Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 19.3.–21.3.2001 [1 ed.] 9783428522491, 9783428122493

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Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 19.3.–21.3.2001 [1 ed.]
 9783428522491, 9783428122493

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Beiheft 16

Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europåischen Verfassungsgeschichte

Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte

BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Armin von Bogdandy, Winfried Brugger, Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Helmut Quaritsch, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl

Heft 16

Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 19. 3. – 21. 3. 2001

Für die Vereinigung herausgegeben von

Hans-Jürgen Becker

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Redaktion: Hans-Jürgen Becker, Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 3-428-12249-6 978-3-428-12249-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorbemerkung Der Band enthält die Vorträge, die in Hofgeismar vorgetragen und für die Druckfassung überarbeitet worden sind. Leider kann die Aussprache nicht dokumentiert werden: Die Tonbandaufzeichnungen sind durch einen technischen Defekt misslungen. Teils wurden nur die Fragen, teils nur die Antworten registriert. Zeitraubende Versuche, den fragmentarischen Text zu rekonstruieren, sind leider erfolglos geblieben. Hans-Jürgen Becker

Inhalt Arno Buschmann Heiliges Römisches Reich. Reich, Verfassung, Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Werner Hahn Der Deutsche Bund. Zukunftslose Vorstufe des kleindeutschen Nationalstaats oder entwicklungsfähige föderative Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karel Maly´ Die Verfassung des Staates der Böhmischen Krone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Simon Groenveld Eine Union von sieben Provinzen. Die niederländische Republik und ihre Einrichtungen nach Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Heinrich Nolte Autonomien im „vorpetrinischen“ Rußland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Ronald G. Asch Die Stuart-Monarchie als „composite monarchy“: Supranationale Staatsbildung in Großbritannien und Irland im 17. und frühen 18. Jahrhundert . . . . . 141 Peer Schmidt Die Reiche der spanischen Krone. Konflikte um die Reichseinheit in der frühneuzeitlichen spanischen Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Wilhelm Brauneder Die Habsburgermonarchie als zusammengesetzter Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Helmut Neuhaus Das Werden Brandenburg-Preußens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Christian Hillgruber Perspektiven der künftigen Rechtsform Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Heiliges Römisches Reich Reich, Verfassung, Staat* Von Arno Buschmann, Salzburg

In seiner im Jahre 1967 erschienenen Untersuchung „Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648“ hat Albrecht Randelzhofer den Versuch unternommen, das Heilige Römische Reich für den Zeitraum vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806 im Gegensatz zu den meisten bis dahin aufgestellten Theorien mit völkerrechtlichen Maßstäben zu erfassen und als völkerrechtliches Gebilde zu deuten.1 Nach einer Übersicht über die bisherigen sowohl in der älteren wie der neueren Literatur geäußerten Ansichten und einer eingehenden Analyse der einschlägigen Bestimmungen des Westfälischen Friedens gelangt er zu dem Ergebnis, daß das Heilige Römische Reich nach 1648 kein Staat im Sinne der modernen Staatsauffassung gewesen sei, sondern alle Wesensmerkmale einer völkerrechtlichen Staatenverbindung an sich getragen habe und daher als ein Staatenbund qualifiziert werden müsse. Das Heilige Römische Reich nach 1648 zeige das Bild einer hochorganisierten, weitgehend integrierten Staatengemeinschaft, deren Rechtsnatur als Staatenbund auch nicht durch einzelne, den üblichen Merkmalen eines völkerrechtlichen Staatenbundes entgegenstehende Eigenschaften in Frage gestellt werde. Die Tatsache, daß das Heilige Römische Reich ein gemeinsames Oberhaupt, eine gemeinsame Gerichtsbarkeit und eine Zwangsgewalt gegenüber seinen Mitgliedern gekannt habe, könne nicht davon abhalten, es gleichwohl als einen Staatenbund im Sinne einer völkerrechtlichen Verbindung einzuordnen, insofern diese Merkmale zwar typisch für das Reich, nicht hingegen wesentlich für eine Qualifikation als Staatenbund seien und daher nicht gegen eine solche Einordnung sprächen. Das Heilige Römische Reich sei insoweit als ein atypischer Staatenbund im Sinne einer völkerrechtlichen Staatenverbindung einzustufen, der in mancher Hinsicht mit den Vereinten Nationen der Gegenwart verglichen werden könne.2 * Das folgende ist der leicht veränderte und ergänzte Text des im Rahmen der Tagung „Zusammengesetzte Staatlichkeit“ gehaltenen Vortrages. Auf eine umfangreiche Dokumentation der einschlägigen Quellen und Literatur wurde verzichtet. 1 Albrecht Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, Berlin 1967 (Schriften zum Völkerrecht, 1), pass., insbes. S. 63 ff. 2 A. a. O., S. 297 ff.

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Es ist hier nicht der Ort, eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit These und Details der Theorie zu führen, die Randelzhofer in seiner Untersuchung entwickelt hat. Nur soviel sei bemerkt, daß seine Theorie auf eine Ansicht zurückgeht, die der Völkerrechtler Friedrich Berber, der auch die Arbeit Randelzhofers als Dissertation betreut hat, in Umrissen schon vorher geäußert hatte und die in die These mündete, daß das Heilige Römische Reich nach 1648 als eine Art Vorläufer und zugleich Vorbild für die Vereinten Nationen der Gegenwart betrachtet werden müsse.3 Randelzhofers Ansicht ist nicht ohne Widerspruch geblieben. In der Tat wird man bezweifeln müssen, ob das Heilige Römische Reich nach dem Westfälischen Frieden mit der Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen verglichen und als eine Art Vorläufer dieser modernen völkerrechtlichen Staatenverbindung betrachtet werden kann. Die von Randelzhofer zutreffend als typische Merkmale einer völkerrechtlichen Staatenverbindung genannten Kriterien wie etwa uneingeschränkte völkerrechtliche Souveränität der Mitgliedsstaaten, freiwilliger Zusammenschluß der Mitglieder, Gleichberechtigung aller Beteiligten sowie das Fehlen einer gemeinsamen Spitze, um nur die wichtigsten zu nennen, sind für das Heilige Römische Reich ja gerade nicht gegeben und können auch nicht mit den Bestimmungen der Vertragsschlüsse von Münster und Osnabrück begründet werden.4 Einzig die These, daß das Heilige Römische Reich nach den heutigen Vorstellungen alles andere sei als ein Staat, hat allgemein Anklang gefunden. Nahezu alle neueren Gesamtdarstellungen der deutschen Verfassungs-, aber auch der deutschen Rechtsgeschichte Zeit betonen, wie übrigens auch die meisten Einzelabhandlungen, daß das Heilige Römische Reich nicht als Staat in modernen Sinne angesehen werden könne. Es sei kein Staat gewesen, sondern habe über Staaten geherrscht und sei für die ihm angehörende Staatenwelt eine Ordnung gewesen, die weder als Staatenbund noch als Bundesstaat qualifiziert werden könne. Sein Wesen und seine Rechtsnatur entziehe sich vielmehr jeder juristischen Logik, weil sich in ihm das Denken verschiedener Epochen niedergeschlagen habe, dessen rechtliche Klassifikation auch in den vergangenen Jahrhunderten auf große Schwierigkeiten gestoßen sei. Die Rechtslogik reiche nicht aus, um das System und die spezifische Wirkungsweise der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches befriedigend zu erklären.5 3 Friederich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 3, 2. Aufl. München 1977, S. 185 ff. 4 Zu den verschiedenen Formen der völkerrechtlichen Staatenverbindungen und der Problematik ihrer Abgrenzung vgl. aus der neueren völkerrechtlichen Literatur etwa Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. München 1990, S. 62 ff. 5 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. München 1998, S. 166 ff., insbes. S. 168.

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In der Tat fällt es schwer, Wesen und Rechtsnatur der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches in ihrer Gesamtheit einigermaßen zufriedenstellend zu bestimmen. Dies gilt nicht nur für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden, sondern mindestens ebensosehr für das Hoch- und Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit bis zum Abschluß der Friedensverträge von Münster und Osnabrück. Die einfache Subsumtion unter die Kategorien der aristotelischen Politik versagt hier ebenso wie der Versuch, das Heilige Römische Reich und dessen Verfassung mit den Mitteln der modernen Staatslehre zu erfassen, insbesondere es unter einen wie auch immer beschaffenen Staatsbegriff, auch in dessen universalistischer Variante, zu subsumieren. Die Versuche, die von der älteren, aber auch der jüngeren mediävistischen Forschung in dieser Richtung unternommen worden sind, können insgesamt als gescheitert angesehen werden. Namentlich die Bemühungen der Forschung des 19. Jahrhunderts, für das Heilige Römische Reich im Mittelalter die Eigenschaften eines Staates im Sinne des damaligen Staatsverständnisses zu reklamieren und von einem Staat des Mittelalters zu sprechen, können ebenso als vergeblich betrachtet werden wie die noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts wirksamen Bestrebungen, die Eigenschaften eines spezifisch mittelalterlichen Lehnsstaates für das Reich zu behaupten, der gegen Ende des Mittelalters einem System sachlicher Ordnungen gewichen sei.6 Auf der anderen Seite wird man es allerdings auch nicht für zureichend erachten dürfen, sich darauf zu beschränken, das Heilige Römische Reich und dessen Verfassung lediglich zu beschreiben und es bei einer Schilderung der verfassungsrelevanten Ereignisse, namentlich der politischen, sozialen, aber auch der wirtschaftlichen und geistigen Bewegungen und Strömungen bewenden zu lassen. Vielmehr wird es notwendig sein, bei dem Bemühen, die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches einschließlich ihrer vielfältigen Wandlungen insgesamt zu erfassen und zu charakterisieren, auf einen Umstand abzustellen, der für das Wesen wie die Rechtsnatur der Reichsverfassung in allen ihren Entwicklungsstadien gleichermaßen maßgebend war, von der bisherigen Forschung aber vielleicht doch etwas vernachlässigt worden ist: nämlich auf den strukturellen rechtlichen Zusammenhang der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung des Reiches vom Hoch- und Spätmittelalter über die Frühe Neuzeit bis hin zum Ende des 6 Vgl. dazu aus der älteren Literatur Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Leipzig 1914 und aus den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 1. Aufl. Weimar 1940, 10. Aufl. Köln Weimar 1980, hier zitiert nach der 6. unveränderten Aufl. Weimar 1959, pass., insbes. S. 424 ff. Mitteis hatte die zugrundeliegenden Vorstellungen bereits in seinem 1933 erschienenen Werk „Lehnrecht und Staatsgewalt“ entwickelt. Vgl. dazu a. a. O., S. 444 ff., 703 f. Auf die zeitbedingten geistigen Hintergründe dieser Vorstellungen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Der von Mitteis gewählte vergleichende Ansatz bei seiner Theorie vom mittelalterlichen Lehnsstaat wird in der Gegenwart in anderer Form weiterverfolgt und bis in die Gegenwart fortgeführt von Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 1999.

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Reiches im Jahre 1806. Gemeint ist einerseits der rechtliche Aufbau des Reiches und dessen Wandlungen und anderseits der durch das Recht bestimmte Rahmen, innerhalb dessen sich die Vorgänge abgespielt haben, die für die Entwicklung der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches in ihrer Gesamtheit maßgebend waren.7 Dieser Ansatz soll im folgenden zugrundegelegt werden. Es soll der Versuch unternommen werden, Wesen und Rechtsnatur der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches und deren Entwicklung unter dem Gesichtspunkt des strukturellen rechtlichen Zusammenhanges des Näheren zu bestimmen. Daß es sich bei dieser Betrachtung nur eine Skizze handeln kann, ergibt sich aus dem zeitlichen Limit, das für einen Vortrag wie diesen gesetzt ist. I. Bevor auf den strukturellen rechtlichen Zusammenhang der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches und deren Entwicklung einzelnen eingegangen werden kann, seien ein paar prinzipielle Bemerkungen vorausgeschickt, die zweckmäßig erscheinen, um die Abgrenzung des Themas und die Methode zu begründen, die bei der nachfolgenden Darstellung zugrundegelegt werden. Zunächst sei betont, daß im folgenden – anders als dies bei der eingangs zitierten Arbeit von Randelzhofer geschehen ist – nicht nur das Heilige Römische Reich der Neuzeit seit 1648 behandelt wird, sondern das Heilige Römische Reich ab dem Zeitraum, ab dem es in der urkundlichen und sonstigen Überlieferung als Heiliges Römisches Reich, als „Sacrum Imperium Romanum“, erscheint. Diesem Ansatz liegt die Beobachtung zugrunde, daß ab diesem Zeitraum eine rechtliche Struktur und ein struktureller Zusammenhang der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches deutlicher faßbar wird und deren Entwicklung genauer beobachtet werden kann. 7 Die Verfassungsgeschichte in ihrem strukturellen Zusammenhang zu erfassen ist auch das Ziel der Darstellungen von Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, 3. Bde., versch. Aufl. Stuttgart u. a. 1993 ff., und von Heinz Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495 – 1806, Stuttgart u. a. 1991. Beide stellen jedoch nicht so sehr auf den Zusammenhang der rechtlichen Strukturen, sondern auf die gesamtgeschichtlichen Zusammenhänge ab. Außerdem gehen sie von einem erweiterten Verfassungsbegriff aus, wie er sich aus der neueren Diskussion um Gegenstand und Methode der Verfassungsgeschichtsschreibung herauskristallisiert hat. Hans Boldt, der in seiner Darstellung ebenfalls auf die Strukturen und deren Entwicklung abhebt, versucht die Entwicklung der politischen Strukturen zu erfassen und zu verfolgen. Vgl. dazu seine Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. München 1994, S. 9 ff. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Reinhold Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 1. Aufl. München 1994, jetzt 6. Aufl. München 2002, der die Entwicklung der rechtlichen Normierung der politischen Machtstrukturen zum leitenden Thema seiner verfassungsgeschichtlichen Darstellung macht.

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Zum Zweiten sei schon an dieser Stelle hervorgehoben, daß die Darstellung der rechtlichen Struktur und des strukturellen Zusammenhanges der Reichsverfassung nicht die bloße Normengeschichte im Visier hat, also nicht die „rein juristische Verfassungsgeschichte“ im Sinne der Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts behandeln will8. Vielmehr ist eine Darstellung intendiert, bei der das Normengefüge als Ausdruck der jeweiligen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Verhältnisse verstanden wird, unter denen dieses entstanden ist, auch wenn sich die Hinweise hierauf bei den nachfolgenden Ausführungen in Grenzen halten müssen. Eine Rückkehr zur Methode der rein juristischen Verfassungsgeschichte ist nicht beabsichtigt und wäre auch als verfehlt anzusehen. Schließlich soll der Versuch gemacht werden, im Sinne der klassischen Historik die rechtliche Struktur und den strukturellen Zusammenhang der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches und deren Entwicklung aus sich selbst heraus zu verstehen, soweit dies für uns Heutige überhaupt möglich ist. Es soll also nicht versucht werden, die Verfassung und deren Entwicklung mit den Mitteln späterer oder gar moderner juristischer Systematik zu erfassen und unter bestimmte vorgegebene Kategorien zu subsumieren, wie dies in der Vergangenheit, namentlich im 19., aber auch noch in ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, immer wieder geschehen ist. Vor allem soll vermieden werden, nach dem Vorbild und Muster der nationalstaatlich orientierten Verfassungsgeschichtsschreibung früherer Epochen mit dem begrifflichen Instrumentarium der älteren oder neueren Allgemeinen Staats- oder Verfassungslehre zu operieren. Soweit überhaupt eine klassifikatorische Einordnung vorgenommen wird, soll sich diese so eng wie möglich am Befund der Quellen ausrichten und sich nicht als empirische Verifikation vorher formulierter theoretischer Ansätze präsentieren. Nur auf diese Weise wird es vielleicht gelingen, ein einigermaßen zutreffendes Bild nicht nur von der rechtlichen Struktur, sondern überhaupt von Wesen und Rechtsnatur der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches und deren Entwicklung zu entwerfen.9

8 Zur rein juristischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts und deren zeitbedingte Fragestellungen und geistige Hintergründe vgl. vor allem Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. Berlin 1995 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 1), pass. 9 Ein anderer Ansatz findet sich bei Bernd Marquardt, der das „Römisch-Deutsche Reich“, wie er das Heilige Römische Reich nennt, in enger Anlehnung an die verschiedenen überlieferten Quellenbereiche als „Segmentäres Verfassungssystem“ gedeutet sehen möchte. Vgl. Bernd Marquardt, Das Römisch-Deutsche Reich als Segmentäres Verfassungssystem (1348 – 1806/48), Zürich 1999 (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, 39), pass., insbes. S. 373 ff.

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II. Die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich begegnet nach dem Befund der Quellen erstmals im 12. Jahrhundert. In der lateinischen Form findet sie sich als „Sacrum Imperium“ wohl zum ersten Mal in einer Urkunde Friedrichs I. Barbarossa von 1157, allerdings zunächst noch ohne den Zusatz „Romanum“. Als „Imperium Romanum“ – ohne „Sacrum“ – ist sie schon wesentlich früher zu beobachten. In dieser Form findet sie sich bereits unter den Ottonen, spätestens aber unter den Saliern, und bleibt auch unter den Staufern gebräuchlich, wobei freilich festzustellen ist, daß sie hier neben der Form des „Sacrum Imperium“ verwendet wird, bis sich schließlich der Sprachgebrauch „Sacrum Imperium Romanum“ durchsetzte und etwa ab der Mitte des 13. Jahrhunderts zu einer feststehenden Bezeichnung des Reiches wurde. Seit dem Anfang des 14. Jahrhundert begegnet die Bezeichnung auch in der deutschen Urkundensprache, zunächst als „Heiliges Reich“ und „Heiliges Römisches Reich“ nebeneinander, später einigermaßen durchgehend als „Heiliges Römisches Reich“. Seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts findet sich die Bezeichnung mit dem Zusatz „Deutscher Nation“, freilich in zahlreichen Abwandlungen. Die bekanntesten unter diesen Abwandlungen sind „Heiliges Römisches Reich in deutschen landen“, „Heiliges Römisches Reich der wirdigen Teutschen Nation“, „Heiliges Römisches Reich in deutschen und welschen landen“ oder „teutscher und welscher Nation“. Auf die in der älteren und neueren Forschung vieldiskutierte Frage, ob dieser Zusatz einschränkend oder erweiternd zu verstehen sei, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, ganz zu schweigen von einem Eingehen auf die Diskussion in der Reichspublizistik des 17. und 18. Jahrhunderts10. Schwieriger ist zu ermitteln, welche rechtliche Bedeutung dieser Bezeichnung im Hoch- und Spätmittelalter beigemessen wurde. Tatsache ist, daß sich schon unter den Zeitgenossen mit dieser Bezeichnung sowohl die Vorstellung von einer Einbettung des Reiches in die christliche Heilsgeschichte wie von dem Anspruch auf die Nachfolge des Römischen Kaiserreiches verband, aus der eine erhöhte Legitimation gegenüber anderen Reichen des Hoch- und Spätmittelalters hergeleitet wurde. Zwar wurde darunter kein anderes, schon gar nicht ein neues deutsches Reich verstanden, aber dennoch ein deutsches Reich, das mit einer höheren Würde gegenüber anderen Reichen ausgestattet war oder diesen als übergeordnet begriffen wurde wie dies im Verhältnis zu Italien oder Burgund der Fall war11. 10 Vgl. dazu Ernst Schubert, König und Reich, Göttingen 1979 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 63), pass., insbes. S. 226 ff. 11 Zum Reichsverständnis ab dem Spätmittelalter und deren Problematik vgl. vor allem Schubert, a. a. O., S. 232 ff. Dort auch eine ausführliche Analyse des Reichsbegriffs und des Verhältnisses von Königtum und Reich im Spätmittelalter, a. a. O., S. 254 ff.

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Seiner rechtlichen Struktur nach wird man das Heilige Römische Reich – mit oder ohne den Zusatz „Deutscher Nation“ – im Hoch- und Spätmittelalter zunächst als eine Königsherrschaft, später als eine Königsherrschaft in Verbindung mit einer von dieser weitgehend dominierten Fürstenherrschaft, also eine Königs- und Fürstenherrschaft, aufzufassen haben, die gegen Ende des Mittelalters erste Konturen einer rechtlich verfestigten und auf Dauer angelegten institutionalisierten Herrschaft erkennen läßt. Inhaber der höchsten Herrschaftsgewalt, aus der sich alle Herrschaftsrechte im Reich ableiteten, war der König, ungeachtet der Tatsache, daß es autochthone, allodiale Gewalten lokaler Provenienz gab, die gleichwohl unter der königlichen Herrschaftsgewalt vereinigt wurden. Die Herrschaftsgewalt des Königs war – nicht überraschend für eine Königsherrschaft – personaler Natur und damit unmittelbar mit der Person des Königs verbunden. Ihrem rechtlichen Inhalt nach wurde sie als umfassend verstanden, auch wenn sie bei der Ausübung der von der Herrschaftsgewalt mitumfaßten Gerichtsgewalt an die überlieferte Form des genossenschaftlichen Gerichts gebunden war. Das Gericht des Königs stellte ein Gericht dar, in dem der König als Richter fungierte, nicht hingegen als Urteiler oder gar als Entscheidungsperson12. Von diesem unfassenden Inhalt der königlichen Gewalt verdienen im einzelnen vor allem jene Bestandteile Hervorhebung, die für deren Ausübung und für die Organisation der Königsherrschaft im Reich besonderes Gewicht für sich in Anspruch nehmen konnten13. Hier ist an erster Stelle die Verfügungsgewalt des Königs über das Reichsgut zu nennen, auch wenn die Feststellung seines konkreten Bestandes und die Abgrenzung vom Hausgut der königlichen Dynastie im einzelnen vielfach schwierig und umstritten war. Als Reichsgut wurde das der unmittelbaren Verfügungsgewalt des Königs unterliegende Gut ebenso begriffen wie das für die Vergabung im Rahmen der Lehnsverhältnisse verwendete Gut, also das Reichslehngut, sowie das Reichskirchengut. Reichslehngut und Reichskirchengut machten im Hoch- und Spätmittelalter die Masse des Reichsgutes aus, während das der unmittelbaren Verfügungsgewalt des Königs unterliegende Reichsgut eine Art „Inseldasein“ führte, das in wechselnden Formen verwaltet wurde, dessen herrschaftsstrategische Bedeutung jedoch nicht unterschätzt werden darf.14 12 Dazu Karl-Friedrich Krieger, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter, München 1992 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 14), S. 62 ff. In der Darstellung von Egon Boshof, Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert. München 1997 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 27), S. 83 ff. wird die Gerichtsherrschaft als Herrschaftselement der königlichen Herrschaft nicht eigens hervorgehoben. Vgl. a. a. O., S. 90 ff. 13 Vgl. dazu Krieger, a. a. O., S. 74 ff. Eine umfassende Schilderung findet sich auch bei Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, Berlin 1985 (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3), S. 155 ff., insbes. S. 161 ff., auch wenn sich gegen die dort vorgenommene Charakterisierung von der „Überforderung“ des Königs manches einwenden ließe.

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Ein weiterer wichtiger Bestandteil der königlichen Herrschaftsgewalt war die Lehnsherrschaft des Königs, die zwar im Verlauf des Hoch- und Spätmittelalters vielfältige Veränderungen erfahren hat, in ihrem Kernbestand jedoch unangetastet blieb. Der König war und blieb trotz aller Veränderungen – übrigens auch trotz aller Unterschiede der Lehnsverhältnisse im einzelnen – der oberste Lehnsherr im Reich. Diese Lehnshoheit, wie sie in der Forschung unter Verwendung neuzeitlicher Terminologie genannt wird, erstreckte sich im Zweifel auch auf die sog. mittelbaren Reichslehen, insofern die Lehnsherrschaft des Königs unter gewissen Voraussetzungen zu einer unmittelbaren Herrschaftsgewalt über die mittelbaren Lehnsleute erstarken konnte. Alle Lehnsverhältnisse wurden als Rechtsverhältnisse personaler Natur begriffen, die unmittelbar an die Person der Beteiligten gebunden waren und auch nach dem Vordringen der Vererblichkeit der Lehn diese personale Natur nicht einbüßten. Für die Königsherrschaft begründeten sie eine wechselseitig personengebundene Herrschaftsorganisation zwischen dem König und den Lehnsleuten, die zwar überwiegend adelsrechtlicher Natur war, jedoch, wie sich in der neueren Forschung hat nachweisen lassen, nicht auf den Adel beschränkt blieb, sondern auch andere Personen und überdies allodiale Herrschaftsgewalten in die Lehnsherrschaft mit einbezog. In dieser Form erscheint die hoch- und spätmittelalterliche Königsherrschaft als ein Rechtsverband von Lehnsleuten mit dem König an der Spitze, ohne daß sich die in den Rechtsbüchern dargestellte Beschränkung der Lehnsberechtigung auf den in der Heerschildordnung genannten Personenkreis hat nachweisen lassen15. Einen besonders wichtiger Bestandteil der königlichen Herrschaftsgewalt bildete die Verfügungsgewalt des Königs über eine Anzahl von konkretisierten Herrschaftsrechten, die im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst mit der Bezeichnung „iura regalia“ oder „publica“ belegt wurden und in den Regalienkatalogen exemplarisch, nicht hingegen erschöpfend aufgeführt sind. Diese königlichen Herrschaftsrechte stellen insofern einen besonders wichtigen Bestandteil der königlichen Herrschaft dar, als die Verfügung über diese Rechte neben der Vergabung von Lehen als unmittelbarer Ausdruck königlicher Herrschaftsgewalt angesehen wurde. Instrument der Verfügung waren die königlichen Privilegien, mit denen punktuelle, aber auch generelle schriftliche Fixierungen von Rechten mit unterschiedlichen Fristsetzungen zugunsten von Einzelpersonen oder Personengruppen vorgenommen wurden. In den Zeiten fehlender königlicher Gesetzgebung wird in ihnen in der neueren Forschung eines der wichtigsten Instrumente der Ausübung der königlichen Gewalt gesehen. 14

Vgl. dazu Boshof, S. 87 ff. und Krieger, S. 74, jeweils mit Nachweisen. Vgl. dazu namentlich Karl-Friedrich Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter, Aalen 1979 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF., Bd. 23), pass., insbes. S. 235 ff. 15

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Herrschaft durch Privilegien lautet hier die Formel, auf die man die Ergebnisse der neueren Forschung bringen könnte16. Auch die mittelalterliche Kirchenherrschaft des Königs zählt zu den wichtigen Bestandteilen der königlichen Gewalt, nicht nur wegen des allerdings sehr unterschiedlichen Umfanges des Kirchengutes, sondern vor allem wegen der besonderen Stellung der höheren Geistlichkeit innerhalb des Heiligen Römischen Reiches seit der Errichtung des ottonischen Kirchensystems. Als Empfänger weltlicher Herrschaftsrechte waren die Angehörigen dieses Personenkreises überdies seit dem Wormser Konkordat in die Lehnsherrschaft des Königs eingebunden, auch wenn die Auswahl der Belehnten nach den Bestimmungen dieses Konkordats trotz des dem König zustehenden Vorranges bei der Regalienverleihung nicht mehr unbeschränkt war. Die praktische Handhabung dieses Vorrangs wurde im übrigen durch die usurpatorische Praxis der päpstlichen „confirmatio“, „reservatio“ und „provisio“ bei der Besetzung der höheren Kirchenämter nur vorübergehend beeinträchtigt17. Als ein gewichtiges Element der königlichen Herrschaftsgewalt begegnet vor allem ab dem 12. Jahrhundert die königliche Friedensgewalt, der Friedensbann des Königs, dessen Ausübung untrennbar mit der Limitierung des Fehderechtes als einem zunächst noch anerkannten Instrument zur Durchsetzung von Rechtspositionen verbunden war. Sie wurde als jener Teil der Königsgewalt angesehen, dessen Inhalt darin bestand, Personen, die sich des Fehderechtes nicht zu bedienen vermochten, vor der Fehde zu schützen und überhaupt den allgemeinen Frieden zu wahren. In diesem Rahmen umfaßte sie auch den Schutz vor Friedensverletzungen, die durch Übergriffe auf Reichsgut, königliches Gut oder allodiales Gut Dritter begangen wurden.18 Ursprünglich wohl nicht zum Inhalt der königlichen Herrschaftsgewalt gehörig war das Recht, in eigener Zuständigkeit durch Gesetzgebung generelle und abstrakte Rechtsnormen für das Reich zu erlassen. Recht beruhte nach mittelalterlicher Auffassung auf Gewohnheit und deren Anerkennung 16 Vgl. dazu zuletzt Arno Buschmann, Privilegien in der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, Frankfurt am Main 1999 (Ius Commune, Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 125), S. 17 ff. 17 Dazu wiederum Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 84 ff. mit eingehender Darstellung des derzeitigen Forschungsstandes. 18 Zur königlichen Friedensgewalt im Spätmittelalter vgl. vor allem Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, München 1966, pass., insbes. S. 11 ff. Ferner wiederum Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 96 ff. Zum aktuellen Stand der Diskussion in der Erforschung von Funktion und Form der Landfrieden zuletzt Arno Buschmann/Elmar Wadle (Hrsg.), Landfriede. Anspruch und Wirklichkeit, Paderborn u. a. 2002 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görresgesellschaft NF., Bd. 98) mit zahlreichen Beiträgen von Mediävisten und Rechtshistorikern.

