Vergangenheitsbewältigung durch Recht: Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem. Hrsg. von Josef Isensee [1 ed.] 9783428474585, 9783428074587

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Vergangenheitsbewältigung durch Recht: Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem. Hrsg. von Josef Isensee [1 ed.]
 9783428474585, 9783428074587

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U. Battis . G. Jakobs . E. Jesse

Vergangenheits bewältigung durch Recht

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 16

ULRICH BATIIS GÜNTHER JAKOBS . ECKHARD JESSE

Vergangenheitsbewältigung durch Recht Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem

herausgegeben von JOSEF ISENSEE

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vergangenheitsbewältigung durch Recht: Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem I U1rich Battis ; Günther Jakobs; Eckhard Jesse. Hrsg. von Josef Isensee. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte : Bd. 16) ISBN 3-428-07458-0 NE: Battis, Ulrich; Jakobs, Günther; Jesse, Eckhard; Isensee, J osef [Hrsg.]

Alle Rechte vorbehalten

© 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Satz: Fotosatz Voigt, Berlin 21 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Gennany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-07458-0

Inhalt Vorwort des Herausgebers .............................

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"Entnazifizierung" und "Entstasifizierung" als politisches Problem. Die doppelte Vergangenheits bewältigung Von Priv.-Doz. Dr. Eekhard Jesse, Trier ................

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Vergangenheits bewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch Von Prof. Dr. Günther Jakobs, Bonn ..................

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Aufbau des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern Recht und Realität Von Prof. Dr. V/rieh Battis, Hagen .................... 65 Nachwort. Der deutsche Rechtsstaat vor seinem unrechtsstaatlichen Erbe Von Prof. Dr. Jose! Isensee, Bonn

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Vorwort "Vergangenheits bewältigung durch Recht" - das ist die prekäre Aufgabe, die sich der Bundesrepublik Deutschland heute zweifach stellt, in der Hinterlassenschaft des nationalsozialistischen Regimes des Deutschen Reiches und in der Hinterlassenschaft des realsozialistischen Regimes der Deutschen Demokratischen Republik. Der deutsche Rechtsstaat der Gegenwart steht in einem Dilemma, wenn er mit seinen Mitteln das Handeln von totalitären Unrechtsstaaten aufarbeiten will, weil, was aus seiner Sicht Unrecht war, im totalitären Kontext als Recht galt. Hier bricht ein Widerspruch auf zwischen der Idee der Gerechtigkeit und der Formalität wie Begrenztheit des rechtsstaatlichen Rechts. Von mehreren Seiten her wird hier das Problem angegangen. Die doppelte Vergangenheits bewältigung, "Entnazifizierung" und "Entstasifizierung", wird als politisches Problem von dem Trierer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse erörtert. Die Grenzfrage nach der Leistungsfähigkeit des Strafrechts im politischen Umbruch, zumal angesichts des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots, stellt und beantwortet der Bonner Strafrechtslehrer Günther Jakobs. Der Aufbau des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern, Recht und Realität sind das Thema für den Hagener Staatsrechtslehrer Ulrich Battis. Den drei Abhandlungen liegen Vorträge zugrunde, die auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Freiburg i. B. am 30. September 1991 vor der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft gehalten wurden. Bonn, im Mai 1992

Der Herausgeber

"Entnazifizierung" und "Entstasifizierung" als politisches Problem Die doppelte Vergangenheits bewältigung Von Eckhard Jesse, Trier I. Die Aktualität der Thematik Noch sind die NS-Prozesse nicht zu Ende, da beginnen bereits Prozesse gegen jene, die in die Verbrechen der kommunistischen Diktatur verstrickt waren. Kaum ein politisches Thema bewegt gegenwärtig so die Gemüter wie die Frage nach der angemessenen Verarbeitung der Vergangenheit in der DDR. Immer neue Enthüllungen über inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit vergiften das Klima oder entfalten eine geradezu kathartische Wirkung - je nach Standpunkt. Mit einer Mischung aus wohliger Neugier und schauderndem Entsetzen verfolgt die Öffentlichkeit das Spektakulum, wer mit dem "Stasi-Gift" - tatsächlich oder auch nur vermeintlich - kontaminiert ist. Mehr als 200 km Aktenbestand von über vier Millionen DDR- und zwei Millionen Bundesbürgern harren der Sichtung und bergen Sprengstoff in sich. Tun sich Abgründe auf? Hat man mit der Öffnung der Akten des Staatssicherheitsdienstes seit dem 1. Januar 1992 auch die Büchse der Pandora geöffnet? Oder nimmt man unkritisch und ungeprüft "Erfolgsmeldungen" geheim dienstlicher Stellen für bare Münze? Die Diskussion geht gar so weit, daß angesichts zahlreicher enttarnter Spitzel die Frage aufgeworfen wird, ob nicht ein beträchtlicher Teil der oppositionellen Aktivitäten in der DDR durch den dortigen Staatssicherheitsdienst gesteuert gewesen ist.

