich daran gewöhnten, gemeinsame Schicksale zu haben, sich als Sprach-, Kultur- und Rechtsgemeinschaften zu verstehen, scheint sich in der Frühen Neuzeit zu beschleunigen. Der Zerfall der einen Religion in Konfessionen und die damit auftretenden Energien der "Konfessionalisierung" als Element der Staatsbildung45 haben ihn verstärkt. Der Papst konnte allenfalls noch als Schiedsrichter zwischen katholischen Staaten fungieren 46 ; die Rolle des Kaisers·als dominus mundi war längst ausgespielt47 . Sowohl Bodin (I 9) als auch Grotius 48 wiesen sie ausdrücklich zurück. Es kommt hinzu, daß auch das Lehenswesen, das ehedem eine ähnlich befriedende Funktion erfüllt hatte wie das spätere Völkerrecht, seit dem 15.Jh. in eine Krise geraten war. Sowohl ökonomisch als auch militärtechnisch war die ritterliche Rolle des Adels überlebt. Die Niederlage Karls des Kühnen von Burgund bei Murten (1476) ist hier wohl die Wendemarke. Das Lehensrecht löste sich teils auf, teils wurde es in geldwerte Titel umgeformt. Die ihm eigene personale Prägung ließ es für die objektivierten Zwecke des 16. und 17. Jh. immer ungeeigneter erscheinen, ja es war ausgesprochen hinderlich, soweit es Illoyalitäten "über die Grenze hinweg" begünstigte. Die "Abgrenzung" von Herrschaftsrechten und Einflußzonen ist zwar kein Phänomen der Neuzeit. Aber erst die nach innen und außen ihrer selbst bewußt werdende Souveränität der europäischen Staaten machte es möglich und notwendig, die Beziehungen zu formalisieren und auf eine neue Stufe des ius gentium zu heben. Erst die volle Territorialisierung der Herrschaft ließ die Außenbeziehungen auf neue Weise rechtlich regelbar erscheinen. Die Territorien wurden als rechtliche Einheiten begreifbar, konnten anthropomorph handeln, paktieren, Gesandte austauschen, sich bekriegen und Frieden schließen. Seither gibt es den z.T. heute noch gültigen Formenkanon der Diplomatie, der ausdrückt, daß die souveränen Mächte sich auf 45 W. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ZHF 10 (1983), S. 257-277. 46 Schiedsspruch Alexanders VI.(1493) und Vertrag von Tordesillas vom 7.Juni 1494 zur spanisch-portugiesischen Sphärenabgrenzung in Südamerika. Hierzu C. Vismann, Terra nullius. Zum Feindbegriff im Völkerrecht, in: A. Adam / M. Stingelin (Hrsg.), Übertragung und Gesetz, 1995, S. 159-174 (160-162). 47 R. Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke des mittelalterlichen Kaisertums und die Souveränität der europäischen Staaten, HZ 159 (1939), S. 251; H. J. Kirtel, Weltherrschaftsgedanke und Bündnispolitik, 1959; J. Baskiewicz, Quelques remargues sur la conception de dominium mundi dans l'oeuvre de Bartolus, in: Bartolus de Sassoferato. Studi e documenti per il VI Centenario, Bd. 2, Milano 1962, S. 9; M. David, Le contenu de l'hegemonie imperiale dans la doctrine de Bartoie, ebda. Bd. 2, S. 199; H. J. König, Monarchia mundi und respublica Christiana, Diss. Hamburg 1966. 48 De iure belli ac pacis, Paris 1625,11, 22, 13.

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der Konventionalebene des geordneten "Protokolls" begegnen und respektieren. Die Identitätsfindung der Staaten im 16. und 17. Jh. 49 schafft das europäische Völkerrecht, und es ist kein Zufall, daß die politisch und ökonomisch fortgeschrittensten Staaten (Niederlande, England, Spanien, Portugal, Frankreich) diese Entwicklung anführen. Es sind die Staaten, die die Entdeckungsreisen fördern und die Kolonialwelt unter sich aufteilen. In diesem Kontext erfüllt die Souveränität die Funktion einer "Außenhaut". Während die französischen Autoren vor Bodin und Bodin selbst die faktische "Expansion der königlichen Gewalt"50 aus innenpolitischen Gründen untermauern, dominierte in den Niederlanden die Abschüttelung der äußeren Unterdrückung. "Souveränität" bezeichnete in aller Kürze, was sie erstrebten 51 . Nachdem der Freiheitskampf abgeschlossen war und die Niederlande zur reichsten Seehandelsnation des 17. Jh. aufstiegen, waren sie primär an der "Freiheit der Meere" und an rechtlicher Sicherung der Handelswege durch das Völkerrecht interessiert. Das die Monarchie scheinbar so begünstigende Wort "Souveränität" und die aus ihm folgende Neuordnung der Außenbeziehungen durch das Völkerrecht sind also nicht für den Absolutismus monopolisierbar. Das Wort Souveränität lag für verschiedene politische Mächte bereit, die entsprechend ihrer Verfassungslage dabei waren, sich als "zuhöchst" zu installieren52 . Adels- und Stadtrepubliken konnten es genauso einsetzen wie Monarchien, und durchweg waren Innen- und Außenansicht der Souveränität miteinander verquickt. Für die niederländischen Generalstände wurde die äußere Souveränität zum Staatsziel, in Frankreich dominierte erst die Innen-, dann die Außenperspektive, etwa im Friedensschluß von Münster und Osnabrück. Der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm 1. rühmte sich, er habe für Preußen "nach so beschwerlichen und kostbahren Kriege die Souveraunitet erstritten und erhalten,,53 (er meinte die "äußere"), sein Enkel erweiterte sie auf alle seine "Prowincen und Lender" und drohte bekanntlich nach innen gegenüber den Ständen mit der Berufung auf die Souveränität als "rocher de bronce". Leibniz versuchte mit der Erfindung einer dritten Ebene zwischen Souveränität und Landeshoheit sowohl innerhalb des Reichs als auch völkerrechtlich eine Position zu besetzen 54 . In England do49 W Kienast, Die Anfänge des europäischen Staatensystems im späteren Mittelalter, HZ 153 (1936), S. 229. 50 Quaritsch (FN 7), S. 21. 51 Quaritsch (FN 7), S. 84 unten und Anm. 315. 52 Quaritsch (FN 6), S. 178ff. 53 Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelms 1. (1667), in: H. Duchardt (Hrsg.), Politische Testamente und andere Quellen zum Fürstenethos der frühen Neuzeit, 1987, S. 173. D. MeTten, Die Justiz in den Politischen Testamenten brandenburgpreußischer Souveräne, in: Staat und Parteien. FS R. Morsey, 1992, S. 13-46.

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minierte bei der Verwendung der Figur des "King in Parliament" ausschließlich die Innenansicht der Souveränität, ebenso in Dänemark bei der Entmachtung der Stände55 . Trotz dieser unterschiedlichen Lagen finden sich strukturelle Gemeinsamkeiten: Die Ausbildung politisch-administrativer Systeme oberhalb der Gesellschaft, das Vordringen aktiver Sozialgestaltung durch Gesetzgebung und das entsprechende Zurücktreten der richterlichen Funktion, die Überlagerung personaler Strukturen durch territorial definierte Herrschaftsansprüche mit entsprechenden Ausgrenzungen, Zentralisierungstendenzen bei der Willensbildung, bei der Normdurchsetzung und bei der Staatsfinanzierung - alles dies findet im 16. und 17. Jh. tendenziell überall und im Rahmen aller europäischen Staats- und Regierungsformen statt.

1. Diese idealtypisch verdichteten Aussagen sind freilich nur Richtungsweiser. Am konkreten Material dominiert die jeweilige Verfassungslage und die Befindlichkeit der politischen und intellektuellen Eliten. In diesem Sinne ist die erfolgreiche Durchsetzung der "Idee des souveränen Staates" oder auch ihr Scheitern in jedem Territorium unterschiedlich verlaufen. Deutschland ist hierfür wohl das beste Beispiel. Es bietet den überregionalen, sakralen, zur Erlangung der Souveränität westeuropäischen Musters unfähigen Verband sowie - in diesen eingefügt - Groß-, Mittel- und Kleinststaaten, an denen wie im Laboratorium studiert werden kann, wie sich jene "Verstaatlichung des dynastischen Verbandes" vollzieht und welches Vokabular hierzu verwendet wird. Mit Recht ist gesagt worden: "Die Wirkungen der Souveranitätslehre Bodins auf das deutsche Staatsrecht des 17. Jh. gehören zu den merkwürdigsten Erscheinungen der Wissenschaftsgeschichte in Deutschland56 . " Ganz ähnlich wie bei der Rezeption der "welschen" Ragion di Stato, die 1602 (also nahezu zeitgleich mit der Souveränität von 1609) erstmals auftaucht 57 , haben die deutschen Autoren Mühe, das ent54 Caesarini Fuerstenerii De Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae, 0.0., 1677. Hierzu E. R. Huber, Reich, Volk und Staat in der Rechtswissenschaft des 17. und 18. Jh., ZgStW 102, 1942, S. 613; Quaritsch (FN 7), S. 77 f. m.w.Nachw.; Stolleis, Geschichte (FN 4), S. 236 f. 55 J. Krumm, Lex Regia. Das Dänische Königsgesetz von 1665, in: Nordelbingen 4 (1925), S. 42-63; E. Ekman, The Danish Royal Law of 1665, Journal of Modern History 29 (1957), auch in W. Hubatsch (Hrsg.), Absolutismus, 1973, S. 223-237; K. Krüger, Absolutismus in Dänemark - Ein Modell für Begriffsbildung und 'lYPologie, in: Zeitschr. d. Ges. f. schlesw.-holst. Gesch. 104 (1979), S. 171-206. 56 Quaritsch (FN 7), S. 66 ff., 70. 57 F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 1924,4. Aufl. 1976; M. Stolleis, Jakob Bornitz (ca.1560-1625), in: ders., Pecunia nervus rerum (FN 37), S. 130 (140).

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sprechende Wort für "souveraineh~" zu finden, und sie haben offenbar auch hier Hemmungen mit der Rezeption eines als gefährlich und unpassend verstandenen Fremdwortes. So wird Souveränität zunächst (1592) unjuristisch übertragen als "im Regiment Meister sein,,58. Erst in der Mitte des 17.Jh. setzt sich die inzwischen eingedeutschte Souveränität auf der Linie von den Niederlanden nach Preußen, und dort im diplomatischen Verkehr zwischen Preußen, Schweden und Polen durch. In der Gelehrtensprache ist Souveränität seit und mit Bodin "summa potestas" oder "maiestas" samt dem ihr nahen Wortfeld "summum imperium, superioritas, supremitas, potestas absoluta, plenitudo potestatis, jus maiestatis, jura imperii, suprema iurisdictio, Hoheit, hohe Oberkeit" u. a. Die Auseinandersetzungen um diese Worte sind Verfassungsdebatten. Sie setzen fast schlagartig um 1600 ein, also seit die lateinischen Ausgaben von Bodin vorlagen (1591, 1594, 1601, 1609). Beteiligt sind der Kreis um Dominikus Arumaeus in Jena 59 , reformierte Autoren in Basel 60 , Marburg61, Heidelberg62 und Herborn 63 , Lutheraner in Straßburg, Gießen6\ Tübingen 65 , Wittenberg66 , Helmstedt67 und Altdorf. Als besonders wichtig erwiesen sich die Arbeiten des späteren Jenaer Professors Daniel Otto, der Praktiker Eberhard von Weyhe und Jakob Bornitz sowie der Souveränitätstraktat von Henning Arnisaeus. Wenigstens die Hauptrichtungen dieser Diskussion um Bodin seien benannt 68 : 1. Provozierend für deutsche Autoren, speziell für katholische und lutherische "kaiserlich Gesinnte", waren Bodins Thesen Quaritsch (FN 7), S. 66-69. Siehe etwa G. Frantzke, Disputatio juridico-politica de maiestate in genere, Jena 1629. Nachweise bei Stolleis (FN 4), S. 174ff. 60 K. Mommsen, Auf dem Wege zur Staatssouveränität. Staatliche Grundbegriffe in Basler juristischen Doktordisputationen des 17. und 18. Jh., Bern 1970. 61 A. Schepsius, Quaestio an princeps legibus sit solutus explicata, Marburg 1596; H. Kirchner, Respublica, Marburg 1608. 62 Johannes Calvinus (Kahl), De principe, maiestate et eiusdem privilegiis: Proinde et de Lege Regia: Commentatio Juridico-Politica & Historico-Juridica ... , Frankfurt 1600. 63 J. H. M. Salmon, Althusius and Bodin, in: ders., The French Religious Wars in English Political Thought, Oxford 1959, S. 47-50; H. U. Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius und Jean Bodin, in: Der Staat 4, 1965, S. 1-26. 64 R. König, Dissertatio politica de Majestate, Gießen 1608; ders., De Majestate et iuribus imperatori specialiter reservatis, in: D. Arumaeus, Discursus academici de iure publico, Jena 1616-1623, Bd. 2, S. 17. 65 Chr. Besold, De Majestate in genere eiusque juribus specialibus, Straßburg 1625. 66 F. Pruckmann, Paragraphus soluta potestas, tractatus de regalibus, Wittenberg 1592. 67 Zu H. Arnisaeus, De Jure Majestatis libri tres, 1610 H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat, 1970; ders., Hermann Conring und die politische Wissenschaft seiner Zeit, in: M. Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk, 1983, S. 135 ff. 68 Ouaritsch (FN 7), S. 70; Stolleis (FN 4), S. 174 ff. m.w.Nachw. 58

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zum Souveränitätsdefizit des Kaisers (I 9) und zur Einordnung des Reichs unter die Aristokratien (II 6). Mit diesen Thesen schuf Bodin einen Kristallisationspunkt für die seit dem Ansteigen der konfessionellen Spannungen und der Lähmung der Reichsinstitutionen ohnehin stimulierte Diskussion, ob es eine zur Letztentscheidung fähige politische Kraft in Deutschland gebe und wer sie innehabe. Nur Außenseiter (Quirin Cubach, Hippolithus a Lapide) schlossen sich insoweit Bodin an. Die überwältigende Mehrheit der Publizisten tendierte zur modifizierten Monarchie oder zur status-mixtus Lehre. Daraus wird die bis in das 18. Jh. reichende und dann allmählich als unbeantwortbar angesehene Frage nach der "forma imperii", die sich vor allem darum drehte, ob die Territorien nach dem Frieden von 1648 souverän genannt werden konnten 69 • Dies ist im Grundsatz - allerdings mit gewichtigen Ausnahmen - bis zum Ende des Reichs verneint worden. Freilich gab es, wie sich Johann Jakob Moser ausdrückte, eine gewisse "Souveränitätsbegierde" , welche sich "auch immer mehres mancher Chur- und Fürstlicher Höfe" bemächtige7o • Die Großen handelten faktisch als Souveräne, die Kleinen blieben im Rahmen der reichsrechtlich gebundenen Landeshoheit, nicht einmal nur aus Schwäche, sondern auch aus kluger Berechnung, sich damit kaiserlichen und reichsgerichtlichen Schutz zu erhalten. Auf diesem Hintergrund ist die Emphase zu verstehen, mit der man schließlich im Rheinbund sich des neuen Titels der Souveränität bemächtigte und in Reformgesetzgebung umsetzte 71. 2. Bodins strenges Konzept der "unteilbaren/ungeteilten" Souveränität war auf das überwiegend praktizierte dualistische Modell von Monarch und Ständen72 nur mit Zusatzkonstruktionen anwendbar. Gerade im Reich mit seiner seit 1608 besonders gefährdeten Balance zwischen Kaiser und Ständen schien eine Zuschreibung der Souveränität an die eine oder andere Seite unmöglich. Aber Juristen bleiben in solchen Situationen nicht ratlos. Sie greifen zu Begriffsspaltungen und Differenzierungen. Das Problem, daß eine Sache oder ein Recht von mehreren gleichrangigen Personen innegehabt werden kann, war ihnen im Sachen- und Gesellschaftsrecht seit jeher vertraut. So schufen sie (erstmals 1608)73 den Ausweg der Unterscheidung 69 B. Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jh., 1984. 70 J. J. Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 14, Frankfurt-Leipzig 1773, 253, bei H.Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, 1992, S. 78. Die literarischen Vertreter nennt Moser "Ober- oder Kerzen-Meister der Souveränitäts-Macher-Zunfft"; Quaritsch (FN 7), S. 81. 71 Ouaritsch (FN 7), S. 109 ff.; Stolleis (FN 4), S. 65 f. Eine eingehende Untersuchung der Rheinbundpublizistik, insbesondere P. A. Winkopps, liefert Gerhard Schuck. Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus, 1994. 72 H. Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, 2 Bde, 1991. 73 Stolleis (FN 4), S. 180 f. m.w.Nachw.

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von "maiestas realis" und "maiestas personalis" bzw. von rechtlicher Innehabung und praktischer Ausübung. Diese Lehre findet sich bei Herrnann Kirchner in Marburg, bei Althusius und Hoenonius, im Gießener Kreis um Antonius und Reinkingk, bei Besold und im Kreis um Arumaeus, sie wird von der Autorität des Grotius gestützt, bis sie über Johannes Limnaeus zur herrschenden 74 Lehre der reichs ständisch orientierten Reichspublizistik aufstieg. Sie war überzeugender als eine ebenfalls - gewissermaßen begriffswidrig - versuchte Funktionsteilung der Souveränität (Arnisaeus). 3. Ein dritter Differenzpunkt bei der deutschen Rezeption Bodins liegt in der Kirchenhoheit. Bodin hatte sich zum Fall unterschiedlicher Religionen im Staate sehr vorsichtig ausgedrückt. Er empfahl, ebenso wie kurz nach ihm Justus Lipsius, Debatten über Religionsformen und Gewaltanwendung möglichst zu vermeiden. Allenfalls solle der Fürst durch vorbildliches religiöses Leben auf die Herstellung der religiösen Einheit hinwirken. In jedem Fall rangierte die staatliche Ordnung vor der Wahrheitsfrage. Die deutschen Autoren dagegen konnten und wollten der verfassungsrechtlichen Zuordnung der Religionsfrage nicht ausweichen. Sie erweiterten sehr bald den Katalog der Souveränitätsrechte durch Hinzufügung des Rechts, die Religion der Untertanen zu bestimmen. Für Protestanten war es dabei im Prinzip günstiger, das ius circa sacra nicht mehr episkopalistisch, sondern territorialistisch zu fassen und es der landesherrlichen suprema potestas zuzuordnen. Faktisch war es Element einer territorialen Quasisouveränität. 1648 wurde dies ausdrücklich fixiert (IPO Art.V § 30, XII). Das Reich hatte damit in Religionsfragen endgültig seine Kompetenz verloren. Seine Sakralität, die nun überkonfessionell zu denken war, verblaßte im Rationalismus der Aufklärung und war am Ende nur noch ein leerer Tite1 75 . Abstrakter ausgedrückt, finden wir hier die beiden Wege, auf denen die im 16. Jh. die in eine Modernisierungskrise geratenen Gemeinwesen den Konflikt von Religion und Politik bereinigen konnten. Die sich immer stärker verweltlichende Politik, die die Religionsfrage zu steuern suchte, ging hier entweder den Weg der Inklusion oder der Exklusion. Im Falle der Inklusion "benutzte" der frühabsolutistische Staat, der das Glück hatte, einigermaßen einheitliche Konfessionsverhältnisse erhalten oder herstellen zu können, die Religion, indem er sie durch" umarmende Reglementierung" in seinen Herrschaftsbereich einbezog. Dabei machte er die Kirche nicht nur zur Nutznießerin staatlichen Schutzes, sondern auch zur gewaltunterworfenen, ihm vielfältig nützlichen "Religionsgesellschaft" . Der konfessionell geLink (FN 7), S. 77 FN 58 m.w.Nachw. M. Heckel, Das konfessionelle Zeitalter, 1983, m.w.Nachw.; B. M. Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung. Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, 1989. 74

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schlossene Territorialstaat kannte nur eine Souveränität, eben die weltliche Herrschaft über das Territorium mit Land und Leuten. Dieser Staat konnte zwar aus Rücksicht auf Tradition und Zweckmäßigkeit den Kirchenverwaltungen Eigenständigkeit und den Theologen einen Kernbereich eigener Definitionsmacht gewähren; theoretisch zwingend war dies jedoch nicht. Der Souverän über das Territorium war zugleich Souverän über die von ihm "zugelassenen" Religionsgesellschaften 76. Wählte der Staat dagegen den Lösungsweg der Exklusion des Religionsproblems, also der Ausklammerung und N eutralisierung der wichtigsten Institutionen und Verfahren sowie der Privatisierung der Glaubensentscheidung, dann bedurfte es eines ähnlich hohen Energieaufwandes, um diese Exklusion gegen die Religionsparteien zu bewirken. Die weltliche Gewalt setzte hier voraus, daß es ein dauerhaftes Nebeneinander konkurrierender Konfessionen auf ihrem Territorium geben werde und daß es deshalb einen souveränen "Schiedsrichter" über ihnen geben müsse. Das konnte die Staatsgewalt nur, wenn sie hinreichend stark war oder die Religionsparteien entsprechend erschöpft waren. In beiden Fällen also - Inklusion oder Exklusion - war die tendenziell sich säkularisierende weltliche (staatliche) Seite der eigentliche Sieger. 4. Mit der Religionsfrage hängen weitere Differenzen zu Bodin zusammen. Von Italien ausgehend gab es in der Welt der katholischen Theologie Opposition nicht nur gegen die mit der Souveränitätslehre verbundene Begünstigung des die Kirche unterdrückenden Absolutismus, sondern auch generell gegen die Tendenz zur Säkularisierung des Staates und zu einem positivistischen (in der Sprache der Zeit antiplatonischen) Rechtsverständnis. Vorbehalte gegen den ketzerischen Calvinisten Bodin kamen hinzu, Vorbehalte, die übrigens auch von den Lutheranern geteilt wurden. In Deutschland stritten die Gelehrten darüber hinaus einerseits mit Bodin, andererseits mit der kurialistischen Lehre (Bellarmin) , auf wen das spätantike römische Reich übergegangen sei und wer die translatio imperii bewirkt habe 77 • Bodin berief sich als Franzose auf CharZemagne und betrachtete den Kontinuitätsanspruch des deutschen Kaisers als Usurpation. Die deutschen Autoren verfochten die Linie von KarZ d. Großen auf die Sachsenkaiser und wehrten zugleich die katholische Lehre ab, die Kirche habe bis zum Jahr 800 das Römische Reich treuhänderisch bewahrt und dann übergeben. Praktische Bedeutung haben diese Auseinandersetzungen wohl nicht gehabt. 76 K. Schlaich, Der rationale Territorialismus, ZRG Kan.Abt.54 (1968), S. 269 ff.; Link (FN 7), S. 292-321; M. Heckel, Territorialsystem, EvStaatsLexikon, 3. Aufl. Bd. 2, Sp. 3600-3603; ders., Jus reformandi, EvStaatsLexikon, 3. Aufl. Bd. 1, Sp. 14161420. 77 W. Goez, Translatio Imperii, 1958.

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5. Schließlich muß unterstrichen werden, daß die deutschen Autoren des 17. Jh. in einem Punkt ganz entschieden mit Bodin übereinstimmten, und zwar in der Frage, ob der maiestas Grenzen gezogen seien. Die alte Lehrtradition, daß die potestas legibus soluta nur über diejenigen Normen verfügen könne, die dem Souverän überhaupt zustanden, wurde hier aktuell. Die Bereitschaft der deutschen Autoren, mit Bodin die Gesetzgebungsmacht durch göttliches und natürliches Recht, Völkerrecht und leges fundamentales zu begrenzen, hatte gute Gründe. Einmal blieb dadurch der Zusammenhang mit der mittelalterlichen Lehrtradition gewahrt, und es wurde unterstrichen, daß die mit der Rezeption des Souveränitätsbegriffs sich vollziehende Umschichtung der Machtverhältnisse im Rahmen des religiös definierten Weltbildes verbleiben könne. Die biblisch bestimmte Sozialordnung wurde also nicht angetastet. Weiterhin bot die Lehre von den Fundamentalgesetzen, einschließlich des Reichsherkommens 7B , die Möglichkeit, die Bindung an die Reichsverfassung eingehend zu entwickeln, ohne den Majestas-Begriff preisgeben zu müssen. Drittens lieferte das als außerhalb menschlicher Verfügbarkeit gedachte Natur- und Völkerrecht eine Fülle von Begrenzungs- und Korrekturmöglichkeiten gegenüber kaiserlichen und landesherrlichen Machtansprüchen, so daß man tatsächlich sagen kann: "Eine theoretisch wirksame staats absolutistische Theorie hat es in Deutschland bis zum Ende des 18. Jh. nie gegeben 79".

v. Mit fünf (den Rahmen des Themas teilweise überschreitenden) Thesen möchte ich schließen: 1. Die Souveränitätslehre ist die Konsequenz der im 16. Jh. sich vollziehenden Autonomisierung der Politik. Der politisch-administrative Apparat soll das Entscheidungs- und Gewaltmonopol erhalten,Bo er soll von den rivalisierenden gesellschaftlichen Mächten getrennt sein und sie beherrschen. Handeln nach "Staatsräson", völkerrechtliche Subjektbildung nach außen und Ausschaltung (Schwächung) der intermediären Gewalten sind Ausformungen politischer Grundbedürfnisse der Frühen Neuzeit. Es sind Antworten auf den stufenweisen Zusammenbruch des mittelalterlichen Ordnungs78 J. G. Kulpis, De observantia imperiali, vulgo Reichs-Herkommen, 1685, in: J. Schilter (Hrsg.), J. G. de Kulpis dissertationum academicarum volumen, Straßburg 1705. Hierzu Roeck (FN 69), S. 75 ff. 79 Link (FN 7), S. 89. 80 D. Willoweit, Die Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates, in: A. Randelzhofer-W. Süss (Hrsg.), Konsens und Konflikt, 1986, S. 313 ff.

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gefüges einschließlich des Lehenswesens, auf das Ende der dualistischen Überwölbung Europas durch Kirche und Kaisertum, auf Kirchenspaltung und Religionskriege sowie - nicht zuletzt - auf grundsätzlich veränderte wirtschaftliche Bedingungen mit einem gewaltig gesteigerten Finanzbedarf. 2. Die Souveränitätslehre wird auf der Ebene der Verwaltung begleitet vom Aufstieg eines umfassenden Begriffs der "Policey". Auf die steigende Differenzierung der Staatsaufgaben antwortet der moderne Staat durch Inanspruchnahme einer Allzuständigkeit bei gleichzeitiger Entfaltung eines entsprechenden Behördenapparats.

3. Die "Idee des souveränen Staates" ist nicht ablösbar von der gleichzeitigen Umdefinition der Herrschaftsbeziehungen vom Personalverband auf die Vorstellung eines durch Rechtsgebot beherrschbaren Raums. Der moderne Staat setzt sich durch als die höchste denkbare Gebietskörperschaft, er schafft "Grenzen", trennt "subditi" und "peregrini" und definiert "innen" und "außen". Verliert er die Herrschaft über den Raum, dann gerät nicht nur seine äußere Souveränität ins Wanken; er verliert auch seine innere Souveränität, die darauf beruht, daß er seine Untertanen sowohl beherrschen als auch beschützen kann. 4. Der souveräne Staat mit seiner Immediatbeziehung zwischen Staatsgewalt und Bürger ist notwendige Voraussetzung für den Verfassungsstaat des späten 18. und des 19. Jh. Nur die "aus einem Punkt" entwickelte Staatsgewalt kann Verfassungsbindungen unterworfen werden und kann zu jener durch Grundrechte fixierten Distanz gegenüber der Gesellschaft angehalten werden, die bereits in der frühneuzeitlichen Konstruktion einer "über" der Gesellschaft stehenden Macht angelegt warB!. Insofern hat die frühe Neuzeit mit ihrer Herausarbeitung eines Entscheidungs- und Zurechnungszentrums die entscheidende Voraussetzung für die Installierung des Verfassungsstaates geschaffen. Daß hierbei die rationalistische Rechtsfigur des Vertrags die sakralen Begründungen verdrängte, war die wichtigste Linie, die zur "Entzauberung" der Herrschaft führte. Man darf hinzufügen: nicht nur der Verfassungsstaat des 19. Jh. ruhte auf den durch den frühmodernen Staat geschaffenen Voraussetzungen. Auch die europäische industrielle Revolution mit ihrem auf Arbeitsamkeit, Pünktlichkeit und Gleichheit angelegten Menschentypus wäre nicht ohne die obrigkeitliche Disziplinierungsleistung durch die frühmoderne "Policey" möglich gewesen B2 . 81 Anders H. U. Scupin, Untrennbarkeit von Staat und Gesellschaft in der Frühneuzeit. Althusius und Bodin, in: F. Kaulbach/W. Krawitz (Hrsg.), Recht und Gesellschaft. FS Schelsky, 1978, S. 633-657. 82 A. Lüdtke, Die Ordnung der Fabrik: "Sozialdisziplinierung" und Eigen-Sinn bei Fabrikarbeitern im späten 19. Jh., in: Vierhaus (FN 20), S. 206 ff.

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5. Im 20. Jh. sind am Souveränitätsdogma als Essentiale der Staatlichkeit vielfach Zweifel geäußert worden, ja auf die Staatlichkeit selbst sind Schwanengesänge angestimmt worden. Die rechtstheoretische Konstruktion des Staates als reine Normordnung setzte die Vereinheitlichungsleistung des frühmodernen Staates zwar voraus, bedurfte ihrer aber aus theoretischen Gründen nicht mehr. Das gleiche gilt, wenn im heutigen positiven Staatsrecht die letzten Begründungen dem Verfassungsrecht, nicht einer davon unterschiedenen Souveränität entnommen werden 83 . Ebenso konnte die Deutung des Staates als "geistiger Prozeß" auf einen scharf formulierten Souveranitätsbegriff verzichten. Smends Kritik an der Drei-ElementenLehre ist hierfür kennzeichnend 84 . Auch diejenigen, die zustimmend oder bedauernd eine zunehmende Verschmelzung von Staat und Gesellschaft oder vielmehr eine Überwältigung des Staates durch gesellschaftliche Gruppen registrierten, mußten damit Abstriche an der klassischen Souveränitätsidee machen. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen diejenigen, die auf die unleugbare Relativierung räumlicher Begrenzungen durch weltweite Kommunikation sowie durch internationale Verflechtungen auf allen Ebenen hingewiesen haben 85 . So richtig dies alles ist - der Staat des 20. Jh. ist eben ein qualitativ anderer als der des 17. - so sehr muß man fragen, ob nicht essentielle Ordnungsund Distanzierungsleistungen (staatliches Gewaltmonopol, Minimaldistanzen zwischen Staat und Gesellschaft) gerade in Situationen universeller Verflechtungen erneut ihren Wert gewinnen. Spekulationen über ein Ende der Epoche der Staatlichkeit und über den Übergang in eine souveränitätslose Weltgesellschaft haben vorläufig noch wenig Plausibilität für sich. Für die meisten Staaten und ihre Zusammenschlüsse86 ist die Handlungsfreiheit auf der Grundlage der Souveränität eine als selbstverständlich angenommene Voraussetzung87 • Auch der gegenwärtige Drang vieler Völker in Osteuropa und in der Dritten Welt zur Ausbildung souveräner Nationalstaaten 83 Zur "sovranitä della costituzione" G. Zagrebelsky, n diritto mite. Legge diritti giustizia, 1992, S. 8 ff. 84 Kritik an der Drei-Elemente-Lehre bei R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 167 ff.,170, 197,217. 85 P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 781; hierzu auch M. Dauses, Die Grenze des Staatsgebietes im Raum, 1972; H. Huber, Weltweite Interdependenz, Bern 1968, S. 15 f.: "Der Staat als von der Gesellschaft abgesplittertes Herrschaftsmonopol hat ausgelebt"; K. Hesse, Bemerkungen zur heutige~ Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DOV 1975, S. 437ff. 86 Gern. § 2 Ziff. 1 der Satzung der Vereinten Nationen beruht die Organisation auf dem "Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder". 87 A. RandelzhoJer, in: J. Isensee/P'Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 (1987), S. 694; D. Blumenwitz, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, in: Wege des Verfassungslebens. FS P. Lerche, 1993.

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spricht gegen das Ende souveräner Staatlichkeit. Wie anders, so muß man schließlich fragen, läßt sich eine extrem arbeitsteilig und kompliziert gewordene Gesellschaft steuern als durch Ausbildung eines politisch verantwortlich gehaltenen, aber von gesellschaftlichen Interessen halbwegs distanzierten staatlich-administrativen Apparats, dem Entscheidungen überantwortet werden, die die Gesellschaft aus eigener Kraft nicht treffen kann? Wie anders sollen Ziele verfolgt werden können, über deren Wünschbarkeit Konsens besteht, deren Erreichung aber durch die Blockierungen antagonistischer Individualinteressen verhindert werden? So problematisch es sein mag, solche Ziele festzulegen, für die Beendigung von Bürgerkriegen, für die Zurückdrängung von Privatrache und Privatgewalt sowie für die Herstellung einer Infrastruktur für die Grundbedürfnisse ist die Schaffung eines geharnischten Leviathan vielleicht die erste und einzige Hilfe. Die Bändigung dieses Leviathan88 - also die Schaffung des Rechts- und Verfassungsstaats - ist dann der nächste zivilisatorische Schritt.

88 E. Denninger, Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 29: "Der Leviathan, der furchtlos-furchterregende, ist alt geworden. Er wird sich mit seiner Rolle als nützliches Haustier abfinden müssen" .

Aussprache

Stolleis: Auf einige von Herrn Miethkes auf mein Referat übergreifende Diskussionsbeiträge möchte ich gerne gleich antworten, zunächst unter Bezug auf die Kontroverse zwischen den Herren Link und Quaritsch. Stellt man auf den Staatszweck ab und fragt, ab wann es einen Staat gibt, der die Religion nicht mehr als Aufgabe der öffentlichen Gewalt versteht, dann kommt man in das späte 18 Jh., bei großzügiger Betrachtung allenfalls in die Mitte des 17. Jh. Dann wäre das Referat von Herrn Miethke entweder falsch überschrieben oder hier überflüssig gewesen. Diese Meinung teile ich jedoch nicht. Ich denke Herr Quaritsch hat Recht, wenn er sagt, daß in einer Zeit, in der ein nichtchristlicher Staat schlechthin nicht denkbar ist, eben doch alles auf Kompetenzfragen hinausläuft. Das Beispiel von Herrn Heckel "Die Ehe ist ein weltlich Ding" ist das beste Beispiel dafür. Luther leugnet nicht die christliche Institution der Ehe, sondern ihm kommt es auf die Entscheidungskompetenz an. Daß die von den Herren Blaschke und Sprandel betonte Intensivierung des christlichen Charakters des Regiments in den protestantischen Territorien nach der Reformation einsetzte, bedeutete nicht Säkularisierung, aber eben doch eine intensive Kompetenzverlagerung. Der "Christenstaat" - etwa der Musterfall Sachsen-Gotha - gibt nicht das christliche Element auf, im Gegenteil, aber der Staat gewinnt Kompetenz. Die Sakralität des Königtums, auf die Herr von Unruh hingewiesen hat, ist ein mittelalterliches Erbe. Vom 16. Jh. an wird es deutlich schwächer. Im 18. Jh. haben es die Intellektuellen bereits verlacht. Ob Ludwig XVI. von Frankreich noch in der Lage gewesen sei, durch Handauflegen zu heilen, hätten Voltaire, Diderot und d' Alembert gewiß zurückgewiesen. Aber auf der Ebene des Volksglaubens sah es wohl noch anders aus. Maria Theresia bekennt selbst, daß sie den Krönungsritus als komisch empfunden hat. Auch Goethe als Betrachter sah es so. Am Endpunkt dieser Entwicklung steht die Unerhörtheit, daß Napoleon dem Papst die Krone aus der Hand nimmt und sie sich selbst aufsetzt. Nichts von dem, was danach folgt, kann den Bruch noch heilen. Die Entsakralisierung der Krönung ist damit eingetreten. Das "monarchische Prinzip" des 19. Jh. ist, wie Erich Kaufmann mit Recht festgestellt hat, eine Imitation, die sich zur wirklichen Sakralität etwa so verhält wie die Neugotik zur eigentlichen Gotik.

Aussprache

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Eine letzte Bemerkung noch zu dem Begriff der "Rationalisierung", den Herr Baumgart angesprochen hat. Ich empfinde ihn analytisch - trotz starker Sympathien für Max Weber! - wenig geeignet. Rationalisierung kommt nahezu überall und in wandelnden Gestalten vor. Das Gegenbild "irrational" wird pejorativ verwendet und hat etwas von dem Hochmut an sich, mit dem die "Zivilisierten" auf die "Wilden" herabgeschaut haben. Ich glaube nicht, daß man den Gegensatz von Mittelalter und Neuzeit mit dem Gegensatzpaar von "rational" und "irrational" angemessen erfassen kann. Gewiß ist die Formierung des modernen Staates ein Prozeß der Rationalisierung, aber nicht in gleichem Maße auch der Entchristlichung oder Säkularisierung.

Miethke: Ich habe das Stichwort der "Rationalisierung" aufgegriffen; drum muß ich es verteidigen. Rationalisierung ist ein schwieriger Begriff. Es wäre falsch zu glauben, daß sie stets von einem vorrationalen oder gar irrationalen Status zur Klarheit der Rationalität hinführt. Das methodische Nachdenken über Phänomene setzt bereits im Mittelalter ein, zuerst in der Kirche, dann in der Universität: deswegen auch meine Behauptung, daß die mittelalterliche Universität nicht antikirchlich verstanden werden darf. Die mittelalterliche Universität ist keine antikirchliche Instanz, wenn sie auch eine Instanz ist, die antikirchliche Potenzen hat. Zwischen beiden kam es zu Auseinandersetzungen; aber wo eine Universität existiert, finden diese Auseinandersetzungen anders statt als vorher. Sie werden zum argumentativen Streitgespräch. Das ist kein gradliniger, auf nur einem Weg verlaufender Prozeß; er läuft in Konflikten und argumentativem Ringen ab. Ohne Rationalisierungstendenzen wären bestimmte Differenzierungen der Zuständigkeitsbereiche gar nicht möglich gewesen. Was ich in meinem Referat zeigen wollte, war, daß diese Art von Zuständigkeitszuweisung nicht nur von Juristen vorgenommen werden, sondern in einer breiten Front in den verschiedenen Fakultäten unter Aufnahme verschiedener Sprachen, die alle zwar nicht zu einem Ziel, aber doch in eine Richtung führen, jene Richtung, die die Entwicklung insgesamt gegangen ist. Schneider (Saarbrücken): Ich möchte mich nur zur Sakralisierung und Entsakralisierung äußern. Dieses Phänomen ist nur partiell christlich, in seiner mittelalterlich-frühneuzeitlichen Tradition dann vor allem wohl byzantinisch, und das heißt, daß es auch bei dieser Ausprägung nicht ausschließlich christlich angereichert bleibt. Im wesentlichen dürfte es sich bei der Sakralisierung um einen Ausdruck der Einherrschaft handeln, die ein vielschichtiges Phänomen ist. Wenn Einherrschaft einen besonders betonten oder gar überzogenen Charakter annimmt, dann kommt es zu solchen Ausformungen. Das Phänomen der Herrscherheiligung kann man bis ins 20. Jh. verfolgen; ich verweise auf Kennedy und den marxistisch-maoistischen Personenkult. Es gäbe viele weitere Beispiele zu nennen. In der überzogenen

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Einherrschaft liegen die Hauptursachen, sie zwingt oft genug zum "Abheben", sie verführt auch dazu. Diesen Komplex sollten wir deshalb aus unserer Diskussion ausklammern, weil er wohl nur ganz am Rande dazugehört.

Schmidt: Herr Stolleis, ich möchte für Ihr erhellendes Referat danken. Ich beginne jetzt zu verstehen, wie Juristen mit dem Begriff "Souveränität" umgehen. Dennoch verbleiben einige Schwierigkeiten, wenn man den Souveränitätsbegriff auf die Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich anwendet. Fragen wir, wer sich von den Reichsständen selbst als "souverän" bezeichnet hat, so sind dies im 18. Jh. Preußen und Österreich. Auch bei einigen der übrigen mächtigeren Landesherren gab es ein "Streben nach Souveränität". Bezeichnet man hingegen auch die Freien und Reichsstädte als souverän, wird die Sache heikel; denn dann verschenkt man m. E. viel von der Erklärungskraft dieses Begriffes. Souverän waren die Freien und Reichsstädte wie alle mindermächtigen Reichsstände nur in einem sehr eingeschränkten Sinne. Selbst einem mittelgroßen Reichsfürsten wie dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt hat der Kaiser einen" Verwalter" aufgezwungen. Die Verhältnisse im Alten Reich lassen sich daher mit dem Souveränitätsbegriff kaum wiedergeben. Bodin selbst hat bekanntlich den Reichstag bzw. die auf dem Reichstag vertretenen Stände als Souveräne bezeichnet. Aber auch das trifft die realen Verhältnisse wohl nur bedingt. Ähnlich wie in Deutschland sieht es - nebenbei bemerkt - auch in Reichsitalien aus. Ich erinnere nur an den Mantuaner Erbfolgekrieg, in dem der Kaiser 1630 Rechte beanspruchte und kurzfristig auch durchsetzte. Es ist daher die Frage, ob wir den Souveränitätsbegriff Bodins wirklich auf die frühneuzeitlichen Verhältnisse im Reichsgebiet anwenden wollen. Schneider (Hannover): Ich schließe mich dem Dank derer an, die Ihr Referat, Herr Stolleis, als belehrend, als bereichernd empfunden haben. Das war für mich, der ich im 17. Jh. ein wenig bewandert bin, eine schöne Abrundung und Reprise all dessen, was man ganz zu wissen, aber nur halb verstanden zu haben glaubt. Ich möchte aber einen Punkt stärker betonen, der mir Kopfzerbrechen bereitet. Herr Stolleis hat bei Bodin sehr stark das voluntative Element hervorgehoben. Mein Eindruck ist, daß die moderne Renaissance des mittelalterlichen Voluntarismus, aus einer gewissen Vulgarisierung des Bodinschen Denkens hervorgegangen, eigentlich erst in der Mitte des 17. Jh. einsetzt, wobei Bodin schon nicht mehr richtig verstanden wird. Der Souveränitätsbegriff Bodins - so wird gesagt - habe etwas mit dem Absolutismus (legibus solutus) zu tun. Das ist m.E. falsch. Bodin definiert die Souveränität als eine Eigenschaft von Herrschaft, als "pouvoir absolut et perpetue". "Absolut" heißt hier nicht etwa "legibus solutus", sondern losgelöst von der Person des Herrschers, von der Dynastie und von der Staatsform. Das ist das Ent-

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scheidende. Es wird ein abstrakter Herrschafts- und Staatsbegriff begründet jenseits des dynastischen Prinzips und jenseits der Staatsform. Daß man den Souveränitätsbegriff voluntaristisch umdeutet, hat seine Gründe; sie sind ja im einzelnen auch erläutert worden. Nur ich warne davor, bereits Bodin voluntaristisch mißzuverstehen.

Wyduckel: Herr Stolleis, von den verschiedenen Punkten, die Sie genannt haben, möchte ich nur einen herausgreifen: Das Thema der Tagung hat mit dem Entstehen verfassungsrechtlichen Denkens zu tun. Ich sehe noch nicht ganz, wie man von dem Souveränitätsbegriff, wie Sie ihn uns dargeboten haben, den Weg zur Entstehung verfassungsrechtlichen Denkens finden kann. Ich sehe in Bodin auch etwas anders als Herr Schneider einen Staatsdenker, der von seiner Grundkonzeption her zu verfassungsrechtlichem Denken eher im Gegensatz steht. Denn Verfassungsstaatlichkeit, Verfassungsrechtlichkeit hat mit Regelhaftigkeit, mit Einbindung herrschaftlicher Gewalt zu tun. Insoweit finde ich es vom Standpunkt Bodins aus konsequent, die begrenzenden "leges imperii" außen vor zu lassen. Sie sind in der Tat mit seinem Konzept der Souveränität nicht ohne weiteres vereinbar. Schneider (Hannover): Das ist aus meiner Sicht Bestandteil des Konzepts. Wyduckel: Gut, es mag Bestandteil des Konzepts sein, aber vielleicht dann eines solchen, das in sich nicht ganz schlüssig ist. Bodin hat, wenn man an die politische und rechtliche Wirklichkeit des Reiches, aber auch anderer europäischer Gemeinwesen der Zeit denkt, nur bestimmte Aspekte erklären können, nämlich die des auf Staatsräson und Souveränität zielenden Machtstaates. Er wollte klare Lösungen vortragen und die paßten dann auf bestimmte Phänomene, auf andere eben nicht. Ich meine, daß es schon zu Zeiten Bodins geeignete Konzepte gegeben hat, die bereits vom Grundsatz her eher in eine Genealogie von Verfassungsrechtlichkeit gehören. In diesem Zusammenhang müßte eigentlich der Name des Johannes Althusius fallen. Herr Stolleis hat an einer Stelle seines Vortrags vom "ius maiestatis" gesprochen. Das ist die Terminologie des Althusius. Er spricht offenbar bewußt nicht von Souveränität schlechthin, sondern vom Recht der Souveränität. Darauf basiert konsequenterweise nicht eine "potestas absoluta" , sondern eine "potestas alligata" oder "potestas limitata", das heißt: Althusius zielt von vornherein auf eine rechtlich gebundene Gewalt. Man kann sich natürlich fragen, wo dann die Souveränität bleibt. Althusius klammert sie nicht aus, lehnt sie auch nicht ab, bestimmt sie aber anders als Bodin, nämlich als "potestas regni statuendi", also gleichsam als eine statuierende oder konstituierende Gewalt. Ob man hier von verfassungsgebender Gewalt sprechen kann oder sollte, scheint mir eine sekundäre Frage zu sein, sofern man sich im klaren darüber ist, daß der Sache nach eine das Gemeinwesen

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grundlegende Gewalt gemeint ist, die für das rechtliche und staatliche Zusammenleben der Menschen konstitutiv ist. Dies kommt einem Denken nahe, wie wir es nur wenig später auch in der Jenaer Schule des lus Publicum finden, die für die Genese eines auf seine fundamentalgesetzlichen Grundlagen bedachten Gemeinwesens so bedeutsam geworden ist. Das Denken des Althusius unterscheidet sich noch in weiteren Punkten von dem Bodins, so in seinem konsensualen oder genauer: konsozialen Ansatz, der einem auf Befehl und Gehorsam angelegten Konzept entgegengesetzt ist. Man mag all dies für mittelalterlich halten und dem neuzeitlichen oder modernen Konzept Bodins gegenüberstellen. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß in einer längerfristigen Perspektive die Antwort des Althusius auf die Frage nach Grund und Grenzen staatlicher Herrschaftsgewalt damals wie heute, ungeachtet der zeitversetzten Wirkung, vielleicht doch die überzeugendere und damit wohl auch modernere ist. Die konventionelle Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit müßte man vor diesem Hintergrund fließender sehen und die bisherige Terminologie, die im Grunde nur zwischen "alt" und "neu" unterscheidet, zu Gunsten einer leistungsfähigeren zeitlichen Perspektive überdenken.

Barmeyer: Bei dem Begriff der Souveränität hat Herr Stolleis verschiedene Elemente genannt. Zusammenfassend könnte man sagen, Souveränität nach innen und Souveränität nach außen. Meine Frage hört sich vielleicht nach dem Wunsch der Historikerin an, ein weiteres Referat zu der angeschnittenen Problematik zu hören. Meine Frage lautet: Gibt es verschiedene Phasen, Wechselwirkungen, gegenseitige Beeinflussungen dieser verschiedenen Elemente? Wenn Europa von einer Summe von Einzelentwicklungen geprägt ist, gibt es Phasen, unterschiedliche Phasenverschiebungen in dieser Wechselbeziehung innerer und äußerer Elemente der Souveränität? Das würde ich gerne detaillierter erfahren. Stolleis: Die Antwort auf die Frage von Herrn Schmidt ist relativ einfach; ich meine, das nicht behauptet zu haben, was Sie sagen. Natürlich hat Bodins Sicht der Dinge auf das Reich nicht ohne weiteres gepaßt. Man hat bis 1806 darüber gestritten, ob den Territorien wirklich Souveränität zukomme. Läßt man Österreich und Preußen beiseite, dann kann man für die mittleren und kleinen Staaten festhalten, daß sie nach herrschender Meinung vor 1806 nicht als souverän galten. Bei den größeren Territorien gab es "Souveränitätsbegierde" (J. J. Moser). Aber es gab auch die vielen kleinen Territorien, die sich aus Klugheit oder aus politischer Schwäche aus diesem Streit herausgehalten haben, weil sie keine Chance hatten, eine wirkliche Souveränität zu gewinnen. Die Hilfskonstruktionen, mit denen man gestützt auf Bodin im Reich operierte, sind erwähnt worden, also z. B. die Spaltung zwischen maiestas realis und maiestas personalis. Sie hat sich bis

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in das 18. Jh. als praktikabel erwiesen. Andere Vorschläge, etwa der einer Funktionsteilung der Souveränität nach Aufgaben, haben sich als unpraktikabel erwiesen. So läuft also auch meine rechtliche Bewertung, gestützt auf den Westfälischen Frieden, darauf hinaus, daß die Territorien des Reichs keine Souveränität in Anspruch nehmen konnten.

Hans-Peter Schneider stimme ich zu, daß man "Souveränität" und "Absolutismus" nicht miteinander identifizieren darf. Träger und Inhalt der Souveränität sind zu unterscheiden. Auch nichtabsolutistische Gemeinwesen konnten souverän sein, etwa die Niederlande, Venedig oder die Schweizer Eidgenossen. Den entscheidenden Schritt zur Souveränität sehe ich allerdings im Element des Willens. In der Situation des französischen Bürgerkriegs ging es um die Installierung eines ganz oder wenigstens relativ von seinen Inhalten unabhängigen übergeordneten "Willens". "Relativ" deswegen, weil übergeordnetes Recht bei Bodin ohne große Mühe mit der Konzeption der Souveränität zu verbinden war. Der Souverän konnte nur über das Recht frei verfügen, das er allein in seinen Händen hatte. Dazu gehörten das göttliche Recht, das Naturrecht, die völkerrechtlichen Vereinbarungen seiner Vorgänger und seine eigenen vertraglichen Bindungen mit seinen Untertanen (die leges fundamentales) natürlich nicht. Herr Wyduckel hat diese Bindung an die leges fundamentales oder leges imperii bei Bodin nur als Beiwerk angesehen. Das halte ich nicht für richtig. Für Bodin kam es gerade darauf an, seine Konzeption mit der überlieferten französischen Bindung an die Fundamentalgesetze in Einklang zu bringen. Zu Herrn Wyduckel möchte ich noch bemerken: Es mag richtig sein, daß Althusius geeigneter sei, die modernen europäischen Probleme zu lösen. Aber das ist keine historische Frage mehr; es ist eine anachronistische Applikation eines historischen Textes auf ein aktuelles Problem. Unmittelbar einsetzbare Lösungen lassen sich weder Bodin noch Althusius entnehmen. In unserem Zusammenhang ist die historische Frage wichtiger, warum Althusius weniger wirksam geworden ist als Bodin. Der Grund mag darin liegen, daß Bodin wirklich das entscheidende Stichwort der Epoche geliefert hat, das Stichwort, das für die vielen höchst verschiedenen Gemeinwesen am treffendsten beschrieb, was sie für ihren Überlebenskampf in Europa brauchten. Deshalb hat sich Bodins Stichwort so schnell ausgebreitet und sofort Kommentatoren gefunden. Die alte Behauptung, Bodin sei im Reich nicht beachtet worden, ist m.E. widerlegt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Bodin hat große Aufregung verursacht, was man von Althusius nicht sagen kann, obgleich auch er häufig zitiert wurde. Man darf natürlich keine scharfen Zäsuren setzen. Die Grenzen zwischen alt und neu müssen fließender markiert werden. Um alles wirklich zu ver-

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stehen, muß man, wie das Herr Miethke gesagt hat, die Geschichte in ihrem Ablauf nacherzählen. Aber das schließt nicht aus, einige Wegemarken festzuhalten, so wie ich das vorhin mit Napoleons Griff nach der Krone angestellt habe. Mit Bodin kann man ebenso verfahren. Er hat eine historische Zäsur gesetzt, so wie vor ihm Macchiavelli. Dessen "Principe", das 18. Kapitel um präzise zu sein, ist wirklich eine Zäsur; von ihm an sah die geistige Welt anders aus. Aber das schließt das grundsätzliche Anerkennen von Kontinuitäten und Normtheorie-Perspektiven natürlich nicht aus. Frau Barmeyers Frage ist schwer zu beantworten. Denn die Innen- und die Außenperspektive der Souveränität waren miteinander verquickt. Den Niederländern ist es zunächst nur auf die Außenperspektive gegen Spanien angekommen, den Franzosen des 16. Jh., wenn ich es richtig sehe, zunächst nur auf die Innenperspektive. Für Preußen unter dem Großen Kurfürsten stand erst die Außen-, dann die Innenperspektive im Zentrum. Idealtypisch gesehen formiert sich der moderne Staat zunächst nach innen; er bändigt (oder neutralisiert) seine Religionskonflikte und seine widerspenstigen Untertanen sowie alle sonstigen widerstrebenden Kräfte (Bauern, Adel, Städte), um sich erst dann nach außen zu wenden. Aber so ist die Geschichte nicht immer verlaufen. Der reale Gang der Dinge verflocht beides miteinander. Ich sehe mich deshalb außerstande, Verlaufsmodelle zu skizzieren. Die Souveränitätsdebatte hing von der jeweiligen außenpolitischen Lage und den innenpolitischen Kräfteverhältnissen ab.

Boldt: Ich fand sehr interessant, wie Herr Stolleis die Souveränität und ihre begriffliche Ausprägung im Zusammenhang mit der Entwicklung des modernen Staates angegangen ist. So betrachtet kann man verstehen, daß der Begriff der Souveränität so, wie ihn Bodin und später Hobbes verwenden, eine ganze Entwicklung auf den Punkt bringt. "Souveränität", das ist dann ein Begriff, ohne den man ab einer bestimmten Zeit nicht mehr auskommt; den man benutzen muß, um sich verständlich zu machen, selbst wenn man Phänomene im Auge hat, die dem eigentlich mit der "Souveränität" Gemeinten gar nicht adäquat sind. Die Engländer haben von der "Souveränität des Parlaments", vom "King in Parliament" gesprochen und damit das gemeint, was der älteren Tradition des mixed government, der "gemischten Verfassung" entsprach. Sie machten also an dem neuen Begriff etwas ihm fast diametral Entgegengesetztes fest. "Souveränität" wurde zur zentralen Kategorie, die allgemein akzeptiert war und auf die man sich für seine politischen Zwecke mit Erfolg berufen konnte. Als die kaiserliche Macht zu Beginn des 19. Jh. erlosch, wurden die deutschen Fürsten ganz selbstverständlich "souverän" (was anders hätten sie im Verständnis der Zeit werden sollen?) und hatten damit einen Rechtstitel zur Hand, mit dessen Hilfe sie den Anspruch erheben konnten, ihre Territorien

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von Grund auf und ohne jede Rücksichtnahmen zu reformieren. Auch darin zeigt sich, wie eng die Entwicklung des modernen Staates mit dem Denken in der Kategorie "Souveränität" verknüpft ist. Aber ich habe eine Frage: Ich habe Herrn Stolleis so verstanden, als wolle er um der modernen Staatlichkeit willen weiterhin an der "Souveränität" als einem für diese Staatlichkeit noch immer sinnvollen Konzept festhalten. Das scheint mir problematisch zu sein. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, daß man auf den Begriff des modernen Staates verzichten sollte, weil es diesen modernen Staat mittlerweile gar nicht mehr gebe. Sein altes Merkmal, die Souveränität, scheint mir aber heute keine entscheidende Rolle mehr zu spielen. Man hat das Konzept der Souveränität seit dem 19. Jh. nicht von ungefähr laufend in Frage gestellt. Herr Wyduckel hat zu Recht gefragt, wie das Verhältnis von Souveränität und Verfassungsstaat zu sehen ist. An diesem Punkt möchte auch ich einmal einhaken. Bekanntlich sind die "Gewaltenteilung" und die "gemischte Verfassung" zwei zentrale verfassungsstaatliche Konzepte, die aus einer Tradition stammen, die gerade nicht die des modernen souveränen Staates ist. Dasselbe gilt für den in manchen Verfassungsstaaten bedeutsamen Föderalismus. Diese verfassungsstaatlichen Merkmale stellen die Anwendbarkeit des SouveränitätsKonzepts in Frage, ohne den Verfassungsstaat selbst als den modernen Staat in Frage zu stellen. Dasselbe gilt für die "Souveränität nach außen"; ich weise nur auf die Europäische Gemeinschaft hin. Ist es unter diesen Umständen noch sinnvoll, an der Souveränität als dem Fundament des Staates der Gegenwart festzuhalten? Kann man auch vom modernen Staat nur reden, wenn man gleichzeitig von Souveränität spricht? Was ist das für ein Begriff von Souveränität, der noch heute sinnvoll benutzt werden kann, obwohl er bei weitem nicht den politischen Stellenwert besitzt, den er zur Zeit Bodins und Hobbes' besessen hat?

Link: Zunächst eine Bemerkung zu der Frage, inwieweit der Souveränitätsbegriff im Reich gegolten hat. Herr Stolleis hat gesagt, daß die h. M. die Territorien nicht als souverän angesehen habe. Das ist sicher richtig, obgleich im Münsteraner Frieden das Wort "Landeshoheit" mit bekanntlich "point de souverainitee" übersetzt worden ist. Es hat sich aber in der Reichsstaatslehre zunehmend die Vorstellung breitgemacht, daß Adressat der Lehre von der Souveränität der Landesherr ist. Das hat die praktische Konsequenz, daß die kaiserlichen Rechte minimalisiert werden. Eine Tendenz, die kaiserlichen Rechte als eng begrenzte Ausnahmerechte darzustellen, fördert die Souveränität der Landesherren. Das ist deutlich zu beobachten. Im übrigen möchte ich an Herrn Stolleis' Hinweis anknüpfen, daß die Souveränität nicht verquickt werden darf mit der Frage nach dem Absolu-

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tismus. Es ist ein gängiger Gemeinplatz, daß Träger der Souveränität keineswegs ein Monarch sein muß; es kann auch das Volk (genauer: seine Mehrheit) souverän sein. Aber es wird auch zunehmend herausgearbeitet, vor allem bei Christian Wolff, daß die Souveränität sich mit der Gewaltenteilung verträgt, daß Souveränität nicht bedingt, daß sie in einer Hand liegt. Das öffnet den katholischen Raum der Souveränitätslehre, weil es selbst im habsburgischen Staatskirchenturn möglich macht, die verbleibenden Reste der päpstlichen Macht zu deuten. Daran haben sich die frühen Souveränitätsverfechter gestoßen; sie haben gefragt: "Ist denn der Staat ein Kalb mit zwei Köpfen?" Christian Wolff ist der erste in Deutschland, der darauf die Antwort gegeben hat, die zu dem hinführte, was Herr Schneider gemeint hat; zum Übergang von der personengebundenen monarchischen zur amtsoder institutionsgebundenen Souveränität des Staates. Das ist unser heutiger Souveränitätsbegriff. Mit ihm haben sich die Bedenken erledigt. Zuruf: Damit fangen sie erst richtig an!

