Religionsbeschimpfung: Der rechtliche Schutz des Heiligen. Hrsg. von Josef Isensee [1 ed.] 9783428524914, 9783428124916

Gotteslästerung - bislang in europäischen Augen ein atavistischer Tatbestand aus versunkenen, finsteren Zeiten - erlangt

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Religionsbeschimpfung: Der rechtliche Schutz des Heiligen. Hrsg. von Josef Isensee [1 ed.]
 9783428524914, 9783428124916

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 42

ARNOLD ANGENENDT · MICHAEL PAWLIK ANDREAS VON ARNAULD DE LA PERRIÈRE

Religionsbeschimpfung Der rechtliche Schutz des Heiligen Herausgegeben von JOSEF ISENSEE

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

A. Angenendt · M. Pawlik · A. v. Arnauld de la Perrière

Religionsbeschimpfung

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 42

ARNOLD ANGENENDT · MICHAEL PAWLIK ANDREAS VON ARNAULD DE LA PERRIÈRE

Religionsbeschimpfung Der rechtliche Schutz des Heiligen

Herausgegeben von JOSEF ISENSEE

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12491-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort des Herausgebers Gotteslästerung – bislang in europäischen Augen ein atavistischer Tatbestand aus versunkenen, finsteren Zeiten – erlangt jäh schockierende Aktualität, seit sich in der islamischen Welt Massenprotest wider die Beleidigung ihrer religiösen Gefühle durch westliche Medien erhebt und heiliger Eifer in Zorn, Haß und Gewalt entlädt. Die Empfindlichkeit der Muslime, die zu Recht oder Unrecht ihren Glauben geschmäht sehen, kontrastiert der Gleichgültigkeit westlicher Gesellschaften gegenüber der Schmähung des Christentums. Seit der Aufklärung gilt es in „liberalen“ Kreisen als Ausweis von Witz und Intellektualität, sich über Christentum und Kirche zu mokieren. „Ecrasez l’infâme“ tönt als Parole der Toleranz. Christophobie präsentiert sich heute als politisch korrekt. Der säkulare Staat tut sich schwer, mit rechtsstaatlichen Mitteln religiöse Gefühle zu schützen. Die noch immer geltende Strafdrohung für Religionsbeschimpfung greift praktisch ins Leere. Zwar hat auch die moderne Gesellschaft ihre Tabus. Doch der Schutz religiöser Gefühle gehört nicht dazu. Taugen denn auch bloße Gefühle des einen zum Maß der Freiheit des anderen? Unter den Bedingungen grundrechtlicher Freiheit muß jedermann ein bestimmtes Quantum an lästigem zwischenmenschlichen Verhalten ertragen, an Unmoral und Geschmacklosigkeit, soweit sie nicht in Verletzung von Rechtsgütern umschlagen. Als schutzwürdiges Rechtsgut gilt der innere Friede der Gesellschaft. Folgt daraus, daß, wer die Macht hat, die Straße zu mobilisieren und die Öffentlichkeit einzuschüchtern, die Freiheit aller beschränken darf? Klammheimliche Freude, besserwisserisches Überlegenheitsgefühl ziehen im Herbst 2006 durch die weltoffene, aufklärungsfreudige Gesellschaft, als Papst Benedikt XVI. durch

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Vorwort des Herausgebers

ein historisches Zitat in seiner Regensburger Rede, wider seine Intention und wider den Sinn des Zitats, eine islamische Protestwelle auslöst (die er freilich bald zu glätten versteht). Als kurz darauf die Deutsche Oper Berlin eine Operninszenierung absetzt, die ohne Bezug zu Libretto und Partitur als willkürliche Zugabe des selbstherrlichen Regisseurs die Stifter der Weltreligionen verhöhnt, darunter Jesus und Mohammed, nimmt sie nicht etwa Rücksicht auf beleidigte Gefühle von Christen. Vielmehr fürchtet sie Repressalien von muslimischer Seite. Die Kulanz, welche die europäische Gesellschaft gegenüber dem Islam übt, entspringt keineswegs nur dem Takt und der Courtoisie, sondern zunehmend der latenten Furcht vor dem Terror. Werden demnächst die Grundrechte in Deutschland nur noch nach Maßgabe der Scharia anwendbar sein? Würde eine Reaktivierung des strafrechtlichen Verbots der Blasphemie am Ende einer Islamisierung der Gesellschaft den Weg bereiten? Der freiheitliche Staat stößt an die Grenzen seiner Möglichkeiten, wenn er das Heilige schützen soll. Eben deshalb ist es angebracht, diesen Grenzen nachzugehen. Im europäischen Verfassungsstaat verlaufen sie anders als in der Rechtswelt des Islam. Der Zündstoff, der sich wegen dieses Unterschiedes anhäuft, zwingt dazu, das Verhältnis des Verfassungsstaates zum Phänomen der Blasphemie neu zu überdenken. Diese Rückbesinnung führt zu den Fundamenten, auf denen die Kultur des Westens, in ihr sein Rechtssystem, baut. Das komplexe Thema wird aus verschiedenen fachlichen Perspektiven betrachtet, denen der Theologie und der Geschichte, der Staats- und Verfassungstheorie, des Verfassungsrechts sowie des Strafrechts. Die Abhandlungen des vorliegenden Bandes gehen zurück auf die Veranstaltung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft auf deren Generalversammlung in Regensburg am 25. September 2006. Bonn, am 2. Januar 2007

Josef Isensee

Inhalt Gottesfrevel. Ein Kapitel aus der Geschichte der Staatsaufgaben Von Professor Dr. Arnold Angenendt, Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der strafrechtliche Schutz des Heiligen Von Professor Dr. Michael Pawlik, Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? Von Professor Dr. Andreas von Arnauld de la Perrière, Hamburg . . .

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Nachwort – Blasphemie im Koordinatensystem des säkularen Staates Von Professor Dr. Josef Isensee, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Gottesfrevel Ein Kapitel aus der Geschichte der Staatsaufgaben Von Arnold Angenendt, Münster I. Vorchristliche Staatsaufgabe: Bestrafung des Gottesfeindes Wegen der als Gottesfrevel bzw. Gotteslästerung empfundenen Mohammed-Karikaturen steigert sich derzeit die Erregung bis zu Attentaten. Aber was ist eine Gotteslästerung? Im westlichen Kulturkreis erscheinen Gotteslästerung oder gar Gottesfrevel heute als Relikte vergangener, religiös besessener Zeiten. Selbst religionswissenschaftliche und theologische Handbücher oder Lexika führen den Gottesfrevel nicht mehr an; einzig etymologische Wörterbücher geben Auskunft. Wortgeschichtlich steckt in ,Frevel‘ die Bedeutung ,übermütig‘, ,hartnäckig‘, ,verschlagen‘.1 Beim Gottesfrevel wäre es demnach das übermütige Verhalten gegenüber Gott. In zwei Hauptvarianten gibt es diesen Frevel: zum einen als verwegene Rede, dann heißt er Gotteslästerung bzw. Blasphemie;2 zum anderen als verwegene Tat, dann heißt er Gottesraub bzw. Sakrileg (wörtlich: sacra legere – Heiliges wegnehmen).3 Der allgemeinen Verständlichkeit wegen wird heute oft von Got1 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 1989, S. 232. 2 Yvonne Karow, Blasphemie, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 2 (1990), S. 139 ff.; Ansgar Jödicke, Blasphemie, in: Metzler Lexikon Religion 1 (1999), S. 167 ff. 3 Manfred Hatter, Sakrileg (religionsgeschichtlich), in: LThK 8 (31999), Sp. 1463.

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tesfeindschaft gesprochen.4 Zu dieser Gottesfeindschaft zählt wesentlich die Apostasie, der Abfall derjenigen, die es doch ,besser wissen‘ müßten, weiter zwei für uns eher säkularsoziale Vergehen, nämlich Mord und Ehebruch. Der Gottesfrevel berührt die überirdische Sphäre, erregt den Gotteszorn und verlangt eine Bestrafung. Betroffen ist nicht nur der Täter, sondern jeweils das ganze Gemeinwesen, weil in ihr der Frevel geschehen ist und sie sich dadurch straffällig gemacht hat. Dem ist zuvorzukommen, indem die Gemeinde selbst entweder in religiöser Lynchjustiz oder aber, so in hochkulturellen Sozietäten, durch obrigkeitliches Urteil zur Ahndung schreitet, letztlich mit Vertreibung und gar Tötung. In geregelten Gemeinwesen obliegt der Obrigkeit die Bestrafung bzw. die Beseitigung des Frevlers. Auch die Antike kannte den Gottesfrevel, freilich bereits aufklärerisch abgeschwächt. Aus Griechenland kennen wir als bekanntesten Religionsfrevel-Prozeß den gegen Sokrates, der 399 v. Chr. mit dem Schierlingsbecher endete.5 Platon bestand darauf, Atheisten bei Hartnäckigkeit dem Tod zu überstellen.6 Nicht anders in Rom, wo der Verräter der angestammten Religion und der Schänder der sakralen Familienbande zum Gottesfrevler wurde. Doch gehörte das „Vergehen der Religionsverletzung“ (crimen laesae religionis) nicht mehr zum bereits säkularisierten Strafrecht,7 wohl aber wieder in der Spätantike das „Vergehen der Majestätsbeleidigung“ (crimen laesae maiestatis), dieses nicht als Profandelikt, sondern als religiöser Frevel.8 Beide Positionen, die griechische wie die 4 Wolfgang Speyer, Gottesfeind, in: Reallexikon für Antike und Christentum 11 (1981), Sp. 996 ff. 5 Wilhelm Nestle, Asebieprozesse, in: Reallexikon für Antike und Christentum 1 (1950), Sp. 735 ff. 6 Platon, Gesetze 10,7.7.2.1; ed. Klaus Schöpsdau, Platon. Gesetze Buch VII – XII, 21999, S. 341 ff. 7 Wolfgang Speyer, Fluch, in: Reallexikon für Antike und Christentum 7 (1969), Sp. 1160 (1191 ff.). 8 Josef Engemann, Herrscherbild, in: Reallexikon für Antike und Christentum 14 (1988), Sp. 966 (1039 f.).

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römische, sollten eine bedeutende Nachwirkung bis zur europäisch-neuzeitlichen Aufklärung haben. Daß heute in der westlichen Welt mit dem Phänomen Gottesfrevel praktisch nicht mehr gerechnet wird, ist nicht nur Folge einer allgemeinen Säkularisierung, sondern auch Folge einer christlichen Uminterpretation: zwar noch Gottesfrevel, aber nicht mehr Eliminierung der Gottesfrevler durch Menschen hier auf Erden. II. Der christliche Neuansatz: Warten auf Gottes Endgericht Vom Alten Testament her stand auf Mißbrauch des göttlichen Namens, auf Gotteslästerung, die Steinigung (Ex 20,7; Dtn 5,11); ebenso traf, wie die Makkabäer-Bücher drastisch vor Augen führen, die Gottesstrafe jeden Tempelschänder. Beides, die Blasphemie wie das Sakrileg, mußten gesühnt werden. In dieser Linie fand sich das Christentum vor und definierte als Hauptvergehen Götzendienst mit Blasphemie, dazu Mord und Ehebruch.9 Zugleich vollzog das Christentum in einem entscheidenden Punkt eine radikale Veränderung. Der Gotteszorn wurde eschatologisiert: Die Bestrafung vollzieht sich am Ende der Tage durch Gott selbst, nicht mehr durch Exekution seitens der Menschen auf Erden. Bei der Absicht der Jünger, das Feuer (des Gotteszornes) herabzurufen, „wies Jesus sie zurecht“ (Lk 9,55); denn Gott „läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute“ (Mt 5,45). Für hier und jetzt bewahrt Gott Geduld und hofft auf die Bekehrung des Sünders. Den Menschen ist geboten, statt zu verfluchen nunmehr zu segnen (Lk 6,28). Die Ablehnung des Vergeltungsfluches und die Aufforderung, statt zu fluchen zu segnen, stellte im antiken Vergleich etwas „grundsätzlich Neues“ dar.10 9 Reinhart Staats, Hauptsünden, in: Reallexikon für Antike und Christentum 13 (1986), Sp. 734 (744 ff.). 10 Speyer (N 7), Sp. 1278.

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Die Christen-Gemeinde hatte hieraus die Konsequenzen zu ziehen: Wie also mit Gotteslästerern, wie mit Gottesräubern umgehen? Die Schändung von Heiligtümern und Tempeln erledigte sich sozusagen vorweg, weil die im Geist versammelte Gemeinde gar keine Sach-Sakralität kannte, weder einen heiligen Kirchenbau noch einen heiligen Altar. Denn, so hatte Paulus ausrufen können: „Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid?“ (1Kor 3,16). Dieser Tempel war aus lebendigen Steinen auferbaut, bildete eine Personen-Gemeinschaft, stellte nicht ein sakralisiertes Steingefüge dar. Ebenso der Altar, als welcher das eigene Herz aufgefaßt wurde, aus dem alles Gute aufsteigt (vgl. Mk 12,30). Infolge dieser Spiritualisierung gab es kein Sach-Sakrileg, wohl aber den Personen-Frevel, nämlich die Entehrung, Knechtung und Tötung von Menschen. Einem Bedrängten nicht zu Hilfe zu kommen, machte zum Frevler. Wer die Armen vernachlässige, so ein altkirchlicher Satz, werde zum Mörder an ihnen.11 Während also das Sachsakrileg als solches irrelevant wurde, vergrößerte sich die Bedeutung der frevlerischen Gottesrede, zumal beim Häretiker, weil dieser das Wort Gottes verfälschte. Die Wort-Religion Christentum stand hier vor einer Aufgabe, die Paulus mit dem apodiktischen Satz artikulierte: „Es gibt kein anderes Evangelium“ (Gal 1,7). Wer aber ein anderes verkündigte – und das glaubte Paulus feststellen zu müssen –, für den galt das anathema, die Verfluchung (Gal 1,8 f.). Dieses Anathema, das zur Verurteilungsformel aller Konzilien vor dem Zweiten Vatikanum wurde, bedeutete, „dem Zorn der heiligen Macht bzw. Gottes überantworten“.12 Aber es bedeutete nicht, im Namen Gottes schon hier und jetzt auf Erden an dem „Verfluchten“ die Gottesstrafe zu vollziehen, schon gar nicht als Tötung. Ein Anathematisierter 11 Jean Devisse, L’influence de Julien Pomère sur les clercs carolingiens. De la pauvreté aux Ve et IXe siècles, in: Revue d’histoire de l’église France 56 (1970), S. 285 ff.; Thomas Sternberg, Orientalum more secutus. Räume und Institutionen der Caritas des 5. bis 7. Jahrhunderts in Gallien (Jahrbuch für Antike und Christentum), Erg.Bd. 16 (1991), S. 33 ff. 12 Speyer (N 7), Sp. 1240 f., 1263 f.

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wurde vielmehr aus der Kommuniongemeinschaft ausgeschlossen, also exkommuniziert, freilich in der Hoffnung, daß er sich bekehre und zurückkehre, und dafür war zu beten. Hier bestätigte sich Jesu Aufforderung, statt zu verfluchen zu segnen. Zur Begründung für diese Gewaltlosigkeit diente das Weizen/Unkraut-Gleichnis. Auf die Frage, ob das Unkraut auszureißen sei, folgt bekanntlich die Antwort: „Laßt beides wachsen bis zur Ernte“ (Mt 13,30), nämlich bis zur eschatologischen Ernte Gottes am Ende der Tage. In der Auslegung wurde hervorgehoben, daß ein letztgültiges Urteil über das Unkraut hier auf Erden gar nicht möglich sei, da jeder Mensch sich noch bekehren könne, wie schon die Saulus/PaulusBekehrung zeige. Obendrein hatte jener Paulus, von dem das erste Anathema stammt, selbst überdeutlich das Ertragen in Liebe angemahnt: „Die Liebe erträgt alles“ (1Kor 13,7). Daraus leitet sich unter Zugrundelegung der altlateinischen Version: Caritas tolerat omnia unser Begriff Toleranz her, verstanden als soziales Ertragen, dabei auch als Ertragen der Falschbrüder (2Kor 11,26).13 Rainer Forst bezeichnet in seiner 2003 erschienenen und von Jürgen Habermas geförderten Frankfurter Habilitationsschrift ,Toleranz im Konflikt‘ die christliche Toleranz als intersubjektiv: „Die Fehler der anderen werden aus Liebe geduldet“.14 Das Neue Testament ist Forst zufolge „für den gesamten europäischen Diskurs der Toleranz von zentraler Bedeutung“, und das „bis in die Neuzeit hinein“.15 Paulus habe in den Adiaphora (den nichtfestgelegten Glaubensdingen) Freiheit verkündet: Es sei nicht Sache anderer, jemanden von seinem persönlichen Gewissensentscheid abzubringen, selbst wenn diese anderen im Besitz der Wahrheit seien; es ver13 Klaus Schreiner, Toleranz, in: Geschichtliche Grundbegriffe 6 (1990), S. 445 ff. 14 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, 2003, S. 55. 15 Ebd., S. 58.

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sündige sich, wer dem anderen die Gewissensfreiheit nehme. Freilich habe Paulus, wie Forst einwendet, die absolute Eindeutigkeit der Offenbarungswahrheit gelehrt, wo dann allerdings nicht mehr Toleranz, sondern eine Verurteilung und der Ausschluß erfolgt seien. Doch sieht Forst hier nicht von vornherein Intoleranz, wie das Gleichnis vom Weizen und Unkraut erweise, „der für die Rechtfertigung christlicher Toleranz prominentesten Stelle“.16 Mit dem ,Lasset beides wachsen‘ (Mt13,30) werde Gott das Letzturteil überlassen; doch mit dem theologischen Ansinnen, das Unkraut ausmachen zu können, sei die Ketzervernichtung entstanden. Im Anfang indes habe Gewaltlosigkeit gegolten, wie Forst eigens bestätigt: „Allein das Wort ist demnach die Waffe des Christen, nicht irdischer Zwang oder Gewalt“.17 Und dem folgt noch der fundamentale Satz: „Der Staat hat kein religiöses Zwangsrecht, die Religion kein politisches“.18 Eben hierin ist das Fundament christlicher Toleranz zu sehen. So brachte die junge Christenheit einen grundsätzlichen Neuansatz, indem es das definitive Urteil über die Gottesfrevler zu einem eschatologischen umwandelte: Zwar das Urteil der Gemeinschaftsaufkündigung durch Menschen und für Menschen hier auf Erden, freilich mit stets möglicher Rückkehr des Verurteilten und nie mit Tötung durch Menschen, um so dem künftigen Gottesurteil nicht vorzugreifen. In dieser Weise argumentiert das Neue Testament mit Gottesfrevel, und zwar nicht allein bei Häresie, sondern auch bei Inzest und Ehebruch, die gleichfalls „Feindschaft mit Gott“ (Jak 4,4) bewirkten. Die Betroffenen waren „dem Satan zu übergeben, damit der Geist am Tage des Herrn gerettet wird“ (1Kor 5,5). Nicht aber durften „Christen selbst Hand an ihn [den Exkommunizierten] legen“.19 Es bleibt also bei einem vorläufig ausgesprochenen Urteil über den Gottesfrevler, dazu 16 17 18 19

Ebd., S. 65. Ebd., S. 61. Ebd. Norbert Baumert, Frau und Mann bei Paulus, 1992, S. 144.

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bei Gewaltverzicht durch Menschen auf Erden, letztlich aus der Hoffnung auf Rettung am Ende. Was das in der Konsequenz bis heute bedeutet und welche Aktualität dem zukommt, erhellt blitzartig ein Querschnitt durch die drei große Monotheismen: Wer zur Zeit Jesu als Nicht-Jude das Tempelinnere betrat, war des Todes. Wer heute als Nicht-Moslem die Kaaba zu Mekka berührt oder den Koran lästert, ist ebenso des Todes. Hingegen kann die Peterskirche in Rom jedermann betreten, selbst der ärgste Gottesfrevler.

III. Die christliche Welt nach der Konstantinischen Wende Das junge Christentum hat sich mit seiner Neueinstellung zum Gottesfrevel viel vorgenommen und auch viel bewirkt – wie im Folgenden deutlich wird –, sich freilich für eine totale Durchsetzung seiner Forderung fast zu viel vorgenommen, wie sich ebenso zeigen wird. Die erste Eroberung kam mit der vielberedeten Konstantinischen Wende. Kaiser Konstantin (y 337) sah sich zwei Aufgaben gegenüber: Einerseits hatte er als Herrscher der althergebrachten Pflicht nachzukommen, allen Gottesfrevel vom Reich fernzuhalten und auszutilgen; andererseits stand er vor dem christlichen Gebot, in Religionsdingen keine physische Gewalt anzuwenden. Die Lösung, die er befolgte, war durchaus respektabel: Die christlich verurteilten und aus der Kirche ausgegrenzten Häretiker, die damit unter dem Verdikt der Gotteslästerung standen, wurden in die Verbannung geschickt, nicht aber getötet. Der christliche Vorbehalt tat also seine Wirkung, sogar noch Jahrhunderte lang bis zur Jahrtausendwende. Denn im ersten christlichen Jahrtausend hat es im Westen nur eine einzige Ketzer-Hinrichtung gegeben, nämlich die des Priscillian und seiner Gefährten im Jahre 385 zu Trier. Vorrausgegangen war eine kirchlichsynodale Verurteilung; aber die Hinrichtung geschah nicht wegen Häresie, sondern wegen der säkular strafbaren Zauberei. Bischof Ambrosius (y 397) von Mailand wie ebenso

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Bischof Martin von Tours (y 397) waren so entsetzt über die Ungeheuerlichkeit dieses Prozesses, daß sie nach Trier eilten, Widerspruch einlegten und den beteiligten Bischöfen die Kirchengemeinschaft aufkündigten, wie es ebenso der damalige Papst Siricius (y 399) tat. Priscillians Hinrichtung blieb, wie gesagt, im ersten Jahrtausend die einzige. Wobei wir allerdings aus Karls des Großen Sachsen-Mission das Blutdiktat der ,Kapitulation des Sachsenlandes‘ mit der Alternative „Tod oder Taufe“ kennen, aber nichts über die Ausführung wissen; möglicherweise war dieses Diktat eben doch ein erregtes „Diktat aus dem Reitsattel“, wie man hat sagen können. Nach der Jahrtausendwende, als sich langsam wieder so etwas wie ein Staat herausbildete, meldete sich von neuem die Obrigkeit mit dem Anspruch der Frevler-Eliminierung. Der englische Historiker Robert Moore, der das Stichwort der ,persecuting society‘ eingebracht hat, sieht um die Mitte des 12. Jahrhunderts eine Wende, derzufolge die Obrigkeit nicht länger lediglich reagierte, sondern initiativ agierte, „und ebendiese neue Qualität bezeichnet einen entscheidenden Punkt im Übergang von der segmentierten, dezentralen Gesellschaft zur zentralisierten, oder, um es laxer auszudrücken, von der Stammesgesellschaft zum Staat“.20 Im Zuge dieser Neuorientierung, der zu Maßnahmen greifenden Verstaatung, erließ der englische König Heinrich II. (y 1189) „die erste Verfügung eines weltlichen Gesetzgebers im Kampf gegen die Häresie seit der Antike“.21 Den Grund sieht Moore wiederum in der klassischen und althergebrachten „Gefahr, die das ,Allgemeinwohl‘ bedroht“.22 Wenig später einigten sich die Großmächte Kaisertum und Papsttum auf eine eigene Verfahrensordnung, wobei sich Papst Lucius III. (y 1185) und Kaiser Barbarossa (y 1190) jeweils spezielle Zuständigkeiten zuwiesen: kirchlicherseits die Aufspürung und Verurteilung, herrscherlicher20 Robert I. Moore, Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Hochmittelalter, 2001, S. 247. 21 Ebd., S. 249. 22 Ebd., S. 250.

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seits gegebenenfalls die Hinrichtung.23 Dieses System von kirchlicher Aburteilung und weltlicher Hinrichtung erhielt auf dem Vierten Lateran-Konzil seine offizielle Bestätigung: „Mit Exkommunikation und Anathem belegen wir jede Häresie, die sich gegen diesen heiligen, rechtgläubigen und katholischen Glauben erhebt . . . Die Verurteilten werden den anwesenden weltlichen Gewalten oder deren Vögten überlassen“.24 Obwohl die deutschen Herrscher kaum entsprechende Maßnahmen für ihr Reich ergriffen haben, dekretierte Friedrich II. (y 1250), daß verurteilte Häretiker der weltlichen Obrigkeit zu überstellen seien, die dann die Hinrichtung durchführte.25 Es war erneut – wie man hat sagen können – die alte Angst vor dem Gottesfrevel, nämlich „die Häresie . . . als sozial verderbliches Sakraldelikt . . . , das die Majestät des defensor ecclesiae [des Kaisers als Verteidiger der Kirche] auf den Plan ruft“.26 Mit der Überweisung an den weltlichen Arm haben wir die Tötung der Gottesfrevler auch im Christentum. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß sowohl Judentum, Christentum wie Islam den Zutritt zu ihrer Religionsgemeinschaft nur überlegt und freiwillig vollzogen wissen wollen, behandeln sie dementgegen alle drei das Verlassen als strafbar, sogar als todeswürdig. Man kann das als halbe Toleranz bezeichnen: zwar freier Eintritt, aber strafbarer Austritt. Doch hatte das Christentum anfangs auch beim Abfall gewaltfrei bleiben wollen, schritt aber im Mittelalter zur Bestrafung des Austritts, also zur halben Toleranz. Schon in der Spätantike hatten sich die Ge23 Peter Diehl, ,Ad abolendam‘ (X 5.7.9) and imperial legislation against heresy, in: Bulletin of medieval canon law 19 (1989), S. 1 ff. 24 Viertes Laterankonzil – 1215. Const. 3, in: Josef Wohlmuth (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien 2, 2000, S. 233. 25 Friedrich II., Erlaß zur Verfolgung deutscher Ketzer, März 1232, in: Reinhold Mokrosch / Herbert Walz (Hg.), Mittelalter (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Ein Arbeitsbuch 2), 1980, S. 132. 26 Karl-Victor Selge, Die Ketzerpolitik Friedrich II., in: Josef Fleckenstein (Hg.), Probleme um Friedrich II. (Studien und Quellen zur Welt Kaiser Friedrich II. 4), 1974, S. 309 (325).

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wichte zu verschieben begonnen. Anzuführen ist dafür Augustinus, heute oft als „Vater der christlichen Religionsgewalt“ apostrophiert. Dabei hat Augustinus – wie wiederum jüngste Untersuchungen bestätigten – nie an Ketzertötung gedacht, wohl aber an heilsamen Zwang, dem letztlich die Betroffenen selber sollten zustimmen können. Zum Ausgangspunkt nahm Augustinus wieder die Obrigkeitspflicht der Frevel-Eliminierung, allerdings bei strikter Ablehnung der Todesstrafe, die er offenbar generell, auch im weltlichen Bereich, verabscheute. Zur Rechtfertigung des heilsamen Zwangs bezog sich Augustinus auf Jesu Aufforderung aus dem Gleichnis vom Gastmahl, die Gäste zu nötigen: Compelle intrare – treibt sie an einzutreten (Lk 14,23). Dieses „Treibt sie an“ sollte dann zum Einfallstor für immer breitere Gewaltanwendung werden, zuletzt im Mittelalter sogar mit der Möglichkeit der Ketzer-Tötung. Es war ausgerechnet die Scholastik, die diese erweiterte Interpretation sanktionierte, dabei zwar weiterhin zu Toleranz mahnte und dennoch Hinrichtungen guthieß. Denn wahre Theologie – so der stolze Anspruch – vermöge das Unkraut der Häresie eindeutig zu erkennen. Prominentester Vertreter dafür ist Thomas von Aquin (y 1274). Für Toleranz führt er vier Gründe an: Die Guten würden durch Schlechte bestärkt; die Theologie werde besser geklärt; der heute Schlechte könnte morgen wie Paulus bekehrt sein; bei Ausschluß von ketzerischen Machthabern aus der Kirche drohe eine Gefahr für deren gutgläubige Anhänger. So bleibt zwar Toleranz, aber nur bemessen, und Gewalt kann sogar geboten sein: Nachsicht gelte nur auf Zeit, und den Böswilligen gezieme Gewalt.27 In seiner ,Summa‘ erscheinen die klassischen Argumentationsstellen: Einmal das ,lasset beides wachsen‘ aus dem Weizen / Unkraut-Gleichnis, wobei er aber ein daraus abgeleitetes Tötungsverbot bestreitet; es folgt das 27 Klaus Schreiner, ,Tolerantia‘. Begriffs- und wirkungsgeschichtliche Studien zur Toleranzauffassung des Kirchenvaters Augustinus, in: Alexander Patschovsky / Harald Zimmermann (Hg.), Toleranz im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 45), 1998, S. 335 (346 ff.).

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,nötigt sie einzutreten‘ aus dem Gastmahl-Gleichnis, dessentwegen er körperliche Zwangsmaßnahmen für gerechtfertigt hält (corporaliter compellendi). Diese Zwangsmaßnahmen gehen bei ihm eindeutig über das von Augustinus eingehaltene Tötungsverbot hinaus: Hartnäckige Ketzer verdienen, „nicht nur von der Kirche durch den Bann ausgeschieden, sondern auch durch den Tod von der Welt ausgeschlossen zu werden“; wenn schon Münzfälscher staatlicherseits den Tod erführen, „so können um so mehr die Häretiker . . . auch rechtens getötet werden“; den ausgeschlossenen Häretiker „überläßt die Kirche dem weltlichen Gericht, damit er durch den Tod aus der Welt getilgt werde“.28 Thomas glich sich der in seiner Zeit üblichen Häretiker-Bekämpfung an, billigte sogar Hinrichtungen. Gerechtfertigt war damit die Kooperation von einerseits kirchlich-inquisitorischer Häretiker-Verurteilung und andererseits weltlicher Hinrichtung, wodurch Tausende Katharer, Waldenser und Spiritualen zu Tode gekommen sind. Auch Luther und Calvin haben letztlich das „Reißt nicht aus“ nur für die Prediger gelten lassen und die Tötung der Gottesfrevler durch die weltliche Obrigkeit bestätigt. Das betraf vor allem die Täufer, die Luther nach Niederwerfung ihres Münsterschen Reiches der weltlichen Obrigkeit unter Berufung auf die alttestamentliche Frevler-Eliminierung zu töten gebot: „Wer Gott lestert, der sol getoetet werden“.29 Erst die zum Pazifismus bekehrten Täufer verstanden das „Laßt beides wachsen“ wieder grundsätzlich und wurden damit zu Wegbereitern der modernen Toleranz. Andererseits haben die Theologen mit ihrem Anspruch, eine Häresie präzise aussortieren zu können, auch etwas Positives geschaffen: die Unterscheidung von Person und Sache. In den theologischen Debatten wurden bestimmte Lehrsätze zwar als 28 Thomas von Aquin, Summa theologica II – II,11,3; Die deutsche Thomas-Ausgabe 15 (1950), S. 241 ff. 29 Martin Luther, Daß weltliche Oberkeit den Widertäufern mit leiblicher Strafe zu wehren schuldig sei, Etlicher Bedenken zu Wittenberg, in: Weimarer Ausgabe 50 (1914), S. 6 (11 f.).

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häretisch verurteilt, nicht aber die Person endgültig zum Häretiker abgestempelt. Bei Meister Eckhart und nicht wenigen anderen ist so verfahren worden.30

IV. Der moderne Staat der früheren Neuzeit Verstärkt meldete dann der nach 1500 entstehende moderne Staat wieder Religionsansprüche an. Schon seit dem Spätmittelalter aber waren Landesherren und Städte bereits in eigener Kompetenz und meist ohne Zuziehung von Kirchenleuten dazu übergegangen, Gotteslästerer zu belangen und sie gegebenenfalls hinzurichten. Eine Art Wendepunkt war die große Pest von 1348/50, die als Strafe Gottes für die unzähligen Freveltaten der Menschen gedeutet wurde und bei der viele die von der offiziellen Kirche geleisteten Sühnemaßnahmen als zu gering erachteten.31 In Deutschland setzte die von Karl V. 1532 erlassene Reichsgerichtsordnung, die ,Carolina‘, den Maßstab: „Item so eyner . . . mit seinen worten gott, das jm zusteht, abschneidet, . . . sein heylige mutter die jungkfraw Maria schendet, sollen durch die amptleut oder Richter von ampts wegen angenommen, eingelegt und darum an leib, leben und glidern, nach gelegenheyt und gestalt der person und lesterung gestrafft werden“.32 Als Folge konstatiert der Rechtshistoriker Dieter Willoweit: Jeder Fürst, der evangelische wie der katholische, stand vor der Sorge, „die Sünden seiner Untertanen würden Gottes Zorn erregen und seine 30 Winfried Trusen, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF 54), 1988. 31 Gerd Schwerhoff, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200 – 1650, 2005. 32 Carolina 106, Wie Gottßschwerer oder gottßlesterung gestrafft werden sollen, in: Kaiser Karls des Fünften Peinliche Gerichtsordnung nebst der Bamberger und Brandenburger Halsgerichtsordnung. Nach den Ausgaben von 1533, 1507 und 1516 abgedruckt, 1826, S. 45; Siegfried Leutenbauer, Das Delikt der Gotteslästerung in der bayerischen Gesetzgebung (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 14), 1984, S. 28 ff.

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Strafen nach sich ziehen“.33 Nicht anders geschah es in allen um das öffentliche Wohl bemühten Ländern Europas; überall übernahmen die obrigkeitlichen Gerichte die Ahndung der Blasphemie. Für Frankreich liegen dazu gleich mehrere Arbeiten vor34. Der König selbst betrieb den Kampf gegen die Blasphemie, und von 1510 an folgte eine Serie von entsprechenden Verordnungen, bei „zunehmende[r] Entmachtung der kirchlichen Gerichtsbarkeit“;35 es gab „keine Stadt oder Dorfgemeinde, die Gotteslästerer . . . nicht . . . bestraft hätte“.36 In England wurde noch 1650 ein eigener ,Blasphemy Act‘ erlassen.37 Die öffentlich betriebene Sittenzucht wurde ein zentrales Anliegen der Staatsführung. Aus der obrigkeitlichen Gerichtszuständigkeit erklärt sich die Vermischung von weltlichen und kirchlichen Strafen, daß zunehmend die öffentlichen Kirchenstrafen in das weltliche Strafsystem einbezogen wurden, allerdings „mehr in protestantischen Ländern als in katholischen“.38 Die in den lutherischen Territorien sich entwickelnden Kirchenbehörden, die Konsistorien, waren landesherrlich dominiert: Von oben her geschah der Zugriff auf die Untertanen, „einmal durch den weltlichen Arm der Amtsleute, sodann durch den geistlichen Arm der Pfarrer“; die offenbarten Verfehlungen ließ das geistliche Institut des Konsistoriums 33 Dietmar Willoweit, Katholische Reform und Disziplinierung als Element der Staats- und Gesellschaftsorganisation, in: Paolo Prodi (Hg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs 28), 1993, S. 113 (130). 34 Olivier Christin, Sur la condamnation du blasphème (XVe – XVIIe siècles), in: Revue d’histoire de l’Église de France 80 (1994), S. 43 ff.; Jean Delumeau (Hg.), Injures et Blasphemes (Mentalites histoire des cultures et des sociétés), Paris 1989. 35 Alain Cabantous, Geschichte der Blasphemie, Weimar 1999, S. 62 (62, 65 [Verordnungen], 73). 36 Ebd., S. 83, 90. 37 Ebd., S. 82 ff. 38 Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 1985, S. 76.

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„dem weltlichen Arm überantworten“.39 Auch die reformierten Städte, zumal die Zwinglianischen, die man als „Gottesrepubliken“ hat bezeichnen können,40 verfolgten verstärkt die Gottesfrevler. Zürich hat als erste Stadt nach dem Übergang zum neuen Glauben ein eigenes (Ehe-)Gericht etabliert, mit der Intention, „daß der Rat für ein gottgefälliges Leben der Untertanen zu sorgen habe, um Gottesstrafen wie Epidemien, Hungersnöte oder sonstige Katastrophen abzuwenden“.41 Wer vor diesem Gericht als Gotteslästerer erfunden wurde, hatte anzuerkennen, „die Todesstrafe verdient zu haben“.42 Für die weltlichgeistliche Zuständigkeit ergab sich dabei, daß „der Kirche eigenständige Initiativen im Kampf gegen Blasphemie rechtlich versagt“ blieben, daß sie aber dennoch „die Kirchenstrafen zu vollziehen [hatte], die der Rat anordnete“.43 Unter den von 1526 bis 1600 in Zürich hingerichteten 471 Personen waren 56 Gotteslästerer, bis 1745 nochmals 22;44 nach neuerer Untersuchung sollen es insgesamt 84 Gottesläster-Hinrichtungen gewesen sein, die freilich zumeist in Kombination mit anderen Schwerverbrechen vollzogen wurden, so daß nur von 19 wirklichen Gotteslästerern zu sprechen sei.45 Verfolgt wurden zusätzlich die Täufer, die der Züricher Rat „mit dem Tod 39 Hans Grünberger, Institutionalisierung des protestantischen Sittendiskurses, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 215 ff. 40 Thomas A. Brady, Göttliche Republiken: die Domestizierung der Religion in der deutschen Stadtreformation, in: Peter Blickle / Andreas Lindt / Alfred Schindler (Hg.), Zwingli in Europa. Referate und Protokoll des Internationalen Kongresses aus Anlaß des 500. Geburtstages von Huldrych Zwingli vom 26. bis 30. März 1984, 1985, S. 109 ff. 41 Francisca Loetz, Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 177), 2002, S. 113 (117). 42 Ebd., S. 91. 43 Ebd., S. 85. 44 Erich Wettstein, Die Geschichte der Todesstrafe im Kanton Zürich, 1958, S. 91. 45 Loetz (N 41), S. 176, 181 (Statistik), 214 (Statistik).