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Arno Buschmann

durch die Rechtsgemeinschaft. Mit dem Aufkommen des Gedankens der „Renovatio Imperii“ und der Rezeption des Römischen Rechtes, namentlich des Römischen Kaiserrechtes, setzte sich in staufischer Zeit die Vorstellung durch, daß es zu den Herrschaftsrechten des Königs gehörte, nicht nur das geltende Recht authentisch zu interpretieren, sondern auch neues Recht zu setzen. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts kulminierte diese Vorstellung in dem Anspruch des Königs (und Kaisers), die eigentliche Quelle des Rechts zu sein, die ab dem Beginn des 14. Jahrhunderts bereits eine als eine Selbstverständlichkeit angesehen und gegen Ende des Hoch- und Spätmittelalters unwidersprochen als integraler Bestandteil der kaiserlichen Machtvollkommenheit, der „plenitudo potestatis imperialis“, betrachtet wurde.19 Schließlich wird auch noch auf die königliche Gerichtsgewalt hinzuweisen sein, auf die zuvor schon im Zusammenhang mit der Ausübung der königlichen Gerichtsherrschaft hingewiesen wurde. Der König wurde als der Inhaber der Gerichtsgewalt im Heiligen Römischen Reich schlechthin angesehen. Die rechtmäßige Ausübung dieser königlichen Gerichtsgewalt durch Dritte war allein von der Übertragung durch den König im Wege der königlichen Bannleihe abhängig. Ohne Bannleihe war keine rechtmäßige Ausübung der Gerichtsgewalt im Reich möglich, wobei noch zu betonen ist, daß der König hinsichtlich der Ausübung der durch Bannleihe übertragenen Ausübung der Gerichtsgewalt die Aufsicht über die Ausübung in seiner Hand behielt. Die königliche Gerichtsherrschaft wurde daher nicht dadurch beeinträchtigt – jedenfalls nicht im Hoch- und Spätmittelalter –, daß die Ausübung Fürsten, Grafen und Herren, im Falle der Landfriedensgerichte auch bündischen Einrichtungen und Kollegien, übertragen wurde. An der Inhaberschaft der dem König zustehenden Gerichtsherrschaft wurde nicht gezweifelt20. Rechtsgrundlage der königlichen Herrschaftsgewalt und damit der Königsherrschaft im ganzen wie im einzelnen war das durch gewohnheitsmäßige Übung erzeugte Recht, die „consuetudo“, die Rechtsgewohnheit, nicht wie man vielfach lesen kann, das Gewohnheitsrecht. Der Begriff des Gewohnheitsrechts entstammt der heutigen Rechtslehre und meint das im Gegensatz zum Gesetz ausnahmsweise durch Übung geltende ungeschriebene Recht. Im geltenden Recht stellt es den Ausnahmefall im Verhältnis zum gesetzten Recht dar, also genau umgekehrt wie es sich im Verständnis des Hoch- und Spätmittelalters verhielt, das in dem durch Übung gebilde19 Dazu vor allem Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption, Heidelberg 1952 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jg. 1952, 1), pass., insbes. S. 26 ff. und 145 ff. Ferner Sten Gagnér, Studien zur Geschichte der Gesetzgebung, Stockholm u. a. 1960 (Acta universitatis Upsaliensis, 1), S. 288 ff., vor allem S. 292 ff. 20 Ausführliche Darstellung des Forschungsstandes bei Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 89 ff.

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ten Recht nicht die Ausnahme, sondern den Regelfall sah. In der neueren Forschung ist gelegentlich die Ansicht vertreten worden, daß als Ursprung der Rechtsgewohnheit die königliche Herrschaftsgewalt selbst anzusehen sei. Durch den König werde die Rechtsgewohntheit geformt und erhalte erst durch ihn ihre eigentliche Anerkennung. Ob die Behauptung in dieser Allgemeinheit zutrifft, mag hier dahinstehen. Auf jeden Fall wird man festzuhalten haben, daß die Formulierung und schriftliche Fixierung der Rechtsgewohnheit wesentlich durch die königliche Herrschaftsgewalt geschah, bevor das Recht zum Gegenstand der königlichen Gesetzgebungsgewalt gemacht wurde21. Als Formen dieser schriftlichen Fixierung der königlichen Herrschaftsausübung und damit des königlichen Rechts begegnen im Rahmen der Verfügungsgewalt über das Reichsgut die zahlreichen beurkundeten Vergabungen von Reichsgut, im Rahmen der Lehnsherrschaft die schriftlich fixierten Belehnungen in Lehnsurkunden, aber auch die Lehnsgesetze des 12. und 13. Jahrhunderts, bei den Verfügungen über die königlichen Herrschaftsrechte („iura regalia“) die königlichen Privilegien, seien es Einzelprivilegien, Sammelprivilegien oder Normativprivilegien, bei der königlichen Friedensgewalt die schriftlich fixierten Reichslandfrieden, seien es Vereinbarungen oder seien es Gesetze, oder die im Rahmen der königlichen Friedensgewalt erlassenen regionalen Landfrieden oder Landfriedensbündnisse, die übrigens allesamt eine erstaunliche inhaltliche Kontinuität erkennen lassen. Ab dem 14. Jahrhundert sind es schließlich die Akte der königlichen Gesetzgebung wie etwa Königswahlgesetze bis hin zu der Gesetzgebung über die Organisation der königlichen Gerichtsbarkeit am Ende des hier behandelten Zeitraumes. Endlich verdienen die zahlreichen Weistümer und Urteile der königlichen bzw. später des kaiserlichen Hofgerichts Erwähnung, die als Ausdruck der königlichen Gerichtsgewalt angesehen werden müssen, auch wenn sie im Rahmen der genossenschaftlichen Ausübung der königlichen Gerichtsgewalt entstanden sind. Namentlich die Urteile des königlichen und kaiserlichen Hofgerichts verdienen besondere Erwähnung, nachdem dieses Gericht zu Beginn des 13. Jahrhundert erste Anzeichen einer institutionalisierten Ausübung der königlichen Gerichtsbarkeit erkennen läßt22. 21 Zur These vom Ursprung der Rechtsgewohnheiten in der königlichen Herrschaftsgewalt vgl. Hermann Krause, Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsisch-salischen Herrscher, ZRG Germ. Abt. 82 (1965), S. 1 ff.; ders., Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, ZRG Germ. Abt. 75 (1958), S. 206 ff. 22 Zur Funktion der Privilegien als Herrschaftsinstrument zuletzt Buschmann, Privilegien in der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches, pass., insbes. S. 23 ff. Bezüglich der Urteile des kaiserlichen bzw. Reichshofgerichts und deren Rolle bei der Herrschaftsausübung vgl. vor allem das von Bernhard Diestelkamp initiierte große Regestenwerk zur Tätigkeit des Königs- und Hofgerichts bis 1451, Köln Wien 1988 ff. (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Sonderreihe), insbesondere dessen Einleitung zu Bd. 1, Köln Wien 1988, S. VIIff.

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Die Darstellung der rechtlichen Struktur des Heiligen Römischen Reiches im Hoch- und Spätmittelalter wäre unvollständig ohne eine Schilderung der in diese Königsherrschaft eingebetteten und in deren Rahmen ausgeübten Fürstenherrschaft, d. h. der inzwischen nicht mehr unumstrittenen sog. Landesherrschaft, zu der übrigens auch die Herrschaft der Städte über ihre Territorien gerechnet werden muß, auf die hier nicht eingegangen werden kann23. Im Gegensatz zur Königsherrschaft läßt sich bei der Fürstenherrschaft nicht von einer einheitlichen Herrschaft mit umfassender Herrschaftsgewalt sprechen. Alle Versuche der Forschung, namentlich der älteren Mediävistik, einen einheitlichen Herrschaftstyp für das Hoch- und Spätmittelalter zu reklamieren und diesen mit Hilfe neuzeitlicher Begrifflichkeit zu erfassen, haben bisher nicht zum Ziel geführt. Ein solcher einheitlicher Typ hat sich im Heiligen Römischen Reich – gerade und nicht zuletzt nach den Ergebnissen der landesgeschichtlichen Forschung – nicht nachweisen lassen. Vielmehr haben sich derart große Unterschiede zwischen den einzelnen Herrschaften herausgestellt, daß es nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht möglich erscheint, von der fürstlichen Herrschaft schlechthin zu sprechen. Im wesentlichen wird man zwischen geistlichen Herrschaften und weltlichen Herrschaften und bei diesen wiederum zwischen fürstlichen und gräflichen Herrschaften zu unterscheiden haben, wenn man einmal von den städtischen Herrschaften absieht, die hier außer Betracht bleiben sollen. Kennzeichnend für die geistlichen Herrschaften war die Tatsache, daß es sich um Herrschaften handelte, die auf einer Wahl beruhten, nicht hingegen auf dem Erbrecht, daß es wegen des kirchlichen Veräußerungsverbotes eine eingeschränkte Verfügungsmöglichkeit über die dem geistlichen Herrschaftsträger zustehenden Rechte gab, sowie daß die Bischofsstadt schon früh den Ausgangspunkt für eine Residenz als Herrschaftsmittelpunkt bildete. Der Bischof war ein geistlicher Fürst, aber seine Stellung als Fürst war anders als die des weltlichen Fürsten. Bei den weltlichen Herrschaften der Fürsten und Grafen dominierten zunächst die Herrschaften der gräflichen und edelfreien Geschlechter, deren politische und rechtliche Stellung jedoch ab dem Beginn des 14. Jahrhunderts durch die fürstlichen Dynastien abgelöst wurde. Die Erhebung zum Fürstentum bedeutete zwar keine Veränderung der Herrschaft, wohl aber eine Verbesserung der rechtlichen Stellung des Fürsten innerhalb des Reiches und damit vor allem im Verhältnis zum König und dessen Herrschaft im Reich24. 23 Zur Herrschaft der Städte über ihre Territorien vgl. zuletzt Rudolf Gmür, Städte als Landesherren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, Sigmaringen 1986, S. 177 ff. 24 Vgl. dazu vor allem Ernst Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, München 1996 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 35), pass., insbes. S. 52 ff. Dort auch eine Dokumentation des derzeitigen Forschungstandes und eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Forschungsansätzen.

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Ihrer Struktur nach setzte sich die Herrschaftsgewalt von Fürsten und Grafen aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Herrschaftsrechten zusammen, die erst allmählich, in manchen Herrschaften überhaupt nicht, zu einer einheitlichen Herrschaftsgewalt zusammengefügt wurden, ohne daß damit allerdings eine territoriale Einheit herbeigeführt worden wäre. Zu diesen Rechten zählten Gerichtsbarkeitsrechte, Vogteirechte, durch Privileg zur Ausübung übertragene Regalien, aber auch allodiale Rechte und schließlich – in den fürstlichen Herrschaften – auch eine auf das Lehnrecht gestützte Lehnsherrschaft, die aus den Lehnsverhältnissen der fürstlichen Herren und deren Lehnsleuten resultierte. Statt von einer einheitlichen Herrschaftsgewalt wird man im Falle der fürstlichen wie auch der gräflichen Herrschaft im Hoch- und Spätmittelalter lediglich von einem Konglomerat von Herrschaftsrechten sprechen können, bei denen überdies in den weltlichen Herrschaften Mobilität und Verfügung über die einzelnen Rechte wie deren hereditäre Aufteilung eine nicht unerhebliche Rolle spielten25. Von den einzelnen Herrschaftsrechten verdienen vor allem die Gerichtsbarkeitsrechte Hervorhebung, auch wenn es in der Forschung inzwischen fraglich geworden ist, ob sie, namentlich die Hochgerichtsbarkeit, die eigentliche Grundlage für den Ausbau der fürstlichen und gräflichen Herrschaft bildeten. Inzwischen scheint festzustehen, daß ungleich wichtiger für diesen Ausbau die niedere Gerichtsbarkeit war, die vor allem für die Errichtung einer einheitlichen Gerichtsorganisation eine maßgebende Rolle gespielt hat, der erst im 15. Jahrhundert die Ausbildung einer zentralen Gerichtsbarkeit folgte, für die es einer königlichen bzw. kaiserlichen Bestätigung bedurfte26. An zweiter Stelle ist die fürstliche und gräfliche Lehnsherrschaft zu nennen, deren Bedeutung als personale Herrschaft nicht unterschätzt werden darf, auch wenn die sog. Verdinglichung der Lehen die personale Bindung an den Fürsten und Grafen als Lehnsherrn gelegentlich in den Hintergrund zu drängen vermochte. Als Ausdruck einer personalen Herrschaft war die Lehnsherrschaft ein besonders wichtiger Bestandteil der fürstlichen und gräflichen Herrschaft, wobei allerdings betont werden muß, daß es sich bei ihr in aller Regel – soweit die Lehen nicht aus dem Allodialbestand der Dynastien stammten – um eine von der königlichen Lehnsherrschaft abgeleitete Lehnsherrschaft handelte27. 25

Schubert, a. a. O., S. 19 ff. Die Hochgerichtsbarkeit galt lange Zeit als der eigentliche Nucleus des Ausbaus der Landesherrschaft. Dazu und zur Kritik an dieser These vor allem Hans Hirsch, Die hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter, 2. Aufl. Darmstadt 1958, pass., insbes. S. 221 ff. 27 Auf die Bedeutung des territorialen Lehnrechts ist in neuerer Zeit namentlich von Gerhard Theuerkauf und Bernhard Diestelkamp hingewiesen worden. Vgl. Gerhard Theuerkauf, Land und Lehnswesen vom 14. bis. zum 16. Jahrhundert, Köln/ Graz 1961 (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 7), pass., insbes. 26

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Eine spezifische Friedensgewalt als Teil der fürstlichen Herrschaft ist nicht nachweisbar, es sei denn, daß aus den bestehenden Reichslandfrieden oder den regionalen Landfriedensbündnissen eine entsprechende Friedensgewalt resultierte. Eine solche Friedensgewalt ergab sich etwa aus der königlichen Ermächtigung zu Maßnahmen der regionalen Friedenswahrung in den Reichslandfrieden der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, von denen angenommen werden kann, daß sie in der Folge allen Friedensmaßnahmen als anerkannte Rechtsgewohnheit zugrundegelegt wurden28. Im Gegensatz zur königlichen Gewalt ist eine umfassende Herrschaft der weltlichen Fürsten über die Kirche oder kirchliche Einrichtungen nicht festzustellen, ausgenommen im Rahmen von Vogteirechten für Klöster und bei aus dem Eigenkirchenwesen resultierenden Rechten über Pfarreien. Soweit überhaupt von einem fürstlichen Kirchenregiment gesprochen werden kann, wird dies wohl nur in bezug auf das 15. Jahrhundert möglich sein und auch hier nur im Sinne eines stärkeren Zugriffs auf die kirchlichen Ressourcen29. Umstritten war hingegen, inwieweit den fürstlichen Inhabern der Herrschaftsrechte das Recht auf Erlaß von allgemeinen gesetzlichen Vorschriften in ihren Herrschaftsbereichen zustand. Der von den mittelalterlichen Legisten verbreitete Satz, daß der Fürst Kaiser in seinem Lande sei, fand jedenfalls weder in den deutschen fürstlichen noch in den gräfliche Herrschaften allgemeine Anerkennung. Vielmehr wurde noch vor der Verbreitung dieses Satzes im 13. Jahrhundert durch ein Reichsweistum festgestellt, daß kein „dominus terrae“ noch irgendeine andere Person Gesetze („constitutiones“) oder neue Rechte festlegen kann, wenn nicht zuvor die Zustimmung der „meliores ac maiores terrae“ eingeholt worden ist. Ob mit dieser Formulierung („meliores ac maiores terrae“) bereits die späteren Landstände bezeichnet sind, erscheint fraglich. Eher dürften es die adeligen Grundherren des Landes gewesen sein, die zugleich Lehnsleute des Grafen oder Fürsten waren oder überhaupt zu den vermögenden Herren innerhalb der Gerichtsherrschaften von Grafen und Fürsten gehörten. Soweit im Hoch- und Spätmittelalter eine territoriale Gesetzgebung stattfand, setzte sie ab dem 14. Jahrhundert und auch dann nur zögernd ein und war peinlich darauf S. 21 ff.; Bernhard Diestelkamp, Das Lehnrecht der Grafschaft Katzenellenbogen, Aalen 1969 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtgeschichte NF., Bd. 11), pass., und zuletzt Lehnrecht und Lehnspolitik als Mittel des Territorialausbaus, RVjBl 63 (1999), S. 26 ff. 28 Das gilt vor allem seit der Reichslandfriedensgesetzgebung Rudolfs von Habsburg. Vgl. dazu Arno Buschmann, Der Mainzer Reichslandfriede und die Reichslandfrieden Rudolfs von Habsburg, in: Helfried Valentinitsch (Hrsg.), Recht und Geschichte (= FS Hermann Baltl), Graz 1988, S. 105 ff., insbes. S. 121 ff.; ferner KarlFriedrich Krieger, Rudolf von Habsburg, Darmstadt 2003 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 165 f. 29 Dazu wiederum Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium, S. 38 ff.

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bedacht, bestehende Rechte, namentlich solche, die durch Privilegien bestätigt oder gesichert waren, nicht zu beeinträchtigen30. Soweit die einzelnen Herrschaftsrechte ausgeübt wurden, geschah dies in dem durch die königliche Herrschaft und deren Umfang bezeichneten Rahmen. Geistliche Fürsten, weltliche Fürsten und Grafen übten die Herrschaftsrechte als abgeleitete Rechte aus, auch wenn gelegentlich der Anschein erweckt wurde, als handele es sich um die Ausübung eigener, autochthoner Rechte. Dies gilt auch für die im Spätmittelalter zu beobachtende Neuorganisation der fürstlichen und gräflichen Herrschaftsausübung in Gestalt der Ämterbildung, die durch Zusammenfassung verschiedener Herrschaftsrechte entstand und nach dem derzeitigen Stand der Forschung als die eigentliche Basis der spätmittelalterlichen Herrschaft in den geistlichen und weltlichen Herrschaften anzusehen ist. Allerdings darf diese Ämterbildung nicht zu dem Schluß verleiten, daß durch sie namentlich in den fürstlichen Herrschaften die flächenmäßige Organisation einer territorialen Herrschaft bewirkt worden sei. Die fürstliche wie die gräfliche Herrschaft war und blieb zunächst noch eine personale Herrschaft ohne flächenmäßige Geschlossenheit, die nicht in Ämter eingeteilt war, sondern sich aus einzelnen als Ämter organisierten Herrschaften zusammensetzte, in denen der jeweilige vom Herrn eingesetzte Amtsträger als Statthalter und damit als dessen Vertreter agierte31. Besondere Bedeutung für die fürstliche wie die gräfliche Herrschaft erlangte die Finanzverwaltung, sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann. Finanzverwaltung setzt eine genaue Übersicht über die Ein- und Ausgaben voraus, die in den wenigsten weltlichen Herrschaften existierte. Solche Übersichten wurden in den einzelnen Herrschaften erst verhältnismäßig spät nach dem Vorbild der städtischen Verwaltung und erst mit der Ausdehnung der Schriftlichkeit eingeführt. Hauptausgabeposten war der Hof und dessen Hofhaltung, als Einnahmen fungierten die finanziell nutzbaren Herrschaftsrechte, deren Umfang man sich allerdings nicht allzu groß vorstellen darf. Umso mehr waren die einzelnen Herrschaften auf die Mitwirkung der „Landschaft“, der später sog. Landstände, angewiesen, die in den einzelnen Herrschaften unterschiedlich beschaffen war, Adel und Geistlichkeit, aber auch die Städte sowie vereinzelt bäuerliche Gerichtsgemeinden umfassen konnte. Die ältere Forschung pflegte in diesem Zusammenhang von der landständischen Verfassung der fürstlichen Territorien zu sprechen, was nach den Ergebnissen der neueren Forschung wohl nicht mehr möglich ist. Weder läßt sich eine einigermaßen gleichbeschaffene Mit30 Schubert, a. a. O., S. 41 ff., der zu Recht darauf hinweist, daß der Ausdruck „landständische Verfassung“ für das Spätmittelalter zu vermeiden ist. Zur Gesetzgebung in den Territorien zuletzt umfassend Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100 – 1500, 2. Aufl. München 1996, S. 96 ff., insbes. S. 107 ff. 31 Schubert, a. a. O., S. 16 ff.

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wirkung der „Landschaft“ in den einzelnen Herrschaften feststellen, noch kann von einer Verfassung im Sinne einer festen Organisation schon im Hoch- und Spätmittelalter gesprochen werden. Eine solche findet sich erst im 16. Jahrhundert, wobei der Einfluß des Reiches im Zusammenhang mit den in den Reichsmatrikeln seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts festgelegten finanziellen Leistungen der einzelnen Herrschaften, die von der „Landschaft“ aufzubringen waren, eine gewichtige Rolle gespielt haben dürfte32. Auch die Rolle der vielzitierten Bede als Landessteuer und deren Aufbringung wird man heute wohl anders zu sehen haben. Dem Namen nach war sie eine freiwillige Abgabe, tatsächlich beruhte sie jedoch auf einem herrschaftlichen Gesetzgebungsakt, der allerdings, wie oben bereits erwähnt, der Zustimmung vor allem der adeligen Herren des Landes bedurfte, von denen die Leistungen zu erbringen waren. In dieser Form begegnet die Bede ab dem 13. und 14. Jahrhundert, bevor sie neben anderen Formen der Abgabenerhebung zum Ausgangspunkt einer Landessteuer wurde, deren Erhebung allerdings weiterhin von der Bewilligung der „Landschaft“ abhängig gemacht war, nicht zuletzt um Steuerwiderstand oder gar Steuerverweigerung der Verpflichteten auszuschalten. Mit dem Aufkommen der Landessteuer verband sich allerdings auch eine Kontrolle durch diejenigen, von denen die Steuer aufzubringen war, so daß sich die Mitwirkung des Adels und der Geistlichkeit nicht nur auf die Aufbringung, sondern zugleich auch auf die Verwendung der aufgebrachten Gelder erstreckte33. Zur rechtlichen Struktur der hoch- und spätmittelalterlichen Königsherrschaft des Heiligen Römischen Reiches gehört als intregaler Bestandteil auch die Mitwirkung der mit dem König in vielfacher Weise rechtlich verbundenen Angehörigen des Reichsadels, namentlich der Reichsfürsten, an der Ausübung der königlichen Herrschaftsgewalt. Als Reichsfürsten („principes Imperii“) waren sowohl die geistlichen Reichsfürsten wie die weltlichen Fürsten Lehnsleute des Königs und unterlagen den aus dem Lehnsverhältnis sich ergebenden Rechten und Pflichten. Außerdem waren nicht wenige von ihnen Amtsträger, die vom König mit der Wahrnehmung von Herrschaftsaufgaben betraut und mit der Ausübung der entsprechenden Herrschaftsgewalt ausgestattet waren. Vor allem diese enge rechtliche Verbindung von König und Fürsten führte dazu, daß schon die Zeitgenossen das Heilige Römische Reich („Regnum“, „Imperium“, „riche“, „reiche“) als einen Körper ansahen, der den König und die Reichsfürsten gleichermaßen umfaßte, an dessen Spitze der König stand und als dessen Glieder („membra“) die Fürsten erschienen, an der Spitze die Kurfürsten, die im Hoch-

32 Dazu Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 73 ff. 33 Willoweit, a. a. O., S. 74 ff.

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und Spätmittelalter erstmals eine eigene Gruppe innerhalb der Reichsfürsten bildeten. Ein Gegensatz zwischen König und Reichsfürsten bestand nicht, da der König als Inhaber der königlichen Herrschaftsgewalt in seiner Person das Reich als solches verkörperte, demgegenüber Kurfürsten und Fürsten als Mitwirkende an der Ausübung der Herrschaftsgewalt im Reich figurierten, deren Mitwirkungsrechte jedoch erst gegen Ende des Mittelalters deutlich faßbarer in Erscheinung traten34. Die ersten Anzeichen einer fürstlichen Mitwirkung an der königlichen Herrschaft lassen sich bereits im Hochmittelalter bei der Ausfertigung königlicher Urkunden beobachten, namentlich bei der Verfügung über Teile des Reichsgutes und anderen wichtigen Maßnahmen des Königs, etwa den Landfrieden, ohne daß hier schon von einer institutionalisierten Form der Mitwirkung gesprochen werden könnte. Die Mitwirkung der Reichsfürsten bei solchen Akten lag wesentlich im Ermessen des Königs. Fand sie statt, diente sie nicht selten dazu, die Reichsfürsten durch diese Mitwirkung zu verpflichten und die königlichen Maßnahmen wirksamer durchsetzen zu können. Gelegentlich finden sich förmliche Bestätigungen königlicher oder kaiserlicher Maßnahmen in Gestalt von fürstlichen Weistümern, insbesondere in jenen Fällen, in denen überliefertes Recht abgeändert oder in fürstliche Rechte eingegriffen wurde. Deutlicher wird die fürstliche Mitwirkung bei den Zustimmungserklärungen der Kurfürsten (sog. Willebriefen) zu Verfügungen des Königs über Teile des Reichsguts ab dem 14. Jahrhundert erkennbar, insbesondere seit der Goldenen Bulle von 1356. Zwar waren sie nicht konstitutiv für die Wirksamkeit der Verfügungen, boten jedoch dem Urkundenempfänger eine größere Gewähr für die Gültigkeit der getroffenen Verfügung. Schließlich verdienen die Rechte der Kurfürsten bei der Wahl des Königs, im Kurverein und im Kurfürstenrat Hervorhebung, die in der Forschung gelegentlich als eine Art Nebenregierung oder gar Gegenregierung der Kurfürsten interpretiert worden sind, in Wirklichkeit aber wohl doch nur als Mitwirkungsrechte bei der Ausübung der königlichen Herrschaftsgewalt im Rahmen der Königsherrschaft zu verstehen sein werden35. Ansonsten beschränkte sich die Mitwirkung der Reichsfürsten an der Ausübung der königlichen Herrschaft auf die Anwesenheit bei den vom König abgehaltenen Hof- und Reichstagen zur lehnsrechtlich gebotenen Gewährung von Rat und Hilfe („consilio et auxilio“). Allerdings gab es schon vergleichsweise früh Versammlungen der Reichsfürsten ohne den 34 Zum Verhältnis von Königtum und Fürstenmacht unter Widerlegung der lange Zeit herrschenden Ansichten vgl. vor allem Schubert, König und Reich, S. 297 ff. Zur Stellung der Kurfürsten ders., Die Stellung der Kurfürsten in der spätmittelalterlichen Reichsverfassung, Jahrbuch für westdt. Landesgeschichte 1 (1975), S. 97 ff. Zu den erwähnten kurfürstlichen Willebriefen vgl. Wolfgang D. Fritz, Kurfürstliche Willebriefe 1348 – 1358, DA 23 (1967), S. 171 ff. 35 Dazu Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 105 ff.