Brauneder: Eine kurze Bemerkung zur Souveränität der Reichsstände. Sie soll in Erinnerung rufen, wie Franz 11. 1804 den Titel "Kaiser von Österreich" angenommen hat. Das stieß in seiner Beraterrunde auf schwerste Bedenken, einmal wegen der Reichsverfassung in den Reichsterritorien und zum andern wegen der ungarischen Verfassung. Man meinte, über den König von Ungarn nicht einfach einen Kaiser von Österreich stülpen zu können. Das zeigt, daß man sich der Souveränitätsproblematik 1804 noch durchaus bewußt war. Aber ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen. Herr Stolleis hat die Kriterien des souveränen Staates besonders betont, die Gesetzgebung, die veränderte Rolle des Richters, die der Verwaltung zugeordnete Polizei. Von diesen drei traditionellen Staatsgewalten steht nach meiner Überzeugung bei der Entwicklung zum modernen, souveränen Staat die Verwaltung im Mittelpunkt. Warum? Die Rolle des Richters unterliegt Modifikationen, aber keinen einschneidenden Veränderungen. Die Gesetzgebung ist zwar von den Ständen abhängig; aber die Stände beherrschen sie nicht; die Stände waren sich dessen auch bewußt; sie erkannten den Vorrang des Landesherrn bei der Gesetzgebung an. Somit blieb nur die Verwaltung. Sie kam ins Spiel mit der Überlegung, wie die Gesetze bis hinunter zum letzten Untertanen durchgesetzt werden können. Ich glaube, dem galt die ganze Sorge der Landesherren vom 16. Jh. an. Das erklärt alle Reformen in der Habsburger Monarchie. Sie veränderten auch auf der zentralen Ebene ungeheuer viel. Aber das halte ich eher für sekundär. Weit wichtiger ist, was sich auf der mittleren Ebene und unten vor Ort abgespielt hat. In den Polizeiverordnungen, Mandaten und Dekreten heißt es permanent: "Wir schärfen ein, daß dies zu gelten habe." Aber das wurde nicht den Untertanen eingeschärft.

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Adressat der Einschärfung waren "unsere Obrigkeiten", die alle aufgezählt und beim Namen genannt werden. Das ging auch gar nicht anders. 80 % der Untertanen konnten nicht lesen und so auch nicht zur Kenntnis nehmen, was ihnen per Polizeiverordnung befohlen worden war. Drum glaube ich, daß wir das prägende Kriterium des Entstehens des modernen Staates der Aufbau der Verwaltung war. Blaschke: Zu Herrn Schmidts Frage: Wer ist eigentlich souverän? Geht man von der Definition Bodins aus, so ist souverän jeder, der niemand über sich hat außer Gott; eine schlichte und sehr überzeugende Formulierung. So gesehen waren die deutschen Fürsten bis 1806 nicht souverän. Die Hohenzollern gründeten ihr Königtum nicht auf Brandenburg, sondern auf Preußen, ein Gebiet außerhalb des Reiches. Aber Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen weigerte sich 1521, das Wormser Edikt anzuerkennen, und er kam damit durch; er hatte auch Erfolg mit seiner Weigerung, Lothar auszuliefern. Ist das nicht bereits eine de facto praktizierte Souveränität? Das legt nahe, zwischen der formalen und der wirklich ausgeübten Souveränität zu unterscheiden. Aber eigentlich wollte ich auf das zurückkommen, was Herr Brauneder angesprochen hat: Die Wandlung des Richterturns, die den Richter an die zweite Stelle gerückt hat. Soweit ich informiert bin, ist im Mittelalter der Richter nicht der, der das Recht schöpft, sondern der, der es verkündet, nachdem die Schöffen es geschöpft haben. Drum möchte ich eine kleine Modifizierung vorschlagen: nicht das Richterturn hat sich gewandelt, sondern das Recht, die Stellung des Rechts und des Gerichts. Wenn wir uns darauf verständigen können, so halte ich das für eine sehr wesentliche Feststellung; denn dann muß man in die Liste der abgehalfterten Konkurrenten Adel, Stadtgemeinde, Kirche auch das Recht einsetzen. Im Mittelalter hatte das Recht geradezu das Gewicht einer souveränen Autorität. Auch der Herrscher steht unter dem Recht. Wenn jetzt das Recht und das Gericht dem Herrscher unterworfen sind, so heißt das auch eine Entmündigung des Rechts sowie eine Funktionalisierung und Instrumentalisierung des Rechts zugunsten des Herrschers als des Anwalts des modernen Staates. Das ist ein wichtiges Faktum: die herrschende Rolle des Rechts im Mittelalter weicht der untergeordneten, dienenden. Ableitinger: Ich möchte noch einmal das Stichwort Föderalismus aufgreifen, aber aus anderer Perspektive als Herr Boldt. In seiner These 4 hat Herr Stolleis formuliert, der souveräne Staat sei insofern Voraussetzung der Konstitutionalisierung des 19. Jh. gewesen, als er in seinem Territorium weitgehend homogene soziale Verhältnisse herstelle; diese seien dann zum Objekt der Konstitutionalisierung geworden. Zum Beleg dafür, daß Konstitutionalisierung mittelfristig scheitert, wo jene soziale Homogenisierung nicht hinreichend stattgefunden hat, kann

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man auf Zisleithanien verweisen; dieses Beispiel zeigt, daß der Begriff von sozialer Homogenisierung den weitgehenden Konsens in der Gesellschaft über die Zugehörigkeit zu einem gegebenen Staat einschließt, ein in diesem politischen Sinn "nationalen" Konsens. Wie verhält es sich aber bei Verhältnissen, in welchen solcher Konsens zwar existiert, die soziale Homogenisierung aber schon fragwürdig bleibt, weil sie nicht von bloß einem Staat geleistet werden konnte? Ich denke an das Deutsche Reich von 1871. Haben die bekannten Ursachen, denen es seine föderalistische politische Verfassung verdankt, auch etwas mit dem Fehlschlag bzw. den Schwächen seiner Konstitutionalisierung zu tun?

Kühne: Ist Herr Stolleis sein Thema nicht zu stark zentraleuropäisch angegangen? Als Stichwort sei einmal England mit seiner gesamthänderischen Souveränität eingebracht. Die USA wären zu ergänzen, in deren Verfassungsdebatte Souveränität ein Unwort ist, weil darin die europäische Erfahrung der Freiheitsverdrängung und Unfreiheit steckt. Daran schließt die Frage nach dem Verhältnis der Außen- und Innendimension von Souveränität an, die Frau Barmeyer bereits aufgeworfen hat. Ist sie wirklich unbeantwortbar? Ist nicht die Außendimension für Zentraleuropa das Entscheidende? Sie führt über jederzeit provozierbaren Außendruck zur entsprechenden Machtkonzentration innerhalb der Staaten. Dazu einige Belege: Die Souveränität nach außen ist in England und in den USA mangels äußerer Feinde und drohender Okkupierbarkeit kein Thema. Konsequenterweise bleibt auch die innere Souveränität vergleichsweise zurückhaltend. In den zentraleuropäischen Staaten ist das demgegenüber ganz raffiniert, wie das Beispiel Frankreichs unter den späten Ludwigen und Preußens zeigt. Wenn es um die Wahrung äußerer Souveränität geht, hat unter Umständen die innere Souveränitätsausbildung zurückzutreten. Das Interessante ist, daß sowohl Preußen wie auch Frankreich in seinen gefährdeten Grenzregionen die ständische Struktur nie vernichtet hat. Ostpreußen und Ostfriesland behalten ihre Stände: anderswo wurde abgeräumt. Auch in Lothringen bleiben die Stände, werden sogar einberufen, überall sonst in Frankreich wurden sie ab 1633 beseitigt. Man hat also sehr wohl bei der inneren Souveränitätsausbildung immer wieder die Außendimension im Auge gehabt. Wenn Sie sagen, daß es in Frankreich zunächst um die Innenpolitik, d. h. die Meisterung des Bürgerkrieges geht, so würde ich auch das ein wenig anders sehen. Frankreich steckte der Schock des 100jährigen Krieges in den Knochen. Um nicht Beute für England oder sonst wen zu werden, versucht man alle Kräfte kurzzuhalten, die das Land auseinanderreißen können. Umgekehrt und durchaus konsequent legt Frankreich im Westfälischen Frieden bekanntermaßen Wert auf das ius foederis der altdeutschen Einzelstaaten, d. h. auf deren Außenhandlungskompetenz; damit hat es gleichzeitig zu seinen Gunsten die Innenkompetenzfrage des Deutschen Reiches mit-

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gelöst. Deshalb spricht m.E. viel dafür, daß eigentlich doch die Außenseite der Souveränität das primäre ist.

Mohnhaupt: Ich schließe an das an, was zum Teil schon gesagt worden ist und möchte bemerken, daß Herrn Stolleis' Vortrag eigentlich zwei Entwicklungsstufen gestaffelt behandelt: einmal den souveränen Fürsten bzw. das souveräne Fürstentum und zum anderen den souveränen Staat oder die beginnende souveräne Staatlichkeit. Personalisiert gedachte und praktizierte Souveränität des Fürsten einerseits und die abstraktere Form von Souveränität staatlicher Qualität andererseits sind durchaus unterschiedliche Größen eines Entwicklungsprozesses. Wenn man das so sieht, so hat man es dann auch nicht schwer, in der Person des Fürsten die voluntas als die entscheidende Größe auch bei der Beurteilung der Gesetzgebungsgewalt zu erblicken. Die voluntas principis, also das, was in der Diskussion das voluntaristische Element genannt worden war, ist - mit und ohne Bodin - die entscheidende Formel, mit der seit dem späten 17. und im 18. Jh. operiert wurde. Der Befehl tritt an die Stelle vertraglicher Konsensbildung. Wo die voluntas principis noch an ständische Mitwirkung gebunden ist, geht der Kampf eben gerade darum, ob man sich von ihr befreien kann und damit gerade auch für die Gesetzgebung eine Form von "Souveränität" erlangt. Ist die Souveränität in dieser Form erlangt, fällt es nicht mehr schwer, sie auf einen entpersonalisierten Bereich neuer - d. h. abstrakter - Staatlichkeit zu beziehen. Darin liegt ein Qualitätssprung. Scheel: Meine Frage knüpft an die verschiedenartige Verfassungsentwicklung in den kontinentaleuropäischen Staaten und der Entwicklung in England an. Herr Stolleis hat die große Bedeutung von Bodin für die Ausbildung der Souveränitäts idee und für die Ausbildung des souveränen Staates in den kontinentaleuropäischen Staaten behandelt. Meine Frage lautet, wie ist eigentlich Bodin in England rezipiert worden? Können Sie darauf eine Antwort geben? Klippel: Ich möchte Herrn Stolleis' Bemerkung aufgreifen, daß die Souveränität nicht für den Absolutismus monopolisierbar sei. Vielleicht läßt sich für sie der Unterschied zwischen der Souveränität nach außen und der Souveränität nach innen fruchtbar machen. Es scheint mir überhaupt keine Frage zu sein, daß damit jeder Staat nach außen hin für souverän erklärt werden kann, gleichgültig ob er eine Republik oder ein absolutistischer Fürstenstaat ist. Andernfalls wäre der Begriff "Souveränität" seine Legitimationskraft nicht wert. Nach innen aber scheint mir die Souveränität eine Art Kampfbegriff für absolutistische Legitimationsbestrebungen zu sein, gerichtet gegen ständische Rechte. Das bedeutet nicht, daß der Souveränitätsbegriff heute so zu sehen ist, aber in der Zeit seit Bodin und bis ins 18. Jh. hinein würde ich den Souveränitätsbegriff so verstehen, daß er tendenziell 7 Der Staat. Beiheft 11

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den absolutistischen Fürstenstaat legitimiert. Alle anderen haben Schwierigkeiten, den Souveränitätsbegriff auf ihre jeweiligen staatlichen Gebilde ungebrochen anzuwenden, insbesondere dann, wenn Stände existieren, z. B. die Reichsstände im Deutschen Reich, aber auch die Stände in den Territorialstaaten: Wer ist dann der Souverän? Besonders deutlich setzt Thomas Hobbes den Souveränitätsbegriff für den absolutistischen Fürstenstaat ein. Meine zweite Bemerkung zielt auf den Begriff der Volkssouveränität. Dieser Begriff ist in Ihrem Referat nicht vorgekommen. In dem Zeitraum, den Sie schwerpunktmäßig behandelt haben, nämlich vom 15. bis zum 18. Jh. hat die Volkssouveränität ja keine sonderlich große Rolle gespielt. Damals ging es um eine Ständesouveränität, die unter der Flagge der Volkssouveränität einhergekommen ist. Allerdings unterliegt auch heute noch ein Teil der Literatur dem Mißverständnis, daß in dieser Zeit die Anfänge der Volkssouveränität zu finden seien. Aber im 18. Jh. ist dann doch etwas Neues festzustellen, das sich ins 19. Jh. und natürlich auch ins 20. Jh. auswirkt, nämlich die Anfänge des heutigen Begriffs der Volkssouveränität.

Quaritsch: Die Frage, wie sich der Souveränitätsbegriff und seine Konsequenzen mit dem Verfassungsstaat vereinbaren lassen, ist eine typisch deutsche Frage; denn sie ist aus deutschen Problemen hervorgegangen. Die amerikanischen Demokraten hatten 1776, die französischen Demokraten 1791 überhaupt keine Probleme mit dem Souveränitätsbegriff, sie haben ihn sofort in ihren Verfassungstexten für sich beansprucht. In England wurde Bodin viel gelesen, und zwar in lateinischen Übersetzungen vor Bodins eigener Übersetzung 1586, in der Durchsetzung des Souveränitätsbegriffs verlief die Entwicklung jedoch zunächst gegenläufig. In den Auseinandersetzungen des Königs mit dem Parlament beriefen sich die Royalisten auf die Befugnisse des monarchischen Souveräns ("Bodin saith ... "), worauf das Unterhaus allergisch reagierte und Coke verkündete: " ... Sovereign Power is no Parliamentary word: In my opinion, it weakens Magna Charta, and all our Statutes; for they are absolute without any saving of Sovereign Power ... " (1628). Seit der Mitte des 17. Jh. hatte sich jedoch der Begriff der "Sovereign Power" durchgesetzt, sie wurde aber nunmehr dem "King in Parliament" übertragen. Dabei ist es geblieben. Die große Resonanz, die der Souveränitätsbegriff in Europa fand, spricht für das politische Bedürfnis nach einer solchen Staatstheorie in der Frühen Neuzeit. In Deutschland wiederholte sich im 19. Jh. die englische Situation der ersten Jahrzehnte des 17. Jh.: Das Wort "Souveränität" wurde mit der Herrschaft des Landesherrn verbunden. Seit 1871 entstand mit der Deutung der bundesstaatlichen Organisation der zweite deutsche Widerstand gegen den Souveränitätsbegriff. Damit die Länder im Reich "Staaten" blieben, wies Georg Jellinek nach, daß die Souveränität kein wesentliches Merkmal der

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Staatsgewalt sei. Die deutsche Staatsrechtslehre und die deutsche Staatstheorie glaubten sich des Souveränitätsproblems auch so entledigen zu können: Sie verbanden die Eigenschaften der Souveränität kurzerhand mit dem Begriff "Staatsgewalt". Die Befugnis zur Gesetzgebung, die Verbindlichkeit von Verwaltungsakt und Richterspruch wurden der "Staatsgewalt" zugeschrieben, ohne daß noch bemerkt worden wäre, daß diese Fähigkeiten und Merkmale einst aus "souverainete" und "Sovereign Power" abgeleitet wurden. Sie sind im Verfassungsstaat verfassungsrechtlich gebändigt und kanalisiert, bleiben aber als solche erhalten.

Stolleis: Nach meinem Eindruck hat diese Bemerkung von Herrn Quaritsch eine Reihe von Fragen beantwortet. Ich würde genau so antworten wenn ich es so treffend könnte wie Herr Quaritsch. Zu Herrn Boldt möchte ich sagen, daß es nicht auf den Begriff "Souveränität" als solchen ankommt, sondern darauf, was er historisch geleistet hat und was davon aktuell erhaltenswert erscheint. Vor allem nenne ich jene Minimaldistanz zwischen Staat und Gesellschaft, nicht nur wegen der Freiheit des Individuums, sondern auch wegen einer relativen Distanzierung des administrativen Apparats von gesellschaftlichen Interessen. Diese Distanzierung ist eine der wesentlichen Errungenschaften, die ich nicht gerne verloren geben möchte. Insofern ist der Souveränitätsbegriff auch die Voraussetzung für die Anerkennung von Grundrechten. Die Trennung von Staat und Gesellschaft, die mit dieser Überwältigung der Gesellschaft durch eine höhere Macht mitgedacht ist, ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß diese Trennung durch Grundrechte befestigt und stabilisiert werden kann. Insofern habe ich mit dem Übergang vom souveränen Staat der Frühen Neuzeit zum (ebenfalls souveränen) Verfassungsstaat gedanklich keine Schwierigkeiten. Das Erringen der staatlichen Souveränität über die Gesellschaft war eine notwendige Voraussetzung für den Verfassungsstaat, "notwendig" nicht im hegeIschen, wohl aber im historischen Sinne.

Wyduckel: Da möchte ich die Zwischenfrage stellen, ob Sie diesen Vorgang schon im 18. Jh. vollzogen sehen. Stolleis: Den Übergang zum modernen Verfassungsstaat kann man nicht genau datieren. Er beginnt mit der amerikanischen Verfassung und wird in Mitteleuropa etwa um 1830 abgeschlossen. Preußen und Österreich folgen später; Nachzügler gibt es bis in das 20 Jh. Bei der Frage nach der aktuellen Bedeutung des Souveränitätsbegriffs sollte man wieder Außen- und Innenperspektive trennen. Die völkerrechtliche Souveränitätsperspektive wird bis auf weiteres unverzichtbar sein. Darauf verzichtet momentan niemand, auch die UNO setzt sie voraus. Die in der staatstheoretischen Debatte zu beobachtende Zersetzung des Souverä7"

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nitätsbegriffs hat im Völkerrecht, wohl aus überwiegend praktischen Gründen, nicht in dieser Weise stattgefunden. Der Bemerkung von Herrn Braune der, die Rolle des Richters sei im Übergang zur Neuzeit nur modifiziert, nicht entscheidend verändert worden, möchte ich widersprechen. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob der Richter bzw. die Laien des Mittelalters das Recht als etwas bestehendes, festes, unwandelbares "finden", "schöpfen", "kundtun", oder ob das Gericht unter staatlichem Befehl steht. In diesem Fall wird der Richter Staatsbeamter und ist dem staatlichen Gesetzesbefehl unterworfen. Das ist ein qualitativ anderer Richter. Herr Ableitinger ist mit seiner Bemerkung stark in das 19. Jh. gegangen, für das ich nicht gesprochen habe. In der Tat hat es eine intensive Debatte um die Souveränität gegeben. Erinnert sei an Max von Seydel, der dem Reich die Souveränität absprach, um sie den Einzelstaaten zu geben. Er hat sich damit nicht durchgesetzt. Ich meine, wie Herr Quaritsch es beschrieben hat, daß man gewissermaßen die Früchte der Souveränität eingesteckt und den auf Zentralismus angelegten Bundesstaat akzeptiert hat, ohne die Souveränitätsfrage noch einmal voll zu reflektieren. Inzwischen war längst ein durchadministrierter, von intermediären Gewalten "gereinigter" Staat vorhanden. Insofern war das, was Bodin als noch zu schaffen vorschwebte, erreicht. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit hat deshalb die Mehrheit in der Staatsrechtslehre das Deutsche Reich für souverän erklärt. Was Herr Kühne gesagt hat, stürzt mich in Unsicherheit. Ich würde das gerne noch einmal mit historischem Material nachvollziehen, ob Sie wirklich Recht haben, wenn Sie sagen, daß stets die Außenperspektive der Souveränität vorangeht, die Innenperspektive dagegen eine abhängige Funktion bleibt. Das haben Sie für das Frankreich des 16. Jh. mit dem Trauma des Hundertjährigen Kriegs sehr listig begründet. Was Sie, Herr Kühne, zu den grenznahen ständischen Einrichtungen sagen, ist eine Hypothese.

Kühne: Ostfriesland hat Friedrich dem Großen angedroht, sich zu Holland zu schlagen, wenn er sich nicht entsprechend verhalte. Stolleis: Ja natürlich, aber das ist keine Frage der Souveränität, sondern faktische Schwäche der Staatsgewalt, die sich in den Randbezirken nicht mehr voll durchsetzen kann. Auf der Ebene der tatsächlichen Machtverhältnisse gilt bekanntlich, daß der Absolutismus sich fast nirgends restlos durchgesetzt hat. Und selbst wenn er es gekonnt hätte, hat er bei Provinzen an der Peripherie aus politischen Gründen gewisse Rücksichten walten lassen. Aber das ist ein faktisches, kein theoretisches Souveränitätsproblem.

Aussprache

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Die Frage von Herrn Scheel ist zum Teil bereits beantwortet, zum anderen Teil - die Souveränitätsdebatte in England - stellt sie ein Thema für sich dar, das hier nicht mehr behandelt werden kann. Abschließend möchte ich Herrn Klippel zustimmen, daß der Souveränitätsbegriff durch die weitgehende Identifizierung mit dem Absolutismus historisch "geschädigt" war und als Synonym für absolutistische Unterdrükkung ständischer Kräfte angesehen wurde. In dieser Weise ist er dann in das 19. Jh. übergegangen und hat dort seine antiparlamentarischen Wirkungen entfaltet. Insofern wirkt die Kampfsituation des 17. Jh. bis weit in das 19. Jh. hinein. Das erklärt auch gewisse modeme Vorbehalte. Wer heute die Souveränität und das Gewaltmonopol des Staates betont, wird tendenziell als "rechts" angesehen. Die Debatte bei den "Grünen" um den Abgeordneten Schily hat es gezeigt. Unter Verzicht auf eine "Summe" möchte ich mich für Kritik und Anregungen bei allen Diskussionsteilnehmern bedanken.

Die Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts Von Gerhard Robbers, Trier

I.

Die Darstellung der Staatsrechtslehre des 19. Jh. ist hier begrenzt und verengt auf die deutsche Staatsrechtslehre dieser Zeit. Das ist nicht nur formal, sondern auch in der Sache gerechtfertigt, weil es im Laufe des Jahrhunderts das Staatsrecht des Nationalstaats jedenfalls geworden ist. Die vielfältigen Verflechtungen mit außerdeutschen Entwicklungen, besonders mit Frankreich, Belgien und England, die das ganze Jahrhundert über in wechselnder Intensität anhalten, sind echte Rezeptionen. Sie setzen die Geschlossenheit des Nationalstaatlichen voraus und stehen in diesem Kontext. Wie das Staatsrecht des 19. Jh. darf auch dessen wissenschaftliche Durchdringung als weitgehend erforscht gelten. Neben zahlreichen Spezialstudien besonders zum Grundrechtsdenken, zur Methodenfrage, zum monarchischen Prinzip oder zum Verfassungsverständnis ragt seit neuestem die subtil zusammenfassende Studie zur Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland von Michael Stolleis hervor 1 . Schon die Staatsrechtslehre des 19. Jh. selbst hat sich zu ihrer Zeit durch einen ihrer bedeutendsten Vertreter, Robert von Mohl, wissenschaftsgeschichtlich Rechenschaft gegeben - Zeugnis des Selbstbewußtseins ihrer eigenen historischen Rolle und Bedeutung2 • Sie ist eine Staatsrechtslehre des politischen Prozesses in doppeltem, historisch gestaffelten Sinn, aktiv gestaltend, bewegend und in sich zerrissen zum einen und in der ersten Jahrhunderthälfte, repräsentativ vollziehend, vielleicht feinschleifend, in sich ausgewogen zum anderen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die großen Fragestellungen der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jh. zeigen eine größere Kontinuität und Homogenität, als die Vielfalt ihrer Antworten erwarten läßt. Die spezifische Verbindung der einzelnen Fragestel1 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd., 1800-1914, München 1992; dort auch zu den Quellen und dem übrigen Schrifttum. 2 Von Mahl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bände, Erlangen 1855-58.

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lungen macht sie als Staatsrechtslehre gerade des 19. Jh. kenntlich: die Frage nach der Souveränität einerseits und die nach der staatsrechtlichen Methode andererseits. Ihnen angeschlossen sind die sich untereinander überlappenden Probleme der Organkonstitution zum ersten mit seinen Fragen nach Rolle und Gestaltung der Volksvertretungen, des Wahlsystems, der Gerichtsbarkeit, des Verfassungsbegriffs, der Verhältnisbestimmung von Monarchen und Staat. Zum zweiten das Problem der Organkompetenz, hier die Fragen nach Grundrechten, Gesetzesvorbehalt, Gegenzeichnung, Normenkontrolle. Und endlich zum dritten die Organverantwortlichkeit, zugespitzt vor allem in der Idee der Ministerverantwortlichkeit. Begriff und Sache der Organschaft sind freilich erst Endpunkte einer Entwicklung des Staats denkens, das nur im Verlauf des Jahrhunderts mit den politischen Umständen von frühen Wünschen zu späterer vollendeter Bearbeitung gelangte. Aller Diskussion zugrunde lag endlich die unausgesprochene Frage nach der Begründung von Verbindlichkeit. Hier erweisen sich die Spannungen und Konflikte des Staatsdenkens im 19. Jh. als wenig gebrochene Konsequenz aus den Religionskriegen des 16. und 17. Jh.; das Ringen um Souveränität und um die Methode richtiger Erkenntnis ist ihr Ausdruck. Unmittelbarer Gegenstand der Staatsrechtslehre war allerdings die konkret positive Verfassungslage. Ihr entsprechend reicht die Staatsrechtslehre des 19. Jh. von der Zeit des Rheinbundes seit 1806 bis zum Ende des Bismarckreiches 1918. Mit der Konsolidierung des staatsrechtlichen Positivismus besonders bei Paul Laband und seinem Staatsrecht des Deutschen Reiches von 1876, das 1882 abgeschlossen vorliegt, erreicht diese Staatsrechtslehre allerdings lange vor dem Ende des Jahrhunderts einen Stand der Sättigung, vielleicht den ihrer Vollendung. Die Revolution von 1848 und ihr Scheitern bedeutet auch für die Staatsrechtslehre eine Zäsur. Kaum überdeckt durch das Fortdauern des Deutschen Bundes und der im wesentlichen fortbestehenden positiven Rechtsquellen scheidet dieses Ereignis die Staatsrechtslehre des 19. Jh. herkömmlich in diejenige des Vormärz und die der zweiten Hälfte des 19. Jh .. Es wird freilich weiter zu fragen sein, wie tief wirklich diese Zäsur eingreift. Die Staatsrechtslehre des 19. Jh. erscheint zwar durch ihren Gegenstand und durch ihre spezifischen Fragestellungen wie von der nachfolgenden Epoche so auch vom Reichsstaatsrecht der vorhergehenden Zeit unterschieden. Gleichwohl bestehen Verbindungen über die Französische Revolution und den Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hinaus in die weitere Vergangenheit. Diese Verbindungen lagen nicht so sehr in den staatsrechtlichen Vorstellungen der Restauration. Restaurative Ideen gingen vielmehr in vielem - in Methoden, in Grundsätzen und in Zielen - durchaus neue Wege.

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Den Zusammenhang verdankt hier das 19. Jh. viel eher dem unabhängigen liberalen Staatsrechtslehrer Johann Ludwig Klüber (1762-1837). Klüber erscheint als die beherrschende Figur des öffentlichen Rechts im Vormärz. Sein "Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten" gibt Methode und positiven Rechtsstoff vor. Während andere Darstellungen des öffentlichen Rechts des Rheinbundes mit dessen Verschwinden alsbald ihre Bedeutung verloren, blieben Methode und Anspruch seines "Staatsrecht des Rheinbundes" von 1808 in diesem Standardwerk gegenwärtig. Mit der Herausgabe der "Akten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815" (8 Bde., Erlangen 1815, Nachtrag 1835) und seiner "Ausgabe der Schlußakte und der Bundesakte,,3 bot er sonst unzugängliche Rechtsquellen und damit wichtigen Stoff der Staatsrechtslehre im Vormärz. Sein Werk ist gekennzeichnet durch umfassende Stoffbeherrschung, klare Systematik, intensive Aufbereitung und Mitteilung der Literatur, ausgehend von historischer Herleitung fortschreitend zu klassischer dogmatischer Durchdringung. Klüber legt seine durchaus liberalen Auffassungen offen, ohne philosophische Grundüberzeugung zum Angelpunkt seiner juristisch-dogmatischen Arbeit zu machen. Klüber erscheint so als der Reichspublizist, als der er gemeinhin charakterisiert wird 4 .

ß.

1. Klübers bewahrende, systematisierende, Einheit erhaltende und stiftende Art weist auf eine rechtlich wie politisch ganz wesentliche Schicht staatsrechtlicher Arbeit im Vormärz: auf die Entwicklung der Rechtsquellen. Genauer gesehen ist damit schon auf die Frage spezifischer Verbindlichkeit gezielt.

Der freilich eher wenig geliebte, bisweilen rechtlich auch schwer durchschaubare Deutsche Bund bot einigen positiven Rechtsstoff. Neben Klübers bereits erwähntem öffentlichen Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten steht in scharf antikonstitutionellem Ton Theodor von Schmalz, Das Deutsche Staatsrecht von 1825, liberal wiederum Sylvester Jordan, Lehrbuch des allgemeinen und deutschen Staatsrechts von 1831, Leonhard von Dresch, Oeffentliches Recht des Deutschen Bundes und der deutschen Bundesstaaten von 1820, konservativ ist Romeo Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 1837. Repräsentativ sind dann Heinrich Zöpfls Grundsätze des allgemeinen und deutschen Staatsrechts von 1841 und Heinrich Albert Zachariäs Deutsches Staats- und Bundes3 4

Klüber, Ausgabe der Schlußakte und der Bundesakte, Erlangen 1815. Vgl. Stolleis (FN 1), S. 83, 72.

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recht, 1841, um die wichtigsten vormärzlichen Werke zu nennen, die zum Teil bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte fortgeführt worden sind. Nachdem sich das konstitutionelle System in ganz Deutschland durchgesetzt hatte, erschienen dann auf dieser Grundlage neue Werke. Genannt seien das System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands mit besonderer Rücksicht auf den Constitutionalismus von Joseph von Held 1856 und 1857, Otto Mayers Einleitung in das deutsche Staatsrecht 1861 und Hermann Schulzes Einleitung in das deutsche Staatsrecht von 1865. Paul Labands Staatsrecht des deutschen Reiches ab 1876 überstrahlt dann die Staatsrechtslehre des geeinten Deutschland. Daneben erscheint Georg Meyers Lehrbuch des deutschen Staatsrechts von 1878, später fortgeführt von Gerhard Anschütz, womit es schon in eine neue Zeit weist, und Hermann Schulzes Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts seit 1880, sowie Philipp Zorns Lehrbuch des Deutschen Reichsstaatsrechts, 1880. Daneben stand vielfältig, in manchem einzelnen Staat auch typisch ausgeformt das Recht der Bundesstaaten. Die modernen süddeutschen Staaten bildeten hier zunächst vielfältiges Material, Robert von Mohls Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg von 1829 hat schulbildend gewirkt. Bayern hat vielfältige Behandlung erfahren, später im Jahrhundert trat Preußen hinzu. Unitarisierend bemühte sich die Staatsrechtslehre darüber hinaus, ein gemeindeutsches Staatsrecht rechtsvergleichend aus den gemeinsamen Verfassungsverhältnissen der Mitgliedstaaten zu entwickeln. Es bildete Maßstab und Lückenfüllung und verlangte gleichzeitig nach der Beschreibung seines Geltungsgrundes. Michael Stolleis hat darauf verwiesen, daß diejenigen Staatsrechtslehrer, die noch eher in den überkommenen Bahnen des Vernunftsrechts argumentierten, den Geltungsgrund dieses gemeindeutschen öffentlichen Rechts in der Vernunft zu begründen suchten. Diejenigen, die eher der neueren historischen Rechtsschule zuneigten, verwiesen demgegenüber zum selben Zweck auf den Volksgeist, auf das historisch Gewachsene. Beides waren aber nicht etwa Hilfskonstruktionen5 , um die Geltung der hier gefundenen Sätze in gewisser Verlegenheit mangels eines positiv gesetzten geltenden Rechts zu begründen. Es waren dies vielmehr in sich durchaus konsistente Begründungsstrategien mit mindestens derselben Plausibilität wie sie die Begründung einer Verpflichtungskraft aus der bloßen Setzung durch die Obrigkeit besaß. 2. Das die gesamte Staatsrechtslehre des 19. Jh. beherrschende Muster war das monarchische Prinzip. Als umstrittener politisch-staatsrechtlicher Legitimations- und Kampfbegriff bleibt seine bündige Umschreibung freilich mit Unsicherheiten belastet. Art. 57 der Wiener Schlußakte vom 15. 5 In

diese Richtung aber Stolleis (FN 1), S. 97.

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Mai 1820 kann als Ausgangspunkt gelten: Es wird danach "die gesammte Staats-Gewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben, und der Souverän kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden". Für die faktisch-politisch herrschende Seite der Staatsrechtslehre, wie sie Friedrich von Gentz verkörperte, war damit die Souveränitätsfrage zugunsten des Monarchen gelöst. Der Monarch ging mit dem Erlaß einer Verfassung lediglich und allenfalls eine Selbstbindung ein, die die Unteilbarkeit der monarchischen Souveränität im Grunde unangetastet ließ 6 • Von der Bestimmung des monarchischen Prinzips hingen die meisten anderen zentralen Grundentscheidungen staatsrechtlicher Terminologie unmittelbar ab, insbesondere der Verfassungsbegriff. Die in der Restauration ihre Macht gegen die Französische Revolution, gegen Napoleon und vor allem gegen den Liberalismus des Vormärz bewahrende monarchische Herrschaft konnte Verfassung im wesentlichen als Oktroi begreifen, im monarchischen Prinzip also den Primat der Monarchie gesichert sehen. In geradezu altertümlicher Weise konnte dann auch der Staat - wie bei Maurenbrecher - noch als Gegenstand privatrechtlich konstruierten persönlichen Eigentums des Monarchen gedeutet werden. Demgegenüber war die zahlenmäßig wohl überwiegende Seite der Staatsrechtslehre in der Lage, vom monarchischen Prinzip ausgehend, andere Wege einzuschlagen und dabei den Grund zu legen für ein wesentlich verändertes Verständnis des monarchischen Prinzips in der zweiten Hälfte des 19. Jh.

Von manchem wurde zunächst noch angeknüpft an vernunftrechtliche Begründungsmuster. Es war dies die vernunftrechtlich aufklärerische Richtung der vormärzlichen liberalen Staatsrechtslehre, zu denen besonders von Aretin, von Rotteck, W. J. Behr, Pölitz, Murhard, Schmid und Sylvester Jordan zu zählen sind. Sie gingen weiterhin und unbeirrt von der politisch-restaurativen Zielrichtung des monarchischen Prinzips von der Volkssouveränität aus. Monarchische Herrschaft und Verfassung überhaupt blieben verstanden als vom Volk im Gesellschaftsvertrag begründet, deshalb ihm gegenüber sekundär. Dieser Richtung zuzuordnen ist auch die im Vormärz noch lebendige Auffassung vom Vorrang der Verfassung. Für Aretin ist die Verfassung das Gesetz aller Gesetze, das keine widersprechende Rechtsnorm duldet 7 , für Cucumus ist die Verfassung objektiver Maßstab der Gerechtigkeit der GesetzeS, Mohl beschränkt die gesetzliche Gehorsamspflicht

6 7

28.

Vgl. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485-516. Von Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, 3 Bde., Altenburg 1824-

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der Bürger auf verfassungsgemäße Gesetze 9 und kann sich dafür auf § 91 der württembergischen Verfassung berufen. Die von Rainer Wahl als dritte Gruppe der vormärzlichen Verfassungsdebatte herausgestellte Richtung verwies dagegen auf die für die politischen Kräfteverhältnisse des 19. Jh. tragfähigere, überzeugungskräftigere Möglichkeit: Das dualistische System mit dem Monarchen, dem Adel und dem Klerus auf der einen, dem Bürgertum als drittem Stand und als Gesellschaft auf der anderen Seite ließ ein Erklärungsmodell einleuchtend erscheinen, das Verfassung als Vertrag zwischen diesen beiden sozialen Größen verstand, zwischen Monarch auf der einen, Volksvertretung auf der anderen Seite. Damit war ein Dualismus auch auf staatsrechtstheoretischer Ebene begründet, der die Legitimation beider Seiten weiterer Entwicklung öffnete. In dieser Auslegungslist lag die Entwicklungsmöglichkeit zur später herrschenden Idee der Staatssouveränität begründet, zur Konstruktion des Staates als juristische Person. Sie war von Albrecht bereits im Vormärz in seiner Rezension von Maurenbrechers Staatsrecht ins Spiel gebracht worden. In der Konsequenz lag die Vorstellung der Monarchie als Amt und als Organ des Staates und entsprechend der Organstellung der Volksvertretung und der Abgeordneten. Dies wiederum bedeutete die endgültige Verabschiedung der zunächst durchaus noch festgehaltenen landständischen Betrachtung der Volksvertretungen. Es entsprach diese Zentrierung des öffentlichen Rechts im Staat zum einen auch der Idee des sich zunehmend selbst so bezeichnenden Staatsrechts, zum andern der zu einer gewissen Vorherrschaft gelangenden organologischen Staatslehre. Sie darf nicht verwechselt werden mit der Staatslehre der Restauration, etwa bei Haller, Adam Müller, Gentz, Ancillon, in der historisierende (Haller), rationalistische (Gentz) und eklektizistische (Ancillon) Grundlegungen gemischt erscheinen, organische Vorstellungen (wie bei earl Ernst Jarcke und Heinrich Leo) allerdings keineswegs ausgeschlossen sind. Mit der organologischen Staatslehre erhalten staatsrechtliche Konstruktionen ihre theoretische Fundamentierung, die den politischen Dualismus des 19. Jh. einheits stiftend zu überwölben suchen im Staatsbegriff selbst, im gemeindeutschen Staatsrecht, im Verfassungs begriff. 3. Gesonderter Betrachtung bedarf die Entwicklung des Grundrechtsdenkens im Vormärz. Hier verlaufen Entwicklungen, die in der Grundrechtsdebatte und im Grundrechtskatalog der Paulskirche vergeblich aufzuhalten und umzukehren versucht worden sind, die andererseits das Zurücktreten 8 Cucumus, Lehrbuch des Staatsrechts der konstitutionellen Monarchie Baierns, Würzburg 1825, S. 368. 9 Von Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1, 2. Aufl. 1840, S. 324,393.

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der Grundrechtsfrage in der zweiten Jahrhunderthälfte vorbereitet haben. Hier liegen zahlreiche Spezialstudien vor lO . Ich möchte paradigmatisch auf das Grundrecht auf Sicherheit eingehen. Das Geschick dieses heute in Deutschland weitgehend vergessenen Grundrechts zeigt in besonders scharfkantiger Weise den Verlauf der Entwicklung. Gehört das Menschenrecht auf Sicherheit noch zu den zentralen Forderungen der vorrevolutionären Zeit und der revolutionären Menschenrechtserklärungen, Verfassungen und Verfassungsentwürfen, trat es schon zu Beginn des Vormärz in den Hintergrund. Ursprünglich hatte es in herausragender Weise zur Staatsbegründung aus dem subjektiven Recht des Einzelnen gedient. Sicherheit des Individuums in allen seinen Sphären zu gewährleisten war das Worum-Willen des Staates, gegründet im Recht des Einzelnen und transponiert durch den Gesellschaftsvertrag. Terminologische Anklänge gab es noch in den Verfassungen von Bayern (1808, 1818), Baden (§ 13, 1818), Württemberg (1819), auch in Sachsen-AItenburg (1831), Braunschweig (1832)11, selbst einige preußische, durch Wilhelm von Humboldt redigierte Entwürfe für die deutsche Bundesakte von 1815 enthalten Verbürgungen von Sicherheit. Aber die Verengung wird schon hier wie bei den anderen Grundrechten deutlich: Grundrechte bleiben gebunden im Kreis des gegebenen Staates. Sie sind Untertanenrechte, getreu der restaurativen Auslegung des monarchischen Prinzips. Der Verlust der staatsbegründenden Funktion individueller Grundrechte legt den Grund für die fehlerhaft sogenannte klassische Grundrechtsfunktion, der Verengung auf Abwehrsicherung, im Kern auf Gesetzmäßigkeit. Wenn es in der Verfassung von Nassau 1814 § 2 heißt " ... daß wir die Sicherheit des Eigenthums und der persönlichen Freiheit unter die mitwirkende Gewährleistung unsrer Landstände stellen", so wird die Verschiebung deutlich, die den Grundrechten hin zur Kompetenzbestimmung der landständisch-parlamentarischen Mitwirkungsbefugnisse widerfahren ist. Die Interpretation des Grundrechts auf Sicherheit in der Staatsrechtslehre greift zwar noch vereinzelt auf frühere Zusammenhänge zurück. So erklärt Struve in seinem Kommentar zum Entwurf eines Staatsgrundgesetzes für das Königreich Hannover von 1832 noch: "Nicht überhaupt gleicher, sondern insbesondere gleichmäßig auf das Wohl der Unterthanen berechneter Schutz ist es, auf welchen die Hannoveraner, wie die Glieder aller Staaten, Anspruch haben". Besonders in der Kommentarliteratur zur bayerischen Verfassung, darüber hinaus in der eher liberal-vernunftrechtlichen 10 Vgl. statt vieler Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jh., in: Gunther Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S.258ff. 11 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, Baden-Baden 1987 S. 99, FN 117.

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Richtung des Liberalismus bleiben Anklänge umfassender Grundrechtsbegründung der Staatsaufgaben lebendig, bei Jordan, Murhard, Krug, Pölitz und Schweitzer. Rotteck schreibt in seinem Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften von 1834/35: Aus dem Gesellschaftsvertrag haben die Bürger unmittelbar ein unantastbares Recht "auf wirklich thätige Erstrebung des Staatszwecks oder auf möglichste Realisierung desselben für jeden einzelnen und für die Gesamtheit - mithin auf Rechtszustand, Schutz, Sicherheit u.s. w." 12. Aber all dies war, wenngleich oft und mit Nachdruck vertreten, für den Gang der Entwicklung nicht repräsentativ. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, Sicherheit sei allgemeiner, objektiver, von subjektiven Berechtigungen prinzipiell unabhängiger Staatszweck l3 . Es trifft und zielt gegen die umfassende Idee von Menschenrechten im Sinne individueller Staatsbegründung, wenn Friedrich von Gentz wirkkräftig schon 1793 gegen die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung schreibt: "Sicherheit kann nie ein Recht genannt werden. Sicherheit ist ein Zweck und ein großer Zweck des Staatsvereins; sie ist die Verheißung des reellen Genusses, welche die Gesellschaft zu den ohne sie leeren Titel des Rechts, und zwar eines jeden Rechts, hinzufügt. Sie ist die Bürgschaft für ein Recht, aber sie ist nicht selbst Recht I4 ." Insgesamt zeigt sich Sicherheit als Recht nicht mehr als umfassende gesetzliche Konstruktion des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, sondern als Recht auf Vollzug bestehender Gesetze. Die Grundrechte markieren die Grenzlinie zwischen Monarch und Parlament, sie sind Frontlinie im Kampf um das monarchische Prinzip. Das verhinderte bei den Liberalen im Vormärz nicht die verbreitete Überzeugung der Grundrechtsbindung auch der Volksvertretung. Dieter Grimm hat dies bündig formuliert: Grundrechte und Volksvertretung stammen aus derselben antiabsolutistischen Wurzel. Grundrechte bilden die materielle, Volksvertretungen die formelle Seite der Freiheitssicherung gegen den Staat1 5 , vielleicht eher gegen den monarchischen Herrschaftsanspruch im Kampf um den Staat l6 .

12 Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, 2. Aufl. 1840, S. 147. 13 Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Göttingen 1855, S. 41 ff. 14 Von Gentz, Über die Deklaration der Rechte, in: Wilfried Weick (Hrsg.), Ausgewählte Schriften von Friedrich Gentz, Bd. 2, Politische Abhandlungen, Stuttgart 1837, S. 90. 15 Grimm (FN 10), S. 243. 16 Vgl. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, Heidelberg 1841, S. 118.

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Es bestätigt sich aber im Laufe des Jahrhunderts für das Recht auf Sicherheit Ulrich Scheuners Beobachtung für die Grundrechtsentwicklung in Deutschland insgesamt, daß hier die für den Westen entscheidende Verbindung zwischen persönlicher und politischer Freiheit zurückgestellt ist 17 • Nicht mehr der Gesetzgeber ist letztlich der Verpflichtete, sondern das Recht richtet sich an Justiz und Verwaltung, sichert hier die Durchsetzung im einzelnen der in anderen Sphären begründeten Zuordnung von Monarch und bürgerlicher Gesellschaft. Bereits Wilhelm von Humboldts Verfassungsentwurf für Preußen von 1819 kennt als Recht "die individuelle, persönliche Sicherheit, nur nach dem Gesetz behandelt zu werden" 18. Schon hier erscheint die für die Gesamtgrundrechtsentwicklung des 19. Jh. in Deutschland kennzeichnende, von Wahl und Grimm 19 beschriebene Reduzierung zum Recht auf gesetzmäßige Verwaltung, wie Anschütz sie in prägnanter Weise am Ende des Jahrhunderts formuliert hat 20 . Schon früh finden sich die vernunftrechtlichen Herleitungen der Menschenrechte verdrängt durch die Vorstellung staatlich, zunächst eher noch monarchisch gewährter Untertanenrechte. Diese neue Auffassung konnte sich mit besseren Gründen auf die positiv gegebenen Verfassungstexte stützen. Die ältere Lehre findet ihre zahlenmäßig durchaus starke Anhängerschaft bezeichnenderweise in der liberal-vernunftrechtlichen Richtung vormärzlicher Staatsrechtslehre, bei Cucumus 21 oder von Aretin22 . Erste Absetzungsbewegungen finden sich aber auch schon bei den Liberalen. Schmitthenner beschränkt die naturrechtliche Geltung der Menschenrechte auf eine sittliche Verpflichtungskraft, für rechtliche Relevanz bedürfe es staatlich erlassener Verfassungen 23 , und Robert von Mohl verzichtete gar ganz auf überpositive Herleitungen. 4. Die Verschiebungen und Verengungen im Grundrechtsdenken, paradigmatisch im Verlust des Menschenrechts auf Sicherheit gefaßt, haben ihre Parallele in der Verschiebung und Verengung des Staatszweckes auf Sicherheit. Diese Entwicklung hat zwar angesichts der faktischen Verhältnisse 17 Scheuner, Die Verwirklichung der bürgerlichen Gleichheit, in: Gunther Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution 1848. Göttingen 1981, S. 388f.; vgl. auch Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien 1979, S. 297 f. 18 Von Humboldt, Denkschrift über Preußens ständische Verfassung, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 12, Berlin 1909, S. 128f. 19 Vgl. Robbers (FN 11), S. 108. 20 Anschütz, Die Verfassungsurkunde des Preußischen Staates, 1912, S. 98. 21 Cucumus (FN 8), S. 8. 22 Von Aretin, Staatsrecht (FN 7), Bd. 1, S. 163 ff. 23 Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, Gießen 1845, S. 558.

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nur eine allenfalls eingeschränkte reale Grundlage, hat aber kennzeichnende Bedeutung für die Entwicklung des Staatsrechts. Mit der ideologisierten Reduzierung des Staatszweckes auf die Gewährleistung von Sicherheit parallel ging die Ausfaltung des Verwaltungsrechts, die sich im Vormärz durchsetzte 24 . Seine Wurzeln liegen in den Darstellungen der guten Polizei während des 18. Jh. als umfassende Wohlfahrtssicherung zum Zwecke der Glückseligkeit der Untertanen. Aus ihnen differenzierte sich das Polizeirecht als rechtsdogmatisches Fach seit Günter Heinrich von Berg mit seinem Handbuch des teutschen Polizeirechts (7 Bde., Hannover 1799-1809). Er trennt Wohlfahrtspolizei und Sicherheitspolizei. Andere Verwaltungstätigkeiten, zwar gleichberechtigt dargestellt, fielen aus dem Bereich rechtlicher Erfassung heraus. Sie blieben entsprechend aus der Zuständigkeit parlamentarischer Mitbestimmung und des Gesetzesvorbehalts ausgespart, Prärogative monarchischer Verwaltung, aus dem Horizont des Rechts verbannt. Die Nachwirkungen sind bis heute im Staatsund Verwaltungsrecht deutlich. Die Ausdifferenzierung des Verwaltungsrechts als eigenständiges Fach vollzog sich danach auf zwei im wesentlichen parallel verlaufenden Ebenen. Einerseits trennte sich das Administrativrecht vom Verfassungsrecht, begünstigt von der noch bestehenden Vorstellung vom Vorrang der Verfassung. Besonders Robert von Mohl hat auch hier bahnbrechend gewirkt. Schon in seinem Staatsrecht des Königreichs Württemberg und dann vollends mit seinem anderen Hauptwerk "Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates" von 1832/1833 zeigt er die Aufgabe der Verwaltung als Anwendung der durch die Verfassung festgestellten obersten Grundsätze auf die einzelnen Fälle25 . Zum anderen setzte die damit verbundene Verrechtlichung des Verwaltungshandelns voraus, daß die im Kameralismus gepflegte Einheit der Verwaltungswissenschaft aufgegeben wurde. Strafverfolgung, Wohlfahrtsförderung, Finanzfragen und Außenpolitik, letztlich auch die Kirchenpolizei werden aus dem Bereich des Polizeirechts hinausgewiesen. Mit besonderer Stringenz trennt Robert von Mohl die Tätigkeit der allgemeinen Verwaltungsbehörden von der polizeilichen Gefahrenabwehr und weist diese der Rechtspflege ZU 26 . Hier hat das Scheitern der Revolution von 1848 nichts unterbrochen, wohl aber Richtungen determiniert, Entwicklungen verstärkt. Das Abschneiden der Verfassungsdiskussion hat geradezu begünstigt, daß nach 1850 die intensive Suche nach Strukturen eines allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts selbst begann. Die Idee des Rechtsstaates hat hier ein eigenständiges Feld gewonnen, auf 24 25

26

Vgl. Mayer, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1980. Von Mahl (FN 9), Bd. 2, S. 142. Von Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechts-Polizei, Tübingen 1834.

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dem sie sich mit der Methode des staatsrechtlichen Positivismus verbinden konnte. earl Friedrich von Gerber hat mit seinen Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts von 1865 gerade jene Verbindung geleistet: "Wenn der Begriff des Rechtsstaats irgend eine reelle Bedeutung hat, so ist es gerade die, daß mehr und mehr auch auf dem Gebiete der Verwaltung feste rechtliche Bestimmungen gegeben werden, welche der Willkür den Boden entziehen27 ." Nach mannigfachen weiteren Vorarbeiten und unter dem Einfluß der französischen Doktrin hat Otto Mayer diesen Bau vollendet und damit bis heute wirksame Prinzipien des Verwaltungsrechts geschaffen: die Unterscheidung von allgemeinem und besonderem Gewaltverhältnis, den Begriff des Verwaltungs aktes , Gemeingebrauch und Sondernutzung, die Kategorien von Steuer, Gebühr und Beitrag. Es ist kennzeichnend für die bis heute fortwirkende Gebundenheit dieser Begriffs- und Kategorienwelt im Spätkonstitutionalismus, daß Otto Mayer den öffentlich-rechtlichen Vertrag entschieden ablehnte, der ein Gleichordnungsverhältnis von Behörde und Individuum indiziert.

m. 1. Das Scheitern der Revolution von 1848 brachte für die Staatsrechtslehre eine Verschiebung im Grundsätzlichen. Fragen und Begriffe des Vormärz erhielten eine wesentlich andere Bedeutung, die staatsrechtliche Diskussion fand in veränderter, im sozialen Milieu und im politischen Impetus verfestigter Atmosphäre statt. Die zentralen Gegenstände wissenschaftlicher Erörterung blieben freilich zunächst terminologisch die gleichen: monarchisches Prinzip, Grundrechte, Gesetz, Staatsbegriff. Der veränderte politische Kontext ließ sie aber in neuem Licht erscheinen.

Zunächst das monarchische Prinzip: Vom Kampfbegriff der Schlacht um die Souveränität hatte es sich zur Beschreibung und dogmatischen Überhöhung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft gewandelt. Beide dualistisch einander zugeordneten sozialen Gebilde standen sich in sich je gefestigt gegenüber. Dies jedoch nicht mehr in kämpferischer Auseinandersetzung. Vielmehr erschien der herrschenden Staatsrechtslehre das Zueinander als Subordinationsverhältnis und als Statusfrage. Der Staat als Sphäre des Monarchischen, als Souverän, überließ der Gesellschaft das Private, das Individualinteresse, den ökonomischen Bereich. 2. Das zeigt besonders die Diskussion der Grundrechte. Im Vormärz hatten auch sie als Kampfbegriffe um die politische Macht im Gemeinwesen 27

Von

S.233.

Gerber, Grund2üge eines Systems des deutschen Staatsrechts, Leipzig 1865,

8 Der Staat, Beiheft 11

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gedient. Im System der zweiten Hälfte des 19. Jh. erscheinen sie als Aussparungen privatisierender Individualität aus dem im Grundsätzlichen unbestrittenen Zugriff staatlich-monarchischer Souveränität. Es wurde selbst ihr Charakter als Recht fragwfudig 28 , passender erscheint hier der französische Begriff der Liberte. Zu Beginn des 19. Jh. war noch allenthalben der Nachklang der großen Diskussionen zu vernehmen, die die Menschenrechte als individuell gegründete Legitimation von Staatlichkeit überhaupt ansahen. Ausgangs des Jahrhunderts dachte die deutsche Staatsrechtslehre Grundrechte als staatlich gewährt, gesetzlich umschrieben. Die Vielfalt der Garantien ging auf in die eine Freiheit von ungesetzlichem Zwang, in die Formel von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Insgesamt spiegelt sich die Verschiebung von subjektiven Rechten zu objektivem Recht 29 . Das politisch-emanzipatorische Moment der Grundrechte wird als im geschichtlichen Verlauf der Ereignisse erledigt betrachtet30 • Ihr verbliebener Gehalt ließ sich gleich wirksam, dazu unmittelbarer und der politischen Lage adäquater durch die einfache Gesetzgebung verwirklichen. Im Vormärz waren die Grundrechte wesentlich als verpflichtendes Gesetzgebungsprogramm erschienen. War dieses Programm erledigt, verblaßte der Gehalt der Grundrechte selbst. Wo dagegen der Charakter der Grundrechte als Rechte weiter betont wurde, geschah gerade dies als Ferment im allmählichen konstruktiven Umgestalten der gegebenen Rechtsverhältnisse nach genossenschaftlichen Vorstellungen. Die Auseinandersetzung Gierkes mit Labands Staatsrecht ist hierfür bezeichnend. Überhaupt haben sich die liberalen Vertreter der Staatsrechtslehre in der zweiten Jahrhunderthälfte eher im genossenschaftlichen Denken zentriert. Mit der Idee der Staatssouveränität hatte dies zudem ein soziales Substrat, das dem Zeitgeist entsprach, ein Begriff, den Thomas Würtenberger wieder ans Licht gehoben hat 31 . Für die herrschende Lehre, die die Grundrechtsgehalte im positiven einfachen Gesetzesrecht aufgehen, ihren Schutzgehalt daher nur nach Maßgabe der Gesetzgebung gelten ließ, war kennzeichnend, daß auch der Vorrang der Verfassung verloren ging. Im Vormärz eher als Kampfgegenstand noch durchaus präsent, erscheint er im nachrevolutionären System entbehrlich. Jedenfalls war er dem nunmehr allgemein akzeptierten Dualismus des monarchischen Prinzips nicht mehr angemessen. Die Libertät der Bürger wurde als durch die Gesetzgebungsbefugnisse der Parlamente hinreichend gesichert erkannt.

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Bei Laband, Staatsrecht, 2. Aufl. Bd. 1, 1888, S. 141.; Stolleis (FN 1), S. 373. Vgl. Grimm (FN 10), S. 234 ff. Bornhak, Das Petitionsrecht, AöR 16 (1901), S. 403 ff.; Stolleis (FN 1), S. 373. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991.

