Remotivierung: Von der Morphologie bis zur Pragmatik 9783111031170, 9783111030630

In this volume, researchers in German linguistics examine remotivation processes in German in the fields of morphology,

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Remotivierung: Von der Morphologie bis zur Pragmatik
 9783111031170, 9783111030630

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil 1: Theorie der Remotivierung
Zur Ontologie und Genealogie von Remotivierungsprozessen
Der Status und die interne Motiviertheit grammatischer Paradigmen
Teil 2: Remotivierung – morphologisch
Remotivierung und Wortbildung
Mailand, Seeland, Hiddensee und Küssnacht
Explikativkomposition Explikativkomposition
Teil 3: Remotivierung – phraseologisch
De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten
Teil 4: Remotivierung – von der Grammatik zur Pragmatik
„Die Universität ist nicht nur Studienstätte, sondern auch Arbeitgeberin“
Teil 5: Remotivierung – pragmatisch
Remotivieren als Perspektivwechsel bei Bedeutungszuschreibungen
Memefication
„This one-man midfield blitzkrieg“
Index

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Remotivierung

Linguistik – Impulse & Tendenzen

Herausgegeben von Susanne Günthner, Wolf-Andreas Liebert und Thorsten Roelcke Mitbegründet von Klaus-Peter Konerding

Band 105

Remotivierung

Von der Morphologie bis zur Pragmatik Herausgegeben von Igor Trost

ISBN 978-3-11-103063-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-103117-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-103140-8 ISSN 1612-8702 Library of Congress Control Number: 2023931191 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Marcus Lindström/istockphoto Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Igor Trost Einleitung

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Teil 1: Theorie der Remotivierung Michail L. Kotin Zur Ontologie und Genealogie von Remotivierungsprozessen

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Gabriele Diewald Der Status und die interne Motiviertheit grammatischer Paradigmen

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Teil 2: Remotivierung – morphologisch Sascha Michel Remotivierung und Wortbildung Strukturell-morphologische, semantische und angewandt-linguistische 65 Analysen am Beispiel der sogenannten „Konfixremotivierung“ Damaris Nübling Mailand, Seeland, Hiddensee und Küssnacht Asemantische Transparenz als Ziel onymischer Volksetymologie Christian Lehmann Explikativkomposition

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Teil 3: Remotivierung – phraseologisch Sören Stumpf De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten Korpuslinguistische und kognitivsemantische Zugänge 143

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Inhalt

Teil 4: Remotivierung – von der Grammatik zur Pragmatik Renata Szczepaniak „Die Universität ist nicht nur Studienstätte, sondern auch Arbeitgeberin“ Zur Rekontextualisierung des in-Suffixes 169

Teil 5: Remotivierung – pragmatisch Gerd Antos Remotivieren als Perspektivwechsel bei Bedeutungszuschreibungen 199 Wie sich Wörter durch Wahrnehmungsänderungen wandeln Simon Meier-Vieracker Memefication Rekontextualisierung politischer Rede in digitalen Diskursen Torsten Leuschner „This one-man midfield blitzkrieg“ Wortentlehnung als Dekontextualisierung Index

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Einleitung 1 Remotivierung – Von der Morphologie bis zur Pragmatik Der vorliegende Band Remotivierung – Von der Morphologie bis zur Pragmatik ging aus den Beiträgen der gleichnamigen Projekttagung im Rahmen des von Rüdiger Harnisch geleiteten DFG-Projekts Typologie und Theorie der Remotivierung hervor. Die Aufsätze in diesem Band setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Sie behandeln die Remotivierungsprozesse auf den Gebieten der Morphologie, der Wortbildung, der Phraseologie sowie der Pragmatik und möchten deren theoretische Einordnung im Rahmen von Grammatikalisierungs- und Lexikalisierungsprozessen sowie deren Gegenprozessen diskutieren. Dieser Band steht wie auch der 2010 von Harnisch herausgegebene und ebenfalls in der Reihe LIT erschienene Band Prozesse sprachlicher Verstärkung – Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung in der Tradition der von Harnisch begründeten Passauer Remotivierungsforschung. Die Beitragenden und der Herausgeber möchten deshalb den vorliegenden Band Rüdiger Harnisch zu seinem 67. Geburtstag widmen. Ausgehend von seinen morphologischen Forschungen zu Sprachwandelprozessen fiel Harnisch (1998) sehr früh auf, dass es zusätzlich zu den Prozessen der Grammatikalisierung und der Lexikalisierung ähnlich systematisch betrachtbare und damit parametrisierbare sowie typisierbare gegengerichtete Kräfte sui generis gibt, bei denen sprachliche Einheiten im formalen und semantischen Status angehoben und – damit verbunden – formal resegmentiert sowie inhaltlich remotiviert werden. So treten nach Harnisch (2004: 213, 220) Reanalysen in Form von Degrammatikalisierung (vgl. Ramat 1992, Doyle 2002, van der Auwera 2002, Trost 2008 sowie Norde 2009) und Delexikalisierung (vgl. Olschansky 1996, Harnisch 1998, Koch 2010 und Fill 2010) nicht nur in der Volksetymologie auf wie z. B. bei hamaca zu Hängematte, sondern auch bei Merkmalsreanalysen, z. B. von Genus zu Sexus, bei Affixsekretionen in kindersprachlichem komparativischem saub-er, saub, saub-st bis hin zu Deidiomatisierungen wie fragwürdig ‚zweifelhaft‘ > ‚des Fragens würdig‘. Hierbei entsteht ein konstruktioneller Ikonismus (Harnisch 2004: 222 ff.) Prof. Dr. Igor Trost, Universität Passau, Deutsche Sprachwissenschaft, Innstr. 25, 94030 Passau E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-001

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durch morphologische Sekretion (Harnisch 2004: 219 ff.), „Ausdruck verlangt“ hier „nach Inhalt“ (Harnisch 2010: 5, Fettdruck I.T.). Bei den Pleonasmen (Bloomer 1996; Harnisch 2010: 5, 15; Krieg-Holz 2010) wie z. B. Hai zu Hai-fisch, optimal zu optimal-st und meist-verkauft zu meist-verkauft-est wird konstruktioneller Ikonismus hingegen durch semantische und grammatische Sekretion (vgl. Trost 2008 und 2010), also Kopie von Semen oder grammatischen Eigenschaften des Lexems und gegebenenfalls ihre morphologische Auslagerung hergestellt. Hier verlangt Inhalt nach Ausdruck (Harnisch 2010: 5) oder nach stärkerem, zusätzlichem Ausdruck. Reanalyse und Pleonasmen konzentrieren sich als zeichengebundene Remotivierungstypen auf den Zeichenkörper selbst, also auf die „Suche“ nach „(deutlicherer) Struktur des Zeichens“ sowie dessen kontextunabhängige Bedeutung, also die „Suche nach (stärkerem) Sinn im Zeichen“ (Harnisch & Krieger 2019: 73). Schon im 2010 erschienenen ersten Band Prozesse sprachlicher Verstärkung (Harnisch 2010) zeigte sich in den Beiträgen, dass es auch außerhalb der zeichengebundenen Remotivierungen sprachliche Prozesse gibt, die sich systematisch durch eine „Suche nach Sinn“ oder „mehr Sinn“ (Harnisch & Krieger 2019: 71, 73) auszeichnen, so z. B. Eroms (2010). Deren systematischer theoretischer und typologischer Vergleich mit den zeichengebundenen Remotivierungen erschien uns als wissenschaftlich ertragreich. Diese gebrauchsgebundenen Remotivierungen setzen nicht am Zeichenkörper selbst an, sondern fokussieren die kontextabhängige, sich aus der Kommunikationssituation oder dem Weltwissen ergebende Bedeutung des Zeichens (vgl. Harnisch & Krieger 2017: 73, 81 ff.). Dies kann einerseits im Typus der Relokution (Terminus nach Harnisch 2006: 160–161) durch eine Aufgabe der ursprünglichen pragmatischen Funktion der Äußerung erfolgen, also durch Depragmatisierung und anschließende Re-PrimärSemantisierung mittels der kontextunabhängigen, wort- und satzsemantischen Grundbedeutung, wie z. B. beim sprachspielerischen kommunikativen Übergehen eines usuellen indirekten Sprechakts wie beim Beispiel Hast du eine Uhr? – Ja! (vgl. Harnisch & Krieger 2017: 83 f.). Besonders häufig – zumindest massenmedial – ist aber der Typus der pragmatisierenden und in einem zweiten Schritt semantisierenden Rekontextualisierung zu beobachten. Hier wird ein zunächst kontextunabhängiger Inhalt mit kontextabhängiger Bedeutung aufgeladen, wie z. B. bei dem Wort Gleichschaltung, das als NS-Wort in der Sprache der Politik, aber auch darüber hinaus nicht mehr unbefangen verwendbar ist (zur Theorie vgl. Harnisch 2010: 20 sowie Harnisch & Krieger 2017: 81 ff. und zur Anwendung am Beispiel historisch belasteter Ortsnamen vgl. Harnisch 2012).

Einleitung

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Durch unsere Passauer Forschungsarbeit im Rahmen des DFG-Projekts „Typologie und Theorie der Remotivierung“ konnten wir zeigen, dass sowohl die zeichengebundenen als auch die gebrauchsgebundenen Remotivierungen mit all ihren Subtypen trotz der unterschiedlichen sprachlichen Ebenen, auf denen Remotivierung jeweils erfolgt, aufgrund des durch sie erfüllten Sprecherbestrebens nach einer Motivierung sprachlicher Äußerungen einem gemeinsamen Dachkonzept der Remotivierung nach Harnisch (2010: V) untergeordnet werden können. Darin bestärkt sehen wir uns auch durch erste Analysen mithilfe unserer Datenbank zur Typologie der Remotivierung, die aus einer umfangreichen Sammlung von über 1500 Belegen besteht. Denn diese weisen sehr deutlich nach, dass zeichen- und gebrauchsgebundene Remotivierungen häufig kombiniert miteinander vorkommen, ja durch miteinander verbundene Prozesse als doppelte Remotivierungen aufeinander aufbauen, z. B. bei der Pejorisierung von Suffixen wie -ant in Asylant, das nicht mehr reihenbildend zum konnotativ nicht belasteten -ant in Laborant oder Praktikant wirkt, sondern durch Belege wie Simulant oder Querulant politisch belastend semantisiert und schließlich pragmatisierend durch Bewerber um Asyl ersetzt wurde (vgl. Harnisch 2018). Der vorliegende Band sieht sich diesem Dachkonzept der Remotivierung verpflichtet und gliedert sich deshalb in die fünf Teile Theorie der Remotivierung, Remotivierung – morphologisch, Remotivierung – phraseologisch, Remotivierung – von der Grammatik zur Pragmatik und Remotivierung – Pragmatik.

2 Zusammenfassung der Beiträge Der erste Teil Theorie der Remotivierung wird von Michail Kotin mit seinem Beitrag über die Ontologie und Genealogie von Remotivierungsprozessen eröffnet. Kotin schärft unseren panchronen und theoretischen Blick auf das Zusammenspiel von Motiviertheit, Umdeutung, Demotivierung sowie Remotivierung und zeigt damit, dass auch Remotivierungsprozesse universellen Charakter haben. Gabriele Diewald weist in ihrem Aufsatz Der Status und die interne Motiviertheit grammatischer Paradigmen nach, dass Motiviertheit und Grammatikalisierung keine Gegensätze sein müssen, sondern in der Grammatik als parallele Prozesse beim Konzept des Paradigmas ineinandergreifen können. Das Paradigma versteht Diewald als neuen Typus der Hyperkonstruktion. Der zweite Teil Remotivierung – morphologisch widmet sich insbesondere der Wortbildung und der Resegmentierung. In seinem Beitrag Remotivierung und Wortbildung führt Sascha Michel strukturell-morphologische, semantische, soziopragmatische und diskurslinguistische Analysen von sogenannten „Konfixremotivierungen“ durch. Hierbei geht es um partiell instantiierte Konstruktionen wie

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-tastisch, ‐tainment, -minator, -holiker, -licious, -robics, ‐schland oder -gate, die sich zunehmend aus Kontaminationen herauslösen und als konfixähnliche Einheiten fungieren. Damaris Nübling erkennt in ihrem Beitrag Mailand, Seeland, Hiddensee und Küssnacht die asemantische Transparenz ohne Motivation bei Namen als Ziel onymischer Volksetymologie. Während Volksetymologie bei Appelativen eine Form der semantischen Adäquatheit herstelle, sei dieser Aspekt bei Namen irrelevant, sodass dadurch „sogar widersinnige Bedeutungen“ entstünden. Zum Abschluss des zweiten Teils untersucht Christian Lehmann die Explikativkomposition als Subtyp der Determinativkomposition, bei dem das Determinans ein Hyponym des Determinatums ist. Lehmann unterscheidet die Explikativkomposition von den anderen pleonastischen tautologischen und fokussierenden Kompositionen und versteht diese als einen Fall der semantischen Sekretion. Im dritten Teil Remotivierung – phraseologisch untersucht Sören Stumpf die De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten. Stumpf zeigt korpuslinguistische und kognitivsemantische Zugänge zu einem in der Remotivierungs- und Phraseologieforschung bisher wenig beachteten sprachlichen Verstärkungsprozess bei den Unikalia auf. Dabei stelle die freie Verwendung der Unikalia einen typischen Reanalyseprozess dar, durch den „einem Ausdruck wieder Inhalt zugewiesen wird“. Im vierten Teil Remotivierung – von der Grammatik zur Pragmatik beschreibt Renata Szczepaniak in ihrem Beitrag „Die Universität ist nicht nur Studienstätte, sondern auch Arbeitgeberin“ den Übergang von den zeichen- zu den gebrauchsbasierten Remotivierungsprozessen, wenn sie die Rekontextualisierung der soziosymbolischen Indexikalisierung des personenbezogenen in-Suffixes auf Kontexte mit dem nicht-personenbezogenen Suffix untersucht. Die Triebfeder dieser Rekontextualisierung sieht Szczepaniak in der Übertragung des „geschlechtergerechten Sprachhabitus“ auch auf nicht-personenbezogene Verwendungen. Der fünfte und letzte Teil des Bandes Remotivierung – pragmatisch widmet sich den gebrauchsbasierten Rekontextualisierungsprozessen. Zuerst betrachtet Gerd Antos Remotivieren als Perspektivwechsel bei Bedeutungszuschreibungen und beschreibt, wie sich Wörter durch Wahrnehmungsänderungen wandeln. Die phonetisch, graphisch oder kontextuell verursachte remotivierende Verfremdung erlaube aus „humoristischen, sprachspielerischen oder aus anderen Gründen“ „einen neuen Blick auf Wörter und ihre Semantik“. Simon Meier-Vieracker beschäftigt sich in seinem Beitrag Memefication mit der Rekontextualisierung politischer Rede in digitalen Diskursen. In digitalen Anschlussdiskursen in den Sozialen Medien würden die ursprünglichen politischen Kommunikationsakte deund rekontextualisiert und damit memifiziert. Mit der diskursorientierten Per-

Einleitung

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spektive seiner Untersuchung möchte Meier-Vieracker die bisher „eher lexikonorientierte Perspektive der Remotivierungsforschung sinnvoll ergänzen“. Im letzten Beitrag des Bandes „This one-man midfield blitzkrieg“ untersucht Torsten Leuschner die fünf lexikalischen Wortentlehnungen Anschluss, Blitzkrieg, Drang nach Osten, Endlösung, Kulturkampf aus dem Deutschen in das Englische und Polnische als Dekontextualisierungen. Diese sogenannten „historischen Germanismen“ unterlägen „im Zuge ihrer diskursiven Aneignung in der jeweiligen Nehmersprache“ einer verschieden stark ausgeprägten Dekontextualisierung und Schematisierung. Nicht zuletzt gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mein ganz besonderer Dank. Ihre Förderung hat die sehr ertragreiche Tagung erst ermöglicht. Ebenso danken möchte ich der Herausgeberin und den Herausgebern für die Aufnahme auch des zweiten Passauer Bandes zur Remotivierung in die Reihe Linguistik – Impulse & Tendenzen. Passau, im Frühjahr 2022

Igor Trost

Literaturverzeichnis Bloomer, Robert K. (1996): Die pleonastischen Zusammensetzungen der deutschen Gegenwarts-sprache. American Journal of Germanic Linguistics and Literatures 8, 69–90. Doyle, Aidan (2002): Yesterday’s affixes as today’s clitics. A case-study in degrammaticalization. In Ilse Wischer & Gabriele Diewald (Hrsg.): New Reflections on Grammaticalization, 67–81. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins. Eroms, Hans-Werner (2010): Wörter im Brennpunkt. Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ als Mittel der Fokussierung öffentlicher Diskurse. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 199–211. Berlin, New York: de Gruyter. Fill, Alwin (2010): De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung als spannende Sprachstrategien. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 245–265. Berlin, New York: de Gruyter. Harnisch, Rüdiger & Manuela Krieger (2017): Die Suche nach mehr Sinn. Lexikalischer Wandel durch Remotivierung. In Florentine Oehme, Hans Ulrich Schmid & Franziska Spranger (Hrsg.): Wörter. Wortbildung, Lexikologie und Lexikographie, Etymologie. Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte, Band 8, 71–89. Harnisch, Rüdiger (1998): Morphologische (Re‐)Motivierung lautlicher Substanz. ZAS Papers in Linguistics 13, 79–104. Harnisch, Rüdiger (2004): Verstärkungsprozesse. Zu einer Theorie der „Sekretion“ und des „Re-konstruktionellen Ikonismus“. ZGL 32(2), 210–232.

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Harnisch, Rüdiger (2006): Pragmatik, Sprechakttheorie, Konversationsmaximen. In Hans Krah & Michael Titzmann (Hrsg.): Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, 147–162. Passau: Stutz. Harnisch, Rüdiger (2010): Zu einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 3–23. Berlin, New York: de Gruyter. Harnisch, Rüdiger (2012): Weltwissensbasierte Rekontextualisierung historisch belasteter Ortsnamen. Dargestellt am Beispiel der Exonymenfrage im östlichen Mitteleuropa der Nach-Wende-Zeit. In Katharina Wild & Zoltán Szendi (Hrsg.): Wechselwirkungen II. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext, 433– 439. Wien: Praesens. Harnisch, Rüdiger (2018): Partizipien als meliorisierende Ersatzkonstruktionen für pejorisierte personenbezeichnende Derivata. In Annamária Fábián & Igor Trost (Hrsg.): Sprachgebrauch in der Politik. Grammatische, lexikalische, pragmatische, kulturelle und dialektologische Perspektiven, 217–237. Berlin, New York: de Gruyter. Koch, Günter (2010): Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 107–127. Berlin, New York: de Gruyter. Krieg-Holz, Ulrike (2010): Von Bilchmäusen und Entwicklungsprozessen. Zum Verstärkungsmotiv in der deutschen Wortbildung. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 307–315. Berlin, New York: de Gruyter Norde, Muriel (2009): Degrammaticalization. Oxford, New York: Oxford University Press. Olschansky, Heike (1996): Volksetymologie. Tübingen: Niemeyer. Ramat, Paolo (1992): Thoughts on degrammaticalization. Linguistics 30, 549–560. Trost, Igor (2008): Die semantische und die grammatische Sekretion am Beispiel der relativen und absoluten Komparative. In Peter Canisius & Erika Hammer (Hrsg.): 50 Jahre Germanistik in Pécs. Akten eines internationalen Kongresses am 5. Und 6. Oktober 2006, 127–140. Wien: Praesens. Trost, Igor (2010): Die semantische und die grammatische Sekretion am Beispiel der Komparativpositive. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 317–340. Berlin, New York: de Gruyter. van der Auwera, Johan (2002): More thoughts on degrammaticalization. In Ilse Wischer & Gabriele Diewald (Hrsg.): New Reflections on Grammaticalization, 19–29. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins.

Teil 1: Theorie der Remotivierung

Michail L. Kotin

Zur Ontologie und Genealogie von Remotivierungsprozessen Zusammenfassung: Der Beitrag stellt den Versuch dar, die auf den ersten Blick konträren Phänomene des Sprachwandels, Motiviertheit (morphosemantische bzw. morphosyntaktische Transparenz) und Demotivierung (Idiomatisierung) der Sprachzeichen, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Hierfür werden die untersuchten lexikalischen und grammatischen Entitäten einer panchron ausgerichteten Analyse unterzogen, bei der die klassische strukturalistische Antinomie von Synchronie und Diachronie, wenn nicht aus methodologischer, so doch zumindest aus ontologischer Sicht relativiert wird. Es wird dafür plädiert, dass die sprachliche Genesis sowohl aus ontogenetischer als auch aus phylogenetischer Perspektive eine untrennbare Einheit von Motiviertheit, Umdeutung, Demotivierung und ggf. Remotivierung darstellt, wobei sämtliche Prozesse auf nachweisbaren kognitiven Mechanismen beruhen. Schlüsselwörter: sprachliche Nomination, Sprachwandel, Grammatikalisierung, Degrammatikalisierung, Motiviertheit, Demotivierung, Remotivierung

1 Einleitung Die Analyse von Remotivierungsprozessen in natürlichen Sprachen wird in der modernen Linguistik im Zusammenhang mit der Dynamik lexikalischer und grammatischer Systeme favorisiert. Dabei sind Remotivierungsprozesse im Wortschatz seit langem u. a. unter den Stichwörtern ‚Volksetymologie‘ (vgl. schon Andresen 1876 und weitere fünf Auflagen) oder – später – ‚Wiederbelebung toter Metaphern‘ (vgl. u. a. Lakoff & Johnson 2003: 5) behandelt worden. Dagegen ist die Tradition einer panchron angelegten Untersuchung diverser Remotivierungen in der Grammatik relativ neu. Hier wird gemeinhin von (sekundärer) Lexikalisierung grammatikalisierter Entitäten gesprochen (vgl. u.v.a. Campbell 2001a, 2001b; Norde 2001, 2009; Newmeyer 2001) bzw. von Viabilität (vgl. Ágel 2001) als sprachhistorische Adäquatheit, dank welcher „der Blick in die historische EntProf. Dr. habil. Michail L. Kotin, Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft, Institut für Germanistik, Universität Zielona Góra, Aleja Wojska Polskiego 71A, 65-001 Zielona Góra, Polen E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-002

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wicklung eines Phänomens Erkenntnisse bringen kann, die bei einer rein gegenwartsbezogenen Betrachtung verborgen bleiben“ (Hennig 2006: 203) – darunter bezüglich einer eventuellen Reversibilität gewisser Grammatikalisierungen. In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, beide Entwicklungen aus einer gemeinsamen ontologischen und zugleich genealogischen Perspektive zu betrachten. Im Mittelpunkt steht das Problem der im Wesen natürlicher Sprachen verwurzelten Motiviertheit in deren Relation zum entgegengesetzten Phänomen der Idiomatisierung sprachlicher Entitäten. Es wird an konkreten Beispielen nachvollzogen, wie beide in Opposition zueinander-stehenden Mechanismen des Sprachwandels interagieren, und zwar in einer wechselseitig affinen Korrelation von Ontogenese und Phylogenese. Im Unterkapitel 2 wird dieses Problem aus der Sicht der Wechselbeziehung von Motiviertheit und Arbitrarität betrachtet, und zwar angesichts des ontologischen und genealogischen Status der Arbitrarität des Sprachzeichens, wie sie seit de Saussure (1916) in der modernen Linguistik verstanden und gedeutet wird. Speziell geht es um Relativierung der Arbitrarität im Vergleich zur genuin immer vorhandenen phonomorphologischen und morphosyntaktischen Transparenz sprachlicher Entitäten im Moment ihrer Entstehung. Das Unterkapitel 3 enthält die allgemeine Begründung der Prozesse der Demotivierung und Idiomatisierung bei der historischen Entwicklung von Sprachformen aus ontogenetischer und phylogenetischer Perspektive. Eine genauere, an konkreten Belegen demonstrierte Auseinandersetzung mit Demotivierung und Remotivierung als Phänomene von Form, Bedeutung und Funktion liefert das Unterkapitel 4. Im Unterkapitel 5 wird die essentielle Antinomie von Transparenz und Idiomatik als Kognitionsphänomene in der Ontogenese behandelt, wobei beide Eigenschaften der Sprachzeichen aus der Perspektive der Sprachdynamik dargestellt werden. Daraufhin werden diese Erscheinungen aus genealogischer Sicht in der Phylogenese erörtert (Unterkapitel 6). Das Phänomen der Remotivierung wird dabei sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatischer Ebene (Grammatikalisierung vs. Degrammatikalisierung bzw. Lexikalisierung), und zwar in Verbindung mit Wiederbelebung genuiner Reanalysemechanismen betrachtet. Im Unterkapitel 7 wird schließlich ein Fazit aus der durchgeführten Analyse gezogen.

2 Motiviertheit und Arbitrarität De Saussures Idee von der Willkürlichkeit (Arbitrarität) des Sprachzeichens betrifft vornehmlich das Fehlen seiner (obligatorischen) Motiviertheit, d. h. Transparenz der Relation zwischen Form (Signifiant) und Bedeutung (Signifié) aus synchroner Sicht (vgl. Saussure 1916: 75–76). Es handelt sich hierbei nicht um ein

Zur Ontologie und Genealogie von Remotivierungsprozessen

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Grundprinzip der Zeichengenesis, d. h. um motivlose Konvention im Nominationsakt, sondern um den Status des bilateralen Zeichens in der Sprachgemeinschaft. Dieses sozial und statisch geprägte, d. h. bewusst von individuellen Nominationsmechanismen und dem Zeitfaktor losgelöste, Zeichenverständnis trug offenkundig methodologischen und nicht etwa ontologischen Charakter.¹ De Saussure macht wichtige Einschränkungen bezüglich des Geltungsbereichs seiner Konzeption und spricht – neben absoluter – von relativer Arbitrarität des Sprachzeichens: Le principe fondamental de l’arbitraire du signe n’empêche pas de distinguer dans chaque langue ce qui est radicalement arbitraire, c’est-à-dire immotivé, de ce qui ne l’est que relativement. Une partie seulement des signes est absolument arbitraire; chez d’autres intervient un phénomène qui permet de reconnaître des degrés dans l’arbitraire sans le supprimer: le signe peut être relativement motivé (Saussure 1916: 140).

Die Kompliziertheit des Problems und die potentielle Gefahr seiner Vereinfachung und unrechtmäßigen Generalisierung war de Saussure wohl bewusst. Daher stellt er zurecht fest, dass es oft einfacher ist, eine (wohl allgemein anerkannte) Wahrheit von der Willkürlichkeit des Sprachzeichens zu entdecken, als ihr den Ort zuzuordnen, zu dem sie gehört: „Le principe de l’arbitraire du signe n’est contesté par personne; mais il est souvent plus aisé de découvrir une vérité que de lui assigner la place quilui revient“ (Saussure 1916: 75). Nichtsdestoweniger geben einige Überlegungen de Saussures (oder vielleicht doch eher der Autoren der Druckversion seiner posthum erschienenen Vorlesungen Ch. Bally und A. Sechehaye) genug Anlass für „Ontologisierung“ seiner Arbitraritätsthese, auch wenn er selbst dies kaum gewollt hat. Dies betrifft vor allem die Behauptung, Onomatopoetika und andere affektiv bzw. emotiv motivierte Bildungen widersprächen nicht dem Prinzip der Willkürlichkeit, u. a. weil sie in verschiedenen Sprachen unterschiedlich lauten (vgl. Saussure 1916: 76–77). Wie unten gezeigt wird, ist diese Erklärung, wenngleich nicht falsch, so doch auf jeden Fall insuffizient. Wie dem auch sei, ist E. Coseriu Recht zu geben, dass die methodologisch bzw. „untersuchungstechnisch“ konzipierten Dichotomien von de Saussure von seinen viel radikaler denkenden Schülern und Nachfolgern – nicht immer begründet – verabsolutiert und „ontologisiert“ wurden (vgl. Coseriu 1958/1974: 8–9). So schreibt H. Vater (2004: 75):

 Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass sich de Saussure weitgehend auf Durkheims Methode der positivistisch konzipierten soziologischen Analyse stützt und die Sprache weitgehend mit der „fait social“ im Sinne Durkheims in Zusammenhang bringt (vgl. Doroszewski 1933: 90–91; Meillet 1921/21938: 72–73).

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Man könnte in jeder Sprache unendlich viele lexikalische Wörter bilden, indem man neue (nach phonologischen Regeln bildbare) Phonemsequenzen erzeugt. So könnte man im Deutschen ein Wort [mεl] mit der Bedeutung „Klarsichthülle mit Löchern“ bilden oder [lεm] für „Tasse mit eingebauter Untertasse“. Tatsächlich entstehen die meisten neuen Wörter [meine Hervorhebung, M. K.] nicht auf diese Weise.

In der Anmerkung schreibt dann Vater, dass Hermann Paul (81968: 117) viele Beispiele für (meist lautmalende) „Urschöpfungen“ (z. B. bimmeln, blaffen, blubbern, dudeln, klimpern) bringt (vgl. Vater 2004: 75, Anm. 58). Bei der Feststellung der „prinzipiellen Möglichkeit“, Quasi-Zeichen des [mεl]/ [lεm]-Typs zu bilden, geht es nun bloß um ein intellektuelles Spiel, bei dem man die Regel ansetzt, dass die Sprache – eben ontologisch und genealogisch – ein rein arbiträres Zeichensystem ist. J. Reischer (2002: 41) sieht z. B. das Wesen der Arbitrarität des Sprachzeichens darin, dass es sich um eine implizite Festlegung handelt, „d. h. es spricht nichts dagegen, dass der Einsatzzweck des Zeichens auch ein ganz anderer hätte sein können“. Im Unterschied zur de Saussure’schen Synchronie, die nur dichotomisch und nur als methodologisches Untersuchungsprinzip verstanden wird, wird hier nolens volens ein weiterer Schritt in Richtung auf Arbitrarität getan, indem man eine Willkürlichkeit annimmt, die sich nicht etwa aus einer Demotivierung im Laufe der Sprachentwicklung ergeben hat, sondern ursprünglichen, „ontologischen“ Charakter trägt (vgl. meine kritischen Ausführungen hierzu in Kotin 2005: 128–135 und 219–227). Wenn es heute noch „Urschöpfungen“ gibt, dann entstehen sie ebenso, wie H. Paul das gezeigt hat, d. h. auf natürliche, onomatopoetische oder affektiv-imitative Weise. Daher sind sie – im Unterschied zu den Kunstwörtern [mεl] und [lεm] – motiviert. Man kann also feststellen, dass die Sprache das arbiträre [mεl]/ [lεm]-Modell der Wortbildung nicht nutzt. Auch anderen Sprachformen liegen im Moment ihres Entstehens bestimmte Motive zu Grunde. Diese Feststellung hat m. E. universelle Geltung in dem Sinn, dass sie den Mechanismus der genuinen Nomination beschreibt, welcher Motiviertheit voraussetzt und Arbitrarität als Nullhypothese ausschließt. Arbitrarität des Sprachzeichens ist somit lediglich als Ergebnis einer Entwicklung zu verstehen, in deren Folge die genuinen Motive der Zeichengenesis verloren gehen, sodass Idiosynkrasie der Relation zwischen Zeichenform und Zeichenbedeutung erst sekundär entsteht. Nicht motivierte Neuschöpfungen sind dagegen untypisch, darunter in der Gegenwartssprache, was eben H. Paul (81968: 117) gezeigt hat. Das Motiviertheitsprinzip gilt nun uneingeschränkt für die ältesten Entwicklungsstufen der Sprache, da es dem General Uniformity Principle entspricht, das bezüglich der natürlichen Sprachen von R. Lass (1997: 26) wie folgt formuliert wurde: „Nothing that is now impossible in principle was ever the case in the past“.

Zur Ontologie und Genealogie von Remotivierungsprozessen

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Das Gesagte sei nun an einem Beispiel illustriert. Vergleichen wir zwei deutsche Verben, hoppen und hoffen. Das erste ist im Gegenwartsdeutschen immer noch motiviert, da sein onomatopoetischer Ursprung in der lautmalenden Gestalt von hoppen fortlebt. Dieses Verb ist eine konverse Bildung von der lautmalenden Interjektion hopp! Bei der Bildung dieser Interjektion wird das akustische Motivationsmuster benutzt, welches auch in der deutschen Gegenwartssprache dem Sprecher bewusst ist. Beim Springen entsteht nämlich ein Geräusch wegen eines abrupten Kontakts der Füße mit dem Boden bzw. der Springende atmet die Luft abrupt aus, was im Gleichklang mit dem Springen geschieht. Die imitierende Lautsequenz [hɔp] wird zunächst in der lautmalenden Interjektion konventionalisiert, wobei bei der Konversion zum Verb die Transparenz der Laut-BedeutungRelation unumstritten weiter bestehen bleibt. Die Akzeptanz dieser Nomination durch die Sprachgemeinschaft ist wegen offenkundiger Motiviertheit des Sprachzeichens vorprogrammiert. Die Bedeutung des Springens wird nun in den germanischen Sprachen u. a. zu ‚intensiv auf etwas Erwünschtes warten‘ transformiert, vgl. engl. hope, niederl. hopen, schwed. hoppas, norw. håper. Das der Metapher zu Grunde liegende Tertium liegt auf der Hand. Es handelt sich um die bildhafte Darstellung eines ungeduldigen Wartens, bei dem man in Vorfreude auf etwas Erwünschtes nicht stehen bleiben kann und auf der Stelle springt, also hoppt oder hüpft – das zweite Verb ist eine Iterativ- bzw. Intensivbildung zu hoppen mit hochdeutscher Lautverschiebung von p zur Affrikate pf (vgl. u. a. Lexer 1974: 271; Duden 2001: 288). Beide Bildungen sind also motiviert und transparent, wenngleich ihnen diverse Motivationsmechanismen zu Grunde liegen: Im ersten Fall ist die Motivation akustisch (lautmalend), im zweiten metaphorisch-bildhaft. Beim deutschen Verb hoffen liegt ebenso wie bei hüpfen die zweite Lautverschiebung vor, aber statt der Affrikate erscheint das ebenfalls lautgesetzlich „legitime“ doppelspirantische ff. Die Verben nhd. hoffen, engl. hope etc. sind aus synchroner Sicht völlig unmotiviert und arbiträr, aber diachron gesehen sind sie genauso motiviert und transparent wie hoppen. Die Idiosynkrasie der Form-Semantik-Relation von hoffen ist demnach keinesfalls ein Indiz für seine genuine Arbitrarität, sondern lediglich das Ergebnis einer späteren Demotivierung, in deren Folge hoppen und hoffen nicht mehr in eine Beziehung zueinander gesetzt werden können, welche jedoch ursprünglich, d. h. bei primärer Nomination, vorhanden war. Die Konvention bei der Nomination ist somit nicht etwa ein Ergebnis der Verabredung gewesen, dass die Lautsequenz [h-ɔ-p/f] „ab jetzt“ per Vertrag und absolut unmotiviert ‚hoffen‘ bedeuten wird und im Prinzip auch anders aussehen könnte, sondern ein spontaner Prozess von motiviertem Zeichengeben und seiner – gerade wegen Motiviertheit vorprogrammierten – Akzeptanz durch andere Mitglieder der homogenen Sprachgemeinschaft. Freilich ist es nicht mehr möglich, sämtliche arbiträren Sprachzeichen auf ihre motivierten

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Archetypen zurückzuführen, da die Umdeutungsmotive in den meisten Fällen mit der Zeit unwiderruflich verlorengegangen sind. Da nun aber in der modernen Neuschöpfung von Wörtern keine völlig unmotivierten Neubildungen entstehen, soll das oben formulierte General Uniformity Principle gelten, sodass man mit gutem Grund eine durchgehende Motiviertheit sämtlicher Wörter im Nominationsakt postulieren kann. Die darauffolgende Idiomatisierung, welche den Eindruck genuiner Arbitrarität von Sprachzeichen weckt, darf dabei wohl kaum als Beweis für die ursprüngliche, ontologische bzw. genealogische Arbitrarität der Sprachzeichen akzeptiert werden. Sowohl genuine Motiviertheit (also Form-Bedeutung-Transparenz) als auch spätere Idiomatisierung sind dabei natürliche Entwicklungsprozesse der sprachlichen Zeichen. Auf diese Phänomene wird erst später (Unterkapitel 5 und 6, respektive aus ontogenetischer und phylogenetischer Sicht) speziell eingegangen. Hier sei nur einschränkend bemerkt, dass die postulierte genuine Motiviertheit bzw. Transparenz der Form-Semantik-Relation des Sprachzeichens im Moment seines Entstehens und in jeder Teilphase seiner Entwicklung keinesfalls als eine zwingende Nutzung von bestimmten Nominationsmotiven missdeutet werden darf. Es geht lediglich darum, dass irgendein Motiv auf jeden Fall vorliegen muss, damit ein vollgültiges und akzeptables Sprachzeichen entstehen kann. Das Inventar der Motive ist dabei unendlich weit, sodass in diesem Sinn tatsächlich auch eine gewisse ontologische bzw. genealogische Arbitrarität vorhanden ist. Doch sie ist nie mit einer völligen Nichtmotiviertheit und Willkürlichkeit der Nomination deckungsgleich.

3 Primäre, sekundäre und weitere Motive in der Umdeutungskette bei Nomination und Kategorisierung (Grammatikalisierung) Im oben angeführten Beispiel mit den deutschen Verben hoppen und hoffen wurden zwei diverse Nominationsmotive behandelt: das akustisch-onomatopoetische bzw. imitative (zum zweiten Terminus vgl. Kotin 2005: 61) und das bildlichmetaphorische. Das erste Motiv ergibt die Transparenz zwischen der Lautgestalt des Sprachzeichens (hoppen) und seiner Bedeutung, während das zweite die Ableitung der Semantik des ungeduldigen Wartens „in Vorfreude auf etwas“ (hoffen) aus der Bedeutung des Hüpfens legitimiert. Es gibt aber bei Bedeutungsbzw. Funktionswandel auch viel längere Umdeutungsketten, deren Ergebnis die Entstehung von Entitäten ist, deren genuine „Verwandtschaft“ erst durch komplizierte Rekonstruktionen auf Inhalts- und Ausdrucksseite wiederhergestellt werden kann.

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Betrachten wir die Form- und Bedeutungswandelkette am Beispiel des deutschen Substantivs Fuchs. Die meisten Etymologien (vgl. Pfeifer 1993; Kluge 1999; Duden 7/2001) setzen eine verhüllende Bezeichnung an, die statt des – in der Germania später verloren gegangenen – „direkten“ Tiernamens (vgl. lat. vulpes, gr. ἀλώπηξ, nhd. Wolf) euphemistisch eingesetzt wurde, vgl. aind. pukkha‐h ‚Schwanz, Schweif‘, russ. puch ‚Flaumfedern‘, also eigentlich der ‚Geschwänzte‘, vgl. die Maskulina ahd. fuhs mhd. vuhs, niederl. vos, ne. fox bzw. die Feminina ahd. foha mhd. vohe, got. foho, aisl. foa, nhd. jägerspr. Fähe ‚Füchsin‘. Es wird angenommen, dass die Verhüllung dadurch zu Stande kam, dass die alten Germanen den ‚listigen Räuber nicht durch Nennung seines Namens berufen wollten‘ (Duden 7/2001). Duden (ibid.) führt zum Vergleich weitere (mundartliche) Euphemismen wie Langschwanz und Holzhund an. Wenn nun die angeführte Etymologie stimmt, geht es eindeutig um eine übertragene Bedeutung mit metonymischer Substitution des Typs pars pro toto. Übertragen ist aus diachroner Sicht auch aind. pukkha‐h bzw. russ. puch. Das altindische Wort ist wohl eine Metonymie des Typs totum pro parte. Im russischen puch ist das Urmotiv gut nachvollziehbar, da es sich wohl um die imitative, lautmalende idg. *pu-Wurzelsilbe mit der Urbedeutung ‚ausatmen, pusten‘ handelt, vgl. nhd. lautmalend pusten, aber auch z. B. fauchen, die metaphorisch zunächst als ‚leicht‘ (luftleicht) umgedeutet und dann – wiederum metaphorisch – auf die Flaumfedern übertragen wird. (Das Verhalten gegenüber Konsonantenverschiebungen, also p:f, ist hier ähnlich zu sonstigen Wörtern onomatopoetischen Ursprungs). Die Geschichte von Fuchs demonstriert, dass die Bedeutung dieses Substantivs historisch gesehen übertragen ist, obwohl sie in der Gegenwartssprache als direkt gilt. Sie ist in Folge einer Kette von Übertragungen metaphorischer und metonymischer Natur entstanden. Der metaphorische Ursprung seiner Bedeutung verschwindet nun allmählich zusammen mit den Motiven für Bedeutungsübertragung. Synchron ist es, sofern es auf das Raubtier bezogen wird, „direkt“; historisch gesehen sind jedoch die heute als Metaphern empfundenen Fuchs ‚listiger Mensch‘ und Fuchs ‚rothäutiges Pferd‘ keine Ausnahmen aus einer vermeintlichen Nominationsregel, sondern weitere Glieder einer kontinuierlichen metaphorisch-metonymischen Nominationskette. Die Grammatikalisierungsprozesse nutzen im Prinzip mutatis mutandis vergleichbare Mechanismen einer Abfolge von Motiviertheit und Idiomatisierung. Der essentielle Unterschied von rein lexikalischem Wandel besteht hierbei darin, dass bei Grammatikalisierung die metonymische Prozedur der Reanalyse, die häufig mit Formwandel einher geht (vgl. Hopper & Traugott 1993: 18; Heine 1993: 70; Watts 2001: 120), zur Statusänderung des Sprachzeichens führt, welches seine lexikalische Autonomie verliert (vgl. schon Meillet 1921/21938: 131–148 und später u.v.a. Lehmann 1985: 303, 2004: 155) und aus einer lexikalischen zu einer funk-

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tionalen (grammatischen) Entität wird. Grammatikalisierung stellt also eine „Statusminderung“ dar (vgl. Harnisch & Krieger 2017: 85). Grammatikalisierung ist aus sprachtypologischer Sicht universell und umfasst zahlreiche und vielfältige Prozesse, wie (i) Auxiliarisierung einstiger Vollverben (z. B. haben, sein, werden etc.), in deren Folge sie zu Hilfsverben in Verbalperiphrasen mit temporaler bzw. diathetischer Funktion werden; (ii) Verwandlung von Demonstrativpronomina (z. B. der, die, das) oder des Numerales (ein, eine) in Marker respektive definiter und indefiniter Artikelfunktion; (iii) Verwandlung der Adjektive, Adverbien und Modalwörter (z. B. wohl, schon, bloß, doch, ja) in epistemische bzw. illokutionäre Partikeln; (iv) Verwandlung der Präpositionen (z. B. vor, über, bei etc.) in Verbalpräfixe (ver-, be- etc.) oder Präfixoide (wie über- in übersetzen); (v) Entstehung von deiktischen (epistemischen und evidentiellen) Lesarten von deontischen Modalverben (wie bei müssen oder sollen mit Infinitiv zur Kodierung einer Vermutung aus eigener oder fremder Erfahrung: Peter muss/soll jetzt in seinem Büro sein); (vi) Entstehung von Suffixen und Endungen aus genuinen Vollwörtern (z. B. nhd. -schaft in Freundschaft etc. aus dem Substantiv ahd. scaft ‚entrindeter Zweig‘ (vgl. Schützeichel 1989), später ‚Waffengriffteil‘, ‚Griffteil eines Werkzeugs‘ u. a. (vgl. Lexer 1974); nhd. Endung der 2. Pers. Sg. -st aus -s +tu ‚du‘ in Postposition zum Verb, also ahd. nim-i-s-tu > nim-i-st tu > mhd. nim-e-st (du) > nhd. nimmst (du)) und viele andere (vgl. Meillet 1921/21938; Guchman 1964; Smirnickaja 1977; Bybee 1985; Lehmann 1985, 1995, 2002, 2004; Rastorgujeva 1989; Abraham 1987, 1991, 2014: 331–352; Eroms 1990, 1992, 1997; Leiss 1992, 2000; Heine 1993; Hopper & Traugott 1993; Diewald 1997, 1999, 2000; Kuroda 1999; Heine & Kuteva 2002; Watts 2001; Kotin 1998, 2003, 2007; Harnisch & Krieger 2017: 85– 87). Aus der methodologischen Sicht, speziell in Anbetracht der de Saussure’schen Dichotomie von synchroner und diachroner Sprachbetrachtung, handelt es sich bei der Grammatikalisierungsforschung um Rechtfertigung der Anwendung des panchronen (integrierenden) Betrachtungspunkts (vgl. Diewald 2004: 137–138), welcher für de Saussure ein methodologisches Verbot war: „Le point de vue panchronique n’atteint jamais les faits particuliers de la langue“ (vgl. Saussure 1916: 134). Aus kognitiver Sicht handelt es sich bei Grammatikalisierung um den Prozess einer Funktionalisierung lexikalischer Entitäten durch Verlust ihrer Eigensemantik und Einprägung als Indikatoren grammatischer Funktionen in Verbindung mit Volllexemen im Sprachbewusstsein. Nach Lehmann (2004: 171– 173) führt diese Entwicklung zum Automatismus bei der Sprachverwendung. Der Automatismus sei aber per definitionem irreversibel. Der Sprecher lasse ihn ohne Überlegung gelten, wie z. B. ein Pianist beim Klavierspielen (ibid.). Daher sei Grammatikalisierung unidirektional und unumkehrbar (vgl. Comrie 1976, 1985; Lehmann 2004: 172–174; Abraham 2014: 333–335 u.v.a.). Sh. Watts (2001: 120, Fußnote 5) spricht von Unidirektionalität der Grammatikalisierung als allgemei-

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nes Prinzip, welches zumindest als Tendenz zur Geltung kommt: „the movement is, tendentially at least, unidirectional, as the label grammaticalization suggests, with independent lexical elements becoming bound grammatical ones, rather than vice versa.“ (Watts 2001, 120, Fußnote 5) Die These von unidirektionalem und unumkehrbarem grammatischem Wandel wurde allerdings in der Forschung mehrfach in Zweifel gezogen. So behaupten Campbell (2001a, 2001b), Newmeyer (2001) und Norde (2001, 2009), in der Sprachentwicklung gäbe es sowohl Grammatikalisierung als auch Degrammatikalisierung bzw. Lexikalisierung. Als Paradebeispiel wird u. a. der Bedeutungswandel des Suffixes -zig bei Kardinalzahlen wie zwan-zig, vier-zig etc. angeführt (vgl. Norde 2001: 235–236; Harnisch & Krieger 2017: 95). Es ist ursprünglich durch Grammatikalisierung des gemeingermanischen Substantivs *teguz ‚das Zehn, eine Dekade‘ entstanden. Aber heute wurde es als verselbständigtes Numerale in Sätzen vom Typ Das habe ich dir schon zigmal gesagt verwendet (vgl. Norde 2001: 235; Lehmann 2004: 172; Harnisch & Krieger 2017: 95). Harnisch & Krieger (2017: 95) bezeichnen derartige Entwicklungen als „Entderivationalisierung nach oben“ und zählen sie zu den Prozessen „up the cline“ (ibid.). Lehmann (2004: 172–173) argumentiert dagegen, es handele sich dabei nicht um Degrammatikalisierung von nhd. -zig, sondern vielmehr um unterschiedliche Grammatikalisierungsstufen des urgermanischen Substantivs bei nhd. zig und -zig: Beim Suffix sei nämlich das Ende in der Grammatikalisierungskette erreicht worden, während bei der „neuen“ Kardinalzahl die Grammatikalisierung einfach in der Mittelstufe „stecken geblieben“ sei. Zwar ist Nordes Interpretation im Prinzip plausibler als Lehmanns Annahme, aber sie vermag in keiner Weise die Suffizienz der Grammatikalisierungsthese zu widerlegen. Die Vermutung, nhd. zig gehe unmittelbar auf germ. *teguz zurück, ist natürlich mehr als gewagt. Offenkundig wäre es ohne Vermittlung des nhd. Suffixes -zig wohl kaum entstanden, man vergleiche eine weitgehend ähnliche Entwicklung im Polnischen, wo das Element -naście bei Zahlwörtern von jede-naście bis dziewięt-naście (11–19) dem unbestimmten Pronomen kilka-naście zu Grunde gelegt wurde, welches sich aus kilka ‚einige‘ und -naście ‚eine Zahl zwischen 10 und 20‘ zusammensetzt. Sowohl nhd. zig als auch poln. (kilka)-naście sind typische Analogiebildungen, die ohne Zweifel aus dem jeweiligen grammatischen Element sekundär lexikalisiert wurden. Das ist aber keinesfalls als Degrammatikalisierung einzuordnen, da eine echte Degrammatikalisierung per definitionem die Rücknahme der Grammatikalisierung sein muss (vgl. meine Ausführungen hierzu in Kotin 2007: 80–83). Hier liegt dagegen eine Ummotivierung bzw. eine neue Reanalyse durch morphologische „Neusegmentierung“ zusammengesetzter Zahlwörter vor (vgl. Harnisch 1998, 2004, 2010; Harnisch & Krieger 2017).

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4 Demotivierung und Remotivierung als Phänomene von Form, Bedeutung und Funktion Im Nominationsakt (primäre Zeichengenesis) sind sämtliche Entitäten motiviert, da es – wie in diesem Beitrag postuliert wird – keine genuin arbiträre Nomination als Fehlen jeglicher Motiviertheit der Korrelation zwischen Zeichenform und Zeichenbedeutung im Moment der Zeichenbildung gibt. Die weitere Entwicklung folgt dagegen zwei entgegengesetzten Tendenzen: Transparenz vs. Transparenzverlust. Die erste Tendenz zeigt sich in einer Umdeutung der Entität nach metaphorischen bzw. metonymischen Mechanismen, die zweite in deren Idiomatisierung, also Verlust der Motiviertheit der Form-Semantik-Relation. Beide Prozesse können sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Ausdrucksseite des Sprachzeichens verlaufen, aber Formerosionen oder Umsegmentierungen der Formative sind nicht zwingend und können unterschiedlich stark sein oder gar fehlen. Dies betrifft sowohl wortschatzinternen als auch -externen Wandel (d. h. rein lexikalische Prozesse und Grammatikalisierungen). Ferner ist die Entstehung idiosynkratischer Entitäten am Ende der jeweiligen Wandelkette nicht immer als absolute Endstufe der Entwicklung zu behandeln, da jede idiomatisierte bzw. grammatikalisierte Entität weiteren, sekundären, tertiären etc. Motivierungen, Reanalysen und Idiomatisierungen offen ist. Dies ist das Wesen des kognitiv begründeten zyklischen Wandels in der Grammatik, welcher – am Beispiel der Ausbildung der Negationssignale – bereits seit O. Jespersen bekannt ist (vgl. Jespersen 1922),² aber leider in der Theorie der Grammatikalisierung nicht weiter verfolgt wurde, bis auf einige wenige Ausnahmen (vgl. Abraham 2014: 338–348). Doch verlaufen auch im Bereich der Lexik durchaus ähnliche Prozesse. Dies sei am Beispiel der Bezeichnungen des ‚heutigen Tages‘ in verschiedenen Sprachen demonstriert. Durch extraordinäre Verwendungshäufigkeit gerät diese Phrase in den Sog einer lautlichen „Abschleifung“ im Redefluss, wodurch eine Reduktion der Sprachform und deren Desegmentierung entsteht. Dies führt zu einem gesetzmäßigen Wandel von Phrase zum unmotivierten Wort. Aus dem lateinischen hoc die (also Demonstrativpronomen der nahen Deixis plus Substantiv im obliquen Kasus) entsteht das altfranzösische hui. Nach genau demselben Muster ergibt die althochdeutsche Phrase hiu tagu (im Relikt-Instrumental) das neuhochdeutsche Adverb heute (über ahd. hiutu, mhd. hiute), welches später – zunächst mundartlich Vgl. ahd. ni, mhd. ne ‚nicht‘ und nhd. nicht aus ahd. ni io uuiht ‚nicht irgendein Wesen‘: formal wurde die Phrase zunächst zum Lexem niouuiht, niuuiht, niiht bzw. niecht und schließlich zu nicht desegmentiert. Das Pronomen nichts ist aus derselben Phrase mit der Genitivform des genuinen Nomens entstanden.

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oberdeutsch – zu heut abgekürzt wird (vgl. Keller 1990: 145). Dem russischen Adverb segodnja ‚heute‘ aus sego dnja ‚dieses Tages‘ und dem polnischen dzisiaj, dziś ‚heute‘ liegt dasselbe Nominationsmuster zu Grunde, aber das Morphem mit der Bedeutung ‚Tag‘ ist im Russischen (doch nicht mehr im Polnischen), ähnlich wie in neuenglisch today, noch gut nachvollziehbar. Trotzdem werden alle diese Bildungen morphologisch angereichert, was wiederum eine neue Phrase mit derselben Bedeutung ergibt, vgl. franz. aujourd’hui, dt. der heutige Tag, am heutigen Tag, russ. segodnjašnij den’, poln. dziś dzień, dzisiejszy dzień. Auf die Entwicklung down the cline, also von der Phrase zum Kompositum (Derivationalisierung nach unten) und weiter zum Simplex, „reiner Lautsubstanz“ (Entderivationalisierung nach unten), folgt nun zyklisch der entgegengesetzte Wandel, up the cline, und zwar vom Simplex zur Phrase (vgl. Harnisch 1998: 81, 2004: 215; Harnisch & Krieger 2017: 95). Doch kann, wie das französische Beispiel zeigt, die Phrase wiederum durch ein separates down the cline-„Intermezzo“ zum Lexem werden: Ein französischer Durchschnittssprecher wird aujourd’hui nicht mehr als die Präpositionalphrase au jour d’ hui ansehen (was beispielsweise daran zu erkennen ist, dass „am heutigen Tage“ auf Französisch au jour d’aujourd’hui heißt).Wenn nun durch das Prinzip der Verschmelzung […] eine neue Einheit geworden ist, b e g i n n t d a s S p i e l v o n n e u e m (Sperrdruck von mir – M.K.). (Keller 1990: 146)

Der zyklische Wandel von Motiviertheit zur – partiellen oder vollständigen – Idiosynkrasie und zur Remotivierung unterschiedlichen Grades macht somit das Wesen der Zeichengenesis aus. Dabei sind sämtliche chronologischen Glieder der jeweiligen Gesamtkette fakultativ. Obligatorisch sind dagegen die genuine Motiviertheit des Zeichens im primären Nominationsakt sowie – falls vorhanden – weitere Motivierungen bei morphologischen und/oder syntaktischen Neusegmentierungen im sekundären, tertiären und weiteren Nominationsakten. In der Grammatik kann man den zyklischen Wandel u. a. am Beispiel der Entwicklung von Analyse zur Synthese und dann wieder zur Analyse beobachten (vgl. Abraham 2014: 331–352). Hier werden vergleichbare Prozesse allerdings an einem anderen Beispiel demonstriert, das aus der Sicht der in diesem Beitrag behandelten Problematik besonders auffällig und beweiskräftig ist. Im Hethitischen gibt es das Adverb kkan, dessen genaue Bedeutung umstritten ist, wobei die genuine lokale Semantik bereits im Althethitischen nachweisbar ist (vgl. Brosch 2014: 127–129). Aus diesem Adverb entsteht dann die Partikel kan mit ebenfalls unklarer Funktion, aber deutlichen Merkmalen einer Ortspartikel (vgl. Neu 1993: 139–142). Die in der Literatur vorgenommene detaillierte Beleganalyse lässt jedoch auf Umdeutungen schließen, die – unter anderen Reanalysen – in Richtung auf die ablativische (also „separative“) Funktion, vergleichbar mit lat. de, gehen

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(vgl. Josephson 1995: 170; in Brosch 2014: 130 allerdings kritisch bewertet). Die Umdeutung der lokalen Semantik als direktional, darunter separativ, ist als allgemeine Tendenz unumstritten und gilt wohl auch für die hethitische Partikel kan. Die weiteren Umdeutungen betreffen nach Josephson die Kategorialbereiche der Aktionsart, Aspektualität und Temporalität (vgl. Josephson 1995: 165–176). Die Frage, ob nun die hethitische Partikel kan deutliche Merkmale einer Aspekt- bzw. Aktionsartfunktion aufweist (was allerdings Brosch 2014: 28 unter Berufung auf den neueren Forschungsstand gewissermaßen relativiert), ist für diese Ausführungen sekundär. Wichtiger ist das allgemeine Postulat einer Affinität der Merkmale ‚Spatium‘, ‚Richtung‘ und ‚Zeit‘ bzw. ‚Aspekt‘ / ‚Aktionsart‘, wobei das Raumkonzept genealogisch primär ist. Dies begründet die Annahme einer Umdeutungskette von Raum- zur Aktionsart- bzw. Aspektsemantik. Ein Mittelglied ist dabei wahrscheinlich die soziative Bedeutung, etwa ‚mit‘, ‚gemeinsam‘, bezogen auf komplexe Objekte, die sich an einem Ort bzw. an benachbarten Orten befinden, wie bei den Substantiven des Typs Ge-stirn, Ge-hege, Ge-lände, Ge-mälde etc. F. Daviet-Taylor betrachtet derartige Bildungen als sprachlichen Ausdruck der Idee des einheitlichen Ganzen bzw. „der in der Einheit aufgehobenen Pluralität, die wir sowohl bei den ge-Prädikationen wie bei den ge-Nominalkomposita vorfinden“ (Daviet-Taylor 1997: 90). Die hethitische Partikel kan geht auf die indogermanische Wurzel zurück, die in gr. σνμ-, συν-, lat. cum bzw. co- mit soziativer Semantik vertreten ist, aber auch in der slawischen separativen und soziativen Präposition aksl. so, sъ, russ. so, s, poln. z, ze ‚mit‘, ‚gemeinsam‘ etc. und im slawischen Verbalpräfix aksl. so-, sъ-, russ. so-, s-, poln. z-, ze- u. a. mit separativer (ähnlich zu heth. kan) und mit soziativer Bedeutung, aber auch mit der grammatischen Funktion des morphologischen Markers des slawischen perfektiven Aspekts, vgl. russ. Viktor pridjot s Irinoj ‚Viktor kommt mit Irina‘, Viktor snjal kastrjulju s plity ‚Viktor nahm den Topf von der Herdplatte weg‘, Viktor sotrudničal s Irinoj ‚Viktor arbeitete mit Irina zusammen‘, Viktor spel novuju pesnju ‚Viktor sang [bis zum Ende] ein neues Lied‘. Das germanische Präfix *ga- (got. ga-, ahd. gi-, ga-, ge-, as. gi-, ge-, ae. ge-/je‐) geht auf dieselbe indogermanische Wurzel zurück. Seine Funktion im Altgermanischen wurde zuerst in der „Deutschen Grammatik“ von Jacob Grimm angesprochen (vgl. Grimm 1819: 641–644), und zwar vor allem am Beispiel der gotischen Präfigierungen mit ga-, bei denen dieses Präfix bekanntlich am stärksten grammatisch formalisiert wurde, vgl. hausjan ‚hören‘ : gahausjan ‚vernehmen‘, bindan ‚binden‘ : gabindan ‚verbinden‘, ‚zusammenbinden‘, niman ‚nehmen‘ : ganiman ‚sammeln‘ etc. Grimm schreibt von einem allgemeinen „Nachdruck“, der dem Verb durch die Vorsilbe ga- beigelegt wurde (vgl. Grimm 1819: 641), welcher darin bestand, dass das Simplexverb verstärkt oder konkretisiert wurde. W. Streitberg (1891: 70–177) vergleicht in seiner umfangreichen Studie das gotische ga- nicht nur etymologisch, sondern auch

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funktional mit dem slawischen Marker des perfektiven Aspekts. Diese These wurde von anderen Forschern, insbesondere von Slavisten, kritisiert, da das Gotische nach ihrer Meinung über keine mit dem slawischen grammatischen Aspekt vergleichbare Kategorialfunktion verfügte (vgl. Mourek 1890; Trnka 1929; Mirowicz 1935). In späteren Arbeiten wurde versucht, die Funktion des gotischen Präfixes ga- und zum Teil auch seiner Entsprechungen in den westgermanischen Sprachen als „terminativ“ (vgl. Maslov 1959: 24–36), „sukzessional“ (vgl. Kacnel’son 1960: 331–345; Smirnickaja 1966), „komplexiv“ (vgl. Wedel & Christchev 1989: 195–208) oder „inchoativ“ bzw. „mutativ“ (vgl. Kotin 1995: 36–45) zu bestimmen. Wichtig für diese Ausführungen ist die Tatsache, dass trotz aller Unterschiede in der Terminologie und Statuszuordnung der germanischen Präfixbildungen mit ga-, gi-, ge- die Verbalableitungen des Typs got. ganiman, gabindan, gahausjan, ahd. ginerien ‚erlösen‘, gihôren ‚vernehmen‘, gimahalan ‚zu reden beginnen‘ etc. eine deutliche Tendenz zur Grammatikalisierung im Bereich der – zumindest lexikalischen, aber möglicherweise auch grammatischen – Aspektfunktion aufweisen (vgl. Leiss 1992: 35, 46–47; Eroms 1997: 16; Kotin 1998: 14). Nach dem allmählichen Abbau dieser Funktion wurde dieses Verbalpräfix im Englischen gänzlich aufgegeben, aber im Deutschen wurde es zunehmend lexikalisiert. Eine besondere Beachtung verdient die Grammatikalisierung des Präfixes gi-/ge- in der Westgermania bei der Bildung der Formen des Partizips II. Das gotische Präfix ga- wurde in dieser Funktion bekanntlich nicht verwendet, worauf schon J. Grimm in seiner Grammatik hinweist (vgl. Grimm 1819: 641–642). Im Gotischen wurde das Partizip II lediglich mithilfe des Wurzelablauts und des Suffixes -n bei starken und mithilfe des Dentalsuffixes bei schwachen Verben gebildet, vgl. got. waurþans ‚geworden Mask. Sg.‘, frijoþs ‚geliebt Mask. Sg.‘. Die präteritalen Partizipialformen mit ga- sind durchweg Bildungen von Verben, die auch in anderen Formen dieses Präfix hatten, vgl. gabundans ‚gebunden Mask. Sg.‘ von gabindan ‚verbinden, zusammenbinden‘. Die Westgermania hat hier weitere Schritte „down the cline“ getan, sodass die entsprechenden Präfixe allmählich zum festen Marker der Partizip II-Form wurden. Allerdings wurde diese Entwicklung im Englischen unterbrochen, während sich das Präfix gi-/ge- im Hoch- und im Niederdeutschen als Partizip II-Indikator gehalten hat und (in der Form ge‐) im Neuhochdeutschen und im Niederländischen gerade in dieser Funktion weiterlebt. In der ältesten Entwicklungsetappe der westgermanischen Sprachen gab es aber eine deutliche Verteilung von präfigierten und nicht präfigierten Partizipien II. Aus der gemeingermanischen Zeit haben diese Sprachen nämlich die quasi perfektive bzw. terminative/resultative Aktionsartsemantik von germ. *ga- vererbt, sodass die Simplizia mit resultativer Aktionsartbedeutung diese bei der Bildung der Partizip II-Form nicht zusätzlich durch das Präfix belegt haben, vgl. ahd. funtan ‚gefunden‘, brâht ‚gebracht‘, uuortan ‚geworden‘, quoman

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‚gekommen‘ etc. Dagegen wurde die Partizip II-Form durativer und z.T. ambiger Verben in der Regel mit gi-/ge- gebildet, vgl. ahd. gisuoht ‚gesucht‘, ginerit ‚gerettet‘, gihôrt ‚gehört‘, gizogan ‚gezogen‘ etc. Später, als die Kategorialfunktion des Präfixes gi-/ge- im Bereich der Aktionsart, welche ursprünglich zur Aspektfunktion nahestand, stufenweise abgeschwächt wurde, verwandelte es sich allmählich in ein rein formales Merkmal des Partizips II. Die einzige Reliktbildung im Neuhochdeutschen ist das präfixlose Partizip II von werden im Passiv (worden). Was passierte nun aber mit den alten Verbalpaaren mit und ohne gi-/ge-? Im Althochdeutschen gibt es noch gi-Bildungen auch außerhalb der Partizip-II-Formen, also ähnlich zum Gotischen, vgl. ahd. hôren – gihôren, fallan – gifallan etc. Mit allmählichem Funktionsverlust von gi- im Bereich der aspektnahen Aktionsartfunktion (Resultativität, Telizität, Terminativität, Perfektivität) kommt es zum höchst markanten Bedeutungswandel durch Umdeutung derjenigen Lesarten, die zur Imperfektivität resp. Perfektivität näherstanden, und ihrer Festlegung jeweils bei Simplizia resp. bei Präfixableitungen. So bedeutete ahd. hôren ursprünglich sowohl ‚hören, vernehmen‘ als auch ‚auf jmdn. hören, jmdm. gehorchen‘. Aus der letzteren Bedeutung entstand später die Bedeutung ‚jemandes Eigentum sein‘, vgl. hörige Bauern. Diese Semantik hat nun das nhd. Verb gehören, während das Simplex hören seine genuine Bedeutung beibehalten hat. Das Präfixverb ahd. gifallan bedeutete neben ‚fallen‘ mit perfektiver Semantik auch ‚auf jmdn. fallen‘, und zwar in Bezug auf das Loswerfen. Diese Semantik wurde nun zunächst im Sinne des Annehmens von Schicksalsurteil, und zwar ursprünglich eher mit negativer Konnotation, interpretiert (‚was einem zufällt, muss er sich gefallen lassen‘) und hat später positive Konnotation erhalten (vgl. die entsprechenden Stichwörter in den Wörterbüchern von Pfeifer 1993; Kluge 1999; Duden 7/2001). Dabei ist die Bedeutung des präfixlosen fallen nur beim Simplex erhalten geblieben. Eine ähnliche Entwicklung kennzeichnet das Verbpaar brauchen – gebrauchen. In derartigen Fällen führte die Reinterpretation, welche mit Aspektverlust einher ging, zwar zum Motivationsverlust, aber keinesfalls zur Grammatikalisierung, sodass die anfängliche „down the cline“-Entwicklung nicht in der Funktionalisierung des Präfixes mündete (was für „Grammatikalisierung nach unten“ typisch ist), sondern im ersten Schritt einen temporären „up the cline“-Wandel (Lexikalisierung bzw. „Degrammatikalisierung nach oben“ von gi-/ge‐) ergab, woraufhin ein erneuter „down the cline“-Wandel (diesmal aber schon als „Degrammatikalisierung nach unten“) folgte, dessen Ergebnis aber wiederum eine neue Lexikalisierung durch Transparenzverlust und Idiosynkrasie der Beziehung zwischen Simplex- und Präfixverb war (vgl. Harnisch & Krieger

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2017: 87, 94–95).³ Strebt man nun eine Vollständigkeit in der Darstellung der gesamten Entwicklungskette einschließlich einer tiefen Diachronie an, ergibt sich etwa ein folgendes Bild: 1. Anfangsstufe: protoidg. Lokaladverb *ko-(n), z. B. in heth. Adv. kkan 2. Statusänderung als Ortspartikel z. B. bei heth. kan bzw. Präposition und zuletzt Präfix u. a. im Griechischen, in der Romania, Slavia und Germania – in der Tendenz eine Entwicklung down the cline: separative und später soziative, letztendlich auch perfektive Funktion; die letztere Entwicklung betrifft insbesondere die slawischen Sprachen, wo das entsprechende Präfix so-/sъzum grammatischen Marker des perfektiven Aspekts wird und somit die Endstufe eines unidirektionalen Prozesses der Vollgrammatikalisierung erreicht. Im Altgermanischen erreicht diese Entwicklung eine relativ hohe Stufe an Grammatikalisierung im Aspektbereich, wovon vor allem die gotische Paarigkeit der Simplizia und ga-Präfigierungen zeugt. Eroms (1997) hat sehr überzeugend gezeigt, dass in den ältesten Denkmälern des Althochdeutschen diese Verbalpaarigkeit immer noch stark vertreten ist. 3. Degrammatikalisierung von gi-/ge- in der Westgermania, die mit stufenweisem Abbau der Kategorialfunktion der Aspektualität einhergeht. Im Englischen führt dies zum Verschwinden des Präfixes aus der Sprache, im Deutschen und Niederländischen zu seiner Lexikalisierung nach oben und späteren Idiomatisierung (Lexikalisierung nach unten) in Reliktpaaren des Typs nhd. hören – gehören, brauchen – gebrauchen, fallen – gefallen. 4. Parallel dazu: Grammatikalisierung von gi-/ge- bei der Bildung der Form des Partizips II, als sein formaler Marker. Wiederum beginnt dieser Prozess als eine Entwicklung up the cline (Grammatikalisierung nach oben) mit Verteilung der Aktionsartfunktion zwischen präfigierten nichtresultativen Simplizia und unpräfigierten resultativen Simplizia, die kein Präfix erhalten. Sie endet aber deutlich als ein down the cline-Prozess, bei dem das Präfix nhd. gezum rein grammatischen Marker von Partizip II-Formen wird. Der zyklische Charakter des Funktionswandels ist dabei kaum zu übersehen.

 Anders als im zitierten Beitrag werden hier die Prozesse up bzw. down the cline sehr weit verstanden, und zwar nicht nur mit Formwandel sprachlicher Entitäten verbunden, sondern auch als reiner Bedeutungs- bzw. Funktionswandel.

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5 Antinomie von Transparenz und Idiomatik als Kognitionsphänomen (Ontogenese) Die Entstehung des Sprachzeichens als primärer Nominationsprozess ist immer motiviert, da intransparente Zeichen im Nominationsakt dem Symbolcharakter sprachlicher Entitäten widersprechen und daher von vornherein zur Ablehnung durch die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft verurteilt sind. Die Weiterentwicklung genuin transparenter Entitäten verläuft als kontinuierlicher Prozess von Umdeutungen auf metaphorischer oder metonymischer Basis sowie als Idiomatisierung. Die letztere kann teilweise oder vollständig sein. Die meisten Komposita und Ableitungen sind nur auf den ersten Blick vollmotivierte komplexe Wörter. In Wirklichkeit gibt es nahezu bei jedem komplexen Wort semantische Zuwächse und Motivationsverluste, welche für evidente Diskrepanzen von Wortbildungssemantik und lexikalischer Semantik sorgen. Die meisten komplexen Wörter sind daher mehr oder minder lexikalisierte Einheiten. Dass eine Waschmaschine für Waschen und Spülen von Wäsche bestimmt ist, während eine Spülmaschine für das Spülen von Geschirr konstruiert wurde, ergibt sich nicht direkt aus der Morphemstruktur dieser Substantive und kann erst durch Einprägung ihrer lexikalischen Semantik als Ganzes angeeignet werden. Die morphosemantische Transparenz dieser Wörter kann hier lediglich als eine mittelbare Merkhilfe dienen. Ein Schüler ist nach dem Ableitungsmuster suffixaler Derivation eine Person, die etwas mit der Schule zu tun hat, aber dass es sich hierbei um eine Person handelt, die in der Schule lernt und nicht etwa lehrt oder in einer anderen Eigenschaft arbeitet, folgt daraus nicht. Bei anderen Bildungen sind die Beziehungen zwischen der Semantik ihrer Teile und der Semantik des Gesamtlexems noch weniger plausibel, vgl. Rechteck, Ursprung, kennenlernen, erstehen etc. Wieder andere Bildungen haben lediglich die formal-morphologische Komplexität beibehalten, aber ihre ursprüngliche semantische Komplexität ist verloren gegangen, vgl. verstehen, erfahren etc. Darüber hinaus gibt es formal komplexe Wörter mit sog. „leeren Morphen“ (vgl. Mel’čuk 1998), d. h. Morphemen, die nicht mehr als freie Lexeme existieren, vgl. Him-beere, er-innern, ge-bühren etc. Derartige Bildungen zeugen davon, dass eine Korrelation zwischen Form und Semantik im Prozess der Zeichenentwicklung einem ständigen Wandel unterliegt, bei dem Motiviertheit und Idiosynkrasie als zwei dichotomische Prinzipien der Zeichengenesis zusammenwirken. Grund dafür sind die Mechanismen der Zeichengenesis im Gehirn, und zwar ein ständiger Austausch zwischen Systematik und Idiomatik des zeichenhaften (symbolischen) Weltbildes. Eine effiziente kognitive Bewältigung des gegebenen Zeichensystems in seiner ständigen Dynamik ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Gehirnareale des Neocortex,

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welche für „idiomatisches“ und „systematisches“ Wissen zuständig sind, ununterbrochen interagieren (vgl. Bornkessel-Schlesewsky & Schlesewsky 2009: 50– 66). Dasselbe gilt für Grammatikalisierung bzw. Lexikalisierung, Motivierungen und Demotivierungen in der Zeichengenesis und damit vergleichbare Prozesse, sowohl up als auch down the cline. Die postulierte Unidirektionalität und Unumkehrbarkeit von Demotivierungsprozessen am Beispiel der Grammatikalisierung wird, wie oben bereits erwähnt wurde, durch Ausbildung von Mechanismen einer automatischen Verwendung von Sprachformen erklärt. Der Automatismus kann nun erst dann zur Geltung kommen, wenn die Verwendung einer Sprachform frei von störender Transparenz und Motivation ist (vgl. Lehmann 2004: 172– 174). Aus dieser Sicht sind sämtliche Remotivierungen bzw. Neusegmentierungen idiosynkratischer Entitäten als Phänomene der sprachlichen Kreativität zu behandeln, welche eher peripher ist und gewissermaßen Ausnahmestatus hat. Am besten lässt sich dieses Phänomen in der Kindersprache beobachten, wo beim Spracherwerb stets Umdeutungen und „Umformatierungen“ von Wörtern und Wortformen stattfinden, welche gerade Indizien für die kindliche Sprachkreativität sind. So wurde u. a. das Phänomen einer Resegmentierung der Pluralsuffixe in der Kindersprache beobachtet, deren Folge ein „neuer“ Plural auf -s von genuinen Pluralformen auf -er, reinterpretiert als Singularformen, ist: Kind-er – *Kinder- – *Kinder-s (vgl. Harnisch 2004: 225–226). Ein Gegenstück zu dieser down the cline-Entwicklung ist die up the cline-Umdeutung von Feder als Plural des vermeintlichen Singulars *Fed- (vgl. Harnisch 2005: 131–132). Ähnliche Prozesse kennzeichnen – und dies bei weitem nicht nur in der Kindersprache – die Anpassung „suffixverdächtiger“ Fremdwörter (vgl. Harnisch 2010) an den deutschen morphosemantischen Usus, vgl. dt. Keks aus der genuinen englischen Pluralform auf -s des Substantivs cake (vgl. Harnisch & Krieger 2017: 89). Diese Prozesse sind universell und betreffen den Kern der sprachlichen Nomination, bei der genuine Transparenz des Sprachzeichens, Transparenzverlust und (neuer) Transparenzgewinn Hand in Hand gehen. Frage ist nun, wie man diese Evidenzen aus der Sprachontologie theoretisch erfasst. Ohne hier ausführlich auf die ersatzdistributive Funktion der Hirnstrukturen des Neocortex (und nicht nur des Neocortex) einzugehen (hierzu vgl. u. a. eine weiterführende Darstellung bei Černigovskaja 2013: 350–352), kann grosso modo festgestellt werden, dass sowohl Motivation als auch Demotivierung (Idiomatisierung) wie die darauf folgende Remotivierung bzw. Neu- und Umsegmentierung sprachlicher Zeichen mit sich daraus notgedrungen ergebenden neuen Zuordnungen ihrer Form und Bedeutung bzw. Funktion zu den Grundprozessen gehören, die im menschlichen Gehirn ablaufen. Man kann hierbei etwas grob von Austauschprozessen in neuronalen Ketten beider Hemisphären sprechen, welche im Allgemeinen darin bestehen, dass „systematisches“ und „idiomatisches“ Wissen derart interagieren, dass einerseits

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simple Zeichen entstehen, welche lediglich vom Gedächtnis festgehalten und automatisch abgerufen werden, und andererseits durch Ableitungsprozeduren im „Systemmodul“ resegmentierte und remotivierte Zeichen manifestiert werden. In diesem Sinne sind „Kinderetymologien“ ontogenetische Korrelate für phylogenetische Prozesse der Volksetymologie bzw. Adaptation fremdsprachiger Nominationsmuster an die Muttersprache durch Resegmentierung und Neudeutung. Jede derartige Bildung in der Kindersprache ist ihrem Wesen nach durchaus mit der Urschöpfung sprachlicher Zeichen vergleichbar.