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durch Ertränken“ bestrafte.46 Als entscheidendes Motiv benannte das Zürcher-Sittengesetz von 1550, mit dem sich die Sittenzucht vollends durchsetzte: „Damit uns Gott der allmaechtig glück, gnad und heil verlyhe, Gebietend wir, das yederman, jung und alt personen, frowen und man, dienstknecht und jungfrowen sich huete vor Gottes und sines heiligen namens lesterung, schelten und schweeren. . . Und waer sich harinn ungehorsam erzeigte, das dann die person, so den schwuer gehoert und gemeldet hatt, soelllichs bym Eyd in unser Statt einem Burgermeister unnd uff der Landtschafft unsern Voegten unverzogenlich fürbringen“.47 Katholischerseits ging man im Prinzip nicht anders vor. Auch das katholische Köln befürchtete „explizit nicht nur den Zorn Gottes, sondern auch seine drohende Strafe uber eine gantze gemeinde aufgrund der Lästerungen“.48 Doch ist dort nur eine Hinrichtung festzustellen.49 Im katholischen Umfeld wurden die Fragen der Glaubens- und Sitten-Zucht zuerst in der Beichte abgehandelt, wodurch sich „mehr Möglichkeiten [ergaben], sich der öffentlichen Disziplinierung zu entziehen“.50 Einen Sonderfall bietet die Fortexistenz des ansonsten in der katholischen Kirche inzwischen abgeschafften Sendgerichts in den Dekanaten des Fürstbistums Münster. Jeweils mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung wurde zweimal jährlich erfaßt und davon fast die Hälfte bestraft, jedoch nie ein Todesurteil ausgesprochen, nicht für Gottesläste46 James A. Stayer, Täufer / Täuferische Gemeinschaften, in: Theologische Realenzyklopädie 32 (2001), S. 597 (600). 47 Loetz (N 41), S. 116. 48 Gerd Schwerhoff, Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz: Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14. – 17. Jahrhundert), in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 25 (1998), S. 39 (93). 49 Ebd., S. 93. 50 Helga Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung – eine Standortbestimmung, in: Olaf Blaschke (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, 2002, S. 71 (92).

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rung, Sodomie, Ehebruch oder Kindestötung, auch nicht für Täufertum.51 Die wenigen im Münsterland zu verzeichnenden Hexen-Verbrennungen wurden von Stadtvätern oder adeligen Patrimonialgerichten vollzogen.52 Für unsere Thematik interessiert hier besonders: Es waren die europäischen Staatsmächte, die jetzt von sich aus gegen Gottesfrevler vorgingen. Wohl konnten noch theologische Sachverständige beigezogen werden, aber nicht als Beauftragte der Kirche, sondern des Staates; es waren Verurteilungen „ohne zuvorige kirchliche Inquisition“.53 Der mittelalterliche Synergismus von kirchlicher Verurteilung und staatlicher Hinrichtung war damit unterlaufen: Der Staat agierte hier in eigener und alleiniger Vollmacht. Der amerikanische Historiker William Monter spricht von einer „Säkularisierung“ der Häretiker-Verfolgung, daß zuerst die beiden Habsburg-Brüder Karl V. und Ferdinand I. „das Verbrechen der Häresie vollauf säkularisierten“ und ihre Rivalen, die Valois in Frankreich und die Tudor in England, „dieses Vorgehen imitierten“.54 Zumal das Pariser Parlament, von Monter als „der größte Gerichtshof im Europa der Renaissance“ bezeichnet, „befaßte sich ohne zu zögern mit den Häresie-Fällen“.55 So verlagerten sich die Verurteilungen von „der hergebrachten päpstlichen Inquisition in die Hände der königlichen Richter“.56 Für die 51 Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570 – 1800 (Forschungen zur Regionalgeschichte 33), 2000, S. 455 ff. 52 Gudrun Gersmann, Wasserproben und Hexenprozesse. Ansichten der Hexenverfolgung im Fürstbistum Münster, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), S. 449 (475). 53 Claus-Peter Clasen, Anabaptism. A Social History, 1525 – 1618, Switzerland, Austria, Moravia, South and Central Germany, Ithaca / London 1972, S. 375: „without prior ecclesiastical inquisition“. 54 William Monter, Les exécutes pour hérésie par arreêt du Parlement de Paris (1523-1560), in: Bulletin de la Sociéte de l’Histoire du Protestantisme Français 142 (1996), S. 191 (192 f.): „avaient pleinement ,sécularisé‘ le crime d’hérésie“, „imitaient cette démarche“. 55 Ebd., S. 191 f.: „la plus grande cour judiciaire de l’Europe de la Renaissance“, „n’hésita pas à s’occuper des cas d’hérésie“.

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Königsgerichte im Languedoc und die dort geführten Häretiker-Prozesse ist ebenso von einer „Laisierung der Inquisition“ gesprochen worden.57 Nur mit Erstaunen ist zur Kenntnis zu nehmen, wie sich hier das uralte Syndrom der obrigkeitlichen Bestrafung der Gotteslästerer und damit auch der Glaubensabweichler neu durchsetzte und als vornehmliche Herrschaftspflicht galt. Da auch die neugläubigen Obrigkeiten mitmachten, zeigt hier die vielgerühmte reformatorische Freisetzung der Eigengesetzlichkeit bzw. Eigenständigkeit des Politischen58 eine durchaus bedenkliche Seite. Eine der verbreitetsten Täuschungen, denen wir im Staat / Kirche-Verhältnis erliegen, unterstellt, der Staat sei immer und überall von säkularer Natur gewesen. Erst die Kirche habe sich des Staates für ihre Zwecke bedient, perfiderweise sogar für die Tötung der von der Inquisition verurteilten Häretiker. Demgegenüber zeigt sich, daß alle vormodernen Obrigkeiten, und damit auch die europäisch-christlichen, ihr Wohlergehen als von den Mächten des Himmels abhängig betrachteten und darum den Gottesfrevel auf Erden bekämpften. Hier blieb eine durchgehende Linie von der Antike bis zur Aufklärung im 18. Jahrhundert.

V. Theologie des Kreuzzugs Das zweite große Feld des Gottesfrevels, der sakrilegische Gottesraub, blieb im Christentum ursprünglich ohne wirkliche Bedeutung. Aber auch das änderte sich. Kirchenberau56 William Monter, Heresy executions in Reformation Europe, 15201565, in: Ole Peter Grell / Bob Scribner (Hgg.), Tolerance and intolerance in the European Reformation, Cambridge 1996, S. 48 (53): „old-fashioned papal Inquisitors into the hands of royal judges“. 57 Raymond A. Mentzer, Heresy Proceedings in Languedoc, 1500 – 1560, in: Transactions of the American Philosophical Society 74, Teil 5 (1984), S. 1 (159). 58 Bernhard Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, 1981, S. 192 f.

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bung – so wußte es das Mittelalter immer wieder zu bestätigen – zog die Gottesrache nach sich. Meist wähnte man sie durch Gott selbst vollzogen, aber auch Menschen sahen sich dazu aufgefordert. Wie es schon bei der Häretiker-Tötung einen Einbruch gab, so nun auch bei der Orts- und Sachsakralität. Exemplarisch stehen dafür die Kreuzzüge. Sie wurden nicht zuerst als Eroberungs- und Missionskriege geführt, sondern zielten darauf, die von den Sarazenen besudelten Stätten Jesu Christi zurückzuerobern und in ihrer Heiligkeit wiederherzustellen. Es ging direkt um die Orte, wo Jesus geboren und in die Krippe gelegt worden war, wo er gepredigt und geheilt hatte, zumal um die Stellen, wo er sein Letztes Mahl mit seinen Jüngern gefeiert hatte und wo er gekreuzigt worden und auferstanden war.59 Hatten die Spiritualen immer betont, solches alles sei im inneren Herzen zu erwägen und dort festzuhalten, so wollten die Kreuzfahrer genau an den heiligen Orten Jesu stehen; dafür sollte alles, was im Heiligen Land frevlerisch entheiligt war, wieder christlicher Heilsort werden. Sogar die Päpste riefen dazu auf und fanden ein überwältigendes Echo.60 Doch kamen die Kanonisten mit Bedenken: Zu rechtfertigen sei nur ein Verteidigungskrieg, allenfalls noch einer zur Wiedergewinnung widerrechtlich weggenommenen Territoriums. Aber traf das auf das Heilige Land zu? Hatte nicht Gott selbst die Eroberung zugelassen, da doch die Muslime das Land inzwischen schon seit Jahrhunderten bewohnten? Radikale Kreuzzugskritiker wie zum Beispiel der Engländer Ralph Niger, einer der „wilden Studenten“ zur Mitte des 12. Jahrhunderts in Paris, provozierte geradezu: Dann solle doch Gott selber die Reinigung und Wiedergewinnung bewerkstelligen. Ja, Niger kam mit der aufklärerischen Formel, 59 Kaspar Elm, Die Kreuzzüge – Kriege im Namen Gottes?, in: ders., Umbilicus Mundi. Beiträge zur Geschichte Jerusalems, der Kreuzzüge, des Kapitels vom Hlg. Grab in Jerusalem und der Ritterorden, 1998, S. 23 f. 60 Jonathan Riley-Smith, Kreuzzüge, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 1508 ff.

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die Sarazenen seien von gleicher Menschen-Natur und dürften darum nicht einfach wegen anderen Glaubens erschlagen werden.61 Dennoch obsiegte die Kreuzzugsidee des Heiligen Krieges, immer neu motiviert und finanziert von den Päpsten, selbst von Innozenz III., dem als größter Papst des Mittelalters Gefeierten.62 Indem aber die Kreuzzüge die tradierte und als verpflichtend geltende Lehre vom Gerechten Krieg überschritten, waren sie christlich intolerabel. Daß dennoch die Päpste sie befürworteten, schuf eine schwere Hypothek. Doch ist angesichts heutiger Diskussionen auch darauf hinzuweisen, daß damals die Kreuzzüge in der islamischen Welt keine allgemeine Erhebung auslösten; erst heute werden sie zur Legitimierung von antiwestlichen Gegenkreuzzügen ins Feld geführt. VI. Religionsfreiheit Die Aufklärung hat die entscheidende Veränderung gebracht; aber nicht sofort. Der beispielsweise ob seiner Toleranz gerühmte Franzose Sebastian Castellio (y 1563) wollte zwar in jeweiliger Konfessionsdogmatik Toleranz, wer jedoch Gott und die Heilige Schrift leugne, der sei blasphemus und darum zu bestrafen. Ebenso wollte noch der Hallenser Christian Thomasius (y 1728) die Atheisten von der Toleranz ausgenommen wissen; Rousseau (y 1778) dachte für Atheisten sogar an die Tötung. Mit der wachsenden aufklärerischen Zuversicht, der freigesetzte Verstand führe zu allgemeiner Evidenz, erhob sich die Forderung nach Religions- und Meinungsfreiheit, wie sie die Französische Revolution zum Menschenrecht erklärte: „Niemand soll wegen seiner Ansichten, 61 Radulfus Niger, De re militari et triplici via peregrinationis ierosolimitane III, 90, hg. v. Ludwig Schmugge, Radulfus Niger – De re militari et triplici via peregrinationis ierosolimitane (1187 / 88). Einleitung und Edition (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 6), 1977, S. 196. 62 Michael Menzel, Kreuzzugsideologie unter Innocenz III., in: Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 39 ff.

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auch der religiösen, beunruhigt werden . . . Die freie Mitteilung von Gedanken und Meinungen ist eins der kostbarsten Rechte des Menschen . . .“.63 Wie stellten sich nun fortan der Gottesfrevel und die Gotteslästerung dar? Sie gab es einfach nicht mehr. Der deistische Gott stand aller menschlichen Rede zu fern, ob nun dem frommen Gebet oder der freventlichen Blasphemie. Wie er auf Bitten hin sich nicht zu Gnaden bewegen ließ, so auch durch Frevel nicht zur Rache. Folglich konnte darauf verzichtet werden, einen angeblichen Gottesfrevel mit Gewalt zu rächen. Der moderne Staat garantiert seitdem Religionsfreiheit: Jeder kann nach seiner Façon selig werden. Genau besehen kommt diese Freiheit mit der altkirchlichen Gewaltfreiheit in Religionsdingen durchaus überein. Eigentlich konnten sich die Christentümer seit der Aufklärung von einer falschen Erblast befreit sehen. So gab es dann auch genug Christentumsvertreter, die dies erkannten und anerkannten. Der Kanadier Charles Taylor etwa möchte einem Voltaire, der doch sein „Rottet sie aus, die infame“ [die Kirche] hinausposaunt hatte, heute noch dafür danken, jede Gewaltanwendung in der Religion und auch im Christentum wieder beseitigt zu haben.64 Zugleich wird seither von den verschiedenen Religionsgruppen erwartet, daß sie in Frieden zusammenleben. Zur Absicherung hat sich der moderne Staat verpflichtet, die religiösen Rechte und Gefühle seiner Bürger und Bürgerinnen zu schützen. Im konkreten Fall kann das allerdings hohe Sensibilität von allen Beteiligten erfordern. Das betrifft schon das Recht auf Religionswechsel. War es zuvor Religionsgesetz gewesen, Abgefallene wegen Gottesfrevels zu verfolgen, so ermöglichte nun das Recht auf volle Religions- und Meinungs63 Die (französische) Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers von 1789 (3. September 1791), Artikel 1; in: Wolfgang Heidelmeyer, Die Menschenrechte. Erklärungen, Verfassungsartikel, Internationale Abkommen, 1997, S. 56 ff. 64 James L. Heft, A Catholic Modernity? Charles Taylor’s Marianist Award Lecture, New York u. a. 1999, S. 18.

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freiheit auch das Recht, einen Religionswechsel zu praktizieren, ohne dafür von der verlassenen Religions-Gruppe belangt werden zu können. Ja, wer seine angestammte Religion verläßt, hat obendrein das Recht, sich auch frei darüber zu äußern. Heikel wird es allerdings, wenn dabei Äußerungen fallen, die die Anhänger der verlassenen Gruppe als beleidigend und unzutreffend empfinden. Das betrifft die Christen so gut wie die Angehörigen aller sonstigen Religionsgruppen. In der derzeitigen Diskussion um das Verhältnis zum Islam braucht nur an Salman Rushdie, an die Selbstbekenntnisse türkischer Frauen in Berlin oder an die dänischen MohammedKarikaturen erinnert zu werden. Zur vollen Religionsfreiheit gehört heute wie selbstverständlich die Kritik an Religion und Religionsgemeinschaften. Gemäß bundesdeutschem Recht erfolgt eine Ahndung indes nur bei Störung des öffentlichen Friedens, nicht aber wegen Verletzung persönlicher Religionsgefühle. So wird eine Islam-kritische Aufführung von Mozarts ,Idomeneo‘ zum Sicherheitsproblem, nicht aber eine Verunglimpfung Jesu, Mariens oder christlicher Gottesdiensthandlungen. Der Regensburger Jurist Michael Pawlik stellt kurzum fest: „Ein ernstzunehmender strafrechtlicher Schutz religiöser Überzeugungen existiert in Deutschland nicht mehr“.65 Was aber bei alldem letztlich klar sein sollte, ist: Der Gottesfrevel kann, um des Friedens in der Welt willen, nicht mehr mit Gewalt ausgetragen werden. Im clash of civilisations könnte allzu rasch ein explosiver Zündpunkt erreicht werden.

65 Michael Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen (in diesem Band), S. 38 f.

Der strafrechtliche Schutz des Heiligen Von Michael Pawlik, Regensburg I. Die Strafbarkeit der Gotteslästerung 1. Kritik der Aufklärung „Unter den Lastern ist das erste und ärgste die Gotteslästerung“, so hieß es in der Theresiana, dem Strafgesetzbuch Maria Theresias von 1768.1 Dementsprechend führten die Religionsdelikte den Besonderen Teil dieses Gesetzbuches an, und es waren für sie äußerst harte Strafen vorgesehen, nämlich die „lebendige Verbrennung“ nach vorangegangenem Abschneiden der Zunge bzw. Abhacken der Hand.2 Den Strafdrohungen der Theresiana lag eine ehrwürdige, rund zwölfhundertjährige Tradition zugrunde. Erstmals qualifizierte eine aus dem Jahre 538 stammende Novelle zum Codex Justinianus die Blasphemie als todeswürdiges Verbrechen. Gottes Zorn ob der an ihm verübten Schmähung müsse durch die schwerste Strafe besänftigt werden, damit der beleidigte Herr nicht Erdbeben, Hungersnot und Pestilenz auf die Erde schicke.3 Diese Strafvorschrift wurde mitsamt ihrer von Justinian gegebenen Begründung wiederholt nicht nur auf dem Wormser Reichs1 Zitiert nach Wilhelm Kahl, Religionsvergehen, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, hg. von Karl Birkmeyer u. a., Besonderer Teil, Bd. 3, 1906, S. 12 f. 2 Egmond Foregger, in: Franz Höpfel / Eckart Ratz (Hg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 22000, Bd. 3, Vorbem. zu §§ 188 – 193 Rn. 1. 3 Carl Eduard Otto u. a., Das Corpus Juris Civilis, Bd. 7, 1833, S. 381 f. (Novelle 77). Dazu in diesem Band Arnold Angenendt, Gottesfrevel, S. 9 ff.

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abschied von 1495 sowie in den Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrhunderts, sondern noch im Jahre 1721 im Landrecht für das Königreich Preußen.4 Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten der Theresiana, im Jahre 1787, erließ Maria Theresias Sohn Joseph II. ein neues Strafgesetzbuch. In ihm war die Gotteslästerung vom schwersten aller Laster zu einer bedauernswerten Geistesverwirrung zurückgestuft, und die staatliche Reaktion hatte sich gewandelt von einer Strafe zu einer Maßregel der Sicherung und Besserung. „Wer“ – so hieß es in der Josephina – „die Vernunft auf den Grad verläugnet, um den Allmächtigen in öffentlichen Oertern, oder in Gegenwart anderer Menschen, durch Reden, Schriften, oder Handlungen freventlich zu lästern, ist als ein Wahnwitziger zu behandeln, und in dem Tollhause so lange gefänglich anzuhalten, bis man seiner Besserung vergewissert ist“.5 Auch im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 fand sich ein völlig veränderter Ton. Zwar wurde dort an der Strafbarkeit der Gotteslästerung festgehalten, aber der Strafgrund hatte sich gewandelt. Nicht mehr als Beleidiger von Gottes Majestät, sondern als Störer der öffentlichen Ordnung wurde der Gotteslästerer bestraft. „Wer durch öffentlich ausgestoßene grobe Gotteslästerungen zu einem gemeinen Aergernisse Anlaß giebt, soll auf zwey bis sechs Monate ins Gefängniß gebracht, und daselbst über seine Pflichten, und die Größe seines Verbrechens, belehrt werden“.6 Das von Feuerbach verfaßte Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 schließlich kannte überhaupt keine Religionsdelikte mehr. Lediglich die Störung des Gottesdienstes und die öffentliche Beleidigung 4 Karlhans Dippel, in: Burkhard Jähnke / Heinrich W. Laufhütte / Walter Odersky (Hg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 11 2005, Vor § 166 Rn. 7; Eduard Kohlrausch, Die Beschimpfung von Religionsgesellschaften, 1908, S. 10; Ansgar Skriver, Gotteslästerung?, 1962, S. 18 ff. 5 Strafgesetzbuch von 1787, 2. Theil, § 61, zitiert nach Arno Buschmann (Hg.), Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998, S. 269. 6 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 2. Theil, 20. Abschnitt, § 217, zitiert nach Buschmann (N 5), S. 297.

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von Geistlichen wurden unter Strafe gestellt,7 und zwar als „Verbrechen wider den öffentlichen Rechtsfrieden im Staate“.8 Über „Prediger, welche in öffentlichen Vorträgen oder Schriften . . . Religionshaß zu wecken, oder zu unterhalten suchen“, wurde lediglich bestimmt, daß sie „ihres Amtes entsezt werden“ sollten.9 Den Grund für diesen Wandel hat niemand konziser zusammengefaßt als Feuerbach selbst. In seinem Lehrbuch bemerkte er kurz und bündig: „Dass die Gottheit injuriirt werde, ist unmöglich; dass sie wegen Ehrenbeleidigungen sich an Menschen räche, undenkbar; dass sie durch Strafe ihrer Beleidiger versöhnt werden müsse, Thorheit“.10 Die Aufklärung hatte der bisherigen Deutung der Gotteslästerung den Boden entzogen.11 Unter ihrem Einfluß wandelte sich der „Gottesschutz“ zum „Menschenschutz“:12 Wenn das Strafrecht das Heilige schützen wollte, dann – so die seither kaum mehr bezweifelte Ansicht13 – nicht um Gottes, sondern um der Bürger willen. 7 Art. 336, 424 des Bayerischen Strafgesetzbuches von 1813, zitiert nach Buschmann (N 5), S. 515, 530. 8 So die Überschrift des einschlägigen 4. Kapitels, zitiert nach Buschmann (N 5), S. 514. 9 Art. 326 des Bayerischen Strafgesetzbuches, zitiert nach Buschmann (N 5), S. 513. 10 Ludwig Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, hg. von Karl Joseph Anton Mittermaier, 141847, S. 488 f. 11 Dazu im einzelnen Joachim Mey, Wandlung der Wertung religiöser Straftaten seit dem Mittelalter in Deutschland, Diss. Hamburg 1950, S 111 ff. 12 Waldemar v. Rohland, Historische Wandlungen der Religionsverbrechen, in: FS der Albrecht-Ludwigs-Universität in Freiburg zum 50jährigen Regierungs-Jubiläum seiner Königlichen Hoheit des Grossherzogs Friedrich, 1902, S. 122 (141). 13 Eine der seltenen Ausnahmen bildet Eduard Henke, der sich in seinem „Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik“ (3. Theil, S. 647) noch 1830 zu der alten Pestilenz- und Erdbebentheorie bekannte, und zwar mit dem „unwiderlegliche(n) Argument, daß jene Ansicht ja in der Bibel ausgesprochen sey“. – Aus neuerer Zeit: Martin, in: Stimmen der Zeit 1960 / 61, 446: Die Entehrung Gottes zu verhindern, müsse Zweck einer Vorschrift gegen Gotteslästerung sein, „und zwar in erster

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Welche Begründungsstrategien standen zu diesem Zweck zur Verfügung? Dem Geist des aufgeklärten Absolutismus entsprach es, auf das Interesse des Staates abzustellen, die Religionsverbrechen also als Staatsverbrechen zu deuten. Das Interesse des Staates an der Religion war zweifacher Art. In erster Linie mußte es ihm darum gehen zu verhindern, daß die vorhandenen konfessionellen Differenzen in gewaltsame Auseinandersetzungen mündeten – sei es dadurch, daß ein Teil der Bevölkerung gegen andersgläubige Mitbürger aufgehetzt wurde, sei es dadurch, daß die Beleidigten ihrerseits zum Mittel der Gewalt griffen. Darüber hinaus trachtete der Staat aber auch danach, sich die „Disziplin durch Religion“ zunutze zu machen, damit das, was bei den Menschen „durch äußeren Zwang nicht erreicht werden kann, durch innern (das Gewissen) bewirkt werde“.14 Was Kant hier aussprach, gehörte zum Gemeingut der aufklärerischen Staatstheorie. Die sächsischen Juristen Globig und Huster konstatierten in ihrer „Abhandlung von der Criminalgesetzgebung“: „So wie die Policey durch sichtbare und handgreifliche Mittel die Sitten und gute Ordnung erhält, eben so ist die Religion eine unsichtbare Führerin zur Tugend und zum ordentlichen Leben . . . Ein jeder Staat hat seine Religion. Diejenigen, welche sie antasten, sind strafbar, nicht weil sie sündigen, oder weil sie falsche Meynungen hegen, sondern weil sie eine Stütze der bürgerlichen Gesellschaft untergraben“.15 Das Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus war freilich zugleich das Zeitalter der Empfindsamkeit, einer Feier der Subjektivität. Von dieser Warte aus betrachtet, stellte sich die Blasphemie als ein Delikt gegen die heiligsten Überzeugungen des einzelnen Gläubigen dar. Nicht von ungefähr brachte Rousseau, der „Meister der schönen Linie aus Verantwortung gegenüber Gott selbst, nicht aus Rücksicht auf die Gefühle von Menschen“. 14 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, 1983, Bd. 10, S. 689 Anm. 15 Hanns Ernst von Globig / Johann Georg Huster, Abhandlung von der Criminalgesetzgebung, 1783, S. 22 f.

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Seelen“,16 diesen Gedanken auf den Begriff. Grobe Gottlosigkeiten und Lästerungen gegen die Religion seien strafbar, weil man damit nicht allein die Religion, sondern auch diejenigen, die sie bekennen, angreife; „man beschimpft und beleidigt sie in ihrem Gottesdienst, man zeigt eine sträfliche Verachtung gegen das, was sie hochschätzen, und folglich auch gegen sie selbst“.17 Die gleiche Erwägung fand sich einige Jahre später bei Feuerbachs Freund und Konkurrenten Grolman: Die Blasphemie werde gestraft, weil in der Verspottung des höchsten Wesens zugleich der Versuch liege, „die Anbeter desselben in den Augen Andrer verächtlich zu machen“.18 Mit dem Verweis auf die Bestandsbedingungen des Staates einerseits und den Achtungsanspruch des einzelnen Gläubigen andererseits war der Boden abgesteckt, auf dem sich in den folgenden zweihundert Jahren die Kontroversen über den Straftatbestand der Gotteslästerung abspielen sollten. Einmal mehr bestätigt sich damit Reinhart Kosellecks berühmte These, die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts seien die „Sattelzeit“ gewesen, in der sich die Sprache herausgebildet habe, die unsere staatstheoretischen und politischen Diskurse bis heute prägt.19 Die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts nahm die neuen Ansätze zur Legitimation der Religionsvergehen, namentlich der Gotteslästerung, dankbar auf. Bayern fand mit seiner gänzlichen Abschaffung der Religionsdelikte unter den übrigen deutschen Staaten keine Nachahmer.20 Im Gegenteil: Mit 16 So eine Kapitelüberschrift in der Rousseau-Biographie von Christiane Landgrebe, „Ich bin nicht käuflich“, 2004, S. 200. 17 Jean-Jacques Rousseau, Briefe vom Berge, in: ders., Schriften in zwei Bänden, hg. von Ritter, 1978, Bd. 2, S. 135. 18 Karl Ludwig von Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, 1798, S. 339. Eine ähnliche Position – allerdings nicht auf den einzelnen Gläubigen, sondern auf die betroffene Religionsgesellschaft als ganze bezogen – vertrat Feuerbach (N 10), S. 489: Die Kirche habe ein Recht auf Ehre; wer ihren Zweck entwürdige, der entwürdige sie selbst. 19 Reinhart Koselleck, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. XV. 20 Kahl (N 1), S. 15.

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der „romantisch-orthodoxen Rückströmung“ im Zeitalter der Restauration21 gingen eine neue Wertschätzung der Religion22 und eine erneute Verschärfung des Religionsstrafrechts einher. Die Vorgeschichte des Preußischen Strafgesetzbuches spiegelt diese Klimaänderung auf das anschaulichste.23 Während die Motive des Entwurfs von 1828 den Zweck des BlasphemieTatbestandes noch allein darin sahen, „Fanatismus und Intoleranz zu bekämpfen“, also Beeinträchtigungen des inneren Friedens zu verhindern, sprachen bereits die Motive 1833 davon, daß Religion und Gottesdienst eine der Grundlagen des Staates bildeten,24 „und würde die Verletzung dieser Grundlagen Leichtsinn und Irreligiosität überhaupt befördern“. Im Vereinigten Ständischen Ausschuß von 1848 schließlich wurde diese staatspolitische Begründung von keinem Geringeren als Savigny ergänzt um die Erwägung, daß in gotteslästerlichen Handlungen „eine tiefe Verletzung des religiösen Gefühls eines großen Teils der Nation liegt . . . ; das ist es, was hier unter Strafe gestellt wird“.25 Damit war auch die zweite der im späten 18. Jahrhundert vorgezeichneten Argumentationsstrategien aufgegriffen worden, allerdings in einer gegenüber Rousseau veränderten Form: Während der Genfer Philosoph mit normativen Kategorien – Beleidigung und Verachtung der Gläubigen – operierte, begnügte man sich in Preußen mit dem Verweis auf einen puren psychischen Befund: die Glaubensüberzeugungen der Bürger. Das Ergebnis war eine Gesetzesbestimmung, die die öffentliche Lästerung Gottes oder die Verspottung einer Religionsgesellschaft mit einer GefängnisKohlrausch (N 4), S. 33. Vgl. nur Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, 1998, S. 403 ff. 23 Zum folgenden Kohlrausch (N 4), S. 36 f. – Ausführlich zur Gesetzgebungsgeschichte Gerhard Holstein, Die Religionsvergehen im Strafgesetzbuch, Diss. Kiel 1966, S. 54 ff. 24 Ebenso die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten (hg. von Theodor Goltdammer), Theil II, 1852, S. 263 f. 25 Verhandlungen des Vereinigten ständischen Ausschusses, Bd. 3, 1848, S. 322 f. 21 22

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strafe bis zu drei Jahren bedrohte, sechsmal so hoch wie im Allgemeinen Landrecht.26 Über das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund ging diese Bestimmung in wenig veränderter Form in das Reichsstrafgesetzbuch ein; vor allem wurde das Erfordernis der Erregung von Ärgernis in den Tatbestand des damaligen § 166 StGB aufgenommen. In dieser Form galt die Blasphemievorschrift bis zum Jahre 1969. 2. Kein ernstzunehmendes strafrechtliches Verbot Der seither geltende § 166 StGB weitet den alten Gotteslästerungstatbestand insoweit aus, als er den religiösen die weltanschaulichen Bekenntnisse und den Religionsgesellschaften die Weltanschauungsvereinigungen gleichstellt. Zudem bezieht er den Strafschutz nicht mehr „auf die Wertgröße ,Gott‘ an sich, sondern auf ihre Spiegelung im einzelnen Menschen“;27 die neue amtliche Überschrift „Bekenntnisbeschimpfung“ reflektiert diese Verschiebung. Am bedeutsamsten ist indes eine dritte Änderung: Unter den Händen des Reformgesetzgebers wandelte sich der § 166 StGB von einem Delikt gegen die religiösen Empfindungen der Bürger zu einer Straftat gegen den öffentlichen Frieden.28 Dementsprechend ist die Strafbarkeit nunmehr davon abhängig, daß die Beschimpfung geeignet ist, dieses Rechtsgut zu beeinträchtigen, also den öffentlichen Frieden zu stören. Der alte Streit über Legitimität und Ausgestaltung eines Straftatbestandes gegen Gotteslästerung ist allerdings auch nach dem Inkrafttreten des neuen § 166 StGB nicht verstummt. Damit war freilich auch nicht zu rechnen, stellt dieses Delikt doch nach einer Bemerkung Maihofers „den beispielhaftesten aller Weltanschauungstatbestände“ dar.29 Die 26 § 135 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 (Text bei Buschmann [N 5], S. 567). 27 Heinz Zipf, Die Delikte gegen den öffentlichen Frieden im religiösweltanschaulichen Bereich (§§ 166, 167 n.F. StGB), in: NJW 1969, S. 1944. 28 BT-Drucks. V / 4094, S. 29. 29 Werner Maihofer, Die Reform des Besonderen Teils des Strafrechts, in: Leonhard Reinisch (Hg.), Die deutsche Strafrechtsreform, 1967, S. 171.

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CDU / CSU hat bereits mehrfach Gesetzesanträge zur Verschärfung dieser Vorschrift eingebracht,30 die jedoch im Parlament erfolglos geblieben und in der Strafrechtswissenschaft auf heftige Ablehnung gestoßen sind.31 Die ungebrochene „Christophobie“32 unter Deutschlands Intellektuellen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten daran gewöhnt haben, blasphemischen Hohn für zivilisatorische Verfeinerung zu halten, weist eher in die Gegenrichtung. So forderten vor einigen Jahren die Grünen die gänzliche Streichung des § 166 StGB.33 Im neueren Schrifttum können sie dabei auf breite Zustimmung rechnen, angefangen vom Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts.34 Die Praxis hat den Konflikt auf ihre Weise gelöst: Die Verurteilungszahlen sind minimal;35 selbst in drastischen Fällen kommt es regelmäßig nicht zu einer Bestrafung,36 ja häufig nicht einmal zu einer Anklageerhebung.37 Ohne große Übertreibung läßt sich feststellen: BR-Drucks. 367 / 86; 460 / 98; BT-Drucks. 14 / 4558. Vgl. insbesondere Thomas Fischer, Die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stärken, in: NStZ 1988, S. 159 ff.; Klaus Lüderssen, Ein neuer § 166 StGB?, in: FS für Stefan Trechsel, 2002, S. 631 ff.; Joachim Renzikowski, Toleranz und die Grenzen des Strafrechts, in: GS für Dieter Meurer, 2002, S. 179 (188). 32 Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gresellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173 (208). 33 BT-Drucks. 13 / 2087. 34 Daniel Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, 1997, S. 360; Fischer (N 31), S. 165; ders., in: GA 136 (1989), S. 463 ff.; Winfried Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordung, in: Luigi Vallauri / Gerhard Dilcher (Hg.), Christentum, Säkularisation und modernes Recht, 1981, S. 1310 (1318, 1325); Tatjana Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 356 f.; Heribert Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung (§§ 166 – 168 StGB), Diss. Köln 1982, S. 78. Nahestehend Roland Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 298 f. 35 Vgl. Tatjana Hörnle, in: Wolfgang Joecks / Klaus Miebach (Hg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2 / 2, 2005, § 166 Rn. 5. 36 Vgl. etwa OLG Karlsruhe, in: NStZ 1986, S. 363 (365); OLG Koblenz, in: NJW 1993, 1808 f.; OLG Celle, in: NJW 1986, 1275 f.; LG Frankfurt, in: NJW 1982, 658; LG Bochum, in: NJW 1989, 727 f. 37 Renzikowski (N 31), S. 180. 30 31

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Ein ernstzunehmender strafrechtlicher Schutz religiöser Überzeugungen existiert in Deutschland nicht mehr. Diesen Zustand mag man beklagen. Sich damit zu begnügen hieße allerdings, sich vor der entscheidenden Frage davonzustehlen: Steht § 166 StGB vielleicht nur noch „als ein vergessenes Überbleibsel vergangener Zeiten“ im Gesetzbuch, dem die Rechtspraxis aus guten Gründen die praktische Anwendung versagt?38 Wäre die förmliche Abschaffung dieser Bestimmung nicht der konsequente Endpunkt jener Säkularisierung der Religionsdelikte, wie sie die Aufklärung – soweit ersichtlich, irreversibel – eingeleitet hat? Umgekehrt gewendet: Halten die Argumente stand, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zur Rettung des Gotteslästerungstatbestandes ersonnen worden sind? Dieser Frage möchte ich im folgenden nachgehen. Zunächst (unter II.) widme ich mich den Versuchen, die Gotteslästerung zu einem Delikt gegen öffentliche Belange umzuinterpretieren. Meiner Ansicht nach sind diese Versuche allesamt zum Scheitern verurteilt. Die Kritik am gegenwärtigen § 166 StGB ist insofern berechtigt. Sodann (unter III.) erörtere ich den rousseauischen Gedanken, die Blasphemie als eine beleidigungsähnliche Straftat gegen die Person zu deuten. Dieser Ansatz ist meines Erachtens der bei weitem überzeugendere. Er vermag einen – eng gefaßten – Straftatbestand der Bekenntnisbeschimpfung zu legitimieren. Ob es empfehlenswert ist, von dieser Option auch tatsächlich Gebrauch zu machen, ist freilich eine andere Frage. Insofern bin ich eher skeptisch. II. Schutz des öffentlichen Friedens Die Auffassung, daß die Pönalisierung der Gotteslästerung dem staatspolitischen Interesse an lebendiger Religiosität Rechnung trage, blieb das ganze 19. Jahrhundert hindurch lebendig.39 Einen letzten Aufschwung erfuhr sie im KaiserSo im Hinblick auf den alten § 166 StGB Mey (N 11), S. 198. Carl F. T. Hepp, in: Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 14 (1834), 342; Franz von Holtzendorff, in: Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung 38 39

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reich.40 So heißt es in einer Arbeit aus dem Jahre 1909: „Solange die Herrenmenschen, die so völlig im Guten und Edlen wurzeln, daß sie sich selbst Gesetz sein können, . . . nur Phantasiegebilde idealer Philosophengehirne . . . bleiben“, müsse der Tatsache Rechnung getragen werden, „daß die ethischen Kräfte für weite Kreise des Volkes hauptsächlich aus der Religion hervorströmen“.41 Dieser Legitimationsansatz ist allerdings schon deshalb nicht zu halten, weil These und Begründung nicht zusammenpassen. Blasphemische Äußerungen führen in aller Regel nicht dazu, andere in ihren Glaubensüberzeugungen wankend zu machen. Im Gegenteil: „Gegen Lauheit und Stumpfheit gibt es kein wirksameres Stimulans als rohen Schimpf“.42 Die gemeinsame Empörung über den Lästerer wird deshalb eher dazu beitragen, die Reihen der Gläubigen zu schließen.43 Wo hingegen eine solche Empörung ausbleibt, dort ist die lebendige Religiosität ohnehin vergangen.44 Um Gefährdungen der sozialintegrativen Kraft der Religion zu verhindern, müßte der Gesetzgeber nicht die Blasphemie, sondern die Häresie und den Atheismus unter Strafe 1861, 275; Friedrich von Preuschen, in: Archiv des Criminalrechts 1841, 300; Konrad E. F. Roßhirt, Lehrbuch des Criminalrechts, 1821, S. 200, 204; Karl Georg von Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Erster Theil, 1825, S. 541. 40 Kahl (N 1), S. 84ff.; ders., in: FS für Heinrich Brunner, 1914, S. 240; ders., in: FG für Reinhard von Frank, 1930, S. 302; Josef Kohler, Studien aus dem Strafrecht, 1890, S. 161 ff.; v. Rohland (N 12), S. 142; Adolf Wach, in: Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht, Bd. 2 (1892), 167; Wilhelm Emil Wahlberg, in: Franz v. Holtzendorff (Hg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Bd. 3 / 1, 1872, S. 264. Zustimmend jüngst Christoph Stumpf, Bekenntnisschutz im deutschen Strafrecht, in: GA 151 (2004), S. 104 (110). 41 Adolf Moser, Religion und Strafrecht, 1909, S. 70. 42 Fritz Glaser, Die Religionsdelikte nach dem Vorentwurfe und nach dem Gegenentwurfe zu einem deutschen Strafgesetzbuch, in: ZStW 33 (1913), S. 825 (828). 43 Kohlrausch (N 4), S. 92; ebenso jüngst Hörnle (N 34), S. 354. 44 Theodor Ahrens, Der strafrechtliche Schutz des religiösen Gefühls, 1912, S. 21; Georg V. Bruns, Die Religionsvergehen im künftigen deutschen Strafrecht unter Zugrundelegung des Entwurfs von 1927, 1932, S. 13; Glaser (N 42), 827; Kohlrausch (N 4), S. 46; Clemens Schlitt, Die Religionsvergehen, Diss. Bonn 1928, S. 19.