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König, (sog. „königslose Tage“), etwa in den Zeiten der Thronvakanz oder bei der Vorbereitung der Königswahl oder auch in Gestalt von Versammlungen, in denen sich Widerstand gegen den König und dessen Herrschaft im Reich formierte und ein Anspruch, das Reich gegenüber dem König zu vertreten, formuliert wurde. Die rechtliche Grundlage dieser Fürstenversammlungen, die im Verlauf des 15. Jahrhunderts außer Übung kamen, scheint nicht geklärt. Jedenfalls entstand aus ihnen erst im Zusammenhang mit den großen Bedrohungen des Reiches eine neue Form der Versammlung, der Reichstag, der sich als eine Versammlung aller Reichsstände verstand36. Versucht man nach dieser Skizze, die vieles nur in Umrissen darstellen konnte, ein erstes Resümee zu ziehen, dann wird man wohl zu dem Ergebnis kommen müssen, daß sich die rechtliche Struktur des Heiligen Römischen Reiches im Hoch- und Spätmittelalter als ein vielfältig ineinanderverschachteltes Gefüge von königlichen und in der Mehrheit abgeleiteten fürstlichen Herrschaftsrechten präsentiert, an dessen Spitze der König und die königliche Herrschaftsgewalt stand, deren Ausübung in wachsendem Umfang an die fürstliche Mitwirkung geknüpft war und insgesamt den rechtlichen Rahmen für alle Herrschaftsträger des Reiches bildete. Auch wenn es im einzelnen schwierig sein mag, die bestehenden Rechte und Rechtsverhältnisse zu erfassen, kann dies doch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sich das Heilige Römische Reich im Hoch- und Spätmittelalter seiner Struktur nach als eine durch das Recht bestimmte Königsund Fürstenherrschaft darstellt, die als solche verstanden und interpretiert werden muß37. III. Mit den Reformbewegungen des ausgehenden 15. Jahrhunderts, die sich sowohl auf die Kirche wie auf den tatsächlichen und rechtlichen Zustand des Reiches bezogen und für die sich in bezug auf das Reich die Bezeichnung Reichsreform eingebürgert hat, erfuhr die rechtliche Struktur des Heiligen Römischen Reiches als Königs- und Fürstenherrschaft vielfältige Veränderungen. Nach zahlreichen Reformvorschlägen, die in der politischen Publizistik, aber auch von kurfürstlicher und fürstlicher Seite geäußert 36 Zur Entstehung des Reichstages vgl. vor allem die Forschungen von Peter Moraw, namentlich dessen Abhandlung: Versuch über die Entstehung des Reichstages, in: Hermann Weber (Hrsg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 8), S. 1 ff. 37 Zum gegenwärtigen Diskussionsstand um die Deutung der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches im Hoch- und Spätmittelalter vgl. Boshof, Königtum und Königsherrschaft, pass., insbes. S. 83 ff. und Krieger, König, Reich und Reichsreform, pass., insbes. S. 56 ff., mit z. T. abweichenden Stellungnahmen. Eingehend Schubert, König und Reich, mit einer sorgfältigen Untersuchung der Strukturen der königlichen, aber auch der fürstlichen Herrschaft, S. 66 ff. bzw. 297 ff.

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wurden, fanden auf dem Reichstag zu Worms 1495 erste wichtige Veränderungen der überlieferten Herrschaftsform des mittelalterlichen Reiches statt38. Ihr folgten im 16.Jahrhundert im Zusammenhang mit der Reformation und den daran anschließenden konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen weitere bedeutsame Veränderungen, die ihren endgültigen Abschluß erst im Westfälischen Frieden von 1648 erfuhren, auch wenn im Hinblick auf die religionsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens das Ziel einer Wiederherstellung der Einheit der christlichen Religion nicht aufgegeben wurde und seine Regelung nur als vorläufig konzipiert war39. Die letzte Veränderung schließlich erlebte das Heilige Römische Reich durch den Reichsdeputationshauptschluß von 18o3 mit der Säkularisation der geistlichen Reichstände (mit einer Ausnahme) und der Mediatisierung von Reichsstädten und kleineren weltlichen Herrschaften, durch die aus dem Heiligen Römischen Reich endgültig ein weltliches Reich wurde, das schon zuvor von den Zeitgenossen, insbesondere von der Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts, als „Teutsches Reich“ ohne den Zusatz „Heilig“ bezeichnet worden war40. Die Eliminierung der geistlichen Reichsstände vollendete damit den schon früher sichtbar gewordenen Säkularisierungsprozeß des Heiligen Römischen Reiches, auch wenn die sich aus dem Kaisertum ergebende Rechtsstellung des Kaisers als Schutzherr der Christenheit und Kirche weiterhin beansprucht wurde41. Wesentliches Merkmal dieser Veränderungen in der rechtlichen Struktur des zum „Teutschen Reich“ gewordenen Heiligen Römischen Reiches Deut38 Zur Reichsreform umfassend Heinz Angermeier, Die Reichsreform, München 1984, pass., insbes. S. 164 ff. Zuletzt die Abhandlungen im Textband zur großen Ausstellung in Worms zum 500-Jahr-Jubiläum des Wormser Reichstages im Jahre 1995: 1495 – Kaiser, Reich, Reformen, Koblenz 1995. 39 Aus der umfangreichen Literatur zum Westfälischen Frieden vgl. neben der inzwischen zu einem Klassiker gewordenen Darstellung von Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, Münster/Westf. 1959 ff., zuletzt 7. Aufl. 1998 hrsgg. von Konrad Repgen, vor allem die Arbeiten, die aus Anlaß der 350-Jahr-Feier des Westfälischen Friedens erschienen sind. Hier seien genannt Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hrsg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa, Textband I, Münster/Westf. 1998, ferner Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede, München 1998 (Hist. Zeitschrift, Beihefte 26), Meinhard Schröder (Hrsg.), 350 Jahre Westfälische Friede, Berlin 1999 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 30) und Olav Moormann van Kappen/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Der Westfälische Friede in rechtsund staatstheoretischer Perspektive, Rechtstheorie 29 (1998), Heft 2, Sonderheft Westfälischer Friede, alle mit zahlreichen rechts- und verfassungsgeschichtlichen Beiträgen. 40 Vgl. dazu aus der Reichspublizistik statt vieler Johann Jacob Moser und Johann Stephan Pütter, die stets vom „Teutschen Reich“, „Teutschen Staatsrecht“, „Staatsrecht des Teutschen Reiches“ sprechen. Zur Reichspublizistik umfassend Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, pass., insbes. S. 258 ff. 41 Zu Rechtsstellung des Kaisers am Ende des Alten Reiches vgl. zuletzt Arno Buschmann, Kaiser und Reichsverfassung, in: Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, Frankfurt am Main 1993 (Rechtshistorische Reihe, 112), S. 41 ff.

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scher Nation ist zunächst die rechtliche Verfestigung und Institutionalisierung sowohl der überlieferten königlichen bzw. der kaiserlichen Herrschaft wie der Mitwirkung der zu Reichsständen gewordenen Fürsten, Grafen und Städten an dieser Herrschaft. Die überlieferten Formen blieben zwar vielfach erhalten, erfuhren jedoch in mancherlei Hinsicht eine Abänderung im Sinne der oben erwähnten Merkmale. Die personale Natur der königlichen und kaiserlichen Herrschaft wurde zwar durch die rechtliche Verfestigung und Institutionalisierung nicht aufgehoben, aber deutlich in den Hintergrund gedrängt. Schon die zeitgenössische Wissenschaft unterschied zwischen personaler und realer Herrschaft, der persönlichen Herrschaft des Königs und Kaisers einerseits und der rechtlich geordneten institutionalisierten Herrschaft über das Reich anderseits. Gleiches gilt auch von den Mitwirkungsrechten der Reichsstände im Reich, auch wenn hier vieles unsicher und umstritten blieb. Die rechtliche Verfestigung und Institutionalisierung der Herrschaft läßt sich schließlich auch in den fürstlichen Herrschaften der Reichstände beobachten, ganz zu schweigen von der städtischen Herrschaft, bei der dies schon gegen Ende des Mittelalters zu erkennen ist. Die letzten beiden Jahrhunderte vor dem Ende des Heiligen Römischen Reiches zeigen darüber hinaus eine rechtliche und organisatorische Perpetuierung, eine „Verstetigung“ dieser gegenüber dem Hoch- und Spätmittelalter veränderten rechtlichen Struktur, so daß sich das Heilige Römische Reich bis zu seinem Ende am Beginn des 19. Jahrhunderts als eine auf Dauer angelegte, rechtlich verfestigte und institutionalisierte Herrschaft von König und Kaiser unter Mitwirkung der Reichstände präsentierte42. Die Reichspublizistik des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts hatte das Heilige Römische Reich der Neuzeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets als Wahlmonarchie oder als Wahlreich bezeichnet. In dieser Form wurde es immer als Fortsetzung der mittelalterlichen Königsherrschaft mit den durch die geschichtliche Entwicklung bedingten Veränderungen der überlieferten rechtlichen Struktur angesehen43. In der neueren Forschung ist das Reich der Neuzeit mit Blick auf die nur eingeschränkt fortbestehende personale Natur der königlichen und kaiserlichen Herrschaft zumeist als 42 Auf diesen Prozeß der „Verstetigung“ wird neuerdings vor allem von Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches, München 1999, pass., insbes. S. 33 ff. hingewiesen. 43 Für die Reichspublizistik stand außer Streit, daß das Reich seit dem 13. Jahrhunderts als Wahlreich betrachtet werden muß, und zwar trotz mancher Versuche der Habsburger, die Krone im Hause Habsburg erblich zu machen. Letztere wurden vor allem von Johann Jacob Moser, aber auch von anderen Autoren ausführlich erörtert. Zu Moser vgl. etwa dessen Teutsches Staatsrecht, Zweyter Theil, Franckfurt und Leipzig 1738 (Neudruck Osnabrück 1968), S. 278 ff. Aus der verfassungsgeschichtlichen Literatur vgl. zuletzt zu dieser Frage zusammenfassend namentlich Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, München 1997 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 42), S. 8 ff.

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übernationaler Personenverband mit europäischer Verankerung betrachtet worden, womit der Fortbestand der Lehnsbindungen als bestimmendes Element auch für die rechtliche Struktur des Reiches in der Neuzeit hervorgehoben werden sollte. Festzuhalten ist jedoch, daß auch hier seine Charakterisierung als Wahlreich und nicht als Erbreich unbestritten war, dem im Verhältnis zu anderen europäischen Königreichen als Kaiserreich bis zu seinem Ende eine Vorrangstellung zukam. In der Tat behauptete es diese Vorrangstellung in Titel, Zeremoniell und protokollarischem Rang auch noch nach der Anerkennung der russischen Kaiserwürde im 18. Jahrhundert44. Ausdruck dieser Veränderungen in der rechtlichen Struktur des Reiches war zunächst die Tatsache, daß die königliche und kaiserliche Herrschaft wie überhaupt alle Herrschaft im Reich in wachsendem Maße auf schriftlich fixiertes gesetztes Recht, oder, wo solches nicht existierte, jedenfalls auf anerkanntes nicht gesetzlich fixiertes, aber auf andere Weise schriftlich festgehaltenes Recht (Reichsherkommen) gestützt wurde. Fast alle wichtigen Bereiche der königlichen und kaiserlichen Herrschaft einschließlich der Mitwirkung der Reichsstände wurden im Verlauf der Neuzeit einer reichsgesetzlichen Regelung unterworfen und damit rechtlich verfestigt, institutionalisiert und perpetuiert45. Sichtbares Kennzeichen hierfür ist zunächst die fortscheitende Reichsgesetzgebung, insbesondere der stetig wachsende Komplex der seit 1636 sog. Reichsgrundgesetze sowie der reichsgrundgesetzlichen Vorschriften, von denen im folgenden nur die wichtigsten erwähnt werden können.46 An erster Stelle dieser Reichsgrundgesetze ist die Goldene Bulle zu nennen, die freilich schon im Spätmittelalter verkündet wurde, ihre eigentliche Bedeutung als Reichsgrundgesetz jedoch erst in der Neuzeit erlangte. Mit ihr wurde die für die Festigung der rechtlichen Struktur des Reiches so wichtige Frage der Wahl des deutschen Königs und Römischen Kaisers, der Rechtsstellung der Kurfürsten als Königswähler und damit der Bereich der 44

Vgl. dazu Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 175 ff. Über die Rolle des Reichsherkommens in der Verfassung des Alten Reiches aus der neueren Literatur etwa Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen, Stuttgart 1984 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 112), pass., insbes. S. 75 ff. 46 Die wichtigsten Reichsgrundgesetze sind zuletzt in vollständigem Wortlaut abgedruckt bei Arno Buschmann, Kaiser und Reich, 2 Teile, 2. Aufl. Baden-Baden 1994. Zur Rolle der Reichsgrundgesetze in der Reichsverfassung vgl. aus jüngster Zeit ders., Reichsgrundgesetze und Reichsverfassung des Heiligen Römischen Reiches, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Festschrift zu 80. Geburtstag von Hermann Baltl, Wien 1998, S. 21 ff. Die ausführlichste Darstellung der Reichsgrundgesetze, deren Geschichte und deren Bedeutung für die Reichsverfassung findet sich nach wie vor bei den führenden Vertretern der späten Reichspublizistik, allen voran bei Johann Jacob Moser, Johann Stephan Pütter, aber auch bei Carl-Friedrich Häberlin, Justus Christoph Leist, Johann Christian Mayer, um nur einige zu nennen. 45

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Thronfolge im Reich bis zum Ende des Reiches abschließend und endgültig geregelt. Änderungen ergaben sich lediglich bei der Zahl der Kurfürsten und bei der Zusammenlegung von Wahl- und Krönungsort. Die Goldene Bulle konnte zwar nicht verhindern, daß rechtliche Auseinandersetzungen über Details der Wahl entstanden, wie etwa über die Gültigkeit der Wahl des deutschen Königs vivente imperatore oder über die Ausübung der pfälzischen und bayerischen Kur nach dem Westfälischen Frieden, bildete aber dennoch das erste wichtige legislative Fundament für die rechtliche Verfestigung der Herrschaft im Reich47. An zweiter Stelle in der chronologischen Reihenfolge ist die Gesetzgebung des Wormser Reichstages von 1495 zu nennen, die insgesamt 9 Gesetze umfaßte, von denen vor allem vier besondere Hervorhebung verdienen, nämlich der Ewige Landfriede, die Ordnung des Kammergerichts, die Handhabung Friedens und Rechts und die Verordnung über den Gemeinen Pfennig. Mit dem Ewigen Landfrieden und der Handhabung Friedens und Rechts wurde der Bereich der Friedenswahrung einer dauerhaften rechtlichen Regelung zugeführt, auch wenn die Organisation späterhin, vor allem durch die Reichsexekutionsordnung des Augsburger Reichsabschiedes von 1555, in vielfältiger Weise ergänzt, verändert und erweitert wurde. Die Ordnung des Kammergerichts betraf den nicht minder wichtigen Bereich der königlichen und kaiserlichen Gerichtsbarkeit im Reich, der mit der Errichtung des Hofrichter- und des Hofgerichtsschreiber-Amtes im Mainzer Reichslandfrieden von 1235 zwar bereits eine erste Institutionalisierung durch Gesetz erfahren hatte, nunmehr jedoch unter reichständischer Mitwirkung zu einer dauerhaften Institution des Reiches gemacht wurde, die buchstäblich bis in die letzten Tage des Reiches, wenn auch vielfach verändert, bestehen blieb. Eine wichtige Ergänzung erfuhr diese Gesetzgebung über die Ausübung königlichen und kaiserlichen Gerichtsbarkeit durch die Errichtung des Reichshofrates und den Erlaß der Reichshofratsordnung von 1654, die der Kaiser in Ausübung der ihm zustehenden Gesetzgebungsgewalt ohne Mitwirkung der Reichsstände, ja sogar gegen deren Willen, erlassen und in Kraft gesetzt hatte48. 47 Aus der umfangreichen Literatur zur Goldenen Bulle ist noch immer Karl Zeumers klassische Monographie: Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV., Weimar 1908 (Neudruck Hildesheim 1972) (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches, Bd. II 1) hervorzuheben, auch wenn manche Details durch die spätere Forschung ergänzt oder korrigiert worden sind. Eine neue, dem gegenwärtigen Stand der Forschung entsprechende Arbeit liegt noch nicht vor. Nicht vergessen werden darf allerdings der umfangreiche Kommentar von Armin Wolf zu dessen Edition der sog. Wenzelshandschrift, Graz 1977, der sich freilich auf die unmittelbare Texterläuterung der Goldenen Bulle konzentriert. 48 Zur Wormser Gesetzgebung vgl. vor allem Angermeier, Die Reichsreform, S. 164 ff., insbes. S. 173 ff.; ferner Buschmann, Reichsgrundgesetze und Reichsverfassung, S. 28 ff. sowie zuletzt Elmar Wadle, Der Ewige Landfriede von 1495 und das Ende der mittelalterlichen Friedensbewegung, in; 1495 – Kaiser-Reich-Reformen, S. 71 ff. und Peter Moraw, Der Reichstag von Worms, a. a. O., S. 25 ff.

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Mit dem Passauer Vertrag von 1552 und dem Friedensteil des Augsburger Reichsabschiedes von 1555 wurde ein weiterer wichtiger Bereich des Reiches gesetzlich geregelt, nämlich der Friede zwischen den Konfessionen im Reich, dessen reichsgesetzliche Regelung nach den Auseinandersetzungen der Reformation für das Reich zwingend notwendig geworden war und im Zusammenhang mit der Wahrung des Friedens im Reich, ja überhaupt der Erhaltung des Reiches gesehen werden muß. Seinen Abschluß fand diese Gesetzgebung mit dem Westfälischen Frieden von 1648, der nicht nur als Friedensvertrag das Ende des 30jährigen Krieges besiegelte, sondern zugleich die rechtliche Struktur des Heiligen Römischen Reiches in mehreren Bereichen festlegte und mit seiner Verlautbarung als Reichsgrundgesetz durch den Jüngsten Reichsabschied von 1654 auch formell in den Kreis der Reichsgrundgesetze einbezogen wurde. Von diesen verschiedenen Bereichen sind neben der reichsgesetzlichen Festlegung der konfessionellen Parität im Reich und des konfessionellen Status in den Ländern der Reichsstände vor allem die Fixierung der territorialen Verhältnisse im Reich und die nunmehr reichsgrundgesetzlich sanktionierten Mitwirkungsrechte der Reichsstände an der Ausübung der Herrschaft im Reich hervorzuheben, die allesamt bis zum Ende des Reiches in Kraft blieben, auch wenn im Falle der konfessionellen Parität die Regelung nach dem Wortlaut des Westfälischen Friedens nur eine vorläufige sein sollte49. Zum Kreis der Reichsgrundgesetze wurde auch – allerdings ohne je formell zum Gesetz erhoben worden zu sein – die Capitulatio perpetua von 1711 gerechnet, oder, wie sie mit ihrem eigentlichen Titel genannt wurde: „Project der gewissen und beständigen Kayserlichen Wahlkapitulation“, die zwar niemals förmlich zum Reichsgesetz erhoben, gleichwohl jedoch wie ein solches behandelt wurde, seit sie als Grundlage für die Wahlkapitulation Karls VI. verwendet worden war. Mit ihr wie überhaupt mit allen seit 1519 formulierten Wahlkapitulationen, deren Bestimmungen in die Capitulatio perpetua Eingang gefunden hatten, wurde jener Bereich innerhalb der Herrschaftsstruktur des Heiligen Römischen Reiches abgedeckt, der die Ausübung der Herrschaftsgewalt des Kaisers im Reich sowohl nach innen wie nach außen betraf und zumindest einen Teil der Herrscherpflichten, aber auch der Herrschaftsrechte des Königs und Kaisers umschrieb. Die neuere Forschung sieht in den Kaiserlichen Wahlkapitulationen Herrschaftsverträge zwischen König und Kaiser einerseits und den Kurfürsten als Vertretern des Reiches anderseits, mit denen die königliche und kaiserliche Herrschaftsausübung geregelt und vor allem beschränkt werden sollte. 49 Zu konfessionellen Situation im Reich und in der Reichsverfassung vgl. Michael Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert, München 1999, S. 15 ff. und 68 ff. sowie zum vorläufigen Charakter der konfessionsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens namentlich Martin Heckel, Die Wiedervereinigung der Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, ZRG Kan. Abt. 85 (1999), S. 387 ff.

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Ob diese Einordnung zutreffend ist, kann hier dahingestellt bleiben. Sicher ist nur, daß Versuche der älteren Forschung, diese kaiserlichen Wahlkapitulationen und mit ihnen die Capitulatio perpetua als die eigentliche Verfassungsurkunde des Heiligen Römischen Reiches zu deuten, als gescheitert angesehen werden müssen, auch wenn in den Wahlkapitulationen sämtliche bestehenden Reichsgrundgesetze inseriert waren und damit praktisch der gesamte Bestand der Reichsgrundgesetze zu deren Bestandteil gemacht worden war50. Als letztes der hier anzuführenden Reichsgrundgesetze ist schließlich der Reichsdeputationshauptschluß zu nennen, dessen rechtliche Gültigkeit nicht unumstritten war, gleichwohl aber die rechtliche Struktur des Reiches kurz vor dem Ende noch einmal entscheidend bestimmt hat. Mit ihm wurde nicht nur die Säkularisation der geistlichen Reichsstände und die Mediatisierung der kleineren Herrschaften und Städte vollzogen, sondern die bis dahin überlieferte und gesetzlich fixierte rechtliche Struktur des Reiches in wesentlichen Bestandteilen neu bestimmt, auch wenn diese Regelung nur mehr drei Jahre bis zum Ende des Reiches Bestand hatte51. Mit diesen Reichsgrundgesetzen sind freilich bei weitem nicht alle jene grundlegenden Reichsgesetze erfaßt, die für die rechtliche Struktur des Reiches in der Neuzeit kennzeichnend waren. Von der Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts wurde noch eine Fülle von weiteren Gesetzen zu dem Kreis derjenigen Gesetze gerechnet, die als grundlegend für die rechtliche Struktur des Reiches angesehen wurden. Aus der großen Zahl dieser Gesetze seien hier nur einige wenige angeführt, wie etwa der Reichsabschied von 1521 mit der Kreiseinteilung des Reiches und der Reichsmatrikel, die Reichspolizeiordnung von 1530 mit ihren Novellierungen von 1548 und 1577, die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, die Münzgesetzgebung des Reiches aus dem 16. und 17. und 18. Jahrhundert, die Reichshofkanzleiordnung von 1570, die Friedenschlüsse von Ryswik, Baden, Aachen und vor allem der Friedensschluß von Teschen aus dem Jahre 1779 mit der vollständigen Insertion des Westfälischen Friedens, auf den übrigens auch die anderen Friedensschlüsse stets verweisen, und schließlich noch die Handwerksgesetzgebung des Reiches aus dem 18. Jahrhundert. Die 50 Über die Wahlkapitulationen ausführlich Gerd Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen, Karlsruhe 1968 (Quellen und Studien zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 1), pass., insbes. S. 86 ff. und S. 113 ff. sowie Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 87 ff. und Buschmann, Reichsgrundgesetze, S. 37 ff. 51 Zum Reichsdeputationshauptschluß zuletzt Hans-Jürgen Becker, Umbruch in Mitteleuropa. Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803, in: Peter Schmid/Klaus Unger (Hrsg.), 1803. Wende in Europas Mitte, Regensburg 2003, S. 17 ff. Aus der übrigen Literatur Klaus Dieter Hömig, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 und seine Bedeutung für Staat und Kirche, Tübingen 1969 (Juristische Studien, Bd. 14), pass. und Klaus-Peter Schroeder, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. 2. 1803 – Letztes Grundgesetz des alten Reiches, JuS 1989, S. 351 ff.

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führende Gesetzessammlung des Ius publicum im 18. Jahrhundert, das Corpus iuris publici von Johann Jacob Schmauß, verzeichnet in seiner letzten Auflage von 1794 nicht weniger als 137 Titel, die vom Herausgeber bzw. seinen Nachfolgern zu den grundlegenden Gesetzen des Reiches gerechnet wurden52. Die Veränderungen in der rechtlichen Struktur des Reiches lassen sich jedoch nicht nur in Gestalt der umfangreichen Gesetzgebung des Reiches beobachten, sie zeigen sich auch bei der königlichen und kaiserlichen Herrschaftsgewalt und deren Ausübung. Nach wie vor war der König und Kaiser zwar der Inhaber der höchsten und umfassenden Herrschaftsgewalt im Reich, der „plenitudo potestatis imperialis“, der „Kaiserlichen Machtvollkommenheit“, deren Inhaberschaft von niemandem ernstlich in Frage gestellt wurde, wenn man einmal von der politischen Polemik der Zeit und der juristischen Auftragsargumentation mancher Reichspublizisten absieht, doch wurde die Ausübung dieser Herrschaftsgewalt in zunehmendem Maße an gesetzlich fixiertes Reichsrecht, an spezifische Rechte von Kurfürsten und Fürsten, an das Reichsherkommen sowie an die im Reichsrecht festgelegte Mitwirkung der Reichstände gebunden. Außerdem wurde die Ausübung in wachsendem Umfang institutionalisiert, indem der Kaiser sich behördlich organisierter Einrichtungen mit festen Zuständigkeitsregelungen, deren wichtigste der Reichshofrat war, bediente. Gleichwohl blieb der König und Kaiser bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches letztlich der Inhaber der höchsten und zugleich umfassenden Herrschaftsgewalt im Reich53. Im einzelnen bedeutete dies, daß dem König und Kaiser auch in der Neuzeit die Verfügungsgewalt über das Reichsgut zustand, die allerdings an die Mitwirkung der Reichsstände, namentlich der Kurfürsten geknüpft war. Dies gilt auch für die Verfügungsgewalt über das Reichskirchengut, die vor allem dazu benutzt wurde, vielfältige Leistungen der Kirche in Anspruch zu nehmen, auch wenn die Wahlkapitulationen den Leistungsumfang im 52 Vollständiger Titel: Johann Jacob Schmaußens, Corpus iuris publici S(ancti). R(omani). Imperii academicum, enthaltend des Heil.(igen) Röm.(ischen) Reiches deutscher Nation Grund-Gesetze, nebst einem Auszuge der Reichs-Abschiede und anderer Reichs-Schlüsse und Vergleiche, Herausgegeben von Gottlieb Schumann und Heinrich Gottlieb Franken. Neue mit den neuesten Gesetzen und kurzen dazu gehörigen Anmerkungen vermehrte Auflage, Leipzig 1794. Dort findet sich auch ein Verzeichnis der älteren Sammlungen. Zur Geschichte der Sammlungen von Reichsgrundgesetzen vgl. zuletzt Buschmann, Kaiser und Reich, Teil I, S. 49 ff. 53 Zu den Veränderungen in der Reichsverfassung der Neuzeit vgl. aus der älteren Literatur vor allem Hans Erich Feine, Zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches seit dem Westfälischen Frieden, ZRG Germ. Abt. 52 (1932), S. 65 ff. Aus der neuen Literatur vor allem Karl Otmar v. Aretin, Das Alte Reich 1648 – 1806, Bd. 1, Stuttgart 1993, S. 32 ff. sowie die schon erwähnte Darstellung von Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 3 ff. und S. 86 ff. Zu Rechtsstellung des Kaisers in der Spätzeit des Alten Reiches zuletzt Buschmann, Kaiser und Reichsverfassung, pass., insbes. S. 43 ff.