6 Transparenz und Idiosynkrasie von Sprachformen aus genealogischer Sicht (Phylogenese) Ein Musterbeispiel für transparente Zeichen ist neben – alten wie neueren – onomatopoetischen Bildungen des Typs Krach, Platsch, Kuckuck, Krähe, grunzen, gackern, schnattern, quaken, bimmeln, blaffen, blubbern, dudeln, klimpern etc. Komposita und Derivate. Werden unmotivierte (in Wirklichkeit demotivierte bzw. idiomatisierte) Simplizia oder Affixe (Haus, Buch, Beere, stehen, grün, schön, hoch, Gast, lesen, Erde, auf-, un‐) miteinander durch Zusammensetzung oder Ableitung verbunden, entstehen dadurch wiederum motivierte Lexeme (Hochhaus, Lesebuch, Erdbeere, aufstehen, hellgrün, unschön). Die formale Komplexität scheint zwar die entsprechende morphosemantische Transparenz zu triggern, geht aber keinesfalls damit notgedrungen einher. Das Verblassen der Motiviertheit kann sowohl unmittelbar im Nominationsakt geschehen als auch Ergebnis einer längeren Entwicklung sein. Bei der Bildung des Kompositums Rechteck ist der semantische Zuwachs (vgl. Jermakova 1975: 57–60) ‚geometrische Figur mit vier rechten Winkeln‘ der unveräußerliche Bestandteil seiner lexikalischen Bedeutung, da Rechteck ohne diesen Zuwachs ein ‚rechtes Eck‘ bedeuten würde (vgl. Smirnickij 1952). Dass ein Schüler eine Person ist, die in der Schule lernt und nicht etwa lehrt, ergibt sich nicht aus der Wortbildungsstruktur dieser Ableitung, sondern ist ein „zusätzliches“ semantisches Merkmal. Motiviertheit und Verblassung der Transparenz sind bei derartigen Bildungen in etwa gleichmäßig vertreten. Manche komplexe Wörter sind nur scheinbar vollmotiviert und weisen bei näherer Betrachtung deutliche semantische Zuwächse auf, wie z. B. die deutschen Komposita Waschmaschine und Spülmaschine, wo der jeweilige Zuwachs entsprechend ‚Wäsche‘ bzw. ‚Geschirr‘ ist.

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Ergebnis einer allmählichen, stufenweisen Demotivierung sind dagegen solche Wörter wie Maulwurf, Himbeere, gestehen, verstehen. Dabei spielt der Formverlust einer Konstituente (wie bei Himbeere oder Brombeere) im Vergleich zur Beibehaltung formaler Korrelation zwischen den unmittelbaren Konstituenten und ihren freien Korrelaten (wie bei Maulwurf, erfahren, verstehen) eine sekundäre Rolle. In beiden Fällen handelt es sich nämlich um idiomatisierte Bildungen, deren Semantik nicht (mehr) aus deren Struktur ableitbar ist. Wichtiger ist, dass derartige komplexe Wörter potentiell zu („volksetymologischen“) Remotivierungen prädestiniert sind, welche mit oder ohne Umsegmentierung verlaufen können. Ein Paradebeispiel ist hier das Substantiv Maulwurf, vgl. ahd. mûwerf(o), wörtl. ‚Haufenwerfer‘ (vgl. aengl. mûha, mûwa ‚(Korn)-Haufen‘), mhd. moltwerf, wörtl. ‚Erdwerfer‘. Schon im Frühmhd. (11. Jh.) entstand das mûlwerf in Anlehnung an mûl ‚Maul‘ (Pfeifer 1993; Kluge 1999; Duden 7/2001). Es gibt aber viel interessantere Fälle von (voneinander unabhängigen) primären Motivierungen in verschiedenen Sprachen, aber auch von Remotivierungen, bei denen statt einer Neudeutung die alte, verlorengegangene morphosemantische Transparenz bei einem komplexen Wort wieder „belebt“ wird, was von einer schwer erklärlichen, aber dennoch in der Sprache existierenden genetischen Verwandtschaft von Deutungs- und Umdeutungsmotiven bei metaphorischer bzw. metonymischer Übertragung zeugt. Nehmen wir als Beispiel hierfür das Substantiv Punkt im Deutschen und sein – damit etymologisch nicht verwandtes – russisches Äquivalent točka. Das deutsche Wort ist historisch gesehen eine Entlehnung aus lat. punctum, was ursprünglich ‚Stich‘ und später ‚Punkt‘ bedeutete. Russ. točka ‚Punkt‘ stammt vom Verb tykat’ ‚stechen‘. Laut der traditionellen Metapherntheorie handelt es sich dabei um „tote Metaphern“, da das jeweilige Tertium comparationis aus der Sicht des gegenwärtigen Sprachbewusstseins nicht mehr ableitbar ist. Lakoff & Johnson (2003: 5) schreiben diesbezüglich mit vollem Recht, es gäbe in der Tat keine toten Metaphern, weil jede tote Metapher jederzeit wiederbelebt werden kann. Die „Wiederbelebung“ der toten Punkt-Metapher im Deutschen erfolgt nun im Kompositum Stichpunkt, welches aus historischer Sicht eigentlich eine tautologische Bildung ist. Die Prozesse der Grammatikalisierung und Lexikalisierung verlaufen im Prinzip infolge der Wirkung vergleichbarer Mechanismen. Die Formerosionen spielen dabei eine sekundäre Rolle und können gemeinhin wohl kaum als primäre Faktoren der down the cline-Prozesse im Rahmen der Grammatikalisierung bewertet werden, auch wenn sie häufig in der Tat – in der Regel durch Akzentabschwächungen und automatisierte Reduktionen im Redefluss, welche später konventionalisiert werden, – diese Prozesse mitgestalten. Die zum Teil extremen Formreduktionen, wie bei den Auxiliarverben des Englischen have, will, shall, be, die insbesondere in Verbindung mit Personalpronomina zu Enklitika abge-

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schwächt werden (vgl. I’ve done it just now; He’ll come at six; I’m speaking to my friend), machen sie wohl kaum „stärker“ grammatikalisiert als die Auxiliare haben, werden oder sein im Deutschen, die nicht dermaßen radikal reduziert werden (Ich habe es bereits gemacht; Er wird um sechs kommen; Ich bin langsam gefahren). Entscheidend ist bei Grammatikalisierung der radikale Funktionswandel, welcher in aller Regel mit prosodischen Veränderungen bei der grammatikalisierten Entität einhergeht, die durch Formverluste (Reduktionen) begleitet werden können, aber keineswegs müssen. Die althochdeutsche Präpositionalphrase frühahd. zuo uuâri, spätahd. zi uuâri ‚wahrhaftig, wirklich‘ entwickelte im Mittelhochdeutschen neben der syntaktisch komplexen Form ze uuâre die simple lexikalische Form zeuuâre mit adverbialer Funktion. Im Frühneuhochdeutschen entstand daraus zewar und schließlich zwar, das sich bis zum Neuhochdeutschen gehalten hat. Die Adverbialfunktion wurde durch Reanalyse als Partikelfunktion umgedeutet, wobei die semantische Reanalyse den metonymischen Pfad nutzt, welcher im Allgemeinen als ein gewisses „Gegenteil“ der genuinen Semantik beschrieben werden kann. Die Bedeutung ‚wahr‘, ‚real‘, ‚echt‘ wird im ersten Teilsatz einer restriktiv-konzessiven Satzverbindung als eine vermeintlich „störende“ Bedingung reanalysiert, trotz welcher der im zweiten Teilsatz kodierte Sachverhalt zustande kommt: zwar x, aber p oder p ungeachtet von x. Die Tatsächlichkeit, Faktizität von x, die potenziell die Verwirklichung von p verhindern sollte, wird einerseits festgehalten (was direkt von der genuinen Bedeutung von ‚zwar‘ vererbt ist) und andererseits als verhindernder Faktor im Gesamtverbund des Satzganzen relativiert bzw. geleugnet. Die zwar…, aber-Sätze sind daher gewissermaßen ein Gegenstück zu den wenn…, dann-Syntagmen. Dass nun im ersten Teilsatz der restriktiv-konzessiven Satzverbindung die Partikel verwendet wird, die das Ergebnis der Grammatikalisierung des Lexems mit der Bedeutung ‚wahr‘, ‚tatsächlich‘, ‚echt‘ ist, ist wohl kaum ein Zufall und scheint ein übereinzelsprachiges Grammatikalisierungsphänomen zu sein. Denselben Wandel erfahren nämlich u. a. die Substantive russ., poln. prawda und die polnische Präpositionalphrase co prawda wörtl. ‚was Wahrheit [ist]‘ sowie das von einer anderen Präpositionalfügung abgeleitete Adverb und später die Partikel wprawdzie ‚wahrheitlich‘, ‚zwar‘ < w prawdzie ‚in Wahrheit‘, vgl. russ. Ja, pravda, nie čital Gegelja, no znaju, čto jego teksty očen’ trudno ponjat’; poln. Co prawda / wprawdzie nie czytałem Hegla, ale wiem, że jego teksty są trudne do zrozumienia; dt. Ich habe Hegel zwar nicht gelesen, aber ich weiß, dass seine Texte schwer verständlich sind. Der Status der jeweiligen Partikeln ist in allen drei Sprachen absolut gleich, obwohl sie im Russischen und im Polnischen freie Korrelate haben und im Deutschen auf Grund der formalen Erosion im Laufe der down the cline-Entwicklung nicht mehr mit ‚wahr‘ korrelieren.

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7 Ausblick Motiviertheit (genuine morphosemantische bzw. morphosyntaktische Transparenz) des Sprachzeichens ist sein ontologisches Bildungsprinzip. Demotivierung (Idiomatisierung) von Sprachformen und ihre sich daraus ergebende relative Arbitrarität ist aus kognitiver Sicht unveräußerlich, aber genealogisch stets sekundär. Remotivierung als „Wiederherstellung“ der Transparenz ist daher ein sprachontologisch bedingter Prozess des Zeichenwandels in der Sprache. Die Remotivierung umfasst zwei grundsätzliche Wandelphänomene: (i) Wiederherstellung der Transparenz aufgrund von Motiven, die von dem „Urmotiv“ der Nomination bzw. der Reanalyse abweichen (Umdeutung) und (ii) Wiederherstellung der genuinen Transparenz aufgrund einer Wiederbelebung des genuinen Nominations- bzw. Reanalyse-Motivs. Die Grammatikalisierung durch die metonymische Prozedur der Reanalyse ist ein Prozess down the cline, bei dem die Demotivierung sprachlicher (lexikalischer) Entitäten und deren Statusänderung zu kategorialgrammatischen Markern in erster Linie einen Funktionswandel darstellen. Er kann zwar durch Formverluste begleitet werden, aber sie sind stets sekundär und nicht unveräußerlich. Daher können grammatikalisierte Entitäten aus der Sicht ihrer Form sowohl komplett unmotiviert sein als auch Korrelate im Bereich der semantisch autonomen Lexikoneinheiten haben. Im letzteren Fall ist theoretisch jederzeit eine Neumotivierung durch mittelbare Herstellung eines sekundären Bezugs zum „Volllexem“ möglich. Ob sie nun tatsächlich erfolgt, ist jedoch kaum prognostizierbar. Für Sprachwandel relevant ist in jedem Fall das Vorhandensein von zwei entgegengesetzten Tendenzen: zur Motiviertheit und zu deren Verlust (Idiomatisierung bzw. Grammatikalisierung). Letztere wird durch Mechanismen einer Automatisierung der Sprachverwendung ausgelöst und mündet in der Besetzung des Langzeitgedächtnisses durch intransparente uniformierte „Units“, während erstere diejenigen Bereiche des Neocortex ausfüllt, welche für die kognitive Verarbeitung nach Systemprinzipien zuständig sind. Im Falle der up the cline-Entwicklungen bei Remotivierung und sekundärer Lexikalisierung grammatikalisierter Entitäten geht dieser Wandel mit sprachschöpferischer Kreativität einher, welche auf den ersten Blick der Automatisierung gegenübersteht. In Wirklichkeit sind beide Mechanismen die Glieder derselben Kette im Prozess des zyklischen Sprachwandels auf allen Ebenen des Sprachsystems. Die Diskussion darüber, ob Grammatikalisierungsprozesse unidirektional oder reversibel sind, sollte daher durch eine andere Fragestellung ersetzt werden, bei der die Relevanz dieser Dichotomie anders definiert wird, indem der hinter beiden Prozessen stehende Wandel sowohl aus ontogenetischer als auch aus phylogenetischer Sicht als eine natürliche und einheitliche Entwicklung mit

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ontologischer und genealogischer Priorität der Motiviertheit und Transparenz gegenüber (genealogisch sekundärer) Idiosynkrasie von Sprachformen erscheint.

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Gabriele Diewald

Der Status und die interne Motiviertheit grammatischer Paradigmen Zusammenfassung: Vor dem Hintergrund der Grammatikalisierungsforschung wird der Begriff des Paradigmas problematisiert und neu definiert. Es wird davon ausgegangen, dass Paradigmen die Zielpunkte von Grammatikalisierungsprozessen sind und dass ohne das Konzept des Paradigmas die Resultate von Grammatikalisierungsprozessen in ihrer semiotischen und funktionalen Spezifik nicht dargestellt werden können. Es wird vorgeschlagen, Paradigmen als neuen Typus von Konstruktionen, als Hyperkonstruktionen, zu konzipierten, die die funktionale und formale Spezifik grammatischer Kategorien abzubilden im Stande sind. Der Vorschlag wird gestützt durch Argumente aus der theoretischen Morphologie, Beobachtungen an diachronen Prozessen und synchronen Daten. Schlüsselwörter: Paradigma, Grammatikalisierung, grammatische Kategorie, Hyperkonstruktion, Gradienz, Opposition, Indexikalität, paradigmatische Relation, Netzwerk, adverser Kontext

1 Einleitung In der Grammatikalisierungsforschung spielt der Paradigmenbegriff eine zentrale Rolle. Die in jüngerer Zeit beobachtbaren Diskussionen innerhalb der eng verbundenen theoretischen Richtungen der Konstruktionsgrammatik und der Grammatikalisierungsforschung geben jedoch Anlass, den Paradigmenbegriff und seine Relevanz für die Grammatikalisierung zu überprüfen und erneut zu validieren. Denn es zeigt sich, dass bei allen sonstigen Gemeinsamkeiten zwischen konstruktionsgrammatischen und grammatikalisierungstheoretischen Ansätzen, erstere dazu neigen, den Paradigmenbegriff zu ignorieren bzw. auf-

Diese Arbeit ist im Rahmen des DFG-Projekts „Varianz und Grammatikalisierung von Verbalszenenkonstruktionen“ entstanden (siehe https://www.gabrielediewald.de/forschung/varianz-undgrammatikalisierung-von-verbalszenenkonstruktionen.html). Mein Dank gilt den Projektmitarbeitern Dániel Czicza und Volodymyr Dekalo sowie Katja Politt. Prof. Dr. Gabriele Diewald, Leibniz Universität Hannover, Deutsches Seminar, Abteilung Linguistik, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-003

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Gabriele Diewald

zulösen, indem beispielsweise das Prinzip des konstruktionellen Netzwerk als einziges einheitliches Darstellungsformat für alle strukturellen Konfigurationen angesehen wird. Hier hingegen wird – mit Bezug auf Diewald (2020) – die Unumgänglichkeit des Paradigmenbegriffs betont und für das Paradigma als eigener, komplexer Typus von Konstruktion – als Hyperkonstruktion – argumentiert. Allerdings wird es dabei weniger um die Frage der Integrierbarkeit des Paradigmenkonzepts in die formalen Konzepte der Konstruktionsgrammatik gehen, sondern um ein grundsätzliches Plädoyer für das Paradigma als zentrales Konzept der Grammatikalisierungsforschung und eine Schärfung dieses Konzepts, das dann als Grundlage für eine weitere Bearbeitung in konstruktionellen Formaten dienen kann. Das Thema der (Re‐)Motivierung wird insofern relevant, als der hier vertretene Paradigmenbegriff eine wechselseitige Bedingtheit der Teile und des Ganzen voraussetzt, woraus sich Motivierungszusammenhänge für Sprachwandelerscheinungen ebenso wie für Prozesse des Sprachgebrauchs ableiten. Wichtige Fragen, die an den Paradigmenbegriff gestellt und im Lauf des Beitrags beantwortet werden sollen, sind: Welche Kriterien bzw. Eigenschaften sind für die Definition des Paradigmas relevant? Wie kann das Paradigma von anderen, zum Teil verwandten Konzepten abgegrenzt werden? Dabei gelten folgende Grundannahmen: Paradigmen sind wichtige Generalisierungen und Bestandteil des Wissens der Sprechenden. Grammatische Paradigmen sind die Zielpunkte von Grammatikalisierungsprozessen, d. h. ohne das Konzept des Paradigmas sind die Resultate diachroner Grammatikalisierungsvorgänge in ihrer semiotischen und funktionalen Spezifik nicht darstellbar. Der Beitrag gliedert sich in zwei Hauptteile, deren erster den konzeptionellen und theoretischen Grundlagen gewidmet ist (Abschnitt 2) und deren zweiter (Abschnitt 3) Evidenzen aus verschiedenen linguistischen Bereichen anführt, die die theoretische Konzeption stützen und die unabhängige Existenz von Paradigmen untermauern.

2 Konzeptionelle und theoretische Grundlagen 2.1 Gradienz In der Grammatikalisierungsforschung ebenso wie in der Konstruktionsgrammatik ist bekannt, dass Lexikon und Grammatik faktisch nicht getrennt sind und dass sowohl in der Synchronie wie auch in der Diachronie mit Gradienz, also mit skalierbaren, gleitenden Übergängen, zu rechnen ist. Diese werden in der For-

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schung dargestellt in Form von Pfaden, Skalen, Netzwerken, Vererbungsrelationen und weiteren metaphernähnlichen Konzepten. Gradienz betrifft formale, semantische und funktionale Aspekte der beteiligten Zeichen bzw. Konstruktionen. Ein gutes Beispiel für semantische und funktionale Gradienz ist das Verb verdienen. Im heutigen Deutsch weist es eine große konstruktionelle Vielfalt auf, die vom Vollverb mit nominalen Argumenten bis zur Anbindung eines Infinitivs reicht, wobei sich im letzten Fall deontische Bedeutung einstellen kann, so dass die Entwicklung einer neuen modalen Verbalkonstruktion anzunehmen ist (Diewald, Dekalo & Czicza 2021). Die Skala kleiner, gradienter Schritte, die vom Vollverb mit Akkusativobjekt zum deontischen Marker mit Infinitivkomplement führen, sei anhand einiger Belege aus dem DWDS-Korpus illustriert: (1)

In kleineren Orten verdient der Arbeiter durchschnittlich 600 Pesos. (DWDS: Die Zeit, 13.03.1970)

(2)

Außerdem haben wir uns eine Zigarre verdient. (DWDS: Benjamin Lebert, 1999, 133)

(3)

Aber ihr mögt darüber sagen, was ihr wollt, er verdient doch Respekt. (DWDS: Hans Magnus Enzensberger, 1972, 61)

(4)

Dieser Ausspruch Schopenhauers verdient es, der Vergessenheit entrissen zu werden. (DWDS: Rechenberg, Peter: Was ist Informatik?, München: Hanser 1994 [1991], 290)

(5)

Endlich verdient noch die Wechselwirkung zwischen den Estern und dem Ammoniak erwähnt zu werden. (DWDS: Fischer, Emil: Einleitung. In: ders., Untersuchungen über Aminosäuren, Polypeptide und Proteine. Berlin: Springer 1906, 1553)

(6)

Die Einleitung des Wiener Sozialisten Engelbert Pernerstorfer verdient es, in aller Ausführlichkeit zu Wort zu kommen. (DWDS: Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt a. M.: Eichborn 1999, 352)

(7)

Es gibt Stellen darin, die klassisch zu werden verdienen, die in ein Lesebuch gehören, […]. (Auerbach, Erich: Mimesis, Bern: Francke 1959 [1946], 476)

(8)

Ein so Elender verdiene nicht zu leben. (DWDS: Jochen Klepper, 1962, 522)

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Gabriele Diewald

Während die Beispiele (1) bis (3) das Vollverb mit Akkusativobjekt zeigen, weisen (4) bis (8) eingebettete Infinitivkonstruktionen auf, die den ersten Grad der Auxiliarisierung von verdienen bedeuten. Zugleich sind sukzessive semantische Veränderungen festzustellen, die von der lexikalischen Bedeutung ‚durch eigene Anstrengung erlangen‘ über mehrere (im Prinzip unendlich verfeinerbare) Nuancen, wie z. B. ‚einen berechtigten Anspruch haben‘ wie in (3) und (4), bis zur deontischen Bedeutung der ‚schwachen Obligation‘ im Sinne von ‚sollte‘ bzw. ‚es ist geboten/angemessen, dass X‘ in (5) bis (8) führen. Ohne die Details des Umgangs mit Gradienz und Ambiguität zu diskutieren, sei festgehalten, dass es eine der zentralen Annahmen der Grammatikalisierungsforschung ist, dass Gradienz immer mit Distinktheit im Sinne grammatischer Oppositionen interagiert. Dies betrifft sowohl die Betrachtung der sprachlichen Strukturen und ihrer Einordnung wie auch den Prozess als Ganzes. Anders formuliert: Grammatikalisierung, verstanden als Prozess, in dessen Verlauf eine linguistische Einheit (Konstruktion) grammatische Funktion(en) hinzugewinnt und zugleich lexikalische Funktion(en) abbaut, ist ohne die Annahme einer kategorialen Unterscheidung zwischen Lexikon und Grammatik nicht denkbar. Der Endpunkt des Prozesses – Grammatik – ist essentiell vom Ausgangspunkt verschieden. Dazu folgendes Zitat von Lehmann: In a simple way of speaking, we may say that grammaticalization pushes a sign into the grammar, while lexicalization pushes it into the lexicon. A conception of the relationship of the two processes therefore presupposes an account of the relationship between lexicon and grammar. (Lehmann 2004: 168)

Bei der Grammatikalisierung eines Zeichens bzw. einer Konstruktion findet ein kategorialer Wechsel der semiotischen Funktion statt. Der Übergang eines ehemals lexikalischen Zeichens in eine andere Zeichenklasse (ein grammatisches Zeichen) äußert sich in seinem Eintritt in ein Paradigma. Dies ist eine zentrale Beobachtung, so dass eine etwas genauere Behandlung angebracht ist.

2.2 Paradigma und Paradigmatisierung Beide Konzepte, der Prozess der Paradigmatisierung und sein Zielpunkt, das Paradigma, sind im Gegensatz zu konstruktionsgrammatischen Ansätzen fundamentale Konzepte der Grammatikalisierungstheorie. Grammatikalisierung ist Paradigmenbildung. Sie betrifft die Entstehung distinktiver Oppositionen innerhalb einer grammatischen Kategorisierung, gleichgültig ob es sich dabei um die Entstehung eines neuen Paradigmas oder um den Eintritt einer „neuen“ Form

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(d. h. einer Form die bislang nicht in dieser Funktion verwendet wurde) in ein bereits vorhandenes Paradigma handelt (s. hierzu die Unterscheidung von „innovation“ einerseits und „renovation“ und „reinforcement“ andererseits in Lehmann 2015 [1982]: 22–26). Abgeschlossene Grammatikalisierung bedeutet, dass eine neue grammatische Distinktion, eine neue Opposition in einem grammatischen Paradigma entstanden ist. Damit hat sich der semiotische Status des beteiligten Zeichens verändert (kategoriale Verschiebung). Es ist zum Exponenten einer paradigmatischen Zelle geworden. Zwei der Lehmannschen Grammatikalisierungsparameter erfassen die jeweiligen Grade der vollzogenen Paradigmatisierung. Einer der beiden betrifft die paradigmatische Kohäsion, was wie folgt beschrieben wird: The cohesion of a sign with other signs in a paradigm will be called its paradigmaticity, that is, the degree to which it enters a paradigm, is integrated into it and dependent on it. (Lehmann 2015: 131)

Spiegelbildlich hierzu diagnostiziert der zweite hier relevante Parameter, der die paradigmatische Variabilität betrifft, den mit zunehmender Grammatikalisierung verbundenen Verlust an paradigmatischer Variabilität und die daraus folgende Zunahme an Obligatorik.¹ The paradigmatic variability of a sign is the possibility of using other signs in its stead or of omitting it altogether. (Lehmann 2015: 131)

Der Zielpunkt eines Grammatikalisierungsprozesses, d. h. ein (verändertes oder neu entstandenes) grammatisches Paradigma wird im Allgemeinen über folgende Eigenschaften bestimmt (Diewald 2010, 2017; s.a. Bybee, Perkins & Pagliuca 1994; Himmelmann 2004; Lehmann 2004): 1. Alle Mitglieder eines Paradigmas haben eine gemeinsame grammatische Funktion. Diese wird in der Kategorienbezeichnung, im Namen des Paradigmas, mehr oder weniger treffend zum Ausdruck gebracht.

 Syntagmatische Aspekte der Variabilität aus konstruktionsgrammatischer Perspektive werden diskutiert in Coussé, Andersson & Olofsson (2018), wobei hier auch der Bezug zum Konzept der „host class expansion“ nach Himmelmann (2004) hergestellt wird. Für die hier diskutierten Fragen ist dieser Aspekt der Ausweitung der types der syntagmatischen Partner einer in Grammatikalisierung befindlichen Einheit, insofern sekundär, als er sich notwendig und unabhängig von weiterer Grammatikalisierung in frühen Stufen einstellt und im Falle einer Paradigmenbildung logisch vorausgesetzt werden muss, selbst aber noch kein eindeutiger Indikator für Paradigmenbildung ist.

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2.

3. 4.

5. 6.

Gabriele Diewald

Die einzelnen Mitglieder des Paradigmas, die paradigmatischen Zellen, sind Spezifizierungen der gemeinsamen grammatischen Funktion; jede von ihnen repräsentiert einen distinktiven Wert. Paradigmen können Subkategorien, d. h. innerparadigmatische Untergruppen, bilden. Die ausdrucksseitigen Realisierungen von Paradigmenmitgliedern müssen nicht einheitlich sein, sondern können je nach betroffenem Eingabeelement unterschiedliche morphosyntaktische Prozesse aufweisen. Das gesamte Gefüge der innerparadigmatischen Bezogenheit ist indexikalisch. Die paradigmatischen Oppositionen haben Obligatorik zur Folge.

Zu den Punkten 1., 2. und 3. soll an dieser Stelle nichts gesagt werden, da sie wohl generell akzeptierte Bestimmungen von Paradigmen sind. Punkt 4. wird in einem späteren Abschnitt behandelt (Abschnitt 2.4.). An dieser Stelle sind jedoch einige Ausführungen zur Indexikalität und zur Obligatorik als zentrale Merkmale von Paradigmen angebracht. Zu Punkt 5: Indexikalische Funktion von Grammatik bzw. Paradigmen. Wie in Diewald (2010, 2011, 2017) dargelegt,² ist Indexikalität das zentrale Merkmal grammatischer Zeichen und Paradigmen. Dabei muss die spezifische indexikalische Funktion von Grammatik unterschieden werden von anderen indexikalischen Relationen, die zwar auch in grammatischen Zeichen vorkommen, die aber nicht auf grammatische Paradigmen beschränkt und damit nicht distinktiv für grammatische Funktionen sind. Die zwei Arten indexikalischer Relationen, die auch außerhalb grammatischer Paradigmen vorkommen, sind die referentielle Indexikalität und die syntagmatische Indexikalität. Die referentielle Indexikalität meint Verweisrelationen zwischen dargestelltem Sachverhalt und außersprachlicher Situation. Pragmatisch liegt hier eine echte deiktische Relation zwischen Sprache und Sprechsituation (Sprechorigo) vor. Im Tempusparadigma, um ein Beispiel für das typische Zusammenwirken aller drei Arten von Indexikalität in einem grammatischen Paradigma zu geben, ist die Indizierung der Relation zwischen Sachverhaltszeit (= Ereigniszeit) und Sprechzeit ein Fall der referentiellen Indexikalität. Die syntagmatische Indexikalität hingegen, als zweiter Typus, meint Verweisrelationen zwischen linguistischen Einheiten im Syntagma und ist mit textueller Kohäsion verbunden. Im Tempusparadigma findet sich diese Art der In-

 Von den sehr zahlreichen Studien, die zu ähnlichen Positionen kommen, seien hier nur folgende beispielhaft angeführt: Bybee, Perkins & Pagliuca (1994: 2); Radtke (1998: 10).

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dexikalität z. B. in der sekundärer Verweisrelationen des Plusquamperfekts auf eine Betrachtzeit, die sowohl von der Sachverhaltszeit wie auch von der Sprechzeit verschieden ist und die meist im Kotext, z. B. durch adverbielle Temporalangaben, verankert ist. Referentielle und syntagmatische Indexikalität treten, wie erwähnt, auch in lexikalischen Einheiten auf. So sind temporale Adverbien wie gestern oder damals referentiell indexikalisch, Subjunktionen wie nachdem oder obwohl oder adverbiell verwendbarer Partizipien wie abschließend sind Beispiele lexikalischer Einheiten, die inhärent syntagmatische Indexikalität zum Ausdruck bringen. Spezifisch für grammatische Paradigmen ist hingegen die paradigmatische Indexikalität. Dies sind die Verweisrelationen innerhalb eines Paradigmas, die die intra-paradigmatischen Bezüge zwischen den Zellen eines Paradigmas darstellen. Paradigmatische Indexikalität ist zentral für die Definition des Paradigmas; sie wird durch Grammatikalisierung aufgebaut (Diewald 2020). Die intra-paradigmatischen Verweisrelationen können wie folgt beschrieben werden: Der paradigmatische Nullpunkt ist der kategorial unmarkierte Wert des Paradigmas und bildet die Paradigmen-Origo, in der die intra-paradigmatischen Verweisrelationen verankert sind. Markierte Paradigmenmitglieder indizieren ihre jeweilige spezifische Distanz vom Paradigmennullpunkt. Jedes Paradigmenmitglied hat somit eine eigene, intra-paradigmatische positionelle Bedeutung. Darüber hinaus ist mittels weiterer Distinktionen eine Gliederung in Untergruppen möglich (und meist vorhanden). Letzteres ist jedoch nicht das wesentliche Merkmal eines Paradigmas gegenüber Nicht-Paradigmen, solange die Minimalforderung der indexikalischen Opposition zwischen einem unmarkierten und einem markierten Element vorhanden ist. Das Paradigma ist somit eine holistische Entität, deren Werte relational definiert sind, indem sie eine indexikalische Beziehung zwischen Nicht-Origo (markierter paradigmatischer Wert) und Origo (unmarkierter paradigmatischer Wert) herstellen. Das Paradigma besteht exakt aus diesem Geflecht an indexikalischen Bezügen. Mit Bezug auf die Morphologie betonen dies z. B. auch Ackerman, Blevins & Malouf (2009), indem sie de Saussures Bestimmung einer holistischen Einheit als wesentlich hervorheben und wie folgt zitieren: „The whole has value only through its parts, and the parts have value by virtue of their place in the whole“ (de Saussure 1916: 128, zitiert in der Übersetzung nach Ackerman, Blevins & Malouf 2009: 59). Ein schlichtes Beispiel zur Illustration des Paradigmas als holistische Einheit ist das Kasusparadigma von Nominalphrasen im Deutschen, wie es typischerweise mittels Artikelwort und Substantiv realisiert wird. Im heutigen Deutsch besteht es aus vier Werten, die sich z. B. bei den starken Maskulina wie Tag im Singular mit Definitartikel folgendermaßen darstellen:

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Gabriele Diewald

Tabelle 1: Kasusparadigma (am Beispiel: Det + N.m.sg.) Definite NP im Singular Nominativ

der Tag

Genitiv

des Tages

Dativ

dem Tag(e)

Akkusativ

den Tag

Unter allen kompetenten Sprechenden des heutigen Deutsch ist unstrittig und selbstverständlich, dass bei jeder Verwendung einer Nominalphrase (hier: der Tag) einer der vier Kasus obligatorisch realisiert wird. Ferner ist unzweifelhaft, dass die Kategorie Kasus im Deutschen aus exakt vier Werten besteht, d. h. aus vier paradigmatischen Zellen – nicht mehr, nicht weniger. Dabei ist jedem dieser paradigmatischen Werte eine definierte Funktion/Bedeutung in Opposition zu den anderen Werten zugewiesen, die die Sprechenden womöglich nicht deskriptiv erläutern können, deren Anwendung sie jedoch selbstverständlich beherrschen. Darüber hinaus rechnen die Sprechenden mit deklinationsklassenspezifischen Realisierungsformen sowie mit Allomorphie im Kasusparadigma. All diese Faktoren, die ein Paradigma bestimmen und die im Sprachwissen verankert sind, bilden eine komplexe konstruktionelle Konfiguration. Ein Paradigma ist somit eine komplexe semiotische Entität bestehend aus einem geschlossenen Set an Mitglieder mit den genannten Eigenschaften und intra-paradigmatischen Bezügen. Die Bedeutung des Paradigmas ist die Summe dieser Bezüge; die Bedeutung einer Zelle ist die spezifische Position in Bezug auf das Ganze. Diese Definition des Paradigmas als eine komplexe, hierarchische Hyperkonstruktion wird in Diewald (2020) wie folgt zusammengefasst: As a holistic entity, a gestalt, a paradigm is a construction whose function and meaning is defined by the specific number and constellation of its components. Its components mutually define each other’s values, which are anchored in an inherent indexical structure: the unmarked value represents the categorical zero point of the paradigm. Its marked members point back to the zero point or to the superordinate paradigm member (anchoring); at the same time each paradigmatic cell specifies its individual distance from the categorical zero point as well as from sister nodes (distinctive meaning). Each cell has a specific intra-paradigmatic positional meaning that is derived from the constellation of the paradigm as a whole. Due to the fact that each paradigmatic cell is a construction in itself, the whole paradigm is a hyper-construction, i. e. a construction formed by constructions. (Diewald 2020: 303)

Der Auffassung vom Paradigma als einer Hyperkonstruktion kommt der Ansatz in Booij (2016) sehr nahe, der dort unter dem Stichwort „second order schemas“

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präsentiert wird. Booij (2016) beschreibt implikative Beziehungen und proportionale Analogien zwischen Flexionsklassen (siehe hierzu 3.1) als Korrespondenzen zwischen Paaren von Konstruktionen, diese Korrespondenzen werden „second order schemas“ genannt und als „a schema of schemas“ beschrieben (Booij 2016: 435). Als Beispiele für second order schemas nennt Booij (2016) Analogien zwischen Gruppen von Formen in der Wortbildung, z. B. die Beziehungen zwischen altru-ism/altru-ist und aut-ism/aut-ist etc., oder die proportionale Analogie zwischen Singular und Pluralformen bei verschiedenen Flexionsklassen. Letzteres wird wie folgt kommentiert: „The correlation between singular and plural forms is expressed by a second order schema, a combination of the schemas [of singular and plural]“ (Booij 2016: 439–440). Es dürfte deutlich geworden sein, dass paradigmatische Indexikalität die wesentliche Eigenschaft geschlossener grammatischer Paradigmen darstellt und ein Geflecht an Strukturen aufbaut (eine Hyperkonstruktion), das als solches, Inhalt der Kategorie ist. Zu Punkt 6: Obligatorik von Paradigmen(mitgliedern). Das Konzept der Obligatorik von grammatischen Kategorien ist vielfach diskutiert worden. Es ist bekannt, dass (i) Obligatorik nicht absolut zu verstehen ist, d. h. dass es Grade der Obligatorik gibt, und dass (ii) Obligatorik ein abgeleitetes Konzept darstellt, das sich als Konsequenz, als Indiz, von starker Grammatikalisierung ergibt. Dies wird auch in den Lehmannschen Grammatikalisierungsparametern deutlich zum Ausdruck gebracht, indem der grammatikalisierungsbegleitende Zuwachs an Obligatorik explizit als Folge des Verlustes an „paradigmatischer Variabilität“ bezeichnet wird (vgl. Lehmann 2015: 131, 148).³ Der Verlust an paradigmatischer Variabilität wiederum wird wie folgt beschrieben: „The selection of opposite members of the paradigm, however, is dictated by the grammar to the degree that the whole paradigm is grammaticalized“ (Lehmann 2015: 147). Wiemer & Bisang (2004) relativieren die Zentralität von Obligatorik (und Paradigmatik) in der Hinsicht, dass sie sie als nicht für alle Sprachtypen relevant betrachten: From a more general perspective one may say that obligatoriness and paradigm formation are grammatical parameters which are almost inevitable in a large number of languages, first of all Indo-European, but they are not absolute or universal criteria for measuring grammaticalization. (Wiemer & Bisang 2004: 9).

 Paradigmatische Variabilität ist wie folgt definiert: „The paradigmatic variability of a sign is the possibility of using other signs in its stead or of omitting it altogether“ (Lehmann 2015: 131).

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Vor dem Hintergrund dieser Diskussion wird in Diewald 2010 (s.a. Diewald & Smirnova 2010) vorgeschlagen, zwei Stufen von Obligatorik zu unterscheiden: sprachinterne Obligatorik und kommunikative Obligatorik. Sprachinterne Obligatorik liegt dann vor, wenn ein geschlossenes Paradigma gegeben ist, das primär von sprachinternen Regeln gesteuert wird. Es handelt sich um Paradigmen, worin die Selektion eines Paradigmenmitglieds vollständig automatisierten grammatischen Bedingungen unterworfen ist. Diese Regeln können als Konditionalsatz in folgender Weise dargestellt werden: „Wenn Form X, dann Form Y“ (vgl. oben „Verlust paradigmatischer Variabilität“). Diese Art der Selektion zwischen oppositiven Mitgliedern innerhalb eines Paradigmas zeigt sich bei der Kategorie Kasus z. B. bei Rektionsbezügen zwischen Präpositionen und regierten Nominalphrasen, oder auch am Beispiel der Genuskongruenz von attributiven Adjektiven, wie in ein silbernes Messer vs. *ein silberner Messer vs. *eine silberne Messer. Am Pol maximaler Obligatorik in diesem Sinne (ein Mitglied des Paradigmas muss gewählt werden, wobei die Auswahl durch grammatische Fakten und automatisierte Regeln festgelegt ist) finden sich typischerweise die flexionsmorphologisch realisierten Paradigmen. Kommunikative Obligatorik, andererseits, bezeichnet das Verhalten solcher linguistischer Einheiten, die zwar in geschlossenen grammatischen Klassen operieren, die aber dennoch nicht obligatorisch im strengen Sinne sind. Bei kommunikativer Obligatorik wird die Auswahl eines Paradigmenmitglieds durch Sprechintention gesteuert. Dies kann wie folgt formuliert werden: „Wenn Intention X, dann Form Y“. Dies entspricht in etwa Lehmanns „transparadigmatic variability“. Hierbei handelt es sich um „[freedom] in either specifying the category by using one of its subcategories, or leaving the whole category unspecified“ (Lehmann 2015: 148; vgl. auch Radtke 1998: 10). Zur Illustration kann hier die Kategorie der Diathese bzw. des Genus Verbi im Deutschen angeführt werden. Im Prinzip ist – bei bestimmten Verben – neben dem unmarkierten Aktiv eine Opposition zwischen dem werden-Passiv und bekommen-Passiv möglich, wie in folgenden Sätzen: (9)

Die Firma überweist dem Verein die Summe.

(10) Die Summe wird dem Verein von der Firma überwiesen. (11) Der Verein bekommt die Summe von der Firma überwiesen. Es handelt sich ohne Zweifel um ein stark grammatikalisiertes Paradigma einer Verbalkategorie. Jedoch ist die Auswahl eines der Mitglieder in keiner Weise durch innersprachliche Regeln festgelegt. Stattdessen müssen die Auswahlregeln mit Bezug auf die Sprechperspektive bzw. Sprechintention erfasst werden (s.o. „Wenn Intention X, dann Form Y“). Es handelt sich somit um pragmatische Gebrauchs-

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regeln. Für das werden-Passiv kann, vereinfacht, die Gebrauchsregel wie folgt formuliert werden: Wenn die sprechende Person will, dass (i) das Patiens zum Subjekt wird und (ii) das lexikalische Verb des korrespondierenden Aktivsatzes Verwendung findet und (iii) eine markierte lineare Anordnung (Topikalisierung des direkten Objekts, z. B. Die Summe überweist die Firma dem Verein) vermieden wird, dann muss die sprechende Person das werden-Passiv verwenden.

Die analoge Gebrauchsregel zum bekommen-Passiv lautet dann: Wenn die sprechende Person will, dass (i) das Rezipiens zum Subjekt wird und (ii) das lexikalische Verb des korrespondierenden Aktivsatzes Verwendung findet und (iii) eine markierte lineare Anordnung (Topikalisierung des indirekten Objekts, z. B. Dem Verein überweist die Firma die Summe) vermieden wird, dann muss die sprechende Person das bekommenPassiv verwenden.

Es versteht sich, dass kommunikative Obligatorik mit grammatischen Paradigmen assoziiert ist, die im Vergleich zu solchen mit sprachinterner Obligatorik weniger grammatikalisiert (und mit hoher Wahrscheinlichkeit) diachron jüngeren Ursprungs sind.

2.3 Paradigma ≠ paradigmatische Relation Die Termini „Paradigma“ und „paradigmatisch“ sind polysem (vgl. Werner 1994: 11; Seiler 1967: 53). Gravierend ist insbesondere, dass „Paradigma“ oft – fälschlicherweise – mit dem Konzept der „paradigmatischen Relation“ (= „assoziative Relation“, de Saussure 1916) gleichgesetzt wird. Diese beiden Konzepte müssen unbedingt auseinandergehalten werden. Paradigmatische Relationen bilden „Substitutionsklassen“ auf allen linguistischen Strukturebenen, d. h. sie sind nicht auf grammatische Formative beschränkt. Sie lassen die Anzahl der potentiellen Substituenten („Filler“) offen. Insbesondere implizieren sie keine interne Strukturiertheit innerhalb der Gruppe der Substituenten. Paradigmatische Relationen an sich erlauben keine Unterscheidung zwischen einer unendlichen Auswahl (offene Klasse) an Substituenten und einer endlichen Zahl an Substituenten (geschlossene Klasse). Dies wird – wie die folgenden Zitate zeigen – bereits von Werner (1994) deutlich hervorgehoben: Es bleibt aber noch immer die Frage, ob unsere Flexionsparadigmen dem allgemeinen Prinzip der „Paradigmatik“, der Austauschbarkeit im Syntagma, entsprechen – oder ob es

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sich bei Paradigma und Paradigmatik um zwei sehr verschiedene, nur mit dem gleichen Ausdruck belegte Aspekte, also um einen polysemen Terminus, handelt. (Werner 1994: 11) Zu einem direkten Widerspruch zwischen Flexionsparadigma und Austausch-Paradigmatik kommen wir aber beim ebenfalls obligatorischen Kasus; denn mit dem Kasus werden ja jeweils unterschiedliche Rollen im Syntagma signalisiert. (Werner 1994: 11)

Gerade die sprachinterne Obligatorik, d. h. heißt die Auswahl einer aus mehreren in Opposition stehenden paradigmatischen Zellen, hat mit freier Austauschbarkeit nichts mehr zu tun. Dies hebt auch Seiler hervor, indem er feststellt: „the forms which are members of a paradigm are not freely substitutable within a given frame of utterance“ (Seiler 1967: 53). Konstruktionsgrammatische Konzepte beachten diesen Unterschied oft nicht mit der nötigen Präzision. Konzepte wie „inheritance links“ und „network associations“ beziehen sich auf paradigmatische Relationen in diesem (allgemeinen) Sinn (vgl. Bybee 2010: 33; Goldberg 1995: 67; Michaelis & Lamprecht 1996: 216– 217).⁴ Sie können jedoch nicht, wie oft in der konstruktionsgrammatischen Theoriebildung unterstellt wird, mit grammatischen Paradigmen gleichgesetzt werden bzw. diese substituieren. Im Gegensatz zu Paradigmen ist in konstruktionellen Netzwerken (also in allgemeinen paradigmatischen Relationen) die Zahl möglicher Substituenten für eine Position und ihr Bedeutungsspektrum in keiner Weise beschränkt. Es gibt keine holistische semiotische Figur, die den Substitutionsraum einschränken würde – jenseits einer sehr unspezifischen Ersetzbarkeit im Hinblick auf ein gemeinsames Merkmal (beliebiger Natur). Auch die Zahl der Schwesterknoten ist, anders als bei paradigmatischen Zellen gleicher Hierarchiestufe, nicht begrenzt. Während ein Paradigma eine holistische Konstruktion ist, ist dies bei einem Netzwerk gerade nicht der Fall (siehe hierzu auch die Diskussion in Diewald 2020). Kurz: paradigmatische Relationen (Netzwerkverbindungen) sind nicht zu verwechseln mit dem Konzept des „Paradigmas“ im engeren Sinn. Ein Paradigma ist keine bloße Anhäufung von Vererbungsrelationen (und somit kein bloßes konstruktionelles Netzwerk).

 Vgl. die einschlägige Definition von Goldberg: „It is argued that constructions form a network and are linked by inheritance relations which motivate many of the properties of particular constructions. The inheritance network lets us capture generalizations across constructions while at the same time allowing for subregularities and exceptions“ (Goldberg 1995: 67). S.a. die Beschreibung von Links als „overlap relations“ in Michaelis & Lamprecht (1996: 216–217): „we will describe overlap relations in terms of LINKS.“

Der Status und die interne Motiviertheit grammatischer Paradigmen

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2.4 Realisierungsformen von Paradigmen Mit dem Stichwort der Realisierungsformen von Paradigmen ist die Frage angeschnitten, welche syntagmatische Ausdehnung ein potentielles Paradigmenmitglied aufweisen darf. Dazu wird hier eine maximal offene Position eingenommen. Prinzipiell sind folgende Realisierungsformen von Paradigmen möglich: (i) Flexion (Genus bei Adjektiven, Kasus), (ii) Periphrasen (Diathesen), (iii) Syntaktische Realisierung (dialogische Sequenzierung durch Modalpartikeln). Dies weicht vom traditionellen Paradigmenbegriff ab, der meist auf die rein flexivische Realisierung beschränkt ist, und geht auch über heute häufig vertretene Positionen hinaus, die Periphrasen als Realisierungsoptionen paradigmatischer Zellen akzeptieren.⁵ Die letztgenannte Position, d. h. Periphrasen als Paradigmenmitglieder, wird insbesondere in der „Construction Morphology“ ausgearbeitet. So befasst sich Booij (2010, 2016) mit der Integration periphrastischer Formen und betrachtet periphrastische Realisierungen von Paradigmenzellen als gleichrangige Paradigmenmitglieder neben den durch Flexion realisierten Konstruktionen. Als Beispiel verwendet Booij das Perfekt (wie im Englischen und Deutschen) und hält fest: „The perfect meaning is a property of the construction as a whole, as it is neither derivable from the auxiliary as such nor from the past participle […]“ (Booij 2016: 443). Noch einen Schritt weiter geht die Auffassung, dass auch syntaktische Konstruktionen größeren Umfangs, z. B. Satzformen oder Äußerungstypen, als Realisierungsformate paradigmatischer Zellen zuzulassen sind. In der Grammatikalisierungsforschung und in der Typologie ist diese Auffassung durchaus üblich. Konzepte wie das der „latenten“ Grammatik oder der „verborgenen Komplexität“ (Bisang 2014: 129) setzen auch größere syntaktische Verbindungen (Syntagmen) als paradigmatische Zellen an. „Latente“ Grammatik wird zuerst von Kacnel’son beschrieben und wie folgt definiert: „Die latente Grammatik sind die grammatischen Signale, die in den syntaktischen Verbindungen und in der Semantik der Wörter impliziert sind“ (Kacnel’son 1974: 98; s.a. Leiss 2000: 5–6). Ein Musterbeispiel für die syntaktische Realisierung paradigmatischer Zellen ist die Kategorie der Modalpartikeln (MPs) im Deutschen. Bei den Modalpartikeln handelt es sich um eine relativ klar abgegrenzte grammatische Wortklasse mit einer ein-

 So die folgende Position: „In this perspective, it appears legitimate to extend the notion of periphrasis even further to semantic categories which are never expressed by monolectic forms, but which show a sufficiently high degree of grammaticalization to be described as part of the verbal paradigm rather than only in the syntax (i.e. to categorial periphrasis)“ (Haspelmath 2000: 663).

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heitlichen (dialog‐)grammatischen Funktion, die folgendermaßen spezifiziert werden kann: Als zentrale grammatische Grundfunktion der Klasse der Abtönungspartikeln kann daher festgehalten werden, dass sie die Äußerung als dialogisch situierten, reaktiven bzw. nichtinitialen Zug in einer Sequenz markieren. (Diewald 2007: 130)

Als Kategorienbezeichnung für das Modalpartikelparadigma könnte man sich eine Formulierung wie „dialogische Sequenzierung“ vorstellen. Als klassenkonstitutives Merkmal aller Äußerungen mit Modalpartikeln kann das Merkmal [+reaktiv] gesetzt werden, das sich von allen modalpartikellosen, ansonsten aber identischen Äußerungen abhebt, da letztere das Merkmal [‐reaktiv] haben. Innerhalb der Klasse der Modalpartikeln zeigen sich Subklassen, die nach den zentralen Strukturtypen von Sätzen bzw. Satzmodi gegliedert werden können. So können beispielsweise die Subparadigmen von Modalpartikeln in V2-Sätzen (Es ist ja/eben/doch/halt/… wieder Winter) oder unabhängigen V1-Sätzen (Wäre es nur/bloß/doch/… wieder Sommer) unterschieden werden. Im Folgenden sei das relativ gut abgrenzbare Subparadigma bei Fragesätzen kurz erörtert. Paradigmatische Oppositionen bei Modalpartikeln in Fragesätzen zeigen sich in folgenden Beispielen, die neben der unmarkierten Frage zwei bereits stark grammatikalisierte Modalpartikeln in Opposition bringen, nämlich denn und etwa: (12) Ist das ∅ eine anerkannte Studie? (13) Ist das denn eine anerkannte Studie? (14) Ist das etwa eine anerkannte Studie? Die paradigmatischen Oppositionen zwischen der unmarkierten Äußerung mit [‐reaktiv] einerseits (Satz 12) und den beiden markierten Äußerungen mit dem Merkmal [+reaktiv] (Sätze 13 und 14) kann in Tabelle 2 abgelesen werden, die den Anspruch hat, die Grundzüge der paradigmatischen Organisation des Subparadigmas Modalpartikeln in Fragesätzen wiederzugeben. Sie zeigt auch, dass die beiden markierten Zellen sich untereinander durch ein distinktives Merkmal unterscheiden, nämlich das Merkmal [+konsekutiv] für denn in (13) und [+negative Antwortpräferenz] für etwa in (14) (ausführlich siehe hierzu Diewald 2017).

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Tabelle 2: Paradigmatische Oppositionen der Modalpartikeln (Diewald 2017: 234) Modalpartikeln (MPs): Subparadigma Interrogative (Ausschnitt) Markierte Werte: [+reaktiv] (realisiert mit einer MP des Subparadigmas) Unmarkierter Wert/Nullwert: [‐reaktiv] Frage ohne MP: keine Sequenzinformation bzgl. Vorgängerzug Ist das ∅ eine anerkannte Studie?

Frage mit denn: kategoriekonstitutives Merkmal: [+reaktiv] lexemdistinktives Merkmal: [+konsekutiv] Ist das denn eine anerkannte Studie? Frage mit etwa: kategoriekonstitutives Merkmal: [+reaktiv] lexemdistinktives Merkmal: [+negative Antwortpräferenz] Ist das etwa eine anerkannte Studie?

3 Beobachtungen zur Existenz von Paradigmen Nachdem in den vorhergehenden Abschnitten theoretische Argumente und Reflexionen zur Notwendigkeit und Struktur von grammatischen Paradigmen angeführt wurden, widmet sich dieser Teil objektsprachlichen Beobachtungen, die die unabhängige Existenz von grammatischen Paradigmen als Teil des Sprachwissens kompetenter Sprechender nahelegen. Die sprachlichen Phänomenbereiche, die hier besprochen werden, sind bewusst von sehr unterschiedlichem Status, um die Breite der Argumentationsbasis zu demonstrieren. Die Analyse implikativer Beziehungen in Sprachen mit komplexer Flexion entstammt der theoretischen Morphologie (3.1.); die Phänomene des Layering, der Suppletion und des paradigmatischen Drucks (paradigm pressure), die in 3.2. angesprochen werden, beziehen sich auf diachrone Prozesse und schließlich wird mit dem Konzept der adversen Kontexte in Abschnitt 3.3. die synchrone sprachliche Kreativität adressiert.

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3.1 Implikative Beziehungen als kognitive Grundlage von Inferenzen In der theoretischen und konstruktionellen Morphologie werden implikative Beziehungen, auf deren Grundlage Sprechende Inferenzen über die Realisierung einzelner Formen ziehen, als zentrales Strukturprinzip von Paradigmen angesetzt.⁶ Die Strukturiertheit von Paradigmen wird als Teil des Wissens kompetenter Sprechender betrachtet (Blevins 2015; Ackerman, Blevins & Malouf 2009). Die Autoren argumentieren u. a. anhand von Sprachen mit großen Flexionsparadigmen, die das sogenannte „paradigm cell filling problem“ aufweisen (Ackerman, Blevins & Malouf 2009: 54). Damit ist Folgendes gemeint: Die SprecherInnen können nicht jeden Exponenten (jede Realisierungsform/ jedes Allomorph) jeder paradigmatischen Zelle bei allen relevanten Zeichen rezipiert bzw. perzipiert haben, d. h. sie müssen Inferenzen bezüglich möglicher Exponenten machen.⁷ Dies zeigt sich z. B. akut dann, wenn neue (bisher nicht perzipierte) Formen interpretiert oder produziert werden sollen. Die relevante Frage ist, wie bzw. wodurch diese Inferenzen motiviert sind: „What licenses reliable inferences about the inflected (and derived) surface forms of lexical items“ (Ackerman, Blevins & Malouf 2009: 54). Allein die Tatsache, dass Inferenzen als Problemlösungsstrategie möglich sind, setzt die kognitive Realität von Paradigmen voraus. Die Kenntnis der implikativen Strukturen ermöglicht die Auffindbarkeit (bzw. kreative Re-Konstruierbarkeit) noch nie gehörter Formen. Blevins (2015: 94) beschreibt dies wie folgt: „[There is an] implicational structure that binds cells of a paradigm into a cohesive whole.“ Implikative Relationen zwischen Paradigmen basieren, wie schon Paul (1920) zeigt, auf dem Konzept der proportionalen Analogie. Proportionale Analogie ist das Ordnungsmuster in einer abstrakten Paradigmenkonstruktion mit einer festgelegten Zahl, hierarchischen Ordnung und Funktion der paradigmatischen Zellen. Dabei gelten folgende Voraussetzungen: 1. Es herrscht Äquivalenz individueller Zellen zwischen Flexionsklassen: Zelle 1 in KLASSE I korrespondiert also in ihrem semiotischen Wert genau mit Zelle 1 in KLASSE II. 2. Es herrscht Äquivalenz relationaler Strukturen über Flexionsklassen hinweg: Die Relation zwischen Zelle 1 und Zelle 2 in KLASSE I entspricht in ihrem  Siehe den „Word and Paradigm Approach“ in Verbindung mit der Informationstheorie von Blevins (2015) und Ackerman, Blevins & Malouf (2009).  S. Ackerman, Blevins & Malouf (2009: 55): „native command of the [highly inflecting] languages must involve the ability to generalize beyond direct experience.“

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semiotischen Wert genau der Relation zwischen Zelle 1 und Zelle 2 in KLASSE II. Eine einfache Überprüfung illustriert diese Überlegungen. Auf die Frage an kompetente SprecherInnen des Deutschen, was die gemeinsamen (semantischen und morphologischen) Merkmale der Nomina Fotos – Bilder – Taschen – Mäntel sind und wie sie dies begründen, sind zuverlässig folgende Punkte als Antworten zu erwarten. Gemeinsam ist diesen Formen, (i), dass es sich um Pluralformen handelt (dass also zählbare Nomina vorliegen) und (ii), dass es für jede Pluralform eine entsprechende Singularform gibt, die dann auch sofort genannt werden kann. Die folgende proportionale Analogie ist also „automatisch“ verfügbar: Tabelle 3: Proportionale Analogien zwischen Pluralformen und Singularformen Plural

Singular

Foto-s



Foto

Bild-er



Bild

Tasche-n



Tasche

Mäntel



Mantel

Ferner ist bekannt, dass die Relationen zwischen den Plural- und den Singularformen in jedem Fall identisch sind, unabhängig von den formalen Realisierungsdifferenzen. Die Sprechenden sind sich außerdem bewusst, dass es keine weiteren Numerusdistinktionen im Deutschen (z. B. Dualis) gibt. Auch die Tatsache der massiven Allomorphie in der Pluralzelle aller zählbaren Nomina ist Bestandteil des Wissens der Sprechenden und kann bewusst gemacht werden. Kurz: Forschungen im Gebiet der theoretischen Morphologie bestätigen, was Alltagsbeobachtungen nahelegen, dass implikative Relationen in hochkomplexen und irregulären Flexionssystemen direkt auf die interne, kognitive Organisation von geschlossenen Paradigmen verweisen.

3.2 Layering, Suppletion, paradigmatischer Druck Für die theorieunabhängige Existenz von Paradigmen spricht weiterhin das Phänomen, das seit Hopper (1991) unter der Bezeichnung Layering als allgemei-

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nes (diachrones) Prinzip bei Grammatikalisierungsprozessen bekannt ist. Hopper beschreibt es wie folgt: Within a functional domain, new layers are continually emerging. As this happens, the older layers are not necessarily discarded, but remain to coexist with and interact with the newer layers. (Hopper 1991: 22)

Ein auch von Hopper angeführtes Beispiel für Layering ist der Aufbau der paradigmatischen Oppositionen zwischen Präsens, Präteritum und Perfekt im Englischen und Deutschen. Wie Tabelle 4 zeigt, werden die einzelnen Werte durch unterschiedliche morphologische Techniken, die als Reflexe unterschiedlich alter diachroner Veränderungen erscheinen, realisiert. Tabelle 4: Layering – diachrone Abschichtung verschiedener Bildungstechniken bei Tempusformen im Englischen und Deutschen Einfach bzw. formal unmarkiert Ablaut, Flexion Präsens Präteritum Perfekt

Periphrase

e.: go/cook d.: gehe/koche e.: went/cooked d.: ging/kochte e.: have gone/have cooked d.: bin gegangen/habe gekocht

Layering beschreibt somit den diachronen „Grund“ für die allomorphische Realisierungen einzelner Paradigmenzellen: Die allomorphische Realisierung erscheint als Reflexe diachroner Entwicklungsprinzipien. Die in 3.1. besprochenen implikativen Beziehungen bilden auch hier die kognitive Erklärungsgrundlage für das existierende Paradigma im Bereich der grammatischen Kategorie Tempus und ihrer Oppositionen. Auch das Phänomen der Suppletion kann als besonders markante Form des „Layering“ betrachtet werden. Zur Illustration sei hier das Beispiel des Verbs sein im Deutschen wiedergegeben, wie es ausführlich in Nübling (2000) diskutiert wird (Tabelle 5). Drei ie. Wurzeln speisen das nhd. Paradigma (*es- für die Formen ist, sind, seid; *bhu- für bin, bist; *wes- für war, gewesen). Dieses irreguläre Paradigma wurde im Lauf der Sprachgeschichte des Deutschen nicht aufgelöst, sondern nach wechselnden Prinzipien umstrukturiert. Paradigmen wie diese hochsuppletiven Formen des Verbs sein im Deutschen könnten nicht existieren, wenn den Spre-

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Tabelle 5: Suppletivformen des Verbs sein (s. Nübling 2000: 298–299) Präsens

Präteritum

Konjunktiv I

Konjunktiv II

Imperativ

Singular

 bin  bi-st  is-t (is)

 war  war-st  war

 sei  seist  sei

 wäre  wärst  wäre

sei

Plural

 sind (sin)  sei-d  sind (sin)

 war-en  war-t  war-en

 sei-en  sei-d  sei-en

 wär-en  wär-t  wär-en

seid

Infinitiv

sei-n

Partizip Perfekt

ge-wes-en

chenden nicht abstraktes Wissen über dieses Verb, über seine grammatischen Kategorien, die Zahl und Art seiner spezifischen Werte und die Formen, die diese Werte ausdrücken, zur Verfügung stünde. Komplexe linguistische Einheiten wie dieses Verb müssen somit durch Wissen über Paradigmen auf Seiten der Sprechenden gestützt sein. Als drittes diachrones Phänomen ist der paradigmatische Druck anzusprechen. Der Begriff paradigm pressure wird von Bauer (2001: 71) als Prozess in der Wortbildung beschrieben, und zwar als Wandel einer linguistischen Einheit in eine Richtung, die von anderen ähnlichen Einheiten vorgegeben ist (z. B. von Einheiten aus derselben semantischen oder formalen Klasse). Bei der Grammatikalisierung bedeutet dies, dass stärker grammatikalisierte Einheiten die Entwicklung von weniger grammatikalisierten Einheiten beeinflussen. Erstere bestimmen, in welcher Zelle die langsameren bzw. späteren Einheiten schließlich landen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Entstehung eines neuen Indefinitartikels im Deutschen, wie sie von Harnisch (2006) dargestellt wird. Im Standarddeutschen weist der indefinite Artikel im Plural eine Null-Realisierung auf, wie die folgenden Sätze aus Harnisch (2006: 399–400) zeigen. (15) Der Clown hat ∅ Schuhe an (16) Da kamen ∅ Leute Das Paradigma der Artikelwörter im heutigen Standarddeutschen ist in Tabelle 6 dargestellt. Wie Harnisch zeigt, entsteht durch paradigmatischen Druck an der Position des morphologischen Null-Elements im indefiniten Plural in regionalen Varietäten (Niederdeutsch) und im Spracherwerb ein neues Grammem für diese para-

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Tabelle 6: Paradigma des Artikels im Standarddeutschen

Definit

Indefinit

Singular

Plural

der/die/das

die

(der Löffel, die Gabel, das Messer)

(die Löffel/die Gabeln/die Messer)

ein/-e



(ein Löffel, eine Gabel, ein Messer)

(Löffel, Gabeln, Messer)

digmatische Zelle (Harnisch 2006: 399–400). Es handelt sich um das attributive Pronomen welche (Plural), das zunehmend als indefiniter Artikel im Plural Verwendung findet, wie die Beispiele aus Harnisch zeigen (17 für Kindersprache, 18 für Niederdeutsch): (17) Der Clown hat welche Schuhe an ‚Der Clown hat Schuhe an‘ (18) Dor kaamt welke Lüd ‚Da kamen Leute‘ Es entsteht ein morphologisch reguläres Paradigma, das jede Zelle mit einem analog realisierten Formativ füllt, wie in Tabelle 7 abgebildet. Tabelle 7: Wandel des Paradigmas des Artikels durch paradigmatischen Druck

Definit

Singular

Plural

der/die/das

die (die Schuhe, die Leute)

Indefinit

ein/-e

welche (welche Schuhe, welche Leute)

Daten aus der Untersuchung diachroner Prozesse, wie sie unter den Stichworten Layering, Suppletion und paradigmatischer Druck in unterschiedlichen Kontexten diskutiert werden, zeigen, dass das Konzept des grammatischen Paradigmas für diese Entwicklungen große Erklärungskraft hat und somit auch angesichts diachroner Fakten als kognitiv real einzuschätzen ist.

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3.3 Adverse Kontexte Als letzter Punkt sei eine Erscheinung genannt, die meines Wissens andernorts bislang nicht zur Kenntnis genommen bzw. diskutiert wird.⁸ Es handelt sich um das kontexterzeugende Potential von voll-grammatikalisierten Paradigmenmitgliedern, das man auch als Simulation (situativer) Merkmale in adversen Kontexten beschreiben kann. Wie in Diewald (2015b, 2017) ausgeführt, können grammatische Zeichen den Kontext mit der ihnen eigenen indexikalischen Bedeutung aufladen, d. h. mit dem kategorialen Wert, dessen Exponent sie sind. Durch das Einbringen des distinktiven kategorialen Wertes des gewählten grammatischen Elements in „adversen“ Kontexten wird die Existenz dieses Merkmals in der Situation behauptet bzw. simuliert. Grammatische Zeichen sind somit in der Lage, Eigenschaften des situativen Kontexts zu evozieren, indem sie – scheinbar – auf diese Eigenschaften zeigen. Bühler (1982 [1934]: 80, 123 und passim) beschreibt diese Art der Verschiebung als „Deixis am Phantasma“; auch „Versetzungsdeixis“ ist ein geläufiger Begriff. Entscheidend ist, dass „nicht die aktuelle Origo und das aktuelle Zeigfeld […] die Grundlage der Relation [bilden], sondern eine zweite Origo und ein imaginiertes, fiktives oder erinnertes Zeigfeld“ (Diewald 1999: 171). Diese Funktion grammatischer Zeichen, also die Fähigkeit zur Erzeugung des eigenen situativen Kontexts in adverser Umgebung, ist der natürliche Reflex ihres inhärenten indexikalischen Potentials, das grammatiktypisch ist und auf das Paradigma verweist (siehe Abschnitt 2.2.). Da grammatische Zeichen in ihrer distinktiven kategorialen Bedeutung situative Information inkorporieren, kann genau diese situative Information durch die „abweichende“ Setzung des grammatischen Zeichens in fremde, adverse, nicht-harmonische Kontexte transportiert werden. Ein wichtiger Anwendungsbereich der Versetzungsdeixis sind verschiedene Formen der indirekten Rede (vgl. Diewald & Smirnova 2010). Ein wohlbekanntes Beispiel für Deixis am Phantasma ist das historische Präsens, das anhand der Einleitung der Comic-Serie Asterix illustriert sei. Zu Beginn eines jeden Bandes erscheint ein Bild mit folgendem Text: (19) Wir befinden uns im Jahre 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. …ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes

 Vgl. aber ähnliche Konzepte wie „discoursal incongruity“ bei Antonopoulou & Nikiforidou (2011) und „flouting“, d. h. die Missachtung kommunikativer Maximen bei Eckardt & Fränkel (2012: 1815–1816).

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Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten. (Goscinny & Uderzo 1976: 3) Diese Art der inkorrekten Zuweisung eines temporalen, präsentischen Wertes an das erzählte nicht-präsentische Ereignis dient der Vergegenwärtigung, wie aus der grammatischen ebenso wie aus der literaturwissenschaftlichen Tradition bekannt ist (s. Nikiforidou 2012; Stukker 2016). Die Narration wird lebhafter – präsenter –, indem die temporal-deiktische Origo auf die Ebene der erzählten Zeit, genauer auf die Ebene der Betrachtzeit (die in diesem Fall mit der Ereigniszeit identisch ist), versetzt wird. So wird dem erzählten Sachverhalt, der Ereigniszeit, inkorrekter Weise ein kopräsenter temporaler Wert zugewiesen – also ein Wert der Simultanität mit der Sprechorigo. Zugleich wird im umgebenden Text (bzw. im bildlichen Kontext) die Information bereitgestellt, dass die Zuschreibung der Simultanität faktisch inkorrekt ist, dass also das erzählte Ereignis in einer origo-fernen, vergangenen Zeit lokalisiert ist. Ein weiteres Beispiel der Simulationsfähigkeit grammatischer Kategorien ist die Verwendung des sogenannten persönlichen Passivs bei intransitiven Verben mit dem erwünschten Effekt, ein implizites Agens in eine Situation einzuführen, die aufgrund der Verbsemantik zunächst kein Agens vorsah. Der Prozess der „Deagentivierung“ wird also inkorrekter Weise auf ursprünglich intransitive Prädikate angewandt, die dadurch eine agentivische Kontextualisierung erhalten. (20) „Welche Frau geht ohne Handtasche aus dem Haus?“ Da war was dran, das musste Berger zugeben. „Ergo?“ „Sie ist schusselig, oder sie wurde gegangen.“ (Gruber 2018) Der Effekt der Verschiebungsoperation in diesem Beispiel besteht darin, dass der Vorgang des Sich-aus-einem-Raum-Bewegens, der durch das an sich intransitive, agenslose Verb gehen enkodiert ist, als unfreiwillige, durch einen agentivischen Mitspieler erzwungene Bewegung interpretiert wird. Ein drittes Beispiel für dieses Phänomen ist die Simulation einer dialogischen Gesprächssituation durch die Setzung einer Modalpartikel in adversen Kontexten. Während (21) eine völlig situationsunabhängige Aussage trifft, ist (22) situativ kontextualisiert, was ausschließlich der hinzugefügten Modalpartikel ja zuzuschreiben ist. (21) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. (GG Art. 3,2) (22) Männer und Frauen sind ja gleichberechtigt. Die Wirkung der kreativen Kapazität der Kontextsimulation von Modalpartikeln zeigt sich hier sehr anschaulich. Während das Original keine explizite Verankerung im linguistischen oder situativen Kontext bzw. keinerlei Sequenzierungsin-

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formation enthält, erzeugt bzw. simuliert das inhärente grammatische Merkmal der Modalpartikel ja [+reaktiv] eine dialogische Situation, die die partikelhaltige Äußerung als zweiten (d. h. reaktiven) Gesprächszug erscheinen lässt (wobei das faktische Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein einer entsprechenden Situation unerheblich ist). Dieses Potential zur Simulation situativer Merkmale in adversen Kontexten ist jedoch nur bei vollständig grammatikalisierten Zeichen anzutreffen, da, wie ausgeführt, Grammatikalisierung in der Aneignung bzw. Inkorporation der kategoriespezifischen indexikalischen Relationalität besteht. Dementsprechend steht diese Möglichkeit allen noch im Prozess der Grammatikalisierung befindlichen Zeichen (noch) nicht zur Verfügung. Das zeigt sich sehr deutlich bei Modalpartikeln unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrades: Sie weisen unterschiedliche Grade der Kapazität der Kontexterzeugung in adverser Umgebung auf. Diewald (2015a) bietet hierzu einen Vergleich der Modalpartikeln denn, ruhig und vielleicht: Die stark grammatikalisierten Modalpartikeln denn und ruhig werden zur Kontexterzeugung bzw. Simulation im oben genannten Sinn verwendet. Die wenig grammatikalisierte Modalpartikel vielleicht hingegen weist noch nicht das Potenzial zur Kontexterzeugung auf und ist in dieser Funktion nicht nachweisbar. Der Unterschied zwischen der Verwendung in harmonischen und der in adversen Kontexten sei an zwei Beispielen mit der Modalpartikel ruhig erläutert. (23) zeigt die typische Funktion der Modalpartikel ruhig in einem (fiktiven) face-toface-Dialog, d. h. in einem harmonischen Kontext der Übereinstimmung zwischen Situation und indexikalischem Wert der MP, (24) zeigt die Verwendung im adversen Kontext des schriftlich-monologischen Gebrauch in einem Internet-Forum, wobei es sich um eine Anleitung zum Schreiben von Beiträgen handelt (Belege 23 und 24 zitiert nach Diewald 2015a). (23) „Wissen Sie was? Ich geh hier nicht raus. Das können Sie ruhig schreiben. Ich bleib hier.“ Ich nickte ihm zu und stieg eine Treppe weiter hoch. Armer Kerl. (DIV/BBH.00001 Baum, Beate: Häuserkampf, [Kriminalroman]. Meßkirch) (24) Die inhalte [sic] können ruhig private/persönliche Sichtweisen beinhalten, sollen aber objektiv sein. (C3: 752.txt) Der Test mit einem partikellosen Pendant zu (24), nämlich (25), zeigt deutlich die Wirkung der Modalpartikel ruhig im Sinne der Simulation von Dialogizität. (25) Die inhalte können ∅ private/persönliche Sichtweisen beinhalten, sollen aber objektiv sein.