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stellen.45 Globig und Huster hatten diese Konsequenz in der Tat gezogen: Die „Blasphemie oder Beleidigung des göttlichen Wesens überhaupt, ohne Beziehung auf den besonderen Gottesdienst des Staats“, erklärten sie für straflos.46 Die schwerste Strafe – nämlich jene, die „auf die Entleibung des Regenten gesetzt“ sei – verdiene hingegen, „wer wider die Religion des Staats prediget“.47 Ihnen auch insoweit zu folgen, wagte jedoch kein Autor des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Eine gründlichere Auseinandersetzung verdient die Deutung des Blasphemieverbots als Friedensschutzvorschrift. Immerhin bildet der öffentliche Friede nach der Intention des Reformgesetzgebers von 196948 und der fast einhelligen Auffassung des Schrifttums49 das Schutzgut des heutigen § 166 StGB.50 Aus Geschichte und Gegenwart ist hinlänglich bekannt, daß religiöse Verhetzung katastrophale Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben haben kann. Aber inwieweit 45 Ignaz Ettinger, Zur Lehre von den Religionsvergehen, 1919, S. 51; Ernst Feder, Die Religionsvergehen im deutschen Strafgesetzentwurf, in: FS für Franz von Liszt, 1911, S. 54 (63); Kohlrausch (N 4), S. 45; Schlitt (N 44), S. 18. Aus neuerer Zeit: Renate Hüttemann, Gotteslästerung und Beschimpfung religiöser Gemeinschaften, ihrer Einrichtungen und Gebräuche im geltenden und kommenden Strafrecht, Diss. Marburg 1964, S. 11 f., 84; Günther Kesel, Die Religionsdelikte und ihre Behandlung im künftigen Strafrecht, Diss. München 1968, S. 21; Rainer Kiewitz, Die Strafbarkeit der Gotteslästerung nach § 166 StGB und den Entwürfen zu einem StGB, Diss. Saarbrücken 1969, S. 137. 46 Globig / Huster (N 15), S. 255. 47 Globig / Huster (N 15), S. 254. 48 Dazu oben N 28. 49 Karl Lackner / Kristian Kühl, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 25 2004, § 166 Rn. 1; Dippel (N 4), § 166 Rn. 6 ff.; Theodor Lenckner, in: Adolf Schönke / Horst Schröder (Hg.), Kommentar zum Strafgesetzbuch, 27 2006, Vorbem. §§ 166 ff. Rn. 2; Hans-Joachim Rudolphi / Klaus Rogall, in: Hans-Joachim Rudolphi u. a. (Hg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 72003, 58. Lfg., Vor § 166 Rn. 1; Albin Eser, Strafrechtlicher Schutz des religiösen Friedens, in: Ernst Friesenhahn u. a. (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 821 (826 ff.); Zipf (N 27), S. 1944. 50 Das gleiche gilt für § 188 des österreichischen StGB (Foregger [N 2], Vorbem. zu §§ 188 Rn. 4 m. w. N.).

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besteht eine Gefahr dieser Art in der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft? Daß Angriffe auf die religiösen Überzeugungen anderer Bürger zu ernsthaften gesellschaftlichen Spannungen führen können, läßt sich in bezug auf den christlichen Bevölkerungsteil kaum mehr vorstellen;51 und wo eine solche Gefahr dennoch besteht, etwa in bezug auf militante Islamisten, wird dem Strafbedürfnis bereits durch die Vorschrift über Volksverhetzung (§ 130 StGB) Rechnung getragen.52 Wer unter Berufung auf den Friedensschutzgedanken zumindest einen Rest des alten Gotteslästerungstatbestandes zu retten gedenkt, kann deshalb nicht umhin, sich im Kontext der Religionsdelikte mit geringeren Anforderungen an ein potentiell friedensgefährdendes Verhalten zu begnügen. So verfuhr der Reformgesetzgeber von 1969. In der Gesetzesbegründung wird einem weichen Verständnis des Schutzguts „öffentlicher Friede“ das Wort geredet: Dieser sei „in der Ausprägung“ zu verstehen, „den er durch den Toleranzgedanken erfahren hat“.53 Nicht erst der Schutz vor Gewaltsamkeiten, sondern bereits der Schutz eines Klimas der Toleranz ist demnach der Zweck des § 166 StGB. Damit greift die Gesetzesbegründung einen Begriff auf, der sich, wie erinnerlich, bereits in der preußischen Entwurfsbegründung von 1828 findet. Was genau aber ist damit gemeint? Mit der älteren religionspolitischen Bedeutung von Toleranz – der staatlichen Duldung religiöser Minderheiten in anderskonfessionellen Ländern54 – hat diese Begriffsverwendung schon deshalb 51 Hefendehl (N 34), S. 292; Hörnle (N 34), S. 344 f.; Martin J. Worms, Die Bekenntnisbeschimpfung im Sinne des § 166 Abs. 1 StGB und die Lehre vom Rechtsgut, 1984, S. 106 ff. 52 Darauf verweisen auch Beisel (N 34), S. 355, 360; Fischer (N 34), S. 463 ff.; Hörnle, (N 35), § 166 Rn. 1; dies., Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Roland Hefendehl u. a. (Hg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 268 (273 f.); Hüttemann (N 45), S. 85 und Hans-Günther Manck, Die evangelisch-theologische Diskussion um die Strafbarkeit von Gotteslästerung und Kirchenbeschimpfung in juristischer Sicht, Diss. Marburg 1966, S. 85 f. Ebenso bereits Kohlrausch (N 4), S. 89 f. 53 BT-Drucks. V / 4094, S. 29.

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nichts zu tun, weil sie sich nicht auf den Umgang des Staates mit seinen Untertanen, sondern auf den Umgang der Bürger miteinander bezieht. Eine nähere Erläuterung findet sich in der Gesetzesbegründung selbst. Danach soll „die Art und Weise der Auseinandersetzung von grobem Mißbrauch geschützt und die Fairneß im gebotenen Umfang gewährleistet werden“.55 Der Begriff des öffentlichen Friedens ist der Intention des Reformgesetzgebers zufolge somit nichts anderes als ein Synonym für gewisse Mindestanforderungen inhaltlicher Art, denen eine jede öffentliche Äußerung genügen muß. Der öffentliche Friede bezeichnet folglich nicht – wie es der Begründungslogik des damit in Bezug genommenen Legitimationsmodells entspräche – die Qualität des gesellschaftlichen Zustandes, der durch die beschimpfende Äußerung beeinträchtigt werden kann. Das betreffende Tatbestandsmerkmal hat lediglich die Bedeutung, zu einer sorgfältigen Prüfung der Tathandlung „beschimpfen“ anzuhalten; es soll gewährleisten, daß nur besonders grobe und verletzende Äußerungen nach § 166 StGB bestraft werden. Dazu aber hätte es der Berufung auf das Rechtsgut des öffentlichen Friedens nicht bedurft. Dieses Schutzgut versprach mehr – oder, je nach Perspektive: ließ Schlimmeres befürchten –, als seine Verwender einzulösen gewillt waren. Ein Blick auf die Kommentarliteratur bestätigt diesen Eindruck. Auch dort wird der Inbegriff des öffentlichen Friedens im Sinne von § 166 StGB in der Erhaltung eines Klimas der Toleranz gesehen.56 Geeignet zur Störung des derart verstandenen öffentlichen Friedens seien allerdings nicht nur solche Äußerungen, die bei Dritten die Intoleranz gegenüber Anhängern des beschimpften Bekenntnisses förderten und dadurch die Gefahr weiterer Übergriffe begründeten; es genüge viel54 Dazu Gerhard Besier, Toleranz (1648 bis heute), in: Brunner / Conze / Koselleck (N 19), Bd. 6, 1990, S. 495 ff.; zuletzt Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 172 ff. 55 BT-Drucks. V / 4094, S. 29. 56 Lenckner (N 49), Vorbem. §§ 166 ff. Rn. 2; Rudolphi / Rogall (N 49), Vor § 166 Rn. 1.

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mehr, wenn die begründete Befürchtung bestehe, daß das Vertrauen der Betroffenen in die Respektierung ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen erschüttert oder jedenfalls beeinträchtigt werden könnte.57 Das Gefühl der Betroffenen, in einem Zustand der allgemeinen Rechtssicherheit zu leben, und das Vertrauen auf seinen Fortbestand würden nämlich „durch die Überzeugung bestimmt, daß niemand ungestraft ihre religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisse beschimpfen kann“.58 Im Umkehrschluß bedeutet dies: Wenn eine solche Beschimpfung erfolgt, ist dies per se eine Beeinträchtigung des Rechtsvertrauens der Betroffenen und damit eine Gefährdung des öffentlichen Friedens.59 Wiederum erweist sich, daß der „öffentliche Friede“ nicht als zusätzliches Tatbestandskorrektiv fungiert, sondern – als „scheinrationale Fassade“60 – allenfalls zu einer besonders sorgfältigen Prüfung der Schwere der Beschimpfung anhält.61 Entgegen einer nicht selten vertretenen Ansicht62 liegt es mithin nicht am Tatbestandsmerkmal „Eignung zur Störung 57 Felix Herzog, in: Urs Konrad Kindhäuser / Hans-Ullrich Paeffgen (Hg.), Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 22005, § 166 Rn. 14 f.; Lenckner (N 49), § 166 Rn. 12; Rudolphi / Rogall (N 49), § 166 Rn. 18. 58 Dippel (N 4), § 166 Rn. 53. 59 Ausdrücklich in diesem Sinne Foregger (N 2), Vorbem. zu §§ 188 – 191 Rn. 6: Das Zusammenleben aller wäre schwerstens gefährdet, wenn die Gefühle derer, die an ein höheres Wesen glauben, nachhaltig und gröblich verletzt würden. 60 Hörnle (N 52), S. 271. 61 Zutreffend Beisel (N 34), S. 356; Fischer (N 34), S. 463; Hörnle (N 34), S. 343 f.; dies. (N 52), S. 270 f. – Die von Rudolphi / Rogall (N 49, Rn. 5) geäußerte Befürchtung, aus der durch die Beschimpfung bewirkten „Sinnkrise einzelner Betroffener“ könne eine „gesellschaftliche Störung entstehen, welche die Gestalt der Gesellschaft selbst in Frage stellt“, erscheint angesichts der schwindenden Bedeutung religiöser Lebensmuster stark überzogen. Zwar mag in (jedenfalls bislang noch) seltenen Einzelfällen – wie im sogenannten „Karikaturenstreit“ – eine solche Eskalation drohen; normalerweise haben religiöse Sinnkrisen einzelner indes keinerlei Auswirkungen auf die Gestalt der Gesellschaft. 62 Etwa Reinhart Maurach / Friedrich Christian Schroeder / Manfred Maiwald, Strafrecht BT 2, 92005, § 61 Rn. 15; Stumpf (N 40), S. 108.

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des öffentlichen Friedens“, daß es kaum einmal zu einer Verurteilung nach § 166 StGB kommt.63 Die Gesetzentwürfe, die auf die Streichung dieses Merkmals abzielen, segeln deshalb unter falscher Flagge.64 Wenn in der Entwurfsbegründung der CDU / CSU-Bundestagsfraktion ausgeführt wird, künftig solle Schutzgut des § 166 StGB nicht mehr der öffentliche Friede sein, sondern die Achtung des religiösen und weltanschaulichen Toleranzgebotes,65 so ist dies ein schönes Beispiel für das Einrennen offener Türen; denn nicht anders wird – wie gesehen – bereits die gegenwärtige Rechtslage verstanden. Nimmt man die vom historischen Gesetzgeber und der herrschenden Lehre zugrundegelegte Interpretation des § 166 StGB beim Wort, so ergibt sich, daß hierzulande nach wie vor bereits die Beschimpfung fremder Bekenntnisse als solche unter Strafe steht. Auf die Frage, weshalb dies zulässig sei, gibt der Hinweis auf den öffentlichen Frieden keine Antwort. Die Rechtsanwendungspraxis, die – wie bereits erwähnt – zu einer weitgehenden Entkriminalisierung von Bekenntnisbeschimpfungen tendiert, läßt sich aus dieser Warte als Ausdruck des Unbehagens angesichts jener wortreich verdeckten Sprachlosigkeit verstehen. Die von der Praxis durch die Hintertür betriebene de facto-Abschaffung des § 166 StGB hat, so gesehen, ihren eigentlichen Grund darin, daß die Praxis das Friedenssicherungsmodell ernster nimmt als der historische Gesetzgeber selbst und die Mehrzahl seiner literarischen Interpreten.66 Es ist an der Zeit, diesem Doppelspiel ein Ende zu bereiten. Nimmt man den Friedensschutzgedanken beim Wort, so genügt zur Erfassung der danach etwa strafwürdigen Bekenntnisbeschimpfungen der bereits erwähnte Tatbestand des § 130 StGB; denn „es besteht kein Grund, das geistige Ringen hier anders zu behandeln als etwa geistige Auseinndersetzungen politischer oder sozialer 63 64 65 66

Ebenso Fischer (N 31), S. 159, 164. Zutreffend Fischer (N 31), S. 164. BT-Drucks. 14 / 4558, S. 4. Fischer (N 31), S. 164.

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Art“.67 Nur wenn sich eine überzeugende Deutung der Bekenntnisbeschimpfung als Straftat gegen die Person formulieren läßt, hat dieses Delikt noch eine Existenzberechtigung.

III. Personalistische Legitimation 1. „Religiöses Gefühl“ Ein solcher Interpretationsansatz verfügt in der deutschsprachigen Diskussion über eine beachtliche Tradition. Zu einer personalistischen Deutung bekannte sich die seinerzeit herrschende Meinung, indem sie in pietistisch-romantischer Manier68 das „religiöse Gefühl“ der Bürger zum Schutzgut des alten Gotteslästerungsparagraphen erklärte.69 Der Strafgesetzentwurf von 1962 gedachte das „allgemeine religiöse Empfinden“ sogar zum Tatbestandsmerkmal des Delikts der Gotteslästerung zu erheben.70 Diese Schutzgutbestimmung gilt hierzulande allerdings mittlerweile als obsolet,71 und zwar 67 Manck (N 52), S. 82 f.; ebenso Schmitz (N 33), S. 75; Worms (N 51), S. 110. 68 Vgl. Manck (N 52), S. 67. – Einen Abriß der seinerzeitigen theologischen Diskussion gibt Friedrich August Gottreu Tholuck, Art. „Gefühl“, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hg. von Herzog, Bd. 4, 1855, S. 704 ff. 69 Ahrens (N 44), S. 12 ff., 29 ff.; Philipp Allfeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 81922, S. 501 f.; Ernst Beling, Die Beschimpfung von Religionsgesellschaften, religiösen Einrichtungen und die Reformbedürftigkeit des § 166 StGB, in: FG für Felix Dahn, 1905, S. 23 ff.; Albert Friedrich Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 171895, S. 433; Carl Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts (Besonderer Teil), 2 1902, S. 176 f.; Ludwig Fuld, Die Gotteslästerung und das Strafgesetzbuch, in: GA 39 (1891), S. 142 (143 f.); Hugo Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. 2, 1887, S. 703; Günther Jauck, Über strafrechtlichen Schutz des religiösen Empfindens, in: ZStW 24 (1904), 349 (352 ff.); Adolf Merkel, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1889, S. 371; Karl Josef Anton Mittermaier, in: (N 10), S. 489. Ebenso noch Hans Welzel, Das deutsche Strafrecht, 101967, S. 428. 70 BT-Drucks. IV / 650, S. 342 f. 71 Vgl. die Nachweise in N 49.

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zu Recht. Das „religiöse Gefühl“ hat einen Zwillingsbruder im Bereich der Beleidigungsdelikte im engeren Sinne. Als deren Schutzgut wurde in der älteren Dogmatik nicht selten das „Ehrgefühl“ des Betroffenen ausgegeben.72 Die Einwände gegen diese Rechtsgutbestimmung lassen sich unter dem Oberbegriff des Subjektivismus zusammenfassen:73 Beim Wort genommen, verlangt sie einerseits auch den Schutz Überempfindlicher, andererseits aber hat sie Schwierigkeiten mit dem Schutz Unempfindlicher. Sobald versucht wird, diesem Problem durch den Einzug normativer Ober- und Untergrenzen zu begegnen, schützt man entgegen dem ursprünglichen Ansatz nicht mehr das Gefühl als solches, sondern das berechtigte Gefühl; entscheidend werden die Kriterien, die die Grenzen der Berechtigung festlegen. Die gleichen Einwände gelten cum grano salis gegen die Berufung auf das „religiöse Gefühl“74: Es ist „ein schwammartiges Gebilde, mit dem juristisch nichts anzufangen ist“.75 Jemand kann unmöglich allein deshalb zur Unterlassung einer bestimmten Äußerung verpflichtet sein, weil irgendein anderer sie als eine Verletzung 72 RGSt 16, 245, 248; Binding (N 69), S. 126 f.; Herbert Engelhard, Die Ehre als Rechtsgut im Strafrecht, 1921, S. 14 ff., 30; Moritz Liepmann, Die Beleidigung in: Darstellung (N 1), Bd. 4, S. 228. 73 Vgl. nur Rainer Zaczyk, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (N 57), Vor §§ 185 ff. Rn. 4; Lenckner (N 49), Vor § 185 Rn. 1; Hans Joachim Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 15; Michael Kubiciel / Thomas Winter, Globalisierungsfluten und Strafbarkeitsinseln, in: ZStW 113 (2001), S. 305 (307). 74 Der Vorwurf der Maßstabslosigkeit gehört seit jeher zu den gewichtigsten Einwänden gegen diese Schutzgutbestimmung. Aus der älteren Literatur: Bruns (N 44), S. 15; Feder (N 45), S. 65; Glaser (N 42), S. 835; Heinrich Henkel, Strafrecht und Religionsschutz, in: ZStW 51 (1931), S. 916 (930); Kahl (N 1), S. 83; ders. (N 40), S. 240; Moser (N 41), S. 72; Schlitt (N 44), S. 23 f.; Wach (N 40), S. 166. Aus neuerer Zeit: Jürgen Baumann u. a., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzes. Besonderer Teil: Sexualdelikte usw., 1968, S. 77; Beisel (N 34), S. 350; Werner Hardwig, Die Behandlung der Vergehen, die sich auf die Religion beziehen, in einem künftigen deutschen Strafgesetzbuch, in: GA 109 (1962), S. 257 (265 f.); Holstein (N 23), S. 111 f.; Kiewitz (N 45), S. 10; Manck (N 52), S. 70 f.; Stumpf (N 40), S. 106; Worms (N 51), S. 127 f. 75 Kahl (N 40), S. 240.

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seines religiösen Gefühls empfinden könnte. So hat der Kampf um die Evolutionstheorie hinlänglich bewiesen, daß viele Menschen auch neuartige wissenschaftliche Erkenntnisse als eine Beleidigung ihrer religiösen Empfindungen auffaßten.76 „Mein Gott, laß uns beten, daß es nicht wahr ist, und wenn doch, daß es nicht weiter bekannt wird“ – so soll die Frau des Bischofs von Worcester gesagt haben, als sie von Darwins neuer Lehre hörte.77 Der Umstand, daß – jedenfalls im Westen – die religiösen Widerstände gegen wissenschaftsabhängige Weltbildveränderungen seit geraumer Zeit nahezu erloschen sind,78 verkleinert zwar die quantitative Bedeutung des Problems, läßt aber den Kern des vorstehenden Einwandes unberührt: Der idiosynkratische Gefühlshaushalt einzelner Individuen taugt nicht als Maßstab für die Strafwürdigkeit eines bestimmten Verhaltens. Eine Normativierung des Schutzguts ist unabweislich, und die Vertreter der Gefühlsschutzthese selbst vollziehen sie der Sache nach, indem sie auf das „vernünftige“,79 das „normale“80 oder das „allgemeine“81 religiöse Gefühl abstellen. Was den Beleidigungsdelikten im engeren Sinne recht – und dort seit mehreren Jahrzehnten weitgehend unbestritten – ist, sollte der Bekenntnisbeschimpfung billig sein. 2. Anerkennung als ernstzunehmender, ebenbürtiger Mitbürger Ist mit der Zurückweisung des Rechtsguts „religiöses Gefühl“ die Möglichkeit einer personalistischen Deutung des Tatbestandes der Bekenntnisbeschimpfung insgesamt wider76 Ettinger (N 45), S. 47 f.; Kohler (N 40), S. 162; Schlitt (N 44), S. 22; Worms (N 51), S. 127. 77 Zitiert nach Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 3. Aufl. 2004, S. 28. 78 Dazu näher Lübbe (N 77), S. 27 ff. 79 Jauck (N 69), S. 367. 80 Ahrens (N 44), S. 38; vgl. auch RGSt 64, 121 ff. 81 Binding (N 69), S. 176.

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legt worden? Das Schrifttum zu § 166 StGB erweckt diesen Eindruck. Er ist aber voreilig. Nach einer bekannten Bemerkung Hegels ist es „das Recht des Subjekts, in der Handlung seine Befriedigung zu finden“: „Mein Zweck macht den bestimmenden Inhalt derselben aus.“82 Die einzelnen Handlungszwecke aber stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind ihrerseits häufig Ausdruck höherstufiger Festlegungen, etwa habitualisierter Handlungsmaximen für größere Lebensbereiche, am Ende gar der Einheit des je individuellen Charakters.83 Meine Achtungswürdigkeit als Person ist von der Beschaffenheit jener höherstufigen Persönlichkeitsprägungen nicht zu trennen. Einem anderen die Achtungswürdigkeit seiner Grundüberzeugungen zu konzedieren heißt, ihn als achtenswerte Person anzuerkennen. Die Normen, an denen er sein Leben ausrichtet, als lächerlich zu verspotten, heißt umgekehrt, ihn selbst zu verspotten.84 Wer gar beschimpft, was dem anderen heilig ist, greift diesen im Kern seiner biographischen Identität an und beschimpft insofern nicht nur sein Bekenntnis, sondern ihn selbst. Die Bekenntnisbeschimpfung erweist sich in dieser, wie erinnerlich, auf Rousseau zurückgehenden Deutung als ein beleidigungsähnliches Delikt. Im Unterschied zu dem Verweis auf das „religiöse Gefühl“ und in Übereinstimmung mit der modernen Beleidigungsdogmatik klebt sie nicht an psychischen Fakten. Sie ist vielmehr normativ ausgerichtet: Der Täter bestreitet dem objektiven Bedeutungsgehalt seiner Äußerung nach den Trägern des von ihm attackierten Bekenntnisses die Anerkennung als ernstzunehmende, ebenbürtige Mitbürger85 – als Personen, deren ge82 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Bd. 7, 1986, § 121 und § 121 Z (S. 229). 83 In der heutigen Literatur wird häufig von „narrativer Identität“ gesprochen; Nachweise bei Michael Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 13 N 42. 84 Dies wird verkannt von Klaus Burghard, Die Religionsdelikte der §§ 166, 167 StGB und ihre Novellierung durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts, Diss. Köln 1971, S. 32 f., und Renzikowski (N 31), S. 186.

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meinsame Lebensgrundlage, obwohl sie kritikwürdig sein mag, dennoch verdient, mit einem Mindestmaß an Fairneß behandelt zu werden.86 Die von der herrschenden Meinung irritierenderweise unter dem Oberbegriff des „öffentlichen Friedens“ eingeführte Forderung nach fairem Umgang miteinander findet hier ihre eigentliche systematische Heimstatt. Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als stelle die Ersetzung der Gefühlsschutz- durch die IdentitätsschutzDeutung lediglich eine terminologische Präzisierung ohne nennenswerte inhaltliche Konsequenzen dar. Dem ist aber nicht so. Nur derjenige darf erwarten, in seiner Identität anerkannt zu werden, der den anderen auch seinerseits Anerkennung gewährt. Auf den Schutz des Strafrechts dürfen deshalb unter der Herrschaft des Identitätsschutzgedankens von vornherein nur solche religiösen Überzeugungen hoffen, die die Idee der Freiheit, der sich der Staat des Grundgesetzes verpflichtet weiß, ihrerseits bejahen. Umgekehrt sind namentlich solche Glaubenssätze vom Schutz ausgenommen, „wonach die staatliche Ordnung aufzuheben und z. B. durch eine religiöse zu ersetzen sei oder wonach andere Glaubensrichtungen oder ihre Angehörigen bekämpft werden müssen“.87 Nicht weniger bedeutsam ist ein zweiter Punkt. Die Maßstäbe, anhand derer über das Vorliegen einer Bekenntnisbeschimpfung zu befinden ist, richten sich nicht nach den spezifischen Empfindlichkeiten gesellschaftlicher Teilgruppen, denen bereits ein ordnungsgemäß ausgewiesenes Zitat in einem wissenschaftlichen Vortrag unerträglich erscheinen mag, sondern nach den Bedeutungsmustern und Erwartungsstrukturen, wie sie in dem betreffenden Interaktionsbereich typischerweise zugrun85 Zu der entsprechenden Deutung der Beleidigungsdelikte im engeren Sinne grundlegend Ernst A. Wolff, Ehre und Beleidigung, in: ZStW 81 (1969), S. 888 (899 ff.); zuletzt Zaczyk (N 73), Vor §§ 185 ff. Rn. 1 m. w. N. 86 Im wesentlichen hier wie Worms (N 51), S. 136 ff., und jüngst Johannes Müller, Stimmen der Zeit 2006, S. 217 (218). 87 Gerhard Fiolka, in: Marcel Alexander Niggli / Hans Wiprächtiger (Hg.), Basler Kommentar zum StGB, Band 2, 2003, Art. 261 Rn. 15. – Gegen eine „Inhaltskontrolle“ Hörnle (N 35), § 166 Rn. 9.

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degelegt werden.88 Nicht tatbestandsmäßig sind daher neben wissenschaftlichen Äußerungen, bei denen sich dies ohnehin von selbst versteht, insbesondere auch Äußerungen, die sich ihrem objektiven Bedeutungsgehalt nach im wesentlichen als – unter Umständen durchaus deutlich formulierte – öffentliche Ankündigungen einer Diskussionsverweigerung darstellen („Das ist Quatsch!“),89 denn niemand hat einen Anspruch darauf, daß ein anderer zur Auseinandersetzung mit seinen Überzeugungen, so heilig sie ihm selbst auch sein mögen, bereit ist. Es ist gewissermaßen ihr semantischer Überschuß, der eine Bekenntnisbeschimpfung prägt: Die inkriminierte Äußerung muß die fremde Position in derart massiver Weise attackieren, sie muß also über das zur Kundgabe der eigenen Zurückweisung jener Position Erforderliche in solch erheblichem Maße hinausgehen, daß der Eindruck einer verselbständigten, durch die Lust an der Provokation und am Skandal motivierten Beschimpfung unabweisbar wird.90 3. Ehre als Rechtsgut Aber warum – so mag man angesichts dieser Analyse fragen – genügt zur Ahndung strafwürdiger Bekenntnisbeschimpfungen nicht das Beleidigungsstrafrecht im engeren Sinne?91 Ist das Verlangen nach einer eigenständigen Verbotsnorm berechtigt? Daß dem so ist, hat den folgenden Grund: Das Beleidigungsstrafrecht im engeren Sinne erfaßt in erster Linie abfällige Äußerungen über individuelle Besonderheiten des Opfers;92 der Täter schreibt dem anderen Merkmale zu, die gerade er – in Abhebung von seiner sozialen Umwelt – aufweise („Du Idiot!“, „Du Kurpfuscher!“). Je indirekter die BeAndreas Donatsch / Wolfgang Wohlers, Strafrecht IV, 32004, S. 205. Ebenso Dippel (N 4), § 166, Rn. 25; Hörnle (N 35), § 166, Rn. 15; Herzog (N 57), § 166 Rn. B. - Zu weit Worms (N 51), S. 140. 90 Ähnlich im Kontext des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB: BGH NStZ 2000, S. 643 f. 91 Diese Auffassung vertrat Henkel (N 74), S. 943 ff. 92 Insoweit zutreffend Burghard (N 84), S. 33. 88 89

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ziehung zwischen dem Inhalt einer beschimpfenden Äußerung und einer konkreten Einzelperson ist, desto schwächer wird der Schutz des Beleidigungsstrafrechts. So wird selbst bei Äußerungen unzweifelhaft ehrverletzenden Inhalts das Vorliegen einer Beleidigung abgelehnt, wenn der Kreis der betroffenen Personen so groß ist, „dass sich die ehrenrührige Äußerung in der Masse verliert und den einzelnen nicht mehr erreicht“.93 Pauschalinjurien, die sich beispielsweise gegen „die Christen“94 oder „die Protestanten“95 richten, vermögen deshalb nach einhelliger Auffassung eine Beleidigung der einzelnen Mitglieder der betreffenden Gruppe nicht zu begründen.96 Dies muß erst recht gelten, wenn die in Rede stehende Äußerung – wie bei Bekenntnisbeschimpfungen die Regel – nicht unmittelbar personenbezogen formuliert ist, der personale Bezug sich vielmehr lediglich mittelbar, aus der tragenden Rolle des eigenen Bekenntnisses für das Selbstverständnis der Betroffenen, ergibt. Kurzum: Das Beleidigungsstrafrecht schützt den einzelnen weitaus umfangreicher in seiner Besonderung – dem, was ihn von den anderen unterscheidet – als in den höherstufigen Persönlichkeitsprägungen, die nach dem soeben Ausgeführten allererst die Einheit einer Biographie zu gewährleisten vermögen. Diese höherstufigen Persönlichkeitsprägungen – seine religiöse oder weltanschauliche Grundhaltung – denkt sich der einzelne nämlich nicht einfach aus, sondern er übernimmt sie, selbstverständlich in je individueller Prägung, indem er sich in eine bestehende Gesinnungsgemeinschaft einordnet.97 Verantwortlich für den beschränkten Schutzumfang des Beleidigungsstrafrechts ist das kriminalLenckner (N 49), Vorbem. §§ 185 ff. Rn. 7 b m. w. N. LG Köln, MDR 1982, S. 771. 95 BGHSt 11, 207 (209); Lackner / Kühl (N 49), Vor § 185 Rn. 3. 96 Eric Hilgendorf, in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (N 4), Bd. 5, 11 2005, Vor § 185 Rn. 33; Jürgen Regge, in: Joecks / Miebach (N 52), Bd. 3, 2003, Vor § 185 Rn. 57; Zaczyk (N 73), Vor §§ 185 ff. Rn. 36; Rudolphi (N 49), Vor § 185 Rn. 12 f.; Manfred Maiwald, Zur Beleidigung der Bundeswehr und ihrer Soldaten, in: JR 1989, S. 485. 97 Dazu Pawlik (N 83), S. 32. 93 94

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politische Bestreben, ihm einigermaßen klare Konturen zu geben und einer Diffusion ins Unbestimmte zu wehren.98 Unter Identitätsgesichtspunkten hingegen leuchtet die Privilegierung der abgeleiteten gegenüber den fundierenden Identitätsmomenten keineswegs ein. 4. Rechtsstaatliche Unbedenklichkeit Dennoch könnte der Verzicht auf einen Bekenntnisschutz mit strafrechtlichen Mitteln legitimationstheoretisch geboten sein. So meint Hassemer, ein solcher Schutz sei unvereinbar mit einer säkularisierten Strafrechtsordnung. Diese formuliere Straftatbestände so, daß die Rechtsgutverletzung „ausschließlich ,auf Erden’ eintritt und mit den Erkenntnismitteln eines prozessualen Beweisverfahrens festgestellt werden kann, das auf der Methodologie der empirischen Wissenschaften beruht“.99 Daß für den Straftatbestand der Bekenntnisbeschimpfung ein ausschließlich „diesseitiges“ Rechtsgut namhaft gemacht werden muß, wird freilich – wie gesehen – seit der Aufklärung ohnehin nicht mehr ernsthaft bestritten. Und sein Kriterium der empirischen Verifizierbarkeit gibt Hassemer selber preis, sobald er auf die Beleidigungsdelikte im engeren Sinne zu sprechen kommt. Als deren Rechtsgut betrachtet er den „Achtungsanspruch des gesellschaftsvertraglich verfaßten Bürgers“100 – als wenn dieser empirisch beweisbar wäre. Auf den Achtungsanspruch des einzelnen Bürgers aber, ist er erst einmal als taugliches Rechtsgut anerkannt, läßt sich nach dem soeben Ausgeführten auch das Verbot der Bekenntnisbeschimpfung stützen. Hassemers Argumentation illustriert somit zwar den „reflexhafte(n) Ideologieverdacht“, den religiöse Bekenntnisse und gar das Christentum im liberalen juste milieu auszulösen pflegen,101 führt aber inhaltlich nicht weiter. 98 Vgl. BVerfGE 93, 266, 301; BGHSt 36, 83, 87; Rudolphi (N 49), Vor § 185 Rn. 5b. 99 Hassemer (N 33), S. 1320 f. 100 Hassemer (N 33), S. 1323. 101 Isensee (N 32), S. 208.

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Einen anderen Ausgangspunkt für ihre Kritik wählt Hörnle. Ihre Perspektive ist diejenige eines „pluralismus-transzendierenden, von Partikularinteressen unberührten Objektiv-Allgemeinen“.102 Strafrechtlichen Schutz verdienen Hörnle zufolge nur Interessen, die, wie zum Beispiel das Rechtsgut der Ehre, verallgemeinerbar in dem Sinne seien, daß sie „für jedermann unabhängig von persönlichen Präferenzen und Bindungen wichtig sind“. Das Strafrecht sollte hingegen „nicht in Bereiche ausgedehnt werden, in denen erst durch unterschiedliche Vorprägungen und die autonome Lebensgestaltung konkrete Interessen entstehen“.103 So verhalte es sich im Bereich von Bekenntnissen. Da „es von persönlichen Entscheidungen und Einstellungen abhängt, ob ein bestimmter Umstand den Persönlichkeitskern prägt, und dies bei einer relevanten Anzahl von Personen nicht der Fall ist“, kann dieser Umstand nach Hörnles Auffassung nicht Gegenstand eines universalisierbaren und damit strafrechtlich relevanten Schutzinteresses sein.104 So effektvoll Hörnles Berufung auf das ehrwürdige kantische Kriterium der Verallgemeinerbarkeit auch ist, im vorliegenden Zusammenhang führt sie nicht zum Ziel. Entgegen der Behauptung Hörnles liegt dem heutigen § 166 StGB ein ohne weiteres verallgemeinerungsfähiges Interesse zugrunde. Im Unterschied zum alten Gotteslästerungstatbestand beschränkt diese Vorschrift sich nicht auf den exklusiven Schutz eines bestimmten Glaubensinhalts; vielmehr erstreckt sie sich auf jedwedes religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis. Über die Einbeziehung einer Überzeugung in den Schutzbereich des § 166 StGB entscheidet mithin allein der Umstand, daß mit ihr ein normativ akzeptables Bekenntnis zum Ausdruck gebracht wird. Das Interesse am strafrechtlichen Schutz von Überzeugungen dieser Struktur ist nicht weniger gut verallgemeinerbar als das Interesse an einem Ehrenschutz, wie ihn die §§ 185 ff. StGB gewährleisten. Die Argumentation 102 103 104

Die Wendung stammt von Isensee (N 32), S. 208. Hörnle (N 33), S. 156. Hörnle (N 33), S. 156.

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Hörnles krankt also an einem Kategorienfehler: Sie konfundiert den Bezugsgegenstand des Verallgemeinerbarkeitskriteriums – das Bekenntnis – mit einzelnen seiner Anwendungsfälle. Der Irrtum Hörnles wird noch deutlicher, wenn man ihre Argumentation auf den Bereich der Beleidigungsdelikte im engeren Sinne zu übertragen versucht. So beruht auch die von jemandem innegehabte Berufsrolle auf seiner persönlichen Entscheidung, und dennoch wird von niemandem in Abrede gestellt, daß eine Beleidigung ausspricht, wer einen Arzt als Kurpfuscher bezeichnet oder wer einem Richter attestiert, daß seine Rechtskenntnisse denen eines Studenten im zweiten Semester entsprächen.105 Nicht anders als das Verhältnis zwischen allgemeinem Ehrbegriff und konkreter Berufsehre ist dasjenige zwischen dem allgemeinen Begriff des Bekenntnisses und gewissen konkreten Bekenntnisinhalten beschaffen. Angesichts dieses Befundes bleibt dem auf Hörnles Spuren wandelnden Kritiker nur noch der Ausweg, von der begrifflichen auf die tatsächliche Ebene überzuwechseln. Praktische Relevanz – so könnte er geltend machen – habe die Vorschrift des § 166 StGB bislang nur im Hinblick auf religiöse, genauer: christliche Überzeugungen erlangt; ein großer Teil der deutschen Bevölkerung stehe aber mittlerweile dem Christentum fern.106 Deshalb laufe jene Norm im Ergebnis sehr wohl auf die Bevorzugung eines partikularen, nämlich des christlichen Bekenntnisses hinaus. So zu argumentieren ist aber, um das mindeste zu sagen, kurzschlüssig. In der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft fungieren Christen nun einmal eher als Opfer denn als Täter von Bekenntnisbeschimpfungen. Ihnen aus ihrer eigenen Zurückhaltung einen Strick drehen zu wollen, wäre höchst unfair. Die möglichen Einwände gegen die Vereinbarkeit der hier vorgeschlagenen personalistischen Deutung des Verbots der Bekenntnisbeschimpfung mit einem liberalen Rechtsbegriff 105 106

Vgl. nur Zaczyk (N 73), § 185 Rn. 9; Rudolphi (N 49), § 185 Rn. 15. Hörnle (N 33), S. 278; dies. (N 52), S. 155, 343.