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Schon einmal, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, wühlte das Thema der Vergangenheits bewältigung die Gemüter auf. Es schien so, als ob mit zunehmender Entfernung von der NS-Zeit die Last dieser Geschichte als immer drückender empfunden werde. Manche Reaktion war nicht frei von einer Bewältigungshysterie. So mußte Philipp Jenninger vom Amt des Bundestagspräsidenten zurücktreten, weil seine Rede zur 50. Wiederkehr der "Reichskristallnacht" - oder zur "Reichspogromnacht", wie es seit einigen Jahren vielfach heißt: der vom Volksmund geprägte Begriff der "Reichskristallnacht" soll verharmlosend sein - als mißverständlich, wenn nicht gar als apologetisch erachtet worden ist. 1 Ausgerechnet durch die nationalsozialistische Bewegung, die den Nationalismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte, wurde der Nationalismus in Deutschland völlig diskreditiert - mit der Folge, daß selbst ein für andere Länder als normal angesehenes Nationalgefühl in Mitleidenschaft geriet. 2 Der Vereinigungsprozeß in Deutschland ist ohne nationales Getöse über die Bühne gegangen, auch wenn manche Kritiker das anders gesehen haben mögen. 3 In der politischen Kultur der Bundesrepublik hat sich gleichsam eine Art Negativfixierung auf Hitler herausgebildet. Einerseits ist das positiv im Sinne einer radikalen Abkehr von jeder Form des Nationalismus zu verstehen, andererseits aber auch wegen der irritierenden Konsequenzen im Hinblick auf die Gegenwart nicht unproblematisch. Besteht doch die Gefahr der ausschließlichen Vergangenheits orientiertheit. "Immer wieder legen wir die Erinnerung an Hitler und die I Vgl. Armin Laschet / Heinz Malangre (Hrsg.), Philipp Jenninger. Rede und Reaktion, 1989. 2 Vgl. etwa Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, 1987. 3 Vgl. aus unterschiedlichen Positionen: Wolfgang Herles, Nationalrausch. Szenen aus dem gesamtdeutschen Machtkampf, 1990; Hajo Funke, "Jetzt sind wir dran". Nationalismus im geeinten Deutschland. Aspekte der Einigungspolitik und nationalistische Potentiale in Deutschland, 1991; besonders simpel: Heleno Sana, Das Vierte Reich. Deutschlands später Sieg, 1990.