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Das Fehlen der Modalpartikel in (25) eliminiert das Merkmal [+reaktiv]; es wird keine Simulation der Dialogizität erzeugt. Weitere Effekte in (25) gegenüber (24) sind (i) ein unklares illokutives Potenzial zwischen assertiven und direktiven Sprechakttypen und (ii) Lesartambiguität beim kopräsenten Modalverb können, das nun eine objektiv epistemische Lesart im Sinne von ‚es besteht die Möglichkeit‘ neben der ursprünglichen deontischen Lesart, also ‚es ist die Erlaubnis gegeben‘, erlaubt. Insofern als Kontextsimulation mit dem Grad der Grammatikalisierung korreliert, ist auch sie ein – indirekter – Beweis, der kognitiven Relevanz von Paradigmen. Der Wert, den die Verschiebung in einer simulierten Situation erreicht, ist nicht beliebig, sondern entspricht exakt dem Wert der entsprechenden paradigmatischen Zelle: also z. B. der Vergegenwärtigung beim historischen Präsens aufgrund der grammatischen Kernbedeutung des Präsens, der „Deagentivierung“ beim persönlichen Passiv intransitiver Verben aufgrund der Kernbedeutung des werden-Passivs oder der dialogischen Sequenzierung von Gesprächsschritten bei der Setzung einer Modalpartikel aufgrund des grammatischen Merkmals [+reaktiv], das allen Modalpartikeln eigen ist.

4 Zusammenfassung Es konnte gezeigt werden, dass in der Grammatikalisierungsforschung, die das Zusammenspiel von Gradienz und kategorialer Distinktion beschreibt, das Insistieren auf dem Konzept des Paradigmas gut begründet ist. Paradigmen sind Zielpunkte von Grammatikalisierung, die per se eine kategoriale Unterscheidung von Lexik und Grammatik voraussetzt. Es wurden einige Schwierigkeiten bei der Definition und Abgrenzung von Paradigmen erörtert, wobei die Unterscheidung von sprachinterner und kommunikativer Obligatorik eine wichtige Rolle spielt. Ferner konnte gezeigt werden, dass die Unterscheidung von paradigmatischer Assoziation einerseits und einem grammatischen Paradigma andererseits essenziell ist. Letzteres wurde als konstruktionelle Einheit besonderen Typs definiert. Schließlich wurden aus unterschiedlichen Bereichen unabhängige Evidenzen für die Existenz von Paradigmen angeführt. In der theoretischen Morphologie setzt das Prinzip der implikativen Beziehungen auf dem Paradigma auf. In der Diachronie liefern die Phänomene des Layering, der Suppletion und des paradigmatischen Drucks Indizien für die Existenz von Paradigmen. Und in der synchronen Sprachbetrachtung bietet das Potential zur Simulation in adversen Kontexten eine wichtige Argumentationsgrundlage für die Existenz grammatischer Paradigmen als psychologisch reale Entitäten.

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Teil 2: Remotivierung – morphologisch

Sascha Michel

Remotivierung und Wortbildung

Strukturell-morphologische, semantische und angewandt-linguistische Analysen am Beispiel der sogenannten „Konfixremotivierung“ Zusammenfassung: In dem Beitrag geht es um die sogenannte ‚Konfixremotivierung‘, also Elemente wie -tastisch, -tainment, -minator, -holiker, -licious, -robics, -schland oder -gate, die sich zunehmend aus Kontaminationen herauslösen und als konfixähnliche Einheiten fungieren. Im Zentrum stehen neben strukturell-morphologischen und semantischen vor allem soziopragmatische und diskurslinguistische Analysen, die zeigen, dass solche Einheiten in hohem Maße durch den Gebrauchskontext restringiert sind. Es wird dafür plädiert, sie aus konstruktionsgrammatischer Perspektive als partiell instantiierte Konstruktionen zu betrachten, die auf der Inhaltsseite eine entsprechende soziopragmatische und/oder diskursbezogene Markierung erfahren. Da diese Markierungen strukturell an die jeweiligen Konstruktionen gebunden sind, d. h. meist nur dann relevant werden, wenn sich ein Erstglied an die fraglichen Zweitglieder heftet, kann die Konstruktionsgrammatik als geeigneter Beschreibungsansatz für solche remotivierten Wortbildungseinheiten betrachtet werden. Schlüsselwörter: Remotivierung, Wortbildung, Diskursanalyse, Konstruktionsgrammatik, Sekretion, Konfix, Pragmatik

1 Einleitung Morphologische Remotivierungen sind in den letzten Jahren aus dem Schatten der Lexikalisierungsforschung getreten und verstärkt ins Zentrum des Interesses gerückt (vgl. Harnisch 2010). Mit Bezug auf die Wortbildung hat dabei nicht nur die Erforschung von volksetymologischen und benachbarten Phänomenen eine ‚Renaissance‘ erfahren (vgl. Eichinger 2010; Ronneberger-Sibold 2010; Michel 2015), auch Affix- (vgl. Nübling 2010) und Konfixremotivierungen (vgl. Michel 2006, 2009; Koch 2010) fanden zunehmend Beachtung. Vordergründig geht es in diesen Untersuchungen um Fragen der Typologie, Systematik, Paradigmatik und Dr. Sascha Michel, RWTH Aachen, Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Lehrstuhl „Deutsche Sprache der Gegenwart“, Eilfschornsteinstr. 15, 52062 Aachen E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-004

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Inventarisierung von Remotivierungsprozessen und sekretierten Einheiten. Kaum berücksichtigt werden dagegen Aspekte des Sprachgebrauchs, also etwa Fragen rund um den ko- und kontextuellen Gebrauch solcher Einheiten, was beispielsweise ihre soziopragmatische Verankerung oder textuelle und diskursive Funktion(en) umfasst (vgl. Elsen & Michel 2007, 2011; Stumpf 2018). In diesem Beitrag soll demnach vor allem eine angewandte¹ Perspektive auf Remotivierungsprozesse in der Wortbildung eingenommen werden, wobei der Fokus auf rezenten Einheiten wie -tastisch, -tainment, -minator, -holiker, -licious, -robics, -schland und -gate liegen wird, die sich in die Reihe der üblicherweise als Konfixremotivierung bezeichneten Einheiten einordnen lassen. Sie sind häufig durch Resegmentierung von kontaminierten Basiswörtern (fantastisch, Entertainment, Terminator, Alkoholiker, delicious, Deutschland, Watergate) entstanden und stellen insofern einen morphologischen Sonderfall dar, als sie sich nicht nur einer eindeutigen Klassifikation entziehen, sondern auch als markiert mit Bezug auf ihren Gebrauch(skontext) gelten können. Wie in dem vorliegenden Beitrag zu zeigen ist, entfaltet sich ihre spezifische Bedeutung und Funktion nämlich erst in Kombination mit bestimmten Erstgliedern in bestimmten soziopragmatischen und/oder diskursiven Kontexten. Aus dem Blickwinkel des Sprachgebrauchs rückt damit die Frage nach der Klassifikation dieser Einheiten als (isolierte) Phänomene des Sprachsystems in den Hintergrund, vielmehr lassen sie sich als Elemente von Konstruktionen – und damit holistisch – konzeptualisieren. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Im zweiten Kapitel erfolgt eine Analyse der genannten Fallbeispiele nach strukturell-morphologischen, semantischen, soziopragmatischen und diskursiven Gesichtspunkten, bevor anschließend (Kapitel 3) auf die Kategorisierungsproblematik eingegangen wird. Im Zuge dessen soll für eine konstruktionsgrammatische Herangehensweise und damit der Erfassung der Bildungen als Konstruktionen plädiert werden. Kapitel vier fasst die wesentlichen Beobachtungen zusammen und führt zu einem Ausblick.

2 Analyse von Fallbeispielen Bei allen hier im Mittelpunkt stehenden Einheiten handelt es sich um relativ junge Erscheinungen wie eine DWDS-Suche,² hier am Beispiel der Verlaufskurven von „*tainment“ (Abb. 1 und 2) und „*licious“ (Abb. 3 und 4) dargestellt, zeigt.

 Es soll hier die Lesart von angewandt gelten, „dass alle Strukturebenen des Sprachlichen grundsätzlich sprachgebrauchsorientiert erforscht werden können“ (Roth & Spiegel 2013: 7).  https://www.dwds.de/.

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Abb. 1 DWDS-Verlaufskurve *tainment

Abb. 2 DWDS-Verlaufskurve *tainment

Vor 1950 spielen diese Einheiten nahezu kaum eine Rolle, auch in der Folge bleiben die Belege frequenziell überschaubar, erst nach 1990 scheint sich eine Frequenzzunahme abzuzeichnen: So stehen bei -tainment 136 Belege zwischen 1980 und 1989 (Abb. 1) 1555 Belege zwischen 1990 und 1999 gegenüber (Abb. 2), bei -licious sind es 4 Belege zwischen 1980 und 1989 (Abb. 3) und 515 zwischen 1990 und 1999 (Abb. 4).

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Abb. 3 DWDS-Verlaufskurve *licious

Abb. 4 DWDS-Verlaufskurve *licious

Somit fällt die Frequenzzunahme dieser Einheiten mit der frühen Phase des Internets, also den Anfängen des Web 1.0 bzw. einer sich abzeichnenden globalen digitalen Vernetzung, zusammen.

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Im Folgenden soll eine formale, inhaltliche und gebrauchsbezogene Charakterisierung dieser und weiterer vergleichbarer Einheiten vorgenommen werden.³

2.1 Strukturell-morphologisch Es handelt sich hierbei einerseits um native (z. B. -tastisch, -holiker, -schland) sowie andererseits um nicht-native (z. B. -licious, -tainment, -minator, -gate) Einheiten. Ihre Entstehung geht wahrscheinlich⁴ auf Kontaminationen zurück (vgl. Elsen 2005; Koch 2010) und tatsächlich finden sich heute noch zahllose Belege, die klar als Kontaminationen zu klassifizieren sind, wie die folgenden Belege aus COSMAS II⁵ des IDS-Mannheim beweisen:

Abb. 5 COSMAS II-Abfrage „*licious“.

Abb. 6 COSMAS II-Abfrage „*tastisch“.

Abb. 7 COSMAS II-Abfrage „*minator“.

 Die Belege entstammen eines offenen Korpus, das durch aktuelle Belege stetig angereichert wird. Die Analyse erfolgt qualitativ-hermeneutisch, eine korpuslinguistisch-quantitative Analyse wird an dieser Stelle nicht angestrebt.  Für die Annahme, dass das Basislexem ohne Zwischenschritt der Kontamination resegmentiert wurde, gibt es keine ausreichenden Belege. Bei den nicht-nativen Belegen (z. B. -licious, -tainment, -minator) besteht zusätzlich das Problem, dass nicht eindeutig bestimmbar ist, ob sie im Deutschen gebildet oder bereits als Einheiten entlehnt wurden. Für die Frage nach der Klassifikation jener Einheiten spielt dies indes keine entscheidende Rolle und soll demnach im Folgenden unberücksichtigt bleiben.  https://www2.ids-mannheim.de/cosmas2/.

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So lassen die Belege Tealicious (Abb. 5), PanTastisch (Abb. 6) und Herminator (Abb. 7) jeweils bis auf das Anfangsphonem eine lautliche Übereinstimmung mit den Basislexemen (delicious, fantastisch, Terminator) erkennen. Allerdings sind nicht alle Belege als Kontaminationen zu deuten, so etwa Klausurminator (vgl. Michel 2006) oder Multitainment bzw. Wolloholiker in den Beispielen unter 2.3.1., weshalb im nächsten Schritt von einer Resegmentierung der kontaminierten Belege auszugehen ist. Diese basiert auf einer morphologischen Reanalyse bzw. Remorphologisierung, in deren Folge die Sekretion⁶ der „konfixartigen“ Einheiten unter Nichtberücksichtigung von Morphemgrenzen des Basislexems eintritt (vgl. Harnisch 2004, 2007, 2010; Koch 2010; Wischer 2010). Z. B.: {fantast-} + {-isch} → {-tastisch} {Terminat-} + {-or} → {-minator} {Alkohol} + {-iker} → {-(o)holiker} {Deutsch + {land} → {-schland} Die sekretierten Einheiten sind in der Regel erstbetont und können bis zu drei Silben umfassen. Zu den zentralen strukturell-morphologischen Eigenschaften gehören folgende⁷: ‣ Gebundenheit / Topologische Invariabilität Die Einheiten kommen stets gebunden, also in Kombination mit einem bestimmten Erstglied vor. Damit ist auch ihre topologische Variabilität reduziert, d. h. sie treten nur positionsfest als Zweitglied auf. Die wenigen Ausnahmen wie „Tainment-Phantasten“ als Titel eines Buches (Abb. 8) oder das freie Vorkommen von #Schland als Hashtag (Abb. 9) können als markiert gelten.

 Der Terminus Sekretion wurde von Jespersen (1925) geprägt.  Es werden hier diejenigen Eigenschaften herangezogen, die häufig bei der Kategorisierung von Konfixen eine Rolle spielen (vgl. Donalies 2000; Elsen 2005; Michel 2009).

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Abb. 8 Buchcover mit dem Beispiel Tainment-Phantasten

Abb. 9 Tweet Beispiel #Schland

‣ Kompositionsgliedfähigkeit Obgleich alle Einheiten zur Bildung von Komposita herangezogen werden (z. B. Klausurminator, Tealicious, hundtastisch), ist ihre Basisfähigkeit deutlich eingeschränkt, denn sie sind nicht miteinander kombinierbar und explizite Derivationen wie in Abb. 10 mit dem Präfix multi- (Multitainment) sind äußerst selten.

Abb. 10 Beispiel Multitainment (Werbung Vodafone)

‣ Potenzielle Produktivität Mit allen Einheiten lassen sich produktiv neue Wörter bilden.

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‣ Kein freies Vorkommen in anderen Sprach(stuf)en Obgleich viele der fraglichen Einheiten auch in anderen Sprachen vorkommen, so treten sie auch dort in der Regel gebunden auf. ‣ Eingeschränkte Wortartvariabilität Als bevorzugte Wortart heften sie sich in erster Linie an Substantive. Beispiele wie Negaholiker in Abb. 11, bei dem das Erstglied ein Adjektiv (negativ) ist, lassen sich eher als Kontaminationen interpretieren.

Abb. 11 Cover des Buches „Saboteure des Glücks“

2.2 Semantisch Neben die strukturell-morphologische Reinterpretation tritt die Resemantisierung bzw. Remotivierung. Die Einheiten decken ein breites Spektrum zwischen Synonymie auf der einen und Polysemie auf der anderen Seite ab, obgleich zu konstatieren ist, dass echte Synonymie zum Basislexem selten vorkommt und sich lediglich auf den denotativen Bereich beschränkt. So lassen sich -schland und -tainment etwa durch Deutschland und Entertainment ersetzen, allerdings ist die Verwendung der sekretierten Einheiten eindeutig soziopragmatisch konnotativ und/oder diskursiv geprägt (vgl. 2.3. und 2.4.), was sie in die Nähe von Kurzwörtern rücken lässt (vgl. Michel 2011). In der Regel muss also eine auf metonymischen und metaphorischen Prozessen basierende Entkonkretisierung angenom-

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men werden, die zu Steigerungsbildungen führt, wie die folgenden Beispiele⁸ (1 und 2) zeigen: (1)

„FACH.tastisch bietet Künstlern, Designern, Freischaffenden und Handarbeitsliebenden die Möglichkeit ihre Produkte einer noch breiteren und internationalen Öffentlichkeit zu präsentieren und zu verkaufen. Dazu stellen wir Fächer, Regale, Vitrinen, Wand- und Stellflächen, Kleiderbügel etc. zur Verfügung, die für einen festgelegten Zeitraum angemietet werden können.“ (https://www.urbanite.net/de/leipzig/lo cations/fachtastisch/; aufgerufen am 23.04. 2019)

(2)

„Jah’licious. Jah steckt überall: im Riddim, im Bass, in den Drums.“ (www.laut.de/Jahlicious; aufgerufen am 23.04. 2019)

Die elative Bedeutung bei FACH.tastisch bzw. Jah’licious wird durch die Kollokation mit intensivierenden Gradpartikeln (noch breiteren und internationalen Öffentlichkeit) und semantisch absoluten Lokaladverbien (Jah steckt überall) angezeigt. Substantivische Steigerungsbildungen sind meist positiv konnotiert wie bei Tourminator im folgenden Beispiel (3): (3)

„Schafft Armstrong einen weiteren Triumph, geht er als unbesiegter Tourminator in den wohlverdienten Ruhestand.“ (Spiegel Online, https://www.spiegel.de/sport/sonst/der-etappenhase-dem-tourmina tor-hinterher-a-363214.html, aufgerufen am 31.01. 2023.)

Negative Konnotationen rufen nur wenige Einheiten hervor, so etwa -(o)holiker im Folgenden (4): (4)

„Aber lassen wir das. Ich wünsche Herrn Gabriel alles Gute als trockener Politoholiker. Möge der Entzug gelingen.“ (Forum Spiegel Online)

Somit lassen sich die Bildungen mit diesen Einheiten mehrheitlich als Komposita XY mit der Bedeutung ‚herausragend X‘ paraphrasieren, was sie in die Nähe von Affixoiden wie Bomben- (z. B. Bombenstimmung) oder -explosion (z. B. Bevölkerungsexplosion) rückt. Gerade personenbezeichnende Einheiten wie -minator oder -(o)holiker ähneln exozentrischen Possessivkomposita und können semantisch als ‚Person, die die Eigenschaft XY besitzt‘ paraphrasiert werden. Solche Prozesse der Resemantisierung und lexikalischen Entkonkretisierung führen also zu Bedeutungserweiterungen der sekretierten Einheit im Vergleich zum Basislexem: So hatte z. B. -thek (aus Bibliothek) ursprünglich die Bedeutung  Meine Hervorhebung, S.M.

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‚Büchersaal, Büchersammlung‘, was schließlich zu ‚Sammlung, Aufbewahrungsort, Verleihbarkeit‘ erweitert wurde, wie an den Belegen Videothek oder Vinothek zu erkennen ist (vgl. Koch 2010: 114–116).

2.3 Soziopragmatisch Soziopragmatische⁹ Analysen der sekretierten Einheiten liegen bislang nur sporadisch, eher impressionistisch und für einzelne Elemente vor (vgl. Michel 2006: 297–298, 2009: 100–101). Dabei lässt sich gewinnbringend an das Konzept der Morphosoziopragmatik anknüpfen, das eine Erweiterung des morphopragmatischen Ansatzes (vgl. Dressler/Barbaresi 1997; Kiefer 1998) darstellt und der Frage nachgeht, welche Funktionen morphologische Einheiten hinsichtlich der Identitätsbildung des Kommunikators und/oder der Kommunikatoren, der Markierung der Äußerungssituation sowie des Kontextes erfüllen (vgl. Michel 2006: 72–73). Mit Bezugnahme auf sogenannte „minimal pragmatic indicators“, also semantisch leere Ausdrücke, „which indicate something regarding the utterance or the context of utterance” (Gutzmann & Stei 2011: 5), führt Finkbeiner (2015: 167) den Begriff des „non-minimal pragmatic indicator“ ein und bezieht sich dabei auf Ausdrücke mit eigener Bedeutung, die als pragmatische Indikatoren fungieren. Überträgt man dieses Konzept auf morphologische Einheiten, die ebenfalls Bedeutung tragen, so kann dabei immer dann von nicht-minimalen morphosoziopragmatischen Indikatoren gesprochen werden, wenn morphologische Einheiten die Funktion als soziopragmatische Indikatoren übernehmen, somit also Rückschlüsse auf Identitätsbildung, die Äußerungssituation oder den Kontext ermöglichen.¹⁰ Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, durch die systematische Korrelation von sprachlichen Charakteristika, sozio-stilistischen Attributen und der Äußerungssituation/dem pragmatischen Kontext zu zeigen, inwiefern die sekretierten Einheiten als nicht-minimale morphosoziopragmatische Indikatoren zu analysieren sind.

 Der Begriff Soziopragmatik geht auf Leech (1983: 10) zurück. Er versteht darunter „the sociological interface of pragmatics“.  Auch die evaluative bzw. mehr noch die expressive Morphologie beschäftigt sich mit den genannten Fragestellungen (vgl. Scherer 2019).

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2.3.1 Sprachliche Charakteristika a. Erstglieder: Anglizismen/Fremdwörter Als Erstglieder kommen Anglizismen oder Fremdwörter vor, wie die Beispiele Shopoholiker, Sugarlicious und Thairobic in Abb. 12–14 zeigen:

Abb. 12 https://www.holidaycheck.de/prd/chaweng-road-ein-traum-fuer-jeden-shopoholiker/ 5bbaa43b-a173-3cf7-8af7-9b95f0716936 (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Abb. 13 https://sugar-licious.de/ (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Abb. 14 https://www.woman.at/a/thairobic-fitness-trend (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Bei Belegen wie Sugarlicious (Abb. 13) ergibt sich allerdings das zuvor bereits angesprochene Problem, dass nicht eindeutig geklärt werden kann, ob die Einheiten entlehnt oder in der Nehmersprache gebildet wurden. b. Erstglieder: Eigennamen Auch Eigennamen, meist Vor- und Zunamen, tauchen als Erstglieder auf (Abb. 15– 17). Häufig dienen sie, wie die Beispiele Chriss Tainment, Caro_tastisch und Nici_Licious nahelegen, zur Bildung von Nicknames in sozialen Medien oder Internetforen und erfüllen so eine selbstreferentielle und identitätsstiftende Funktion (vgl. Diekmannshenke 2001). In den aufgeführten Beispielen übernehmen die sekretierten Einheiten ‐tainment, ‐tastisch und ‐licious etwa die Aufgabe, dem Vornamen eine positive Konnotation zu verleihen:

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Abb. 15 https://www.youtube.com/channel/UCSxBuFfaIOFWNzB-_z7tigw (letzter Zugriff 14. 02. 2023).

Abb. 16 https://twitter.com/Caro_tastisch (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Abb. 17 https://twitter.com/nici_licious (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

c. Wortspiele Die sekretierten Einheiten können Teile von Wortspielen sein wie bei Kara-T-Robics (Abb. 18) oder Brass-a-licious (Abb. 19), wo die Erstglieder durch das grafische, mit einem Bindestrich separierte Anfügen von Einzelbuchstaben (Kara-T, Brass-a) Homophone zu anderen Wörtern bilden: Karate, Brother (Bruder):

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Abb. 18 http://www.fitinberlin.de/karatrobics.htm (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Abb. 19 https://www.sn-online.de/Schaumburg/Lindhorst/Beckedorf/Koestliche-Blechblasmusik (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

d. Multimodalität Obgleich Multimodalität mittlerweile als „Normalfall“ der Kommunikation betrachtet wird (vgl. Kress & van Leeuwen 1996) und multimodale Untersuchungen zu einem besseren Verständnis der Komplexität von Sprach-Bild-Beziehungen beigetragen haben (vgl. Klug & Stöckl 2016), bleibt zu konstatieren, dass dabei vor allem Text-Bild-Beziehungen aus semantischer und stilistisch-pragmatischer Perspektive gemeint sind. Untersuchungen unterhalb der Wortebene, also etwa zum Verhältnis zwischen Wortbildung und Bild, sind erst in Ansätzen erforscht (vgl. Ortner 2013, 2014) und dies, obwohl Ortner (2013: 71) feststellt: Multimodale Wortbildungen entsprechen geradezu ideal den generellen Tendenzen der Sprache: Sie bedienen durch neue Muster und Formen mit nominativem, stilistischem und kommunikativem Mehrwert das Bedürfnis der SprachteilnehmerInnen nach Innovation, nach Variation und nach Ökonomie.

Auch die sekretierten Einheiten sind Bestandteil komplexer multimodaler Bezugnahmen (Abb. 20–22). So wird in Abb. 20 die Morphemgrenze zwischen Faden und -licious piktolexematisch (vgl. Ortner 2013: 54–55), also durch die Ersetzung des Bindestrichs durch eine Schleife, symbolisiert. Bei fam!tastisch in Abb. 21 handelt es sich um eine Kontamination von Familie und fantastisch, wobei hier die Morphemgrenzen nicht nur typolexematisch durch farbliche Unterschiede (rot und grün), sondern – ähnlich wie in Abb. 20 – grapholexematisch durch Aus-

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rufezeichen markiert wird (vgl. Ortner 2013: 50–51). Gleichzeitig umrahmt ein gelber Kreis, der die Sonne symbolisieren soll, den Slogan fam!tastisch reisen.

Abb. 20 https://www.faden-licious.com/ (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Abb. 21 https://famtastisch-reisen.de/ (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Abb. 22 https://www.wolloholiker.de/ (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

Etwas komplexer verhält es sich mit dem Beispiel Wolloholiker (Abb. 21), das als „Graphem-Wortbildung“ den Inhalt als Bild darstellt, indem es den Körper eines Schafs nachbildet: „Der Wortinhalt wird visualisiert, das damit verbundene Konzept wird intensiviert“ (Ortner 2013: 54). Gleichzeitig fungiert das Fugen-o als Piktolexem, da es ein Wollknäuel darstellt, von dem aus ein Faden das Ende des Schafs-Körpers abgrenzt. e. (Ortho‐)Grafische Abweichungen Eng verbunden mit multimodalen Besonderheiten sind (ortho‐)grafische Abweichungen, etwa die Getrenntschreibung von Erst- und Zweitglied wie bei Phone Tastisch in Abb. 23 oder die Binneninterpunktion wie bei rudi.licious in Abb. 24:

Abb. 23 https://phone-tastisch.de/preise (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

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Abb. 24 https://www.rudilicious.com/ (letzter Zugriff 19. 05. 2019).

f. Anführungszeichen: Metapragmatische Markierung Vor allem in Print- und Qualitätsmedien werden Bildungen mit den sekretierten Einheiten in Anführungszeichen gesetzt, wie die die Beispiele „Infotainment“ und „Torminator“ aus COSMAS 2 (Abb. 25 und 26) belegen.

Abb. 25 COSMAS-2-Beleg Infotainment

Abb. 26 COSMAS-2-Belege Torminator

Die Anführungszeichen erfüllen hier eine metapragmatische Funktion (vgl. Finkbeiner 2015: 171–172), da sie nicht nur zur Markierung von expliziten Zitaten herangezogen werden, sondern auch die Neuartigkeit einer Bildung kennzeichnen bzw. die Distanzierung von einer vielleicht allzu saloppen Formulierung zum Ausdruck bringen.

2.3.2 Sozio-stilistische Attribute Den unter 2.3.1. beschriebenen sprachlichen Charakteristika¹¹ sollen nun soziostilistische Attribute zugeordnet werden, wobei es sich hier um tendenzielle Attribute handelt. Dabei kann eine Zuordnung an dieser Stelle auch nur prototypischen Charakter haben und sicherlich treffen viele der Attribute auf alle sprachlichen Charakteristika mehr oder weniger zu¹²:

 Die Anführungszeichen als metasprachliche Markierung werden im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.  Weitere Untersuchungen sollten deshalb vor allem Rezipient*innenurteile berücksichtigen.

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a. international, jugendlich, expressiv: Anglizismen / Fremdwörter, Wortspiele Für den Gebrauch von Anglizismen und Fremdwörtern gilt, dass sie den Zweck haben, „Modernität und Internationalität zu demonstrieren und überraschend zu wirken“ (Janich 2003: 114). Da sie häufig auch in der Jugendsprache vorkommen, sollen sie zudem jugendlich und expressiv wirken. Diese Funktion kommt auch Wortspielen zu, deren Normabweichungen eine intendierte Kreation zugrunde liegt, häufig mit dem Ziel, durch Sprachkomik bestimmte metasprachliche Informationen zu übermitteln (vgl. Tecza 1997). b. selbstreferentiell, identitätsstiftend: Anglizismen / Fremdwörter, Eigennamen Anglizismen / Fremdwörter sind insofern selbstreferentiell und identitätsstiftend, als sie die Kompetenz der englischen oder einer anderen Fremdsprache und damit Weltläufigkeit markieren sollen. Noch stärker ist dies indes bei Vor- und Nachnamen ausgeprägt, da sich die Funktion/Bedeutung der sekretierten Einheiten direkt auf die Namen überträgt. c. unkonventionell, auffallend: (Ortho‐)Grafische Abweichungen, Multimodalität, Wortspiele Vor allem solche sprachlichen Charakteristika, die mit Erwartungshaltungen brechen, Normverstöße aufweisen, oder kreative Sprach-Bild-Bezüge zu erkennen geben, wirken unkonventionell und auffallend. Hierzu gehören in erster Linie (ortho‐)grafische Abweichungen, multimodale Besonderheiten sowie Wortspiele. d. witzig, einprägsam: (Ortho‐)Grafische Abweichungen, Multimodalität, Wortspiele Dadurch, dass sie unkonventionell und auffallend sind, gestalten sich (ortho‐) grafische Abweichungen, multimodale Besonderheiten und Wortspiele auch besonders witzig und einprägsam. Sortiert man diese Attribute nun mit Blick auf die sprachlichen Charakteristika, ergibt sich folgende Verteilung:

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Tabelle 1 Korrelation sprachlicher Charakteristika und Attribute Sprachliche Charakteristika

Attribute

Anglizismen / Fremdwörter

international, jugendlich, expressiv, selbstreferentiell, identitätsstiftend

Eigennamen

selbstreferentiell, identitätsstiftend

Wortspiele

jugendlich, expressiv, unkonventionell, auffallend, witzig, einprägsam

Multimodalität

unkonventionell, auffallend, witzig, einprägsam

(Ortho‐)Grafische Abweichungen

unkonventionell, auffallend, witzig, einprägsam

Somit zeigt sich, dass die mit den sekretierten Einheiten verbundenen sprachlichen Charakteristika jeweils ein Bündel unterschiedlicher Attribute aufweisen. Allerdings – und das trifft vor allem auf Anglizismen/Fremdwörter sowie Eigennamen als Erstglieder zu – kommen den sekretierten Einheiten diese Attribute nicht isoliert, sondern stets in Kombination mit einem weiteren Morphem als Erstglied zu. Dies hat Auswirkungen auf die Klassifikation dieser Einheiten, wie in Abschnitt 3 genauer zu zeigen ist.

2.3.3 Äußerungssituation / Kontext Die Beispiele in 2.3.1. lassen sich relativ eindeutig bestimmten Äußerungssituationen bzw. Kontexten zuordnen: a. Internet: Foren, Homepages, soziale Netzwerke Ein Großteil der Belege findet sich in der digitalen Sprache und Kommunikation, wobei sie hier in erster Linie der Bildung von Eigennamen in Foren, Homepages und sozialen Netzwerken dienen. Da sie häufig als Nicknames, also selbstgewählte Usernamen, fungieren, erfüllen sie vorrangig selbstreferentielle und identitätsstiftende Funktion. Es geht darum, wie zuvor bereits beschrieben, positive Eigenschaften mit dem eigenen Namen zu verbinden (z. B. Nici_Licious) bzw. – z. B. als „sprechende Namen“ von Homepages (z. B. https://barbaralicious.com/) – die eigene Identitäts- und Markenbildung zu befördern.

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b. Werbung: Markennamen und Produktbezeichnungen Zum Zwecke der Markenbildung kommen die sekretierten Einheiten auch in der Werbung vor und werden zur Bildung von Markennamen sowie Produktbezeichnungen herangezogen. Auch hier steht die positive Attribuierung des Namens (z. B. Wolloholiker) bzw. der Produkte (z. B. phone tastisch) im Vordergrund. Wie das Beispiel fadenlicious zeigt, lassen sich die Kategorien a. und b. kaum sinnvoll voneinander abgrenzen, da Markennamen und Produktbezeichnungen auch im Internet stark verbreitet sind. c. Nähesprachliche Kommunikationsformen, Textsorten oder Texte Abgesehen von dem Vorkommen im Internet oder in der Werbung tauchen Bildungen, vor allem Eigennamen, mit den sekretierten Einheiten auch in anderen, meist nähesprachlichen (vgl. Koch & Oesterreicher 1985, 1996), Kommunikationsformen, Textsorten oder Texten auf. So kommen Bildungen wie Torminator oder Herminator häufig im Sport-Ressort vor, das stärker durch umgangssprachliche oder saloppe Formulierungen geprägt ist. Somit zeigt sich, dass die sekretierten Einheiten generell dazu tendieren, in nähesprachlich geprägten Äußerungssituationen und Kontexten gebraucht zu werden. Geht man einen Schritt weiter, wird deutlich, dass sich diese Einheiten deshalb auch besonders gut dazu eignen, ganze Diskurse zu bezeichnen und zu strukturieren, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll.

2.4 diskursiv Als Ausgangspunkt für eine diskurslinguistische Betrachtung von Morphologie kann eine sich noch zu konturierende und auszudifferenzierende Diskursmorphologie gelten, die die bislang weitgehend unerforschte Bedeutung der Diskurslinguistik für die Morphologie einerseits, aber auch der Morphologie für die Erforschung von Diskursen andererseits in den Blick nimmt (vgl. Gautier & Michel i. Vb.) Morphologische Fragestellungen wurden im Rahmen der Diskurslinguistik eher am Rande und wenig systematisch behandelt, wiewohl sie zweifelsohne einen wesentlichen Beitrag zur strukturellen Analyse diskursiver „Formationen“ (vgl. Foucault 1981) leisten (vgl. Spitzmüller & Warnke 2011: 138–139). Zu diesem Ergebnis kommt auch Gredel (2018: 66–67) bei ihrer Analyse der Itis-Kombinatorik in Wikipedia: „Gezeigt werden konnte, dass Morpheme als Zugriffsobjekt für korpuslinguistisch informierte Diskursanalysen brauchbar sind“. Wie bei jeder Diskursanalyse so steht auch bei der Standortbestimmung der Diskurslinguistik

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zunächst die Frage nach dem zugrunde liegenden Diskursbegriff im Raum. Ohne auf die Diskussion um den Diskurs-Begriff im Einzelnen eingehen zu können (vgl. hierzu Spitzmüller & Warnke 2011: 65–66), soll unter Diskurs im Folgenden eine strukturierte Ansammlung von Texten, die einer gemeinsamen Wissensformation angehören (vgl. Busse & Teubert 1994: 14), verstanden werden. Dazu gehört freilich, dass Diskurse Diskurspositionen (Aussagen) umfassen, die von Diskursakteuren hervorgebracht werden und in denen zentrale Macht- und Wissensstrukturen ausgehandelt werden (vgl. Foucault 1994). Relativ abgeschlossene Diskursformationen stellen Onlinediskurse dar (vgl. Pentzold, Fraas & Meier 2013). Zwar ähneln sie mit Bezug auf Struktur und Verlauf ‚analogen‘ Diskursen, allerdings weisen sie bestimmte Besonderheiten auf wie die Möglichkeit, Diskursbeiträge viral zu verbreiten (Retweeten, Teilen), affirmativ zu markieren (Favorisieren, Liken) oder mittels Hashtags zu verschlagworten. DangAnh, Einspänner & Thimm (2013: 140) unterscheiden hierbei drei Ebenen (vgl. Abb. 27): 1. die Ebene des Operators, 2. die des Texts und 3. die der Handlung.

Abb. 27 Ebenen der Twitterkommunikation nach Dang-Anh/Einspänner/Thimm (2013: 140).

Für den Hashtag, der hier im Fokus stehen soll, wäre auf der Operatorseite die indexikalische Funktion mittels #-Zeichen relevant, das sich auf der Textebene auf Lexeme, Schlagwörter, Okkasionalismen, Abkürzungen, Akronymen oder zusammengerückte Phrasen bezieht. Auf Funktionsebene kann der Hashtag der Kontextualisierung, Diskursorganisation, thematischen Referenzierung, Verschlagwortung, Indexierung, Erzeugung von Ad-Hoc-Öffentlichkeit sowie der rhetorischen Markierung dienen, wobei dies alles diskursrelevante Einzelelemente umfasst. Obgleich in der Darstellung auf der Textebene Morpheme nicht

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direkt benannt werden und mit Akronymen eher unsystematisch auf einzelne Wortbildungsmuster Bezug genommen wird, so wird deutlich, dass die Indexierung mittels Hashtags vor allem für Diskursanalysen ergiebig sein kann. Dass auch die sekretierten Einheiten – und damit morphologische Einheiten insgesamt – diskursrelevant sein können, soll im Folgenden an zwei Einheiten beispielhaft gezeigt werden.

2.4.1 #schland Beim ersten Fallbeispiel handelt es sich um die Einheit -schland, die durch Reanalyse von Deutschland entstanden ist. Obgleich die Einheit in einigen Fällen frei gebraucht wird¹³, tritt sie in der Regel gebunden an ein Erstelement – bei dem es sich auch um Symbole wie dem Hashtag in sozialen Medien handeln kann – auf und kann demnach nicht als Kurzwort im eigentlichen Sinn klassifiziert werden. Hinzu kommt, dass die freie Variation mit Deutschland, die ja für einen Kurzwortstatus notwendig wäre, insofern nicht gegeben ist, als die Verwendungsweise in sozialen Medien auf zwei Kontexte beschränkt ist, wie die folgende symptomatische Kollokationsauswertung von #schland mittels des Social-Media-Tools Twitonomy ¹⁴ zeigt (Abb. 28).

Abb. 28 Top-Hashtags verbunden mit #schland

Einerseits tritt der Hashtag mit weiteren Hashtags wie #wm2018, #diemannschaft, #wm oder #german auf, die sich eindeutig auf einen Fußballdiskurs beziehen, andererseits mit Hashtags wie #refugees, #berlin, #r2 g oder #vogelschiss, die Teil eines (rechtspopulistischen) politischen Diskurses sind. Innerhalb dieser beiden Diskurse bilden sich Teildiskurse heraus, wie der um den Hashtag #baeckerschland, der politisch motiviert ist, denn er strukturiert Tweets, die zu dem durch eine Äußerung von FDP-Chef Christian Lindner¹⁵ ausgelösten Diskurs um die Frage

 Z. B. im Lied „Schland O Schland“ der Gruppe Uwu Lena.  https://www.twitonomy.com/ (28.12. 2021).  Zitat im Original: „Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hoch qualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist, oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter Ausländer.“

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nach illegalen Einwanderern – als Teil des übergeordneten Flüchtlingsdiskurses – gebildet wurden. Der Hashtag #baeckerschland gibt, da er mit ‐schland auf eine eher in rechtspopulistischen Kontexten gebrauchte Einheit zurückgreift, die politische ‚Färbung‘ gleichsam vor: Die Behauptung Lindners wird als rechtspopulistisch eingestuft und abgelehnt. In einem gerade für die Twitterkommunikation typisch ironisch-satirischem Duktus (vgl. Klemm & Michel 2014) erfolgt unter dem Hashtag dann auch mehrheitlich eine spöttische Abarbeitung an dem Zitat mit dem Ziel der politischen Diskreditierung und Skandalisierung (vgl. Michel 2020), wie die folgenden Beispiele (Abb. 29–31) belegen:

Abb. 29 Tweet #baeckerschland

Abb. 30 Tweet #baeckerschland

Abb. 31 Tweet #baeckerschland

Anders sieht es mit dem Fallbeispiel #tkschland aus, bei dem -schland auf das Handlungsfeld Fußball bezogen ist. Hier übernimmt es im weiteren Sinne eine diskursive Funktion, denn es dient in erster Linie der Bildung einer Ad-Hoc-Öffentlichkeit, indem sich Menschen, die an einem „Fußball-Twittertreffen“¹⁶ teilnehmen, unter diesem Hashtag digital austauschen. Teil dieses Treffens ist auch ein sogenannter „Hasscup“ und der Kollokationseinblick in Abb. 32 zeigt, dass mit #tkschland weitere Hashtags verbunden sind wie #aufklebergate, #westfalenstadion, #stickergate oder #effzeh, deren Assoziation sich Außenstehenden nicht unmittelbar erschließt. Sie gehören, wie die Beispiele in Abb. 33 und 34 nahelegen, tatsächlich zum Bestand eines gruppenbezogenen Insiderwissens. Bezeichnenderweise ist #tkschland mit Hashtags wie #stickergate oder #aufklebergate verbunden, so dass auch die Einheit -gate verbreitet zur Wortbildung in sozialen Medien genutzt wird, wie im folgenden Abschnitt genauer gezeigt werden soll.

 Diese Treffen sind professionell durchstrukturiert und umfassen ein umfangreiches Programm mit Lesungen, Stadtführungen und dem eigentlichen Stammtisch. Vgl. https://www. fussball-kultur.org/veranstaltung/event/tkschland/ (letzter Zugriff 24.05. 2019).

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Abb. 32 Top-Hashtags verbunden mit #tkschland

Abb. 33 Tweet #tkschland

Abb. 34 Tweet #tkschland

2.4.2 -gate Bei -gate handelt es sich um eine Lehneinheit aus dem Englischen, wo es durch Resegmentierung aus Watergate entstanden ist. Ähnlich wie im Englischen wird -gate auch im Deutschen produktiv als gebundene Wortbildungseinheit verwendet, um Skandale zu bezeichnen, z. B. Irangate, Trumpgate. Wie Flach, Kopf & Stefanowitsch (2018) jedoch zeigen, tritt -gate zunehmend auch zur Bezeichnung kleinerer Skandale und „Skandälchen“ auf, da viele der damit verbundenen Erstglieder dem allgemeingesellschaftlichen oder Boulevard-Milieu entstammen: „Während das Konfix -gate anfangs fast ausschließlich große politische Skandale benannte, dient es heute vermehrt der Benennung von Ereignissen mit geringerer gesamtgesellschaftlicher Relevanz, sowohl in den Massenmedien als zunehmend auch in sozialen Netzwerken“ (Flach, Kopf & Stefanowitsch (2018: 256). Wiewohl Flach, Kopf & Stefanowitsch auch auf die „bei Twitter verbreitete Angewohnheit“ (Spiegel online, zitiert nach Flach, Kopf & Stefanowitsch 2018: 246) eingehen, „ein aktuelles Problem durch Anhängen der Silbe -gate mit einem Skandalnamen nach

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dem Vorbild der Watergate-Affäre zu benennen“ (ebd.), so sehen sie die Funktion hier aber zudem darin, „vor allem zu Unterhaltungszwecken“ (Flach, Kopf & Stefanowitsch 2018: 257) eingesetzt zu werden. Hier soll der Blick vielmehr auf die Diskursfunktion von -gate gerichtet werden, die eng mit der häufigen Verwendung in sozialen Netzwerken wie Twitter – und somit als Hashtag – verbunden ist. Anders als -schland kann -gate nicht mit dem Hashtag-Symbol allein als Erstglied verwendet werden, sondern tritt als Hashtag nur mit einem onymischen oder appellativen Erstglied auf. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren: 2.4.2.1 #dieselgate Der Hashtag #dieselgate bezieht sich auf den sogenannten Diesel- oder Abgasskandal, bei dem mehrere Autohersteller manipulative Software einsetzten, um die gesetzlich vorgegebenen Grenzwerte für Autoabgase zu umgehen. Rund um den Hashtag, der mittlerweile auch außerhalb der digitalen Kommunikation verbreitet ist und synonym für den Skandal verwendet wird, wurde der OnlineDiskurs vor allem aus politischer Perspektive geführt. Betrachtet man auch hier die symptomatische Twitonomyauswertung zur Kollokation von #dieselgate mit anderen Hashtags bei Twitter (Abb. 35), so spannt sich mit #diesel, #audi, #daimler, #vw, #mercedes, #volkswagen und #dieselfahrverbote nicht nur ein ganzer semantischer Frame um den Skandal auf, mit #dieselskandal steht auch eine alternative Bildung mit einem genuin nativen Zweitglied zur Verfügung, das aber deutlich weniger frequent ist. Damit wird deutlich, dass -gate als Hashtag besser dazu geeignet scheint, Aussagen in Form von Tweets zu politischen Diskursen zu bündeln als semantisch synonyme, native Wörter.

Abb. 35 Top Hashtags verbunden mit #dieselgate

Betrachtet man die Art und Weise wie der Hashtag in den Tweet-Text integriert ist, fällt auf, dass hier verschiedene Möglichkeiten zur Anwendung kommen. Diese reichen von einer ‚Nachtextbesetzung‘, bei der der Hashtag an den eigentlichen Text metasprachlich angefügt wird wie in Abb. 36, bis zur Integration in den Text, wobei der Hashtag hier eine Satzgliedfunktion übernimmt wie in den Abb. 37 und 38:

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Abb. 36 Tweet #Dieselgate

Abb. 37 Tweet #Dieselgate

Abb. 38 Tweet #Dieselgate

2.4.2.2 #dreyergate Auch das zweite Fallbeispiel, #Dreyergate, ist eindeutig politisch motiviert, denn es wurde von der CDU Rheinland-Pfalz geprägt und bezieht sich auf vermeintliche Missstände, die die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer aus Sicht der Opposition zu verantworten hat. So kann sich #Dreyergate auf Skandale ganz unterschiedlichen Ausmaßes beziehen, wie die beträchtlichen finanziellen Verluste am Nürburgring und dem Flughafen Hahn, oder, wie der Tweet in Abb. 39 zeigt, das Fernbleiben bei der sogenannten Elefantenrunde im Fernsehen kurz vor der Landtagswahl im Jahr 2016.

Abb. 39 Tweet #dreyergate

Mit Hashtags, die die Einheit -gate umfassen, lassen sich also Diskurspositionen ziemlich eindeutig markieren, da sie bereits eine politische Wertung enthalten,

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was sie besonders für politische Diskurse brauchbar erscheinen lässt. Wie in Abb. 40 zu sehen, kann durch die Kombination von mehreren Hashtags mit -gate dieser Effekt, d. h. die politisch-diskursive Stellungnahme und Positionierung, sogar noch kumulativ verstärkt werden.

Abb. 40 Tweet #hahngate und #dreyergate

3 Zur Klassifikation der sekretierten Einheiten 3.1 Bisherige Klassifikationsvorschläge und -probleme Die Klassifikation der sekretierten Einheiten gestaltet sich insofern nicht ganz unproblematisch, als sie sich einer Zuordnung zu den etablierten Kategorien weitgehend entziehen. Wie in der folgenden Übersicht (Abb. 41) zu sehen, ergibt sich die größte Schnittmenge der strukturell-morphologischen und semantischen Charakteristika mit der Kategorie der Konfixe:

Abb. 41 Merkmale und Klassifizierung der sekretierten Einheiten (aus Michel 2009: 97).

Diese Uneindeutigkeit führt dazu, dass jene Einheiten in der Forschung äußerst heterogen kategorisiert werden, wie Callies (2016: 502) nachweist. Die Kategorisierungen reichen von Suffix, Pseudo-Suffix, Suffixoid über Combining Form bis hin zur relativ jungen Bezeichnung „Splinter“ (Splitter) (vgl. Abb. 42):

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Abb. 42 Kategorisierungen (aus: Callies 2016: 502).

Somit zeigt sich, dass eine einheitenspezifische, isolierte Kategorisierung der sekretierten Einheiten kaum zielführend ist, da sie je nach Gewichtung der Kriterien zu unterschiedlichen Kategorien führt und auch dann, wenn man sie in etablierte Kategorien einordnet, eher von unprototypischen Vertretern ausgehen muss.¹⁷ Im Folgenden soll daher ein konstruktionsgrammatischer und somit holistischer Ansatz zugrunde gelegt werden, der die sekretierten Einheiten nicht isoliert fokussiert, sondern als Bestandteile komplexer Konstruktionen auffasst.

3.2 Ein konstruktionsgrammatischer Ansatz Die Konstruktionsgrammatik (im Folgenden: KxG) versteht sich als Alternative zu regelbasierten Ansätzen, wobei besonders die Abgrenzung zur Generativen Grammatik schon sehr früh eine zentrale Rolle gespielt hat. Sie geht von der Prämisse aus, dass Lexikon und Grammatik keine separaten Module darstellen, sondern Endpole eines Kontinuums, was die Auffassung, die Grammatik sei der Ort für regelbasierte sprachliche Prozesse und das Lexikon der Ort für Ausnahmen und Idiosynkrasien, damit obsolet erscheinen lässt (vgl. Ziem & Lasch 2013). Die verschiedenen gebrauchsbasierten Varianten der KxG haben also einen empirischen Zugang zu Sprache als soziale Größe. Im Zentrum der KxG steht die Konstruktion als Untersuchungseinheit. Während bei allen Varianten der KxG Konsens darüber herrscht, dass es sich bei Konstruktionen um Form-Bedeutungspaare handelt, so gibt es vor allem bei der Frage nach der Kompositionalität Unterschiede. Weit verbreitet – und auch der vorliegende Beitrag schließt sich dem an – ist die Definition Goldbergs, wonach Konstruktionen als Form-Bedeutungspaare weder formal noch inhaltlich vollständig durch die jeweiligen Teilkomponenten noch durch an Norde & Sippach (2019) bezeichnen sie als „Libfixes“, die Eigenschaften von Komposita, Kontaminationen und Affixen aufweisen.

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dere Konstruktionen erschließbar, d. h. kompositionell, sind: „C is a CONSTRUCTION iffdef C is a form-meaning pair such that some aspects of Fi or some parts of Si is not strictly predictable from C’s component parts or from other previously established constructions.“ (Goldberg 1995: 4).¹⁸ Obgleich sich die KxG gerade in den Anfängen vornehmlich mit syntaktischen und phraseologischen Fragen befasste, so wurden bald auch unter dem Stichwort „Construction Morphology“ morphologische, v. a. wortbildungsbezogene, Phänomene konstruktionsgrammatisch betrachtet (vgl. Booij 2010). Hier sind es vor allem Randphänomene und Sonderkategorien, die als Netzwerke von Konstruktionen unterschiedlicher Komplexitätsebenen (unterste Ebene: konkrete Instantiierungen, mittlere Ebene: partiell instantiiert, oberste Ebene: abstraktes Schema/Muster) besonders im Fokus stehen. So lassen sich beispielweise die Präfixkonversion (z. B. bedachen) oder die kombinatorische Derivation (z. B. bekräftigen), aber auch Zusammenbildungen vom Typ Dickhäuter durch die Verschmelzung von unterschiedlich produktiven Konstruktionen erklären, ohne den Umweg über komplizierte Ausnahmen oder virtuelle (Zwischen‐)Formen nehmen zu müssen (vgl. Michel 2014). Auch Affixoide lassen sich sinnvoll im Rahmen der KxG beschreiben, wenn sie als Teil von partiell instantiierten Konstruktionen auf mittlerer Abstraktionsstufe aufgefasst werden. Die Frage nach der Gebundenheit dieser Einheiten und das Kategorisierungsproblem lösen sich hier insofern auf, als Affixoide mit ihrer spezifischen Funktion und Bedeutung nur in Konstruktionen, also mit bestimmten Erst- und Zweitgliedern in bestimmten Kontexten, vorkommen (vgl. Michel 2013). Außerhalb von Konstruktionen existieren diese Einheiten praktisch nicht. Damit verlagert sich der Fokus von der Entwicklung und Kategorisierungsfrage der einzelnen Elemente zur Einbettung und Entstehung von (neuen) Konstruktionen, was Hüning & Booij (2014: 600) „Constructionalization“ nennen: From a diachronic point of view, it is not the status of the ‚grammaticalizing‘ element that is interesting (is it still a word or an affixoid or already an affix?), the interesting part is the emergence of a new construction, a new constructional (sub)schema and its place within the network of constructions.

Damit ließe sich das Konzept der Konstruktionalisierung für die vorliegende Frage- und Themenstellung wie folgt präzisieren: Die Bedeutung, soziopragmatische und/oder diskursive Funktion der sekretierten Einheit ergibt sich und verändert sich hauptsächlich innerhalb von Konstruktionen, also mit entspre Später erweitert Goldberg (2006) diese Definition um vollständig kompositionelle Konstruktionen, wenn diese eine hohe Auftretenshäufigkeit („entrenchment“) aufweisen.

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chenden Erstgliedern. Die Bedeutung/Funktion erschließt sich – gemäß der oben aufgeführten Definition – also nicht primär kompositionell, d. h. durch die beteiligten Einheiten, sondern ist konstruktionsspezifisch. Dabei wird auch deutlich, dass hier in erster Linie nicht die sekretierte Einheit die Funktion als nicht-minimaler morphosoziopragmatischer Indikator übernimmt, sondern die Konstruktion als Ganze¹⁹, obgleich die remotivierte Einheit freilich eine gewisse Expressivität beisteuert. Analog dazu lässt sich mit Blick auf die diskursive Funktion von nicht-minimalen diskursmorphologischen Indikatoren sprechen, d. h. die jeweiligen Konstruktionen indizieren eine diskursmorphologische Markierung.²⁰ Ähnlich wie Affixe und Affixoide, so lassen sich auch die reanalysierten, sekretierten morphologischen Einheiten im Rahmen eines Konstruktionalisierungsprozesses beschreiben, denn auch sie stellen partiell instantiierte Konstruktionen auf mittlerer Abstraktionsstufe dar, wie für -tastisch und -schland im Folgenden exemplarisch gezeigt wird²¹: 1. –tastisch fantastisch

pantastisch

[[X]Ni -tastisch]Aj

hundtastisch

phonetastisch



[[elativ SEMi]j]sp



Abb.  Konstruktion mit der sekretierten Einheit -tastisch

Die partiell instantiierte Konstruktion auf mittlerer Abstraktionsstufe umfasst auf der Formseite die sekretierte Einheit -tastisch als vorgegebenes Zweitglied und ein Nomen X mit der Bedeutung i als Erstglied. Die Konstruktion bildet schließlich ein

 Auch Finkbeiner (2015: 167) betrachtet die Konstruktion X ist gut und nicht nur einzelne Konstruktionselemente als nicht-minimaler pragmatischer Indikator.  Damit leistet der vorliegende Artikel auch einen Beitrag zu der Frage, inwiefern pragmatische und diskurslinguistische Aspekte bei der inhaltsbezogenen Seite von Konstruktionen zu berücksichtigen sind (vgl. Finkbeiner 2019, 2021).  Die Notation orientiert sich an Booij (2010).

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Adjektiv mit der Bedeutung j. Diese Bedeutung j lässt sich auf der Inhaltsseite nun als ‚elativ SEMi‘ angeben, d. h. die Bedeutung i des Nomens X wird als Elativ intensiviert, was sich kompositionell nur bedingt durch die beteiligten Einheiten erschließt. Gleichzeitig kann auf der Funktionsseite die soziopragmatische Markierung sp der Konstruktion indiziert werden. Auf oberster Ebene findet sich die Verbindung zum Basislexem fantastisch sowie zu einzelnen Kontaminationen und auf der unteren Ebene zu den konkreten Instantiierungen der Konstruktion, wie z. B. hundtastisch oder phonetastisch. 2. –schland Deutschland

[[#] / [X]Ni -schland]Nj

#schland

#baeckerschland

[[SEMi präz. SEM Deutschland]j]sp]d

#tkschland



Abb.  Konstruktion mit der sekretierten Einheit -tastisch

Vergleichbar mit -tastisch gestaltet sich das Konstruktionsnetzwerk bei -schland: die partiell instantiierte Konstruktion auf mittlerer Ebene besteht aus der sekretierten Einheit -schland sowie entweder einem Hashtag und/oder einem Nomen X mit der Bedeutung i als Erstglied. Dies führt zur Bildung von Nomen N mit der Bedeutung j. Auf der Inhalts- und Funktionsseite wird spezifiziert, dass die Bedeutung i des Nomens X (SEMi) die Bedeutung von -schland, nämlich ‚Deutschland‘, präzisiert, d. h. auf eine (diskursive) Lesart festlegt. Zudem wird wie bei -tastisch die soziopragmatische Markierung sp indiziert, darüber hinaus aber zusätzlich die diskursive Markierung d. Die Tatsache, dass -schland mit Deutschland als Basislexem assoziiert ist, wird wieder auf der oberen Ebene angezeigt, auf der unteren finden sich auch hier die konkreten Instantiierungen. Somit stellt die KxG einen Ansatz bereit, um die soziopragmatische und diskursive Markierung²² von teilspezifizierten Konstruktionen mit sekretierten morphologischen Einheiten adäquat zu beschreiben (Konstruktionalisierung).

 Zur Berücksichtigung des Diskurses in der KxG vgl. Östman (2015).

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Nicht die gebundenen Einheiten erweisen sich dann als lexikalisch (und kognitiv) relevant, sondern die teil- und vollspezifizierten Konstruktionen (Instantiierungen).

4 Fazit und Ausblick Ziel des Beitrags war es zu zeigen, dass Wortbildungseinheiten, die durch Reanalyse von Basislexemen und Kontaminationen entstanden sind (wie etwa -tastisch, -schland, -licious, -tainment etc.), auf der einen Seite strukturell-morphologische und semantische Besonderheiten aufweisen, weshalb sie sich der Zuordnung zu den etablierten Kategorien (z. B. Wort, Affix, Affixoid, Kurzwort, Konfix) weitgehend entziehen. Auf der anderen Seite lassen sich soziopragmatische und/oder diskursive Restriktionen beschreiben, die sich auf die jeweiligen Erstglieder oder die kompletten Bildungen beziehen. Aus soziopragmatischer Perspektive können dabei bestimmten sprachlichen Charakteristika (u. a. Wortspielen, multimodalen Besonderheiten, (ortho‐)grafischen Abweichungen) soziostilistische Attribute (z. B. international, jugendlich, identitätsstiftend, auffallend, witzig) sowie Äußerungssituationen und Kontexte (z. B. Internet, Werbung, nähesprachliche Texte) zugeordnet werden. Aus diskursiver Perspektive werden Hashtags mit den sekretierten Einheiten gebildet, die beispielsweise zur Diskursmarkierung, -strukturierung und -positionierung sowie der Ad-Hoc-Vergemeinschaftung dienen. Hinsichtlich der Kategorisierung wurde deshalb dafür plädiert, den Fokus von den sekretierten Einheiten zu den komplexen Bildungen als Konstruktionen zu verlagern (Konstruktionalisierung) und damit eine konstruktionsgrammatische Perspektive einzunehmen. Genauso wie Affixe und Affixoide stellen die sekretierten Einheiten fixe Teilelemente von partiell instantiierten Konstruktionen dar, deren spezifische Bedeutung und Funktion nicht primär kompositionell, d. h. auf die jeweiligen Teilkomponenten zurückzuführen ist, sondern sich erst im Zusammenspiel zwischen Erst- und Zweitglied ergibt. Als Konstruktionen mittlerer Abstraktionsstufe sind sie in einem hierarchisch strukturierten Netzwerk verknüpft mit konkreten Instantiierungen auf der unteren und dem jeweiligen Basislexem bzw. zugrunde liegende Kontaminationen auf der oberen Ebene. Sie übernehmen hier die Funktion als nicht-minimaler morphosoziopragmatischer bzw. diskursmorphologischer Indikator und können so als Ausgangspunkt einer soziopragmatisch und diskursorientierten Wortbildungsforschung (auch unter dem Dach der Konstruktionsgrammatik) betrachtet werden. Gerade diese Funktionen gilt es in weiteren Studien empirisch zu differenzieren, wobei vor allem die konkrete Füllung der freien Slots der partiell in-

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stantiierten Konstruktionen im Mittelpunkt stehen sollte. Auch können kontrastive Studien zeigen, inwiefern es sich hierbei um universelle Konstruktionen handelt (vgl. Norde & Sippach 2019). Aus konstruktionsgrammatischer Perspektive kann so schließlich einer sprachgebrauchsbezogenen, empirischen und kognitiven Wortbildungsforschung Rechnung getragen werden.

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Damaris Nübling

Mailand, Seeland, Hiddensee und Küssnacht Asemantische Transparenz als Ziel onymischer Volksetymologie Zusammenfassung: Volksetymologische Prozesse bei Eigennamen dienen grundlegend anderen Funktionen als bei Appellativen. Wird bei Appellativen i. d. R. eine Form semantischer Adäquatheit hergestellt (Typ Hängematte), ist dieser Aspekt bei Namen irrelevant – mehr noch: es können sogar widersinnige ‚Bedeutungen‘ entstehen (Mailand für eine Stadt, Hiddensee für eine Insel). Hier geht es um die Herstellung von Struktur um ihrer selbst willen, um asemantische Transparenz ohne Motivation, die nur der leichteren Verarbeitung des Namens dienen kann. Bei diesem Stärkungs- und Anreicherungsprozess, der v. a. lange, opake Namen (besonders häufig Toponyme) betrifft, werden Silben- in Morphemgrenzen überführt und vollvokalische Silben in Morphe. Wenn denn ein semantisch zutreffender Bezug zwischen Onym und Referenzobjekt gesucht wird, dann wird an der Schraube des Referenzobjekts gedreht: Sowohl Bern wie Berlin haben den Bären in ihrem Wappen installiert und betreiben auf sprachexterner Ebene beachtlichen Aufwand, um eine Anbindung an dieses Tier herzustellen (Bärengehege, Bären als Souvenirs, Goldene Bären). Verstärkung und Remotivierung werden auf das Referenzobjekt ausgelagert. Schlüsselwörter: Grammatikalisierung, Degrammatikalisierung, Volksetymologie, Resemantisierung, Verstärkung, Resegmentierung, Transparenz, Motivation, Pseudomotivation, amorph, onymisches Suffix, Mnemotechnik

Dieser Beitrag hat von der Diskussion des entsprechenden Vortrags auf der Passauer Tagung „Typologie und Theorie der Remotivierung“ im Juni 2018 profitiert. Insbesondere Rüdiger Harnisch und Christian Lehmann sei für wichtige Anregungen gedankt, ebenso Antje Dammel und Mirjam Schmuck. Prof. Dr. Damaris Nübling, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, FB 05 – Deutsches Institut, 55099 Mainz E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-005

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1 Einleitung Die sog. Volksetymologie, terminologisch adäquater auch unter sekundärer Motivierung bekannt, ist in ihrem Ausmaß, ihrer internen Typisierung bzw. Subklassifizierung und ihrer Funktionalität immer noch unterschätzt bzw. untererforscht. Immerhin liegt mit Olschansky (1996, 1999) eine Aufarbeitung dieses bunten Spektrums an Verstärkungsprozessen formaler und v. a. semantischer Art vor. Gegen den Begriff der Volksetymologie spricht, dass bei solchen Umdeutungen keine historischen Formen oder Bedeutungen reanimiert oder rekonstruiert werden sollen. Vielmehr handelt es sich um einen synchronen Vorgang, bei dem Wörter an andere, lautähnliche Wörter angeschlossen werden, primär formal, oft auch semantisch. Paradebeispiele sind Armbrust < lat. arcuballista ‚Bogenschleuder‘ oder Maulwurf < ahd. mūwerf ‚Haufen- bzw. Erdwerfer‘. Anders verhalten sich jedoch Eigennamen: Zum einen stehen Volksetymologien hier noch häufiger an der Tagesordnung, zum anderen leistet onymische Volksetymologie etwas anderes. Da Eigennamen (Paris, Merkel) i. d. R. unmotivierte Ausdrücke mit direkter Referenz auf ein Objekt, aber ohne denotative Bedeutung sind, richten sich ihre volksetymologischen Aktivitäten nicht auf Motivation im Sinne referentieller Adäquatheit. Hier geht es in erster Linie um die Herstellung morpholexikalischer Transparenz, die der leichteren Memorierung dieser notorisch schwer zu verarbeitenden Wörter dient. Bei ihnen geht es somit mehr um Struktur bzw. Form als Semantik. Wenn es denn zu Prozessen kommt, die eine wörtliche, volksetymologisch generierte Bedeutung mit dem Referenzobjekt in Passung bringen, so wird eher an der Schraube des Referenzobjekts gedreht, indem es hier zu sog. tertiären oder referentiellen Volksetymologien kommt, etwa in Gestalt von Volkssagen, wie das Objekt zu seinem Namen kam, oder abergläubischen Praktiken, um den Namen aus sprachexterner Richtung zu motivieren. Der Beitrag skizziert in Kap. 2 den theoretischen Rahmen der Degrammatikalisierung und der Delexikalisierung und fokussiert dabei auf die delexikalisierende Volksetymologie. Kap. 3 befasst sich mit appellativischer Volksetymologie, die in aller Regel zu Resemantisierungen und Remotivierungen führt. Ganz anders bei Eigennamen, denen Kap. 4 gilt und bei denen man allenfalls von Pseudomotivierung sprechen kann, genauer von reinem Transparenzzuwachs. Selbst eklatante Diskordanzen zwischen wörtlicher Namenbedeutung und Referenzobjekt scheinen der erfolgreichen Referenz auf das Objekt keinen Abbruch zu tun, weiß man doch, dass Namen bloß referierende Etiketten (im Sinne von Phonemketten) sind. Weshalb sie dennoch sekundäre morpholexikalische Muster ausbilden, ist mit Vorteilen auf der Verarbeitungsebene zu erklären. Trotz der bekannten Arbitrarität zwischen onymischem Ausdruck und Objekt kommt es

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zuweilen zu tertiären oder referentiellen Motivierungen, indem am Referenzobjekt manipuliert wird und dieses durch (oft komplexe) Zuschreibungen zusätzlicher Merkmale in eine assoziativ-semantische Passung zu seinem Namen gebracht wird. Auch dieses Faktum hat als Stärkung oder Anreicherung zu gelten.

2 Up and down the cline: (De‐)Grammatikalisierung und (De‐)Lexikalisierung Grammatikalisierung als Sprachwandelprozess, der jede Entwicklung auf dem langen Pfad zwischen Lexemen und Grammemen (bis hin zu morphophonologischen oder nullrealisierten Ausdrucksverfahren) betrifft, ist seit den 1980er Jahren prominent ins Blickfeld nicht nur einzelsprachbezogener Linguistiken, sondern auch sprachvergleichender Disziplinen getreten. Die Grammatikalisierungsforschung hat schlagartig und nachhaltig das Interesse an diachroner Linguistik entfacht und profitiert in besonderer Weise von lang überlieferten, gut erschlossenen und linguistisch intensiv untersuchten Sprachen, zu denen das Deutsche gehört. Ging man anfänglich von einer unidirektionalen down the clineEntwicklung aus, haben sich später – empirisch ebenfalls gut unterfüttert – Positionen artikuliert, die auch, wenngleich seltener, gegenläufige up the clineEntwicklungen dokumentiert haben (s. Fischer, Norde & Perridon 2004; Norde 2009; Harnisch 2004, 2010; Harnisch & Krieger 2017a, b). Das gleiche betrifft prinzipiell auch den Pfad der Lexikalisierung, der bei Wörtern bzw. Lexemen (auch Phraseologismen) endet und feste Bezeichnungs- oder Referenzeinheiten zum Ziel hat. In ähnlicher Weise ist auch die Lexikalisierung als ein down the cline-Prozess der Desegmentierung (Amorphisierung) und Demotivierung einstiger Wortbildungsprodukte zu verstehen (Jung-herr > Junker, Jung-frau > Jungfer) und umgekehrt die De-Lexikalisierung als up the cline-Prozess der formalen Resegmentierung und inhaltlichen Remotivierung (Pfarrer > Pfarr-herr), s. Abb. 1. Genau hier hat die Volksetymologie ihren Ort. Der Remotivierungsanspruch soll in Kap. 3 für Eigennamen allerdings eingeschränkt bzw. anders gefasst werden, während Resegmentierung auch hier gegeben ist. Bei den gegenläufigen Prozessen der De-Grammatikalisierung und De-Lexikalisierung handelt es sich nicht (wie öfter missverstanden) um Spiegelungen, Umkehrungen oder gar Rückgängigmachungen sprachhistorischer Prozesse, sondern um „gegengerichtete Kräfte sui generis“, d. h. Form- oder Substanzzuwächse unterschiedlicher Art, die meist unter den Begriff der Reanalyse fallen. Greifen bei Grammatikalisierungen und Lexikalisierungen formale und semantische Abschwächungen – sog. De(kon)struktion nach Harnisch (2010: 3) –,

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De-Grammatikalisierung Statusanhebung (up the cline) Bedeutungsspezifizierung Konstruktionsebene: („Volksetymologie“) De-Lexikalisierung Resegmentierung Remotivierung (up the cline)

Lexikalisierung Desegmentierung Demotivierung (down the cline)

Phrase Wort Morphem Submorphem pure Lautsubstanz

Grammatikalisierung Statusminderung (down the cline) Desemantisierung Komplexitätsgrad: holistisch irregulär opak

analytisch regulär transparent

Abb. 1. Prozesse und Gegenprozesse auf den (De‐)Lexikalisierungs- und (De‐)Grammatikalisierungsachsen (nach Harnisch 2004: 211)

können De-Grammatikalisierung und De-Lexikalisierung als sprachliche Verstärkungen gefasst werden, als sog. Rekonstruktionen, „ohne dabei das Unidirektionalitäts-Postulat der Grammatikalisierungstheorie anzufechten“: De-Grammatikalisierung in diesem Sinn ist dann der Aufstieg sprachlicher Einheiten auf der Konstruktionsebenen-Leiter (von purer Lautsubstanz zu morphologischem Status, von gebundener Morphemik zu freier, von simplizischen zu Kompositionsstrukturen, von Komposita zu Phrasen), verbunden jeweils mit semantischer Aufwertung. De-Lexikalisierung in diesem parametergebundenen Sinn ist dann die Herstellung von analytischen und transparenten Strukturen aus synthetischen (holistischen) und opaken Gebilden (Harnisch 2010: 3–4).

Die Volksetymologie generiert aus längerer opaker Substanz mehrheitlich Komposita, „deren bekannte Bestandteile der Bedeutung des ursprünglichen [opaken – D.N.] Gebildes ebenfalls so nahe wie möglich kommen sollen“ (Harnisch 2010: 8). Dies ist mit Blick auf appellativische Volksetymologie (s. Abb. 2) die Regel, bei onymischer Volksetymologie dagegen die Ausnahme.