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einzelnen zu begrenzen suchten. Die Lehnsherrschaft des Königs und Kaisers über sämtliche Reichslehen blieb ebenfalls unbestritten ein Bestandteil der königlichen und kaiserlichen Herrschaftsgewalt, auch wenn die Verfügung über heimgefallene Reichslehen nicht mehr ausschließlich im freien Ermessen des Königs bzw. des Kaisers stand und sie im Verhältnis zu den ausgegebenen Reichslehen zu einer bloßen Oberherrschaft geworden war54. Auch die Verfügung über die „iura regalia“ der mittelalterlichen Königsherrschaft blieb erhalten, ihre Ausübung durch die Erteilung von Privilegien wurde jedoch durch das Reichsrecht, namentlich durch die Wahlkapitulationen, vielfach an die Mitwirkung von Kurfürsten und Fürsten geknüpft, doch blieb das Recht des Königs und Kaisers, über diese Herrschaftsrechte zu verfügen, grundsätzlich unbestritten. Seine Ausübung war und blieb allein Sache des königlichen und kaiserlichen Ermessens. Als besonders wichtiges Recht verdient in diesem Zusammenhang das Recht der Standeserhöhung erwähnt zu werden, das trotz der Mitwirkungsrechte der Kurfürsten und Fürsten dem Herrscher die rechtliche Möglichkeit bot, die Zusammensetzung des Fürstenstandes zu verändern und in seinem Sinne zu bestimmen55. Ebenso stand dem König und Kaiser nach wie vor das Gesetzgebungsrecht zu, das er seit dem Hoch- und Spätmittelalter als Bestandteil der Herrschaftsgewalt für sich reklamiert hatte und das in der Neuzeit in Gestalt des Propositions-, Ratifikations- Sanktions- und Publikationsrechtes im Verfahren des Reichstages konkretisiert wurde. Nach wie vor ergingen die Gesetze im Namen des Königs und Kaisers, freilich mit Zustimmung der Reichsstände, auch wenn der Kaiser gelegentlich Reichsgesetze auch ohne Zustimmung der Reichsstände in Kraft setzte, wenn die Zustimmung der Reichsstände nicht zu erreichen war. Bekanntestes Beispiel war die Reichshofratsordnung von 1654, die der Kaiser, wie schon erwähnt, ungeachtet aller Proteste der Reichsstände durch kaiserliches Dekret in Kraft setzte und dem Reichshofrat zum Vollzug übermittelte56. 54 Dazu ausführlich Buschmann, a. a. O., S. 44 ff. mit einer Schilderung der rechtlichen Bewertung der kaiserlichen Rechtstellung durch die späte Reichspublizistik. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die sog. Prinzenvorträge des kaiserlichen Hofes, in denen die Reichsverfassung aus der Sicht des kaiserlichen Hofes dargestellt wird. Das bekannteste Beispiel sind die Vorträge Franz von Zeillers aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, die vor einiger Zeit von Wolfgang Wagner ediert worden sind. Wolfgang Wagner (Hrsg.), Das Staatsrecht des Heiligen römische Reiches deutscher Nation, Karlsruhe 1968 (Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe B: Quellen, Band 1), pass. 55 Zur historiographischen Neubewertung der Stellung des Kaisers in der Reichsverfassung vgl. vor allem Volker Press, Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740 – Versuch einer Neubewertung, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 51 ff. und Arno Buschmann, Die Rechtsstellung des Kaisers nach dem Projekt einer Capitulatio perpetua vom 8. Juli 1711, in: Werner Ogris/Walter H. Rechberg (Hrsg.), Gedächtnisschrift Herbert Hofmeister, Wien 1996, S. 89 ff.

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Schließlich blieb der König und Kaiser auch in der Neuzeit trotz der Institutionalisierung der Gerichtsbarkeit, namentlich der Höchstgerichtsbarkeit, der Inhaber der höchsten Gerichtsgewalt im Reich, was etwa an dem Kassations- und Erfüllungsrecht des Königs und Kaisers oder dem Recht auf Erteilung von Gerichtsprivilegien abgelesen werden kann, dessen Ausübung teils reichsgesetzlich, teils durch Reichsherkommen bestimmt war, dennoch nach wie vor im Ermessen des Königs und Kaisers stand. Alle diese konkretisierten Herrschaftsrechte wurden entweder durch die Reichsgesetzgebung fixiert oder durch das Reichsherkommen, auf dessen Entstehung der Kaiser übrigens einen erheblichen Einfluß hatte, geregelt, bildeten aber keineswegs die Gesamtheit der dem König und Kaiser als Inhaber der höchsten und umfassenden Herrschaftsgewalt zustehenden Herrschaftsrechte. Letztlich war die Herrschaftsgewalt des Königs und Kaiser umfassend und rechtlich nicht begrenzt57. Die Reichspublizistik war schon früh bemüht, diese königlichen und kaiserlichen Rechte als Reservatrechte innerhalb der königlichen und kaiserlichen Machtvollkommenheit nach Beschaffenheit und Art der Ausübung näher zu bestimmen und zu klassifizieren. Man unterschied zwischen Reservatrechten, die dem Kaiser ausschließlich zu Verfügung standen („exclusiva“, „illimitata“) und solchen, bei denen Mitsprache oder Mitwirkung von Kurfürsten und Fürsten erforderlich war („limitata“, „comitialia“), wobei der Bestand an Exklusivrechten von der zeitgenössischen Jurisprudenz noch am Ende des Reiches als weit umfangreicher eingestuft wurde, als dies in der Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts geschah58. Die geschilderten Veränderungen in der rechtlichen Struktur des Reiches begegnen jedoch nicht nur bei den Herrschaftsrechten des Königs und Kaisers; sie finden sich, wenn auch in anderer Form, ebenso bei den Mitwirkungsrechten der Kurfürsten, Fürsten und der übrigen Reichsstände, zu denen im Verlauf der Neuzeit auch die Städte des Reiches hinzukamen, wenn auch mit nachrangigen Rechten. Die Reichsstände wurden zwar im56 Die Geschichte der Reichshofratsordnungen ist ausführlich dargestellt bei Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat, Aalen 1973 (Untersuchungen zur Staats- und Rechtsgeschichte NF., Bd. 18), S. 59 ff. Sellert hat auch die verschiedenen Fassungen der Reichshofratsordnungen in seinem Werk: Die Ordnungen des Reichshofrates 1550 – 1766), Köln Wien 1980/1990 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 8/1 – 2) neu ediert. 57 Zu Diskussion um die kaiserlichen Herrschaftsrechte in der späten Reichspublizistik vgl. Buschmann, Kaiser und Reichsverfassung, S. 46 ff. 58 Über die einzelnen Rechte und deren Bedeutung in der Herrschaftspraxis vgl. auch Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 175 ff. und Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 14. Die detaillierteste Darstellung der kaiserlichen Herrschaftsrechte in der älteren rechts- und verfassungsgeschichtlichen Literatur findet sich bei Heinrich Zoepfl, Deutsche Rechtsgeschichte, Teil II, hier zitiert nach der 4. Aufl. Braunschweig 1872, S. 354 ff.

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mer als Mitregenten des Reiches bezeichnet, doch waren ihre Mitwirkungsrechte bei der Ausübung der königlichen und kaiserlichen Herrschaftsgewalt im Verhältnis zu den Rechten des Königs und Kaisers eher begrenzt, zumal an ihrer rechtlichen Unterordnung unter den König und Kaiser weder Reichsgesetzgebung noch Reichsherkommen und Reichspublizistik irgendeinen Zweifel ließen, auch wenn das Streben nach selbständiger Ausübung der Herrschaft in ihren inzwischen zu Territorialherrschaften gewordenen Ländern unübersehbar war59. Wichtigstes Recht der Reichsstände war das ihnen nur korporaliter zustehende Recht auf Mitwirkung an den Beschlüssen des Reichstages, der sich ab dem Beginn der Neuzeit zu einer festen Institution des Reiches herausgebildet hatte und ab dem Jahre 1663 zu einer ständigen Institution des Reiches geworden war. Für dieses Mitwirkungsrecht, das in sich übrigens keineswegs homogen und überdies in seinem Umfang zunächst umstritten war, bildeten die Bestimmungen des Westfälischen Friedens die abschließende reichsgesetzliche Fixierung, mit denen die Rechte der Reichsstände im einzelnen aufgezählt und auch in ihrem Umfang endgültig bestimmt wurden. Dies gilt übrigens auch von dem vielzitierten Bündnisrecht der Reichstände, das schon in der Handhabung Friedens und Rechts begegnet, dort allerdings wesentlich weiter gefaßt war als in der einschlägigen Bestimmung des Westfälischen Friedens. Daß dieses Bündnisrecht der Reichsstände rechtmäßig nur in dem dort festgelegten Rahmen ausgeübt werden konnte, läßt sich übrigens auch an der Tatsache ablesen, daß dem König und Kaiser das Recht zustand, Bündnisse, die diesen Bestimmungen widersprachen, zu kassieren. Merkwürdig ist, daß trotz der ausgedehnten Gesetzgebung des Reiches und den Bestimmungen des Westfälischen Friedens sowie einigen anderen verstreuten Vorschriften in der Reichsgesetzgebung die Organisation und das Verfahren der Beratung und Beschlußfassung des Reichstages bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches auschließlich durch Reichsherkommen geregelt war, das sich allerdings im Verlauf der Neuzeit derart verfestigt hatte, daß seine Regelungen einer gesetzlichen Fixierung gleichkamen60. 59 Zu den Rechten der Reichsstände vgl. vor allem Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 19 ff. u. ö., Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 171 ff., v. Aretin, Das Alte Reich, S. 57 ff., insbes. S. 115 ff., auch Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und Eigenleben (1500 – 1806), Darmstadt 1989, pass. Die herausgehobene Stellung der Kurfürsten ist zuletzt eingehend behandelt bei Axel Gotthardt, Säulen des Reiches, 2 Teile, Husum 1999 (Historische Studien, Bd. 457), pass. 60 Dazu vor allem Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 39 ff. Zum Immerwährenden Reichstag zuletzt namentlich Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstages zu Regensburg, Mainz 1991 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 145), pass., insbes. S. 53 ff. Zur Verfassung des Reichstages und deren Behandlung in der Reichspublizistik vor allem Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstrage in der Staatslehre der Frühen Neuzeit, Göttingen 1966 (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen

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Eine Veränderung in der rechtlichen Struktur ist schließlich auch bei der Ausbildung der sog. Landeshoheit in den Ländern der Reichsstände zu beobachten. Als Terminus technicus für die Bezeichnung der Landeshoheit findet sich in der zeitgenössischen Rechtsliteratur in wachsendem Umfang das Wort „Landesobrigkeit“, mit dem die Zusammenfassung aller dem Fürsten und anderen adeligen Herren bis dahin einzeln zustehenden Herrschaftsrechte bezeichnet wurde, über deren Umfang und Grenzen allerdings schon unter den Zeitgenossen vielfach Streit herrschte. Die ältere Reichspublizistik versuchte zunächst durch Feststellung der tatsächlich bestehenden Herrschaftsrechte den Umfang der fürstlichen Herrschaft zu bestimmen, bevor mit den Souveränitätslehren des 18. Jahrhunderts sämtliche Herrschaftsrechte als Derivate einer dem Fürsten zustehenden umfassenden Herrschaftsgewalt postuliert und als maßgebend für die Organisation der fürstlichen Herrschaft zugrundegelegt wurden. Auf die Einzelheiten der Organisation der fürstlichen Herrschaften im 18. Jahrhundert, namentlich auf deren Umgestaltung durch Naturrecht und Aufklärung und die Entstehung der Territorialstaaten, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Festzuhalten ist nur, daß sich die überlieferte fürstliche Herrschaft mehr und mehr von einer dynastisch bestimmten zu einer gebietsbezogenen Herrschaft mit einer auf Dauer angelegten rechtlichen Organisation entwickelte, für die sich alsbald die Bezeichnung Staat einbürgerte. In bezug auf das Verhältnis zwischen der königlichen und kaiserlichen Herrschaft und der „Landesobrigkeit“ darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, daß die Territorialstaaten wie die geistlichen und weltlichen Herrschaften des Mittelalters auf Reichsrecht beruhten und bei der Ausübung der Herrschaftsgewalt durch die Reichsgesetzgebung geregelt und begrenzt waren. Bei allen Territorialherrschaften handelte es sich nach wie vor um abgeleitete und zumeist territorial begrenzte Herrschaften, deren Inhalt, Rahmen und Grenzen durch das Reichsrecht gezogen waren. Sämtliche Reichsgesetze galten in den Territorialherrschaften unmittelbar und die Ausübung der Herrschaftsgewalt unterlag der Aufsicht durch den König und Kaiser, die durch den Reichshofrat ausgeübt wurde. Ob und in welchem Maße dies tatsächlich praktiziert wurde, mag hier dahinstehen. An der Tatsache, daß dem König und Kaiser die Aufsicht auch über die Ausübung der territorialen „Landesobrigkeit“ zustand, wurde nicht gezweifelt61. Akademie der Wissenschaften, 7), pass., insbes. S. 57 ff. und 335 ff. sowie zuletzt bei Heinz Duchhardt/Matthias Schnettger (Hrsg.), Reichsständische Libertät und Habsburgs Kaisertum, Mainz 1999 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Beihefte 48) mit zahlreichen Beiträgen zur Einzelproblemen. 61 Über die Veränderungen in der rechtlichen Struktur der sog. Landesherrschaft und die Diskussion hierüber in der neueren Forschung vgl. vor allem Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 112 ff. Zur Frage des Verhältnisses von Reichsrecht und Landesherrschaft zuletzt Arno Buschmann, Kaiser, Reich und Landesherrn, in: Dietrich Murswiek ua. (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung (=FS für Helmut Quaritsch), Berlin 2000, S. 449 ff.

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Der älteren wie der jüngeren Reichspublizistik war dieser Sachverhalt bei allen unterschiedlichen juristischen Positionen stets gegenwärtig und fand noch gegen Ende des Reiches in der Bestimmung der Regierungsform des Reiches ihren signifikanten Ausdruck. Die Regierungsform des Reiches wurde als monarchisch definiert, bei der die Ausübung der Herrschaftsgewalt des Kaisers als des Monarchen in wichtigen Angelegenheiten an die Zustimmung der Reichstände gebunden sei, das Reich als solches aus verschiedenen Ländern bestehe, von denen jedes zwar über eine eigene Herrschaftsgewalt verfüge, diese jedoch nicht unabhängig ausüben könne, sondern der kaiserlichen Herrschaftsgewalt unmittelbar untergeordnet und überdies an das Reichsrecht gebunden sei. Das Reich sei, so wird vor allem von Johann Stephan Pütter, aber nicht nur von ihm allein, betont, kein bloßes System lose verbundener Staaten, sondern ein zusammengesetzter Staat („res publica composita“), dessen Oberhaupt der Kaiser sei, der die Herrschaftsgewalt, hier wird sogar von Staatsgewalt gesprochen, im gesamten „Teutschen Reich“ innehabe und ausübe62.

IV. Versucht man nach dieser notwendig skizzenhaften Darstellung der rechtlichen Struktur des Heiligen Römischen Reiches und deren Entwicklung vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches ein abschließendes Fazit zu ziehen, dann wird man zunächst festhalten müssen, daß diese vom Hochmittelalter an auf einer Königs- und Fürstenherrschaft beruhte und von dieser bis zum Ende des Reiches geprägt war. Die mittelalterlichen Ursprünge des Reiches und seiner Verfassung blieben trotz mancher Veränderungen auch in der Neuzeit maßgebende Grundlage für die rechtliche Struktur der Reichsverfassung. Was die Neuzeit betrifft, so wird man dem Heiligen Römischen Reich oder dem „Teutschen Reich“, wie es im 18. Jahrhundert genannt wurde, die Eigenschaft einer auf Dauer angelegten, institutionalisierten und auf einer festen rechtlichen Grundlage beruhenden Organisation nicht absprechen können, die man, falls man Staat als eine dauerhafte rechtliche Organisation mit einem festen Bestand an Institutionen betrachtet, als einen Staat, vielleicht, wie dies unlängst geschehen ist, als einen „Komplementärstaat“, auf jeden Fall aber als einen Rahmenstaat bezeichnen kann. Insoweit wird die eingangs zitierte Charakterisierung des Reiches als eines atypischen völ62 Johann Stephan Pütter, Kurzer Begriff des teutschen Staatsrechts, 2. Aufl. Göttingen 1768, § 18, S. 14 f.; noch deutlicher formuliert er in seinen Institutiones iuris publici, Göttingen 1792: „Imperium Germanicum est regnum divisum in plures respublicas plane diversas, quae tamen adhuc unitae sunt in modum reipublicae compostitae sub cummuni supremo imperio monarchico restricto electitio.“ Vgl. a. a. O., § 32, S. 34.

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kerrechtlichen Staatenbundes nicht aufrechtzuerhalten sein. Das Reich war jedenfalls in der Neuzeit ein wirklicher Staat, ein Staat, der auf einer mittelalterlichen Königs- und Fürstenherrschaft beruhte, freilich mit einer Organisation ausgestattet, die nicht dem Bild eines militärischen Kommandostaates entsprach, wie es namentlich in den politischen, aber auch in den historiographischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts bevorzugt wurde63.

63 Zur Charakterisierung des Alten Reiches in der jüngsten Forschung vgl. etwa von Aretin, Das Alte Reich, S. 33 („Fürstenverband“), Schmidt, Geschichte des Alten Reiches, S. 43 („Komplementärer Reichs-Staat“, „in seiner Zusammensetzung variierender Reichs-Staat“) und schließlich Axel Gotthardt, Das Alte Reich, Darmstadt 2003, S. 6 ff. („Dachverband“ für Interessenkoordination, „Rahmen“ für die Einzelterritorien).

Der Deutsche Bund Zukunftslose Vorstufe des kleindeutschen Nationalstaats oder entwicklungsfähige föderative Alternative? Von Hans-Werner Hahn, Jena

Wenige Tage nach Unterzeichnung der Deutschen Bundesakte berichtete der bayerische Bevollmächtigte auf dem Wiener Kongreß, Graf Aloys von Rechberg, seinem König Maximilian I. Joseph, in einem recht stolzen Ton über die in Wien erzielten Ergebnisse. Die Bundesakte entsprach aus seiner Sicht ganz den erteilten königlichen Weisungen. Sie schuf, so Rechberg, eine Verbindung, „die so wenig bindend als möglich, nur auf Sicherheit gerichtet und nur als eine völkerrechtliche Association anzusehen ist“1. Auf vier Punkte war der Bevollmächtigte besonders stolz: „1) Das Wort Souveränität ist gegen den ausdrücklichen Widerstand größerer Mächte feyerlich ausgesprochen und das Band so los als möglich gebunden; 2) kein innerer Gegenstand kann ohne große Schwierigkeiten vor die Bundes Versammlung gebracht werden und über alle Bestimmungen, die nur im mindesten auf die wesentlichen Verhältnisse der Staaten Bezug haben, können keine Beschlüsse anders als durch Einstimmigkeit gefaßt werden; 3) das Recht der Bündnisse aller Art ist vorbehalten und 4) das Bundes Gericht ist abgewendet.“2 Obwohl Rechberg damit in erster Linie deutlich machen wollte, dass das große Ziel der Sicherung der mit der Reichsauflösung erreichten bayerischen Souveränität gewährleistet war, befürwortete er die Bundesakte nicht allein wegen ihrer Garantie und Anerkennung der seit 1806 für Bayern eingetretenen Veränderungen. Wichtig erschien Rechberg zugleich, dass mit dem Deutschen Bund eine feste und dauerhafte Verbindung der deutschen Einzelstaaten geschaffen und diese einem gemeinsamen Zweck – der „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands“3 – unterworfen waren. In der mit der Bundesakte damit unterstrichenen „Aufrechterhal1 Rechberg an König Maximilian I. Joseph von Bayern vom 11.06.1815, in: Eckhard Treichel (Bearb.), Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813 – 1815. (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. I, 1), 2 Bde., München 2000, S. 1536. 2 Ebd., S. 1538 f. 3 So im Artikel 1 der Deutschen Bundesakte von 1815. Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (1803 – 1850), Stuttgart 1961, S. 75.

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tung einer allgemein ausgesprochenen Nazionalität“4 sah Rechberg einen wichtigen Vorteil für die Zukunft. Der Bund wurde also auch von einem entschiedenen Verfechter bayerischer Souveränität als ein „nationales Band“ der Deutschen angesehen, das den Konflikt zwischen dem bayerischen Souveränitätsstreben und den auf mehr Vereinheitlichung setzenden Kräften entschärfte und damit langfristig zum Wohl des Einzelstaates wie des gesamten Deutschlands beitragen konnte. Auch der österreichische Bundestagsgesandte, Graf Buol von Schauenstein, sprach am 5. November 1816 in seiner Eröffnungsrede des Bundestages in Frankfurt von einem „die Nationalität sichernden Staatenbund“, der Deutschland „wieder als Ganzes, als eine politische Einheit, wieder als Macht in der Reihe der Völker“ erscheinen lasse und in seiner Form den deutschen Traditionen und Entwicklungen am besten entspreche5. Rechberg und Buol hofften, die mit der Bundesakte von 1815 erreichte Form eines Zusammenschlusses der deutschen Staaten werde zur Befriedigung der öffentlichen Meinung beitragen, die sich im Zuge der Freiheitskriege und des Frühnationalismus unüberhörbar an der Debatte über die staatliche Neuordnung Deutschlands beteiligt hatte6. Eine der ersten umfassenden öffentlichen Stellungnahmen zur neuen Bundesakte zeigte freilich, daß man im Lager des Frühnationalismus und -liberalismus die Dinge ganz anders sah. Der Jenaer Professor der Geschichte und Propagandist der frühen deutschen Nationalbewegung, Heinrich Luden7, setzte sich schon 1815 in einer Artikelserie der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Nemesis“ ausführlich mit dem neugeschaffenen Deutschen Bund auseinander. Für Luden klafften die Wünsche des politisch erwachten Volkes und das in Wien erzielte Ergebnis der staatlichen Neuordnung weit auseinander: „Wenn die kommenden Geschlechter das, was das Teutsche Volk laut und einfach nach seinen Bedürfnissen gefordert hat, mit dem vergleichen, was die Männer, in deren Händen es lag, die Forderungen des Volkes zu befriedigen und den Bedürfnissen genug zu thun – geleistet haben nach achtmonathlicher Beratung: so werden sie wegen eines Urtheils über den Congreß nicht verlegen sein.“8 4 Rechberg an König Maximilian I. Joseph vom 11.06.1815, in: Treichel (Hrsg.), Quellen, S. 1536. 5 Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Bd. 1, H. 1, Frankfurt 1816, S. 49. 6 Vgl. hierzu jetzt vor allem Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770 – 1840), Frankfurt a. M. 1998. 7 Zu Luden vgl. jetzt Klaus Ries, Zwischen Wissenschaft, Staat und Gesellschaft. Heinrich Luden als politischer Professor der Universität Jena, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hrsg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt-Weimar 2001, S. 27 – 52. Ausführlichere Abhandlungen zu Luden enthält die 2003 abgeschlossene Jenaer Habilitationsschrift von Klaus Ries, Das politische Professorentum der Universität Jena. Zur Genese der liberal-demokratischen Bewegung im 19. Jahrhundert, Jena 2003. 8 Heinrich Luden, der Teutsche Bund, in: Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte, Bd. 5, 1815. S. 124 f.