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sind damit allerdings noch nicht erschöpft. Eine dritte Linie der Kritik kann sich auf keinen Geringeren als Kant berufen. Nach dessen berühmter Definition ist das Recht „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.107 Dieser Rechtsbegriff bezieht sich mithin, wie Kant hervorhebt, nicht auf „das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch . . . , sondern lediglich auf die Willkür des anderen“.108 Als Rechtspersonen begegnen Menschen bei Kant einander folglich „nur im Hinblick auf ihre Handlungsfreiheit“.109 Die Pflicht, jedem Menschen Achtung zu erzeigen, ist nach Kant hingegen lediglich eine Tugendpflicht.110 Meine Handlungsfreiheit – konkret: meine Freiheit, mich zu einem Glauben zu bekennen und danach zu leben – wird dadurch, daß ein anderer in der Öffentlichkeit lästerliche Äußerungen über diesen Glauben von sich gibt, in keiner Weise beeinträchtigt.111 Ich brauche auch nicht damit zu rechnen, infolge der Lästerung anderweitige Interaktionsmöglichkeiten zu verlieren. Die Möglichkeit, andere Hörer der beschimpfenden Äußerung könnten sich von dieser derart einnehmen lassen, daß sie mit den Anhängern des beschimpften Bekenntnisses nichts mehr zu tun haben wollen, dürfte von rein theoretischer Natur sein. Wer eine – zumindest versuchte – Beeinträchtigung oder Gefährdung der Handlungsfreiheit eines anderen als „unverzichtbares Unrechtselement“ strafwürdigen Verhaltens betrachtet,112 wird sich deshalb zur Billigung eines Straftatbestandes der Bekenntnisbe107 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werke (N 14), Bd. 7, S. 337. 108 Kant (N 107), S. 337. 109 Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 98. 110 Kant (N 107), S. 600 f. 111 Dies wird regelmäßig gegen die Ableitung von § 166 StGB aus Art. 4 Abs. 1 GG eingewendet; vgl. Hefendehl (N 33), S. 39; Hörnle (N 33), S. 355; Manck (N 52), S. 87 f.; Worms (N 51), S. 119. 112 So etwa Walter Kargl, Beleidigung und Retorsion, in: FS für Ernst Amadeus Wolff, 1998, S. 190 (217).

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schimpfung schwerlich durchringen können.113 Das gleiche Schicksal würde dann freilich auch den Tatbestand der Beleidigung ereilen, jedenfalls in deren Grundform, der Beleidigung im Zwei-Personen-Verhältnis. Beleidigende Äußerungen, vor allem ehrenrührige Tatsachenbehauptungen, im DreiPersonen-Verhältnis, in dem der Adressat der herabsetzenden Äußerung nicht identisch ist mit dem von der Äußerung Betroffenen, sind insofern gefährlich für die Stellung des letzteren, als – wie das Sprichwort sagt – immer etwas hängenbleibt.114 Wenn aber niemand außer dem Beleidiger und dem Beleidigten zugegen ist, besteht diese Gefahr nicht: Ob der Beleidigte weiterberichtet, was geschehen ist, oder ob er es in seinem Herzen verschließt, hängt allein von ihm ab.115 Das deutsche Beleidigungsstrafrecht gilt im internationalen Vergleich freilich als recht weitreichend.116 Die Belehrung, daß zusammen mit dem Tatbestand über die Bekenntnisbeschimpfung konsequenterweise auch die Strafbarkeit der Beleidigung (jedenfalls) im Zwei-Personen-Verhältnis abgeschafft werden müßte,117 mögen Befürworter einer Verschlan113 Jedenfalls wird er den Anwendungsbereich dieser Vorschrift bis nahezu auf Null reduzieren; so Renzikowski (N 31), S. 187 f. 114 Mit dieser Erwägung rechtfertigt die herrschende Meinung die Regelung in § 186 StGB, wonach der Täter das Risiko der Nichterweislichkeit der von ihm behaupteten Tatsache tragen muß (Lenckner [N 49], § 186 Rn. 1; Regge [N 96], § 186 Rn. 2). 115 Im Hinblick auf die Beleidigung unter vier Augen könnte man immerhin noch auf die Gefahr einer „kommunikativen Verunsicherung“ des Opfers abstellen (so Kurt Amelung, Die Ehre als Kommunikationsvoraussetzung, 2002, S. 33). Selbst diese Gefahr besteht bei der Bekenntnisbeschimpfung in aller Regel nicht, denn der einzelne Bekenntnisträger erfährt bei der psychischen Verarbeitung der Beschimpfung Rückhalt bei seinen Glaubensgenossen. 116 Vgl. Winfried Brugger, Verbot oder Schutz von Haßrede?, in: AöR 128 (2003), 382 (388 ff.); ders., Verbot oder Schutz von Haßrede?, in: FS für Ernst-Joachim Lampe, 2003, S. 383 ff.; Rolf Stürner, Die verlorene Ehre des Bundesbürgers, in: JZ 1994, S. 865 (868 ff.). 117 Für den Verzicht auf § 185 StGB sprechen sich aus: Monika Frommel, Das Recht der Volksverhetzung, in: KJ 1995, S. 402 ff.; Kargl (N 112), S. 223. Die Bundestagsfraktion der Grünen forderte 1987 die Herabstu-

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kung des Strafrechts deshalb eher als frohe Kunde denn als Gegenargument ansehen. Entscheidend ist, ob eine strikte Anbindung der Tatbestände des Besonderen Teils an das Kriterium der Beeinträchtigung oder Gefährdung fremder Handlungsfreiheit inhaltlich zu überzeugen vermag. Dies ist nicht der Fall. Wie bereits Hegel hervorgehoben hat,118 ist der kantische Rechtsbegriff charakterisiert durch seine negative Fassung: das Moment der Beschränkung, der die Willkür eines jeden unterliegt. Weshalb aber soll ich vor dem Verlust meiner rechtlich garantierten Handlungsmöglichkeiten bewahrt werden? Was ist also der positive Grund für die sich daraus ergebende Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten meiner Mitbürger? Kant zufolge ist es die mir „angeborene Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“,119 aus der sich letztlich ergibt, daß mir das Meinige nicht einseitig entzogen werden darf. Konziser ist die Formulierung Hegels. In seinen Worten lautet das positive Rechtsgebot: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“.120 Einen anderen als Person zu respektieren aber beinhaltet nicht nur, den Rechtsraum unbeeinträchtigt zu lassen, der ihm kraft seines Anerkanntseins zusteht; es impliziert auch, das „personale Verhältnis wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins“ als solches intakt zu belassen.121 Zugespitzt formuliert: Dem anderen gebührt Respekt nicht nur in dem, was er hat, sondern auch in dem, was er ist: in seinem Status als selbstzweckhafte Person, die sich zwar in Handlungen objektiviert (und deshalb auf Handlungsfreiheit angewiesen ist), aber nicht in ihren Handlungen aufgeht. Das „Interesse an der Achtung des intersubjektiven Anerkennungsverhältnisses“ fung des Beleidigungstatbestandes zur Ordnungswidrigkeit (BT-Drucks. 11 / 1040, S. 7). 118 Hegel (N 82), § 29 A (S. 80). 119 Kant (N 107), S. 345. 120 Hegel (N 82), § 36 (S. 95). 121 Wolff (N 85), S. 901; ähnlich Andrew von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: GA 149 (2002), S. 2 (13).

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zum „Rechtsgut der Beleidigung“ zu erheben122, erweist sich demnach als legitim. Dieses Interesse aber wird – unabhängig von etwaigen Folgewirkungen – bereits durch die Bekundung von Mißachtung als solche verletzt.123 Für die Bekenntnisbeschimpfung, als beleidigungsähnliches Delikt interpretiert, kann dann nichts anderes gelten.

IV. Grenznorm der Strafrechtsordnung Damit erweist das Verbot der Bekenntnisbeschimpfung sich in doppelter Hinsicht als eine der „Grenznormen“ der gesamten Strafrechtsordnung: Über das Beleidigungsstrafrecht im engeren Sinne hinausgehend, schützt jenes Verbot den einzelnen in seiner identitätsprägenden Persönlichkeitsschicht – seiner religiösen oder weltanschaulichen Grundhaltung; zudem setzt es nicht bei der im Handeln geschehenden Objektivation einer Persönlichkeit an, sondern bezieht sich auf den Persönlichkeitskern als solchen. Wohlgemerkt: Damit soll nicht behauptet werden, daß man die derart verstandene Bekenntnisbeschimpfung unter Strafe stellen muß, sondern lediglich, daß man so verfahren darf. Eine Bestimmung über die Bekenntnisbeschimpfung gehört ebensowenig wie ein extensiver Beleidigungsschutz zum unverzichtbaren Kernbestand des modernen, säkularen Strafrechts. Diese Normen sind verzichtbar. Aber freiheitstheoretisch unzulässig sind sie keineswegs. Aus dem personalistischen Deutungsansatz ergibt sich eine Reihe von Anforderungen an eine künftige Regelung der Bekenntnisbeschimpfung. Erstens bedürfte der betreffende Tatbestand einer Ergänzung nach Art des jetzigen § 193 StGB, der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“. § 193 StGB gewährleistet, daß das Beleidigungsstrafrecht die Grundrechte 122 So Frank Schößler, Anerkennung und Beleidigung, 1997, S. 123. – Zu weiteren Vertretern dieser Deutung N 85. 123 Schößler (N 122), S. 90.

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des sich Äußernden nicht unangemessen verkürzt.124 Einem als beleidigungsähnlich interpretierten Delikt der Bekenntnisbeschimpfung müßte das gleiche Korrektiv an die Seite gestellt werden.125 Zweitens müßte entsprechend § 194 Abs. 1 S. 1 StGB die Verfolgung von Bekenntnisbeschimpfungen von der Stellung eines Strafantrags abhängig gemacht werden.126 Drittens müßte die Bekenntnisbeschimpfung in den Kreis der Privatklagedelikte aufgenommen werden, dem die Beleidigungsdelikte bereits angehören (§ 374 Abs. 1 Nr. 2 StPO).127 Vor allem aber müßte viertens der Tatbestand über die Bekenntnisbeschimpfung eine neue Fassung erhalten, die den personalistischen Grundgedanken angemessen zum Ausdruck bringt. Um eine geeignete Formulierung ausfindig zu machen, braucht man lediglich das schweizerische Strafgesetzbuch aufzuschlagen. Nach dessen Art. 261 wird unter anderem derjenige bestraft, der „öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet“. Schutzobjekt dieser Bestimmung ist in den Worten des schweizerischen Bundesgerichts primär „die Achtung vor dem Mitmenschen und seiner Überzeugung in religiösen Dingen“.128 Nur auf diesem Wege läßt sich die Unsicherheit, ja Unehrlichkeit überwinden, die den Umgang mit dem gegenwärtigen § 166 StGB prägt. Ob es ratsam ist, von der damit eröffneten Möglichkeit auch Gebrauch zu machen, steht freilich auf einem anderen Blatt. In dieser Hinsicht ist Skepsis am Platz. Nach dem vorstehend Ausgeführten ist die Pönalisierung von Bekenntnisbeschimp124 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 12, 113, 125 f.; BGHSt 12, 287, 293; vgl. ferner Lenckner (N 49), § 193 Rn. 1; Harro Otto, BT, 72005, § 32 Rn. 36. 125 Für eine analoge Anwendung des § 193 StGB bereits auf den jetzigen § 166 StGB plädieren Gunther Arzt / Ulrich Weber, BT, 2000, § 44 Rn. 53. De lege ferenda ebenso Hüttemann (N 45), S. 92 ff. 126 Worms (N 51), S. 153. Ebenso vom Standpunkt der GefühlsschutzTheorie aus bereits Fuld (N 69), S. 144 f. 127 Worms (N 51), S. 153. 128 BGE 86 IV 23.

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fungen nur in einem schmalen Umfang möglich. In der Rechtspraxis wird davon aller Voraussicht nach noch weniger übrig bleiben. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Hilfe einer extensiven Auslegung des § 193 StGB bereits das Beleidigungsstrafrecht weitgehend aus den Angeln gehoben.129 Daß ein beleidigungsähnlich konzipierter Tatbestand der Bekenntnisbeschimpfung ein besseres Schicksal haben würde, steht nicht zu erwarten. Eher gilt das Gegenteil: Die von Papst Benedikt XVI. in seiner Münchener Predigt eingeforderte „Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist“,130 läßt sich nicht erzwingen. Die Geschichte des § 218 StGB bietet reiches Anschauungsmaterial dafür, daß das Strafrecht sich übernimmt, wenn es den Versuch unternimmt, sittliche Standards zu verteidigen, die in der Gesellschaft keinen hinreichenden Rückhalt mehr haben. Auch der Papst betont, die verloren gegangene Ehrfurcht könne „nur dann regeneriert werden, wenn der Glaube an Gott wieder wächst“,131 wenn also die Überzeugung von der Verwerflichkeit seiner Verächtlichmachung von einem breiten vorrechtlichen Konsens getragen wird. Wo dieser Konsens nicht mehr besteht – und dies ist in der Bundesrepublik heute der Fall, so sehr man es auch bedauern mag –, dort wird das Strafrecht unabhängig von der jeweils gewählten Gesetzesformulierung rasch an seine Grenzen stoßen. So selbstbewußt der homo religiosus jenen Wächtern einer hyperliberalen Tugendhaftigkeit entgegentreten kann, die ihn ohnehin nur als das halb bemitleidenswerte, halb verächtliche Relikt einer unaufgeklärten Vergangenheit betrachten und die Strafbarkeit von Bekenntnisbeschimpfungen lieber heute als morgen abgeschafft sehen wollen, so selbstkritisch sollte er sich deshalb fragen, ob er die Energie, die er auf den Kampf für die Erhaltung einer ohnehin weitgehend folgenlosen Strafrechtsnorm verwendet, nicht besser in die Neuevangelisierung unseres Landes investieren sollte. 129 Vgl. nur Lenckner (N 49), § 193 Rn. 15 ff.; Otto (N 124), § 32 Rn. 42 ff. (jeweils m. w. N.). 130 Zitiert nach: FAZ vom 11. 9. 2006, S. 2. 131 FAZ vom 11. 9. 2006, S. 2.

Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung? Von Andreas von Arnauld de la Perrière, Hamburg I. Einleitung 1. Alte Fragen, erneut gestellt Noch vor zehn Jahren konnte der Mainzer Soziologe Gerhard Schmied mit guten Gründen bemerken, Blasphemie sei kein Thema, das es wert schiene, in einer säkularisierten Welt intensiv öffentlich diskutiert zu werden.1 Die Situation hat sich verändert, und zwar mit bemerkenswerter Deutlichkeit. Löste 1989 die gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wegen seines Romans „Die satanischen Verse“ verhängte Fatwa hierzulande noch kaum Diskussionen über die Grenzen blasphemischer Literatur aus,2 stellt sich die Lage nach den Protesten gegen die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung „Jyllands Posten“ im Jahr 2006 anders dar:3 Natürlich stießen 1 Gerhard Schmied, „Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren“ – Blasphemie und anderer Mißbrauch der Religion in der modernen Gesellschaft, in: ders. / Wolfgang Wunden, Gotteslästerung? Vom Umgang mit Blasphemie heute, 1996, S. 9 (11). 2 Vgl. zur öffentlichen Diskussion im Westen, vor allem in Deutschland Thierry Chervel (Hrsg.), „Redefreiheit ist das Leben“ – Briefe an Salman Rushdie, 1992, mit einer Chronologie der Ereignisse und einer Dokumentation der Reaktionen (S. 113 ff.); Kai Hafez, Salman Rushdie im Kulturkonflikt, in: Orient 37 (1996), S. 137 ff. 3 Zu den Fakten F.A.Z. vom 7. 2. 2006, S. 1 – 3, 8; Lars Reuter, Hintergründe zum dänischen Karikaturenstreit, in: Stimmen der Zeit 2006, S. 239 ff.; Stefan Mückl, Freiheit des Glaubens und der ungestörten Religionsausübung: Aktuelle Problemlagen in Deutschland, in: Rainer Hofmann u. a. (Hrsg.), Staat und Religion im Lichte der Menschenrechte, 2007 (in Vorb.), S. 2 (zitiert nach dem Manuskript).

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die Gewaltexzesse in mehreren Städten des Nahen Ostens bei uns auf Unverständnis; die Diskussion darüber aber, ob nicht auch auf der anderen Seite Grenzen überschritten wurden, hält seitdem an. Sie hat den Blasphemievorwürfen gegen die Hollywood-Verfilmung von Dan Browns pseudo-historischem Bestseller „The Da Vinci Code“ und gegen die Zeichentrick-Serie „Popetown“ zu beträchtlicher öffentlicher Aufmerksamkeit verholfen;4 unlängst protestierten in Rom Vertreter gleich mehrerer Religionsgemeinschaften gegen die unermüdliche Pop-Provokateurin Madonna, die auf ihrer neuen Tournee mit einer Dornenkrone auf dem Kopf an einem Kristallkreuz auf die Bühne schwebt.5 Eine letzte ironische Volte ist der Blasphemievorwurf, dem sich kein Geringerer als Papst Benedikt nach seiner Regensburger Vorlesung vom 12. September 2006 ausgesetzt sah.6 Was ist hier geschehen? Die Ursachen sind vermutlich vielschichtig; eine Ursache aber wird man wohl in der Pluralisierung unserer westlichen Gesellschaften sehen können, die in den letzten 15 Jahren deutlich zugenommen hat und auch stärker in das öffentliche Bewußtsein gerückt ist. Hierfür dürfte nicht zuletzt der wachsende Anteil der Muslime an der deutschen Bevölkerung verantwortlich sein,7 und damit der Anteil der Angehörigen einer Religion, die in einem uns heute kaum 4 Näher hierzu Otto Kallscheuer, Popetown – ein Sakrileg?, in: F.A.S. vom 14. 5. 2006, S. 15; Esther Harlow, Diskussion um MTV-Comicserie „Popetown“, in: MMR 2006, S. XIII f.; Katharina Pabel, Grundrechtsbeschränkungen bei grenzüberschreitenden Konfliktlagen, in: JRP 2006, S. 92 (92 f.); Mückl (N 3), S. 2 f. 5 Siehe La Repubblica vom 2. 8. 2006: http: // www.repubblica.it / 2006 / 08 / sezioni / spettacoli_e_cultura / madonna-roma-polemiche / madonnaroma-polemiche / madonna-roma-polemiche.html (Sept. 2006). 6 Hierzu F.A.Z. vom 15. 9. 2006, S. 1, sowie vom 16. 9. 2006, S. 1, 5, 35 und 37. 7 Verläßliche statistische Daten liegen kaum vor. Bei einem geschätzten Bevölkerungsanteil von derzeit 3 – 4% lag der Anteil von Kindern muslimischer Familien an den Geburten in Deutschland 2004 bei rund 9%, siehe http: // www.destatis.de / presse / deutsch / pm2005 / p3310023.htm (Sept. 2006).

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mehr vertrauten Maß Anspruch auf den öffentlichen Raum erhebt.8 Die „Tatsache des Pluralismus“9 zwingt uns also, alte Fragen erneut zu stellen.10 Nun ist die Versuchung groß, einer pluralistischen Gesellschaft gegenseitige Rücksichtnahme mit den Mitteln des Rechts zu verordnen.11 Politiker fordern, von der neuen Welle der Aufmerksamkeit getragen, einmal mehr, das Strafrecht zu verschärfen.12 Damit einher geht jedoch keine geringe Gefahr für die freiheitliche Ordnung. In seiner Kolumne im „Guardian“ hat der britische Historiker Timothy Garton Ash kürzlich vor einer „Tyrannei des Gruppenveto“ gewarnt: „In unserer zunehmend durchmischten, multikulturellen Welt existieren so viele Gruppen, die so viele verschiedene Dinge so besonders wichtig nehmen, von Fruitariern zu Abtreibungsgegnern und von Zeugen Jehovas zu kurdischen Nationalisten. Man vereinige all ihre Tabus, und man erhält eine gewaltige Herde heiliger Kühe. Nun lasse man den verschreckten Kindermädchenstaat all diese Tabus in neue Gesetze oder bürokratische Verbote einschließen, und heraus kommt ein drastischer Verlust an Freiheit.“13 8 Siehe Olivier Roy, Christen, Muslime und der sakrale Raum, in: F.A.S. vom 14. 5. 2006, S. 15. 9 Vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus (1993), 2003, S. 106 f., passim: „Faktum des Pluralismus“. 10 Gerhard Luf / Brigitte Schinkele, Kommunikationsfreiheit und der Schutz religiöser Gefühle, in: JRP 2006, S. 88. Vgl. auch die religionssoziologische Diagnose einer „Resakralisierung der Gesellschaft“ bei Eberhard Schockenhoff, Wahrheit und Freiheit der Kunst aus der Sicht der theologischen Ethik, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 36 (2002), S. 111 (131). 11 Vgl. die Tendenz bei Schmied (N 1), S. 63. 12 F.A.Z. vom 7. 6. 2006, S. 4. 13 Timothy Garton Ash, We must stand up to the creeping tyranny of the group veto, in: Guardian, 2. 3. 2006, http: // www.guardian.co.uk / comment / story / 0„1721390,00.html (Sept. 2006): „[I]n our increasingly mixed-up, multicultural world, there are so many groups that care so strongly about so many different things, from fruitarians to anti-abortionists and from Jehovah’s Witnesses to Kurdish nationalists. Aggregate all their taboos and you have a vast herd of sacred cows. Let the frightened nanny state enshrine all those taboos in new laws or bureaucratic prohibitions, and you have a drastic loss of freedom.“

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Dies ist zu erwägen, wenn gefordert wird, religiösen Gefühlen rechtlichen Schutz angedeihen zu lassen und Gotteslästerer mit den Mitteln des Rechts in ihre Schranken zu weisen. Mit beiden Begriffen, „religiösen Gefühlen“ einerseits und „Gotteslästerung“ andererseits, tut das Recht sich schwer, wie noch zu zeigen sein wird; einstweilen aber mögen sie in aller Unschärfe die beiden Pole der aktuellen Diskussion benennen. Wie das bundesdeutsche Verfassungsrecht diese Diskussion vorstrukturiert, dem soll im Folgenden nachgegangen werden. Eine Lösung des Gordischen Knotens freilich ist hier nicht zu erwarten, und so werden am Ende gewiß viele Fragen offen bleiben. 2. Dramatis personae Im Kern handelt es sich hier um ein Drei-Personen-Stück. Die erste Person in diesem Stück ist der Gotteslästerer in seiner Rolle als „Der Störer“, die zweite Person derjenige, der sich durch die blasphemische Äußerung in seinen religiösen Gefühlen verletzt sieht, also gewissermaßen „Das Opfer“.14 Die dritte Person schließlich ist der Staat. Wie dessen Rolle verfassungsrechtlich zu konzipieren ist, wird im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Nun steht der Staat nicht isoliert auf der Bühne, sondern ist in Interaktionen verstrickt. Er steht in Beziehungen jeweils zu den beiden anderen Personen, er steht in Beziehung aber auch zum Bühnenraum als solchen, d. h. hier: zur Freiheitsordnung. Das Stück, unsere Verfassungsordnung, ist von Menschenhand verfaßt; einem göttlichen Schöpfer ist der Staat nach seiner Trennung von der Religion also nicht länger verpflichtet. Das Verhältnis zum „Störer“, dem Gotteslästerer, ist geprägt von der abwehrrechtlichen Dimension der Freiheitsrechte; der „Störer“ will sich frei und ungehindert äußern dürfen. Da14 Bei diesen Personen handelt es sich um Typen, nicht um Charaktere. Dies ist nicht Ausdruck künstlerischen Unvermögens, sondern dem Genre geschuldet: Hier zeigt sich der typisierende, generalisierende Zug des Rechts.

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gegen begehrt das „Opfer“ Schutz seiner religiösen Gefühle durch den Staat. Verfassungsrechtlich offenbart sich hier die Dimension grundrechtlicher Schutzrechte und -pflichten. In der Verantwortung des Staates für die Freiheitsordnung als solche schließlich kommt die objektiv-rechtliche, institutionelle Seite der Freiheitsrechte zum Ausdruck. II. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und dem „Störer“ 1. Freiheitsrechte des „Störers“ Für seine blasphemische Äußerung wird der „Störer“ in aller Regel die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) oder die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG)15 in Anspruch nehmen. Erfolgt die Äußerung über Presse oder Rundfunk, können die Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) flankierend Bedeutung erlangen. In besonders gelagerten Fällen kommt auch eine Inanspruchnahme der Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) in Betracht, dann nämlich, wenn die blasphemische Schmähung ihrerseits Ausdruck eines religiösen oder weltanschaulichen Sendungsbewußtseins ist. Blasphemische Werbekampagnen schließlich fallen regelmäßig16 unter die Berufs- und Gewerbefreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Gerade hier finden sich besonders deutliche Fälle von Geschmacklosigkeit und schlichter Gedankenlosigkeit.17 Aus jüngster Zeit sei hier nur das Werbeplakat für 15 Hierzu insbes. Christian Hillgruber, Die Religion und die Grenzen der Kunst, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 36 (2002), S. 53 (64 ff.). 16 In Ausnahmefällen kann nach Auffassung des BVerfG Werbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen, wenn sie sich sozial engagiert präsentiert: BVerfGE 71, 162 (175); 102, 347 (359); regelmäßig aber bleibt der Schutzbereich dieses Grundrechts dem Wirtschaftswerbenden verschlossen. 17 Schmied (N 1), S. 52 ff. Siehe vertiefend Tanja Stöger, Die Heilige Schrift in der Werbung, Net.Worx, Heft 38 / 2004, im Internet unter: http: // www.mediensprache.net / networx / networx-38.pdf. (Sept. 2006).

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die bereits erwähnte Zeichentrick-Serie „Popetown“ genannt, in der ein vom Kreuz gestiegener Christus mit Dornenkrone auf dem Haupt lachend vor dem Fernseher sitzt. Die Bildüberschrift lautet: „Lachen statt rumhängen“. Auf eine Rüge des Werberates hin wurde die Kampagne von dem Verantwortlichen, dem Videoclip-Sender MTV, eingestellt18 – fast möchte man sagen: Gott sei Dank. 2. Insbesondere: Meinungsfreiheit Das BVerfG formuliert in ständiger Rechtsprechung, das Grundrecht der Meinungsfreiheit schütze die Meinungskundgabe unabhängig davon, ob eine Äußerung „,wertvoll‘ oder ,wertlos‘, ,richtig‘ oder ,falsch‘, emotional oder rational begründet ist“.19 Der Schutz erstreckt sich auch auf eine polemische oder verletzende Formulierung der Aussage.20 Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des EGMR, der in seinem richtungweisenden Handyside-Urteil formuliert, daß die Meinungsfreiheit „nicht nur anwendbar auf ,Informationen‘ oder ,Ideen‘ ist, die positiv aufgenommen oder als harmlos oder gleichgültig betrachtet werden, sondern auch auf solche, die den Staat oder eine Gruppe der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder verstören“.21 Diese Formulierungen dürfen natürlich nicht als Freibrief für Beleidigungen und provokative Hetze mißverstanden werden. Die EMRK stellt in Art. 10 Abs. 2 ausdrücklich fest, daß die Ausübung der Kommunikationsfreiheiten „mit Pflichten und Verantwortung verbunden“ ist und daher Beschränkungen unterworfen werden kann. In demselben Sinne findet gem. Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsfreiheit „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Mückl (N 3), S. 2 f. Vgl. BVerfGE 61, 1 (7). 20 Vgl. BVerfGE 54, 129 (138 f.); 93, 266 (289). 21 EGMR, Urteil vom 7. 12. 1976, 5493 / 72, Handyside / Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1977, S. 38, Tz. 49. 18 19

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Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Der Staat ist also berechtigt und auch verpflichtet, die Freiheit der Meinungsäußerung im Interesse eines gedeihlichen Miteinander zu beschränken. Damit diese Befugnis zur Schrankensetzung die Freiheit nicht wieder aufhebt, errichten die Verfassung bzw. die EMRK dem Staat ihrerseits Schranken seiner Beschränkungsbefugnis. Insbesondere darf der Staat die Freiheit in Ansehung des Zwecks nicht übermäßig beschränken. Für die Meinungsfreiheit verlangt das BVerfG mit seiner sog. Wechselwirkungslehre zudem, daß jede Einschränkung ihrerseits wieder im Lichte der besonderen Bedeutung dieses Grundrechts für eine freiheitliche Demokratie betrachtet werden müsse.22 Wenn also vom grundrechtlichen „Schutz“ der Blasphemie die Rede ist, ist der vorläufige Schutz der grundrechtlichen Schutzbereiche vom definitiven Schutz zu unterscheiden, den die Rechtsordnung nur solchen Äußerungen gewährt, die sich innerhalb der Schranken bewegen, die der Staat der Meinungsfreiheit, zulässigerweise, gesetzt hat. Diese Differenzierung mag allzu rabulistisch erscheinen; zudem mag der Begriff des „Schutzbereichs“ zu der Assoziation verleiten, hier werde etwas gutgeheißen. Kann man wirklich, mit dem EGMR, sagen, daß auch solche Äußerungen „geschützt“ sind, die andere Menschen beleidigen? Sauberer als ein Wechselspiel von Schutzbereich und Schranken, das auf eine Abwägung kollidierender Positionen zusteuert, mag es daher erscheinen, den Schutzbereich der Meinungsfreiheit von vornherein auf solche Äußerungen zu verengen, die nicht sozialschädlich sind und die dem Gegenüber die geschuldete Achtung erweisen. Auch die Rechts- und Staatsphilosophie scheint solche Bedenken zu stützen: So ist nach Kant meine Freiheit durch die gleiche Freiheit der anderen begrenzt,23 und auch Locke stellt 22 Std. Rspr. seit BVerfGE 7, 198 (208 f.) – Lüth. Siehe auch, statt vieler, Dieter Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995, S. 1697 (1698).

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für den freiheitlichen Status fest, daß dieser kein Zustand der individuellen Willkür sei: „But though this be a state of liberty, yet it is not a state of licence.“24 Die Idee der Freiheit scheint damit von vornherein das Gebot des neminem laedere in sich zu tragen.25 Auf diesem Wege könnte man eine Grundpflicht zu Toleranz und Rücksicht zur Vorausbedingung der Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten machen: Nur wer die Rechte anderer respektiert und ihren Überzeugungen Toleranz entgegenbringt, darf für sich die Meinungsfreiheit, die Kunstfreiheit oder andere Freiheiten in Anspruch nehmen. Diese Sicht hat in der Staatsrechtslehre stets prominente Anhänger gehabt;26 jüngst hat sich auch ein Mitglied des BVerfG zur ihr bekannt27 und damit Diskussionen ausgelöst. Bei aller vordergründigen Stringenz einer solchen Argumentation verdient gleichwohl eine weite Schutzbereichstheorie den Vorzug.28 Nimmt man für sozialschädlich erachtete Handlungen a priori vom Anwendungsbereich eines Freiheitsrechts aus, so kann dieses nicht länger als Maßstab herangezogen werden; die staatliche Entscheidung, die sich als 23 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: Werke in 10 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1983, S. 125 (145; A 235 f.); ders., Metaphysik der Sitten (1797;21798), ebd., Bd. 7, Darmstadt 1983, S. 303 (337; A / B 33). 24 John Locke, Two Treatises of Government (1690), hrsg. von Peter Laslett, Cambridge 1992, Second Treatise, Chap. 2, Sec. 6 (S. 270 f.). 25 In diesem Sinne jüngst Thomas Stemmler, Das „Neminem-laedereGebot“, 2005. 26 Insbes. Josef Isensee, Kunstfreiheit im Streit mit Persönlichkeitsschutz, in: AfP 1993, S. 619 (621 f., 625 f.). 27 Wolfgang Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: Michael Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, 2004, S. 53 ff.; ders., Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, in: Der Staat 43 (2004), S. 203 ff. 28 Grundlegend Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl. 1996, S. 71 ff., 272 ff., 290 ff. Aus jüngerer Zeit Verteidigung von Wolfgang Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, in: Der Staat 43 (2004), S. 167 ff. Zum Folgenden eingehend und m. w. Nachw. Andreas von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999.

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Eingriff in einen Schutzbereich rechtfertigen müßte, wird nunmehr auf Grundlage von Wertungen getroffen, die verfassungsrechtlich maßstablos sind und nicht offen gelegt werden müssen.29 Man mag dies dort für verschmerzbar halten, wo es um offenkundig sozialschädliches Verhalten geht, weil alle intuitiv wissen, warum es kein Recht geben darf, z. B. zum Völkermord aufzurufen; gerade in Grenzfällen aber erweist sich die Notwendigkeit eines kritischen Maßstabs. Nicht immer sind die Grenzen zwischen den Freiheitssphären der Bürger klar; oft sind sie sozial umkämpft. Hinzu kommt, daß der Staat nicht unfehlbar ist: Er kann z. B. Mittel einsetzen, die ungeeignet sind, ihren Zweck zu fördern, oder die Freiheit enger fassen, als dies für den verfolgten Zweck erforderlich wäre. Solche unnötigen Freiheitsopfer, solche „Kollateralschäden“ seiner Freiheit, muß der Bürger abwehren können. Es ist eben der kategorische Imperativ, daß ich mein Verhalten einer Maxime unterstelle, die zugleich Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte, immanente Grenze der inneren sittlichen Freiheit. Die äußere rechtliche Freiheit indes wird nicht durch die Prinzipien einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung determiniert, sondern durch die tatsächliche Gesetzgebung.30 Diese ist im Verfassungsstaat verfassungsrechtlich diszipliniert (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG). Auch dort, wo Gesetzgebung die Funktion hat, die – aus sittlicher Sicht – immanenten Grenzen der Freiheit nachzuzeichnen, ist sie gebundene Gewalt. Es geht also primär um Kontrolle des nach wie vor mit besonderer Machtfülle ausgestatteten Staates, nicht um das Hohelied der Sozialschädlichkeit. 29 Dies ist der zutreffende Kernpunkt der fast allgemeinen Kritik, die an BVerfGE 105, 252 (Glykol) und 105, 279 (Osho) geäußert wurde: Herbert Bethge, Zur verfassungsrechtlichen Legitimation informalen Staatshandelns der Bundesregierung, in: Jura 2003, S. 327 ff.; Peter M. Huber, Die Informationstätigkeit der öffentlichen Hand – ein grundrechtliches Sonderregime aus Karlsruhe?, in: JZ 2003, S. 290 ff.; Dietrich Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, in: NVwZ 2003, S. 1 ff. 30 Zu dieser Unterscheidung von Arnauld (N 28), S. 21 f.

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Außer Frage steht auch für eine Theorie weiter Schutzbereiche, daß Freiheit auf ein sozialverträgliches Maß gebracht werden muß. Der Status der Freiheit darf eben kein Zustand individueller Willkür sein. – Es dürfte nicht von ungefähr kommen, daß sich das Modell von Schutzbereich, Eingriff und Eingriffsrechtfertigung auf europäischer Ebene (EGMR, EuGH) durchgesetzt hat. 3. Insbesondere: Kunstfreiheit Besondere Erwähnung verdient noch die Kunstfreiheit als möglicher Schutzwall des Blasphemikers; denn praktisch jede Kunstgattung kennt Werke, die der Blasphemie bezichtigt wurden oder werden.31 Erwähnt wurden schon Rushdies „Satanische Verse“, Dan Browns „Da Vinci Code“, die Mohammed-Karikaturen, die Serie „Popetown“, Madonnas diverse Videoclips und Konzerte. Daneben erregten in jüngerer Zeit in Deutschland vor allem Terrence McNallys Theaterstück „Corpus Christi“32 und das „Rock-Comical“ „Das MariaSyndrom“33 Aufsehen. Besonders reich an Beispielen ist die Filmgeschichte: Filme von Pasolini (z. B. „La ricotta“, 1962), Bun˜uel (z. B. „La voie lactée“ – „Die Milchstraße“, 1969), Godards „Je vous salue, Marie“ (1983; deutsch unter dem Titel „Maria und Joseph“),34 Scorseses „Letzte Versuchung Christi“ (1988), Herbert Achternbuschs „Gespenst“ (1983)35 oder Beispiele bei Schmied (N 1), S. 42 ff. Hierzu F.A.Z. vom 25. 2. 2000, S. 48, sowie vom 26. 2. 2000, S. 41; Hillgruber (N 15), S. 79, 83; Schockenhoff (N 10), S. 122. Hierzu auch Charles McNulty, The Last Temptation of MTC, in: American Theatre 15 (1998), Nr. 10, S. 64 ff.; Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz vom Sept. 2000, http: // dbk.de / aktuell / meldungen / 2792 / index.html #5-1 (Sept. 2006). 33 OVG Koblenz, NJW 1997, S. 1174 ff.; BVerwG, NJW 1999, S. 304 f. 34 Hierzu Schmied (N 1), S. 47 ff. 35 Näher zum Inhalt dieses Films und zu den Auseinandersetzungen Schmied (N 1), S. 44 ff. Zur Frage der Rückforderung von Fördergeldern in diesem Fall OVG Münster, NVwZ 1993, S. 76 ff. 31 32

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Monty Pythons „Leben des Brian“ (1979). Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden. Mit Gottfried von Einems „Jesu Hochzeit“ hatte selbst die Oper in den 1980er Jahren einen Blasphemie-Skandal.36 Die Kunstfreiheit ist im bundesdeutschen Verfassungsrecht in Art. 5 Abs. 3 GG garantiert. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG unterliegt sie, anders als die Meinungsfreiheit, nicht den vorhin zitierten Schranken des Abs. 2, sondern ist allein durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar: durch Grundrechte anderer und durch Gemeinschaftsgüter von Verfassungsrang.37 Im Ergebnis liegen die Unterschiede zwischen der Meinungs- und der Kunstfreiheit nicht allzu weit auseinander: auf der einen Seite hat das BVerfG den Schutz der Meinungsfreiheit durch die Wechselwirkungslehre aufgewertet; auf der anderen Seite hat es so viele Interessen in den Verfassungsrang erhoben, daß zur Beschränkung der Kunstfreiheit ein beachtliches Arsenal potentiell kollidierenden Verfassungsrechts zur Verfügung steht.38 Dies erübrigt zwar eine Abgrenzung von Meinungs- und Kunstfreiheit nicht, die im Einzelnen Probleme aufwerfen kann.39 Im Interesse einer Beschränkung auf das Wesentliche sollen die Abgrenzungsschwierigkeiten an dieser Stelle indes nicht näher behandelt werden.