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3 Appellativische Volksetymologie: Semantische Motivation Volksetymologie als zeichengebundene De-Lexikalisierung hat als eine Form der Stärkung, Aufwertung und Statusanhebung zu gelten. Opakes, isoliertes Material, das auf native phonologische und/oder semantische Verdunkelungen zurückgehen kann, oft aber auch aus dialektalem oder entlehntem exogenem Material besteht, wird dabei resegmentiert und – nach Harnisch & Krieger (2017a) – remotiviert. Als Beispiel führen sie ungar. talpas ‚breitfüßig‘ auf, das mit nhd. Tollpatsch an Tölpel und patschen (womöglich auch toll) angebunden, entsprechend ausstaffiert und zu einem Kompositum ausgebaut wurde. Genaugenommen handelt es sich um eine sekundäre semantische Motivierung mit formaler (talpas wird nicht direkt fortgesetzt) und semantischer Veränderung (Tollpatsch bezeichnet keinen breitfüßigen, sondern einen ungeschickten Menschen). Es liegt „Semantisierung formaler Substanz“ vor und damit ein Fall sog. Sekretion. Dieser Fall von Volksetymologie entspricht Typ 4 in der Klassifikation von Olschansky (1996) (s. Abb. 2). Hierzu sei Olschanskys Definition für Volksetymologie angeführt: Volksetymologie ist ein Vorgang, bei dem ein synchron isoliertes und als solches unmotiviertes Wort bzw. eine solche Wortkonstituente durch Anlehnung an ein lautähnliches oder (partiell) lautgleiches nicht-isoliertes bekanntes Wort (Wortfamilie) ohne Beachtung phonetisch-phonologischer und morphologischer Gesetzmäßigkeiten, in etymologischer, diachronischer Hinsicht nicht korrekt […] neu zugeordnet, somit neu bzw. sekundär motiviert, interpretiert und de-isoliert wird, wobei das Lexem, das Produkt des volksetymologischen Prozesses ist, neue morphologische, morphologisch-semantische oder semantische Deutung oder Deutbarkeit besitzt. Der sich vollziehende Anlehnungs-, Identifikations-Prozess kann als eine Erscheinung von Analogie im weiten Sinne gesehen werden […]. Der Volksetymologie unterliegt entlehntes Wortmaterial, das in der Zielsprache oft per se isoliert ist, und indigenes Wortmaterial, das durch verschiedene Ursachen isoliert geworden [sic] ist; Volksetymologie betrifft Appellativa und – wahrscheinlich öfter – propriales Material, das der Tendenz zur Isolation in besonderem Maße ausgesetzt ist. (107)

Dass „propriales Material“ im gleichen Teilsatz mit „Appellativa“ genannt wird, wird im Folgenden noch zu relativieren (und zu trennen) sein, ebenso, dass der neue Name „neue morphologische, morphologisch-semantische oder semantische Deutung oder Deutbarkeit besitzt“ (Olschansky 1996: 107). Abb. 2 verschafft einen Überblick über die vier Typen der Volksetymologie. Typ 1 ohne lautliche und inhaltliche Veränderung wird mit Friedhof illustriert, der etymologisch nichts mit Frieden zu tun hat, sondern aus mhd. vrīthof ‚eingefriedeter Kirchhof, Begräbnisstätte‘ stammt. Typ 2 ist mit einer kleinen inhalt-

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Volksetymologie

Umdeutung (ohne lautliche Veränderung)

Umbildung (mit lautlicher Veränderung)

1) ohne Inhaltsveränderung

2) mit Inhaltsveränderung

3) ohne Inhaltsveränderung

4) mit Inhaltsveränderung

Friedhof

Brosame

Maulwurf

Tollpatsch

okkasionell > usuell

zunehmende Entfernung vom Original

Abb. 2. Typen der Volksetymologie (modifiziert nach Olschansky 1996: 180–181)

lichen Veränderung verbunden. Hier dient Brosame als ‚winziges Stückchen Brot‘ als Beispiel, das ahd. brōs(a)ma ‚jegliches abgebröckeltes Stückchen‘ entstammt und wegen der lautlichen Assoziation mit ‚Brot‘ auf selbiges verengt wurde. Bei Typ 3 und 4 wurde bei dem Reanalyseprozess lautlich nachgeholfen. Typ 3 hält die Bedeutung konstant, wie dies für Maulwurf zutrifft, der auf ahd. mūwerf ‚Haufen-/ Erdwerfer‘ zurückgeht und erst später auch die formale Anlehnung an ‚Maul‘ vollzogen hat.¹ Ähnlich bei Bachstelze, die ursprünglich -sterz ‚Schwanz‘ enthielt und bei der sich die Gangart des Vogels darübergelagert hat. Für Typ 4 gilt der bereits thematisierte Tollpatsch aus ungar. talpas ‚breitfüßig‘. Bei Typ 2 (Brosame, ebenso hantieren, rasant, Habseligkeiten)² und Typ 4 (Tollpatsch, ebenso kritteln, schmutzig lachen) kommt es sogar zu Veränderungen der semantisch-denotativen Bedeutung, um die Motivation zu erhöhen, bei Brosame etwa der Bezug zu Brot, bei schmutzig lachen zu Schmutz, bei hantieren zu Hand (Ronneberger-Sibold 2002: 107).

 Geht man in die Dialekte, finden sich sehr viel mehr Volksetymologien, auch von Maulwurf, z. B. als Maulwolf, Mauerwolf, Maulwühler, Maulwerfler, Maulbruch etc. (s. Drenda 2014). Auch Ameise als weitgehend amorphes, doch morphologieverdächtiges Gebilde ruft nach Auffrischung, wofür deutsche Dialekte reiches Anschauungsmaterial bieten.  Speziell zu Habseligkeiten s. Eichinger (2010).

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4 Onymische Volksetymologie: Transparenzzuwachs (Pseudomotivation) Zwei Alltagsbeobachtungen zeigen, dass Menschen als Träger von Eigennamen missliebigen Interpretationen ihrer Familiennamen durchaus entgegentreten können. Eine Person mit dem Familiennamen Gebauer (< mhd. gebūr(e) ‚Mitbewohner, Mitbürger‘) betont ihren Namen absichtlich auf der zweiten Silbe (Gebáuer), um der synchronen Umdeutung als ‚geh, Bauer!‘ entgegenzuwirken. Eine andere Person namens Hirschauer (< ‚Bewohner von Hirschau‘) setzt vor -auer einen Knacklaut (Hirsch[Ɂ]auer), um die (erlebte) Verballhornung zu Hirschhauer zu vereiteln. Dies zeigt, dass Eigennamen nicht vor unliebsamen Resemantisierungsbestrebungen gefeit sind, diese aber umso heftiger abgewehrt werden: Man möchte den Namen frei von wörtlichen (nicht nur negativen) Assoziationen halten. Während die Referenten von Anthroponymen sich dagegen wehren können, ist dies den Referenten von Toponymen versagt.

4.1 Motivation versus Transparenz Um die wichtige Differenz zwischen appellativischer und onymischer Volksetymologie, die sich beide an der Oberfläche ähneln, in Wirklichkeit aber unterschiedliche Ziele verfolgen, zu schärfen, müssen die Begriffe Transparenz und Motivation, die in der Literatur oft synonym verwendet werden, voneinander geschieden werden. Dies leistet am Beispiel zweier appellativischer Komposita Ronneberger-Sibold (2002): Als transparent oder durchsichtig wird im Folgenden ein morphologisch komplexes Wort bezeichnet, dem man eine wörtliche Bedeutung zuordnen kann. Nach dieser Definition sind also z. B. Blaubeere als auch Junggeselle transparente Wörter, denn man kann ihnen die wörtlichen Bedeutungen ‚blaue Beere‘ als auch ‚junger Geselle‘ zuordnen. Als motiviert sollen solche transparenten Wörter dann gelten, wenn ihre wörtliche Bedeutung zu ihrer referentiellen Bedeutung passt. In diesem Sinne ist Blaubeere motiviert, denn Blaubeeren sind tatsächlich blaue Beeren, während Junggeselle ‚unverheirateter Mann‘ nicht (mehr) motiviert ist […] (105–106)

Somit können appellativische Komposita motiviert (Blaubeere) oder nur transparent sein (Junggeselle). Die erste Möglichkeit entfällt in aller Regel bei Eigennamen. Da Namen per definitionem frei von Semantik sind, dürfte ein volksetymologischer Motivationszuwachs gar nicht erwartbar sein: Eigennamen sind pure Referenzmittel, theoretisch können sie aus einer reinen Zahlenkette bestehen

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(und tun sie das auch gelegentlich). Sie bedürfen keiner Deskription und verlangen daher auch nicht nach Sinn. Zwar machen sie durchaus von lexikalischen Verfahren Gebrauch – denn letztlich gehen fast alle Namen ursprünglich auf motivierte Beschreibungen des Referenzobjekts zurück (Primärmotivation) –, doch wird ein solcher Bezug nicht erwartet. Eher wird eine solche Koinzidenz mit Überraschung quittiert, etwa wenn ein Mann namens Fleischer tatsächlich Fleischer ist oder einer namens Koch beruflich kocht. Umgekehrt wundert sich niemand darüber, dass Düsseldorf eine Stadt ist, ebenso wie Mettmann, Heidelberg, Eberbach oder Westerland. Referentielle Adäquatheit wird beim Namen nicht erwartet, sie ist auch nicht erforderlich, da Eigennamen monoreferent und direkt auf idealerweise ein Objekt verweisen und grundlegend anders funktionieren als semantisch gehaltvolle Appellative. Allerdings kommt Volksetymologie bei Namen – Toponymen wie Anthroponymen – ausgesprochen häufig vor, was damit zu begründen ist, dass sie – mehr als Appellative – fremden Sprachen entstammen, etwa (im Fall von Flüssen und auch Siedlungen) dem Lateinischen (Donau) und dem Keltischen (Lech, Regen). Auch native Siedlungs- und Familiennamen sind anfällig für Volksetymologien. Dies liegt daran, dass sie oft sehr alt sind und damit historisches deutsches Sprach- oder gar Dialektmaterial konservieren. In Sprachkontaktsituationen kommt es ebenfalls zu vermehrter volksetymologischer Aktivität (slawisch-germanisch: Eichler 1978; Eichler & Šrámek 1984, Hengst 1978/ baltisch-germanisch: Dammel 2011). Alle diese Quellen generieren opakes, isoliertes Namenmaterial, dem überdies oft eine gewisse Länge zukommt. Außerdem stellen Eigennamen erhöhte kognitive Anforderungen, da sie nur Ausdruck und Referenz kennen, d. h. in aller Regel gerade nicht in Wortfamilien integriert sind. Es ist zu vermuten, dass eine Funktion zwischen exogenen Strukturen, Wortlänge und geringer Gebrauchsfrequenz über die Wahrscheinlichkeit volksetymologischer – nicht Umdeutung, sondern – Umformung bzw. Umstrukturierung entscheidet. Als prominentes Beispiel sei it. Milano genannt, das im Laufe der deutschen Sprachgeschichte zunächst zu Mailan diphthongiert wurde und, an formähnliches Land andockend, über eine d-Erweiterung zum Kompositum Mailand verstärkt wurde. Weder verhält sich -land referenzadäquat, noch lässt sich postulieren, dass an dem Ort immer Mai wäre, d. h. hier besteht reine Transparenz und damit Pseudomotivation. Dieses Beispiel steht stellvertretend für viele: Längeres opakes Material, zumal mit vollen Nebentonsilben bestückt, wird an native lexikalische Strukturen angebunden, doch ohne deren semantisches Potential zu entfalten, das im Fall einer wörtlichen Interpretation sogar in die Irre führen würde. Typischerweise entsteht dabei ein Kompositum (Simplizia werden bei dieser Gelegenheit eher selten generiert). In diesem Sinn schreibt schon Paul (1920/1975), volksetymologisch anfällig seien „Fremdwörter, Eigennamen und andere Wörter, deren Etymologie verdunkelt ist, und zwar fast nur

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opak

transparent

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motiviert

EIGENNAMEN

it. Milano dän. Hiddensø (Insel) dän. Sjælland (< sjæl ‚Seehund‘) lat. Servatius Aug(u)stin Pankrat(ius) Casimir Milobrat Quirin Koopmann und viele andere mehr

Mailand Hiddensee Seeland Zierfaß Augstein Baumkratz Gaßmeier/Käsemeier Mühlbrett Kehrein Kopfmann APPELLATIVE

hait. Hamáka lat. arcuballista ‚Bogenschleuder‘ ahd. mūwerf ‚Haufenwerfer‘ ahd. ziustag ‚Tag des (Gottes) Zius‘ und viele andere mehr

Hängematte Armbrust Maulwurf Dienstag

Abb. 3. Sekundäre Transparenz bei Namen, sekundäre Motivation bei Appellativen (nach Nübling, Fahlbusch & Heuser 2015: 40)

Komposita oder solche Wörter, die vermöge ihrer volleren Lautgestalt den Eindruck von Kompositis machen“ (Paul 1920/1975: 221). Abb. 3 stellt die Unterschiede zwischen onymischer und appellativischer Volksetymologie einander gegenüber: Bei Eigennamen verbietet sich Volksetymologie zwar nicht zwingend (s. Kap. 4.2.), doch erübrigt sich hier der Schritt zur vollen Motivation. Hierzu schreibt Paul (1920, 1975): „Eigennamen widerstreben einer solchen lediglich an den Laut sich haltenden sekundären Beziehung am wenigsten, weil bei ihnen zwar keine Übereinstimmung, aber auch kein Widerspruch der Bedeutungen möglich ist“ (219). Für Appellative gilt dagegen das, was Harnisch & Krieger (2017b) wie folgt formulieren: „Motiv ist immer die Angleichung undurchsichtiger Wörter an lautlich ähnliche und semantisch (einigermaßen) passende Einheiten [Hervorhebung: D.N.]“ (76). Das Hervorgehobene erübrigt sich bei Namen.

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Natürlich kommt es zu Ausreißern in beide Richtungen: Volksetymologische Prozesse können bei Namen zu zufälliger semantischer Passung mit dem Referenzobjekt führen: So erwähnt Fetzer (2011, 118–119) die Schweizer Gemeinde Därstetten, deren erster Beleg im Jahr 1228 Tarenchat lautet und mit -stetten eine relativ ‚zutreffende‘ Volksetymologisierung erfahren hat. Umgekehrt kann es vorkommen, dass appellativische Produkte unpassend sind, z. B. Vielfraß < norw. fjeldfross ‚Bergkater‘ oder Maulbeere < ahd. mūrberi zu lat. mōrum ‚Brombeere‘ (Sanders 1972: 7). Dann findet jedoch häufig eine Art von semantischer Korrektur statt, indem ein Grundwort hinzugefügt wird, das den zutreffenden Bezug zur Objektklasse sichert. Immerhin wurde lat. mōrum nicht zu *Maul, sondern es zu Maulbeere erweitert. Gleiches gilt für lat. mūlus, das im Deutschen Maultier ergab, oder für schwed. ren > nhd. Rentier (s. Sanders 1972: 6–7). Auch Windhund, Turteltaube, Kichererbse, Salweide etc. stellen solche „tautologischen Komposita“ (Sanders 1972: 8) dar. Dieser Aspekt der semantischen Justierung bei ansonsten sinnwidrigen Appellativa stützt die Gültigkeit der in Abb. 3 skizzierten Prinzipien. Insbesondere an toponymischer Volksetymologie haben sich einige Onomasten abgearbeitet und dabei immer wieder nach Resemantisierung oder Motivierung gefahndet. So lautet der Titel von Wiesinger (1995) „Die Bedeutung der Eigennamen: Volksetymologie“. Eichler (1978), Eichler & Šrámek (1984) und Hengst (1978) fassen sie zur „lexikalisch-semantischen Integration“ und sprechen im Fall von Ortsnamen wie Kummer, Schmerz, Fahrbinde und Wassersuppe irreführenderweise von „sekundärer semantischer Motivierung“ oder „voller Resemantisierung“ (Hengst 1978, 502). Hengst (1973) identifiziert bei solchen sog. Lehndeutungen (slawischer eingedeutschter Ortsnamen wie Toppschädel, Wetterwitz) immerhin einen „schwer zu motivierenden Sinngehalt“ (86). Wiesinger (2005) geht noch von „semantischer Neumotivierung“ (39) aus. Debus (1977) schreibt: „Aus unverständlichen oder vom Wortschatz formal abweichenden Namen sind dabei wieder sinnvolle Gebilde entstanden, so z. B. Lieblos aus dem genetivischen Ortsnamen Liubolfes […]“ (12). 1984 hat Hengst die missliche Redeweise von „volle[r] Resemantisierung“ durch „sekundäre scheinbare semantische Verankerung“ ersetzt, die Semantik wurde somit ausgehebelt. Fleischer (1984: 60) schlägt den Terminus „Pseudosemantisierung“ vor. Generell stellt Eichler (1987) mit Bezug auf Namen fest: „Die […] Auffassung, dass ein Morphem die kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache darstellt, dürfte die Übertragung des Morphembegriffs in den proprialen Bereich nur dann zulassen, wenn eben dem Eigennamen eine Bedeutung zugesprochen werden kann“ (21). Er spricht sich dagegen aus, „die Relation zwischen Eigennamen und identifiziertem Objekt [zu] ‚semantisieren‘“ (Eichler 1987: 21). D. h. nameninterne lexikalische (und auch ‚morphische‘) Strukturen tragen in aller Regel keine Bedeutung, vielmehr sind sie als materielle Bausteine zum Aufbau, zur Konstruktion von Na-

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menkörpern zu verstehen (s. Mailand). Hierfür eignet sich der Begriff des Morphs im Gegensatz zum Morphem. Allerdings gibt es durchaus Namenmorpheme, und zwar solche, die die Eigennamenklasse anzeigen: So bilden -ing (Freising, Straubing) bzw. ‐ingen (Gundelfingen, Göppingen) typische Siedlungsnamensuffixe (deren Erstglied üblicherweise die männlichen Rufnamen der Siedlungsgründer enthalten). Ähnliches gilt für -a in den neuen Bundesländern (Kreischa, Schweina, Jena), heute ein onymisches (Klassen‐)Suffix, das ursprünglich auf ahd. -aha ‚fließendes Gewässer‘ (Schweina < sueinaha [933] nach Greule 2014) oder ahd. ouwe ‚Aue‘ zurückgehen kann (Kreischa < Kryschowe [1282]) und sich später als reanalysiertes und mobiles onymisches Suffix auf andere Toponyme ausgebreitet hat (Linda, Tanna, Jena). Solche onymischen Suffixe haben einen grundlegend anderen Status inne als die lexikalischen (Rest‐)Strukturen, aus denen Namenkörper oft bestehen, etwa im Fall von Lind-{a}. Allerdings können auch onymische Suffixe über Reanalyse entstehen, wenngleich solche Fälle eher selten sind (s. Eichler 1990; Ernst 2016; Harnisch 2021).Wir kommen darauf im folgenden Abschnitt 4.2. zu sprechen. Bislang sind wir noch weit davon entfernt, einen ersten Überblick über das Ausmaß, aber auch die Typenvielfalt onymischer Volksetymologie zu besitzen: ”Gerade für die Eigennamen stehen modernere vollständige Darstellungen noch aus” schreibt Olschansky (1999: 184). In Abschnitt 4.2. wird eine kursorische Zusammenstellung an volksetymologischen Beispielen präsentiert, analysiert und diskutiert.

4.2 Fälle onymischer Volksetymologie Ein Durchgang durch die einschlägige, oben bereits genannte Literatur (aber auch Bach 1953/54, §§732–736; Wiesinger 1995, 2005; Panagl 1982, 2005; Olschansky 1996, 1999; Vennemann 1999; Fetzer 2011) liefert eine Fülle an volksetymologischen Umdeutungen, von denen hier einige wenige in ungeordneter Folge und ohne Angabe der jeweiligen Quelle aufgelistet werden. Auch muss die erstgenannte Form nicht die konkrete Vorlage zur Volksetymologie geliefert haben, weitere Zwischenformen sind denkbar und sogar wahrscheinlich. Volksetymologisch besonders aktiv sind Toponyme: Tief(e)stal > Diebstahl, Cussiniacum > Küssnacht, Wundramsheim > Wundersam, Stercfrides[huson] (1167, männl. Rufname) > Sterbfritz, Liubolfes (männl. Rufname) > Lieblos, Freilehnberg > Fräuleinberg, Firniheim > Viernheim, Hirz(e) berg (‚Hirsch‘‐) > Herzberg, Mautenturm (Maut ‚Zoll‘) > Mäuseturm, Hugesprunn (männl. Rufname) > Hausbrunn, Erembrechtstein (Rufname Erinbrecht) > Ehrenbreitstein, Fiuhtinwangen (ahd. fiuht ‚Fichte‘) > Feuchtwangen, Suderland > Sau-

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erland, Hesselberg > Eselberg, Anbruch > Ehebruch, Elfel (aus Alta Villa) > Eltfeld, kelt. Alcmona > Altmühl, altsorb. *Jutrokliky > Güterglück, altsorb. *Rusavin > Roßwein, Mons Achon > Hohe Acht (für einen Berg), slow. studen ‚kalt‘ > Der Hohe Student (Berg). Familiennamen vollziehen ebenfalls gerne Volksetymologie, wie z. B. Wesche (1970), Olschansky (1999, 195–202), Kunze (2003) und andere herausstreichen und mit vielen Beispielen belegen: Wienkop (nd. ‚Weinkäufer‘) > Weinkopf, Balthasar > Waldhauser, Wolfhart, Wolfert > Wohlfahrt, Roßteuscher (zu tauschen ‚handeln‘) > Roßdeutscher. Kommen solche Neubildungen durch Verschriftung und Verhochdeutschung von dialektalem (oft niederdeutschem) oder fremdem Namenmaterial zustande, spricht man auch von Beamtenetymologien: nd. Kamp ‚Feld‘ > nhd. Kampf, z. B. Kuhlenkampf, Wasserkampf, Mühlenkampf (aus Möhlenkamp), Kampfmeyer, Kriegbaum aus Krec(e)bom, Kreikenbom bzw. Kirchbaum aus Kerkebom, beide Etyma ‚Kirschbaum‘. Poln. Majczak > Maischatz, Broszak > Brotsack, Kierzkowski > Kirschkopf, Kahezedek > Katz, tschech. Režak > Rehsack. Da die Linguistik noch keine Systematik onymischer Reanalyse und ihrer bedingenden Faktoren erarbeitet hat, sollen im Folgenden ein paar Überlegungen dazu angestellt werden (Punkte im Wort markieren Silbengrenzen). Der Fall Wohlfahrt aus Wolfart, Wolfert zeigt, dass das Ursprungsgebilde als schwierig zu memorierendes holistisches Gebilde empfunden wurde, das nicht direkt auf den männlichen Rufnamen Wolf.hart zurückgeht, sondern sehr wahrscheinlich schon zu Wolfart oder Wolfert verschliffen war. Eine solch komplexe phonologische Struktur innerhalb eines simplizischen Gebildes ruft nach Morphologie bzw. Lexik. Sehr häufig folgt eine solche ‚morphische‘ (oder ‚lexische‘) Reanalyse den (neuen) Silbengrenzen, die in Simplizia der Sonoritätshierarchie folgen: Eine neue Silbe beginnt in der Regel (d. h. wenn keine spezifischen phonotaktischen Beschränkungen gelten) vor dem Konsonanten mit der höchsten Konsonantenstärke. In Wol.fart bzw. Wol.fert ist dies das [f]. Auf dieser prosodisch-phonologisch vorstrukturierten bzw. präparierten Grundlage erfolgt die morphische Resegmentierung zu Wohl.fahrt. Die Semantik von Wohlfahrt trägt nichts zur Identifizierung des Referenzobjekts bei (oder auch nur zur Namenklasse), hier wird nur formale Transparenz hergestellt. Wesche (1970: 336) liefert ein ähnliches Beispiel für den nd. Familiennamen Ahlswede, den er zum westfälischen Ortsnamen Alschwede, nd. -wēde ‚Holz‘ enthaltend, stellt. Im Volksmund wurde Ahlswede zu ‚alter Schwede‘ umgedeutet, ein Onomast vermutete dahinter auch den alten Rufnamen Adal-swind. Was beide Assoziationen verbindet, ist die Gleichsetzung von Silben- und Morphemgrenze: [s] als der im Vergleich zu [v] stärkere Konsonant veranlasst die Verschiebung der Silbengrenze dieses offensichtlich opakisierten Gebildes vor das [s] (Ahls.wede > Ahl.swede) und löst entsprechende Assoziationen aus.

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Auch viele weitere Beispiele zeugen davon, dass strukturell komplexe und dazu lange, opake oder auch nur halbopake Gebilde nach morphologischer Auffrischung verlangen. In kelt. Alc.mona > nhd. Altmühl liegt die Silbengrenze hinter [k], weil [km‐] im deutschen Silbenonset phonotaktisch nicht möglich ist. Auch hier hat eine beträchtliche phonologische ‚Nachbesserung‘ zu den beiden Bestandteilen Altmühl geführt. Dieses Kompositum qualifiziert sich ebenfalls wenig zur Beschreibung eines Flusses. Grundsätzlich dürften insbesondere solche Gebilde nach morphologisch-kompositioneller Anreicherung verlangen, die volle Nebensilbenvokale enthalten, denn native Simplizia enthalten seit der mhd. Nebensilbenabschwächung schwa-haltige unbetonte Silben. Kommen phonotaktisch komplexere Konsonantenverbindungen hinzu, dürfte dies die Wahrscheinlichkeit für Komposita als Output erhöhen. Der Städtename Braunschweig geht nach Niemeyer (2012) auf Brun(e)s-wik, „eine Siedlung (wīk) eines Brun, hier im Gen.Sg.“ (88) zurück, evt. auch auf germ. brūn ‚Kante, Rand‘ im Genitiv. Das einstige Genitiv-s wurde resilbifiziert und zum Anlaut der zweiten Silbe geschlagen, das verbleibende Erstglied an die Farbbezeichnung braun angeschlossen. Im Ergebnis hat auch hier eine syllabisch induzierte Verlegung der neuen morphologischen Grenze stattgefunden, erkennbar u. a. auch daran, dass man das Gebilde als trennen würde. Komposita werden in der Schreibung morphologisch getrennt, womit die Worttrennung am Zeilenende wichtige (und noch nicht systematisch untersuchte) Evidenz für die (Re‐)Analyse solcher Namen liefert. Auch Hidden.see < dän. Hiddens.ø (für eine Insel), wörtl. ‚Hiddens Insel‘, wurde im Deutschen zunächst amorphisiert (desegmentiert) und anschließend vor dem einstigen Genitiv-s als stärkstem Konsonanten resilbifiziert, resegmentiert und remorphisiert zu Hidden +See. Dies kontrastiert semantisch maximal mit dem Referenzobjekt und wird durch die Schreibung noch verstärkt. Das scheint jedoch nicht zu stören: Eine wörtliche Bedeutung wird bei Namen ausgeblendet. Selbst vollopake (nicht volksetymologisierte) Namengebilde wie Borgentreich (für eine Stadt bei Höxter) dürften vor dem t getrennt werden () und nicht etwa vor dem schwächeren r (?), auch wenn dies etymologisch gerechtfertigt wäre (< Borgunt-riche [1280], Niemeyer 2012: 82). Schon allein die interne Lautstruktur eines längeren Gebildes, das volle Nebensilbenvokale und Konsonantencluster enthält, legt für MuttersprachlerInnen des Deutschen bestimmte ‚morphische‘ (rein strukturelle) Segmentierungen nahe, auch wenn die Ebene der Morphologie im Sinne der Bedeutungshaltigkeit gar nicht erreicht wird. Ähnliches gilt für Barn.trup, Er.krath (< männl. Rufname Everrīk ‚Eber+reich‘ + -rode ‚Rodung‘), Kem.nath, Vers.mold, Det.mold, Don.sieders etc. Es handelt sich auch nicht um submorphologische Einheiten, da solche zumindest konnotativ befrachtet sind und damit eine assoziative Gemeinsamkeit

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besitzen (vgl. etwa [ʃl] in schlabbern, schlingern, schludern, Schlange, Schleim, Schlampe etc). Daher gilt es für unsere onymischen Phänomene den Begriff des Morphs bzw. das Adjektiv morphisch zu etablieren bzw. zu (re‐)aktivieren und zu füllen: Ähnelt dieses einem Lexem, ohne seine Bedeutung (auch nur assoziativ) zu aktivieren, müsste man analog von Lex (als sublexikalische Einheit) und lexisch sprechen. Auch viele ‐ing(en)-Bildungen dürften, da der Onset dieses Suffixes unbesetzt ist, prädestiniert sein für Resilbifizierungen und morphische Resegmentierungen, z. B. bei Ingel.fingen, Sindel.fingen oder Schnever.dingen (etymologisch enthält ihre Basis einen männlichen Rufnamen, hier Ingolf, Sindolf bzw. Sne(l)ward). Hinsichtlich der Frage, wie der Prototyp eines lexikalischen Morph(em)s aussieht bzw. bis wann ein Formativ nicht mehr lediglich eine Silbe sein kann, liefern diese Beispiele wichtige Hinweise. So dürften sich schwa-haltige (per se unbetonte) Gebilde wie Winnenden, Würselen oder Wirges als Vorlage für morphologisch zweigliedrige Auffrischungen (Komposita) disqualifizieren. Opake trochäische Viersilber wie Edenkoben könnten wenn, dann nur mit den beiden ersten und letzten Silben zu einer morpho-lexikalischen Einheit angehoben werden. Eine anders verlaufende Morphemgrenze dürfte angesichts der Ausgangslage auszuschließen sein. In selteneren Fällen wird auch ein reanalytisches Derivationssuffix in Kauf genommen, vgl. Liubolfes > Lieblos, Wundramsheim > Wundersam, oder ein Syntagma, vgl. Stercfrides[huson] > Sterbfritz. Im Fall der scheinbaren Adjektive (Lieblos, Wundersam) eignet sich nicht einmal mehr die Wortart zur Referenz auf ein Objekt. Wenn denn Komposita zustandekommen (was häufig der Fall ist), dann scheint ihr Sinn irrelevant zu sein, vgl. Tief(e)stal > Diebstahl, Cussiniacum > Küssnacht. Gelegentlich entstehen im Output auch Simplizia, vermutlich dann, wenn die ‚Suche‘ nach anschlussfähigen Formativen erfolglos bleibt. So ist der exogene Familienname Kahezedek zu Katz kontrahiert. In anderen Fällen können Segmente, sogar Anlaute, getilgt werden, wie dies für Hesselberg > Eselberg oder Zwieselburg > Wieselburg gilt (Harnisch 2017b: 251; Harnisch 2018: 17). Selbstverständlich können auch nur Teile von Namen volksetymologisch umgeformt sein (partielle Volksetymologie). Hengst (1973: 86) erwähnt den Ortsnamen Rochzahn < altsorb. *Rokycane. Zusammenfassend ist die Erkenntnis zentral, dass die meisten Beispiele onymischer Volksetymologie in referentielle Nichtpassung münden und diese damit affirmieren, insbesondere die, die zu Abstrakta werden (Ehebruch, Küssnacht, Unangst, Diebstahl), zu Derivata (Unangst, Männlichen, Wundersam) oder zu anderen Namen (Bethlehem, Sterbfritz, Venusberg). Auch äußerlich unauffällige Komposita pflegen sich in aller Regel für sinnvolle Bezüge auf ihr Referenzobjekt zu disqualifizieren, s. Hiddensee (für eine Insel), Mailand (für eine Stadt), Seeland (für eine Insel). Dies schließt keineswegs aus, dass auch mal Treffer zu-

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standekommen. Nur sind sie, im Gegensatz zur appellativischen Volksetymologie, Zufallsprodukte. Anders gelagert sind Fälle, wo über Sekretion passende (top)onymische Klassensuffixe emergieren. Dies beschreiben für -ing(en) Eichler (1990) und Ernst (2016). Eichler stellt für Niederösterreich fest, dass häufige slawische Orts- bzw. Bachnamensuffixe wie -ika, -nik oder ‐itjo an Ortsnamen auf -(l)ing (die üblicherweise, aber eben nicht hier, sog. Insassennamen waren) angeglichen wurden, z. B. Vießling, Döbling, Lassing, Straning. Im Gebiet der früheren DDR entstanden auf diese Weise Ortsnamen auf -ingen, z. B. Liebringen (in Thüringen) < Libergen (im Jahr 1240) oder Medingen < Medegowe (1378), Medien (1526), das sich ursprünglich aus altsorb. med ‚Honig‘ ableitet. Dammel (2011: 149–151) zeigt, dass lettische Familiennamen auf -inš im Deutschen ebenfalls zu ‐ing, einem ursprünglich patronymischen Suffix (Henning zu (Jo)hannes), sekretieren können: Graudinš > Grauding, Ozoliņš > Osoling. Spektakulärer sind scheinbare Abstraktsuffixe auf ‐igkeit, die aus unterschiedlichen litauischen Endungen emergieren, vgl. etwa Jonikaitis > Jonigkeit, Bastikaitis > Bastigkeit, Didrikas > Di(e)drigkeit etc., wobei primär die Schreibung diese Reanalyse nahelegt: „Im Deutschen entsteht so der aparte Gesamteindruck einer Abstraktbildung zu einer ungekannten Eigenschaft“ (Dammel 2011: 149). Harnisch (2021) beschreibt sogar die Genese onymischer Interfixe, konkret von -e(r)ts- am Ende des Erstglieds von (v. a. österreichischen) Ortsnamen-Komposita wie Ebertsberg, Knappetsberg, Stieretshof. Quelle sind Personennamen mit Genitiv- bzw. Fugen-s, z. B. Eberhart-s-, das zu Eberts- abgeschwächt wird. Hieraus wurde {e(r)ts} als onymisches Interfix reanalysiert und auf andere Erstglieder wie Knapp-en-, Schaff-er-, Schmied- oder Stier- übertragen bzw. hineinkopiert: Knappets-berg, Schaff-ets-schlag, Schmied-ets-schlag, Stier-ets-hof. Nübling (2010) beschreibt ähnliche Prozesse für Familiennamen auf -ert (Englert, Schreinert, Kleinert). Harnisch (2021) betont, dass es sich auch in diesen Fällen um Verstärkungsprozesse handelt und somit um „Derivationalisierung von unten“ (Harnisch 2021: 37). Auch Hengst (1978) erwähnt, dass viele an volksetymologischen Namengebilden (mehrheitlich slawischer Provenienz) haftende Wortbildungselemente „in das System der [ost]deutschen O[rts]N[amen]-Suffixe voll integriert“ (503) sind, z. B. ‐a, -au, -ow, -itz, -litz, -nitz, -schütz, aber auch Namenausgänge nativer Ortsnamen wie ‐bach, -beck, -born, ‐busch, -garten, -heim etc. Hier scheint eine Tendenz zu bestehen, solche Namenausgänge zu kreieren, die durchaus auf die Namenklasse (hier Ortsnamen) zutreffend verweisen, deren wörtliche Bedeutung (wie bei ‐bach, -busch etc.) aber weiterhin unzutreffend bleibt. Damit findet keine echte Resemantisierung statt (s. auch Hengst 1981). Als Beispiel sei die sächsische Ortschaft Garsebach angeführt, die sich aus altsorb. *Korsobuk ‚Zwergbuche‘

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ableitet und -bach als typischen Ortsnamenausgang (via Sekretion) generiert hat (Hengst 1978: 503). Eichler (1997) macht die Beobachtung, dass solche Klassenelemente gelegentlich auch ohne Vorlage an opake Namen angehängt werden können, z. B. slav. Bor > dt. Borsdorf, slav. Rosłav > dt. Roslavsdorf (beide sogar mit Fugen-s). Dies unterstreicht das Bedürfnis, am Wortende die Namen- und damit Objektklasse zu signalisieren. Spezifischere Hinweise auf das Objekt werden dabei nicht mitgeliefert.

4.3 Funktion onymischer Volksetymologie: Mnemotechnik Es ist viel gemutmaßt worden, warum und wozu opake Namen so häufig volksetymologisiert werden. Angesichts der ‚blinden‘ Anbindung bzw. ‚ungesteuerten‘ Stärkung von morphischen Einheiten liegt es fern, dem eine Suche nach Sinn zu unterstellen.Vielmehr gilt m. E. das, was Max Koch in aller Klarheit bereits 1963 in seinem Beitrag „Volksetymologie und ihre Zusammenhänge“ geschrieben hat: Nach verbreiteter, freilich nicht unangefochtener Ansicht wäre es das Absehen der Volksetymologie, einen unverständlich gewordenen O[rts]N[amen] neu zu deuten, was ja nur heißen kann: ihm einen neuen Sinn, einen Sinn jedenfalls beizulegen. Damit stehen aber die Tatsachen in einem so auffallenden Widerspruch, dass die Frage hier eigentlich nur die sein kann, was uns hindere, diese Tatsachen wahrzuhaben. […] In Wirklichkeit haben die volksetymologischen Umbildungen oder, wenn die Form unverändert bleibt, Umdeutungen nur bestenfalls und ausnahmsweise einen mehr oder weniger natürlich sich ausnehmenden Sinn, der aber nichtsdestoweniger […] aus einem Scheinsinn besteht. Eine U m b i l d u n g dieser Art ist z. B.: 1749 Klelisbuk > Chleebuck unter Anlehnung an Chlee Klee. (163)

Dem fügt er eine mehrfache Umbildung hinzu, auf die zunächst das Appellativ Anger und später Tanne eingewirkt hat: St. Agneserberg (Hügel in Schaffhausen, der dem Kloster St. Agnes gehört) > St. Agnerberg > (1321) ze sant Angen > St. Angerberg, dann mit weiterer Resilbifizierung > *San-Tangerberg > Tannerberg. Als Umdeutung (ohne formale Anpassung) betrachtet er die Schreibung Feldbach bzw. Feldbrunnen, die zwar die dialektale Aussprache als fälpach bzw. fälprunne nicht verändert, aber deren eigentliches Etymon, das nichts mit Feld zu tun hat, sondern zu mhd. velwe ‚Weidenbaum‘ gehört, verschleiert (in älteren Urkunden steht (1212) velpach, (1403) felbrunnen, (1433) felwbrunnen). Während hier immerhin nur abweichende, aber keine unsinnigen Bedeutungen hergestellt werden, nimmt die Mehrzahl der Umbildungen und Umdeutungen keine Rücksicht auf das Referenzobjekt:

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Solchen Ausnahmefällen gegenüber steht die große Masse der übrigen volksetymologischen Umbildungen, die entweder schon augenscheinlich und zum vorneherein e i n e s S i n n e s e n t b e h r e n […] oder auch im Widerspruch zum benannten Objekt stehen können […]. (164)

Er führt zahlreiche Beispiele auf, etwa Sybers Tann > Sibezg Tann (Siebzig Tannen); Cuntzenmatt > Churzenmatt (kurze Wiese); froloch (zu mhd. vohe ‚Fuchs‘) > Frohloch. In allen diesen Fällen haben die älteren ON.-Formen weder einen etymologischen noch einen inhaltlichen Zusammenhang mit ihren jüngeren Ersatzwörtern, noch handelt es sich bei den letztern um eine Neubenennung des Objekts nach bestimmten Eigenschaften desselben. Es ist also einzig die Lautähnlichkeit, die ältere und jüngere Form miteinander verbindet, und sie einzig ist das Maßgebende für die Wahl der Ersatzwörter. Woraus folgt, dass der Wortsinn bei der Volksetymologie überhaupt keine Rolle spielt […]. (166)

Damit verortet Koch die Volksetymologie auf der formalen Seite, eine Umdeutung weist er – m. E. zurecht – zurück: Hier, auf diesem formalen Gebiet, liegt die eigentliche Funktion der Volksetymologie. Sie ist kein bedeutungsmäßiger, sondern ein rein äußerlicher Vorgang. Sie ist eine sprachtechnische, genauer: mnemotechnische Erleichterung, indem eben Namen, die aus geläufigen Wortformen bestehen, gedächtnismäßig ungleich leichter zu behalten sind als isolierte, anderweitig nicht verwendete und weiter nicht bekannte Laut- und Wortgebilde. (166)

Frei sozusagen herumliegende, phonologisch (oder auch graphematisch) ähnlich klingende bzw. aussehende Lexeme, aber auch – s. o. – nicht-substantivische oder nichtlexikalische Einheiten wie Adjektive, Namen, Syntagmen, Derivationsaffixe etc. werden als ‚Baumaterial‘ oder ‚Werkstoff‘ herangezogen, um dem Namengebilde mehr Struktur (Transparenz) und damit Memorierbarkeit zu verleihen. Dass dies nicht zur Erhellung der Referenz führen muss bzw. es in den seltensten Fällen tut, liegt nahe. Daher dreht Koch (1963) den Spieß sogar um, wenn er schreibt: „Eben das Widersinnige und Ungereimte eines O[rts]N[amens] ist das beste Kennzeichen der Volksetymologie“ (165): Es ist gerade die onymische Nicht-Passung, die diesen Prozess verrät. Eine Bestätigung erfährt diese mnemotechnische Nutzung anderweitiger verbaler Bausteine durch das schwedische Familiennamensystem: Seit ca. hundert Jahren werden, um den hohen Konzentrationen von son-Namen zu entkommen, SchwedInnen staatlicherseits ermuntert, neue Familiennamen anzunehmen. Diese wurden früher in riesigen Namenkatalogen (heute im Internet) angeboten. In aller Regel handelt es sich dabei um sinnlose Familiennamenkomposita aus beliebigen, meist naturbegrifflichen Bausteinen, die durchaus Wider- oder Unsinniges ‚bedeuten‘ dürfen, z. B. Stenkvist ‚Steinzweig‘, Dalberg

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‚Talberg‘, Åström ‚Flussstrom‘ oder Hedström ‚Heidestrom‘. Auch hier besteht der Nutzen darin, aus bekannten Einheiten neue Namen zu produzieren, deren Memorierung dadurch erleichtert wird; ein sinnvoller Bezug auf die Person ist vollkommen ausgeschlossen.Was ansonsten über Volksetymologie entsteht, wird hier über Namenpolitik systematisch und in großem Ausmaß generiert.

4.4 Die Bären von Bern und Berlin: Tertiäre bzw. referentielle Motivation (Ätiologie) Auch wenn im Fall von onymischer Volksetymologie weniger sekundäre Motivation als Pseudomotivation oder genauer Transparenz entsteht, sind doch weitere Prozesse von Interesse, die hier tertiäre Motivation, referentielle Motivation oder, mit Sanders (1975: 5), Ätiologie genannt seien. Wiesinger (1995) spricht in diesen Fällen etwas unscharf von „Auswirkungen von Volksetymologien“ (470), Sanders (1975) auch von „mythenbildende[r] Volksetymologie“ (4). Was liegt vor? Sind die volksetymologischen Umformungen einmal in der Welt, kommt es nicht selten zu „Heilungen“ der semantischen Inkongruenz zwischen Name(nbedeutung) und Referenzobjekt, und zwar aufseiten des Referenzobjekts, das nun seinerseits eine Anreicherung (oder Stärkung) erfährt. Wir haben zwar solche denotativen ‚Justierungen‘ auch bei Appellativen beobachtet (s. Brosame), doch nehmen diese sich vergleichsweise bescheiden aus. Bei Namen geschieht Dramatischeres: Als reines (asemantisches) Referenzmittel ist es nämlich das Objekt (im weitesten Sinn) selbst, an dem geschraubt wird und das nun passfähig(er) gemacht werden muss. Dabei tun sich mehrere Strategien auf, von denen hier nur wenige genannt seien. Gemeinsam ist allen Verfahren, dass am Referenzobjekt bzw. seinem Kontext(wissen), seiner Einbettung oder historischen Genese manipuliert wird, um die Passung mit der wörtlichen Bedeutung seines Namens zu erhöhen (zu anderen Formen pragmatischer Namen-Aufladung, die mit der Aktivierung einer potentiell wörtlichen Bedeutung nichts zu tun haben, s. Harnisch 2017a, 2017b). Am evidentesten ist dies bei den beiden Städtenamen Bern und Berlin, deren Etyma nichts mit einem Bären zu tun haben. In Bern wurden bis 2009 im sog. Bärengraben zwei Bären gehalten. Nach seinem Umbau 2009 zum sog. Bärenpark wurden dort zwei Bärenweibchen namens Berna und Ursina untergebracht. Der Bär ist das Wappentier sowohl der Stadt Bern als auch des Kantons Bern. In Bern gibt es zahlreiche weitere Bezüge zu Bären, etwa ein Hotel Zum Bären, eine Pizzeria Bären etc. Der Name Bern wird somit vielfach von Bären gerahmt, die dem Namen nachträglich zu einer volkstümlichen Motivation verhelfen. Ähnliches gilt für Berlin (wo noch ein Diminutivsuffix hineingelesen wird): „Der Bär als Wahrzeichen von Berlin ist aus dem Namen der Stadt herausgesponnen“ (Olschansky

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Bern

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Füssen

Abb. 4. Die Wappen von Bern, Berlin und Füssen (https://de.wikipedia.org/wiki/Bern, https:// de.wikipedia.org/wiki/Berlin, https://de.wikipedia.org/wiki/Füssen)

1999: 185). Das Tier erscheint hier seit dem 13. Jh. im Wappen, und auch hier gab es bis vor wenigen Jahren einen sog. Bärenzwinger. Der Bär findet sich in zahlreichen Artefakten und Andenken, außerdem verleiht die Berlinale den Goldenen Bären. So werden Fakten geschaffen, die den Namen von der anderen Seite her zu motivieren suchen und ihn so rahmen, dass er (besser) passt. Ein drittes toponymisches Beispiel ist die Stadt Füssen, die Beine (die im Oberdeutschen Füße genannt werden) in ihrem Wappen führt (Vennemann 1999: 284). Abb. 4 stellt diese drei Wappen dar. Wiesinger (2005) beschreibt den Fall der Leiterstraße in Magdeburg, die eigentlich auf ‚Lederstraße‘ zurückgeht, belegt in lat. vicus corii im 13. Jh. bzw. als mnd. Lederstrate; mnd. leder ‚Leder‘ und ledder ‚Leiter‘ waren sich sehr lautähnlich. Im Zuge der Verhochdeutschung im 17. Jh. wurde aus der Lederstrate die Leiterstraße, „wo sich auch der mit einer Leiter versehene Teufelsbrunnen befindet und das benachbarte Haus Nr. 5 mit Leitern geschmückt ist, auf denen Teufelchen emporklettern“ (Wiesinger 2005: 46). Kunze (2003: 183) nennt in diesem Kontext auch Familiennamen, deren Wappen namenmotivierend agieren, z. B. von Apen (ein Ortsname) mit einem Affen im Wappen oder Corvey (ebenfalls aus einem Ortsnamen) mit einem Korb voller Eier. Wesche (1970) erwähnt in einer Wolfenbüttler Handschrift einen Grafen von Pyrmont, der 1513 als Permund verschriftet wird und „als Wappen ein Pferdemaul mit einer Trense“ (334) führt. Kunze (2003) stellt fest, dass schon immer solche Fehldeutungen vorkamen und erwähnt als Beispiel die Legenda aurea: Hier wird der weibliche Rufname Agnes (< griech. (h)nagós ‚rein, geweiht‘) zu lat. agnus ‚Lamm‘ gestellt. Er zitiert: „Agnes ist soviel wie agna und bedeutet

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‚Lamm‘, denn sie war sanft und demütig wie ein Lamm“ (41). Deshalb werde die heilige Agnes auch oft mit einem Lamm abgebildet. In all diesen Fällen ist es nicht das Referenzobjekt per se, das entsprechend umgeformt wird, sondern seine alltagsweltliche Rahmung sowie seine legendenumrankte Genese. Bei Heiligennamen werden sogar Patrozinien eingerichtet, die einen Bestandteil des Namens zu motivieren suchen: Augustin wird so zum Helfer gegen Augenleiden, Blasius gilt als Patron der Hornbläser – und qualifiziert sich zu noch mehr: „Der Schutz des semantisch besonders schillernden Blasius wird von Windmüllern, Spielern von Blasinstrumenten und sogar von Blasenleidenden reklamiert“ (Panagl 2005: 1348). „Lambert ist für Lahmheit [….] zuständig – die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen!“ (Panagl 1982: 12). Auch Volksglauben oder Bauernregeln folgen solchen oft angestrengt bis abenteuerlich wirkenden Motivationen: Bonifatius wird mit Bohnen in Verbindung gebracht, „die man deswegen erst nach dem Fest des hl. Bonifatius von Rom am 14. Mai stecken soll“ (Kunze 2003: 41). Gallus wird mit Galle assoziiert: „Am Fest des heiligen Gallus gelesene Trauben ergeben gallbitteren Wein […]“ (Panagl 1982: 12). Dem Aberglauben sind Tür und Tor geöffnet. Reich belegt sind auch sog. Orts- oder ätiologische Sagen, die durch mehr oder weniger lange und verschlungene Erzählungen selbst abwegigste Bedeutungen anzuschließen in der Lage sind. So schreibt Wikipedia³ zur oben genannten Stadt Sterbfritz: Zur Entstehung des Namens, der in seiner heutigen Form Assoziationen weckt, die mit seiner Herkunft überhaupt nichts zu tun haben, bestehen Anekdoten variierenden Inhalts: Im Fuldaer Land belud ein Fahrensmann seinen Wagen, spannte sein Pferd davor und reiste los. Als das Pferd nicht mehr wollte, lockte er seinen Gaul mit den Worten „Komm Fritz!“ weiter (an dieser Stelle der Reise liegt heute der Ort Gomfritz). So liefen sie über die Berge und durch die Täler der Vorder-Rhön, was das Pferd sehr anstrengte. Irgendwann konnte das Pferd nicht mehr und der Fahrensmann blieb stehen und sagte mitleidig: „Sterb Fritz!“ Es gibt auch die Variante, dass es ein Kreuzritter gewesen sei, sowie dass der Pferdebesitzer dem ausgelaugten Tier die Kinzigquelle als Tränkung versprochen habe.

Wiesinger (2005) erwähnt das Toponym Tragwein (< mhd. *Tragün, ahd. *Dragûn(i)a), das auf einen slawischen Personennamen zurückgeht und seit 1787 Tragwein geschrieben wird. Dazu wurde eine Ortssage konstruiert, die besagt, „dass bei Kirchenbau das Wasser ausgegangen sei und der Wirt zum Anrühren des Mörtels aufgefordert worden sei, ‚Hansl, trag Wein!‘“ (48). Auch das seit 1750 bestehende Marktwappen zeige ein auf dem Ständer liegendes Weinfass (zu weiteren ätiologischen Sagen s. Wiesinger 1995: 470–471 & Olschansky 1999: 193–  https://de.wikipedia.org/wiki/Sterbfritz (letzter Zugriff 30.02. 2019).

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194). Je abwegiger die aktivierte Namen‚bedeutung‘, desto ausführlicher, aufwändiger und windungsreicher fällt die volksetymologische Erzählung aus. Da es sich bei all diesen Phänomenen um sprachexterne, wenngleich sprachlich gesteuerte Prozesse handelt, sind sie für das Kernanliegen dieses Beitrags von anders gelagerter Relevanz: Diee Stärkungsprozesse gehen zwar vom Sprachzeichen des Namens aus, betreffen aber die Konstruktion von deren Referenten. Die Stärkungen überwinden somit die pure Sprachlichkeit, indem sie den Referenten selbst bzw. das Wissen über ihn affizieren. Diese Ebene verlässt die üblichen Konstruktionsebenen, hat aber in einer Typologie von Stärkungsprozessen ihre Daseinsberechtigung. Angesichts der Tatsache, dass Eigennamen der puren (asemantischen) Referenz dienen, erstaunt es nicht, dass es hier auch zu referentiellen Motivierungs- oder ‚Justierungs‘prozessen kommt.⁴

5 Fazit Volksetymologische Prozesse bei Eigennamen unterscheiden sich grundlegend von solchen bei Appellativen, weil Eigennamen als reine Referenzmittel anders funktionieren als Appellative. In beiden Fällen kommt es zwar zu Resegmentierungen, doch bei Namen nicht zu sekundären Semantisierungen oder Remotivierungen. Onymische Volksetymologie verharrt in der Herstellung bloßer Transparenz, denn diese reicht aus, um die Verarbeitung dieser notorisch schwierigen (schwer verarbeitbaren) Wörter zu erleichtern im Sinne mnemotechnischer Hilfestellungen bzw. Merkhilfen. Man weiß, dass Namen ein potentiell vorhandenes semantisches Potential nicht entfalten (man würde keine Schafherde aufsuchen, um einen Herrn Schäfer ausfindig zu machen). Die meisten volksetymologisierten Namen (bzw. deren Verwender) kommen gut mit Diskrepanzen zwischen wörtlicher Bedeutung und Referenzobjekt aus (Mailand), sogar dann, wenn diese Namen wie Adjektive (Lieblos), Verben (Essen), Abstrakta (Diebstahl) oder Syntagmen (Sterbfritz) aussehen. Das schließt jedoch nicht aus, dass es zu sog. tertiären oder referentiellen Motivierungen und damit Anreicherungen kommt, indem das Referenzobjekt durch die Zuschreibung neuer Merkmale die semantische Passung erhöht, wie am Beispiel von Bern und Berlin mit deren Rahmung durch Bären gezeigt. Damit verorten sich die Stärkungsprozesse

 In der Appellativik kommt es nur selten zu solch weitreichenden Prozessen. Hier wäre das Kraut Liebstöckl zu nennen, das auf lat. lubisticum zurückgeht, das phallisch interpretiert und dem aphrodisierende Wirkung zugeschrieben wird (Harnisch & Krieger 2017b: 77). Auch der Palatschinken scheint dafür anfällig zu sein.

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bei Namen weniger auf der semantischen als auf der referentiellen und damit außersprachlichen Ebene, auch wenn diese Stärkungen sprachlich motiviert sind. Als onymische Kandidaten für Volksetymologie haben sich solche erwiesen, die opakes Material enthalten (sei es fremdsprachlich, dialektal oder sprachhistorisch verdunkelt), dazu möglichst lang sind und den Verdacht auf eine interne Struktur nähren. Wiewohl amorph, rufen bestimmte phonologische und phonotaktische Strukturen bzw. Muster nach morphologischer Auffrischung v. a. dann, wenn neben- oder unbetonte Silben mit vollen Vokalen vorliegen und/oder komplexe konsonantische Verbindungen, die auf Morphemränder (innerhalb von Komposita) hindeuten. Dabei wirken manche Strukturen nur morphisch, andere eher lexisch, d. h. die SprecherInnen haben ein Gefühl dafür, welcher phonologische Stoff welche Art morphologischer Sekretion nahelegt, ob also eher Flexions- oder Derivationsmorphologie sekretiert wird oder Lexik. Die vormalige Amorphizität manifestiert sich auch darin, dass reine Silben- die späteren Morphemgrenzen vorgeben. Bei diesen Sekretionsoptionen tut sich noch ein aufschlussreiches, bislang kaum erschlossenes, artenreiches Forschungsbiotop auf.

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Explikativkomposition Zusammenfassung: Explikativkomposition ist ein Subtyp der Determinativkomposition, wo das Determinans ein Hyponym des Determinatums ist. Sie liegt vor in Fällen wie Migrationsbewegung und Hyponymiebeziehung. Der Bildungstyp ist von ähnlichen Typen der pleonastischen Komposition wie der tautologischen und fokussierenden Komposition zu unterscheiden. Lexemsemantisch betrachtet ist er ein Fall von semantischer Sekretion (Harnisch 2004). In der diachronen Betrachtung zeigt sich, dass Explikativkomposition die semantische Verdunklung des Determinans sowohl voraussetzen als auch befördern kann. Daher ist sie nicht allein durch ein Bestreben zur Verdeutlichung (Krieg-Holz 2010) motiviert. Explikativkomposition kann grammatisch motiviert sein. Komposita wie Unglücksfall und Ratschlag bilden einen Plural, den ihr Determinans als Simplex nicht bildet. Andere wie Hyponymiebeziehung gehen in syntaktische Konstruktionen ein, z. B. als Objekt von haben oder adverbiales Komplement von stehen, für die ihr Determinans nicht verfügbar ist. Zudem kann Explikativkomposition diskurssemantisch motiviert sein. Viele dieser Komposita haben, im Gegensatz zu ihrem Determinans, keine generische Verwendung und eignen sich im Umkehrschluss zur Individuation, wie in unkontrollierte Migrationsbewegungen. Damit wird die Explikativkomposition anderen Verfahren der Explikation (z. B. dem Genitivus explicativus) und der Klassifikation (z. B. der Numeralklassifikation) ähnlich, die sich teils im Deutschen, teils in anderen Sprachen finden. Die nachgewiesenen motivierenden Faktoren haben keinen unmittelbaren Bezug zu (re‐)konstruktionellem Ikonismus, denn es gibt kein ikonisches Prinzip, wonach eine implizierte semantische Komponente einen eigenen Ausdruck haben müsste. Vielmehr schafft die formale Sekretion eines semantischen Merkmals einen („Dummy“‐)Träger für grammatische und Diskursoperationen, für die das Determinans sich weniger eignet. Schlüsselwörter: Explikativkomposition, pleonastische Komposition, syntaktische Phora, Nominalisierung, Individuation, Desemantisierung

Prof. em. Dr. Christian Lehmann, Rudolfstr. 4, 99092 Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-006

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1 Einleitung 1.1 Grundbegriffe Das folgende ist eine funktionale Analyse deutscher Nominalkomposita eines Typs, der durch Beispiele wie Migrationsbewegung und Hyponymiebeziehung repräsentiert wird. Ein deutsches Determinativkompositum wie Handbewegung ist ein nominales Kompositum mit der Struktur [ AN BN ]N, wo A das Determinans und B das Determinatum und der Nukleus der Konstruktion ist. Die Konstruktion ist strukturell und semantisch endozentrisch, d. h. ein AB ist ein B. Die Paraphrase, die auf alle Subtypen des Determinativkompositums zutrifft, lautet ‚ein durch A näher bestimmtes B‘. Das hier zu behandelnde Explikativkompositum ist davon ein Subtyp. Beim Determinativkompositum ist das Denotat (die Extension des Begriffs) des Kompositums eine Teilmenge des Denotats des Determinatums. Beim explikativen Kompositum ist das auch so. Darüber hinaus ist auch das Denotat des Determinans eine Teilmenge des Denotats des Determinatums: eine Migration ist eine Bewegung, und die Menge aller Migrationen ist eine echte Teilmenge aller Bewegungen. Das explikative Kompositum ist mithin derjenige Typ des Determinativkompositums, wo das Determinans Hyponym des Determinatums ist (Ortner & Ortner 1984: 57). Ein Explikativkompositum [ AN BN ]N kann des näheren paraphrasiert werden als ‚ein B, und zwar ein A‘. Nach diesen Voraussetzungen würde eine semantische Analyse, die auf der Kompositionalität beruht, keinen Bedeutungsunterschied zwischen dem Simplex und dem Kompositum ergeben: wenn Migration eine Bewegung ist, sind Migrationsbewegung und Migration notwendigerweise synonym. Mithin wäre dies auch der einzige Kompositionstyp, wo das Kompositum im Kontext – mit ggf. notwendigen grammatischen Anpassungen – durch sein Determinans ersetzbar ist. Es stellt sich also die Frage nach der Funktion dieses Kompositionstyps. Eine frühe Behandlung von Explikativkomposition mit zahlreichen Beispielen findet sich in Paul (1920, §152). Er sieht sie, ähnlich der Volksetymologie, als „Tendenz, isoliert stehende und darum fremdartige Wörter an geläufige Sprachelemente anzuknüpfen“, und als die Stützung solcher Wörter „durch Zusammensetzung mit einer allgemeinen Gattungsbezeichnung“ (222). Die zahlreichen angeführten Beispiele aus der deutschen Sprachgeschichte sind von der Art Maultier statt älterem Maul, Lehnwort aus lat. mulus, oder Kichererbse statt bloßem Kicher, Lehnwort aus lat. cicer. Solchen Beispielen scheint Pauls Ansatz hinreichend Rechnung zu tragen. Komposita wie Eichbaum, Giftstoff und Unfallgeschehen, welche die gleiche Struktur aufweisen, sind allerdings so nicht erklärbar und werden nicht besprochen.

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Neben mehreren jüngeren Publikationen, die die Explikativkomposition mitbehandeln, sind Bloomer (1996) und Krieg-Holz (2010) zu nennen, die dasselbe Thema wie der vorliegende Beitrag haben. Sie behandeln vorwiegend ihre lexikalischen und etymologischen Aspekte. Im Folgenden liegt das Hauptaugenmerk auf der Explikativkomposition als Wortbildung des heutigen Deutschen und ihren Funktionen auf höheren Ebenen von System und Rede. Im Zentrum des Interesses stehen die derzeit produktivsten Bildungen, in denen ein Abstraktum wie Prozess oder Beziehung als Determinatum fungiert.

1.2 Verwandte Kompositionstypen Fälle wie engl. time period, neben dem übrigens auch period of time vorkommt (vgl. §3.1), scheinen auf den ersten Blick den Explikativkomposita gleichartig zu sein. Im Gegensatz zu diesen ist jedoch hier das Determinans eine semantische Komponente des Determinatums, ähnlich wie in engl. subpart und dt. Augenoptiker. Solche Bildungen sind pleonastische Komposita und haben sprachsystematisch mit den Explikativkomposita wenig zu tun. In §2.6 wird darauf zurückzukommen sein, inwieweit auch letztere pleonastisch sind. Der Explikativkomposition näher steht die identifikative Komposition, wie in Trödelkram (in Ortner & Ortner 1984: 56–57 ‚tautologische Komposition‘; in Lehmann 2005, §3.4 ‚synonym compounding‘ genannt). Hier sind A und B im Sprachsystem synonym. Der Effekt einer solchen Kombination in der Rede kann, ähnlich der Explikativkomposition (§2), Fokussierung oder Emphase sein. Konstruktionen außerhalb der Komposition, in denen ebenfalls eine explikative Relation vorliegt, kommen in §3 zur Sprache.

1.3 Zum Terminus ‚Explikativkompositum‘ Der Terminus ist offensichtlich dem älteren ‚Explikativgenitiv‘ nachgebildet, welcher zunächst Genitivus explicativus hieß. Er bezeichnet Bildungen wie (die) Strafe der Verbannung und wird häufig mit „erklärender/erläuternder Genitiv“ übersetzt. Das setzt voraus, dass das Genitivattribut eine Erläuterung zum Bezugsnomen ist. Und tatsächlich beziehen sich die traditionellen Bezeichnungen der Subtypen des Genitivattributs i.a. auf dessen semantische Funktion gegenüber dem Bezugsnomen. So bezeichnet der Genitivus possessivus den Possessor des Referenten des Bezugsnomens und der Genitivus qualitatis eine Eigenschaft desselben. Der Genitivus explicativus würde also den Begriff des Bezugsnomens explizieren. Das tut er aber offensichtlich nicht: ‚Verbannung‘ kann ‚Strafe‘ bes-

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tenfalls illustrieren, aber sicher nicht explizieren. In der Umkehrung trifft die Relation allerdings zu: eine Explikation des Begriffs ‚Verbannung‘ kann den Begriff ‚Strafe‘ ohne weiteres in einer Definition mit Genus proximum und Differentia specifica verwenden. Das wiederum bedeutet, dass der Terminus ‚Genitivus explicativus‘ von Anfang an nicht besonders glücklich gewählt war und dass dasselbe nunmehr für das Explikativkompositum gilt: Der Terminus ‚Explikativkompositum‘ müsste interpretiert werden als ein Kompositum AB, wo eine Explikation von A B verwenden würde. Dies ist leider der am besten etablierte Terminus für das Gemeinte, so dass der Versuch, eine der Alternativen wiederzubeleben,¹ müßig erscheint.

2 Motive und Funktionen der Explikativkomposition 2.1 Multiple Motivation In der Frage der Motivation eines Wortbildungsprozesses sind zwei grundsätzliche Schwierigkeiten im Blick zu behalten: Erstens, im Gegensatz zu flexivischen und syntaktischen Prozessen können Wortbildungsprozesse ihre Produkte im Sprachsystem hinterlassen und haben insofern notwendigerweise einen diachronen Aspekt. Zweitens, nichts in der Sprache muss monokausal motiviert sein. Im Gegenteil, eine gegebene Wortbildung ist desto angelegentlicher motiviert, durch je mehr unabhängige Faktoren sie motiviert ist. So kann man für die Motivation von Haifisch neben Hai vielleicht die Abschwächung der Komponente „Fisch“ in der Bedeutung von Hai geltend machen (Harnisch 2010: 15–16). Darüber hinaus ist aber die Form des Significans anzuführen, die für eine so spezifische Bedeutung doch unterproportional kurz ist. Die Komposition mit Fisch löst nicht nur dieses Problem, sondern schafft gleichzeitig einen trochäischen Stamm, der dem Muster der deutschen Phonotaktik entspricht. Das würde gleichzeitig zur Erklärung von Walfisch beitragen, der seinen Namen wider besseres Wissen trägt. Und andererseits versteht man besser, wieso zahlreiche weitere Fischbezeichnungen wie Rochen, Kabeljau und Makrele, die um nichts geläufiger sind als Hai und Wal, dennoch nie mit Fisch komponiert

 Ortner & Ortner (1984: 205–208) bieten eine extensive Aufzählung existenter Termini und ihrer Autoren. Lehmann 2005, §3.4 nennt den Typ ‚hyponym compounding‘.

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werden. (Freilich gibt es auch viele einsilbige Fischbezeichnungen wie Stör und Barsch, für die das ebenfalls gilt.)

2.2 Explikation Die reine Funktion der Explikation wird jedenfalls von solchen Komposita erfüllt, deren Determinans i.S.v. Paul und Harnisch als nicht allgemein bekannt vorausgesetzt wird. Diese Bedingung erfüllen am ehesten Fremdwörter wie eben Hyponymie in Hyponymiebeziehung. Fälle wie Turteltaube sind zum Zeitpunkt der Bildung Explikativkomposita, denn die Chronologie der relevanten Formen, alle mit derselben Bedeutung, ist die folgende (Pfeifer et al. 1989 s.v.): – ahd. turtulo neben turtilitūba – mhd. turtel neben turteltūbe – nhd. nur noch Turteltaube. Im synchronen Lexikon des Neuhochdeutschen ist Turteltaube natürlich kein Explikativkompositum mehr, sondern ein Determinativkompositum mit verdunkeltem bzw. nahezu unikalem Determinans. In dieselbe Rubrik fallen zahlreiche weitere Bildungen wie Kichererbse, Bilchmaus (ahd. bilih ‚Bilch‘), Windhund (mhd. wint ‚schneller Hund‘), Buchsbaum (Krieg-Holz 2010, §2.1 mit Verweis auf Bloomer 1996: 69–75), Seehund (< Seelhund) und Schienbein (ahd. skina ‚Schienbein‘). Ein zeitgenössisches Beispiel ist die Dissertationssschrift. Verwechslungen zwischen Promotion, Disputation und Dissertation sind noch unter Promovenden gang und gäbe.² Ohne akademischen Hintergrund ist man für das Explikativkompositum Dissertationsschrift vielleicht dankbar.³ Bei solchen Bildungen dürfte die von Paul und Harnisch ins Feld geführte, oben zitierte Motivation vorrangig sein. Wie wir in den folgenden Abschnitten sehen werden, passen sie jedoch nicht genau ins Schema der im zeitgenössischen Neuhochdeutschen produktiven Explikativkomposition.

 Zum Beweis: Die Promotionsordnung für die Philosophische Fakultät der Universität Erfurt (06.09. 2012) redet in §18(1) von der „Veröffentlichung der Promotion“.  Dissertationen sind in ihrer gesamten Geschichte ausschließlich schriftlich gewesen.

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2.3 Fokussierende Komposition Wir kommen zu den Faktoren, die im heutigen Deutsch die Explikativkomposition begünstigen. In einer großen Gruppe von Fällen ist das Determinans leicht polysem und nur in einer seiner Bedeutungen oder Verwendungen ein hundertprozentiges Hyponym des Determinatums. Z. B. sind viele Abstrakta auf -ung polysem zwischen Nomen actionis und Nomen acti (Krieg-Holz 2010: 312–313). Das gilt z. B. für Verletzung, was in B1 eine Handlung und nicht deren Ergebnis ist. B1

Wenn der normale Nutzer nicht in der Lage sei, die temporär gefertigten Cache-Kopien weiterzuverwenden, liege … keine Verletzungshandlung vor … (c’t 2014/2:18)

Das Determinatum fokussiert auf eine fakultative Bedeutungskomponente des Determinans. Derartige Komposition erfüllt den Zweck der Vereindeutigung polysemer Determinantia. Darüber hinaus bezeichnen viele solche als Determinans fungierende Nomina actionis nicht einen über seinen gesamten Verlauf monotonen, sondern einen aus unterschiedlichen Phasen zusammengesetzten Vorgang. Ein Kompositum mit Prozess kann auf eben diesen Umstand fokussieren, wie in B2 (aus einem Text über die Phasen der Redeerzeugung): B2

Die dritte Phase, die Kontrolle, hat in diesem Erzeugungsprozeß mehrere Ansatzpunkte. (Lehmann 2000 ff)⁴

Hier wäre Erzeugungsprozess schwerlich durch Erzeugung ersetzbar. Auch in B3 wird angenommen, dass die gemeinte Verallgemeinerung ein kompositer Prozess ist: B3

Am Anfang des Verallgemeinerungsprozesses [in der sprachtypologischen Analyse] steht daher die Einordnung des einzelnen Elements in sein Paradigma. (Lehmann 2000 ff)

In der gleichen Richtung, jedoch weiter ab vom Explikativkompositum, liegen Komposita wie Heilungsverlauf, denn Heilung ist kein Hyponym von Verlauf. ⁵ In solchen Komposita AB bezeichnet B einen Aspekt von A (Krieg-Holz 2010: 312). Sie lassen sich paraphrasieren als ‚A, betrachtet als ein B‘.  Ich führe einige Passagen aus eigenen Texten als Beispiele an. Da sie viel älter als dieser Aufsatz sind, haben sie methodisch den Status von Korpusdaten, nicht von ad hoc fabrizierten Beispielen des Linguisten/Autors.  Freilich geht die Behauptung, dass in solchen Fällen B A spezifiziert (Krieg-Holz 2010: 314), zu weit, denn wenn das so wäre, müsste man die Reihenfolge BA (*Verlaufsheilung) erwarten.

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Die gleiche Funktion erfüllt übrigens auch der Genitivus explicativus,⁶ auf den in §3.1 zurückzukommen sein wird. Der Genitivus explicativus in B4 hebt auf die innere Heterogenität der Lexikalisierung ab. Die Konstruktion von B4 ist insofern den entsprechenden Konstruktionen in B2 und B3 isofunktionell. B4

Der Prozess der „Lexikalisierung“ ist gekennzeichnet durch Desegmentierung und Demotivation. (Krieg-Holz 2010: 307)

2.4 Individuation Bei zahlreichen Explikativkomposita fällt auf, dass das Determinatum nicht lediglich ein Hyperonym des Determinans oder ein Archilexem eines Wortfeldes, sondern i.S.v. Hermann Paul eine „allgemeine Gattungsbezeichnung“ ist. Es sind Substantive wie Beziehung in Hyponymiebeziehung, Verhältnis in Inklusionsverhältnis, Situation in Entzündungssituation, Zustand in Reifezustand, Prozess in Lautveränderungsprozess und Handlung in Verletzungshandlung. Diese Liste der Archilexeme liest sich fast wie eine linguistische Theorie von Situationstypen (Lehmann 1991). Dies zeigt einerseits, dass die in Rede stehenden Substantive tatsächlich an der Spitze ihrer Taxonomien stehen, und liefert umgekehrt einen Anhaltspunkt dafür, dass solche linguistischen Theorien auch eine Entsprechung in „folk taxonomies“ haben. Der hohe Grad an Allgemeinheit dieser Archilexeme liegt in der Natur der Sache: Zu Begriffen wie ‚Hyponymie‘ oder ‚Reife‘ gibt es kein engeres lexikalisiertes Hyperonym als eben ‚Beziehung‘ bzw. ‚Zustand‘. Das Ergebnis ist jedoch, dass diese Archilexeme auf einem annähernd gleichen Abstraktionsniveau angesiedelt sind und insofern ein System bilden, das eine Klassifikation von abstrakten Begriffen leistet.⁷ Und in dem Maße, in dem diese Archilexeme desemantisiert sind, erfüllen sie eine rein grammatische Funktion als Stütze ihrer Determinantien in bestimmten strukturellen Funktionen (§2.5). Interessant ist nun, dass solche Archilexeme in Explikativkomposita der Individuation von Begriffen im Determinans dienen, die selbst überwiegend oder ausschließlich eine generische oder kollektive Verwendung haben. So etwa in B5 bis B7:

 Knobloch (1988: 223) führt aus, dass „die Gen.konstituente … allein das ‘thing meant’ identifiziert (und referentiell ist!), während der Nukleus es metaphorisch oder wertend beschreibt“.  Insofern diese Archilexeme ein solches System bilden, sind es Versprachlichungen von solchen Semen, die im Sinne der Wortfeldtheorie als Klasseme fungieren.