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Luden bezeichnete die Bundesakte ironisch als ein „Denkmal der Staatsweishit unserer Zeit“9. Heinrich Luden kritisierte den neuen Bund mit ähnlich scharfen Worten, wie er zuvor den Rheinbund attackiert hatte. Mit dem nun geschaffenen Fürstenbund habe Deutschland nach dem großen Krieg gegen Napoleon eine große Chance ungenutzt verstreichen lassen. Zwar habe eigentlich keiner den früheren Zustand des Alten Reiches zurückgewünscht. Aber die Mehrheit der Deutschen hätten doch einen Zustand erstrebt, „der uns vor Wiederkehr des alten Unglücks . . . bewahren und uns den wiedergewonnenen Kranz der Ehre und der Freiheit sichern konnte“. Was man daher bei allen Unterschieden im Einzelnen ersehnt habe, sei „Folgendes: ein freies Leben mit gleichen Rechten und Pflichten unter angestammten Fürsten, gesichert durch Gesetze in einem festen Reichsverbande aller Teutschen unter einem starken Kaiser“.10 Für Luden war es völlig undenkbar, im Deutschen Bund wie Rechberg eine Aufrechterhaltung einer allgemein ausgesprochenen „Nazionalität“ zu erkennen und ihn in die Kontinuität des Alten Reiches zu stellen. Der Jenaer Professor betonte vielmehr, dass der neue Deutsche Bund jenen tiefen Bruch in der deutschen Geschichte weiter verstärkt habe, der mit dem Ende des Alten Reiches 1806 eingetreten sei. Ausgangspunkt seiner Kritik war die Fürstensouveränität, ein Danaergeschenk Napoleons, entstanden „ohne Wissen und Willen des teutschen Volks“11, das nun mit dem Deutschen Bund erneut bekräftigt worden war. „Teutschland und souveräne Teutsche“, das war für Luden ein politischer Widerspruch. Auch der Deutsche Bund war von souveränen Fürsten aus eigener Machtvollkommenheit und ohne Rücksicht auf den Willen des Volkes geschlossen worden und lief folglich schon von seiner Gründungskonstellation auf „Getrenntheit und Schwäche, mithin Widerspruch und Schmach“ statt auf „Einheit und Kraft“ hinaus12. Der Deutsche Bund besaß, wie Luden ausführlich erläuterte, angesichts der Fürstensouveränität und der schwachen institutionellen Verklammerung der Einzelstaaten keine eigentliche Staatsgewalt. Hinzu kam, daß es auch um die innere Freiheit aus der Sicht Ludens schlecht bestellt war. Dies zeigte das vage einzelstaatliche Verfassungsversprechen des Artikels 13 ebenso wie das Fehlen eines allgemeinen deutschen Gerichtes, das die Freiheit und die Rechte des Einzelnen schützen und bei Streitigkeiten zwischen Ständen und Fürsten angerufen werden konnte. Selbst jenen Artikel der Bundesakte, die gemeinsame Verbesserungen der Bundesstaaten in Aussicht stellten, konnte Luden wenig Positives abgewinnen. Sein abschließendes Urteil über die Bundesakte 9

Ebd. Luden, Ueber den Teutschen Bund, in: Nemesis, Bd. 5, II. Stück, 1815, S. 210. 11 Luden, Ueber den Teutschen Bund, in Nemesis, Bd. 5 III .Stück, 1815, S. 389. 12 Ebd., S. 395. 10

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war vernichtend: „Die Sprache versagt, und der Muth fehlt; auch ist kein Zweck abzusehen.“ Luden wollte den Blick von der Gegenwart abwenden und sich auf die edlere Vergangenheit besinnen, um wenigstens „durch den Glauben an die Vortrefflichkeit des Geistes in unserm Volk für die Zukunft einige Hoffnung zu gewinnen“13. Der politische Professor in Jena bildete mit dieser ausführlich begründeten Einschätzung den Anfang einer langen Kette von massiver Bundeskritik, die sich in der deutschen Geschichtsschreibung seit der Bismarckschen Reichsgründung noch erheblich verstärken sollte14. So hat Heinrich von Treitschke in seiner breit rezipierten Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts die Deutsche Bundesakte 1879 als „die unwürdigste Verfassung“ bezeichnet, „welche je einem großen Kulturvolke von eingeborenen Herrschern auferlegt ward, ein Werk, in mancher Hinsicht noch kläglicher als das Gebäude des alten Reiches in den Jahrhunderten seines Niedergangs“15. Für Heinrich von Sybel besaß die Bundesakte von 1815 „am Maaße der Anforderungen eines realen Staatswesens gemessen . . . ziemlich vollständig alle Mängel, durch welche eine Verfassung unbrauchbar werden kann“16. Für die Vertreter der dominierenden preußisch-kleindeutschen Geschichtsschreibung erschien der Deutsche Bund als eine historische Sackgasse, der den Deutschen den schon 1815 notwendigen Weg zu einem Einheitsstaat blockierte und damit den historisch notwendigen und legitimen Weg der deutschen Geschichte aufhielt. Man sprach sogar von der „Missgeburt deutschen Staatswesens“17. Mit am schärfsten urteilte Erich Brandenburg 1916 über das „Verlegenheitsgebilde“ Deutscher Bund: „Man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, daß der Bund für die innere Entwicklung Deutschlands nicht den geringsten Nutzen gehabt hat, ja seine Existenz war insofern geradezu ein Hindernis für die Weiterbildung der nationalen Einrichtungen, als sie nach außen hin den Schein erweckte, als bestehe eine solche Einheit schon, und somit wiederum all denen, die an der Festhaltung des bestehenden Zustandes interessiert waren, eine bequeme Ausrede gewährte, wenn sie sich jeder Änderung widersetzten.“18 Abgesehen von manchen Modifikationen hielten sich diese Einschätzungen auch nach 1945 in der bürgerlichen wie in der marxistischen Geschichtsschreibung noch sehr lange. Noch Mitte der achtziger Jahre sprach 13

Luden, Ueber den Teutschen Bund, in: Nemesis Bd. 7, I. Stück, 1815, S. 20. Hierzu ausführlich Treichel, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Quellen, S. XI ff. 15 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Leipzig 1879, S. 690. 16 Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches, Bd. 1, Leipzig 1889, S. 48. 17 So Hans von Zwiedineck-Südenhorst zitiert nach Treichel (Hrsg.), Quellen, S. XII. 18 Erich Brandenburg, Die Reichsgründung, Bd. 1, Leipzig 1916, S. 88. 14

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Hagen Schulze davon, dass der nur in einem „anachronistischen Gesandtenkongress in Frankfurt“ und der Mainzer „Zentralkommission zur Untersuchung revolutionärer Umtriebe“ präsente Deutsche Bund im Zeitalter des nationalen Machtstaates ein „vorsintflutliches Monstrum“ dargestellt habe19. Diese weit verbreitete Geringschätzung des Deutschen Bundes, die auch von der Geschichtswissenschaft der DDR bis zuletzt geteilt wurde20, hat Eckhard Treichel vor allem auf drei Faktoren zurückgeführt. Erstens wurde und wird auch noch vielfach der Deutsche Bund am Modell des modernen Bundes- und Einheitsstaates gemessen. Demnach war der Staatscharakter des Bundes allenfalls rudimentär, weil ein Oberhaupt, eine Regierung samt nachgeordneter Verwaltungsbehörden, eine höchste Gerichtsbarkeit und eine Volksvertretung fehlten. All das habe die Durchsetzungsfähigkeit des Deutschen Bundes nach innen wie nach außen beträchtlich geschwächt. Zweitens wurde der Deutsche Bund in der Regel an der Elle des Nationalstaates gemessen. Der Bund habe demnach die Nation durch den Fürstenbund mediatisiert sowie durch die Zulassung ausländischer Monarchen als Bundesfürsten und den nicht an nationalstaatlichen Prinzipien orientierten Bundesgrenzen das Nationalitätsprinzip entschlossen negiert. Drittens galt und gilt der Bund vielen Betrachtern vor allem auch als Instrument der Repression, als Hort von Restauration und Reaktion. Diese Bundespolitik habe Deutschland dann über Jahrzehnte in seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung gehemmt21. Angesichts des dominierenden Negativbildes des Deutschen Bundes blieben differenziertere Ansätze zur Bestimmung seiner historischen Rolle lange Zeit ohne die erhofften Wirkungen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte vor allem Heinrich von Srbik in seiner Metternich-Biographie versucht, auf die konstruktiven Elemente der von Metternich maßgeblich geschaffenen und lange bestimmten Strukturen zu verweisen. Obwohl ein oberstes Bundesgericht fehlte, die früh geforderte deutsche Wirtschaftseinheit vom Bund nicht erreicht wurde und die schwerfällige Militärverfassung sich in europäischen Krisen nicht bewährt hatte, habe der Bund als „deutsches Einheitsgebilde“ doch Ansätze enthalten, die weiter gingen als die des Alten Reiches und des Rheinbundes22. Daneben war es dann vor allem 19 Hagen Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985, S. 74. 20 Vgl. die Beiträge der DDR-Historiker Helmut Bleiber, Der Deutsche Bund in der Geschichtsschreibung der DDR und Harald Müller, Deutscher Bund und deutsche Nationalbewegung , in: HZ 248, 1989, S. 30 – 50 und 51 – 78. 21 Hierzu ausführlich Treichel (Hrsg.), Quellen, S. XII/XIII. Vgl. ferner den wichtigen Beitrag von Hellmut Seier, Der Deutsche Bund als Forschungsproblem 1815 bis 1960, in: Helmut Rumpler (Hrsg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815 – 1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, München/Wien 1990, S. 31 – 58 sowie Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815 – 1871, München 1993, S. 53 ff.

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Franz Schnabel, der um 1930 in seiner Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts ein neues Bild des Deutschen Bundes präsentierte. Schnabel sprach dem Bund ungeachtet seiner Strukturmängel doch ein beachtliches Entwicklungspotential zu und ließ dabei auch die vielfach kritisierte Politik der deutschen Mittelstaaten in einem neuen Licht erscheinen23. Trotz solcher Neuansätze sollte es freilich auch nach dem Zweiten Weltkriege und dem vorläufigen Ende des deutschen Nationalstaates noch lange dauern, ehe die Historiker auf breiterer Front zu einer differenzierteren Beurteilung des Deutschen Bundes gelangten. Den Anfang einer Neubewertung machten die Arbeiten des amerikanischen Historikers Enno E. Kraehe24. Zwei Jahrzehnte später waren es vor allem österreichische Historiker wie Helmut Rumpler, die wichtige Anstöße für eine historiographische Neubewertung des Deutschen Bundes gaben25. Seit den achtziger Jahren schlug sich dann die neue Sicht auf den Deutschen Bund zunehmend auch in Arbeiten der westdeutschen Geschichtswissenschaft nieder. Der wichtigste Punkt, der zu einer positiveren Würdigung der staatenbündisch-föderativen Ordnung beitrug, war zweifellos die von den preußisch-kleindeutsch geprägten Historikern unterschätzte Friedensfunktion, die dem Deutschen Bund im europäischen Gleichgewichtssystem zufiel26. Auf diesen wichtigen Aspekt kann im Rahmen einer Betrachtung über die Staatlichkeit des Deutschen Bundes nicht näher eingegangen werden27. Neben diesen außen- und machtpolitischen Aspekten schenkte die Forschung seit den achtziger Jahren aber auch den inneren Entwicklungen des Bundes und der schon von Schnabel aufgeworfenen Frage nach dem in der Bundesverfassung enthaltenen Entwicklungspotential eine immer größere Aufmerksamkeit. Peter Burg widmete der Triaspolitik eine ausführliche, auf breiter Quellengrundlage erarbeitete Studie, die nach den gemeinsamen Zielen einer immer wieder gescheiterten mittelstaatlichen 22 Zur Position Srbiks zusammenfassend Seier, Der Deutsche Bund als Forschungsproblem, S. 50. Ausführlich Heinrich Ritter von Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde., München 1925. 23 Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Freiburg 1933, S. 68 ff. 24 Vgl. Enno E. Kraehe, Austria and the Problem of Reform in the German Confederation, 1851 – 1863, in: American Historical Review 56, 1950/51, S. 276 – 294. 25 Zu den frühen Ansätzen vgl. Helmut Rumpler, Die deutsche Politik des Freiherrn von Beust 1848 – 1850. Zur Problematik mittelstaatlicher Reformpolitik im Zeitalter der Paulskirche, Wien/Köln/Graz 1972. Vgl. ferner Ders./Heinrich Lutz (Hrsg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, München/Wien 1982; Fritz Fellner, Perspektiven für eine historiographische Neubewertung des Deutschen Bundes, in: Rumpler (Hrsg.), Deutscher Bund, S. 21 – 30. 26 Vgl. hierzu etwa Wolf D. Gruner, Die deutsche Frage. Ein Problem der europäischen Geschichte seit 1800, München 1985. 27 Zusammenfassend zu den damit zusammenhängenden Forschungsdebatten: Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage, S. 53 ff.

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Bundespolitik fragte und die süddeutsch-liberalen Alternativen zur Metternichschen Politik wie zur später erfolgreich durchgesetzten kleindeutschpreußischen Nationalstaatsidee aufzeigte28. Darüber hinaus haben die nach der Revolution von 1848/49 einsetzenden vielfältigen Bemühungen um eine Reform der deutschen Bundesverfassung innerhalb der historischen Forschung inzwischen eine breite Beachtung und eingehende Würdigung gefunden29. Und auch zur Militärpolitik des Deutschen Bundes, die einen lange unterschätzten wesentlichen Aspekt der gesamten Bundesgeschichte darstellte, liegen inzwischen zahlreiche neuere Studien vor, die ebenfalls ältere Negativurteile vom weitgehenden Versagen der militärpolitischen Integration korrigieren30. In besonderer Weise hat ferner das große, von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften initiierte Editionsvorhaben „Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes“ die Diskussion darüber angeregt, inwieweit der Deutsche Bund sich in der Funktion eines bevormundenden Polizeiapparates erschöpfte oder ob er nicht doch im Laufe seiner Geschichte auf wichtigen Gebieten Reformansätze erkennen ließ31. All diese neuen Arbeiten zu einzelnen Aspekten der Bundesgeschichte, zwei neue Gesamtdarstellungen zur der Geschichte des Deutschen Bundes32 und zahlreiche Forschungsüberblicke und kleinere Beiträge haben neue Einsichten in die inneren Strukturen und 28 Peter Burg, Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein, Stuttgart 1989. 29 Als wichtigste Beiträge sind zu nennen Jonas Flöter/Günther Wartenberg (Hrsg.), Die Dresdener Konferenz 1850/51. Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, Leipzig 2002; Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850.1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln/Weimar/Wien 2001. Wichtige neue Einsichten wird zudem die gerade abgeschlossene Habilitationsschrift von Jürgen Müller (Frankfurt a. M.) über die Bundesreformbestrebungen zwischen 1850 und 1866 vermitteln. Vgl. auch Jürgen Müller, „. . . das dringendste Bedürfnis für Deutschland“. Die neue Bundesexekutive und ihre Kompetenzen, in: Flöter/Wartenberg (Hrsg.), Die Dresdener Konferenz, S. 161 – 175. 30 Zuletzt vor allem Jürgen Angelow, Von Wien nach Königgrätz. Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht 1815 – 1866, München 1996. Hellmut Seier, Der Deutsche Bund als militärisches Sicherheitssystem 1815 – 1866, in: Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensysetm im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Peter Krüger zum 65. Geburtstag, hrsg. Von Gabriele Clemens, Stuttgart 2001, S. 19 – 33. 31 Bisher sind erschienen Eckhardt Treichel (Bearb.), Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813 – 1815. (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. I, Bd. 1), 2 Bde., München 2000; Ralf Zerback (Bearb.), Reformpläne und Repressionspolitik 1830 – 1834 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Abt. II, Bd. 1), München 2003; Jürgen Müller (Bearb.), Die Dresdener Konferenz und die Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1850/51. (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Abt. III, Bd. 1), München 1996; ders. (Bearb.), Der Deutsche Bund zwischen Reaktion und Reform 1851 – 1858. (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Abt. III., Bd. 2), München 1998. 32 Zuletzt Jürgen Angelow, Der Deutsche Bund, Darmstadt 2003. Vgl. ferner die hinter den neuen Ansätzen zurückbleibende Darstellung von Ludwig Bentfeldt, Der Deutsche Bund als nationales Band, Göttingen 1985.

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Funktionsweisen des Deutschen Bundes ermöglicht und die Diskussion um die Bedeutung des Deutschen Bundes in der deutschen Geschichte neu belebt. Lothar Gall hat die neue Entwicklung der Forschung wie folgt zusammengefasst: „Gleichsam im Schlepptau der Neubewertung des Alten Reiches ist auch der Deutsche Bund in den letzten Jahren in ein zunehmend freundlicheres Licht geraten, nachdem eine auf den Nationalstaat fixierte Geschichtsschreibung in ihm lange Zeit nur das anachronistische Bollwerk gegen den politischen Fortschritt im Sinne des Liberalismus und gegen die nationale Idee gesehen hatte.“33 Je mehr der Blick der Forschung sich auch auf die inneren Strukturen des Deutschen Bundes, die gemeinsame Arbeit der souveränen Gliedstaaten und auf das im Bund vorhandene und zumindest partielle auch aktivierte Ausbaupotential richtete, desto stärker wurde auch nach der spezifischen Staatlichkeit des Deutschen Bundes gefragt. Für die ältere Forschung war der Bund ein bloßer völkerrechtlicher Verein souveräner Einzelstaaten, der für den Einheit und Freiheit blockierenden und desintegrativ wirkenden deutschen Partikularismus stand. Die neuere Forschung stellt den Bund dagegen in die Tradition des deutschen Föderalismus und betont stärker jene einheitsstiftenden Elemente, die auch in der Geschichte des Deutschen Bundes verankert waren und die schon in seiner Anfangsphase von zeitgenössischen Beobachtern durchaus erkannt wurden34. Die in der Literatur häufig zu findende scharfe begriffliche Unterscheidung zwischen Staatenbund und Bundesstaat und die klare Zuordnung des Deutschen Bundes zum Typus des Staatenbundes hat solche Einsichten lange blockiert. Dabei zeigt schon der Blick in die zeitgenössische verfassungspolitische Literatur, dass eine solche Zuordnung keineswegs so klar war, wie es vielen später schien35. Wilhelm von Humboldt, dessen eigene Pläne zur Neuordnung Deutschlands einen Kompromiss zwischen staatenbündischen und bundesstaatlichen Regelungen vorsahen, schrieb 1816 kurz nach der Unterzeichnung der Bundesakte: „Daß der Deutsche Bund, seiner ursprünglichen Bedin33 Lothar Gall, Der Deutsche Bund in Europa, in: Karl O. Freiherr von Aretin/ Jacques Bariéty/Horst Möller (Hrsg.), Das deutsche Problem in der neueren Geschichte, München 1997, S. 17. Vgl. auch ders., Der Deutsche Bund als Institution und Epoche der deutschen Geschichte, in: Karl O. Freiherr von Aretin/Dieter Albrecht/Winfried Schulze (Hrsg.), Europa im Umbruch 1750 – 1850, München 1995, S. 257 – 266. 34 Zu diesen Aspekten ausführlich Treichel, Einleitung, in ders. (Bearb.), Quellen, S. XVII. 35 Zu diesem Komplex ausführlich Elmar Wadle, Staatenbund oder Bundesstaat? Ein Versuch über die alte Frage nach den föderalen Strukturen in der deutschen Verfassungsgeschichte zwischen 1815 und 1866, in: Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte vom 13.3. – 15.3.1995, Berlin 1998, S. 137 – 170.

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gung und seinem politischen Dasein nach, (zwar) ein richtiger Staatenbund ist, der sich aber zur Erreichung seines inneren und äußeren Zwecks durch die (Bundes-)Akte bestimmten Beziehungen einer Einheit und einen Zusammenhang gegeben hat, welche ihm in diesen Beziehungen zu einem Bundesstaat machen; dass also bei Bestimmung aller künftigen Verhältnisse der Begriff einer Verbindung selbständiger Staaten als die Grundidee und der Zweck, die den Bund zu einem kollektiven Staat machende Einheit als Mittel zu diesem Zweck und als nur immer aus wirklichen und bestimmten Bedingungen des Grundvertrages und der ihm gesetzmäßig gegebenen Erweiterungen hervorgeht angesehen werden muß.“36 Für Humboldt war der Deutsche Bund ein Staatenbund mit gewissen bundesstaatlichen Elementen37. Einerseits fehlten ihm ein Staatsoberhaupt, eine Regierung mit Verwaltungsapparat, ein oberstes Gericht und eine Nationalrepräsentation, so dass seine Staatlichkeit mit der Bundesversammlung in Frankfurt als einzigem Bundesorgan nur rudimentär entwickelt war. Andererseits aber war der Bund auf Dauer geschlossen worden. Den souveränen Gliedstaaten war es verwehrt, durch einen einseitigen Rechtsakt einfach wieder auszutreten38. Darüber hinaus schlossen die Gründer des Bundes, wie zahlreiche Artikel der Bundesakte andeuteten, einen institutionellen Ausbau des Bundes nicht generell aus, so dass der endgültige staatliche Charakter des Bundes zumindest in den Jahren nach 1815 durchaus noch offen schien. Friedrich Wilhelm Tittmann schrieb daher in seiner „Darstellung der Verfassung des Deutschen Bundes“ 1818: „Ob zwingende Gewalt, ein Hauptpunkt in dem Charakter der Staatenvereine, in dem deutschen Bunde stattfinden solle, ist also noch nicht bestimmt. Und wenn das Daseyn einer zwingenden höchsten Gewalt über das Wesen des Bundesstaates entscheidet, so ist in diesem Augenblicke noch unentschieden, ob der deutsche Bund ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sey.“39 In der Wiener Schlussakte von 1820, mit der die Bundesakte von 1815 ergänzt wurde, schien sich zwar die Ansicht zu bestätigen, „dass der Deutsche Bund als Staatenbund eine nur völkerrechtliche, keine staatsrechtliche Ver36 Zitiert nach Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. I: Reform und Restauration 1789 bis 1830, 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 563. 37 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 6 63 – 666. Ferner Reinhart Koselleck, Art. „Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 649 – 659; Erich Röper, Die Verfassung des Deutschen Bundes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 28, S. 648 – 668. 38 Damit fehlt dem Deutschen Bund ein wichtiges Element, das Jellinek als typisch für den Staatenbund ansieht: das freie Entscheidungsrecht der Gliedstaaten über die Dauer ihrer Mitgliedschaft. Vgl. Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Berlin 1882. 39 Friedrich Wilhelm Tittmann, Darstellung der Verfassung des Deutschen Bundes, Leipzig 1818, S. 30 f.

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bindung souveräner Staaten“ sei40. In den ersten beiden Artikeln hieß es zur Rechtsnatur des Bundes: „Der Deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte. Dieser Verein besteht in seinem Innern als eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich abhängiger Staaten, mit wechselseitigen gleichen Vertrags-Rechten und Vertrags-Obliegenheiten, in seinen äußeren Verhältnissen aber als eine in politischer Einheit verbundene Gesammt-Macht.“41 Angesichts der zahlreichen „bundesstaatlichen Elemente“, die die Ordnung des Deutschen Bundes enthielt, wird allerdings in der verfassungsgeschichtlichen Literatur bezweifelt, ob damit bereits klar zum Ausdruck gebracht worden sei, dass „der Deutsche Bund als Staatenbund eine nur völkerrechtliche, keine staatsrechtliche Verbindung souveräner Staaten gewesen sei“42. Für Huber wies der Bund vielmehr über die in ihm enthaltenen völkerrechtlichen Beziehungen der Gliedstaaten hinaus beachtliche staatsrechtliche Züge auf: „Die durch das monarchische Prinzip gesicherte Verfassungshomogenität der Gliedstaaten, die Ausstattung des Bundes mit Gesetzgebungsgewalt, Militärgewalt und gewissen Ansätzen der Justizhoheit, die Befugnisse zur Bundesintervention und Bundesexekution gingen weit über das Maß von Funktionen hinaus, die auf einer rein völkerrechtlichen Ebene hätten ausgeübt werden können. Die staatsrechtlichen Elemente der Bundesverfassung waren kein bloßes Beiwerk, sondern gehörten zum Kern und Wesen des deutschen Bundesrechts.“43 Die vielfältigen Hinweise auf die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Einzelstaaten und Gesamtmacht des Bundes, die festgeschriebene Unauflöslichkeit des Bundes sowie die Struktur der Bundesversammlung als beständiges Organ, das seine Sitzungen im Jahr höchstens für vier Monate unterbrechen durfte, widersprechen somit dem populären Bild vom nur locker zusammengefügten Staatenbund. Kühne hebt hervor, dass der Deutsche Bund „einen klassifikatorisch nicht klar fassbaren Mischcharakter“ aufgewiesen habe und als „national geprägte, bundesstaatlich effektuierbare Konföderation“ zwischen den Typen Internationale Organisation, Staatenbund und Bundesstaat stehe44. Der Deutsche Bund lässt sich also trotz seines rudimentären Staatscharakters nicht auf einen klassischen Staatenbund reduzieren. Er besaß vielmehr eine eigene, erweiterungsfähige Staatsgewalt. Die Bundesakte war offen für weitere Entwicklungen, ja trug sogar bereits Elementen und Tendenzen Rechnung, die mehr auf eine Ver40

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 646. Hans Boldt (Hrsg.), Reich und Länder. Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987, S. 215. 42 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 664. 43 Ebd., S. 666. 44 Jörg-Detlef Kühne, Deutscher Bund, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 39, März 1989, S. 2. 41

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einheitlichung deutscher Rechtszustände drängten. Diese prinzipielle Offenheit der Bundesverfassung zeigte sich in wichtigen grundrechtlichen Garantien wie dem Recht auf Erwerb von Grundeigentum im gesamten Deutschen Bund, dem Recht auf freiem Wegzug aus einem Bundesstaat in einen anderen, der zumindest erst einmal in Aussicht gestellten Pressefreiheit oder in der bürgerlichen Gleichstellung von Angehörigen der christlichen Religionsparteien. In anderen Punkten wie der Gleichstellung der Juden oder den Fragen von Handel und Schiffahrt deutete die Bundesakte zumindest die Möglichkeit zu einem einheitlichen Vorgehen der Gliedstaaten an. Bezeichnenderweise setzten die deutschen Juden in ihrem Streben nach rechtlicher Gleichstellung und in ihrem Kampf gegen die etwa in Frankfurt drohende Rücknahme bereits gewährter Rechte auf die Versprechen und Rechtsgarantien der deutschen Bundesakte45. Und auch in der Frage der deutschen Zoll- und Handelseinheit, die wegen der schweren wirtschaftlichen und sozialen Krisen gleich nach 1815 eine besondere Brisanz erlangte, richteten sich die Hoffnungen der öffentlichen Meinung zunächst auf die Bundesversammlung in Frankfurt46. Damit zeichneten sich zumindest in den ersten Jahren des Deutschen Bundes durchaus „Umrisse einer Bundesinnenpolitik“ ab47. All das hat große Teile der neueren Forschung zu der These veranlaßt, daß zumindest die Gründung des Deutschen Bundes nicht nur als unzeitgemäße Antwort auf die drängenden Fragen der Deutschen angesehen werden kann und der Ausgangspunkt der neuen Ordnung nicht ausschließlich aus dem Blickwinkel der späteren Entwicklungen interpretiert werden darf. Der Deutsche Bund bewahrte immerhin eine staatsrechtliche Einheit Deutschlands und schuf einen institutionellen Rahmen, der vielfach sogar effektiver funktionierte „als der erstarrte Reichsverband“48. Die 1815 im Deutschen Bund geschaffene Verbindung von Vielheit und Einheit besaß darüber hinaus nicht nur Entwicklungsmöglichkeiten, sie entsprach in vielfacher Weise auch weit stärker Wünschen und Erwartungen der Betroffenen, als dies die ältere Forschung angenommen hat. Selbst die liberale nationale Bewegung, die zur Zeit der Bundesgründung ja noch in ihren Anfängen stand, stand dem Deutschen Bund und seiner Struktur keineswegs mit einer solch prinzipiellen Feindschaft gegenüber, 45 Vgl. Hans-Werner Hahn, Judenemanzipation in der Reformzeit, in: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“. Eine Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001, S. 140 – 161. 46 Vgl. Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, S. 14 ff.; ders., Mitteleuropäische oder kleindeutsche Wirtschaftsordnung in der Epoche des Deutschen Bundes, in: Rumpler (Hrsg.), Deutscher Bund, S. 186 – 214. 47 Vgl. Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806 – 1871, München 1995, S. 324. 48 Volker Press, Altes Reich und Deutscher Bund. Kontinuität in der Diskontinuität, München 1995 (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge 28), S. 28.

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wie dies Ludens frühe und massive Kritik an der Bundesverfassung vermuten lässt. Im Unterschied zur älteren Forschung, die vor allem auf die politischen Weichenstellungen und den Reichsgründungsakt schaute und nur die äußere Nationsbildung in den Blick nahm, widmet sich die neuere Nationalismusforschung sehr viel stärker der inneren Nationsbildung. Damit sind die so vielfältigen und jahrzehntelangen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen gemeint, die der Entstehung des deutschen Nationalstaates von 1871 vorausgingen. In diesem Zusammenhang hat vor allem Dieter Langewiesche in seinen grundlegenden Beiträgen zeigen können, daß noch in den ersten drei Jahrzehnten des Deutschen Bundes der liberale Nationalismus zunächst einmal über weite Strecken ein von der alten Reichsidee unterfütterter und föderativer Nationalismus war49. Bis zu Beginn der vierziger Jahre gehörte der Begriff „Nationalstaat“ noch nicht zum politischen Sprachgebrauch der Deutschen. Die viel beschworene und geforderte Einheit der deutschen Nation war somit bei vielen keineswegs gleichbedeutend mit einem zentralisierten Nationalstaat. „In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts harmonierte das in der Lebenswelt der Menschen tief eingeschliffene föderative Bewusstsein nicht nur mit der aus der Vergangenheit geschöpften Reichsidee, sondern in der Regel auch mit der in die Zukunft blickenden Vision einer deutschen Nation.“50 Das die Nation einigende Band konnte dabei durchaus in der Form einer „zusammengesetzten Staatlichkeit“ geschaffen werden, in institutionellen Vorgaben, wie sie in der ausbaufähigen Verfassung des Deutschen Bundes durchaus vorhanden schienen. In der Frühzeit des Deutschen Bundes sind solche Hoffnungen nirgends so deutlich formuliert worden wie in der Schrift „Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung“, die der Philosoph Jakob Friedrich Fries 1816 kurz vor seiner Berufung nach Jena in Heidelberg veröffentlichte. Fries war einer der wichtigen Mentoren der Burschenschaft, nahm am Wartburgfest von 1817 teil und wurde später Opfer der vom Deutschen Bund initiierten Demagogenverfolgung51. Im Unterschied zu Luden unterzog Fries in seinem politischen Hauptwerk die Bundesakte von 1815 keiner Fundamentalkritik. Er sah in ihr vielmehr zunächst einmal einen brauchbaren und den deutschen Verhältnissen durchaus angemessenen Ausgangspunkt. Fries stand in der Tradition des untergegangenen Reiches, das zwar an seinen inneren und äußeren Schwächen zugrundegegangen sei, aber auch 49 Vgl. Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; ders./Georg Schmidt (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000. 50 Langewiesche, Nation, S. 195. 51 Zu Fries zuletzt Gerald Hubmann, Ethische Überzeugungen und politisches Handeln. Jakob Friedrich Fries und die deutsche Tradition der Gesinnungsethik, Heidelberg 1997; demnächst Ries, Das politische Professorentum.