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3. Die ruhigen Verhältnisse nach der Erschöpfung durch die Revolution ließen insgesamt die politische Dimension jeder staatsrechtlichen Erörterung unter dem Mantel der dogmatischen Konstruktion getarnt erscheinen. Die Abgrenzung zwischen Gesetz und Verordnung bestimmte nun über die Zuordnung von parlamentarischer Gewalt als Gesetz und monarchischer exekutivischer Kompetenz als Verordnungsgeber. Als Gesetz galt das Allgemeine, Dauerhafte, mit besonderer, grundrechtsbezogener Akzentuierung dasjenige, das in Freiheit oder Eigentum des Bürgers einzugreifen geeignet war. Die Verordnung erfaßte das einzelne, wechselnde, nicht Freiheit oder Eigentum erfassende Handeln. Weite Bereiche endlich, das "Innerstaatliche", blieben ganz dem Rechtsbegriff entzogen. Letzteres spiegelt den anhaltenden Einfluß organischer Staatslehren mit der Vorstellung der Impermeabilität des Staatskörpers. In jener Zuordnung des Allgemeinen und Besonderen ist freilich schon angelegt die allmähliche Entwicklung zur späteren Vor- und Überordnung des parlamentarischen Gesetzgebers gegenüber dem Verordnungsgeber. 4. Das konstruktivistische, sich primär auf den Vollzug beschränkende Selbstverständnis der Staatsrechtslehre der zweiten Hälfte des 19. Jh. drückt sich in der intensiven Debatte um die Rechtsnatur des Bismarckreiches als Staatenbund oder Bundesstaat aus, wobei letztere deutlich überwog. Es zeigt sich aber vor allem in dem Siegeszug des staatsrechtlichen Positivismus mit seiner monopolisierenden Inanspruchnahme des Begriffs der juristischen Methode. Vielleicht noch kennzeichnender aber ist, daß diese Methode vor allem bei ihrem Hauptprotagonisten Laband mit so minimalisierender Selbstverständlichkeit nicht breit begründet und ausgeführt, sondern einfach angewendet wurde. Die weitgehende Homogenität und Stabilität der Verhältnisse ließ philosophische, historische, soziologische oder gar theologische Begründungsstränge im Recht entbehrlich, ja störend erscheinen. Paul Laband hat diese den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen so paßgenau entsprechende, keineswegs unpolitische Methode knapp beschrieben: "Die Dogmatik ist nicht die einzige Seite der Rechtswissenschaft, aber sie ist doch eine derselben. Die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts liegt aber in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen. Dies ist, abgesehen von der Erforschung der geltenden positiven Rechtssätze, d. h. der vollständigen Kenntnis und Beherrschung des zu bearbeitenden Stoffes, eine rein logische Denktätigkeit. Zur Lösung dieser Aufgabe gibt es kein anderes Mittel als die Logik, dieselbe läßt sich für diesen Zweck durch nichts ersetzen; alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen - so wertvoll sie an und für sich sein mögen - sind für die Dogmatik eines konkreten Rechts8'

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stoffes ohne Belang und dienen zu häufig dazu, den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen 32. " Daß eine Darstellung des Staatsrechts sich aber nun auf diese dogmatische Bearbeitung beschränken konnte, zeigt die Wegstrecke, die seit Klüber zurückgelegt worden ist. Die soziale Funktion der Staatsrechtslehre war eine andere geworden. Im Vormärz durchaus noch selbst Rechtsquelle, jedenfalls rechtspolitisch wirksam, trat sie nun hinter Gesetz- und Verordnungsgeber, besonders auch hinter der neuen, alsbald wirkkräftigen unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit an Initiativkraft zurück. Sie war deswegen nicht weniger politisch, sie füllte nur eine andere Rolle; ihr Einfluß auf das politische Geschehen im Sinne kurzfristiger Forderung oder amtlicher Entscheidung ging massiv zurück. Er blieb aber durchaus vorhanden im Sinne langfristig strukturierender Wirksamkeit, auch der eher indirekten Beratung im Gleichklang mit den politischen Entscheidungen. Der 'lYPus des politischen Professors (Ehmke) , typisch für die Staatsrechtslehre des Vormärz, jedenfalls war in der Revolution von 1848 verbraucht und in der zweiten Jahrhunderthälfte so gut wie verschwunden. Friedrich Julius Stahl, 1863 gestorben, markierte mit seiner führenden Rolle als Hochkonservativer in der preußischen Abgeordnetenkammer geradezu den Endpunkt, vielleicht kann später Albert Haenel noch angeführt werden. Schon das verengte Verständnis der juristischen Methode verbot die Verknüpfung von juristischem Katheder und politischem Rednerpult. 5. Darf in Kürze pars pro toto nach der Entwicklung des Rechtsstaatsbegriffs im 19. Jh. gefragt werden; es spiegeln sich hier in repräsentativer Weise einige der wesentlichen Entwicklungsstränge der Staatsrechtslehre insgesamt, in zentralen rechtsdogmatischen Positionen, in Methode und in politischem Zusammenhang. Nachdem der Begriff des Rechtsstaats Ende des 18. Jh. geprägt war als Programmbegriff einer neuen Zeit, wurde er zunächst von der liberalen Richtung des Vormärz in den Vordergrund geschoben. Karl Theodor Welcker überschreibt 1813 das sechste Kapitel des ersten Buches seines Werkes "Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe": Gesetze, Recht und Staat der Vernunft (Rechtsstaat). Programm zugleich für ein ganzes Jahrhundert Staatsrechts denken und verwurzelt im Vernunftrecht der vorhergehenden Zeit, selbst wenn man Welcker einem eher organisch historisch ausgerichteten Zweig des Liberalismus zuordnet (Stolleis).

32 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Neudruck der 5. Auf!. Tübingen 1911, Aalen 1964, S. IX.

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Robert von Mohl, der wie wenige die Staatsrechtslehre des 19. Jh. überstrahlt, hat den Begriff 1829 in seinem modellhaften Staatsrecht des Königreichs Württemberg mit lange gültigem materialen Gehalt formuliert: Rechtsstaat ist Verstandesstaat, der nach Vernunftgrundsätzen organisierte und handelnde Staat. Voraussetzung hierfür ist die Gewährleistung der fundamentalen Rechte des Staatsbürgers: Schutz der persönlichen Freiheit, Freizügigkeit, Vertrags- und Erwerbsfreiheit, Rechtsgleichheit, Eigentumsgarantie, die Unabhängigkeit der Richter, Verantwortlichkeit der Regierung, Herrschaft der Gesetze und Volksrepräsentation als Teilnahme an der gesetzgebenden Gewalt 33 . Der Begriff ist freilich nicht auf die liberale Richtung des Vormärz beschränkt, er wird vielmehr auch von der Restauration belegt: Adam Müller stellt den Rechtsstaat als 'IYPus neben Christenstaat, Finanzstaat und Fürstenstaa t 34 . Mit Friedrich Julius Stahl ist der nächste Schritt für den Rechtsstaatsbegriff bezeichnet, ein Schritt, wie ihn das Staatsrecht insgesamt auf breiter Basis vollzogen hat. Stahl formuliert einen der Schlüsselsätze in der Entwicklung des Rechtsstaatsbegriffs, markiert einen tiefgehenden Wandel in dessen Bedeutung: "Der Staat soll Rechtsstaat sein, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als das der Rechtssphäre angehört, d. h. nur bis zur notwendigen Umzäunung. Dies ist der Begriff des Rechtsstaates, nicht etwa, daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwekke, oder vollends bloß die Rechte der einzelnen schütze, er bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen35 ." Hier wird in jene Richtung gewiesen, in die sich der Begriff des Rechtsstaates in der Folgezeit entwickeln sollte. Im Vormärz konnte man Rechtsstaat durchaus als einen mit materialen Gehalten gefüllten Begriff verstehen. Dies gilt trotz des Epochenwechsels, den er auch zu jener Zeit markiert, als bewußte Abkehr von absolutistischer Wohlfahrtstaatlichkeit und Glückseligkeitsanstalt. Menschenrechte, politische Mitsprache, vernünftiges, also richtiges Recht machen seinen Gehalt im Vormärz aus. Es ist damit 33 Von Mahl (FN 2), Bd. 1, S. 268; Böcken!örde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: FS Adol! Arndt, 1969, S. 56. 34 Müller, Elemente der Staatskunst I, 1809, Neudruck 1922, S. 165. 35 Stahl, Philosophie des Rechts, 2. Bd., 2. Abteilung, 5. Aufl.. 1878, S. 137 f.; 3. Aufl.. 1856, Bd. 2, § 36.

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ein Stück Staatszwecklehre beschrieben. Bei Friedrich Julius Stahl wird der Rechtsstaatsbegriff zur bloßen Staatsformenlehre. Dies bildet die Grundlage der weiteren Entwicklung, in der Rechtsstaat durchaus Schlagwort, geradezu Fanfare ist. Bei Dtto Bähr bedeutet er strenge Forderung nach Legalität, der Staat soll sich ebenso ins Recht, nicht über das Recht stellen, wie die anderen menschlichen Verbände 36 . Mit Rudolf von Gneist wie Gerber Prototyp der neuen Art integrierter politischer Wirksamkeit einzelner Professoren - verbindet sich im Rechtsstaatsbegriff die glücklich verwirklichte Forderung nach einer selbständigen, unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit 37 . Dtto Mayer faßt am Ende des Jahrhunderts zusammen: Der Rechtsstaat bedeutet tunlichste Justizförmlichkeit der Verwaltung. Soweit der Vorbehalt des Gesetzes nicht greift, das ist insbesondere außerhalb des Bereiches von Eingriffen in Freiheit und Eigentum, handelt die Verwaltung aus eigener Kraft, nicht aufgrund des Gesetzes 38 .

IV. Es bleibt eine letzte Frage, die Frage nach der Bedeutung der Revolution von 1848 für die Staatsrechtslehre des 19. Jh. Viele ihrer fähigsten Köpfe waren Mitglieder der Paulskirche, viele andere Fähige entschiedene Gegner. Vielleicht setze ich mich in Gegensatz zu mancher gefestigten, gewiß wohlbegründeten Meinung. Mir scheinen aber die Ereignisse von 1848 jedenfalls kein Wendepunkt zu sein, das äußere Scheitern der Revolution vielleicht beschleunigend, aber nicht entscheidend für die Entwicklung. Zumal der Weg zum staatsrechtlichen Positivismus war mit Puchta bereits vor 1848 beschritten. Er lag wenn nicht in der Logik, so doch in den naheliegenden Möglichkeiten der historischen Rechtsschule. Mit der allerdings unter veränderten Vorzeichen erfolgten Verwirklichung so vieler vormärzlicher Träume spätestens durch Bismarck: Einheit, Grundrechtsschutz, Gesetzesherrschaft, Parlamentarisierung, erhielt die Staatsrechtslehre den Stoff, den sie lange und 1848 vergeblich gefordert hatte. Vieles hatte die Revolution von 1848 bewirkt, was vorher gefordert und nachher nicht wieder aufgegeben worden ist: die Abschaffung des Feudalsystems, die Verwirklichung der Grundrechtsforderungen in der preußischen Verfassung von 1850. Es wäre hier geradezu inkonsequent gewesen, auf den alten vormärzlichen Wegen fortzufahren.

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Bähr, Der Rechtsstaat, 1864, S. 15 ff.; Böcken!örde, (FN 33), S. 63. Vgl. von Gneist, Der Rechtsstat, Berlin 1872, S. 172, 161 ff. Vgl. Bäumlin, Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Sp. 2822 ff.

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Es scheint im ganzen der Weg der Staatsrechtslehre des 19. Jh. bei aller Vielfalt und Gegensätzlichkeit der einzelnen Schulen und Richtungen, ja des Lebensgefühls seiner Vertreter deshalb nicht ohne innere Konsequenz, wenngleich keineswegs homogen, so doch auch nicht innerlich zerrissen. Sie hat vielmehr die Möglichkeiten, die das Staatsrecht als Fach in der Zeit besaß, nach den jeweils gegebenen Umständen der Zeit in ihrer sozialen Rolle ergriffen und ausgefüllt.

Aussprache Schindling: Ich habe eine Frage aus der Sicht des Wissenschaftshistorikers der Frühen Neuzeit. Das Themenfeld, das Sie mit seinem heutigen Namen als "Staatsrecht" beschrieben haben, war in der Frühen Neuzeit das ius publicum, die Publizistik. Ich wüßte gerne, wann dieser Begriff im 19. Jh. durch den neuen des Staatsrechts ersetzt worden ist. Noch der von Ihnen zu Recht so hervorgehobene Johann Ludwig Klüber war in seinem Selbstverständnis wohl noch Publizist, nicht Staatsrechtslehrer. Meine Kenntnis reicht nur bis zu ihm; was danach kommt, hat mich aus arbeitsökonomischen Gründen nicht mehr beschäftigen können. Wann genau hat der Begriff Publizistik für die Juristen seine Geltung verloren? Daß er einen Bedeutungswandel hin zum Journalismus erfahren hat, empfinde ich als einen aufregenden Vorgang. Die Begriffe "öffentliches Recht", "Staatsrecht" und "Staatsrechtslehre" haben die Publizistik wohl irgendwann im Vormärz oder sogar erst in der Mitte des 19. Jh. als akademische Fachbezeichnung verdrängt? Mußgnug: Herrn Schindlings Frage hat uns schon bei unsrer Tagung 1991 beschäftigt. Herr Stolleis hat sie mit dem Hinweis beantwortet, daß Robert von Mohl Klübers Gelehrsamkeit die "Arche" genannt hat, in der die Staatsrechtslehre des alten Reichs in das neue Zeitalter des Deutschen Bundes hinübergerettet worden ist 1 . Wenn ich es richtig sehe, so verbirgt sich hinter dem Übergang von der "Reichspublizistik" zum "Staatsrecht des Deutschen Bundes" nur eine jener Entlatinisierungen, wie sie in der Wissenschaftssprache der Wende vom 18. zum 19. Jh. häufiger zu beobachten sind. Die "Publizistik" meinte die Lehre vom ius publicum. Aber man sprach auch schon vor 1805 vom "Teutschen Staatsrecht". Daß sich diese Bezeichnung durchgesetzt hat, verdankt sie wohl mehr ihrer besseren Verständlichkeit als der Zeitenwende. Wie es seine Zeit gedauert hat, bis die "Stände" im amtlichen, rechtswissenschaftlichen und allgemeinen Sprachgebrauch endgültig durch das "Parlament" oder den "Landtag" ersetzt worden sind, so brauchte es auch eine Weile bis das "Staatsrecht" das "ius publicum" und die "Staatsrechtslehre" die "Publizistik" aus der Terminologie der Juristen gänzlich verdrängt hatten. Aber dieser Austausch der Be1 "Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte", Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 109.

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griffe vollzog sich ohne viel Überlegung. Wir sollten ihn daher nicht überbewerten. Oder sehe ich das falsch?

Stolleis: Ich meine auch, daß der Wechsel von der Reichspublizistik zum Staatsrecht um 1806 herum, also synchron mit dem Ende des Reichs stattfand. Buschmann: Der Begriff "Staatsrecht" taucht bereits am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh. auf, z. B. im Titel von Nicolaus Thaddäus Gönners "Teutsches Staatsrecht", an das Herr Mußgnug wohl gedacht hat und bei Johann Christian Majer, dem Würzburger Rechtsgelehrten, der ein Lehrbuch des "Teutschen weltlichen Staatsrechts" verfaßt hat und natürlich auch bei Johann Jacob Moser. Robbers: Auch Klüber hat ein Staatsrechtsbuch vorgelegt! Die Einheit der Wissenschaft, die sein Werk noch kennzeichnet, ist in der Zeit des Vormärzes auseinandergedriftet. Klüber und auch Aretin und Rotteck gehören noch zu einer älteren Schicht, die das Staatsrecht noch mit der Staats- und Regierungslehre verbunden haben, während wenig später Zöpfl, Zachariae, Maurenbrecher schon reines Staatsrecht bieten. Diese Teilung der Wissenschaften gehört zu dem Prozeß des Auseinandertretens und des sich Ausdifferenzierens der Wissenschaften im 19. Jh. Man sieht die Unterschiede zwischen dem Staatsrecht und der Staatslehre schärfer. Auch das Staatsrecht und das Verwaltungsrecht beginnen sich voneinander abzuschichten. Aufgliederung der Reichspublizistik in verschiedene rechtswissenschaftliche Disziplinen (und einige, die ganz von der Rechtswissenschaft abgespalten werden) fand in der Zeit nach 1815 statt. Schindling: Wann heißt das Fach an den Universitäten "Staatsrecht"? Ab wann studiert man an den Universitäten "Staatsrecht" und nicht mehr "Publizistik"? Das wäre ein präziser Markierungspunkt. Miethke: Universitäten geben sich bei der Benennung ihrer Professuren sehr konservativ. Deshalb kann der terminologische Wechsel von der Publizistik zum Staatsrecht nicht maßgeblich sein. Aufschlußreicher ist, wann die Vorlesungen, nicht, wann die Professuren umgetauft worden sind. Denn Professuren werden viel länger in der gewohnten Weise benannt als Vorlesungen und Bücher. Wenn Klüber sein Buch "Deutsches Staatsrecht" nennt, so ist das eigentlich wichtiger als die Feststellung, wann sein Lehrstuhl zum "staatsrechtlichen" geworden ist. Mußgnug: Vor einem Jahr hatte ich die Gelegenheit, die von seinen Nachkommen fest zusammengehaltene Bibliothek Klübers von Baden-Baden nach Heidelberg zu überführen, wo sie sich seither befindet. Es hat mich sehr bewegt, Klübers Bücherschätze exakt so beieinanderstehen zu sehen,

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wie sie in seiner Studierstube beieinander gestanden haben. Er hat in Erlangen als Privatdozent für Lehensrecht begonnen und damals noch mit beiden Füßen auf dem Boden der Reichspublizistik gestanden; das war an seinen Bücherregalen abzulesen. Klüber hat seine Bücher nicht nur nach Heidelberg mitgenommen. Er hat dort auch weiterhin aus ihnen geschöpft, bis er über das Bewahren des Überkommenen und die Auseinandersetzung mit dem Neuen zu der Erkenntnis kam, daß seine Zeit neu ansetzen muß. Das zeigt seine Bibliothek deutlich. Sie spiegelt seine rechtswissenschaftliche Entwicklung wider. Man spürt förmlich, wie Klüber sich vom Wiener Kongreß an von dem am Alten festhaltenden Publizisten zu dem das Neue formenden Staatsrechtslehrer gewandelt hat. Zu den Folianten aus dem 18. Jh. kamen die Denkschriften, Entwürfe, Gesetzessammlungen, Parlamentsberichte hinzu, die der Staatsrechtslehre den Zugang zur Staatspraxis öffnen.

Schmidt: Ist Klüber nicht ein Sonderfall? Sein Staatsrecht von 1808 bezog sich auf den Rheinbund und damit auf ein Gebilde, das sich staatsrechtlich noch nicht hinreichend hatte konstituieren können. Mit dem Begriff "Staatsrecht" hat Klüber wohl eine noch nicht vorhandene Einheit beschwören, vielleicht sogar stiften wollen. Stolleis: Das Wort "Staatsrecht" als Fachbezeichnung ist schon im 18. Jh. geläufig. Moser verwendet es in seinen beiden Riesenwerken "Teutsches Staatsrecht", ebenso Gönner. Als "Staatsrecht des Hl. Römischen Reichs" wurde die Vorlesung schon im 18.Jahrhundert angeboten. Später heißt es "Staatsrecht des Rheinbundes" , "Staatsrecht des Deutschen Bundes". Herr Mußgnug hat es schon gesagt: man hat ab 1750 einfach den lateinischen Ausdruck "ius publicum" als "öffentliches Recht" ins Deutsche übersetzt. Frotscher: Ich möchte die Diskussion in bezug auf Klüber und den begrifflichen Übergang von der Reichspublizistik zum Staatsrecht nicht abschneiden, aber doch mit meinem Beitrag auf das eigentliche Thema des Referats zurückkommen. Das Fazit, das Herr Robbers gezogen hat, ist für mein Empfinden für die deutsche Staatsrechtslehre insgesamt zu positiv ausgefallen. Der zentrale Begriff des Konstitutionalismus ließ nach meiner Überzeugung unterschiedliche Entwicklungen zu. Das hat Herr Robbers mit der Unterscheidung von vormärzlichem Staatsrecht und nachrevolutionärem Staatsrecht auch angesprochen. Der Konstitutionalismus war ursprünglich darauf angelegt, eine breitere Beteiligung der Bürger an der Ausübung der Staatsgewalt herbeizuführen und auf diese Weise das in Art. 57 der Wiener Schlußakte verankerte monarchische Prinzip aufzuweichen oder gar aufzulösen. Eine Entwicklung in Richtung auf einen demokratischen Konstitutionalismus war vorstellbar geblieben. Doch die Verfassungs entwicklung ist in die

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entgegengesetzte Richtung hin zu einem monarchischen Konstitutionalismus verlaufen. Es läßt sich belegen, daß die zeitgenössische Staatsrechtslehre (z. B. bei der Auslegung der Preußischen Verfassung von 1850) beträchtliche Entscheidungsspielräume genossen, aber sich im Zweifel doch für die - vereinfacht ausgedrückt - konservativere Möglichkeit entschieden und auf die Seite des monarchischen Prinzips geschlagen hat. So wurde die in der Preußischen Verfassung von Wortlaut und Systematik her angelegte, sicherlich noch unvollkommene Gewaltenteilung in der einschlägigen Literatur zum preußischen Staatsrecht kurz angebunden hinweginterpretiert. Die Staatsrechtslehre hat sich zu allen Zeiten mehrheitlich mit den politischen Machtverhältnissen arrangiert; um so mehr verdienen in der Rückschau diejenigen Stimmen Beachtung, die sich gegen die bestehenden Machtverhältnisse gewandt haben. In anderen Staaten haben diese Stimmen stärkeren Anklang gefunden. Die deutsche Staatsrechtslehre der zweiten Hälfte des 19. Jh. konnte demgegenüber von dem Österreicher Adolf Merkl nicht ohne Grund der "monarchistischen Befangenheit" geziehen werden. Ich frage mich, ob diese Aspekte der Entwicklung in dem Referat nicht zu kurz gekommen sind.

Mußgnug: Was Herr Frotscher für die zweite Hälfte des 19. Jh. anführt, läßt sich auch für die ersten Jahrzehnte nach der Bundesgründung nachweisen. Im Kampf um das Budgetrecht fanden die Landtage bei den renommierten Staatsrechtlern kaum Sukkurs; die Großen der Zunft fochten auf der Seite der Regierungen für die auch vom Bund propagierte These, daß das Steuerbewilligungsrecht der Landtage nicht das Recht einschloß, "auch das Ausgabenbudget regeln" zu dürfen. Ich halte es allerdings für falsch, diesen aus der heutigen Sicht ärgerlich und antidemokratisch anmutenden Konservativismus der Staatsrechtspäpste allzu heftig zu kritisieren. Er konnte sich auf den Text und den Sinngehalt der einschlägigen Verfassungsartikel stützen und mußte sich auch an ihn halten. Die wenigen "Demokraten" unter den Staatsrechtslehrern der 20'er und 30'er Jahre (etwa Rotteck und Welcker) hatten die bessere Gesinnung, ihre Gegner waren die besseren Juristen; sie haben rechtsdogmatisch sauberer argumentiert. Brandt: Herr Robbers hat zu Anfang seines Vortrags auf die aktiv-gestaltende Seite des öffentlichen Rechts in Deutschland aufmerksam gemacht, die sich zu der registrierend-affirmativen immer in einem gewissen Spannungsverhältnis befand. Er ist aber im Verlauf seiner Ausführungen auf diesen Antagonismus nicht mehr zurückgekommen. Es gibt in der Tat seit den Konstituierungen der Jahre 1815 ff. beides: die enge Orientierung am Verfassungstext und jene, die über ihn hinausweist. An einzelnen Instituten läßt sich dies demonstrieren. Das von Herrn Mußgnug angesprochene Budgetrecht ist auf der einen Seite ein Zubehör des al-

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ten Steuerbewilligungsrechts, auf der andern ein Instrument zur Einflußnahme auf die Staatspolitik und zur Verbesserung der Position des Parlaments. Ähnliches läßt sich für die Grundrechte und die Ministerverantwortlichkeit nachweisen. Immer steht der defensiven eine offensive Deutung entgegen. Das Aufregende daran scheint mir zu sein, daß sich die Gegenläufigkeit bisweilen im Denken und Handeln der Protagonisten selbst offenbart. Vor allem jener, die juristische Schriftsteller waren und doch zugleich auch agierende politische Figuren. Ich nenne neben dem gerade erwähnten Rotteck Robert von Mohl und Dahlmann. Es gibt eine juristische Kommentarkultur, welche dem bloßen Text zugewandt ist, und es gibt eine Publizistik, welche die Verfassung in actu im Blickfeld hat. Erst beides zusammengenommen macht das konstitutionelle Leben des Vormärz aus.

Zlinszky: Nur eine Frage zur Terminologie. Ich denke, die richtige Übersetzung von "ius publicum" lautet eher "öffentliches Recht" als "Staatsrecht". Ich habe unter dem ius publicum stets weit mehr verstanden als unter dem Staatsrecht. Die Dinge liegen so wie im Privatrecht, das sich im 19. Jh. in verschiedene Rechtszweige geteilt und dem klassischen Privatrecht eine Reihe von Sondergebieten hinzugefügt hat. Das "Staatsrecht" scheint ebenfalls ein Rückzug auf den engeren, direkt auf den jeweils ins Auge gefaßten konkreten Staat bezogenen Bereich des ius publicum zu sein. Der Begriff "Staatsrecht" bringt die Konzentration auf die Verfassung dieses konkreten Staats zum Ausdruck. Im 18. Jh. hat ius publicum viel mehr umfaßt, es hat wie heute das "Öffentliche Recht" im Lehrkanon eine ganze Reihe von Fächern abgedeckt. Drum steckt hinter dem Wechsel vom ius publicum zum Staatsrecht mehr als nur die Übersetzung einer lateinischen Fachbezeichnung ins Deutsche. Robbers: Darf ich mich mit meinen Antworten ein wenig von der Reihenfolge lösen, in der die Fragen gestellt worden sind? Ich danke Herrn Brandt und Herrn Mußgnug für die ergänzenden Hinweise auf das Budgetrecht. Ich sehe freilich im Kampf um das Bugetrecht keinen Kampf gegen den Staat. Im Vormärz ging es bei dem Ringen um das Ausgabebewilligungsrecht um den Staat, nicht gegen ihn. Die Landtage haben sich mit den Monarchen um die Herrschaft über den Staat gestritten. Es ging um die Grundlagen des Systems überhaupt, darum, ob es ein monarchisches bleibt oder in ein parlamentarisches umschlägt. Ob man im Staatsrecht von einer Verfassungsgegenkultur sprechen kann, bezweifle ich. Die Kritiken der vorherrschenden monarchischen Verfassungsauslegung, die sich nicht haben durchsetzen können und deshalb nicht sonderlich repräsentativ für den großen Strom ihrer Zeit gewesen sind, (etwa Murhardt, Silvester Jordan u. a.), schufen keine Verfassungsgegenkul-

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tur; denn es fehlte die Verfassungskultur, gegen die sie ihre Front hätten aufbauen können. Im Vormärz waren die Richtungen noch so undeutlich, daß man nicht von dem "Einen" hier und dem "Gegen" dort sprechen kann. Jordan hat die Verfassung, über deren Interpretation er sich mit seinen Gegnern gestritten hat, schließlich selbst geschrieben. Zur Frage des politischen Professors in der zweiten Hälfte des 19. Jh.: Die Namen, die Herr Brandt genannt hat, waren keine Juristen. Für das Staatsrecht, denke ich, gilt also meine Differenzierung. Aber das geht natürlich nie mit letzter Genauigkeit auf. Drum will ich mich selbst etwas zurücknehmen. Ich habe terminologisch sehr forsch vom System der zweiten Hälfte des 19. Jh. und vom System des Vormärz gesprochen. Das waren natürlich nur Leitlinien. Aber ich denke schon, daß der Trend, der in diesen beiden Epochen zu beobachten ist, eine andere Art von Politikverknüpfung zwischen Staatsrechtslehre und allgemeinem Parlamentarismus zeigt. Die politischen Professoren des Vormärz haben sich mit den fundamentalen Fragen befaßt und um sie mit ihren Widersachern hart gerungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. dagegen tritt auch im politischen Bereich das Ausformen und das Feilen am Detail in den Vordergrund, das deutlicher auf ein Mitschwimmen im Strom der Zeit hinauslief. Das typisch Vormärzliche ist daher in der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht mehr spürbar, vor allem deshalb nicht, weil viele der im Vormärz noch umkämpften Forderungen grundsätzlich erfüllt waren und nur noch Ziselierarbeit an den Details zu leisten war. Man sollte im übrigen gegenüber der Staatsrechtslehre des 19. Jh. nicht zu skeptisch urteilen. Sie war für ihre Zeit repräsentativ und zwar gerade auch darin, daß sie in der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht mehr als die Speerspitze im Kampf für ein neues Staatsrecht antreten konnte. Daß die Staatsrechtslehre der Zeit nach 1850 sich nicht in dieser Rolle gesehen hat, ist unverkennbar. Aber das gereicht ihr nicht unbedingt zum Vorwurf. Man hat damals in einer ruhigen, in sich zufriedenen, insgesamt konservativen Zeit gelebt. Die StaatsrechtIer dieser Zeit gehörten zum Bürgertum. Welche Entwicklung das Verfassungsrecht langfristig nehmen werde, war noch nicht klar zu erkennen. Die Auseinandersetzung mit dem monarchischen Staat, der Sozialismus und das Proletariat hat die Staatsrechtslehre der zweiten Hälfte des 19. Jh. daher noch nicht wahrgenommen. Mußgnug: Der Staatsrechtslehre des 19. Jh. vorzuwerfen, daß sie sich auf das monarchische System eingelassen hat, wäre gewiß verfehlt. Die Monarchie war die Staatsform jener Zeit und - soweit bereits auf eine Repräsentativverfassung gegründet - keineswegs die schlechteste. Daß sich die zeitgenössische Staatsrechtslehre nicht gegen das monarchische Prinzip gestemmt und das Fechten für die Parlamentarisierung der Landesregierungen den Landtagsabgeordneten überlassen haben, ist nur normal. Wir hätten das

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ebenso gehalten, wenn wir uns damals als Staatsrechtslehrer zu Wort gemeldet hätten. Frotscher: Die letzten Bemerkungen führen zurück zu unserer ersten Diskussionsrunde. Der Begriff des Staatsrechts hat im Laufe des 19. Jh. im Vergleich zur Reichspublizistik eine Konzentrierung und Verengung erfahren. Wenn jetzt von Staatsrecht die Rede ist, so war damit ein einheitliches (Normen-)System unter Ausschaltung anderer Bereiche der Staatswissenschaften gemeint. Mußgnug: Was Herr Frotscher angesprochen hat, wird sichtbar in auffälligen Divergenzen zwischen dem politischen Agieren der heidelberger und der freiburger Juristen. Die heidelberger Öffentlichrechtler waren deutlich konservativer als ihre freiburger Kollegen und ihnen kritisch gesonnen. Das Gutachten, das die heidelberger Fakultät zum osnabrücker Steuerstreik erstattet hat, wäre in Freiburg so nicht geschrieben worden. In Heidelberg dachten und argumentierten die Staatsrechtler streng juristisch, in Freiburg eher politisch. Es lag eine Welt zwischen dem Staatsrecht, das vor den freiburger Dioskuren Rotteck und Welcker und dem heidelberger Mittermaier vertreten wurde. Wenn die heidelberger Bürger eine zündende Rede über die "Volksrechte" hören wollten, ließen sie Welcker kommen, sein Unterhaltungswert und sein Begeisterungskoeffizient gingen weit über das hinaus, was der pragmatische, stets auch dem eigenen Lager gegenüber auf Objektivität bedachte Mittermaier zu bieten hatte. Für den "patriotischen Rausch" Welcker, fürs Ausbügeln der Konflikte Mittermaier. Kühne: Eine Bemerkung zu der These, 1848/49 sei kein Themenwechsel eingetreten. M. E. kam es vom Schwerpunkt her doch zu einem Wandel, weil die Staatsrechtslehre nach 1850 deutlicher als zuvor den Weg zur Verwaltungsrechtslehre einschlug. Das Staatsrecht selber war eigentlich, wie bei Herrn Brandt schon anklang, nach Rotteck "realpolitisch " kein richtiges Thema mehr. Aber es gab doch so etwas wie eine Verfassungsgegenkultur oder Verfassungskultur im Stillen, die sich weniger in der staatsrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Literatur bemerkbar machte, dafür aber umso mehr in den Parlamenten lebendig war. Erinnert sei etwa an das Einführungsgesetz der Paulskirche zu ihren Grundrechten, das den klaren Vorrang der Verfassung regelte und deshalb vom Deutschen Bund mit Nachdruck beseitigt wurde. Die Grundrechte der Paulskirche blieben gleichwohl Dauerthema in den Debatten der Parlamente. Bei der Verabschiedung des Auswanderungsgesetzes 1898 hieß es z. B., damit sei ein weiteres Ziel aus der Zeit vor 50 Jahren erreicht. Hinzuweisen ist auch auf die Interpretation der Verfassungsnormen über Parlamentsrechte in der Zeit nach 1848/49. Die Parlamente sind die Repräsentations-Körper, in denen der bürgerschaftliche Partizipationsanspruch deutlicher als zuvor kulminiert. Bis auf Gierke, der stärker im Sinne von

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Gleichrangigkeit argumentiert, stoßen sie aber gleichwohl immer wieder auf die literarische Abwertung, nur Hilfsorgane der Staatsgewalt zu sein. Gerade weil dies nur die Rolle von Fußnoten in der damaligen Literatur spielt, spricht diese Literatur ein beredte Sprache. Zugespitzt formuliert ist die Staatsrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jh. besonders aussagekräftig in den Bereichen, zu denen sie schweigt oder "aufhört", wie die berühmte Formel von Anschütz es ausgedrückt hat. Weiter möchte ich noch auf die rechtsvergleichende Dimension aufmerksam machen, die ausgespart worden ist, zeitgenössisch aber durchaus präsent gewesen ist. Entsprechende Ansätze gibt es etwa bei Heinrich von Sybel in einem Aufsatz, den er in England zur Rechtfertigung der Deutschen Reichsverfassung von 1871 veröffentlicht hat. Dort wird zugegeben, daß der Reichstag, anders als das Unterhaus, nicht das volle Haushaltsrecht habe, aber auch die Hoffnung ausgedrückt, daß er das künftig noch bekommen werde. Darin spiegelt sich die von Bismarck genährte liberale Hoffnung auf die Fortbildungsfähigkeit der Verfassung gerade unter dem Kronprinzen wider. Stichwort ist die Ausbildung der Ministerverantwortlichkeit, d. h. die zentrale Bändigung der Macht durch das Staatsrecht, die ab 1848/49 eine lebendige Hoffnung war, die freilich in der Staatsrechtslehre weithin unbeachtet blieb. Das wird "realpolitisch" zurückgenommen und setzt z. B. mit dem Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit ab den sechziger Jahren tiefer an. Ich darf auch kurz auf den 'I\vesten-Prozeß verweisen, der nicht nur in der letzten Instanz vor dem preußischen Obertribunal, sondern bereits in der Vorinstanz viel Aufsehen erregt hat. Die Vorinstanzen haben an der Verfassung als zwingendem Recht festgehalten. Trotz Kassation in der nächsten Instanz blieb der Vorrang der Verfassung ebenso wie im Bismarckschen Budgetkonflikt lebendig. Die Liberalen scheitern an der Blockade der Ausführungsgesetze zur Ministerverantwortlichkeit und zum Staatsgerichshof. Immerhin wird hier eine Verfassungs-Gegenkultur deutlich, die nicht aus der Staatsrechtsliteratur, sondern aus den Parlamentsdebatten herauszufiltern ist. Dazu nur noch eine kurze biographische Bemerkung; in von Rönnes berühmten "Preußischen Staatsrecht", das in vielen Auflagen bis weit in die 70'er Jahre erschien, ließ der Verleger den achtundvierziger Heinrich Simon 1850 herausstreichen, der bis dahin Mitherausgeber war. Als Emigrant in der Schweiz hätte Simon sonst weiter mitschreiben können und zum Aufbau einer Gegenkultur beitragen können. Im übrigen hätte ich mir eine stärkere Beachtung der Frage gewünscht, für wen das öffentliche Recht bis 1900 literarisch behandelt worden ist. Für die Gerichte wohl kaum, für sie war Staatsrecht von formellen Gesetzesund Verordnungsprüfungen abgesehen nicht relevant. Für wen also sonst? Für den Monarchen und für die übrigen Staatsorgane, etwa die Parlamente

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und Parlamentarier? War dem so, dann hat die staatsrechtliche Literatur etwas Apologetisches an sich; sie konserviert die bestehenden Zustände. Wenn sie für Neuerungen eintritt, so sichert sie sich gegen den Verdacht ab, Umwälzungen heraufbeschwören zu wollen. Das bedeutet, daß man in allem vorsichtig, ja fast übervorsichtig war. Das ist bei Zöpfl und später bei Georg Meyer, der nationalliberaler Abgeordneter war, deutlich zu beobachten. Zöpfl behandelt die Grundrechte der Paulskirche in den 60'er Jahren nur in den Fußnoten und bescheinigt ihnen dort, sie seien eine ganz kluge Regelung gewesen; mehr sagt er da nicht. Bei Georg Meyer ist das Staatsrecht bis 1918 wenig mehr als ein glanzvoller Bericht. Besonders eindrucksvoll tritt das in seinem Verwaltungsrecht hervor, wo er alle Gesetze aufführt, die zu einem bestimmten Thema vorliegen, und damit im Grunde nur noch Affirmation ohne kritische Reflexion leisten kann. Diese auffällige Zurückhaltung der Staatsrechtslehre gegenüber den Bedenklichkeiten im Gesamtstaat und ihre Vorsichtigkeit gegenüber jeder partizipatorischer Weiterentwicklung sollte nachdrücklicher ausgewertet werden.

Mohnhaupt: Ich will noch einmal den Blick auf das Stichwort "rechtsvergleichend" lenken und es mit der Etablierung eines gemeindeutschen Staatsrechts in Verbindung bringen mit Bezug darauf, was das Ausland eigentlich in diesen Prozeß mit einbringt. Auch das verdient - zumindest am Rande - Beachtung. Ich möchte allerdings keine methodisch exakte Rechtsvergleichung anstellen, sondern nur einige komparatistische Beobachtungen zur Schwerpunktbildung in anderen Staaten mitteilen. Die Entwicklung hin zum "Staatsrecht" schlägt sich in den Fachzeitschriften des 19. Jh. nieder. Es ist interessant zu beobachten, welche Themen hier im Laufe des 19. Jh. in den Mittelpunkt treten. Es geht um das Wahlrecht, das Gesetzgebungsverfahren, das Verfassungsrecht, das Polizeirecht und das Verhältnis von Staat und Kirche sowie vor allem um das weite Feld des werdenden Verwaltungsrechts und was mit ihm zusammenhängt: kommunale Selbstverwaltung im Sinne von Bürgerbeteiligung auf der unteren Ebene, der Verwaltungsrechtsschutz - entweder durch Zivilgerichte oder durch von ihnen abgetrennte Verwaltungsgerichte. Die von Mittermaier und Zachariae ab 1829 in 28 Bänden herausgegebene "Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes" war auf diesem Gebiet beispielhaft. Ruppert: Ich möchte an die Beiträge von Herrn Frotscher und Herrn Kühne anknüpfen. Auch ich glaube, daß Herr Robbers die Staatsrechtslehre nach der Revolution in ihrer historischen Bedeutung zu positiv bewertet hat. Die Disfunktionalitäten, in die das Kaiserreich spätestens mit dem Wilhelminismus hineingeriet und mit denen es in den Ersten Weltkrieg eingetreten ist, liegen wohl doch daran, daß sich die gesellschaftlichen Kräfte im Bereich der Politik und auch in dem der staatlichen Regierung und Exeku-

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tive nicht so artikulieren konnten, wie das ihrer wahren Stärke entsprochen hätte. Dafür hat die Konstruktion der Reichsverfassung den Ausschlag gegeben, die auf den Weg zum monarchischen Konstitutionalismus, statt auf den zur parlamentarischen Demokratie hingelenkt hat. In dieser Lage hätte die Staatsrechtslehre es sich sehr wohl zur Aufgabe machen können und m. E. auch machen sollen, auf eine Angleichung des Verfassungssystems an die historisch und sozial veränderten Verhältnisse in der Gesellschaft hinzu wirken, anstatt als Gralshüter des monarchischen Prinzips aufzutreten. Ich will damit nicht sagen, daß die Staatsrechtslehre der Jahrhundertwende auf eine Demokratie in unserem gegenwärtigen Verständnis hätte zusteuern sollen. Ich meine nur, daß sie Anlaß gehabt hätte, auch die Erfordernisse ihrer Zeit zu bedenken und ihnen bei ihren Verfassungsinterpretationen Rechnung zu tragen. Exakt das hat sie nicht getan! Daß die Situation von Staat und Gesellschaft ein neues staatsrechtliches Denken verlangte, hat man sehr wohl gespürt. Aber mit der Wendung zur Realpolitik bekannte man sich zur bestehenden Verfassungsordnung. Das ist nach 1870 die Tendenz in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, nicht nur in der Staatsrechtslehre; in den Parteien ist dieses Abfinden mit der monarchischen Tradition ebenso zu finden. Daß man den emanzipatorischen Gehalt der Staatsrechtslehre des Vormärz total aus dem Sinn verloren hat, ist für mich ein erhebliches Manko der deutschen Staatsrechtslehre nach 1870.

Baumgart: Ich möchte Herrn Robbers noch einmal nach seinem Präjudizierungsverständnis der Staatslehre des 19. Jh. fragen. Aus der historischen Sicht halte ich es nicht für richtig, von einer das gesamte 19. Jh. durchziehenden Kontinuitätslinie zu reden, ohne die Zäsuren der 48'er Revolution und des Vormärz nachhaltiger miteinzubeziehen. Wenn ich anknüpfe an das, was zu Beginn dieser Diskussion über die Begrifflichkeit gesagt worden ist, mit der wir hier umgehen, die schon im 18. Jh. das Staatsrecht und Staatsrechtslehre gekannt hat, dann fragt man sich natürlich, welche Kontinuität vom staatsrechtlichen Denken des 18. zu der Verfassungslehre des 19. Jh. überleiten könnte. Ein Stichwort möchte ich gerne aufgreifen: Es war von den antiabsolutistischen Tendenzen in dieser Staatsrechtslehre die Rede mit besonderem Akzent auf den Grundrechten und auf der Verfassungsdiskussion. Das Prinzip der Repräsentation und das Problem der Landstände und der Kontinuität landständischer Vertretungen vom 18. zum 19. Jh. böte ein treffliches Beispiel zur Konkretisierung unsrer Diskussion. Es brächte uns, jedenfalls was die Staatsrechtslehre des Vormärz betrifft, sehr viel näher an die älteren Zustände des späten 18. Jh. heran. Robbers: Herr Kühne: Es gibt durchaus eine Verfassungsgegenkultur in Deutschland, nur eben nicht im Staatsrecht, und das Staatsrecht war mein Thema. Der Staatsrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vorzuwerfen, 9 Der Staat, Beiheft 11

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sie sei nicht revolutionär gewesen, hieße, das Scheitern der Revolution von 1848 ihr zur Last zu legen; das auch zu Herrn Ruppert.

Ruppert: Ich werfe der Staatsrechtslehre vor, daß sie ausschließlich affirmativ gewirkt hat; daß sie sich der Revolution verweigert hat, will ich ihr nicht ankreiden. Robbers: Sie war bürgerlich. Ruppert: Das waren die Liberalen vor 1848 auch. Robbers: Die Staatsrechtslehrer waren überwiegend ebenfalls liberale Bürger. Der emanzipatorische Impuls, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. durchaus bemerkbar gemacht hat, hat zur Feinarbeit, zur Strukturierung, zum Einbinden des monarchischen Systems in den Parlamentarismus, zum Grundrechtsdenken auf der Ebene des Einbaus der Grundrechtsgehalte in das Rechtssystem stimuliert. Das war kein "Verfassungskampf" , das ist richtig. Aber ich denke, es liegt ein emanzipatorisches Moment darin, daß vieles von dem in seinen Einzelheiten ausgebaut und verfestigt worden ist, was früher revolutionär gefordert worden war. Gewiß, die Staatsrechtslehre war in der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht der Fanfarenbläser der ersten Hälfte. Ob ihr das vorzuwerfen ist oder nicht, ist wohl nur eine Frage des Geschmacks und des Standpunkts. Herr Kühne hat gefragt, für wen das öffentliche Recht literarisch abgehandelt worden ist. Das ist eine interessante Frage. Die Antwort auf sie brächte wichtige Einsichten. Zu den Adressaten der öffentlich-rechtlichen Literatur, die Herr Kühne bereits genannt hat, sind noch hinzuzufügen: Einmal die Studenten. Das hat, Herr Stolleis hat in seinem Buch mehrfach und zu Recht darauf hingewiesen, die Richtung stark geprägt. Man hat nicht das Staatsrecht eines jeden einzelnen Kleinstaats schreiben können, weil es dafür nicht genug Studenten gab. Drum hat man ein gemeindeutsches Staatsrecht entwickelt, das die Studenten ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Heimat ansprach. Zum andern denke ich - das ist ein Punkt, der die erste mit der zweiten Hälfte verbindet schrieb man im Geiste eines Einheitsdenkens. Die Staatsrechtslehre des 19. Jh. favorisierte die Einheit Deutschlands. Darin gründet letztlich ihr Feinziselieren an den Landesverfassungen während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, gründet (jedenfalls zum Teil) der staatsrechtliche Positivismus. All das sind Einheitsbestrebungen. Als letzter Punkt vielleicht noch, um dann alles andere Wichtige für später aufzusparen: die Rechtsvergleichung. Ich habe ja in der Tat nur angedeutet, daß es das gegeben hat. Die wichtigsten Rezeptions- oder Diskussionsvorgänge aus der Rechtsvergleichung liegen im Verwaltungsrecht, im Wahlrecht, in der kommunalen Selbstverwaltung. Der Verwaltungsrechtsschutz überhaupt, der Rechtsstaatsgedanke der zweiten Hälfte, ist von England her vorgeprägt worden. Und dann viel-

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leicht noch zusätzlich zu dem, was Herr Mohnhaupt angeführt hat: die Ministerverantwortlichkeit und die Frage der Normenkontrollbefugnis der Gerichte. Auch bei diesen Themen hat die staatsrechtliche Literatur viele Anregungen aus anderen europäischen Staaten bezogen.



Die Dogmatik des Staatsrechts im Wandel vom Bismarckreich über die Weimarer Republik zur Bundesrepublik Von Peter Badura, München

I. 1. Die Rechtswissenschaft und mit ihr die Staatsrechtslehre ist geschichtlich kontingent und kann aus der Geschichte lernen. Doch ist sie im Unterschied zur historischen Forschung eine dogmatische Wissenschaft. Die Geltung und Überzeugungskraft ihrer Sätze, des Systems und der Begriffe, die ihr Lehrgebäude ausmachen, gründet sich auf die Autorität des positiven Rechts l . Weil die Rechtsdogmatik ihren Stoff nach den Prinzipien ordnet, die sie als maßgeblich erkennt2 , und weil sie nach Kunstregeln des "Juristenrechts" verfährt, ist sie mehr und anderes als bloßes Abbild des jeweils geltenden Rechts. So wie der Jurist die Rechtsordnung als ein normatives Sinngebilde auffaßt, das gegenüber Sozialleben und Politik relativ verselbständigt ist 3 , so gibt die Rechtsdogmatik ihrem Gegenstand in System und Begrifflichkeit eine Form, die ihr Selbständigkeit gegenüber der Positivität des geltenden Rechts sichert. Die "praktische Leistung" der Rechtsdogmatik 4 besteht demnach in der Ordnung ihres Stoffes, aber auch in der Bereitstellung von "intellektuell überprüfbaren und öffentlich einsichtigen Kriterien" für die Beurteilung und Kritik des positiven Rechts 5 . Nach diesem Leitgedanken soll hier über die Dogmatik des Staatsrechts in ihrer Entwicklung, über die Umbrüche des Staatslebens und der Verfassungsordnungen seit der Reichsgründung hinweg berichtet werden. Welche "Funktion" 1 2

F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 17, 49, 54, 59. M. Herberger, Rechtsdogmatik, in: J. Ritter/K. Gründer, Hrsg., Historisches Wör-

terbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, Sp. 266/269. 3 H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 260. 4 F. Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: FS Hans-Georg Gadamer, 1970, S. 311. 5 F. Wieacker, Rechtsdogmatik (FN 4), S. 316, beschränkt die Aufgabe der Rechtsdogmatik auf die Anleitung der Rechtsanwendung, hauptsächlich im Bereich der Entscheidung individueller Interessenkonflikte im Zivilrecht, versteht sie also als Leistung des Juristenrechts, abgegrenzt gegenüber dem Gesetzesrecht und dem Richterrecht.

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bestimmte Dogmatiken, z. B. die des staatsrechtlichen Positivismus, hatten 6 , bleibt ebenso beiseite, wie die Frage der wechselbezüglichen Abhängigkeit von Verfassung und Politik, von Norm und Wirklichkeit. Staatsrecht und deutsche Staatsrechtswissenschaft sind natürlich älter als die Gründung des deutschen Nationalstaats 7. Dennoch beginnt mit dem staatsrechtlichen Positivismus der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine neue Epoche der Staatsrechtslehre, deren Dogmatik sich als ein Entwicklungsprozeß beschreiben läßt, der bis heute fortdauert. Anders als Johann Jacob Moser, Johann Stephan Pütter und Johann Ludwig Klüber stehen Paul Laband, ALbert Hänel, Otto von Gierke, Gerhard Anschütz und Heinrich Triepel in einer dogmengeschichtlichen Kontinuität mit dem heutigen Staatsrecht. Eine Rechtsauffassung gehört zur Dogmatik des Staatsrechts dieser Epoche, wenn sie auf das methodisch geleitete Verständnis des positiven Rechts abzielt und die Richtigkeitsgewähr juristischer Argumentation auf den Sinn, die Prinzipien und den inneren Zusammenhang der Verfassungsnormen gründet. Der Wandel der Verfassungen ändert nicht die methodischen Anforderungen an die Staatsrechtswissenschaft, wohl aber bewirkt er einen Wandel der Dogmatik des Staatsrechts 8 . Entscheidend für das neue Staatsrecht ist die Anerkennung der Selbständigkeit des Verfassungsrechts und die kraft des Gewaltenteilungsprinzips als Rechtsinstitut ausgebildete parlamentarische Gesetzgebung. Seit dem 17. Jh. tritt allmählich eine klare Scheidung der Rechtsregel von der Moral und den - jetzt als philosophisch und rechtspolitisch vom Staatsrecht unterschiedenen - Grundsätzen der praktischen Vernunft und der Gerechtigkeit ein. Diese Entwicklung beschränkt schließlich den Gegenstand der Jurisprudenz auf die Auslegung des gesetzten Rechts, für die eine Reihe besonderer Interpretationsmethoden entwickelt werden. Die Auslegung und Anwendung des Rechts wird durch die Rechtsdogmatik unterstützt, die den Inhalt des geltenden Rechts systematisch in Rechtsgrundsätzen und Rechtsinstituten ordnet und sich scharf von rechtspolitischen Überlegungen abgrenzt. Diese Grenzziehung wird nur scheinbar durch die vertiefte Einsicht in den gestaltenden Charakter der richterlichen Rechtsfindung, Rechtsbildung und Rechtsfortbildung in Frage gestellt. Denn die durch die Verfassung an 6 Siehe nur P. von OeTtzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus (1953), 1974; ders., Die Bedeutung C. F. von Gerbers für die deutsche Staatsrechtslehre, in: FS Rudolf Smend, 1962, S. 183. 7 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1600 1800,1988. 8 F. Wieackers These, daß die Dogmatik als solche so wenig Geschichte habe wie die Naturgesetze oder die logischen Sätze und daß sich in Wahrheit nur die Überzeugungen und Verhaltensregeln geschichtlicher Rechtsgemeinschaften wandelten (Privatrechtsgeschichte (FN 1), S. 17), erklärt sich aus dem dort zugrunde gelegten engeren Begriff der Rechtsdogmatik.

Die Dogmatik des Staatsrechts vom Bismarckreich zur Bundesrepublik

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Recht und Gesetz gebundene Rechtsprechungsaufgabe ist selbst ein Gegenstand der Dogmatik des Staatsrechts. Ebensowenig folgt aus der Beobachtung, daß die Gesetzgebung von Interessen- und Wertungskonflikten bestimmt wird, so daß hier die juristische System- und Begriffsdisziplin nur geringe Bedeutung haben, die Nebensächlichkeit der Dogmatik für das Verfassungsrecht 9 , das doch Staat, Politik und Bürokratie gerade eine rechtliche Form geben will. Auch wert orientiertes oder interessengeleitetes Denken, das im verfassungsrechtlich geordneten politischen Prozeß wirksam ist, ist Gegenstand der Rechtsdogmatik 1o . Juristische Dogmatik wird verzeichnet, wenn sie nur als Arsenal technischer Regeln und als unkritischer Dienst an dem jeweils geltenden Bestand des Rechts aufgefaßt würde. Denn ihre Ziele schließen die Überprüfung des positiven Rechts anhand anerkannter oder überkommener Rechtsgedanken ein, in denen zeitlich und national übergreifende Prinzipien des Rechts ihren Niederschlag gefunden haben. Vor allem zielt die Rechtsdogmatik auf die Einordnung der Rechtsentwicklung und der Rechtspraxis in das Gefüge der eine Rechtsordnung beherrschenden Rechtsgedanken; nur diese Zielsetzung erlaubt es, das Fortbestehen der Kohärenz dieser Ordnung nachzuweisen und zu überprüfen 11. 2. Politische Herrschaft nimmt im Verfassungsstaat die Form der rechtlich geordneten und gebundenen Staatsgewalt an. Das Vernunftrecht der Aufklärung unterwirft die Staatsgewalt mit Hilfe des Gewaltenteilungsprinzips einer rechtlichen Form. Es versetzt das Gesetz, von dem das naturrechtliche Denken die Stiftung einer allgemeinen und dauerhaften Ordnung erwartete, in das Zentrum des Staatsrechts. Die bürgerliche Verfassungsbewegung erhob auf der Grundlage des parlamentarischen Repräsentativsystems, des Gewaltenteilungsprinzips und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung die Gesetzgebung zum Grundbegriff ihres neuen Verfassungsrechts 12 . Durch das Postulat, daß Eingriffe in Freiheit und Eigentum nur durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes zulässig sein sollen, wird die Verfügung über die Grenze zwischen öffentlicher Gewalt und privater Freiheit dem Gesetzgeber und allein dem Gesetzgeber zugewiesen. Die wesentlichen staatsrechtlichen Merkmale des Gesetzes sind, daß es durch die gewählte parlamentarische Volksvertretung beschlossen wird und daß es eine rechtlich verbindliche Regelung zum Inhalt hat. Anders F. Wieacker, Rechtsdogmatik (FN 4), S. 316. Vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4.Aufl., 1979, S. 204ff. 11 Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1985, S. 55f. 12 Hierzu und zum folgenden P. Badura, Die parteienstaatliche Demokratie und die Gesetzgebung, 1986; ders., Wieviel Interpretation verträgt die Verfassung? in: P. Eisenmann/B. Rill, Hrsg., Jurist und Staatsbewußtsein, 1987, S. 1; ders., Die parlamentarische Volksvertretung und die Aufgabe der Gesetzgebung, ZG 2, 1987, S. 300. 9

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Es ist leicht erkennbar, daß diese Prinzipien der verfassungsstaatlichen Gesetzgebung und der daraus abgeleitete Gesetzesbegriff zunächst verfassungspolitische Ziele waren, bis sie im Lauf der Entwicklung Geltung als Verfassungsrecht erreichten und zum Bestandteil der Dogmatik des Staatsrechts werden konnten. Unter der Herrschaft des monarchischen Prinzips, selbst wenn man die beschränkende Rolle der Landtage und dann des Reichstags 13 als gleichrangige demokratische Elemente in der monarchischen Verfassung wertee 4 , zeigt die staatsrechtliche Konstruktion der gesetzgebenden Gewalt die Unvollkommenheit der Verfassung: Die Verfassung des konstitutionellen Systems ist teils Ordnung der staatlichen Institutionen, teils nur Schranke der ihrer Legitimität nach extrakonstitutionellen Herrschaftsgewalt. In der spröden Sprache der damaligen staatsrechtlichen Dogmatik, dennoch aber mit eiserner Wirksamkeit legt die Unterscheidung des Gesetzes im materiellen Sinn und des Gesetzes im formellen Sinn die maßgeblichen Kraftlinien bloß 15 . Lange Zeit später, in der Weimarer Zeit und unter der Geltung der republikanischen und demokratischen Verfassung, wurde mit der Logik des neuen Staatsrechts den überkommenen Doktrinen und ex post dem doppelten Gesetzesbegriff des staatsrechtlichen Positivismus der Prozeß gemache 6 . Und erst unter dem Grundgesetz setzte sich der dem modernen Sozialstaat angemessene Gesetzesbegriff durch, der auf der demokratischen und rechtsstaatlichen Garantiefunktion des Gesetzes beruht 17 . Das Gesetz konkretisiert nach Art, Maß und Zeitpunkt die Wahrnehmung der Staatsaufgaben. Es ordnet und sichert den Ausgleich der Interessen und die Zuteilung der Rechte des einzelnen, zwar in politischer Gestaltungsfreiheit, aber nach den Direktiven und in den Bindungen der Verfassung. Das Gesetz als Grundlage und Grenze der Verwaltungstätigkeit und als Maßstab der Rechtsprechung sichert die rechtsstaatlichen Anforderungen der Berechenbarkeit des Rechts, der Rechtssicherheit und des grundrechtlichen Schutzes des einzelnen und es wahrt die politische Entscheidungsvollmacht und Leitungsaufgabe der parlamentarischen Volksvertretung. 13 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., 1911, Bd. 1, S. 293 ff.; G. Meyer, Der Anteil der Reichsorgane an der Reichsgesetzgebung, 1889. 14 E. R Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 2. Aufl., 1970, S.773ff. 15 E.-w. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl., 1981; R. Grawert, Gesetzgebung im Wirkungszusammenhang konstitutioneller Regierung, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Staat Beiheft 7,1984, S. 113. 16 H. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, VVDStRL 4, 1928, S. 98. Siehe schon zuvor A. Haenel, Studien zum deutschen Staatsrecht, Bd. II/2: Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne, 1888. 17 D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961; P. Badura, Der Zustand des Rechtsstaates, Cappenberger Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Bd. 21, 1986, S.13.

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11. 1. Die Präambel der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 bekundete, daß der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes und die anderen Bundesfürsten einen ewigen Bund schließen zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes. Damit waren Staatsziel und Legitimitätsgrund des deutschen Nationalstaates proklamiert, eines zunächst noch dem monarchischen Prinzip folgenden Bundesstaates.

Die wenigen Worte der Präambel weisen auf die beiden Hauptfragen, die sich der Dogmatik des Staatsrechts unter der Bismarck'schen Reichsverfassung stellten 18 . Der Bund, den die Bundesfürsten schlossen und dem sie im Zusammenwirken mit dem Reichstag eine Verfassung gaben, teilte die Staatsgewalt zwischen dem Bund auf der einen Seite und den souveränen Bundesfürsten und den das Bundesgebiet bildenden Staaten auf der anderen Seite. Die staatsrechtliche Konstruktion dieses Bundesstaates, der im weiteren Fortgang des Staatslebens zunehmend unitarische Züge annahm, erwies sich als eine schwer zu lösende Aufgabe 19 . Denn das in den Bundesgliedern, zuerst in der Hegemonialmacht Preußen fortbestehende monarchische Prinzip widerstand einer Mediatisierung durch die Reichsgewalt. Zugleich stand es einer Parlamentarisierung der Reichsgewalt entgegen. Die politische Lösung in Gestalt des Bundesrates, in dem die das monarchische Prinzip wahrende Föderation ebenso wie die Selbständigkeit der Reichsexekutive ihren Ausdruck fand, versetzte sozusagen kraft Natur der Sache dieses Organ in den Mittelpunkt des Bismarck'schen Staatsrechts 20 . Der an der Gesetzgebung beteiligte Reichstag, dem verfassungsrechtlich die Bestimmungsgewalt über die Exekutive versagt blieb, wie sie durch das parlamentarische Regierungssystem gefordert wird, konnte erst allmählich in der politischen Praxis die Stellung einer parlamentarischen Volksvertretung erringen. Die staatsrechtliche Dogmatik beschrieb die Grenze zwischen der monarchischen Exekutive und dem Zuständigkeitsbereich des Reichstags und der Landtage mit Hilfe des Gesetzesbegriffs und der Lehre vom Gesetzesvorbehalt 21 . Die Organisationsgewalt und ein selbständiges Verord18 Ph. Zorn, Die Entwicklung der Staatsrechts-Wissenschaft seit 1866, JöR 1,1907, S. 47; E. R. Huber, Bismarck und der Verfassungsstaat (1964), in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 188; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 364 ff. 19 Ph. Zorn (FN 18), S. 60ff.; H. Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907; M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken. Albert Hänel und seine Bedeutung für die deutsche Staatsrechtswissenschaft, 1971, S. 44ff. 20 G. Meyer, Grundzüge des norddeutschen Bundesrechts, 1868, S. 58ff.; C. F. von Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., 1880, S. 249 f.; E. Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, 1917, S. 9 ff.