36 Eingehend hierzu Margret Dietrich / Wolfgang Greisenegger (Hrsg.), Pro und Kontra „Jesu Hochzeit“, 1980. 37 Std. Rspr. seit BVerfGE 30, 173 (193). A. A. Wolfgang Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 56 ff.; Hillgruber (N 15), S. 66 f. 38 Hillgruber (N 15), S. 67 f.; Wolfgang Rüfner, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Hillgruber (N 15), S. 95. 39 Siehe nur m. w. Nachw. Erhard Denninger, Freiheit der Kunst, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 6, 2. Aufl. 2001, § 146 Rn. 1 ff.

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III. Rechtsgründe für eine Beschränkung der Freiheitsrechte Dieser grundsätzlich respektierten Freiheit auch des Gotteslästerers kann der Staat zum Schutz individueller oder kollektiver Güter entgegentreten – im Falle der Kunstfreiheit freilich nur, wenn diese im Verfassungsrang stehen. Hier ist nun das Schutzgut staatlicher Blasphemieverbote zu bestimmen. Aus theologischer Sicht ist Blasphemie ein Sich-Erheben über die Religion, ein Verstoß gegen jenes Abstandsgebot, welches das Tremendum, das Heilig-Erschauernde,40 errichtet.41 Für den religiös und weltanschaulich neutralen Staat dagegen kann Schutzgut nicht das Heilige sein (oder eine religiöse Orthodoxie);42 aus diesem Grunde ist es auch, streng genommen, nicht ganz korrekt, von einem staatlichen Verbot der „Gotteslästerung“ zu sprechen. Objekt des Schutzes ist nicht Gott. Der Schutz des Staates gilt vielmehr dem kollektiven Gut des öffentlichen Friedens (hierzu unten III. 2.), oder er gilt den Anhängern der geschmähten Religion und deren Rechten (hierzu sogleich III. 1.).43 1. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und dem „Opfer“ a) Grundrechtsschutz für Gefühle? Mit einem Rechtsanspruch auf Schutz von Gefühlen tut sich das Recht begreiflicherweise schwer, nicht nur bei der Religionsfreiheit. Das Grundrecht ist zunächst einmal als ein Frei40

Hierzu Rudolf Otto, Das Heilige (1917), München 1987, S. 14 ff.,

42 ff. 41 Zur Phänomenologie der Blasphemie Schmied (N 1), S. 28 ff. (sowie S. 14 ff. zur historischen Dimension); Schockenhoff (N 10), S. 125 ff. Zur Geschichte auch Arnold Angenendt, Gottesfrevel, S. 9 ff. (in diesem Band). 42 Zu den historisch engen Bezügen von Blasphemie und Häresie Schmied (N 1), S. 18 ff.; Schockenhoff (N 10), S. 127; Angenendt (N 41), S. 22. 43 Vgl. Schockenhoff (N 10), S. 127 ff.

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heitsrecht ausgestaltet, d. h. es schützt die Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützen die freie innere Glaubensüberzeugung (forum internum) und das freie äußere Bekenntnis zum Glauben sowie die freie Betätigung des Glaubens (forum externum).44 Ein blasphemischer Film, ein gotteslästerlicher Roman oder ein Comic, in dem religiöse Überzeugungen verspottet werden (wie etwa in Walter Moers’ Comic-Reihe zum „Kleinen Arschloch“, das zu seinen „Hobbys“ die Hostienschändung zählt), nehmen dem Gläubigen für sich genommen nichts von seiner Freiheit, seinen Glauben zu bekennen und ihm gemäß zu handeln. Der (Kurz-)Schluß von den Gefühlen als innerem Sachverhalt auf die Zugehörigkeit zum forum internum45 geht hieran vorbei.46 Das schließt nicht aus, daß religiöse bzw. antireligiöse Schmähungen auf die freie Religionsausübung durchschlagen können. Voraussetzung ist aber, daß hierdurch ein Klima der Einschüchterung erzeugt wird, in dem Gläubige sich scheuen, ihren Glauben zu bekennen. In diesem Sinne hat auch der EGMR angenommen, daß extreme Fälle von Blasphemie vom Gebrauch der Freiheit abschrecken und den Staat zur Reaktion verpflichten können.47 Hier indes geht es nicht um ver44 Hierzu m. w. Nachw. Roman Herzog, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz, Art. 4 Rn. 6 ff. (Stand: 47. Lieferung, Juni 2006). 45 Vgl. Christoph Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, in: ZaöRV 55 (1995), S. 128 (145 f.) (der den Gedanken freilich gleich wieder relativiert). Ähnlich Luf / Schinkele (N 10), S. 88. 46 Hillgruber (N 15), S. 73. Eine Beeinträchtigung des forum internum der Religionsfreiheit, also zu seinem Glauben zu stehen, durch eine Verletzung religiöser Gefühle scheint kaum plausibel oder wäre jedenfalls nicht geschützt. Zur inneren Schutzrichtung Herzog (N 44), Art. 4 Rn. 70 ff. Michael Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, spricht hier vom „kantischen Einwand“ (in diesem Band, S. 31 [56]). 47 EGMR, Urteil vom 20. 9. 1994, 13470 / 87, Otto-Preminger-Institut / Österreich, ÖJZ 1995, S. 154, Tz. 47. Siehe auch bereits EKMR, Beschluß vom 14. 7. 1980, 8282 / 78, Scientology Church / Schweden, D.R. 21, 109, Tz. 5. Insoweit zustimmend Grabenwarter (N 45), S. 146, 161; Metin Akyürek / Benjamin Kneihs, Die Karikatur im Spannungsfeld

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letzte Gefühle, sondern um eine Störung des öffentlichen Friedens, die negative Rückwirkungen auf die freie Ausübung der Religion hat.48 Ein Recht auf Achtung religiöser Gefühle als solcher hingegen, wie es der EGMR über die genannte Rechtsprechungslinie hinaus anzunehmen scheint,49 überspannt die freiheitsrechtliche Normaussage50 und führt als unmittelbarer Anknüpfungspunkt rechtlicher Regelung darüber hinaus zu praktischen Schwierigkeiten. Denn will man den Schutz des Gefühls konsequent verwirklichen, muß man das subjektive Gefühl, verletzt zu sein, Ernst nehmen. Das Gefühl ist eben eine radikal subjektive Größe. Das „gefühlte Recht“ aber ist keine berechenbare Bezugsgröße, auf die sich ein soziales Miteinander gründen ließe.51 Die jüngsten Proteste einiger islamistischer Kreise gegen die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt dürften dies illustrieren. zwischen Religions- und Meinungsfreiheit – eine provokante Skizze, in: JRP 2006, S. 79 (83); Michael Holoubek, Meinungsfreiheit und Toleranz – von den Schwierigkeiten einer Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft für einen vernünftigen Umgang miteinander, in: JRP 2006, S. 84 (85 f.) (Parallele zu den „chilling effects“ der US-amerikanischen Grundrechtstheorie); Mückl (N 3), S. 13. 48 Grabenwarter (N 45), S. 147 ff.; Dieter Kolonovits, Meinungsfreiheit und Blasphemie in der jüngeren Rechtsprechung des EGMR, in: Christoph Grabenwarter / Rudolf Thienel (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, S. 187, 190; Hillgruber (N 15), S. 78; Pabel (N 4), S. 95 f. 49 Noch undeutlich: EGMR, Otto-Preminger-Institut (N 47), Tz. 46 ff. Deutlicher im Urteil vom 25. 11. 1996, 17419 / 90, Wingrove / Vereinigtes Königreich, ÖJZ 1997, S. 714, Tz. 48. Wieder unklarer bezüglich des Schutzgutes zuletzt EGMR, Beschluß vom 13. 9. 2005, 42571 / 98, I.A. / Türkei, Tz. 24 (zu finden über die Rechtsprechungsdatenbank des EGMR: http: // cmiskp.echr.coe.int / tkp197 / , Sept. 2006). Zu dieser Rechtsprechung Kolonovits (N 48), S. 182 ff., insbes. S. 183, 186 ff. 50 Ebenso Hillgruber (N 15), S. 73 f. Vgl. auch bereits OVG Lüneburg, NJW 1953, S. 237 (239 f.); BVerwGE 1, 303 (308). 51 Gegen einen Grundrechtssubjektivismus pointiert Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 29 ff. Siehe auch Roland Winkler, Die Kränkung als Grundrechtseingriff – von der freiheitlichen zur korrekten Kommunikationsordnung, in: JRP 2006, S. 103 (S. 104 f.). Ähnlich Kolonovits (N 48), S. 188.

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b) Schutz des Ansehens Nun werden verletzte Gefühle immerhin mittelbar von der Rechtsordnung verteidigt, nämlich dann, wenn sie Folge einer Ehrabschneidung sind. Art. 5 Abs. 2 GG benennt das Recht der persönlichen Ehre ausdrücklich als Schranke der Meinungsfreiheit. Dieses Recht folgt aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Es genießt über Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlichen Schutz und kann so allen Grundrechten als kollidierendes Verfassungsrecht entgegengehalten werden. Dieses Recht schützt auch davor, seiner religiösen Überzeugungen wegen beleidigt zu werden. Insoweit besteht eine Teilkongruenz.52 Dieser Achtungsanspruch ist im sozialen Miteinander begründet und besitzt daher von vornherein eine soziale Dimension. Er verweist auf die Eignung einer Äußerung, einen Menschen in den Augen seiner Mitmenschen verächtlich zu machen.53 Dies verlagert den rechtlichen Maßstab nach außen, objektiviert ihn also, und vermeidet so die Orientierung an subjektiven Empfindsamkeiten. Voraussetzung ist freilich, daß die Schmähung objektiv geeignet ist, den Achtungsanspruch des Einzelnen zu treffen. Dies ist nicht nur denkbar, wenn eine Person in concreto genannt wird; auch die Schmähung einer Gruppe kann auf deren Mitglieder durchschlagen. In der Strafrechtrechtswissenschaft wird dies unter dem Schlagwort der Sammel- oder Kollektivbeleidigung diskutiert.54 Neben den einzelnen Gläubigen steht 52 Herbert Tröndle / Thomas Fischer, StGB, 53. Aufl. 2006, § 166 Rn. 2b; Kolonovits (N 48), S. 187 f. Pabel (N 4), S. 96. Vgl. auch Grabenwarter (N 45), S. 145: „religiöses Persönlichkeitsrecht“. Pawlik (N 46), S. 46, spricht gleichsinnig von „Zwillingsbrüdern“. 53 Udo Di Fabio, in: Maunz / Dürig (N 44), Art. 2 Abs. 1 Rn. 169. 54 BGHSt 36, 83; BVerfGE 93, 266 (299 ff.); Eric Hilgendorf, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 5, 11. Aufl. 2006, Vor § 185 Rn. 27 ff.; Theodor Lenckner, in: Adolf Schönke / Horst Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 185 ff. Rn. 5 ff.; Nikolaos Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970, v. a. S. 63 ff.; Markus Wehinger, Kollektivbeleidigung – Volksverhetzung, 1994, v. a. S. 54 ff.; Alexander Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, v. a. S. 81, 191 f.; Klaus Dau, Der strafrechtliche

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der soziale Achtungsanspruch auch solchen Personengesamtheiten zu, die einen anerkannten sozialen Zweck erfüllen, vom Bestand ihrer Mitglieder unabhängig sind und einen einheitlichen Willen bilden können.55 Dies trifft auf die christlichen Kirchen und ähnlich körperschaftlich organisierte Religionsgemeinschaften zu, bereitet indes bei einer dezentralen Religion wie dem Islam unüberwindliche Schwierigkeiten. c) Privilegierung religiöser Gefühle? Auch dort indes, wo Ansehensschutz gewährt wird, bleibt es bei einer Teilkongruenz; ein Grundrechtsschutz religiöser Gefühle als solcher existiert nicht. Hierdurch entstehen Schutzlücken. Man könnte nun daran denken, diese Lücken zu schließen, indem man zumindest „berechtigte“ (also durch den Maßstab der Sozialadäquanz gefilterte) Gefühle schützt.56 Nur am Rande sei gefragt, ob es sich bei der Kategorie des „berechtigten Gefühls“ nicht um eine contradictio in adiecto handelt; ferner, ob ein solcher, nach wie vor subjektiv aufgeladener, Rechtsbegriff hinreichend bestimmt wäre.57 Problematisch ist vor allem, daß sich ein solcher Gefühlsschutz nicht allein auf den Schutz religiöser Gefühle beschränken dürfte. Für eine Privilegierung der religiösen Gefühle könnte zwar Schutz der Bundeswehr, in: NJW 1988, S. 2650 ff.; Manfred Maiwald, Zur Beleidigung der Bundeswehr und ihrer Angehörigen, in: JR 1989, S. 485 ff.; Heinz Giehring, Die sog. „Soldatenurteile“ – eine kritische Zwischenbilanz, in: StV 1992, S. 194 ff. – Speziell im religiösen Kontext LG Köln, MDR 1982, S. 771 f.; Gunther Arzt, Urteilsanmerkung, JZ 1989, S. 647 f. 55 Hilgendorf (N 54), Rn. 27; Lenckner (N 54), Rn. 3; Jörg Tenckhoff, Grundfälle zum Beleidigungsrecht, in: JuS 1988, S. 457 ff. 56 Vgl. § 188 österr. StGB: „berechtigtes Ärgernis“ – auch dort allerdings im Verbund mit einer Störung des religiösen Friedens. Zur Rechtslage in Österreich Grabenwarter (N 45), S. 134 ff., 148; Jürgen Wallner, Strafrecht und Kunstfreiheit im Kontext der religiös-weltanschaulichen Sphäre, ÖARR 2002, S. 239 (240 ff.). 57 Ähnlich die Einwände bei Winkler (N 51), S. 104. Vgl. auch Grabenwarter (N 45), S. 149 f.

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die besonders intensive Verbindung von Religion und Weltanschauung zum Selbstverständnis eines Menschen sprechen.58 Doch es gibt auch andere Umstände, die für die Identität des Einzelnen konstitutiv sein können. Diese müßten sich in einem religiös und weltanschaulich neutralen Staat für eine rechtliche Privilegierung dann ebenso qualifizieren. Beispielhaft erwähnt seien etwa individuelle oder kollektive Verfolgungsschicksale59 oder unveränderliche Persönlichkeitsmerkmale wie Behinderungen60 oder sexuelle Orientierung.61 Letztlich kann nur der Einzelne bestimmen, was er für seine Handlungen als verklammernd und für seine Persönlichkeit als prägend betrachtet. Der grundsätzlich fortbestehenden staatlichen Befugnis zur Typisierung sind dabei Grenzen gesetzt. Unter den Bedingungen des Pluralismus und seiner Vielheit identitätsstiftender Merkmale droht hier die von Garton Ash beschriebene Summierung von Gruppenbefindlichkeiten. d) Schutzrechte und Schutzpflichten Beschränkt der Staat die Äußerungsfreiheiten, um Schmähungen von Glauben und Religion zu unterbinden, so kann er sich also hierfür in zwei Fällen auf den Schutz der Grundrechte der Gläubigen berufen: zum einen, wenn die Schmähung deren sozialen Achtungsanspruch verletzt; zum anderen, wenn sie hetzerischen Charakter annimmt und ein Klima erzeugt, in dem sich Gläubige nicht länger trauen, öffentlich ihren Glauben frei zu bekennen und ihn zu leben. Bei einer solchen Einschüchterung wie auch bei schwerwiegender Ver58 Luf / Schinkele (N 10), S. 89; Pawlik (N 46), S. 49 (unter Berufung auf Hegel). Vgl. auch Schmied (N 1), S. 61; Schockenhoff (N 10), S. 147. Kritisch Joachim Renzikowski, Toleranz und die Grenzen des Strafrechts, in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, 2002, S. 179 (187). 59 Zu deren identitätsprägender Kraft z. B. BGHZ 75, 160 (162 f.); BVerfGE 90, 241 (251 ff.). 60 Vgl. BVerfGE 96, 288 (302). 61 Siehe insbes. BVerfGE 49, 286 (297 ff.); BVerfGE 60, 123 (134 f.); BVerfG, JZ 2006, S. 513 ff.

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letzung des Persönlichkeitsrechts trifft den Staat sogar eine Schutzpflicht zu Gunsten des in seinen Rechten verletzten Gläubigen.62 Soweit eine solche Schutzpflicht besteht, hat der Verletzte auch das Recht, vom Staat Maßnahmen gegen den Störer zu verlangen. Freilich steht dabei erst fest, daß der Staat handeln muß. Wie er seine Schutzpflichten erfüllt, ist dem Staat regelmäßig anheim gestellt.63 Jenseits der beiden genannten Fälle gibt es kein subjektives Recht des Gläubigen, das als verfassungsimmanente Schranke der Freiheit des Gotteslästerers entgegengehalten werden könnte. Dies spielt nicht nur bei der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit eine Rolle, sondern auch bei der Meinungsfreiheit: Blasphemieschutzgesetze richten sich spezifisch gegen Meinungsäußerungen und sind daher nicht „allgemein“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG;64 sie dienen auch nicht dem Jugendschutz oder dem Ehrschutz. Für einen über diese Zwecke hinausgehenden Schutz müßte also auch hier auf kollidierendes Verfassungsrecht zurückgegriffen werden. Grundrechte der Gläubigen kommen, wie beschrieben, nur eingeschränkt in Betracht. Dies ist zu bedenken, wenn gefordert wird, das Schutzgut des öffentlichen Friedens aus § 166 StGB zu streichen.

62 Vgl. Akyürek / Kneihs (N 47), S. 82; Luf / Schinkele (N 10), S. 91; Winkler (N 51), S. 105. Notwendig ist die Differenzierung von einem Recht des Staates zum Schutz der Gläubigen und seiner Verpflichtung zu solchem Schutz. Hierzu Grabenwarter (N 45), S. 143 ff. 63 BVerfGE 77, 170 (214 f.). Weiterführend Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 21 ff., 31 ff.; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee / Kirchhof (N 39), Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 111, Rn. 83 ff.; Hans Hugo Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, in: DVBl. 1994, S. 489 ff.; Peter Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002. 64 Zu dem Begriff, statt vieler, Roman Herzog, in: Maunz / Dürig (N 44), Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 249 ff.

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2. Die Verantwortung des Staates für die Freiheitsordnung Der „Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung“ können auch Interessen der Allgemeinheit entgegengesetzt werden. Hierbei ist es notwendig, die Rolle des Staates mit Blick auf die Freiheitsordnung als ganze zu reflektieren. Diese Rolle läßt sich als eine Rahmenverantwortung kennzeichnen. Sie umfaßt zwei Elemente, die zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehen: eine Ordnungsaufgabe sowie die Pflicht, Freiräume zur Entfaltung zu garantieren. a) Die Ordnungsaufgabe des Staates aa) Garantie einer Friedensordnung Die Ordnungsaufgabe des Staates hat Friedrich der Große in die berühmten Worte gefaßt: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.“65

Der Staat, der „Heimstatt aller Staatsbürger“66 sein soll, hat eine Friedensordnung zu garantieren. Als Vorausbedingung der Freiheit, auch der Religionsfreiheit, hat diese Aufgabe Verfassungsrang.67 Dieser Friede beinhaltet negativ die Abwesenheit von Gewalt, darf aber nicht hierauf reduziert werden. Sonst droht der Trugschluß, ein Einschreiten des Staates gegen blasphemische Äußerungen sei nur dort gefordert, wo diese gewaltsame Gegenwehr68 provozieren, nicht 65 Randglosse Friedrichs II. vom 22. 6. 1740 zu einem Bericht betreffend die Katholischen Schulen in Preußen, zitiert nach Georg Büchmann, Geflügelte Worte, 19. Aufl. 1898, S. 518. 66 BVerfGE 19, 206 (216); 108, 282 (299). 67 Hillgruber (N 15), S. 76 f. Zur historischen Herleitung Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie, 1967, S. 75 (82 ff.).

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aber dort, wo der Friedfertige auch die andere Wange hinhält.69 Es bedarf daher eines positiven Begriffs des öffentlichen Friedens.70 Dieser ist in einer Diskursordnung zu finden, die freie und gleichberechtigte Partizipation ermöglicht.71 Aufgabe des Staates ist es, die Voraussetzungen des freien öffentlichen Diskurses im Sinne einer Inklusionsordnung zu sichern, und zwar nachhaltig. Er muß Stigmatisierungen,72 Ausgrenzungen und Einschüchterungen verhindern, die zum Rückzug Einzelner führen können.73 „Jeder soll seinem Glauben nachgehen können [ . . . ], ohne befürchten zu müssen, deswegen öffentlich diffamiert und ins Abseits gestellt zu werden.“74 68 Bei gewaltsamen Reaktionen im Inland ist der Staat umgekehrt zum Schutz der potentiellen Gewaltopfer verpflichtet, Akyürek / Kneihs (N 47), S. 79; Winkler (N 51), S. 106. 69 Schockenhoff (N 10), S. 130, 148 f.; Luf / Schinkele (N 10), S. 90. Zu einem Aufruf zum Faustrecht würde hingegen die Ansicht von Hillgruber (N 15), S. 83 f. führen, die Störung des öffentlichen Friedens orientiere sich an Art und Umfang der Proteste gegen eine blasphemische Provokation. Ähnlich die Argumentation des OVG Koblenz, NJW 1997, 1174 (1176). 70 Hier mag man eine Parallele zum Übergang vom negativen zu einem positiven Friedensbegriff im Völkerrecht ziehen. Zusammenfassend Georg Picht, Was heißt Frieden?, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Den Frieden denken, 1995, S. 177 ff. Zum erweiterten Friedensbegriff in der Praxis der UNO Andreas Schäfer, Der Begriff der „Bedrohung des Friedens“ in Artikel 39 der Charta der Vereinten Nationen. Die Praxis des Sicherheitsrates, 2006. 71 Vgl. die unhintergehbaren Diskursvoraussetzungen bei Karl-Otto Apel, Grenzen der Diskursethik?, in: Zs. für philosophische Forschung 40 (1986), S. 3 (10 ff.); Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 564 ff., passim; ferner Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, 1985, S. 23 f., 181 ff. Dazu auch m. w. Nachw. Andreas von Arnauld, Skatpartie mit Rawls und Habermas (und Wittgenstein ist auch dabei), in: ders. (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2003, S. 57 (60 f.); ders., Gerechtigkeit und Spiel, ebd., S. 143 (146 ff.). 72 Mückl (N 3), S. 14, im Anschluß an BVerfG, NJW 2006, S. 1939 (1944, Tz. 111). 73 Ähnlich der „sozialethische Lösungsansatz“ bei Schockenhoff (N 10), S. 149 ff. Siehe auch Renzikowski (N 58), S. 183, 187 f. 74 OVG Koblenz, NJW 1997, S. 1174 (1176) im Anschluß an Lenckner (N 54), Vorb. §§ 166 ff., Rn. 2.

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Hier berührt sich die Schutzpflicht für die subjektive Freiheit des Bedrängten, von der soeben die Rede war, mit der objektiven Verantwortung des Staates für den öffentlichen Frieden.75 Die Interventionsgrenze ist dabei nicht erst erreicht, wenn der öffentliche Friede unmittelbar gefährdet ist. Da der Staat eine nachhaltige Friedensordnung zu garantieren hat, ist es ihm auch gestattet, Maßnahmen zu ergreifen, die im Vorfeld einer möglichen Eskalation entgegenwirken.76 Zu diesem Zweck darf der Staat grundsätzlich auch auf verletzte Gefühle eingehen: Nicht im Sinne eines unmittelbaren Gefühlsschutzes, sondern soweit diese Gefühle mittelbar Auslöser einer Überreaktion oder eines Rückzugs des Getroffenen aus dem Diskurs sein können. Bei einem solchen Vorfeldschutz ist freilich strikt auf einen Ausgleich mit den Kommunikationsgrundrechten und der objektiven staatlichen Aufgabe zur materiellen Freiheitssicherung zu achten, um die Freiheit nicht zu unterminieren.77 Diese Grundkonstellation ist keineswegs unbekannt: Die Pflicht des Staates, eine Friedensordnung als Vorausbedingung von Freiheit zu ermöglichen, die aber ihrerseits nicht zur Bedrohung der Freiheit werden darf – diese Pflicht zur immer wieder neu zu gestaltenden Quadratur des Kreises ist aus der Debatte um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat78 bestens vertraut. Wie dort können Sicherungen der Freiheit in Qualität bzw. Summe zur Bedrohung der FreiZu diesen Zusammenhängen auch Grabenwarter (N 45), S. 147. Hillgruber (N 15), S. 76. Vgl. auch Mückl (N 3), S. 8. Zur strafrechtlichen Seite Pawlik (N 46), S. 39 ff. 77 Hillgruber (N 15), S. 79. 78 Hierzu statt vieler Christian Callies, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: DVBl. 2003, S. 1096 ff.; Matthias Kötter, Das Sicherheitsrecht der Zivilgesellschaft, in: KritJ 36 (2003), S. 64 ff.; Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 151 ff.; Oliver Lepsius, Freiheit, Sicherheit und Terror, in: Leviathan 32 (2004), S. 64 ff. 75 76

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heit werden. Wie dort beschränkt sich die staatliche Garantenpflicht auf die Gewährleistung öffentlichen Friedens im Innern.79 Mit der Pflicht, eine globale Friedensordnung zu garantieren, wäre der Staat strukturell überfordert,80 obgleich er aufgefordert bleibt, auf transnationaler Ebene an einer solchen mitzuwirken (vgl. Art. 23 – 26 GG). Reaktionen, die eine als blasphemisch empfundene Äußerung im Ausland hervorruft oder hervorrufen könnte, sind in Hinblick auf die innere Friedensordnung irrelevant. Hier ist jeder Staat für seinen Hoheitsbereich selbst verantwortlich. So steht es z. B. einem Staat, wenn auch im Rahmen seiner grund- und menschenrechtlichen Bindungen, frei, den inländischen Vertrieb einer Zeitung oder die Vorführung eines Films im Inland zu untersagen, sofern dies den inneren Frieden bedroht. Wollte man hier nach global konsensfähigen Maßstäben fahnden, gäbe der Empfindlichste bzw. derjenige, der die heftigsten Proteste zu organisieren vermag, den Ton an.81 bb) Stärkung von „Normbewußtsein und Solidarität“? Die friedensstiftende Funktion des Rechts ist auf eine unterstützende Haltung der Gesellschaft angewiesen. Ohne eine generelle Akzeptanz zumindest bestimmter Grundregeln des Miteinander, ohne das, was in der Rechtssoziologie bisweilen als „Rechtsethos“,82 bisweilen als „Rechtsgesinnung“83 bezeichnet wird, kann der Staat seine Friedensfunktion nicht erfüllen: leges sine moribus vanae. Zumindest tendenziell (hier ist natürlich das Faktum auch einer religiösen Pluralität in Rechnung zu stellen) läßt sich konstatieren, daß Glaube und Pabel (N 4), S. 94 f. Pabel (N 4), S. 97 f. 81 Ähnlich Akyürek / Kneihs (N 47), S. 83. 82 Manfred Rehbinder, Rechtskenntnis, Rechtsbewußtsein und Rechtsethos als Probleme der Rechtspolitik, in: JbRSoz. 3 (1972), S. 25 (30 f., 32 f.). 83 Franz Bydlinksi, Rechtsgesinnung als Aufgabe, in: FS für Karl Larenz, 1983, S. 1 ff. 79 80

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Religion eine solche Haltung unterstützen. In diesem Sinne erkennt Art. 4 Abs. 2 der Verfassung von Baden-Württemberg die Bedeutung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung auch der sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens an. Glaube und Religion stiften Werte, Ligaturen und Gemeinsinn, auf die auch der Verfassungsstaat angewiesen ist,84 obgleich die Loyalitäten, die von der Religion gestiftet werden, mit denjenigen, welche der freiheitliche Verfassungsstaat benötigt, nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden dürfen: Kein Gemeinwesen kann alleine aus rationalen Egoisten bestehen; jede Gemeinschaft ist auf jene idealistischen Investitionen angewiesen, die der Einzelne in der Vorwegnahme des idealen Diskurses,85 in dem Glauben an die Möglichkeit, mit dem Anderen zu einer Einigung zu gelangen,86 tätigt. Auch das Recht beruht in seiner Geltung letztlich auf solchen im besten Sinne idealistischen Unterstellungen.87 In diesem universellen, d. h. überreligiösen und übersäkularen Sinne ist Glaube die Voraussetzung dafür, daß das Abenteuer Gesellschaft gelingt.88 Die vom freiheitlichen Verfassungsstaat benötigte und die von der Religion gestiftete Loyalität sind daher nicht identisch, wiewohl verwandt (auch in einem genetischen Sinne); sie können sich auch gegenseitig stützen. 84 Böckenförde (N 67), S. 91 ff.; Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee / Kirchhof (N 39), § 138 Rn. 96 ff. 85 Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders. / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet Systemforschung?, 1971, S. 101 (135 f.). 86 Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928), in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Christoph Müller, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 421 (427). 87 Vgl. Hermann Jahrreiß, Berechenbarkeit und Recht, 1927, S. 16 ff. Hierzu Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 373 Anm. 655. 88 Ähnlich Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 92 ff., 98 ff., 138 f., passim, der allerdings Glaube und Recht (sowie Liebe im Sinne von körperlicher Hingabe) als Metonymie behandelt. Man sollte indes besser, wie hier, von Strukturähnlichkeiten sprechen.

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Dessen eingedenk, hat Jürgen Habermas treffend formuliert, es liege „auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen den kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist“.89 Ein „schonender Umgang“ umfaßt die Schaffung besonderer Räume zur Entfaltung,90 wenn auch nicht durch eine Beschneidung der Freiheiten anderer – hierfür ist das Schutzgut einer Förderung von Normbewußtsein und Solidarität zu diffus und zu wenig meßbar. Das Grundgesetz schafft solche Räume statt dessen vor allem durch den Sonderstatus der Religionsgemeinschaften, den es aus der Weimarer Reichsverfassung entlehnt hat.91 Hierüber hinaus mag der sittliche Wertbezug von Glauben und Religion ein legitimes Motiv für eine fördernde Politik liefern, die sich dann aber ihrerseits am Verfassungsgrundsatz der religiösen und weltanschaulichen Neutralität zu orientieren hat. b) Materielle Freiheitssicherung Die Idee einer Rahmenverantwortung umfaßt auf der anderen Seite, daß den Menschen substantielle Freiräume bleiben müssen. Dies gilt ebenfalls für ihre Kommunikationsbeziehungen. Der Kommunikationsordnung als Teil der übergreifenden Freiheitsordnung wohnt dabei die klassische Vorstellung eines „Marktplatzes der Ideen“ inne, moderner: die Vorstellung, daß ein möglichst offener rationaler Diskurs das angemessene Forum sozialer Problemlösung ist.92 Hierin liegt die konstituierende Bedeutung der freien Kommunikation für 89 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders. / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Religion, 5. Aufl. 2006, S. 15 (32 f.). 90 Vgl. Schockenhoff (N 10), S. 147. 91 Mückl (N 3), S. 10 m. w. Nachw. Vgl. auch Herzog (N 44), Art. 4 Rn. 21 f. 92 Vgl. Holoubek (N 47), S. 84 f. Eingehend zu den Gründen für den Schutz der Meinungsfreiheit Eric Barendt, Freedom of Speech, 2. Aufl. Oxford / New York 2005, insbes. S. 6 ff.

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die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die das BVerfG in ständiger Rechtsprechung betont.93 Worte können zwar Unheil anrichten, vor allem wenn sie zur Hetzpropaganda eingesetzt werden (aus jüngerer Zeit sei hier nur an den Fall Ruanda erinnert);94 regelmäßig aber ist das Wort (oder das Bild) im Vergleich zur physischen Gewalt ungefährlicher, da es auf eine geistige Auseinandersetzung zielt. Dies rechtfertigt eine Kommunikationsordnung, die auf dem Vorrang von Rede und Gegenrede beruht, wie er in der sog. Wechselwirkungslehre des BVerfG seinen Niederschlag findet.95 Wer verbal angegriffen wird, hat das Recht, verbal zurückzuschlagen. Die Meinungsfreiheit steht eben beiden Seiten zu.96 Die Kommunikationsordnung basiert, sofern ihre Rahmenbedingungen einmal gesichert sind, rechtlich auf dem Prinzip der Waffengleichheit, wie es insbesondere in dem Tatbestand der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ in § 193 StGB zum Ausdruck kommt.97 Ein Staat nun, der zur Befriedung in einer pluralistischen Gesellschaft mit übertriebenem Schutzinstinkt in dieses freie Spiel von Rede und Gegenrede eingreift, riskiert die eingangs beschriebene „Tyrannei des Gruppenveto“: Eine Herde heiliger Kühe führt uns geradewegs in eine politisch korrekte Kommunikationsordnung, die sehr wohl Ordnung ist, aber kaum mehr freiheitlich.98 Es darf nicht übersehen werden, daß in der materiellen Freiheit der Fluchtpunkt auch der Ord93 Etwa BVerfGE 7, 198 (208); 12, 113 (125); 35, 202 (221 f.); 74, 297 (338). Hierneben tritt die Begründung aus der individuellen Selbstverwirklichung (die freilich auf alle Freiheitsrechte zutrifft): Grimm (N 22), S. 1698. 94 Vgl. ICTR, Urteil vom 3. 12. 2003, 99-52-T, Prosecutor v. Ferdinand Nahimana, Jean-Bosco Barayagwiza and Hassan Ngeze, http: // 69.94. 11.53 / default.htm (Sept. 2006). 95 Vgl. z. B. BVerfGE 7, 198 (208); 66, 116 (150 f.); 90, 241 (249). 96 So aus Anlaß des Karikaturenstreits auch Winkler (N 51), S. 106. 97 Zu dieser Verbindungslinie BVerfGE 93, 266 (290 f.); Grimm (N 22), S. 1701. 98 Winkler (N 51), S. 105.