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segensreich für die politische Kultur der Deutschen gewirkt habe. In der für Deutschland typischen föderativen Tradition, in dem ihm eigenen Ebenmaß der Formen zwischen unabhängigen Fürstentümern, unabhängigen Städten und unabhängigen Bistümern bei gleichzeitiger nie ganz verlorener Reichseinheit, hätten sich, so Fries, republikanischer Sinn, demokratische Elemente im Volksleben und die gleichmäßige Verbreitung von Bildung und Wohlstand gut entwickeln können52. Eine politische Struktur, die „nie ungetheilte Monarchie aber auch nie ohne Einheit“ sei, sorge dafür, dass „deutsche Bildung nicht Uebermuth und dem Despotismus einer Hauptstadt“ unterliege, „innere Rivalität“ neue Kräfte wecke und dem „Gedanken auf eigene Weise die Freyheit“ geschützt werde53. Ausdrücklich hob Fries daher hervor: „Wir haben diese Vereinzelung in kleine Staaten zu loben.“54 Allerdings verband Fries dieses Bekenntnis zum Föderalismus mit Traditionen des untergegangenen Reiches, an die der neue „Bund der Deutschen“ stärker als bisher erkennbar anknüpfen müsse, um von Anfang an neue Fehlsteuerungen zu vermeiden. Konkret hieß das für Fries, dass der Bundestag als „republikanische Vereinigung der deutschen Regierungen“ danach streben müsse, seinen Geschäftskreis zu erweitern und die „innern Angelegenheiten nach Bundesgrundgesetzen gemeinschaftlich“ zu ordnen. Der Bundestag sollte zu einer „wahren höchsten Regierung des deutschen Bundes werden, dem wir eine gesetzgebende, eine richterliche und eine militärische Gewalt wünschen“55. Als wichtigste Gegenstände der gemeinsamen gesetzgebenden Gewalt nannte Fries Grenz-, Rechts-, Finanz-, Kriegs- und Kirchenordnung. Die gesetzgebende Gewalt des Bundes sollte dann aber noch durch die richterliche Gewalt ergänzt werden. Das in Artikel 11 der Bundesakte vorgesehene Austrägalverfahren zur Schlichtung von Streitigkeiten56 zwischen den Bundesgliedern reichte Fries nicht aus. Er verlangte zugleich eine Instanz, durch die „auch die Irrungen zwischen Fürst und Ständen zur Entscheidung an den Bundestag gebracht werden könnten“57. Mit all dem wollte Fries erreichen, dass am Bundestag „nicht ein Staatenbund, sondern ein rein deutscher, vom Ausland ganz unabhängiger Bundesstaat gebildet werde“58. Gleichzeitig sollte der Bund auch dafür Sorge tragen, dass in allen Staaten fürstliche Privatkassen und Staatskassen sowie Hof- und Staatsdienst streng geschieden, die Vorrechte des Adels aufgeho-

52 Jakob Friedrich Fries, Von deutscher Staatsverfassung. Die Erste Abtheilung des Buches: Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung, Heidelberg 1816, mit einem Nachwort hrsg. von Gerald Hubmann, Heidelberg 1997, S. 165. 53 Ebd., S. 7. 54 Ebd., S. 165. 55 Ebd., S. 178. 56 Vgl. hierzu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 625 ff. 57 Fries, Von deutscher Staatsverfassung, S. 171. 58 Ebd., S. 168.

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ben und die überall zu errichtenden Landständen in angemessener Weise an der Gesetzgebung der Einzelstaaten beteiligt würden. Das föderative Modell von Fries unterschied sich damit zwar erheblich von der Verfassungswirklichkeit des Deutschen Bundes. Bemerkenswert war aber, dass es zum einen auf die Entwicklungsfähigkeit des Bundes setzte und zum anderen auf eine sich ergänzende Staatlichkeit Deutschlands hinauslief, in der sowohl die Einheit der Nation als auch die Eigenständigkeit der Einzelstaaten gewährleistet sein sollte. Durch grundlegende konstitutionelle Garantien des Bundes sollten zugleich die Voraussetzungen für eine Modernisierung Deutschlands geschaffen werden. Das Beispiel von Fries zeigt damit, wie offen die Entwicklung des Deutschen Bundes zunächst auch Teilen der deutschen Nationalbewegung erschien und wie notwendig es daher ist, den Bund nicht nur aus der Perspektive des ausgebildeten Nationalstaates, sondern auch aus der des zeitgenössischen verfassungs- wie nationalpolitischen Diskurses zu betrachten. Dies hat die Forschung der letzten zwanzig Jahre auch verstärkt getan. Für die Frühphase des Deutschen Bundes liegen mit der zweibändigen Quellenedition von Eckhardt Treichel und Michael Hundts Monographie und Quellenedition über die Politik und Interessenlage der mindermächtigen Staaten wichtige neue Arbeiten vor, die sehr anschauliche Belege für den fragmentarischen, unfertigen und damit auch offenen Charakter der Bundesakte enthalten59. Auch die Frühgeschichte der deutschen Triaspolitik unterstreicht, welch große Hoffnungen wichtige Mittelstaaten des Deutschen Bundes auf einen Bundesausbau setzten und in welchem Maße hierbei auch liberal-konstitutionelle Ziele mit einflossen60. Der Deutsche Bundestag machte dann aber unter dem Einfluss von Metternich mit der „Epuration“ des Jahres 1823, der Abberufung der konstitutionell gesinnten Befürworter der Triaspolitik aus Frankfurt, deutlich, dass all diese Hoffnungen auf eine Weiterentwicklung der Bundesverfassung zunächst einmal vergebens waren. Die Bundespolitik blieb auf jener Linie der Repression, die mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 eingeschlagen worden war. Auf diesem Felde der Politik entstand mit der zwischen 1819 und 1828 wirkenden „Mainzer Zentraluntersuchungskommission“ eine eigene Bundesbehörde61. Durch das System der Vorverständigung zwischen den Großmächten Österreich und Preußen und die hier konzipierte Unterdrückungspolitik zwangen Wien und Berlin dem Bund im Hinblick auf die inneren Sicherheitszwecke zwar faktisch bundesstaatliche Formen auf. Auf anderen wichtigen Feldern 59 Treichel, Quellen; Michael Hundt, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress, Mainz 1996; ders. (Hrsg.), Quellen zur kleinstaatlichen Verfassungspolitik auf dem Wiener Kongress, Hamburg 1996. 60 Ausführlich hierzu Burg, Die deutsche Trias. 61 Wolfram Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung“. Die Anfänge der politischen Polizei 1806 – 1866, Tübingen 1985, S. 76 – 86.

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der Politik, vor allem auf dem der drängenden Handelspolitik, entwickelte der Bund dagegen weiterhin keine eigenen Initiativen. Dennoch zeigte sich auch zu Beginn der dreißiger Jahre, dass die politische Innenarchitektur des Bundes noch keineswegs abgeschlossen war und viele Strukturen noch immer formbar schienen. Bevor der Deutsche Bund auf Druck der beiden Vormächte Preußen und Österreich seit 1832 wieder konsequent auf einen Repressionskurs gegen die liberalen und nationalen Kräfte einschwenkte und auf dem Feld von Polizei und Repression zum Leidwesen mancher Mittelstaaten mit der „Frankfurter Zentraluntersuchungsbehörde“ 1833 neue „bundesstaatliche Verhältnisse“ schufen62, war von unterschiedlicher Seite nochmals ausführlich über eine Reform der Bundesverfassung diskutiert worden. Zum einen geschah dies nach 1830 durch Teile der liberalen Bewegung, die trotz aller Kritik an den Maßnahmen des Bundes in ihm „das letzte heilige Band deutscher Nationaleinheit“ sahen, das es nun „mit würdiger National- und Volksfreiheit zu vereinigen“ galt63, um den Rechten des Volkes zum Durchbruch zu verhelfen und Deutschland vor den Gefahren neuer machtpolitischer Entwicklungen zu schützen. Mit diesen Argumenten begründete der Liberale Karl Theodor Welcker am 15. Oktober 1831 in der zweiten Kammer des badischen Landtags die geforderte „Vervollkommnung der organischen Entwicklung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher Nationaleinheit und deutscher staatsbürgerlicher Freiheit“64. Der Antrag Welckers war die bekannteste und weitreichendste liberale Initiative zu einer Bundesreform, stand aber keineswegs allein. Neben den Reformplänen der Liberalen, die auf eine Verbindung ihres föderativen Nationsideals mit der Bundesrealität hinausliefen65, stellten auch konservative Eliten vor allem aus dem Umfeld der Mittelstaaten am Anfang der dreißiger Jahre angesichts neuer politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen eigene Überlegungen zur Zukunft des Deutschen Bundes an. So bezeichnete der bayerische Feldmarschall und Staatsmann Fürst Wrede 1831 in einem privaten Brief an Metternich den Deutschen Bund als ein Skelett, der künftig Körper und Leben bekommen müsse, eine Einschätzung, die bei Metternich freilich auf wenig Gegenliebe stieß, weil er den Bund als „bereits vollkommen ausgebildet und genügend“ ansah66. Schon im Herbst 1830 hatte der sachsen-coburg-gothaische Minister Carlowitz unter dem Eindruck der zahlreichen Unruhen in Mittel62

Zerback, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Reformpläne, S. XXXVII. Motion Welckers in der badischen Zweiten Kammer vom 15. Oktober 1831, in: Zerback (Bearb.), Reformpläne, S. 638. 64 Ebd., S. 637. 65 Ausführlich hierzu Zerback, Einleitung, S. XLIV ff. 66 Schreiben Metternichs an Wrede vom 24. Oktober 1831, in: Elisabeth Droß (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, Darmstadt 1999, S. 158. 63

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deutschland eine Denkschrift verfasst, in der die Defizite bisheriger Bundespolitik offen ausgesprochen und energische Schritte zu einer Reform des Bundes verlangt wurden. Der Deutsche Bund sollte durch eine stärkere Berücksichtigung der allgemeinen Bedürfnisse und eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit verlorenes Vertrauen zurückgewinnen67. Die Felder, auf denen der Deutsche Bund seine Aktivitäten verstärken sollte, waren vor allem die Bundesorganisation, das Militär die Jurisdiktion und die Zollund Handelspolitik. In der Folgezeit schuf die Bundesversammlung durchaus „engere Gremien zur Sondierung, Klärung und vorbereitenden Willensbildung in Gestalt zahlreicher Kommissionen“68. Ein großer Teil der hier behandelten Materie – von Auswanderungsfragen über Fragen der Bundesgerichtsbarkeit, Militärangelegenheiten, Beschwerden der Mediatisierten, Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle bis hin zu Angelegenheiten des früheren Reichskammergerichts – ließe sich ohne weiteres den Aufgabenfeldern eines bundesstaatlichen Ministerrats zuweisen. Der Deutsche Bund war somit keineswegs ausschließlich mit der Repression gegen die oppositionellen Kräfte beschäftigt. Er verstärkte unter dem Eindruck europäischer Krisen die Verhandlungen über die Bundeskriegsverfassung und bemühte sich auf diesem wichtigen Feld um konkrete Verbesserungen 69. Mit dem Bundesgesetz vom 30. Oktober 1834 und der darin verfügten Einsetzung eines Bundesschiedsgerichts bemühte man sich, eine empfindliche Lücke des Bundesrechts zu schließen, ohne dabei jedoch zu einer wirklichen obersten Bundesgerichtsbarkeit vorzustoßen70. Und auch die verschiedenen Bemühungen um eine einheitliche Zoll- und Handelspolitik des Bundes, die sich nach 1830 nochmals verstärkten, blieben ohne den von den Initiatoren erhofften Durchbruch und ebneten damit jenen neuen Entwicklungen Bahn, die zum preußisch geführten Deutschen Zollverein führten71. Am Ende der politischen Aufbruchsphase der frühen dreißiger Jahre stand damit erneut die Repression im Zentrum der Bundestätigkeit72. Diese Repressionsmaßnahmen statuierten zwar „die Präponderanz des Bundes über die Einzelstaaten und schufen auf diesem Feld bundesstaatliche Ver67 Denkschrift des sachsen-coburg-gothaischen Ministers Carlowitz vom 12. Oktober 1830, in: Zerback (Bearb.), Reformpläne, S. 5 ff. 68 Vgl. Wolfram Siemann, Wandel der Politik – Wandel der Staatsgewalt. Der Deutsche Bund in der Spannung zwischen „Gesammt-Macht“ und „völkerrechtlichem Verein“, in: Rumpler (Hrsg.), Deutscher Bund, S. 63. 69 Vgl. Wolfgang Keul, Die Bundesmiltärkommission (1819 – 1866) als politisches Gremium. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Bundes, Frankfurt a. M. 1977, S. 95 ff. 70 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, 2. Aufl. Stuttgart 1968, S. 180 f. 71 Vgl. hierzu Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 58 ff. 72 Ausführlich hierzu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 125 ff.

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hältnisse“73, ließen die liberalen Hoffnungen auf einen zeitgemäßen institutionellen Ausbau des Deutschen Bundes deutlich sinken und verstärkten in der Folgezeit die massive Kritik an der 1815 geschaffenen Ordnung. Dennoch spielte der Deutsche Bund als Handlungsrahmen auch für die liberale und nationale Bewegung der vierziger Jahre noch eine große Rolle. Heinrich von Gagern bezeichnete den Deutschen Bund im Frankfurter Vorparlament Ende März 1848 als letzte Autorität für das gesamte Deutschland. Der Bund war für ihn noch immer „das Bild von Zusammenhang und Einheit“. Den Bundestag möge man, wie dies der Radikaldemokrat Struve tat, eine Leiche nennen, aber den Bund nicht74. Die Beschickung des Bundestags durch liberale Bevollmächtigte und die vielfältigen Konzessionen des Bundes an die Nationalbewegung konnte freilich das vorläufige Ende der Bundesversammlung im Sommer 1848 nicht mehr aufhalten. Die Hoffnungen ruhten nun auf der Nationalversammlung und der von ihr eingesetzten provisorischen Reichszentralgewalt, die eine feste bundesstaatliche Ordnung Deutschlands herbeiführen sollten. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 und der von Österreich im Bündnis mit den Mittelstaaten durchgesetzten Wiederbelebung des Deutschen Bundes stand zunächst einmal erneut die Unterdrückung der liberal-demokratischen und nationalen Kräfte im Zentrum der Bundestätigkeit. Mit dem sogenannten Bundesreaktionsbeschluss vom 25. August 1851, dem seine Einhaltung überwachenden Reaktionsausschuss, dem Beschluss über die Aufhebung der im Dezember 1848 verkündeten Grundrechte, dem Bundespressegesetz vom 6. Juli 1854 und dem Bundesvereinsgesetz vom 13. Juli 1854 sowie den auf der Grundlage dieser Gesetze erfolgenden Maßnahmen entwickelte der Deutsche Bund wiederum dort die stärkste Wirkungskraft, wo es um die Sicherung des monarchischen Prinzips und die Eindämmung gesellschaftlicher Partizipationsforderungen ging75. All dies war verbunden mit massiven Eingriffen in die Souveränität der Einzelstaaten. Besonders deutlich zeigte sich dies im Falle von Kurhessen, wo die Bundesversammlung dem Land 1852 in einem Willkürakt eine neue Verfassung oktroyierte76. Die Dynamik dieser bundesstaatlichen Effektuierung der Bundespolitik wurde zwar sowohl durch den Widerstand der Mittelstaaten, die 1851 eine von Wien und Berlin geplante Bundes73

Zerback, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Reformpläne, S. XXXVII. Vorparlament. Vorbereithende Versammlung für ein deutsches Parlament. Officieller Bericht über die Verhandlungen zur Gründung des deutschen Parlaments, Frankfurt a. M. 1848, S. 43. 75 Einen anschaulichen Überblick über die Maßnahmen und Strukturen des Reaktionssystems bietet Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849 – 1871, Frankfurt a. M. 1990, S. 40 ff. 76 Vgl. Hellmut Seier (Hrsg.), Akten und Dokumente zur kurhessischen Parlaments- und Verfassungsgeschichte 1848 – 1866, bearb. von Ulrich von Nathusius und Hellmut Seier, Marburg 1987. 74

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zentralpolizei verhinderten77, als auch durch den seit 1848/49 wiederauflebenden preußisch-österreichischen Dualismus78 gebremst. Dennoch sahen sich viele Liberale zu Beginn der fünfziger Jahre in ihrer Ansicht bestätigt, dass die Hoffnungen auf Reform und Ausbau des Deutschen Bundes Illusion bleiben mussten. Ludwig August von Rochau hat in seinen 1853 erschienen „Grundsätzen der Realpolitik“ geschrieben: „Sein Charakter und seine Rolle ist dem Bundestag durch die tatsächlichen Verhältnisse, aus denen er hervorgegangen, unwiderruflich gegeben. Es ist die unbilligste aller Zumutungen, wenn man von dem Bundestag eine freisinnige Politik, Nationalgeist, organisierende Tätigkeit verlangt, Eigenschaften, welche sein wesen geradezu ausschließt, Leistungen, die mit seiner Natur im Widerspruche stehen. Die entschieden vorherrschende Richtung der bundestäglichen Tätigkeit auf den Sicherheitszweck ist unveränderlich. Die Schwäche der Bundestagspolitik auf jedem andern Gebiet ist unheilbar.“79 Dieses zeitgenössische, von späteren Historikern übernommene Urteil übersieht freilich, dass sich die Bundespolitik nach der Revolution von 1848/49 keineswegs erneut in Repressionsmaßnahmen erschöpfte, sondern der Bund in den letzten 16 Jahren seiner Existenz nochmals zahlreiche Anstrengungen unternahm, um den inneren Ausbau voranzutreiben und wichtigen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Forderungen der Zeit nachzukommen. Die von den Regierungen der Bundesstaaten auf der Dresdener Konferenz vom 23. Dezember 1850 bis zum 15. Mai 1851 begonnenen Diskussionen über die Reorganisation der Bundesorgane, den Aufbau neuer Bundesinstitutionen sowie eine föderale Weiterentwicklung des Bundes auf wirtschaftlichem und rechtlichem Gebiet blieben zwar ohne die gerade von den Mittelstaaten erhofften Ergebnisse80. Die Reformdiskussion begleitete aber von nun an die Bundespolitik bis zur Auflösung des Bundes im Gefolge des Krieges von 1866. Die Forschung hat diesem Aspekt der Geschichte des Deutschen Bundes lange Zeit wenig Beachtung geschenkt. Erst die neueren Arbeiten von Rumpler, Müller, Flöter und anderen haben zu Recht darauf hingewiesen, welche innere Dynamik die Bundespolitik nicht zuletzt durch die mittelstaatlichen Reforminitiativen noch einmal entwickeln konnte und zu welch beachtlichen Reformansätzen der deutsche Föderalismus fähig war81. 77

Siemann, „Deutschlands Ruhe“, S. 253. Vgl. hierzu jetzt die Beiträge in Michael Gehler u. a. (Hrsg.), Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleich aus dem 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996. 79 August Ludwig von Rochau, Grundsätze der Realpolitik angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Teil 1, Stuttgart/Heidelberg 1853, Teil 2, Heidelberg 1869; neu hrsg. und eingeleitet von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a. M./BerlinNew York 1972, S. 83 f. 80 Ausführlich hierzu Flöter/Wartenberg (Hrsg.), Die Dresdener Konferenz. 81 Vgl. Helmut Rumpler, Das „Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch“ als Element der Bundesreform im Vorfeld der Krise von 1866, in: ders. (Hrsg.), Deutscher 78

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Jürgen Müller verweist darauf, dass der Bund jetzt ein „national-integratives Potential“ erkennen ließ, indem er die Fragen einer gemeinsamen Handels- und Zollpolitik aufgriff, Anstrengungen zur Vereinheitlichung des Rechts unternahm, ein oberstes Bundesgericht als höchste Instanz der deutschen Rechtsprechung einführen wollte und mit seinen Plänen einer von den einzelstaatlichen Parlamenten beschickten Volksvertretung beim Deutschen Bund auch wichtigen verfassungs- und partizipationspolitischen Forderungen der Nationalbewegung nachzukommen versuchte. Vieles von dem, was in den Bundeskommissionen in den 1850er und 1860er Jahren erarbeitet wurde, fand später Eingang in das Gesetzeswerk des kleindeutschen Nationalstaates. Dies war nicht zuletzt das Verdienst der Mittelstaaten, die sich für eine Bundespolitik einsetzten, „welche die ,moralischen Bedürfnisse der Nation‘ anerkannten und durch praktische Maßnahmen dazu beitrugen, die ,gerechten Ansprüche der Nation‘ zu erfüllen“82. Die rudimentäre Staatlichkeit, die der Deutsche Bund zunächst aufwies, stand somit zumindest einem intensiven Bemühen um einen inneren Ausbau nicht entgegen, der notwendig erscheinende Vereinheitlichungen auf wichtigen Feldern mit den am Beginn des Bundes festgehaltenen föderalen Prinzipien zu vereinen suchte. Helmut Seier plädiert dafür, den Bund „als ausbaubares Kompromisssystem mit Hegemonial- und Partikularfaktoren“ zu sehen, „dessen intentional gegen die Einheitsbewegung gerichtete Koordinationskraft funktional eine locker-föderative Einheitsbasis war, ja unfreiwillig Einheit schuf und längerfristig sowohl die konstitutionelle als auch die wirtschaftsmodernisierende Weiterbildung duldete“83. Diese wichtigen Aspekte der Bundesgeschichte sollten daher nicht unterschätzt werden. Die Beschäftigung mit diesen Reformbemühungen hat bereits dazu beigetragen, den Deutschen Bund wieder in die Diskussion zu bringen und älteren Pauschalurteile zu überwinden. Der Bund war nach dieser neuen Sicht zunächst einmal eben keine völlig zukunftslose Vorstufe des Einheitsstaates, keine Sackgasse auf dem Weg zu einer zeitgemäßen deutschen Staatlichkeit. Er war eine angesichts der europäischen wie innerdeutschen Konstellationen 1815 kaum vermeidbare und für den deutschen Föderalismus durchaus folgenreiche Zwischenlösung, die aber eben vielfältige Ansätze zur Weiterentwicklung bot. Die Beschäftigung mit der inneren Struktur und der politischen Praxis des Deutschen Bundes, seinen Leistungen und Grenzen liefert daher „reichen Stoff zum Nachdenken über die Bedingungen und die Möglichkeiten des Zusammenlebens unterschiedlich strukBund, S. 186 – 214; Flöter, Beust; Müller (Bearb), Dresdener Konferenz; ders. (Bearb.), Der Deutsche Bund. 82 Jürgen Müller, Bismarck und der Deutsche Bund, (Friedrichsruher Beiträge, Bd. 11) Friedrichsruh 2000, S. 28. 83 Seier, Der Deutsche Bund als Forschungsproblem, S. 58.