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nungsrecht blieben in der Hand der Exekutive. Die Verschiebungen, die in der bundesstaatlichen Gewichtsverteilung und in der Position des Reichstags bis zum Ersten Weltkrieg eintraten, wurden mit der neuen dogmatischen Figur des Verfassungswandels erfaßt 22 • Das konstitutionelle Staatsrecht, basierend auf einer paktierten Verfassung und mit dem Kernstück einer durch das Zusammenwirken von Monarch und Volksvertretung ausgeübten Gesetzgebung, verdeckte diesen Dualismus durch das unbeirrt festgehaltene und verfassungsrechtlich durchgehaltene monarchische Prinzip. Die darin liegende Schwäche wurde nicht übersehen. Georg Meyer schrieb schon 1868: "Der im norddeutschen Bunde thatsächlich vorhandene Dualismus erscheint als der wundeste Fleck der ganzen Verfassung ... 23. " 2. Der Erfolg der bürgerlichen Verfassungsbewegung mit dem Ziel eines deutschen Nationalstaates fällt zusammen mit dem Hervortreten einer methodisch folgerichtig entwickelten Staatsrechtslehre. Mit dem Übergang von einem theoretisch aufgebauten allgemeinen Staatsrecht zu einem Staatsrecht des nationalen Verfassungsstaates kehrte die Staatsrechtslehre "aus den Höhen der Spekulation auf den festen Boden zurück", den eine geltende Reichsverfassung zu bieten vermochte 24 . Im Jahre 1865 erschienen die "Grundzüge des Deutschen Staatsrechts" von earl Friedrich von Gerber25 , gewissermaßen die Programmschrift des neuen dogmatischen Staatsrechts, das später als "staatsrechtlicher Positivismus" bezeichnet wurde und dessen Hauptzeugnis das in zwei Bänden 1876178 veröffentlichte "Staatsrecht des Deutschen Reiches" von Paul Laband wurde26 . Die 5. Auflage dieses einzigartigen Werkes kam 1911 bis 1914 in vier Bänden heraus. Ein einbändiges "Deutsches Reichsstaatsrecht" erreichte sieben Auflagen; die letzte Auflage von 1919 hatte Otto Mayer bearbeitet.

21 G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 1887; G. Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, 1900; W Mößle, Inhalt, Zweck und Ausmaß. Zur Verfassungsgeschichte der Verordnungsermächtigung, 1990. 22 P. Laband, Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, 1895; G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906; H. Triepel, Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung, in: FS Paul Laband, 1908, Bd. 2, S. 247; ders., Reichsaufsicht, 1917. 23 G. Meyer (FN 20), S. 107. 24 M. Stolleis, Geschichte (FN 18), S. 322 f.- Siehe auch ders., Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungslehre 1866-1914, Verwaltung 15, 1982, S. 45. 25 2. Auflage 1869; 3. Auflage 1880. P. von Oertzen, Bedeutung (FN 6); M. Stolleis, Geschichte (FN 18), S. 330 ff. 26 W Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jh., 1958; M. Herberger, Logik und Dogmatik bei Paul Laband, in: E. V. Heyen, Hrsg., Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Regime, 1984, S. 91; B. Schlink, Laband als Politiker, Staat 31, 1992, S. 553.

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Die Gerber-Laband'sche Schule hat der wissenschaftlichen Bearbeitung des deutschen Staatsrechts eine selbständige Dogmatik geschaffen und damit die Staatsrechtslehre in Deutschland erst eigentlich begründet. Sie trennte sich sowohl vom alten Reichsstaatsrecht wie vom Privatrecht. Sie verwarf die bloße Sammlung des positiven Rechtsstoffes und grenzte die juristische Behandlung des Staatsrechts von der staatsphilosophischen Reflexion ebenso ab wie vom politischen Raisonnement. Die damit propagierte juristische Methode des Staatsrechts negiert nicht, daß der Staat die rechtlich verfaßte politische Ordnung eines sittlichen Organismus ist, sieht in dieser komplexen Größe aber keinen Boden für die das positive Verfassungsrecht erfassende System- und Begriffsbildung27 . Dies ist eine gewollte und planmäßige Beschränkung und beschreibt - wie Gerber sagte - nur "die eine Seite der Tafel". Der Dogmatik des Staatsrechts können - so Labandkeine anderen Aufgaben gestellt werden als "die gewissenhafte und vollständige Feststellung des positiven Rechtsstoffes und die logische Beherrschung desselben durch Begriffe". 28 Worin besteht nun jene normative "Seite" des Staates, die sich dafür eignet, der juristischen Konstruktion Möglichkeit und Basis zu bieten? Da diese erste Epoche der neueren Staatsrechtslehre ihren Ausgangspunkt und ihr Leitbild in der Doktrin von der Rechtspersönlichkeit des Staates hat, erhebt sie die dem Staat eigentümliche Willensmacht zum wesentlichen Gegenstand ihrer Dogmatik. Gesucht wird die Nachweisung und Abgrenzung von "Willensbeziehungen" , in denen sich die freie einheitliche Selbstbestimmung des Staates, das dem Staat als selbständiger Rechtsperson eigentümliche Willensvermögen ausdrückt. Die alten - und heute wieder als zentral begriffenen - Themen des Staatsrechts, nämlich die Fragen nach der Legitimität des Staates, nach dem Staatszweck und den Aufgaben des Staates werden nach diesem Systemgedanken aus der Staatsrechtslehre ausgeschieden. Das wissenschaftliche Interesse wendet sich der Abgrenzung von Organen und Zuständigkeiten und weiter den Rechtsformen des staatlichen Handeins ZU29 . Das Staatsrecht wird zur Lehre von der Staatsgewalt, seine erste Aufgabe ist die Feststellung der rechtlichen Grenzen der Staatsgewalt. Zu diesen rechtlichen Grenzen der Staatsgewalt, jener "Willensmacht eines persönlich gedachten sittlichen Organismus", dessen "natürliche Grundlage" das Volk ist, gehören auch die Rechte der Volksfreiheit, die Grundrechte; sie sind nicht Rechte im subjektiven Sinn, sondern Sätze des objektiven Rechts 3o • C. F. von Gerber, Grundzüge (FN 20), S. 219 ff. P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Bd. 1, 1911, Vorwort 2. Aufl., S. IX. 29 E.-W Böckenjörde, Gesetz (FN 15), S. 211ff.; P. Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates, 1967. 27

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Kein Wissenschaftsprogramm der Staatsrechtslehre hat eine so lebhafte und nachhaltige Debatte und Kritik ausgelöst, wie das methodische Prinzip des staatsrechtlichen Positivismus, zuerst in der Gerber-Laband'schen Version und ihrer gemäßigten Fortsetzung durch Gerhard Anschütz und Richard Thoma, dann in der neukantianisch inspirierten Einseitigkeit Hans Kelsens und der Reinen Rechtslehre 3l . Noch heute werden in der Dogmatik des öffentlichen Rechts wahre oder vermeintliche Restposten des Konstruktivismus in Einzelproblemen aufgespürt. Die Umwälzung der Verfassungsverhältnisse durch die November-Revolution von 1918 hat dieser Auseinandersetzung eine einschneidende Wendung gegeben und die Neubegründung des Verfassungsstaates nach 1945 mit der weitläufigen Vielfalt naturrechtlicher, wertorientierter, topischer und soziologischer Rekonstruktionen des juristischen Denkens hat eine "materiale" Verfassungsrechtslehre zur Herrschaft geführt. Doch sind die Annäherungsgräben an die Bastionen des staatsrechtlichen Positivismus durch die späteren Vorkämpfer im Weimarer Methoden- und Richtungsstreit - Heinrich Triepel 32 , Erich Kaufmann 33 , Rudolf Smend 34 und Carl Schmite 5 - schon vor dem Ende des Kaiserreichs angelegt worden 36 • Vor allem aber hatten von Anbeginn Albert Hänel 37 und - mit besonderer Überzeugungskraft - Otto von Gierke und sein Schüler C. F. von Gerber, Grundzüge (FN 20), S. 3 f., 19 ff, 34, 38. R. Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. Jh. auf das Leben in Verfassung und Verwaltung (1939), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 326/335ff.; U. Scheuner, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in der Zeit der Weimarer Republik, AöR 97, 1972, S. 349/ 359ff., 367f.; P. Badura, Die Methoden der neueren Allgemeinen Staatslehre, 1959, S. 133 ff.; W. Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, Staat 28, 1989, S. 377. 32 R. Smend, Heinrich Triepel, in: FS Gerhard Leibholz, 1966, S. 107; A. Hollerbach, Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, AöR 91,1966, S. 417. 33 R. Smend, Zu Erich Kaufmanns wissenschaftlichem Werk, in: FS für Erich Kaufmann, 1950, S. 391; P. Lerche, Erich Kaufmann +, AöR 98, 1973, S. 115; M. Friedrich, Erich Kaufmann, Staat 26, 1987, S. 23l. 34 In Memoriam Rudolf Smend, Göttinger Universitätsreden 60, 1976; E. R. Huber, Rudolf Smend, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, 1976, S. 105; K.-H. Kästner, Rudolf Smend, in: F. Elsener, Hrsg., Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 135; P. Badura, Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre. Zum Tode von Rudolf Smend, Staat 16, 1977, S. 305; A. Frhr. von Campenhausen, Rudolf Smend (1882-1975). Integration in zerrissener Zeit, in: Fritz Loos, Hrsg., Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 510; M. Friedrich, Rudolf Smend, AöR 112, 1987, S. 1; K. Hesse, Smend, Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 4, 1988, Sp. 1183. 35 H. Quaritsch, Hrsg., Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, dazu R. Schnur, Staat 27, 1988, S. 437; H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 2. Aufl., 1993. 36 St. Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 117, 1992, S. 212. 37 M. Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken, 1971; M. Stolleis, Geschichte (FN 18), S. 355 ff. 30

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Hugo Preuss 38 eine grundlegende Revision der allgemeinen Grundbegriffe des Staatsrechts gefordert. In Gierkes Lehre vom Staat als "realer Ver-

bandspersönlichkeit" erhielt die Vorstellung vom "Organismus" der Staatsperson den Wert einer juristischen Kategorie. Nicht das begriffliche System der Willensbeziehungen und die dem Staat eigentümliche Willensmacht, sondern die geschichtlich konkrete Vergemeinschaftung und der durch sie geformte Gemeinwillen werden in die Mitte des Staatsrechts gestellt. Die Stellung der parlamentarischen Volksvertretung, der Bundesstaat, die Staatsaufgaben, die Grundrechte können auf diesem Boden einen unverkürzten Platz in der Dogmatik des Staatsrechts finden. Es mag von einem ideologiekritischen Standpunkt aus einleuchtend erscheinen, daß die herrschende Doktrin der Kaiserzeit das Staatsrecht auf den Weg der Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz verwies 39 . Unter dem Blickwinkel der Dogmatik ist es jedoch paradox, daß gerade die strenge Ausrichtung auf das positive Staatsrecht zu dem Verlust an Sachbezogenheit und Orientierung an der Wirklichkeit des staatlichen Lebens führen sollte. Dieses Bild gewinnt an Differenziertheit, wenn die Behandlung der Einzelfragen des Staatsrechts betrachtet wird und nicht das abstrakt formulierte Programm dieser Schule. Ihre Stärke lag darin, daß sie Aufgabe und Notwendigkeit einer selbständigen Dogmatik und Methode der juristischen Wissenschaft vom Staatsrecht neu und unerbittlich begründete. Sie leistete damit zugleich ihren Beitrag zur Verwirklichung des Rechtsstaats und zur Sicherung der Reichseinheit4o . Ihre Schwäche ist immer wieder in dem Schlagwort des "Formalismus" zusammengefaßt worden. In der Tat hat die Schule viel Terrain preisgegeben, das nach dem Sturz des Kaiserreiches und der Monarchie mühsam der Staatsrechtslehre zurückgewonnen werden mußte.

m. 1. Die Errichtung der Weimarer Republik ließ die staatliche Identität des Reiches unberührt, durchbrach aber die Kontinuität des Verfassungsrechts 41 . Die den Neuaufbau tragenden politischen Kräfte des Weimarer 38 O. von Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien (1874), 1915; H. Preuss, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, 1889, dazu A. Hänel, Zur Revision der Methode und Grundbegriffe des Staatsrechts, AöR 5, 1890, S. 457; H. Heljritz, Allgemeines Staatsrecht, 5. Aufl., 1949, S. 86 ff.- M. Stolleis, Geschichte (FN 18), S. 359 ff. 39 E.-W Böckenjörde, Gesetz (FN 15), S. 218. 40 M. Stolleis, "Innere Reichsgründung" durch Rechtsvereinheitlichung 1866-1880, in: ehr. Starck, Hrsg., Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, S. 15/36.

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Parteiensystems brachten in der Verfassung des Deutschen Reichs vom 1l. August 1919 ein spannungsvolles Staatsbild der demokratischen und sozialen Republik zur Geltung. In der Beschreibung dieser Neukonstituierung durch Rudolf Smend klingt die neue Basis der staatsrechtlichen Dogmatik an: "In der Kompromißlinie dieses Programms und dieser Grundsätze fand sich das deutsche Volk in der Weimarer Verfassung zusammen - in der Durchführung dieses Programms soll der Staat der Weimarer Verfassung dauernd seinen Inhalt finden, sich verwirklichen". Die neue Verfassung ist - wie Smend schreibt - ein Aufruf zur Einigung in äußerer Not und innerer Zwietracht; deshalb muß sie sich in einem anderen und neuen Sinne an das deutsche Volk wenden, indem sie eine Fahne aufpflanzt, die Fahne "eines Geistes, in dem zu neuer Einheit aufgerufen wird, formuliert im Vorspruch, institutionell festgelegt in der neuen Staatsform und in den Rechts- und Kulturprinzipien des zweiten Teils 42 ." Mochte die einheitstiftende Leistung der Reichsverfassung von 1871 gerade in der Festlegung der organisatorischen Grundbedingungen des Bundes und dem weitgehenden Verzicht auf Staatsziele und Freiheitsrechte gelegen haben, so kam es nunmehr im Zuge der Aufrichtung der Demokratie und der Überwindung der Niederlage auf die materiellen Elemente und Leitlinien des Staatslebens an. Nicht Abgrenzung von Willenssphären und Befestigung von Schranken, sondern Gewährleistung von Zusammenwirken und Aufbau waren das verfassungspolitische Ziel, das auch der Staatsrechtslehre eine materiell bestimmte Dogmatik und Methode abverlangte43 . Der politische Prozeß der demokratischen Willensbildung, der durch die neuen plebiszitären Verfahren der Wahl des Reichspräsidenten und der Volksgesetzgebung eine neuartige Wirksamkeit erhalten hatte, und die umfangreichen Rechte, Programme und "Lebensordnungen" des Zweiten Hauptteils der Reichsverfassung mußten naturnotwendig die neuen Bestimmungsgründe auch des Staatsrechts werden. Noch einmal Smend: "Eine demokratische Staats- und Verfassungslehre kann nicht am formalen Staatswillen einsetzen, sondern nur am Menschen in seiner gesellschaftlichen, politischen Lage, an der Frage, was von ihm zu erwarten, was ihm zu bieten und zuzumuten sein möge 44 ." Die Vielfalt der neuen Bestrebungen und Wege des Weimarer Staatsrechts wird in kondensierender Vereinfachung auf den Gegensatz der überkomme41 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, Einleitung; E. R. Huber, Rechtsfragen der Novemberrevolution, in: FS Friedrich Schaffstein, 1975, S. 53. 42 R. Smend, in: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.August 1919, Einleitung, 1929, S. XXIV, VI. Siehe auch ders., Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, 1933. 43 St. Korioth, Erschütterungen (FN 36), S. 224, 226. 44 R. Smend, Deutsche Staatsrechtswissenschaft vor hundert Jahren - und heute, in: FS Adolf Arndt, 1969, S. 451/460.

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nen positivistischen Schule und ihrer Fortsetzungen auf der einen Seite und der die neue Lage aufnehmenden "geisteswissenschaftlichen" Richtung zusammengedrängt. Dies ist der Weimarer "Methoden- und Richtungsstreit" , der seine äußere Zuspitzung auf dem Schauplatz der Tagungen der Staatsrechtslehrervereinigung in Münster 1926 und in München 1927 fand und der sich dort an den Referaten von Erich Kaufmann zum Gleichheitssatz, von Rudolf Smend zur Meinungsfreiheit und von Hermann Heller zum Gesetzesbegriff entzündete 45 . Für die betont von Günther Holstein so genannte "geisteswissenschaftliche" Richtung der Weimarer Staatsrechtslehre, die das Staatsrecht nicht auf den Formalismus von Willensbeziehungen einschränken will, ist es die Aufgabe der staatsrechtlichen Dogmatik, die materialen Sinngehalte und Wertvorstellungen der Verfassung zu begreifen und für die "Verwirklichung" der Verfassung in der Rechtsanwendung systematisch auszuformen 46 . Der Grund der Konfrontation ist zuerst in der Sache und in unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung der Verfassung und den Inhalt der grundrechtlichen Freiheiten und Garantien zu suchen. Der Methodenstreit ist nur ein Epiphänomen des Richtungsstreits. Da es in Weimar eine Verfassungsgerichtsbarkeit des heutigen Stils nicht gab, konnte sich der Streit rein als Auseinandersetzung über Dogmatik, Methode und Juristenrecht entfalten. Die Konzentration des Blicks auf die Streitschar der geisteswissenschaftlichen oder wertorientierten Staatsrechtler ist nicht zuletzt deshalb verständlich, weil diese Gruppe und ihr methodisches Credo unter dem Grundgesetz und in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts47 lange Zeit eine dominierende Rolle gespielt hat und auch heute noch einflußreich ist. Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß in Weimar eine durchaus heterogene Gegnerschaft gegen die überkommene Staatsrechts dogmatik auftrat und daß keineswegs durchgehend der Leitgedanke in der einheitschaffenden und wertbestimmten Funktion der Verfassung gefunden wurde. Im selben 45 R. Smend, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit, in: FS Ulrich Scheuner, 1973, S. 575; M Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit, AöR 102, 1977, S. 161; U. Scheuner, Vereinigung (FN 31); V. Hartmann, Zur Staatsrechtslehre der Weimarer Verfassung, JöR 29, 1980, S. 43; K. RenneTt, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987; D. Grimm, Verfassungserfüllung - Verfassungsbewahrung - Verfassungsauflösung, in: H. A. Winkler, Hrsg., Die deutsche Staatskrise 1930-1933, 1992, S. 183; G. Robbers, Die Staatslehre der Weimarer Republik, JURA 1993, 69. 46 G. Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, AöR 50, 1926, S. 1; ders., Reichsverfassung und Staatsrechtwissenschaft, 1929; H. Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1928; G. Leibholz, Zur Begriffsbildung im öffentlichen Recht (1931), in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., 1967, S. 262; H. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984, S. 137 ff., 209 ff. 47 R. Smend, Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 26. Januar 1962, in: Das Bundesverfassungsgericht, 1963, S. 23.

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Jahr wie Rudol! Smends große Programmschrift "Verfassung und Verfassungsrecht" (1928) erschien earl Schmitts "Verfassungslehre" , die für eine politische Staatsrechtslehre der außernormativen Entscheidung eintrat 48 . In ganz anderer Weise verfocht Hermann Heller eine "wirklichkeitswissenschaftliche" Staatslehre, die dem Staat als organisierter Entscheidungsund Wirkungseinheit den Sinn des Interessenausgleichs und der Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats abverlangte. Auch diese gedankliche Linie ist heute noch in der Debatte über die Staatsaufgaben und die demokratische Willensbildung wirksam 49 . Die Konsequenzen der neuen Staatsrechtslehre lassen sich exemplarisch an dem gewandelten Verfassungsverständnis, an der Erfassung der politischen Staatsleitung und am Bedeutungswandel der Grundrechte zeigen. 2. Mit dem Übergang zur Demokratie wurde aus der Verfassung als der Schranke monarchischer Machtvollkommenheit das Grundgesetz für die gesamte staatliche Ordnung und - teils unmittelbar, teils vermittelt durch die Gesetzgebung - für das gesellschaftliche Leben 50 . Schrittweise brach sich das Prinzip des Vorrangs des Verfassungsrechts vor der Reichsgesetzgebung Bahn, auch für die Programme und Garantien der Verfassung, wie vor allem den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 109 Abs. 1 WRV)51. Die Lehre von der Allmacht des Gesetzgebers mußte dem Grundsatz weichen, daß die gesetzgebende Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist52 und daß es das Recht und die Pflicht des Richters ist, Gesetze, die für seine Entscheidung erheblich sind, auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung zu prüfen und bei Verstoß gegen die Verfassung nicht anzuwenden. Die schließlich erreichte Anerkennung des richterlichen Prüfungsrechts 53 war die folgerichtige Durchführung der neuen Qualität des Verfassungsgesetzes. 48 E.-W Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk earl Schmitts, in: H. Quaritsch (FN 35), S. 283. 49 H. Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 55,1929, S. 321; ders., Staatslehre, 1934; K. Meyer, Hermann Heller, PVS 8, 1967, S. 293; W Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, 1968; P. Badura, Methoden (FN 31), S. 190 ff. 50 E. R. Huber, Verfassungswirklichkeit und Verfassungswert im Staatsdenken der Weimarer Zeit, in: FS Gustaf Klemens Schmelzeisen, 1980, S. 126; E.-W Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: FS Rudolf Gmür, 1983, S. 7/16 ff. 51 H. Triepel, Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien, 1924; G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925; E. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3, 1927, S. 2. - Siehe den von G. Anschütz, Kommentar (FN 41), Art. 109, Anm. 2, festgehaltenen Gegenstandpunkt, der den Gleichheitssatz nach wie vor nur als Gleichbehandlungsgebot für die Rechtsanwendung gelten lassen will. 52 E. Kaufmann, Untersuchungsausschuß und Staatsgerichtshof, 1920, S. 7 ff.- W Heun (FN 31), S. 39lf. 53 R. Thoma, Das richterliche Prüfungsrecht, AöR 43, 1922, S. 267; Verhandlungen des 34. Dt. Juristentages zu Köln, 1927, Bd. 2, S. 193ff., mit dem Bericht von G.

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Gerhard Anschütz54 hielt daran fest, daß die Verfassung als Akt der Gesetzgebung, nicht aber als Ausdruck eines von der Legislative verschiedenen, ihr übergeordneten staatlichen Organisationswillen zu gelten habe; der Gedanke einer besonderen, von der gesetzgebenden Gewalt verschiedenen und ihr übergeordneten verfassunggebenden Gewalt sei dem deutschen Staatsrecht fremd. "Die Verfassung steht nicht über der gesetzgebenden Gewalt, sondern zu ihrer Disposition 55 . " Dieser Auffassung, die unter der neuen Verfassung nicht zu halten war, hat das Reichsgericht in dem Urteil vom 4. November 1925 (RGZ 111, 320) unzweideutig eine Absage erteilt und das Aufwertungsgesetz vom 16. Juli 1925 auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Gewandelt hat sich in der Weimarer Zeit nicht nur die Anschauung von dem Geltungsgrund und dem Vorrang der Verfassung, sondern auch die Vorstellung von Inhalt und Tragweite des Verfassungsrechts. Das Verfassungsrecht wurde, wie bisher, als Garant der Legalität, darüber hinaus aber auch als Quelle der Legitimität des staatlichen HandeIns, als wertbezogene und sinnstiftende Grundordnung angesehen, besonders ausgeprägt in der neuen geisteswissenschaftlichen Richtung, in anderer Weise aber auch im Dezisionismus earl Schmitts. Rudolf Smend betonte die werbende und anregende Wirkung der Verfassung als Aufruf zur Einheit und Einigung, sah ihren eigentlichen Sinn aber darin, das geltende Grundgesetz des politischen Lebens zu sein. "Die Verfassung ist die Rechtsordnung des Staats, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat (die dauernde Herstellung seiner Wirklichkeit als souveräner Willensverband), nämlich seines Integrationsprozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates, und die Verfassung ist die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses". Durch alle die Einzelregelungen der Verfassung geht der Gesamtsinn hindurch, das deutsche Volk in den politischen Lebensformen des Ersten Teils, in der Verwirklichung des sachlichen Programms des Zweiten Teils immer von neuem zu einer politischen Einheit werden zu lassen 56 . Smend wendet seine Aufmerksamkeit zuerst der die Verfassungswerte verwirklichenden Prozeßhaftigkeit der Demokratie zu. Geringere VeranH. Maurer, Das richterliche Prüfungsrecht zur Zeit der Weimarer Verfassung, DOV 1963, 683; P. Badura, Richterliches Prüfungsrecht und Wirtschaftspolitik, in: FS Ludwig Fröhler, 1980, S. 321/328 ff. 54 E. Forsthoff, Gerhard Anschütz, Staat 6,1967, S. 139; G. Anschütz, Aus meinem Leben, eingel. und hrsg. von w: Pauly, 1993. 55 G. Meyer/G. Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., Dritter Teil, 1919, S. 743f.; G. Anschütz, Kommentar (FN 41), Art. 70, Anm. 4, 5, Art. 76, Anm.l. 56 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Abhandlungen (FN 31), S. 187 ff., 189,241 f.; ders., Verfassung (FN 42), S. XXV f.

Anschü~z;

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schaulichung wird den Realitätsbedingungen der geforderten dauernden Herstellung des staatlichen Willensverbandes zuteil, dem also, was Heller als die organisierte Entscheidungs- und Wirkungs einheit zu beschreiben suchte57 . Dieses politische Moment des Verfassungssinns wird demgegenüber mit einseitiger Schärfe von Carl Schmitt entwickelt, der das leitende Prinzip in der vornormativen verfassunggebenden Gewalt sieht, jenem "Grenzbegriff des Verfassungsrechts 58 :" Die Verfassung ist "Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit 59 ;" Integrationslehre wie Dezisionismus führen somit zu der dogmatisch fundamentalen Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz.

Carl Schmitt wandte sich gegen den nur "formalen" Verfassungsbegriff, der es dem verfassungsändernden Gesetzgeber überließ, das Verfassungsgesetz in allen seinen Normen und Inhalten zu ändern, sofern nur die verfassungsgesetzlichen Verfahrensregeln eingehalten würden. Dem setzte Schmitt den "positiven" Verfassungsbegriff entgegen, der die politische Grundentscheidung des Verfassunggebers dem Zugriff des pouvoir constitue entzog60 . Die rein normative Betrachtung wird so verworfen, um eine scheinlegale Auflösung oder substantielle Änderung der Verfassung zu verhindern 61 . Zugleich wird damit auch eine differenzierende Deutung der Rechte und Programme des Zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung ermöglicht. Die Auslegungsgedanken der Institutsgarantie für Rechtseinrichtungen des bürgerlichen Rechts, z. B. das Eigentum, und der institutionellen Garantien öffentlich-rechtlicher Art, z. B. des Berufsbeamtenturns, erfaßten objektive Gewährleistungsgehalte jenseits der subjektiven Rechtszuweisungen 62 • Die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung erhält dadurch normative Kraft. Die materiellen Schranken der Verfassungsänderung in Art. 79 Abs. 3 GG und die Wesensgehaltsgarantie für die Grundrechte in Art. 19 Abs. 2 GG haben diese Gedanken ausdrücklich zu Verfassungsnormen erhoben. 57 Smends Schüler Konrad Hesse strebt die Verbindung beider Linien an; siehe dessen Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl., 1991, RNr. 4. 58 E.-W Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986. 59 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 20ff.- Siehe auch C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931; ders., Legalität und Legitimität, 1932. 60 C. Schmitt, Verfassungslehre (FN 59), S. 23f., 29, 103; ders., Legalität (FN 59), S. 51 f., 61 (unter Bezugnahme auf Hauriou).- H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953. 61 E. R. Huber, Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt, Blätter für Deutsche Philosophie 5, 1931, S. 302/305. 62 C. Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: G. Anschütz/R. Thoma, HDStR Bd. 2, 1932, S. 572.- Siehe schon M. Wolf!, Reichsverfassung und Eigentum, in: Berliner FS Kahl, 1923; H. Triepel, Goldbilanzenverordnung (FN 51).

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3. Die neue Richtung der staatsrechtlichen Dogmatik erkannte den "politischen" Charakter des Verfassungsrechts und prüfte demgemäß, inwieweit politische Fragen zugleich Rechtsfragen sein und als solche richterlicher Beurteilung und Entscheidung in Verfassungsstreitigkeiten anvertraut werden können 63 . Diese Fragestellung wurde nach dem Kriege sogleich wieder aufgenommen 6\ hatte nun angesichts der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts eine eminente praktische Bedeutung und ist bis heute ein zentrales Thema des Staatsrechts 65 .

Die neue Richtung des Staatsrechts richtete ihr Augenmerk folgerichtig weiter auf die politischen Faktoren und Kräfte, die den verfassungsrechtlich geordneten demokratischen Prozeß bestimmen. Der staatsgestaltende Charakter der Parteien in der parlamentarischen Demokratie wurde früh erkannt 66 , die "Polykratie" der organisierten Interessen dagegen in Abweisung korporativer und berufsständischer Bestrebungen als eine Gefährdung der institutionellen Staatlichkeit kritisiert. Gerhard LeibhoZz 67 , anders als sein Lehrer TriepeZ 68 , entwickelte die Grundgedanken seiner Doktrin des "massendemokratischen Parteienstaates".69 Dennoch erschien auch und gerade die Stellung des Reichspräsidenten als der dominierende Faktor für die Organisation und Wirkungsweise der Reichsgewalt. Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten (Art. 48 Abs. 2 WRV) ebenso wie dessen Vollmachten der Reichsaufsicht über die Länder (Art. 48 Abs. 1 WRV) wurde in der Krise der Kern der Verfassungsinstitutionen.

63 H. Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927; ders., H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5, 1929; C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931.- U. Scheuner, Vereinigung (FN 31), S. 359f., 367 f. 64 E. Kaufmann/M. Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9, 1952; O. Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959; ders., Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, Universitas 21, 1966, S. 137; G. Leibholz, Verfassungsrecht und Arbeitsrecht, in: A. Hueck/G. Leibholz, Zwei Vorträge zum Arbeitsrecht, 1960, S. 21. 65 H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, 1968; K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980; K. Korinek/J. P. Müller / K. Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39, 1981. 66 E. Kaufmann, Die Regierungsbildung in Preußen und im Reiche und die Rolle der Parteien (1921), in: ders., Gesammelte Schriften, 1960, Bd. 1, S. 374; G. Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, HDStR Bd. 1, 1930, S. 285. . 67 H. H. Klein, Gerhard Leibholz (1901-1982). Theoretiker der Parteiendemokratie und politischer Denker - ein Leben zwischen den Zeiten, in: F. Loos, Rechtswissenschaft (FN 34), S. 528; ehr. Link, Hrsg., Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982. 68 H. Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1928. 69 G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 3. Aufl., 1966 (Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert); ders., Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen, VVDStRL 7,1932, S. 159. 10·

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Die Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus führte zur" Wiederentdeckung der Regierungsfunktion"7o. Die politische Leitungs- und Gestaltungsaufgabe der Spitze der Exekutive wurde vom Ermessen der Verwaltung unterschieden und als eine selbständige Größe innerhalb der vollziehenden Gewalt erfaßt. Die Regierungsgewalt ist - mit den Worten Smends - der Bereich des StaatshandeIns, "der in den Kreis der Politik fällt, d. h. in dem der Staat sich und sein Wesen bestimmt und durchsetzt,,71. Dieser Begriff der Staatsleitung, der sich auf das Ganze des Staates, auf die staatliche Selbstbestimmung und politische Zielsetzung richtet, verläßt die normative Unterscheidung und Trennung der Gewalten; denn auch die Gesetzgebung ist im Hauptpunkt Staatsleitung und Gestaltung 72 . Johannes Heckel zeigte für die Haushaltsgesetzgebung, daß sie zwar die rechtsstaatliche Gewaltenteilung voraussetzt, aber letztlich dem demokratischen Formkreis staatlichen HandeIns entspringt; er erkennt das Haushalts gesetz als "staatsleitenden Gesamtakt,,73. 4. Die Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung, die in der Weimarer Zeit bald Anerkennung fand, mußte die Bedeutung der Grundrechte verändern. Die Reichsverfassung von 1871 hatte aus bundesstaatsrechtlichen Gründen auf einen Grundrechtskatalog verzichtet. Die rechtsstaatlichen Freiheitsgarantien, in denen das damalige Staatsrecht nur eine Schranke der Exekutive sah, wurden durch die Reichsgesetzgebung gewährleistet74 . Die Verfassungen der Bundesstaaten, allen voran die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, enthielten Grundrechtskataloge des klassischen Zuschnitts 75. Die Wendung der Grundrechte gegen die Gesetzgebung, sei es als Abwehrrechte, sei es als objektivrechtliche Garantien, sei es als programmatische Aufträge und Direktiven, war ein Grund für den Bedeutungswandel der Grundrechte unter der Weimarer Reichsverfassung. Der andere Grund, sachlich bedeutsam und von durchaus tiefgreifenderem Gewicht, war die seit dem Kriege zunehmend umfassender gewordene und mit dem Übergang W. Mößle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 96 ff. R. Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform, in: FS Wilhelm Kahl, 1923, Teil 3. 72 U. Scheuner, Der Bereich der Regierung, FS Rudolf Smend, 1952, S. 253; ders., Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, FS Rudolf Smend, 1962, S. 225; E. R. Huber, Verfassungswirklichkeit (FN 50), S. 130; P. Badura, Parlamentarismus und parteienstaatliche Demokratie, FS Karl Michaelis, 1971, S. 9. 73 J. Heckel, Einrichtung und rechtliche Bedeutung des Reichshaushaltsgesetzes, HDStR Bd. 2, 1932, S. 374/386 ff. 74 E. R. Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, in: FS Ulrich Scheuner, 1973, S. 163; U. Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jh., FS Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 139. 75 G. Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat, 1912. 70 71

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zur Demokratie zum Wesensmerkmal des Staates gewordene Wohlfahrtverantwortung und soziale Gestaltungsaufgabe. Die Förderung des "gesellschaftlichen Fortschritts" und die "Grundsätze der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle", zu denen sich die Reichsverfassung bekannte, verkündeten eine Neubestimmung der Freiheit des einzelnen. Die Wandlung der Staats aufgaben - auch der Rechtfertigung und Legitimität politischer Herrschaft - war und ist notwendig mit einem Inhalts- und Bedeutungswandel der Grundrechte verbunden. Wohlfahrt, Arbeit und soziale Sicherheit als Ziele sozialer Garantien und Rechte und als Kriterien der Sozialbindung der grundrechtlichen Freiheiten drängen das Prinzip "Freiheit und Eigentum" zurück. In antithetischer Zuspitzung wurde dazu gesagt, daß die im Staat sich selbst organisierende Gesellschaft auf dem Wege sei, aus dem neutralen Staat des liberalen 19. Jh. in einen potentiell "totalen" Staat überzugehen 76. Beide Entwicklungslinien - die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte und die Umorientierung der Staatsaufgaben im Sinn einer umfassenden Verantwortung der staatlichen Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit - haben eine neue Dogmatik der Grundrechte entstehen lassen 77 . Die "den grundrechtlichen Sätzen innewohnenden normativen Kräfte" und die Funktionen, die die grundrechtlichen Normen im Gesamtbau des deutschen Verfassungssystems erfüllen 78, waren unter den neuen Bedingungen zu analysieren. Die damals entwickelten Rechtsauffassungen bildeten und bilden einen fruchtbaren Fundus der Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz 79.

IV. 1. Während für den Fortgang der Dogmatik vom Bismarckreich zur Weimarer Republik mit gutem Recht von einem "Wandel" gesprochen werden kann, ist der - das Dritte Reich übergehende - Weg von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik besser als Weiterentwicklung zu kennzeichnen. Die Geschichte des Staatsrechts der Bundesrepublik in den jetzt mehr als vier Jahrzehnten ihres Bestehens ist eine eigene Forschungsaufgabe. Der C. Schmitt, Der Hüter (FN 63), S. 78 ff.; E. R. Huber, Verfassung (FN 61), S. 312. A. Hensel, Grundrechte und Rechtsprechung, in: FS Reichsgericht, 1929, Bd. 1, S. 1; R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: H. C. Nipperdey, Hrsg., Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, 1929, S. 1; C. Schmitt, Inhalt und Bedeutung (FN 62); E. R. Huber, Bedeutungswandel der Grundrechte, AöR n.F 23, 1933, S.l. 78 R. Thoma, Bedeutung (FN 77), S. 3. 79 Meinen Assistenten Susanne Pfab und Michael Hinterdobler bin ich für ihre Hilfe bei der Vorbereitung der Abschnitte lI-lII sehr zu Dank verbunden. 76 77

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Stoff ist überwältigend; er ist inzwischen in fortlaufend ergänzten vielbändigen Handbüchern und Großkommentaren kondensiert 8o . Ein dogmatisch anspruchsvoller Leitfaden sind Konrad Hesses "Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland" (1967, 18. Aufl., 1991).

Werner Weber schrieb am Beginn einer ersten Würdigung der neuen Verfassung: "Im Bonner Grundgesetz gelangt die Weimarer Verfassung zwiespältig zu neuer Wirkung", und meint dann: "Gewiß ist der allgemeine Rahmen der Weimarer Verfassung übernommen, und wesentliche neue Verfassungskonzeptionen sind nicht hinzugetreten". Werner Weber kritisiert die zu starke Fixierung auf die Weimarer Reichsverfassung, sowohl in dem was übernommen wie auch in dem was verworfen wurde. Er sagt: "Wie die geisterhafte Erscheinung eines nach verfehltem Leben unglücklich Abgeschiedenen hat die Weimarer Verfassung die Bonner Beratungen erfüllt und bedrückt 81 ." Deutlich weniger kritisch zu dem Werk des Parlamentarischen Rates äußerte sich Hans Peter Ipsen in seiner Hamburger Universitätsrede "Über das Grundgesetz"82. Er unterstreicht, neben anderem, die Entscheidung des Grundgesetzes für den sozialen Rechtsstaat und die demokratische Legitimität des Grundgesetzes. Das Lob für die Stärkung des Rechtsstaates, der Grundrechte und der rechtsprechenden Gewalt wird verbunden mit einem Tadel, weil das Grundgesetz sich in dem Punkt der sozialen Staats aufgaben mit einer "Staatszielbestimmung" - hier hat dieser heute viel benutzte Begriff seinen Ursprung - begnügt habe 83 . Das Grundgesetz ist seit seinem Inkrafttreten über vierzigmal geändert worden. Es konnte neuen Bedürfnissen und Erfordernissen angepaßt werden, ohne daß seine Substanz berührt wurde. Die Staatspraxis, an erster Stelle die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, hat Zweifelsfragen geklärt, das Verfassungsrecht fortgebildet und hauptsächlich die Grundrechte in eine wirkungsmächtige Richtschnur der gesamten Rechtsordnung verwandelt. Die Bilanz, die vierzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes gezogen wurde, war überwiegend positiv84 . Das Grundgesetz hat sich als erfolgreiche Verfassung bewährt. 80 Th. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz, 1958fi., 6. Auf!. 1983ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1977 fi., Bd. 1,2. Auf!. 1984; E. Benda/ W. Maihofer/H.-J. Vogel, Hrsg., Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, 2. Auf!. 1994; J. Isensee/P. Kirchhof, Hrsg., Handbuch des Staatsrechts, 1987 fi. 81 W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 1951, 3. Auf!., 1970, S. 9. 82 H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1949. 83 Siehe auch die lebhafte Betonung des Sozialstaatsprinzips: H. P. Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL 10, 1952, S. 74. 84 40 Jahre Grundgesetz, Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität FreiburglBr., 1990; K. Stern, Hrsg., 40 Jahre Grundgesetz, 1990; R. Mußgnug, Hrsg., Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz,

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Neuerungen und Veränderungen des Verfassungsrechts haben nicht notwendig eine Wandlung der Dogmatik des Staatsrechts zur Folge. Drei Punkte sind jedoch festzuhalten, in denen die Weiterentwicklung der Dogmatik des Staatsrechts unter dem Grundgesetz greifbar ist. Die Weimarer Kontroversen über Sinn und Nutzen einer Verfassungsgerichtsbarkeit flammten zunächst unter der Thematik der Methoden der Verfassungsinterpretation wieder auf 85 . Sie sind inzwischen übergegangen in Auseinandersetzungen über die Funktion der Verfassung und die richterrechtliche Fortbildung des Verfassungsrechts 86 . Die Verfassungsnorm über die Demokratie als Staatsform der Bundesrepublik ist - zweitens - zu einem "Demokratieprinzip" fortgeführt worden, das als ein Verfassungsauftrag für die Gesetzgebung erscheint. Nach diesem Richtmaß wird die freie politische Meinungs- und Willensbildung als Formprinzip für die Ausgestaltung von Freiheitsrechten und des Parteiensystems herangezogen. Weiter wird im Rahmen der "Wesentlichkeitstheorie" die demokratische, d. h. auf die Position der Volksvertretung bezogene Funktion des Gesetzes dahingehend zum Verfassungsgebot ausgebaut, daß alle für die Ausübung der Grundrechte "wesentlichen" Regelungen durch Gesetz getroffen werden müssen und nicht der Verordnungsgewalt oder der Einzelfallentscheidung der Exekutive überlassen werden dürfen. Die dem Grundsatz nach der politischen Gestaltungsfreiheit der parlamentarischen Gesetzgebung zukommende Entscheidung über Art, Maß und Zeitpunkt der Erfüllung der Staatsaufgaben wird - drittens - zunehmend durch die Entwicklung materieller Verfassungsgrundsätze eingeschränkt, die Pflichten der Gesetzgebung zur Folge haben. Diese Tendenz wird verfas1990; D. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 1989, S. 1305; H. P Ipsen, 40 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, JöR 38, 1989, S. 1; P Kirchhof, Gegenwartsfragen an das Grundgesetz, JZ 1989, S. 453; W-R. Schenke, 40 Jahre Grundgesetz, JZ 1989, S. 653; H. Sendler, 40 Jahre Rechtsstaat des Grundgesetzes: Mehr Schatten als Licht? DÖV 1989, S. 482; R. Zuck, 40 Jahre Grundgesetz, MDR 1989, S. 418; H.-ehr. Link/G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48, 1990; Der Richter und 40 Jahre Grundgesetz, Justiz und Recht, Schriften der Deutschen Richterakademie, Heft 7,1991; G. Schröder/ H.-P Schneider, Hrsg., Soziale Demokratie - Das Grundgesetz nach 40 Jahren, 1991. 85 E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, FS earl Schmitt, 1959, S. 35; A. Hollerbach, Auflösung der rechts staatlichen Verfassung? AöR 85, 1960, S. 241; P Schneider/Ho Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20,1963. 86 D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97, 1972, S. 489; 1. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl., 1976; F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976; E.-W Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2089; B. Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Staat 19, 1980, S. 73; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982; G. Winkler, Studien zum Verfassungsrecht. Das institutionelle Rechtsdenken in Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, 1991.

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sungspolitisch dadurch verstärkt, daß eine Ergänzung des Grundgesetzes durch Staatszielbestimmungen gefordert wird. Die damit eintretende Bindung der Politik zugunsten der diese Bindungen durchsetzenden Rechtsprechung bedeutet eine Verschiebung innerhalb des Gewaltenteilungssystems und eine Modifikation der parlamentarischen Demokratie 87 . 2. In einem für die parlamentarische Demokratie zentralen Moment ist das Grundgesetz über die Weimarer Reichsverfassung hinausgegangen. Durch Art. 21 GG sind die politischen Parteien verfassungsrechtlich "institutionalisiert" worden, ist also ihre Rolle in der parlamentarischen Demokratie ausdrücklich anerkannt und sind dementsprechend ihre besonderen Rechte und Pflichten bei der Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes staatsrechtlich festgelegt worden. Welche Folgerungen allerdings aus dem Prinzip der Parteiendemokratie für die Parteienfinanzierung und die Zulässigkeit oder Notwendigkeit staatlicher Zuschüsse für die Tätigkeit der Parteien zu ziehen sind, ist bis heute umstritten; das Bundesverfassungsgericht hat dazu nur eine mehrmals geänderte Linie vorzeichnen können 88 • Die Praxis der Parteiendemokratie und der ubiquitäre Monopolanspruch der Parteien im Prozeß der politischen Meinungs- und Willens bildung ist eine zu Recht mit Intensität analysierte und debattierte Grundsatzfrage des demokratischen Verfassungsstaates 89 • Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Thema durch eine strenge Praktizierung der wahlrechtlichen Chancengleichheit, aber auch durch eine extensive Auslegung der Grundrechte der freien Meinung, der öffentlichen Meinungsbildung und der Medien vorangetrieben. In der aufsehenerregenden Brokdorf-Entscheidung90 hat es dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit die Funktion eines Gegengewichts gegen die Mediatisierung des Staatsbürgers durch die politischen Parteien zugewiesen 91 . Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird dadurch eine fundamentaldemokratische Dimension der Partizipation abgewonnen, eine Art kompensatorische Teilhabe an wichtigen politischen Entscheidungen. Darin deutet sich eine neue Stufe der Dogmatik des Staatsrechts an. Es ist ein Schritt von großer Tragweite, wenn die Grundrechte der politischen Freiheit in Rücksicht auf die Bedeutung der durch sie ge87 P. BaduralJ. H. Kaiser, Parlamentarische Gesetzgebung und Geltungsanspruch des Rechts, 1987. 88 BVerfGE 20, 56; 24, 300; 52, 63; 73,40; 85, 264. 89 M. StolleislH. SchäferiR. A. Rhinow, Parteienstaatlichkeit. Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats? VVDStRL 44, 1986; H. P. Ipsen, 40 Jahre Grundgesetz (FN 84), S. 15 ff. 90 BVerfGE 69, 315. Dazu P. Badura, Die politische Freiheit in der Demokratie, in: FS Helmut Simon, 1987, S. 193. 91 D. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 1989, S. 204 ff., 13051 1308.

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schützten Verhaltensweisen für den politischen Prozeß nicht nur - wie bisher - als für die Demokratie konstitutive Freiheitsrechte angesehen werden, sondern vielmehr als Rechte, die zu den unentbehrlichen "Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens" gehören. Das Freiheitsrecht tritt damit in Konkurrenz zu den Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren der verfaßten Staatlichkeit. 3. Mit besonderer Betonung und Bekräftigung hat das Grundgesetz das Rechtsstaatsprinzip ausgesprochen und ausgestaltet. Charakteristisch ist die weitreichende Bedeutung, die sich aus dem Grundrechtskatalog und der ausgreifenden Entfaltung der grundrechtlichen Freiheiten und Garantien durch das Bundesverfassungsgeriche2 für die normative Kraft des Rechtsstaats ergibt, die sachlich zwingende Verbindung mit der sozialen Staatsaufgabe und der ungewöhnlich intensive Ausbau des Rechtsschutzes und der Verfassungsgerichtsbarkeit 93 . In der Weimarer Zeit war Hermann Heller in seinem Referat über den Gesetzesbegriff für ein materiales Verständnis des Rechtsstaates eingetreten 94 . Zum Rechtsstaat, der danach als sozialer Rechtsstaat zu verwirklichen ist, gehört über die Legalität des Staatshandelns hinaus auch die Sicherung materieller Freiheit und Selbstbestimmung. Die Gründe Triepels dagegen, den Rechtsstaatsbegriff durch die Beifügung von Prädikaten - wie "liberal" oder "bürgerlich" - ideologisch festzulegen und so zu relativieren 95 , haben ebensowenig durchschlagen können, wie später Forsthoffs These, daß sich Rechtsstaat und Sozialstaat auf der Ebene des Verfassungsrechts nicht verbinden ließen 96 . Der Hinweis auf das "Soziale" kennzeichnet die materialen Elemente des Rechtsstaates, mit denen die unter den Bedingungen der massendemokratischen Industriegesellschaft notwendige Daseinsverantwortung der staatlichen Gemeinschaft gesichert werden soll. Auf der anderen Seite soll der Sozialstaat als Rechtsstaat - über die Legalität des sozialgestaltenden Interventionismus hinaus - die individuelle Freiheit und Daseinsverantwortung gewährleisten97. Damit tritt wiederum der Zusammenhang des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte zu Tage. Gegen den Gesetzgeber gewendet erweisen sie 92 K. Hesse, Grundlinien der verfassungsrechtlichen Ordnung und ihrer Fortbildung, in: 40 Jahre Grundgesetz, Ringvorlesung (FN 84), S. 9 ff. 93 E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, FS Adolf Arndt, 1969, S. 53. 94 Hierzu und zum folgenden: U. Scheuner, Vereinigung (FN 31), S. 358 f. 95 H. Triepel, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 7, 1932, S. 194/196 f. 96 E. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12, 1954, S.8. 97 E.-W Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973.

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sich auch als Garantien von Organisation und Verfahren, z. B. bei der Wissenschaftsfreiheit in der Universität, der Rundfunkfreiheit oder der Ausformung eigentumsbeeinträchtigender Verwaltungsverfahren, und als Basis staatlicher Schutzpflichten, z. B. für Leben und körperliche Unversehrtheit gegenüber technischen Großanlagen. Die fortschreitende Expansion der Schutz- und Garantiegehalte, die sich aus dem Auslegungsgedanken der objektiven Gewährleistung ableiten lassen, für die Gesetzgebung, aber auch für den Privatrechtsverkehr, verdichtet sich für die einzelnen Teile der Rechtsordnung mehr oder weniger zu einer kodifikatorischen Wirkung der Grundrechte. Ein einprägsames Beispiel dafür ist die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG)98. Diese vielgestaltige Bindungs- und Durchdringungskraft der Grundrechte ist das Werk des Bundesverfassungsgerichts; die Staatsrechtslehre war in einigen Gedanken antizipierend, z. B. in Peter Lerches Lehren vom Übermaßverbot und der subtilen Abgrenzung und Bändigung der Ausgestaltung von Grundrechten durch Gesetz 99 , überwiegend aber kommentierend und explizierend. Die rechts bildende und rechtsfortbildende Vollmacht des Verfassungsgerichts tritt kraft der Doktrin von den Grundrechten als Grundsatznormen in eine verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch ständig zu überprüfende Konkurrenz mit der Gesetzgebungsgewalt des volksgewählten Parlaments. Das ist ein Kernthema der heutigen Dogmatik des Staatsrechts lOO . 4. Es liegt auf der Hand, daß das Bundesverfassungsgericht eine dominierende Rolle bei der Auslegung und Fortbildung des Verfassungsrechts spielt und nach der Intention des Grundgesetzes spielen soll. Die Grenze zu dem nicht gewollten gouvernement des juges muß um so genauer beobachtet werden, als das Gericht bis zu einem gewissen Grad über das Vorhandensein, den Inhalt und die Eng- oder Weitmaschigkeit seiner Prüfungsmaßstäbe selbst verfügt101. Das Bestreben, "funktionelle Grenzen" der Verfassungsgerichtsbarkeit aufzurichten 102 , bleibt wenig berechenbar. Die Konsequenzen für die Normenkontrolle sind seit langem verfolgt worden. In der neueren Zeit ist die verfassungsrichterliche Zensur der abschätzig so genannten "Fachgerichte"103 zunehmenden Zweifeln und berechtigter Kritik ausgesetzt. 98 P. Lerche, Zur Bindung der Tarifnonnen an Grundrechte, insbesondere an das Grundrecht der Berufsfreiheit, FS Ernst Steindorff, 1990, S. 897. 99 P. Lerche, Übennaß und Verfassungsrecht, 1952. 100 E.- W. Bäckenfärde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989; ders., Grundrechte als Grundsatznonnen, Staat 29, 1990, S. 1. 101 M. Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9, 1952, S.17/90ff. 102 G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980; K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS für Hans Huber, 1981, S. 261.

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Weniger beachtet ist, daß das Bundesverfassungsgericht mit den Rechtsauffassungen, die es als tragende Entscheidungsgründe, d. h. praktisch als bindende Präjudizien ausspricht, der Dogmatik des Staatsrechts die wesentlichen Impulse und Leitlinien liefert 104 • Anders als in Weimar ist damit der richterrechtliche Anteil an der Dogmatik des Staatsrechts weitaus bedeutsamer als der Anteil des Juristenrechts.

v. 1. Die Dogmatik des Staatsrechts ist bisher unter dem Blickwinkel des deutschen Nationalstaates und dessen Verfassungsentwicklung betrachtet worden. Die Prinzipien und Denkfiguren der Staatsrechtslehre haben sich ungeachtet vielfältiger Anregungen und Einflüsse der europäisch-kontinentalen und der angloamerikanischen Rechtswissenschaft - im Rahmen der geschichtlichen Konkretheit des Staates geformt. Verfassung und Verfassungsrecht, wie wir sie heute vor uns sehen, sind überhaupt als Institutionen des Nationalstaates ausgebildet worden.

Diese Lage ändert sich in dem Maße, wie der Nationalstaat für sich allein nicht mehr befähigt ist, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die soziale Daseinssicherung und die politische Sicherheit zu gewährleisten. Die europäische Integration ist der Weg, der unter Beteiligung Deutschlands eingeschlagen worden ist, um durch neuartige Gestaltungen der Zusammenarbeit und der Koordination den Aufgaben gerecht zu werden, die staatlich nicht mehr gelöst werden können. Diese überstaatliche Föderation hat, soweit absehbar, nicht die Eigenart des Bundesstaates überkommenen Zuschnitts. Die schon bisher eingetretene und fortschreitende "normative Verklammerung" des europäischen Rechts und des nationalen Verfassungsrechts 105 gewinnt mehr und mehr Züge einer neuartigen europäischen Verfassungsordnung 106 ; der neue Art. 23 GG will dieser Entwicklung Rechnung tragen 107 . 103 G. F. Schuppen, Zur Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, AöR 103, 1978, S. 43; w.-R. Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, 1987; R. Herzog, Das Bundesverfassungsgericht und die Anwendung einfachen Gesetzesrechts, in: FS Günter Dürig, 1990, S. 43l. 104 P. Badura, Die Bedeutung von Präjudizien im öffentlichen Recht, in: U. Blaurock, Hrsg., Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 49.- Siehe auch M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl. 1976. 105 BVerfGE 73, S. 339/368, 384. 106 Zu den ersten Monographien des europäischen Verfassungsrechts gehören: W. von Simson/J. Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz. Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht, 1992; H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993.- U. Everling, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS Karl Doehring, 1989, S. 179; ders., Reflexions on

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Die fortschreitende europäische Integration hat einen Wandel der Dogmatik zur Folge, der heute erst in Umrissen erkennbar wird. Die Institutionen der parlamentarischen Demokratie, Regierung und Gesetzgebung, die bundes staatliche Ordnung, die Staatsziele und die rechtsstaatlichen Garantien werden den neuartigen Prinzipien und Einrichtungen des föderativ vereinten Europas anzupassen sein. 2. Mit der Einfügung des neuen Europa-Artikels (Art. 23) in das Grundgesetz durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I s. 2086) ist ein wesentlicher Teil der Verfassungsreform, deren Vorbereitung seit der Wiedervereinigung im Gange ist, vorweggenommen worden. Durch den Beitritt der DDR und den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 ist das Grundgesetz zur Verfassung des wiedervereinigten Deutschland geworden. Die dadurch bedingten staatlichen und politischen Veränderungen sind noch nicht abgeschlossen. Den unmittelbar beitrittsbedingten Novellierungen des Grundgesetzes sind in Art. 5 des Einigungsvertrages Empfehlungen für "künftige Verfassungsänderungen " beigefügt worden. Diese Empfehlungen haben eine den Anlaß weit hinter sich lassende Reformdebatte 108 ausgelöst, die in der von Bundestag und Bundesrat eingethe Structure of the European Union, Common Market Law Review 29, 1992, S. 1053; ders., Die Stellung des Bürgers in der Europäischen Gemeinschaft, ZfRV 1992, 241; J. Abr. Frowein, Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, in: J. Schwarze, Hrsg., Europa 1992. Markt, Staat, Gemeinschaft, EuR Beiheft 1, 1992, S. 63; G. Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, JuS 1992, 985; W von Simson, Die künftige Rolle des Staates in der EG, in: J. Schwarze, Hrsg., Europa 1992 aaO., S. 37; Th. Oppermann/Cl. Classen, NJW 1993, S. 5; J. H. Kaiser/P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23, 1966; P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und föderativer Verfassungsprinzipien der in Europa verbundenen Staaten, ZSR n.F. 10911, 1990, S. 115; ders., Die Verfassung des Bundesstaates Deutschland in Europa, 1993. 107 Gesetzentwurf der BReg, BTag Drucks. 1213338; Beschlußempfehlung und Bericht des Sonderausschusses ,,,Europäische Union (Vertrag von Maastricht)" , BTag Drucks. 12/3896.- P. M. Schmidhuber/G. Hitzler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag - ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer föderalen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, NVwZ 1992, S. 720; P. Wilhelm, Europa im Grundgesetz: Der neue Artikel 23, BayVBl. 1992, S. 705.- Siehe auch die 1. Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 22.5. 1992 betr. "Grundgesetz und Europa" . 108 D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991; V. Guggenberger/T. Stein, Hrsg., Die Verfassungs diskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991; H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen? DVBl. 1991, S. 729; L. Menz, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland - zur Diskussion um eine Verfassungsreform, VBlBW 1991, 401; G. Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz? NJW 1991, 2441; W Graf Vitzthum, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen morgen - Landesverfassungsgebung und Grundgesetzreform, ZAR 22, 1991, S. 695; Chr. Degenhart, Direkte Demokratie in den Ländern - Impulse für das Grundgesetz? Staat 31,1992, S. 17; F. Ossenbühl, Probleme der Verfassungsreform in der Bundesrepublik Deutschland, DVBl. 1992, 468; R. Scholz, Aufgaben und Grenzen einer Reform des Grundgesetzes, in:

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setzten Gemeinsamen Verfassungskommission ein formalisiertes Forum gefunden hat. Die Breite der dort auftretenden Themen und Bestrebungen wird voraussichtlich in keinem Verhältnis zu den zu erwartenden Vorschlägen der Kommission für Änderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes stehen. Insbesondere die weitläufigen Projekte für plebiszitäre Verfahren und für Staatszielbestimmungen werden die erforderlichen Mehrheiten nicht finden 109 . Für die Dogmatik des Staatsrechts wesentliche Verschiebungen werden insgesamt nur im Bereich des Bundesstaates llo und im Hinblick auf die europäische Integration eintreten. 3. Der lange Weg der Dogmatik des Staatsrechts vom Bismarckreich über die Weimarer Republik zur Bundesrepublik an der Schwelle der Europäischen Union hat gezeigt, welche Leistung an Durchdringung, Verstehen und Vermittlung des positiven Rechts und für die Staatspraxis erreicht worden ist. Die rasende Expansion der Staatstätigkeit, der Umbruch des Verfassungslebens durch die europäische Integration und die Notwendigkeit, die politische Kraft von Regierung und Gesetzgebung unter den Bedingungen der demokratischen Massengesellschaft und des sich entstaatlichenden politischen Prozesses zu gewährleisten, müssen durch die Staatsrechtslehre für ihr besonderes Wirkungsfeld aufgenommen werden. Die systematisch angelegte, auf Prinzipien gegründete und theoretisch weiterdenkende Staatsrechtslehre gibt dem Stoff des positiven Rechts, den sachbezogenen Rechtsgrundsätzen und Rechtsinstituten Form und Gestalt. Die Kriterien der Vernunft und Gerechtigkeit und die Bedingungen staatlicher Ordnung können nicht abstrakt erdacht werden. Sie sind in der Rechtswissenschaft durch die "Vermittlung des Gesetzes mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein" (LaTenz), im Staatsrecht durch die Vermittlung der Verfassung mit den Zielen und Werten des politischen Lebens zu gewinnen. Dies ist der Dogmatik des Staatsrechts früher und jetzt als Aufgabe gestellt.