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B5

jemand, zu dem sie eine tabuisierte Verwandtschaftsbeziehung haben (Lehmann 2000 ff)

B6

für die verschiedenen Typen von Verstärkungsprozessen auch unterschiedliche Motivierungssituationen anzunehmen (Diewald 2010: 195)

B7

auf diese Weise wollte man unkontrollierte Migrationsbewegungen verhindern⁸

Die hier gemeinte Individuation ist die Bildung einzelner Entitäten, die unter einen Begriff fallen. Sie ist nicht zu verwechseln mit spezifischer Determination; die nominalen Ausdrücke in den Beispielen referieren nicht-spezifisch. Auch der Genitivus explicativus des Typs Fall von B, wie er in B8 vorliegt, ermöglicht die Individuation eines allgemeinen Begriffs B. B8

alle Fälle von Schwund [in einer Gruppe von Beispielen] (Lehmann 2000 ff)

Die Verwendung eines Oberbegriffs zum Zwecke der Individuation wirkt auf den ersten Blick kontraintuitiv. Tatsächlich ist Klassifikation zum Zwecke der Individuation in der Sprachtypologie wohlbekannt und wird vor allem für Numeralklassifikation geltend gemacht (Seiler 1986).

2.5 Stütze In dem Maße, in dem das Archilexem zum bloßen Träger für einen nominalen Ausdruck wird, kann Explikativkomposition rein grammatisch motiviert sein.

2.5.1 Pluralbildung Mehrere Explikativkomposita involvieren ein Determinans, welches keinen Plural bildet oder dessen Plural nur eingeschränkt verwendbar ist (Ortner & Ortner 1984: 58). Ältere Vorbilder eines solchen Verfahrens sind Ratschlag, Todesfall und Schreckmoment, deren Plurale Ratschläge, Todesfälle und Schreckmomente für die inexistenten oder eingeschränkten Plurale ihrer Determinantien eintreten. Dieses Verfahren der Pluralbildung besteht in der Komposition des nicht pluralisierbaren Simplex als Determinans zu einem pluralisierbaren Determinatum, dessen Be Karner, Stefan, Gerhard Botz & Helmut Konrad (Hrsg.): Epochenbrüche im 20. Jahrhundert, 122. Wien u. a.: Böhlau.

Explikativkomposition

131

deutung nichts zur Sache tut.⁹ Insofern in den drei Beispielen das Determinans nicht einfach ein Hyponym des Determinatums ist, sind sie nicht einmal klare Explikativkomposita; aber die Eigenbedeutung des Determinatums spielt keine Rolle, weil es nur als grammatische Stütze dient. Während keines der drei Beispiele ein Exemplar eines produktiven Musters ist, finden sich in der zeitgenössischen Explikativkomposition zahlreiche Beispiele, die eben den Zweck der Pluralbildung erfüllen. Hier ein Korpusbeispiel für das Singulare tantum Hyponymie: B9

semantische Netze …, die annotierte Hyponymiebeziehungen enthalten¹⁰

Entsprechendes gilt für Grammatikalisierungsprozesse (Lehmann 2000 ff) und Gleichgewichtssituationen. ¹¹ Während unindividuierte Begriffe wie ‚Verwandtschaft‘ und ‚Hyponymie‘ im Singular stehen, setzt der Plural Individuation i.S.v. §0 voraus. Insofern hängen die semantische und die morphologische Funktion der Explikativkomposition eng zusammen.

2.5.2 Träger syntaktischer Funktionen Gelegentlich geht es darum, das Simplex in einer syntaktischen Konstruktion zu verwenden, für die es nicht selbst, wohl aber sein Hyperonym zur Verfügung steht, z. B. als Objekt von Verben mit besonderen Selektionsbeschränkungen (B10), von haben (B11) oder als adverbiales Komplement von stehen (B12). B10 Sie haben Anordnungsbeziehungen zwischen Aktivitäten … gepflegt.¹² B11 eine Ableitungsbeziehung haben (Lehmann 2000 ff) B12 Repräsentationen, die zu den postulierten interpretativen Universen in einer eindeutigen Abbildungsbeziehung stehen.¹³

 Auch Derivation kann diese Funktion erfüllen, wie in Streit, Plural Streitigkeiten.  Brück, Tim vor der (2012): Wissensakquisition mithilfe maschineller Lernverfahren auf tiefen semantischen Repräsentationen, 207. Wiesbaden: Springer Fachmedien.  Hamenstädt, Ulrich (2012): Die Logik des politikwissenschaftlichen Experiments, 55. Wiesbaden: Springer Fachmedien.  https://help.sap.com/doc/2e4fc95360267614e10000000a174cb4/1610%20001/de-DE/ 8d4dc95360267614e10000000a174cb4.html. Die zitierten Webseiten wurden am 24.05.18 akzediert.  Wimmer, Rainer (1979): Referenzsemantik, 75. Tübingen: Niemeyer.

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Eine stützende Funktion hat das Archilexem auch, wenn es als Bezugsnomen eines adnominalen Substantivsatzes dient; s. §3.2.

2.6 Pleonasmus In B13 scheint das Explikativkompositum noch hinreichend als fokussierendes Kompositum motiviert; Entzündung für sich eignet sich kaum als direktes Objekt von verbessern. B13 Um die Entzündungssituation bei adipösen Personen zu verbessern …¹⁴ B14 Liegt eine akute Entzündungssituation vor …¹⁵ B15 Um einen Eindruck über den Verlauf der Entzündungssituation und des oxidativen Stresses zu gewinnen, …¹⁶ In B14 und B15 hingegen könnte man das Kompositum ohne Sinnveränderung auch durch das Simplex ersetzen. Sowohl in lexikalischer Hinsicht als auch im gegebenen Kontext sind solche Komposita pleonastisch (Bloomer 1996). Somit bleibt auf höherer Ebene hier wohl nur noch Blähstil zu diagnostizieren (vgl. auch Krieg-Holz 2010: 314 zu „Plastikwörtern“). Nüchterner formuliert: es wird keine im Sprachsystem lokalisierbare Funktion erfüllt. Das ist aber keine jüngere Erscheinung. Ein Explikativkompositum, das schwer durch sprachsystematische Faktoren zu motivieren ist, findet sich bereits in B16: B16 verdeutlichende Wörter … unterliegen wiederum mit der Zeit dem Agglutinationsprozesse, dem Verschliffe und Schwunde (Gabelentz 1891: 256) Hier könnte ohne weiteres einfach der Agglutination stehen, und es ist nicht ersichtlich, warum der Autor sich nicht damit begnügt hat. Enkelkind bedeutet dasselbe wie Enkel. Man könnte meinen, es wäre ein fokussierendes Kompositum, weil ja auch Enkel irgendwann aufhören, Kinder zu sein. Aber bereits eine oberflächliche Korpussuche erweist, dass ebenso wie Erwachsene bis zum Tode Kinder ihrer Eltern bleiben, sie auch ihr Leben lang als

 https://digitalcollection.zhaw.ch/handle/11475/201.  https://www.zahnaerzte-nymphenburg.de/ltt-lymphozytentransformationstest/.  https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/frontdoor/index/index/docId/2369.

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Enkelkinder ihrer Großeltern bezeichnet werden. Enkel und Enkelkind scheinen unter allen Umständen austauschbar zu sein. In solchen Fällen liegt dann ganz ebenso purer Pleonasmus vor wie in Augenoptiker. Da diese Funktion aber für die in §§2.2–2.5 analysierten Fälle nicht geltend gemacht werden kann, dürfte es sich empfehlen, Explikativkomposita nicht durch die Bank als pleonastische Komposita zu bezeichnen.

3 Das Explikativkompositum in der Syntax 3.1 Explikativkomposition in der Phora Hyponymie ist eine paradigmatische semantische Beziehung zwischen zwei Ausdrücken, im einfachsten Falle zwei Lexemen. Insoweit diese Relation nur auf der paradigmatischen Achse besteht, betrifft sie die alternative Selektion sprachlicher Ausdrücke. Aber bestimmte paradigmatische Relationen sind auch auf der syntagmatischen Achse operativ. Man kann sich das als ein Kippen der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse vorstellen (Jakobson 1960), wie in Abb. 1 dargestellt. Hyperonym Hyponym Hyponym paradigmatische Achse

Hyperonym

syntagmatische Achse

Abb. 1. Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse

Eine auf der syntagmatischen Achse operative Hyponymiebeziehung könnte man eine explikative Beziehung nennen. Aber es wäre wiederum nicht klar, was hier wodurch expliziert wird. Tatsächlich steht für das Gemeinte schon ein Terminus zur Verfügung: eine solche Beziehung ist nämlich eine phorische Beziehung. Diese ist zunächst rein semantisch bzw. referentiell konstituiert. Als syntagmatische Beziehung wird sie aber notwendigerweise in bestimmten grammatischen Konstruktionen realisiert. Soweit sie die Grenze des einfachen Satzes überschreitet, ist es eine anaphorische Beziehung, unterhalb dieser Ebene eine Beziehung der syntaktischen und schließlich der morphologischen Phora.

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In dem Explikativkompositum Alterungsprozess ist Alterung ein Hyponym zu Prozess. Diese paradigmatische Beziehung ist in dem Kompositum auf die syntagmatische Achse projiziert. Wir betrachten diese Konstruktion nun als Endprodukt der Kondensation einer phorischen Beziehung zwischen Alterung und Prozess. ¹⁷ Auf der Textebene handelt es sich um eine Anapher, in der Alterung durch Prozess aufgenommen wird. Am Beginn des Kondensationsprozesses ist nicht einmal das Abstraktum Alterung nötig. B17 Unsere Gesellschaft altert zunehmend – die Lebenserwartung steigt, die Geburtenrate sinkt. Der Autor gibt einen umfassenden Überblick über Ursachen und Folgen dieses Prozesses¹⁸ In B17 nimmt Prozess den gesamten im vorangehenden Satz mithilfe des Prädikats altert dargestellten Sachverhalt auf. Stattdessen kann das Antezedens für die Anapher auch auf dem Abstraktum Alterung beruhen, wie in B18. B18 Heutzutage ist die demographische Alterung ein gängiger Begriff in Politik und Gesellschaft. Dabei ist dies kein neues Phänomen. Dieser Prozess vollzieht sich bereits seit langem in Deutschland.¹⁹ Der nächste Schritt in der syntaktischen Kondensierung der anaphorischen Beziehung führt auf die Ebene des einfachen Satzes. Die syntaktische Phora besteht in B19 zwischen Subjekt und Prädikatsnomen. B19 Die Alterung ist ein schleichender Prozess²⁰ Bei weiterer Kondensation resultiert eine Konstruktion der weiten Apposition, wie in B20. B20 Drittens verlangt die demographische Alterung – ein Prozess, der alle westlichen Wohlstandsgesellschaften gleichmäßig (be)trifft – mehr Sozialstaat und nicht weniger.²¹ In B21 besteht die Phora zwischen einem Nominalsyntagma und seinem mit als angeschlossenen Prädikativum.

 Die folgende Illustration der Skala mit Korpusbeispielen könnte zweifellos mit selbstfabrizierten Beispielen stromlinienförmiger sein. Aber es soll bewiesen werden, dass alle Stufen der Skala tatsächlich in gewöhnlicher Rede eine Rolle spielen.  Schimany, Peter (2003): Die Alterung der Gesellschaft, Klappentext. Frankfurt a. M.: Campus.  https://www.dasgleichstellungswissen.de/demographische-alterung-und-ihre-folgen:deut sche-probleme, europäische-modelle-und-bewältigungschancen.html.  Cosmas II, LVZ13/JAN.16799 Leipziger-Volkszeitung, 26.01. 2013, 32.  Cosmas II, U00/JUL.05441 Süddeutsche Zeitung, 27.07. 2000, 16.

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B21 Überdies liefert die Alterung der Bevölkerung als Prozess keine Begründung von Rationierungsmassnahmen.²² Die nächstniedrigere syntaktische Ebene ist die des Nominalsyntagmas. Hier lässt sich eine phorische Beziehung zwischen Hyponym und Hyperonym mithilfe eines Genitivus explicativus konstruieren, wie in B22. B22 Der Prozess der Alterung geschieht während der Lagerung²³ Weitere Kondensierung innerhalb der nominalen Grammatik führt zur engen Apposition.²⁴ Mit Alterung ist kein Korpusbeispiel verfügbar, wohl aber mit Grammatikalisierung: B23 dass die Parameter, Faktoren oder auch Kriterien insofern zu verstehen seien, als dass sie den Prozess Grammatikalisierung konstituieren²⁵ Der vorläufige Endpunkt dieser Skala ist das Explikativkompositum, wie in B24. (Darauf, dass dieses hier außerdem als Ganzes anaphorisch fungiert, komme ich im nächsten Abschnitt zurück.) B24 Dem Mittelstand droht eine rapide Alterung. Der Alterungsprozess stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen …²⁶ Eine noch stärkere Kondensation der phorischen Beziehung zwischen Hyponym und Hyperonym ist bei Erhaltung der Identität der beteiligten Lexeme nicht möglich. Lässt man diese Bedingung fallen, ist der nächste Schritt in der Kondensierung die Ersetzung des Determinatums des Kompositums durch ein Derivationssuffix. Offensichtlich in loser Anlehnung an den Typ Eichbaum wird die Deminution, die keinen semantischen Unterschied gegenüber ihrer Basis erzielt, in Bakema & Geeraerts (2004: 1048) „explikativ“ genannt. Unter den angeführten Beispielen sind nl. peukje ‚Kippe‘ und madeliefje ‚Maßliebchen‘. Letzteres wäre, ebenso wie Eichhörnchen, eine Wortbildung, deren Basis ungebräuchlich geworden ist, und insofern den in §2.2 besprochenen Beispielen vom Typ Turteltaube vergleichbar. Ebenfalls einschlägig ist der in Fußnote 9 erwähnte Fall, wo Derivata

 Cosmas II, NZZ00/JAN.04742 Neue Zürcher Zeitung, 29.01. 2000, 29.  https://www.vicampo.de/weinlexikon/alterung.  Die explikative Relation in Appositionen wird in Heyse (1838: 404) bemerkt, wo die Apposition „Ergänzungs- oder Erklärungszusatz“ genannt wird.  Buschmann, Frank et al. (Hrsg.) (2016): Fossilierung – von der Funktion zur Form, 5. Universität Leipzig.  https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Fo kus-Volkswirtschaft/Fokus-Nr.-92-April-2015.pdf.

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eingesetzt werden, um den Plural eines Singulare tantum zu bilden, wie in Streit – Streitigkeiten. Zur Anapher genügt gegebenenfalls ein Pronomen; und in der syntaktischen Phora leistet ein Hyperonym erst recht keinen semantischen Beitrag. Alle Beispiele von B17 bis B24 ließen sich so umformulieren, dass das Hyperonym entfällt. Dies ist ein Hinweis auf die weitgehende Desemantisierung des Determinatums im Explikativkompositum, die in dem Übergang zum Derivationsaffix dann auch ein strukturelles Gegenstück hat. Diese Untersuchung der Funktion von Prozess in der Phora könnte analog mit anderen abstrakten Lexemen durchgeführt werden, die derzeit produktiv als Determinatum in der Explikativkomposition eingesetzt werden, wie sie zu Beginn von §2.4 aufgeführt wurden.

3.2 Explikativkomposition in der Nominalisierung Sobald eine phorische Beziehung innerhalb eines Nominalsyntagmas besteht, ist sie ein überwiegend grammatisches Phänomen, denn sie trägt auf dieser Ebene nichts mehr zur Textkohärenz bei. Stattdessen kann ein solcher Ausdruck explikativer Struktur seinerseits zur Anapher auf Vorangehendes verwendet werden. In B24 wird das Hyponym durch ein Nominalsyntagma mit Explikativkompositum, in B25 durch eines mit Genitivus explicativus aufgenommen. B25 … und erinnerte daran, dass die Weltversammlung der UNO bereits 1982 auf die Folgen der Alterung hingewiesen habe.Während der Prozess der Alterung revolutionäre Folgen habe, seien die politischen Antworten darauf bestenfalls evolutionär.²⁷ In dem Text, aus dem B25 entnommen ist, ist übrigens der Prozess der Alterung bereits die fünfte anaphorische Aufnahme des Begriffs der Alterung auf relativ engem Raum. Der Funktion der Explikativkomposition in solchen Zusammenhängen kommt man auf die Spur, wenn man Strategien der Nominalisierung zum Vergleich heranzieht. In B26 liegt ein komplexes Nominalsyntagma vor, bestehend aus einem Substantiv sehr allgemeiner Bedeutung und einem adnominalen Substantivsatz, der zu dem Bezugsnomen hyponym ist.

 Cosmas II, A07/SEP.0287 St. Galler Tagblatt, 07.09. 2007, 11.

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B26 Es war nicht nur die Tatsache, dass seine Frau mit dem Sohn ihn verlassen hatte, die ihn emotional aus der Bahn geworfen hatte.²⁸ Die Konstruktion ist appositiv. Es besteht eine phorische Relation zwischen dem Bezugsnomen und dem Substantivsatz. Die Konstruktion ist also insoweit der appositiven in B23 gleichartig. Derartige Konstruktionen gibt es mit mehreren abstrakten Bezugsnomina, darunter auch dem Substantiv Prozess, das seit §3.1 als Specimen dient. B27 Dieser Prozess, dass die ältere Generation ihre Erfahrung an die junge weitergibt, darf nie aufhören.²⁹ Gerade in dieser Konstruktion wird dieses Substantiv besonders stark desemantisiert. Eine Korpussuche nach adnominalen Substantivsätzen zu Prozess wie in B27 fördert zahlreiche Beispiele wie B28 zutage. B28 Nennen Sie mir ein Bundesland, das in diesem Prozess, dass die Kita die erste und wichtigste Bildungseinrichtung ist, so weit ist wie das Bundesland Berlin.³⁰ Das durch den Substantivsatz Bezeichnete ist hier gar kein Prozess, sondern eine statische Situation. Hier dient das Substantiv offensichtlich wieder als Stütze, mit welcher der Substantivsatz im Matrixsatz eine Funktion erfüllen kann, die er ohne diese nicht einnehmen könnte. Ein kurzer typologischer Vergleich lohnt sich hier. Die Konstruktion des adnominalen Substantivsatzes muss nicht appositiv sein. Sprachen wie Spanisch benutzen hier die Konstruktion des Genitivus explicativus; B29 übersetzt das komplexe Nominalsyntagma von B26. B29 el Spanisch die

hecho de que Tatsache von dass

había hatte

su esposa con el seine Gattin mit dem

hijo lo Sohn ihn

abandonado … verlassen

Diese isofunktionale Konstruktion fügt sich also gleichfalls in die obige Skala der Kondensation einer phorischen Relation ein. Die gewöhnlichste Konstruktion des

 Cosmas II, RHZ16/JUN.23400 Rhein-Zeitung, 22.06. 2016, 25.  Cosmas II, NON13/JAN.14708 Niederösterreichische Nachrichten, 31.01. 2013.  Cosmas II, PBE/W15.00089 Protokoll der Sitzung des Parlaments Abgeordnetenhaus Berlin am 31.08. 2006. 89. Sitzung der 15. Wahlperiode 2001–2006. Plenarprotokoll, Berlin, 2006 [7751].

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Substantivsatzes im Japanischen ist die durch B30 illustrierte Konstruktion als pränominales Attribut zu dem Substantiv koto ‚Sache‘, welches in dieser Funktion semantisch leer ist. B30 Taroo wa Hanako ga ie-de=si-ta koto o Japan. Taro TOP [Hanako NOM Haus-verlass=tu-PRT Ding] AKK „Taro grämte sich darüber, dass Hanako das Haus verlassen hatte.“ nage-ita gräm-PRT (Iwasaki 2013: 201) In deutschen und spanischen Konstruktionen mit adnominalen Substantivsätzen ist unter geeigneten Bedingungen das Bezugsnomen nebst Artikel weglassbar. Koto in B30 ist obligatorisch. Diachron betrachtet, ist es der Nukleus für das vorangestellte sententiale Attribut, vergleichbar der Konstruktion von B26; synchron ist es dessen Nominalisator. Auch solche Daten zeigen also, dass ein desemantisiertes Substantiv in einer Relation von syntaktischer Phora eine rein grammatische Funktion haben kann, in der nur seine Kategorie als Substantiv gebraucht wird. Wie schon in B19 zu sehen war, kommt der Gebrauch eines Archilexems als Stütze eines nominalen Ausdrucks auch im Prädikatsnomen vor. Anstelle einer nominalen Prädikation ‚A ist ZAdj‘ heißt es oft ‚A ist ein ZAdj BN‘, wo B ein Hyperonym zu A ist. Eine Suche durch alle öffentlichen Korpora des Archivs W in Cosmas II ergibt z. B. 524 Vorkommen für das Prädikat ist langwierig und 341 Vorkommen für das Prädikat ist ein langwieriger Prozess. Es erübrigt sich, nach den Subjekten dieser Sätze zu fahnden. Es genügt, sich klarzumachen, dass 341 um Größenordnungen mehr ist, als sich aus der kombinierten Wahrscheinlichkeit von langwierig und Prozess ergäbe. Da nur Prozesse langwierig sein können, ist Prozess als Träger des Prädikats langwierig offensichtlich hyperonym zum Subjekt. Das Substantiv erfüllt hier keine lexikalisch-semantische, sondern eine grammatische Funktion: das adjektivische Prädikatsnomen soll substantiviert und damit hypostasiert werden. Dazu braucht man einen desemantisierten Träger. Auch hier also fungiert ein desemantisiertes Archilexem in der Nominalisierung. Abstrakte Substantive wie Situation, Beziehung, Prozess und Aktion als Determinatum eines Explikativkompositums sind Nominalisatoren, die den mit dem Determinans gemeinten Sachverhalt individuieren. Da die als Determinans fungierenden Substantive selbst schon Abstrakta sind, ist die Nominalisierung in

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ihnen schon geleistet. Durch Komposition mit einem generischen abstrakten Substantiv wird ihr Produkt individuiert.

4 Schlussbemerkungen Ganz i.S.v. §2.1 wird kein Anspruch erhoben, alle Explikativkomposita motivieren zu können. Eichbaum statt Eiche passt in kein Schema. Hier wird man vielleicht nicht über die Feststellung hinauskommen, dass zahlreiche Bezeichnungen für Bäume Komposita mit Baum im Determinatum sind und dass deren Menge einen analogischen Sog ausüben kann. Der zur Explikation gegenläufige Prozess wäre die Kürzung zur Redundanzvermeidung. Gemäß der Quellenlage wäre nhd. Tiger ein Beispiel (vgl. Krieg-Holz 2010: 311 mit Verweis auf Bloomer 1996: 83–84): Wiewohl es auf lat. tigris zurückgeht, ist es im Althochdeutschen nur in dem Explikativkompositum tigirtior ‚Tigertier‘ belegt, und die Kürzung auf den ersten Bestandteil hätte erst im 17. Jh. stattgefunden (Pfeifer et al. s.v.).³¹ Dies ist also das präzise Gegenteil von dem, was im Falle Maultier stattgefunden hat. Bei solcher Sachlage wird man sich damit begnügen müssen, konträre Motivationen im Sprachwandel zu diagnostizieren. Rein strukturell betrachtet liegt bei Explikativkomposition eine „Substantiierung von Bedeutung“ (Harnisch 2010: 5) vor. Aber diese ist kein letztes Ziel. Die nachgewiesenen motivierenden Faktoren haben keinen unmittelbaren Bezug zu (re‐)konstruktionellem Ikonismus, denn es gibt kein ikonisches Prinzip, wonach eine implizierte semantische Komponente einen eigenen Ausdruck haben müsste. Die Explikativkomposition ist in zwei funktionalen Kontexten zu verstehen: erstens als Verdichtung einer phorischen Relation zwischen nominalen Ausdrücken, die in einer Hyponymiebeziehung stehen, und zweitens als nominaler Kern für die Nominalisierung eines Satzinhaltes. In einer solchen Konstellation neigt das Hyperonym zur Desemantisierung und zur Grammatikalisierung. In den derzeit produktiven und sprachsystematisch analysierbaren Fällen schafft die formale Sekretion eines semantischen Merkmals einen („Dummy“‐)Träger für grammatische und Diskursoperationen, für die das Determinans nicht oder nur eingeschränkt verfügbar ist.

 Die weiteren in Krieg-Holz (2010: 311) als gleichartig angeführten Beispiele panthertier ‚Panther‘ und kemeltier ‚Kamel‘ werden durch Pfeifer et al. (1989) nicht bestätigt.

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Teil 3: Remotivierung – phraseologisch

Sören Stumpf

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten Korpuslinguistische und kognitivsemantische Zugänge Zusammenfassung: Im Zentrum des Beitrags steht ein sprachlicher Verstärkungsprozess, dem bislang sowohl von Seiten der Remotivierungsforschung als auch der Phraseologieforschung wenig Beachtung geschenkt wird: die freie Verwendung von Unikalia, d. h. phraseologisch gebundenen Komponenten (z. B. Fettnäpfchen, Daumenschraube[n] und Bärendienst). Korpuslinguistisch betrachtet ist der außerphraseologische Gebrauch von Unikalia keineswegs eine Seltenheit. Vielmehr kann aufgezeigt werden, dass sich unikale Komponenten im Laufe der Zeit wieder zu Lexemen mit eigenständiger Bedeutung entwickeln können, die auch Eingang in lexikografische Nachschlagewerke finden. Bei derartigen De-Unikalisierungsprozessen handelt es sich also um einen typischen Reanalyseprozess, da einem Ausdruck wieder Inhalt zugewiesen wird. Erklären lässt sich die De-Unikalisierung mithilfe des Konzepts der semantischen Teilbarkeit sowie vor dem Hintergrund psycholinguistischer Tests und kognitivsemantischer Überlegungen. Schlüsselwörter: Unikalia, Phraseologie, Korpuslinguistik, Sprachwandel, Lexikografie, semantische Teilbarkeit, Psycholinguistik, Kognitive Semantik, Remotivierung

1 Einleitung Der Artikel fokussiert einen sprachlichen Verstärkungsprozess, der bislang innerhalb der Remotivierungsforschung und auch innerhalb der Phraseologieforschung kaum in den Blick genommen wird: die sogenannte De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten.¹ Unter unikalen Komponenten/Uni-

 So findet sich beispielsweise in dem einschlägigen Sammelband von Harnisch (Hrsg.) (2010) PD Dr. Sören Stumpf, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-007

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Sören Stumpf

kalia versteht man in der Phraseologieforschung – in Anlehnung an unikale Morpheme im Bereich der Morphologie – Wörter, die nur (noch) in festen Wortverbindungen auftreten (z. B. klipp und klar, Fersengeld geben, etw. auf dem Kerbholz haben) (vgl. Fleischer 1997a: 37–47). Bei einem sprachgebrauchsbezogenen Blick auf Unikalia zeigt sich jedoch, dass viele von der Forschung als unikal eingestuften Wörter nicht immer nur in phraseologischen Umgebungen, sondern auch vermehrt in freien² Kontexten anzufinden sind (vgl. Stumpf 2014), wie z. B.: (1)

Generell seien Pinnwand-Patzer die größten Fettnäpfchen in Netzwerken. „Persönliche Themen sollte man nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten“, sagt Wälde. Dafür gibt es die Nachrichtenfunktion. (Nürnberger Nachrichten, 31. Dezember 2012)

Die unikale Komponente Fettnäpfchen wird in (1) als eigenständige Einheit mit der Bedeutung ‚ungeschicktes/unbedachtes/unkluges Verhalten/Fauxpas‘ verwendet. Sie ist aus dem Idiom ins Fettnäpfchen treten/tappen herausgelöst und besitzt eine eigene (phrasemmotivierte) Semantik. Dieser De-Unikalisierungsprozess ist kein Einzelfall, sondern lässt sich korpuslinguistisch für zahlreiche weitere Unikalia nachweisen (vgl. Stumpf 2018a).³ Im Folgenden werden solche Verwendungsweisen unikaler Komponenten genauer betrachtet. Zunächst wird ein Überblick darüber gegeben, wie Remotivierung (Kapitel 2) und Unikalia (Kapitel 3) innerhalb der Phraseologie bislang behandelt worden sind. Daran anschließend folgt die Präsentation einer Korpusanalyse unikaler Komponenten, die interessante Ergebnisse für die Remotivierungsforschung liefert; denn sie veranschaulicht, dass Unikalia z.T. auch wieder frei verwendet werden (Kapitel 4). Kapitel 5 geht der Frage nach, welche Rolle die semantische Teilbarkeit von Phrasemen bei der Herauslösung von Unikalia spielt. In Kapitel 6 wird thematisiert, inwiefern de-unikalisierte Komponenten zur Wortschatzerweiterung beitragen können. Daran anknüpfend wird dargelegt, wie sich De-

kein Aufsatz, der sich mit phraseologischen Remotivierungsprozessen beschäftigt. Der Forschungsschwerpunkt liegt bislang im Bereich der Morphologie, genauer: der Wortbildung.  „Frei“ wird in dem Artikel als Gegensatz zu „phraseologisch“ verwendet. Dass es sich hierbei nicht um eine völlige Entfaltungsfreiheit handelt, sondern die entsprechenden Elemente morphosyntaktischen und semantischen Regularitäten unterliegen, ist dabei jedoch selbstverständlich. „Frei“ sollte daher immer in Anführungszeichen gedacht werden.  Die De-Unikalisierung phraseologischer Komponenten weist Parallelen mit dem aus der Degrammatikalisierungsforschung bekannten „debonding“-Prozess auf. „Debonding“ bedeutet nach Norde (2009: 186), dass „a bound morpheme in a specific linguistic context becomes a free morpheme“.

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten

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Unikalisierungsprozesse aus psycholinguistischer und kognitivsemantischer Perspektive erklären lassen (Kapitel 7). Abschließend werden in Kapitel 8 die zusammengetragenen Erkenntnisse über die freie Verwendung von Unikalia in eine Typologie und Theorie der Remotivierung eingeordnet.

2 Remotivierung innerhalb der Phraseologie Innerhalb der Phraseologieforschung versteht man unter Remotivierung in erster Linie das textlinguistische Phänomen, dass durch Modifikationen (also durch okkasionelle, kontextabhängige, sprachspielerische Abwandlungen) die wörtliche Bedeutung eines Phrasems aktiviert wird. So betont Stöckl (2004: 165–166), dass „prinzipiell jeder idiomatische Phraseologismus im Gebrauch remotiviert bzw. aktualisiert werden kann, was die Opazität bzw. Undurchsichtigkeit [von Phrasemen, d. Verf.] empfindlich relativiert.“ Ein Beispiel für eine phraseologische Remotivierung ist in Abbildung 1 zu sehen.

Abb. 1. Remotivierung des Phrasems jmdm. die Zähne zeigen (frazeologie.ujepurkyne.com/VS_teil02.asp [Stand 23. 01. 2023]).

Die Werbeanzeige verwendet als Schlagzeile das Phrasem jmdm. die Zähne zeigen ‚jmdm. (heftig und unerschrocken) Widerstand leisten‘ (vgl. Duden 2013: 866). Die Wendung ist sowohl formal durch die Auslassung der Nominativergänzung und der Dativergänzung als auch semantisch durch die Hervorrufung der wörtlichen Bedeutung modifiziert. Die wörtliche Bedeutung wird zum einen durch lexikali-

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sche Einheiten des Fließtextes (z. B. Elefanten, Stoßzähnen) zum anderen durch das abgedruckte Bild hervorgerufen. Das Bild zeigt einen Elefanten, der gemeinsam mit der Schlagzeile als Blickfang dient. Die phraseologische Bedeutung ergibt sich aus der Thematik und wird im Fließtext durch die Wiederholung des Phrasems aktiviert. Im letzten Satz heißt es Helfen Sie uns – zeigen Sie Zähne. Auffällig ist, dass an dieser Stelle mit Sie die Nominativergänzung gefüllt ist, wodurch die Leserinnen und Leser direkt angesprochen werden und unmittelbar an deren Hilfsbereitschaft appelliert wird. Der Terminus der „Remotivierung“ ist innerhalb der Phraseologieforschung jedoch nicht unumstritten. Für Burger (1989: 28–29, 2015: 68–69) ist er missverständlich, da es bei diesen Prozessen semantischer Aktivierung „nicht um eine Re-motivierung (sozusagen als Umkehrung des genetischen Prozesses), sondern um eine Aktivierung nahezu beliebiger Aspekte einer möglichen wörtlichen Lesart einer oder mehrerer Komponenten des Phrasems [geht]“ (Burger 2015: 69). Remotivierung ist für ihn in erster Linie kein „semantisches Faktum, als vielmehr eine Potenz bestimmter Phraseologismen, die erst im Kontext aktualisiert wird“ (Burger 1989: 29). Dabei müsse die phraseologische Bedeutung auch nicht zwangsläufig mit der wörtlichen synchronen in einem erkennbaren Zusammenhang stehen. Weil für ihn Termini wie „Remotivierung“ und „Remotivierbarkeit“ „fälschlicherweise eine Spiegelbildlichkeit von historischem Ablauf und synchroner Auflösung der Idiomatizität suggerieren“ (Burger 1989: 29), schlägt er vor, besser von „Motivierung“ oder von „Aktualisierung“ der bzw. einer wörtlichen Lesart zu sprechen (vgl. Burger 2015: 69). Auch im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand der De-Unikalisierung ist diese feinere terminologische Differenzierung vor allem aus kognitivsemantischer Sicht durchaus sinnvoll, was sich in Kapitel 7 zeigen wird.

3 Unikalia in der Phraseologieforschung 3.1 Definition und Charakteristika Als Unikalia werden in der bisherigen Forschung Wörter bzw. Wortformen [klassifiziert], die außerhalb des Konstituentenbestandes der Phraseologismen nicht vorkommen, die es also per definitionem synchronisch als gleichlautende freie Lexeme bzw. Lexemformen der Sprache nicht gibt, wie z. B. „klipp“ im Ausdruck „klipp und klar“. (Häcki Buhofer 2002a: 429; ähnlich auch Dobrovol’skij 1989: 57 und Fleischer 1997a: 37)

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten

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Der Terminus der Unikalität besitzt seinen Ursprung in der Morphologie (vgl. Donalies 2011: 30–31). Als unikal werden Morpheme bezeichnet, die in einer Sprache nur einmal als Stamm- bzw. Kompositionsglied auftreten und deren Bedeutung synchron nicht mehr analysierbar ist. Als Beispiel wird häufig das Morphem him in Himbeere angeführt. Dessen bedeutungstragende Funktion ist zwar noch durch den Vergleich mit Erd-, Stachel-, Blaubeere etc. zu erkennen, eine eigenständige Bedeutung kann aber nicht angeben werden (vgl. Häcki Buhofer 2002b: 127).⁴ Unikalia werden überwiegend als Erscheinungen betrachtet, die prototypisch die Festigkeit und Fixiertheit von Phrasemen offenbaren (vgl. Korhonen 1992: 49 und Häcki Buhofer 2002b: 129). Häufig ist es veraltetes oder selten gewordenes Wortgut, das in freier Verwendung nicht mehr auftritt und somit nur noch in phraseologischen Wendungen vorzufinden ist. Phraseme stellen also durch ihre Festigkeit Bewahrungsorte für solche archaischen Sprachteile dar (vgl. Palm 1997: 30). Der Prozess der Unikalisierung – also der Wandel eines frei vorkommenden Lexems hin zu einem phraseologisch gebundenen – wird dabei als semantischer Strukturverlust, als Endpunkt der Lexikalisierung und als stärkste Restriktion verstanden (vgl. Häcki Buhofer 2002a: 429). Lange Zeit wurde innerhalb der Forschung angenommen, dass UnikaliaPhraseme einen hohen Grad an Idiomatizität aufweisen, da in ihrer phraseologischen Isolierung einer der Gründe dafür liegt, dass sich die Gesamtbedeutung des Phrasems nicht als Summe der Elementbedeutungen ermitteln lässt (vgl. Häcki Buhofer 2002a: 429). Dem ist zu widersprechen; Phraseme mit Unikalia können auch nicht-idiomatisch sein (z. B. unbeschrankter Bahnübergang). In diesen Fällen liegt ein vollkommen durchsichtiges Wort vor, das aus dem Grund als unikal bezeichnet werden kann, da es syntagmatisch nicht bzw. kaum mit anderen Wörtern als Bahnübergang verknüpft werden kann. Auch Fleischer (1997a: 42–43) macht auf idiomatische Abstufungen der Phraseme mit Unikalia aufmerksam. Er verweist auf solche Komponenten wie Fug (mit Fug und Recht) oder Lauer (auf der Lauer liegen), deren Grundmorpheme auch Bestandteile von Wortbildungskonstruktionen außerhalb von Phrasemen sind (Un-fug, be-fug-t und be-lauer-n), sowie auf Wörter wie Kerbholz (etw. auf dem Kerbholz haben) oder Fersengeld (Fersengeld geben), die aus kulturgeschichtlichen oder anderen Sachkenntnissen heraus motiviert werden können.  Die Bezeichnung von Unikalia im Englischen lehnt sich an das Phänomen der unikalen Morpheme an. Neben den Termini „bound words“ (vgl. Soehn 2004), „unique components“ (vgl. Häcki Buhofer 1998) und „unique elements“ (vgl. Jaki 2014) sind unter anderem der auf Aronoff (1976: 15) zurückgehende Begriff „cranberry words“ (vgl. Richter & Sailer 2003) und „cranberry collocations“ (vgl. Moon 1998) in der englischsprachigen Forschungsliteratur zu finden.

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Bezüglich ihrer Wortart lassen sich Unikalia nach Fleischer (1989: 121‒123) in Substantive (z. B. jmdn. zur Weißglut bringen/treiben), Adjektive/Adverbien (z. B. jmdn. mundtot machen) und Verben (z. B. an jmdm. ein Exempel statuieren) differenzieren, wobei Substantive die Mehrheit der deutschen Unikalia stellen. Eine weitere Wortart wird in der bisherigen Forschung bislang weniger berücksichtigt: Kategorisiert man Wortverbindungen wie sowohl […] als auch oder entweder […] oder […] als strukturelle Phraseme (vgl. Burger 2015: 31–32), so existieren auch phraseologisch gebundene Konjunktionen.

3.2 Unikalisierung: Entstehungsprozesse phraseologisch gebundener Wörter Der Unikalisierungsprozess kann nach Piirainen (1996) unter anderem als ein Übergang von einem peripheren zu einem phraseologisch gebundenen Wort beschrieben werden. Zur Veranschaulichung führt sie das Phrasem auf Schusters Rappen an und stellt fest: „[S]elbst wenn man über ein erlerntes Wissen verfügt, daß Rappe ‚schwarzes Pferd‘ bedeutet, ruft das Idiom keine Assoziationen zu einem Pferd hervor“ (Piirainen 1996: 324). Als verwandtes Beispiel verweist sie auf das Phrasem auf dem hohen Ross sitzen, für das ein ähnlicher Prozess der Unikalisierung denkbar sei. Eine Affinität zur Unikalisierung besitzen laut Piirainen (1996: 325) auch Diminutiva. Den Wörtern Zünglein, Kämmerlein und Stündlein sagt sie eine analoge Entwicklung voraus wie den bereits phraseologisch gebundenen Hintertürchen, Oberstübchen und Mütchen. Empirische Auswertungen in Stumpf (2015) bestätigen diese Vermutung. So bringt die korpuslinguistische Analyse von unikalen Komponenten eine ganze Reihe an (mehr oder weniger) stark phraseologisch gebundenen Diminutiven hervor (z. B. aus dem Nähkästchen plaudern, sich ins Fäustchen lachen, Däumchen drehen/drücken und wie am Schnürchen laufen/gehen/klappen) (vgl. Stumpf 2015: 479–525). Die Beispiele verdeutlichen, dass Unikalisierung nicht nur ein Phänomen veralteter, nicht mehr gebräuchlicher Wörter aus älteren Sprachverhältnissen darstellt, sondern sie sich auch auf synchroner Ebene vollziehen kann. Nach Fleischer (1989) lassen sich darüber hinaus mehrere Abstufungen des Unikalisierungsprozesses unterscheiden: 1. Laut ihm ist eine Zwischenstufe dieses Prozesses erreicht, sobald eine lexikalische Einheit im autonomen Gebrauch im Lexikon als „veraltend“ oder „veraltet“ markiert wird (vgl. Fleischer 1989: 118). Die Markierung „gehoben“ kann dabei auf einen solchen Unikalisierungsprozess hinweisen. Unikalia können somit infolge von im Sprachgebrauch veralteten Lexemen entstehen,

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten

2.

3.

4.

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insofern diese Bestandteile von festen Wortverbindungen sind. Der Archaismuscharakter von Wörtern führt zu ihrer phraseologischen Gebundenheit. Über Zwischenstufen verläuft laut Fleischer (1989: 119) auch die Integration regionaldialektal begrenzter Ausdrücke in den Allgemeinwortschatz als phraseologisch gebundene Komponente. Als Beispiel führt er das Wort Hucke an, das in den Lexika als „landschaftlich“ oder „salopp“ markiert ist. Den Phrasemen jmdm./sich die Hucke vollhauen sowie sich die Hucke vollsaufen fehlt jedoch die territoriale Markierung; sie sind als „umgangssprachlich“ gekennzeichnet. Analog zur Integration regionaldialektal begrenzter Ausdrücke in den Allgemeinwortschatz verhält es sich auch mit Lehnwörtern (vgl. Fleischer 1989: 119). Als Beispiele können hier etw. ad acta legen oder auch etw. in petto haben angeführt werden. Die Integrationsvorgänge, wie sie in 2) und 3) beschrieben werden, lassen sich auch auf Ausdrücke fachsprachlichen Charakters übertragen. Die Integration fachspezifischer Termini stellt sich jedoch als problematischer dar als die beiden genannten Prozesse. Die entscheidende Frage ist, ob es sich bei bestimmten Wörtern (noch) um Fachtermini handelt oder nicht. Ist eine fachbezogene Komponente (z. B. einen Drehwurm haben/bekommen) dem Allgemeinwortschatz völlig fremd, kann diese laut Fleischer (1997a: 41) als „phraseologisch gebunden“ bezeichnet werden. Die Frage, ob eine bestimmte Komponente Eingang in den Allgemeinwortschatz gefunden hat, ist jedoch nicht ohne Weiteres eindeutig zu beantworten und kann nur mithilfe umfangreicher Korpusauswertungen oder durch Probandenbefragungen, wie sie beispielsweise Dobrovol’skij & Piirainen (1994a, 1994b) durchführen, beantwortet werden.

Hervorzuheben ist insbesondere die sogenannte „Usus-Ambivalenz“ (Dobrovol’skij & Piirainen 1994b: 451) von Unikalia. Darunter versteht man, dass auch wenn Unikalia häufig Relikte älterer Sprachverhältnisse darstellen (Archaismen, Historismen), die Phraseme, in denen sie auftreten, nicht zwangsläufig veraltet sein müssen (vgl. Dobrovol’skij & Piirainen 1994a: 65). Die Auffassung von der Archaizität der Phraseme mit Unikalia kommt durch die Verwechslung von zwei Ebenen zustande: erstens die Ebene des gebundenen Wortes an sich und zweitens die Ebene des gesamten Phrasems, in dem dieses auftritt. So sind die lexikalischen Archaismen Fug, Hehl und Trübsal sowie die Historismen Fettnäpfchen, Kerbholz und Pranger Bestandteile von häufig gebrauchten Phrasemen (vgl. Piirainen 1995: 849). Eine einseitige Betrachtung von Unikalia als veraltete Überreste aus vergangenen Sprachverhältnissen hat den Blick auf dieses Phänomen bisher verengt.

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Denn im Gegensatz zu Archaismen und Historismen existieren auch okkasionelle unikale Komponenten (vgl. Forgács 2004: 120). Diese Tatsache stellt ihren angeblichen „Nekrotismus“-Charakter (vgl. Amosova 1963) infrage. Auch die nicht selten anzutreffende Modifikation von unikalen Komponenten spricht gegen den ihnen anhaftenden archaischen Status. In (2) wird beispielsweise Spalier durch die Hinzufügung von Meisterschafts- modifiziert: (2)

Nein, Meisterschaftsspalier wollten die Eschenburger für den Gast aus dem Roßbachtal nicht stehen. (www.jsg-eschenburg.de/news/article/ ungluecklich-niederlage-gegen-den-ligaprimus/, Stand 29. April 2019)

Auch mithilfe eines empirischen Blickwinkels wird ersichtlich, dass phraseologische Gebundenheit bei weitem keine Eigenschaft ist, die sich auf veraltete Lexeme beschränkt. Wörter können auch deshalb (mehr oder weniger) phraseologisch gebunden sein, weil ihre kontextuell-syntagmatischen Entfaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt sind, sie also nur mit bestimmten Wörtern in bestimmten formelhaften Zusammensetzungen auftreten. So kommen manche Wörter fast ausschließlich mit einer Präposition (z. B. am/an den Stadtrand, im engsten Familienkreis, aus Platzgründen) oder als Kollokationen mit bestimmten Verben vor (z. B. über etw. Aufschluss geben // Aufschluss geben/gewinnen/ erhoffen/liefern/bringen) (vgl. Stumpf 2015: 43–45, 2019). Bei solchen Phrasemen handelt es sich um vorgeprägte, usuell verfestigte Wortverbindungen im Sinne Steyers (2013) und keinesfalls um Idiome im traditionellen Sinne. Das Merkmal der Unikalität ist also nicht nur auf vollkommen semantisch „irreguläre“ Wendungen beschränkt, sondern kann sich auch in (mehr oder weniger) „regulären“, nicht-idiomatischen Verbindungen zeigen.

3.3 Problematik der dichotomischen Auffassung von Unikalität Die in Kapitel 3.1. angeführte Unikalia-Definition von Häcki Buhofer (2002a: 429) steht stellvertretend für die bisherigen Forschungsansätze, die von einer dichotomischen Unikalia-Kategorie ausgehen: Entweder eine Komponente ist phraseologisch gebunden oder sie ist es nicht. Die einschlägigen Studien zu Unikalia erwecken durchgängig die Vorstellung, man könne problemlos zwischen „phraseologisch gebundenen“ und „nicht phraseologisch gebundenen“ Elementen unterscheiden und infolgedessen eine geschlossene und repräsentative Liste an phraseologisch gebundenen Komponenten aufstellen (vgl. Dobrovol’skij 1978;

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten

151

Feyaerts 1994; Dobrovol’skij & Piirainen 1994a, 1994b).⁵ Einer eindeutigen Grenzziehung widersprechen jedoch Belege wie die folgenden: (3)

Die Kreisumlage empfinden etliche Gemeinden als Daumenschraube. (Braunschweiger Zeitung, 21. Februar 2007)

(4)

Seine Luftschlösser brachten ihn hinter Schloß und Riegel: Das Schöffengericht Ahrweiler verurteilte einen 35jährigen Immobilienmakler aus dem Rhein-Sieg-Kreis zu zwei Jahren und fünf Monaten Haft. (RheinZeitung, 8. Januar 1997)

(5)

Das Schlimmste für die Außenwirkung war, dass Hoffenheim und insbesondere Dietmar Hopp den Eindruck erweckten, sie wollten den Hausmeister eher für seine Zivilcourage loben als für einen Bärendienst tadeln. (Der Spiegel, 5. September 2011)

Die Beispiele (3), (4) und (5) zeigen von der Forschung als unikal klassifizierte Komponenten in freier Verwendung – Daumenschraube(n) außerhalb von jmdm. Daumenschrauben anlegen/ansetzen // die Daumenschrauben anziehen, Luftschlösser außerhalb von Luftschlösser bauen und Bärendienst außerhalb von jmdm. einen Bärendienst erweisen. Die Beobachtung, dass das ein oder andere unikale Wort auch frei vorkommen kann, ist innerhalb der Unikalia-Forschung nichts vollkommen Neues. So stellt auch Häcki Buhofer (2002b: 154) fest, dass „[j]edes einigermassen aktuell motivierbare Lexem aus Phraseologismen mit so genannten unikalen Komponenten […] jederzeit als Einzellexem verwendet werden [kann].“ Aufgrund dessen kommt sie – ähnlich wie bereits Dobrovol’skij (1978: 53–54) – zu dem Schluss, dass [e]s […] in den meisten Fällen ausgesprochen schwierig [ist], klare und sinnvolle Abgrenzungen zwischen Unikalität und Nicht-Unikalität in einem synchronen Sprachsystem vorzunehmen. (Häcki Buhofer 2002b: 155)

4 Korpusanalyse: Unikalia als prototypische Kategorie Auf der Grundlage der in Kapitel 3.3. gezeigten Einzelbelege sowie mit Verweis auf Stimmen innerhalb der Forschung, die nicht empirisch überprüft wurden, lassen

 Für einen Forschungsüberblick vgl. Stumpf (2015: 88–92).

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sich sicherlich keine allgemeingültigen Aussagen über das Phänomen der Unikalität ableiten. Es erscheint vielmehr notwendig, den tatsächlichen Gebrauch unikaler Komponenten mithilfe von Korpusanalysen auszuwerten, um Rückschlüsse auf stattfindende (De‐)Unikalisierungsprozesse zu ziehen. So betont bereits Steyer (2000: 111), dass „auch eine angenommene unikale Komponente, also die Gebundenheit eines Elements an die jeweilige Wortverbindung bzw. das Nicht-Mehr-Vorkommen außerhalb des Phraseologismus […] sich durch Korpuserhebung überprüfen [lässt].“ Mit Blick auf die Fragestellung des vorliegenden Artikels lässt sich ergänzen, dass nicht nur das Nicht-Mehr-Vorkommen eines Elements außerhalb des Phrasems, sondern auch das Wieder-Vorkommen einer unikalen Komponente in außerphraseologischen Kontexten korpuslinguistisch aufgedeckt werden kann. In Stumpf (2015) werden daher 1.909 Komponenten, die als „unikalia-verdächtig“ erscheinen, im Hinblick auf ihre phraseologische Gebundenheit im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) untersucht. Die Sammlung basiert auf Listen und Beispielen der bisherigen Forschung sowie auf der systematischen Durchsicht der einschlägigen phraseologischen Wörterbücher Röhrich (2006), Duden (2008), Quasthoff (2010) und Schemann (2011). Das Ergebnis dieses Arbeitsschritts ist eine Liste mit Phrasemen, in denen Wörter realisiert sind, die den Verdacht auf Unikalität erwecken. Im Rahmen der Korpusuntersuchung konnten 1.318 Komponenten ausgewertet werden.⁶ Die Analyse gliedert sich in drei Schritte, die im Folgenden anhand des Wortes Schattendasein erläutert werden. 1. In einem ersten Schritt wird die absolute Quantität der einzelnen unikalen Komponente ermittelt. Die Suche nach dem Wort Schattendasein ergibt, dass dieses zum Zeitpunkt der Abfrage insgesamt 3.193mal im DeReKo vorhanden ist. In diesen 100 % sind logischerweise sowohl alle phraseologisch gebundenen als auch alle freien Realisierungen des Wortes enthalten. 2. Entscheidend ist nun der zweite Analyseschritt: Diesem Analyseschritt liegt die Frage zugrunde, in wie vielen Fällen der absoluten Trefferzahl die unikale Komponente in einem außerphraseologischen Kontext realisiert ist. Um den freien Gebrauch aufzudecken, werden daher mithilfe differenzierter Suchanfragen diejenigen Fälle ausgeschlossen, in denen das Wort in phraseologischen Verbindungen auftritt. Für die Ermittlung der Nennform eines Uni-

 Es konnte nicht die komplette Liste analysiert werden, da zum einen nicht alle Wendungen in ausreichender Quantität im DeReKo auftreten und zum anderen Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen, die durch die Semantik einiger Unikalia bedingt sind. Hierunter fallen in erster Linie Unikalia, die auch als Eigennamen auftreten und somit rein quantitativ nicht differenziert betrachtet werden können (z. B. auf der Lauer liegen // sich auf die Lauer legen) (vgl. Steyer 2002: 222).

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten

3.

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kalia-Idioms wird zum einen auf seine lexikografische Erfassung zurückgegriffen und zum anderen werden Kookkurrenzanalysen durchgeführt, die es erlauben, verfestigte Syntagmen aufzudecken. Die durch den zweiten Analyseschritt erzielte Trefferzahl zeigt die untersuchte Komponente in außerphraseologischen Textrealisierungen. Schattendasein tritt in 550 Belegen nicht in der Wortverbindung ein Schattendasein führen/fristen bzw. aus dem/ seinem Schattendasein hervortreten/heraustreten/herauskommen auf. In circa 17 % aller Belege wird das Wort somit nicht innerhalb eines Phrasems verwendet. In einem dritten und letzten Schritt werden die freien Verwendungen mit den phraseologischen in ein prozentuales Verhältnis gesetzt. Das Wort Schattendasein kommt (nur) in circa 83 % der Belege in einer phraseologischen Wortverbindung vor.

Die korpuslinguistische Auswertung gelangt zu dem Ergebnis, dass die UnikaliaKandidaten bezüglich ihrer phraseologischen Gebundenheit sehr heterogen sind. Neben Wörtern, die ausschließlich in Phrasemen auftreten (z. B. Schnippchen in jmdm. ein Schnippchen schlagen [100 %]⁷ oder Menschengedenken in seit Menschengedenken [100 %]), fördert die Korpusanalyse auch Wörter zutage, die nur in geringem Maße phraseologisch gebunden sind (z. B. Abschaum in der Abschaum der Menschheit [7 %] oder Standpauke in jmdm. eine Standpauke halten [16 %]). Das Interessante zeigt sich jedoch darin, dass zahlreiche Wörter im Zwischenbereich dieser beiden Ausprägungen anzusiedeln sind (z. B. Krokodilstränen [40 %], Schokoladenseite [60 %], Spendierhosen [84 %] oder auch Gängelband [89 %]). Korpusanalytisch lässt sich somit eine graduelle Verteilung von hoch phraseologisch bis hin zu kaum phraseologisch gebundenen Konstituenten feststellen. Eine Komponente ist demnach nicht „entweder – oder“, sondern „mehr oder weniger“ phraseologisch gebunden. Kurzum: Unikalia stellen eine prototypische Kategorie dar, mit hoch phraseologisch gebundenen Wörtern (wie Kieker [100 %]) als Prototypen und peripheren Vertretern wie Irrweg (13 %) und Denkzettel (46 %), die eine geringere Ausprägung an Unikalität besitzen (vgl. Stumpf 2014: 101–108, 2015: 97–100). Eine scharfe Grenze, ab wann ein Wort phraseologisch gebunden und somit als unikal zu klassifizieren ist, kann nicht gezogen werden.

 Die in Klammern stehenden Prozentzahlen beziehen sich auf die korpusanalytisch ermittelte phraseologische Gebundenheit der jeweiligen Wörter. Ist beispielsweise ein Wort zu 80 % phraseologisch gebunden, so tritt es innerhalb des Deutschen Referenzkorpus in 80 % aller Belege in einem Phrasem auf.

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5 Semantische Teilbarkeit als entscheidender Faktor für die De-Unikalisierung Es stellt sich zwangsläufig die Frage, welche Faktoren die freie Verwendung von Unikalia beeinflussen. Einen entscheidenden Anteil hat hierbei die sogenannte semantische Teilbarkeit derjenigen Phraseme, in denen die Unikalia realisiert sind. Ausgangspunkt der Theorie der semantischen Teilbarkeit ist das Kompositionalitätsprinzip (vgl. Frege 1923), nach dem die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks durch die Bedeutungen seiner Teile und die Art der Zusammensetzung bestimmt ist (vgl. Rabanus et al. 2008: 28): Im Rahmen einer kognitiv-linguistischen Betrachtung der Idiome […] ist die Tendenz zu beobachten, den Idiomen ein höheres Maß an Durchsichtigkeit (oder: Transparenz) zuzuschreiben, als dies insbesondere in strukturell orientierten Arbeiten der Fall war und ist […]. Generell geht es darum, die Vorstellung von einer idiomatischen „Gesamtbedeutung“ aufzubrechen und den semantischen Status der Komponenten des Phrasems „aufzuwerten“, d. h. die Komponenten bis zu einem gewissen Grade als autonom zu betrachten. […] Insofern in dieser Sichtweise dem Idiom nicht als ganzem, sondern den einzelnen Teilen Bedeutung zugeschrieben wird, spricht man auch von semantischer Teilbarkeit, und in Bezug auf das Zustandekommen der Gesamtbedeutung spricht man von kompositioneller semantischer Struktur […]. (Burger 2015: 69; i. O. mit Herv.)

Bei phraseologischen Wortverbindungen hängt die semantische Teilbarkeit mit der Parallelität in der Gliederung der lexikalischen und semantischen Struktur eines Idioms und demzufolge mit dem semantischen Status einzelner Konstituenten zusammen (vgl. Dobrovol’skij & Piirainen 2009: 46).⁸ Semantisch teilbar sind Phraseme, deren Konstituenten als relativ selbstständige bedeutungstragende Einheiten agieren.

 Die Theorie der semantischen Teilbarkeit geht auf die „Dekompositionshypothese“ zurück, die vor allem von Raymond Gibbs und dessen Kollegen vertreten wird (vgl. Gibbs 1990; Gibbs & Nayak 1989; Gibbs, Nayak & Cutting 1989 und Gibbs et al. 1989). Nach ihrer Hypothese besteht die Möglichkeit, viele Idiome in sinnvolle Bestandteile zu zerlegen, wogegen es andere Idiome gibt, deren Konstituenten nicht zur aktuellen Bedeutung des Gesamtausdrucks beitragen (vgl. Dobrovol’skij 1997: 23). Die Idiome einer Sprache können nach dieser Auffassung in sogenannte „decomposable“ bzw. „analyzable phrases“ einerseits und „noncomposable“ bzw. „nonanalyzable phrases“ andererseits unterschieden werden, wobei graduelle Abstufungen möglich sind.

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten

155

Wie das nachfolgende Beispiel verdeutlicht, kann in dem Idiom jmdm. einen Bären aufbinden der phraseologischen Komponente Bär die Bedeutung ‚Lügengeschichte/Lüge/etwas Unwahres‘ zugeschrieben werden.⁹ jmdm.

einen Bären

aufbinden

,jmdm.

eine Lügengeschichte/Lüge/etwas Unwahres

erzählen‘

Abb. 2. Semantische Teilbarkeit von jmdm. einen Bären aufbinden

Indizien dafür, dass Phraseme semantisch teilbar sind, liefern syntaktische Umformungen (z. B. die Relativsatzbildung in Beispiel 6 oder die Attribuierung [durch ein Adjektiv] in Beispiel 7), da diese den Konstituenten einen referentiellen Status und damit eine eigenständige Bedeutung verleihen (vgl. Dobrovol’skij 2000: 118, 2004: 67). (6)

Ich glaube, dass es hier nur ein Opfer gibt und das ist Halo – das Opfer eines Bären, der ihr aufgebunden wurde. (bfriends.brigitte.de/foren/ beziehung-im-alltag/524500-luft-raus-oder-jammern-auf-hohem-niveau-38.html, Stand 21. Februar 2019)

(7)

Als sie das Wort ‚Baronin‘ sagte, fing er an zu lachen. „Da hat sie Ihnen aber einen schönen Bären aufgebunden, Marie-Claude“, rief er amüsiert. (Kurfürstenklinik Staffel 4 – Arztroman: E-Book 31–40)

Der Zusammenhang zwischen semantischer Teilbarkeit und der freien Verwendung phraseologischer Komponenten wird auch innerhalb der Forschung an einigen Stellen betont: Da die Konstituenten der sekundär motivierten, semantisch teilbaren Phraseologismen eine selbstständige Bedeutung haben, tendieren sie besonders zur Autonomisierung […]. Die semantische Teilbarkeit der Phraseologismen ist demzufolge […] eine Voraussetzung für das Auftreten neuer Sememe bei einem Wort, die einem Phraseologismus entsprungen sind. (Földes & Györke 1988: 105; ähnlich auch Földes 1988: 71 und Ptashnyk 2005: 92–93)

Empirische Untersuchungen zur semantischen Teilbarkeit von Unikalia-Phrasemen kommen zu dem Ergebnis, dass die semantische Teilbarkeit mit der phraseologischen Gebundenheit in einem engen Zusammenhang steht (vgl. Stumpf

 Die Bedeutungsparaphrase ist an den entsprechenden Eintrag im Duden (2013: 90) angelehnt. Zur Problematik solcher Bedeutungsangaben im Hinblick auf die Frage der semantischen Teilbarkeit vgl. Burger (2015: 69, 104).

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2015: 101–104, 2018a: 74–77, 2018b: 386–390). Semantisch teilbare Unikalia neigen häufiger sowie zu einer stärkeren De-Unikalisierung als solche, die nicht semantisch teilbar sind. Denn durch die semantische Teilbarkeit kann den Komponenten eine gewisse Eigenbedeutung zugesprochen werden, die es ermöglicht, sie auch außerhalb des Phrasems zu verwenden. Es kann festgehalten werden, dass eine entscheidende Voraussetzung für den De-Unikalisierungsprozess die semantische Teilbarkeit der Unikalia-Phraseme darstellt. Durch die semantische Teilbarkeit lässt sich die phraseologische Bedeutung auf die einzelnen Konstituenten aufteilen (vgl. Barz 2007a: 16). Auf diese Weise erlangen die unikalen Komponenten eine morphosyntaktische Selbstständigkeit und entfalten semantisch-assoziative Potenzen (vgl. Fleischer 1997a: 240).¹⁰ Die semantische Teilbarkeit führt zur freien Verwendung der Unikalia in einer phraseologisch motivierten Bedeutung (vgl. Barz 2007b: 33).

6 De-unikalisierte Komponenten als Beitrag zur Wortschatzerweiterung Es lässt sich danach fragen, welchen (lexikalischen) Status frei verwendete Unikalia besitzen. In erster Linie geht es hierbei um den Zusammenhang zwischen Phraseologie und Wortbildung. Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sich sowohl die in der Wortbildung als auch in der Phraseologie angelegten Bildungsmöglichkeiten als Quelle lexikalisch-semantischer Innovationen erweisen (vgl. Stein 2012: 230). Phraseme können als Ausgangseinheiten für sekundäre Wörter und Bedeutungen sowie für die entsprechenden Bildungsverfahren/ ‐produkte fungieren (vgl. Barz 2007a: 8). Der Prozess, der sich bei der Autonomisierung von Unikalia vollzieht, kann als „elliptische Bedeutungsbildung“ (Stein 2012: 235) bezeichnet werden. Frei verwendete Unikalia können die Bedeutung(santeile) des Phrasems übernehmen, aus dem sie herausgelöst werden. Das unikale Element verselbstständigt sich formal-syntaktisch und absorbiert sozusagen die Semantik der gesamten Konstruktion. Diese „Absorbierung“ der Phrasembedeutung zeigt sich deutlich in folgenden Beispielen:¹¹  Diese morphosyntaktische Selbstständigkeit zeigt sich dabei in Verwendungsweisen, die sonst nur freien Wörtern vorbehalten sind. Beispielsweise wird die (unikale) substantivische Komponente des Phrasems Luftschlösser bauen im folgenden Textbeleg zum einen im Singular und zum anderen in der Funktion eines Genitivattributs gebraucht: Auch der Einsturz des Luftschlosses „Einkaufszentrum“ wird in Lampertheim kein großes Bedauern auslösen. (Mannheimer Morgen, 20. Dezember 2000)  Die Bedeutungsangaben sind dem Duden (2013) entnommen.

De-Unikalisierung phraseologisch gebundener Komponenten

kein

Sitzfleisch

haben

,keine

Ausdauer

haben‘

157

Abb. 3. Semantische Selbstständigkeit von Sitzfleisch (phraseologische Gebundenheit circa 35 %)

(8)

Strapazierfähiges Sitzfleisch ist neben guter Kondition wichtig, wenn 35 Mitglieder des RV Wanderlust Beddingen am Montag, 17. Juli, sich auf den Weg zum Bundestreffen in Kiel machen. Vor den Radsportlern liegen 375 Kilometer, die an sechs Tagen auf den Zweirädern bewältigt werden müssen. (Braunschweiger Zeitung, 13. Juli 2006)

Kohldampf

schieben

,Hunger

haben‘

Abb. 4. Semantische Selbstständigkeit von Kohldampf (phraseologische Gebundenheit circa 57 %)

(9)

Wir streifen Cabbage Town, wo einst makedonische Einwanderer mit Kohldampf ihre Häuser mit Essbarem umpflanzten und heute gedrechselte Buchsbaumsäulen die denkmalgeschützten Fassaden bewachen, welche Geschichten sich dahinter wohl verstecken. (Die Zeit [OnlineAusgabe], 06. September 2007)

die

Daumenschrauben

anziehen

,den

Druck ,(mehr) Zwang

erhöhen‘ ausüben‘

Abb. 5. Semantische Selbstständigkeit von Daumenschrauben (phraseologische Gebundenheit circa 72 %)

(10) Aber nicht nur die EU-Agrarpolitik und die Daumenschrauben des Einzelhandels bereiten den Milchbauern Kopfzerbrechen. Denn zugleich haben sie mit höheren Energie- und Futterkosten zu kämpfen. (Hannoversche Allgemeine, 22. April 2008) In den angeführten Belegen besitzt Sitzfleisch die Bedeutung ‚Ausdauer/Durchhaltevermögen‘, Kohldampf die Bedeutung ‚(großer) Hunger‘ und Daumenschrauben die Bedeutung ‚Druck/Zwang‘. Dadurch, dass die Konstituenten aus

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ihrem phraseologischen Kontext herausgelöst werden, liegt eine freie Verwendung vor, die durch die phraseologische Bedeutung motiviert ist (vgl. Häcki Buhofer 2002b: 135). Im Falle der Unikalia kann auf diese Weise ein neues Lexem entstehen, da es zuvor außerhalb des Phrasems nicht (mehr) geläufig gewesen ist (vgl. Barz 2007a: 14).¹² Im Falle der elliptischen Bedeutungsbildung auf phraseologischer Grundlage kommt Barz (2007b: 33) zu dem Ergebnis, dass diese im Vergleich zur wortbildungsbasierten wesentlich seltener zur Lexikonerweiterung führe, da die meisten freien Verwendungen der Unikalia rein okkasioneller Natur seien.¹³ Die Ergebnisse der Korpusanalyse in Stumpf (2015) legen jedoch nahe, dass bei vielen frei verwendeten Unikalia nicht mehr nur von okkasionellen Modifikationen die Rede sein kann. Nicht wenige Unikalia tragen zur Wortschatzerweiterung bei, da sie den Prozess der Lexikalisierung bereits vollständig durchlaufen haben und den Sprecherinnen und Sprechern als freie Lexeme mit Eigenbedeutung zur Verfügung stehen. Die entscheidende Frage ist, ab wann eine unikale Komponente, die auch in außerphraseologischen Kontexten verwendet wird, den Status eines eigenständigen Lexems erlangt. Hierfür kann die in der vorliegenden Arbeit vorgestellte quantitative Korpusanalyse des Grades der phraseologischen Gebundenheit eine entscheidende Hilfe sein. Unikalia, die zum einen semantisch teilbar sind und zum anderen in beispielsweise über 50 % der Belege in freier Verwendung auftreten, kann eine gewisse usualisierte Eigenbedeutung und somit ein Lexemstatus nicht abgesprochen werden (z. B. Denkzettel und Krokodilsträne[n]). Eine in Stumpf (2018a) durchgeführte Analyse der Erfassung von 81 Unikalia im Duden (online) zeigt, dass einige frei verwendete Komponenten bereits einen

 Bereits Häcki Buhofer (2002b: 155) macht darauf aufmerksam, dass eine Aufteilung der phraseologischen Bedeutung auf die verschiedenen Komponenten des Unikalia-Idioms möglich ist und die unikale Komponente dadurch eine eigenständige, freie Bedeutung erlangen kann: „[D]as Fettnäpfchen bedeutet dann beispielsweise ‚soziales Danebenverhalten‘ – unabhängig davon, was es sachgeschichtlich ‚richtig‘ bedeutete. Das Tanzbein ist dann – jenseits jeder Unikalität – das Bein, mit dem man tanzt, unabhängig davon, ob man den Ausdruck ausserhalb der phraseologischen Verbindung üblicherweise gebraucht: man könnte das ohne weiteres tun, weil die Teile nicht unikal sind und die Komposition den üblichen Regeln folgt.“  Entscheidender Faktor für die Wortschatzerweiterung ist die Lexikalisierung der Ausgangseinheit, sprich der usuelle Gebrauch des entsprechenden Wortes (vgl. Barz 2005: 1671). Eine Einheit gilt erst dann als lexikalisiert, wenn sie als eine neue Möglichkeit für die Sprecherinnen und Sprecher infrage kommt (vgl. Cherubim 1980: 132). Dabei kann jedoch nicht strikt zwischen lexikalischen und nicht-lexikalischen Einheiten differenziert werden. Die Lexikalisierung ist vielmehr ein graduelles Phänomen (vgl. Coulmas 1985: 253; Lipka 1990: 95 und Kastovsky 1995: 104).

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eigenständigen Lexikoneintrag besitzen (z. B. Gardinenpredigt, Denkzettel und Zwickmühle). Dennoch ist die Lemmatisierung insgesamt recht unsystematisch. Beispielsweise ist das Wort Schattendasein, das zu 83 % phraseologisch gebunden ist, lemmatisiert, das Wort Armutszeugnis, das eine phraseologische Gebundenheit von gerade einmal 11 % aufweist, jedoch nicht (vgl. Stumpf 2018a: 82–84).

7 De-Unikalisierung aus psycholinguistischer und kognitivsemantischer Sicht Die freie Verwendung von Unikalia kann auch vor dem Hintergrund psycholinguistischer Befunde und kognitivsemantischer Überlegungen erklärt werden. Dabei ist es insbesondere die Sprachverarbeitungsforschung, die auf einen wichtigen Aspekt des Verhältnisses von Phrasemen zu Wörtern und freien Syntagmen aufmerksam macht: Zwar sind Phraseme ähnlich wie Wörter mental als Einheiten repräsentiert, werden von Sprecherinnen und Sprechern bzw. von Hörerinnen und Hörern aber nicht zwangsläufig als zusammengehörige Einheiten behandelt (vgl. Burger, Buhofer & Sialm 1982: 187), sondern unterliegen durchaus den Mechanismen des Gebrauchs freier Syntagmen (vgl. Barz 2007a: 9). Einen Anhaltspunkt für die Annahme, dass Phraseme nicht immer als Einheit gespeichert werden, liefern beispielsweise phraseologische Varianten und Modifikationen, die psycholinguistisch gesehen, Hinweise darauf sind, dass Phraseme als kognitive Einheiten durch Produktionsprozesse zustande kommen (vgl. Häcki Buhofer 1999: 71). Durch die Variabilität bzw. Modifikation wird die syntaktischsemantische Einheit des Phrasems aufgespalten, wodurch es – zumindest teilweise – als aus selbstständigen Teilen zusammengesetzt und damit strukturiertes Ganzes erscheint (vgl. Sabban 1998: 108). Auch Unikalia-Phraseme werden im mentalen Lexikon durchaus als semantisch (relativ) selbstständige Entitäten verarbeitet (vgl. Dobrovol’skij 1995: 24). Sprachteilhaberinnen und Sprachteilhaber speichern diese zwar als Ganzes, sind aber auch bereit, ihre einzelnen Konstituenten als selbstständige Wörter mit spezifischer Bedeutung aufzufassen. Gemäß dieser Annahme werden die entsprechenden Unikalia-Idiome von Sprecherinnen und Sprechern als nach den Regeln der semantischen Komposition produzierte Lexikoneinheiten empfunden (vgl. Dobrovol’skij 1995: 25), wodurch ihre Autonomisierung und damit einhergehend ihr außerphraseologischer Gebrauch begünstigt wird. Häufig ist Sprecherinnen und Sprechern die phraseologische Gebundenheit einzelner Komponenten überhaupt nicht bewusst. So verweist Burger (2015: 92) darauf, dass Versuchspersonen durchaus in der Lage sind, sich unter bestimmten

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Unikalia (z. B. Hungertuch, Kerbholz und Maulaffen) etwas vorzustellen, und sie gar im Stande sind, mit diesen Wörtern assoziierte Merkmale anzugeben (vgl. hierzu bereits Burger 1973: 27). Aus kognitivsemantischer Sicht muss also der „Nekrotismus“-Charakter unikaler Komponenten stark relativiert werden, der z.T. sogar infrage stellt, ob es sich bei diesen Elementen aufgrund des Fehlens einer Inhaltsseite überhaupt noch um Wörter handelt (vgl. Dobrovol’skij & Piirainen 1994b: 449). Psycholinguistische Tests zeigen, dass auch unikalen Komponenten trotz ihrer phraseologischen Isolation durchaus eine Inhaltsseite zugesprochen werden kann: Selbst wenn Muttersprachler bei einzelnen PGF [= phraseologisch gebundene Formative, d. Verf.] nicht wissen, was sie bedeuten, betrachten sie PGF zwar als veraltete, archaische, unverständliche usw., aber doch als Wörter. Mehr noch: in bestimmten Fällen wird den PGF sogar eine selbstständige Bedeutung zugesprochen (die ihnen genetisch-etymologisch gar nicht zukommt), werden sie remotiviert, wie Kohldampf, mundtot. (Dobrovol’skij & Piirainen 1994b: 449)

Mit Hallsteinsdóttir (2001: 278) lässt sich daher festhalten: Eine unikale Komponente wird isoliert nicht als bedeutungslos angesehen, sondern ihr wird eine Bedeutung zugeordnet, die als die wörtliche Bedeutung aufgefasst wird. Auch wenn die etymologisch korrekte Bedeutung nicht bekannt ist, können Sprecher bei unikalen Komponenten – durch eine Quasimotivierung […] – eine wörtliche Bedeutung konstruieren.¹⁴

Häcki Buhofer (2002a: 432) sieht die besondere Leistung eines kognitivsemantischen Zugangs vor allem darin, dass auf diese Weise die Möglichkeit beschrieben und erklärt werden kann, dass Unikalia aus ihrer phraseologischen Gebundenheit herausgelöst und in (re‐)motivierter Bedeutung (noch bzw. auch wieder) frei verwendet werden können. Sprachteilnehmerinnen und Sprachteilnehmer besitzen demzufolge eine starke kognitive Tendenz, den Komponenten Bedeutungen zuzuschreiben, die aus sprach- oder sachgeschichtlich korrekten, ebenso wie unkorrekten Wissensbeständen oder aus synchronen aktuellen Motivierungsprozessen stammen können (vgl. Häcki Buhofer 2002b: 156). Aus rein psycholinguistischer und kognitivsemantischer Perspektive muss der Grundgedanke der Unikalität deswegen stark relativiert werden:

 In gewisser Weise handelt es sich hierbei also um eine (besondere) Art der Volksetymologie (vgl. Olschansky 2009).