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turierter, aber auch durch die Gemeinsamkeiten ihrer Geschichte, ihrer Sprache und ihrer Kultur verbundenen Staaten“84. So richtig es nun ist, den Beitrag des Deutschen Bundes zum deutschen Föderalismus und zur politischen Kultur der Deutschen neu zu gewichten, so sehr sollte man sich bei der Neubewertung der Rolle des Deutschen Bundes davor hüten, die zwischen 1815 und 1866 herrschende Form deutscher Staatlichkeit zu idealisieren. Wenn Bosl den Deutschen Bund als „ersten deutschen Staat moderner Prägung“ bezeichnet85, so geraten die gravierenden Defizite an „Staatlichkeit“ und die vielfältigen Fehlsteuerungen allzu sehr in den Hintergrund. Wer den Deutschen Bund als die große Alternative zum preußisch-deutschen Nationalstaat und als verpasste Chance einer besseren Entwicklung darstellt, läuft möglicherweise Gefahr, die alten negativen Pauschalurteile nur durch neue positive zu ersetzen. Die in Teilen der neueren Literatur durchaus zu findenden Ansätze einer Verklärung der staatenbündischen Alternative hat Hans Boldt kürzlich zum Anlaß genommen, die Akzente wieder etwas anders zu setzen. Der Umweg über den Staatenbund war 1815 angesichts der allgemeinen Umstände auch für Boldt wohl unvermeidlich. Er hebt jedoch zugleich hervor: „Man sollte aber auch der Kosten eingedenk sein, die dieser Umweg mitsichbrachte. Ist Deutschland nicht damals zur ,verspäteten Nation‘ geworden mit all den bedenklichen Folgen eines um seine Hoffnungen betrogenen Nationalgefühls, mit dem Gefühl zu kurz gekommen zu sein, mit Ohnmachtsempfindungen auf der einen, Machtphantasien auf der anderen? Die psychischen Defizite, die sich daraus ergaben, kann man kaum überschätzen. Man sollte sich dessen bewusst sein, wenn man Deutschlands Weg zum modernen Verfassungsstaat beschreibt.“86 Boldt wendet sich hier vor allem gegen die These Angermeiers, nach der die Entwicklung des Alten Reiches auf das Resultat Staatenbund angelegt gewesen sei und die Zerstörung des Deutschen Bundes durch die Bismarcksche Politik eine organische Verfassungsentwicklung Deutschlands abgebrochen habe87. Man macht es sich etwas zu einfach, wenn man Boldts 84

So Gall, Der Deutsche Bund als Institution, S. 266. Karl Bosl, Das „Dritte Deutschland“ und die Lösung der deutschen Frage im 19. Jahrhundert. Souveränität – Defensivsystem – Aggressivität. Das bayerische Beispiel, in: Bohemia 11, 1970, S. 26. 86 Hans Boldt, Bundesstaat oder Staatenbund? Bemerkungen zur Verfassungsdiskussion in Deutschland am Ende des Alten Reichs, in: Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 46. 87 Heinz Angermeier, Nationales Denken und Reichstradition am Ende des alten Reiches, in: Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 169 ff.; Heinz Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat. Verfassungspolitische Konzeptionen und nationales Denken zwischen 1801 und 1815, in: ZSRG-GA-107, 1990, S. 19 ff. 85

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Gegenposition und seine kritische Sicht auf den Deutschen Bund vorschnell als Anknüpfen an das Verdikt der borussischen Historiographie interpretiert88. Zum einen geht es Boldt zunächst einmal ja weniger um die Verbindungen zwischen Deutschem Bund und Bismarckreich. Vielmehr macht er nur deutlich, daß die staatenbündische Struktur des Bundes auch aus der Sicht der Zeitgenossen vielfach als Rückfall hinter die komplementäre Staatlichkeit des Reiches89 interpretiert wurde. Das Beispiel Fries zeigt, daß selbst entschiedene Befürworter der föderalen Traditionen 1815 den Deutschen Bund für stark ergänzungsbedürftig hielten. Besonders der Verzicht auf die fehlende oberste Gerichtsbarkeit galt dabei als schwerwiegender Mangel. Das nach innen gerichtete Sicherheitsbedürfnis des Bundes zielte in erster Linie auf die Staaten und ihre Regime, weit weniger aber auf die von der Staatslehre am Ende des 18. Jahrhunderts zum Staatszweck erhobene Sicherung der individuellen Freiheit90. Die Rechte des Einzelnen waren, wie schon der Freiherr vom Stein in seiner Kritik am Deutschen Bund hervorhob91, durch die Bundesakte allein in der Tat zunächst nur schwach gesichert. Zum anderen bringt Boldt zu Recht wieder stärker zur Geltung, in welch zentralen Bereichen – individuelle Freiheit, Wirtschaftseinheit und politische Partizipation – der Deutsche Bund als Bremse des politischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses gewirkt hat. Dies ist in Teilen der neueren Literatur manchmal zu sehr in den Hintergrund getreten. Gewiss soll nun nicht der Eindruck entstehen, dass der Deutsche Bund gleich wieder zum eigentlichen Sonderweg in die deutsche Moderne erklärt wird. Festgehalten werden muss, dass seine Gründung zunächst einmal eine angemessene Antwort auf die um 1815 vorherrschenden innerdeutschen wie europäischen Probleme war. Der Deutsche Bund wurde lange durchaus als ein wichtiges nationales Band wahrgenommen, seine zusammengesetzte Staatlichkeit schien offen für neue Entwicklungen. Dies zeigten sowohl die einzelstaatlichen Bemühungen um eine Bundesreform als auch die von liberaler Seite seit 1830 immer wieder vorgebrachte Forderung nach Nationalrepräsentation am Bunde, wobei man natürlich nicht den Bund, wie er war, sondern den, wie er werden könnte, vor Augen hatte. So richtig es aber ist, dieses Entwicklungspotential hervorzuheben und vor allem auch die europäische Friedensfunktion des Bundes zu betone, so notwendig bleibt es weiterhin, die vielfältigen Defizite dieser Ordnung zu hinterfragen und nüchtern zu klären, warum der Bund sein Potential am Ende eben nicht aus88

So die Tendenz bei Müller, Bismarck und der Deutsche Bund, S. 11. Hierzu Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495 – 1806, München 1999. 90 Boldt, Bundesstaat, S. 45. 91 Treichel, Einleitung, in: ders. (Bearb.), Quellen, S. CXXXVI.; ferner Dokument 262, S. 1561. 89

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schöpfen konnte und seine Reformversuche zum Ausbau und Festigung dieses Staatenbundes nicht zum Durchbruch gelangten. Dies soll abschließend noch kurz an drei Politikfeldern erläutert werden: der Militärverfassung, der Wirtschaftseinheit und der Haltung des Deutschen Bundes zur nationalen Verfassungsfrage. Die Militärverfassung des Deutschen Bundes gehörte lange Zeit zu jenen Bereichen, die in der Forschung wenig Beachtung gefunden haben. Dabei war der Zustand des Militärwesens schon angesichts des Bundeszwecks – Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit – ein ganz entscheidender Faktor. Folglich kam es im Zuge der Neubewertung des Deutschen Bundes zu zahlreichen Untersuchungen über die Militärverfassung92. In diesen Arbeiten ist deutlich geworden, daß das lange verbreitete Bild von der schwachen staatlichen Potenz des Bundes auf diesem Felde keineswegs der Realität entsprach. Die Verklammerung der deutschen Staaten drückte sich in der bundesrechtlich deklarierten, potentiellen Kriegseinheit der Wehrexekutive am nachhaltigsten aus. Die Bundeskriegsverfassung hatte durchaus eine wichtige integrative Funktion. Auf ihrem Felde setzte der institutionelle Ausbau von Bundeseinrichtungen zu allererst ein. Hier kam es zu deutlichen Einschränkungen einzelstaatlicher Souveränität und damit zu ersten Schritten einer stärker bundesstaatlichen Organisationsform93. Dies galt in besonderem Maße für die Bundesfestungen als einzigen ständigen militärischen Einrichtungen des Bundes. Die Bundesmilitärkommission bildete, allerdings in beschränktem Maße, Vorformen eines Kriegsministeriums aus und war zumindest im Keim ein administratives Dauergerüst des Bundes. Deutsche Staaten berieten nicht nur gemeinsam über ihre Sicherheitspolitik, sie bildeten integrierte Verbände und besaßen gemeinsame Bundesfestungen. Gewiss blieb die Bundeskriegsverfassung mit ihrem nur im Konfliktfall zusammentretenden Bundesheer und dem erst in diesem Fall zu wählenden Oberbefehlshaber hinter den Militärstrukturen ausgebildeter Nationalstaaten zurück. Aber zum einen stellte sie trotz aller Schwächen einen klaren Fortschritt gegenüber der Militärverfassung des Alten Reiches dar. Zum anderen reichte die defensiv angelegte militärische Exekutive wenigstens zunächst einmal aus, um die wichtigste Funktion des Deutschen Bundes – die Bewahrung des europäischen Gleichgewichts – zu gewährleisten. Die 92 Angelow, Von Wien nach Königgrätz; Seier, Der Deutsche Bund als militärisches Sicherheitssystem; ders., Zur Frage der militärischen Exekutive in der Konzeption des Deutschen Bundes, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1986, S. 397 – 445; Keul, Bundesmilitärkommission; Lothar Höbelt, Zur Militärpolitik des Deutschen Bundes. Corpseinteilung und Aufmarschpläne im Vormärz, in: Rumpler (Hrsg.), Deutscher Bund, S. 114 – 135. 93 Die Ausführungen zur Militärverfassung des Deutschen Bundes stützen sich auf eine gerade abgeschlossene Jenaer Dissertation von Frank Becker, Die mecklenburgischen Groherzogtümer und die deutsche Militärverfassung 1815 – 1872, Jena 2003.

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militärische Gewalt des Bundes erstreckte sich zudem nicht nur auf außenpolitische Gegner, sondern konnte auch bei Hilferufen einzelner Regierungen oder unaufgefordert auch bei inneren Unruhen eingesetzt werden. Die Gesamt-Macht Bund war zu Bundesinterventionen im Falle des Beistandswunsches einzelner Staaten und zu Bundesexekutionen gegen bundeswidrig handelnde Staaten berechtigt, und der Bund hat im Gefolge der Julirevolution von 1830 oder der Revolution von 1848/49 davon ja auch mehrfach Gebrauch gemacht94. In der Militärverfassung, besonders auch bei ihren nach innen gerichteten Aufgaben, entwickelte der Deutsche Bund damit Potenzen, die über einen lockeren Staatenbund hinausgingen. Zusammengesetzte Staatlichkeit schien hier im Ansatz zu funktionieren. Damit leistete der Bund zunächst einen wichtigen Beitrag zum Frieden in Europa. Man muß aber feststellen, daß spätestens seit den fünfziger Jahren, als in Europa die Kriege zwischen den Großmächten wieder auf die Tagesordnung kamen, die Zweifel an der nach außen friedensstiftenden Funktion der Bundeskriegsverfassung beträchtlich wuchsen und nicht zuletzt die Defizite im Bereich der deutschen Sicherheitspolitik große Teile des politischen Bürgertums weiter vom deutschen Bund entfremdeten. Dieser Entfremdungsprozess hatte im übrigen schon vor 1848 eingesetzt. Auch hier spielten Zweifel an der äußeren Wehrfähigkeit, die durch die Rheinkrise von 1840 aufgekommen waren, eine gewisse Rolle. Entscheidender war aber zum einen, daß die nach innen gerichtete Machtpolitik des Bundes vor allem auf die Durchsetzung repressiver Bundesbeschlüsse, auf die Sicherstellung der polizeilichen Überwachung oppositioneller Kräfte und damit die Blockade der liberalen und nationalen Kräfte des Bürgertums zielte. Zum anderen wurde, um zum zweiten Punkt der abschließenden Erörterungen zu kommen, dem Deutschen Bund mehr und mehr vorgeworfen, auch die materiellen Bedürfnisse und wohlbegründeten Ansprüche der Nation zu vernachlässigen. Im November 1847 schrieb der preußische General und Politiker von Radowitz: „Das Gefühl hat unsäglichen Schaden getan, hat die Gemüter der Ruhigen erkaltet und abgewandt, die der Heftigen gereizt und erbittert, den Bösartigen aber den wirksamsten Hebel dargeboten, um die Massen mit Verachtung gegen den Bund, mit tiefem Groll gegen seine Glieder zu erfüllen: eine Stimmung, die mit nur zu begründeter Sorge in die nahe Zukunft blicken läßt.“95 Diese zunehmende, Radowitz beängstigende öffentliche Kritik am Deutschen Bund, der „für den positiven Zweck desselben schlechterdings gar nichts“ getan habe96, ging einher mit einer wachsenden Wertschätzung des 94

Vgl. Angelow, Deutscher Bund, S. 50. Josef von Radowitz, Denkschrift über die vom deutschen Bunde zu ergreifenden Maßregeln, Berlin, den 20. November 1847, in: Hans Fenske (Hrsg.), Vormärz und Revolution 1840 – 1849, Darmstadt 1976, S. 246. 96 Ebd. 95

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Deutschen Zollvereins, den Metternich 1833 als kleineren und zugleich gefährlichen Nebenbund im großen Bundesverein bezeichnet hatte97. Dabei war der Zollverein von seiner Verfassung her aus demselben Holze geschnitzt wie der Deutsche Bund. Auch er wahrte zumindest in Bezug auf die Mittelstaaten strikt die Gleichberechtigung der Mitgliedsstaaten, setzte bei allen grundlegenden Entscheidungen über die vom Verein zu regelnden Bereiche das Einstimmigkeitsprinzip aller Vollmitglieder voraus. Der Zollverein war nicht einmal ein ewiger, sondern ein zeitlich zunächst auf acht, dann auf zwölf Jahre beschränkter Zusammenschluß souveräner Staaten, aus dem jeder Gliedstaat wieder austreten konnte. Er besaß keine eigentliche Exekutive, keine eigenen Behörden und kein Parlament98. Und dennoch gewann er nach einigen Anlaufschwierigkeiten gerade in der öffentlichen Meinung sehr schnell ein immer größeres Gewicht. Der Grund lag allein daran, daß der Zollverein das Gefühl vermittelte, zwar nicht alle, aber doch ganz wesentliche Bereiche der materiellen Bedürfnisse der deutschen Nation aufzugreifen und mit seinen gemeinschaftlichen Lösungen zur Überwindung von wirtschaftlichen Krisen beizutragen99. Es war also nicht die Form der Staatenverbindung, sondern die öffentliche Wirkung, die über das jeweilige Ansehen entschied. Gewiß blieb auch der Zollverein, wie der heftige Streit um Schutzzoll- oder Freihandelspolitik und die noch sehr divergierenden innere Wirtschaftspolitik der Gliedstaaten zeigten, noch weit entfernt von einer ökonomischen Steuerungspolitik, wie sie etwa der französische Staat während der Julimonarchie betrieb. Dies hätte im übrigen das Tempo des wirtschaftlichen Wandels in Deutschland wohl eher gebremst als beschleunigt. Der deutsche Föderalismus des 19. Jahrhunderts und die von ihm ausgehende Staatenkonkurrenz dürften letztlich eher wachstumsstimulierend gewirkt haben100. Aber das Entscheidende war eben, daß vom Deutschen Bund für die politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Weiterentwicklung der deutschen Nation um 1845 nach den Erfahrungen mit der Repressionspolitik immer weniger, vom Zollverein dagegen zunehmend mehr zu erwarten schien. Hoffmann von Fallersleben hat dies 1840 in dem Gedicht „Der deutsche Zollverein“ anschaulich zum Ausdruck gebracht, indem er über die nun frei zirkulierenden deutschen Produkte schrieb:

97 Hierzu ausführlich Hans-Werner Hahn, Wirtschaftspolitische Offensive mit deutschlandpolitischem Langzeiteffekt? Der Zollverein von 1934 in preußischer Perspektive, in: Gehler u. a. (hrsg.), Ungleiche Partner, S. 95 – 114. 98 Zur rechtlichen Struktur des Zollvereins vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 282 ff. 99 Zur Bedeutung des Zollvereins für die liberale und nationale Bewegung des Vormärz vgl. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 129 ff. 100 Vgl. Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 1998, S. 76 ff.

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„Und ihr andern deutschen Sachen, Tausend Dank sei euch gebracht! Was kein Geist je konnte machen, Ei, das habet ihr gemacht: Denn ihr habt ein Band gewunden um das deutsche Vaterland, und die Herzen hat verbunden Mehr als unser Bund dies Band.“101

Wenig später schrieb ein Braunschweiger Liberaler, daß der Zollverein nun vorzugsweise die Idee der deutschen Einheit geworden sei und diese sich in seiner Mitte mit immer größerer Kraft entwickeln werde, bis schließlich auch das Ausland unter Deutschland hauptsächlich das Zollverbündete sehen werde. So weit war es, wie etwa Bassermanns Antrag auf Nationalrepräsentation beim Bundestag gerichteter Antrag vom Februar 1848 zeigte, um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht gekommen. Aber auch die Revolution von 1848 unterstrich nach Ansicht eines österreichischen Gesandten allzu deutlich, welch fester Kitt gerade in der Verschmelzung der materiellen Interessen zu finden war. Der Deutsche Bund hatte das Feld der materiellen Interessen trotz des Artikels 19 der Bundesakte und trotz der Sorgen Metternichs frühzeitig preisgegeben. Der Deutsche Bund hat damit die Chancen, die sich auf einem wichtigen Feld für einen kooperativen Föderalismus eröffnet hatten, zunächst einmal nicht genutzt, und er kam dann mit seinen neuen, stark von den Mittelstaaten vorangetriebenen Versuchen gemeinschaftlicher wirtschaftspolitischer Lösungen im Grunde bereits zu spät. Nach 1848/49 konnte Preußen, gestützt auf seine Hegemonie im Zollverein und begünstigt von einer dynamischeren eigenen Wirtschaft, alle konkurrierenden Vorstöße auf ökonomischen Gebiet vergleichsweise leicht parieren102. Die Bewältigung der Aufgaben, die der wirtschaftliche Wandel bis 1871 mit sich brachte, bedurfte noch nicht eines voll ausgebildeten Einheitsstaates. Auch die Ordnungsprinzipien des Deutschen Bundes hätten vermutlich zunächst einmal ausgereicht. Entscheidend für das negative Image war also nicht die Rechtsstruktur des Bundes, sondern seine wirtschaftspolitische Untätigkeit, beziehungsweise Unfähigkeit, die freilich nicht allein mit der Politik, sondern weit mehr mit den inneren Wachstums- und Strukturgefällen zusammenhing. Was den dritten und letzten Bereich, die Haltung des Bundes zur deutschen Verfassungsfrage betrifft, so kann man auch hier zunächst einmal 101 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Ausgewählte Werke in vier Bänden, hrsg. von H. Benzmann, Bd. 2, Leipzig o. J., S. 91 f. 102 Hierzu ausführlich Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit, 2. Aufl. Köln 1972. Gute Einblick in die Wechselwirkungen von wirtschaftlichem Wachstum, sozialen Wandel und innerdeutscher Politik gibt Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850 – 1870. Entscheidung über die Nation, Stuttgart 1999.

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positiv vermerken, dass der Bund durch seine friedensstiftende, föderativ schlichtende Wirkung auf die einzelnen Gliedstaaten den Fortgang von eingeleiteten einzelstaatlichen Reformprozessen ermöglicht hat. Er hat auch durch die mit Artikel 13 letztlich abgesicherte, wenngleich auch durch andere Beschlüsse wieder eingegrenzte konstitutionelle Entwicklung dem politischen Leben zahlreicher Gliedstaaten gewisse Impulse gegeben und damit das weitere Zusammenwachsen der Nation gefördert. Auf der anderen Seite aber – und das wiegt bei einer Gesamtbeurteilung stärker – ließ der Deutsche Bund seine Gesamt-Macht doch in seiner ganzen Geschichte stets dort am stärksten zur Geltung kommen, wo es um die Unterdrückung der liberalen und nationalen Kräfte ging. Zugleich tat er dies auf eine Weise, die wesentlichen föderalen Grundsätzen seiner Gründungskonstellation und seiner eigenen Ordnung widersprachen. Die durch das System der preußischösterreichischen Vorverständigung und Überrumpelung anderer Gliedstaaten durchgesetzten Karlsbader Beschlüsse sind von Huber bekanntlich als „Bundes-Staatsstreich“ bezeichnet worden103. Auch die Repressionsmaßnahmen in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre wurden zunächst außerhalb des Bundestages von den Großmächten auf den Weg gebracht104. Wenn der Bund somit Ansätze einer nationalen Politik entwickelte, so geschah dies lange Zeit überwiegend im negativen, defensiven Sinne zur Bewahrung einer vom monarchischen Prinzip bestimmten Herrschaftsordnung. Der Deutsche Bund behinderte mit der von ihm ausgebildeten Gesamt-Macht auf vielfache Weise nicht nur die Verfassungsentwicklung der deutschen Einzelstaaten, sondern blieb gegenüber der immer mehr an Bedeutung gewinnenden öffentlichen Meinung auch die entscheidenden Antworten auf die drängender werdende Frage nach einer nationalen Repräsentation viel zu lange schuldig. Auch nach der Revolution von 1848/49, in der die großen Hoffnungen der Deutschen auf ein direkt gewähltes nationales Parlament so klar hervorgetreten waren, konnten sich die verschiedenen Bundesreformpläne stets nur zu einer „homöopathisch dosierten Form von nationaler ständischer Vertretung“ durchringen105. Ob die neuen Entwicklungen zu Beginn der sechziger Jahre – die verschiedensten Reformaktivitäten innerhalb des Bundes und das Reformprogramm des Deutschen Fürstentages von 1863 – in dieser Hinsicht noch eine grundlegende Wende hätten bringen können, müsste aufgrund neuer Arbeiten vielleicht noch einmal intensiver diskutiert werden. genauer untersucht werden. Was im Hinblick auf die Nationalrepräsentation aber angeboten wurde, weiterhin eine nur 103

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 735. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 155. 105 Zu den Defiziten eines nur indirekt über die einzelstaatlichen Landtage beschickten Bundesparlaments vgl. jetzt Manfred Botzenhart, Reform des Bundes oder Rückkehr zur alten „Polizei-Anstalt“?, in: Flöter/Wartenberg (Hrsg.), Die Dresdener Konferenz, S. 177 – 191. 104

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indirekt über die Landtage beschickte Vertretung, wurde vom Großteil der öffentlichen Meinung bis hinein in das Lager der liberal-demokratischen Föderalisten als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Der Deutsche Bund zögerte damit in der entscheidenden Frage eines direkt gewählten Parlaments bis zuletzt damit, den Forderungen der liberalen und demokratischen Kräfte entgegenzukommen und ein aus der inneren Nationsbildung erwachsenes zentrales Bedürfnis106 zu akzeptieren. Vermutlich hätte nur ein rechtzeitiges Reagieren auf die seit 1830 wachsenden Forderungen nach einer nationalen Repräsentation einen evolutionären Weg zur zeitgemäßen Lösung der nationalen Verfassungsfrage eröffnen und dem Bund über eine gesamtdeutsche Repräsentation die notwendige Loyalität verschaffen können. Dies ließen die politischen Strukturen, nicht zuletzt die langen inneren Reformblockaden der Habsburger Monarchie, jedoch nicht zu, so dass sich die Zielsetzungen großer Teile der liberalen und nationalen Bewegung nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 nahezu zwangsläufig verschieben mussten. Letztlich war es also weniger die spezifische Staatlichkeit, die eine Entwicklung des Bundes blockierte und damit sein Auseinanderbrechen begünstigte. Die 1815 geschaffene Ordnung bot durchaus Potential zur weiteren Entwicklung und zur Bewältigung der neuen Staatsaufgaben. Sie wurde in dieser Hinsicht aber aus den unterschiedlichsten Gründen und aufgrund der divergierenden Interessen der Gliedstaaten letztlich nicht genutzt. Zu den Gründen zählten die spezifischen Interessen der Habsburger Monarchie, sowohl die Status-quo-Politik Metternichs als auch die Bestrebungen seiner Nachfolger, den Deutschen Bund in erster Linie zur Verbesserung der eigenen Machtposition in Deutschland und Europa zu nutzen. Zu den Gründen für den ausgebliebenen Ausbau zählten ferner die inneren Gegensätze und widersprüchlichen Zielsetzungen der Mittel- und Kleinstaaten, die die Ansätze einer Trias immer wieder schon an der eigenen Unzulänglichkeit scheitern ließen. Zu den Gründen für die innere Blockade des Bundes gehörte dann aber nach 1850 vor allem der immer wirkungsmächtiger werdende preußisch-österreichische Dualismus, in dessen Gefolge die Blockadepolitik Bismarcks endgültig alle Hoffnungen auf eine Bundesreform zunichte machen sollte. Gewiss ging es Bismarck darum, „den Bund zu schwächen, seine Verfassung auszuhöhlen, seine Handlungsunfähigkeit zu demonstrieren und damit den Weg zu ebnen für eine Neugestaltung der deutschen Verhältnisse im Sinne der preußischen Interessen“107. Aber es waren doch die Defizite und Widersprüche der Bundespoli106 Vgl. hierzu Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857 – 1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994. 107 So Müller (Bismarck, S. 34) zu Recht gegen die These von Andreas Kaernbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuität der Politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991.

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tik, die inneren Strukturschwächen und die Enttäuschungen, die der Bund der öffentlichen Meinung immer wieder bereitet hatte, die Bismarck erst die Mittel in die Hand gaben, seine gegen den Bund gerichtete Politik überhaupt betreiben zu können. Bismarck hatte erkannt, dass die seit der Mitte des Jahrhunderts sich rapide beschleunigenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen108 eine Dynamik entfaltet hatten, die auch politisch neue Wege erforderlich machte. Der Deutsche Bund blieb dagegen aufgrund seiner Strukturen wie seiner bisherigen Entwicklung trotz aller Reformtendenzen doch viel zu sehr einer Status-quo-Politik verhaftet, die der neuen Dynamik nicht mehr gerecht zu werden schien. Eine zügige Reform des Bundes wurde zwar auch durch das ungleiche wirtschaftliche Wachstum und die regionalen Unterschiede in Sozialstruktur und Mentalität behindert. Entscheidend aber war, dass es dem Bund nach seiner hoffnungsvollen Frühgeschichte nie gelang, eine politische Kultur auszubilden, an welche die neue öffentliche Meinung hätte anknüpfen können. Wenn er – wie Rechberg 1815 schrieb – auch Ausdruck einer „allgemein ausgesprochenen Nationalität“ sein sollte109, hätte dies auch offensiv und dauerhaft vertreten werden müssen, um wirksam zu werden. Der Deutsche Bund bildete aber kaum eigene Identität aus, durch die die Loyalität der Beherrschten gestärkt worden wäre. Als er sich endlich anschickte, Reformen zu machen, war das Vertrauen in seine Reformfähigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung längst geschwunden. Das Alte Reich hatte vom Reichspatriotismus und von der Wertschätzung seiner Gerichte als Garanten von Recht und Freiheit profitiert. Das neue Reich von 1871 stützte sich nicht nur auf militärische Erfolge, sondern fand auch durch sein umfassendes, von einem nationalen Parlament mitgetragenen Reformwerk und durch die auf der Reichsebene gegebenen politischen Partizipationschancen auf eine wachsende Loyalität der Bürger. Der Deutsche Bund aber bot in einer Zeit, in der die öffentliche Meinung für die Beziehungen von Herrschenden und Beherrschten immer wichtiger wurde, im Grunde nichts Vergleichbares. Auch das Fehlen einer obersten Gerichtsbarkeit erwies sich hier als großes Defizit. Während im Alten Reich Bauern vor dem Reichkammergericht und dem Reichshofrat für ihr Recht streiten konnten, stützte der Deutsche Bundestag im Vormärz die Mediatisierten in ihrer Blockade der Bauernbefreiung110 und leistete damit 1830 wie 1848 einer gewalttätigen Konfliktaustragung Vorschub, die teilweise wieder an den Bauernkrieg erinnerte. 108 Hierzu jetzt Friedrich Lenger, Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung (1849 – 1870er Jahre). Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, 10., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2002. 109 Treichel (Bearb.), Die Entstehung des Deutschen Bundes, S. 1536. 110 Vgl. Elisabeth Fehrenbach, Das Erbe der Rheinbundzeit: Macht- und Privilegienschwund des badischen Adels zwischen Restauration und Vormärz, in: Archiv für Sozialgeschichte 23, 1983, S. 99 – 122.

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Der Deutsche Bund war also nicht eine von Anfang an zukunftslose Vorstufe eines deutschen Einheitsstaats. Zur föderativen Alternative zu 1871 hätte er allenfalls werden können, wenn er rechtzeitig die Chancen einer inneren Fortentwicklung ergriffen hätte. Aber selbst dann wäre es fraglich gewesen, ob das in ihm angelegte System auf Dauer die nötige Stabilität und Integrationskraft gehabt hätte, um die Ansprüche einer Gesellschaft zu befriedigen, die sich keiner der Bundesgründer 1815 in dieser Form hätte vorstellen können111. Eine solche Feststellung bedeutet nicht, den preußisch-kleindeutschen Weg im Sinne der älteren Nationalgeschichte zu legitimieren und in die alte Kritik am Deutschen Bund zurückzufallen. Die intensivere Beschäftigung mit den rechtlichen und politischen Strukturen des Deutschen Bundes ist notwendig und kann neue Einsichten in die komplexen Strukturen des 19. Jahrhunderts eröffnen. Wer aber die spezifische Form der Staatlichkeit des Deutschen Bundes heute als ein Beispiel für postnationale Strukturen präsentiert, der muss aber auch die Negativbilanz dieser Ordnung, die bis 1860 anhaltende Repressionspolitik, die Defizite im Bereich der politischen Partizipation und die lange Untätigkeit bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Aufgaben in ausreichendem Maße einbeziehen.

111 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 791. Ähnlich skeptisch Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Bd.: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914, München 1995, S. 332.