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nungsaufgabe des Staates liegt. Diese zielt letztlich darauf ab, die Bedingungen von Freiheit zu sichern. Übersteigert man den Schutz- und Ordnungsgedanken, führt dies zu einer Selbstaufhebung der Freiheit.99 Wenn formuliert wird, der Staat müsse „Toleranz in Glaubens- und Bekenntnisfragen“ garantieren,100 geht es, richtig verstanden, wie Michael Holoubek treffend formuliert, „um ein sehr elementares Verständnis von Toleranz, nicht um die Sicherung ,politischer Korrektheit‘, des Anstands und Geschmacks oder eines respektvollen Umgangs miteinander“.101 Staatlicherseits darf, im Anschluß an die Terminologie von Rainer Forst,102 keine „Wertschätzungs“-Toleranz gefordert werden, sondern allein eine basale „Respekt“-Toleranz: sich als gleichberechtigte Teilnehmer am Diskurs zu respektieren, auch wenn man meint, die besseren Argumente zu besitzen.103 Nun ist unbestreitbar, daß gesellschaftliche Pluralität eine hierüber hinausgehende Kultur der Toleranz benötigt. In diesem Sinne spricht Art. 10 Abs. 2 EMRK treffend davon, daß die Ausübung der Kommunikationsfreiheiten „mit Pflichten und Verantwortung verbunden“ ist. Hierbei handelt es sich jedoch noch nicht um rechtliche Verpflichtungen. (Wertschätzungs-)Toleranz und Rücksicht, neudeutsch: politische Korrektheit, schuldet der Diskursteilnehmer seinem Gegenüber zunächst einmal aus moralischen Gründen.104 Wie der Nachsatz in Art. 10 Abs. 2 EMRK verdeutlicht, wonach die Vgl. von Arnauld (N 87), S. 89 ff. OVG Koblenz, NJW 1997, S. 1174 (1176); BVerwG, NJW 1999, S. 304. Gleichsinnig EGMR, Urteil vom 25. 5. 1993, Kokkinakis / Griechenland, ÖJZ 1994, S. 59, Tz. 33; Rs. Otto-Preminger-Institut (N 47), Tz. 47; Pabel (N 4), S. 94. 101 Holoubek (N 47), S. 86. 102 Rainer Forst, Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, in: ders. (Hrsg.), Toleranz, 2000, S. 119 (127 ff.). 103 Renzikowski (N 58), S. 182 f., 187 f. Vgl. auch Otfried Höffe, Toleranz: Zur politischen Legitimation der Moderne, in: Forst (N 102), S. 60 (74 f.). 104 Siehe Höffe (N 103), S. 73 ff.; Renzikowski (N 58), S. 183; Holoubek (N 47), S. 86 f. 99

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Freiheiten „daher“ staatlicherseits beschränkt werden können, handelt es sich um den Grund, warum rechtliche Schranken errichtet werden dürfen, warum der Gesetzgeber die moralische Verpflichtung in eine rechtliche übersetzen darf.105 Als notwendiges Ingrediens des sozialen Friedens gerät das Toleranzgebot damit zwar immerhin prinzipiell in den Einzugsbereich der staatlichen Ordnungsaufgabe; man sollte sich aber vor der kurzschlüssigen Annahme hüten, nur das Recht sei geeignet, der Freiheit Grenzen zu setzen, und so einer weiteren Verrechtlichung das Wort reden.106 Die Grenzen der Freiheit werden auch jenseits des Rechts beständig in der Gesellschaft und von der Gesellschaft verhandelt. Gefordert ist daher, erneut mit Holoubek, eine „Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft für einen vernünftigen Umgang miteinander“.107 An dieser Stelle kommt nun ein vierter Akteur ins Spiel, dem im Arrangement der freiheitlichen Kommunikationsordnung eine zentrale Rolle zugedacht ist: die öffentliche Meinung.108 Kommunikation spielt sich vielfach im öffentlichen Raum ab. Der Gotteslästerer wendet sich an die Öffentlichkeit, um Beifall für seine blasphemischen Ausfälle zu erheischen; ebenso kann der Geschmähte versuchen, durch Demonstrationen, Leserbriefe, Proteste usw. die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen. Auch wenn die Partisanen sich beiderseits längst positioniert haben und die Öffentlichkeit in der pluralen Gesellschaft keine monolithische Größe ist,109 Ähnlich Holoubek (N 47), S. 86. Vgl. auch Hillgruber (N 15), S. 75. Hierzu Andreas von Arnauld, Überregulierung, in: von Arnauld (N 71), S. 263 ff.; ders., (N 87), S. 205 ff. 107 Holoubek (N 47), S. 84, 87. Nicht überzeugend dagegen die vollständige Verrechtlichung eines (weit verstandenen!) Toleranzgebots bei Luf / Schinkele (N 10), S. 92. 108 Renzikowski (N 58), S. 185, im Anschluß an John Stuart Mill, On Liberty (1859), Chap. IV, in: Collected Works, hrsg. von J. M. Robson, Vol. XVIII, Toronto / Buffalo 1977, S. 213 (276): „The offender may then be justly punished by opinion, though not by law.“ 109 von Arnauld (N 87), S. 188 ff. 105 106

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können doch Teile der schweigenden Mehrheit gewonnen werden. Besonders dümmliche oder dreiste Formen von Gotteslästerung, selbst wenn sie unterhalb der Schwelle staatlicher Sanktionen bleiben, werden noch immer öffentlichen Tadel finden. Die jüngsten Beispiele, nicht zuletzt die Diskussionen in den Massenmedien, bestätigen diese Erwartung. Zudem dient die öffentliche Reaktion nicht allein der Überzeugung anderer, sondern auch der Selbstbehauptung. Hierin steckt ihr expressiver Wert. Gerade für eine pluralistische Gesellschaft ist eine Stärkung außerrechtlicher normativer Diskurse eine vernünftige Strategie. Dies mag auf den ersten Blick paradox scheinen; schließlich wächst das Bedürfnis nach rechtlicher Regulierung dort, wo außerrechtliche Normen ihre allgemeine Geltung einbüßen. Wo Sitte, Comment und Courtoisie versagen, springt das Recht in die Bresche.110 Unter den Bedingungen des sozialen Pluralismus scheint hier der Weg einer immer weiter gehenden Verrechtlichung unumkehrbar vorgezeichnet. Dabei ist das Mittel der rechtlichen Regelung ambivalent: Es schafft die nötige Verbindlichkeit, ist aber kaum in der Lage, Widersprüche auszuhalten. Im sittlichen und im moralischen gesellschaftlichen Diskurs können solche Widersprüche unaufgelöst bleiben; der Staat aber muß entscheiden und errichtet dabei eine Grenze zwischen richtigen (rechtmäßigen) und falschen (rechtswidrigen) Handlungen. Dies ist dort notwendig, wo die erodierenden außerrechtlichen Normen für das soziale Miteinander unerläßlich sind oder wo es um fundierende Wertvorstellungen der verfaßten Gesellschaft geht. Im Übrigen jedoch ist es durchaus ratsam, das Nebeneinander verschiedener Auffassungen und Lebensstile auszuhalten und die normative Bewertung der heute viel beschworenen „Zivilgesellschaft“ zu überlassen.111 Ansonsten gerät die rechtliche Regu110 Josef Isensee, Freiheit – Recht – Moral, in: Klaus Weigelt (Hrsg.), Freiheit – Recht – Moral, 1988, S. 14 (17); von Arnauld (N 87), S. 207 f. 111 In diesem Sinne auch Holoubek (N 47), S. 87. Im Kern ist dies der Stein des Anstoßes in der Diskussion um das Allgemeine Gleichbehand-

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lierung, aller guten Absicht zum Trotz, zur Freiheitsbedrohung. Dies ist keine Flucht aus dem Recht: Die zivilgesellschaftlichen Diskurse sind als grundrechtlich geschützter Freiheitsgebrauch Formen verfassungsrechtlich vorgesehener Extra-Organ-Kontrollen und damit integraler Bestandteil der verfaßten Gesellschaftsordnung des Grundgesetzes.112

IV. Versuch einer Synthese: einige Kriterien Nun sind dies nur Beschreibungen von extremen Polen, verbunden mit einer Mahnung, die Regulierung der Kommunikationsordnung nicht zu weit zu treiben. Zwischen den Polen einer Garantie der Diskursvoraussetzungen einerseits und dem System freier Rede und Gegenrede andererseits ist es Aufgabe vornehmlich des Gesetzgebers, die konkurrierenden Interessen in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Das Grundgesetz diktiert dabei keine statisch fixierte Lösung. Die Grundrechte determinieren das Gemeinwesen also nicht ein für alle Mal; mit ihren Festsetzungen strukturieren sie vielmehr das Feld sozialer Auseinandersetzungen und lassen dabei Raum für Verschiebungen der Gewichte. Wie ein solcher angemessener Ausgleich aussehen könnte, wird vielfach von den konkreten Umständen des Einzelfalles abhängen. Im Folgenden seien lungsgesetz (BGBl. 2006 I, 1897) („Antidiskriminierungsgesetz“). Kritisch Eduard Picker, Antidiskriminierungsgesetz – Der Anfang vom Ende der Privatautonomie?, in: JZ 2002, S. 880 ff.; ders., Die neue Moral im Zivilrecht, in: F.A.Z. vom 7. 7. 2003, S. 8; Franz-Jürgen Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, in: ZRP 2002, S. 286 ff.; ders., Fundamente der Privatrechtsgesellschaft nach dem Antidiskriminierungsgesetz, in: ZG 20 (2005), S. 154 ff. Befürwortend Susanne Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Gesetzgebung?, in: ZRP 2002, S. 290 ff.; Christian Armbrüster, Antidiskriminierungsgesetz – ein neuer Anlauf, in: ZRP 2005, S. 41 ff. Zu der Debatte auch Michael Wrase, Tugend statt Freiheit? (2005), Humboldt-Forum Recht HFR 5 – 2005: http: // www.humboldt-forum-recht.de / 5 – 2005 / Seite1.html (Sept. 2006). 112 Hierzu vertiefend Andreas von Arnauld, Gewaltenteilung jenseits der Gewaltentrennung, ZParl 32 (2001), S. 678 (686 ff., 695 ff.).

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aber immerhin einige Tendenzen und abstraktere Kriterien umrissen. 1. Staatlicher Interventionsgrund a) Interpretationsbedürftigkeit der Aussage Zunächst bedarf es einer sorgfältigen Prüfung, ob überhaupt ein rechtlich relevanter Fall von Blasphemie vorliegt. Hierzu wird es vielfach nötig sein, die inkriminierte Äußerung erst einmal zu interpretieren. Wie zuvor erwähnt, kann es dabei auf die subjektive Sicht des sich verletzt Fühlenden nicht ankommen, ebensowenig auf die Deutung durch den sich Äußernden selbst. Diese mag für die innere Tatseite Bedeutung haben; ob aber eine Äußerung geeignet ist, das Ansehen einer Person zu schmälern, oder ob sie geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, zielt auf soziale Wirkungen der Äußerung. Diese sind aus einer objektiven Sicht heraus zu bestimmen: Wie durfte die Äußerung bei verständiger Würdigung und unter Berücksichtigung des Kontextes verstanden werden?113 Oft wird eine eindeutige Interpretation nicht möglich sein. Hier verlangt das BVerfG bisweilen, die freiheitsfreundlichste Deutung zu wählen,114 und ist für diese Position vielfach kritisiert worden.115 In der Tat wird dadurch einseitig die Meinungs- bzw. Kunstfreiheit bevorzugt. Eine angemessene Zweifelsregelung, die auch dem Vorrang von Rede und Gegenrede Rechnung trägt, sollte daher nicht lauten, daß die freiheitsfreundlichste unter allen möglichen Deutungen zu wählen ist, sondern unter allen plausiblen.116 113 BVerfGE 93, 266, 295; Hillgruber (N 15), S. 81 f., 82 f. Zu den besonderen Anforderungen an eine Auslegung von Karikatur und Satire aus Anlaß der dänischen Mohammed-Karikaturen Luf / Schinkele (N 10), S. 91. 114 Vgl. BVerfGE 67, 213 (229 ff.). Undeutlich BVerfGE 93, 266, 295 f. 115 Etwa von Isensee (N 26), S. 629. 116 In Übereinstimmung mit Mückl (N 3), S. 13: „lebensnahe“ Auslegung.

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Ein Kunstwerk freilich, das so vieldeutig ist, daß ihm kein eindimensionaler Sinn entnommen werden kann, gibt niemals Anlaß zur staatlichen Intervention. Etwa die immer wieder als blasphemisch kritisierte „Kreuzigung“ von Joseph Beuys. Dort erinnern ein senkrechter Holzstab, an dessen Spitze ein Papier mit einem Kreuzzeichen befestigt ist, und, an seinem Fuße, zwei Feldflaschen aus Aluminium sogleich an die ikonographische Tradition von Kreuzigungsszenen. Daß hierin, der kirchenkritischen Haltung von Beuys wegen, nur ein blasphemischer Angriff auf die Religion gesehen werden könne,117 überzeugt nicht. Das Werk läßt ohne interpretatorische Verrenkungen auch Deutungen zu, die mit dem christlichen Glauben vereinbar sind.118 Daß auch kirchenkritische Künstler Werke schaffen können, die mit Glaubensinhalten durchaus vereinbar sind, zeigt nicht zuletzt der berühmte Fall des „Christus mit der Gasmaske“ von George Grosz, der um 1930 herum deutsche Gerichte mehrere Jahre lang beschäftigte.119 b) Aggressive Stoßrichtung Wo Schutzgut der Blasphemie das Heilige ist, können prinzipiell alle Profanierungen religiöser Inhalte und Symbole blasphemisch sein, auch wenn sie gedankenlos und ohne kritische Absicht erfolgen.120 Insbesondere im Bereich der Werbung, aber auch in der Popkultur lassen sich Zweckentfremdungen religiöser Formeln und Zeichen entdecken, die wohl So Schmied (N 1), S. 56. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Joseph Beuys – Homo Religiosus, in: ders., Religion und Modernität, Tübingen 1989, S. 172 ff.; Herbert Fendrich, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Hillgruber (N 15), S. 93 f. Der Erzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner, hat diese Kreuzigungsgruppe vor Jahren für eine Meditationssendung im Fernsehen ausgewählt: Schmied (N 1), S. 56. 119 Hierzu Bernhard von Becker, „Gegen Grosz und Genossen“ – Der Gotteslästerungsprozess gegen George Grosz, NJW 2005, S. 559 ff. Zur Interpretation aus christlicher Sicht heute Schockenhoff (N 10), S. 144. 120 Vgl. Schmied (N 1), S. 33 f.; Schockenhoff (N 10), S. 123 f. 117 118

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mehr auf den Wiedererkennungswert bauen, als daß sie provozieren sollen,121 etwa, wenn der Werbeslogan eines Automobilherstellers lautet „Denn sein ist die sportliche Ausstattung, freches Design und Sparsamkeit.“ Eine solche Profanierung des Heiligen genügt für den Staat, der ja nicht berufen ist, das Heilige zu schützen, nicht. Er darf erst einschreiten, wenn der blasphemischen Äußerung eine aggressive Stoßrichtung innewohnt, die objektiv geeignet ist, den Frieden zu stören oder den Achtungsanspruch eines anderen zu verletzen. Auf dieser Linie liegt es, wenn das LG München in seinem Beschluß zur Serie „Popetown“ festgestellt hat, „dass nicht jede Veröffentlichung, mag sie auch geschmacklos oder schlicht dümmlich sein, die an den Empfindungen anderer rührt, eine Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens zu besorgen geeignet ist“.122 2. Einschreiten wegen der kommunikativen Wirkung Als soziales Handeln haben alle Meinungsäußerungen im weiteren Sinne (also auch solche in künstlerischer Form) eine dreifache Wirkung: Ihre expressiven Wirkungen, mit denen sich der Äußernde selbst darstellt, haben regelmäßig kein soziales Störpotential. Anders dagegen ihre nach außen weisenden kommunikativen und influenzierenden Wirkungen. In den kommunikativen Wirkungen realisiert sich der hier und jetzt eintretende Mitteilungserfolg. Dieser Erfolg ist unerwünscht und kann staatliche Reaktion veranlassen, wenn der sich Äußernde dadurch den Achtungsanspruch eines anderen verletzt. Um Ehrschutz und Meinungsfreiheit in ein angemessenes Verhältnis zu setzen, sind regelmäßig Einzelfallwürdigungen unerläßlich. 121 Schmied (N 1), S. 52 ff. (dort auch das folgende Beispiel); Schockenhoff (N 10), S. 122 f. 122 LG München, ZUM 2006, S. 578. Vgl. auch Josef Isensee, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Schockenhoff (N 10), S. 167: „Mit der Geschmacklosigkeit muß man heute leben. Sie ist der Preis der Freiheit.“

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Man könnte auf den Gedanken verfallen, diese Abwägung im Falle religionskritischer Äußerungen stets zu Lasten der Meinungsfreiheit ausgehen zu lassen oder den Bereich des Glaubens und der Religion von vornherein der Meinungsfreiheit zu verschließen, handelt es sich doch beim Glauben eines Menschen um ein Privatissimum, das andere schlicht „nichts angehen“ könnte.123 Doch selbst wenn man den Glauben für sich allein genommen als Privatissimum einstuft, trifft dies auf die Religion nicht zu: Religion ist eminent öffentlich. Als „umfassende Lehren“124 besitzen Religionen und Weltanschauungen einen Ordnungsanspruch, verfügen über ihnen je eigene Vorstellungen vom rechten Leben und einer rechten Ordnung. Dies macht sie, wie auch den mit ihr untrennbar verbundenen Glauben, zum legitimen Gegenstand von Kritik, insbesondere auch von Kritik an Institutionen der Religion. Es genügt, an das Engagement der katholischen Amtskirche gegen Empfängnisverhütung und Abtreibung zu erinnern, um dies zu verdeutlichen. Selbst Interna, denkt man z. B. an das Verbot der Frauenordination in der römisch-katholischen Kirche, berühren soziale Fragen und sind kritisierbar. Zum Trost mag daran erinnert werden, daß nur Institutionen und Erscheinungen, die sozial wirksam sind, Gegenstand von Scherz, Satire, Ironie und – manchmal auch? – tieferer Bedeutung sind. Zielscheibe von Kritik zu sein, ist daher Zeichen von Lebendigkeit.125 Sind demnach im Regelfall Einzelfallwürdigungen ehrenrühriger blasphemischer Äußerungen erforderlich, sieht das BVerfG eine Schmähkritik, in der die Auseinandersetzung um die Sache durch Schmähung der Person ersetzt wird, sowie Formalbeleidigungen regelmäßig als unzulässig an.126 Dies 123 Ähnlich der Einwand von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Hillgruber (N 15), S. 105 f. 124 Vgl. den Begriff bei Rawls (N 9), S. 77 f., 107, 132 ff., 267, passim. 125 Übereinstimmend Isensee (N 122), S. 168. Bewußt überzogen Schockenhoff (N 10), Diskussionsbeitrag, S. 171, der „schon fast“ von „Leichenfledderei“ spricht. 126 BVerfGE 93, 266 (294); Grimm (N 22), S. 1703.

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überzeugt, ist doch die Freiheit der Kommunikation um der sachlichen Auseinandersetzung willen geschützt. Verzichtet der sich Äußernde auf jede Sachlichkeit und verletzt er damit Rechte anderer, so hat der Staat das Recht und die Pflicht zu intervenieren.127 Die unerwünschte kommunikative Wirkung kann ferner in einer Verletzung religiöser Gefühle liegen, sofern hierdurch der öffentliche Friede gefährdet wird. Man wird hier, wie zuvor betont, Zurückhaltung üben müssen, um eine Aushöhlung der Freiheit zu vermeiden. Jenseits von Schmähungen darf der Staat immerhin auch unter den „Normalbedingungen“ einer relativ friedlichen Gesellschaft dafür sorgen, daß sich jeder frei entscheiden kann, ob er sich Äußerungen aussetzen will, die für sich genommen rechtmäßig sind, die ihn aber in seinen religiösen Gefühlen verletzen könnten. Grundsätzlich dürfte der Gesetzgeber daher z. B. Veranstalter von Bühnenaufführungen oder Filmvorführungen dazu anhalten, auf eine mögliche Verletzung religiöser Gefühle hinzuweisen. Verpflichtet wäre er hierzu freilich nicht. 3. Einschreiten wegen der influenzierenden Wirkung Meinungsäußerungen erschöpfen sich oft nicht in der bloßen Mitteilung, sondern wollen einen weiteren Prozeß anstoßen. Auch diese influenzierenden Wirkungen können offenkundig unerwünscht sein, denkt man nur an Fälle von Volksverhetzung, Aufstachelung zum Rassenhaß oder zum religiösen Haß. a) Kontextualisierung und Dekontextualisierung Solche influenzierenden Wirkungen sind auf ein sie begünstigendes Umfeld angewiesen, auf bestimmte kommunikative Kontexte. Ihre soziale Wirksamkeit ist daher dort reduziert, 127

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wo sie aus diesen Kontexten herausgelöst werden; hier besteht regelmäßig auch kein Anlaß, staatlicherseits zu intervenieren. Eine typische Form der Dekontextualisierung ist namentlich die Verwendung zu wissenschaftlichen oder zu Unterrichtszwecken. Gleichsam auf einen Objektträger geklemmt, fehlt z. B. einem blasphemischen Roman, der Gegenstand akademischer Analyse wird, der Kontakt zu einem Publikum, einem Umfeld, in dem er sozial wirksam werden könnte. Auch die museale Präsentation kann einen dekontextualisierenden Zug haben, muß dies aber nicht. Dies hängt von der Art der Präsentation ab. Auch Zeitablauf schließlich kann eine solche Dekontextualisierung bewirken: Es gibt genügend Beispiele für Kunstwerke, die, in ihrer Zeit wegen Blasphemie unterdrückt, heute den Status von Klassikern besitzen.128 Werden sie freilich bewußt und zielgerichtet in Szene gesetzt, können sie auch heute wieder re-kontextualisiert werden. Um diese Ambivalenz zu verdeutlichen, ein Beispiel, das nicht weiter kommentiert werden soll: Ende vergangenen Jahres versuchten muslimische Verbände vergeblich, die Aufführung eines Theaterstücks in dem schweizerisch-französischen Grenzstädtchen St Genis-Pouilly zu verhindern.129 Das Stück trug den Titel „Fanatisme ou Mahomet le Prophète“, es stammt aus dem Jahre 1741, und sein Autor ist – natürlich – Voltaire.

128 Vgl. Hellmuth Karasek, in: Grenzen der Kunstfreiheit: Symposium der Bertelsmannstiftung, 1992, S. 9 f.: „Die Geschichte der Kunst ist vor allen Dingen auch eine Geschichte ihrer Skandale. Skandale sind Anzeichen von Grenzüberschreitung. Der gute Geschmack von heute ist der Stein des Anstoßes von gestern. Das Ärgernis von gestern ist der Klassiker von heute.“ Er fügt hinzu: „Leider sind diese Sätze nicht umkehrbar, sonst hätten wir eine feste Bank auf die Zukunft.“ 129 Corinne Caillaud, Des musulmans s’opposent à la représentation d’une pièce de Voltaire, in: Le Figaro vom 12. 11. 2005, zitiert nach http: // www.minorites.org / article.php?IDA=13654 (Sept. 2006).

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b) Relevanz des kommunikativen Forums Welchen Grad an unerwünschter influenzierender Wirkung eine blasphemische Äußerung erreicht, hängt auch von dem Forum ab, auf dem sie geäußert bzw. verbreitet wird.130 Wer sich an die Allgemeinheit wendet, insbesondere über die Massenmedien oder das Internet, riskiert die Konfrontation; er riskiert zu provozieren und zu schockieren (und will dies meist ja auch). Auch wenn solche Provokationen grundsätzlich nach dem Prinzip von Rede und Gegenrede zu beantworten sind, ist hier strenger auf die Einhaltung bestimmter Grenzen zu achten. Großzügiger kann mit religiösen Grenzüberschreitungen grundsätzlich dort umgegangen werden, wo sie sich an einen Kreis Gleichgesinnter richten. Eine Veranstaltung, in der man en famille bleibt, hat kaum öffentliches Störpotential.131 Dies ändert sich, wenn im Kreis Gleichgesinnter Propaganda zur inneren Festigung betrieben wird, die im Zusammenhang mit einer aggressiven Positionierung nach außen steht. Man denke an den Fall eines Haßpredigers, der seine Gläubigen durch Schmähungen anderer Religionen „auf Linie“ bringt, oder an neonazistische Propaganda, in deren Rahmen das mosaische Bekenntnis beschimpft wird.132 Dazwischen liegt der häufige Fall, daß sich eine Äußerung nicht an die Allgemeinheit oder an einen Kreis Gleichgesinnter richtet, sondern an eine zunächst nicht näher bestimmte interessierte Öffentlichkeit. Einen solchen Fall hatte der EGMR in dem Verfahren Otto-Preminger-Institut gegen Österreich 1994 zu entscheiden.133 Dort ging es um die filmische Realisierung der „Himmelstragödie in fünf Aufzügen“ „Das Liebeskonzil“ von Oskar Panizza durch den Filmregisseur Werner Schroeter. Der EGMR erklärte Verbot und Grabenwarter (N 45), S. 150 ff. Vgl. z. B. das Abstellen auf geschlossene Versammlungen in OVG Koblenz, NJW 1997, S. 1174 (1176). 132 Vgl., mutatis mutandis, BVerfGE 90, 241 (249 ff.). 133 EGMR (N 47). Zu den Hintergründen eingehend Grabenwarter (N 45), S. 129 ff., 131 ff. 130 131

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Einziehung des Films durch die Behörden für konventionsgemäß, obgleich der Veranstalter (der Betreiber eines Programmkinos in Innsbruck) durch Aushänge, die ihrerseits nicht blasphemisch gehalten waren, auf den möglicherweise religiöse Gefühle verletzenden Gehalt des Films aufmerksam gemacht hatte. Diese Entscheidung überzeugt nicht:134 Ermöglicht der Veranstalter vorab, von den wesentlichen Inhalten Kenntnis zu nehmen, und warnt er vor der möglichen Verletzung religiöser Gefühle, reduziert er das öffentliche Störpotential.135 Sofern erneut kein Zusammenhang mit einer aggressiven Propaganda besteht, ist ein Einschreiten gegen die Filmvorführung nicht gerechtfertigt. c) Die Stellung religiöser Minderheiten Die influenzierende Wirkung blasphemischer Äußerungen ist schließlich auch ein zentraler Aspekt beim Umgang mit religiösen Minderheiten: Zwar genießen alle Gläubigen denselben grundrechtlichen Schutz; auch ist dem Staat aus Gründen religiöser Neutralität verwehrt, Verunglimpfungen verschiedener Religionen abweichenden rechtlichen Regeln zu unterwerfen. Dies schließt aber nicht aus, daß im konkreten Fall Minderheiten u. U. besonders geschützt werden müssen: Wo z. B. blasphemische Mohammed-Karikaturen auf ein stark antiislamisches Klima treffen, kann es geboten sein, sich schützend vor eine Minderheit zu stellen, die in die Ecke gedrängt zu werden droht.136 Dasselbe gilt dort, wo eine christliche 134 Wie hier auch Grabenwarter (N 45), S. 143 ff., 150 ff., 153 ff.; Barendt (N 92), S. 192; Kolonovits (N 48), S. 185 ff., 193 ff.; Holoubek (N 47), S. 85 f.; Luf / Schinkele (N 10), S. 90 Anm. 9. Siehe auch op.diss. Costa, Cabral Barreto und Jungwiert zu EGMR, zur Rs. I.A. / Türkei (N 49), Tz. 8. 135 Grabenwarter (N 45), S. 150 ff., 154 ff., 161 f.; Kolonovits (N 48), S. 193 ff.; Luf / Schinkele (N 10), S. 91. A.A. OVG Koblenz, NJW 1997, 1174 (1176). 136 Akyürek / Kneihs (N 47), S. 81, 82; Holoubek (N 47), S. 85 f.; Luf / Schinkele (N 10), S. 92.

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oder jüdische Minderheit aus dem öffentlichen Forum vertrieben wird. Die Aufgabe zur Verteidigung einer inklusiven Ordnung bringt es eben mit sich, daß sie sich häufig dort manifestiert, wo es um Minderheiten geht – schließlich sind sie es doch, die am ehesten von sozialer Exklusion bedroht sind. Dies bedeutet keine Diskriminierung der Mehrheitsreligion: Es handelt sich um eine sekundäre Diskrimination, die nach denselben Regeln – Erhaltung der Diskursteilnahme – allen Gläubigen gegenüber gleichermaßen begründbar ist.137 Daran ist zu erinnern, wenn bisweilen beklagt wird, deutsche Gerichte ließen gegen das Christentum gerichtete Schmähungen passieren, während Minderheitsreligionen mit Samthandschuhen angefaßt würden.138 Ob an dem Vorwurf gleichwohl etwas Wahres ist, muß an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Hierzu bedürfte es einer kritischen Durchsicht der jeweiligen Fälle. 4. Mittel staatlicher Reaktion Es bleibt, einen kurzen Blick auf die Mittel zu werfen, die dem Staat für seine Intervention zur Verfügung stehen. Neben dem Strafrecht als ultima ratio im Rechtsstaat kommen auch zivilrechtliche Ansprüche in Betracht, etwa auf Zahlung einer Geldentschädigung – dies freilich nur, insofern Persönlichkeitsrechte des „Opfers“ verletzt werden.139 Während diese Reaktionen regelmäßig an schuldhaftes Handeln des „Störers“ anknüpfen, können ordnungsrechtliche Maßnahmen unab137 Vgl. zu dieser Kategorie Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 1993, S. 377 ff. 138 So z. B. Hillgruber (N 15), Diskussionsbeitrag, S. 99; Schockenhoff (N 10), S. 155. 139 Wer als Schutzgut staatlicher Blasphemieverbote primär subjektive Rechte der Gläubigen sieht, anstatt, wie hier, die Staatsaufgabe zur Sicherung des öffentlichen Friedens in den Mittelpunkt zu stellen, muß sich mit dieser Kopplung an das Zivilrecht auseinandersetzen: Hier droht eine explosionsartige Vermehrung von Schadensersatzansprüchen nach § 253 Abs. 2, § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 166 StGB.

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hängig vom Verschulden auch auf die objektiven Wirkungen einer Äußerung reagieren.140 Als solche (im weitesten Sinne) medienaufsichtsrechtliche Maßnahmen kommen verschiedene Mittel in Betracht: die erwähnten Warnhinweise oder andere Auflagen, z. B. Vertriebsbeschränkungen, die das Störpotential reduzieren sollen, in Extremfällen bis hin zu Vertriebsverboten – mit Ausnahmen zu Gunsten dekontextualisierter Verwendung. Zulässig ist angesichts der hohen Suggestivkraft gerade der visuellen Massenmedien auch die Regelung in den Rundfunk-Programmgrundsätzen (vgl. z. B. § 5 Abs. 3 ZDF-Staatsvertrag), daß bei der Gestaltung von Rundfunksendungen „die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung [ . . . ] zu achten“ sind.141 Hier geht es um Maßnahmen im Vorfeld als Beitrag zu einer nachhaltigen Sicherung der positiven Friedensordnung. Als milderes Mittel gegenüber staatlichen Eingriffen ist eine Selbstregulierung möglich, wie sie namentlich durch die Freiwilligen Selbstkontrollen der deutschen Filmwirtschaft oder des Fernsehens, den Deutschen Presserat oder den Werberat erfolgt. Solche Selbstregulierung mag ihre Defizite haben; sie ist aber keineswegs wirkungslos, wie das Beispiel der „Popetown“-Werbung zeigt.

V. Weitere Grenzen staatlicher Regulierung von Toleranz und Rücksicht In diesem Beitrag ging es primär um verfassungsrechtliche Bindungen, die der Staat in dem eingangs skizzierten DreiPersonen-Stück zu beachten hat. Dabei erlegt das Verfassungsrecht dem Staat Regelungsgebote auf, markiert durch Schutzpflichten und die notwendigen Grundsicherungen der Friedensordnung, sowie Regelungsverbote, markiert durch Isensee (N 122), S. 101. Hierzu Marc Liesching, Anmerkung zu LG München, Beschluß vom 3. 5. 2006 – 9 O 8051 / 06, in: ZUM 2006, S. 578 (579). 140 141

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das Übermaßverbot und die Pflicht zur Sicherung einer materiellen Freiheitsordnung. In dem Raum, der zwischen diesen verfassungsrechtlich determinierten Polen zur Gestaltung verbleibt, hat der Staat freilich ebenfalls Grenzen zu beachten. Seine Rolle wird schließlich nicht allein durch verfassungsrechtliche Vorgaben konturiert, sondern unterliegt auch solchen Grenzen, die im Recht selbst liegen, und solchen, die aus der praktischen Klugheit folgen. Zur Abrundung des Bildes seien beide in einem abschließenden Ausblick skizziert. 1. Grenzen aus dem Recht selbst „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, lautet das viel zitierte Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde.142 Zu diesen Voraussetzungen gehört auch die Toleranz. Sie stellt eine unumgängliche Voraussetzung für ein friedliches Miteinander dar, schon gar unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft.143 Bei all seinen Bemühungen kann der Staat aber nur auf die Bedingungen von Toleranz Einfluß nehmen, nicht auf die Toleranz selbst. Er kann verbieten, behindern, beschränken; Toleranz und gegenseitige Rücksicht erzwingen kann er nicht.144 In seinem richtungweisenden Aufsatz „The Tragedy of the Commons“ („Die Tragödie der Allmende“) hat der US-amerikanische Ökologe Garret Hardin 1968 dieses Grundproblem auf die Formel gebracht: „Verbote sind einfach zu regeln (wenn auch nicht notwendigerweise einfach durchzusetzen), aber wie regeln wir Mäßigung?“145 Böckenförde (N 67), S. 93. Iring Fetscher, Toleranz: Von der Unentbehrlichkeit einer kleinen Tugend für die Demokratie, 1990, S. 87, 92; Höffe (N 103), S. 60 ff.; Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 588 ff., 675 ff. 144 Ähnlich Manfred Stelzer, Der Karikaturenstreit: Versuch einer grundrechtlichen Entgrenzung, in: JRP 2006, S. 98 (101 ff.). Zu den Paradoxa der Steuerungsversuche des Rechts im Bereich seiner Geltungsgrundlagen siehe stellvertretend Matthias Kötter, Integration durch Recht?, in: Konrad Sahlfeld u. a. (Hrsg.), Integration und Recht, 2004, S. 31 (33 ff.); von Arnauld (N 87), S. 352 ff. 142 143

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Wie läßt sich, übertragen auf das vorliegende Thema, staatlicherseits eine rücksichtsvolle Nutzung der „kommunikativen Allmende“ erreichen? Hier, wo Repression und Eingriffsverwaltung an ihre Grenzen stoßen, läßt sich an Mittel der Förderung denken, mit denen sich eine Kultur der Toleranz im Miteinander zwar nicht steuern, aber immerhin positiv beeinflussen läßt: durch öffentliche Aufträge etwa, durch Auszeichnungen und Preise, öffentliche Stellungnahmen oder durch Werbekampagnen. Der Beitrag zur Förderung von Toleranz dürfte die Bevorzugung vor provozierenden und polarisierenden Publikationen und Kunstwerken rechtfertigen.146 Dasselbe gilt z. B. bei Steuervergünstigungen, die besonders förderungswürdigen Kunstwerken zuteil wird: Wenn der Staat im öffentlichen Interesse Ausnahmen von der allgemeinen Steuerpflicht eröffnet, steht es ihm frei, dieses öffentliche Interesse nicht allein nach dem Maßstab der künstlerischen Qualität zu bestimmen, sondern auch etwaige negative Folgen für das soziale Miteinander in Betracht zu ziehen.147 Vor allem aber die überragende Bedeutung von Schule und Erziehung zur Förderung eines Klimas von Toleranz, Rücksicht und gegenseitiger Achtung kann nicht genug betont werden.148 2. Grenzen aus der praktischen Klugheit Wo es nicht um die Abwehr eindeutiger Grenzüberschreitungen geht, sind solche positiven Anreize sinnvoller als Verbote – und das führt schließlich zu den Grenzen, welche die 145 Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science 162 (1968), S. 1243 (1246): „Prohibition is easy to legislate (though not necessarily to enforce); but how do we legislate temperance?“. 146 Zutreffend der Ansatz von Schockenhoff (N 10), S. 119 f. 147 Schockenhoff (N 10), Diskussionsbeitrag, S. 170. Vgl. auch OVG Münster, NVwZ 1993, S. 76 (78). 148 Fetscher (N 143), S. 81, 85; Schockenhoff (N 10), S. 154. Vgl. auch die Empfehlungen der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages von 1981, in: DJT, Schule im Rechtsstaat, Band I, S. 64 f. (Begründung auf S. 141 ff.).

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praktische Klugheit errichtet. Staatliche Repression kann das Gegenteil von dem bewirken, was sie bezweckt. Die Offenheit der geistigen Auseinandersetzung hat auch Ventilfunktion und ermöglicht eine diskursive Zähmung ansonsten latenter Konflikte. Rechtliche Schutzzonen können Gegenwehr provozieren, die den öffentlichen Frieden weitaus stärker bedroht, als dies ohne sie der Fall wäre. Läßt man dies außer acht, können sich staatliche Schutzvorkehrungen leicht als Danaergeschenk für die Geschützten erweisen. Der Staat ist also gut beraten, mit Verboten oder Vertriebsbeschränkungen behutsam umzugehen. Er sollte auf die Regeln des offenen Diskurses vertrauen, dessen Voraussetzungen er zu garantieren hat.149 Der öffentliche Raum ist da, offen für alle. Es gilt, ihn zu nutzen, indem man Position bezieht und einer Gesellschaft, die sich einer verbreiteten Wurzellosigkeit allmählich bewußt wird, Hilfen zur Orientierung anbietet, wo man meint, diese geben zu können. Im Rahmen seiner apostolischen Reise nach Bayern im September 2006 hat Papst Benedikt wiederholt eine „neue Welle einer drastischen Aufklärung oder Laizität“ kritisiert.150 Diese Welle ist kein Schicksal, das unsere Gesellschaft durch staatliches Unterlassen getroffen hätte und das abzuwenden in der Hand des Gesetzgebers und der Gerichte läge. Die Rückeroberung des öffentlichen Raums durch die Kirchen und die Gläubigen ist im freiheitlichen Rechtsstaat Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit. Sie kann nicht länger durch Inanspruchnahme von Autorität gelingen, weder durch kirchliche noch durch staatliche Autorität; sie gelingt am Ende nur durch Argumente und durch Beispielgeben.151

Renzikowski (N 58), S. 187 ff.; Holoubek (N 47), S. 86 f. Interview v. 13. 8. 2006, http: // 212.77. 1. 245 / news_services / bulletin / news / 18681.php?index=18681&lang=en (Sept. 2006). 151 Wie hier auch Mückl (N 3), S. 14, der mit Kurt Tucholsky (alias Ignaz Wrobel) schließt: „Die Kirche versuche zu überzeugen – sie siege im Zeichen des Kreuzes, nicht im Zeichen des Landgerichtsdirektors.“ 149 150

Nachwort Blasphemie im Koordinatensystem des säkularen Staates Von Josef Isensee, Bonn I. Jenseits von Staat und Recht – die Radikalität des Christentums Im muslimischen Schrifttum wird ein Text aus dem vormuslimischen, christlichen Arabien überliefert, der Aufmerksamkeit verdient: „Der Messias, Marias Sohn, ging an einer Gruppe von Juden vorbei. Sie schmähten ihn. Er aber segnete sie. Da wunderten sich seine Schüler: ,Die anderen schmähen dich, und du segnest sie?‘ Jesus erwiderte: ,Jeder Mensch kann nur austeilen, was er hat.‘“1 In dem schlichten Jesus-Wort verbirgt sich tiefsinnige Theologie: daß die Menschen nicht fähig sind, den Messias zu beleidigen und ihn zu provozieren; daß seine Liebe zu den Menschen unbeirrbar ist und allen gilt, gleichgültig, ob sie ihn schmähen oder verehren. In dem apokryphen Wort klingen die Weisungen Jesu aus den Evangelien nach, daß seine Jünger die segnen sollen, die ihnen fluchen, und für die beten, die sie beleidigen (Lk 6,28); daß sie das Feuer des Himmels nicht auf den Frevler herabrufen dürfen (Lk 9,55); daß sie Weizen und Unkraut miteinander wachsen lassen sollen bis zum Tag der Ernte (Mt 13,30). Gott behält 1 Arabische und lateinische Fassung: Michael Asin et Palacios, Logia et agrapha Domini Iesu apud Moslemicos scriptores I = Patrologia Orientalis 13, 3, Paris 1916; II = Patrologia Orientalis 19, 3, Paris 1926, hier I, Nr. 32. Deutsche Übersetzung von Klaus Berger, in: ders. (Hg.), Zwischen Welt und Wüste. Worte christlicher Araber, 2006, S. 33 f.

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sich vor, am Ende der Zeit Gericht zu halten. Es ist nicht Sache irdischer Gerichtsbarkeit, die Ehre Gottes zu schützen und Gott Genugtuung zu verschaffen für die untauglichen Versuche der Menschen, ihn zu beleidigen.2 Die Jünger wunderten sich, heißt es in der Legende. Sie hatten Grund dazu. Denn hier setzt sich die Lehre Jesu ab vom jüdischen Recht wie vom Recht der alten Welt überhaupt, in der das Gemeinwesen den Gottesfrevel des Einzelnen zu ahnden hatte, um nicht als Ganzes dem Zorn Gottes zu verfallen. Doch das Christentum hält die radikale Position seines Ursprungs im Laufe seiner langen Geschichte nicht durch. Es weist den weltlichen Arm des Staates nicht zurück, wo er sich ihm bietet. Gleichwohl bleibt eine Grunddistanz zu jedem Versuch, dem Endgericht Gottes vorzugreifen. In der christlichen Botschaft liegt Widerspruch zur Gewalt im Namen Gottes3: „ecclesia non bibit sanguinem“ (Augustinus). Der Staat dagegen hält auch im christlichen Äon an seiner Aufgabe fest, Blasphemie zu bestrafen. Jedoch in dem Maße, in dem er sich auf säkulare Ziele zurückzieht, wird es für ihn schwieriger, die Strafbarkeit zu legitimieren.4 Immerhin überdauert das Verbot der Blasphemie in einer Nische des Strafgesetzbuchs, in seiner rechtlichen Reichweite beschnitten und in seiner praktischen Bedeutung nahezu auf Null reduziert. Prinzipielle und pragmatische Faktoren wirken hier zusammen. Unterschwellig aber lebt die urchristliche Lehre weiter, Unkraut auf Erden nicht zu jäten und mit dem Weizen wachsen zu lassen.