FS Peter Lerche, 1993, S. 65; P. Badura, Die Verfassungsfrage im wiedervereinigten Deutschland, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1991/92, 1991, S. 27; ders., Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz und die Reformfrage, ThürVBl. 1992, 73; ders., Thesen zur Verfassungsreform, in: FS Konrad Redeker, 1993. 109 Seit Arnold Köttgens Entdeckung des "sozialen Bundesstaates" (FS Muthesius, 1960, S. 19) sind die unitarischen Schubkräfte des Sozialstaats ein nachhaltiges Thema der Bundesstaatsreform; siehe E.-W Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in: FS Friedrich Schäfer, 1980, S. 182. 110 Siehe die Verhandlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission in der 6. Sitzung am 14. 5. 1992 zu den TagesordnungspunkteJ?; BürgerbeteiligunglPlebiszite und Staatsziele und sonstige Grundrechte sowie die 2. Offentliche Anhörung "Staatsziele und Grundrechte" am 16. 6. 1992 und die 3. Öffentliche Anhörung "Bürgerbeteiligung und Plebiszite" am 17. 6. 1992.

Aussprache Stolleis: Das Referat von Herrn Badura hat mich mit der weiten Fassung der Themen ausgesöhnt. Es bewährt sich eben doch, daß der Vorstand den Bogen so weit gespannt hat. Da bis zum Vormärz zurückgeblendet worden ist, haben wir die Chance zu vergleichen, welche Rolle die staatsrechtliche Dogmatik in den "kommunizierenden Röhren" der jeweiligen politischen Systeme gespielt hat. Dabei sind m.E. starke Schwankungen zu beobachten. Herr Robbers hat für den Vormärz mit Recht festgestellt, daß die staatsrechtliche Dogmatik die nationale Klammer im Deutschen Bund bildete und die fehlende nationale Einheit zu ersetzen suchte. Die Staatsrechtslehre sah sich verpflichtet, die nationale Einheit wenigstens geistig darzustellen und in ihrer Dogmatik zu realisieren. Nach 1866 und 1871 wandelte sich die Rolle der staatsrechtlichen Dogmatik in eine mehr dienende, kommentierende. Je länger die Kaiserzeit voranschritt, desto mehr wuchsen ihr Aufgaben der Verfassungsergänzung durch Auslegung zu, Aufgaben, die das relativ starre Verfassungsrecht nicht leisten konnte. Wenn man sich nun einmal - die Weimarer Zeit überspringend - fragt, wie die Lage in der Bundesrepublik ist, dann möchte ich Herrn Badura fragen, ob er der These zustimmt, die staatsrechtliche Dogmatik habe einen Kursverlust erlitten. Dafür sprechen externe wie interne Gründe. Die externen hat Herr Badura selbst stark unterstrichen: Die dominierende Rolle des Bundesverfassungsgerichts mit seinen nun 85 Bänden Rechtsprechung und das daraus resultierende schwindende Gewicht des Juristenrechts. Hat die staatsrechtliche Dogmatik wirklich noch etwas zu sagen, oder liefert sich die Staatsrechtslehre zunehmend in einer für sie gefährlichen Weise den Präjudizien des Bundesverfassungsgerichts aus? Deute ich die Zeichen richtig, wenn ich sage, daß die Staatsrechtslehre in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinterherläuft? Es scheint eine der Krönungen eines Staatsrechtslehrerlebens zu sein, Bundesverfassungsrichter zu werden. Auch Lehrbücher folgen nicht mehr einer wissenschaftlichen Eigendynamik, sondern werden nach Maßgabe neuerer Entscheidungen fortgeschrieben. Es gibt aber auch interne Gründe: Hat nicht der Glaube der Zunft selbst an die Festigkeit ihrer eigenen Aussagen nachgelassen? Hat nicht die wissenschaftstheoretische Kritik, mit der Gerber und Laband noch nicht konfrontiert waren, den Status dogmatischer Aussagen verändert? Vergleicht

Aussprache

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man, mit welcher Sicherheit sich Laband auf die Logik berufen hat, und welche Skepsis heute entsteht, wenn sich jemand im Staatsrecht auf die Logik beruft, dann muß man wohl einen fundamentalen Wandel konstatieren. Es ist mein Eindruck, daß die Staatsrechtslehre heute auf einem Tiefpunkt ihrer Wirksamkeit und ihrer öffentlichen Überzeugungskraft angekommen ist. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß sie sehr stark in die Gutachtenpraxis eingestiegen ist, und daß die öffentliche Meinung glaubt, es habe jede Partei ihren eigenen Staatsrechtslehrer. Das hat zu einer gewissen Erosion des Ansehens geführt. Erlauben Sie mir bitte noch zwei Bemerkungen, die eine zum Funktionswandel der Grundrechte: Von der bekannten "Appellfunktion" der Grundrechte im Vormärz bis zur heutigen Besitzstandswahrung des status quo durch Berufung auf die Grundrechte hat sich der gesamte Kontext geändert. Im Vormärz appellierte man an den Gesetzgeber, die Grundrechtsprogramme zu verwirklichen. Heute appelliert man an das Bundesverfassungsgericht, die Grundrechte gegen den Gesetzgeber zu bewahren. Die andere Bemerkung bezieht sich auf die aktuelle Verfassungsreform. Sie haben gesagt, wesentlich Neues werde es bei der Neubestimmung des Bundesstaates im Verhältnis zu Europa geben (Art. 23 GG). Würden Sie nicht auch die Selbstauflösung des Bundestages als folgenreiche Gewichtverschiebung einschätzen?

Badura: Das Selbstauflösungsrecht des Bundestages ist in der Gemeinsamen Verfassungskommission bisher nicht beschlossen worden. Die Beschlußfassung wurde aufgeschoben, da Zweifel fortbestehen!. Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich mich gegen diesen Vorschlag aussprechen würde. Es war erstaunlich, wie rasch die damaligen Erkenntnisse der EnqueteKommission Verfassungsreform2 als abschließend angesehen wurden. Immerhin ist dazu zu bemerken, daß es ein Selbstauflösungsrecht, soweit ich weiß, in Europa nirgends gibt 3 , abgesehen von einigen deutschen Landesverfassungen und abgesehen von Regelungen eines monarchischen oder präsidentiellen Auflösungsrechts. Ein Recht des Parlaments, sich selbst aufzulösen, wirkt durchaus ungewöhnlich. Eine Übertragung von Verfassungs einrichtungen aus anderen Ländern und Verhältnissen, etwa eine Übernahme des politisch dem englischen Premierminister verfügbaren Rechts zur Auflösung des Unterhauses ist nicht 1 Der SPD-Antrag zum Selbstauflösungsrecht des Bundestages erhielt in der Abstimmung am 17. Juni 1993 mit 21 Ja-Stimmen und 15 Nein-Stimmen bei 3 Enthaltungen nicht die nötige Zweidrittelmehrheit (Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BTag Drucks. 1216000, S. 86 ff.). 2 Siehe den Schlußbericht vom Dezember 1976, BTag Drucks. 7/5924, S. 39 ff. 3 Eine Ausnahme macht das Selbstauflösungsrecht des Nationalrats der Republik Österreich.

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ohne weiteres zu empfehlen. Die Staatsrechtler sind nicht blind gegenüber den Realitäten, wie ihnen manchmal nachgesagt wird; sie reagieren nur anders auf sie als andere Fachwissenschaftler. Das gilt für Laband nicht weniger als für Smend. Nun zu den Grundrechten: Ich bin nicht sicher, ob man wirklich sagen kann, daß die Grundrechte sich schlechthin als Bastionen von Besitzständen auswirken oder so angelegt sind. Sie lassen sich zwar so einsetzen, und man bemüht sich auch in manchen Fällen darum, sie so zu verwenden. Wenn man aber die Sache genau betrachtet - ich habe versucht, das anzudeuten -, ist in der Praxis eine Veränderung der Grundrechte in die Richtung eingetreten, daß durch sie der wirtschaftspolitische Gesetzgeber im Interesse sozialer Zielsetzungen gebunden werden soll. Man will den Spielraum des Gesetzgebers einschränken, nicht um Besitzstände zu verteidigen - wie Sie es vielleicht gemeint haben -, sondern um bestimmte politische Positionen, wie man in Weimar sagte, zu "verankern ". Das Wort " verankern " ist eine Metapher: das Schiff soll nicht weiterfahren. Die demokratische Verfassung lebt von der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Auch wenn der Gesetzgeber nicht gut arbeitet, wovon man ja heute in vielen Dingen überzeugt sein kann, gibt es eine Remedur dagegen nicht dadurch, daß man die Verfassung zu einem neuartigen "Übergesetz" stilisiert. Dies ist natürlich eine persönliche Meinung. Die Grundrechte haben in der Entwicklung, über die wir hier sprechen, von der Französischen Revolution bis heute, sehr unterschiedliche Funktionen gehabt und mußten auch, je nach den Verhältnissen und Situationen ihrer Geltung und Wirksamkeit, unterschiedliche Konsequenzen haben. Damals, in der Zeit vor der Demokratie, mußte eine richterliche Kontrolle der monarchischen Gewalt mit Hilfe der Grundrechte eher abenteuerlich erscheinen, mochte auch das Freiheitspathos der Grundrechte über die gegebene Verfassungslage hinausweisen. Das ist heute eine völlig andere Situation. Bei uns in Deutschland beobachten wir einen Hang zu einem extremen Normativismus des Rechtssystems mit entsprechender Extension der richterlichen Kontrolle, mit immer neuen Entdeckungen von Rechtsfolgen. Für uns Juristen ergibt sich ein gewisses Gerüst, nahezu ein Korsett, um nicht zu sagen: ein Gefängnis juridischen Denkens. Allerdings zögere ich doch zu sagen, daß deswegen ein Kursverlust der Staatsrechts-Dogmatik eingetreten sei. Versteht man Dogmatik nur als das Produkt des theoretischen Denkens der Juristen, wäre es so. Aber das ist, glaube ich, ein zu enger Begriff. Dieser Punkt hat mir bei dem mir gestellten Thema eine gewisse Schwierigkeit gemacht. Die Frage, was Dogmatik ist, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich glaube aber, daß dazu mehr gehört als nur das Juristenrecht der Wissenschaft. Auch das

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Richterrecht ist Gegenstand der Dogmatik. Wenn man in das Zivilrecht blickt, erweist sich, daß die allgemeinen Begriffe nicht nur durch Denken gebildet und nicht nur durch Professoren gemacht werden. Wir haben eine Wechselwirkung vor uns, mit unterschiedlichen Anteilen der Gesetzgebung, der Richter, der theoretisch arbeitenden Juristen. Zu Unrecht gibt die Laband'sche Version des Staatsrechts den Eindruck, die Professoren könnten alles sagen, und das setzte sich sofort durch. Auch glaube ich nicht, daß der Weimarer Richtungsstreit die Tätigkeit der Reichsgewalt und die Welt Berlins beeinflußt hat, daß Reichspräsident und Reichsregierung auf diesen Boden getreten sind. Dennoch sehe ich deswegen keinen Kursverlust der Dogmatik. Die dogmatische Figur und die Praxis des Staatsrechts lassen sich nicht trennen. Die Tätigkeit der Gerichte, auch des Bundesverfassungsgerichts - auch wenn man das den Entscheidungen nicht direkt ablesen kann - gehören sehr eng dazu. Es sind Kollegen von uns Richter, und durchaus renommierte Kollegen; die Eigenschaft des Professors wird bei den Richtern ja auch nicht plötzlich verschwinden. Also, die Osmose ist ziemlich groß. Unser Problem ist, wie ich finde, mehr der Perfektionismus, die Stoffhuberei und die mangelnde Kraft oder mangelnde Bemühung, die einzelnen Annahmen auf die Prinzipien und Grundfiguren, die Begriffe und Grundsätze des Staatsrechts zu gründen, also diese unendliche Verzettelung und Verzweigung in alle möglichen Nebengebiete. Doch als dogmatische Wissenschaftler müssen wir auch gegenüber dem Richter und dem Gesetzgeber auf der Beachtung des Zusammenhangs und der Prinzipien des Rechts bestehen.

Heckel: Herr Badura, ich habe doch den Eindruck, daß wir einer Dogmatisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit unterliegen. Sie versucht, ihre Entscheidungen nicht aus der bloßen Dezision, sondern aus einleuchtenden Gründen zu entwickeln, auch wenn diese nicht durchweg überzeugen. Das Gefährliche scheint mir die Situationsgebundenheit. Mit einer Verschärfung der Wirtschaftskrise wird auch den Grundrechten eine andere Bedeutung zukommen müssen, als in Zeiten der Prosperität. In diesem Zusammenhang hätte ich gerne noch etwas über Ihre Einschätzung des Richtungsstreits der Weimarer Staatsrechtslehre gehört. Eine Grundlinie Ihres Referats schien mir die Zurückhaltung, in der Sie die verschiedenen Positionen schildern. Aber ich hatte den Eindruck, daß Sie auf eine vermittelnde Lösung hinweisen, die das Gesetz und damit die Positivierung politischer und geisteswissenschaftlicher Konzeptionen durch das demokratisch verantwortliche Parlament ins Zentrum rückt. Das scheint auch mir ganz vordringlich. So tief Erich Kaufmann und Rudolf Smend mit ihren Einsichten die Staatsrechtslehre befruchtet haben, so scheint mir 11 Der Staat, Beiheft 11

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Aussprache

doch bei ihnen das Moment der Dezision zu kurz zu kommen. Bei jeder Verfassungsgebung geht es nun einmal um Dezisionen: Weimar stand vor der Frage der Entscheidung für die Restauration der Monarchie, für die westliche parlamentarische Demokratie oder für das Rätesystem. Diese Verfassungsentscheidungen wollen von der Lehre auch ernst genommen werden. Ich glaube, es gehört zur Loyalität und Bescheidenheit des Juristen, daß er die Verfassung achtet und sich nicht die Kompetenz zur Verfassungsfortbildung anmaßt. So meine ich, daß die verschiedenen Spielarten der geisteswissenschaftlichen Interpretationslehre von Smend und Heller und Carl Schmitt zu vermitteln und auf ein gemeinsames Ganzes zurückzuführen sind; sie sind zu amalgamieren mit den bleibenden Errungenschaften des Rechtspositivismus. Gerade eine pluralistische, ideologisch zerrissene Zeit und Bevölkerung brauchen feste Normen. Es ist schlimm, wenn die Verfassungsrichterwahlen wichtiger werden als die Bundestagswahlen. Bei der Frage der Selbstauflösung des Parlaments kommt es m.E. entscheidend auf die Ausgestaltung an. Wenn die einfache Parlamentsmehrheit sich auflösen kann, bedeutet dies die Abschiebung der Verantwortung, die dem Parlament übertragen ist.

Badura: Es zeigt sich, daß sich viele Fragestellungen schon weitgehend außerhalb dessen bewegen, was man als Jurist beeinflussen kann. Wenn stimmt, daß wir beispielsweise die Wahl der Verfassungsrichter für wichtiger halten als die Wahlen zum Bundestag, so ist das die Folge einer Entwicklung, die ziemlich außerhalb unserer Sphäre eingetreten ist. Dies hängt auch mit der Schwäche der politischen Zentralgewalt zusammen. Wir haben zu konstatieren, daß die neue Kraft der Länder - der Ministerpräsidenten die Bundesgewalt in große Schwierigkeiten versetzt, ja letzten Endes offenbar zu bezwingen vermag. Das heißt also: die Ministerpräsidenten der 16 Länder sind ein neues Verfassungsorgan, das in der Verfassung gar nicht vorgesehen ist. Sie sind kräftiger als die gegenwärtig tätigen unitarischen Gewalten. Das ist die Folge der Mehrheitsverhältnisse, die keine juristische Größe sind. Sie haben weiter nach dem Richtungsstreit gefragt und gemeint, ich hätte hierzu zu wenig Stellung bezogen. Der Richtungsstreit ist vorbei und ich kann mich auch nicht in die Lage versetzen, wo ich zu stehen hätte, wenn ich damals dazu hätte etwas sagen müssen. Eine Verbindung der Positionen ist umso naheliegender, als jede der damaligen Positionen offenkundig Einseitigkeiten aufweist, zumindest für die heutige Rückschau. Bei der damaligen Situation konnte es völlig richtig sein, diese Einseitigkeiten zu betonen. Rückschauend betrachtet, erscheint die Position Carl Schmitts auf den ersten Blick stärker; sie ist politisch, fast existentiell verhaftet, wie es scheint. In einer weiteren Schicht seiner Persönlichkeit dagegen ist es mög-

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licherweise die politische Theologie, also ein ganz anderes Fundament, auf der seine Vorstellungen aufgebaut sind. Dies wäre etwas anderes als die vermeintlich klare Zuwendung zu der Welle, die jeweils die Macht im Staat anzeigt. Demgegenüber ist, von einem demokratischen Standpunkt, die Position Smends einleuchtender, der von den politischen und kulturellen Werten her denkt und von dem Prozeß ihrer "Verwirklichung". Beides muß sein. Ich würde mich weder einer Vereinseitigung der einen, noch der anderen Position anschließen. Wir haben von beiden zu lernen. Wir können unser Staatsrecht, so wie es heute ist, ohne das Werk dieser beiden Männer - wie auch der anderen, die ich in meinem Vortrag genannt habe - nicht denken. Sicher wird man gerade in einer Zeit der Veränderung wissen wollen, was richtig ist und was gelten soll. Das ist letztlich die Frage nach der staatlich gewährleisteten Gerechtigkeit. Der Jurist muß hierzu Antworten geben, die nicht nur situations bezogen und kurzfristig gelten, sondern die auf Dauer richtig sein können. Dies setzt allerdings eine Begrenzung voraus; der Staatsrechtier kann kein Publizist sein. Zlinszky: Ich möchte darauf hinweisen, daß die ungarische Verfassung und wohl auch die israelische die Selbstauflösung des Parlaments kennen. In Ungarn ist auch ein interessanter Vorschlag gemacht worden: es wurde ein Plebiszit angeregt, mit dem das Parlament zu einer Abstimmung über seine Auflösung verpflichtet werden soll. Das ist vom Parlament dem Verfassungsgericht Ungarns vorgelegt worden mit der Frage, ob das nach der Verfassung zulässig ist. Das Gesetz über Plebiszite ist noch vor der neuen Verfassung erlassen worden; es schreibt vor, daß, wenn 100.000 Wähler den Antrag unterschreiben, das Parlament zu jeder Frage, die seiner Kompetenz untersteht, ein Plebiszit ausschreiben muß. Wir haben gesagt, daß Selbstauflösung dem Begriff nach ein Akt ist, zu dem das Parlament nicht von außen angehalten werden kann; sich - selbst - auflösen kann es nun einmal nur aus eigener Initiative. Gegen seinen Willen kann es auch vom Staatspräsidenten aufgelöst werden. Aber ihm die "Selbst"-Auflösung vorschreiben, das geht nicht. Eigentlich wollte ich aber anmerken, daß wir in Ungarn jetzt sehr viel vergleichende Studien zum Verfassungsrecht und Staatsrecht anstellen. Wir beobachten, daß deutsche Staatsrechtsdogmatik in der letzten Zeit große Fortschritte gemacht hat, weil sie allerorts gefördert und gepflegt wird. Die Rechtsdogmatik gehört zur Technik des Rechts, nicht zur Politik. Wenn aus rechtlichen Gründen und mit rechtlichen Methoden Rechts- und Verfassungsfragen entschieden werden, so gewinnt die Rechtsdogmatik, wenn auch schrittweise, durch ihre praktische Anwendung viel an Bedeutung. Das ist ein neuer Weg zur allgemeinen Entfaltung des Staatsrechts. Es überschreitet die Staatsgrenzen. Das Staatsrecht wird supranational. Dieser 11"

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Trend ist nicht aufzuhalten. Er wird die Verfassungs- und Grundrechtsproblematik um wesentlich neue Aspekte bereichern; dessen bin ich aus der ungarischen Perspektive gewiß. Die Grundrechte werden zwar nationales Verfassungsrecht bleiben. Doch ihre dogmatische Handhabung wird international geprägt werden. Dabei werden die beteiligten Gerichte grenzübergreifend zusammenwirken müssen. Das fordert die Rechtssicherheit. Sie verlangt eine Rechtsdogmatik, die den politischen Urteilen ad hoc vorbeugt.

Badura: Den plebiszitären recall, wenn ich das Wort einmal verwenden darf, gibt es in einigen deutschen Landesverfassungen. Das Volk kann sozusagen seine Wahl revozieren, mit dem Vorwurf: Ihr habt schlecht gearbeitet, wir wollen etwas Neues. Unsere Verfassung - und ich bin ein Anhänger dieser Grundlinie unserer Verfassung - beruht eben auf dem Verzicht auf derartige plebiszitäre Einwirkungen und auf der klaren Verantwortlichkeit der gewählten Volksvertretung. Diese wiederum muß so konstruiert sein, daß sie eine starke Regierung ermöglicht. So ist das Grundgesetz gebaut und so hat es auch funktioniert. Und wenn man heute davon keinen Gebrauch macht, bleibt der Staat in der Pflicht.

Die Neuhestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundere Von Martin HeckeI, Tübingen

I.

Es ist etwas Eigentümliches um die historische Nähe und die historische Distanz - zumal für den Juristen, der Rechtsvergleichung in der Dimension der Zeit betreibt und dabei vielfältig den gleichen Grundfragen menschlicher Ordnung und Freiheit in faszinierenden Widerspiegelungen begegnet. Die Grundlagen unseres Staatskirchenrechts wurden in der ersten Hälfte des 19. Jh. gelegt; die im GG rezipierten Weimarer Staatskirchenartikel haben bekanntlich ihre zukunftsweisende Formulierung bereits in der Paulskirchen-Verfassung und der Preußischen Verfassung von 1848/1850 gefunden. Und die Grundprobleme des Staatskirchenrechts wurden - bei allen Verschiedenheiten im Detail- schon im 19. Jh. von der Theorie und Praxis in variantenreicher Dialektik durchgespielt. Kaum etwas prinzipiell Neues ist in den Erschütterungen des 20. Jh. hinzugekommen, sieht man von dem enormen Ausbau der Sozialstaatlichkeit ab, der die Trennung von Staat und Kirche (wie die Trennung von Staat und Gesellschaft überhaupt) in neuen Begegnungen zwar keineswegs aufgehoben hat, aber doch überbrückt. Die Modernität dieses aus dem 19. Jh. stammenden Systems ist durch die Neuordnungs aufgaben in den neuen Bundesländern bei der Ablösung des atheistischen Weltanschauungssystems wiederum evident geworden. Im Weltmaßstab darf das deutsche Staatskirchenrecht, das aus leidvollen Erfahrungen der Konfessionskriege, des Absolutismus, des Ringens um Einheit, Freiheit, Gleichheit erwuchs und aus dem Kulturkampf und Kirchenkampf seine Lehren zog, als ein besonders gelungenes Stück moderner Verfassungsgebung bezeichnet werden. Die folgende Skizze soll zunächst den institutionellen Rahmen (1.) des Subordinationsprinzips, (2.) der Abschichtung der Kirchengewalt von der Staatsgewalt und (3.) des Instituts der "Religionsgesellschaft" umreißen, und sich dann auf die drei materiellen Problembereiche (1.) der Freiheit, (2.) 1

Literatur-Auswahl im Anschluß an den Text.

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der Gleichheit und vorweg (3.) der Säkularisierung konzentrieren, die als profaner cantus firmus überall im Staatskirchenrecht mitschwingt. Um den historischen Umbruch zu ermessen, soll zuvor ein Blick auf die Französische Revolution und auf das Alte Reich vor 1806 geworfen werden. Das 19. Jh. verstand sich als historisch geprägtes Zeitalter, das seine Probleme und Denkformen zum guten Teil vererbt bekam.

ß. In der Französischen Revolution wurden hektisch und exemplarisch sämtliche Spielarten des Staatskirchenrechts der folgenden zwei Jahrhunderte durchprobiert - die großen Krisen des Kulturkampfs, der bolschewistischen Oktober-Revolution und des nationalsozialistischen Kirchenkampfes haben das faszinierende Stück von 1789 auf ihren Bühnen gekürzt und schludrig übersetzt nachgespielt. Das Staatskirchenrecht des ancien regime fiel 1789 mit der absoluten Monarchie und der ständischen Schichtung der Gesellschaft; die Herrschaft des Hochadels in der Kirche und die Monopolstellung des katholischen Kultus in Frankreich wurden alsbald beseitigt. Dies geschah in einer ersten Phase der demokratischen Gleichschaltung der Kirche durch die Nationalversammlung mit der Aufhebung der Privilegien des geistlichen Standes am 20. Juni 1789, der Einziehung des gesamten Kirchenguts als Nationalvermögen am 2. November 1789, der Abschaffung der Zehnten und feudalen Rechtsstrukturen. Aber das gallikanische System einer französischen Nationalkirche wurde in diesen demokratisierten Formen beibehalten, der Kultus als Staatsangelegenheit verstanden und deshalb auf das staatliche Kultusbudget übernommen. Die Zivilkonstitution des Klerus vom 12. 7. 1790 machte die Geistlichen zu Staatsbeamten, die Kirche zur Staatsanstalt. Nur Bischöfe, Pfarrer und Vikare wurden fortan zugelassen, die Klöster und Orden aufgehoben, die kirchliche und staatliche Verwaltungsorganisation einander angeglichen, die hierarchische, im ius divinum (nach katholischem Verständnis) wurzelnde Verfassungsstruktur der Kirche zerschlagen, die Besetzung der Kirchenämter durch demokratische Wahlen ohne päpstliche Bestätigung eingeführt - Departmentswahlen zur Bistumsbesetzung, Distriktswahlen zur Pfarrbesetzung. Der Eid auf diese Verfassung wurde den Priestern abverlangt, die sich dem massenhaft verweigerten. Die Volkssouveränität entthronte das Papalsystem, die Staatsverfassung absorbierte die Kirchenverfassung, die religiöse Freiheit und Eigenständigkeit wurde durch die säkulare Zwangsliberalisierung und

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Zwangsegalisierung überwältigt. Indessen blieb das demokratisierte Nationalkirchentum nur eine kurze Episode. In einer zweiten Phase schritt die Republik ab 1792 zum radikalen Kirchenkampf: Das Christentum wurde durch den Kultus der Göttin der Vernunft, der christliche Kalender durch den republikanischen, der Sonntag durch die Dekadenfeier ersetzt und die Kirchenorganisation vollends zerstört. Die Kirchengebäude wurden ruiniert und profaniert, Tausende von Priestern verhaftet und hingemordet - die Kirchenverfolgungen des Nationalsozialismus muten dagegen nach Umfang und Intensität eher schüchtern an. Dieser erste säkulare Kampf gegen das Christentum nach anderthalb Jahrtausenden des Konstantinischen Bundes der geistlichen und weltlichen Gewalt hat die katholische Kirche, aber auch die evangelischen Landeskirchen als Schock getroffen und mit tiefer Reserve gegenüber der demokratischen Verfassungsform und jeder immanent-säkularen Begründung und Ausgestaltung der Staatsgewalt erfüllt. Die Nachwirkungen dessen sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wie in Frankreich überwunden worden. In ihrer staatskirchenrechtlichen Reaktion suchten die Kirchen, vor allem auch die evangelischen, Hilfe und Halt an der Monarchie, der Tradition, dem Rechtsstaat zur Bändigung der Volkssouveränität, auch wenn man sich im katholischen Lager im 19. Jh. daneben bald unbefangen und erfolgreich der liberalen und demokratischen Meinungs- und Willensbildungsformen, der katholischen Presse, Vereine und Parteien gegen die josephinische Kirchenaufsicht und gegen die liberalen Kulturkampfmaßnahmen zu bedienen wußte. Diese historischen Fernwirkungen waren viel bedeutsamer als die episodenhaften Ereignisse selbst. Denn in einer dritten Phase ab etwa 1794 ging die Republik zur scharfen Trennung von Kirche und Staat über. Die Zivilkonstitution und das Kultusbudget wurden aufgehoben, die Religion als Privatsache proklamiert, die obligatorische Zivilehe eingeführt. Doch brachte dies nicht die Befriedung. Nach jahrelangen Wirren und Reorganisationsversuchen einer französischen Nationalkirche durch Nationalsynoden, nach neuen Kirchenverfolgungen und Priesterdeportationen, nach der Besetzung des Kirchenstaates 1798, nach der Gefangennahme und dem Tod Pius' VI. 1799 trat eine Beruhigung erst mit dem Staatsstreich Napoleons vom 7. November 1799 ein. In einer vierten Phase wurde nun ein System des Ausgleichs durch Koordination im Konkordat Napoleons von 1801 erzielt, das trotz der folgenden Verfassungswechsel in Frankreich bis 1905, im Elsaß bis heute in Geltung blieb und für die Neugestaltung des Staatskirchenrechts in Europa epochal wegweisend wurde. Zwar wurden der Bund von Thron und Altar und das gallikanische Nationalkirchentum - trotz der Zeremonie der Kaiserkrönung

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Napoleons unter Mitwirkung des Papstes - nicht wiederhergestellt. Der Staat legte seinen sakralen Charakter ab. Aber er behielt bedeutsame staatliche Kirchenhoheitsrechte über die äußere Kirchenorganisation, die Diözesaneinteilung, die Besetzung der Bistümer und Pfarreien; er förderte die Kirche wieder durch das Kultusbudget und hielt sie dadurch ebenso in Abhängigkeit wie durch die bloße Gebrauchsüberlassung der im Staatseigentum einbehaltenen Kirchengebäude. Die Kirche aber erhielt die Garantie der freien Kultusausübung als "Religion der Mehrheit der Franzosen", eine erhöhte öffentliche Anerkennung und eine privilegierte Stellung im Staat. Die Eigenständigkeit ihrer religiös begründeten hierarchischen Verfassungsstruktur und insbesondere des päpstlichen Jurisdiktionsprimates wurde vom Staate anerkannt und nicht mehr in die weltlichen Formen des liberal-demokratischen Vereinsrechts gepreßt. - Der gallikanische Episkopalismus und seine jahrhundertelange Opposition gegen die Kurie fanden hiermit ihr Ende, da der Papst (und nicht die Bischöfe) als Vertragspartner des Konkordates fungierte, der Papst die Reorganisation und Leitung der französischen Kirche straff in die Hand nahm und sich der hohe und niedere Klerus nach den Erfahrungen der Revolution und der Organischen Artikel Napoleons um die päpstliche Leitung scharten. - Der neuerliche Oktroi des Placets, der appellatio ab abusu und der staatlichen Kultuspolizei durch den Handstreich der Organischen Artikel im folgenden Jahre 1802 konnte deshalb nur begrenzte Bedeutung entfalten. Die Hoffnungen Napoleons auf die Wiederherstellung eines gallikanischen Staatskirchenturns und die Benützung des französischen Klerus gleichsam als geistlicher Gendarmerie wurden enttäuscht. Auf dieser Grundlage hat sich das Staatskirchenturn nach französischem Vorbild auch in anderen Staaten Europas eingependelt: Der Staat wurde ein weltlicher Staat, aber vermied die Trennung von der Kirche, der er erhöhte soziale und kulturelle Bedeutung beimaß und auf deren äußere Organisation und Funktionsweise er maßgebliche Einflußrechte zu wahren suchte. Die Kirche erhielt im Rahmen der staatlichen Schrankengesetze ein großes Maß innerer Autonomie in geistlichen Angelegenheiten und äußerer Entfaltungsmöglichkeiten durch ihre privilegierte Position im öffentlichen Leben und Recht, besonders auf dem Sektor der Erziehung. Staatliche Förderung bescherte ihr eine Stärkung ihrer religiösen Wirkung, aber auch die Abhängigkeit von der staatlichen Munifizenz. Das System ließ sich in religionsfreundlicher und religionsbeschränkender Weise von den verschiedenen politischen Kräften im Sinne ihrer wechselnden kulturpolitischen Programmatik praktizieren.

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m. Die große Säkularisation durch den Reichsdeputations-Hauptschluß vom 25. 2. 1803 brachte für Deutschland entsprechende Umwälzungen des Staatskirchenrechts, jedoch mit tiefen Unterschieden, die für den Sonderweg der deutschen Verfassungsentwicklung im 19. Jh. charakteristisch sind. Der Gemeinplatz, das ancien regime sei in Frankreich durch gewaltsame Revolution, in Deutschland durch friedliche Reformen überwunden worden, gilt für das Staatskirchenrecht nur sehr begrenzt: Die zeitgenössischen juristischen Rechtfertigungsversuche der Säkularisation waren spitzfindige Ablenkungsmanöver von einem grandiosen Rechtsbruch, denen die jüngste rechtshistorische Forschung in ihrer Diskussion des pro et contra zuviel der Ehre erweist. Im Rückblick kann kein Zweifel daran bestehen, daß 1803 durch eine grundumstürzende Revolution das Reichskirchenrecht des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zertrümmert wurde, welches in den leges fundamentales des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und des Westfälischen Friedens von 1648 eine föderative Existenzgarantie der geistlichen Reichsstände enthielt. Der Begriff "Säkularisierung" ist ein politischer Kampfbegriff, der die Rechtswidrigkeit der staatsrechtlichen Annexion der geistlichen Staaten - um die es dabei ging - sowie des damit verbundenen zivilrechtlichen Eigentums- und Forderungsübergangs terminologisch lediglich als (überfällige) rechtliche Umwidmung von Kirchengut durch den Staat verschleiern sollte. - Nach der alten Reichsverfassung mußte die Säkularisation als rechtswidrig und nichtig angesehen werden. Indessen macht es das Wesen und die Wirkung geglückter Revolutionen aus, daß die neue Ordnung die alte beseitigt und deshalb nicht nach deren alten, sondern nur nach ihren neuen Normen und Legitimitätsgrundlagen beurteilt werden kann. Dasselbe Spiel hat sich bei allen gewaltsamen oder gewaltlosen Verfassungsumbrüchen seit 1815, 1848/49, 1867 und 1871, 1918, 1933, 1945-1949 und wiederum 1989 wiederholt. Die Legitimitätsgrundlage der Säkularisation fußt auf der antiklerikalen Aufklärungsphilosophie und Staatsauffassung, die an den Fürstenhöfen etwa im Bayern Montgelas' - dominierte, sodann auf dem französischen Vorbild der Wertung und Beschlagnahme des Kirchenguts als Nationaleigentum durch das Dekret der Nationalversammlung vom 2. November 1789, das Talleyrand als Bischof von Autun zum Auftakt seiner politischen Laufbahn beantragt hatte, schließlich auf der historischen Bewährung des modernen Staatstyps in den weltlichen Territorialstaaten. Als verfassungs rechtliches Ergebnis der Säkularisation kam es nun überall in Deutschland zur Ausbildung moderner Flächenstaaten mit einem geschlossenen Staatsgebiet unter Auflösung der bunt gesprenkelten Enklaven, Exklaven, Immunitäten und Exemtionen alter Art; das Streben nach dem

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territorium clausum hat noch 1866 die Expansion Preußens zum Schaden der monarchisch-konservativen Legitimität durch den Sturz vieler angestammter Fürstenhäuser bewirkt. Zum modernen Staatsgebiet trat seither die moderne Staatsgewalt: Prinzipiell ist sie allzuständig und letztlich unbegrenzt (nach dem Maß ihrer Verfassungsgebung und Verfassungsänderung), frei von den Bindungen an das alte Recht, im Staatsziel umfassend auf Rechtsgestaltung und Förderung der allgemeinen Wohlfahrt ausgerichtet; die kirchliche Wohltätigkeit wird durch sie weithin absorbiert, was der neuen Verteilung des Kirchenguts eine gewisse Berechtigung verleiht. - Die Säkularisation hat lebensfähige Mittelstaaten geschaffen und so die Grundlage für den Föderalismus in den Verfassungen von 1815, 1867, 1871, 1918 und 1949 gelegt. Sie hat die lange Epoche der Hochadelskirche in Deutschland beendet und den Egalisierungsprozeß der Gesellschaft mächtig vorangetrieben; sie hat die Kirche zu einer bürgerlichen, geistlich arbeitsamen Kirche ohne Pracht und Pläsier werden lassen. Der Reichsdeputations-Hauptschluß hat einerseits den Säkularisierungsprozeß des Staates vorangetrieben, andererseits die Spiritualisierung der Kirche durch den Verlust ihrer weltlichen Herrschaft und Kirchengüter bewirkt. Beides hat die Neuordnung des Staatskirchenrechts einerseits erleichtert, andererseits kompliziert: Denn für den Staat blieb das Verhältnis zu den Kirchen angesichts der konfessionellen Mischung des Staatsvolks ein Politikum ersten Ranges, zumal durch die protestantische Erweckungsbewegung und das Wiedererstarken des Katholizismus sich auch der Staat im Laufe des 19. Jh. teilweise wieder religiösen, ja konfessionellen Zielen zuwandte und die Kirche sich oftmals gerade am christlichen Charakter des Staates und speziell an den staatlichen Kirchenhoheitsrechten rieb, besonders wenn diese im Geiste der fremden Konfession gehandhabt wurden. Dieser Prozeß der Säkularisierung des Staates verlief in langen Wellenbewegungen, durchaus verschieden in den einzelnen Staaten; er zog sich bis zum Ende der Konstitutionellen Monarchie i. J. 1918 hin, als die demokratisch-republikanische Revolution den "christlichen Staat" in seinen verblaßten Restformen radikal beseitigte. Der Hof umgab sich weiterhin mit religiöser Weihe in den Krönungszeremonien und in der öffentlichen Selbstdarstellung, die Hofprediger spielten immer wieder eine nicht unbeträchtliche Rolle über die engere Kirchenpolitik hinaus. Aber die innere Säkularisierung der Staatsgewalt schritt doch im ganzen fort, und besonders das Staatskirchenrecht hat sich schon im 19. Jh. notwendigerweise relativiert, auf die verschiedenen Religionsgesellschaften im Staatsgebiet eingestellt und von der inneren Ausrichtung auf die bisherige Landeskonfession freigemacht. Die Verweltlichung des Staates und die Vergeistlichung der Kirche brachten die Schwierigkeit mit sich, daß Staat wie Kirche nach ihrem Selbstver-

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ständnis und Rechtsverständnis gleichsam auf zwei inkommensurablen Ebenen lebten und doch als ungleiche Partner auf Verständigung angewiesen waren. Als geistliche Größe transzendierte die Kirche das weltliche Instrumentarium des Staates und dessen Begriffshorizont, wurde für ihn ungreifbar, ja U.u. abgründig gefährlich, wie dies sich im Kulturkampf und in den Auseinandersetzungen mit den atheistischen Systemen des 20. Jh. erwies. Der Staat andererseits wurde für die Kirche zum Problem, weil sich sein säkularisiertes Selbstverständnis stark von dem theologischen Staatsbild der Kirchen entfernte, nach dessen Maßstab und Grenzen diese ihr Verhalten zum Staat bestimmten und mit ihm rechtlich paktierten. So wurde der Konsens zwischen Staat und Kirche in den äußeren Begegnungen und Regelungen weithin von einem inneren Dissens belastet und auf die Probe gestellt. "Concordatum mater rixarum" (u. Stutz). Das Verhältnis von Staat und Kirche blieb seit Beginn des 19. Jh. bis zur Gegenwart von inneren Spannungen, ja einer latenten Konfliktsbeziehung geprägt, die nur gelegentlich in kirchenpolitischen Krisen aufbrach, aber das Bedürfnis nach Ausgleich um so dringlicher erscheinen ließ.

IV.

Das Subordinationsprinzip wurde zur Grundlage des Staatskirchenrechts. Es hat sich aus dem Absolutismus bruchlos in der französischen Republik der Revolutionszeit, in den konstitutionellen Monarchien Europas im 19. Jh. und in den Demokratien des 20. Jh. durchgehalten. Das Subordinationsprinzip erfuhr mit dem Ende des Alten Reichs 1806 seine prinzipielle Verschärfung zum Staatsabsolutismus: Die rechtsstaatlichen Religionsgarantien der Reichsgrundgesetze von 1555 und 1648 fielen zwar nicht einfach dahin, aber wurden als Landesrecht ebenso wie die Sicherungen des Reichsdeputations-Hauptschlusses der Verfügung der Staatsgewalt unterworfen. Hinzu kam die Wandlung des Rechts- und Staatsverständnisses, das die Staatsgewalt nun als einheitlichen, virtuell unbegrenzten Rechtstitel verstand, also nicht mehr wie die landesfürstliche Obrigkeit des 17. und 18. Jh. als Sammelbegriff einzelner Hoheitsrechte ansah, die früher im Rechtsstreit vor den Reichsgerichten umständlich archivalisch nachzuweisen waren. Die Staatsgewalt dehnte ihre Kompetenz in Kirchensachen weit aus und unterwarf sich weithin die Angelegenheiten der kirchlichen Organisation: Das staatliche Placet zur innerkirchlichen(!) Rechtsgültigkeit kirchlicher Gesetze, die Regelung des kirchlichen Verkehrs mit der Kurie, der recursus ab abusu, das ius inspiciendi et cavendi, die Nominationsrechte bzw. Einspruchsrechte bei der Besetzung der Kirchenämter, der staatliche Patronat,

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die staatliche Ausbildung der Geistlichen gaben dem Staat tiefe Einwirkungsmöglichkeiten auf die äußere, ja auch auf die innere Organisation des geistlichen Lebens der Kirchen. Auch nach 1848 wurden die staatlichen Schrankengesetze extensiv in Anspruch genommen, obwohl Art. 15 Preußische Verfassung die kirchliche Autonomie verfassungsrechtlich garantierte und (anders als die Paulskirchen-Verfassung) keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt enthielt. Im Kulturkampf haben gerade die Liberalen das Subordinationsprinzip schroff gesteigert und - um alle Rechtsskrupel auszuräumen - in Preußen 1873 diese Autonomiegarantie zunächst mit einem Schrankenvorbehalt versehen, schließlich 1875 völlig kassiert. Bezeichnend für die Reichweite des Subordinationsprinzips war, daß die Einführung der evangelischen Kirchenverfassung 1869 im preußischen Landtag durch Staatsgesetz (l) versucht wurde und 1873 durch Staatsgesetz sanktioniert wurde, obgleich längst die Abschichtung der Kirche vom Staat durch die Autonomiegarantie verbürgt war. - Die unbestrittene Geltung des Subordinationsprinzips (trotz der katholischen Bestreitung durch die Koordinationstheorie) wird dadurch erhärtet, daß die staatskirchenrechtlichen Verfassungsnormen niemals mit den Kirchen paktiert, sondern im einseitigen Verfassungsgebungsvorgang erlassen wurden, mag dieser nun von der Krone oktroyiert, mit der Volksvertretung paktiert oder von dieser (wie in der Paulskirche) konstituiert worden sein. Indessen stieß das Subordinationsprinzip bald an innere Grenzen. Sie hängen - heute zeigt sich dies verstärkt - mit der Säkularisierung und Liberalisierung des Staates und deshalb mit dem Trennungsprinzip zusammen. Die durch den Reichsdeputations-Hauptschluß und die napoleonische Flurbereinigung zusammengezwungenen, konfessionell gemischten Staaten waren existentiell auf die Integration ihrer Bevölkerung und Landesteile angewiesen. Die Bildung einheitlicher Landeskirchen und Diözesen war hierfür unumgänglich und überdies die Vorbedingung, um die Staatskirchenhoheitsrechte, das Placet, die Mitwirkung bei der Besetzung der Kirchenämter, die Kirchenaufsichtsrechte wirksam wahrzunehmen. Der Staat sah sich dadurch auf die Verständigung mit der Kirche durch ein Konkordatssystem zur Diözesanumschreibung und Klärung der strittigen Rechtsverhältnisse angewiesen, wofür das französische Konkordat von 1801 als Vorbild diente. Am bayerischen Konkordat von 1817 wurden die modernen Probleme des Vertragsrechts - exemplarisch noch für den großen Konkordatsprozeß von 1957 - durchgespielt: Das Konkordat als (quasi-)völkerrechtlicher Vertrag bedurfte der Transformation durch innerstaatliches Gesetz, das damit im Rang unter die Geltung der Staatsverfassung trat und deshalb nur in deren Rahmen gültig werden konnte; Vertragsrecht und Verfassungsrecht können seitdem auseinanderklaffen. Der Widerspruch zwischen beiden hat sich durch den Übergang zur Volkssouveränität seit 1918 noch verschärft, da

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sich die Staatsgewalt des Volkes von heute nicht an die Bestimmung durch außerstaatliche Mächte und auch nicht durch die Volksrepräsentation von gestern binden kann. Versuche, den Konkordaten einen prekären Vorrang einzuräumen, wie sie etwa in Art. 8 der Baden-Württembergischen Verfassung von 1953 (" ... bleiben von dieser Verfassung unberührt" - in Parallele von Verfassungs artikeln zur unberührten Geltung des Versailler Vertrages gern. Art. 178 II 2 WRV und der Entnazifizierungsgesetze gern. Art. 139 GG) zu finden sind, wirken systemfremd und eher peinlich. Die rechtliche Durchsetzung des Subordinationsprinzips auch gegenüber den Konkordaten kann freilich die Schwäche der säkularen Staatsgewalt in religiösen Dingen nicht verbergen: Der säkulare Staat wirkt in ihnen eher hilflos, da sie seine immanenten Staatsziele und Funktionen transzendieren und er mit seinen äußeren Normen und Zwangsmitteln nichts Geistliches bewirken, sondern nur Porzellan zerschlagen kann. Die staatliche Absetzung der eingesperrten katholischen Bischöfe und die Verwaltung der Diözesen durch preußische Beamte als Staatskommissare im Kulturkampf wirft ein Schlaglicht auf den tieferen Befund. Alle Unstimmigkeiten im Staatskirchenrecht des 19. Jh. liegen m.E. darin begründet, daß der Staat zwar einerseits sein Wesen und seine Staatszwecke, vor allem aber sein auf die "Religionsgesellschaften" generell gemünztes Staatskirchenrecht zunehmend und prinzipiell säkularisierte, andererseits aber weitreichende religionsrechtliche Kompetenzen beibehielt, für deren Ausübung ihm nun taugliche Maßstäbe und Mittel fehlten. Das alte Instrumentarium des Placet, recursus ab abusu, der Nominations- und Kirchenaufsichtsrechte war ja einst im christlichen Staat als Mittel christlicher Reformen und Korrekturen gegen kuriale Verfehlungen und Säumnisse gedacht; das setzte ein Staatskirchenturn, ein Staatsbekenntnis und ein christliches Regiment aus christlicher Verantwortung voraus. Der paritätische und zunehmend säkulare Staat des 19. Jh. hatte jedoch seine religiösen Ziele, Maßstäbe und Wirkungsmöglichkeiten eingebüßt. So liegt es in der Logik der Entwicklung, daß sich der weltliche Staat trotz seines Anspruchs auf Subordination doch mit den Religionsgesellschaften koordinieren, ja konkordatär selbst binden mußte und muß, soweit er mit den religiösen Kultur- und Sozialphänomenen der großen Religionsgesellschaften zu tun bekommt. Friedrich der Große hat so nach der Eroberung Schlesiens die Theologenausbildung im Rahmen der kulturstaatlichen Wissenschaftspflege an der Universität gehalten, das Urteil über die Rechtgläubigkeit der Theologiedozenten aber dem zuständigen Bischof eingeräumt. Dieses System ist über die Breslauer und Bonner Universitäts-Statuten zum Gemeingut des deutschen Kirchenvertragsrechts geworden. Das wird sich (bei Respektierung

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der vollen Parität, Neutralität und Säkularität) auch den evangelischen Theologenfakultäten gegenüber nicht anders handhaben lassen, auch wenn die evangelischen Kirchenverträge die Trennung von 1919 verschlafen haben und in manchen Verfassungen der neuen Bundesländer dieser präkonstitutionelle Überhang derzeit nochmals anachronistisch fortgeschrieben wird. Der weltliche Staat konnte und kann eben in den "gemeinsamen Angelegenheiten" nur deren weltliche Seite seiner Kompetenz und seinen Regelungsmaßstäben subordinationsrechtlich unterwerfen. Das ist der Schlüssel zur Lösung der komplizierten Rechtsprobleme im Staat-Kirche-Verhältnis: Hinsichtlich der geistlichen Seite ist er auf die Koordination und Kooperation mit der jeweils betroffenen Religionsgesellschaft angewiesen, die dort in freier Selbstbestimmung nach ihren geistlichen Kompetenzen und Maßstäben die Entscheidung zu treffen hat - weil er als säkularer Staat um seiner säkularen Selbstbeschränkung willen auf die säkularisierende Verfremdung des Religiösen verzichtet und diesem seine Freiheit nach eigenem Ziel und Maß garantiert. So ist das Prinzip der Subordination korrespondierend auf koordinationsrechtliche Elemente angewiesen und durch sie ergänzt worden. Außer in den Konkordaten wurden sie durch die Koordinations- und Berücksichtigungsklausein zahlreicher Spezialgesetze im kleinen Format vielfältig ausgeformt. V.

Die innere Sonderung von Staat und Kirche schritt im 19. Jh. in manchen Wellenbewegungen, doch im ganzen kontinuierlich fort, bis sie mit der Revolution von 1918 im System der Trennung endete. Das alte Staatskirchenturn ließ sich angesichts der konfessionellen Bevölkerungsmischung, der religiösen Freiheit der Individuen, der Parität der Konfessionen, der aufgeklärten Verweltlichung der Staatsidee, Staatsziele und -funktionen, aber auch der religiösen Erneuerung des Katholizismus und der protestantischen Erweckungsbewegung nicht mehr erhalten. Die katholische Kirche erkämpfte sich im Windschatten des Ringens zwischen Monarchie und Volkssouveränität die Lockerung der etatistischen Kirchenaufsicht des Josephinismus und des Allgemeinen Landrechts. Auch die evangelische Kirche löste sich langsam aus ihrer territorialistischen Umklammerung als Staatsanstalt und bildete eine eigene Rechtspersönlichkeit. Dieser Verselbständigungsprozeß wurde verdeckt durch die Realunion an der Spitze: Das Staatsoberhaupt blieb bekanntlich bis 1918 der Summepiskopus der evangelischen Landeskirchen, und zwar auch

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dann, wenn es wie der König von Bayern, Sachsen und Württemberg der katholischen Konfession angehörte oder wie der Senat der Hansestädte ein weltliches Regierungsgremium war. Die Sonderung von Staat und Kirche führte ja auch im übrigen noch nicht zur "Trennung"; sie wurde in allen deutschen Ländern durch bedeutsame rechtliche Verbindungen überbrückt. Die beiden Großkirchen erhielten in paritätischer Privilegierung öffentlichrechtliche Vorzugsrechte und Wirkungsmöglichkeiten vor allem in der Ordnung der Schule, der Ehe, der öffentlichen Ämter. Der Staat andererseits behielt seine zitierten Einflußmöglichkeiten der Kirchenaufsicht und Kirchenkuratel. Die innere Verbundenheit von Kirche und Staat wurde im Kölner Dombau-Fest von 1842 nach der Beilegung des preußischen Mischehenkonflikts manifest. Die Verselbständigung und insbesondere die Verfassungsgebung der evangelischen Kirche zog sich freilich über Jahrzehnte hin. In Preußen beispielsweise scheiterte die Generalsynode von 1846 mit ihrem Kirchenverfassungsentwurf, weil sich der König in seinen hochkirchlichen Verfassungsideen dem befürchteten Aufmarsch der Demokratie in der Kirche entgegenstellte. Erst 1850 wurde die evangelische Abteilung aus dem Kultusministerium ausgegliedert und als "Evangelischer Oberkirchenrat" aus einer Staatsbehörde in eine Kirchenbehörde umgewandelt. Zu einer frühen Kirchenverfassung brachten es nur die Provinzialkirchen des Rheinlandes und Westfalens in der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung v. 5. 3. 1835. In den sechs östlichen Provinzialkirchen kam es erst 1873 durch königlichen Oktroi zu einer Kirchengemeinde- und Synodalordnung, die 1876 für alle acht älteren Provinzialkirchen der Monarchie neu gefaßt wurde. Die Landeskirchen der 1866 neu erworbenen preußischen Gebiete behielten ihre eigenen, zwischen 1864 und 1885 erlassenen Kirchenverfassungen. Die Synodalverfassungen der evangelischen Landeskirchen sind mithin ganz überwiegend erst lange nach der 48er Revolution erlassen worden. So traten Staat und Kirche langsam auseinander. Die Kirchenorganisation verselbständigte sich von der Staatsorganisation, die zuständigen Staatsbehörden wurden zu Kirchenbehörden, neben die konstitutionellen Staatsverfassungen schoben sich die presbyterial-synodalen Kirchenverfassungen. Neben den Parlamenten standen die Synoden, neben den Ministerien die Konsistorien, neben den Staatsgesetzen ergingen die Kirchengesetze, der Gegenzeichnung der monarchischen Akte durch das Ministerium entsprach die Gegenzeichnung der summepiskopalen Akte durch die Oberkonsistorien. Als Schlußstein des staatlichen wie des kirchlichen Verfassungsgewölbes fungierte oben der Monarch (bzw. der Senat der Hansestädte). So mußten jeweils die staatlichen und kirchlichen Rechte des Monarchen theoretisch unterschieden, praktisch getrennt, aber zugleich koordi-

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niert werden, damit sich die Zügel des staatlichen und kirchlichen Regimentes nicht verfingen. Das hatte beträchtliche Auswirkungen im Dreiecksverhältnis des Staates und der beiden Großkonfessionen. Die katholische Kirche konnte von den Autonomiegarantien durch ihre auswärtige Leitung und ihren inneren Zusammenhalt bald effektiven Gebrauch machen, sich beträchtliche Selbständigkeit vom Staat erringen und doch ihre Einflußmöglichkeiten und Rechte auf Staat wie Gesellschaft nützen. Die evangelische Kirche aber war nicht nur kraft ihrer Lehrtradition und Herkunft aus dem Staatskirchenturn, sondern auch aus kirchenpolitischen Notwendigkeiten zu besonderer Staatsloyalität und -unterstützung verbunden, da sie ihrem Summepiskopus Zerreißproben und Normkonflikte zwischen seinen beiden Rollen im Staatsund Kirchenregiment ersparen mußte. Da dem Monarchen durch die Gegenzeichnungspflicht politisch die Hände gebunden waren, geriet die kirchliche Personal- und Sachpolitik stark ins Schlepptau der Staatspolitik und ihres parteipolitischen Schlingerkurses der Regierungsumbildungen und Parlamentsmehrheiten. So wurde der äußere Vorrang des Staates durch das Subordinationsprinzip noch zusätzlich ergänzt durch die innere Ausrichtung der evangelischen Kirchen auf die konstitutionell gebundene Staatsgewalt des Monarchen. Ein Widerspruch zwischen Staatsgesetz und Kirchengesetz schien für die Würde und Amtsautorität des Monarchen und Summepiskopus untragbar, bedeutete nicht nur einen staatskirchenrechtlichen, sondern auch einen innerkirchlichen Verfassungskonflikt. Deshalb hat man sich nicht mit dem Vorrang des Staatsgesetzes im staatlichen Rechtsbereich begnügt (wie dies auch in der Gegenwart, etwa im Eherecht, der Fall ist), sondern präventiv die Entstehung mißliebiger Kirchengesetze auch im innerkirchlichen Rechtsbereich verhindert: In das Gesetzgebungsverfahren der Synoden wurden vorbeugende Mitwirkungs- und Vetorechte der Staatsbehörden eingebaut, die dem Summepiskopus die blamable nachträgliche Beanstandung seiner staatswidrigen Kirchengesetze durch Placetversagung oder Kassation im Kirchenaufsichtsverfahren (in seiner Rolle als Monarch unter dem Druck der Minister) ersparten. Das führte zu Paritätsverzerrungen nicht so sehr in der Theorie und in der Normstruktur als vielmehr in der Kirchenpolitik: Während die katholische Kirche ihre Autonomieansprüche im großen Mischehenstreit nach 1830 und später im Kulturkampf konfliktsbereit und machtvoll durchzusetzen wußte, sich auch bei der Entwicklung des modernen Staatskirchenrechts in Konkordaten und Verfassungsberatungen folgenschwer zur Geltung bringen konnte, bedeuteten die staatskirchenrechtlichen Garantien für die evangelische Kirche weithin nur ein Theorem. Die Kirchenpolitik und Kirchengeschichte des 19. Jh. ist ohne diese verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen nicht zu verstehen. Die konserva-

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tive Prägung der evangelischen Kirchen in der Zeit der Monarchie, der schwache Einfluß des theologischen Liberalismus und insbesondere der zahlreichen radikalen Links-Hegelianer in den Landeskirchen ist dadurch ebenso bedingt wie die innere Fremdheit der evangelischen Kirche gegenüber den "modernen" demokratischen und sozialen Kräften. Das hat noch die kirchenpolitische Szene der Zwanziger Jahre beherrscht, im Kirchenkampf nach 1933 tiefe Orientierungskrisen ausgelöst und nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem seit Mitte der 60er Jahre, zu einer überschwappenden ideologischen Gegenbewegung im Protestantismus geführt.

VI.