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Das Konzept der Unikalität ist mit psycholinguistisch relevanten Prozessen schlecht vereinbar, und die Forderung nach psycholinguistischer Adäquatheit würde es bis auf ein paar Reste – von in engem Sinn unikalen Elementen – auflösen. (Häcki Buhofer 2002b: 135)

8 Schluss: De-Unikalisierung im Kontext der Remotivierung In Bezug auf die freie Verwendung von Unikalia muss sich der Blick zwangsläufig auch auf den gegenläufigen Prozess, nämlich den der Unikalisierung, richten (vgl. Kapitel 3.2). Der Unikalisierungsprozess stellt eine Art Endpunkt dar, durch den die phraseologisch gebundene Komponente ihre Berechtigung als eigenständiges Wortschatzelement verliert (vgl. Fleischer 1997b: 12). Der vorliegende Beitrag hat demgegenüber nachgewiesen, dass der Prozess der Unikalisierung nicht uni-direktional sein muss; De-Unikalisierung kann als Gegenpol zur Unikalisierung angesehen werden. Denn es ist möglich, dass phraseologisch gebundene Konstituenten durch elliptische Bedeutungsbildung wieder zu festen Bestandteilen des Lexikons werden. Der Endpunkt der Unikalisierung kann überwunden werden und Unikalia können wieder eine – wenn auch eine etwas andere als ihre ursprüngliche – Bedeutung erlangen: Durch kognitive Prozesse der Remotivierung von unikalen Elementen (deren Resultat nicht ihrer historischen Bedeutung entspricht), kann die scheinbar unidirektionale Entwicklung in Richtung von zunehmender lexikalischer Restriktion über den Status des Nekrotismus bis zum tatsächlichen Sprachtod eines Lexems aufgehalten, gestoppt oder umgedreht werden. (Häcki Buhofer 2002a: 432–433)

Insgesamt kann festgehalten werden, dass es sich bei De-Unikalisierung um einen typischen Reanalyseprozess handelt, da „Ausdruck gleichsam nach Inhalt verlangt“ (Harnisch 2010: 8). Die Sprecherinnen und Sprecher streben „nach Motiviertheit sprachlicher Äußerungen“ (Krieger & Harnisch 2017: 73), sprich nach Motiviertheit der unikalen Komponenten (vgl. hierzu auch Mečiarová 2014). Es liegt eine semantische Remotivierung vor, eine „Semantisierung formaler Substanz“ (Harnisch 2004: 227). Schließlich geht es um die „,(Re‐)Segmentierung‘ […] opaker Gebilde in transparente Bestandteile“ (Harnisch 2010: 18); bezüglich dieses Aspekts besteht eine augenfällige Verbindung zur semantischen Teilbarkeit. De-unikalisierte Wörter erfahren einen Aufstieg „auf der Skala der Konstruktionsebenen und, damit verbunden, der Bedeutungsverstärkung in dem Sinne, dass rein lautlicher Substanz überhaupt erst Bedeutung zugewiesen wird“ (Harnisch 2010: 18) bzw. genauer: wieder zugewiesen wird.

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Zum Abschluss soll ein weiterer Faktor, der die De-Unikalisierung vermutlich auch begünstigt, nicht unerwähnt bleiben. So spielt die Motiviertheit der Unikalia-Komponente an sich eine Rolle. Im Rahmen der vorgestellten Korpusanalyse sind es fast ausschließlich Komposita mit relativ durchsichtiger Struktur, die vermehrt im freien Gebrauch auftreten (z. B. Deckmantel, Lebensnerv oder Schokoladenseite) (z.T. können diese auch metaphorisch motiviert sein). Auf diesen Umstand macht bereits Häcki Buhofer (2002b: 155) aufmerksam: Die grosse Zahl der zusammengesetzten Wörter mit unikalen Elementen bietet von der Zusammensetzung her oft Anhaltspunkte für eine Motivation (die keine Remotivation im sprachgeschichtlichen Sinn ist), aber eine Aufteilung der phraseologischen Bedeutung auf die verschiedenen Komponenten einschliesslich der „unikalen“ erlaubt.

Die freie Verwendung von phraseologisch gebundenen Wortbildungskonstruktionen wird demnach dadurch begünstigt, dass diese aus gebräuchlichen Komponenten und auf der Grundlage regulärer Verfahren gebildet sind. Sie sind dadurch leichter motivierbar als beispielsweise Unikalia, deren Grundmorphem nur noch phraseologisch gebunden auftritt, wie klipp, Fug oder Kieker. Diese Beobachtung muss in zukünftigen Studien empirisch überprüft werden.

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Teil 4: Remotivierung – von der Grammatik zur Pragmatik

Renata Szczepaniak

„Die Universität ist nicht nur Studienstätte, sondern auch Arbeitgeberin“ Zur Rekontextualisierung des in-Suffixes Zusammenfassung: Die funktionale Weiterentwicklung des in-Suffixes, das vermehrt bei der Prädikation über Institutionen (Universitäten, Parteien, Stadtverwaltungen) auftritt, ist unterschiedlich analysiert worden: Scott (2009) betrachtet den Wandel als fortschreitende Grammatikalisierung, die jedoch wohl eher in eine Sackgasse führt (Szczepaniak 2013). Korpusanalysen zeigen, dass das Suffix nur in sehr seltenen Fällen als rein grammatischer Kongruenzmarker fungiert. Meistens ist seine Verwendung auch oder sogar nur semantisch begründet. In diesem Beitrag geht es um die Frage, inwieweit die soziosymbolische Indexikalisierung dieses Suffixes in personenbezogenen Kontexten (d. h. als Movierungssuffix) auf die Kontexte mit dem nicht-personenbezogenen Suffix übertragen worden ist, so dass das Suffix auch in nicht-personenbezogenen Verwendungen als Index für den geschlechtergerechten Sprachhabitus interpretiert wird. Dafür werden Pilotstudien durchgeführt, die mit Hilfe von verschiedenen empirischen Verfahren (Akzeptabilitäts-, Korrektur- und Assoziationstests) zur Aufdeckung der Rekontextualisierung beitragen sollen. Keywords: Movierung, geschlechtergerechte Sprache, Rekontextualisierung, Sprachhabitus, Kongruenz, Grammatikalisierung, Wortbildungswandel

1 Einleitung Dieser Beitrag leitet sich von der Beobachtung ab, dass Beispiele wie Die Universität ist nicht nur Arbeitsstätte, sondern auch Arbeitgeberin, die Organisation ist eine langjährige Partnerin oder Auftraggeberin ist die Stadt München vielerorts in Empfehlungen zum geschlechtergerechten Formulieren (z. B. der Informationsflyer der Landeshauptstadt Hannover mit „Empfehlungen für eine geschlechter-

Prof. Dr. Renata Szczepaniak, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Hornthalstraße 2, 96047 Bamberg E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-008

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gerechte Verwaltungssprache“)¹ und in grammatischen Abhandlungen (s.u.a. Duden Zweifelsfälle 2016: 572) als geschlechtergerechter Sprachgebrauch deklariert werden. Allen Beispielen ist gemeinsam, dass sie eine in-suffigierte Form enthalten, die auf eine Institution wie Universität, Stadt oder Organisation prädiziert, kurz: [Institution ist X-in]. Da der Referent des Satzes (oder doch die Referentin?) keine Person, sondern eine Institution² ist, kann das in-Suffix die ihm auferlegte kommunikative Aufgabe, Frauen sichtbar zu machen, aus semantischreferentieller Sicht nicht einlösen. Aus dieser Perspektive sind diese Empfehlungen daher ungeeignet. Es bleibt aber trotzdem die Frage, warum sie so explizit vielerorts gemacht werden. In diesem Beitrag wird der Hypothese nachgegangen, dass die Indexikalisierung des Suffixes als Marker für geschlechtergerechten Habitus, die für personenbezogene Kontexte gilt, auf die nicht-personenbezogenen ausgeweitet worden ist. Diese Rekontextualisierung, verstanden nach Harnisch (2010), führt dazu, dass das Suffix auch in nicht-personenbezogenen Kontexten die soziosymbolische Kraft des geschlechtergerechten Sprachhabitus entfaltet und somit als geschlechtergerechte Formulierung eingesetzt bzw. interpretiert wird. In diesem Beitrag wird die im Titel verwendete Struktur konstruktionell unter den Möglichkeiten des referentiellen und nicht-referentiellen Gebrauchs von inBildungen verortet (Abschnitt 2). Anschließend werden Ansätze vorgestellt, die die historische Entwicklung des in-Suffixes im Rahmen der Grammatikalisierung bzw. des Wortbildungswandels modellieren (Abschnitt 3). Es wird gezeigt, dass sie die eingangs diskutierten Belege nicht erklären können, da sie sich auf die semantische Analyse von Korpusbelegen beschränken. Daher wird in Abschnitt 4 auf Basis von Akzeptanz-, Korrektur- und Assoziationstests ein dynamisches Modell entwickelt, das sowohl die semantische Schwächung als auch die kontextuelle Stärkung des Suffixes berücksichtigt. In Anlehnung an Harnisch (2010) wird der beobachtete Gebrauch als Zeichen einer soziopolitisch motivierten Rekontextualisierung des in-Suffixes gedeutet. Dieser Beitrag versteht sich als eine  https://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-Hannover/Verwaltungen-Kommunen/Die-Ver waltung-der-Landeshauptstadt-Hannover/Gleichstellungsbeauf%C2%ADtragte-der-Landeshaupt stadt-Hannover/Aktuelles/Neue-Regelung-für-geschlechtergerechte-Sprache (zuletzt abgerufen am 29.04. 2019)  Institutionen sind sog. juristische Personen, d. h. sie sind als selbstständige Organisationen in der Rechtssystematik wie natürliche Personen rechtsfähig (Baumann 2017). Sie können handeln (erben, klagen oder Verträge abschließen), sind also wie natürliche Personen höchst agentiv (Szczepaniak 2013). Interessanterweise fallen sie (wie auch sog. feststehende Rechtsbegriffe wie Täter) in Rechtstexten nicht unter die Soll-Vorschrift zur geschlechtergerechten Formulierung. Hier sind also maskuline (darunter nicht-movierte) Referenzausdrücke möglich (Baumann 2017: 206–208).

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Pilotstudie, die methodische Vorschläge zur Untersuchung des Phänomens bietet. Laienlinguistische Reflexionen bilden dabei eine bedeutsame Grundlage.

2 Konstruktionen mit in-Bildungen Korpusuntersuchungen zeigen, dass das Verwendungsspektrum des in-Suffixes im heutigen Deutsch über die Sexusanzeige hinausgeht (Jobin 2004, 2005; Scott 2009; Szczepaniak 2013, 2014). Es dient nicht ausschließlich der Movierung (samt sexusstereotyper Konnotationen und semantischer Erweiterungen wie die matrimonielle und patronymische Movierung, s. Werth 2021), sondern kann darüber hinaus über Institutionen sowie Gegenstände prädizieren und sogar auf Institutionen und Gegenstände referieren. Tabelle 1 erfasst zunächst einmal das Maximum an Verwendungsmöglichkeiten des Suffixes -in in Abhängigkeit von seiner Referenzleistung, ohne auf ihre Häufigkeit bzw. Prototypizität einzugehen. Es wird zwischen referentieller und nicht-referentieller Verwendung unterschieden, wobei unter der referentiellen sowohl generische Referenz als auch koreferentielle Ausdrücke und Vergleiche subsumiert werden. Der nicht-referentielle Gebrauch erfolgt v. a. prädikativ. Tabelle 1: Das Verwendungsspektrum des in-Suffixes und die Referenz referentiell

nicht-referentiell

belebter Referent

Die Chefin hat diese Lösung sehr begrüßt.

Sie ist die neue Chefin der Abteilung.

kollektiver Referent

Die Eigentümerin des Geländes, die Berliner Immobilienfirma XY, plant einen Umbau.

Die Berliner Immobilienfirma XY ist Eigentümerin des Geländes.

unbelebter Referent

Die Kirche ist größer als ihre Vorgängerin.

Die Kaiserhymne war Vorläuferin der heutigen Nationalhymne.

Bezeichnenderweise ist die Verwendung von -in in keinem Bereich obligatorisch. So konkurriert sie selbst bei referentieller Verwendung, darunter auch in der Anrede, mit nicht-movierten (maskulinen) Formen. Die Verwendung hängt von vielfältigen (darunter diatopischen, diaphasischen und soziopragmatischen) Faktoren ab (s.u.a. Trempelmann 1998; Sobotta 2002; Becker 2008; Pettersson 2011). Deutlich von sozialen Stereotypen geprägt ist der prädikative Gebrauch, wo, wie Schröter, Linke & Bubenhofer (2012) zeigen, bei Selbstreferenz bspw. die movierte Form bei Ich bin Studentin, die nicht-movierte Form hingegen bei Ich bin

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Physiker bevorzugt wird. Der Gebrauch von in-Bildungen für Prädikation über kollektive Referenten (meist Institutionen) ist in der Forschung bereits mehrmals thematisiert worden (s. Abschnitt 3). Ob sie ohne koreferentielle Stütze auch direkt auf Institutionen referieren können, bleibt ein empirisches Desiderat: Hier wird zunächst angenommen, dass die Referenz in einem Satz wie Die Koalitionspartnerin der Union sah darin eine mögliche Begründung für die Einführung einer Vermögenssteuer, in dem sich die Koalitionspartnerin anaphorisch auf einen im direkt vorausgehenden Satz verwendeten Parteinamen FDP bezieht, ohne die Nennung des Antezedens personenbezogen interpretiert und auch nur so gebildet wird. In-movierte Referenzausdrücke für unbelebte Referenten kommen vermutlich nur zur Einführung von Vergleichsgrößen vor (als ihre Vorgängerin). Der nichtpersonenbezogene Gebrauch von in-Bildungen wird in Abschnitt 3 genauer beleuchtet. Die Verwendung der in-movierten Personenbezeichnungen bekommt spätestens seit den 70er Jahren eine gesellschaftspolitische Dimension: Die movierten Formen werden (neben dem end-Partizip wie in Promovierende, Studierende usw.) als zentrales Mittel des geschlechtergerechten Formulierens angesehen und finden Eingang in die aus Impulsen der feministischen Sprachkritik erwachsenen gesetzlichen und politischen Regelungen, die immer wieder den gesellschaftlichen Diskurs befeuern. Hier kommt es zur Ideologisierung und Indexikalisierung des Sprachhabitus (s.u.a. Bülow & Herz 2015, 2017). Da die symbolisch merkmalhafte in-Movierung in referentiell-generisch und prädikativ gebrauchten Personenbezeichnungen formal wie semantisch salienter ist als die end-Partizipien, ist zu vermuten, dass sie, deutlicher als Letztere, als Ausdruck bzw. Mittel soziopolitischer Identitätskonstruktion wahrgenommen wird. Die end-Partizipien können die Funktion des undoing gender erfüllen, denn sie neutralisieren die Geschlechterdifferenzen, wohingegen die in-Suffigierung durch doing gender die Geschlechterdifferenzierung betont (Wetschanow & Doleschal 2013). Diese gesellschaftspolitische Brisanz der in-Movierung wirkt sich, so die Hypothese in diesem Beitrag, auf die Verwendung der nicht-personenbezogenen in-Bildungen aus. Daher soll in der nächsten Sektion zunächst die Geschichte dieser Konstruktionen beleuchtet werden, die bereits seit Anfang des 20. Jhs. belegt und damit älter als die hier erwähnte sprachpolitische Diskussion um die in-Movierung sind.

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3 Funktionaler Wandel des in-Suffixes: Semantik und Textsortenspezifik Die nicht-personenbezogene in-Suffigierung ist historisch gesehen von der inMovierung abgeleitet. So ist im Althochdeutschen nur die sexusspezifizierende Funktion von -in bei Menschen und Tieren belegt, z. B. weberin(na) ‚Weberin‘, zoubarin ‚Zauberin‘, friuntin ‚Freundin‘; birin ‚Bärin‘, effin ‚Äffin‘, henin ‚Henne‘ (Henzen 31965: §95; Jobin 2004: 50–52), während movierte Formen im Mittelhochdeutschen im Umfeld von allegorisch eingesetzten Personifizierungen abstrakter Konzepte auftreten, z. B. vntreuwe ist ir ratgebinne (Hennig 1991). Zwar ist die funktionale Entwicklung des in-Suffixes bislang nur lückenhaft aufgedeckt, doch steht fest, dass nicht-personenbezogene und nicht-personifizierende Verwendungen schon in der frühneuhochdeutschen Zeit in Gebrauch waren (Scott 2009). So entfallen in den von Müller (1993) untersuchten Autographen und Druckschriften Albrecht Dürers vier (von insgesamt acht) in-Bildungen auf diesen Typus: felscherin, fergleicherin, verkererin, welerin, s. (1). Sie beziehen sich alle auf das feminine Abstraktum figur, das für Konstruktionsverfahren zur Bestimmung von Körpermaßen steht und interessanterweise nicht in allen Fällen explizit genannt wird (s. 1c). Die Suffigierung ist fakultativ, vgl. 1a und 1b, und lässt sich wohl als niederfrequentes Randphänomen interpretieren. Eine Textsortenaffinität zeichnet sich ab: So stammen alle nicht-personenbezogenen Belege aus fachtheoretischen Texten, wohingegen alle personenbezogenen Movierungsbelege in Briefen zu finden sind (Müller 1993: 340). (1)

Die fakultative in-Suffigierung in Bezug auf das Abstraktum figur bei Albrecht Dürer (Müller 1993)

(a)

Dy figur will jch nenen dy vergleicherin. Sy macht geschickt gegen ein ander. (Rupprich 1966: 189)

(b)

Vnd gib diser figur dorawff ein eÿgnen namen vnd nens ein ferkerer. Dorum das dordurch ein ding ferkert würt (Rupprich 1966: 412)

(c)

Vnd dorum so würt der hals dan durch dy verkererin, doraws der dosig man vam kÿn pis zw der soln erlengt ist (Rupprich 1966: 423)

Bereits bei Dürer lassen sich also in-Suffigierungen belegen, die nicht der Sexusmarkierung dienen, sondern lediglich „die kontextuelle Kohärenz fem. Lexeme“ verdeutlichen (Müller 1993: 340). Damit sind sie nicht semantisch, sondern „ausschließlich grammatisch motiviert“. Basierend auf sprachhistorischen Hinweisen und eigens gesammelten Belegen, die aus dem TIGER Corpus (Frankfurter

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Rundschau, s. Brants et al. 2004), Spiegel Online (2004–2005), Printmedien und dem World Wide Web stammen, schlägt Scott (2009) vor, diesen Gebrauch als Grammatikalisierungsergebnis zu interpretieren. Dabei entwirft er ein vierstufiges Grammatikalisierungsszenario, in dem sich das in-Suffix zum femininen Kongruenzmarker entwickelt: Stufe 1: ein sexusmarkierendes Derivationssuffix: Verwendung von in-Bildungen zur Referenz auf weibliche Animata (Anna ist Lehrerin) Stufe 2: Verwendung von in-Bildungen mit femininen personifizierten unbelebten Referenten als Controller, z. B. die Liebe ist/als Ratgeberin (Brückenkontext) Stufe 3: Verwendung von in-Bildungen mit femininen kollektiven Controllern, z. B. die Partei ist/als Bündnispartnerin Stufe 4: Verwendung von in-Bildungen als ein Kongruenzmarker mit femininen nicht-personifizierten Inanimata als Controllern, z. B. die Sendung ist/als Mittlerin, die Schneeflocke ist/als Vorgängerin In seinem Korpus identifiziert Scott (2009: 65–68) zehn (von insgesamt 386) inBildungstypen, die der Stufe 3 und 4 entsprechen. Diese sind in 20 (von insgesamt 2054) Belegen instanziiert, wobei lediglich zwei oben zitierte Belege (mit Sendung und Schneeflocke als Bezugswörter) der Stufe 4 zuzuordnen sind. Die Analyse des DWDS-Korpus des 20. Jahrhunderts (www.dwds.de, Version 1) bestätigt die Konzentration der nicht-personenbezogenen in-Bildungen auf institutionelle Kollektiva (s. Szczepaniak 2013). Mit der Suche „als #3 $p=NN with *in“ und der anschließenden Bereinigung konnten 397 Belege für koreferentiell und nicht-referentiell gebrauchte in-Bildungen in Appositionen (die Partei als Repräsentantin), Prädikativkonstruktionen (die SED betrachtet sich als die Vollstreckerin) und Komparativkonstruktionen (die Rakete wiegt mehr als ihre Vorgängerin) extrahiert werden.³ Abbildung 1 enthält die absoluten Belegzahlen, klassifiziert nach Belebtheitsgrad und Genus des Controllers. Die Mehrheit ist feminin, es finden sich jedoch vereinzelte Fälle von neutralen Controllern, die im letzten Balken zusammengefasst sind. Die Mehrheit der femininen Controller (250 Belege) referiert auf Kollektiva, die zu mehr als einem Drittel (90 Belege, graue Schattierung des zweiten Balkens)

 Eine ähnliche Suche nach maskulinen Bildungen mit -ent, -er, -ist, -ant und -är (Suchsyntax „als #3 $p=NN with *ent“ usw.) ergab für dieselben Konstruktionen 455 Treffer.

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Abb. 1. Semantische und grammatische Klassifizierung von ko- und nicht-referentiell gebrauchten in-Bildungen im DWDS-Korpus (Szczepaniak 2013)

durch Eigennamen repräsentiert sind. Die konkreten und abstrakten Controller sind häufig personifiziert, was meist gerade mit Hilfe der in-Bildung erfolgt (für eine detaillierte Analyse s. Szczepaniak 2013). In nicht-personifizierten Kontexten ist die lexikalische Diversität der in-Bildungen stark eingeschränkt (v. a. Vorgängerin, Nachfolgerin). Dies lässt sich damit erklären, dass die in-Bildungen in solchen Kontexten nicht-agentiv gebraucht werden. Sobald also Inanimata als Controller auftreten, gerät die Grammatikalisierung des in-Suffixes als Kongruenzmarker in eine Sackgasse (mehr dazu s. Szczepaniak 2013). Weiterhin fällt auf, dass die kollektiven Controller meist juristische Personen sind, die bei onymischer Referenz den höchsten Individualitätsgrad aufweisen und dabei als Personengruppierungen höchst agentiv sind. Dieser Umstand, der übrigens den ausschließlich grammatischen Charakter dieser Kongruenzfälle in Frage stellt (s. Nübling et al. 52017: 107–110), wird in Abschnitt 7 aufgegriffen.⁴ Interessanterweise lässt sich in dem untersuchten DWDS-Korpus eine deutliche Textsortenpräferenz der nicht-personenbezogenen in-Bildungen feststellen: Das Korpus besteht aus vier nach Textsorten organisierten, vergleichbar großen Subkorpora geschriebener Sprache (Belletristik 28,42 %, Zeitung 27,36 %, Wissenschaft 23,15 % und Gebrauchsliteratur 21,05 %, s. https://www.dwds.de/d/k-refe renz#kern). Die in-Suffigierungen verteilen sich jedoch nicht gleichmäßig auf die vier Subkorpora: Übereinstimmend mit den ersten frnhd. Belegen aus Fachtexten (Albrecht Dürers) kommen die meisten Bildungen in Zeitungen (43 %) und in der Wissenschaftsliteratur (37 %) vor. In der Gebrauchsliteratur sind sie mit 15 % deutlich seltener und in der Belletristik nur selten vertreten (5 %). Die ungleiche

 Die Tatsache, dass in-Bildungen vereinzelt neutrale kollektive Controller zulassen, spricht auch eher dafür, sie in diesen Kontexten als funktional erweiterte Wortbildungsprodukte anzusehen.

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Verteilung dieser in-Bildungen hat vermutlich dazu beigetragen, dass solche Konstruktionen als schriftsprachlich (s. Durrell 52011: 6) oder sogar bildungssprachlich wahrgenommen werden. Sie sind dabei nicht auf die geschriebene Sprache beschränkt (Scott 2002: 62). In der gesprochenen Sprache treten sie vermutlich vor allem in offiziellen, institutionell gebundenen Äußerungskontexten in vornehmlich wissenschaftlichen und politischen Diskursen auf. Eine genauere Untersuchung steht zwar noch aus. Sollte eine solche diese Verteilung bestätigen, könnte das mit dem hier gezeichneten Bild der Textsortenverteilung in der geschriebenen Sprache darauf hindeuten, dass diese Konstruktionen als Teil des sprachlichen Repertoires von Personen mit höherem Bildungsgrad in distanzierter Kommunikation indexikalisiert worden sind. Das Auftreten in bestimmten kommunikativen Situationen kann eine (im weitesten Sinne) pragmatische Remotivierung hervorrufen. Im Folgenden sollen diese Beobachtungen mit empirisch gewonnenen Erkenntnissen angereichert werden, um die soziosymbolische Funktionsweise des nicht-personenbezogenen in-Suffixes zu entschlüsseln. Dafür werden zunächst in Sektion 4 die Ergebnisse einer Akzeptabilitätsstudie referiert. In Abschnitt 5 wird die Salienz des in-Suffixes erörtert, die in einem Korrekturtest empirisch überprüft wurde. Anschließend wird in Abschnitt 6 eine Assoziationsstudie ausgewertet, die die thematischen Assoziationsfelder des nicht-personenbezogenen in-Suffixes aufdeckt.

4 Wie akzeptabel ist das nicht-personenbezogene in-Suffix? Basierend auf den Erkenntnissen aus der korpuslinguistischen Studie (Abschnitt 3) sollte im Akzeptabilitätstest überprüft werden, wie akzeptabel in-Suffigierungen in Prädikationen auf kollektive Referenten im Vergleich zu nichtsuffigierten Prädikatsnomen sind und ob das feminine Genus des Referenznomens ein zuverlässiger Trigger der in-Suffigierung ist, d. h. ob nicht-feminines Genus die prädikative in-Suffigierung blockiert. Der Akzeptabilitätstest ist als Online-Studie (in https://www.soscisurvey.de) durchgeführt worden.⁵ Die Umfrage war von 26.10. 2018 bis 19.11. 2018 aktiv. An der Studie haben insgesamt 189 Personen teilgenommen. Im Folgenden werden die Daten von 182 TeilnehmerInnen mit Deutsch als Muttersprache (Durchschnittsalter: 24 Jahre, 130 w, 46 m, 6 d) analysiert.  Ich danke Eleonore Schmitt für die Unterstützung bei der Durchführung der Online-Umfrage.

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Zur Bewertung standen insgesamt vier Sätze. Sie sind einzeln auf insgesamt vier Blätter mit je sieben Stimuli verteilt worden (d. h. ein „in-Stimulus“ pro Blatt, s. Anhang 1). Die sonstigen sechs Stimuli pro Blatt sind als Testsätze Gegenstand einer anderen Untersuchung zur Schematizität, dienen also in dieser Studie als Distraktoren. Die ProbandInnen wurden gebeten, die Sätze auf einer vierstufigen Skala zwischen „überhaupt nicht akzeptabel“ bis „vollkommen akzeptabel“ zu bewerten. Die Bewertung konnte nicht ausgelassen werden. Es gab auch keine Möglichkeit der Enthaltung. Der Test wurde in zwei komplementären Versionen (d. h. jeweils mit in-suffigierter und nicht-suffigierter Form) erstellt, die von 90 (Version 1, s. 2) resp. 92 Personen (Version 2, s. 2) bewertet worden sind. Die Reihenfolge, in der die Sätze präsentiert worden sind, wurde randomisiert. Die Nummerierung der Sätze in (2) soll lediglich die Besprechung der Ergebnisse erleichtern. (2)

Stimuli im Akzeptabilitätstest (Version 1; Version 2 mit komplementär verteilten suffigierten bzw. nicht-suffigierten Stimuli)

Satz 1: (Bank_in) Zum jetzigen Zeitpunkt ist unsere Bank Eigentümerin der von Ihnen angefragten Immobilie. Satz 2: (Uni_∅) Die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck tritt bei den Forschungs- und Transfereinrichtungen als alleiniger Eigentümer∅ auf und geht ausschließlich Minderheitsbeteiligungen bei kommerziellen Unternehmen ein. Satz 3: (Aufsichtsrat_∅) Der Aufsichtsrat nimmt den aktuell zu beobachtenden Stellenabbau sehr ernst und tritt in diesem Zusammenhang als Vermittler∅ zwischen den Angestellten und dem Vorstand auf. Satz 4: (Stammtisch_in) Der Stammtisch (jeden ersten Montag im Monat ab 20 Uhr) kann als Vermittlerin zwischen den Abteilungen genutzt werden. Die Referenznomina weisen feminines (Bank, Uni) bzw. maskulines Genus (Aufsichtsrat, Stammtisch) auf. Dabei sind alle vier Sätze so formuliert, dass sie eher offiziellere Kontexte evozieren: Der offizielle Charakter wohnt in drei der vier Sätze schon der Thematik inne (Kauf einer Immobilie, Forschungsfinanzierung, Umgang mit Stellenabbau) und – v. a. wichtig für den eher als informelle Thematik einzuordnenden Stammtisch – zusätzlich durch entsprechende distanzsprachliche Formulierungen (partizipiale Attributionen, Einklammerungen, Passivkonstruktionen usw.) abgesichert. In den Sätzen mit femininen Referenznomina wurde zusätzlich der syntaktische Abstand zum Prädikatsnomen variiert: Im Satz 1 folgt das Prädikatsnomen (Eigentümer/in) direkt auf das Referenznomen (Bank), wohingegen jenes in Satz 2 von diesem syntaktisch weit entfernt ist. Das

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Abb. 2. Die Akzeptabilitätswerte von suffigierten und nicht-suffigierten Prädikatsnomen

Referenznomen ist als Subjekt des zweiten Satzes nur durch die Auflösung der Ellipse erschließbar. Die syntaktische Distanz zum Prädikatsnomen (Eigentümer/ in) wird zusätzlich durch die adverbiale Präpositionalphrase erhöht. Abb. 2 fasst die Akzeptabilitätswerte der Stimulisätze in beiden Varianten zusammen: Für die Abgabe der Bewertung zwischen „überhaupt nicht akzeptabel“ bis „vollkommen akzeptabel“ standen den ProbandInnen vier Felder zur Verfügung, die eine Skala zwischen beiden beschrifteten Extremen bildeten. In der Abbildung entspricht Wert 4 der stärksten Zustimmung, die vollständige Ablehnung symbolisiert Wert 1. Die Werte 2 und 3 sind als Zwischenstufen zu lesen. Es zeigt sich, dass der Satz mit dem in-suffigierten Prädikatsnomen Eigentümerin, das dem Referenznomen Bank direkt folgte (zweiter Balken „Bank_in“), schlechter bewertet wurde als der Satz mit dem nicht-suffigierten Prädikatsnomen (Eigentümer; erster Balken „Bank“). Allerdings ist der Satz mit der suffigierten Form nicht völlig abgelehnt worden (Balken „Bank_in“). Der Median liegt bei „3“, was als verhaltene Akzeptabilität interpretiert werden kann. In starkem Gegensatz zum gleichen Satz mit nicht-suffigiertem Prädikatsnomen (erster Balken „Bank“) führt der Satz jedoch zu großer Streuung: Er wird auch von 25 % der ProbandInnen vollkommen abgelehnt. Ganz anders sieht die Bewertung des Satzes mit Universität als Referenznomen aus (dritter und vierter Balken). Sicherlich trägt hier die komplexe Struktur des Satzes zu geringeren Akzeptabilitätswerten beider Versionen bei. Man kann nur vermuten, dass die in-Suffigierung hier die Textkohärenz erhöht und so auch zur vergleichbaren Akzeptabilität beider Versionen beiträgt. Auffällig ist auch, dass Satz 3 mit dem Referenznomen Aufsichtsrat in der Version mit dem in-suffigierten Prädikatsnomen (Vermittlerin) zwar die gram-

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matische Kongruenz zwischen Target und Controller verletzt, doch trotzdem ähnlich akzeptabel ist wie der Satz 1 mit suffigiertem Prädikatsnomen (Bank – Eigentümerin). Dies könnte die bereits in Abschnitt 2 gemachte Beobachtung (dort in Korpusuntersuchungen) stützen, dass die nicht-personenbezogene in-Suffigierung nicht ausschließlich zur Sicherung der grammatischen Kongruenz eingesetzt wird. Vielmehr spielt die kollektive und agentive Semantik des Referenznomens eine Rolle, so dass feminine, aber auch maskuline (Akzeptabilitätstest) und neutrale Referenznomina (Korpusuntersuchung) zulässig sind. So ist auch Satz 4, trotz deutlich geringerer Akzeptabilität beider Versionen, mit dem suffigierten Prädikatsnomen nicht vollständig abgelehnt worden.

5 Wie auffällig ist das nicht-personenbezogene in-Suffix? Im Folgenden sollen das Suffix ‐in und anschließend die Konstruktion mit nichtpersonenbezogenen in-Suffigierungen getrennt betrachtet werden.

5.1 Zur Salienz des in-Suffixes Dem in-Suffix kommt zweifelsohne ein großes Salienzpotential zu, womit zunächst seine phänomenbezogenen Charakteristika gemeint sind (Purschke 2011, 2014). Das Salienzpotential basiert auf physiologischen und kognitiven Eigenschaften des Suffixes (vgl. Auer 2014). Zu den physiologischen Eigenschaften, die das Salienzpotential mitbedingen, gehören seine prosodischen Merkmale (s. Tabelle 2): Im Gegensatz zu den schwa-haltigen, damit prosodisch unauffälligen Derivationssuffixen wie ‐er in Spieler [ʃpi:lɐ] ist das Suffix ‐in (neben ‐ung) dank seinem Vollvokal betonbar, aber nicht in jedem prosodischen Kontext nebenbetont (s. Eisenberg 1991; Szczepaniak 2007: 290–300). Dies sichert dem Suffix eine prosodische Auffälligkeit: Wenn unbetont, hebt sich das Suffix dadurch ab, dass es in dieser Position, die im Deutschen v. a. durch einen Schwa-Vokal ausgefüllt wird, einen Vollvokal enthält. Wenn betont, erweitert es das phonologische Wort um einen zusätzlichen phonologischen Fuß, wodurch sich das Wort dann vom prototypischen Trochäus abhebt. Damit ist eine in-suffigierte Form immer prosodisch auffälliger als ihre Ableitungsbasis, z. B. Spieler vs. Spielerin oder Arzt vs. Ärztin. Dies gilt auch für Fremdwortstrukturen, z. B. Promovend vs. Promovendin. Im Plural bildet das Suffix (zumindest in Verbindung mit zweisilbigen Deriva-

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tionsbasen wie Spieler) dank der Nebenbetonung einen eigenen prosodischen Fuß, z. B. ˈSpieleˌrinnen. Tabelle 2: Prosodische Salienz des in-Suffixes Beispiel

Prosodische Struktur

Spie.ler

silbischer Trochäus mit Reduktionssilbe

Spiele.rin

phonologisches Wort mit einer Reduktions- und einer unbetonten Vollsilbe

Arzt

Einsilber

Ärz.tin

Trochäus mit unbetonter Vollsilbe

Pro.mo.vend

zweifüßiges phonologisches Wort mit neben- und hauptbetonter Silbe

Pro.mo.ven.din

zusätzliche unbetonte Vollsilbe

Es ist der feministischen Linguistik von Anfang an ein großes Anliegen gewesen, auf die morphologische Merkmalhaftigkeit des Suffixes hinzuweisen, von der auch eine soziopragmatische abgeleitet wurde. So ist das Movierungssuffix -in in der Diskussion um das generische Maskulinum auf zweifache Weise als auffällig interpretiert worden: Da dieses eine symbolische Markierung einer semantischen Erweiterung unabhängig davon, ob man die Basis wie Spieler, Arzt/Ärzte oder Doktorand(en) als [+mask] oder [‐mask] interpretiert, sichert, sind movierte Formen im Kontrast zu den nicht-movierten Formen kognitiv auffällig. Sie werden (überwiegend) geschlechtsspezifisch interpretiert, wohingegen den nicht-movierten Formen unter bestimmten Bedingungen auch die geschlechtsneutrale Lesart zukommen kann (mehr s.u.a. Irmen & Steiger 2005; Kotthoff, Nübling & Schmidt 2018). Damit können in-movierte Formen soziopragmatisch als sprachlicher Ausdruck für soziale Abweichung von der männlichen Norm interpretiert werden (vgl. Schoenthal 1985: 145). Tatsächlich zeigt sich ein Unterschied in der Interpretation beider Formen: So evozieren zwar nicht-movierte Formen wie der Student oder die Studenten in (geschlechterstereotyp) neutralen Kontexten (Besprechung der Prüfungsordnung) eine Vorstellung von paritätischen Geschlechtsverhältnissen (Bülow & Harnisch 2017). Movierte Formen bewirken hingegen die Vorstellung vom erhöhten Frauenanteil. Sie „erinnern“ daran, dass auch Frauen mitgemeint sind, lenken den Blick auf die weiblichen Referenten. So zeigen Braun et al. (1998), dass der angenommene Frauenanteil unter fast allen Bedingungen ansteigt, sobald die Referenz über Beidnennung gesichert ist (Geophysiker und Geophysikerinnen): Bspw. bewirkt die Beidnennung in „typisch männlichen“ Kontexten einen Anstieg des angenommenen Frauenanteils von

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unter 30 % auf über 40 %. Sowohl für diesen als auch für neutrale und „typisch weibliche“ Kontexte kann man annehmen, dass in-Suffigierungen die Erwartungen der RezipientInnen, dass männliche Referenten gemeint sind, konterkarieren, was das kognitive Salienzpotential des in-Suffixes prägt. Das Suffix manipuliert die kontextuelle Erwartbarkeit von mitgemeinten Frauen. Schlussendlich hat das Movierungssuffix -in durch den (sozio‐) politischen und auch juristischen Diskurs über Gleichberechtigung und die Bemühungen, diese durch sprachliche Anpassung offizieller Texte zu fördern, eine starke soziosymbolische Aufladung erfahren. Seine Funktion als Index für geschlechtergerechten Sprachhabitus, die es mit dem geschlechterneutralisierenden endPartizip teilt, hat zur Verzahnung mit verwandten indexikalischen Feldern, v. a. im Bereich der (sozio‐) politischen Orientierung, beigetragen. Die sozialen Räume, in denen sich die in-Suffigierung (vor allem in Splittings, aber auch als Beidnennung) früh und stark durchgesetzt haben, sind v. a. das universitäre Umfeld, wie Doleschal (1998) für den Sprachgebrauch in Österreich gezeigt hat. Die soziosymbolische Aufladung von ‐in zeigt sich ex negativo auch in der Abkehr von seinem Gebrauch durch jüngere Generationen. So stellen Bülow & Harnisch (2017: 165) auf Basis jüngerer Studien (nach 2000) fest, dass „most young women under the age of 30 emphasise that they do not like to be patronized by feminist language policy”. In eigenen informellen Gesprächen mit (männlichen) Studierenden habe ich ebenfalls mehrfach gehört, dass man sich durch das Suffix -in outen muss, was unerwünscht ist. Der Weg zum undoing gender, die Grundlage für die Karriere des end-Partizips, ist möglicherweise gerade eine Reaktion auf die soziosymbolische Aufladung des in-Suffixes, zu der sicherlich auch die ideologische Aufladung des Binnen-I, das Wetschanow & Doleschal (2013: 322) „Fahnengraphem“ nennen, beigetragen hat. Es ist anzunehmen, dass sich das hier beschriebene Salienzpotential des inMovierungssuffixes auf seine Pertinenz, d. h. seine Auffälligkeit in der Interaktion auswirkt (Purschke 2014: 33). Ob sich diese auch über die funktionalen Grenzen hinweg auf die nicht-personenbezogenen Kontexte wie in die Universität als Arbeitgeberin auswirkt, soll in Abschnitt 5.2. diskutiert werden.

5.2 Zur Auffälligkeit des nicht-personenbezogenen in-Suffixes Die perzeptive Auffälligkeit des nicht-personenbezogenen in-Suffixes zu untersuchen, war eines der Ziele der mehrteiligen Pilotstudie. An der Studie haben insgesamt 62 Studierende der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg teilgenommen. Nach einer Testphase mit 20 Personen aus dem Seminar „Einführung in die Sprachgeschichte“ sind im zweiten Durchlauf, über den hier berichtet wird, 42

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Personen aus einer Vorlesung zu „Eigennamen und ihrem Wandel“ befragt worden. In die folgende Auswertung sind 34 vollständig ausgefüllte Umfrageformulare von 11 männlichen und 23 weiblichen Deutsch-MuttersprachlerInnen aufgenommen worden. In zwei Fällen liegt neben Deutsch eine zweite Muttersprache vor (Russisch bzw. Portugiesisch). Die Umfrage bestand aus drei Teilen, die in dieser Reihenfolge durchgeführt wurden: einem Korrekturtest, einem Assoziationstest (s. Abschnitt 6) und einer freien Stellungnahme, die hier nicht im Detail besprochen wird. Der Korrekturtest lag in zwei Versionen vor, die sich lediglich in der Verwendung bzw. Nicht-Verwendung des in-Suffixes unterschieden (s. Anhang 2). Die ProbandInnen wurden gebeten, sich in die Arbeit eines Online-Redakteurs zu versetzen, der die letzten redaktionellen Änderungen („den letzten Schliff“) des Textes kurz vor der Online-Veröffentlichung vorzunehmen hat. Der Text wurde als Teil des offiziellen Web-Auftritts einer Universität konzipiert, der als Einleitungstext zu Stellenangeboten an dieser Universität fungiert. In den Text sind drei Fehler eingebaut worden: ein Tippfehler (Universtäten), ein orthographischer Fehler (ein sog. Vorfeldkomma Als eine der größten und modernsten Universtäten Europas, ist die Universität…) und ein Wortbildungsfehler (Bildung- und Forschungsstätte). 15 der ausgewerteten Fragebögen enthalten eine prädikative inSuffigierung (Arbeitgeberin), 19 eine nicht-suffigierte Form (Arbeitgeber). In Tabelle 3 sind alle Korrekturergebnisse zusammengestellt. Die Spalten „Version“ und „Anzahl“ zeigen die Anzahl der Korrekturen je nach Version des Fragebogens (mit und ohne in-Suffigierung). Tabelle 3: Korrekturergebnisse (n=34) Korrektur

Version

Anzahl

in > ∅

mit ‐in

/

∅ > in

mit ‐∅

/

Vorfeldkomma gestrichen: in

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/

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/

Universtäten > Universitäten

Bildung- > Bildungs-

Gesamt

/

/

/

„Die Universität ist nicht nur Studienstätte, sondern auch Arbeitgeberin“

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Es fällt zunächst auf, dass die Suffigierung von Arbeitgeber zu Arbeitgeberin kein einziges Mal hineinkorrigiert worden ist. Im Gegensatz dazu haben vier von 15 Personen die in-Suffigierung durchgestrichen. Am regen Korrekturverhalten in sonstigen Fällen kann man generell davon ausgehen, dass die ProbandInnen den Text aufmerksam gelesen haben. Sie haben auch neben den hier aufgelisteten Korrekturen viele stilistische und textgliedernde Vorschläge gemacht. In diesem noch sehr kleinen Rahmen mit nur 34 ProbandInnen zeigt sich, dass die Suffigierung trotz des offiziellen Charakters des Textes im universitären Kontext eher korrigiert worden ist. Sie wird zwar, wie in Sektion 4 (mit anderen ProbandInnen) gezeigt, akzeptiert, doch nicht im Korrekturverfahren vorgeschlagen. Möglicherweise liegt es in der beträchtlichen syntaktischen Entfernung zwischen Controller (Universität) und Target (Arbeitgeberin) begründet, dass die in-Suffigierung in 11 von 15 Fällen beibehalten wurde.

6 Zur Rekontextualisierung des in-Suffixes Im Anschluss an den Korrekturtest wurde den Testpersonen der Fragebogen 2 ausgeteilt, in dem sie gebeten wurden, die unterstrichenen Varianten nach ihrem Sprachgefühl zu bewerten (s. Anhang 2). Die Varianten wurden untereinander aufgelistet, wobei die Reihenfolge unverändert blieb, so dass die suffigierte Form immer als Variante 1 dargeboten wurde.Variante 2 unterschied sich nur durch das Ausbleiben der Suffigierung (s. 3). Die Testpersonen ordneten ihre Aussagen den Varianten zu, da für jede Variante ein gesondertes freies Feld zur Verfügung stand. (3)

Der Stimulussatz mit der in-Suffigierung im Assoziationstest (Variante 1) „Die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck tritt als alleinige Eigentümerin bei den Forschungs- und Transfereinrichtungen auf und geht ausschließlich Minderheitsbeteiligungen bei kommerziellen Unternehmen ein.“

Die Testpersonen haben sich fast ausschließlich zu dem in-Suffix geäußert. Dies kann an der Reihenfolge oder an der Auffälligkeit der Form liegen. (Darüber hinaus thematisierten zwei Personen die Verbindung von Genitiv‐s und dem Bindestrich im Namen der Universität.) Die qualitative Inhaltsanalyse der Aussagen der ProbandInnen deckte folgende thematische Bereiche auf (s. 4): (4)

Thematische Bereiche im Assoziationstest 1) Personifizierung 2) Metonymische Interpretation 3) Geschlechterstereotype (Stil)

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Renata Szczepaniak

4) Genderdebatte 5) Korrektheit und Sprachempfinden

Personifizierung Die personifizierende Lesart der in-Suffigierung wird in den Aussagen von 15 (der insgesamt 34) Personen angesprochen, meistens in Bezug auf die suffigierte Variante. Offensichtlich hat das Suffix -in ein so starkes vermenschlichendes semantisches Potential, dass dieses auch in solchen Kontexten vermehrt aktualisiert wird. Aus genau diesem Grund lehnen manche ProbandInnen die Suffigierung in diesem Kontext ab, s. 5: (5)

Ablehnung der Suffigierung aufgrund der personifizierenden Lesart

Die nicht-suffigierte Variante wird als nicht-personifizierend (z. B. ) oder aber als vergegenständlichend () beschrieben. Möglicherweise begünstigt durch den direkten Kontrast zwischen der suffigierten und der nicht-suffigierten Variante wird von drei Personen die männliche Referenz der nicht-suffigierten Variante angenommen: (6)

Männliche Referenz der nicht-suffigierten Form



Metonymische Interpretation Darüber hinaus diskutieren vier weitere Personen die metonymische Beziehung zwischen der Universität als Institution und ihrem Personal. Die prädikative inSuffigierung bringen sie in Verbindung mit dem weiblichem Personal. Auch hier wird das referentielle Potential des in-Suffixes, auf Frauen zu verweisen, aktualisiert:

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(7)

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Metonymische Interpretation



Geschlechterstereotype Einige Aussagen lassen sogar die Annahme zu, dass die in-Suffigierung bestimmte Geschlechterstereotype aktualisiert. Diese Äußerungen sind zwar vereinzelt, zeigen aber, wie stark nicht nur das personifizierende, sondern auch das genderisierende Potential des in-Suffixes ist. So kontrastiert eine Testperson die feminine und maskuline Variante wie folgt: (8)

Aktualisierung von Geschlechterstereotypen Feminine Variante:

Maskuline Variante:

Auch lassen sich die Anmerkungen zum Stil als Aktualisierung der Geschlechterstereotypen interpretieren. So mahnt eine Person den Stil in der Variante mit inSuffigierung als „sachlich“. Eine weitere (s. 11) findet diese Variante „schöner“. Zwei andere Personen bezeichnen die Variante ohne Suffigierung als „förmlicher“ und „sachlicher, wirtschaftlicher“. Hier könnte stereotype Vorstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit vermutet werden, durch die der beschriebene Handlungsort bzw. das Handlungskollektiv – die Universität – mit jeweils eher weiblich (schön) oder eher männlich (förmlich, wirtschaftlich) konnotierten Qualitäten assoziiert werden.

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Genderdebatte Sieben Personen haben in ihren Aussagen die Genderdebatte angesprochen (s. 9). Dies macht deutlich, dass die Verwendung der in-Suffigierung und ihre Kontrastierung mit der nicht-suffigierten Form unabhängig vom (grammatischen und semantischen) Ko(n)text Überlegungen entweder zur soziopolitischen Einstellung des Produzenten/der Produzentin anstößt (vgl. die zwei ersten Äußerungen unter 9a und die erste unter 9b), oder aber die Testpersonen fühlen sich ganz allgemein an die Genderdebatte erinnert. Das in-Suffix scheint unabhängig von seiner Verwendung als Projektionsfläche für soziopolitische Inhalte zu dienen. (9)

Genderdebatte a) die feminine Variante



b) die maskuline Variante



Korrektheit Die Stimuli haben viele Überlegungen zur Korrektheit der Varianten ausgelöst. Dabei sprechen sich acht Testpersonen gegen die Verwendung der suffigierten Variante aus, fünf dafür und weitere vier sind unentschlossen. In der Begründung beziehen sich viele Testpersonen auf die grammatische Kongruenz zwischen der Universität und dem Eigentümer: Wenn sie die Suffigierung ablehnen, dann wird das eigene Sprachgefühl über die grammatische Inkongruenz gestellt (s. 10). Für andere ist die Genusinkongruenz Grund zum Zweifeln (s. 11). Die BefürworterInnen wiederum begründen ihre Entscheidung mit der Genuskongruenz (s. 12).

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(10) Ablehnung der in-Suffigierung trotz der Genusinkongruenz



(11) Genusinkongruenz vs. Sprachgefühl



(12) Genuskongruenz als Grund für die Zustimmung

Eine ähnliche Begründung wird in Bezug auf die nicht-suffigierte Variante ins Feld geführt: Es gibt 16 Stimmen für die nicht-suffigierte Variante (meist mit Bezug auf das eigene Sprachgefühl) und sieben dagegen (mit Bezug auf die grammatische Inkongruenz). Eine Person ist unentschieden.

7 Was ist mit dem in-Suffix los? Eine Zusammenfassung Das in-Suffix übt im heutigen Deutsch unterschiedliche Funktionen aus: als Movierungssuffix und als Kongruenzmarker. Die Kontexte, in denen seine Funktion in der bloßen Kongruenzmarkierung besteht, enthalten meist ein menschlich-

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kollektives, feminines Referenznomen. Diese Strukturen kommen hauptsächlich in öffentlichen, offiziellen, institutionell gebundenen Äußerungskontexten in vornehmlich wissenschaftlichen und politischen Diskursen vor. Die nicht-personenbezogene in-Suffigierung hat den Charakter eines Äußerungsmittels, das in distanzierter Kommunikation (häufig mit asymmetrischer Beziehung zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten) von Personen mit hohem Bildungsgrad verwendet wird. So wird sie bereits von Albrecht Dürer in seinen fachtheoretischen Texten gebraucht, wo er sich an Lehrlinge richtet. Diese Korrelation mit bestimmten Kommunikationssituationen scheint einer von mehreren Aspekten zu sein, die zur Rekontextualisierung des nicht-personenbezogenen in-Suffixes als Marker für geschlechtergerechten Sprachhabitus beitragen (s. Tabelle 4). nicht-personenbezogenes in-Suffix

in-Movierungssuffix

Indexikalisierung: – geschlechtergerechter Sprachhabitus, – liberale politische Einstellung Indexikalisierung: – liberale politische Einstellung der Produzenten/Produzentinnen ! Indexikalisierung: – geschlechtergerechter Sprachhabitus der Produzenten/Produzentinnen ! Kontext: Kontext: – bildungssprachlich, – bildungssprachlich (Universität), – asymmetrische Kommunikationssituation – feministisch korrektes Formulieren (zur Sichtbarmachung von Geschlechter(z.B. Lehrer – Lehrling), kategorien) – öffentlich, offiziell, institutionell gebunden

Tabelle 4: Rekontextualisierung des nicht-personenbezogenen in-Suffixes

Die Rekontextualisierung resultiert aus der Ausweitung der Indexikalisierung, die zunächst das Movierungssuffix -in betrifft. Dieses ist sowohl formal (prosodisch) als auch kognitiv (zur Sichtbarmachung von Geschlechterkategorien) salient; zudem kann seine personifizierende Kraft in allen Kontexten aktualisiert werden. Seine Indexikalisierung zum Marker für geschlechtergerechten Sprachhabitus von vornehmlich gebildeten und liberal eingestellten Personen wurde auf die nicht-

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personenbezogene in-Suffigierung ausgeweitet. Förderlich wirkt hierbei nicht nur die Homonymie, sondern auch der bildungssprachliche Charakter der Strukturen mit nicht-personenbezogenen in-Bildungen. Abschließend können die eingangs genannten Belege als Beispiel für die Rekontextualisierung, d. h. die Übertragung der soziosymbolischen Werte des Movierungssuffixes auf das nicht-personenbezogene in-Suffix, dessen eigene Rekontextualisierung begünstigend wirkt, interpretiert werden.

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Anhang Anhang 1: Akzeptabilitätstest (Begrüßung mit Definition der Aufgabe und Beispiel für ein Blatt)

Anhang 2: Korrekturtest Fragebogen 1: Dieser Text soll als offizielle online-Darstellung der Universität XY dienen. Er ist bestimmt, als Einleitungstext zu Stellenangeboten der Universität zu erscheinen, und steht kurz vor der Veröffentlichung. Lesen Sie ihn bitte aufmerksam durch und schlagen letzte redaktionelle Änderungen vor. Unterstreichen Sie dabei die zu verändernden Stellen und schreiben darüber oder am Rand Ihren Vorschlag. Begründen Sie bitte anschließend Ihre Änderung, indem Sie der Änderung eine Nummer vergeben und zu dieser Nummer in dem freien Kästchen unter dem Text eine Begründung abgeben.

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Stellenangebote und Arbeit an der Universität XY Als eine der größten und modernsten Universtäten Europas, ist die Universität XY eine herausragende Bildung- und Forschungsstätte und mit rund 1500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch ein bedeutender Arbeitgeber. Die Arbeitsbedingungen zeichnen sich aus durch: – flexible Arbeitsmodelle, – ein umfangreiches Weiterbildungsangebot, – Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, – ein gutes Arbeitsklima.

Anhang 3: Assoziationstest In diesem Teil werden Ihnen je zwei Varianten angeboten, die Sie nach Ihrem Sprachgefühl bewerten sollten.

Bitte bewerten Sie die beiden unterstrichenen Varianten des folgenden Satzes. Variante 1: „Die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck tritt als alleinige Eigentümerin bei den Forschungs- und Transfereinrichtungen auf und geht ausschließlich Minderheitsbeteiligungen bei kommerziellen Unternehmen ein.“ Variante 2: „Die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck tritt als alleiniger Eigentümer bei den Forschungs- und Transfereinrichtungen auf und geht ausschließlich Minderheitsbeteiligungen bei kommerziellen Unternehmen ein.“

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Welche Assoziationen haben Sie zu Variante 1? Bitte notieren Sie, was Ihnen spontan einfällt.

Welche Assoziationen haben Sie zu Variante 2? Bitte notieren Sie, was Ihnen spontan einfällt.

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Literaturverzeichnis Primärliteratur Rupprich, Hans (Hrsg.) (1966): Dürer. Schriftlicher Nachlass. Zweiter Band. Die Anfänge der theoretischen Studien/Das Lehrbuch der Malerei: Von der Maß der Menschen, der Pferde, der Gebäude; Von der Perspektive; Von Farben/Ein Unterricht alle Maß zu ändern. Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft.

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Renata Szczepaniak

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Teil 5: Remotivierung – pragmatisch

Gerd Antos

Remotivieren als Perspektivwechsel bei Bedeutungszuschreibungen Wie sich Wörter durch Wahrnehmungsänderungen wandeln Zusammenfassung: Gelegentlich werden Wörter humoristisch, sprachspielerisch oder aus anderen Gründen gezielt verändert. Ziel dieser phonetisch, graphisch oder kontextuell verursachten Verfremdung ist ein neuer Blick auf Wörter und ihre Semantik. Dabei kommen Prozesse der Remotivierung ins Spiel, die zu neuen Bedeutungszuschreibungen führen können, die mitunter sogar gängiges (kollektives) Wissen und Werte zu verändern in der Lage sind. Schlüsselwörter: Remotivieren, Laienlinguistik, Volksetymologie, feministische Linguistik, Rechtschreibreform, Perzeptionslinguistik, Wahrnehmung und Perspektivwechsel, sprachspielerische Prozesse, Bedeutungswandel bei Wörtern

1 Kammbäck? Unter dem Titel Verhairendes Haar-a-kiri. „Headhunter“, „Haarmonie“, „pony & clyde“ – Friseure mögen offensichtlich Wortspiele. Eine Analyse von 22.000 Salonnamen aus ganz Deutschland offenbart die schrägsten Kreationen“ erschien am 12. Januar 2019 ein Spiegel-Online-Artikel (Dambeck & Stotz 2019), in dem eine gängige laienlinguistische Praxis, nämlich das De- bzw. Rekontextualisieren von Wörtern, ein scheinbares „Kammbäck“ feiert. Es handelt sich um einen Wechsel in der kontextualisierten Bedeutungszuschreibung von bekannten Wörtern bis hin zur Kreierung von neuen Wörtern auf der remotivierenden Basis bekannter sprachlicher Einheiten. Voraussetzung dafür ist ein intendierter Perspektivwechsel bzw. eine nahegelegte Wahrnehmungsveränderung auf die lexikalische Performanz von Wörtern in Verbindung mit der Sichtbarmachung von latenten Wissensrahmen und Wertzuschreibungen bestimmter Frames. Hintergrund dieses Perspektivwechsels oder gar -wandelns ist die „Suche nach Sinn oder mehr Sinn bzw. nach Struktur oder mehr Struktur in sprachlichen Äußerungen“. Solche Prozesse gewähren – wie in den angeführten Beispielen des Prof. Dr. em. Prof. h.c. Gerd Antos, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistische Sprachwissenschaft, Luisenstraße 2, 06099 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-009

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Artikels – einen Einblick in das „oft unterschätzte Motiviertheits-Potential sprachlicher Einheiten“ (Harnisch & Trost 2017) und damit auch in die Erzeugung von bislang verborgenem Hinter- und Nebensinn. Dass diese Formen von Bedeutungszuschreibungen mitunter in ein „sinnfrei“ erscheinendes Remotivieren übergehen können, kann – u. a. mit Blick auf den Titel des Artikels Verhairendes Haar-a-kiri – nicht ganz geleugnet werden. Die „Aufdeckung“ eines lexikalischen Neben- oder Hintersinns in Verbindung mit sprachspielerisch motivierten Veränderungen sprachlicher Einheiten scheint – glaubt man dem Artikel mit einer auch quantitativ beeindruckenden Fülle „ungewöhnlicher“ Salonnamen¹ – kein Randphänomen laienlinguistischer Praktiken zu sein. Auch nicht bei Remotivierungen. Denn neue Salonnamen werden in der offensichtlich ökonomisch motivierten Absicht kreiert, eine besondere Aufmerksamkeit bei einem Publikum zu erzeugen. Besonders auffällig sind dabei Salonbezeichnungen, bei denen der Prozess des Remotivierens gleichsam vorgreifend auf neu kreierte Wörter ausgedehnt wird (z. B. Haarem, Kammäleon, Kammpus). Etwas paradox formuliert: Der Prozess des Remotivierens lässt sich auch (vorgreifend) auf sprachliche Einheiten ausdehnen, die nicht zum bekannten lexikalischen Bestand einer Sprache gehören. Betrachten wir diesen Prozess etwas genauer: Grundlage und Ausganspunkt des offenkundig intendierten Perspektivwechsels sind lexikalische Veränderungen auf gängige Bezeichnungen „rund um“ das Schneiden und Frisieren von Haaren. Dies kann einerseits durch phonetische und/oder graphische Veränderungen, aber andererseits auch durch Assoziationshinweise auf andere Frames und deren Wissenskontexte geschehen. Einige dieser sprachspielerischen Perspektivwechsel werden im Artikel durch Gegenüberstellungen von Ausgangs- und Endbezeichnungen illustriert. Dazu einige Beispiele aus dem Artikel: – Haar: Haarwaii, Haarchitekten, Haarem, Haarmonie, Haar-ley, Haarstadt, Krehaartion, Liebhaarber, Mata Haari, Sahaara, Szenhaario, Vielhaarmonie, Vier Haareszeiten  „Wie häufig aber sind die schrägen Kreationen? SPIEGEL ONLINE hat einen Datensatz mit 21.818 Salons aus Deutschland ausgewertet – eine gute Stichprobe der offiziell fast 81.000 Friseurbetriebe hierzulande. Die Daten stammen von OpenStreetMap. Ähnlich wie bei Wikipedia sammeln Freiwillige Informationen für diese öffentlich nutzbare Karte.Vereinzelte Fehler können daher nicht ausgeschlossen werden. Wir haben OpenStreetMap-Daten vom Stichtag 23. Oktober des Kartendienstleisters Geofabrik verwendet und nach dem Marker „hairdresser“ gefiltert. – Die Analyse zeigt: Ja, es gibt tatsächlich eine Vielzahl von mehr oder weniger gelungenen Wortspielen. Knapp acht Prozent der Geschäfte tragen einen Namen, der entweder in die Kategorie Wortspiel fällt oder zumindest als mehr oder weniger kreativer Sprachgebrauch gelten darf – das sind 1718 Läden. Angefangen bei „Atmosphair“ und „Chaarisma“ über „Barberossa“, „Elementhaar“ und „Haar zwei O“ bis zu „Haar-a-kiri“ und „Well-Kamm“. (Dambeck & Stotz 2019).

Remotivieren als Perspektivwechsel bei Bedeutungszuschreibungen



– – – – – – –

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Schnitt: Abschnitt, Mitschnitt, Schicke Schnitte, Schnittchen, Schnitt-echt, Schnittpunkt, Schnittstelle, Sahne-Schnitte, Schnittwerk, Schnittzeiten, Schnittzone Schneiden: FairSchneiden, Schneidbar, Schneideplatz, Schneideraum, Schneiderei, Schneidwerk Kamm: Alpenkamm, Kamm 2 cut, Kamm to style, Kammäleon, Kamm back, Kammbäck, Kamm in, Kammpus, Kämmbar, Kämmerei, Well-Kamm Föhn: Föhnix, Fön-X, Fön-x Cut, Fön und Form, Glatzenföhner, Klön und Föhn Kopf: Doppelkopf, Kopfarbeit, Kopfgärtnerei, Kopfgeld, Kopfkultur, Kopfsache, Kopfsalat, Kopf und Kragen, Kopf sei Dank, Pro Kopf, Reine Kopfsache Locke: Lockenbude, Locken Roll, Lock ’n’ Roll, Lockschuppen, Lockvogel, Rheinlocken, Schillerlocke, Verlockend Welle: Kaiserwelle, Meisterwelle, Wellenlänge, Wellenreiter, Well-Kamm Pony: Ponyhof, Ponylounge, Pony Club, Pony & Clyde, Pony & Kleid

Diese wenigen Beispiele zeigen schon, dass wir es hier mit verschiedenen Typen oder Mustern des Remotivierens zu tun haben: – Klassisches Remotivieren: Dazu zählen Beispiele wie Abschnitt, Mitschnitt, Schneideraum, Kopfsalat, Lockvogel, Verlockend, Wellenlänge, die als remotivierende Formen der „Suche nach Sinn oder mehr Sinn“ gewertet werden können. Gängige Bedeutungszuschreibungen für bestimmte Wörter erhalten durch solche Prozesse der De- und Rekontextualisierung neue Bedeutungszuschreibungen, in denen das Motiviertheits-Potential sprachlicher Einheiten eine zentrale Rolle spielt. – Remotivierung durch Veränderungen der Wortgestalt(en): Das zeigt sich z. B. an Salonnamen wie Haarmonie, die einerseits auf einer gezielt veränderten Schreibung von „Harmonie“ beruhen, andererseits aber die Quellbedeutung von Haar mit einem phonetisch ähnlichen, aber kognitiv völlig anderen Frame, nämlich „Harmonie“, verbinden. – Frameübergreifendes Remotivieren: Besonders auffällig (und wohl auch kontrovers zu bewerten) sind verbale Kreationen wie Kopf sei Dank oder „pony & clyde“. Hier wird der Wissensrahmen eines Filmtitels aus den 80er Jahren zitiert und in Beziehung zum Frisieren gesetzt – ohne dass so recht klar wird, worin diese Verbindung jenseits eines gewissen Gleichklanges beruhen soll – einmal davon abgesehen, dass Wahrnehmende den (alten) Filmtitel überhaupt kennen müssen, um die Verbindung beider Frames überhaupt vollziehen zu können. Bei diesen drei remotivierenden Typen spielen einerseits veränderte perzeptuelle und/oder kognitive Wahrnehmungen eine Rolle, beruhen aber vor allem auf einer

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intendierten Perspektivänderung, die gängige Bedeutungszuschreibungen auf bestimmte sprachlichen Einheiten verändert oder ganz neue kreiert.

2 Zielsetzungen Im vorliegenden Artikel sollen einige Fälle dieser Remotivierungen unter einem bislang eher wenig diskutierten Aspekt diskutiert werden. Es geht um das Erzeugen oder Nahelegen eines semantisch folgenreichen Perspektivwechsels auf Wörter und damit um das sprecher- bzw. schreiberseitige Verändern von Wahrnehmungsperspektiven auf Wörter im Kontext kommunikativer Prozesse. Damit und daraus können neue Bedeutungszuschreibungen entstehen, die gängiges (kollektives) Wissen und Werte zu verändern in der Lage sind. Meine zentrale These dazu: Phonetische, graphische und diskursiv-kontextuell induzierte Prozesse der Remotivierung können kommunikationsrelevante Wahrnehmungs-(ver‐) änderungen auf Wörter auslösen, verstärken oder neue etablieren. Grundlage dieses intendierten Perspektivwechsels ist semantisch eine offenbar intendierte Änderung von Bedeutungszuschreibungen. Darüber hinaus kann diskursiv ein relevanter Mehrwert an Sinn und Bedeutung bei sprachlichen Einheiten erzeugt werden!

Dass sprachliche Performanz ganz entscheidend durch kollektiv fundierte Wahrnehmungsmuster von Formulierungen mitgeprägt ist, ist weder neu noch überraschend. Dennoch zeigen die drei unterschiedenen Typen der Remotivierung, dass sie rückkoppelnd gängige Bedeutungszuschreibungen sowohl vorgreifend als auch längerfristig verändern können. Das wiederum erinnert daran, dass Bedeutungszuschreibungen ganz entscheidend durch soziale und kulturelle Kontexte, durch zeittypische (u. a. politische) Muster oder durch künstlerischästhetische Induktionen der Wahrnehmung geprägt sein können. Das damit ins Spiel kommende „Motiviertheits-Potential sprachlicher Einheiten“ soll mit Blick auf bekannte „öffentlichkeitsrelevante sprachpolitische Konfliktfelder“ (so der an mich gerichtete Auftrag der Veranstalter) in dem vorliegenden Artikel etwas näher betrachtet werden. Im Mittelpunkt sollten dabei – so der Auftrag an den Autor – drei Bereiche vorzugsweise aus der „Laienlinguistik“ und den öffentlichen Diskursen im Vordergrund stehen: (1) Volksetymologie als Sprachtätigkeit der Laien (2) Öffentlicher Disput um die Rechtschreibreform (3) Kontroversen um die feministische Linguistik

Remotivieren als Perspektivwechsel bei Bedeutungszuschreibungen

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Der offenkundige Zusammenhang: Neben Anspielungen, Sprachspielen, fiktional-doppelbödigen Subtexten werden Remotivierungen vor allem durch öffentliche Debatten und Kontroversen über die „richtige Sprache“ oder die „eigentliche“ Bedeutung stimuliert. Hinzu kommt mitunter ein Streit um die Deutungshoheit von Wörtern und damit um Wahrnehmungsgewohnheiten bei sozial relevanten Wörtern. Die ihnen zugrunde liegenden semantisch-pragmatischen Prozesse lassen sich aber auch an sprachspielerischen Formen zeigen, die auf Perspektivwechsel in der Bedeutungszuschreibung von Wörtern beruhen oder diese geradezu herausfordern. Darauf beruht u. a. der Witz bestimmter Witze und Kalauer.

3 Kalauer Welche Rolle die Wahrnehmung sprachlicher Formen beim Perspektivwechsel spielt, soll zunächst an vier Beispielen illustriert werden. Ausgelöst wird dieser Perspektivwechsel durch Witze bzw. Kalauer. In allen vier Fällen geht es um eine diskursive Veränderung von Bedeutungszuschreibungen. Im ersten Beispiel wird dabei die Kommunikationssituation verändert; im zweiten Beispiel eine semantische Kippfigur vorgeführt, danach im dritten Beispiel ein Kontextwechsel und im vierten Beispiel ein spezifischer Codewechsel gezeigt: Beispiel 1: Treffen sich ein Blinder und ein Lahmer. Spricht der Blinde zum Lahmen: „Wie geht es Dir?“. Darauf der Lahme zum Blinden: „Wie Du siehst!“

Bei diesem Witz geht es um eine doppelte Remotivierung durch Berücksichtigung der Wahrnehmungssituation der Kommunikationspartner. „Wie geht es Dir?“ und „Wie Du siehst!“ sind bekanntlich floskelhafte Wendungen. Allerdings: Ausgerechnet einen Lahmen zu fragen, wie es ihm denn gehe, spielt mit einer aus der Volksetymologie und bei Kalauern her bekannten Verwechslung von „Wie geht’s dir“ mit „Wie gehst du?“. Floskeln wortwörtlich zu verstehen, ist auch zweiter Teil des Beispiels: Mit der Wendung „Wie Du siehst!“ einem Blinden nahezulegen, sich selbst ein Bild von der Lage zu verschaffen, provoziert ebenfalls durch seine Paradoxie eine mögliche Remotivierung der bekannten Floskel. Wer also diese Szene real oder im Phantasma an sich vorbeiziehen lässt, wird sich gegen eine De-Idiomatisierung des phraseologischen Charakters dieser Wendungen nur schwerlich wehren können. Die damit ins Spiel gebrachten Dis-

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krepanzen dürften nicht unwesentlich zu dem Witzcharakter dieses Kalauers beigetragen haben. Beispiel 2: Akademische Karriere in drei Worten: Promotion, Habilitation, Rehabilitation!

In diesem Beispiel geht es ebenfalls um eine abrupte Wahrnehmungs- und Interpretationsänderung, die allerdings nicht auf einem Miss- bzw. Falschverstehen, sondern auf der irritierenden Verarbeitung von nicht zueinanderpassenden Wissensrahmen basiert, nicht unähnlich der intendierten Irritation beim Betrachten visueller Kippfiguren. Die Bezugnahme auf Promotion und Habilitation erzeugt zunächst einen weithin nicht unbekannten Kontext. Für Akademiker auf dem Weg zu einer Professur sind beide Leistungsnachweise notwendige Basis einer erfolgversprechenden Karriere. Mit Rehabilitation kommt aber ein ganz anderer Frame ins Spiel. Durch die nachbarschaftlich eng platzierte und zudem ausdrucksseitige Teil-Similarität von Habilitation und Rehabilitation kippt nun Sinn und Semantik der anfänglichen Interpretation um. Zudem wird durch das Kontiguitätsverhältnis von Habilitation und Rehabilitation auf erlittene Schäden beim akademischen Weg nach oben aufmerksam gemacht. Allerdings: Diese semantische Kippfigur erschließt sich nur dem- bzw. derjenigen, der bzw. die intime Einblicke in das universitäre Akademiker-Leben hat bzw. hatte. Beispiel 3: An den Universitäten wird nur Scheinwissen gelehrt! (Peter Sloterdijk)

Gleiches gilt auch für dieses Beispiel. Scheinwissen meint bekanntlich Pseudowissen. Aber ausgerechnet Universitäten die Verbreitung von Pseudowissen zu unterstellen, nur weil seit den Bologna-Reformen an Universitäten das Streben nach Scheinen im Vordergrund steht, ist je nach remotivierender Sichtweise boshaft bis entlarvend. Wie auch immer: Eine Bezeichnung wie „Scheinwissen“ erhält im universitären Kontext damit einen neuen kontext- bzw. diskursspezifisch remotivierten semantischen Mehrwert. Beispiel 4: Liebesgeschichte in drei Wörtern: Renate, Revolte, Relikt.