Siehe in diesem Band Arnold Angenendt, Gottesfrevel, S. 9 (11 ff.). Näher oben Angenendt (N 2), S. 11 ff.; ders., Toleranz und Gewalt, 2007, S. 232 ff. 4 Siehe in diesem Band Michael Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, S. 31 ff. 2 3

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II. Fundamentaldissens zwischen islamischer und westlicher Kultur Unversehens kehrt das Thema der Blasphemie auf die politische und juridische Tagesordnung zurück. Die deutsche Gesellschaft hat es sich nicht ausgesucht. Vielmehr wird es ihr heute von außen aufgedrängt, durch den Islam. Unvorbereitet und arglos (wiewohl nicht unschuldig), wie sie ist, erfährt sie die elementare Wucht des muslimischen Protestes gegen vermeintliche oder wirkliche Schmähungen der Religion. Der Protest äußert sich in diplomatischen Noten muslimischer Regierungen wie in Mord und Brandschatzung des islamistischen Mobs. Unvereinbare Kulturen prallen aufeinander.5 Das Fanal gibt der Streit um die dänischen Karikaturen des Propheten Mohammed. Die Muslime, denen schlechthin verboten ist, sich ein Bild von ihrem Propheten zu machen, stoßen hier nicht auf ein bloßes Abbild, sondern – für sie schlimmer noch – auf ein Zerr- und Spottbild. Sie empfinden die forcierte Witzigkeit der Karikaturen als Schmähung. In ihrem Aufbegehren entlädt sich ein unversöhnter, fundamentaler Gegensatz, der die heutige Welt durchzieht: zwischen islamischer Tradition und westlicher Moderne; zwischen Absolutheit des Glaubens und liberalem Relativismus; zwischen eherner, überindividueller Gesetzlichkeit und dem Freiheitsanspruch des Individuums, das, wenn überhaupt, nur das Gesetz anerkennt, das es sich selber gibt; zwischen einer religiös geschlossenen Gesellschaft, die ihre Einheit im gemeinsamen Verständnis einer ewigen Wahrheit findet, und einer säkularen, offenen, beweglichen, pluralen Gesellschaft, der nichts heilig ist. Dort sind Staat und Gesellschaft noch identisch, hier sind sie geschieden. Grundrechtliche Freiheit streitet mit Geboten der Ehrfurcht. Libertinismus und Dekadenz stoßen auf vitale 5 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations, 11996. Aus der unabsehbaren Widerlegungs- und Beschwichtigungsliteratur: Friedemann Büttner, Islamischer Fundamentalismus – eine Herausforderung für den Westen?, in: Essener Gespräche 33 (1999), S. 107 ff.

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Religiosität. Wider die Albernheit der Spaß-, Spiel- und Mediengesellschaft erhebt sich heiliger Ernst. Die deutsche Verfassungsordnung ist selber ein Kind der westlichen Kultur, der hier der Kampf angesagt wird. Aus der Sicht des islamischen Kämpfers steht sie nicht über den Parteien. Vielmehr ist sie geradezu Gegenstand des Kampfes, somit ihrerseits Partei. Das heißt jedoch nicht, daß sie sich als befangen ablehnen, sich der eigenen Wertung enthalten und das Urteil einer Instanz jenseits der Geschichte, dem hegelianischen Weltgeist, überlassen müßte. Sie vermag den Fundamentaldissens der Kulturen nicht aufzuheben und nicht zu überwinden. Wohl aber kann sie seine praktischen Folgen mit ihren Kategorien qualifizieren und über sie nach ihren normativen Kriterien entscheiden. Die Verfassung des Rechtsstaats erkennt beiden Seiten, die im Konflikt stehen, die genuin gleiche Freiheit zu, der Aktion wie der Reaktion, der Presse wie der Religion. Der Rechtsstaat sieht es als seine Aufgabe, die rechtlichen Bedingungen zu gewährleisten, daß die Ausübung der Freiheit des einen mit der Ausübung der Freiheit des anderen nicht in Widerspruch gerät. Die Schranken, die er zu diesem Zwecke zieht, müssen verallgemeinerungsfähig sein, einem „allgemeinen Gesetz der Freiheit“ verpflichtet, wie Kant es sieht: jenem Gesetz, nach dem die Willkür des einen mit der Willkür des anderen vereinigt werden kann.6 In diesem kantianischen Sinn bedeutet Recht „die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist“. Dieses Gesetz aber bestimmt jedem das Seine und sichert es „gegen jedes anderen Eingriff“.7 Der Rechtsstaat 6 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), S. XXXIII (in: Werke, Weischedel-Ausgabe, Bd. IV. 1966, S. 303 [337]). 7 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), A 234 (in: Werke, Weischedel-Ausgabe, Bd. VI, 1964, S. 125 [144]).

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fungiert also, in Distanz zu den Konflikten der Gesellschaft, als Koordinator der Freiheit und sanktioniert die allgemeine Grundpflicht des „neminem laedere“. Das ist jedoch noch nicht die verfassungsrechtliche Lösung des Konflikts, sondern lediglich deren vorpositive Zielprojektion. Der Weg durch das positive Verfassungsrecht ist nicht ganz leicht zu finden.8

III. Polygonale Grundrechtskonstellation Zur Aufbereitung für die verfassungsrechtliche Diskussion sei der paradigmatische Fall von Dänemark nach Deutschland versetzt, damit er schulmäßig diskutiert werden kann. Schulmäßigkeit ist angebracht, damit die notwendige Distanz zu der politisch aufgeladenen Materie hergestellt werden kann. Doch die konventionellen Schemata der Grundrechtsdogmatik wollen nicht recht verfangen. Der liberale Dualismus zwischen Staat und Privaten, auf den die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion abstellen, gibt das Argumentationsraster dafür ab, ob und wieweit der Staat in die Freiheitsrechte der Beteiligten eingreifen darf. Hier aber handelt es sich auch und wesentlich darum, ob und wieweit er eingreifen muß, um seiner Schutzpflicht zu genügen. Der Streit entzündet sich nicht an einem Eingriff des Staates, sondern an einem echten oder mutmaßlichen Übergriff von privater Seite. Beide Parteien 8 Erste Analysen nach den Maßstäben der EMRK Metin Akyürek /Benjamin Kneihs, Die Karikatur im Spannungsfeld zwischen Religions- und Meinungsfreiheit – eine provokante Skizze, in: JRP 2006, S. 79 ff.; Gerhard Luf / Brigitte Schinkele, Kommunikationsfreiheit und der Schutz religiöser Gefühle, ebd., S. 88 ff.; Katharina Pabel, Grundrechtsbeschränkungen bei grenzüberschreitenden Konfliktlagen, ebd., S. 92 ff.; Manfred Stelzer, Der Karikaturenstreit: Versuch einer grundrechtlichen Entgrenzung, ebd., S. 98 ff. Analyse des Urteils des EGMR v. 20. 9. 1994 OttoPreminger-Institut gegen Österreich: Christoph Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, in: ZaöRV 55 (1995), S. 128 ff. S. in diesem Band Andreas von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung?, S. 63 (67 ff.).

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könnten für sich Grundrechte ins Feld führen: die eine die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Kunstfreiheit, die andere die Religionsfreiheit. Prima facie liegt eine Kollision zwischen Grundrechten vor. Eher scheint das grundrechtliche Dreieck von Staat – Störer – Opfer zu passen: der Störer in einer abwehrrechtlichen, das Opfer in einer schutzrechtlichen Beziehung zum Staat, beide zueinander in einer privatrechtlichen Beziehung.9 Doch wer ist hier Störer, wer Opfer? Ist Störer der Karikaturist, der das religiöse Ehrgefühl der Muslime beleidigt, oder der Fanatiker, der dem Beleidiger nach dem Leben trachtet? Ist Opfer, wer die Schmähung dessen ertragen muß, was ihm heilig ist, oder ist Opfer, wer um seine Sicherheit bangt? Wie immer auch diese Rollen zu verteilen sind – sie reichen nicht aus, um die grundrechtliche Problematik erschöpfend darzustellen. Denn der Konflikt greift über die Staatsgrenze hinaus, wenn und soweit grundrechtliche Belange auf ausländischem Territorium gefährdet werden, sei es durch private, sei es durch staatliche Gewalt. Die Schutzpflicht des Staates endet nicht an der Grenze.10 Doch kann der Staat sich zu ihrer Erfüllung nicht auf seine Gebietshoheit stützen. Grundsätzlich sind ihm interventionistische Übergriffe auf fremdes Territorium verwehrt. Er ist angewiesen auf Kooperation mit dem auswärtigen Staat. Die grundrechtliche Schutzpflicht wird also durch das Völkerrecht mediatisiert und relativiert.11 9 Vgl. von Arnauld (N 8), S. 66 f. – Allgemein zur Dreier-Konstellation: Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 11992 (22000), § 111 Rn. 1 ff., 86 ff., 168 ff., 182 ff. 10 Zur räumlichen und personalen Reichweite der Grundrechte: Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 11992 (22000), § 115 Rn. 77 (Nachw.). Vgl. auch Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 127 ff. 11 Zum Auslandsschutz der Grundrechte Isensee (N 9), § 111 Rn. 120 ff.; Peter Szekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im europäischen Recht, 2002, S. 96 f., 133, 194 f.

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IV. Gewaltmonopol und Friedenspflicht Eine Problemschicht der komplexen Materie läßt sich ablösen und vorab behandeln: die gewalttätigen Reaktionen auf die als blasphemisch wahrgenommenen Karikaturen. Die Androhung wie die Anwendung körperlicher Gewalt gehören nicht zur grundrechtlichen Freiheit. Sie sind per se illegitim als Verstöße gegen das staatliche Gewaltmonopol.12 Der Mob, der Autos, Häuser oder Menschen anzündet, genießt nicht den Schutz der Versammlungsfreiheit, gleich, ob ihn religiöse Empörung, politischer Protest oder bloßer Vandalismus leitet, gleich, ob er sich aus Muslimen, Christen oder Agnostikern rekrutiert. Wer, vom heiligen Zorn übermannt, andere terrorisiert, kann sich nicht auf das Grundrecht der freien Religionsausübung berufen. Das steht auch dem Muslim nicht zu, der sich aufmacht, die Fatwa des Ayatolla Khomeini vom 14. Februar 1989 endlich zu vollstrecken und den Autor des Romans „Die satanischen Verse“ zu töten; dabei spielt es keine Rolle, ob er aus Glaubenseifer handelt oder in der Absicht, das Kopfgeld von nunmehr 6 Mio. US-Dollar zu verdienen. Desgleichen entfällt jeglicher Grundrechtsschutz für den Aufruf des türkischen „Kalifen von Köln“, Gotteslästerer zu ermorden.13 Der Ausschluß des grundrechtlichen Schutzes enthält keinen Widerspruch zur religiösen Neutralität des Staates und keine unzulässige Differenzierung nach der Religion, etwa eine solche zwischen „richtiger“ und „falscher“ Überzeugung, zwischen moderatem und fanatischem, aufgeklärtem und fundamentalistischem Glauben. Es geht überhaupt nicht um die inhaltliche Qualität der Religion, und es geht auch nicht um das Motiv des Handelns, sondern allein um deren Mittel, die physische Gewalt. Diese aber ist schlechthin verpönt. Das 12 Dazu Josef Isensee, Die Friedenspflicht des Bürgers und das Gewaltmonopol des Staates, in: Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 23 ff.; ders., Staat und Verfassung, in: HStR II, 32004, § 15 Rn. 83 ff. (Nachw.). 13 Dazu Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998, S. 89 ff.

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Recht, Gewalt gegen Personen oder Sachen anzuwenden, lebt auch dann nicht auf, wenn die Schmähung der Religion das äußerste Maß des Widerwärtigen, des Niederträchtigen, des moralisch wie rechtlich Verwerflichen erreicht. Obwohl sie die Bahnen des Geschmacks, der guten Sitten, des Rechts verläßt, verbleibt sie immerhin noch in den Bahnen der Kommunikation. Auf die Bahnen der Kommunikation aber ist auch der Protest wider die Blasphemie verwiesen. Er darf sich als Retorsion zu schärfster Intensität steigern, doch nur, solange er unterhalb der Gewaltschwelle verbleibt. Die Voraussetzungen der Notwehr oder der Nothilfe, die ausnahmsweise private Gewalt gestatten, liegen nicht vor, wenn eine Religion durch Wort und Bild beschimpft wird, desgleichen nicht die Voraussetzungen des rechtfertigenden gesetzlichen oder übergesetzlichen Notstandes. Denn physischer Zwang taugt nicht zur Abwehr ideellen Frevels; sein Einsatz hält der Güterabwägung nicht stand. Im Ergebnis herrscht Konsens, nicht jedoch in der Begründung. Hier gehen die weitere und die engere Theorie des Grundrechtstatbestandes auseinander. Nach der weiteren bewegt sich auch die Gewalttätigkeit im Rahmen des jeweils thematisch einschlägigen grundrechtlichen Schutzbereichs. Sie stößt freilich in der Regel auf ein gesetzliches Verbot, das sich nach den für Grundrechtseingriffe geltenden Regeln rechtfertigen läßt, so daß, wenn sie auch vom Tatbestand des Grundrechts erfaßt wird, der die Potentialität grundrechtlicher Freiheit verkörpert, nicht effektiv ausübbar ist.14 Die weitere Auslegung will den Raum privater Freiheit so weit wie möglich dehnen, um etwaige Schutzlücken zu vermeiden, Freiheit zu optimieren, staatliche Eingriffe stets unter Rechtfertigungszwang zu halten und der Güterabwägung zu unterwerfen. Doch für private Gewalt gibt es nichts zu optimieren. 14 Vertreter der weiten Interpretation des Tatbestandes: Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 278 ff.; Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 175 ff.; Gertrude Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 87 ff.; Wolfram Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 76 ff.; von Arnauld (N 8), S. 70 f.

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Die staatliche Friedensordnung braucht sich nicht aus der Verfassung zu rechtfertigen. Deren Wirksamkeit ist ihrerseits durch die staatliche Friedensordnung bedingt. Der Gesamtzustand der Sicherheit ist a priori gerechtfertigt als die raison d’être des modernen Staates. Die Grundrechte enthalten keinen Rechtstitel dazu, das staatliche Gewaltmonopol gegen eine „natürliche“ Freiheit des Privaten abzuwägen. Denn die „natürliche“ Freiheit zu gewaltsamer Selbsthilfe ist mit dem Übergang vom status naturalis in den status civilis erloschen. Grundrechtliche Freiheit ist nicht „natürliche“, sondern staatlich befriedete, zivile Freiheit. Diese grenzt sich ab von privater Gewalt. Aber sie läßt sich nicht gegen diese abwägen. Die Versammlungsfreiheit, an deren Ausübung ein besonderes Risiko kollektiver Gewaltsamkeit haftet, wird deshalb vom Grundgesetz nur den Deutschen zuerkannt, die sich „friedlich und ohne Waffen“ versammeln. Die grundrechtlichen Schutzbereiche enthalten also kein Gewaltpotential. Drohung und Einsatz von körperlicher Gewalt liegen außerhalb der Tatbestände. Jedoch bedeutet das nicht, daß der Gewalttäter grundrechtlich vogelfrei und jeder beliebigen Sanktion des Staates ausgeliefert wäre. Wenn die Tat als solche nicht grundrechtlich legitimiert wird, so wird doch der Täter gegen staatliche Maßnahmen der Gefahrenabwehr oder der Strafe geschützt, soweit diese in seine körperliche Unversehrtheit, sein Eigentum, in das Habeas-corpus-Grundrecht oder in Persönlichkeitsrechte eingreifen.15 Soweit Gewalt im Spiel ist, herrscht Klarheit über die grundrechtliche Rollenverteilung. Wer mit physischem Zwang droht oder agiert, ist Störer, der Adressat Opfer. Der Staat 15 Für die engere Interpretation des Grundrechtstatbestandes: Josef Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und Grenze der Grundrechte, in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 39 ff.; ders. (N 9), § 111 Rn. 171 ff. Diese Restriktion bedeutet aber nicht, daß auch die rein verbale Religionsbeschimpfung von vornherein außerhalb des Schutzbereichs der Freiheitsrechte läge. Zutreffend zu § 166 StGB im Verhältnis zur Kunstfreiheit: Rupert Scholz, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz, Stand 1982, Art. 5 Abs. 3 Rn. 69.

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wird nicht durch die Abwehrrechte des Störers gehindert, ihm in den Arm zu fallen. Doch ist er verpflichtet, das Opfer privater Gewalt zu schützen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Opfer, gewollt oder ungewollt, den Zorn des Täters hervorgerufen und die Gewalt letztlich verursacht hat oder ob das Opfer mit der Provokation überhaupt nichts zu tun hat, sondern lediglich mit einer Kollektivverantwortung als Deutscher, als Europäer, als Christ überzogen oder rein zufällig, als Passant etwa, zum Kollateralgeschädigten wird. Die volle Schutzpflicht aktualisiert sich bei inländischen Gefahren. In ihrer eingeschränkten und vermittelten Form erfaßt sie jedoch auch Gefahren im Ausland.16 Der Skandal, den die Intendantin der Deutschen Oper Berlin im Oktober 2006 mit der Absetzung einer Aufführung des „Idomeneo“ auslöste, weil sie Terrorakte von Islamisten fürchtete, die sich durch eine an sich opernfremde Passage der Inszenierung hätten beleidigt fühlen können, ist ein heilsames Lehrstück darüber, daß grundrechtliche Freiheit nur in einem Gesamtzustand der Sicherheit gedeiht und daß ohne die Freiheit von Furcht die Unbefangenheit des bürgerlichen Daseins und des kulturellen Lebens nicht möglich ist. Das Menetekel des Islamismus zeigte sich in der Fatwa des Ayatolla Khomeini wider den Roman „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie wie in dem Protest des türkischen Religionsministers gegen ein unliebsames historisches Zitat in der Regensburger Rede Papst Benedikt XVI.: daß künftig muslimische Autoritäten Zensur ausüben über Kunst, Wissenschaft, Religion des Westens, und daß im Fall der Widersetzlichkeit der muslimische Mob entfesselt wird. Der Rechtsstaat, der gegenüber religiös motivierter Gewalt Toleranz übt, praktiziert Beihilfe zur Intoleranz und verleugnet sich selbst. In der Attitüde der Generosität, in der sich der Westen oftmals gefällt, verbirgt sich Feigheit.

16 Isensee (N9), § 111 Rn. 120 ff., 123; Matthias Ruffert, Vorrang der Grundrechte und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 237 ff.

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V. Perspektive des Opfers: Grundrechtlicher Schutz vor Blasphemie? 1. Voraussetzungen der grundrechtlichen Schutzpflicht Wenn das Element der physischen Gewaltsamkeit aus dem Sachverhalt herausgefiltert ist, stellt sich das Thema der grundrechtlichen Schutzpflicht erneut, nunmehr aber in anderer Richtung, dahin nämlich, ob der Staat verpflichtet ist, zum Schutz der Religionsfreiheit oder sonstiger Grundrechte derer, die sich durch blasphemische Akte verletzt fühlen, diese Akte zu verhindern oder zu unterbinden. In diesem Zusammenhang geht es nicht darum, was der Staat zu diesem Behufe alles im Rahmen der Verfassung tun darf, sondern lediglich darum, was er um der Grundrechte willen tun muß. In Frage steht der Schutz grundrechtlicher Belange, nicht aber sonstiger Belange, etwa des öffentlichen Friedens. Adressaten des Schutzes sind Personen, denen Grundrechte zustehen, konkret also Einzelne, die sich zu einer Religion bekennen, wie auch Religionsgemeinschaften, die als solche grundrechtsfähig sind. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind zuvörderst objektivrechtliche Staatsaufgaben. Mittelbar ergeben sich aus ihnen aber auch subjektive öffentliche Rechte des betroffenen Grundrechtsträgers, die ihm zumindest einen formellen Anspruch gegen den Staat geben darauf, daß er die grundrechtlichen Belange bei der Ausübung des Ermessens, ob und wie er eingreift, angemessen berücksichtigt.17 Der Tatbestand, der die Schutzpflicht des Staates auslöst, besteht darin, daß ein Privater grundrechtliche Belange eines anderen beeinträchtigt oder gefährdet. Anders gewendet: Voraussetzung ist der private Übergriff auf ein grundrechtliches Schutzgut.18 17 Näher Isensee (N 9), § 111 Rn. 137 ff., 183 ff. Wolfram Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 324 ff., 357 ff. 18 Näher Isensee (N 9), § 111 Rn. 93 ff. Cremer (N 17), S. 265 ff.; Ruffert (N 16), S. 166 ff. Zur Anwendung der Schutzpflicht durch den EGMR: Grabenwarter (N 8), S. 143 ff.

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2. Grundrechtliche Schutzgüter a) Name und Ehre Gottes Von vornherein scheidet die Intention aus, Gott vor Beleidigung zu schützen. Gott ist kein Grundrechtsträger und seine Ehre kein Rechtsgut. Religiöse Ziele und Aufgaben liegen jenseits des innerweltlichen Horizonts des Verfassungsstaates.19 Für einen vormodernen Staat jedoch, der sich mit einer bestimmten Religion identifiziert und der seine Einheit auf ihr gründet, bedeutet die Gotteslästerung einen Angriff auf seine eigenen Grundlagen, die er mit allen Mitteln abzuwehren hat, um sich selbst zu behaupten, aber auch um die Gottheit nicht zu erzürnen. Das gilt nicht nur für den Staat des Islam, sondern auch für den der jüdischen, bedingt auch für den der christlichen Tradition. Das zweite Gebot des Dekalogs, den Namen Gottes nicht zu verunehren, wurde vom ganzen Volk aufgenommen und sanktioniert. Moses vernahm als göttliche Botschaft: „Wer seinen Gott lästert, lädt Schuld auf sich. Wer aber des Herrn Namen schmäht, leide den Tod! Die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Eingeborener, wer den Namen lästert, muß sterben.“20 Jesus zog sich den bedrohlichen Vorwurf der Gotteslästerung zu, weil er von sich gesagt hatte, daß er Sünden vergeben könne (Mt. 9,3) und daß er zur Rechten der Macht Gottes sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen werde (Mt 26,63 – 64, Mk. 14,62 – 64). Wer Gottes Namen schändet, gehört nach Luther in „des Henkers Schule“.21 Doch vom Christentum geht auch der Impuls aus, den Gottesfrevel nicht weiter mit Gewalt und staatlicher Strafe zu ahnden, weil er nicht unter die Gerichtsbarkeit der Menschen falle, sondern unter das Gericht Gottes, und daß das Urteil erst am Ende der Zeiten ergehen werde, nicht aber hier auf Erden, wo Weizen und Unkraut durcheinander Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR IV, 32006, § 73 Rn. 60 ff. Levitikus 24, 15 – 16. 21 Martin Luther, Der große Katechismus (1529), in: Luthers Werke, hg. von Otto Clemen, 4. Bd. 1967, S. 1 (11). 19 20

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wachsen. Mithin, so die Urkirche, sei der Gotteslästerer ebenso zu ertragen wie andere Sünder auch.22 Im konstantinischen Zeitalter gerät diese Lehre weithin in Vergessenheit. Sie erwacht wieder – unter wenig kirchenfreundlichen Vorzeichen – in der Aufklärung, mit praktischen Konsequenzen für die staatliche Rechtsordnung. b) Religiöse Gefühle und religiöses Selbstverständnis Die Karikaturen ihres Propheten beleidigen die Gefühle von Muslimen. Der Schutz religiöser Gefühle gehörte zu den Aufgaben hergebrachten deutschen Polizeirechts. So hielt das Thüringer Oberverwaltungsgericht noch nach dem Zweiten Weltkrieg (in dem kurzen Intermezzo seiner Existenz unter sowjetischer Besatzung) die Fronleichnamsprozession für eine Störung der öffentlichen Ordnung, weil sie, wegen ihres überkommenen Charakters als Demonstration wider die Ketzerei, die Gefühle einer überwiegend evangelischen Bevölkerung ebenso verletze wie ein protestantischer Umzug mit Lutherliedern und Posaunenchören in einem katholischen Wallfahrtsort die Gefühle der dortigen Bevölkerung.23 Doch nunmehr verträgt sich eine solche Argumentation nicht mit dem Grundrecht der freien Religionsausübung. So sind denn religiöse Gefühle auch kein mögliches Objekt einer staatlichen Schutzpflicht.24 Der Islam kann seiner besonderen Empfindlichkeit wegen keinen Schutz verlangen, den in objektiv ähnlichen Fällen nicht auch das Christentum beanspruchen könnte. Das Schutzgut muß objektiv und allgemein sein. Subjektiv ist 22 Angenendt (N 2), S. 11 ff. Vgl. auch Gerhard Schmied, „Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren“, in: ders. / Wolfgang Wunden, Gotteslästerung? Vom Umgang mit Blasphemien heute, in: Mainzer Perspektiven – Orientierungen 3, 1996, S. 9 (20 ff.). 23 ThürOVG, Jahrb 1946 / 47, S. 243 (247 f.). 24 Zutreffend von Arnauld (N 8), S. 74 ff.; ähnlich Pawlik (N 4), S. 45 ff. Zurückhaltend Scholz (N 15), Art. 5 Abs. 3 GG Rn. 69. Zum Schutz religiöser Gefühle nach der EMRK Grabenwarter (N 8), S. 143 ff.; Pabel (N 8), S. 95 f.; Akyürek / Kneihs (N8), S. 81 f.

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lediglich die jeweilige Betroffenheit. Gefühle konstituieren kein allgemeines Gesetz. Sie lassen sich nicht normativ fassen. Die zufälligen Gemütswallungen des einen ergeben keine Schranke für die Freiheit des anderen. Niemand kann kraft seines Selbstverständnisses von grundrechtlicher Freiheit seinen eigenen Handlungsraum erweitern oder den des anderen schmälern. Generell verbietet das Prinzip der Rechtsgleichheit, die Konflikte nach dem Maß der Empfindlichkeit oder Robustheit einer der streitenden Parteien aufzulösen. Aus diesem Grunde entscheidet auch nicht das religiöse Selbstverständnis des Einzelnen oder einer Glaubensgemeinschaft. Das Selbstverständnis hat legitimen Einfluß auf die jeweilige Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit, nicht aber auf seine thematische Reichweite und sein Schutzniveau.25 Der Rechtsstaat vermag nicht die Subjektivität als solche zu schützen, wohl aber deren rechtliches Gehäuse, eben die Grundrechte. Diese aber haben objektiven und allgemeinen Rechtscharakter. c) Religionsfreiheit oder Religion In Betracht kommt das Grundrecht der Religionsfreiheit, sowohl in seiner individuellen als auch in seiner kollektiven Dimension. Dem Staat, so das Bundesverfassungsgericht, obliegt die Pflicht, den Einzelnen wie den religiösen Gemeinschaften „einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann“ und sie „vor Angriffen oder Behinderungen anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen“.26 Hinzuzufügen ist: auch vor Angriffen oder 25 Näher Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 27 ff. Gegenauffassung Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 309 ff. Zu Recht lehnt Scholz ab, daß das Verständnis und das religiöse Gefühl der Anhänger einer Kirche oder Religionsgemeinschaft über die effektive Reichweite der Kunstfreiheit entscheiden (N 15, Art. 5 Abs. 3 Rn. 69). 26 BVerfGE 93, 1 (16).

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Behinderungen religionsindifferenter und religionsfeindlicher Kräfte. Doch die Schmähung der Religion hindert keinen ihrer Anhänger daran, sie nach seiner Fasson auszuüben, wie sie auch keine Religionsgemeinschaft in ihrem Wirken stört. Das Maß religiöser Selbstbestimmung wird nicht gemindert. Es steht den Muslimen frei, ob sie von den Karikaturen Kenntnis nehmen oder sie ignorieren, ob sie mit Gleichmut reagieren oder mit Zorn. Die Bilder tasten die Religionsfreiheit nicht an,27 wohl aber, nach Meinung vieler Muslime, ihre Religion. Die Religion aber steht nicht unter staatlichem Schutz. Sie muß sich im offenen Diskurs und Wettbewerb auf der Basis allgemeiner grundrechtlicher Freiheit selbst behaupten. Affirmation oder Kritik, Identifikation oder Absage, Faszination oder Gleichgültigkeit, alle diese Faktoren, von der ihr gesellschaftliches Ansehen abhängt, sind Sache individueller Entscheidungen, die der Staat nicht beeinflussen darf. In grundrechtlicher Sicht steht die Religion nicht anders da als wissenschaftliche Erkenntnis, politische Meinung und künstlerische Richtung. Die Grundrechte sichern den freien Fluß der Entwicklung. Der Staat gewährleistet nur die rechtlichen Rahmenbedingungen, vor allem das Gebot des neminem laedere. Die laesio aber setzt ein Rechtsgut voraus, einen vorhandenen Besitzstand wie das Eigentum, ein bestimmtes Persönlichkeitsrecht, das sich aus der Menschenwürde ableitet, oder einen gesicherten, rechtlich definierten Raum der Selbstbestimmung. Ein solcher Raum ist die Religionsfreiheit, nicht aber die Religion als solche. Der Umstand, daß eine blasphemische Äußerung in der Welt ist, reicht also nicht aus, um einen Eingriff in die Religionsfreiheit zu begründen. Es bleibt jedoch die Frage, ob ein Eingriff dann anzunehmen ist, wenn der Einzelne mit dieser 27 Eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK durch einen blasphemischen Film nimmt der EGMR an – dazu Grabenwarter (N 8), S. 143 ff. Ähnlich wohl auch Luf / Schinkele im Karikaturenstreit, wenn sie einen schonenden Ausgleich der beiderseitigen Rechte fordern (N 8), S. 91 f.

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Äußerung konfrontiert und er aufgrund der staatsbürgerlichen Friedenspflicht gezwungen wird, die Äußerung auszuhalten. Das Bundesverfassungsgericht sieht einen staatlichen Eingriff dann für gegeben, wenn Schüler aufgrund der allgemeinen Schulpflicht ohne Ausweichmöglichkeit mit dem christlichen Symbol des Kruzifixes an der Schulwand konfrontiert und gezwungen werden, „unter dem Kreuz zu lernen“.28 Doch ist die Prämisse eines pauschalen Abwehrrechts gegen religiöse Symbole in staatlichen Räumen schon in sich nicht haltbar.29 Allerdings überträgt das Gericht seine Vorstellung vom staatlichen Eingriff nicht auf das Verhalten der Privaten zueinander. Das Konfrontationsverbot solle nicht gelten für die „im Alltagssleben häufig auftretende Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen“, die nicht vom Staat ausgingen, die in der Regel nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit besäßen, jedenfalls nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang beruhten.30 Im Gegenteil: das Gericht stellt ausdrücklich fest, daß in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, niemand ein Recht darauf hat, von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben.31 Zu ergänzen ist, daß nichts anderes für Bekundungen des Unglaubens, der Glaubenskritik und der Glaubensschmähung gilt, soweit diese nicht gegen ein für alle geltendes, verfassungsgemäßes Gesetz verstoßen. Konfrontation ist unvermeidliche Folge der grundrechtlichen Freiheit, aber kein Eingriff in diese Freiheit. Sie reicht also nicht aus, um einen Grundrechtseingriff anzunehmen. 28 BVerfGE 93, 1 (18). Erheblich vorsichtiger BVerfGE 35, 366 (375 f.) – Kreuz im Gerichtssaal in Bezug auf einen jüdischen Rechtsanwalt. 29 Näher Josef Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, in: ZRP 1996, S. 10 (13 f.); Matthias Jestaedt, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, in: Journal für Rechtspolitik, 1995, S. 237 (249 ff.); ders., Grundrechtsschutz vor staatlich aufgedrängter Ansicht, in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 259 ff. (bes. S. 274 ff.). 30 BVerfGE 93, 1 (18). 31 BVerfGE 93, 1 (16).

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Im Karikaturenstreit fehlt es schon an der Konfrontation. Wer bei der Zeitungslektüre auf blasphemische Bilder stößt, kann die Lektüre einstellen und braucht nicht seinerseits für die Verbreitung der Bilder zu sorgen; er hat es nicht nötig, in zeitaufwendiger öffentlicher Arbeit die allgemeine Empörung zu organisieren. Das gilt auch für die Fernsehtrickserie „Popetown“, die in gequältem Humor einen computersimulierten Vatikanstaat zeigt, in dem von einem geheimen Swimmingpool aus Kardinäle finstere Pläne schmieden, indes der Papst als 77jähriges Kleinkind japanische Touristen nervt. Der Katholik, der in der Fernsehsendung des MTV auf diesen Unfug stößt, kann abschalten. d) Religiöser Aspekt der persönlichen Ehre Wenn die Religionsfreiheit als Schutzgut ausscheidet, bleibt die Möglichkeit, daß die Religionsbeschimpfung den grundrechtlich gesicherten Achtungsanspruch der Person dessen, der Ärgernis nimmt, also ein Persönlichkeitsrecht verletzt. Für die Annahme eines solchen Persönlichkeitsrechts sprechen gute Gründe. Es handelt sich um den religiösen Aspekt des Grundrechts auf Ehre,32 Ehre des Menschen als homo religiosus, die ihrerseits an seiner Menschenwürde teilhat. Die Schmähung der Religion kann eine Schmähung der Personen enthalten, die sich zu ihr bekennen, indem der Täter ihnen „die Anerkennung als ernstzunehmende, ebenbürtige Mitbürger“ bestreitet, als „Personen, deren gemeinsame Lebensgrundlage, obwohl sie kritikwürdig sein mag, dennoch verdient, mit einem Mindestmaß an Fairneß behandelt zu werden“.33 Die Religion, die sich auf letzte Wahrheit bezieht, kann tiefere Identifikation auslösen als Philosophie oder Wissenschaft. Der Philosoph, der sein ganzes Gelehrtendasein dem Werk Immanuel Kants widmet, wird nicht in seiner Ehre 32 Josef Isensee, Das Grundrecht auf Ehre, in: Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 5 (8 ff.). 33 Pawlik (N 4), S. 48 f.

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gekränkt, wenn sich über den Gegenstand seiner Arbeit Spott und Hohn ergießen. Verächtliche Äußerungen über das Bürgerliche Gesetzbuch beeinträchtigen nicht die Ehre des Zivilisten, auch wenn er sich in Forschung und Lehre mit ganzer Leidenschaft dem Bürgerlichen Recht hingibt. Religion aber rechtfertigt spezifischen Ehrenschutz. Das heißt jedoch nicht, daß jedwede Äußerung, die aus der Sicht einer Glaubensgemeinschaft als Blasphemie empfunden wird, sich als Beleidigung ihrer einzelnen Mitglieder qualifizieren läßt. Vielmehr muß sie sich aus der Sicht eines nichtbetroffenen Dritten als Schmähung der Personen erweisen.34 Es kann nicht ein jeder in jedweder Hinsicht die Sache seines Glaubens zur Sache seiner persönlichen Ehre machen. Ebenso vermag der Einzelne nicht aus eigener Machtvollkommenheit die Reichweite seiner Ehre mit Wirkung gegen andere zu bestimmen. Ehre ist kein „selbst definierter sozialer Geltungsanspruch“,35 sondern ein von der Verfassung objektivrechtlich vorgegebenes und definiertes Rechtsgut. Im Schutz der religiösen Dimension der persönlichen Ehre erneuert sich kein ständischer Ehrenkodex.36 Abfällige Äußerungen über „die“ Muslime oder „die“ Katholiken im allgemeinen und Kollektivvorwürfe treffen nicht notwendig die persönliche Ehre des einzelnen Muslim oder des einzelnen Christen. Die religiöse Ehre muß sich in rechtlich faßbarer, für Außenstehende erkennbarer Form als Persönlichkeitsrecht objektiviert und als solches die Anerkennung der Rechtsgemeinschaft gefunden haben. Im Einzelfall bedarf es des Nachweises, daß die Beschimpfung der Religion durchschlägt auf die persönliche Ehre. Je34 Zum Tatbestand der Schmähkritik BVerfG, B. v. 25. 2. 1993, in: EuGRZ 1993, S. 146 (147) – Böll / Henscheid; BVerfGE 66, 116 (151); Ralf Stark, Ehrenschutz in Deutschland, 1996, S. 67 ff. (Nachw.); Winfried Brugger, Verbot oder Schutz von Haßrede? in: AöR 128 (2003), S. 372 ff. 35 So irreführend BVerfGE 54, 148 (155); 54, 208 (217). 36 Zu dessen Erlöschen im egalitären Grundrechtsstaat Isensee, Festschrift Kriele (N 32), S. 8 ff., 20 ff.

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denfalls tasten die Zeitungskarikaturen des Propheten Mohammed nicht den Persönlichkeitsstatus des einzelnen Muslim im In- oder Ausland an,37 ebensowenig der Comic-Schwachsinn von „Popetown“ den des einzelnen Katholiken. Wenn dagegen – wie aus dem Irak berichtet wird – US-Soldaten vor den Augen gläubiger Muslime ein Exemplar des Koran in die Toilette warfen, bedeutete diese Schmähung der Religion auch eine Schmähung der Personen, die das ekelhafte Geschehen mit ansehen mußten. Nicht minder widerwärtig agierten deutsche Feministinnen, die einen Besuch des Papstes in Köln zum Anlaß nahmen, gegen seine „frauenfeindliche“ Lehre zu protestieren und aus der oberen Etage eines Hauses Hostien auf die Straße warfen, auf der die Menge den Papst begrüßte. In der Verhöhnung der Eucharistie wurden die Menschen mitverhöhnt, vor deren Augen die schändliche Demonstration erfolgte. Verletzt wurde auch der Achtungsanspruch der Kirche, die ihrerseits grundrechtsfähig ist.38 3. Gefahrenabwehr, nicht Strafe Die grundrechtliche Schutzpflicht setzt keine strafbare Handlung voraus. Es kommt also nicht darauf an, daß der Täter gegen die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung nach § 166 StGB oder der Beleidigung nach § 185 StGB verstößt. Überhaupt spielen auf seiten des Störers subjektive Momente wie Vorsatz und Verschulden keine Rolle. Es kommt allein an auf die objektive Gefährdung oder Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes. Insofern entsprechen der grundrechtlichen Schutzpflicht eher die polizeirechtlichen Kriterien der Gefahrenabwehr als die strafrechtlichen der Ahndung von individuell vorwerfbaren Rechtsverstößen. Da es also auf die Wirkung ankommt, nicht aber auf die Absicht, So auch Pabel (N 8), S. 96. Zur Strafbarkeit der Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft als solcher OLG Nürnberg, B. v. 23. 6. 1998, in: NStZ–RR 1999, S. 238 ff. – Schwein, an das Kreuz genagelt. 37 38

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kann die Schutzpflicht im Dissens der Kulturen zum Zuge kommen, wenn der Lästerer sich gar nicht bewußt ist, daß er Persönlichkeitsrechte verletzt, weil ihm die Welt der Religion völlig fremd ist und er sich nicht vorstellt, daß Glauben die Identität einer Person begründen kann. Diese Fundamentalignoranz findet sich nicht nur im Verhältnis von Okzident und Orient, sondern auch innerhalb des Okzidents zwischen den paganisierten und den gläubigen Gruppen der Gesellschaft. Das für den Grundrechtsschutz erhebliche Merkmal des privaten Eingriffs ist also weit zu verstehen. Doch der Eingriff als solcher löst noch nicht die Schutzpflicht des Staates aus. Das bewirkt allein der rechtswidrige Eingriff. Hier stellt sich die Frage, ob der Private, von dem der Eingriff ausgeht, sich nicht seinerseits auf ein Grundrecht berufen kann.39 Damit wechselt die grundrechtliche Perspektive vom Standpunkt des Opfers zu dem des Täters, von der Schutzpflicht zum Abwehrrecht.