Die Verfassung des Staates der Böhmischen Krone Von Karel Maly´, Praha

Dem rechtlichen Charakter des Staates der Böhmischen Krone und seiner Verfassung wurde in der Vergangenheit in der tschechischen sowie auch der österreichischen und deutschen Fachliteratur eine bedeutende Aufmerksamkeit gewidmet. In den zusammenfassenden Werken und den speziellen Beiträgen über die Böhmische Krone können wir eine ganze Reihe Abhandlungen über ihre gemeinsame Verfassung ebenso wie über die Verfassungen ihrer Länder vorfinden. Untersucht wurden ihre politische und verfassungsrechtliche Entwicklung, ihre gegenseitigen Verbindungen und das Schicksal der Länder der Krone nach deren Verfall. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass der Hauptgrund dieses Interesses in der besonderen geographischen Lage der böhmischen Länder in Mitteleuropa und der Nachbarschaft mit den Ländern, die einst das Heilige Römische Reich deutscher Nation bildeten, ebenso wie mit zwei weiteren einst mächtigen mittelalterlichen Großmächten – der Krone Polens und Ungarns – bestanden hat und auch heute noch besteht. Eine Rolle spielte hier ebenfalls die Tatsache, dass im böhmischen Territorium drei große Versuche der Bildung einer mitteleuropäischen dynastischen Großmacht – der Przemysliden, Luxemburger und Habsburger, entstanden sind, von welchen der letzte noch die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert überdauerte. Trotz dieser umfangreichen Literatur stellt der Versuch einer Analyse der Verfassung des Staates der Böhmischen Krone eine schwierige Aufgabe dar, um so schwieriger, wenn sie nur im Umfang eines Konferenzbeitrages erfüllt werden soll. Im böhmischen Staat ist darüber hinaus, in den langen Jahrhunderten seiner Existenz vom Mittelalter bis in die Neuzeit, eine komplizierte territoriale, aber auch juristische und politische Entwicklung verlaufen. Es handelte sich nie um einen ethnisch (national und sprachlich) homogenen Staat, um eine in der verfassungsrechtlichen Form der einzelnen Bestandteile einheitliche Gesamtheit. Er setzte sich aus Staaten und Ländern zusammen, die durch die die Unteilbarkeit des Staates sichernde Inkorporationsakte sowie durch die die Beziehungen zwischen Senior und Vasall regelnden Lehnsverhältnisse verbunden waren. Es war aber auch ein Staat, der sich gegen Teilungsversuche wehren musste und dessen Teile zum Gegenstand internationaler Vereinbarungen wurden, die zu ihrem definiti-

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ven Verlust führten. Der Staat der Böhmischen Krone wurde aber auch gerade zur Zeit seines größten Verfalles und der Lahmlegung seiner Verfassungsfunktionen zu einem bedeutenden Symbol der Staatlichkeit, um deren Erfüllung und Realisation sich die tschechischen Politiker seit dem Zerfall des Absolutismus bemühten. Ich würde deshalb gerne Ihre Aufmerksamkeit auf folgende Fragen lenken, die meines Erachtens für die Darstellung des Themas die wesentlichsten sind: 1. Die Geburt des Staates der Böhmischen Krone, seine Rechtsgrundlage und Existenz, bis zu seinem Untergang zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 2. Der Charakter der einzelnen Bestandteile der Böhmischen Krone und ihre Verfassung. 3. Die Böhmische Krone im politischen Programm der Tschechen im 19. u. 20. Jahrhundert. 1. Die Bezeichnung Böhmische Krone, „Corona regni bohemiae“, ist im przemyslidischen und später luxemburgischen böhmischen Reich entstanden.1 Zum erstenmal können wir diese Bezeichnung in der Inkorporationsurkunde von Görlitz aus dem Jahre 1329 vorfinden,2 und sie wurde dann auch weiter, bis zum Ende der Habsburger Monarchie, d. h. bis in das 20. Jahrhundert angewendet. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese Bezeichnung, besonders in der Periode des Absolutismus, oft durch den Begriff „Unsere Böhmischen Erblande“ ersetzt wurde, denn auch in dieser Periode wurde in internationalen Verträgen, staatsrechtlichen Akten und Lehnsbriefen konsequent der Begriff „Böhmische Krone“ verwendet.3 Zur territorialen Grundlage des Staates der Böhmischen Krone wurde das Königreich Böhmen, hinzu kamen das Markgrafentum Mähren mit dem Bistum Olmütz, das Fürstentum Oppeln, die schlesischen Fürstentümer, die Marken Görlitz und Bautzen und die Niederlausitz. Und es war Böhmen, respektiv das Böhmische Königreich, in politischem und wirtschaftlichem 1 Zu dieser Problematik vgl. bes.: Corona regni, Studien über die Krone als Symbol des Staates im späteren Mittelalter, Ed. Manfred Hellmann, Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, 1961. Zur böhmischen Problematik siehe: Alexander V. Soloviev, Corona regni. Die Entwicklung der Idee des Staates in den Slawischen Monarchien, S. 156, Joachim Prochno, Terra Bohemiae, Regnum Bohemiae, Corona Bohemiae, S. 198, Josef Karpat, Die Idee der heiligen Krone Ungarns in neuem Lichte, bes. S. 232 – 234. 2 Vgl. J. Kapras, Právní de ˇ jiny zemí Koruny cˇeské (Rechtsgeschichte der Länder der Böhmischen Krone), Teil II, Praha 1913), S. 115 ff.; V. Vaneˇcˇek machte in einer Bemerkung des Herausgebers Josef Karpat zu seinem Artikel K dejinám pojmu Corona regni vo Francúzsku a Anglicku (Zur Geschichte des Begriffes Corona regni in Frankreich u. England), Miscellanea historico-iuridica, Praha 1940, S. 92, aufmerksam, dass Beweise über die Anwendung des Begriffes „Krone“ schon aus der 2. Hälfte des 12. Jh. bestehen. Vaneˇcˇek wies auch darauf hin, daß schon im 12. u. 13. Jh. in Böhmen beide Begriffe „corona“ u. „mensa“ benützt wurden. ˇ eské státní právo (Böhmisches Staatsrecht), Praha 1892, S. 69. 3 Josef Kalousek, C

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Sinne das bedeutendste Land, welches dieser Gesamtheit den Namen gab. In vielen Quellen wurde außerdem die Bezeichnung Böhmische Krone auch nur für das Böhmische Königreich selbst, und umgekehrt für die Böhmische Krone der Begriff Böhmisches Königreich verwendet.4 Zur ersten Grundlage dieser staatsrechtlichen Gesamtheit wurden die Inkorporationsakte Karls IV. aus den Jahren 1348 und 1355, die von ihm nicht nur als böhmischem König, sondern im Jahre 1348 als römischem König und im Jahre 1355 als römischem Kaiser erlassen wurden.5 Laut Karls Urkunden vom 28. Mai und 29. Juni 1374 gehörte auch die Mark Brandenburg bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts zur Böhmischen Krone. Einen Bestandteil der Krone bildeten ebenfalls die sogenannten ausländischen Lehen, die besonders in Meißen, in der Oberpfalz, im Vogtland und in Franken lagen. Zum ideellen Band und einer symbolischen Verkörperung des Staates wurde die Krone des Heiligen Wenzel, das Kleinod der böhmischen Könige. Die dem Schutzherrn Böhmens aus dem Stamme der Przemysliden Wenzel gewidmete Krone ließ König Karl IV. verfertigen und stellte sie, durch die von ihm bei Papst Klemens VI. erbetene und von diesem am 6. Mai 1346 in Avignon ausgestellte besondere Bulle, unter den Schutz der Kirche. Nach den Hussitenkriegen erneuerte König Georg von Podeˇbrad am 13. 1. 1464 durch ein besonderes Gesetz die Vereinigung des Markgrafentums Mähren mit dem Königreich Böhmen. Nach der tatsächlichen Teilung der Krone, zwischen König Mathias Corvinus von Ungarn und dem böhmischen König Wladislaus II. (Jagiellone) und ihrer Wiedervereinigung nach dem Tode des ungarischen Königs, erließen Wladislaus Jagiello und nach ihm auch sein Sohn Ludwig, besondere Majestätsurkunden vom 11. Januar 1510 und 29. Oktober 1522 über die Unteilbarkeit der Krone. König Ferdinand I. erteilte den böhmischen Ständen ebenfalls eine besondere Urkunde, in welcher er sich verpflichtete, die staatsrechtliche Einheit der Krone zu verteidigen. Diese territoriale Grundlage der Böhmischen Krone wurde im Verlauf der Geschichte nicht mehr erweitert, sondern im Gegenteil nach und nach beschnitten und verkleinert. Die Lausitz wurde im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges an den sächsischen Kurfürsten (1620) verpfändet, kam später in seinen Pfandbesitz (1623) und wurde dann im Prager Frieden 1635 als Erblehn an ihn abgetreten. Der größere Teil Schlesiens fiel im Breslauer Frieden (1742) Preußen 4 Über die geographische u. politische Bedeutung des Begriffes Corona regni Bohemiae vgl. J. Karpat, Corona Regni Hungarie, S. 234, wo er sich bes. auf Bohumil Baˇ eskoslovenské (Die Geschichte des Rechts im xa, Deˇjiny práva na území republiky C Gebiet der Tschsl. Rep.), J. Kapras, o.c. u. Rudolf Rauscher, Deˇjiny verˇejného práva ve strˇední Evropeˇ (Geschichte des öffentlichen Rechts in Mitteleuropa) beruft. 5 Vgl. J. Kalousek, o.c., S. 71 ff.

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zu.6 Die Böhmische Krone hat so die Grafschaft Glatz, ganz Schlesien außer Teschen, Oppeln, Jägerndorf und einen Teil von Neiße verloren. Die ausländischen Lehen blieben bis zu den Purifikationsbestimmungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Bestandteil der Böhmischen Krone.7 Die Böhmische Krone war aber kein ideeller oder nur juristischer Begriff, ohne realistischen Inhalt. Wie wir noch in den Ausführungen über ihre Verfassungsartikel nachweisen werden, handelte es sich um ein staatliches Subjekt, welches die Staatssubjektivität nicht nur in innerstaatlichen, sondern auch in internationalen Rechtsbeziehungen repräsentierte. Die Krone war, wie es Jan Kapras, Professor der Prager tschechischen Juristenfakultät im Jahre 1913 formulierte eine „. . . unio terrarum regni Bohemie“, in welcher ihre „Glieder eigene Verfassungen haben“.8 Das große Zentralisationswerk der Habsburger im 18. und 19. Jahrhundert, welches in seinen Konsequenzen die Grundlagen erschütterte, auf denen die Monarchie Habsburg entstanden und erwachsen war, erschütterte auch die Existenz und die Funktion der staatsrechtlichen Gesamtheit der Böhmischen Krone. Als folgenschwerste Maßnahme wird in der Regel die Auflösung des selbständigen Amtes der Böhmischen königlichen Hofkanzlei im Jahre 1749 – gewissermaßen eines Ministeriums für die Länder der Böhmischen Krone – und danach die Annahme des erblichen Kaisertitels von Österreich durch Franz II. im Jahre 1804 betrachtet. Obwohl die Länder der Böhmischen Krone im weiteren nur als Provinzen des zentralisierten Reiches betrachtet wurden, kam es aber nie zu einer rechtsmäßigen Liquidation oder einer ausgesprochenen Aufhebung der staatsrechtlichen Akte, auf welchen sie einst aufgebaut worden waren. Die Idee der Böhmischen Krone wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Bestandteil des politischen Kampfes um eine Konkretisierung der tschechischen staatsrechtlichen Ansprüche gegenüber der Monarchie, der dann am Ende des 1. Weltkrieges seinen Höhepunkt erreichte. Am 28. Oktober 1918 veröffentlichte der Volksausschuss in Prag als Organ der Gesetzgebung und der Exekutive des neuen tschechoslowakischen Staates eine Erklärung, in welcher außer anderem angeführt wurde, dass sich mit der Gründung des neuen Staates ein ewiger Traum des tschechischen Volkes von einem selbständischen Staat erfüllt hat.9 Und doch wurde para6 Vgl. hierzu den Beschluß des böhmischen Landtages vom 16.7.1743, welcher Art. XI u. XII des Vertrages zwischen Maria Theresia und dem König von Preußen vom 28.7.1742 zustimmte. Original des Vertrages siehe Zentralstaatsarchiv Praha, Archivfond der Böhmischen Krone, Inv.-Nr. 2497. 7 Siehe die Purifikationsbestimmungen des Preßburger Friedens von 1805 u. des Wiener Kongresses 1815. 8 J. Kapras, o.c., S. 116. 9 „Tschechoslowakisches Volk! Dein ewiger Traum wurde zur Tatsache. Der tschechoslowakische Staat ist heurigen Tages in die Reihen der selbständigen, freien, kulturellen Staaten der Welt eingetreten . . .“

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doxerweise gerade in diesem Augenblick die jahrhundertealte Kontinuität der böhmischen Staatlichkeit unterbrochen oder erhielt, besser gesagt, eine andere Gestalt. Der neu entstandene Staat ist nicht nur auf die Traditionen der böhmischen Staatlichkeit gegründet worden und ging auch nicht nur aus den Traditionen des „böhmischen historischen Rechts“ hervor, wie das zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von tschechischen Politikern formulierte Programm genannt wurde, sondern umfasste auch die Slowakei und später ebenfalls Karpatorußland und zwar auf der Basis des proklamierten Selbstbestimmungsrechts, also im Grundsatz auf der Basis des Naturrechts. Das definitive Ende des Staates der Böhmischen Krone im juristischen Sinne des Wortes brachte dann die Verfassung der Tschechoslowakischen Republik vom 29. Februar 1920, Nummer 121 der Gesetzsammlung. Das Einführungsgesetz zur Verfassung hob alle Rechtsnormen auf, die mit der Verfassung und dem demokratischen und parlamentarischen Charakter des neuen Staates im Widerspruch standen.10 Im Bericht der Motive des Verfassungsausschusses wird im Kommentar zu dieser derogativen Formulierung ausdrücklich angeführt, dass diese allgemeine Form besonders deshalb gewählt wurde, weil bei einer taxativen Aufzählung der Normen „die Gefahr drohte, dass manche Gesetze übersehen werden“.11 2. Ich habe schon in der Einführung meines Beitrages angedeutet, dass der verfassungsrechtliche Charakter der einzelnen Teile der Böhmischen Krone unterschiedlich war. Die Grundlage und das Band der Krone bildetete das Königreich Böhmen. So nannte sich das Familienpatrimonium der Dynastie der Przemysliden seit der definitiven Erteilung des erblichen Königstitels im Jahre 1198 an Przemysl I. Nachdem im Jahre 1306 die Przemysliden in der Schwertlinie ausgestorben waren, wurde er zur Wahlmonarchie, in welcher die böhmischen Magnaten das Recht erhielten den König zu wählen. Dieser Grundzug der böhmischen Verfassung wurde durch eine Reihe bedeutender Rechtsakte im Laufe der Geschichte ausdrücklich bestätigt, und zwar beginnend mit der Goldenen Bulle von Sizilien Friedrichs II. von 1212 und der 10 Vgl. Einführungsgesetz zur Verfassung der Tschsl. Rep. Nr. 121/1920 G.S. vom 29.2.1920, Art. IX „Mit dem in Abs. 1 Artikel VIII bestimmten Tage, verlieren alle Bestimmung, welche dieser Verfassung und der republikanischen Staatsform widersprechen, weiter alle vorhergehenden Verfassungsgesetze, auch dann wenn ihre Einzelbestimmungen nicht in direktem Widerspruch zur Verfassung der Tschechoslovakischen Republik stehen, ihre Gültigkeit.“ 11 In der Regierungsvorlage sollten die Gesetze aufgezählt werden, die laut Verfassung ihre Gültigkeit verlieren sollten. Das Bedenken, dass auch bei der besten Auswahl der Gesetze dieses Verzeichnis, besonders auch der ungarischen Gesetze unvollständig bleiben könnte, führte zur Formulierung des Art. IX: „Die Verfassungsurkunde ist das Grundgesetz unserer Republik, alle durch sie geregelten Rechtszweige regelt sie ausschließlich und sie darf, auch wenn Lücken bestehen würden, durch Verfassungsgesetze der ehemaligen Monarchie Österreich nicht ergänzt werden.“

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Konfirmation dieses Privilegiums Friedrichs durch Karl IV. als römischem König am 7. April 1348, in welcher das Recht der freien Wahl des böhmischen Königs „. . . den Prälaten, Herzögen, Fürsten, Herren, Rittern und der ganzen Gemeinde des böhmischen Königsreiches und seiner Zuständigkeit“ erteilt wird.12 Ebenso gab die Goldene Bulle Karls IV. von 1356, in ihren Bestimmungen über die Nachfolgerschaft in den weltlichen Kurfürstentümern, nur den Ständen des Königreichs Böhmen das Recht, im Falle des Aussterbens der Dynastie den neuen König zu wählen.13 Diese Ausnahme dauerte bis zum Jahre 1627, das heißt bis zur Erneuerten Landesordnung Ferdinands II., welche zwar das Recht der Stände bestätigte, beim Aussterben der Dynastie Habsburg oder einer Abdikation oder Regierungsunfähigkeit des Königs einen neuen Herrscher zu wählen; die politischen Rechte der Stände, die mit der Königskrönung verbunden waren, änderten sich aber grundlegend, denn die bisherigen Prinzipien der Annahme des neuen Herrschers aus der regierenden Dynastie und die Forderung von Wahlkapitulationen, welche den Ständen die Erhaltung der Unantastbarkeit ihrer Rechte sicherten, wurden aufgehoben. Hier kann die Frage gestellt werden, ob diese Entwicklung eine Umwandlung des böhmischen Königreiches (und wie wir nachweisen werden, auch der Böhmischen Krone) von einer Wahlmonarchie, in welcher die Dynastie nur ein einstweiliger Nutznießer und Vollzieher der Funktion des Staatsoberhauptes ist, in eine patrimoniale Monarchie bedeutet, in welcher die Dynastie allein als Eigentümer des Staates auftritt. Es besteht meines Erachtens kein Zweifel daran, dass in diesem Sinne besonders die Ständemonarchie, mit ihrer Auffassung der Stände und „des Landes“ als Selbstverwaltungskorporationen mit Rechtssubjektivität, die Auffassung der Monarchie als einer Wahlmonarchie stärkte, in welcher die Stände als Partner der Dynastie auftreten. Aber die Entwicklung nach der Schlacht am Weißen Berg brachte in Politik und Verfassungspraxis eine Unterdrückung dieses Ständeprinzips. Die Stände wurden nun zu Untertanen ihres Königs, ohne Recht auf selbständige Politik oder gesetzgebende Initiativen. Die tschechische Literatur des 19. Jahrhunderts ging in der Bestrebung, die Rechtskontinuität der böhmischen Staatlichkeit zu verteidigen, von der juristisch belegbaren Behauptung aus, dass die Erneuerte Landesordnung als Vereinbarung zwischen der böhmischen politischen Nation und der Dynastie entstanden ist und somit die Einhaltung der in ihr enthaltenen Verpflichtungen erfordert. Aus der Machtausübung, respektive der Ausführung der Kompetenzen der Organe der Böhmischen Krone folgerte sie dann, mit Berufung auf Hugo Grotius, die Existenz des Böhmischen 12 13

Vgl. J. Kalousek, o.c., S. 171, Anm. Nr. 1. Vgl. ebd., S. 35.

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Staates „. . . in welchem das Herrscherhaus einstweiliger Nutznießer, das Volk selbst aber ewiger Eigentümer und ständiger Mitbesitzer ist.“14 Die einzelnen, als inkorporiert bezeichneten Länder der Böhmischen Krone hatten ähnlich wie das böhmische Königreich ihre eigenen Landesorgane, und ihr Verhältnis zur Krone, überwiegend vermittelt durch den gemeinsamen Herrscher, d. h. den König von Böhmen, unterlag erheblichen Änderungen. Ursprünglich hatten die einzelnen Länder ihre Fürsten, die in Abhängigkeit vom böhmischen König die Landesverwaltung ausführten. Das gilt für Mähren, wo ursprünglich die przemyslidischen Teilfürsten und dann die Markgrafen regierten, aber auch für die Herrschaft des Bischofs von Olmütz, der Lehnsmann des Königs war. Dasselbe gilt auch für das Fürstentum Oppeln und die schlesischen Fürstentümer, die sich ursprünglich im Besitz des Hauses der Piasten befanden und die in ihren Fürstentümern souverän regierten, aber später dem böhmischen König lehnspflichtig wurden. Gleichzeitig bindet die Fürsten der Nebenländer, außer dem König, auch die Abhängigkeit von der Böhmischen Krone: „Die Nebenländer gehören ad iurisdictionem et directum dominium et regnum coronae regni Bohemiae“.15 Schrittweise, so wie die schlesischen Fürstentümer durch Kaduzität (Heimfall) auf die Böhmische Krone übergingen und wie sich in der Ständeperiode des 15. und 16. Jahrhunderts auch in den Nebenländern der Einfluss der Ständegemeinde verstärkt, regiert der böhmische König in diesen Ländern mittels seiner Beamten – den Landeshauptmännern oder Vögten. Es kann an dieser Stelle vielleicht noch erwähnt werden, dass kurzfristig zu den Ländern der Böhmischen Krone – und zwar laut Bestimmung Karls IV. untrennbar – auch Brandenburg und Luxemburg gehörten. Der böhmische Staat hatte, ähnlich wie auch die anderen Nebenländer der Krone, seine selbständigen Landesämter, seine Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Einige Ämter und einige ihrer Kompetenzen überschritten aber die Grenzen des böhmischen Königreiches und bezogen sich auf die ganze Krone. Mit anderen Worten, sie waren gemeinsame Organe und Grundlage einer gemeinsamen Exekutive. Wenn wir jetzt versuchen, in Kürze die gemeinsamen Organe und Institutionen anzuführen, welche die Verbindungen zwischen den Ländern der Krone herstellten und die Grundlage ihrer Verfassung bildeten, können wir sagen: a) An erster Stelle ist die Person des Herrschers anzuführen, der in Böhmen als König auftrat, seit dem 15. Jahrhundert. in Mähren als Markgraf und in Schlesien als schlesischer Herzog. Das Recht seiner Wahl hatten alle Kronländer, sie wurde aber mitunter nur vom böhmischen Landtag aus14 15

Vgl. ebd., S. 167. J. Kapras, o.c., S. 197.

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geführt, und die Stände der restlichen Länder schlossen sich dieser Wahl an, wobei sie offiziell den neuen Herrscher annehmen mussten. Bei ihrer Absenz an der Königswahl forderten sie aber öfters die Erteilung eines Reverses, dass dieses Versäumnis bei der nächsten Wahl nicht zu ihrem Schaden führen solle. b) Das zweite wichtige gemeinsame Organ der Böhmischen Krone war die Böhmische königliche Kanzlei, seit Rudolf II., der die Reichs- und königlichen Organe nach Prag überführte, die Böhmische königliche Hofkanzlei. An der Spitze dieser Kanzlei stand der Oberste Kanzler des Königreiches Böhmen, also einer der zwölf Landesbeamten (Minister). Dieser ursprünglich für den Inhalt der königlichen Urkunden verantwortliche (königliche) Hofbeamte – Notar –, wurde in der Ständeperiode zu einem der wichtigsten Beamten im Staate. Ohne seine Kontrasignatur war jede königliche Urkunde ungültig und sein Amt wurde nach und nach fast zu einem Regierungssitz, nicht nur für Böhmen, sondern für alle Länder der Krone. Nach dem Jahre 1620 wurde dieses Amt zwar ganz vom Herrscher abhängig, es erhielt aber gleichzeitig weitere Befugnisse und zwar besonders in der Verwaltung und Gerichtsbarkeit – im Grundsatz war es das höchste Gerichts- und Revisionsorgan. Infolge der Reform Maria Theresias im Jahre 1749 wurde die selbständige böhmische Kanzlei in das Directorium in publico – publicis et cameralibus eingegliedert. Im Jahre 1762 erhielt dann dieses Gebilde den Namen Vereinigte böhmisch-österreichische Hofkanzlei (Vereinigte Hofstelle). c) Ein weiteres wichtiges gemeinsames Organ der Böhmischen Krone war der Generallandtag. Seine Anfänge können wir schon in den gemeinsamen Hoftagen der böhmischen und mährischen Herren in der Periode der Przemysliden vorfinden. Seine Entfaltung und rechtliche Verankerung fällt in das 14. Jahrhundert. Bedeutend ist in dieser Richtung der 1341 von Johannes von Luxemburg einberufene Generallandtag in Domazˇlic, dessen Zweck es war, Karls Thronfolge zu sichern. In der folgenden Entwicklung ist der von Karl IV. 1355 einberufene Generallandtag am wesentlichsten. In einem besonderen Privilegium verankerte hier der König die Befugnisse des Landtages nicht nur im Hinblick auf die Königswahl, sondern auch in allen Angelegenheiten, welche die Würde und den Zustand des böhmischen Königreiches betreffen.16 Die Generallandtage wurden besonders in der Ständemonarchie zu einem bedeutenden Bestandteil der Ständeverfassung, und sie erreichten im Ständeaufstand, besonders dann in der Ständeverfassung der Böhmischen Konföderation von 1619 ihren Höhepunkt.17 16

J. Kalousek, o.c., S. 74 n. 129. Siehe ebenfalls V. Vanècˇek, Trois catégories d’Assembées d’état dans la Couronne de Bohéme du XVIe siécle. In: Album Helen Maud Cam 1, Louvain-Paris 1960, S. 203 – 217. 17

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Für den nach der Schlacht am Weißen Berg entstandenen Absolutismus waren die Generallandtage zweifellos politisch nicht mehr akzeptabel, da ihre gesamten Kompetenzen vom Herrscher übernommen wurden. Interessant ist aber in dieser Hinsicht die Initiative der Ständekommission, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts (1710 bis 1723) eine Revision der Erneuerten Landesordnung vorbereitete und zweifellos das Ziel verfolgte, diese Institution zu beleben und zu erneuern.18 Das nicht realisierte Elaborat dieser Kommission ging aus den damals noch gültigen Gesetzen Karls IV. hervor, d. h. es unterscheidet Landtage und allgemeine Landtage oder partikulare und allgemeine, die von den einzelnen inkorporierten Ländern beschickt werden müssen. Als eine Fortsetzung der Generallandtage betrachtete dann die Kommission die Teilnahme der Gesandten der einzelnen Länder an der Krönung der Herrscher des Hauses Habsburg zu Königen von Böhmen.19 d) Auch die Hauptmannschaft über die deutschen Lehen stellte ein bedeutendes Organ des böhmischen Staates dar. Zu den Befugnissen dieses Amtes gehörte die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit über die Lehen der Böhmischen Krone, in den s. g. äußeren Kreisen (Egerland, Asch und die Lehen auf deutschem Gebiet). So wie andere ständische Ämter ist auch dieses im Dreißigjärigen Krieg aufgelöst worden, und Ferdinand III. übertrug mit einem Reskript von 1651 die Befugnisse des Amtes auf das Appellationsgericht (Rat über die Appellation) mit Sitz auf der Prager Burg. e) Das Appellationsgericht war ein weiteres wichtiges gemeinsames Organ der Böhmischen Krone. Es war in der Zeit des Kampfes Ferdinands I. mit den böhmischen Ständen als ein Organ entstanden,20 dessen Aufgabe es war, über die Berufungen gegen Urteile der Stadtgerichte zu entscheiden und sie zu beaufsichtigen. Nach der Schlacht am Weißen Berg wurde das Appellationsgericht zu einer ordentlichen zweiten Instanz für alle Gerichte der Böhmischen Krone – für Mähren laut Patent vom 7.6.1697, für Schlesien vom 4.10.1674 erhoben. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde seine Tätigkeit wieder nur auf die Gerichte des Böhmischen Königreiches eingeschränkt, indem 1752 Mähren und 1782 auch Schlesien aus seiner Kompetenz ausgeschlossen wurden. f) Die Böhmische Krone kannte aber noch eine weitere Institution, die in ihrem Wesen und in ihrer Bedeutung an die moderne Zeit erinnert. Es ˇ echách na 18 Hierzu: Valentin Urfus, K pokusu o revizi zemského z