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Anknüpfend an die literarisch-philosophische Tradition der „Etym-Methode“² (denken Sie an Arno Schmidts Zettels Traum, Sigmund Freud oder Martin Heidegger) geht es hier um ein Remotivierungs-Muster, das auf einem Codewechsel beruht, sogar auf einem doppelten Codewechsel. Eine Liebesgeschichte in drei Wörtern erschließt sich zum einen nur, wenn man zunächst die graphematische Manifestation von Renate, Revolte, Relikt durch einen Codewechsel vom Schriftlichen ins Mündliche ändert. Damit wird es möglich, die geschriebene Vorsilbe „Re“ als „Reh“ zu lesen. Also: Reh nahte, Reh wollte, Reh liegt! Der zweite Codewechsel steht in der Tradition der enthüllenden Etym-Methode von Arno Schmidt unter Bezugnahme auf Sigmund Freud.³ Mit Blick auf diese Beispiele drängen sich für den Prozess des Remotivierens folgende Fragen auf: Wie nehmen wir Wörter/Sprache wahr? Welche über rein perzeptuelle Aspekte hinausreichende Formen der sozial relevanten Wahrnehmung beeinflussen unser sprachbasiertes Kommunikationsverhalten? Welche Rolle spielen dabei insbesondere Perspektivwechsel bei Bedeutungszuschreibungen, etwa bei der Motivierung und Remotivierung sprachlicher Einheiten bzw. bei der Erzeugung von Mehrdeutigkeit?

Anders ausgedrückt: Welcher semantische oder pragmatische Mehrwert wird sichtbar, wenn sich eine usuelle Wahrnehmung auf bestimmte sprachliche Einheiten ändert? Und rückgekoppelt: Wie verändert dieser Mehrwert unsere Sicht und unseren Gebrauch auf Sprache(n)? Und letztlich: Welche Remotivierungen führen am Ende vielleicht sogar zu so etwas wie einem „Sprachverstehenswandel“ und dieser zu semantischer Mehrdeutigkeit?

 „Also das bw spricht Hoch=Worte. Nun wißt Ihr aber, aus FREUD’s ›Traumdeutung‹, wie das ubw ein eigenes Schalks=Esperanto lallt; indem es einerseits Bildersymbolik, andrerseits Wort=Verwandtheiten ausnützt, um mehrere – (immer aber im Gehirn des Wirtstieres engbeieinanderlagernde!) – Bedeutungen gleichzeitig wiederzugeben. Ich möchte nun diese neuen, wortähnlichen Gebilde – die sowohlerzogen der scheinbaren Präzision der Normalsprache dienen; als auch den fehllustig=doppelzüngelnden Amfibolien der ›Hinter‹-Gedanken – ›ETYMS‹ heißen: der obere Teil des Unbewußten: spricht ›Etym‹.“ Kurz gefasst geht es um die These, die Wortwahl fast aller Menschen und speziell eines bestimmten Schriftstellertypus, des „DePe“ – für „D(ichter)=P(riester)“ –, werde bestimmt durch unbewusste sexuelle Triebe, die lautliche Ähnlichkeiten nutzen, um sich unter der Oberfläche scheinbar unschuldiger Formulierungen auszutoben. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe IV, Band 1, 32 © Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld.  Ein mitunter gern zitiertes Beispiel einer Remotivierung findet sich in Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts. Am Beginn des achten Kapitels heißt es da: „so zog ich (zwischen den grünen Bergen und an lustigen Städten und Dörfern vorbei) gen Italien hinunter.“

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4 Theoretische Aspekte Nicht mehr die Theorie der Kommunikation, vielmehr die Theorie der Wahrnehmung als eine Theorie des Erscheinens […] gibt nun den Rahmen konzeptueller Erfassung des Performativen ab; nicht mehr auf das Sagen, sondern auf das Zeigen liegt jetzt das Gewicht. Die Aufmerksamkeit hat sich also vom Kommunizieren auf das Wahrnehmen verschoben. (Krämer 2004: 20)

Diese provokativ erscheinende Akzentverschiebung hat Auswirkungen auf die Einschätzung der kommunikativen Wirksamkeit von Medien – heute insbesondere für die sozialen Netzwerke, die offenbar dabei sind, neue kognitive, aber auch emotionale, soziale und bewertungsrelevante Wahrnehmungsmuster und – kulturen zu etablieren. Der entscheidende Punkt dabei: Anknüpfend an das Diktum von Berkeley (1710) esse est percipi! gilt: Real ist vor allem das, was an Kommunikation wahrgenommen wird. ⁴ Nicht zuletzt die Medialisierung heutiger Kommunikationsformen zeigt: sie besteht nicht nur aus Reden bzw. Schreiben und Hören bzw. Lesen, sondern aus dem pragmatisch folgenreichen Wahrnehmen eines bestimmten z. B. stilistisch geprägten Sprachgebrauchs! Das ist der Gegenstand einer Linguistik der Wahrnehmung. In ihr verschmelzen eine Reihe von Ansätzen. Da ist zum einen die Rückbesinnung auf die sprachliche „Oberfläche“ (Feilke & Linke 2009), u. a. mit der „skriptualen ‚Sichtbarkeit‘“ (Spitzmüller 2013a, 2013b; Dürscheid 2016) mit semiotischen Formen der visuellen Kommunikation (Gebärdensprache, Design, Leichte Sprache, Meme). Die so genannte Laien-Linguistik (Antos 1996) geht einen Schritt weiter und fragt, wie sprachliche Akteure z. B. Dialekte, Fachsprachen, Anglizismen, die Rechtschreibreform oder Gender-Formen wahrnehmen, wie sie darauf sprachlich reagieren und diese Wahrnehmungsformen sozial bewerten und durchzusetzen versuchen. Die so genannte Perzeptionslinguistik rückt neben Sprecherurteilen – etwa bei Mehrsprachigkeit – zunehmend auch Spracheinstellungen samt den ihnen zugrunde liegenden „Sprachideologien“ in den Vordergrund ihres Interesses. In der multimodalen Textlinguistik spielt – denkt man an Chats, nicht-lineare Hypertexte, „Cluster-Texte“ oder Text-Bild-Ton-Kollagen – die Linguistik der Wahrnehmung ebenso eine Rolle wie in der interaktionalen Linguistik, wenn sie, anknüpfend an die so genannte „Bildlinguistik“ (Diekmannshenke, Klemm & Stöckl

 Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit. München, Wien: Carl Hanser.

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2011; Fix & Wellmann 2000), z. B. gepostete WhatsApp-Passagen mit Piktogrammen und Bildern untersucht. Vor dem Hintergrund dieser „Linguistik der Wahrnehmung“ bieten sich die mit der Remotivierung in Zusammenhang stehenden semantischen Perspektivwechsel als Forschungsgegenstand an, und zwar unter drei Aspekten: – Selektion und Perspektivik: Semantische Kippfiguren wie „Forschungsfreisemester“, Schlussstrich! (Fill 2010), Schlagzeilen wie „Tote Hosen in den Dörfern“ (Erlanger Nachrichten, 22.05. 2018), Phraseologismen („Wem das Wasser bis zum Halse steht, sollte den Kopf nicht hängen lassen“) oder Abwandlungen aller Art wie „Grüß Göttin“ an einer Tiroler Autobahn machen deutlich, dass das Remotivierungspotenzial sprachlicher Einheiten von selektiver und anders intendierter und perspektivierter Wahrnehmung abhängt. – Wahrnehmung und Wissen: „Man sieht nur, was man weiß“, so schon Goethe. Heißt: Wahrnehmung beruht ganz wesentlich auf Vorwissen. Und natürlich rückgekoppelt schon etymologisch: Wissen geht auf Sehen zurück. Dieses wechselseitige Zusammenspiel bestimmt auch ganz wesentlich Remotivierung in all ihren Variationen. – Humboldt-Maxime (Keller 2003): Theoretischer Rahmen für die Wahrnehmbarkeit beim Kommunizieren und damit auch für sein Gelingen ist die auf Rückkoppelung basierende Humboldt-Maxime, die fordert, „nicht anders zum Anderen zu reden, als dieser, unter gleichen Umständen, zu ihm gesprochen haben würde“. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Wahrnehmung mit sozialen, kulturellen sowie andere Werteinstellungen eng rückgekoppelt ist – sei es, dass sie Wahrnehmungsfilter verfestigt oder wie in den Sprach-Kontroversen aufbrechen. Bei der Rechtschreibung, der „geschlechtergerechten Sprache“ (Diewald & Steinhauer 2017; Diewald 2020; Eisenberg 2020), der „Leichten Sprache“ (Bock, Fix & Lange 2017; Antos 2017) kommen zwei weitere Aspekte hinzu, die nicht unwesentlich auf z.T. professionell-perspektiviertes Remotivieren beruhen: – Zum einen versuchen Akteure, ihre Wahrnehmung des Deutschen und damit auch ihre gewünschte Wahrnehmung für womöglich alle verbindlich durchzusetzen. – Dies mitunter verknüpft mit der Behauptung oder Unterstellung, dass ihre Sicht der Dinge auf Sprache die einzig richtige sei bzw. dass andere Versionen im Sinne der Sprachkritik problematisch bis falsch oder unangemessen seien. Im Folgenden möchte ich ansatzweise versuchen, einige wenige Einflussfaktoren des Perspektivwechsels und der damit einhergehenden Wahrnehmungsfilterungen daraufhin zu analysieren, ob und in welcher Weise sie Sprachformen oder

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Sprachgebräuche beeinflussen, sie sogar ändern oder gar langfristig musterhaft wandeln (können). Zu diesen Einflussfaktoren zählen u. a. Etymologie, sprachliche Ideologien, sachliche Angemessenheit (in der Fachkommunikation) oder Einstellungen bzw. Wertvorstellungen von Sprecher(gruppen) wie etwa in der Gender-Linguistik.

5 „Eigentlichkeit“ oder: Der Kampf um die „richtige“ Sprache Es ist schon angeklungen: Öffentliche Kontroversen sind kaum erklärbar, würde man nicht das „Verlangen nach Eigentlichkeit“ nach „ontologischer Adäquatheit der Sprache, d. h. nach ihrer sachlichen Richtigkeit, und nach einem Ethos der Kommunikation“ (Gardt 2018: 2) in Rechnung stellen. In seinem Artikel Eigentlichkeit. Eine Universalie der Sprachreflexion hat Andreas Gardt (2018) auf die unterschätzte Rolle der Eigentlichkeits-Ideologie bei linguistischen Kämpfen aufmerksam gemacht. Es beginnt u. a. mit dem durchaus legitimen Wunsch, „die Dinge beim Namen“ nennen zu dürfen. Diese Sehnsucht nach Eigentlichkeit ist „die Sehnsucht nach dem Zustand eines idealen, ursprünglich richtigen Verhältnisses von Sprache, Sprecher und Welt. In diesem Zustand sind die Worte ganz nahe bei den Dingen und der Sprecher ist ganz nahe bei seinen Worten. Wörter, Aussagen und Texte bezeichnen die Dinge so, wie sie tatsächlich sind, und der Sprecher meint genau das, was er sagt“ (Gardt 2018: 2). Damit wird bereits die Ambiguität des Eigentlichkeits-Topos deutlich. Der Gothaer Gelehrte Galetti hat diese Sehnsucht, aber auch die damit verbundene Ambiguität nach Eigentlichkeit entlarvend, womöglich auch karikierend auf die Formel gebracht: Das Schwein trägt seinen Namen zu Recht, denn es ist auch eins! Dahinter steht einerseits das, was Sprache ausmacht: Es ist ein notwendiges Instrument der angemessenen Welterfassung sowie ein Spiegel und Motor sedimentierter kultureller Prozesse. Wenn also jemand fordert, es solle Bürger*innen heißen, dann kann er/sie/es das mit den ‚eigentlich richtigen ontischen Verhältnissen‘ begründen. Es gebe eben faktisch neben Männern, auch noch Frauen und alle möglichen Trans-Personen dazwischen – und zwar gleichberechtigt! Das Eigentlichkeitskonzept kann man aber auch in Anspruch nehmen, wenn man sich auf das System der deutschen Sprache beruft: „Bürger“ ist als generisches Maskulinum im System des Deutschen das ‚eigentlich richtige Wort‘. Allerdings nur im ersten, also im genderspezifischen Fall, kommt es zu einer Remotivierung. Beide Interpretationen laden in naheliegender Weise zu einem

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semantisch-ontologischen Fundamentalismus ein. Gardt beschreibt den Weg zu diesem semantisch-ontologischen Fundamentalismus wie folgt: Das Verlangen nach Eigentlichkeit nimmt also seinen Ausgangspunkt in dem nicht hintergehbaren Wunsch, die Welt und unser Gegenüber durch die und in der Sprache zu erkennen, schlägt dann um in eine ins Irrationale, bisweilen sogar Sakrale ausgreifende Sehnsucht nach einem Punkt absoluter Ruhe, einem Ort jenseits der Geschichte, ohne Wandel, sei es der Sprache oder der Gesellschaft (oder des Volks, der Nation usw.). (Gardt 2018: 2)

Dass sich die Wahrnehmung auf Sprache und damit verbunden auch der Sprachgebrauch bisweilen ändern kann, stimuliert bekanntlich Angst. Es ist die Angst, dass „die ‚eigentlich richtigen‘ sprachlichen Verhältnisse ge- und zerstört [werden] und mit ihnen die Identität der Sprecher gefährdet würden. Es zeigt sich auch in der Kritik an rhetorisch aufwändig gestalteter Sprache, die das ‚eigentlich Gemeinte‘ nicht mehr erkennen lasse, etwa an der Sprache von Politikern, die die ‚tatsächlichen Sachverhalte‘ verschleiere.“ (Gardt 2018: 2) Die Volksetymologie als Sprachtätigkeit der Laien, die öffentlichen Dispute um die Rechtschreibreform oder die Kontroversen um die feministische Linguistik wären m. E. kaum verständlich, wenn es in und mit ihnen nicht um die kritisierten „Gefährdungen des Verhältnisses von Sprache, Sprechern und Welt“ ginge, denen dann durch die eigene Position massiv entgegenzutreten sei. Denn: „Tatsächlich steuert das Konzept unsere Wahrnehmung der Kommunikation anderer wie auch unser eigenes Kommunizieren auf einer sehr grundlegenden Ebene. Erst ab einem bestimmten Punkt gewinnt das Eigentlichkeitsdenken eine ideologische Dimension, die es dem rationalen Diskurs entzieht.“ (Gardt 2018: 20)

6 Volksetymologie: Analogie-, Kurz- und Zirkelschlüsse beim Wahrnehmen Für Ohrenwürmer, mundartlich u. a. auch Ohrkneifer oder Ohrenhöhler, war und ist die synchrone Volksetymologie bisweilen tödlich (Olschansky 1996). Denn allein aufgrund ihrer Bezeichnung (nomen est omen) entstand die Legende, diese harmlosen Tierchen kröchen nächtens heimlich in Ohren und verschafften sich so Zugang zur Schädelhöhle. Niemand hat so etwas wahrgenommen, aber Sprache stimuliert häufig nicht zuletzt durch Analogiebildung auch fatale Kurz- und Zirkel-Schlüsse. So bemühte sich z. B. die Volksetymologie um eine Erklärung, warum Baumwolle eigentlich Baumwolle heißt. Klar – so die zwingend erscheinende Erklärung – weil Schafe gelegentlich auf Bäumen weiden und sich dabei Teile ihrer Wolle im Geäst verfangen.

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Solche fantasievollen Fälle machen auf die Interpretationsbedürftigkeit der Motivierungs- und Re-Motivierungs-Begriffe aufmerksam, mehr noch auf ihre Klärungsbedürftigkeit (Bücker 2018). Re-Motivierungen der exemplifizierten Art zeigen einerseits ein verwirrendes Zusammen- und Verwirrspiel von verwechselnder, analogisierender Wahrnehmung, die andererseits zu umdeutenden bis irreführenden Schlüssen führen können, verbunden und begleitet mit dem Ausblenden, dem Verdrängen oder gar Vergessen von bestimmten (kausalen) Zusammenhängen. Prototypisch für Motivierung scheint daher das Nahelegen und/ oder anstandslose Akzeptieren von analogisierenden, oftmals irrigen Zirkel- oder Kurzschlüssen zu sein.

7 Rechtschreibreform und feministische Linguistik: Die Rolle der Kontiguität Ein weiterer Aspekt einer Linguistik der Wahrnehmung betrifft das Erzeugen von wahrnehmbarer Kontiguität. Hier spielt zum einen das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft hinein: Wer wie bei Wohlstandsmüll (Unwort 1997, vgl. Eroms 2010) arbeitslose Menschen und Müll in einem Atemzug nennt, entsprechend wie bei Ich-AG (Unwort des Jahres 2002, vgl. Eroms 2010) Menschen als Anhängsel der Ökonomie, darf sich nicht wundern, dass solche Nachbarschaftszuschreibungen als etwas Miteinander-Verwandtes wahrgenommen und sprachlich-kognitiv auch so verstanden werden. Das betrifft zum anderen Kontiguitätszuschreibungen wie in den Kontroversen um die Rechtschreibreform der 90er Jahre. Ein typisches Beispiel: Die Schreibung von z. B. Eltern versus Ältern ⁵ erscheint aus einer naiven Wahrnehmungsperspektive wenig motiviert, um nicht zu sagen widersprüchlich. Gleiches scheint für den Schluss von universitären Beurteilungsdokumenten („Schein“) auf „Scheinwissen“ zu gelten. Die Herstellung von Kontiguitäten ist aber nicht nur bisweilen an den „Haaren herbeigezogen“, sondern mitunter auch fatal. Daran hat der israelische Schriftsteller Amos Oz erinnert,⁶ als er auf die Rolle der lautlichen Ähnlichkeit von „Judas“ und „Jude“ im Christentum hingewiesen hat und auf die dabei ausgelösten Assoziationen.

 Eine Auflistung von Rechtschreibreformen im deutschsprachigen Bereich vgl. Martin Schneider (o. J.) sowie die dort angegebene Literatur (http://decemsys.de/sonstig/gesch-rs.pdf; letzter Zugriff 17.09. 2020).  Vgl. Die Zeit: https://www.zeit.de/2017/26/judentum-judas-antisemitismus-amos-oz-interview (letzter Zugriff 17.09. 2020).

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Die feministische Linguistik kennt ebenfalls die Verwirrung, die in der öffentlichen Wahrnehmung aus der Unterstellung einer Kontiguität von Sex und Gender resultieren. Das zeigt sich besonders, wenn etwa in der Presse auf unterstellte Schlussfolgerungen von angeblichen Kontiguitäten angespielt wird, z. B. wenn es in einem genderkritischen Artikel heißt „Wer wird das nächste Bundeskanzler?“⁷. Das zeigt: Das Sichtbarmachen von Welt in Sprache scheint im Sinne des Kontiguität-Konzepts alles andere als „naheliegend“⁸ zu sein, denn solche Nachbarschaftszuschreibungen motivieren oftmals zu Kurz- und Fehlschlüssen, zumindest aber Wahrnehmungstäuschungen.

8 Fazit Kommunizieren besteht nicht nur aus Reden bzw. Schreiben und Hören bzw. Lesen, sondern aus dem Wahrnehmen des Sprachgebrauchs. Sprachliche Debatten gewähren wie Sprachspiele, Kalauer und fiktionale Literatur einen guten Blick in das Motiviertheits-Potential unserer Sprache! Je mehr Spiel, Spaß und Streit, umso eher die Chance auf Remotivierungen! Insbesondere die in ihnen ausgetragenen Kontroversen provozieren jedoch mitunter auch neue Blicke auf eingefahrene kollektive Wahrnehmungsmuster, auf propagierte neue Wahrnehmungsfilter oder gar auf Wahrnehmungsänderung, die zu Veränderungen vor allem in der Schriftsprache führen sollen oder sich bereits durchgesetzt haben. Daher wurden einige Aspekte einer „Linguistik der Wahrnehmung“ skizziert: – Sprache, insbesondere Texte, Diskurse, ja Kontroversen machen sprachlich sedimentiertes Wissen (Antos 2020; Eichinger 2010; Eroms 2010), wenn auch perspektiviert, überhaupt sichtbar! – Aber auch Ähnlichkeiten, Verwechslungen, Analogie-, Kurz- und Zirkelschlüsse – wie z. B. in der Volksetymologie – können Remotivierungen nahelegen oder initiieren und damit ungewohnte Bedeutungszuschreibungen sichtbar machen! Eine besondere Rolle bei der Wahrnehmung spielen Kontiguitäten. Hier ist das „umfassend ausgeprägte Streben der Sprecher nach Motivierung sprachlicher Äußerungen“ (Harnisch & Trost 2017) oftmals nicht intentional, sondern als Nebeneffekt vermeintlicher Verletzungen des Eigentlichkeits-Topos zu verstehen. Ferner: Remotivierung stellt zwar das Unidirektionalitäts-Prinzip in Frage. Aber

 Vgl. Wirz (2018) sowie die Replik von Martin Reisigl (2018) darauf.  Vgl. den aktuellen Disput zwischen Gabriele Diewald (2020) und Peter Eisenberg (2020).

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nicht unähnlich Schwing- oder Pendeltüren in Western-Saloons kommt es jedoch darauf an, aus welcher Perspektive man die Szenerie beobachtet. Ganz gleich, wer denn gerade breitbeinig in solche Saloons eintritt oder in hohem Bogen rausgeschmissen wird, die Türen pendeln und schwingen immer in beide Richtungen – wie beim Motivieren und Remotivieren sprachlicher Einheiten. Immerhin: Sie schwingen und pendeln nicht allzu lange. Denn dieser Prozess des Pendelns, so scheint es, lässt – ebenso wie beim Motivieren und Re-Motivieren – nach einer gewissen Zeit wieder nach.

Literaturverzeichnis Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag. Am Beispiel von Sprachratgebern und Kommunikationstrainings. Tübingen: Niemeyer. Antos, Gerd (2017): Leichte Sprache als Politolekt. Anmerkungen zum Zusammenhang von Verständlichkeit, Fremdheit und Transaktionskosten. In Ulla Fix, Bettina M. Bock & Daisy Lange (Hrsg.), „Leichte Sprache“ im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung, 129–144. Berlin: Frank & Timme. Antos, Gerd (2020): Texte: Modelle der Erzeugung von Wissen. In Gerd Antos (Hrsg.), Wissenskommunikation. Ausgewählte Aufsätze, 269–288. Berlin: Frank & Timme. Bock, Bettina M., Ulla Fix & Daisy Lange (Hrsg.) (2017): „Leichte Sprache“ im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung. Berlin: Frank & Timme. Bücker, Jörg (2018): Volksetymologien. Wortgeschichtliche Spurwechsel zwischen analogischem Wandel und sprachlicher Motivierung. In Konstanze Marx & Simon Meier (Hrsg.), Sprachliches Handeln und Kognition. Theoretische Grundlagen und empirische Analysen, 235–258. Berlin: De Gruyter. Dambeck, Holger & Patrick Stotz (2019): Namen von Friseursalons: Verhairendes Haar-a-kiri (12. 01. 2019). Spiegel Online. https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/friseurehaar-straeubende-wortspiele-mit-hair-kamm-schnitt-cut-a-1243421.html (letzter Zugriff 19. 09. 2020). Diekmannshenke, Hajo, Michael Klemm & Hartmut Stöckl (Hrsg.) (2011): Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin: Erich Schmidt. Diewald, Gabriele & Anja Steinhauer (2017): Richtig gendern. Berlin: Duden. Diewald, Gabriele (2020): ‚Alles ändert sich, aber nicht von allein‘. Eine Standortbestimmung zum Thema geschlechtergerechte Sprache. Der Sprachdienst 1–2/20, 1–14. Dürscheid, Christa (2016): Einführung in die Schriftlinguistik. 5., aktual. u. korrig. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Eichinger, Ludwig M. (2010): „… es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“. Remotivierungstendenzen. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.), Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 59–86. Berlin, New York: De Gruyter. Eisenberg, Peter (2020): Die Vermeidung sprachlicher Diskriminierung im Deutschen. Der Sprachdienst 1–2/20, 15–30.

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Eroms, Hans-Werner (2010): Wörter im Brennpunkt. Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ als Mittel der Fokussierung öffentlicher Diskurse. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.), Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 245–265. Berlin, New York: De Gruyter. Feilke, Helmuth & Angelika Linke (Hrsg.) (2009): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt, 407–427. Tübingen: Niemeyer. Fill, Alwin (2010): De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung als spannende Sprachstrategien. In Rüdiger Harnisch (Hrsg.), Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung, 199–210. Berlin, New York: De Gruyter. Fix, Ulla & Hans Wellmann (Hrsg.) (2000): Bild im Text – Text und Bild. Heidelberg: Winter. Gardt, Andreas (2018): Eigentlichkeit. Eine Universalie der Sprachreflexion. In Martin Wengeler & Alexander Ziem (Hrsg.), Diskurs, Wissen, Sprache. Linguistische Annäherungen an kultur-wissenschaftliche Fragen, 1–24. Berlin, Boston: De Gruyter. Harnisch, Rüdiger (Hrsg.) (2010): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung. Berlin, New York: De Gruyter. Harnisch, Rüdiger & Igor Trost (2017): Beschreibung des Passauer DFG-Projekts „Typologie und Theorie der Remotivierung“. Projektbeschreibung unter: https://www.phil.uni-passau.de/ deutsche-sprachwissenschaft/veranstaltungen-und-tagungen/remotivierung-von-dermorphologie-bis-zur-pragmatik/ (letzter Zugriff 17. 09. 2020). Keller, Rudi (2003): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 3., durchges. Aufl. Tübingen u. a.: Francke. Krämer, Sybille (2004): Performativität und Medialität. München: Fink. Olschansky, Heike (1996): Volksetymologie. Tübingen: Niemeyer. Reisigl, Martin (2018): Neokonservative feuilletonistische Sprachkritik – eine linguistische Replik. https://www.gendercampus.ch/de/blog/post/neokonservative-feuilletonistischesprachkritik-eine-linguistische-replik/ (letzter Zugriff 17. 09. 2020). Schneider, Michael (o. J.): Geschichte der deutschen Orthographie – unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung seit 1994. http://decemsys.de/sonstig/gesch-rs.pdf (letzter Zugriff 17. 09. 2020). Spitzmüller, Jürgen (2013a): Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung. Zur diskursiven Konstruktion sprachideologischer Positionen. Zeitschrift für Diskursforschung 3/2013, 263–287. Spitzmüller, Jürgen (2013b): Graphische Variation als soziale Praxis. Eine soziolinguistische Theorie skripturaler Sichtbarkeit. Berlin, Boston: De Gruyter. Wirz, Claudia (2018): Gendern in aller Herrlichkeit. Die gendergerechte Kommunikation treibt skurrile Blüten. Helvetische Universitäten, eigentlich Horte des freien Denkens und Redens, beugen sich freiwillig dem Diktat der missionarischen Bewegung. Eine Spurensuche (06. 02. 2018). Neue Zürcher Zeitung. https://www.nzz.ch/feuilleton/ gendern-in-aller-herrlichkeit-ld.1353522 (letzter Zugriff 17. 09. 2020).

Simon Meier-Vieracker

Memefication

Rekontextualisierung politischer Rede in digitalen Diskursen Zusammenfassung: Digitale Medien zeichnen sich durch ihre besonderen Möglichkeiten der Rekontextualisierung aus. Dies prägt auch digitale Anschlussdiskurse an politische Kommunikationsakte. Diese werden in Sozialen Medien auf spezifische Weisen thematisiert sowie de- und rekontextualisiert, die als Memefizierungen beschrieben werden können. Der Beitrag führt zunächst einen diskursorientierten Rekontextualisierungsbegriff ein, der solche dynamischen Prozesse zu erfassen erlaubt. Anhand von zwei empirischen Fallstudien zu Rekontextualisierungen politischer Rede auf Twitter, wo die Diskursdynamik empirisch dicht und mit korpuslinguistischen Methoden erfasst werden kann, werden dann die Erklärungspotenziale dieses Rekontextualisierungsbegriffs demonstriert. Abschließend wird dafür argumentiert, dass die diskursorientierte Perspektive auf Rekontextualisierungen die eher lexikonorientierte Perspektive der Remotivierungsforschung sinnvoll ergänzen kann. Schlüsselwörter: Rekontextualisierung, Soziale Medien, Politische Rede, Digitale Diskurse, Remotivierung

1 Einleitung Am 9. Juni 2018 wird auf dem Instagram-Account von Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Foto veröffentlicht, das laut mitgelieferter Bildunterschrift sie und den US-Präsidenten Donald Trump bei einer „spontane[n] Beratung am Rande der offiziellen Tagesordnung“ des G7-Gipfels in Kanada zeigt. Das bei aller angeblichen Spontaneität des Gesprächs wohlkomponierte Foto ist allein auf Instagram mehrere zehntausendmal mit „Gefällt mir“ markiert worden und hat auch sonst in den Sozialen Medien großen Nachhall gefunden. Häufig wurden dem Bild Begleittexte beigefügt, in denen in fingierten Zitaten der nicht kolportierte Inhalt dieser Beratung expliziert wurde, wie etwa in den folgenden Tweets der Autorin Sophie Paßmann (Abb. 1 und 2). Ein ikonisches Foto der Politikberichterstattung wird also durch gezielt abseitige Betextungen mit kindlich-spielerischen Interaktionen in Verbindung geProf. Dr. Simon Meier-Vieracker, TU Dresden, Institut für Germanistik, 01069 Dresden E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-010

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Abb. 1: Paßmann-Tweet 1 (https://twitter.com/sophiepassmann/status/ 1005486567928913921, letzter Zugriff 09. 11. 2021)

Abb. 2: Paßmann-Tweet 2 (https://twitter.com/sophiepassmann/status/ 1005487148714295296, letzter Zugriff 09. 11. 2021)

bracht und so ganz neu kontextualisiert und re-kontextualisiert. Die hier zitierten Tweets sind jedoch nur ein Teil einer sehr viel umfangreicheren, von zahlreichen

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Usern weltweit kollaborativ produzierten Serie,¹ die ihrerseits eine charakteristische Ausprägung internettypischer Remix-Praktiken ist, und sie erhalten ihre kommunikative Funktion erst aus dieser Form der Serialität (vgl. Pauliks 2017) und der serialisierten Rekontextualisierung.² Dass derartige Rekontextualisierungen gerade für digitale Medien charakteristisch sind, wird in vielen neueren medienlinguistischen Forschungsarbeiten betont (vgl. etwa Androutsopoulos 2014; Pfurtscheller 2020, 2023). Die durch die Digitalität selbst begünstigte Möglichkeit, digitale Medieninhalte immer neu zu (re‐)kombinieren, Serien zu bilden, in andere Inhalte einzubetten und zu vernetzen (vgl. Bolter & Grusin 2003: 45; Stalder 2016: 96–101), prägt digitale Medienpraktiken wie Sharings, Embeddings und Rekombinationen von Grund auf. Digitale Medien und Soziale Medien im Besonderen können geradezu als Rekontextualisierungsmedien beschrieben werden (vgl. Jones 2018: 252; Meier & Viehhauser 2020: 7; Bender & Meier-Vieracker 2022: 254). Im vorliegenden Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, wie sich unter den Bedingungen dieser medientypischen Rekontextualisierungsmöglichkeiten politische Diskurse ausprägen und welche Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten der Begriff der Rekontextualisierung für eine an politischen Diskursen interessierte Medienlinguistik hier bietet. Jüngere Forschungsarbeiten zur politischen Kommunikation, die in eine ähnliche Richtung zielen, haben sich oft mit konventionalisierten Internet-Memes in ihrer typischen Struktur als immer neu variierten Sprache-Bild-Texten beschäftigt (vgl. Johann & Bülow 2018; Krieger & Machnyk 2019), die in ihrer kollaborativen Serialität als prototypische digitale Rekontextualisierungsprodukte gelten können. Im vorliegenden Beitrag sollen dagegen Instanzen politischer Rede in den Blick genommen werden, die im Zuge ihrer Thematisierung und Dissemination in den digitalen Medien immer neu deund rekontextualisiert werden und dadurch meme-ähnlichen Charakter im Sinne einer vielfach imitierten und variierten semiotischen Einheit annehmen, ohne dass sie sich jedoch zu konventionalisierten Memes klassischer Prägung verfestigen müssten. Dabei möchte ich zeigen, dass ein diskursorientierter Rekontextualisierungsbegriff, wie er in der Linguistischen Anthropologie ausgearbeitet wurde,

 Einen Überblick gibt etwa https://www.theguardian.com/world/2018/jun/11/g7-photo-oftrump-merkel-becomes-classic-art (letzter Zugriff 09.11. 2021).  Natürlich ist das In-den-Mund-Legen fingierter Zitate mitnichten eine Erfindung der digitalen Medien; es sei hier nur an die Serie „Bonnbons“ des Magazins „stern“ erinnert, in der Fotos von Politiker:innen in satirischer Absicht mit Sprechblasen versehen wurden (vgl. Dieckmann 1998). Typisch für die digitalen Medien ist jedoch, dass sich auch die Nutzer:innen an der Produktion derartiger Serien beteiligen.

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geeignet ist, die in Prozessen der Memefizierung zu beobachtenden diskursiven Verfahren und Effekte zu erfassen. Hierbei spielen pragmatische und konnotative Aufladungen von Äußerungen eine wichtige Rolle, die in anderer terminologischer Tradition bei Harnisch (2010; vgl. auch Harnisch & Krieger 2017) ebenfalls als Rekontextualisierungen im Sinne gebrauchsgebundener Remotivierungen beschrieben werden. Wie sich dieses eher an lexikalischen Einheiten orientierte Rekontextualisierungskonzept der Remotivierungsforschung, das insbesondere auf die Aufladung von Lexemen mit historischem Weltwissen abzielt, zu der hier eingenommenen diskursorientierten und besonders auf digitale Diskurse zugeschnittenen Perspektive verhält, wird abschließend zu diskutieren sein. Im Folgenden möchte ich zunächst den diskursorientierten Rekontextualisierungsbegriff in seinen Grundzügen entfalten und anschließend in zwei empirischen Fallstudien zeigen, wie er die konkrete empirische und korpuslinguistisch gestützte Untersuchung von digitalen Mediendaten anleiten kann und welche Analysemöglichkeiten sich hierdurch ergeben. Schließlich werde ich dafür argumentieren, dass die hier eingenommene diskursorientierte Perspektive auf Rekontextualisierungen die eher lexikonorientierte Perspektive der Remotivierungsforschung sinnvoll ergänzen kann.

2 Rekontextualisierungen im Diskurs So selbstverständlich der Begriff der Rekontextualisierung in medienlinguistischen Arbeiten auch Anwendung findet, so selten wird er ausdrücklich terminologisch eingeführt und theoretisch reflektiert. Zur Klärung des Rekontextualisierungsbegriffs wie auch der text- und diskurstheoretischen Vorannahmen, die mit diesem Konzept verbunden sind, lohnt ein Blick in die Tradition der Diskursanalyse, wo der Begriff der Rekontextualisierung erstmals von Basil Bernstein (1981) eingeführt und mit eben dieser Referenz dann insbesondere in der Kritischen Diskursanalyse aufgegriffen und weiterentwickelt wurde (vgl. Leeuwen & Wodak 1999; zusammenfassend Reisigl 2014). Mit der Fokussierung von Rekontextualisierungen, und das ist das entscheidende Motiv für diese begriffliche Neuprägung, richtet sich der analytische Blick weniger auf einzelne, in sich abgeschlossene Texte. Es interessieren vielmehr, ganz im Sinne der Diskurslinguistik als ‚transtextueller Sprachanalyse‘ (vgl. Spitzmüller & Warnke 2011), die Transformationen sprachlicher Äußerungen über Texte und ihre jeweiligen Kontexte hinweg, in denen die Äußerungen erst ihr jeweiliges Handlungs- und Bedeutungspotenzial entfalten. Empirisch wurde das meist in Diskursanalysen institutioneller Kommunikation umgesetzt, die zeigen, wie flüchtiger und lokal angebundener Diskurs etwa in schulischen Klassenzimmern oder in polizeilichen

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Vernehmungen aus seiner situativen Einbettung herausgelöst und in klar umgrenzte und zeitlich verdauerte Texte, z. B. Zeugnisse oder Asylbescheide transformiert wird (vgl. Mehan 1993; Iedema & Wodak 1999; Leeuwen & Wodak 1999; Sarangi 1998). In ganz anderem Zusammenhang, nämlich der linguistisch-anthropologischen Diskussion um den Aufführungscharakter (performance) von Sprache bzw. Sprechen, haben Bauman und Briggs (1990) unabhängig von Bernstein, aber in großer inhaltlicher Übereinstimmung den Begriff der Rekontextualisierung eingeführt. Rekontextualisierung erscheint hier als Teil des umfassenderen Prozesses der „entextualization“, den sie definieren als the process of rendering discourse extractable, of making a stretch of linguistic production into a unit – a text – that can be lifted out of its interactional setting. A text, then, from this vantage point, is discourse rendered decontextualizable. (Bauman & Briggs 1990: 73)

In ethnographischen Feinanalysen haben Bauman und Briggs und andere in ihrer Nachfolge Praktiken des Re-Zitierens im weitesten Sinne untersucht und dabei auch verschiedene Dimensionen unterschieden, anhand deren De- und Rekontextualisierungen vergleichend untersucht werden können (vgl. Bauman & Briggs 1990: 75–77): Das framing beschreibt die metapragmatische Kennzeichnung des rekontextualisierten Materials; die form beschreibt die ausdrucksseitigen Transformationen bei der Einpassung in neue Kontexte; die function beschreibt die Funktion, die das rekontextualisierte Material im neuen Kontext übernimmt; schließlich werden als translation die durch Medienwechsel bedingten Transformationen gefasst. Rekontextualisierungen bringen also emergente Formen, Bedeutungen und Funktionen hervor, die sich nicht dem ursprünglichen Material selbst zuordnen lassen, sondern in Wechselwirkung mit ihren neuen Kontexten entstehen und ihrerseits neue Kontexte für noch kommende Kommunikation schaffen.³ Beide Traditionslinien, die Kritische Diskursanalyse einerseits wie auch die Linguistische Anthropologie anderseits laufen schließlich in den Arbeiten von Jan Blommaert zusammen, der Fluchterzählungen von Asylbewerber:innen in Belgien untersucht und dabei die sogenannten „text trajectories“ (Blommaert 2005: 62) rekonstruiert, auf deren Wegen durch die Institutionen die Erzählungen immer neu gewichtet und neu kontextualisiert werden. Das Einbringen neuer Deutungsrahmen durch Rekontextualisierungen fasst Blommaert dabei präzisierend als Hinzufügung metadiskursiver Kontexte:  Vgl. hierzu auch Linell (1998: 145): „It is therefore important to consider recontextualizations themselves as co-constitutive of the sense-making practices.“

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‘Original’ pieces of discourse […] are lifted out of their original context and transmitted, by quoting or echoing them, by writing them down, by inserting them into another discourse, by using them as ‘examples’ (or ‘data’ for scientific analysis). This decontextualisation and recontextualisation adds a new metadiscursive context to the text; instead of its original context-of-production, the text is accompanied by a metadiscursive complex suggesting all kinds of things about the text (most prominently, the suggestion that the discourse is indeed a text). (Blommaert 2005: 47, Hervorhebung SMV)

Eine entscheidende Pointe des Rekontextualisierungsbegriffs ist also eine praxistheoretische Problematisierung des Textbegriffs selbst: Texte, so sehr sie als klar umgrenzte und verdauerte Artefakte erscheinen mögen, werden als Produkte von dynamischen und akteursgebundenen Praktiken der sinnstiftenden De- und Rekontextualisierung gedacht (vgl. Silverstein & Urban 1996: 1). Eine wichtige theoretische Vorlage findet dieser praxisorientierte Rekontextualisierungsbegriff in dem schon terminologisch eng verwandten Konzept der Kontextualisierung nach John Gumperz (1982). Kontexte werden in diesem meist gesprächsanalytisch konturierten Theorierahmen nicht als statische, Äußerungen einseitig determinierende Größen aufgefasst, sondern das Verhältnis von Text und Kontext wird als dynamisch und sich wechselseitig beeinflussend konzeptualisiert (vgl. Müller 2020). Der (gesprächs‐)analytische Blick richtet sich demnach auf Verfahren der Kontextualisierung, durch die Kommunikationsteilnehmende, etwa durch den Einsatz metapragmatischer Verstehenshinweise wie Intonation, bestimmte Aspekte des Situationskontextes als Interpretationshintergrund relevant setzen (vgl. auch Gumperz 1992: 230). Diese Verfahren prägen freilich auch zitierende Rede, und Rekontextualisierung ist deshalb immer auch Kontextualisierung. Allerdings rufen die rekontextualisierten Äußerungen, die erkennbar reproduziert und oft auch modifiziert sind, auch über die aktuelle Situation hinausreichende, eben metadiskursive Kontexte als Deutungsrahmen auf. Nun verfügt die Linguistik mit dem Begriff der Intertextualität eigentlich über ein wohletabliertes Konzept zur Beschreibung solcher textuellen Bezugnahmen auf andere Texte. Tatsächlich lässt sich vieles von dem, was empirisch als Rekontextualisierungen beschrieben wird wie etwa Zitate (vgl. Perrin 2015: 14–15), Redewiedergaben (vgl. Günthner 2002) oder Reformulierungen (vgl. hierzu Steyer 1997), als Intertextualität beschreiben. Allein der Rekontextualisierungsbegriff setzt die Schwerpunkte anders, indem er eine dynamischere, akteurszentrierte Sicht auf Intertextualität erlaubt. Im Fokus steht nicht allein die Bezogenheit der Texte selbst, die in der strukturalistischen Texttheorie, der der Intertextualitätsbegriff entstammt, gleichsam als eigenständige Wesen gedacht werden. Vielmehr geht es um Praktiken der Konstruktion von Intertextualität (vgl. Briggs & Bauman 1992: 163; Linell 1998: 156). Der Rekontextualisierungsbegriff nimmt also eine doppelte Erweiterung vor: Der klassische Kontextualisierungsbegriff, dessen

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praxistheoretische Fundierung übernommen wird, wird erweitert, indem über die lokalen Kontexte hinaus der Blick auf situationsüberschreitende, translokale (vgl. hierzu Spitzmüller, Flubacher & Bendl 2017: 9) Kontexte sowie auf metadiskursive Operationen gelenkt wird. Außerdem wird der Intertextualitätsbegriff praxistheoretisch erweitert, indem der Blick auf Praktiken des Rekontextualisierens, ihre Akteure und Institutionen, ihre medialen Prägungen sowie ihre kontextgebundenen Effekte gelenkt wird.

3 Digitale Rekontextualisierung Obwohl das Rekontextualisierungskonzept ursprünglich für analoge und, insbesondere bei Bauman und Briggs, sogar für nicht-mediatisierte Kommunikation entwickelt worden ist, ist es in der Medienlinguistik und insbesondere in der digitalen Medienlinguistik besonders dankbar aufgegriffen worden. Schon Arbeiten zu analogen Medien, etwa zur Zitation mediensprachlicher Versatzstücke im alltäglichen Sprechen (vgl. Spitulnik 1996) oder zur umordnenden Aufbereitung von Interviews in TV-Sendungen (vgl. Ekström 2001) greifen auf den Begriff der Rekontextualisierung zurück. Allerdings sind die Möglichkeiten und Sichtbarkeiten von Rekontextualisierungen in den digitalen Medien gleichsam potenziert. Insbesondere die Sozialen Medien und das Web 2.0, wo Medienproduktion und Mediennutzung zur sogenannten „produsage“ (Bruns 2008) verschwimmen (vgl. auch Marx & Weidacher 2020: 84–90), schaffen mit ihren Verbreitungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten wie auch den entgrenzten Rezeptions- und Kommentierungsmöglichkeiten die Rahmenbedingungen für Rekontextualisierungen (vgl. Meier 2016: 62). Die Affordanzen (vgl. Barton & Lee 2013: 27; boyd 2019) digitaler Medien begünstigen also Rekontextualisierungen, und umgekehrt sind viele digitale Medienpraktiken wie das Teilen, die Einbettung und die auf copy-paste-Verfahren beruhende Rekombination von Inhalten als Rekontextualisierungspraktiken treffend charakterisiert (vgl. Jones 2018: 252). Retweets (vgl. Gruber 2017), dynamische Bildeinbettungen (vgl. Tan et al. 2018), Videozusammenschnitte auf YouTube (vgl. Adami 2014; Meier 2019) oder auch Memes (vgl. Osterroth 2015; Krieger & Machnyk 2019) sind Beispiele hierfür. Aber auch für umfassendere Diskursereignisse wie Wutreden (vgl. Meier 2016) oder Shitstorms (Meier & Marx 2019) kann gezeigt werden, wie gerade die digitalen Medien mit ihren Bearbeitungs- und Verbreitungsmöglichkeiten die Rahmenbedingungen für die Rekontextualisierung dieser Ereignisse bieten, durch welche sie überhaupt erst als abgrenzbare und gattungshafte Diskurstypen erscheinen. In diesem ‚textualisierenden‘ und ‚generifizierenden‘ Moment der digitalen Rekontextualisierungen, das intertex-

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tuelle Bezüge konstruiert und metadiskursive Aufladungen bedingt, bestehen auch in theoretischer Sicht Anschlussmöglichkeiten an das oben entwickelte diskursorientierte Rekontextualisierungskonzept. In zwei Fallstudien möchte ich nun zeigen, welche Perspektiven und Erklärungsmöglichkeiten sich in diesem Rahmen ergeben. Beide Fallstudien nehmen den Ausgang von einem konkreten politischen Diskursereignis. Dessen Rekontextualisierungen in den Sozialen Medien können auch im zeitlichen Verlauf präzise rekonstruiert werden und ermöglichen einen detaillierten Blick auf den Prozess, der hier als Memefizierung (Bulatovic 2019) bezeichnet werden soll.

4 Zwei Fallstudien 4.1 Lieber nicht regieren als falsch Am 19. November 2017 tritt kurz vor Mitternacht der FDP-Vorsitzende Christian Lindner vor die Presse und verkündet den einseitigen Abbruch der mehrwöchigen Sondierungsgespräche für eine mögliche „Jamaika-Koalition“ zwischen CDU/ CSU, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP. Seine Stellungnahme, die er in Teilen von einem handgeschriebenen Zettel abliest, beschließt er wie folgt: Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht verantworten. Viele der diskutierten Maßnahmen halten wir sogar für schädlich. Wir wären gezwungen, unsere Grundsätze aufzugeben und all das, wofür wir Jahre gearbeitet haben. Wir werden unsere Wählerinnen und Wähler nicht im Stich lassen, indem wir eine Politik mittragen, von der wir im Kern nicht überzeugt sind. Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.⁴

Vor allem der letzte Satz in seiner ausgefeilten, aphorismenhaften Struktur ist ganz offenbar geplant und auch mit der Kommunikationsabteilung seiner Partei abgesprochen, denn schon wenige Minuten später dient eben dieser Satz als Überschrift des Facebook-Posts der FDP, der über den, wie es hier heißt, „Ausgang“ der Sondierungen informiert: (1)

Statement von Christian Lindner zum Ausgang der Sondierungsgespräche: ”Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.”

 Zitiert nach https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sondierung-von-fdp-beendet-christi an-lindners-erklaerung-im-wortlaut-15301078.html (letzter Zugriff 09.11. 2021). Im YouTube-Kanal der Zeitung Die Welt ist ein Video der Ansprache zu sehen (https://www.youtube.com/watch?v= IO5VqICoryk; letzter Zugriff 09.11. 2021).

Memefication

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(https://www.facebook.com/fdp/posts/10155905382672250, 23:50)⁵

2017-11-19,

Vor allem aber verbreitet die FDP schon nach einer knappen halben Stunde diesen Satz in leicht modifizierter und graphisch ansprechend aufbereiteter Form über Twitter und verwendet das entsprechende Bild in den folgenden Wochen auch in den Headern ihrer Profile in den verschiedenen Sozialen Medien wie etwa Facebook (Abb. 3 und 4).

Abb. 3: FDP-Tweet (https://twitter.com/fdp/status/932386302414262272, 2017-11-20, 00:13)

Die zunächst flüchtige, in eine konkrete Sprechsituation eingebettete Äußerung wird also dekontextualisiert und in neuer medialer Umgebung und nunmehr in der Funktion eines Mottos rekontextualisiert. Auffällig ist dabei, dass Lindners ursprüngliche Formulierung lexikalisch und syntaktisch in einer Weise modifiziert wird, die man als Anpassung an das für Soziale Medien typische Register der

 Bei Social-Media-Belegen gebe ich hier und im Folgenden einem Vorschlag von Marx & Weidacher (2020: 28) folgend den Zeitstempel an, der auf den exakten Zeitpunkt des Postings verweist. Die (gerade auf Twitter nicht seltene) Löschung oder Sperrung von Accounts hat zur Folge, dass die jeweiligen Postings, die jeweils etwa eine Woche danach erhoben wurden, nicht mehr zugänglich sind. Bei Belegen, die bei der letzten Prüfung am 09.11. 2021 nicht mehr zugänglich waren, wird die URL mit * markiert.

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Abb. 4: FDP-Statusupdate (https://www.face book.com/fdp/posts/10155905474407250, 2017-11-20, 15:32)

konzeptionellen Mündlichkeit beschreiben kann. Die objektiv bewertende Phrase „es ist besser“ wird durch das eher subjektive Präferenzen ausdrückende Adverb „lieber“ ersetzt, und die Wiederholung des Verbs regieren wird analeptisch getilgt. Die Rekontextualisierung geht also mit formaler Anpassung einher (translation im Sinne von Bauman und Briggs (1990: 76)), die auch eine funktionale Anpassung an die neue Kommunikationsumgebung ist. Der erwähnte Tweet sowie die Profilbildänderung, die auf Facebook als eigener Post geführt wird, finden in den Sozialen Medien großen Nachhall, sie werden hundertfach geteilt und kommentiert. Dabei wird der zum Motto erhobene Satz auch weiter variiert. Schon um 00:21 Uhr findet sich die erste lexikalische Variation der Ursprungsformulierung, um 04:59 Uhr die erste Variation der modifizierten Variante mit lieber: (2)

Es ist besser NICHT Wäsche zu waschen, als FALSCH Wäsche zu waschen! (https://twitter.com/user/status/932388299519545344, 2017-11-20, 00:29)

(3)

Montagmorgen 5 Uhr in Deutschland. Das Land hat ein neues Leitmotto, made by Mr.Lindner. Mal sehen wie viele sich heute dran halten. ”Lieber nicht arbeiten gehen als falsch”. #Jamaika #Neuwahlen #Montag (*https://twitter.com/user/status/932458251425406976, 2017-11-20, 04:59)

(4)

Lieber nicht aufstehen als falsch. Lieber nicht Kaffee trinken als löslich. #Jamaika (https://twitter.com/user/status/932483942644580352, 2017-1120, 06:41)

Die ursprüngliche Äußerung wird so aus ihrer eigentlichen situativen und funktionalen Einbettung als Begründung für eine politisch weitreichende Entscheidung herausgehoben und gerade in ihrer Variabilität für neue Verwendungszusammenkontexte und -anlässe geöffnet (vgl. Osterroth 2015: 34). In (3) und (4) bleibt die Äußerung zwar durch die Hashtags #Jamaika und #Neuwahlen, welche den Tweet metapragmatisch rahmen, noch auf die originale Situation bezogen. Dieser Bezug wird jedoch in der Folge weiter gelockert und etwa durch die de-

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onymischen Bildungen Lindnerstyle und gelindnert auf die Person ihres Urhebers reduziert: (5)

„Lieber gar nicht aufstehen als falsch aufstehen.“ Ich. Jeden Morgen im November. #Lindnerstyle #gelindnert (https://twitter.com/user/status/ 933045086316883969, 2017-11-21, 19:50)

(6)

Und der BVB so: Lieber gar nicht Fußball spielen als falsch. #BVBTHFC #gelindnert (https://twitter.com/user/status/933255608710586368, 201711-22, 09:47)⁶

Gerade auf Twitter lässt sich ein sich in höchster Geschwindigkeit vollziehender Prozess der Schemabildung im konstruktionsgrammatischen Sinne (vgl. Schneider 2015) beobachten. Innerhalb kürzester Zeit etabliert sich eine neue Phraseoschablone des Musters lieber nicht VVFIN als falsch, dessen Leerstelle variabel gefüllt (vgl. auch Ziem 2018) und das so immer neu kontextualisiert werden kann. Über die Transposition in einen anderen diskursiven Zusammenhang hinaus kommt es auch zu einer „perpetuierende[n] Aktualisierung“ (Leuschner & Schröter 2015: 165), und die Äußerung kann auf immer neue Realitätsausschnitte bezogen werden. So zeigt eine Erhebung sämtlicher bis zum 22.11. 2017 um 12:00 Uhr abgesetzten Tweets⁷ mit dem Suchmuster „lieber nicht … als falsch“, dass in 408 verschiedenen Tweets (Retweets ausgeschlossen) 108 verschiedene Verben eingesetzt werden. Die häufigsten sind der folgenden Tabelle zu entnehmen (hinzu kommen vereinzelt komplexe Verbphrasen wie das Leergut wegbringen, Zimmer aufräumen oder Selbstkritik üben):

 Mit dem Hashtag #BVBTHFC bezieht sich der User auf das mit 1:2 verlorene Fußballspiel zwischen Borussia Dortmund und Tottenham Hotspur am 21.11. 2017.  Die Daten wurden erhoben mit dem R-Package rtweet (Kearney 2020), dass auf die offizielle Twitter-API zugreift. Den üblichen Beschränkungen der API entsprechend können auf diesem Wege nur Tweets der jeweils letzten sieben Tage erhoben werden. Außerdem ist gerade bei stark frequentierten Hashtags die Menge der hier ausgegebenen Tweets oft begrenzt im Vergleich zur Zahl der tatsächlich abgesetzten Tweets.

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Tabelle 1: Füllwerte für lieber nicht VVFIN als falsch VVFIN regieren

n 

VVFIN

n

VVFIN

n

trainieren



joggen



kopulieren⁸



denken



kommentieren



arbeiten



essen



lieben



wählen



ficken



musizieren



aufstehen



gewinnen



nutzen



arbeiten



reden



parken



twittern



schlafen



reagieren



arbeiten



schreiben



singen



leben



atmen



spielen



reagieren



bezahlen



studieren



fahren



duschen



tweeten



verteidigen



erigieren



verhüten



lernen



erziehen



zähneputzen



drunterkommentieren



helfen



Das originäre Verb regieren ist zwar nach wie vor der häufigste Füllwert für den Infinitivslot des Schemas, und auch das 19-mal verwendete Verb wählen stammt aus der thematischen Domäne der Politik. Ansonsten ist das Paradigma jedoch semantisch völlig disparat, die Äußerung ist für die verschiedensten Lebensbereiche geöffnet und mithin rekontextualisiert. Auch finden sich etwa mit twittern und drunterkommentieren Verwendungen, die in einer für Soziale Medien typischen Reflexivität auf das Medium und auf mediale Praktiken selbst bezogen sind. Nicht zuletzt in dieser Reflexivität zeigt sich ein meme-ähnlicher Charakter des Ausspruchs in seiner rekontextualisierten Form, sind doch auch Memes häufig auf die thematischen Domänen Computer und Internet bezogen. Und dass die Äußerung wie ein Meme funktioniert, also ‚memefiziert‘ wurde, thematisieren auch die Twitter-User selbst, wenn auch, wie in folgendem Beispiel, in falscher Zitation:  Die mit 31 Belegen zweithäufigste Variante Lieber nicht kopulieren geht auf einen Spiegel Online-Artikel gleichen Titels zum Thema #metoo vom 21.11. 2017 zurück (http://www.spiegel.de/kul tur/gesellschaft/sexismus-debatte-muss-der-flirt-gerettet-werden-a-1179493.html; letzter Zugriff 09.11. 2021), der aber abgesehen vom Titel nicht näher auf die Formulierung selbst eingeht.

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(7)

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Und jetzt wird man hier wieder wochenlang mit allen möglichen ”Lieber falsch…als gar nicht…”-Memes überschwemmt. Danke für nichts, @c_lindner. #Jamaika (*https://twitter.com/user/status/ 933286278078062592, 2017-11-22 11:49)

Wie schon erwähnt, werden den Tweets oft Hashtags beigegeben, die sich auf Christian Lindner als den Urheber des Spruchs beziehen, und gerade die deonymischen Bildungen wie das Kompositum Lindnerstyle, der Neologismus lindnern oder auch die komplexe Phrase den Lindner machen (8) sind aufschlussreich. (8)

”Lieber nicht regieren als falsch” Geht mir genauso, liebe FDP. Immer, wenn mir der Unterricht nicht passt, gehe ich einfach nicht raus und sage ”Lieber nicht unterrichtet werden als falsch”. #denLindnerMachen (*https://twitter.com/user/status/932723037429956609, 2017-11-20, 21:31)

Wie Donalies (2016) ausführt, sind deonymische Bildungen wie lindnern als Vergleichsbildungen zu beschreiben, deren Bedeutung mit ‚etwas wie Lindner, in der Art von Lindner tun‘ zu paraphrasieren wäre (vgl. auch Wengeler 2010: 86). Auch Lindnerstyle stellt einen impliziten Vergleich an. Die ohnehin schon abgewandelte Äußerung wird damit als Vertreter einer (freilich fingierten) Gattung behandelt und schon deshalb in einen weit über das ursprüngliche Redesetting hinausreichenden Rahmen gesetzt. Es kann nunmehr alles Mögliche in der Art von Lindner getan werden, wenn es sich nur in die Form lieber nicht VVFIN als falsch bringen lässt. Eben diese durch die Hashtags indizierten Vergleiche treiben also die Rekontextualisierung weiter voran. Eine Auszählung der Hashtags im untersuchten Datenset zeigt, dass diese Hashtags auch durchaus häufig sind: Tabelle 2: Hashtags Hashtag

n

#jamaikaabbruch



#fdp



#jamaika



#lindner



#neuwahlen



#jamaikaaus



#nojamaika



#lindnerstyle



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Tabelle : Hashtags (Fortsetzung) Hashtag

n

#lindnern



#bvbthfc



#fdpexit



#nomaika



#spd



#gelindnert



Der zunächst durch einzelne User angestoßene Trend wird schon bald von professionellen Medienbetreibenden aufgegriffen. Schon am Nachmittag des Tages nach Lindners ursprünglicher Stellungnahme wird in der Social Media App jodel.com auf dem zugehörigen Facebook-Account eine Zusammenstellung der „besten Jodel zu #gelindnert und #Lindnerstyle “ gepostet wie etwa: (9)

Lindners WLAN so: Lieber gar keine Verbindung als eine schlechte Verbindung. #Lindnerstyle (https://www.facebook.com/jodel/posts/ 1996794793869389, 2017-11-20, 14:37)

Und in den ca. 4.000 Kommentaren des Posts⁹ finden sich abermals zahlreiche, dem üblichen Klientel der App entsprechend an schulische bzw. universitäre Kontexte angeschlossene Varianten wie „lieber gar nicht zur vorlesung gehen, als falsch zur vorlesung zu gehen“. Die in der Zusammenstellung bereits angedeutete Schematizität und Variabilität wird also kollaborativ fortgeschrieben. Nochmals einen Tag später wird auf jodel.com auch eine an lexikographische Traditionen angelehnte Definition des Verbs lindnern gepostet, und das Wort wird als „Jugendwort des Jahres 2018“ vorgeschlagen: „lindnern“, Verb, {lind | nern}, be(10) Jugendwort des Jahres 2018 schreibt das Zurückziehen von einer gemeinsam geplanten Gruppenaktivität zum spätmöglichsten Zeitpunkt, Bsp.: Urlaub, Party, Treffen, Essen […]. (https://www.facebook.com/Jodel/posts/1997167853832083, 2017-11-21, 10:03) Durch den Verweis auf die seit 2008 durch den Langenscheidt-Verlag ausgetragene Kür des Jugendwortes des Jahres – deren Status als Werbeaktion, die über

 Die Kommentare wurden mit der App netvizz (Rieder 2013) erhoben.

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den tatsächlichen Status von Jugendsprache kaum etwas aussagt, gemeinhin bekannt sein dürfte – wird Lindners eigentlich politisch motivierter Ausspruch abermals rekontextualisiert. Gewissermaßen lexikographisch legitimiert wird er für außerpolitische Alltagssituationen geöffnet.¹⁰ Auch in den über 20.000 Kommentaren zu diesem Post werden dementsprechend verschiedene mögliche Verwendungskontexte skizziert wie etwa „wenn man um 09 Uhr verabredet ist und gegen 12 dann die Absage kommt“ oder „wenn man merkt dass der Kater doch größer ausfällt als erwartet und man spontan ‚krank‘ ist“. Es handelt sich also zumeist um Verwendungskontexte, die Ausreden erforderlich machen, und die schematische Formulierung lieber nicht VVFIN als falsch wird als lebensweltlich relevante und deshalb pragmatisch verfestigte Routineformel (vgl. Burger 2015) für diesen Situationstyp verhandelt. Der parodistische Definitionsversuch wird in der Folge auch von den Social Media Accounts verschiedener klassischer Medienstationen aufgegriffen, und am 23.11. 2017 produziert schließlich auch das TV-Satiremagazin Extra 3 einen kurzen Clip mit mehreren kurzen Szenen wie der folgenden, die einem spielanschließenden Fußballinterview nachempfunden ist:¹¹ (11) Journalistin: Der HSV verliert schon wieder zweistellig und alle fragen sich: Warum lassen Sie als Torwart jedes Ding durch? Fußballspieler: Ja gut ich finde, es ist besser, nicht zu parieren als falsch zu parieren – ich lindner jetzt. Der Status als schematische und für verschiedenste Kontexte verfügbare Routineformel für Ausreden wird so weiter konsolidiert. Obwohl aber Lindners ursprüngliche Formulierung in diesem Spiel der kollaborativen Variation und Memefizierung aus ihrem ursprünglichen Redesetting herausgelöst und an neue Kontexte angeschlossen wird, bleibt sie, allein schon durch den Aufruf des Namens Lindner im Deonym lindnern, letztlich doch immer an das ursprüngliche Redeereignis in seinem Status als politischer Akt gebunden. Die Rekontextualisierung wird als metadiskursive Operation (vgl. Blommaert 2005: 47) gerahmt und die Diskurskonstellation der politischen Auseinandersetzung um die Regierungsbildung wird als relevanter Interpretationshintergrund mit aufgerufen. Noch die scheinbar entlegensten Varianten ohne erkennbaren politischen Bezug sind also immer auch – zumeist kritische – Kommentare zu Lindners Äußerung als politischer Akt. Explizit wird dies in den zahlreichen  Mit wulffen (‚jmd. die Mailbox vollquatschen‘) und merkeln (‚nichts tun‘) sind auf Politiker_innen anspielende Deonyme schon in früheren Jahren in die engere Auswahl zum Jugendwort des Jahres gekommen.  https://www.youtube.com/watch?v=acQsfyBjw5k (letzter Zugriff 09.11. 2021).

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Kommentaren zu den erwähnten Facebook-Posts von jodel.com, die den politisch relevanten Topos der Verantwortung aufrufen – Verantwortung, aus der sich Lindners bzw. seine Partei gezogen habe: (12) Lindnern = […] Sich aus dem Staub machen, weil man Angst vor Verantwortung hat u. die Aufmerksamkeit Dritter braucht wie die Luft zum Atmen u. sie darum nicht teilen kann. (Kommentar zu https://www.face book.com/Jodel/posts/1997167853832083, 2017-11-22, 07:17) In Anlehnung an Lindners Äußerung selbst heißt es in folgendem Kommentar: (13) Lieber schicke Wahlplakate machen als Verantwortung zu übernehmen (Kommentar zu https://www.facebook.com/Jodel/posts/ 1997167853832083, 2017-11-22, 13:55) Noch in einem anderen scherzhaften Definitionsversuch von lindnern auf der Internetseite Bedeutung online wird der Bezug zum Topos der Verantwortung lexikographisch fixiert: „Aus Angst etwas schlecht oder falsch zu machen, wird lieber gar nichts gemacht. Damit wird auf Handeln sowie Verantwortung verzichtet, um Fehler zuvermeiden [sic!].“¹² Gerade vor dem Hintergrund des sich in den Augen der Öffentlichkeit quälend langsam vollziehenden und die Politik insgesamt scheinbar lähmenden Prozesses der Regierungsbildung in dieser Zeit darf auch das als politischer Kommentar gelesen werden. Anhand dieser Fallstudie kann man also nachvollziehen, wie ein vermutlich wohlüberlegter, zur Rechtfertigung einer politischen Entscheidung getätigter Ausspruch innerhalb kürzester Zeit, und maßgeblich vermittelt durch die Social Media Adaption der FDP selbst, zu einem polyfunktionalen Schema wird, das als Schema dekontextualisiert ist, in verschiedene Kontexte übertragen und einem Meme vergleichbar immer neu rekontextualisiert wird. Zusätzlich vorangetrieben wird die Rekontextualisierung durch Hashtags wie #lindnern – einerseits sprachlich, indem die Hashtags durch den Wortbildungstyp des Deonyms Vergleiche indizieren, andererseits aber auch technisch, indem sie über die Hyperlinkfunktion tatsächlich das Springen in andere Kontexte ermöglicht (vgl. Müller 2020: 52). Die Schemainstantiierungen bleiben aber nicht zuletzt durch die Hashtags an das ursprüngliche Redeereignis gebunden. Die Rekontextualisierung wird als metadiskursive Operation gerahmt und bezieht hieraus ihre Funktionalität.

 https://www.bedeutungonline.de/lindnern-verb/ (letzter Zugriff 09.11. 2021).

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4.2 Vogelschiss Am 2. Juni 2018 hält Alexander Gauland, damals Parteivorsitzender der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD), eine Rede beim Bundeskongress der „Jungen Alternative“ in Eisenach. Die Rede, die thematisch im Wesentlichen vom Verhältnis von Integration und „deutscher Kultur“ handelt, ist vor allem wegen der folgenden Passage berühmt geworden:¹³ Wir haben eine ruhmreiche Geschichte, daran hat vorhin Björn Höcke erinnert. Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre ((Applaus und Jubelrufe)). Und nur wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die 12 Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahre [sic!] erfolgreicher deutscher Geschichte. ((Applaus))

Die Passage ist in den Medien vielfach besprochen und auch von Expert:innen etwa aus Politik- und Geschichtswissenschaft oft auf ihren relativierenden und revisionistischen Charakter hin kommentiert worden (vgl. etwa Hoffmann 2019). Hier soll es aber nicht primär um ihre exegetische Deutung gehen. Es soll der phraseologisch perspektivierte Hinweis genügen, dass Vogelschiss wohl als modifizierende Variante zum figurativen Ausdruck Fliegenschiss (etwa sich über jeden Fliegenschiss ärgern) in seiner Bedeutung als ‚Kleinigkeit‘ zu verstehen ist – ich komme auf diesen Punkt zurück. Im Folgenden geht es mir vor allem um den Nachhall, den die Passage bzw. ihre medialen Disseminationen in den Sozialen Medien und auch hier insbesondere auf Twitter gefunden haben und welche Rekontextualisierungen des ursprünglichen Redeereignisses hier zu beobachten sind. Dazu wurden am 8. Juni 2018 sämtliche verfügbaren Tweets mit dem Suchwort Vogelschiss erhoben (insgesamt 13.433 Stück ohne Retweets). Die überhaupt erste mediale Reaktion auf die Rede ist der folgende Tweet der Deutschen Welle: (14) „Hitler und die Nationalsozialisten sind nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, sagt #AfD-Chef Alexander

 Das Redemanuskript hat Alexander Gauland später auf der Homepage der AfD veröffentlicht (https://www.afdbundestag.de/vollstaendige-rede-dr-alexander-gaulands-vom-02-juni-2018/; letzter Zugriff 09.11. 2021). Das gesprochene Wort weicht vom Manuskript in einigen nicht unwesentlichen Details ab, deshalb wird hier ein Videomitschnitt der Rede zitiert, der indes nur die betreffende Passage umfasst (https://www.youtube.com/watch?v=78spEzkbUAM; letzter Zugriff 09.11. 2021).

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#Gauland beim Treffen der #JA in #Thüringen. (https://twitter.com/dw_ politik/status/1002864963478843392, 2017-06-02, 12:50) Wenige Minuten später zitiert die damalige Generalsekretärin der CDU Annegret Kramp-Karrenbauer diesen Tweet und fügt folgenden Kommentar¹⁴ an: (15) 50 Mio. Kriegsopfer, Holocaust und totaler Krieg für AfD und Gauland nur ein ”Vogelschiss”! So sieht die Partei hinter bürgerlicher Maske aus. (https://twitter.com/akk/status/1002874023716454400, 2018-06-02, 13:26) Bemerkenswert an diesem Tweet ist nicht nur die metonymische Umdeutung der personifizierenden Formulierung „Hitler und die Nationalsozialisten“ in die durch diese verschuldeten „50 Mio. Kriegsopfer, Holocaust und totaler Krieg“, die dann in ungleich krasserem Wiederspruch zu der mit „Vogelschiss“ angedeuteten Einordnung als Kleinigkeit steht. Aufschlussreich ist auch die Eingrenzung des Zitats auf das Wort Vogelschiss. Schließlich wäre auch die ganze Phrase „nur ein Vogelschiss“ eine direkte Redewiedergabe, und gerade das einschränkende Adverb nur bringt doch jene Relativierung zum Ausdruck, die hier angeprangert werden soll. Es scheint, als würde Kramp-Karrenbauer vorgreifend das Wort Vogelschiss als emblematisch für die gesamte Rede auffassen, als jenen Ausdruck, in dem sich der ganze Diskurs um eine für rechte Parteien typische Relativierung der Naziverbrechen verdichten wird. Und tatsächlich wird die gesamte Rede bis heute vielfach als „Vogelschiss-Rede“ bezeichnet. In der medialen Logik von Twitter äußert sich dies auch darin, dass Vogelschiss schon nach wenigen Minuten zu einem Hashtag #Vogelschiss wird (vgl. 16) und entsprechend von den User:innen selbst als verdichtendes Schlagwort (vgl. Schröter 2011) aufgefasst wird. (16) Nun, damit räumt er immerhin ein, dass es den #Holocaust gegeben haben könnte. Für einen #AfD’ler fast schon verwerflich. #gedeon u.v.a. #noafd #nonazis #Vogelschiss (https://twitter.com/user/status/ 1002876787725078528, 2018-06-02, 13:37) Allein in den folgenden fünf Tagen wird dieser Hashtag ca. 5.500-mal gesetzt (Retweets ausgeschlossen). Das Setzen dieses Hashtags reicht bereits, um die

 Twitter sieht zwei Varianten des Retweetens vor: a) den direkten Retweet, der den originalen Tweet mit dem systemgenerierten Zusatz „xy hat retweetet“ in den Timelines erscheinen lässt und b) den kommentierten Retweet, im Jargon auch „Drüko“ für ‚Drüberkommentieren‘ genannt, in dem der originale Tweet eingebettet erscheint und somit zitiert wird (vgl. Gruber 2017; Pfurtscheller 2023).

Memefication

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Rede und die darin zum Ausdruck kommende Relativierung der Naziverbrechen auch ohne direktes Zitat aus der Rede aufzurufen, und zwar insbesondere zum Zweck der Kritik und der Empörung. Dies lässt sich etwa an der folgenden Auszählung der häufigsten Hashtags im gesamten Datensatz ersehen, die zeigt, dass die Thematisierung des Lexems Vogelschiss typischerweise im AfD-kritischen Kontext geschieht:¹⁵ Tabelle 3: Hashtags n

Hashtag



vogelschiss



gauland



afd



noafd



nonazis



fckafd



merkel



vogelschiß



bamf



fcknzs



nazi



holocaust



nazis



deutschland



vogelschissgate



hartaberfair



esreicht



badehose



hitler

 Die Frequenz des Hashtags #hartaberfair erklärt sich durch die Entscheidung der ARD, aus Anlass der hier thematisierten Rede Alexander Gauland fortan nicht mehr in die Talkshow „Hart aber fair“ einzuladen.