VI. Perspektive des Täters: grundrechtliche Freiheit zur Religionsbeschimpfung? 1. Schutzbereiche der Abwehrrechte Im Karikaturenfall streiten für den Täter prima facie mehrere Grundrechte der Beteiligten von ihrem jeweiligen Schutzbereich her: die Meinungsfreiheit in der Tendenz, die Kunstfreiheit in der Gestaltung, die Pressefreiheit im Medium, die Freiheit der Berufsausübung in der erwerbsbezogenen Professionalität. Durchgängig aktualisiert sich die Meinungsfreiheit, die sich auf die Schmähung dem Inhalt nach bezieht. Dieses Grundrecht deckt auch kritische, provozierende, alberne, dümmliche, bösartige Meinungsäußerungen.40 Es verbindet 39 Zu den Bausteinen der grundrechtlichen Schutzpflicht Isensee (N 9), § 111 Rn. 86 ff., 168 ff.; Cremer (N 17), S. 264 ff.

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sich häufig mit der Freiheit des Mediums, das für die Verbreitung sorgt.41 Wenn es jedoch wie hier um die Frage geht, ob eine bestimmte Äußerung erlaubt ist oder ob ein Dritter die ihn kränkende Äußerung hinzunehmen hat oder nicht, ist ungeachtet des Mediums der Tatbestand der Meinungsfreiheit einschlägig.42 Soweit sich die Religionsbeschimpfung allerdings in künstlerischer Form vollzieht, greift das Grundrecht der Kunstfreiheit ein und absorbiert das der Meinungsfreiheit.43 Hier finden die blasphemische Karikatur und Satire ihren grundrechtlichen Unterschlupf, und das besonders leicht, weil es keine Einlaßkontrolle nach dem Niveau gibt. Die obszöne und fäkalistische Besudelung von Christentum und Kirche hält sich gern in den hintersten und finstersten Winkeln des erweiterten Kunstbegriffs auf, aus denen die letzten Residuen von Geschmack und Moral entwichen sind.44 Der Überbietungswettbewerb in Tabubrüchen kennzeichnet gerade das moderne Regietheater, für das die skandalisierte Berliner „Idomeneo“-Aufführung mit ihrem albernen Appendix, der Enthauptung von Religionsstiftern, noch ein harmloses Exempel abgibt. Das krampfhafte Bemühen, die abgeschlaffte Aufmerksamkeit einer reizüberfluteten, reizabgestumpften Gesellschaft zu erlangen, beschränkt sich nicht auf die Kunstszene, sondern erfaßt auch die Wirtschaftswer40 Eingehend von Arnauld (N 8), S. 68 ff. Zu Art. 10 EMRK Pabel (N 8), S. 93. 41 Zu einschlägigen Konflikten der Mediengesellschaft Wolfgang Wunden, Blasphemie: Ärgernisse oder Herausforderung der Christen, in: Schmied / Wunden (N 22), S. 83 (95 ff.). 42 Zum Verhältnis der Meinungs- zur Medienfreiheit BVerfGE 20, 162 (175 f.); 85, 1 (11, 12 f.); 86, 122 (128); 95, 28 (34); 97, 391 (400); 113, 63 (75). 43 BVerfGE 30, 173 (200); 75, 369 (377); Scholz (N 15), Art. 5 Abs. 3 Rn. 13, 50. 44 Exempel das Rock-Musical „Maria Syndrom“ – dazu OVG Koblenz, Urt. v. 2. 12. 1996, in: NJW 1997, S. 1174 ff. – Phänomene der Blasphemie in Literatur, Medium, Kabarett etc.: Schmied (N 22), S. 42 ff.; Wunden (N 41), S. 83 (93). Zur Relevanz des Art. 5 Abs. 3 Scholz (N 15), Rn. 69.

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bung, greift also über auf den grundrechtlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit, so der Slogan für „Jesus-Jeans“: „Du sollst keine anderen Jeans neben mir haben“. Ein Beispiel für die Konvergenz von Kunst- und Berufsfreiheit ist der Werbespot für die Popetown-Serie: der vom Kreuze herabgestiegene, dornengekrönte, von der Lanzenwunde gezeichnete Jesus, lachend vor einem Fernsehapparat: „Lachen statt rumhängen“, im Hintergrund das leere Kreuz von Golgotha.45 So paradox es klingen mag: die Gotteslästerung findet einen grundrechtlichen Ort in der Religionsfreiheit, und zwar dann, wenn sie sich über das moderne Trivialniveau von Kino, Kabarett und Regietheater zur Höhe Nietzsches erhebt: als Abkehr von Gott und Kampf mit dem Engel, als Ausbruch prophetischen Zorns, als Anklage gegen Religion und Kirche, aus Enttäuschung über den Widerspruch zwischen christlichem Anspruch und kirchlicher Realität, als Rebellion wider die Mächte der gesellschaftlichen Tradition und der persönlichen Biographie, als Haß auf das eigene Über-Ich, das sich im Gewissen meldet. Wer Gott für tot erklärt, kann von ihm abhängig bleiben und, wer ihn schmäht, nach ihm suchen. „Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte / auch bis zur Stunde bin geblieben: / sein bin ich – und ich fühl die Schlingen, die mich im Kampf darniederziehn / und, mag ich fliehn, / mich doch zu seinem Dienste zwingen.“46 Grundrechtlich gesehen, ist die Negation der Religion ihrerseits Religion,47 freilich unter dem Vorbehalt, daß sich in ihr existentieller Ernst und Drang nach letzter Wahrheit regen, wie sie sich in Nietzsches Fluch 45 So auch von Arnauld (N 8), S. 68. Beispiele Schmied (N 22), S. 52 ff. Zum Grundrechtsschutz exzessiv geschmackloser Werbung BVerfGE 102, 347 (358 ff.) – Benetton. Kritisch Matthias Jestaedt, „Die Werbung ist ein lächelndes Aas“, in: Jura 2002, S. 552 ff. 46 Friedrich Nietzsche, Dem unbekannten Gott. Zu den christlichen Antrieben in Nietzsches Kampf gegen das Christentum: Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum, 1952, S. 41 ff. – Zur religiösen Relevanz der Blasphemie Wunden (N 41), S. 86 ff. 47 Als Alternative bietet sich die Qualifikation als weltanschauliches Bekenntnis im Sinne von Art. 4 Abs. 1 GG an.

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auf das Christentum entladen. Nietzsche selbst setzt sich in seinem Antichristentum ab von der „Freigeisterei unserer Herren Naturforscher und Physiologen“, die in seinen Augen nur Spaß ist, weil die Leidenschaft in diesen Dingen fehle, das Leiden an ihnen.48 Die landesübliche, seichte „Freigeisterei“ dieser Art kann nicht das Grundrecht der Religionsfreiheit für sich reklamieren, sondern lediglich das der Meinungsfreiheit. Soweit sie sich allerdings zum weltanschaulichen Bekenntnis aufrafft, genießt sie gleiche grundrechtliche Freiheit wie das religiöse Bekenntnis (Art. 4 Abs. 1 GG). Die Phänomene der Religionsbeschimpfung lassen sich also nicht über einen grundrechtlichen Leisten schlagen. Verschiedene Grundrechte können relevant werden, übrigens auch die Freiheit von Forschung und Lehre. Die islamische Reaktion auf den Regensburger Vortrag des Papstes bildet auch insoweit ein Signal. 2. Schranken der grundrechtlichen Freiheit Den unterschiedlichen Schutzbereichen korrespondiert ein unterschiedliches Schrankenregime. Diese Unterschiede können jedoch in diesem Rahmen vernachlässigt werden, schon deshalb, weil sich die verfassungsimmanenten Schranken durch großzügige Interpretation des Verfassungstextes den konstitutiven gesetzlichen Schranken weitgehend angeglichen haben. Stets bedarf die Grundrechtsbeschränkung der formellgesetzlichen Grundlage. Doch keine der geltenden Vorschriften steht der Publikation der Mohammed-Karikaturen im Wege, insbesondere nicht die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung (§ 166 StGB). Die Karikaturen erfüllen nicht den objektiven Tatbestand. Es fehlt schon am Merkmal der Beschimpfung, in der sich Mißachtung besonders intensiv manifestiert 48 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist (1888), in: ders., Werke, hg. von Karl Schlechta, 2. Bd., 1955, S. 1161 (1169).

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durch die Roheit des Ausdrucks oder durch die Verächtlichkeit des vorgeworfenen Verhaltens.49 Der Grad an Bösartigkeit, den die Religionsbeschimpfung voraussetzt, wird deutlich in der auf das Christentum bezogene Kasuistik,50 etwa Darstellung eines gekreuzigten Schweins auf dem T-Shirt;51 Deutung des Leidens Christi als perverses Sexualverhalten52 und als „Identifikationsangebot für psychische Outsider“;53 Kreuzesdarstellung mit der Beschriftung „Masochismus ist heilbar“;54 Schmähung des Meßopfers als „uralter kannibalischer Ritus“ und des Christentums als Liebesreligion mit Killermentalität;55 Bezeichnung der Kirche als „größte Verbrecherorganisation der Welt“;56 Autoaufkleber: „Maria, hättest du abgetrieben, der Papst wäre uns erspart geblieben.“57 Im übrigen eignen sich die Karikaturen nicht dazu, den öffentlichen Frieden zu stören, also den Zustand der Rechtssicherheit und des allgemeinen Rechtsvertrauens der Bürger.58 49 Vgl. Herbert Tröndle / Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 532006, § 90a Rn. 4, § 166 Rn. 12; Theodor Lenckner, in: Adolf Schönke / Horst Schröder, Strafgesetzbuch, 272006, § 166 Rn. 9; Karlhans Dippel, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 112005, § 166 Rn. 24 ff.; Tatjana Hörnle, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 2 / 2, 2005, § 166 Rn. 16 ff.; Karl Lackner / Kristian Kühl, Strafgesetzbuch, 252004, § 90a Rn. 6, § 166 Rn. 4; OLG Köln, Urt. v. 11. 11. 1981, in: NJW 1982, S. 657 (658); OLG Karlsruhe, in: NStZ 1986, S. 363 (364 f.). 50 Zusammenstellung bei Tröndle / Fischer (N 49), § 166 Rn. 12; Lenckner (N 49), § 166 Rn. 9 f. 51 OLG Nürnberg, B. v. 23. 6. 1998, in: NStZ-RR 1999, S. 238 ff. 52 LG Göttingen, Urt. v. 27. 12. 1984, in: NJW 1985, S. 1652 (1653). 53 OLG Düsseldorf, Urt. v. 7. 12. 1982, in: NJW 1983, S. 1211. 54 LG Göttingen, Urt. v. 27. 12. 1984, in: NJW 1985, S. 1652 f. Ähnliches Niveau: ein Kruzifixus in der Form des Klorollenhalters als Illustration zu dem Text „Spielt Jesus noch eine Rolle?“ im Satiremagazin Titanic (Beispiel neben anderen bei Andreas Püttmann, Durch die Lauheit des Glaubens abgestumpft, in: Die Tagespost v. 11. 2. 2006, Nr. 18, S. 11). 55 OLG Düsseldorf, Urt. v. 7. 12. 1982, in: NJW 1983, S. 1211. 56 LG Göttingen, Urt. v. 27. 12. 1984, in: NJW 1985, S. 1652 (1653). 57 LG Düsseldorf, Urt. v. 5. 11. 1981, in: NStZ 1982, S. 290 (291). Vgl. auch OVG Koblenz, Urt. v. 2. 12. 1996, in: NJW 1997, S. 1174 f. – Das „Maria-Syndrom“. – Weitere Beispiele: Schmied (N 22), S. 41 ff.; Püttmann (N 54), S. 11.

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Unabhängig vom Ausgangsbeispiel des Karikaturenstreits erhebt sich die Frage nach den inhaltlichen Grenzen, die das Recht der grundrechtlichen Freiheit zum Schutz religiöser Belange zieht. Eine klare Grenze bilden die Grundrechte der anderen, welche die Schutzpflicht des Staates auslösen. Der Gesetzgeber darf diese Pflicht über das von Verfassungs wegen gebotene Minimum auf das Vorfeld ausweiten, in dem noch nicht die Gefahr der Rechtsverletzung, wohl aber das Risiko einer solchen besteht, falls die Risikovorsorge keinen unverhältnismäßigen Freiheitseingriff nach sich zieht.59 Doch auch hier geht es letztlich nur um die Sanktion des Neminemlaedere-Gebots. Die spezifischen Probleme aber, welche die Blasphemie aufwirft, werden damit nicht gelöst, das soziale Konfliktpotential nicht entschärft. Die Freiheitsrechte unterliegen nicht einer unbegrenzten Abwägung mit beliebigen anderen Gütern. Vielmehr müssen diese, wenn nicht ihrerseits verfassungsgesetzlich sanktioniert, sich in bezug auf das Grundrecht als legitim erweisen. Zum Kern des Problems stoßen Normen vor, die über den allseits anerkannten Sicherheitszweck hinaus der Blasphemie Grenzen ziehen. Tradierte religiöse Tabus reichen freilich nicht aus. Sie halten der Kritik aus den Freiheitsrechten nicht stand.60 Das herkömmliche Polizeirecht könnte den Weg weisen, indem es sich nicht darin genügt, die Unversehrtheit der Rechtsgüter – in ihnen die öffentliche Sicherheit – zu schützen, sondern auch die öffentliche Ordnung einbezieht. Diese umfaßt die Gesamtheit jener ungeschriebenen, außerrecht58 Näher Theodor Lenckner / Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder (N 49), § 126 Rn. 1, 7 ff.; Lackner / Kühl (N 49), § 90a Rn. 1, § 166 Rn. 1; Tröndle / Fischer (N 49), § 126 Rn. 2; Hörnle (N 49), § 166 Rn. 21 ff. Kritisch Günther Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung, in: ZStW 97 (1985), S. 751 (774 ff.). 59 Zur Ausweitung der Regeln der Gefahrenabwehr auf die Risikovorsorge Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 65 ff. (bezogen auf das Atom- und Immissionsschutzrecht); Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 252 ff. Zum Ausgriff des Strafrechts auf das Vorfeld Jakobs (N 58), S. 751 ff. 60 Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 23 ff., 35 ff.

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lichen Gebote der Moral, des guten Geschmacks, des Takts, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens betrachtet wird.61 Der Rechtstitel der öffentlichen Ordnung bietet an sich der Verwaltung die Grundlage, unter Berücksichtigung des in der konkreten sozialen Umwelt Üblichen und Zumutbaren Ärgernissen vorzubeugen, exzessive Geschmacklosigkeiten und wildeste Provokationen zu unterbinden und einen schonenden Ausgleich zwischen den Belangen von Minderheit und Mehrheit zu erwirken. Die öffentliche Ordnung bildet gleichsam das Öl im Getriebe des Rechts, weil sie gesellschaftliche Reibungen mindert. Das gute Leben des Gemeinwesens erschöpft sich nicht in bloßer Verwirklichung des Rechts und allseitiger Rechthaberei. Es bedarf auch außerrechtlicher, gesellschaftlicher Regeln, die das Zusammenleben steuern. Obwohl das Grundgesetz selbst auf die „öffentliche Ordnung“ Bezug nimmt,62 zieht die Blankoverweisung auf außerrechtliche Maßstäbe verfassungsrechtliche Kritik auf sich, mit der Folge, daß ihre Anwendungsmöglichkeit bis auf einen kleinen Rest geschrumpft ist.63 Freilich finden manche Sozialnormen, die ursprünglich Bestandteil der Exekutivaufgabe „öffentliche Ordnung“ gewesen sind, heute ihren Platz im förmlichen Gesetzesrecht. Der liberale Reduktionismus, dem die „öffentliche Ordnung“ mehr oder weniger zum Opfer gefallen ist, macht halt vor dem strafrechtlichen Begriff des öffentlichen Friedens, der weiter ausgreift als der polizeirechtliche der öffentlichen Sicherheit64 und Momente der öffentlichen Ordnung erfaßt: 61 Musterhafte Definition PrOVG 91, 139 (140). Näher Bill Drews / Gerhard Wacke / Klaus Vogel / Wolfgang Martens, Gefahrenabwehr, 91986, S. 245 ff.; Möstl (N 59), S. 136 ff. 62 Art. 13 Abs. 7, Art. 35 Abs. 2. 63 Zum verfassungsrechtlichen Streit mit Nachw.: Drews / Wacke / Martens / Vogel (N 61), S. 246 ff.; Möstl (N 59), S. 139 f.; Josef Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche 11 (1977), S. 92 (96 f.). 64 Lenckner / Sternberg-Lieben (N 58), § 126 Rn. 1.

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nämlich das gesellschaftliche Klima, in dem das allgemeine Rechtsvertrauen gedeiht und das nicht geprägt wird von der Sorge vor dem Rechtsbruch, ein Klima, „in dem nicht einzelne Bevölkerungsgruppen zum geistigen Freiwild und zu Parias der Gesellschaft gemacht oder sonst ausgegrenzt werden, und zwar unabhängig davon, ob auf diese Weise zugleich ein latentes Gewaltpotential produziert wird“.65 Deutlicher: die Anhänger der beschimpften Religion sollen nicht Grund haben zu der Furcht, hierzulande leben zu müssen wie Christen in der heutigen Türkei. Die Friedensstörung muß nicht ein Klima offener und latenter Feindschaft erzeugen, die sich jederzeit in Gewalt und Gegengewalt entladen kann; es genügt die begründete Furcht der Betroffenen, in der Gesellschaft um des Glaubens willen diskriminiert zu werden und, ohne sich wehren zu können, Schmähungen ausgesetzt zu sein.66 Der strafrechtliche Begriff ist freilich diffus, an tatbestandlicher Bestimmtheit bleibt er hinter dem polizeirechtlichen Begriffspaar der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zurück. Immerhin ist er deutlicher als das Prinzip der Toleranz, das genuin ethischer Natur ist und das schon seiner Vagheit wegen ungeeignet ist, der grundrechtlichen Freiheit rechtliche Grenzen zu ziehen.67 Vollends bietet es keinen Rechtstitel dafür, einen spezifischen Schutz für die religiösen Gefühle der Muslime als einer religiösen Minderheit zu begründen.68 Ein sol65 Lenckner / Sternberg-Lieben (N 58), § 126 Rn. 1. Vgl. auch Dippel (N 49), § 166 Rn. 55. Kritisch zur Klimapflege durch das Strafrecht Jakobs (N 58), S. 774, 776, 778, 782 f. Zum Schutz des religiösen Friedens nach der EMRK Grabenwarter (N 8), S. 143 ff. – Verfassungsrechtliche Sicht der staatlichen Garantie einer Friedensordnung von Arnauld (N 8), S. 81 ff. 66 OLG Nürnberg, B. v. 23. 6. 1998, in: NStZ-RR 1999, S. 238 (240). – In mancher Hinsicht vergleichbar ist das Schutzgut des öffentlichen Friedens als Teil der öffentlichen Ordnung im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK: Grabenwarter (N 8), S. 74; Pabel (N 8), S. 94. 67 Anders Luf / Schinkele (N 8), S. 92. 68 So aber im Karikaturenfall Luf / Schinkele (N 8), S. 92. – Ein anderer Begründungsansatz zum Schutz religiöser Minderheiten: von Arnauld (N 8), S. 65.

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ches Privileg widerspräche der Rechtsgleichheit. Nachsicht wäre schon deshalb unangebracht, weil hinter der bereits großen, rasant wachsenden Zahl der Muslime im Lande ausländische Schutzmächte stehen, überdies ein riesiges gewaltfähiges Solidarisierungspotential in einem großen Teil der Welt, das sich im dänischen Karikaturenstreit wie im Protest gegen die Regensburger Rede des Papstes entladen hat. Wenn dem Verfassungsstaat religiöse Tabus fremd sind, so kennt er doch jenseits seiner zweckrationalen Vorkehrungen ein säkulares Tabu: die Wahrung der kulturellen und nationalen Identität des deutschen Volkes, aus der sich auch seine staatliche Form rechtfertigt. Die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht, und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt, streift der Staat, ungeachtet seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität, nicht ab.69 Die Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster, die auf den christlichen Glauben und die christlichen Kirchen zurückgehen, „können dem Staat nicht gleichgültig sein“.70 Wie der Staat seine Symbole und in ihnen seine Grundwerte vor Verunglimpfung schützt, auch um den Preis einer Beschränkung grundrechtlicher Freiheit,71 so muß er auch die Symbole seiner geistigen Herkunft vor Schmähung schützen, in ihnen Faktoren seiner Kontinuität, Legitimität und Vitalität. Er festigt so die Voraussetzungen, auf denen er gründet.72 Dieses Staatsziel bezieht sich auf die geistige Herkunft Deutschlands, nicht auf beliebigen Religionsimport, sei es amerikanischer BVerfGE 93, 1 (22). BVerfGE 93, 1 (22). Dazu Isensee, Tabu (N 60), S. 79 ff. 71 Eckart Klein, Staatssymbole, in: HStR II, 32004, § 19 Rn. 25. Zur Rechtfertigung der Strafvorschrift des § 90a StGB vor dem Grundrecht der Kunstfreiheit BVerfGE 81, 278 (289 ff.) – Bundesflagge; 81, 289 (304 ff.) – Nationalhymne. Vgl. auch Karl Josef Partsch, Von der Würde des Staates, 1967, S. 22 ff. 72 Dazu Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 253 ff. 69 70

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Sekten, sei es des orientalischen Islam.73 Das legitime Ziel rechtfertigt jedoch nicht jedweden Eingriff. Vielmehr muß dieser der Prüfung am Übermaßverbot standhalten. Im Ergebnis bleiben nur schmale Möglichkeiten für gesetzliche Vorkehrungen gegen Blasphemie.74

VII. Keine staatliche Förderung der Blasphemie Was der Staat nicht verbieten darf, das muß er jedoch nicht fördern. Die enge Bindung durch Abwehrrechte setzt sich nicht fort in der Vergabe staatlicher Leistungen, der Bewilligung von Steuervergünstigungen, der Verleihung von Kunstpreisen.75 Hier rührt der Staat nicht an den status negativus des Privaten. Vielmehr bereitet er seinen status positivus. Auch hier bleibt er gebunden an Vorgaben der Verfassung. Doch treten die Freiheitsrechte in den Hintergrund, indes die Gleichheitsrechte als die wesentlichen Handlungsdirektiven verbleiben. Der Staat, der gesellschaftliche Aktivitäten fördert, muß Prioritäten setzen. Er handelt sachgerecht, wenn er nach der Gemeindienlichkeit differenziert und die Aktivitäten bevorzugt, die den Zusammenhalt des Gemeinwesens und seine Integrationsfähigkeit stärken. Umgekehrt darf er nicht die Kräfte fördern, die das gedeihliche Zusammenleben stören oder gefährden. Prinzipiell ist es ihm verwehrt, die Beschimpfung der Religion oder der Religionsgemeinschaften zu prämieren, auch wenn sie sich des Mediums der Kunst bedient. Darin liegt kein Verstoß gegen die Kunstfreiheit.76 Denn diese Vgl. Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 150 ff., 156 ff. So wird auch der Schutz staatlicher Symbole durch Grundrechte erheblich eingeschränkt. Vgl. BVerfGE 81, 278 (289 ff.); 81, 198 (304 ff.). 75 Zur staatlichen Förderung gesellschaftlicher Potenzen Uhle (N 72), S. 434 ff. (Nachw.). Zur Kunstpflege und Kunstförderung Scholz (N 15), Art. 5 Abs. 3 Rn. 79 f.; Erhard Denninger, Freiheit der Kunst, in: HStR VI, 11989 (22001), § 146 Rn. 28 ff. 76 Es war legitim, daß der Bundesinnenminister dem Produzenten und Regisseur Achternbusch einen Teil der Mittel entzog, die ihm für seinen 73 74

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wehrt dem staatlichen Eingriff, doch gibt sie keinen Anspruch auf staatliche Leistung. Darin liegen auch keine Zensur und kein unzulässiges Kunstrichtertum des Staates. Denn bei der Vergabe von Leistungen muß und darf auch nach ästhetischer und moralischer Qualität geurteilt werden. Der Staat kann sich dieser Verantwortung nicht dadurch entziehen, daß er die Entscheidung über die Zuteilung seiner Ressourcen auf Sachverständige delegiert, die nicht demokratisch legitimiert sind. Diese können Entscheidungsgrundlagen erarbeiten, nicht jedoch die Entscheidung selbst ihm abnehmen. Dem Staat aber, der dem säkularen Gemeinwohl verpflichtet ist, kommt damit kein Recht zu, Blasphemie zu üben oder zu belohnen. Ein Kapitel für sich sind die staatlichen (ebenso die kommunalen) Theater. Daß ihre Aufführungen religiösen und politischen Sprengstoff schaffen können, zeigt der Skandal um den „Idomeneo“ an der Deutschen Oper Berlin im Herbst 2006. Nach dem Selbstverständnis des künstlerischen Personals waltet auf der Bühne unumschränkt die grundrechtlich gesicherte Freiheit der Kunst, indes der öffentlichen Hand die Pflicht obliegt, die organisatorischen, technischen und finanziellen Ressourcen bereitzustellen, ansonsten das Bühnengeschehen, das in seiner künstlerischen Eigengesetzlichkeit mit verwaltungsrechtlichen Kriterien nicht zu fassen ist, sich selbst zu überlassen, ohne gegen die Selbstherrlichkeit des Intendanten oder den Autismus des Regisseurs einschreiten zu dürfen. Doch solche Generosität ist nur dem Unternehmer eines Privattheaters verstattet. Der öffentlichen Hand kommt Privatautonomie nicht zu; vielmehr steht sie unter dem Gesetz des Gemeinwohls mit seinen spezifischen Pflichten. Sie ist an die Grundrechte gebunden und daher ausgeschlossen von der Teilhabe an der grundrechtlichen Freiheit. Dieses Gesetz ergreift auch die relativ autonomen öffentlichen Einrichtungen. Der staatliche Träger kann sich der rechtlichen Verantwortung blasphemischen Film „Das Gespenst“ zugesagt worden waren. Dazu Schmied (N 22), S. 44.

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vor der Allgemeinheit nicht dadurch entledigen, daß er die Leitung des Hauses dem Intendanten durch Vertrag überträgt. Für diesen verwandelt sich die Leitung nicht in individualrechtliche Grundrechtsfreiheit. Er bleibt auch in künstlerischen Belangen Sachwalter der Allgemeinheit.77 Damit aber unterliegt das staatliche Theater besonderen Gemeinwohlpflichten des Kulturstaats, wie sie für das Privattheater nicht gelten. Die Möglichkeit einer völkerrechtlichen Haftung ist nicht von vornherein abzuweisen. VIII. Freiheit nach Maßgabe der Scharia? – Auswärtige Einflüsse auf innerstaatlichen Grundrechtsschutz Im Karikaturenstreit gerät der europäische Verfassungsstaat unter außenpolitischen Druck seitens islamischer Staaten, weil seine innere Ordnung den Privaten blasphemische Äußerungen gestattet; er wird für diese verantwortlich gemacht und mit Repressalien bis hin zum Pogrom bedroht. Er sieht, daß Leben und Eigentum seiner Bürger gefährdet sind, ohne daß er sie vor den Ausschreitungen des Mobs zwischen Marokko und Mindanao schützen könnte. Überdies weiß er, daß die Protestbewegung auf das eigene Land übergreifen kann, in dem die fünfte Kolonne der islamistischen Internationale operiert. Damit steckt der Verfassungsstaat in einem Dilemma: hält er an den Freiheitsgarantien seiner Grundrechte fest, so gibt er die grundrechtliche Sicherheit von Bürgern im Ausland preis. Will er diese aber vor Gefahren schützen, so muß er ein Opfer an grundrechtlicher Freiheit im Inland bringen.78 Die Figur der grundrechtlichen Schutzpflicht vermag das Dilemma nicht aufzulösen. Sie erweitert die Grundrechtsverantwortung des Staates auf das Ausland, aber sie verkürzt und relativiert nicht die Grundrechtsgeltung im Inland. 77 Gute juridische Ansätze Wilhelm Kewenig, Theater und Staat, in: UFITA 58 (1970), S. 91 (100 ff.). 78 Ablehnend Pabel (N 8), S. 94 f. zu Art. 10 EMRK.

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Eine analoge Fallkonstellation zeigt sich im „unechten“ polizeilichen Notstand: daß die Polizei, deren Kräfte nicht ausreichen, gegen den Störer einzuschreiten und die von ihm ausgehende Gefahr abzuwehren, in die Freiheit der gefährdeten Person, eines Nichtstörers also, eingreift. Der Schulfall: die Verwaltung verbietet eine legale Demonstration, weil sie sonst der drohenden Gewaltsamkeit der Gegendemonstranten nicht Herr würde und weil sie die Einbuße an grundrechtlicher Freiheit für geringer achtet als die körperlichen Schäden, die der Ausbruch der illegalen Gewalt nach sich ziehen könnte.79 Im „unechten“ Notstand bewährt sich die Polizei nicht in ihrer Aufgabe, die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten; vielmehr versagt sie, weil sie ein Rechtsgut opfert und der physischen Gewalt weicht. Diese Konfliktlösung taugt nicht zum Muster für das internationale Dilemma der grundrechtlichen Freiheit. Die Stringenz des grundrechtlichen Geltungsanspruchs läßt Nachgiebigkeit gegenüber grenzüberschreitender Gewalttätigkeit und außenpolitischem Druck nicht zu. Außenpolitische Opportunität und illegitime Gewalt sind keine zulässigen Faktoren einer grundrechtlichen Güterabwägung. Sie können deren Ergebnisse nicht relativieren und ein Opfer grundrechtlicher Substanz nicht als das „geringere Übel“ rechtfertigen. Der Jurist darf nicht auf ein ungeschriebenes Notrecht zurückgreifen, um konkrete Konflikte in der Art des Karikaturenstreits zu lösen. Ob es freilich in dem Grenzfall, wenn die Existenz von Staat und Verfassung auf dem Spiele stehen, ein Notrecht jenseits des Verfassungsgesetzes und seiner Tatbestände gibt, stehe dahin. Wahrscheinlicher und fataler als eine öffentliche Kapitulation des Verfassungsstaates ist eine stille Kapitulation in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten.80 Nachgiebigkeit und timide Anpassung im Kostüm von Liberalität und 79 Exemplarisch OVG Saarlouis, B. v. 16. 11. 1969, in: JZ 1970, S. 283 ff. mit kritischer Anmerkung von Ernst Pappermann, ebd., S. 286 f. 80 Vgl. Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 ff.

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Toleranz, von Weltoffenheit und kultureller Permeabilität. Ob und wie der Geltungsanspruch der Grundrechte eingelöst wird, hängt ab von ihren Exegeten. Ihre Standfestigkeit entscheidet letztlich darüber, ob die Freiheit nach Maßgabe des Grundgesetzes sich am Ende verliert in Freiheit nach Maßgabe der Scharia. Auch unter außenpolitischem Druck braucht sich der Verfassungsstaat gegenüber muslimischen Staaten für Äußerungen seiner Bürger, mögen sie noch so geschmacklos und widerwärtig sein, nicht zu rechtfertigen und nicht zu entschuldigen.81 Er darf noch nicht einmal Satisfaktion anbieten, weil die Gewähr grundrechtlicher Freiheit, die solche Äußerungen ermöglicht, seine raison d’être ist. Das grundrechtslegitime Handeln der Bürger liegt außerhalb seiner völkerrechtlichen Verantwortung.82 Das sehen Staaten anders, denen die Unterscheidung von Staatsgewalt und Gesellschaft fremd ist. Doch gehört es zur legitimen Selbstbehauptung des freiheitlichen Staates, im völkerrechtlichen Verkehr seine Verfaßtheit zu verteidigen und auch darauf hinzuwirken, daß die universalen Menschenrechte ihre liberale Ursprungssubstanz bewahren und ihre Exegese am Ende nicht der Scharia anheimfällt. Die internationalen Deklarationen der Menschenrechte sind von gefährlicher Vagheit, Offenheit und Widersprüchlichkeit. Ursprünglich dazu bestimmt, die Ideen des Westens der ganzen Menschheit zu vermitteln, könnten sie einmal dahin verkehrt werden, den Westen unter das Joch der islamistischen Ideen zu zwingen. Der Fundamentaldissens der Kulturen liegt heute offen zutage. Er läßt sich nicht schönreden. Vielmehr ist es Sache der westlichen Welt, sich wehrhaft, klug und umsichtig zu behaupten. 81 Dagegen werfen Akyürek / Kneihs der dänischen Regierung einen Verstoß gegen Art. 9 EMRK vor, weil sie das Erscheinen der Karikaturen nicht unterbunden habe (N 8, S. 83). 82 Das gilt freilich nicht ohne Vorbehalt für kulturelle Aktivitäten in staatlicher Organisation, etwa das staatliche Theater (s. o. VII.). – Skeptisch zu einer Ausweitung der völkerrechtlichen Verantwortung Pabel (N 8), S. 97.

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IX. Rechtspolitische Folgerungen Am Ende zeigt sich nur ein schmaler verfassungsrechtlicher Spielraum für gesetzgeberische Maßnahmen zur Abwehr von Religionsbeschimpfung. Noch enger ist der politische Spielraum, weil in der Gesellschaft wenig Neigung besteht, die Verbotsnormen zu verschärfen. Die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung läuft heute praktisch leer. Die Kirchen wissen, daß Strafanzeigen und öffentlicher Protest dem Schimpf Publizität und dem Lästerer billigen Ruhm als Märtyrer der Freiheit verschaffen. Sie müssen sich damit abfinden, daß auf dem Boden der grundrechtlichen Freiheit gleichermaßen Unkraut und Weizen gedeihen. Die Kirchen dürfte es locken, sich mit dem Islam zu verbünden, gemeinsam wider die westliche Dekadenz und für die Wiederherstellung gesellschaftlicher Moral zu kämpfen, den Staat als bracchium saeculare für gemeinsame Ziele öffentlicher Moral zu gewinnen und das staatliche Verbot der Blasphemie zu reaktivieren. Doch eine solche Allianz wäre fatal. Von einem etwaigen Erfolg profitierte am Ende nicht das Christentum, sondern der islamische Fundamentalismus. Die Empörungswellen des Islam mögen Rechtslehre und Rechtspraxis dazu veranlassen, neu und vertieft über die rechtlichen Grenzen der Freiheitsrechte nachzudenken und diese künftig hier und da strenger zu definieren. Doch eine grundsätzliche Änderung steht nicht zu erwarten. Das Ärgernis der Freiheit läßt sich nicht beseitigen, ohne die Freiheit selbst anzutasten. Die religiös, moralisch und ästhetisch blinden Grundrechte entbinden gleichermaßen Erhabenes und Ekelhaftes, Herrlichkeit und Dreck. Gesetze können wenig leisten, grundrechtslegitimierten Unflat zu verhindern. Die Grundrechte vertragen keine Zensur zur Schonung islamischer Empfindlichkeiten, wie sie auch keine Zensur zur Vermeidung islamistischen Terrors leiden. Im heutigen Dissens der Kulturen zeigt sich deutlicher denn je, daß mit Grundrechten allein kein Staat zu machen ist und

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daß zum gedeihlichen Miteinander ein Mindestmaß an Takt, Ethos, sozialem Instinkt von jedermann gehört. Das aber ist lediglich eine Verfassungserwartung. Deren Einlösung kann der Staat nicht erzwingen. Zuwanderer, die aus geschlossenen muslimischen Gesellschaften stammen, haben vielfach ihre Not damit, die religiöse und moralische Dekadenz, die ihnen im Aufnahmeland begegnet, auszuhalten. Damit sammelt sich Zündstoff, der sich wie im Streit um die dänischen Karikaturen in terroristischem Protest entladen kann. Es wäre selbstmörderische Toleranz, wenn der Verfassungsstaat der muslimischen Pression nachgäbe und die Freiheitsgarantien aus Furchtsamkeit reduzierte. Für den Zuwanderer wäre es ein wirksamer Test auf seine Integrationsbereitschaft, zu prüfen, ob er bereit ist, die Freiheit des anderen zu ertragen, selbst wenn dieser schmäht, was ihm heilig ist, und ob er davon absieht, wider die Verletzung seiner Gefühle Gewalt zu üben und nach Gewalt zu rufen. Eine Probe aufs Exempel, ob und wieweit die Sicherheit der grundrechtlichen Freiheit in Deutschland belastbar ist, könnte eine werkgetreue Aufführung von Voltaires „Mahomet“ in Goethes Übersetzung abgeben, eines Dramas, das den Propheten als tückischen, fanatischen Gewaltpolitiker zeigt, doch in der exotisch-historischen Verkleidung eigentlich Christen und Kirche treffen will. Die Christen freilich haben in zweieinhalb Jahrhunderten gelernt, mit dem eleganten Spott und der gelehrten Bosheit des Aufklärers umzugehen, seine giftige Kritik und seinen literarisch sublimierten Haß auf die „Infâme“ auszuhalten, und das, ohne an Leib und Seele dauerhaft Schaden zu nehmen. Wird das der Islam jemals lernen?