Die innere Trennung und äußere Abschichtung der Staatsgewalt und der Kirchengewalt ist das Ergebnis der kirchenrechtlichen Theorie. Ihre Denkfiguren wurden nach und nach in die Form staatlicher und kirchlicher Normen gegossen. Das 19. Jh. als ein historisches - besser: historisierendes - Jahrhundert benützte hierfür die begrifflichen Unterscheidungen aus der Epoche der altprotestantischen Orthodoxie. Die absolutistische, sich auf die Kirche erstreckende Staatsgewalt wurde theoretisch exakt in zwei Teile zerlegt: Das Kirchenregiment als innerkirchlicher Rechtstitel umfaßte das ius in sacra der eigentlichen Kirchenleitung. Scharf davon geschieden wurde die Kirchenhoheit des Staates als staatlicher Rechtstitel des ius circa sacra der staatlichen Schutz-, Aufsichts- und Förderungsrechte gegenüber allen Religionsgemeinschaften im Staat, also auch gegenüber der eigenen Landeskirche des Summepiskopus. Diese Grundunterscheidung hat sich als gemeindeutsche Rechtsfigur in allen deutschen Ländern und Landeskirchen des 19. Jh. durchgesetzt. Sie hatte enorme praktische Auswirkungen in dem politischen Ringen zwischen Monarchie und Volkssouveränität. Nur das ius circa sacra, die staatliche Kirchenhoheit, wurde nun als Teil der Staatsgewalt verstanden. Nur sie lag in der Hand des Monarchen als Staatsoberhaupt, nur sie wurde von der vorrückenden Volkssouveränität und Verfassungsgeltung der konstitutionellen Staatsverfassungen erfaßt. Nur die Akte des ius circa sacra unterfielen der Gegenzeichnungspflicht und Ministerverantwortlichkeit. Das eigentliche Kirchenregiment (ius in sacra) aber blieb nach der Theorie und weithin auch in der Praxis davon unberührt. So konnte sich der "Absolutismus" in der Kirchenverfassung weit länger halten als in der Staatsverfassung. Die Kirchen waren durch die Autonomiegarantie gegen Konstitutionalisierung und Demokratisierung abge12 Der Staat, Beiheft 11

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schirmt. Versuche der radikalen Linken zur etatistischen Zwangsemanzipation und Zwangsdemokratisierung der Landeskirchen wurden von den gemäßigten Liberalen in der Paulskirche und in der preußischen Verfassungsgebung von 1848/1850 wie auch anderwärts abgeblockt. Zur synodalen Beschränkung des Kirchenregiments kam es vor 1848 in Preußen eben nur für die Rheinische und Westfälische Provinzialkirche durch die Presbyterialund Synodalverfassung v. 5. 3. 1835, im übrigen evangelischen Deutschland erst in der 2. Hälfte, ja im letzten Viertel des 19. Jh. Zur Überraschung der Liberalen hat freilich später die Beteiligung des Kirchenvolkes durch Synodalwahlen das konservative Moment verstärkt und dem Summepiskopat bis 1918 einen soliden Rückhalt in der evangelischen Kirche verliehen. Zur Begründung des Summepiskopats griff man zurück auf die "altprotestantischen Kirchenverfassungstheorien" des Episkopal-, Territorial- und Kollegialsystems. Das Episkopalsystem wurde als das kirchenrechtliche System der protestantischen Orthodoxie (Friedrich Julius Stahl) gepriesen, weil es die Herrschaft des Lehrstandes in der Kirche begründe und den reformatorischen Auffassungen entspreche. Verworfen wurden hingegen (als weltliche Verirrung der Aufklärung) sowohl das Territorialsystem, weil es die Kirche als Staatsanstalt und die Kirchengewalt als Teil der Staatsgewalt dem Landesherrn ausliefere, als auch das Kollegialsystem, das die Kirche wie einen weltlichen Verein der Herrschaft der Vereinsgenossen unterwerfe. Die Theorie des Kirchenrechts ist mit diesem Rückgriff auf das Episkopalsystem die tragfähige theologische Begründung der Kirchenverfassung aus dem Erbe der Reformatoren schuldig geblieben. Das hat sich noch bei der kirchlichen Neuordnung nach Ende des Summepiskopats in den Zwanziger Jahren des 20. Jh. als Verlegenheit, im Kirchenkampf der Dreißiger Jahre als Versäumnis, ja Verhängnis erwiesen. Nicht von ungefähr: Denn das Episkopalsystem stammt nicht von den orthodoxen Theologen, geschweige denn von den Reformatoren, sondern von den evangelischen Juristen des späten 16. Jh. Und diese haben damit nicht die Herrschaft der orthodoxen Geistlichkeit, sondern die Herrschaft der weltlichen Obrigkeit in der Kirche begründet: Sie haben dafür die Formel "cuius regio - eius religio" geprägt, die paritätisch-doppelkonfessionell für wie gegen die evangelische Kirche verwendbar war und als symbolträchtige Parole kruder säkularer Staatskirchenherrschaft alsbald rapide Verbreitung fand. Das Episkopalsystem wie auch das Territorial- und (teilweise) das Kollegialsystem sind gründlich mißverstanden, wenn man in ihnen evangelische Kirchenverfassungslehren sieht: Sie sind staatsrechtliche, nicht theologische bzw. kirchenrechtliche Theorien gewesen. Ihr Ziel war gar nicht die theologisch fundierte Konzeption einer Kirchenverfassung auf dem Boden des evangelischen Bekenntnisses, sondern die juristische Verteidigung des

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evangelischen Kirchenwesens auf dem Boden des Reichs- und Territorialstaatsrechts. Die evangelische Kirche war in den Stürmen der Reformation und der Gegenreformation existentiell auf den Schutz ihrer Landesherren angewiesen, die für ihre Augsburgische Konfession Gut und Blut riskierten, als membra praecipua ecclesiae durch Visitationen, Vermittlung von Lehrgesprächen, Schutz des Kirchenguts vornehmlich am Aufbau des evangelischen Kirchenwesens mitwirkten, es in der doppelten Front gegen Kaiser und Hierarchie einerseits, gegen Schwärmer, Täufer, Bauern andererseits verteidigten. Mit der Verschärfung der Fronten nach dem Tridentinum (1563), seit dem Kölner Krieg (1583), den Aachener Händeln (1582-98), dem Vier-Kloster-Streit (1593 ff.) um das Kirchengut, besonders seit der Funktionsunfähigkeit der Kammergerichtsbarkeit (1588 ff.) und des Reichstags (1608), vollends in den Gefahren des Dreißigjährigen Krieges kam es entscheidend auf die Sicherung der evangelischen Kirche durch eine rechtlich unanfechtbare kirchliche Position der evangelischen Landesherren an. Das erstrebte und erreichte das Episkopalsystem: Es folgerte aus der Suspension der katholischen Bischofsjurisdiktion in § 20 des Augsburger Religionsfriedens von 1555 den Übergang aller Bischofsrechte auf die evangelischen Reichsstände. Theologisch befremdlich wurde also die evangelische Kirchenordnung mit katholischen Begriffen und Normen, das territoriale Kirchenregiment durch das Reichsrecht begründet. Diese rohe positivistisch-juristische Argumentation schnitt alle Beziehungen des evangelischen Kirchenrechts zu den reformatorischen Lehren von der Kirche, von Wort und Sakrament, Gesetz und Evangelium, den beiden Reichen und Regimenten, Bekenntnis, Amt, allgemeinem Priestertum und Gemeinde ab. Im Verzicht auf die evangelisch-theologische Argumentation lag freilich gerade ihre Stärke: Nach der Verwerfung der evangelischen Lehren durch das Tridentinum war die konfessionelle Konfrontation theologisch unüberwindlich geworden. Die theologische Berufung auf die evangelische Lehre hätte den evangelischen Juristen bei der katholischen Gegenseite nichts genützt, sondern geschadet, das Widerstandsrecht mobilisiert und schließlich in den Religionskrieg geführt, der durch die Friedensordnungen von 1555 und 1648 doch verhütet werden sollte. Die evangelische Jurisprudenz mußte stattdessen einen gemeinsamen Rechtsboden und eine paritätische, auch der katholischen Seite akzeptable Rechtsargumentation entwickeln. In diesem Sinne stützte sich die Episkopaltheorie konsequent auf das Reichsverfassungsrecht und auf das kanonische Recht, das ja als Teil des ius utrumque reichsrechtliche Geltung besaß. Und zur Ergänzung haben die meisten Episkopalisten auch unbefangen eine frühe Territorialtheorie entwickelt. Sie hat das Kirchenregiment nicht aus dem Reichsrecht, sondern aus der Territorialgewalt der jungen landesfürstlichen Obrigkeit, daneben aus dem byzantinischen Staatskirchenrecht (in einer interessanten Seitenlinie der 12'

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Rezeption des römischen Rechts), aus der ottonisch-salischen Königskirchenherrschaft und aus der Souveränitätslehre Bodins abgeleitet. So haben die evangelischen Juristen des Episkopal- und frühen Territorialsystems an die Reichsverfassung und Territorialverfassung, an das kanonische und an das römische Recht angeknüpft, um die tiefen Umbrüche der Reformation durch die Kontinuität des Rechts in Reich und Kirche im 16. Jh. zu überbrücken. Aber im 19. Jh. erscheint der Rückgriff auf das Episkopalsystem merkwürdig akademisch, ja abstrus - wenn man jene situationsgebundenen findigen Konstruktionen der alten Reichspublizistik nunmehr zum überzeitlichen, geistlich gültigen Kirchenverfassungsleitmodell hochstilisierte und dieses so unhistorisch historisierend wie die historischen Baustile übernahm. Die verwendbare Analogie betraf ja eine Äußerlichkeit: Die Episkopaltheorie hatte einst die duplex persona-Lehre vertreten, wonach der Landesherr das Kirchenregiment nicht iure territorii als Teil der Landesobrigkeit, sondern durch den besonderen Rechtstitel des Religionsfriedens zur treuhänderischen Ausübung (und Sicherung der Konsistorien gegenüber der weltlichen Behördenorganisation) erhalten haben sollte. Zur Trennung der Staats- und Kirchengewalt im 19. Jh. bot sich nun diese alte Unterscheidung der Episkopaltheorie als juristische Konstruktionshilfe für die Abschichtung der Rechte zwischen dem Staatsoberhaupt und Summepiskopus an. Aber die geistliche Begründung der Kirchenverfassung aus den rechtstheologischen Grundprinzipien der reformatorischen Ekklesiologie wurde in der juristischen Theorie und Praxis des Kirchenregiments im 19. Jh. weithin versäumt, als es zur protestantischen Mischverfassung des Summepiskopats mit konsistorial-synodalen Elementen kam.

w. Die "Religionsgesellschaft" ist ein Zentralbegriff des deutschen Staatskirchenrechts im 19. Jh. geworden. Die theologische Sicht der Kirche in ihrer Einheit, Einzigkeit, Universalität, Absolutheit als Gottes Stiftung und Heilswerk (nach dem Selbstverständnis jeder Konfession) ist aus dem Normhorizont und Begriffsinstrumentarium des weltlichen Staates und Staatskirchenrechts verschwunden, seit der "christliche Konfessionsstaat" mit seiner Landeskirche unterging. Dem Staat begegnen im 19. Jh. nun alle Religionsgemeinschaften distanziert im Plural als Körperschaften bekenntnisgleicher Religionsgenossen, also als menschlich gegründete und verfaßte Verbände, nicht als göttliche Stiftung mit unverfügbarem göttlichem Recht. Das System der "Religionsgesellschaften" hat damit im deutschen Staatskirchenrecht das ältere System der "Religionsparteien " abgelöst, das im

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Augsburger Religionsfrieden von 1555 und im Westfälischen Frieden von 1648 galt und das gewisse Nachwehen noch in der Deutschen Bundesakte von 1815 fand. Der Wandel von der Religionspartei zur Religionsgesellschaft markiert eine Wasserscheide in der Geschichtslandschaft des deutschen Staatskirchenrechts. Denn das Reichskirchenrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ging davon aus, daß es nur die eine wahre Kirche Jesu Christi gebe, nur sie Existenzberechtigung und Freiheit des Wirkens besaß und alle Häresien neben ihr verboten waren. Das Sektenverbot des Augsburger Religionsfriedens (§ 17) und des Westfälischen Friedens (IPO Art. VII § 25. 4) hat daran bis zum Ende des Reichs 1806 festgehalten; daß Friedrich der Große jedermann nach seiner Fafi!on selig werden ließ, bedeutete einen frivolen Bruch des Reichsverfassungsrechts durch den aufgeklärten Agnostiker. Nach der Glaubensspaltung erhoben beide Konfessionen weiterhin, ja erst recht den Anspruch auf Absolutheit und exklusive Geltung ihres Glaubens, auf ihre Identität mit der einen wahren Kirche, folglich auf den Besitz aller kirchlichen Ämter und allen Kirchengutes. Die religiöse Wahrheits frage stand seit der Reichsacht gegen Luther im Zentrum des Reichsverfassungsrechts. Doch hat sie sich weder durch ein Unionskonzil, noch durch Religionsgespräche, noch durch Reichsexekution und Religionskrieg lösen lassen - um den Sieg über den Schmalkaldischen Bund wurde der Kaiser durch den Fürstenaufstand Moritz' von Sachsen betrogen, um die Erfolge Wallensteins durch Gustav Adolf und Kurfürst Maximilian gebracht. So blieb die Wahrheits frage zwischen Katholiken und Protestanten von Reichsverfassungs wegen "suspendiert", d. h. vertagt bis zur konfessionellen Wiedervereinigung, die noch der Westfälische Friede mit einem Wiedervereinigungsgebot beschwor. Bis dahin wurde bei den streitigen Religionsparteien interimistisch Freiheit und Schutz gewährt, sowie der Bestand der Kirchenämter und Kir-

chengüter zwischen ihnen nach dem ius reformandi der Obrigkeit und einem Stichtag (dem Normaljahrssystem d.J. 1624) aufgeteilt. Die Einheit der Kirche erschien ja beiden Religionsparteien iure divino unaufgebbar, die Spaltung und Sezession als Bruch göttlichen und menschlichen Rechts. Der Religionsfriede war deshalb rechtlich eher eine Art (zweiter) Notstandsverfassung neben der eigentlichen Forma Imperii, weshalb er durch komplizierte juristische Notrechtsargumentationen (nach dem theologisch-juristischen Fundamentalprinzip von der Zulässigkeit eines unvermeidbaren geringeren Übels) gerechtfertigt wurde: Er sollte nur interimistisch (bis zu der aufgeschobenen, durch das Reichsverfassungsrecht 1555 und noch 1648 normativ aufgetragenen, wenngleich faktisch aufgegebenen Wiedervereinigung der Konfessionen) gelten und nur die Suspension, nicht Kassation des iure divino unaufhebbaren Rechts der wahren Konfession auf das ganze

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Kirchenwesen und Kirchengut enthalten. Noch im 18. Jh. wurde von der katholischen Jurisprudenz die Gültigkeit des Westfälischen Friedens bestritten und seine Geltung minimalisiert. Die beiden Religionsparteien wurden hierbei durch die evangelischen und die katholischen Reichsstände repräsentiert, die sich im Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum formierten und bedeutsame Verfassungsfunktionen übernahmen. Für den Historiker zeigt die Rechtsstellung der Religionsparteien gewisse Analogien zum modernen Parteienrecht: Auch die Religionsparteien sind zunächst außerhalb der Reichsverfassung aus den religiösen Selbsthilfeorganisationen des Schmalkaldischen Bundes, der Union und der Liga entstanden; sie wurden erst nach 1648 förmlich in die Reichsverfassung integriert und mit bedeutsamen Verfassungsfunktionen im Verfahren der itio in partes und amicabilis compositio betraut. So wurde organisatorisch die Kuriengliederung des Reichstags durch die Konfessionsgliederung der beiden Religionsparteien überlagert und verfahrensmäßig das Mehrheitsprinzip in den Reichstagsverhandlungen durch ihr vertragsartiges Kompositionsverfahren in der itio in partes modifiziert. Eine evangelische Kirche in Deutschland gab es nicht; erst 1922 haben sich die Landeskirchen zu einem Kirchenbund, erst 1946 zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zusammengeschlossen. Die evangelischen Konfessionsbelange wurden bis 1806 von den Reichsständen im Corpus Evangelicorum wahrgenommen, das eine hochpolitisierte kirchliche Surrogatfunktion für die fehlende evangelische Kirchenverfassung wahrnahm; sie konnten sich dabei als föderativ verbundene Summepiskopi ihrer heimischen Landeskirchen fühlen. Dieses notgedrungene, komplizierte Reichskirchenrecht des Konfessionellen Zeitalters - das auf der Einheit und Spaltung der Kirche zugleich beruhte, die Einheit als gespaltene Einheit festhielt und die Überwindung der Spaltung im Wiedervereinigungsgebot zum Ziel der Reichsverfassung proklamierte, bis dahin aber die Wahrheitsfrage und Einheitsbemühungen interimistisch suspendierte - wurde im späten 17. und dann im 18. Jh. durch die Idee der natürlichen Religion und der Gleichwertigkeit der positiven Religionen unterspült und überformt. Seit Samuel Pufendorf wurde der weltliche Korporationsbegriff als Prototyp der "Religionsgesellschaft" in das Staatskirchenrecht eingeführt, um die Pluralität der real existierenden Religionsgemeinschaften rechtlich adäquat zu erfassen und zu legitimieren und dadurch den gefährlichen Absolutheitsanspruch der Konfessionskirchen staatsrechtlich zu neutralisieren. Die Wahrheitsfrage wurde nun von dem sich zunehmend säkularisierenden Staate prinzipiell ausgeklammert, sie blieb im weltlichen Recht fortan rechtlich dahingestellt und wurde den Religionsgesellschaften zur je eigenen Beantwortung anheimgegeben. Diese innere Trennung des Staates von "der Kirche" in ihrem vom theologischen

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Verständnis (durch deren juristische Aufbereitung, Vervielfältigung, Verwandlung als menschliche Religionsgesellschaften) ging also der äußeren Trennung des Staates von der Kirche in ihrer juristischen Organisation um mehr als zwei Jahrhunderte voraus. Diese Denkformen hat die protestantische Kollegialtheorie konzipiert und breit entfaltet, auf deren Arbeitsergebnis schon das ALR und noch bis heute das Staatskirchenrecht der "Religionsgesellschaften" beruht.

vm. Eine tiefe Säkularisierung des Staatskirchenrechts hat sich mit diesem Übergang zum pluralistischen System der Religionsgesellschaften vollzogen. Der Staat gab sein bisher vornehmstes Staatsziel auf, den wahren Glauben gegen den Unglauben zu schützen und durchzusetzen, also Toleranz nur notgedrungen im Notstand nach Notrechtsargumenten einzuräumen (womit die Normaljahrsregelung des IPO von der katholischen Lehre, aber ebenso die Toleranz für Katholiken im evangelischen Territorialstaat von den orthodoxen Theologen und Juristen begründet worden war). Staatszweck war nicht mehr das ewige Heil, sondern der irdische Friede und Wohlstand der Untertanen. Die alten religionsrechtlichen Kompetenzen und Funktionen des Staates wurden entsprechend veräußerlicht und relativiert: Der Dienst der Obrigkeit für den wahren Glauben (i.S. der katholischen Kirchenvogtei und der evangelischen cura religionis) wandelte sich zum säkularen Selbstbehauptungsrecht des Staates gegen kirchliche Übergriffe in den emanzipierten Bereich des Staates und zum säkularen Schutzrecht des Staates gegen Übergriffe auf fremde Religionsgesellschaften. Das Staatskirchenrecht des Staates im 19. Jh. hat sich so im System der Religionsgesellschaften innerlich tief säkularisiert, relativiert und auf die immanenten Ordnungsaufgaben beschränkt, den transzendenten Sinn und Grund des Seins im Glauben aber in den staatlichen Normen nicht mehr angesprochen. Die Pluralität der Religionsgesellschaften erforderte vom Staat Neutralität und Nichtidentifikation (wie dies Herbert Krüger für die Gegenwart zum Begriff erhob). Das staatskirchenrechtliche System wandelte sich damit im Prinzip und im Detail: Die alte Ausrichtung und Sinnerfüllung seiner Normen und Begriffe durch die herrschende Landeskonfession und -kirche wurde ersetzt durch eine weite Öffnung gegenüber allen Religionsgesellschaften. Als Religion i.S. der Religionsfreiheit verstand die weltliche Verfassung nun alle Religionen aller Welt, bald unter Einschluß der Religi': onslosigkeit. Die staatskirchenrechtlichen Begriffe und Normen unterfielen einer prinzipiellen theologischen Sinnentleerung, Relativierung und Veräu-

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ßerlichung: Das Staatskirchenrecht wandelte sich zum äußeren weltlichen Rahmenrecht, das den geistlichen Kern der religiösen Phänomene (Gottesdienst, Liturgie, ius divinum) aussparte, sie vornehmlich als kulturelle und soziale Erscheinungen behandelte und sich auf die Ordnung der immanenten Notwendigkeiten beschränkte. Das moderne Staatskirchenrecht ist so auf die Pilatus-Frage gegründet worden. Sie ist von vielen liberalen und aufgeklärten Geistern seit dem 18. Jh. als zynische Antwort verstanden worden; das relativierte Religionsrecht des säkularen Staates läßt dies durchaus als eine legitime Position gelten. Ihre Verabsolutierung freilich - durch die Verabsolutierung der negativen Religionsfreiheit und negativen Religionsgleichheit zur strikten Ignorierung und Eliminierung alles Religiösen im weltlichen Recht - widerstreitet dem Sinn der Religionsfreiheitsgarantie, durch die der säkulare Staat die Pi latusfrage eben gerade nicht selbst beantwortet, sondern als Frage ernst nimmt und sie den Individuen und den Religionsgesellschaften zur Selbstbeantwortung in Selbstverantwortung anheimgegeben hat. Die kirchenpolitischen Krisen des 19. Jh. - im preußischen Mischehenstreit, bayerischen Kniebeugestreit, im Streit um die Bistumsbesetzungen, um die Union und die Agende, um die Unfehlbarkeits- und Universaljurisdiktionsbeschlüsse des Ersten Vaticanums, um ihr Placet und um ihre Folgen im Kulturkampf - werden mißverstanden, wenn man in ihnen meist und in erster Linie den Machtkampf um den Vorrang der geistlichen und weltlichen Gewalt und um die Abgrenzung des kirchlichen und staatlichen Bereichs erblickt, wie dies etwa Ernst Rudolf Huber und viele andere Autoren als die Kernfrage des Kulturkampfs bezeichnet haben. Die Krisen waren öfter noch die Folge dessen, daß der Staat die säkulare Selbstbeschränkung seiner Staatsziele und Kompetenzen aufgab und geistliche Entscheidungen traf, für die ihm keine tauglichen geistlichen Maßstäbe und Mittel zur Verfügung standen, weshalb sich hier der machtvollste Militär- und Kulturstaat Europas als erstaunlich schwach erwies und gerade dann Niederlagen zu erleiden hatte, wenn er seine äußeren Machtmittel rücksichtslos zur Anwendung brachte. Die Säkularisierung kann nicht auf das Problem der Zuständigkeitsabgrenzung reduziert werden, das erst die Konsequenzen aus dem materialen Selbstverständnis des Staates, aus seinen Staatszielen und aus den davon bestimmten materialen Maßstäben der Staatsfunktionen zieht. Das Grundproblem des Staatskirchenrechts im 19. Jh. bis heute lag darin, Formen zu finden, die der Einheit des Staates und der Vielheit der Religionsgesellschaften genügten, die Relativität des staatlichen Rechts und die Absolutheit der kirchlichen Botschaft zum Ausgleich brachten, die Beschränkung des Staatskirchenrechts auf das Immanente wahrten und es zu-

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gleich für die Transzendenz des Religiösen offenhielten. Es galt und gilt, das säkulare Abstrahieren der staatlichen Form vom religiösen Sinngehalt durchzuhalten ohne die Religionsgesellschaften selbst säkularisierend zu verfremden, die Allgemeinheit des Staatskirchenrechts für alle Religionsgesellschaften zu wahren und dabei die jeweilige Besonderheit der Religionsgemeinschaften nicht anzutasten oder aufzulösen, in den generellen Begriffen und Normen des Staates das Spezielle und Individuelle des Glaubensverständnisses zu schützen und zu hegen. - Die freiheitliche Offenheit dieses relativistischen Staatskirchenrechts für die sich mehrende Pluralität der Religionsgesellschaften war einer doppelten Gefährdung ausgesetzt: Wenn sich der Staat zu religiöser Parteinahme und Intervention entschloß, wenn insbesondere eine religiös berührte Herrscherpersönlichkeit wie Friedrich Wilhelm IV von Preußen sich nicht an die Rollentrennung als Staatsoberhaupt und Summepiskopus hielt, und andererseits, wenn weltanschaulich engagierte Kammern wie im Kulturkampf die Religionsgesellschaften LS. ihrer säkularen Weltanschauung zu beglücken und zu befreien suchten.

IX.

Die Freiheitsfrage zeigt verwirrende Facetten im staatskirchenrechtlichen Spannungsfeld. Im protestantischen und liberalen Lager hat man sich gerne mit Pathos auf die Freiheitsparolen der Reformation berufen und in Martin Luther den geistlichen Herkules der modemen Glaubens- und Gewissensfreiheit gegen die Knechtung der Welt durch das Papsttum erblickt, das im Syllabus von 1864 die säkularen Bewegungen des Liberalismus, der Volkssouveränität, des Sozialismus ebenso schroff verworfen hatte wie die Prinzipien des modemen Verfassungsstaates über die Religionsfreiheit, die Trennung von Staat und Kirche, den Vorrang der Staatsgesetze; gerade dafür aber hat die liberale, protestantisch geprägte Parteikonstellation das Staatskirchenrecht im Kulturkampf massiv eingesetzt. Die Freiheitsfrage stellte sich freilich schon im 16. Jh. viel komplexer und differenzierter dar: Die lutherische "Freiheit des Christenmenschen" ist vom modemen Freiheitsverständnis der Aufklärung und der idealistischen Philosophie, der liberalen Parteien und auch der staatlichen Religionsfreiheitsgarantie durch eine Welt geschieden. Freiheit ist für sie ein strikt theologisch definierter soteriologischer Begriff im paulinischen Sinn: Als Freiheit von Sünde, Irrtum und ewiger Verdammnis, als ein Gnadengeschenk, das aus der reinen Verkündigung der Offenbarung Gottes dem Glaubenden im Rechtfertigungsgeschehen zuteil wird: Freiheit sola fide, sola gratia, sola

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scriptura meint Freiheit zum wahren Gottes- und Nächstendienst, nicht aber zum Abfall vom Evangelium, der in die Knechtschaft des Satans versklavt. Dieser theologische Freiheitsbegriff ist für das evangelische Kirchenrecht im Amts-, Dienst- und Lehrordnungsrecht bis heute maßgeblich geblieben; danach handeln wir in den kirchlichen Gerichten. Der lutherische Freiheitsbegriff wurde freilich schon im Reichskirchenrecht des Konfessionellen Zeitalters paritätisch neutralisiert und säkularisiert, da der Religionsfriede 1555 die theologische Wahrheitsfrage zwischen den Katholiken und Lutheranern eben suspendierte und beiden (nicht den Sekten) im beneficium emigrandi eine erste Garantie der Glaubensfreiheit im Gewand der religiösen Freizügigkeit verlieh. - Der Neustoizismus und die "Natürliche Theologie" des 17. Jh. und vollends die Philosophie der Aufklärung hat dann die Religionsfreiheitsgarantie weiter relativiert, theologisch entleert und säkularisiert. In der Deutschen Bundesakte von 1815 ist sie noch auf die drei christlichen Hauptkonfessionen der Katholiken, Lutheraner und Reformierten beschränkt; im Laufe des Jahrhunderts wird sie auf alle Sektierer ausgedehnt und später auch den Atheisten eingeräumt. Die Religionsfreiheit wurde so generalisiert für alle Religionen und abstrahiert von allen besonderen Bekenntnisinhalten - sie wird seither als säkularer Rahmenbegriff garantiert. Zwischen dem Freiheitsbegriff der Theologie (und des Kirchenrechts, im evangelischen wie - wenn auch anders - im katholischen Verständnis) und dem Freiheitsbegriff der staatlichen Religionsfreiheitsgarantie bestand somit eine prinzipielle Differenz, die z.T. zum Kontrast, z.T. zur Kongruenz gedieh. Die säkulare Freiheitsgarantie ermöglichte im Kontrast jedem Individuum den Glaubensabfall, den die Kirche in ihrer Kirchenrechtsordnung nicht als Freiheitsäußerung, sondern Freiheitsverfehlung, ja Freiheitsverlust ansah und deshalb bei ihren Gliedern, insbesondere den geistlichen Amtsträgern, mit Rechtsentzug und Amtsverlust sanktionierte. Im Kulturkampf kam es darüber beispielhaft zum Konflikt: Die deutschen Staaten, Preußen vorab, sind in ihn durch die altkatholischen Feldgeistlichen, Religionslehrer und Theologieprofessoren hineingezogen worden, deren religiöse Freiheit das staatliche Beamten- und Amtsrecht gegen ihre Kirche zu schützen versuchte und sie in ihren religiösen Ämtern halten wollte, während die katholische Kirche darin die Verkennung der wahren Freiheit des Gläubigen und eine massive Verletzung der Freiheit der Kirche sah. Im Vordergrund stand und steht jedoch das Kongruenzverhältnis: Die säkulare Rahmenform war und ist dazu bestimmt, den Bürgern und Religionsgesellschaften die Freiheitsentfaltung ihres Glaubens im Eigensinne ihres theologischen Verständnisses von Freiheit und Bekenntnisbindung zu gewährleisten - also das Absolute und Transzendente in den relativierten, auf

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immanente Ziele beschränkten Formen des Staatskirchenrechts zu hegen und zu pflegen. Kontrast und Kongruenz waren intrikat verknüpft: Wenn die positive Religionsfreiheit jedem Bürger gleichermaßen garantierte, dem Absolutheitsanspruch seiner Religion nachzufolgen, schloß dies notwendig die negative Religionsfreiheit zur Abkehr von allen anderen Religionen ein. Wenn der Staat jeder Religionsgesellschaft gleichermaßen die Freiheit zur Verkündigung der Absolutheit ihres Bekenntnisses für ihre Mitglieder gegen Übergriffe der anderen Religionsgesellschaften sichern wollte, mußte er den Absolutheitsanspruch aller Religionen notwendig relativieren und begrenzen, indem er jeder jeden Zugriff auf die fremden Religionsgesellschaften und deren Religionsgenossen verwehrte. Die negative Religionsfreiheit stellte die notwendige Kehrseite der positiven Religionsfreiheit im Pluralismus der Religionsgesellschaften dar. Die staatliche Freiheitsgarantie sollte als weltliche Schale für jedermann die eigene religiöse Sinnbestimmung des Freiheitsverständnisses schützen. Die Säkularisierung und religiöse Sinnentleerung der staatlichen Rechtsform sollte den religiösen Gehalt des Glaubensund Freiheitsverständnisses nicht säkularisieren, sondern davor sichern. Auch bei den anderen Begriffen und Instituten des Staatskirchenrechts ist die gleiche Ambivalenz zu erkennen: Die Säkularisierung der Rechtsformen im weltlichen Staat hat keineswegs die Säkularisierung des Religiösen und der Kirche selbst bezweckt und bewirkt. Sie hat vielmehr die geistliche Freiheit der Kirche und des Glaubens aus den Verstrickungen in die weltlichen Formen des Staatskirchenturns, in seine Zwangsstrukturen und in seine politische Instrumentalisierung des Religiösen dialektisch aufgehoben. Die Auswirkungen der Religionsfreiheit auf die Kirchenpolitik und die Rechtsfortbildung waren durchaus ambivalent. Auf der einen Seite hat sie einen mächtigen Schub LS. der liberalen Emanzipation des Individuums, des Abbaus staatskirchlicher Strukturen, der Trennung von Staat und Kirche ausgelöst und die Entkonfessionalisierung der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte des Individuums, ja des Privatrechts und des öffentlichen Rechts insgesamt vorangetrieben. Zwar galten die Grundrechte im 19. Jh. noch als legislatorische Programmatik und nicht im unmittelbaren Durchgriff auf das gesetzliche Recht. Aber die Religionsfreiheit verwehrte, daß der Staat die Bürger an die Kirchen band. Vor allem der Kulturkampf hat sich in dieser Weise ausgewirkt. Die Zivilehe und das zivile Personenstandswesen haben den mittelbaren Zwang zur Vornahme religiöser Handlungen hinfällig werden lassen; auch das Kirchenaustrittsrecht, die Begrenzung der kirchlichen Straf- und Zuchtgewalt zählen zu den bleibenden Errungenschaften der Kulturkampfzeit. Das Gesetz des Norddeutschen Bundes v. 3. 7. 1869 garantierte die Unabhängigkeit der bürgerlichen und

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staatsbürgerlichen Rechte vom Bekenntnis, anknüpfend an Art. 16 der Bundesakte von 1815. Eigenartigerweise sind diese Sicherungen der Religionsfreiheit vor mittelbaren Beeinträchtigungen durch das Reichsrecht früher und stärker verbürgt gewesen als die Garantie der Religionsfreiheit und religiösen Vereinigungsfreiheit selbst, die bis 1918 Landessache und länderweise mannigfach abgestuft blieben. Andererseits kam es im Laufe des 19. Jh. zu bedeutsamen Akzentverschiebungen. Die Religionsfreiheit war zunächst nur für den Freigeist und Dissidenten aktuell, solange die kirchentreue Bevölkerungsmehrheit fest in die Volkskirchenstrukturen eingebunden war und sich in der Obhut des christlichen Staates, seiner Kirchenkuratel und Kirchenaufsichtsrechte geborgen fühlte. Die Religionsfreiheit wurde so insbesondere zum antireligiösen Kampfinstrument gegen die Religion: Sie wurde als Abwehr- und Ausgrenzungsfreiheit gegen den religiösen Zwang des Bundes von Thron und Altar benützt. Aber im Zuge der religiösen Erneuerung und der konfessionellen Auseinandersetzungen (um die Mischehe, den Hermesianismus, den Kölner Konflikt, die Evangelische Union) und vollends im Kulturkampf gewann die "positive" Religionsfreiheit der kirchlich gebundenen Bevölkerungsmehrheiten politische und rechtliche Brisanz. Sie gab der kirchlichen Autonomie entscheidende Verstärkung, half mit zur Selbstbehauptung der Kirche und schließlich zur Aufhebung der etatistischen Kampfgesetze. Die institutionelle Autonomiegarantie der Religionsgesellschaften wurde schon im 19. Jh. so durch die Religionsfreiheit korporativ qualifiziert und unterfangen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit der Gegenwart hat in logischer Fortentwicklung dieser Linie die kirchliche Eigenständigkeitsgarantie über Art. 137 III WRV/140 GG hinaus auf Art. 4 GG gestützt und ihr die Verfassungsbeschwerde geöffnet. Mit der fortschreitenden Säkularisierung des Staates ist die Religionsfreiheit zunehmend zum Instrument der Gegenwehr gegen die laizistische Eliminierung des Religiösen aus dem staatlichen Recht geworden. Die höchstrichterliche Judikatur hat dieses alte Phänomen als "Ausstrahlungswirkung" der Religionsfreiheit auf den Begriff gebracht. Das hat die alten institutionellen Privilegien der Großkirchen mit moderner, individualrechtlicher und korporativer Legitimation ausgestattet und sie als Formen gemeinschaftlicher Religionsausübung im Religionsunterricht, der Anstalts- und Militärseelsorge, der Feiertagsgarantie u.a.m. erhalten. Die Religionsfreiheit hat also einerseits die Trennung von Staat und Kirche befördert und die alten staatskirchlichen Verbundenheiten aufgelöst. Andererseits hat die Religionsfreiheit zur freiheitlichen Offenheit des staatlichen Rechts für das Religiöse geführt und seine laizistische Verengung verhindert. So hat der deutsche Kulturstaat des 19. Jh. niemals das altliberale Modell der scharfen Trennung von Staat und Religion in der staatlichen Erziehung,

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Wissenschaftspflege, Denkmalpflege und Museumspraxis durchgeführt, sondern den religiös durchwalteten Kulturbereich in der Form der "gemeinsamen Angelegenheiten" in Kooperation mit den Kirchen betreut. Die Achtung der kirchlichen Entscheidungen hinsichtlich der geistlichen Aspekte und Maßstäbe im Religionsunterricht, theologischen Fakultätenwesen, Denkmalschutz, ist schon im 19. Jh. nicht nur als institutionelles Kirchenprivileg, sondern als Folge der Religionsfreiheit der Bürger verstanden worden. In diesem Sinn wurde die Paulskirche von Petitionen zum Staatskirchenrecht aus allen deutschen Landen überschwemmt; die Solidarisierung der katholischen Bevölkerung mit der Amtskirche im preußischen Mischehenstreit und im Kulturkampf ist ebenfalls beispielhaft hierfür. Und diese Ausstrahlungswirkung der Religionsfreiheit hat sich im 20. Jh. mit der Ausdehnung der staatlichen Funktionen auf den ehemals staats freien Bereich der Gesellschaft verstärkt, wie die Berücksichtigungspflichten, Subsidiaritätsgebote, Kooperationsnormen in den Verwaltungsgesetzen zur Sozialhilfe, Jugendwohlfahrt, zum Krankenhaus- und Kindergartenwesen, Bauordnungsrecht und Medienrecht belegen. Die neuen Rechtsentwicklungen haben die Ansätze des 19. Jh. hier in der Breite ausgebaut.

x. Die Gleichheit - die Parität - der Religionsgesellschaften, aber auch der Bürger bildete im 19. Jh. ein Kardinalproblem der Kirchenpolitik und des Staatskirchenrechts. Ihr Rechtscharakter war umstritten: Als Rechtsnorm galt die Parität der Individuen, soweit Religionsfreiheit für jedermann durch Landesverfassungsartikel garantiert und die bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichheit unabhängig vom Bekenntnis durch Reichsgesetz verbürgt waren. Vor 1918 existierte hingegen nicht überall die Gleichheit der freien öffentlichen Religionsausübung und der religiösen Vereinigung. - Die Parität der Religionsgesellschaften aber galt ganz überwiegend als politische Maxime, nicht als Rechtsgebot, was jedoch einzuschränken ist: Zwar bestand ein rechtlich ungebundener politischer Spielraum der Regierung zur Bevorzugung und Benachteiligung der Religionsgesellschaften je nach den kirchen- und kulturpolitischen Programmen und Bedürfnissen. Aber verfassungsrechtlich normiert war die Parität der Religionsgesellschaften, soweit ihnen durch die Landesverfassung die Autonomiegarantie, Freiheit des Ämterrechts, Kirchenguts- und Staatsleistungsgarantien und andere Privilegien eingeräumt waren.

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Das Paritätssystem des 19. Jh. war inhaltlich hoch ausdifferenziert: Die "bürgerliche Parität" der Individuen wurde als Komplementärgarantie der individuellen Religionsfreiheit in den Landesverfassungen für jedermann i.S. jeder Religion, bald auch der Religionslosigkeit verbürgt. Gleichheit bedeutete hier Abstrahierung von den Bekenntnisunterschieden und Ausgrenzung des Religiösen aus dem staatlichen Recht, gemäß dem liberalen Freiheitsverständnis der Ausgrenzungs- und Abwehrfreiheit. Gleichheit bedeutete zwar gleiches Recht des Zugangs zur, aber auch der Abkehr von der Religion. Sie wirkte sich vor allem in der zweiten Richtung der Entkonfessionalisierung des bürgerlichen und öffentlichen Rechts, etwa des Eheund Beamtenrechts aus, weil Gleichheit angesichts der Religionsverschiedenheiten für den Staat am leichtesten durch gleichmäßige Ausschaltung des Religiösen aus der weltlichen Rechtsordnung zu bewerkstelligen war. Die Parität der Religionsgesellschaften hingegen war in den Landesverfassungen und den Landesgesetzen auf den Spuren des bayerischen Religionsedikts von 1809/1818 in drei Gruppen abgestuft. Die erste Gruppe umfaßte die beiden Großkirchen mit öffentlichrechtlicher Korporationsqualität und erheblichen Privilegien, die zweite Gruppe bildeten die anderen öffentlichrechtlichen Religionsgesellschaften, die dritte die kleinen Religionsgemeinschaften des Privatrechts. Für die erste galt das System enger institutioneller Verbindung zwischen Staat und Kirche, für die zweite ein System begrenzter öffentlichrechtlicher Sonderstellung, für die dritte ein System scharfer Trennung von Kirche und Staat. Das Paritätssystem suchte Gleichheit also durch die Verschiedenbehandlung des Verschiedenen in gleichmäßiger Abstufung je nach der verschiedenen Struktur, Zielsetzung und öffentlichen Bedeutung der Religionsgesellschaften zu realisieren. Der Staat, der sich im Übergang vom christlichen Konfessionsstaat zum paritätisch-christlichen Staat (mit Ausrichtung auf die beiden Großkirchen) und dann zum weltlich-neutralen Staat befand, nahm dabei die Kompetenz zu einer aktiven Religionspolitik nach eigenen "christlichen" Maßstäben in Anspruch. So kam es zur komplizierten Kombination verschiedener Gleichheitsformen. Den Großkirchen gegenüber verfolgte der Staat das Prinzip der angemessenen Berücksichtigung ihrer religiösen Prinzipien und Aktivitäten im staatlichen Recht (besonders im Erziehungswesen), den kleinen gegenüber das Prinzip der gleichmäßigen Ignorierung ihrer religiösen Anliegen. Der christlich-paritätische Staat suchte sich auf die beiden Großkirchen zu stützen, in deren staatstragender Vermittlung von Gehorsam, Gesetzestreue, Familiensinn und Arbeitsethos er ein Bollwerk gegen den politischen und sozialen Umsturz sah. Dabei wurden auch die katholische und evangelische Kirche in den deutschen Ländern verschieden behandelt, je nach der

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konfessionell geprägten Tradition der deutschen Staaten und nach der Nähe oder Distanziertheit der Kirchen zum Staat. Die katholische Kirche suchte die staatlichen Kirchenaufsichtsrechte abzuschütteln, also Freiheit "vom" Staat zu erkämpfen, die evangelische Kirche aber die Verbundenheit mit dem Staat, den Fortbestand des Landesherrlichen Kirchenregiments, des christlichen Staatscharakters, also die Entfaltung "im" Staat durch dessen Förderung zu wahren. Formalparität durch gleiche Rechtsformen konnte materiell imparitätisch sein, wenn sie von parteiischen Prinzipien ausging. Die tiefe Verschiedenheit der beiden Großkirchen in ihrer Organisationsform, ihrer Staats- und Rechtsauffassung, ihren kirchenpolitischen Linien und gesellschaftlichen Aktivitäten ließen die äußerliche, formale Gleichbehandlung fragwürdig, ja vielfach zur Farce werden. Die Gleichberechtigung wurde nicht gewahrt, sondern verletzt, wenn der Staat einer der Großkirchen "gleichmäßig" Strukturen der anderen aufoktroyierte: wenn er etwa im Kulturkampf das liberal-protestantische Gemeindemodell den katholischen Diözesen und Pfarreien in der örtlichen Vermögensverwaltung aufzwang, desgleichen wenn er den großen Volkskirchen gegen ihren Willen die Organisationsstrukturen der Freikirchen aufoktroyierte, oder wenn er alle Religionsgemeinschaften unter Mißachtung ihrer theologischen Ordnungsstrukturen den Formen des säkularen Vereinsrechts unterwarf, d. h. Papst und Bischöfe als absetzbare Vereinsvorstände behandelte. Wirkliche, d. h. materiale Parität ließ sich nur dadurch erreichen, daß der Staat die verschiedenen Prinzipien und Organisationsformen der Religionsgemeinschaften gleichwertig respektierte, sie desh!llb einerseits in seiner Rechtsordnung mit gleichwertiger Differenziertheit berücksichtigte und zur freien Entfaltung kommen ließ, sie aber andererseits ohne religiöse Diskriminierung an die staatlichen Schrankennormen zur Wahrung der vorrangigen Gemeinwohlbelange band. Materialer Parität entsprach es, wenn der Staat (ihren Leitprinzipien, Leitvorstellungen und Wünschen entsprechend) der katholischen Kirche ein größeres Maß an Autonomie, der evangelischen an Staatsnähe und Verbundenheit, den Freikirchen an Distanz vom öffentlichen Wesen zumaß. Darauf hat sich das Staatskirchenrecht im Ganzen eingependelt, wenn man die staatskirchenrechtlichen Verschiedenheiten in den Ländern generalisierend auf einen Nenner bringen will. Die Paulskirche wollte freilich das überkommene System der differenzierten Religionspflege stärker nivellieren durch ihr striktes Gleichstellungsgebot: "Keine Religionsgesellschaft genießt vor andern Vorrechte durch den Staat" (§ 147 Abs. 2 der Reichsverfassung v. 28. 3. 1849). Ob diese formalparitätische Regelung angesichts der enormen Unterschiede zwischen den großen Volkskirchen, den Freikirchen und den kleinen Sekten (in ihrer Organisation, ihrer öffentlichen Wirksamkeit und Wertschätzung) der Bevöl-

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kerungsmehrheit um die Jahrhundertmitte im materialparitätischen Sinn als angemessen und gerecht erschien, mag bezweifelt werden und als Definitionsfrage offenbleiben. Die Weimarer Verfassung ist der staatskirchenrechtlichen Konzeption der Paulskirche in diesem Punkte nicht gefolgt: Zwar hat sie das gestufte Paritätssystem mit seiner Privilegierung der Großkirchen beseitigt. Aber statt die großen Religionsgemeinschaften aus dem öffentlichen Recht zu verweisen und auf den privatrechtlichen Vereinsstatus herabzudrücken, hat sie die öffentlichrechtliche Korporationsqualität und die öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten (mit Kirchensteuer, Religionsunterricht, Militär- und Anstaltsseelsorge USw.) auch den kleinen Religionsgesellschaften angeboten, sofern sie gewisse soziologische Mindestvoraussetzungen erfüllten. So wurden die Vorrechte der Großkirchen in der Sache nicht aufgehoben, aber ihr Privilegiencharakter abgestreift. Die volkskirchlichen Strukturen der großen Kirchen wurden erhalten, aber die Diskriminierung der kleinen Religionsgesellschaften aufgehoben. Das Paritäts system der konstitutionellen Monarchie aus dem 19. Jh. wurde auf diese Weise durch die Weimarer Verfassung weiterhin formalparitätisch säkularisiert: Die obrigkeitliche Reglementierung der Religionsverhältnisse wurde nun 1919 durch die liberale Selbstbestimmung und Entfaltungsfreiheit abgelöst; die "Gleichheit des Gebotes" wurde zur "Gleichheit des Angebots". Damit fand die aktive Religionspolitik des verblassenden "christlichen Staates" ihr Ende; sie wurde abgelöst durch die religiöse Abstinenz der Republik, die fortan auf religiöse Wertungen und Entscheidungen verzichtete. - Die neue Gleichbehandlung mit den kleinen Religionsgesellschaften wurde freilich von den großen Kirchen mit Befremden aufgenommen und als Benachteiligung empfunden, weil sie vom status quo ihrer bisherigen Bevorzugung als Vergleichsgrundlage ausgingen. Vor allem die evangelische Kirche fühlte sich durch die Republik aus der bisherigen Verbundenheit mit dem monarchischen Staat verstoßen und im Verhältnis zur katholischen Kirche imparitätisch benachteiligt. Doch haben sich die Sorgen der beiden großen Kirchen vor der "Indifferenz" und "Nivellierung" als unbegründet erwiesen, worauf im Ausblick hingewiesen sei: Die liberale Gleichheit im Verfassungs status aller ReligionsgeseIlschaften wirkt nicht nivellierend, sondern differenzierend, weil die großen und kleinen Religionsgemeinschaften nach ihrer unterschiedlichen Größe, Kraft und Zielsetzung aus gleichen Rechtsbedingungen höchst ungleiche Wirkungsergebnisse erzielen. Und auch der säkulare Charakter des Paritätssystems von Weimar hat keineswegs säkularisierend gewirkt, da sich das Staatskirchenrecht - wie skizziert - gerade durch die säkulare Sinnentleerung der staatskirchenrechtlichen Normen und Begriffe auf sä-

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kulare Rahmenformen reduzierte, in denen das religiöse Selbstverständnis der großen und der kleinen Religionsgemeinschaften ohne Verfremdung und Nivellierung geschützt ist und sich frei in der Welt entfalten kann.

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Aussprache

Sprandel: Ich möchte den Begriff der Säkularisierung hinterfragen, den Herr Heckel, wenn ich ihn richtig verstanden habe, in einer dialektischen Weise gebraucht. Er spricht von einer Säkularisierung der Kirche und von einer Säkularisierung des Staates. Die Säkularisierung der Kirche ist immer dann eingetreten, wenn die Kirche sich mit weltlichen Belangen und Kompetenzen auffüllte. Heißt das: Das geistliche Fürstentum ist bis etwa 1800 eine säkularisierte Kirche gewesen, die Aufhebung dieses geistlichen Fürstentums eine Entsäkularisierung der Kirche? Das kehrte den alltäglichen Sprachgebrauch um, der gerade diese Aufhebung der geistlichen Landeshoheit als die Säkularisation der Kirche bezeichnet. Heckel: Der Säkularisierungsbegriff ist höchst vielseitig und komplex. Bei ihm kommt es zum einen darauf an, was unter "Christentum" und unter "Kirche" zu verstehen ist; dies wird im katholischen und im evangelischen Verständnis der Kirche und ihres Verhältnisses zur Welt sehr verschieden definiert. Zum anderen kommt es darauf an, was man unter der "Welt" versteht, welcher Begriff von Weltlichkeit der "Verweltlichung" zugrundeliegt. Im protestantisch-reformatorischen Sinn haben die geistlichen Fürstentümer natürlich eine schreckliche Säkularisierung der Kirche enthalten: Das Geistliche - i.S. der lutherischen Lehre von den zwei Regimentern - wurde hier in das Weltliche hinein erstreckt und verstrickt. Die Priesterherrschaft über die Welt erscheint als Verweltlichung der Kirche selber. Wenn nun diese säkulare Verweltlichung der Kirche durch die Säkularisierung der geistlichen Fürstentümer seit der Reformation bis hin zum Reichsdeputationshauptschluß von 1803 beseitigt wird, dann erscheint sie als eine "Vergeistlichung" der Kirche. Man muß hier jeweils die theologische Definition von Kirche und Welt im Blick haben. Im Investiturstreit ist das ottonisch-salische Königskirchenregiment der weltlichen Herrscher, in dem ein Laie die Bischöfe einsetzt, von der kirchlichen Reformpartei als Verweltlichung der Kirche angesehen worden und deshalb beseitigt worden durch eine Entsakralisierung des weltlichen Herrscheramtes, in der in gewissem Sinn eine "Säkularisierung" des weltlichen Herrscheramtes lag - aber natürlich nicht, um dieses in die aufgeklärte säkulare Emanzipation von der Kirche zu entlassen, sondern um es als weltlichen Arm der Kirche unter die kirchliche Weltherrschaft zu beugen. 13·

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Aussprache

Genau in dieser Weltherrschaft der Kirche erblickten dann spätmittelalterliche Theoretiker und Kritiker des Papalsystems, aber auch die Reformatoren und weithin die moderne Geschichtswissenschaft eine "Säkularisierung" der Kirche, die ihrerseits durch die Beseitigung der kirchlichen Weltherrschaft ins Reine gebracht werden muß - so daß in diesem Vorgang die Säkularisierung (der weltlichen Güter und Herrschaftsrechte der Kirche) und zugleich die Entsäkularisierung der Kirche selber - je nach den verwendeten Kriterien und Aspekten - zu finden ist. Darin äußert sich das Kampfmoment der Säkularisierungsbegriffe und -prozesse, auch 1803.

Link: Herr Heckel hat uns ein großes Gemälde vorgeführt. Mir fehlt darin freilich, daß der säkularisierende Staat des 19. Jh. dieses Terrain nicht einfach aufgegeben, sondern es zunächst mit veränderten Vorstellungen besetzt hat, die aus der idealistischen Philosophie kamen: mit der Hegel'schen Staatsidee, mit dem Staat als Wirklichkeit, mit der sittlichen Idee. Das hat Konflikte heraufbeschworen, weil Staat und Kirche lange Zeit das gleiche Terrain beansprucht haben. Das führte zu der Katastrophe des Kulturkampfs. Der Anspruch des Staats, die wahre Sittlichkeit im Sinne Hegels durchzusetzen, schlug fehl. Heckel: Ich weiß, was Sie meinen; ich habe dazu in meiner Säkularisierungsabhandlung (ZRG 97 [1980], Kan. Abt. 66, S. 1 ff., 72 ff.) Stellung genommen. Die Hegel'sche Rechte läßt die Kirche im Staat aufgehen, weil der Staat die Verkörperung der sittlichen Ideen ist, ja die Inkarnation des Christentums sein soll. Verweltlichung des Christentums bedeutet hier sein Wirklichwerden in der Welt, wie die Inkarnation Christi die Menschwerdung Gottes bewirkt. In diesem Sinne werden unter Hegel Kirche und Staat zu etwas ganz anderem und großem aufgebaut. Ob das nicht seinerseits eine Form der Säkularisierung ist, mag hier dahinstehen; für die Hegelianer ist das die Vollendung des Wirklichwerdens Gottes in der Welt. Reformatorisch gesehen liegt hierin sicher eine geistliche Überhöhung der Staatsidee mit sehr ungünstigen Auswirkungen auch in der Welt. Daß der Kulturkampf auf der katholischen Seite Animositäten mobilisiert hat, halte ich für sehr verständlich. Doch kann ich im Kulturkampf nicht schlechthin eine Katastrophe erblicken. Ich glaube, daß der Kulturkampf ein notwendiges Fieberstadium des modernen Verfassungsstaates war, um diese Antinomien durchzukämpfen und dann zu einer reifen, offenen Form der Säkularisierung des Staatskirchenrechts in der pluralistischen, religions offenen Gesellschaft zu gelangen. Aus dem Kulturkampf hat sich vieles bis zum heutigen Tage durchgesetzt. Aber ich beurteile das natürlich von der protestantischen Konfession aus und habe da auch gewisse Schwierigkeiten der evangelischen Kirche im Blick, die durch ihre enge Verbindung mit den konservativen Kräften im 19. Jh. und heute mit den gegenteiligen Strömungen erwachsen.

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Baumgart: Herr Heckel, welche Bedeutung hat in Ihrem so imposanten Gemälde dieses Staatskirchensystems denn die jüdische Minorität? Sie kommt als Begriff in ihrem Vortrag nicht vor. Sie ist aber als historisches Phänomen seit der Französischen Revolution ein Korrelat dieser Entwicklung, die hier gezeichnet wurde. Deshalb würde mich interessieren, unter welches der Stichworte, die sie genannt haben, das Judenproblem, wenn ich es einmal so apostrophieren darf, denn fiele. Lediglich unter die Freiheitsfrage? Heckel: Die jüdische Minorität kommt im Staatskirchenrecht unter dem Begriff der Religionsgesellschaft mit den Freiheitsmöglichkeiten vor, die der säkulare Staat einräumt. Die israelitische Religionsgemeinschaft konnte auch die Vorrechte der Großkirchen etwa im Religionsunterricht in Anspruch nehmen, wenn sie die Mindestschülerzahlen und die Voraussetzungen der Religionslehrerausbildung usw. erfüllte. Sie ist eine Religionsgemeinschaft wie viele andere auch. Die Privilegien der Großkirchen sind seit der Weimarer Verfassung abgeschafft, genauer: der Privilegiencharakter der kirchlichen Wirkungsmöglichkeiten ist durch die Weimarer Verfassung beseitigt worden, so daß sie bei der Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen allen Religionsgesellschaften offenstehen. Miethke: Ich frage mich, ob es angängig ist, den Säkularisierungsbegriff so weit verschwimmen zu lassen. Wenn Sie sagen, Säkularisierung hänge ab davon, wie man Welt und Kirche verstehe, so ist dem natürlich beizupflichten; aber wenn am Ende die Aussage steht, die Säkularisierung sei eigentlich die wahre Entsäkularisierung, dann frage ich mich, ob der Begriff noch zu sinnvollen Aussagen taugt, ob er noch irgend etwas verständlicher macht, als es ohne ihn war. Eine andere Bemerkung sei zum Kulturkampf gestattet. Ich persönlich kann den Kulturkampf nicht als Katastrophe empfinden, aber ich kann ihn auch nicht als Katastrophe für den Hegel'schen Staatsbegriff, noch als Katastrophe für die katholische Kirche, noch als notwendigen Fieberkrampf verstehen. Denn dann hätte es ihn ja in Frankreich und England (USw.) auch geben müssen. Wenn wir so allgemeine Begriffe gebrauchen, daß sie überall anwendbar sind, dann sind das Strukturbegriffe, die für den Historiker nicht mehr recht brauchbar sind. Man kann sagen, es gebe Ähnliches zu verschiedenen Zeiten, aber es gibt doch nicht dasselbe. Ich könnte keine der bei den Aussagen vertreten, weder daß der Kulturkampf eine Katastrophe war, noch daß er eine Katastrophe für eine bestimmte begriffsgeschichtliche Linie war. Für den Historiker sind Katastrophen nur die wirklichen Katastrophen, nicht auch die zu Katastrophen erklärten Vorgänge.

Heckel: Ich glaube, daß in der Tat damit der Säkularitätsbegriff zu vieldeutig schillernd gebraucht wird und deshalb sein wissenschaftlicher Wert

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begrenzt ist. Ich verwende ihn zwar selbst auch, aber in einem präziseren Sinn. Der Jurist muß genau auseinanderhalten, daß die Säkularisierung der Rechtsform (im pluralistischen Staatskirchenrecht) keineswegs zu einer Säkularisierung der religiösen Gehalte (der jeweils betroffenen Religionsgesellschaften) führen muß. Die Debatte gestern arbeitete kreuz und quer mit verschiedenen Säkularisierungsbegriffen, und jeder hat andere Assoziationen mit der Säkularisation verbunden. Der Begriff verschwimmt in der Tat beim undifferenzierten Gebrauch bis zur Unbrauchbarkeit; deshalb muß er eingegrenzt und durch Kriterien fixiert werden. Bei der Abgrenzung der "Kirchenguts-Säkularisationen" von den "Kirchenguts-Reformationen" in der Epoche der Reformation ist es unentbehrlich, das Verständnis der "Welt" und der "Weltlichkeit" in der Theologie der Reformatoren zu untersuchen, um die Kompetenz der weltlichen Gewalt zur Säkularisierung des (theologisch illegitimen) weltlichen Besitzes der Kirche zu erfassen. Hier geht es nicht um den emanzipierten Weltbegriff des aufgeklärten Agnostikers, sondern um die Welt und die Aufgabe der weltlichen Gewalt in Gottes Schöpfungs- und Erhaltungsordnung. Wenn etwa in der Menschenrechtsdebatte die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grund der Menschenrechte angeführt wird, wird damit auf den theologischen Begiff der Welt als Gottes Schöpfung Bezug genommen; vielfach wird dabei übersehen, daß "weltlich" aber nicht nur die geschaffene, sondern gerade auch die gefallene Welt bezeichnet, die Gottebenbildlichkeit also schon im Paradies verloren ging, ja schon die Schlange im Paradies nicht nur die Gottebenbildlichkeit, sondern sogar die Gottgleichheit zur Emanzipation von Gottes Geboten angeboten hat. Die Säkularisierung des Weltverständnisses, Menschenbildes und der Menschenrechtsidee hängen eng zusammen. Ob der Kulturkampf in den Augen eines frommen Katholiken eine Katastrophe war, möchte ich doch verständnisvoll bejahen. Ein Großteil der Bischöfe war über Jahre eingesperrt. Die Diözesen waren verwaist, niemand konnte die Sterbesakramente empfangen und kirchlich beerdigt werden; die Priester wurden eingesperrt, weil ihre Amtsernennung durch den Bischof nicht die kulturkampfgesetzlich vorgeschriebene Zustimmung der Staatsbehörden bekommen hat. Als Weltmensch kann man natürlich bestreiten, daß die Kulturkampferuptionen in Deutschland, aber auch in Frankreich nach 1905, desgleichen in Südamerika eine Katastrophe waren. Eine kultivierte Verfassungsgebung des Staatskirchenrechts sucht diese Konflikte ausgleichend aufzufangen und in den Griff zu bekommen, das Absolute des religiösen Anspruchs in säkularen, relativierten weltlichen Begriffen für jedermann zu schützen und zu begrenzen.