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Tabelle : Hashtags (Fortsetzung) n 

Hashtag niewieder

Die Aufstellung zeigt, dass das Lexem Vogelschiss zum einen erwartungsgemäß mit dem Redner Gauland und seiner Partei, der AfD, in Verbindung gebracht wird. Zum anderen wird es aber auch mit typischen AfD-kritischen Slogans (#noafd, #fckafd sowie der ausdrücklich gegen rechte Hetze im Netz gerichtete Hashtag #esreicht) bis hin zu antifaschistischen Wahlsprüchen wie #niewieder kommentiert. Zudem wird, wie bereits in Kramp-Karrenbauers Tweet, durch den Hashtag #holocaust häufig eine explizierende Umdeutung der durch Gauland angesprochenen Nazis hin zu den durch sie verschuldeten Verbrechen vorgenommen. Diese Verschiebung wird oft auch durch die Bebilderung der Tweets zusätzlich gestützt, wie etwa im folgenden Tweet, in dem der antifaschistische Aufruf durch Bilder der kriegszerstörten Stadt Dresden unterstrichen wird (Abb. 5).

Abb. 5: Vogelschiss-Tweet (http://twitter.com/user/status/1003376971114524676, 2018-0603, 22:44)

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Gezielt wird also die verharmlosende und relativierende Rede von Vogelschiss in sprachliche und bildliche Kontexte gestellt, die eben diese Verharmlosung überhaupt erst deutlich werden lassen. Dabei wird das Lexem aus den zu Beginn noch überwiegenden Zitatkontexten herausgelöst und steht auch nicht mehr nur synekdochisch für das konkrete Ereignis von Gaulands Rede, sondern wird zum Symbol für die Frage nach dem richtigen (und im Fall Gauland eben falschen) Umgang mit der Nazidiktatur erhoben. Und so lässt sich in den Tweets, gerade im zeitlichen Verlauf, auch beobachten, wie der Ausdruck Vogelschiss zunehmend auch andere und abstraktere Gebrauchskontexte indiziert (vgl. Leuschner in diesem Band). Dabei wird nun auch der Umstand relevant, dass es sich bei Vogelschiss um eine Modifikation der figurativen phraseologischen Komponente Fliegenschiss handelt, denn der Ausdruck selbst wird auf verschiedene Weise produktiv gemacht – er wird de-idiomatisiert (vgl. Fill 2010; Harnisch & Krieger 2017: 77–78) und mithin remotiviert. So wird in folgendem Tweet durch die Text-Bild-Kombination und die direktionale Phrase auf Dresden, die in der phraseologisch gebundenen Variante sozusagen blockiert wäre, der Vogelschiss als das Zerstörung Bringende umgedeutet und in assoziative Nähe zu den Luftangriffen im Februar 1945 gerückt (Abb. 6):

Abb. 6: Vogelschiss-Tweet (https://twitter.com/user/status/1004309503590981633, 2018-0606 12:30)

Eine Übertragung in eine andere phraseologische Einheit lässt sich dagegen im untenstehenden, in vergleichbaren Formen gleich mehrfach abgesetzten Tweet beobachten. Doch auch dort wird zumindest die Komponente Vogel- remotiviert und für die Rahmung von Gaulands Äußerung als (Neo‐)Nazi-Jargon nutzbar gemacht (Abb. 7).

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Abb. 7: Vogelschiss-Tweet (https://twitter.com/user/status/1002927291264131077, 2018-0602, 16:57)

Anspielungen auf den hier aktualisierten Phraseologismus ins Hirn geschissen finden sich auch in anderer Form an vielen Stellen im Korpus: (17) Der einzige Vogelschiss den ich in Deutschland ausmachen kann, befindet sich in den Köpfen von #Gauland und seinen Kameraden der (https://twitter.com/user/status/ #Afd … #fcknzs 1003195182332940288, 2018-06-03, 10:42) In Anspielung auf die AfD-Politikerin Beatrix von Storch ist außerdem vielfach von „Storchenschiss“ die Rede, wie etwa im folgenden Tweet, dem ein Link zu einem YouTube-Video eines defäkierenden Storches beigegeben ist: (18) #Vogelschiss – Allerdings von Frau Storch :-D #noafd #storchenschiss (https://twitter.com/user/status/1003166925797683200, 2018-06-03, 08:50) Die Assoziationspotenziale des Lexems Vogelschiss werden also gewissermaßen spielerisch ausgelotet und durchvariiert, wie es sich typischerweise auch bei Memefizierungen beobachten lässt. Die zu Beginn zumeist aufgerufene Empörung um die Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus rückt dabei oft in den Hintergrund zugunsten eines undifferenzierten, aber eben den Ausdruck Vogelschiss remotivierenden Protests gegen die AfD. Doch auch bei subtileren Formen der Kritik finden sich ähnliche sprachliche Verfahren. Nachdem Alexander Gauland einige Tage nach seiner Rede beim Baden in einem See in der Nähe seiner Wohnung die Kleidung gestohlen wird und er nur mit einer Badehose bekleidet

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nach Hause gehen muss,¹⁶ wird auf Ebay seine angebliche Hose zum Verkauf eingestellt, „ohne Vogelschiss“, wie es im Beschreibungstext formuliert wird (Abb. 8).

Abb. 8: Vogelschiss-Tweet (https://twitter. com/user/status/1004994898456694784, 2018-06-08, 09:53)

Das nicht unrealistische Szenario, dass am Badesee abgelegte Kleidung durch Vogelkot verunreinigt wird, wird hier für eine ausgesprochen voraussetzungsvolle und metadiskursiv aufgeladene Form der Satire genutzt. Im Diskursverlauf, wie er sich im Spiegel der zum Thema abgesetzten Tweets darstellt, ist zudem zu beobachten, dass in die durch den Ausdruck Vogelschiss indizierten Kontexte auch die Debatten um den Ausdruck selbst eingehen. Es zeigt sich als Effekt der laufenden Rekontextualisierungen ein Reflexivwerden des Diskurses, das sich auch sprachlich niederschlägt. Als Beispiel kann der im Korpus 132-mal verwendete Ausdruck Vogelschissgate genannt werden, der sich bei näherer Prüfung fast immer als apologetisch erweist. Mit diesem AdhocKompositum wird der inzwischen etablierten Semantik des Konfix -gate entsprechend die Debatte um den Ausdruck Vogelschiss als ein eigentlich trivialer und medial aufgebauschter Skandal (vgl. Flach, Kopf & Stefanowitsch 2018: 242; siehe auch Michel in diesem Band) gerahmt. Der ganze Diskurs wird damit in eine

 Dieser Vorfall begründet auch die Häufigkeit des Hashtags #badehose im Korpus.

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Reihe mit anderen trivialen Skandalen wie dem Dirndlgate gestellt und, wie in folgendem Tweet, als aus politischem Kalkül heraus inszenierte Hysterie gerahmt: (19) @Juergen_Fritz @teite99 @AfD Nun,Herr Fritz, ein Nazi hätte seine geliebten 12 Jahre und den Gröfaz wohl kaum als #Vogelschiss tituliert. Von daher hat Herr #Gauland alles richtig gemacht. Wenn linksgrünes Geschrei & Weinen sich gelegt haben, wird die #AfD noch besser als zuvor dastehen. #Vogelschissgate (https://twitter.com/user/status/ 1003228611174977536, 2018-06-03, 10:55) Zur Begründung solcher Einschätzungen wird dabei interessanterweise oft auf den Wortlaut der Rede und den ursprünglichen Kontext des Zitats verwiesen: (20) Am [sic!] alle die jetzt die Empörten spielen, die den Verleumdungen der Medien glauben oder die einfach unwissend sind. Bitte bilden Sie sich selbst eine Meinung und lesen Sie #Gauland|s #Fliegenschiss Rede im Ganzen und Kontext! #Vogelschiss #Vogelschissgate (*https://twitter. com/user/status/1003367543476768768, 2018-06-03, 20:07) Die vielfache Rekontextualisierung des Zitats wird also, dem verbreiteten Topos des ‚aus dem Kontext gerissenen‘ Zitats entsprechend, als verfälschend dargestellt. Sozusagen gegensteuernd zu der Herauslösung des Lexems aus dem ursprünglichen Redekontext und zu der metadiskursiven Aufladung hin zu einem diskursverdichtenden Schlagwort (die eben als unzulässige Skandalisierung kritisiert wird) wird auf den vermeintlich ursprünglichen Sinn verwiesen. Oft wird dabei eine vermeintliche Kernbedeutung des Wortes Vogelschiss als Begründung angeführt. So wird in folgendem Tweet ein Zeitungsbericht über die Kritik von Gaulands Rede als „zynisch und geschichtsvergessend“ seitens der Partei Die Linke und ihres parlamentarischen Geschäftsführers Jan Korte verlinkt und so kommentiert: (21) Klar Hr Korte ! Hr Gauland bezeichnete d Hitlerzeit als Vogelschiss,mE ist es 1,als Zeitbegrenzung auf gesamte deutsche Geschichte bezogen u 2,bedeutet ein Vogelschiss immer etwas negatives/verursacht Ärger-gegen was wird denn nun eigentlich protestiert (https://twitter. com/user/status/1003255568075837441, 2018-06-03, 12:42) In auffälliger Vernachlässigung der phraseologischen Bedeutung von Vogelschiss als ‚Kleinigkeit‘, also wiederum in einem Akt der De-Idiomatisierung werden Eigenschaften des Denotats herangezogen, was dann auch den eigentlichen Sinn von Gaulands Äußerung restituieren soll. Ganz in diesem Sinne hat übrigens auch Gauland selbst in einer Stellungnahme seine Rede von Vogelschiss verteidigt:

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Ich habe […] meine tiefste Verachtung für den Nationalsozialismus mit einem Sprachbild zum Ausdruck gebracht, das für Missverständnisse sowie für Missdeutung gesorgt hat. Vogelschiss ist und bleibt für mich der letzte Dreck. Ein kreatürlicher Auswurf, mit dem ich den Nationalsozialismus verglichen habe. Ich muss aber zur Kenntnis nehmen, dass viele in dem Begriff eine unangemessene Bagatellisierung gesehen haben. Nichts lag mir ferner als einen solchen Ausdruck entstehen zu lassen, was sich aus dem übrigen Teil der Rede auch zweifelsfrei ergibt. […]¹⁷

Dass auch diese Deutung eine Herauslösung des Lexems Vogelschiss aus ihrer phraseologisch gebundenen Form voraussetzt, und mithin kaum den wie auch immer gearteten ‚eigentlichen‘ (vgl. Gardt 2018) Sinn dieses Ausdrucks trifft, bleibt hierbei unerwähnt. Anhand dieser Fallstudie lässt sich also nachvollziehen, wie eine Äußerung aus dem Kontext einer politischen Rede herausgelöst, in den digitalen Medien rekontextualisiert und dabei auf ein den ganzen Diskurs repräsentierendes Schlagwort hin verdichtet wird. Dient der Ausdruck Vogelschiss zunächst noch zur verkürzenden Bezugnahme auf Gaulands Rede, der der Ausdruck entstammt, wird er zunehmend in abstraktere Kontexte gestellt und etwa für allgemein gegen rechte politische Positionen gerichteten Protest oder auch Satire genutzt. Diese Rekontextualisierungen finden ihren sprachlichen Ausdruck auch in neuen kotextuellen Einbettungen wie auch in Text-Bild-Kombinationen, die den Ausdruck bzw. seine Komponenten selbst produktiv machen und mithin remotivieren. Schließlich wird die metadiskursive Aufladung, welche der Ausdruck Vogelschiss durch diese Rekontextualisierungen erfährt, noch im Diskurs selbst thematisiert und häufig auch kritisiert.

5 Fazit: (Digitale) Rekontextualisierungen zwischen Lexikon und Diskurs In Zeiten Sozialer Medien treffen politische Reden auf veränderte Rezeptionsbedingungen, die digitale (Anschluss‐)Diskurse grundlegend prägen (vgl. Michel & Pfurtscheller 2021). Wie die beiden Fallstudien am Beispiel von Twitter gezeigt haben, begünstigen die Affordanzen digitaler Medien eine Fragmentierung und laufende Rekontextualisierung von Redeereignissen. In einem höchst dynamischen und vielstimmigen Diskurs werden so Diskursfragmente immer wieder modifiziert, inter- und hypertextuell vernetzt und dadurch auch metadiskursiv aufgeladen. Auch ohne explizite Fixierung in einem konventionalisierten Meme  https://www.youtube.com/watch?v=5dCIOKypSJs (letzter Zugriff 09.11. 2021).

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lassen sich im Zuge der Rekontextualisierungen etwa Schemabildungen und Auslotungen von Assoziationspotenzialen beobachten, die als Memefizierungen beschrieben werden können. Die zur Verfügung stehenden Datensätze machen es dabei möglich, diese Memefizierungen auch in ihren zeitlichen Dynamiken und in enger Orientierung am sprachlichen Material zu rekonstruieren. Die beschriebenen sprachlichen Verfahren etwa der De-Idiomatisierung des eigentlich phraseologisch gebundenen Lexems Vogelschiss lassen sich zumindest in Teilen auch als Remotivierungen beschreiben, und so bieten sich Brückenschläge zur Remotivierungsforschung an, die in ihrer „Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse“ (Harnisch 2010) auch der Rekontextualisierung als gebrauchsgebundener Remotivierung ihren Ort zuweist. Der hier entworfene Rekontextualisierungsbegriff zielt insbesondere darauf ab, wie vor allem pejorative Bedeutungskomponenten von Ausdrücken etwa in Assoziation mit ihren negativen Gebrauchsbedingungen pragmatisch und konnotativ aufgeladen werden können (vgl. auch Harnisch & Krieger 2017: 82–83). Dieser Rekontextualisierungsbegriff ist also lexikonorientiert, indem er den Blick darauf lenkt, wie an einzelne Wörter als Stellen im semantischen System bestimmte Kontexte gezielt herangetragen werden. Ich habe meinen Fallstudien dagegen einen konsequent diskursorientierten Rekontextualisierungsbegriff zugrunde gelegt. Dem Rekontextualisierungskonzept der Kritischen Diskursanalyse und der Linguistic Anthropology entsprechend geht es darum zu zeigen, wie konkrete Diskursereignisse de- und wieder rekontextualisiert werden, wie sie aus Diskursen herausgelöst und dann erneut in Diskurse eingebettet werden und dort ihrerseits diskursive Effekte haben können. Das rekontextualisierte Stück Diskurs mag ein einzelnes Wort sein, es ist in dieser Perspektive aber immer auch mehr als das, nämlich eine Verdichtung von Diskurs (vgl. Linke 2003: 40). Oder methodologisch gewendet: Das einzelne Lexem ist hier nicht Startpunkt, sondern eine Zwischenetappe der Analyse. Die mediale Umgebung der Sozialen Medien und insbesondere auf Twitter die Funktion der Hashtags als thematische und hypertextuell vernetzte Schlagwörter dürfte die Fragmentierung hin zu einzelnen Lexemen noch verstärken, die aber gerade deshalb in ihrem diskursiven Zusammenhang betrachtet werden müssen. In einer sprachvergleichenden Studie zu historischen Germanismen im politischen Diskurs haben Jaworska & Leuschner (2018) einen diskursbasierten Ansatz zur Untersuchung von Entlehnungen vorgeschlagen. Lehnwörter werden hier in ihren diskursiven Kontexten, in der Geber- wie auch der Nehmersprache, fokussiert und als diskursive Transpositionen und Rekontextualisierungen beschrieben. Auch dieser Ansatz erlaubt Brückenschläge zum Remotivierungskonzept (s. Leuschner in diesem Band). Methodisch greifen Jaworska & Leuschner auf Korpusanalysen von großen Webkorpora zurück, um etwa Kollokationen be-

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rechnen zu können. Demgegenüber sind die im vorliegenden Aufsatz verwendeten Datensätze (von Twitter und Facebook) einerseits auffällig klein. Dafür ermöglichen die Zeitstempel, die den einzelnen Tweets und Kommentaren als Metadaten beigegeben sind, aber eine ungleich präzisere Rekonstruktion des Diskursverlaufs in seiner ganzen diskursiven Dynamik – eine Dynamik, die auch im Terminus der Memefizierung angesprochen ist. So lässt sich dann zeigen, wie die hier beispielhaft untersuchten politischen Reden von Lindner und Gauland zu einer schematischen polylexikalischen Einheit oder gar zu einem einzelnen zentralen Schlagwort verdichtet und in dieser Form rekontextualisiert werden. Die im Kontext der Remotivierungsforschung beschriebenen Prozesse der pragmatischen und konnotativen Aufladung können nun auch hier greifen, doch betont der diskursorientierte Ansatz, dass auch das Einzellexem schon ein Ergebnis, eben eine Stelle im Diskurs ist. Auch die beschriebenen Tendenzen der (pseudo‐)lexikographischen Fixierung von Neologismen wie lindnern oder der de-idiomatisierenden Reflexion über die ‚eigentliche‘ Bedeutung eines phraseologisch gebundenen Lexems sind diskursive Effekte, die sich im Diskursverlauf ergeben. Mit der anhand von digitalen Daten empirisch präzise greifbaren zeitlichen Dynamisierung des Rekontextualisierungsbegriffs kann der diskursorientierte Ansatz den eher lexikonorientierten Ansatz mit seinen ausgearbeiteten Kategorien der Remotivierung somit sinnvoll ergänzen.

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Torsten Leuschner

„This one-man midfield blitzkrieg“ Wortentlehnung als Dekontextualisierung Zusammenfassung: Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind fünf lexikalische Entlehnungen historisch-politischen Inhalts aus dem Deutschen in dessen europäischen Nachbarsprachen: Anschluss, Blitzkrieg, Drang nach Osten, Endlösung, Kulturkampf. Anhand der Referenz und kollokationsbasierten Gebrauchsprofile dieser sog. historischen Germanismen im Englischen und Polnischen wird gezeigt, dass sie im Zuge ihrer diskursiven Aneignung in der jeweilige Nehmersprache einer mehr oder weniger weitgehenden Dekontextualisierung und Schematisierung unterliegen. Diese ist von Lexem zu Lexem und von Nehmersprache zu Nehmersprache verschieden stark ausgeprägt, wobei sich Unterschiede der Entlehnungswege als diachronische Determinanten synchronisch divergenter Verwendungsmuster auswirken. Eine Zusammenfassung mit einem Ausblick auf weiterführende Forschungsvorhaben und auf die Funktion historischer Germanismen als lexikalische Erinnerungsorte rundet den Beitrag ab. Schlüsselwörter: Dekontextualisierung, Wortentlehnung, historische Germanismen, diskursive Aneignung, lexikalische Erinnerungsorte, Englisch, Polnisch, Deutsch

1 Einleitung Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind historische Germanismen, d. h. lexikalische Entlehnungen historisch-politischen Inhalts aus dem Deutschen in dessen europäischen Nachbarsprachen (u. a. Schröter & Leuschner 2013; „German political loanwords“ laut Pfeffer 1999; siehe ferner Stubbs 1997, 1998). Dank ihrer ebenso komplexen wie spezifischen Referenz und ihrer jeweils charakteristischen Kollokatoren, die das Aufstellen von Gebrauchsprofilen erleichtern, lässt sich an ihnen deutlicher als an anderen Entlehnungen zeigen, dass sie im nehmersprachlichen Gebrauch einer mehr oder weniger weitgehenden Dekontextualisierung und damit einhergehenden semantischen Schematisierung unterliegen. Beispiele für eine solche diskursive Aneignung („discursive appropProf. Dr. Torsten Leuschner, Ghent University, Department of Linguistics, 9000 Ghent, Belgium E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111031170-011

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Torsten Leuschner

riation“, Schröter & Leuschner 2013) historischer Germanismen in einer Nehmersprache sind Blitzkrieg und Kulturkampf im Englischen, viel weniger dagegen im Polnischen; Endlösung hat diesen Prozess in keiner der beiden Sprachen in nennenswertem Maße vollzogen, sondern verweist weiterhin fast ausschließlich auf den Holocaust (Schröter & Leuschner 2013). In Extremfällen können sich historische Germanismen zu diskursiv hochgradig appropriierten Ausdrucksmitteln entwickeln, die zwar noch mehr oder weniger stark fremdsprachlich markiert sind, im Übrigen aber weder historische noch notwendigerweise auch deutsche Referenz haben; ein gutes Beispiel hierfür ist das englische blitzkrieg, wie der fußballbezogene Beleg im Titel des vorliegenden Aufsatzes zeigt. Die linguistische Herausforderung besteht u. a. darin, die Appropriierung in jedem Einzelfall theoretisch (mittels eines geeigneten Semantikmodells) und empirisch zu erfassen sowie eventuelle Unterschiede zwischen den jeweiligen Nehmersprachen zu erklären. Die Verbindung kognitiv-semantischer, diskursanalytischer und historischer Methoden, die dabei zum Zuge kommen, wird im Folgenden anhand der genannten und anderen historischen Germanismen im Englischen und Polnischen beleuchtet. Einen hilfreichen historischen Bezugspunkt bietet dabei die Unterscheidung zwischen Nah- und Fernentlehnungen als Idealtypen lexikalischer Entlehnungen unter dem Aspekt ihrer initialen Entlehnungskontexte (siehe u. a. Stanforth 1996: 9–10). Nahentlehnungen werden in nähesprachlich-mündlichen Gebrauchskontexten, d. h. im direkten Kontakt zwischen mehrsprachigen Sprechern, entlehnt und erst später ggf. aufgrund des Höreindrucks niedergeschrieben; u. a. im amerikanischen Englisch kommen viele immigrationsbedingte Nahentlehnungen aus dem Deutschen vor, wie es etwa der Titel Besservisser beim Kaffeeklatsching eines populärwissenschaftlichen Wörterbuchs deutscher Entlehnungen in anderen Sprachen (Siedenberg 2009) nahelegt. Eine komplexe Nahentlehnung aus dem Deutschen ins Polnische ist szneka z glancem, die in der Region Großpolen (in und um die Metropole Poznań/Posen) übliche Bezeichnung eines schneckenhausförmigen Gebäcks mit glänzendem Zuckerguss, wie es u. a. auch in Berlin existiert. Den historischen Kontext der Entlehnung bildet in diesem Fall die aus den Teilungen Polens hervorgegangene preußisch-deutsche Herrschaft über Großpolen vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, der bereits eine jahrhundertelange Anwesenheit deutschsprachiger Bevölkerungsteile vorangegangen war. Stark polonisierte Nahentlehnungen aus dem Deutschen gelten bis heute als so charakteristisch für die großpolnische Sprachvarietät, dass sich die Bezeichnung szneka z glancem sogar als Repräsentant Posener Regionalsprachlichkeit auf dem Umschlag eines Schulbuchs (Piotrowska 2015) wiederfindet, mit dem Posener Grundschulkindern Sprachund Varietätenbewusstsein vermittelt werden soll. Die Herkunft aus dem Deut-

„This one-man midfield blitzkrieg“

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schen wird dabei allerdings nicht thematisiert. Infolge der totalen orthographischen und morphosyntaktischen Integration der betreffenden Lehnwörter und ‐ausdrücke ins Polnische ist sie ohnehin nur noch gelegentlich an ungewöhnlichen Wortstrukturen zu erkennen – und/oder an Ähnlichkeiten zu deutschen Wörtern, was allerdings gute Deutschkenntnisse voraussetzt. Anders als Nahentlehnungen werden Fernentlehungen in distanzsprachlichschriftlichen Gebrauchskontexten entlehnt und erst später ggf. auch phonetisch realisiert, wobei weder ein direkter Kontakt zwischen Sprechern noch individuelle Mehrsprachigkeit vorzuliegen braucht. Eine typische Entlehnungssituation ist die Lektüre nehmersprachlicher Texte, in denen Realia und andere spezifische Phänomene des Ursprungslandes und seiner Kultur oder Geschichte mit deren eigener Terminologie bezeichnet werden. So kommen z. B. englischsprachige Leser schon im Titel eines historischen Sachbuchs wie Hans Frank: Lebensraum and the Holocaust (Housden 2003) mit dem deutschen Begriff Lebensraum im Kontext der Shoah in Berührung, ohne bereits das Lexem Lebensraum kennen oder überhaupt des Deutschen mächtig sein zu müssen. Semiotisch betrachtet übernehmen solche Entlehnungen die Funktion immaterieller Erinnerungsorte (Kroh & Lang 2010; siehe auch Harnisch 2017, Reisigl 2009), die häufig durch das Auftreten in ohnehin erinnerungsträchtigen Kontexten mit entsprechenden Kollokatoren (im obigen Beispiel: Holocaust und der Eigenname Hans Frank) gestützt wird. Um diesen Aspekt soll es im Folgenden jedoch nicht gehen (siehe stattdessen Leuschner 2018, demn.). Vielmehr konzentriert sich die Darstellung auf den methodologischen Aspekt der Erfassung nehmersprachlicher Dekontextualisierungsmuster mit qualitativ orientierten, quantitativ fundierten Methoden, und zwar zunächst am Beispiel von Drang nach Osten (Abschnitt 2; Leuschner 2013, 2014; Leuschner & Schröter 2015) sowie Anschluss, Blitzkrieg und Endlösung (Abschnitt 3; Schröter & Leuschner 2013). Anschließend wird anhand von Kulturkampf vorgeführt, wie sich Unterschiede der Entlehnungswege als diachronische Determinanten synchronisch divergenter Verwendungsmuster in verschiedenen Nehmersprachen auswirken (Abschnitt 4; Jaworska & Leuschner 2018). Eine Zusammenfassung mit einem Ausblick auf mögliche weiterführende Forschungsvorhaben rundet den Beitrag ab, wobei auch noch einmal kurz auf die Funktion historischer Germanismen als Erinnerungsorte eingegangen wird (Abschnitt 5).

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2 Dekontextualisierung in Nehmersprachen: Drang nach Osten 2.1 Kontextbezogene Modellierung: Konstruktionsgrammatik und Framesemantik Drang nach Osten gehört zu jenen deutschen Ausdrücken, die in Ost-, Ostmittelund Südosteuropa v. a. in der Sprache der Medien weithin geläufig sind (Oschlies 2000; Pfeffer 1999). Er indiziert eine pessimistische Sicht der Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn, der zufolge die Deutschen im Laufe ihrer ganzen Geschichte seit dem Mittelalter (mit einem besonderen Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert) eine kollektivpsychologische Disposition gezeigt haben, ihren Einfluss und ihr Siedlungsgebiet ostwärts auszudehnen (Wippermann 1981, 2007; Lemberg 1976, 2003; Tkaczyński 1997). Der unten in (1) zitierte Beginn der Fernsehdokumentation Deutsche und Polen, die 2002 vom damaligen brandenburgischen Regionalsender ORB produziert wurde, ist dafür charakteristisch. Die Worte werden aus dem Off über eine Szene aus Aleksander Fords klassischer Verfilmung von Henryk Sienkiewiczs Historienroman Krzyżacy (dt. Die Kreuzritter, 1960) gesprochen, während in Split-screen-Technik zwei spätmittelalterliche Ritterheere mit den Insignien des Deutschen Ritterordens bzw. Polen-Litauens aufeinander zureiten: (1)

Schwarzes Kreuz auf weißen Mänteln: Symbol für den deutschen Drang nach Osten, ewiger Feind des weißen Adlers auf dem Banner eines stolzen und oft gequälten Polen. Deutschland und Polen – eine lange Geschichte dramatischer Konflikte, die vor 1000 Jahren begann. (ORB, Deutsche und Polen, Fernsehen/DVD 2002)

In der Forschungsgeschichte wurde Drang nach Osten zunächst unter ideologiekritischen Aspekten (Lemberg 1976; Wippermann 1981 usw.), später auch unter Verbindung der linguistischen und der historischen Stereotypenforschung untersucht (Leuschner 2012, 2013; zum Ansatz: Klein 1998 bzw. Hahn 1995). Der zitierte Off-Kommentar bietet Anschauungsmaterial für diese Herangehensweise, kennzeichnet er die gezeigte Filmszene doch weder als einmalig noch als fiktional, sondern vielmehr als repräsentativ für ein historisch verbürgtes Verlaufsmuster, das mit einem deutschen Drang nach Osten in eine suggestiv-unklare, offenbar kausal gemeinte Verbindung gebracht wird. Damit holt er mit sprachlichen Mitteln nach, was die symmetrisch aufgebaute Szene (zumindest wenn man sie getrennt von der sonstigen Filmhandlung betrachtet) mit ihren visuellen

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Mitteln gerade nicht leistet, nämlich das Framing des einen der beiden aufeinander zurasenden Heere als des eindeutigen Aggressors. Zur breiteren, korpusbezogenen Erforschung des Wortgebrauchs historischer Germanismen wie Drang nach Osten bietet sich eine diskursanalytisch orientierte Form der Schlagwortforschung an (Schröter & Leuschner 2013; Leuschner & Schröter 2015; zum Ansatz: Schröter 2011). Ausgegangen wird dabei vom lexikologischen Ansatz der klassischen Politolinguistik (Dieckmann 1975). Drang nach Osten ist demnach als ein typisches (in diesem Fall phrasenförmiges) Stigmawort einzuordnen, das einem spezifischen Kollektiv (gewöhnlich den Deutschen) eine negative Evaluation zuordnet. Im Rahmen einer konstruktionsgrammatischen Modellierung gemäß Goldberg (1995, 2006; vgl. Ziem & Lasch 2013) lässt sich diese Negativevaluation der Funktionsseite der Konstruktion Drang nach Osten als eine nicht strikt kompositionelle, semantisch-pragmatische Komponente zuordnen. Damit erweist sich Drang nach Osten als eine typische Kollostruktion, d. h. als eine Konfiguration von Kollexemen (Stefanowitsch 2013), deren Schematisierung aus framesemantischer Sicht eine charakteristische, im kollektiven Wissen der betreffenden Sprachgemeinschaften verankerte Füllung seiner spezifischen Leerstellen („slots“) entspricht (siehe zur Theorie Ziem 2008). Während die Zielrichtung des Drangs expliziert wird (nach Osten), bleibt die Besetzung der Experiencer-/Aktantenstelle gewöhnlich implizit, es sei denn, es erfolgt eine explizite Attribuierung mittels deutsche oder (seltener) der Deutschen. Diese stereotypisierte Kollexem- und Framekonfiguration kann ihrerseits als Kontrastfolie für entsprechende, kontextbezogen gebildete Varianten dienen. Ein klassisches Beispiel ist Drang nach Westen, das in (2) von dem polnischen Historiker Gerard Labuda (1971: 194; meine Übersetzung) eingesetzt wird, um die zunehmende Abwanderung der nicht-polnischen Bevölkerung aus den preußischen Ostprovinzen um 1900 zu kennzeichnen: (2)

Drang nach Osten zmienił się w swoją odwrotność – w Drang nach dem Westen. ,Der Drang nach Osten verwandelte sich in sein Gegenteil – den Drang nach dem Westen.‘

Labuda ersetzt hier Osten als stereotypisches Richtungs-/Zielkollexem zu Drang durch Westen, um den Versuch des Ostmarkenvereins, den Ausdruck Drang nach Osten im Kaiserreich um 1900 als positiv besetztes Fahnenwort zu etablieren (Meyer 1996: 87), als zwecklos zu entlarven: Tatsächlich zog die deutschsprachige Bevölkerung lieber aus den Ostprovinzen in westliche Landesteile als umgekehrt (Labuda 1971: 194). Eine noch weitergehende Rekonfiguration, bei der von einem polnischen Drang nach Westen gesprochen wird, erscheint in einem Aufsatz des Posener Kunsthistorikers Piotr Piotrowski (2006) über kartographische Darstel-

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Torsten Leuschner

lungen der polnischen Westgebiete in der Zwischenkriegszeit, wo die östlichen Gebiete Deutschlands bis zur Elbe-Saale-Linie als altes polnisches Land dargestellt wurden. Wenn auf Deutsch vom „russischen Drang nach Westen“ und dergleichen die Rede ist, zeigt sich eine analoge Refiguration (Leuschner 2013).

2.2 Die diskursanalytische Perspektive Der zweite Traditionsstrang, der in letzter Zeit in die Erforschung historischer Germanismen Einzug gehalten hat und deren Dekontextualisierung erhellen kann, ist die Diskursanalyse (vgl. Schröter & Carius 2009; Schröter 2011). Bedeutsam ist in dieser Hinsicht u. a. die bekannte Beobachtung, dass Drang nach Osten überwiegend in nicht-deutschsprachigen Quellen verwendet wird. Meyer (1996: 110) schätzt ein Verhältnis von 1:10 für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg; eine Vergleichsschätzung von Leuschner & Schröter (2015) anhand des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo, www.ids-mannheim.de/cosmas II) und des polnischen Nationalkorpus Narodowy Korpus Języka Polskiego (NKJP, www.nkjp.pl) ergibt ein ähnliches Zahlenverhältnis für die Zeit nach 1990. Dies ist umso bemerkenswerter, als im Deutschen ja durchaus Abwandlungen der oben besprochenen Art zu finden sind. Diese setzen die Existenz und Bekanntheit des Ausdrucks Drang nach Osten voraus, um mit seinen Abwandlungen rhetorische Effekte zu erzielen. In qualitativer Hinsicht lässt sich dank dieser Perspektive u. a. die diskursive Aneignung (engl. „discursive appropriation“) des historischen Schlagworts Drang nach Osten mittels Transposition in neue zeithistorische Diskurskontexte ab 1990 verfolgen (Leuschner & Schröter 2015; zu Schröter & Leuschner 2013 siehe weiter unten). Ein Beispiel für eine solche dekontextualisierende Aneignung ist das Buch Osterweiterung des linksorientierten österreichischen Journalisten Hannes Hofbauer, das ein Jahr vor dem EU-Beitritt Polens und anderer Staaten der Region auf den Markt kam (Hofbauer 2003). Wie der Untertitel Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration nahelegt, erscheint die Osterweiterung darin als eine von der EU betriebene Fortsetzung des deutschen Drangs nach Osten mit anderen Mitteln, aber kaum veränderten Zielen; entsprechend wurden und werden in anderen journalistischen Texten gelegentlich auch multinationale Firmen als Träger eines erneuerten Drangs nach Osten identifiziert. Anders als bei den im vorigen Absatz genannten Beispielen dient die Reminiszenz an den Drang nach Osten hier allerdings dazu, eine Gegenwartssituation im Sinne eines bestimmten historisch motivierten Frames zu konzeptualisieren und entsprechend zu evaluieren. Dabei gerät mit zunehmender Entfernung von der ursprünglichen Konfiguration nicht nur die ursprüngliche historische Referenz in den Hintergrund,

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sondern auch die ursprüngliche negative Evaluation des Aktoren, dem der Drang zugeschrieben wird (Leuschner & Schröter 2015; Schröter & Leuschner 2013). Ein wichtiger Indikator solcher Dekontextualisierungsvorgänge sind die typischen Kollokationsmuster von Drang nach Osten, nicht zuletzt aus sprachvergleichender Sicht (Leuschner & Schröter 2015). So wird Drang nach Osten im polnischen Korpus oft in der Nachbarschaft anderer, ebenfalls deutschsprachiger Schlagwörter wie etwa Lebensraum verwendet, die historische Aspekte der Nazizeit evozieren. Fast immer wird Drang nach Osten dabei existenzpräsupponierend verwendet, d. h. die Existenz des deutschen Drangs nach Osten bzw. dessen Validität als historische Kategorie wird wie selbstverständlich vorausgesetzt; dazu passt, dass distanzierende metasprachliche Attribute der polnischen Sprache wie tzw. (,sog.‘ < tak zwany ‚so genannter‘), rzekomo (,angeblicher‘) usw. durchweg fehlen. In den deutschen Daten finden sich gelegentlich Parallelen, etwa wenn Drang nach Osten (irrtümlich) als Nazi-Jargon behandelt wird. Selbst dann schreiben die Autoren den Drang nach Osten aber niemals den Deutschen insgesamt, sondern speziell den Nationalsozialisten oder einzelnen Individuen zu. Kollokationen wie „unser Drang nach Osten“ fehlen völlig, während in den polnischen Daten Kollokationen wie „Niemcy z ich Drang nach Osten“ (,die Deutschen mit ihrem Drang nach Osten‘) gang und gäbe sind. Es überrascht daher auch nicht, dass Äußerungen ausländischer (meist polnischer) Politiker oder Medien, in denen vom deutschen Drang nach Osten die Rede ist, einen wichtigen Kontexttyp bilden, in dem deutschsprachige Autoren ihrerseits den Ausdruck Drang nach Osten verwenden, wobei sie ihn – meist in distanzierender Absicht – aus einer polnischen Quelle zitieren.

3 Englisch: Anschluss, Blitzkrieg, Endlösung 3.1 Methodologie: qualitativ mit quantitativer Fundierung Zu den wichtigsten methodologischen Neuerungen der jüngeren Entlehnungsforschung gehört es, dass Entlehnungen primär als Teile von Diskursen betrachtet werden und nur noch sekundär als Teile des Lexikons (so z. B. noch ausschließlich bei Pfeffer & Cannon 1994; Stanforth 1996; Ehlert 2012). Ihre graduelle, von Fall zu Fall unterschiedliche Integration in nehmersprachliche Diskurse war Gegenstand der oben schon mehrfach zitierten Pionierstudie von Schröter & Leuschner (2013) über vier historische Germanismen im Englischen, und zwar neben der älteren Entlehnung Drang nach Osten auch noch die mit der NS-Zeit assozi-

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ierten Germanismen Anschluss, Blitzkrieg und Endlösung. Abgesehen von Machbarkeitserwägungen war die Wahl gerade dieser vier Germanismen v. a. darin begründet, dass sie auch in anderen Sprachen auftreten, zukünftig also Vergleiche bezüglich weiterer Nachbarsprachen wie z. B. dem Polnischen und dem Französischen ermöglichen. Im Rahmen ihres Ansatzes entwickelten Schröter & Leuschner (2013) eine Skala diskursiver Appropriierungsgrade, die anhand korpuslinguistisch bestimmbarer Gebrauchskontexte definiert werden und an die Bestimmung kombinatorischer Wortprofile erinnert, wie sie u. a. in der Romanistik geläufig ist (Blumenthal, Diwersy & Mielebacher 2005). Dabei unterscheiden Schröter & Leuschner (2013) vier Verwendungsweisen, die (hier mit leicht abweichender deutscher Terminologie) folgendermaßen benannt werden können: – historisch: Beim historischen Gebrauch referiert der Germanismus auf das ursprüngliche oder stereotypische historische Ereignis oder Geschehen. Im Falle von Anschluss etwa ist das die Annexion Österreichs durch NaziDeutschland 1938. Bei allen vier untersuchten Germanismen gehört die Mehrzahl der Verwendungen zu diesem Typ. – aktualisierend: Beim aktualisierenden Gebrauch referiert der Germanismus auf ein späteres, strukturell analoges Phänomen im deutschen Kontext. Dies geschieht etwa, wenn die deutsche Wiedervereinigung von 1990 als Anschluss bezeichnet und so als Annexion der DDR durch die Bundesrepublik gekennzeichnet wird. – erweiternd: Beim erweiternden Gebrauch referiert der Germanismus auf spätere, strukturell analoge Ereignisse außerhalb des deutschen Kontexts, etwa wenn die Übergabe Hongkongs an China 1997 als Anschluss oder der Angriff des Irak auf Kuwait 1990 als Blitzkrieg bezeichnet wird. – transponierend: Beim transponierenden Gebrauch referiert der Germanismus auf ein späteres, strukturell nur noch locker mit dem ursprünglichen Ereignis verbundenen Phänomen. Die Transposition zwischen den Diskursen wird dabei meist durch Metaphorisierung gekennzeichnet, wobei ein charakteristisches Strukturelement des ursprünglichen Referenzframes als tertium comparationis erhalten bleibt, z. B. wenn eine intensive Werbekampagne als advertising blitzkrieg, die druckvolle Spielweise einer Fußballmannschaft in der zweiten Spielhälfte als second-half blitzkrieg bezeichnet wird usw. Grundlegend für den historischen Gebrauch eines Germanismus ist dessen Funktion als Index für das betreffende historische Phänomen im Rahmen der deutschen Geschichte. Der aktualisierende, der erweiternde und der transponierende Gebrauch stehen dann für die progressive Dekontextualisierung des Lehnwortes in Diskurse, die vom ursprünglichen Entlehnungsdiskurs immer

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weiter entfernt sind; die historische Referenz, die den historischen Gebrauch ermöglichte, gerät dabei immer mehr in den Hintergrund. Indikatoren unterschiedlicher Integrationsgrade wie etwa das Vorhandensein oder Fehlen der Initialmajuskel und sonstiger orthographischer Anpassungen (im Polnischen traditionell relativ ausgeprägt, siehe etwa Schreibweisen wie anszlus für Anschluss/Anschluß, insgesamt aber doch sehr schwankend) sowie die Hinzufügung einer nehmersprachlichen Übersetzung in Klammern und/oder von Anführungsstrichen werden ins Gesamtbild einbezogen.

3.2 Befunde Als Quellengrundlage für die Datenerhebung verwendeten Schröter & Leuschner (2013) einige in der kostenpflichtigen Datenbank LexisNexis (http://www.lexisle galintelligence.co.uk/intellicence/lexiclibrary) zugängliche überregionale Zeitungen Großbritanniens (Tab. 1). Je vier Qualitäts- und Boulevardzeitungen samt ihrer Sonntagsausgaben wurden ausgewählt und auf das Vorkommen der vier Germanismen untersucht. Die zur Verfügung stehenden Zeitabschnitte variierten dabei von durchschnittlich ca. 22 Jahren bei Qualitäts- bis zu ca. 15 Jahren bei Boulevardzeitungen. Tab. 1: Übersicht der von Schröter & Leuschner (2013) in LexisNexis konsultierten Digitalarchive britischer Zeitungen Qualitätszeitungen

Boulevardzeitungen

The Times .– The Sunday Times .–

Express .– (– unvollständig) Sunday Express .–

The Guardian .– The Observer .– (außer )

Daily Mail .– Mail on Sunday .–

The Independent .– The Independent on Sunday .–

Daily Star .–

Daily Telegraph .– Sunday Telegraph .–

The Sun .–

Insgesamt wurden 2316 Artikel gefunden und heruntergeladen, in denen Blitzkrieg vorkam (gut 2 Millionen laufende Wörter), 955 mit Anschluss (gut 1 Million laufende Wörter), 34 mit Drang nach Osten und 22 mit Endlösung. Dabei wurde jeweils auf Einschluss von Groß- und Kleinschreibung, von und sowie von Umlauten und ihren Auflösungen ( in Endloesung) geachtet.

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Wie Abb. 1 (Schröter & Leuschner 2013: 159) zeigt, sind historische Germanismen in Qualitätszeitungen weit geläufiger als in Boulevardblättern, wo es aus inhaltlichen und stilistischen Gründen weniger Gelegenheit gibt, eine solche Lexik zu verwenden. Allerdings gibt es auch hier Divergenzen: So kommt Blitzkrieg selbst in Boulevardzeitungen relativ häufig vor, evtl. unterstützt durch die semantisch verselbständigte Kurzform blitz als volkstümliche Bezeichnung des deutschen Versuchs, 1940/41 die Lufthoheit über Großbritannien zu erringen, und der damit verbundenen Bombenangriffe auf britische Städte (Stanforth 1975). Anders als bei Blitzkrieg und auch Anschluss sind die Vorkommenszahlen von Drang nach Osten und Endlösung für statistische Analysen zu niedrig, so dass Schröter & Leuschner diese beiden nur qualitativ, nicht quantitativ analysieren. 2500 2000 1500

All

1000

Broadsheets

500

Tabloids

0 Blitzkrieg

Anschluss

Drang nach

Endlösung

Osten

Abb. 1: Absolute Tokenzahlen für Blitzkrieg, Anschluss, Drang nach Osten und Endlösung in britischen (Qualitäts- und Boulevard‐)Zeitungen

Die heruntergeladenen Texte, die Blitzkrieg und Anschluss enthalten, wurden mit dem Korpusanalysetool SketchEngine (http://www.sketch-engine.co.uk; Kilgarriff et al. 2004) auf Kollokationsmuster im Zusammenhang mit Anschluss bzw. Blitzkrieg durchsucht. Dabei wurden Kokkurrenzen bis zur fünften Position links und rechts des Suchworts berücksichtigt und die Kollokationsstärke mittels Log likelihood berechnet, so dass Kollokatoren ausschieden, die nicht speziell für das Suchwort typisch sind, sondern auch anderswo im Korpus viel vorkommen wie etwa der Artikel the und sonstige Funktionswörter. a. Endlösung Endlösung ist der am wenigsten appropriierte der vier Germanismen. Endlösung wird ausschließlich historisch und nur in spezifischen Genres verwendet, nämlich

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in Buchbesprechungen (Belletristik, historische Sachliteratur) und Essays über historische Ereignisse oder Persönlichkeiten, Nachrufen usw.: From 1940–45, he worked at Blechley Park. At one point, he intercepted a German command that mentioned the Endlosung, or „final solution“. (The Guardian, 29. 5. 2001, Nachruf auf Walter Eytan).

Die Schreibweise ist die frequenteste, aber auch und/oder kommen in unterschiedlichen Kombinationen ohne erkennbare Regularität vor.Wie in diesem Beleg sind 20 der 22 Treffer mit der Übersetzung „final solution“ versehen. Endlösung steht bekanntlich für „Endlösung der Judenfrage“ (Eitz & Stötzel 2007, Bd. 1: 169). Anders als im Deutschen, wo Endlösung regelmäßig dekontextualisiert wird (Eitz & Stötzel 2007, Bd. 1: 173), wird Endlösung von englischsprachigen Autoren (hier vor allem von britischen Journalisten) offenbar als für andere Diskurse ungeeignet betrachtet. Ob dies aus Respekt vor den Opfern des Holocaust oder aus anderen Gründen geschieht, muss offenbleiben. Bemerkenswerterweise fördert jedoch eine oberflächliche Suche in britischen Zeitungen weit mehr Treffer für final solution als für Endlösung zutage und sind auch erweiternde Verwendungen von final solution überliefert, etwa wenn der damalige britische Außenminister Robin Cook 1999 das Vorgehen Serbiens im Kosovo als „Milosevic’s final solution“ umschrieb (zit. in Eitz & Stötzel 2007: 178). Es ist daher denkbar, dass die Verwendungsmuster von final solution im Englischen, denen von Endlösung im Deutschen ähneln. Entsprechende Vergleichsstudien fehlen bisher; klar ist aber, dass der semasiologische Ansatz von Schröter & Leuschner durch einen onomasiologischen Ansatz ergänzt werden sollte, der die jeweiligen nehmersprachlichen Eigenäquivalente berücksichtigt, um ein vollständigeres Bild zu erzielen. b. Drang nach Osten Drang nach Osten wird mit 34 Treffern etwas häufiger als Endlösung verwendet. Drang nach Osten wird von englischsprachigen Journalisten offenbar auch für deutlich bekannter gehalten, denn nur vier Treffer sind mit einer Übersetzung versehen (,push/drive/expansion to the East‘). Obwohl Drang nach Osten nie zum Nazi-Jargon gehörte, wird es im Englischen (wie auch im Deutschen, Leuschner 2013) doch gern mit der Nazi-Zeit in Verbindung gebracht. Daneben gibt es aber auch aktualisierende und erweiternde Gebrauchsweisen, unter denen die aktualisierende Verwendung im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung in Großbritannien mit acht Belegen (alle zwischen 1989 und 1994 datiert) hervorsticht; in diesen Fällen dienen Attribute wie new/next/reproduced/updating/

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renewing als lexikalische Indikatoren. Dabei wird von den betreffenden britischen Autoren keineswegs immer unterstellt, dass die Wiedervereinigung ein Wiederaufleben des Drangs nach Osten mit sich bringen werde; vielmehr wird der Vergleich meistens in Frage gestellt oder sogar explizit zurückgewiesen (Schröter & Leuschner 2015). Erweiternde Verwendungsweisen beziehen sich auf andere Staaten oder Instanzen (USA, EU, die European Bank for Reconstruction and Development) als Aktoren des Drangs und sogar auf die englische Sprache. c. Anschluss Anschluss wird weit häufiger als die vorigen beiden Germanismen verwendet, und zwar überwiegend historisch, wie Kollokatoren wie 1938 (205), Austria (171), Nazi (57), Nazis (23), Germany (73), Hitler (73), Vienna (52), Austrian (22), Jewish (19), annexation (35), union (24), fled (25), Reich (11) annexed (11), anniversary (36) und commemoration (10) zeigen. Union (auch: political union) und annexation stehen dabei oft in parenthetisch oder disjunktiv hinzugefügten Paraphrasen wie etwa in „he left Austria after the Anschluss (the Nazi annexation of his homeland)“ oder „the Anschluss or annexation in 1938“; wie diese Beispiele zeigen, ist bei historischem Gebrauch der bestimmte Artikel the typisch. Gelegentlich finden sich in der britischen Presse um 1990 Wiedergaben und Echos der innerdeutschen Debatte um den Charakter der Wiedervereinigung (Hahn 1995: 331–332), etwa wenn über die Bezeichnungskonkurrenz zwischen Beitritt und Anschluss berichtet wird. In diesen Fällen liegt Aktualisierung vor; in anderen Fällen kommt es zur Erweiterung, etwa wenn die britische Übergabe Hongkongs an China als „Anschluss“ bezeichnet wird. Transpositionen in andere Diskurse sind seltene Einzelfälle ohne erkennbares Muster. d. Blitzkrieg Blitzkrieg ist im Englischen der frequenteste und bei weitem am stärksten appropriierte der vier Germanismen. Auf orthographische Integration deutet die mehrheitliche Schreibung mit statt hin. Dennoch wird auch Blitzkrieg überwiegend in historischen Diskurskontexten verwendet, nämlich im Hinblick auf die deutsche Kriegführung zu Beginn des Zweiten Weltkriegs; typische Kollokatoren sind deshalb German (141 Treffer), 1940 (90 Treffer), France (64 Treffer) usw. Auffallend ist, dass der Gebrauch im Englischen teils vom Deutschen abweicht, etwa wenn von einem blitzkrieg of British cities die Rede ist. Hier wird blitzkrieg offenbar als Variante von blitz eingesetzt (während es sprachhistorisch umgekehrt ist, siehe Stanforth 1975). Erweiternde Gebrauchsweisen gibt es bei Blitzkrieg erwartbarerweise mit Bezug auf neuere Kriege, u. a. bezüglich der Balkankriege der 1990er Jahre (mit Kollokatoren wie Croatian, Bosnia, Serbs, Croatia), vor allem aber wiederum

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hinsichtlich der Golfkriege der 1990er Jahre (mit Kollokatoren wie Gulf, Iraq, Saddam usw.). Wie stets ist eine Nachkontrolle der Belege notwendig, etwa bei folgendem Beleg, in dem der Kollokator Nazi keineswegs einen direkten Bezug auf den Zweiten Weltkrieg indiziert, sondern vielmehr eine Charakterisierung der Besetzung Kuweits durch Saddam Hussein („with a ruthlessness of a Nazi blitzkrieg“); hier zeigt sich deutlich, dass Diskurszugehörigkeit nicht mit Referenz gleichzusetzen ist. Interessanterweise wird auch die US-geführte Gegeninvasion gern als „blitzkrieg“ bezeichnet, wobei in neutraler Weise auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen Bezug genommen wird, nicht auf eine bestimmte Bewertung. Methodologisch wichtig ist auch die Feststellung, dass sich keine aktualisierenden Belege (mit Deutschland als Akteur nach 1945) finden. Aktualisierender Gebrauch ist also keineswegs eine notwendige Zwischenstufe, die vor dem erweiternden Gebrauch durchlaufen werden müsste; vielmehr reichen strukturelle Analogien mit neueren Ereignissen aus, um diese als blitzkrieg zu bezeichnen. Anders als bei den anderen drei Germanismen finden sich bei blitzkrieg häufig auch transponierende Gebrauchsweisen, und zwar vor allem in drei Diskursdomänen: Innenpolitik, oft im Zusammenhang mit politischem Wandel nach der Labour-Machtübernahme 1997 („the Blair blitzkrieg on reforming and improving public services“ – Reform und Verbesserung sind das potenzielle Ergebnis des Blitzkriegs, nicht dessen Opfer), Werbung (Kollokatoren: publicity, advertising, marketing, promotional) und Sport („a 33-minute blitzkrieg of aces“, „blitzkrieg basketball“). Der frequenteste relevante Kollokator im Falle von Blitzkrieg ist German, das 141 der insgesamt 2316 Verwendungen von Blitzkrieg begleitet. Insbesondere aber bei Kollokatoren wie Germans (25) und Germany (19) ist eine Nachkontrolle unerlässlich, da sich nur 25 ihrer insgesamt 44 Vorkommen auf den zweiten Weltkrieg beziehen; die übrigen 19 sind disparat, enthalten aber immerhin siebenmal einen Bezug zum Fußball.

4 Englisch, Polnisch, Deutsch: Kulturkampf 4.1 Methodologie: drei Sprachen, zwei Korpustypen Zur weiteren Verfeinerung der Methodologie zur Erforschung historischer Germanismen führten Jaworska & Leuschner (2018) eine Studie über einen weiteren historischen Germanismus durch, nämlich Kulturkampf. Ein Begriff des 19., nicht des 20. Jahrhunderts, ist Kulturkampf historisch mit Otto von Bismarck verbun-

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den, der ab den frühen 1870er Jahren im Bunde mit den Liberalen den Einfluss der katholischen Kirche in Deutschland zurückzudrängen versuchte und damit scheiterte (u. a. Puschner 2011; zum Hintergrund Smith 1995: 50–78; europäische Perspektive in Clark & Kaiser, Hrsg., 2003). Bis heute taucht der Kulturkampf in der deutschen Öffentlichkeit regelmäßig im Zusammenhang mit dem historischen Erbe Preußens auf, so etwa 2015 im Zuge des sog. Preußenjahres. Darüber hinaus finden sich aber auch zahlreiche Aktualisierungen. Eine besonders öffentlichkeitswirksame ging 2008 von dem katholischen Bischof von Fulda, Heinz Joseph Algermissen, aus, der die moderne Gesetzgebung bezüglich Abtreibung, Euthanasie usw. als einen zweiten „Kulturkampf“ gegen die Werte der Kirche bezeichnete (zit. in Puschner 2011: 45). Eine Erweiterung auf das Verhältnis des Staates zu nicht-christlichen Religionen kam 2012 in Umlauf, als Teile der deutschen Medien vor einem bevorstehenden Kulturkampf gegen Juden und Muslime warnten, nachdem die rituelle Beschneidung neugeborener Jungen in diesen beiden Religionsgemeinschaften von einem deutschen Gericht für sittenwidrig erklärt worden war. Angesichts neuerer politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen in der Bundesrepublik ist Kulturkampf inzwischen in einem erweiterten Sinne gang und gäbe, und zwar um Wert- oder Ideologiekonflikte innerhalb ein und desselben Landes im Sinne eines gesellschaftsinternen clash of civilizations (Huntington 1996) zu charakterisieren. Im Rundfunk und im Internet lässt sich dies leicht feststellen, hier muss es aber außer Betracht bleiben. Als Gegenstand am Schnittpunkt von Entlehnungs- und Erinnerungsforschung eignet sich Kulturkampf u. a. wegen seiner unterschiedlichen Entlehnungswege in verschiedenen Sprachen. Im Englischen und den meisten anderen Sprachen bildet Kulturkampf eine Fernentlehnung im Sinne der zu Beginn des vorliegenden Artikels genannten Definition. Der Ausdruck kam ins Englische, als die britische Presse ab 1871 über aktuelle Entwicklungen im kürzlich gegründeten Deutschen Reich berichtete (u. a. Arlinghaus 1949; Hawes 2014: 135–137); der im OED Supplement genannte Beleg aus der katholischen Zeitschrift Dublin Review von 1879 ist zwar nicht der früheste (Arlinghaus 1949 hat ältere Belege), illustriert diesen Entlehnungspfad aber treffend. Im Polnischen ist Kulturkampf dagegen zumindest teilweise eine Nahentlehnung, waren doch über 3 Millionen Polen Bürger Preußens und als Katholiken mit Ansprüchen auf einen eigenen Nationalstaat doppelt vom Kulturkampf betroffen (Volkmann 2016: 68–74; Conrad 2010: 144–202; ferner Tilse 2011; Trzeciakowski 1990). Der Kulturkampf wurde so zu einer grundlegenden Etappe in der modernen polnischen Nationsbildung und der deutsche Ausdruck Kulturkampf zu einem klassischen deutsch-polnischen Erinnerungsort (Molik & Scholz 2015), für den es in der englischsprachigen Welt keine Parallele gibt. Die polnische Bevölkerung Preußens brauchte auch keine Presseberichte aus einem anderen Land, um mit dem Begriff Kulturkampf in Be-

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rührung zu kommen. Als Arbeitshypothese gehen Jaworska & Leuschner (2018) deshalb davon aus, dass Kulturkampf im Polnischen deutlich weniger dekontextualisiert wird als im Englischen und weit ausschließlicher in Bezug auf den historischen Ursprungskontext verwendet würde. Das Ziel ihrer Untersuchung bestand folglich darin, zu dokumentieren, in welchen Kontexten der historische Germanismus Kulturkampf in diesen beiden Sprachen verwendet wird, und in welchem Maße seine diskursiven Appropriationen denen im Deutschen (das hier als tertium comparationis dient; zum Ansatz Egan 2013) entsprechen. Eine zusätzliche methodologische Erweiterung bestand darin, dass Jaworska & Leuschner (2018) Pressekorpora der Art, wie sie schon von Schröter & Leuschner verwendet worden waren (zu den verwendeten Zeitungen siehe weiter unten), um Webkorpora aus der TenTen-Familie (Jakubíček et al. 2013) aus je einem bestimmten Jahr ergänzten, so dass pressegebundener und nicht-pressegebunder Sprachgebrauch verglichen werden konnten. Als Konkordanzsoftware kam wiederum Sketch Engine zum Einsatz. Die Suchanfrage lautete kulturkampf*, um auch Flexionsformen wie den Genitiv kulturkampfu usw. erfassen zu können. Tab. 2: Die verwendeten TenTen-Korpora Korpus

deTenTen (Deutsch)

enTenTen (Englisch)

plTenTen (Polnisch)

laufende Wörter

...

...

...

Tab. 2 zeigt die absolute Größe der drei verwendeten TenTen-Korpora. Trotz ihres unterschiedlichen Umfangs sind die drei Korpora groß genug, um notfalls auch bei niedrigfrequenten Lemmata ausreichende Trefferzahlen zu erbringen. Im Übrigen sind die TenTen-Korpora dank der weitgehend einheitlichen Erstellungsverfahren und -zeitpunkte ähnlich genug, um sprachübergreifende Vergleiche sinnvoll erscheinen zu lassen. Ihr Nachteil ist das weitestgehende Fehlen von Metadaten, so dass auch innerhalb der einzelnen Sprachen kaum sinnvolle regionale, registerbezogene oder mikrodiachronische Vergleiche möglich sind. Ähnlich wie bei Schröter & Leuschner (2013) wurden die gefundenen Texte auf die Kollokationen von Kulturkampf innerhalb einer Spanne von +5/-5 eruiert und mittels LogDice (Rychlý 2008) statistisch analysiert. Die Ergebnisse wurden mit den entsprechenden Suchergebnissen aus Pressekorpora landesweiter Zeitungen aus Deutschland, Polen und Großbritannien verglichen. Bei der Zusammenstellung der Pressekorpora wurde darauf geachtet, dass unterschiedliche politische Ausrichtungen innerhalb des Mainstreams vertreten waren; hinzu kamen zwei Wochenperiodika, nämlich die polnische Ausgabe von Newsweek und

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die deutsche Wochenzeitung Die Zeit. Die englischen und deutschen Daten konnten vollständig mittels Nexis UK erhoben werden, und zwar aufgrund von Zeitungsausgaben der Jahrgänge 2000 bis 2014. An landesweiten polnischen Periodika war in Nexis UK dagegen nur die Gazeta Wyborcza enthalten, so dass auf online zugänglichen Zeitungsarchiven der Jahre 2000 bis 2014 zurückgegriffen werden musste, in denen mit der vorhandenen internen Konkordanzfunktion manuell Artikel mit dem Stichwort Kulturkampf gesammelt wurden. Die Tabellen 3a–c zeigen die konsultierten Zeitungen und die Anzahl der Artikel und Treffer pro Sprache; dabei steht deNews für den deutschen, plNews für den polnischen, enNews für den englischen pressesprachlichen Datensatz. Wie angesichts der deutschen Herkunft von Kulturkampf nicht anders zu erwarten, ist deNews wesentlich größer als plNews und enNews. Tab. 3a: Die verwendeten deutschen Zeitungskorpora (2000–2014) deNews Zeitungen Frankfurter Rundschau TAZ Welt Welt am Sonntag Zeit Total

Artikel

Tokens

    

. . . . .

.

..

Tab. 3b: Die verwendeten polnischen Zeitungskorpora (2000–2014) plNews Zeitungen Gazeta Wyborcza Rzeczpospolita Tygodnik Powszechny Nasz Dziennik Newsweek Total

Artikel

Tokens

    

. . . . .



.

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Tab. 3c: Die verwendeten englischen Zeitungskorpora (2000–2014) enNews Zeitungen

Artikel

Tokens

Daily Telegraph Guardian Independent Observer Times

    

. . . . .

Total



.

4.2 Befunde Wie Tab. 4 zeigt, kommt Kulturkampf im Deutschen bei weitem am häufigsten, im Englischen am seltensten, im Polnischen immerhin noch knapp sechsmal so häufig wie im Englischen vor. Angesichts der historischen Bedeutung des Kulturkampfes für die polnische Nation, die in der englischsprachigen Welt ohne Parallele ist, ist Letzteres erwartbar. Tab. 4: Kulturkampf in den verwendeten TenTen-Korpora Korpus

absolute Frequenz

normalisierte Frequenz (auf .. tokens)

deTenTen

.

,

plTenTen

.

,

enTenTen



,

Erwähnenswerte Einzelergebnisse, die sich bereits in diesem Stadium der Untersuchung feststellen ließen, betreffen die Groß- bzw. Kleinschreibung in den beiden Nehmersprachen. In fast 70 % der Fälle wird der Begriff im polnischen Internetkorpus mit geschrieben wie im Deutschen, ansonsten mit . Da im Polnischen sonst nur Eigennamen mit Majuskel geschrieben werden, ist die orthographische Integration von Kulturkampf im Polnischen somit relativ gering; die morphologische Integration ist dagegen relativ hoch, kommen doch regelmäßig Flexionsformen vor. Im englischen Internetkorpus ist die orthographische Integration noch geringer, da hier alle 314 Belege aufweisen. Flexionsformen kommen im Englischen naturgemäß kaum vor; die einmal belegte Form Kulturkampfs ist ein anglisierter Plural.

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Was die Kollokationsmuster und somit die Tendenzen der diskursiven Appropriierung angeht, bestätigen die Daten aus den TenTen-Korpora Jaworska & Leuschners Arbeitshypothesen (wobei wir hier auf quantitative Angaben und weitgehend auch auf die Auflistung konkreter Kollokatoren verzichten). In deTenTen2013 wird Kulturkampf häufig, aber nicht ausschließlich, in Bezug auf den historischen Kulturkampf des 19. Jahrhunderts in Preußen/Deutschland verwendet; in anderen Fällen wird das Wort in Diskurse über aktuelle Konflikte appropriiert, sei es in Bezug auf kulturelle und religiöse Differenzen zwischen dem Westen und dem (muslimischen) Osten im Sinne eines clash of civilizations (Huntington 1996) oder auf Wert- oder Ideologiekonflikte innerhalb ein und derselben Gesellschaft, wie weiter oben bereits erwähnt. In plTenTen wird Kulturkampf dagegen gern in historischen Kontexten in Bezug auf Polen verwendet, wobei potenziell (aber nicht notwendigerweise) das vorherrschende Stereotyp Deutschland und der Deutschen als das bedrohliche, aggressive Andere genährt wird (vgl. Szarota 1996; Tomala 2000); auch im Kontext schlesischer Autonomiebewegungen ist gelegentlich von einem Kulturkampf die Rede. Während dies im Polnischen wenig Raum für diskursive Appropriationen und Transpositionen à la Huntington (1996) zu lassen scheint, wird Kulturkampf in den wenigen englischen Belegen routinemäßig in nicht-historischen Kontexten eingesetzt, oft mit Kollokatoren, die Gewalt oder militärische Konflikte suggerieren. Das Gesamtergebnis lautet, dass Kulturkampf im Polnischen frequenter ist als im Englischen, aber weniger dekontextualisiert wird. Im Vergleich mit den TenTen-Korpora akzentuieren die Daten aus den Pressekorpora die Sonderstellung des Polnischen gegenüber dem Englischen und Deutschen. Bemerkenswert ist vor allem die geringere Zahl von Bezugnahmen auf den historischen Kulturkampf in deNews als in deTenTen. Vielmehr wird der Begriff meist aktualisiert oder in andere Diskursdomänen transponiert, oft in Bezug auf Konflikte zwischen konservativen und liberalen Werten im Zusammenhang mit neuen politischen Maßnahmen oder Reformen. Auch aktuelle religiös-kulturelle Bezüge sind vorhanden, wobei die eher linksgerichtete deutsche Presse jeden potenziellen Kulturkampf gegen den Islam als riskant und gefährlich darstellt. Die Ergebnisse aus enNews im Vergleich mit enTenTen sind quantitativer statt qualitativer Art: Wie in enTenTen wird Kulturkampf in enNews meist in andere Diskursdomänen ohne Deutschlandbezug transponiert. Dazu gehört die jeweils aktuelle britische Innenpolitik ebenso wie eine Reihe kulturell-ideologischer Konflikte (u. a. in den USA), die durch den Gebrauch von Kulturkampf akzentuiert werden.

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5 Schlussfolgerungen In dem vorliegenden Beitrag wurde am Beispiel historischer Germanismen in den europäischen Nachbarsprachen des Deutschen gezeigt, dass die betreffenden Entlehnungen in der Nehmersprache zunächst noch zur perpetuierenden Aktualisierung der jeweiligen historischen Reminiszenz dienen, im Gebrauch dann jedoch einer fortschreitenden Dekontextualisierung unterliegen. Diese kann in verschiedenen Nehmersprachen zu unterschiedlichen Gebrauchsprofilen einzelner Germanismen führen, die sich anhand divergierender Grade der diskursiven Appropriation und Transposition erfassen lässt. Als besonders vielversprechend für weiterführende Studien erweist sich dabei die Methode des trilateralen Vergleichs mit Deutsch als ‚tertium comparationis‘, wie er weiter oben anhand von Kulturkampf vorgeführt wurde. Damit sind gleich mehrere mögliche Forschungsvorhaben zur weiteren Erforschung historischer Germanismen vorgezeichnet. Eines davon ist empirisch-lexikographischer Art und könnte über die gründliche Erfassung historischer Germanismen in den Nachbarsprachen des Deutschen und bis zur Erstellung eines umfassenden Online-Wörterbuchs historischer Germanismen für Spezialisten und interessierte Laien führen; wichtige Vorarbeiten hierzu leistet Schröter (2018), indem sie aufgrund des Wörterbuchs von Schmitz-Berning (2007) die Verwendung des gesamten NS-Vokabulars (718 Lemmata) im Englischen überprüft. Mit einem anderen möglichen Vorhaben kehren wir noch einmal zur Rolle sprachlicher Ausdrücke als Erinnerungsorte zurück. Aus einzelsprachenübergreifender Sicht indizieren historische Germanismen einen Teil der transnational gemeinsamen („geteilten“ im Sinne von ‚shared‘), aber auch national oder großregional differenzierten („geteilten“ im Sinne von ‚divided‘) Erinnerung im europäischen Diskursraum (Leggewie 2011; Troebst 2012; Sierp 2014) und unterstützen deren kollektive Konstruktion und perpetuierende Aktualisierung samt den mit ihr verbundenen kulturellen und historischen Stereotypen. Aus einzelsprachlicher Sicht indizieren ihre divergierenden Verwendungsmuster dagegen unterschiedliche „diskursive Weltbilder“ (Czachur 2011; vgl. Bartmiński 2012; Wierzbicka 1997), die in Zukunft ebenfalls mit korpuslinguistischen Mitteln zu eruieren und zu vergleichen wären (siehe hierzu mit verschiedenen Methoden bereits Storjohann & Schröter 2013; Jacob & Mattfeldt 2016). Auch zusätzliche Quellengruppen wie Politikerreden, Tweets usw. bis hin zur aktuellen Gegenwart wären dabei zu berücksichtigen.

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„This one-man midfield blitzkrieg“

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Torsten Leuschner

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Index adverser Kontext 49, 55, 58 amorph 101, 111, 120 Bedeutungswandel

15, 17, 22, 199

Degrammatikalisierung 10, 17, 22 f., 100 f. Dekontextualisierung 245 Demotivierung 9 f., 12 f., 18, 25, 27, 29, 101 Desemantisierung 136, 139 digitale Diskurse 218 Diskursanalyse 82, 84, 218 f., 240, 246, 249 f. diskursive Aneignung 245, 250 Englisch 21, 23, 27, 47, 52, 86, 245 Entlehnung 27, 240, 245 Explikativkomposition 123 feministische Linguistik gerechte Sprache

siehe geschlechter-

geschlechtergerechte Sprache 169, 172, 181, 188 f., 207, 209 Gradienz 36–38, 58 Grammatikalisierung 10, 14–18, 21–23, 25, 27–29, 36, 38 f., 41, 43, 47, 52 f., 57 f., 99, 101, 131, 135, 139, 169 f., 174 f. historische Germanismen 240, 245–247, 249 f., 252–254, 256 f., 263 Hyperkonstruktion 36, 42 f. Idiomatisierung 15 Indexikalität 40 – paradigmatische 41, 43 – referentielle 40 – syntagmatische 40 Individuation 123, 129 f. Kategorie, grammatische 39, 42–44, 47, 52 f., 56, 138 Kognitive Semantik 143 Konfix 65, 70, 86, 89, 94, 237 https://doi.org/10.1515/9783111031170-012

Kongruenz 44, 174 f., 179, 186 f. kongruenz 187 Konstruktionsgrammatik 35 f., 38 f., 46, 65 f., 90 f., 94 f., 225, 248 Korpuslinguistik 82, 144, 148, 152 f., 176, 215, 218, 252, 263 Laienlinguistik 171, 199 f., 202 lexikalischer Erinnerungsort 247, 263 Lexikografie 143 Mnemotechnik 114 f., 119 Morphosoziopragmatik siehe Soziopragmatik Motivation 13, 22, 24 f., 99 f., 103–105, 107, 116, 118, 127, 139 – multiple 126 Motiviertheit 10, 12–15, 18 f., 24, 26, 29, 161, 200–202, 211 – Nichtmotiviertheit 14 Movierung 169, 180 f., 187–189 Netzwerk 94 – konstruktionelles 36 f., 46, 91, 93 – soziales 81, 86, 206 Nominalisierung 136, 138 f. Nomination 9, 12–14, 18, 25, 29 Opposition 10, 42, 44, 46, 52 – grammatische 38 f. – indexikalische 41 – paradigmatische 40, 48 f., 52 – politische 88 Paradigma 36, 38, 47, 50, 58, 128, 226 – und Paradigmatisierung 38 paradigmatische Relation 45, 133 f. Paradigma und paradigmatische Relation siehe paradigmatische Relation Perzeptionslinguistik 206 Phora, syntaktische 133 f., 136, 138 Phraseologie 143 pleonastisch 125, 132 f.

270

Index

politische Rede 239 Polnisch 245 Pragmatik 74 Pseudomotivation 105 f., 116 Psycholinguistik 143

Soziopragmatik 74 Sprachhabitus 170, 172, 181, 188 Sprachspiel 145, 200, 203 Sprachwandel 9 f., 29, 36, 101, 139, 143 Suffix, onymisches 109

Rechtschreibreform 202, 206, 209 f. Rekontextualisierung 170, 183, 188, 201, 215 Remotivierung 5, 9 f., 18 f., 25, 27, 29, 65, 72, 99–101, 119, 143, 161, 176, 215, 218, 240 f. – Remotivieren 199 Resegmentierung 25 f., 66, 70, 86, 101, 103, 110–112, 119 Resemantisierung 72 f., 100, 105, 108, 113

Transparenz 9 f., 13 f., 18, 22, 29 f., 100, 105–107, 110, 115 f., 119

Sekretion 70, 103, 113 f., 120, 123, 139 semantische Teilbarkeit 154, 161 Soziale Medien 75, 84 f., 215, 217, 221–223, 226, 231, 239 f.

Unikalia

143

Verstärkung 99 f., 102, 113, 130, 143, 240 Volksetymologie 9, 26, 99–110, 112–116, 119 f., 124, 202 f., 209, 211 Wahrnehmung und Perspektivwechsel 199 Wortbildung 12, 24, 26, 43, 53, 65 f., 77 f., 84–86, 91, 94, 101, 113, 125 f., 135, 147, 156, 158, 162, 182, 230 Wortbildungswandel 170