Schindling: Ich wollte an Herrn Baumgarts Bemerkung mit einer eher aktuell bezogenen Beobachtung anknüpfen. Herr Heckel hat eindrucksvoll

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den Begriff der Religionsgesellschaft und seine Leistung für das Staatskirchenrecht herausgearbeitet. Ich glaube Herrn Baumgarts Hinweis besitzt Gewicht. Der Begriff der Religionsgemeinschaft ist von den christlichen Religionsgemeinschaften her entwickelt; d. h., die israelitische Kultusgemeinde kann dann die Rechte einer Religionsgemeinschaft für sich in Anspruch nehmen, wenn sie sich quasi wie eine christliche Kirche organisiert. Das gleiche Problem haben heute bei uns die Moslems. Der Islam in der Bundesrepublik könnte sich als Religionsgemeinschaft öffentlich-rechtlich konstituieren, wenn er wie eine christliche Kirche aufträte. Exakt das tut er aber nicht; er kann es auch nicht. Daran hindert ihn beispielsweise das Fehlen einer wissenschaftlichen Theologie, was auch bei den Juden gewisse Probleme bereitet. Die wissenschaftliche Theologie an den Universitäten und Schulen ist ein spezifisch christliches Phänomen, das man nur mutatis mutandis auf das Judentum oder den Islam übertragen kann. Das gilt für eine Vielzahl anderer Probleme. Insofern ist das Modell der Religionsgesellschaften letztlich an christlichen Gemeinschaften, bzw. sich christentumsähnlich organisierenden Gemeinschaften ausgerichtet. Wenn die Juden so wie in Amerika kaum noch von einer christlichen Denomination zu unterscheiden sind, dann passen sie hervorragend in das System hinein. Aber wenn sie so wie im ehemaligen Osteuropa im Ghetto leben, dann wird es schwierig. Und bei den Muslimen ist es noch schwieriger. Dilcher: Dazu paßt meine Frage ausgezeichnet. Ich wollte auf denselben Punkt hinaus. Herr Heckel hat sehr dramatische historische Prozesse geschildert. Er konnte sie aus der Sicht von staatsrechtlichen Prinzipien schildern und gleichzeitig, vor allem in der Diskussion, in konkrete Konfliktlagen schlüssig einbetten. Das zeigt, daß es sich um einen Prozeß handelt, um einen Prozeß, in dem der säkularisierte Staat aus einer christlichen Welt hervorgegangen ist, und die christlichen Kirchen gelernt haben, mit diesem Staat zu leben, und umgekehrt. Zum Funktionieren dieses Systems gehören die historischen Erfahrungen, die auf diesem Weg gemacht worden sind, dazu. Das europäische Judentum hat diese Erfahrung mitgemacht und paßt deshalb, wenn auch vielleicht nicht ganz nahtlos, in Europa und Amerika in dieses System hinein. Anderswo mag es anders aussehen, und vor allen Dingen die Frage des Islam wird ja außerordentlich virulent werden. Und ich glaube, es kann sich nur um einen sehr verkürzten, europäisierten Islam handeln, der sich in dieses Modell einer Religionsgemeinschaft hineinfügen würde. Meine Frage geht dahin, wie weit diese historischen Erfahrungen dazu gehören? Könnte man etwa das deutsche Staatskirchensystem auf Indien übertragen mit seinen enormen religiösen Spannungen? Die Antwort heißt sicher: nein. Aber warum? Heckel: Wenn ich in der gebotenen Kürze darauf Bezug nehmen darf, möchte ich zurückfragen, wie man es anders machen soll? Der Staat muß,

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wenn er mit einer Religionsgemeinschaft zu tun hat, irgendwelche Organe als deren Repräsentanten zum Ansprechpartner angeboten bekommen. Wie sich die Religionsgemeinschaften organisieren, überläßt er völlig diesen selbst. Ein christliches Modell wird im "christlichen Abendland" fremden Religionsgemeinschaften nicht von Staats wegen aufoktroyiert. Früher war das anders. Da hat der Staat religiöse Wertungen vollzogen und auch gewisse staatskirchenrechtliche Formen vorgeschrieben. In Preußen bekamen die Altkatholiken die öffentlichrechtlichen Korporationsrechte als Lohn für ihre Haltung im Kulturkampf gegen die katholische Kirche; die Altlutheraner bekamen sie jedoch nicht, als Vergeltung für ihre Abspaltung von der Altpreußischen Union. Aber damit kam der Staat zunehmend in Aporien, da er durch die Säkularisierung der Staats aufgaben und -funktionen die geistlichen Maßstäbe für religiöse Entscheidungen verlor. Der Begriff der Religionsgesellschaft im Staatskirchenrecht ist somit ein leerer Rahmenbegriff, der den Religionsgenossen zur Ausfüllung durch ihre religiösen Organisationsformen nach ihren geistlichen Prinzipien überlassen wird. Nur daß es eine solche Organisationsform geben muß, der sich die Leute freiwillig angliedern, das verlangt der Staat und er muß es auch verlangen. Die Übergriffe einer Religionsgemeinschaft in andere Religionsgemeinschaften müssen dadurch ausgeschlossen sein, daß sie sich alle selbst frei organisieren können. Auch die Muslime können sich als Religionsgemeinschaft organisieren. Dieses System kann auch auf Indien übertragen werden; im Prinzip kann der weltliche Staat gar nicht anders vorgehen. Die Schwierigkeit des Islam liegt darin, daß er in seinen heimischen Ländern als Staatskirche organisiert war. Solange sich Religionsgemeinschaften nicht hierzulande organisieren, kann der Staat z. B. nicht auf dem Gebiet des Religionsunterrichts mit ihnen kooperieren. Mit der Organisation als Religionsgesellschaft hängt auch der Schutz ihres Kirchenguts und damit das Säkularisationsverbot zusammen. Hier stoßen wir wiederum auf einen besonderen juristischen Säkularisationsbegriff. Das staatskirchenrechtliche System ist inhaltsleer geworden. Vom "christlichen Abendland" ist da nichts mehr geblieben. Die staatskirchenrechtlichen Begriffe sind Rahmenbegriffe. Und nur diese Natur als Rahmenbegriffe erlaubt die ungekürzte Entfaltung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften in diesen säkularen Formen. Den christlichen Theologen sollte Mut gemacht werden zur Unbefangenheit im Umgang mit den säkularen Formen, daß sie ihr Bekenntnis freimütig in dieser säkularisierten Welt entfalten und nicht glauben, sich selbst säkularisieren zu müssen.

Zusammenfassende Aussprache Mußgnug: Die Schlußdiskussion soll aus den Referaten und den an sie anknüpfenden Diskussionen eine Summe ziehen. Bei der letzten Tagung 1991 scheint uns das mit dem Thema "Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte"l gelungen zu sein. Das ermutigt zu der Hoffnung, daß es uns auch heute glücken wird. Der Vorstand hat sich für das Thema "Entstehung und Entwicklung verfassungsrechtlichen Denkens" entschieden, weil er es für lohnend hält, nach den entscheidenden Anstößen für die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Staat und seiner Verfassung zu suchen. Das war den fünf Referaten als Ziel vorgegeben. Der Vorstand muß sich aber der Sünde schuldig bekennen, bei der Wahl der Begriffe, mit denen er die Referate überschrieben hat, nicht scharf genug nachgedacht zu haben. Vor allem die Begriffe "säkular" und "Säkularisation" haben wir zu salopp verwendet, so wie das die Juristen zu tun pflegen, die bei ihnen an die Frühe Neuzeit und die Gegenwart denken und darüber die wichtigen Aspekte aus dem Blick verlieren, die dem im mittelalterlichen Denken bewanderten Historiker primär vor Augen stehen. Die Folgen dieser Nachlässigkeit haben wir zu spüren bekommen. Nur in der Diskussion um Herrn Baduras Referat sind wir ungeschoren geblieben, obwohl wir auch hier mit dem Begriff "Dogmatik" etwas sorglos herumhantiert haben. Es ging uns freilich nicht um eine Definition des säkularen Staates. Wir wollten die Anstöße und Denkansätze kennenlernen, die in der Zeit, über die Herr Miethke berichtet hat, die Beschäftigung mit dem Staat und der Verfassung in Gang gebracht haben. In dem Referat, das wir von Herrn Badura erbeten haben, sollte dementsprechend nicht der Begriff der juristischen Dogmatik und die Leistungsfähigkeit der juristischen Dogmatik beschrieben werden. Es war mit den Referenten verabredet, daß sie untersuchen, wie politische, soziale, religiöse Phänomene, sei es auslösend, sei es vorantreibend, retardierend oder - auch das ist denkbar - abtötend auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Staatsrecht eingewirkt haben. Warum haben z. B. die Staatsrechtler des 19. Jh. und der Weimarer Republik die politischen Parteien so sträflich ignoriert, und wie kam es, daß sie

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Der Staat, Beiheft 10, 1993.

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sich seit 1949 Hand in Hand mit den Historikern, Politologen und Soziologen so intensiv mit ihnen befassen? Es ging uns natürlich auch um das umgekehrte Phänomen, daß die Staatsrechtslehre auf die Geschichte einwirkt und ihren Lauf beeinflußt. Waren das Verfassungsrecht und die Staatsrechtslehre - sei es bewußt und gewollt oder unbewußt und gegen ihre Absicht - ein politischer Faktor? Der Positivismus und das Bekenntnis Labands, kein Politiker sein zu wollen, legen diese Frage nahe. Oder hat die Staatsrechtslehre, wenn sie die Geschichte - wie z. B. die Freiburger Dioskuren Rotteck und Welcker - bewegen wollte, energisch ihre Aufgabe verfehlt, sich Mißerfolge eingehandelt oder gar Unheil gestiftet? Das sind die Fragen, an die wir bei der Wahl des Themas gedacht haben. Vielleicht bringt uns die Schlußdiskussion der Antwort auf sie noch näher, als dies die Referenten bereits getan haben. Kühne: Kann man die Dogmatik des Staatsrechts wirklich so weit von der Aufgabe des Verfassungsstaates oder der konkreten Verfassung abstrahieren, wie Herr Badura das getan hat? Er stellte fest, daß die Verfassung, innerhalb deren die Dogmatik stattfindet, sich erheblich wandelt. So abstrahiert die Bismarcksche Verfassung als reines Organisationsstatut bewußt von Grundrechten. Demgegenüber sind die Grundrechte seit Weimar bis heute Fahrplan für staatliches Leistungsverhalten. Ich verweise auf Stichworte wie "Verfassung als Vaterland", "Verfassung als Trüffelplatte für alle möglichen Genießer" wie sie heute im Umlauf sind. Herr Badura hat völlig zu Recht auch Smend eingebracht, der aus der besonderen Not Weimars die Verfassung als unitarisierendes Vergemeinschaftungselement zu entfalten suchte. Wäre es in diesem Zusammenhang nicht wichtig gewesen, jeweils den Sinn der konkreten Verfassung stärker herauszustellen? Das hätte auch den Vorstoß zu einem Problem ermöglicht, das bis heute ein Zentralproblem ist: Die Sinnaufgabe der Verfassung wird nicht mehr entschieden genug vom modernen Verfassungsstaatsdenken her klargelegt, das im englisch-amerikanischen Raum primär auf Machtzernierung zielte. Dies ist nach wie vor ein ganz entscheidendes Ziel.

Wenn Verfassung als Leistungsprogramm in grundrechtlichen Bereichen angesprochen wird, sehe ich die Gefahr einer Verdunkelung dessen, was heute Verfassung sein soll. Ist nicht im Blick auf Weimar die Verfassungsaufgabe der Machtzernierung verfehlt worden? Die Regierungsbildung in Weimar war keine voll parlamentarische, sondern in Wahrheit nur ein unechter, ein Schein-Parlamentarismus. Zu denken ist auch an das Preußenschlag-Urteil, wo man dem Reichspräsidenten ein weites Notstandsermessen zubilligte. Hier wich die Staatsrechtslehre samt ihrer Dogmatik vor der zentralen Machtfrage zurück. Im Grunde erleben wir heute bei der Bändigung des Parteienstaates die Fortsetzung. Der Rahmen, innerhalb dessen

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Herr Badura die Dogmatik dargestellt hat, ist also doch sehr unterschiedlich. Es hätte stärker nach dem Sinn oder nach der Zentralaufgabe der jeweiligen Verfassung gefragt werden sollen. Meine zweite Frage lautet: Sollte man die richterrechtliche Expansion, die Herr Badura geschildert hat, nicht richtigerweise als Fortbildung LS. eines aristokratischen Richterelementes begreifen, wie im angelsächsischen Raum; d. h. nicht mehr nur als eine formal institutionalisierte RichtersteIlung, sondern als eine eigenständige Versäulung in diesem Bereich der Rechtsschöpfung, so daß man positiv sagen könnte, daß wir uns mit unserer umfangreichen Verfassungsrechtsprechung auf dem Wege zu einer wirklich gemischten Verfassung befinden: Demokratie im Parlament, daneben eine Richteraristokratie, die diesen Namen zum ersten Mal wirklich verdient, und daneben wäre wohl auch noch nach dem Rest von Königtum zu suchen, den die Amerikaner in ihrem Präsidenten verkörpert sehen.

Badura: Ich will nicht bestreiten, daß die Realität unseres Staatslebens in gewisser Weise solche Beschreibungen herausfordern könnte, wie sie gerade gegeben wurden, nämlich daß wir dem Anschein nach eine "gemischte" Verfassung haben, in der die Richter eine eigene, möglicherweise die oberste Position einnehmen. Meiner Auffassung nach ist das aber nur in einigen wenigen Bereichen der Fall. Es würde m.E. dem geltenden Recht und dem Sinn der Verfassung widersprechen, wenn es eine solche Entwicklung, wie sie beschrieben wurde, tatsächlich gäbe. In der Demokratie kann es eine derartige Aufteilung der Gewalten nicht geben; andernfalls müßten wir die Richter wählen oder in anderer Weise in den demokratischen Prozeß einbeziehen. Das wollen wir nicht. Auch ließe sich eine so vorgestellte "Aristokratie" nicht bei der großen Zahl von Richtern verwirklichen, wie wir sie haben. Nach meiner Auffassung ist allein die Gesetzgebung in der Lage, die Interessenkonflikte zu lösen und die notwendigen Entscheidungen im Bereich der immer weiter expandierenden Staatsaufgaben in einer noch konsensfähigen Weise zu treffen. Der Richter kann immer nur den Einzelfall entscheiden. Er wird zwar manchmal der Meinung sein, er müsse sich um des Einzelfalls willen in Allgemeinheiten begeben. Das ist manchmal auch notwendig; aber es ist an sich nicht die Aufgabe des Richters. Die Aufgabe der Rechtsprechung muß daher auf ihre klare, notwendige, aber beschränkte Funktion zurückgeführt werden. Das Überborden des Handeins der Richtermacht ist eine der Erscheinungen unseres Staatslebens, die krisenhaft zu werden drohen. Was den Sinn der Verfassung betrifft, so möchte ich zu dem, was ich an anderer Stelle gesagt habe, nur thesenhaft hinzufügen: Die Verfassung ist ein Rechtsgesetz, das Ordnung und Mäßigung der politischen Gewalt ermöglicht. Ihr Ziel ist nicht - wie Herr Kühne es genannt hat - "Zernierung".

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Die Verfassung soll die Ausübung politischer Macht ermöglichen und die politische Macht nach Möglichkeit auch stärken. Sie soll sie allerdings auch begrenzen - ganz richtig. Aber es erschiene mir einseitig, nur das zu betonen. Auch die Autoren, mit denen ich mich in meinem Referat beschäftigt habe - es ist das ja eine Entwicklung von etwa 120 Jahren -, haben das, soweit sie darüber explizit reflektiert haben, überwiegend ebenso gesehen. Viele Autoren haben keinen Grund dafür entdeckt, näher nach dem Sinn der Verfassung zu suchen. Erst in der Weimarer Zeit hat man damit angefangen, sich in einer bestimmten grundsätzlichen und methodischen Weise über den Sinn der Verfassung Gedanken zu machen. Es wurde näher erfaßt und zum Ausdruck gebracht, daß die Verfassung Macht zu konstituieren und zu begrenzen, rechtlich zu ordnen hat. Ob man mit den Ergebnissen zufrieden sein kann, war nicht mein Thema. Ich wollte nicht über Einzelfragen des öffentlichen Rechts sprechen, sondern über das, was nach meiner Meinung die Entwicklung grundsätzlich kennzeichnet. Die Vorstellung, daß die Verfassung sich nur negativ auf die politische Entscheidungsmöglichkeit auswirken soll, teile ich nicht. Die Dogmatik des Staatsrechts ist natürlich nur ein Aspekt des Ganzen. Aber sie kann sich nicht grundsätzlich von dem bestehenden verfassungsrechtlichen Zustand lösen. Man kann zwar, wie es in Weimar geschehen ist, zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz unterscheiden und damit in einem gewissen Umfang auch außernormative Vorgänge in das verfassungsrechtliche Denken einbeziehen. Das ist möglich, und unter den gegebenen Umständen, damals und heute, wahrscheinlich sogar notwendig. Wenn man aber die normative Seite der Verfassung, das positive Verfassungsrecht, zu sehr verläßt, kann die Verfassung ihre vorgegebene Funktion, ihren eigentlichen Sinn nicht mehr erfüllen. Sie verliert dann gerade diese Möglichkeit, die politische Gewalt rechtlich zu ordnen und zu mäßigen. Die von Ihnen verwendeten Formulierungen sind also nicht die meinen; ich stimme auch in der Sache nicht zu. Sie vereinseitigen in meinen Augen die Rolle, die die Verfassung hat. Die Verfassung kann sinnstiftend und werterhaltend in einem anspruchsvollen Sinn nur sein, wenn sie als Rechtssatz existiert und als Rechtssatz praktiziert wird.

Frotscher: Herr Badura hat in klaren Linien die Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre über einen gewaltigen Zeitraum von mehr als 100 Jahren verfolgt. Drum erscheint es fast vermessen, wenn ich einen Aspekt ansprechen möchte, den ich doch vermisse. Es handelt sich um die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, um das Dritte Reich. Dabei stelle ich mir eine Berücksichtigung dieser Epoche nicht in der Weise vor, daß wir hier - quasi nebenbei - unsere jüngste Vergangenheit aufarbeiten und bewältigen könnten. Aber man müßte doch zum einen die Verbindung zur

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Staatsrechtslehre der Bundesrepublik herstellen, die in vieler Hinsicht auch als Reaktion auf Unrechtstatbestände und ihre staatsrechtliche bzw. -theoretische Rechtfertigung im Dritten Reich zu verstehen ist. Es ist ja auch auf der anderen Seite, zwischen der Weimarer Staatsrechtslehre und der Zeit des Nationalsozialismus, ein gewisser Bezug festzustellen. Ich hatte den Eindruck, daß die Bedeutung Carl Schmitts, seiner Person und seines Werks, in dem Referat zu gering veranschlagt und weitgehend auf die Position eines Gegenspielers von Rudolf Smend reduziert wurde, dem ich auch die größere Wertschätzung entgegenbringe. Der Nationalsozialismus hat schließlich nicht nur faktisch einen (Unrechts-)Staat aufgebaut, sondern auch eine Staatsrechtslehre entwickelt. Zu erinnern ist insoweit an das "Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches" unseres verstorbenen Mitgliedes Ernst Rudolf Huber, der versucht hat, ein wissenschaftlich begründetes staatsrechtliches Lehrgebäude zu errichten. Diese jüngere Vergangenheit gehört nach meiner Auffassung unabdingbar zu einer Betrachtung der zurückliegenden 100 Jahre deutscher Staatsrechtslehre dazu. Badura: Daß sie mit dazu gehört, ist selbstverständlich. Wir können die Vergangenheit nicht verändern. Wir werden auch durch das Grundgesetz ermahnt, diese Zeit nicht zu übergehen. Nur war es, glaube ich, nicht meine Aufgabe, die Rechtsentwicklung darzustellen, sondern die Dogmatik des Staatsrechts. Ich habe die These vielleicht nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber doch im Prinzip gesagt, daß diese Periode, in meinen Augen ein Verfall des Verfassungsstaates, nichts zur Dogmatik des Staatsrechts beigetragen hat. Ich glaube deshalb, daß es kein Mangel ist, daß ich z. B. über den völkischen Führerstaat und über die Frage, wie er sich zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaats verhielt, nicht gesprochen habe. Aber damit man mich nicht mißversteht: Es ist ein eigenes und durchaus brisantes Thema. Nur ist es in meinen Augen kein Thema der dogmatischen Staatsrechtswissenschaft. Mußgnug: Was Herr Badura sagt, prägt unsre Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. Seine Schriften aus der Zeit nach 1933 beschäftigen uns als historische und biographische Zeugnisse. Seine Arbeiten aus der Zeit vor 1933 und nach 1945 sind wichtige Beiträge zur Staatsrechtslehre, von denen wir nach wie vor zehren.

Frotscher: Man kann diese Fragen gewiß vertiefen. Ich möchte aber doch daran festhalten, daß die deutsche Staatsrechtslehre nach 1945 negativ auf die Zeit des Nationalsozialismus reagiert und nicht einfach nur an Weimar angeknüpft hat. Stolleis: Ich bin sicher ganz unverdächtig, den Nationalsozialismus aussparen zu wollen. Umso unbefangener kann ich Herrn Badura zustimmen. Wenn man die Literatur nach 1933 betrachtet, sieht man, daß die dogmati-

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schen Erörterungen geradezu ruckartig aufhören. Forsthoff erklärt 1935, die Verfassungsfrage sei erledigt. Man müsse sich nun dem Verwaltungsrecht zuwenden. Was auch immer das strategisch für ihn bedeutet haben mag, jedenfalls hat man doch sehr schnell gesehen, daß dogmatische Erörterungen sinnlos geworden waren. Es ist, von dem einen Buch, das Sie erwähnt haben, abgesehen, ja kein einziges Werk von irgendwelchem Belang in dogmatischer Hinsicht erschienen. Es war wirklich tabula rasa gemacht worden. Die Staatsrechtslehre der Bundesrepu.blik hat sich auch nicht etwa von der "Dogmatik" zwischen '33 und '45 abgesetzt, sondern von den Ereignissen und von den schrecklichen Fakten jener Zeit. Darauf hat die Staatsrechtslehre reagiert durch Umorganisierung des Verfassungsdenkens ins Verfassungsrecht. Aber von einer nationalsozialistischen Staatsrechts-Dogmatik hat sie sich nicht absetzen müssen und auch nicht absetzen können, weil es sie schlichtweg nicht gegeben hat. Wadle: Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie drei Namen aus der Weimarer Zeit (Smend, Kelsen und Schmitt) relativ stark betont. Das entspricht vielleicht nicht ganz der damals herrschenden oder doch vorherrschenden Linie des Staatsrechts. Ich meine, daß Anschütz, Thoma und die durch sie geprägte Richtung dominiert haben. Wenn Sie gleichwohl die drei Namen betonen, so wohl deshalb, weil die Anknüpfung an sie nach dem Krieg bedeutungsvoll geworden ist. Insoweit nehmen Sie die Reaktion auf die drei Autoren gleichsam vorweg. Badura: Dem stimme ich, nebenbei gesagt, nicht zu. Ich habe nicht sprechen wollen über die Frage der herrschenden Lehre in der Weimarer Zeit, oder in der Kaiserzeit, oder heute, sondern darüber, was nach meiner Meinung dogmatisch fruchtbar und ausschlaggebend gewesen ist. Darüber kann man natürlich verschiedener Meinung sein.

Im übrigen stehen die Namen, die dazu immer genannt werden - ebenso die heutigen, wie die Vorgänger - nicht alle auf der gleichen Stufe, auch was den Einfluß betrifft. Wenn Sie etwa berücksichtigen, daß gerade Vorträge von Hermann Heller, der ja sonst eher am Rande stand, doch - und bis heute - eine erhebliche Bedeutung gehabt haben, besonders der Vortrag bei der Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung 1927 2 , läßt sich eine Orientierung nur an der jeweils herrschenden Auffassung in Frage stellen. Anschütz hat sich in seinem Kommentar sehr umfangreich mit diesem Vortrag auseinandergesetzt; zum Teil hat er nachgegeben, zum Teil nicht3 . Ebenso hat sich Thoma im Handbuch des Staatsrechts (1930/32) breit damit auseinanderge2 H. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, VVDStRL Heft 4, 1927. 3 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, S. 358 ff., 435f.

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setzt. Ich glaube also nicht, daß sich diese Namen nur in der Retrospektive von dem Gewimmel derjenigen abheben, die heute weniger genannt werden oder vielleicht sogar vergessen worden sind. Das Werk dieser Personen war bis zu einem gewissen Grad auch für die damalige Zeit kennzeichnend. Smend, Erich Kaufmann und earl Schmitt haben schon vor dem Krieg Veröffentlichungen aufzuweisen, die keineswegs nur nebensächlich waren, sondern gewissermaßen die Vorgeschichte darstellten, was dann durch die Novemberrevolution und die veränderten Verfassungsverhältnisse zum Durchbruchkam.

Schnur: Ich möchte einen Einwand von Herrn Stolleis über die Auswirkungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Karlsruhe aufgreifen. Herr Stolleis hat einen vielleicht nicht ganz passenden Ausdruck verwendet und vom Grundrechtsverständnis als dem Schutz nur noch von gegebenen Interessen gesprochen, die rechtlich in den Rang der Verfassung angehoben worden seien. Sie erinnern sich an die Staatsrechtslehrertagung 1972 in Regensburg, wo gegen eine nur durch Auslegung gewonnene weitere Differenzierung der Grundrechte der Einwand gekommen ist, damit enge man den Spielraum des Wählers ein, weil die Parteien in ihrem Entscheidungsspielraum eingeengt werden. Inzwischen ist das Bundesverfassungsgericht mit seinen Erfindungen von grundrechtlich geschützten Positionen (ich formuliere bewußt etwas salopp) im Doppelpaß mit einer Reihe von Kollegen noch weiter vorangeschritten. Ist da nicht bei allen so ein dumpfes Gefühl aufgekommen, vieles könne sich durch Wahlen gar nicht mehr verändern? In aller Regel sind die Grundrechte nicht mehr Abwehrrechte, sondern die Grundlage für immer mehr Ansprüche an den Staat. Diese steigen aus dem Gesetzesrang, der ihnen zusteht, hinauf in die Verfassung. Ich habe den Eindruck, daß viele Bürger, die diese Szene betrachten, den Eindruck bekommen, es bestehe kaum noch ein großer Spielraum. Wenn heute gegen irgendwelche Maßnahmen irgendein Verband oder eine Gruppe protestiert, so geht das nicht mehr ohne verfassungsrechtliche Argumentation ab. Badura: Ich meine, das ist eine Frage des Gewichts dieser Erscheinungen. Ich glaube nicht, daß die Einschränkung der politischen Entscheidungsspielräume so weit geht, wie Sie das andeuten. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren - und schon seit Jahrzehnten - im Bereich der sozial- und wirtschaftspolitischen Gesetzgebung, abgesehen vom Gleichheitssatz und gewissen allgemeinen Erwägungen der Verhältnismäßigkeit, dem Gesetzgeber einen außerordentlichen Spielraum gelassen. Die Grenzen wurden bei der Meinungsfreiheit und bei der Offenheit des politischen Prozesses gezogen; das war auch nicht gegen den Gesetzgeber gerichtet, sondern gegen die Richter. Der Bundesgerichtshof und die anderen Gerichte haben ständig Schläge auf den Kopf bekommen wenn sie meinten, Ordnungselemente gegen die Meinungsfreiheit durchsetzen zu müssen. Das

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Problem des sog. Anspruchsdenkens dagegen ist im wesentlichen kein Problem des Verfassungsrechts. Es gibt zwar immer wieder die Forderung, man solle alles mögliche in die Verfassung schreiben: Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit, auf Wohnung, auf gesunde Umwelt usw. Aber wo sind denn diese Rechte? Es gibt sie nicht! Als verfassungsmäßige Rechte stehen sie praktisch bei Null; so muß man das fast schon sagen. Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus dem Haushaltsgesetzgeber klar und deutlich gesagt, daß er zur Sanierung der Staatsfinanzen und zur Aufrechterhaltung einer soliden Haushaltswirtschaft auch zu Einschnitten berechtigt ist. In diesem Zusammenhang hat es klare Sätze gesprochen. Natürlich bedeutet die Verfassungsgerichtsbarkeit eine Einschränkung der Politik. Wir haben mittlerweile 85 oder 86 Bände des Gerichts, aber wir haben auch jede Legislaturperiode zwei- bis dreihundert Gesetze, allein im Bundesgesetzblatt. Davon ist nur ein schmaler Sektor so beschnitten, daß die Ministerialbeamten "Angst" haben müßten, einen verfassungsrechtlichen Fehler zu machen. Es gibt einige wirklich streitige Bereiche - sie haben sich jetzt ein wenig angehäuft -, einmal durch die Wiedervereinigung und die außerordentlichen Probleme, die damit zusammenhängen, und durch gewisse Veränderungen der Wertvorstellungen in der Gesellschaft, wie nichteheliche Lebensgemeinschaften, Abtreibung und anderes. Das sind Streitfragen fundamentalen Charakters. Daß sie auch nach Karlsruhe getragen werden, und daß es hier gewisse Grenzen in der Verfassung zu beachten gibt (und hoffentlich weiterhin zu beachten geben wird), dagegen kann ich keine Einwände erheben. Daß wir uns als Wissenschaftler in Karlsruhe nicht voll zur Geltung kommen sehen, ist möglich, bedarf aber doch der Prüfung. Wenn man sich die Mühe machen würde, die Entscheidungen des Gerichts, die überhaupt einen dogmatischen Gehalt haben - das gilt ja nicht für alle Entscheidungen, sondern nur für einige wenige, höchstens zwei oder drei pro Band -, genauer zu betrachten, würde man starke Zusammenhänge mit zitierten oder nicht zitierten Auffassungen der Staatsrechtslehre konstatieren. Nehmen sie das Lüth-Urteil, das Apotheken-Urteil und vor allem die großen Entscheidungen zum Medienrecht. Sie haben zu Recht - da sind wir einer Meinung - betont, daß die Flexibilität des politischen Prozesses erhalten bleiben muß, und daß es ein Fehler wäre, die Verfassung in größerem Umfang mit neuen materiellen Festlegungen zu überfrachten. Wir sind völlig einer Meinung darin, daß es nicht das Amt des Richters ist, die allgemeinen Wert- und Interessenkonflikte im Einzelfall zu lösen. Das übersteigt seine Legitimität und, wie ich meine, auch seine Kraft. Aber in der Einschätzung, wie weit wir hier sind und wo wir

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stehen, sind wir vielleicht nicht völlig einer Meinung. Dazu fehlt mir die ausreichende Übersicht. Es wäre ein Problem und ein Thema für sich, die Wechselbezüglichkeit und Wechselwirkung zwischen der dogmatischen Jurisprudenz der Juristen an den Universitäten und der dogmatischen Jurisprudenz der Richter in Karlsruhe zu untersuchen, auch in der Frage der Zusammenhänge.

'Klippel: Ich habe zunächst eine Frage an Herrn Badura, die auf die historische Seite seines Vortrags zielt. Wenn ich das recht im Ohr habe, hat er im Staatsrecht eine dogmengeschichtliche Kontinuität vom Bismarckreich bis heute festgestellt, die er in der Methode gesehen hat. Die Methode, so habe ich Sie in Erinnerung, sei gleich, während die Inhalte sich verändert hätten. Ich möchte die Frage aufwerfen, ob die Methode der Dogmatik seit dem Bismarckreich bis heute nun wirklich gleichgeblieben ist. Auch Herr Badura hat gleichzeitig einen Wandel vom Bismarckreich zur Weimarer Republik festgestellt, dann eine Weiterentwicklung der weimarer Dogmatik zu der der Bundesrepublik. Hat man ganz verschiedene Inhalte, so könnte man von ihnen aus Rückschlüsse auf die Methode ziehen und folgern, daß sich wegen der Änderung der Inhalte auch die Funktion der Methode völlig verändert. Davon abgesehen weiß ich nicht, ob die Gerber-Labandsche dogmatische Methode viel gemein hat mit dem, was heute in der Dogmatik des Staatsrechts als Methode gilt. Das führt mich zu einer allgemeinen Bemerkung terminologischer Art, zu der mich Herr Heckel durch seine Ausführungen über die terminologische Klarheit angeregt hat: Ich stoße mich an der Generalüberschrift der Tagung, "Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens". Unter "Verfassungsrecht" verstehe ich ein zeitlich jüngeres Phänomen als das "Staatsrecht". Obwohl es eine ins Mittelalter zurückreichende Verfassungsgeschichte gibt und man auch bezogen auf das Mittelalter von "Verfassung" sprechen kann, fällt es mir schwer, vor dem Entstehen der geschriebenen Verfassungen, von einem Verfassungsrecht im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu reden. Es ist freilich ebenso problematisch, von "staatlichem Denken" im Mittelalter zu sprechen, weil man sich auch damit dem Vorwurf des anachronistischen Gebrauchs von Begriffen aussetzt. Aber das sollten wir jetzt nicht mehr weiter vertiefen. Verwendet man die Begriffe "Staatsrechtswissenschaft" und "Dogmatik des Staatsrechts", dann liegt darin jedoch eine zusätzliche Verengung gegenüber dem Begriff "Staatsrecht". Unter der Staatsrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert kann man ohne weiteres auch das jus publicum universale verstehen, mit anderen Worten die staatsrechtliche Abteilung des Naturrechts, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch "Allgemeines Staatsrecht" geheißen hat und erst allmählich in eine allgemeine Staatslehre übergegangen ist. Die Staatsrechtswissenschaft des Vormärz kann daher mit dem Begriff "Dogmatik des 14 Der Staat, Beiheft 11

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Staatsrechts" nicht erfaßt werden. Mit diesem Begriff wird nämlich das gesamte naturrechtlich-rechtsphilosophische Staatsrecht ausgeklammert. Einen Sinn macht dieser Begriff in der Tat nur, so wie es Herr Badura mit seinem Vortrag gehalten hat (oder hat halten müssen, weil das Thema vorgegeben war), wenn man die Dogmatik des Staatsrechts ab dem Bismarckreich behandelt. Da steht außer Zweifel, daß die Gerber-Labandsche Schule den entscheidenden Einschnitt gebracht hat. Vorher gab es natürlich auch ein Staatsrecht, das das geltende Recht behandelt hat. Aber man kriegt das frühe 19. Jahrhundert nicht in den Griff, wenn man das "Allgemeine Staatsrecht" als Komponente der Staatsrechtswissenschaft außer acht läßt. Badura: Soweit sich Ihre Bemerkungen auf das Thema oder Oberthema der Tagung beziehen, bitte ich die kompetenteren Vorstandsmitglieder zu antworten und bitte, mich von der Antwort zu entbinden.

Davon abgesehen, haben Sie zwei Punkte genannt. Einmal die Frage der Epochenbildung. Nicht nur weil das Thema so gestellt worden ist, sondern weil es der Sache entspricht, ist mit der Entstehung des Norddeutschen Bundes eine Zäsur zu setzen, die natürlich nicht einfach in einer Jahreszahl auszudrücken ist. Unser heutiges staats- und verfassungsrechtliches Denken steht in einer gewissen Kontinuität mit den Autoren, die seit dieser Zeit auf der Grundlage der damaligen Entscheidung für die "juristische Methode" des Staatsrechts geschrieben haben. Diese Kontinuität besteht in der Kritik oder der Annahme bestimmter Auffassungen und den zentralen Begriffen. Das glaube ich schon. Den Namen Gerbers dagegen wird man in der staatsrechtlichen Literatur der Gegenwart nicht mehr allzu oft erwähnt finden, selbst in den Monographien nicht. Die Autoren aus der Zeit vor ihm sucht man dort vergeblich. Ich habe - das betrifft den zweiten Punkt - nicht gesagt, die Methode sei dieselbe, nur der Inhalt habe sich (mit dem Wandel oder Umbruch der Verfassungen) verändert. Gesagt habe ich - ich zitiere: "Der Wandel der Verfassungen ändert nicht die methodischen Anforderungen an die Staatsrechtswissenschaft, wohl aber bewirkt er einen Wandel der Dogmatik des Staatsrechts".4 Das bezieht sich auf eine Bemerkung von Wieacker, der in seiner "Privatrechtsgeschichte der Neuzeit" geschrieben hat, daß es eigentlich einen Wandel der Dogmatik gar nicht geben könne. Diese Bemerkung hängt damit zusammen, daß Wieacker - offenbar gemünzt auf das Zivilrecht - unter Dogmatik nur die juristenrechtliche Seite versteht, das also, was theoretisch hervorgebracht wird. In dieser Einschränkung mag das richtig sein. Im Hinblick auf das Staatsrecht möchte ich aber doch daran festhalten, daß die Dogmatik sich gewandelt hat. Ebenso möchte ich daran festhalten, daß die methodischen Anfänge angegeben werden können, d. h. daß die Dogma4

Siehe oben S. 134.

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tik des Staatsrechts eine rechtswissenschaftliche Dogmatik sein muß; daß es dafür bestimmte Anforderungen methodischer Art gibt, und daß dies erstmals, wenn auch ganz anders formuliert als es heute angenommen würde, erst nach diesen Anfängen entwickelt worden und bis heute gültig geblieben ist. Mußgnug: Das verfassungsrechtliche Denken haben wir wegen des Herrn Miethke zugedachten Themas in das Gesamtthema aufgenommen, weil uns klar war, daß wir von einem staatsrechtlichen Denken im Mittelalter nicht hätten reden dürfen. Aber das scheint uns vor Tadel nicht zu schützen. Vielleicht verteidigt uns Herrn Miethke? Miethke: Ich hatte mich gemeldet nicht etwa, weil ich die höhere Weisheit beanspruchen will, die Herr Badura zur Verteidigung dieser ThemensteIlung eingefordert hat, sondern weil es bei Ihrem Angriff, Herr Klippel, wie so häufig auszugehen scheint: Der Mediävist ist der Hofnarr, der auch seinen Tanz vorführen darf, der aber im Grunde nichts Angemessenes, Zutreffendes, oder auch nur Relevantes zu sagen hat. Man hört ihn an, weil es ihn gibt, aber man weiß im übrigen: die eigentlich bedeutsamen Entwicklungen beginnen erst viel später. Da halte ich es nun doch für gut, daß die Veranstalter das nicht so gesehen haben! Sie haben zwar in der Formulierung meines Themas "Die Anfänge des säkularisierten Staates" das Mittelalter als Vorspiel eingeschätzt. Aber sie haben immerhin erwartet (ich wenigstens habe es so verstanden und habe deswegen das Thema auch übernommen), zeigen zu können, daß auch die Entwicklungen des 19. und 20. Jh. im Grunde nicht zu begreifen sind, wenn wir nicht ihre Genese in Zeiten zurückverfolgen, die von den Problemen dieser gegenwartsnächsten Epoche noch gar nicht betroffen sind. Die Problemstellung des 19. Jh. - Herr Heckel hat das heute in seinem weit gespannten, auf Staats-, Völkerrecht und juristische Methodik zielenden Bericht deutlich gemacht - wird nicht nur aus der unmittelbaren Vorgeschichte des 19. Jh. deutlich. Der Zusammenhang gilt auch für die vormodernen Zeiten. Die Anfänge eines Denkens über den Staat im modernen Sinne liegen vor dem Auftauchen des Begriffs "Staat". Insofern erlauben Sie dem Mediävisten die Selbstverteidigung, daß er nicht immer nur Hofnarr bleiben möchte. Mußgnug: Wir wollten bewußt die Mediävistik einbeziehen. Im Grunde hätten wir auch ein Referat über die Antike vorsehen sollen. Aber diese Lücke hat Herr Miethke geschlossen, indem er gezeigt hat, wie nach einer langen Zeit des Vergessens gerade die Autoren, die er als Kronzeugen für das Entstehen des staatsrechtlichen Denkens ausgewählt hat, auf die Antike zurückgegriffen und Aristoteles und Platon wieder in Erinnerung gerufen haben.

Klippel: Herr Miethke, Sie schieben mir da etwas in die Schuhe, was ich nicht gesagt habe. Es lag erstens nicht in meiner Absicht, einen Angriff zu 14"

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starten, sondern einen Beitrag zur terminologischen Klarheit zu leisten. Und zweitens wollte ich schon gar nicht einen Angriff gegen die Mediävistik starten. Das lag mir völlig fern. Ich darf wiederholen, daß es mir um den sinnvollen Gebrauch des Begriffs "Verfassungsrecht" und dementsprechend des "verfassungsrechtlichen Denkens" ging - über die Ausbildung von Elementen der Staatlichkeit im Mittelalter und über den Gebrauch der Begriffe "Verfassung" und "Verfassungsgeschichte" können wir uns, glaube ich, ganz leicht einigen.

Schmidt: Der Beitrag Herrn Klippels hat auch mich ein wenig verwirrt. Angesichts der hier versammelten "Sachkompetenz" sollten wir versuchen, die Begrifflichkeit zu klären. Als Historiker bin ich gewohnt, ständig mit Begriffen wie "Reichsverfassung" , "Verfassung des Alten Reiches" , "Reichsverfassungsgefüge" oder ähnlichem zu operieren. Meine Schwierigkeiten würden eher noch größer, wenn ich plötzlich vom Staatsrecht des Alten Reiches sprechen sollte. Dann würde ich schon eher eine neutrale Begrifflichkeit wie "Politische Ordnung" oder "Großräumige politische Verfaßtheit" vorziehen. Daß es keine geschriebene Verfassung des Alten Reiches gegeben hat, wissen wir alle, dennoch müssen wir mit irgendeinem Terminus für die politische Ordnung operieren. Die Kategorie "Staat" schafft nur neue Definitionsprobleme, vor allem wenn die Vorstellung von Souveränität mitschwingt. Warum also sollten wir auf den Begriff "Reichsverfassung" verzichten? Sprandel: Darf ich dazu eine kurze Bemerkung machen? Wir sollten den neuen Mitgliedern unserer Vereinigung sagen, daß wir in diesen Sachen nicht bei Null anfangen. Wir haben 1981 eine sehr lebhafte Tagung über das Thema "Der Begriff der Verfassung" gehabt, bei der Mediävisten und Neuhistoriker sich gegenseitig den Ball zugeworfen haben und keiner den Hofnarr gespielt hat, sondern ein gewisser Konsens darüber entstanden ist, daß wir - im Anschluß an Otto Brunner, Heinrich Mitteis u. a. - nicht nur den Begriff "Verfassung", sondern auch den Begriff "Staat" in Zeiten zurückverlegen, in denen man von einem modernen Staat nicht sprechen kann. Das geschieht natürlich mit bestimmten begrifflichen Prämissen. Ich plädiere daher dafür, mit solchen Begriffsfragen nicht immer wieder ganz von vorne anzufangen, sondern auf den früheren Tagungen aufzubauen, und wenn man ihre Ergebnisse schon in Frage stellen will, das dann in einem größeren Kontext zu erledigen. Boldt: Ich glaube, wir sind jetzt wieder, wie auf der letzten Tagung, bei der Grundsatzfrage nach der korrekten Formulierung des Tagungsthemas angelangt. Die Fassung "Entwicklung des verfassungsrechtlichen Denkens" scheint mir nicht ganz das zu treffen, was die Referate und unsre Diskussion beschäftigt. Wir haben über die Entwicklung des Staatsdenkens, insbeson-

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dere des juristischen Staatsdenkens, gesprochen. Auch das, was Herr Miethke vorgetragen hat, handelte von der Entwicklung des Staatsdenkens. Das ist wohl unser Thema gewesen, wenn man es präzise benennen will. Ich schlage vor, unseren Tagungsband unter diesem Titel zu veröffentlichen. Ich persönlich jedenfalls vermute unter der Überschrift "Entwicklung des verfassungsrechtlichen Denkens" ein wenig anders thematisierte Vorträge, als wir sie gehört haben. So wie wir es jetzt formuliert haben, erwartet man weniger Vorträge über die Entwicklung des Souveränitätsgedankens als z. B. über die Verfassung des Heiligen Römischen Reichs und darüber, wie diese sich im Staats denken der Reichsjuristen niedergeschlagen hat. Für das 19. Jh. hätte ich unter diesem Titel Erörterungen darüber erwartet, wie man das Parlament in eine weitgehend vom monarchischen Prinzip beherrschte staatsrechtliche Doktrin eingebaut hat; wie es sich mit den Verfassungsvorstellungen zur Zeit der Weimarer Republik verhalten und wie das Grundgesetz darauf geantwortet hat. Ministerverantwortlichkeit, Verfassungsgerichtsbarkeit: das sind für mich die verfassungsrechtlichen Stichworte, an die ich bei meinem Verständnis des gewählten Obertitels gedacht hätte. Ich bedaure nicht, daß andere Fragen den Vorzug erhalten haben; ich fand die Vorträge und die Diskussionen vielmehr hochinteressant; ich würde sie nur unter einer anderen Flagge segeln lassen, unter "Entwicklung des Staatsdenkens" oder des "staatsrechtlichen Denkens".

Quaritsch: Ich vertrete die entgegengesetzte Position und könnte das ausführlich begründen. Ich habe darüber vor fast 30 Jahren ein ganzes Kapitel in meinem Buch "Staat und Souveränität" geschrieben, möchte mich aber nicht wiederholen. Ich schlage daher vor, die Frage, ob "Verfassung" oder "Staat" offenzulassen und notfalls in einem Vorwort dazu Stellung zu nehmen, um Mißverständnisse bei den Lesern zu vermeiden. Zlinszky: Ich möchte einige Gedanken zum Referat von Herrn Stolleis vortragen, das für mich sehr aufschlußreich war. Sie gelten der Idee des souveränen Staates; wie er entstanden ist und welche Prämissen für sein Entstehen erfüllt sein mußten, eben um die Souveränität als notwendige Voraussetzung des Verfassungsstaats, wenn wir von westlichen Prämissen ausgehen. Souveränität ist - bildhaft gesprochen - die harte Außenhaut des internationalen Rechtes. Kommt man aus einem Gebiet, das nicht so groß ist wie das deutsche, war dieses Verständnis der Souveränität immer auch bereits im Mittelalter viel plausibler als für einen deutschen Staatsrechtler, für den es mehr oder weniger vom Zufall abhing, was zu Preußen gehörte, was zu Baden, was zu Österreich. Es hätte sich ja ebensogut auch anders ergeben können; dann wäre die "Außenhaut" eben ein wenig anders zugeschnitten gewesen. Es ist sehr interessant, daß die Idee vom souveränen Staat eine Konsequenz der frühneuzeitlichen Politik ist. Herr Stolleis hat einleuchtend belegt, daß die modernen Verwaltungsaufgaben und der

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Rechtsstaatsgedanke den Staat aus seiner Souveränität heraus zum Verfassungsstaat formen. Als Letztes hat er aber gesagt, daß das nicht eine reine Normordnung, sondern ein geistiger Prozeß gewesen sei. Dieser geistige Prozeß aber ist eher geeignet, den souveränen Staat aufzulösen. Für einen Verfassungs staat sind der Mensch und die Menschenrechte das Zentrale. Sie führen seit Wilsons 14 Punkten zu der Frage, wer das Recht hat, die souveräne Außenhaut des Staates zu verteidigen. Hat dieses Recht jede Gruppe, die es wahrnehmen will, oder steht es nur den Instanzen zu, denen es das internationale Recht zuspricht? Das mag man beantworten, wie man will, es kommen neue Probleme auf: Ist es etwa klüger, zu ignorieren was in den Staaten unter der "souveränen Außenhaut" geschieht und jede Einmischung in ihre Innenpolitik a limine auszuschließen? Also: Auch die Ostblockländer als souveräne Staaten anzuerkennen, obgleich bei ihnen verfassungsrechtlich garantiert Menschenrechte nicht existiert haben? Die Bürger hätten auch dort nicht verbannt oder malträtiert werden dürfen. Aber darüber hinwegzusehen, war einfacher als das Intervenieren. Neuerdings denkt die Staatengemeinschaft auf einer supranationalen oder suprasouveränen Ebene anders. Das ist wichtig. Man muß im Staat die Menschen suchen. Bleiben sie rechtlos? Mit dieser Frage geraten wir in schwieriges, noch kaum erschlossenes Gelände. Aber die Geschichte bietet vieles Bedenkenswürdige. Der Werdegang des souveränen Staates zeigt, daß er kein apriorisches Gebilde ist, das per se existiert. Aus der Geschichte ist zu lernen, daß die Anfänge ohne den souveränen Staat ausgekommen sind, und sie lehrt fürchten, daß er wieder verloren gehen könnte. Wie das zu verhüten ist, ist gegenwärtig unser großes Problem. Wahrscheinlich werden wir es nicht mehr lösen können, aber vielleicht gelingt das späteren Generationen. Der souveräne Staat gilt uns als ein unverzichtbares Phänomen, das man selbst unentwickelten Völkern aufdrängt. Aber ist er nicht eigentlich schon etwas rückständig und verbesserungsbedürftig geworden? Es gibt im übrigen Parallelen aus der Antike. Das antike Staats denken hat viel mehr für unsere neue Entwicklung zu bieten, als gemeinhin angenommen wird. Es ist nicht wahr, daß Staatsrecht und Verfassungsrecht neuzeitliche Phänomene seien. Sie fußen auf festgegründetem antiken Fundament.

Quaritsch: Ich meine mit Herrn Stolleis, daß wir von den Bauprinzipien des modernen Staates weder die äußere noch die innere Souveränität zugunsten einer überstaatlichen Weltorganisation preisgeben dürfen. In den großen Organisationen dominieren die großen Mächte, die ihre Interessen wahren und durchsetzen; mit den Interessen der kleinen und mittelgroßen Völker und Staaten stimmen Großmachtinteressen häufig nicht überein.

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Werden die existentiellen Interessen aller Staaten in eine Weltorganisation eingebracht, dann unterliegen sie den Entscheidungen nach Mehrheiten, die von den Großmächten gesteuert oder verhindert werden. Esten und Letten, Ungarn und andere Völker kommen dann mit Sicherheit unter die Räder. Daß die unterdrückten Völker des Sowjet-Imperiums 1989-1991 ihre Befreiung von Moskau durch die Erklärung ihrer Souveränität verkündeten, hatte deshalb einen tiefen Sinn; es wurzelte in 400 Jahren europäischer Geschichte und war völkerrechtlich korrekt. Die "äußere" Souveränität ist der juristische Mantel des Selbstbestimmungsrechts der Völker: "Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung", wie Art. 1 Abs. 1 des UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte 1966 beschrieb. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß die gerade befreiten N ationen auf dieses Staatengrundrecht wieder verzichten wollen. Die Wünschbarkeit der "humanitären Intervention" ist kein Grund für die generelle Preisgabe der äußeren Souveränität. Denn wer entscheidet über das, was "humanitär" notwendig ist? Auch Moskau begründete seine Interventionen 1956 und 1968 mit edlen Motiven, und die Großmächte verzichten gegenwärtig auf dem Balkan aus humanitären Gründen auf eine humanitäre Intervention. Der Verzicht auf die äußere Souveränität hätte nur zur Folge, daß sich die großen Mächte sehr viel hemmungsloser als bisher über die Interessen der kleinen Staaten hinwegsetzen könnten. Die äußere Souveränität ist ein Grundrecht aller Staaten. Gegenüber den großen Mächten vermag nur das Recht zu schützen. Das Recht mag der Macht gegenüber schwach genug sein, aber ein schwacher Schutz ist allemal besser als Schutzlosigkeit. Wyduckel: Weil wir eine Generaldebatte führen, möchte ich noch einmal grundsätzlicher ansetzen. Ich möchte den Blick auf die Frage der Kontinuität und Diskontinuität richten sowie auf die Art und Weise, wie wir methodologisch damit umgehen. Der Zeitraum, den unser Thema nahelegt und den wir hier behandelt haben, beträgt ungefähr ein Jahrtausend. Wir haben mit dem Mittelalter angefangen, vom Investiturstreit war die Rede, und wir sind heute bis in die unmittelbare Gegenwart hineingekommen. Bodin und auch Althusius, von denen gestern die Rede war, liegen etwa in der Mitte. Trotzdem sind sie noch ungefähr vier Jahrhunderte von uns entfernt. Wenn wir dann an Autoren wie Gerber und Laband denken, so scheinen diese fast schon in die Gegenwart hineinzureichen. Ich frage mich, ob und wie wir hierfür eine gemeinsame Sprache finden können, oder ob wir nur so tun, vielleicht auch hier so getan haben, als wenn es eine gemeinsame Sprache gäbe, wie sie uns in Wahrheit nicht zu Gebote steht. Obwohl ich weiß, daß in dieser Vereinigung schon verschiedentlich über methodologische Fragen gesprochen worden ist, ist es m. E. doch notwendig, noch einmal auf sie zu-

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rückzukommen. Ich meine, daß die Verfassungsgeschichte für sich allein derartige Fragen nicht lösen kann und daß wir auch nicht erwarten können, daß die in einer bestimmten Zeit zu untersuchenden Phänomene sich begrifflich gleichsam selbst erklären. Wir können aber weiterkommen, wenn wir die Rechts- und Staatstheorie mit ihren Erkenntnismöglichkeiten für die Verfassungsgeschichte fruchtbar machen. Ich sehe von daher keine Probleme, etwa im Hinblick auf die Jenaer Schule des Jus Publicum schon im 17. Jh. von einem reichsverfassungsrechtlichen Denken im funktionalen Sinne zu sprechen. Ich hätte darüber hinaus keine Bedenken, Staat und Staatlichkeit bis ins hohe und späte Mittelalter zurückzuverfolgen. Jedoch müßten dann die Fragen an die Verfassungsgeschichte formuliert oder reformuliert werden, daß sie nicht bestimmte Antworten von vornherein ausschließen. Das bedeutet, daß die Verfassungsgeschichte sich mehr als bisher rechts- und staatstheoretisch anleiten lassen muß, wie umgekehrt die Rechts- und Staatstheorie sich einer Anleitung durch die Rechts- und Verfassungsgeschichte nicht verschließen darf.

Brauneder: Gestern wurde in zwei oder drei Diskussionsbeiträgen die Rolle des Rechts angesprochen. Es habe sich die Rolle des Rechts im sich entwickelnden souveränen säkularen Staat von einer ursprünglich autonomen Größe hin entwickelt zu einer solchen, die zur Disposition stehe. Letzteres sei im Absolutismus der Fall gewesen, der den Monarchen über das Recht gestellt habe. Sollte man diese Entwicklung nicht anders sehen? Schon im Mittelalter finden sich Beispiele dafür, daß über das Recht disponiert wurde; es kam durchaus vor, daß der Stadtherr oder der Landesfürst mit Gesetzgebungsakten Rechtsinstitutionen bewußt abgeschafft, Verfügungsbeschränkungen erlassen haben etc. Dem Absolutismus sagen wir nach, er habe dem Monarchen die Macht verschafft, sich über das Recht hinwegsetzen zu können. Dem stehen aber neben anderem die großen Kodifikationen des Zivilrechts, des Prozeßrechts und des Strafrechts entgegen. Ich nehme als Beispiel die Kodifikationen des Zivilrechts. Schon die Entstehungsgeschichte zeigt, daß hier durchaus nicht der Gedanke vorgeherrscht hat, das Recht stehe zur Disposition des Monarchen. Vor allem dauerte es gerade bei Österreichs ABGB doch sehr lange, bis sich diverse Kommissionen trotz Drängen der Monarchen auf einen Text haben einigen können. Als die Kodifikationen in Kraft getreten waren, wurden sie kaum noch und wenn, dann nur sehr behutsam geändert. Das entspricht zwei theoretischen Grundhaltungen. Die eine liegt im Wesen der Kodifikation begründet: Die Kodifikation sollte Wahrheiten festschreiben, die immer und überall gültig sind. Materien, die diesem Anspruch nicht genügen können, wie insbesondere das Ver-

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waltungsrecht, galten daher nicht als kodifikationsfähig. Als das ABGB 1811 sanktioniert wurde, nahm man bezeichnenderweise die Darlehens-Bestimmungen aus, weil gerade Inflation herrschte. Später wurden dann aber auch diese Bestimmungen sanktioniert, und zwar mit dem Argument, daß ihre Regeln stets "richtig" seien, aber dem Umstand der gegenwärtigen Inflation habe die politische Gesetzgebung (heute würden wir sagen: die Verwaltungsgesetzgebung) Rechnung tragen müssen. Der zweite theoretische Ansatz liegt in der Stellung des Monarchen als Gesetzgeber. Gesetzgebungslehren schärfen ein, daß Gesetze möglichst nicht verändert werden dürfen; denn das sei ein Zeichen der Schwäche des Monarchen; es deklassiere sowohl den ursprünglichen Gesetzgeber wie auch den der Novellen. In einer Novelle zu einem großen Gesetzgebungswerk liegt in der Tat das Eingeständnis, daß sich der monarchische Gesetzgeber geirrt habe, was zugleich die Vermutung aufdrängt, daß sich auch der Novellen-Gesetzgeber irren könnte. Novellierungen galten daher geradezu als anstößig. Das bedeutete nicht weniger als eine feste Bindung des Monarchen an die einmal erlassene Kodifikation. In diese Richtung deutet zweierlei: Das österreichische ABGB enthält keine Regeln über die Novellierung; sehr wohl aber über die Interpretation, insbesondere über die authentische Interpretation. Die unmittelbare Weiterentwicklung zeigt, daß man von ihr häufig Gebrauch gemacht, jedoch niemals novelliert hat. Das scheint mir ein Indiz dafür zu sein, daß man nicht novellieren oder die Novellierungsbedürftigkeit des ABGB nicht eingestehen wollte. Die authentischen Interpretationen haben das ABGB freilich ähnlich wie eine Novellierung verändert. Das unterstreicht das Kundmachungspatent des ABGB für Liechtenstein, das es von Österreich übernommen hat. Der Fürst behielt sich ausdrücklich die Novellierung vor, so als wäre sie nicht sein selbstverständliches Recht. Aber auch das geschieht mit vorsichtiger Zurückhaltung. Der Fürst wollte nur "jene Modifikationen mit der Zeit ... gestatten, welche die Lokalverhältnisse in einem oder dem anderen Falle nötig machen könnten". Also nur Fortentwicklung, nicht etwa Ausübung des Gesetzgebungsrechtes schlechthin! Insgesamt ist es wohl doch nicht so, daß das Recht anfänglich überhaupt nicht und dann etwa gegen 1800 zur freien gesetzgeberischen Disposition gestanden habe.

Miethke: Herr Brauneder hat gezeigt, daß für den Souverän das Recht des 17. und 18. Jh. nicht ohne Probleme war. Ich möchte hinzufügen, daß auch sein Bild von der mittelalterlichen Rechtsanwendung durch den Richter seine Probleme aufweist. Dazu nur zwei Hinweise: Princeps legibus solutus besagt, daß der Fürst, der princeps, von dem gesetzten Recht unabhängig ist. Nach der lex Regia ist es zwar sinnvoll, daß er sich an das Recht

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hält; aber er muß sich nicht daran halten. Das ist bereits eine gewisse Souveränität. Die Gestaltungsfreiheit des Fürsten geht so weit, daß die mittelalterlichen Juristen den Satz error principis facit ius diskutierten, der im römischen Recht so nicht vorkommt, sondern nur die Folge eines Schreibfehlers ist. Schon die Formulierung ist bezeichnend genug. Error principis facit ius. Wenn der Fürst irrt, dann bindet sein Erlaß gleichwohl rechtlich. Mein zweiter Hinweis zielt darauf, daß die mittelalterlichen Rechtstheoretiker unterschieden zwischen der Rechtsauslegung des Richters, der an das gegebene Recht gebunden ist, wenn es nicht nur gewohnheitsrechtlich verankert, sondern durch eine Kodifikation festgelegt ist, daß aber der Gesetzgeber es durch seine authentische Interpretation natürlich ändern kann. Da gibt es, um meinen Hausheiligen Wilhelm von Ockham zu zitieren, einen längeren Traktat, der völlig klar macht, daß der Gesetzgeber, und zwar sowohl der kirchliche, der Papst, der das fast täglich tat, als auch der weltliche, seine eigenen Gesetze interpretieren kann: damit ist er in der Tat zum Souverän über das Gesetz geworden, wobei ich die Frage nach der Praxis beiseite lasse. In beiden Richtungen ist demnach die vorhin behauptete Entwicklung in Zweifel zu ziehen. In der Frage der Gesetzgebung des princeps liegt zweifellos eine der mittelalterlichen Wurzeln des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffes. Das ist nicht umsonst eine der Wurzeln auch für Bodin selbst gewesen, der gesagt hat, daß bei Autoren wie Innozenz IV. oder dem Hostensis die seiner Auffassung am nächsten kommende Vorgeschichte des Begriffs der Souveränität zu finden sei.

Mußgnug: Man sollte auch auf den Inhalt der Gesetze achten. Den Satz "pacta sunt servanda" kann kein König nach Belieben außer Geltung setzen. Aber die Frage, wieviele Pferde die Bürger vor ihre Wagen spannen dürfen, stand der Regelung nach Gutdünken offen, wie man auch heute nach Gutdünken regeln kann, ob Rechts- oder Linksverkehr vorgeschrieben ist. Miethke: Zu pacta sunt servanda gibt es im Mittelalter eine Diskussion, ob der Fürst nicht berechtigt ist, nach der Regel zu handeln: Was geht mich mein Geschwätz von gestern an? Ockham war der Meinung, daß der Fürst das unter bestimmten Bedingungen dürfe. Das war keine zentrale Frage, aber es gab darüber durchaus lebhafte Diskussionen. Im Mittelalter wußte man nicht über alles so genau und gut Bescheid, wie wir es heute manchmal glauben. Die Diskussionen sind jedenfalls fast unendlich. Wolf: Ich fand sehr wichtig, was Herr Brauneder sagte, und möchte betonen - Herr Miethke hat es zum Teil schon vorweggenommen - es gibt beides: Der Monarch oder der Gesetzgeber kann über dem Gesetz und er kann darunter stehen. Er steht unter dem Gesetz z. B. bei den Sukzessionsgesetzen. Die sind über ihm; ein einzelner König oder Fürst kann sie nicht einfach än-

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dem. Sie gelten für die ganze Dynastie, für das ganze Land. Eine wichtige Ausnahme - sie ist das Schulbeispiel für den auf die Spitze getriebenen Absolutismus - ist Peter der Große. Peter der Große versucht, sich auch über die Sukzessionsgesetze hinwegzusetzen und innerhalb der Familie den Erben willkürlich zu bestimmen. Aber das war wirklich ein Extrem. Im Normalfall war das undenkbar. Auf der anderen Seite steht der Gesetzgeber über dem Recht. Das Recht ist disponibel. Das findet in den Städten schon im Spätmittelalter seinen Niederschlag, wenn der Rat am Schluß eines Gesetzes sehr oft die Wendung gebraucht, es gelte solange, bis der Rat es mindert oder mehrt oder abschafft. Das ist das disponible Gesetz! Aber die leges fundamentales waren indisponibel.

Kleinheyer: Ich möchte zu einigen Einzelfragen sprechen: Zu Herrn Brauneder: Ich kann nicht glauben, daß sich der absolute Monarch des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit seiner Kodifikation selbst binden wollte. Es kodifizierte ja eigentlich nicht er selbst; den Inhalt der Kodifikationen bestimmten seine Leute, seine Beamten. Diese mögen mit der Kodifikation sicherlich das Ziel verfolgt haben, ihn zu binden. Aber er dürfte diese Bindung kaum anerkannt haben. Sein Problem war, im Staat Ordnung zu schaffen und für seine Gebote Gehör zu finden. Es gibt genug Beispiele dafür, daß er sich nicht selbst als gebunden betrachtet hat. Zur Souveränitätsdiskussion: Im Reich bezieht sich diese Diskussion, wenn sie überhaupt unter diesem Titel geführt wird, meist auf die maiestas und damit auf die Beziehungen innerhalb des Reiches, also die innere Souveränität. Könnte nicht Souveränität im übrigen auch die Funktion haben, Klarheit zu gewinnen über die Ableitung eigener Rechtspositionen? Ich verweise hier auf die Bindung an die pacta, die immer wieder auch für den Souverän betont wird. Das hängt damit zusammen, daß man aus solchen pacta selbst Rechte für sich ableitet: in dieser Rechtsposition wird man natürlich dadurch sicher, daß man die Verfügung des Souveräns über solche Rechte außer Zweifel stellt. Schließlich noch zu Herrn Heckel: Praktisch scheint mir die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Staat nicht so konsequent durchgeführt zu sein. Allenthalben klingen Gesetze des Staates im 19. Jahrhundert noch sehr christlich. Ich denke etwa an die Gesetze über das Religionsbestimmungsrecht und über die Religionsmündigkeit. Sie alle beziehen sich auf einen kirchlichen Staat. Seit dem Vormärz finden wir überdies das "Volk" als einen Verfassungsbegriff. Auch wenn die Doktrin des monarchischen Prinzips vorherrscht, ist doch das Volk aktiver Partner, jedenfalls im Gesetzgebungsbereich. Ist es überdies nicht auch so, daß aus tatsächlichen Gründen mit diesem Volk gerechnet werden muß und dann natürlich auch

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mit seiner religiösen Überzeugung? Ist es nicht vielleicht das Problem Preußens im Kulturkampf gewesen, daß man eine große Bevölkerungsschicht vor den Kopf gestoßen hat? Der Konflikt wirkte nicht etwa deshalb so gravierend, weil Preußen sich mit der katholischen Kirche überwarf, sondern deshalb, weil die katholischen Untertanen in ihrer Mehrzahl ihren kirchlichen Oberen folgten. Das machte - wenn man so will: durch die demokratische Beteiligung des Volkes am politischen Leben - doch Rücksichtnahmen auf die religiösen Überzeugungen nötig, so daß dadurch doch eine christliche Färbung in die Akte des Staates eindringt. Das ist wohl kein rechtliches, aber ein tatsächliches Phänomen.

Blaschke: Im Verlauf unsrer Diskussion ist gesagt worden, daß die älteren Kodifikationen und Verträge keine Novellierung vorgesehen hätten. Das kann man von juristischen Festlegungen der älteren Zeit gar nicht anders erwarten, weil man immer in dem Gefühl lebte, es sei alles unveränderbar und dauerhaft. Noch der Deutsche Bund von 1815 und das Kaiserreich von 1871 haben sich als ein "Ewiger Bund" verstanden. Der Gedanke der Flexibilität, wie er heute vorherrscht und in der Begrenzung von Verträgen, von Staatsverträgen auf 5 Jahre, auf 10 Jahre zum Ausdruck kommt, war der damaligen Zeit ganz fremd. Ich wollte Herrn Brauneder, der mich direkt angesprochen hat, darauf hinweisen, daß sich m.E. seit dem ausgehenden Mittelalter in der großen Fülle von Rechtsetzungen, Landesordnungen zeigte, daß der Herrscher über dem Recht steht. Wir haben in Sachsen solche Rechtsetzungen seit 1482 in der Form der Bergordnungen. Das Mittelalter entwickelte sie aus der praktischen Arbeit innerhalb des ursprünglich als überpositiv und sakrosankt gedachten Bergrechts. In der Neuzeit setzte der Landesherr Bergordnungen, Münzordnungen, Forstordnungen, Floßordnungen, Landesordnungen am laufenden Band. Hier drückt sich doch eine Souveränität gegenüber dem Recht aus. Altes Recht wird beseitigt. Ich habe eine Stelle gefunden im späten 16. Jh., wo ein bürgerlicher Rat im Dienste des Kurfürsten von Sachsen dem Freiberger Rat erklärt, daß alles Unsinn sei, was sie an alten Privilegien hatten; denn von nun an würden wirkliche - heute würden wir sagen: rationale - Gesetze erlassen; drum sollten sich die Freiberger nicht mehr auf solche albernen Dinge, ich glaube das Wort "albern" ist tatsächlich gefallen, wie ihre alten Privilegien berufen. Auch die Sukzessionsgesetze, die Herr Wolf angeführt hat, sind mißachtet worden, wenn es dem augenblicklichen Interesse des Fürsten entsprach. Wir hatten 1500 in Sachsen die väterliche Ordnung des Herzogs Albrecht mit der Primogeniturerbfolge und der Unteilbarkeit des Landes. 150 Jahre später teilt einer seiner Nachfolger das Land in vier Teile; das Glück Sachsens, daß im Laufe der nächsten 100 Jahre drei dieser Teile wegen Ausster-

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bens ihrer Dynastie wieder zurückgefallen sind. Bedenkt man, was sich die Fürsten an Todesurteilen und Strafurteilen brutalster Art geleistet haben, so wird ihre Bindung an das Recht ohnehin fragwürdig. Das beginnt mit dem Kurfürsten August, Vater August heißt er in der Legende in Sachsen, der seine Konfessionsgegner auf das Brutalste verfolgt hat. Es gibt die bezeichnende Geschichte des Herzogs von Liegnitz, die Hans von Schweinichen berichtet, der einen Studenten, der ihn durch lautes Benehmen in seiner Rede gestört hat, kurzerhand hat aufhängen lassen. Das konnte er; es gab keinen, der ihn hätte hindern können. Das mögen extreme Fälle sein, aber ich glaube schon, daß darin das Novum sichtbar wurde, daß sich der Fürst nicht mehr an das Recht gebunden fühlte.

Mußgnug: Bei Geschichten wie denen vom Herzog von Liegnitz ist freilich Vorsicht am Platze. Ich erinnere an das Märchen vom ius primae noctis. Auch wenn sich genügend Zeugnisse dafür finden lassen, daß es immer wieder Wüstlinge gegeben hat, die dieses "alte Herrenrecht" unermüdlich ausgeübt haben, so heißt das noch lange nicht, daß es als "Recht" anerkannt gewesen wäre. Wer seine Macht mißbraucht, behauptet gerne, daß er dazu berechtigt sei. Aber diese Behauptung verdient unsren Argwohn auch dann, wenn sie rechtsgeschichtlich überliefert wird. Ableitinger: Ich knüpfe an die Diskussion des Vormittags zum Referat von Herrn Robbers an. Einige Gesprächsteilnehmer haben seine Darstellung der positivistischen deutschen Staatsrechtswissenschaft nach 1866/71 als zu günstig und affirmativ eingeschätzt. Das möchte ich noch einmal aufgreifen mit der Frage, ob es tatsächlich unter den einschlägig publizierenden Juristen der Zeit keine kritischen Erörterungen über das damalige deutsche Staats handeln gibt. Ich denke z. B. an die Kulturkampfgesetzgebung. Hat sie wirklich nur deshalb, weil sie verfassungsrechtskonform vor sich ging und so positivistisch unanfechtbar war, keine von einem alternativen staatsrechtlichen Ansatz ausgehende kritische Erörterung provoziert? Aus den Reihen des Katholizismus, so sollte man vermuten, wird es doch wohl juristisch-staatstheoretische Beiträge gegeben haben, die das Geschehen auf der Grundlage einer Lehre von den Staatszwecken kritisiert haben, auf dem Fundament einer Lehre also, für die nicht jedweder Gesetzesinhalt gleich legitim war, wenn er nur verfassungskonform beschlossen worden ist. Oder ein anderes Beispiel: War die gesamte zeitgenössische Staatslehre daran uninteressiert, welche unterschiedlichen gesetzesförmigen Resultate die Parlamente auf der Basis eines mehr oder weniger willkürlich beschränkten Wahlrechts hervorbrachten? Stellte sich der Staatsrechtslehre die Frage nach der Legitimität einer solchen Gesetzgebung denn überhaupt nicht? Gewiß gingen sozialdemokratisch inspirierte Publikationen daran nicht vorbei. Aber gab es, da man sozialdemokratische Professoren damals kaum finden wird, keine anderen als etwa im Weltkrieg Max Weber, die solche

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Zusammenfassende Aussprache

Fragen für juristisch-staatstheoretisch (nicht nur politisch-pragmatisch) relevant ansahen?

Weitzel: Ich möchte mich zu dem Rechtsverständnis äußern, das Herr Brauneder angestoßen hat, und zu seinen Zusammenhängen mit der Entwicklung der Staatlichkeit. Was das Mittelalter angeht, so gibt es zumindest zwei Rechtsordnungen, wahrscheinlich aber noch einige mehr. Was uns Herr Miethke geschildert hat, ist die gelehrte Tradition, die aus der Antike kommt und von der Kirche tradiert worden ist. Daneben finden wir das, was man als Rechtsgewohnheit bezeichnen kann. Diese beiden Rechtskreise sind in umfassendere kulturelle Zusammenhänge (SchriftlichkeitlMündlichkeit) eingebettet und korrelieren mit einem ihnen entsprechenden richterlichen Entscheidungsmodell. Bei beiden handelt sich um recht unterschiedliche Arten der Rechtsbegründung. Sie stimmen in der Grundvorstellung überein, daß kein Richter machen kann, was er will. Wenn es im Mittelalter darum ging, Rechtsgewonnheiten in einen Richterspruch umzusetzen, so fühlten sich die Richter gebunden an das Recht. Sie entschieden also nicht - wie es manchmal sogar die Germanisten sagen - aus der "Willkür", durch "Orakel" oder dergleichen. Das ist eine ganz überholte Sicht der Dinge. Dann kam die Rezeption. Mit ihr gewann das gelehrte Recht die Oberhand. Der Richter ist jetzt gehalten, das geschriebene Recht zu beachten. Aber was ist das für ein Recht? Es ist das in Schriftform aufgezeichnete Recht eines historischen Gesetzgebers, den man freilich nicht mehr befragen kann, weil er nicht mehr lebt und auch keinen Nachfolger eingesetzt hat. Folglich kann der Richter mit dem Gemeinen Recht locker umgehen. So kam es zu der Epoche des Richter- und Gelehrtenrechts, das unter dem Einheitlichkeit vorgebenden Titel ius commune auftritt. Selbst im Strafrecht haben die Dinge vor und trotz der Carolina einen entsprechenden Verlauf genommen. Gegen das Richterrecht, in dem er "Willkür" argwöhnt, geht dann der absolute Herrscher vor. Zunächst bedient er sich der Polizeiordnungen. Mit ihnen gewinnt er den ersten Griff auf das Recht. Als er das Recht um die Mitte des 18. Jahrhunderts richtig in die Hand genommen hatte, wollte auch er sein Recht nicht gerade täglich ändern. Natürlich hat er seine Kodifikationen als Vernunftrecht mit dem Anspruch ewiger Gültigkeit in Kraft gesetzt. Aber schon die gedankliche Möglichkeit des Zugriffs auf das Recht, die Vorstellung, daß das Recht nicht vom Himmel gefallen ist, sondern vom Herrscher kommt, daß es von ihm her seine Legitimität bezieht und daher für ihn frei gestaltbar ist, war neu. Das bedeutet jedoch nicht, daß an permanente Rechtsänderungen gedacht gewesen wäre; das hätte ins Chaos geführt. Die Idee von der freien Gestaltbarkeit des Rechts durch die Vernunft des Herrschers ist ein Teil der inneren Souveränität. Damit ist die Souveränität nach innen voll ausgestaltet.

Zusammenfassende Aussprache

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Baumgart: Ich möchte an meinen Vorredner anknüpfen und im Hinblick auf das Recht und sein Verhältnis zum Absolutismus daran erinnern, daß der Absolutismus kein monolithisches Gebilde gewesen ist, sondern zeitlichen und inhaltlichen Veränderungen ausgesetzt war, und daß das, was Herr Kollege Brauneder skizziert hat, die Kodifikation, in eine ganz spezifische Phase des Absolutismus fällt. Man kann sie "Spätabsolutismus" nennen: man kann sie traditionellerweise aber auch als "Aufgeklärten Absolutismus" bezeichnen. Für den aufgeklärten Absolutismus sehe auch ich die Dinge so, wie Herr Brauneder sie geschildert hat. Aber der Absolutismus hat zuvor andere Phasen durchlaufen; auch dafür gibt es Repräsentanten. Einer der nächstliegenden wäre Friedrich Wilhelm 1., der Vater des Kodifikators Friedrich der Große. Denken Sie an sein Verhältnis zu den Ständen; denken Sie an den Rechtsbruch, mit dem er seine Souveränität gegenüber den Ständen in Ostpreußen etablieren wollte wie einen "rocher de bronce" ! Gehen Sie in demselben Brandenburg-Preußen zwei Generationen zurück zum Kurfürst Friedrich Wilhelm, der im Nordischen Krieg als seinen Grundsatz formuliert hat: "Necessitas non habet legem ". Hier kommt ganz klar ein Absolutismus zu Wort, der sich per definitionem über das Recht hinwegsetzt, und dasselbe gilt natürlich für den ludovicianischen Absolutismus in Frankreich. Wenn wir uns an das Revokationsedikt Ludwigs XIV. erinnern, mit dem er das Edikt von Nantes aufgehoben hat, dann ist das die Aufhebung der großväterlichen Gesetzgebung Heinrichs IV. und damit ein klarer Akt fürstlich-absolutistischer Willkür. Es gäbe weitere Beispiele in Hülle und Fülle, etwa die Lex Regia in Dänemark. Ich will diese Linie nicht weiter verfolgen. Aber ich wollte darauf aufmerksam machen, daß wir häufig sehr umfassende Phänomene diskutieren, die in sich sehr differenziert waren. Damit möchte ich vielleicht noch einmal auf die Generaldebatte lenken. Es bestand hier die Tendenz, alles in großen Epochen zu diskutieren. Wir sind vom 15. Jahrhundert bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts gegangen und haben das als Einheit genommen, als Diskuss ions einheit, und als solche sicher in einem sehr aufschlußreichen Zugriff durch Herrn Stolleis dann auch gegliedert gefunden, freilich unter einem Einheitsbegriff, der den ganzen Zeitraum umfaßte. Ich frage mich, ob das methodisch durchweg zu rechtfertigen ist. Genauso wurde die Verfassungs- oder die Staatslehre des 19. Jahrhunderts gewissermaßen in einem Einheitsreferat dargestellt, ohne innere Periodisierung. Daran ist in der Diskussion heute vormittag Anstoß genommen worden, und ich meine, zu Recht Anstoß genommen worden. Ich möchte Herrn Robbers noch einmal fragen, ob nicht doch viel stärker von außen Anstöße zur Veränderung des Verfassungsdenkens und der Staatslehre ausgegangen sind, als er das in seinem Referat, das eigentlich letztlich dogmen-geschichtlich war, zum Ausdruck gebracht hat. Ähnlich hat Herr Badura das dann für einen anderen

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Zusammenfassende Aussprache

Zeitraum, freilich mit äußeren Zäsuren, die natürlich vorgegeben waren, dann getan.

Mußgnug: Damit haben wir das Ende der Diskussion erreicht. Der Augenblick für die Schlußworte der Referenten ist gekommen. Ich schlage vor, in der Reihenfolge der Referate vorzugehen. Miethke (Schlußwort): Ich will mich auf meinen Dank für die Einladung und die Möglichkeit beschränken, über einige Fragen nachzudenken, bei deren Bearbeitung ich selbst einiges gelernt zu haben glaube. Ich möchte unterstreichen, was in der Diskussion vielfach bemerkt worden ist, und noch einmal betonen, daß im Mittelalter vieles nebeneinander liegt, so daß klare Entwicklungen zu zeichnen oft eine Vergewaltigung komplexer Phänomene bedeutet. Die verschiedenen Rechtskreise sind noch nicht vereinheitlicht: kirchliches Recht, weltliches Recht, Gewohnheitsrecht, Satzungsrecht, all das steht nebeneinander und kämpft miteinander; gleichwohl gibt es so etwas wie die Vorstellung von Gerechtigkeit. Daraus das Verfassungsdenken zu ermitteln (was ich dem verfassungsrechtlichen Denken des Mittelalters vorziehe), ist natürlich in einem Vortrag nicht ohne Verkürzungen möglich. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, die Verkürzungen in solchen Grenzen zu halten, daß das Bild, das entstanden ist, nicht eine völlige Verzerrung bedeutet. Das wird man überprüfen können. Der Vorzug solcher Vorträge und solcher Tagungen liegt darin, daß die Entwürfe dann, wenn sie veröffentlicht sind, überprüft werden können und damit zur Klärung beizutragen vermögen. Der komplizierte Sachverhalt, mit dem wir uns beschäftigten, ist die Einheit der europäischen Rechtsentwicklung: das ist vielleicht wenig, es gibt auch andere Rechtsentwicklungen. Es ist insofern aber viel, als die europäische Rechtsentwicklung heute für die gesamte Welt maßgeblich geworden ist: damit sind auch die Wurzeln dieser Entwicklung kritischer Reflexion und Revision zu unterwerfen. Deswegen gehört auch das Mittelalter zentral zum Themenbereich. Stolleis: Zunächst einige unsystematische Bemerkungen zu den hier gestellten Fragen. Herr Kleinheyer, Sie haben in Ihrer ersten Frage wissen wollen, ob das Reich sich auf Souveränität nach außen berufen hat und ob die äußere Souveränität in der Reichsstaatsrechtslehre eine Rolle gespielt hat. Wenn ich richtig sehe, beginnt die Berufung auf die Souveränität mit der Erwähnung des auswärtigen Bündnisrechts der Reichsstände im Westfälischen Frieden. Dadurch wurde die Landeshoheit auch nach außen zu einer Quasisouveränität gesteigert. Ein weiterer Punkt dürften die Territorialverluste des Reichs im Konflikt mit Frankreich gewesen sein. Ich würde zur Suche nach solchen Berufungen auf die Souveränität etwa Leuchts Europäische Staats-Kanzley, Lünigs Teutsches Reichs-Archiv oder Mosers Teutsches Staatsrecht durchsehen.

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Ihre zweite Frage bezieht sich auf die sehr alte Debatte zwischen Vertragstreue (pacta sunt servanda) und Vertragsbruch unter Berufung auf stärkere Rechtstitel (necessitas, ratio status, maiestas, Souveränität). Herr Miethke hat schon darauf hingewiesen, daß diese Debatte seit dem Mittelalter geführt wird, und sie ruht auch dort auf älteren Fundamenten, u.a. des römischen Rechts. Für Juristen gehörte es zu den Standardaufgaben, tragfähige Begründungen für die Auflösung von Verpflichtungen zu finden, wenn sich die Umstände geändert hatten.

Kleinheyer: Für mich war interessant, daß die Reichsstände ja eigentlich darauf angewiesen sind, dem Kaiser einen Rest von Souveränität zu belassen, von ihrer eigenen Stellung her. Diese Stellung läßt sich nur erklären aus den einmal gegebenen Versicherungen. Die Reichsstände haben darauf Wert gelegt, daß der Kaiser jedenfalls als Inhaber der maiestas erhalten blieb. Stolleis: Herr Wyduckel hat die Frage gestellt, ob es wirklich in dem großen Zeitraum vom 17. bis zum 20. Jahrhundert durchlaufende Fragestellungen bzw. eine gemeinsame Sprache gibt. Ich wundere mich etwas, daß diese Frage von ihm kommt; denn sein Ius publicum aus dem Jahr 1984 beruht ja auf der Prämisse, daß es durchlaufende Fragestellungen gibt. Was die gemeinsame Sprache angeht, genauer: das Verständnis und die Übersetzung der älteren Quellentexte in unsere Sprache, so gehe ich davon aus, daß diese Übersetzung möglich ist. Gerade in der Diskussion um die Souveränität möchte ich dafür plädieren, die vornationalistische europäische Begriffsgeschichte einzubeziehen. Tut man dies nicht, dann bleibt nur die nationalistisch verengte Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts übrig. Deshalb meine ich, daß es noch großer Anstrengungen zur Verlebendigung der europäischen Bestände der Frühen Neuzeit bedarf. Zu Herrn Klippel möchte ich zunächst sagen, daß wir die Frage, ob man von "Verfassung" vor dem 19. Jahrhundert reden darf, auf sich beruhen lassen können. Zu dem weiteren Verfassungsbegriff, der hier verwendet wird, ist schon das Nötige bemerkt worden. Was dagegen für mich noch von Interesse ist, ist die Frage, wie man vom Verfassungsverständnis der Frühen Neuzeit zum Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts übergegangen ist. Die gedankliche Brücke scheint mir der Gedanke zu sein, daß auch der souveräne Herrscher an höherrangiges Recht gebunden ist, über das er nicht verfügen darf. Die Staatstheorie der Frühen Neuzeit verwendet gerade auf diesen Punkt erhebliche Energie. Warum sie das tat, hat einen doppelten Grund: Zum einen hat man diese Anstrengungen als politische Reaktion auf einen übermächtigen Absolutismus angesehen, dem die Juristen Fesseln anlegen wollten. Zum anderen - und dies ist die für mich überzeugendere Interpretation - hat die Betonung der Rechtsbindungen eine Vermittlungsfunktion mit dem älteren, mittelalterlichen Weltbild erfüllt. Indem man den 15 Der Staat, Beiheft 11

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absolutistischen Herrscher neuen 'lYPus so darstellte, als sei er in traditioneller Weise an ius divinum, ius naturale und an die leges fundamentales gebunden, konnte man die traditionellen Elemente mit denen des neuen Machtstaates verbinden. Die Bemerkung von Herrn Baumgart, ob es methodisch zulässig sei, das 15.- 18. Jahrhundert als Einheit zu betrachten, möchte ich der Souveränität des Vorstands dieser Vereinigung anheimgeben. Er hat das Thema in dieser umfassenden Weise gestellt. Ob es gelungen ist, wird man am Ergebnis messen dürfen. Prinzipielle methodische Verbote, drei Jahrhunderte analytisch zusammenzufassen, sehe ich nicht. Je stärker die historischen Abläufe fraktioniert werden, desto präziser werden die Aussagen, aber im gleichen Ausmaß verlieren sie ihre allgemeinere Aussagekraft. Drum sollte es erlaubt sein, jene Jahrhunderte im Überblick zu sehen. Immerhin gibt es die Gemeinsamkeit, daß es sich um einen vorindustriellen Zeitraum handelt, und daß in ihm der, wenn auch ständisch gebrochene und unvollkommene, Absolutismus geherrscht hat. Die Zeit zwischen Reformation und Französischer Revolution als relativ einheitliche "Frühe Neuzeit" zu begreifen, halte ich methodisch für zulässig.

Robbers: Auch mein Dank bleibt bestehen. In aller gebotenen Kürze darf ich noch auf die Sachfragen eingehen. Ich denke in der Tat, daß das 19. Jh. als Periode eines bestimmten Staatsrechtsdenkens genommen werden kann. Es ist also nicht das Verstecken hinter dem Auftrag der Veranstalter; ich nehme das Thema vielmehr dankbar an. Es gibt eine Staatsrechtslehre des 19. Jh. Ich habe versucht, dies deutlich zu machen, indem ich dargelegt habe, daß es bestimmte Fragestellungen gibt und bestimmte Verknüpfungen von Problemstellungen, die dieses Spezifikum ausmachen, z. B. in der Fragestellung des monarchischen Prinzips. Das unterscheidet das 19. Jh. sehr wohl von dem der vorrevolutionären Zeit, und es unterscheidet das Staatsrechtsdenken des 19. Jh. von dem nach dem Ersten Weltkrieg. Für die innere Periodisierung muß man, wenn man periodisieren will, auf die einzelnen Fragestellungen genauer eingehen, als das jetzt möglich war. Man wird sicher im einzelnen andere Periodisierungen finden für die Frage der Methodenverschiebung als für den unmittelbaren Gegenstand der verfassungsrechtlichen Grundlagen, andere für das Grundrechtsdenken als für die Ausdifferenzierung des Verwaltungsrechts vom Staatsrecht. Gleichwohl meine ich, man wird vielleicht drei Hauptperioden nehmen können: Einmal die Zeit bis 1848; 1848 ist ein einschneidendes Ereignis. Dann die Zeit von 1850- 1866, und dann 1866 fortfolgend. Das wären die drei inneren Perioden, die ich ansetze. Ein zweiter Punkt: Herr Ableitinger hat auf etwas hingewiesen, was ich mir für mein Schlußwort habe aufsparen wollen. Ich bin ihm dafür dankbar.

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Denn ich war nicht so disputationsgeschickt, wie ich es eigentlich hätte sein wollen. Es stimmt, daß es in der Staatsrechtslehre des letzten Drittels des 19. Jh. an vielem gefehlt hat; das ist ja nicht zu leugnen. Was in der von mir behandelten Zeit gefehlt hat, ist das, was Herr Häberle das "Vorratsdenken" genannt hat. Ich meine, man wird den Juristen des 19. Jh. keinen Vorwurf daraus machen können, daß sie wenig revolutionär gewesen sind. Was gefehlt hat, war dieses Vorratsdenken, die überschießende Kraft der Theorie. Aber das ist typisch für das rechtspositivistische Denken. Das ist Ausdruck der Methode, die insofern für die Sache selbst repräsentativ ist. Einen dritten und letzten Punkt möchte ich mit dem aufnehmen, was Herr Frotscher mit der Frage in die Diskussion eingebracht hat, inwieweit der Nationalsozialismus mitbedacht werden müsse. Auch ich meine, daß aus der nationalsozialistischen Zeit nichts dogmengeschichtlich Relevantes herauszuziehen ist. Was man freilich fragen kann, aber in diesem Zusammenhang nicht hat fragen müssen, ist, ob nicht bestimmte Antworten, Fragestellungen und Strukturen des Verfassungsrechts und seiner Dogmatik vor 1933 gefördert oder jedenfalls nicht gehindert haben, was zwischen 1933 und 1945 geschehen ist.

Heckel: Ich will zunächst auf Herrn Kleinheyers Frage eingehen: Zu einer Trennung von Staat und Kirche LS. einer laizistischen Konzeption ist es im 19. Jh. natürlich nicht gekommen. Der Staat hat die Kirche gefördert, aber auch viel von ihr erwartet, schon aus Gründen der Volkserziehung, der Stärkung der Loyalität, des Familiensinns, der Leistungsbereitschaft. So blieb viel Christliches im öffentlichen Leben erhalten; dafür sprechen schon die Zeremonien bei Hofe. Aber man darf nicht übersehen, daß der Staat, der früher ein Konfessionsstaat war, im 19. Jh. durch die Bevölkerungsmischung zu einer Absonderung der kirchlichen von der staatlichen Rechtsstruktur gezwungen worden ist. Die Regelung der Religionsmündigkeit, der Mischehen, der religiösen Kindererziehung betraf so bürgerliche, weltliche Beziehungen, die starke religiöse Nebeneffekte hatten. Die zunehmende Säkularisierung des Staates führte zu keiner strikten Trennung der staatlichen und kirchlichen Bereiche. Wohl aber führte sie zu einer zunehmenden Trennung der staatlichen und der kirchlichen Kompetenzen bei der Regelung der religiös geprägten Kultur- und Sozialphänomene: Der Staat beschränkte sich auf die Regelung der weltlichen Aspekte und Maßstäbe und überließ den jeweils betroffenen Kirchen die Regelung der geistlichen Gesichtspunkte und Kriterien, um deren Entscheidungen auch in ihren weltlichen Konsequenzen zu respektieren. So hat der sich verweltlichende Staat nicht die religiösen Phänomene selbst verweltlicht, sondern sie in ihrer religiösen Eigenart respektiert. Damit hat er der Eigenständigkeit und dem geistlichen Selbstverständnis der betroffenen Religionsge15"

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meinschaften Raum zur freien Entfaltung in den relativierten staatlichen Rechtsformen gelassen. Das säkularisierte Staatskirchenrecht wurde zu der Schale, in der die religiösen Funktionen geschützt und gefördert wurden. Wo der gute Wille auf beiden Seiten vorhanden war, kam es zu einer respektablen Leistung der Rechtskultur. Im Kulturkampf hat der Staat lernen müssen, sich auf die weltlichen Rahmenbedingungen zu beschränken und die geistliche Freiheit der Kirche zu wahren. Er konnte mit seinen altkatholischen Militärgeistlichen, Religionslehrern und Theologieprofessoren als weltlicher Staat nicht innerkirchliche Reformen in der katholischen Kirche durchsetzen, sondern mußte zurückkehren zu dem alten Modell, das Friedrich der Große als Aufklärer in den Statuten der Katholisch-theologischen Fakultät zu Breslau praktiziert hatte, nach denen alle geistlichen Fragen durch den Bischof entschieden worden sind. Das ist bis heute die Lösung der Konkordate geblieben. Ich darf mit einem Ausdruck des Dankes an den Vorstand schließen und sagen, daß mir mein Thema Freude machte und ich auch die ThemensteIlung für sinnvoll hielt unter vier Aspekten: Zum ersten unter dem der interdisziplinären Kooperation. Gerade in der Terminologie müssen wir in Zusammenarbeit der Juristen mit den Historikern und Theologen an der Schärfung der Begriffe arbeiten. Zum zweiten ging es mir um den Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart. Staatskirchenrecht kann man nicht ohne Einblick in die Geschichte treiben, weil es aus den Erfahrungen unserer Vorfahren entstanden ist und viel Lehrgeld gekostet hat. Dabei muß m.E. auch auf die Zeit vor 1789 zurückgegriffen werden. Das Staatskirchenrecht des 19. Jh. ist zwar in seiner äußeren Normenstruktur etwas völlig Neues. Aber seine Lösungen sind nur zu erfassen, wenn man die tieferen Probleme und Nöte kennenlernt, die das frühere System der Religionsparteien im Konfessionellen Zeitalter durchschritten hat. - Zum dritten ging es mir um den Zusammenhang der Real- und der Theorienentwicklung, weil sich das staatskirchenrechtliche Denken im steten Zusammenspiel der Praxis und der Theorie entwickelt hat. Zum vierten scheint mir die Einbindung der staatskirchenrechtlichen Probleme in die Entwicklung der Dogmatik des Staatsrechts vonnöten, wie sie in den Referaten von Herrn Robbers und Herrn Badura umrissen worden ist. Badura: Ich möchte mich sehr herzlich bedanken, daß Sie mich eingeladen haben und daß ich hier zu einem Thema sprechen durfte, das mich sehr interessiert hat und bei dessen Ausarbeitung ich selbst sehr viel gelernt habe. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte hat den großen Vorzug, daß sie Juristen und Historiker vereinigt und daß man voneinander lernen kann. Beide Richtungen denken doch sehr verschieden. Das ist gut so und gerade dadurch kann eine Zusammenarbeit fruchtbar sein.

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Zu dem Thema, das mir gestellt worden ist, möchte ich über vier Punkte noch wenigstens mit einigen Worten etwas zum Abschluß sagen: Natürlich ist die Abgrenzung von Epochen, wie sie hier vorgenommen und meinem Referat zugrunde gelegt worden ist, immer angreifbar. Es ist wohl so, daß die Geschichte - ebensowenig wie die Natur - Sprünge macht. Vor allem das Denken über bestimmte Fragen hält eine Zeit lang an, und man ist stets in der Lage, dieses Kontinuum in der einen oder anderen Weise zu beleuchten und dann zu erkennen, an welcher Stelle Wendungen, Umbrüche, Wendemarken, oder wie man das nennen will, stattfinden. Daß es allerdings nicht ganz willkürlich ist, wenn wir versuchen, eine neue Epoche des Staatsrechts nach der Gründung des Reiches anzusetzen und das Denken an diesem Punkt von dem zu trennen, was vorher war, das möchte ich schon meinen. Das ist nicht willkürlich, vor allem weil durch die Gründung des deutschen Nationalstaates eine neue Erscheinung in das politische Leben, und damit dann auch in das Verfassungsleben getreten ist. Darauf kann die Rechtswissenschaft aufbauen. Ungeachtet des Kontinuums des geschichtlichen und juristischen Denkens sind wir berechtigt, so meine ich, solche Zäsuren vorzunehmen. Wir müssen nur erkennen, welche Punkte die Zäsuren rechtfertigen, die sich ergeben oder die - spricht man von der Dogmatik des Staatsrechts - prinzipielle oder methodische Veränderungen und Neuerungen darstellen. Eine neue Epoche - das ist mein zweiter Punkt - ist 1871 entstanden. Ich glaube auch, daß darüber weit weniger Diskussion und weithin Einigkeit besteht, daß die gewählte Abgrenzung eine mögliche ist, weil sie uns erlaubt, besser zu verstehen, wie sich das Verfassungsdenken in dieser Zeit entwickelt hat. Das Thema hat mir eigentlich ganz gut gefallen: "Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens". Ich glaube auch, daß mein Referat, nicht weniger als die anderen Referate, unter diesem Thema untergebracht werden kann. "Verfassung" muß ja nicht unbedingt das moderne Verfassungsgesetz sein. Worauf es im Hauptpunkt ankommt ist, daß eine grundlegende und dauerhafte Ordnung mit rechtlichen Mitteln angestrebt wird. Das geschieht sicher auch im Mittelalter. Wir sind immer wieder aufgerufen, diese Aufgabe der Verwirklichung einer solchen Ordnung zu erfüllen. Zum dritten Punkt: Ich meine, daß ein Wandel stattgefunden hat in der Zeit vor und nach der hier angenommenen Zäsur, aber dann auch von der Kaiserzeit zur Weimarer Zeit und bis heute, allerdings unter Auslassung des Dritten Reiches, das eine Zeit der Diktatur und der Selbstzerstörung war. Von Weimar bis heute haben wir eine Entwicklungslinie, die - mögen auch neue Erfahrungen und neue Kenntnisse aufgeworfen worden sein keinen eigentlichen Wandel, eher eine Weiterentwicklung der Dogmatik des

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Zusammenfassende Aussprache

Staatsrechts aufweist. Jetzt allerdings, an der Schwelle zur Integration Europas, steht ein neuer Wandel bevor; er findet in Teilen bereits statt. Da wir an den Universitäten fächermäßig das Europarecht vom nationalen Recht trennen, mag das noch nicht so deutlich sichtbar werden. Ich glaube aber . doch, daß wir mittlerweile einen Entwicklungsstand erreicht haben, der es uns gar nicht mehr erlaubt, das nationale Verfassungsrecht isoliert darzustellen; vom Verwaltungsrecht will ich gar nicht reden, da ist das noch weitaus deutlicher. Damit komme ich zum vierten Punkt: Die - wie es das Bundesverfassungsgericht genannt hat - "Verklammerung" des europäischen und des nationalen Rechts 5 geht allmählich über in eine europäische Verfassungsentwicklung. Das Maastrichter Abkommen zeigt, wie sich diese europäische Verfassungs entwicklung abzeichnet, die eben nur darin andersartig ist, daß die Basis nicht ein Bundesstaat ist. Die Debatten der Kaiserzeit über die Eigenart des Bundesstaates und den Sitz der Souveränität müssen wir nicht wieder aufnehmen. Denn Europa ist eine Föderation, bei der die Staaten ihre Existenz als Staaten behalten werden. Ich stimme Herrn Stolleis und anderen Rednern, die dieses Thema berührt haben, zu: Der Staat ist nicht etwas, das verschwindet oder - wie Friedrich Engels meinte - in eine Rumpelkammer abgestellt werden könnte oder auch nur dürfte. Nur - er ist eben nicht mehr derselbe. Es ist nicht mehr der Nationalstaat, der beanspruchte, jedem Menschen die nötige Sicherheit und das nötige Auskommen geben zu können und das auch mehr oder weniger erreicht hat. Dazu ist der Nationalstaat nicht mehr in demselben Sinne im Stande. Da unsere staatsrechtlichen Begriffe sehr stark an den Nationalstaat und seine Verfassung anknüpfen, wenn nicht sogar durch ihn geprägt sind, werden wir wohl zu einer neuen Betrachtungsweise kommen müssen, die sich vielleicht von den uns gewohnten Begriffen völlig löst. Denn die Wirklichkeit können wir nicht ignorieren. Mit "Wirklichkeit" meine ich die Geschichtlichkeit unserer Existenz, die wir Juristen in der uns eigenen Weise anknüpfend an das Recht erfassen. Eben ist noch einmal die Frage nach dem Recht aufgeworfen worden. Das Recht ist eine bestimmte Art und Weise, in der die Menschen versuchen, ihr Zusammenleben gerecht zu ordnen. Diese Aufgabe wird nie für alle Zeiten gleichförmig erfüllt: sie wird immer wieder, den Umständen entsprechend, neu und anders angepackt werden müssen. Unsere Wissenschaft muß dazu beitragen. Ich bedanke mich noch einmal, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, mich damit zu beschäftigen und hier bei Ihnen zu sprechen, und bedanke mich auch für die Diskussion, in der sich diese Fragen weiter geklärt haben. 5

BVerfGE 73, 339.

Verzeichnis der Redner Ableitinger 95 f., 221 f. Badura 159 ff., 162 f., 164,203 ff., 210 f., 228 ff. Barmeyer90 Baumgart 57,129,197,223 f. Blaschke 50, 95, 220 f. Boldt 46, 92 f., 212 f. Brandt 123 f. Brauneder 57, 94 f., 216 f. Buschmann 121 Dilcher 52, 199 Frotscher 122 f., 126,204 f. Hecke147, 161 f., 195 ff., 199 f., 227 f. Kleinheyer 219 f., 225 Klippe197 f., 209 f., 211 f. Kühne 56, 96 f., 100, 126 ff., 202 f.

Mohnhaupt53,97,128 Mußgnug 120 ff., 123, 125 f., 201 f., 205, 211,218,221,224 Quaritsch 54, 98 f., 213 ff. Robbers 121 ff., 124 f., 129 ff., 226 f. Ruppert 128 f., 130 Scheel 97 Schindling 120 f., 198 f. Schmidt88,122,212 Schneider (Hannover) 44 f., 88 f. Schneider (Saarbrücken) 51, 87 Schnur 207 Sprande152,195,212 Stolleis 86 ff., 121, 122, 158 f., 205 f., 224 ff. v. Unruh 56

Link 55, 93 f., 196 Luntowski 46

Wadle206 Weitze1222 Wolf 50, 218 f. Wyducke188 f., 99, 215 f.

Miethke 44 ff., 87, 121, 197, 211, 217 f., 224

Zlinsky 54, 124, 163 f., 213 f.

Vereinigung für Verfassungs geschichte Satzung § 1 1. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe:

a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts "Steuerbegünstigte Zwecke" der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3. Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.

§ 2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4.10.1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.

§ 3 1. Mitglied der Vereinigung kann werden, wer

a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie münd-

Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte

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liche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/ 3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.

§ 4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.

§ 5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.

§ 6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.

§ 7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.

§ 8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß

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Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte

bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.

§ 9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.

Verzeichnis der Mitglieder (Stand 1. Oktober 1996)

Vorstand 1. Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Schloß (Staatsarchiv), 64283 Darmstadt

2. Brauneder, Dr. Mag. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Schottenbastei 10 - 16, A-1010Wien 3. Press, Dr. Volker, Professor, Hegelbau, Wilhelmstraße, 72074 Tübingen

Beirat 1. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würzburg, Am Hubland, Philosophiegebäude, 97074 Würzburg

2. Borck, Dr. Günther, Landeshauptarchiv Koblenz, 56068 Koblenz 3. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Universität Frankfurt, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt a. M. 4. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universität des Saarlandes, 66041 Saarbrücken 5. Wolf, Dr. Armin, MPI f. europ. Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60457 Frankfurta. M.

Mitglieder 1. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26, A8010 Graz

2. Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, 82431 Kochel 3. Banneyer-Hartlieb, Dr. Heide, Historisches Seminar, Schneiderberg 50, 30499 Hannover 4. Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Karolinenplatz 3, 64289 Dannstadt 5. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würzburg, Am Hubland, Philosophiegebäude, 97074 Würzburg 6. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Universität Regensburg, Universitätsstraße 31,93053 Regensburg 7. Behr, Dr. Hans-Joachim, Ltd. Staatsarchivdirektor, Bohlweg 2, 48147 Münster

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Verzeichnis der Mitglieder

8. Birke, Dr. Adolf M., Professor, 6 Westbourne Ferrace, GB-London W26 QA 9. Birtsch, Dr. Günter, Professor, FB III Geschichte der Universität Trier, 54286 Trier 10. Blaschke, Dr. Karlheinz, Professor, Am Park, 01468 Friedewald 11. Blickle, Dr. Peter, Professor, Universität Bern, Engehaldenstraße 4, CH- 3012 Bern 12. Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, NL2300 Leiden 13. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 79280 Au bei Freiburg 14. Boldt, Dr. Hans, Professor, Universität Düsseldorf, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf 15. Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Landeshauptarchiv Koblenz, 56068 Koblenz 16. Botzenhart, Dr. Manfred, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 - 22,48143 Münster 17. Brandt, Dr. Hartwig, Privatdozent, Wilhelmstraße 19, 35037 Marburg 18. Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Institut für Geschichte der Universität Würzburg, Am Hubland, 9.7074 Würzburg 19. Buschmann, Dr. Arno, Professor, Institut f. europ. u. vergl. Rechtsgeschichte, Churfürststraße 1, A-5020Salzburg 20. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Chiaravelle 7, 20122 Milano 21. Dann, Dr. ütto, Professor, Universität zu Köln, Hist. Seminar, Albertus- MagnusPlatz, 50923 Köln 22. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 61462 KönigsteinITs. 23. Dippel, Dr. Horst, Professor, Fachbereich 8, AnglistikIRomanistik, Georg-Forster-Str. 3, 34127 Kassel 24. Duchhardt, Dr. Heinz, Professor, Domplatz 20 - 22,48155 Münster 25. Eckert, Dr. Jörn, Professor, Lehrstuhl f. Bürgerl. Recht u. Europ. Rechtsgeschichte, August-Bebel-Str. 89, 14439 Potsdam 26. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Feithstraße 152, 58097 Hagen 27. Endres, Dr. Rudolf, Professor, Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth 28. Fenske, Dr. Hans, Professor, Historisches Seminar, Werthmannplatz, 79085 Freiburg 29. Fiedler, Dr. Wilfried, Professor, Universität Saarbrücken, 66041 Saarbrücken 30. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Univ. degli Studi di Firenze, Piazza Indipendenza 9, 1-50129 Firenze 31. Frost, Dr. Herbert, Professor, Kringsweg 24,50931 Köln 32. Frotscher, Dr. Wemer, Professor, 1nst. f. Öffentl. Recht, Savigny-Haus, Universitätsstraße, 35037 Marburg

Verzeichnis der Mitglieder

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33. Gall, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt, FE 8, Senckenberganlage 31, 60325 FrankfurtIM. 34. Gangl, Dr. Hans, Professor, Universitätsplatz 3, A-8010 Graz 35. Giesen, Dr. Dieter, Professor, FU Berlin, FB Rechtswissenschaften, Van't-HoffStr. 8, 14195 Berlin 36. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Universität Bochum, Fak. f. Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum 37. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Schloßbezirk 3,76131 Karlsruhe 38. Hamza, Dr. Gabor, Professor, Eötvös Lorand Universität, Egyetem ter 1 - 3, H-1364 Budapest 39. Hartlieb v. Wallthor, Dr. Alfred, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, 32756 Detmold 40. Hartmann, Dr. Peter Claus, Professor, Universität Mainz, FB Geschichtswissenschaften, Saarstraße 21,55099 Mainz 41. Heckei, Dr. Martin, Professor, Lieschingstraße 3, 72076 Tübingen 42. Heun, Dr. Werner, Professor, Universität Göttingen, Goßlerstraße 11, 37073 Göttingen 43. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Rechts- u. Staatswiss. Fakultät, Domstraße 20,17489 Greifswald 44. Höbelt, Dr. Lothar, Ass.-Prof. Doz., Porzellangasse 19/4, A-I090 Wien 45. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, 10099 Berlin 46. Hoke, Dr. Rudolf, Professor, Universität Wien, Schottenbastei 10 - 16, A-I0I0 Wien 47. Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität Bochum, 44780 Bochum 48. Ishibe, Dr. Masakuke, Professor, Sumiyoshiku Sugimotocho, Osaka, Japan 49. Ishikawa, Dr. Takeshi, Professor, Faculty of Law, Hokaido-University Kita-ku, Kita 9, Nishi 7, Sapporo, Japan 50. Jahns, Dr. Sigrid, Priv.-Doz., Bommersheimer Weg 20, 61348 Bad Homburg 51. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Kalkstraße 14, 40489 Düsseldorf 52. Johanek, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Spiekerhofstraße 40/43, 48143 Münster 53. Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristenfakultät, OttoSchill-Str. 2, 04109 Leipzig 54. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Adenauerallee 24 - 42, 53113 Bonn 55. Klippei, Dr. Diethelm, Professor, Universität Gießen, Postfach, 35394 Gießen 56. Kohler, Dr. Alfred, Professor, Institut für Geschichte, Dr. Karl Lueger- Ring 1, A1010 Wien 57. Koselleck, Dr. Reinhard, Professor, Universität Bielefeld, Postfach, 33615 Bielefeld

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Verzeichnis der Mitglieder

58. Krieger, Dr. Karl-Fiiedrich, Professor, Universität Mannheim, Schloß M 404, 68161 Mannheim 59. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Universität Freiburg, Alte Universität Petershof, Schloßbergstraße 17, 79085 Freiburg 60. Krüger, Dr. Peter, Professor, Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6 C, 35039 Marburg 61. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Königswortherplatz 1, 30167 Hannover 62. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Historisches Seminar der Universität zu Köln, 50923 Köln 63. Landwehr, Dr. Götz, Professor, Universität Hamburg, Rothenbaumchaussee 41, 20148 Hamburg 64. Laufs, Dr. Adolf, Professor, Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft, Friedrich-Ebert-Platz 2, 69117 Heidelberg 65. Lieberwirth, Dr. Rolf, Professor, Rainstraße 3 B, 06114 Halle/Saale 66. Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Leutragraben 1, 07743 Jena 67. Link, Dr. Christoph, Professor, Universität Erlangen, Katholischer Kirchenplatz 9, 91054 Erlangen 68. Lottes, Dr. Günther, Professor, Justus-Liebig-Universität Gießen, Otto-BehaghelStr. 10, 35394 Gießen 69. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Staats archiv Dortmund, Postfach 105053, 44122 Dortmund 70. Mager, Dr. Wolfgang, Professor, Universität BielefeId, Universitäts straße 25, 33615 Bieiefeid 71. Majer, Dr. Diemut, Professor, Welfenstraße 30, 76137 Karisruhe 72. Malettke, Dr. Klaus, Professor, Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6 C, 35039 Marburg 73. Maurer, Dr. Hans-Martin, Staatsarchivdirektor, Lieschingstraße 47, 70567 Stuttgart 74. Mazzacane, Dr. Aldo, Professor, Ist. di storia deI diritto italiano, Mezzocannone 16,1-80133 Napoli 75. Menger, Dr. Christian-Friedrich, em. Professor, Pinsallee 109, 48147 Münster 76. Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, S-22105 Lund 1 77. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Professor, MPI für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60457 FrankfurtlMain 78. Moormann van Kappen, Dr. Olav, Professor, Gerhard Noodt Instituut Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Postbus 9049, NL-6500 KK Nijmegen 79. Moraw, Dr. Peter, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, Otto-.Behaghel-Str. 10, 35394 Gießen 80. Morsey, Dr. Rudolf, Professor, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Postfach 1409, 67324 Speyer 81. Mößle, Dr. Wilhelm, Professor, Heinrich-Heine-Str. 22, 95447 Bayreuth

Verzeichnis der Mitglieder

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82. Murakarni, Dr. Junichi, Professor, University of Tokyo, Faculty of Law, 7-3-1 Hongo, Bunkyo-ku, 113 Tokyo, Japan 83. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Institut f. Finanz- u. Steuerrecht, FriedrichEbert-Anlage 6 - 10, 69117 Heidelberg 84. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Priv.-Doz., Woelckpromenade 2, 13086 Berlin 85. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Friedrich-Alexander-Universität, Kochstraße 4, 91054 Erlangen 86. Oexle, Dr. Otto Gerhard, Professor, MPI für Geschichte, Hermann- Foege-Weg 11, 37073 Göttingen 87. Ogris, Dr. Werner, Professor, Schottenbastei 10 -16, A-1010 Wien 88. Pauly, Dr. Walter, Professor, Lehrstuhl f. Öffentliches Recht, Universitätsplatz 10a, 06108 Halle 89. Peterson, Dr. Claes, Professor, University of Stockholm, Faculty of Law, S-10691 Stockholm 90. Prodi, Dr. Paolo, Professor, Italienisch-deutsches historisches Institut, Via S. Croce 77, 1-38100 Trento 91. Putzer, Dr. Peter, Professor, Universität Salzburg, A-5101 Bergheim 311 92. Quaritsch, Dr. Helmut Professor, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Freiherr-vom-Stein-Str. 2, 67324 Speyer 93. Rapieri, Dr. Filippo, Professor, Lehrstuhl f. Europ. Privatrecht, Universität des Saarlandes, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken 94. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V, Rechtswissenschaften, Postfach 3825, 54286 Trier 95. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Lehrstuhl f. Jur. Zeitgeschichte u. Zivilrecht, Senckenberganlage 31,60054 FrankfurtlMain 96. Rudersdorf, Dr. Manfred, Hdoz., Geschichte d. Frühen Neuzeit, FB 2, Universität Osnabrück, 49069 Osnabrück 97. Ruppert, Dr. Karsten, Priv.-Doz., Am Unteren Schlittberg 19, 67354 Römerberg 98. Russocki, Dr. Stanislaw, Professor, Uniwersytet Warszawski Instytut Historii Prawa ul. Krakowskie, przedmiescie 26/28, PL-00927 Warszawa 99. Scheel, Dr. Günter, Professor, Am Okerufer 23, 38302 Wolfenbüttel 100. Schiera, Dr. Pierangelo, Professor, Istituto Trentino Di Cultura, Via S. Croce 77, 1-38100 Trento 101. Schilling, Dr. Heinz, Professor, Humboldt Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin 102. Schindling, Dr. Anton, Professor, Universität Osnabrück, Postfach 4469,49074 Osnabrück 103. Schlaich, Dr. Klaus, Professor, Universität Bonn, Konrad-Adenauer- Allee 2442, 53113 Bonn 104. Schlink, Dr. Bernhard, Professor, Endenicher Allee 16, 53115 Bonn 105. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Hist. Institut, 07743 Jena

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Verzeichnis der Mitglieder

106. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Str. 44, 69117 Heidelberg 107. Schneider, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Hannover, Königswortherplatz, 30167 Hannover 108. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, FB 5, Universität des Saarlandes, 66041 Saarbrücken 109. Schott, Dr. Clausdieter, Professor, Dorfstraße 37, CH-8126 Zumikon 110. Schroeder, Dr. Klaus-Peter, Priv.-Doz., JuS Schriftleitung, Postfach 110241, 60325 FrankfurtlMain 111. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24118 Kiel 112. Schulz, Dr. Gerhard, Professor, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen 113. Schulze, Dr. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswiss. Fakultät, Universitätsstraße 14 -16,48143 Münster 114. Schütz, Dr. Rüdiger, Priv.-Doz., Historisches Institut, Kopernikusstraße 16, 52074 Aachen 115. Spieß, Dr. Karl-Heinz, Professor, Ernst Moritz Arndt Univ., Historisches institut, Domstraße 9a, 17489 Greifswald 116. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 117. Stehkämer, Dr. Hugo, Ltd. Stadtarchivdirektor, Hist. Archiv der Stadt Köln, Severinstraße 222 - 228, 50676 Köln 118. Steiger, Dr. Reinhard, Professor, Universität Gießen, Licherstraße 76,35394 Gießen 119. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Universität Frankfurt, Senckenberganlage 31, 60325 FrankfurtlMain 120. Stourzh, Dr. Gerald, Professor, Brechergasse 14, A-1190 Wien 121. Ullmann, Dr. Hans-Peter, Professor, Wirtschaftswiss. Seminar d. Universität Tiibingen, Nauklerstraße 47,72074 Tiibingen 122. von Unruh, Dr. Georg-Christoph, Professor, Universität zu Kiel, 24226 Heikendorf 123. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universität des Saarlandes, 66041 Saarbrücken 124. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Institut f. Öffentliches Recht, Werderring 10, 79098 Freiburg 125. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Universität München, Geschwister- Scholl-Platz 1, 80539 München 126. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Heinrich-Tessenow-Weg 23, 60488 Frankfurt! Main 127. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Institut f. Rechtsgeschichte, DomerschulstraBe 16, 97070 Würzburg 128. Wolf, Dr. Armin, Professor, MPI für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60457 FrankfurtlMain

Verzeichnis der Mitglieder

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129. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Institut f. Öffentliches Recht, Postfach, 79085 Freiburg 130. Wyduckel, Dr. Dieter, Professor, Jur. Fakultät der TU Dresden, Mommsenstraße 13, 01062 Dresden 131. Zlinsky, Dr. Janos, Professor, Verfassungsgericht der Republik Ungarn, Donati u. 35 - 45, H-1525 Budapest

16 Der Staat, Beiheft 11