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Nazizeit als Meßlatte an heutige Fragen, obwohl diese nichts miteinander zu tun haben."4 Der Schatten Hitlers prägt bei vielen Diskussionen - z. B. bei der Asylpolitik - die Urteilsbildung oder präjudiziert sie. 5 Die Fixierung auf die Schatten der Vergangenheit hat »eine Unausbalanciertheit unseres Gemütszustandes als Bürger zur Folge, die unserer Demokratie zu schaffen macht."6 Der mißverständliche, aber längst eingebürgerte Begriff der Vergangenheits bewältigung - mit oder ohne Anführungszeichen - hat Karriere gemacht. Fand er die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nur Anwendung in der Bundesrepublik, gemünzt auf die Hinterlassenschaften des Dritten Reiches, so wird er seit einigen Jahren auch im Ausland gebraucht, teilweise gar nicht übersetzt.7 Heutzutage ist es angesichts des Zusammenbruchs der DDR ganz selbstverständlich, von einer »doppelten Vergangenheits bewältigung" in Deutschland zu reden. 8 Nicht nur der Begriff, sondern auch der mit ihm umschriebene Sachverhalt galt zunächst ausschließlich für Deutschland. Inzwischen hat sich das jedoch vielfach gewandelt. So ist auch in einigen anderen Staaten eine heftige Diskussion über die Zusammenarbeit von Teilen der eigenen Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus entbrannt, nachdem dieses Thema lange ausgeblendet worden war. 9 Manche Erkenntnisse • So treffend Klaus von Dohnanyi, Hiders Schauen, in: Rudolf Augstein (Hrsg.), 100 Jahre Hider. Eine Bilanz von Uri Avnery u.a., 1989, S. 58. 5 Vgl. beispielsweise Rainer Zitelmann, Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit, in: Rolf Italiaander (Hrsg.), Bewußtseins-Notstand. Thesen von 60 Zeitzeugen. Ein optimistisches Lesebuch, 1990, S.69 - 79. 6 So Peter Graf Kielmansegg. Lange Schauen. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, 1989, S. 84. 7 Vgl. William E. Paterson, From "Vergangenheitsbewältigung" to the "Historikerstreit" ; Michael Townson, The linguistics of "Vergangenheitsbewältigung", jeweils in: Roger Woods (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung West und Ost, Birmingham 1989. H Vgl. beispielsweise Christoph Kleßmann, Das Problem der doppelten" Vergangenheitsbewältigung", in: Die Neue Gesellschaft 38 (1991), 5. 1099 - 1105.

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- etwa über die Resistance in Frankreich - rütteln an liebgewordenen Tabus.1 0 Wer sich mit Vergangenheits bewältigung befaßt, muß sich Rechenschaft über das ablegen, was er zur Sprache bringen will, besteht doch bei diesem Thema die Gefahr, unverbindlich über Alles und Nichts zu räsonieren. Die Literatur zur "Vergangenheitsbewältigung" ist Legion. 1I Vertreter aus unterschiedlichen Disziplinen - der Geschichtswissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Pädagogik, der Psychologie, der Soziologie und der Publizistik, um einige der wichtigsten zu nennen - haben einschlägige Forschungen vorgelegt. 12 Durch den Zusammenbruch der zweiten deutschen Diktatur ist eine 9 Vgl. zusammenfassend Klaus-Dietmar Henke / Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, 1991. 10 Vgl. etwa den in mancher Hinsicht geradezu aufregenden Band von Gerhard Hirschfeld / Patrick Marsh (Hrsg.), Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 19401944,1991. 11 Auch der Verfasser hat sich zu dieser Thematik verschiedentlich geäußert: Eckhard Jesse, Vergangenheits bewältigung - Volkspädagogik - Verfassungspatriotismus. Anmerkungen zu drei Schlüsselwörtern der politischen Bildung, in: Materialien zur Politischen Bildung 15 (1987), Heft 4, S. 5 - 10; ders., "Vergangenheitsbewältigung" in der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat 26 (1987), S. 539 - 565; ders., Der sogenannte "Historikerstreit" . Ein deutscher Streit, in: Thomas M. Gauly (Hrsg.), Die Last der Geschichte, Kontroversen zur deutschen Identität, 1988, S.9 - 54; ders., Vergangenheitsbewältigung in Österreich und in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Vergleich, in: Beiträge zur Konfliktforschung 19 (1989), Heft 2, S.77 - 90; ders., "Vergangenheitsbewältigung" und politische Kultur, in: Politische Bildung 23 (1990), Heft 3, S. 53 - 66; ders., Streitbare Demokratie und Vergangenheitsbewältigung, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Verfassungsschutz in der Demokratie. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, 1990, S. 257 - 305; ders., Philosemitismus, Antisemitismus und Anti-Antisemitismus. Vergangenheitsbewältigung und Tabus, in: Uwe Backes / Eckhard Jesse / Rainer Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des N ationalsozialismus, Taschenbuchausgabe, 1992, S. 543 -567. 12 Zu den Entwicklungsansätzen in neuerer Zeit vgl. u.a. Peter Dudek, "Vergangenheitsbewältigung". Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 1-21 92, S. 44 - 53.

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Zäsur entstanden - gerade auch im Bereich der Vergangenheitsbewältigung und zumal der Auseinandersetzung über sie. Es läßt sich voraussagen, daß eine Reihe von Titeln auf den Markt kommt, die die Vergangenheitsbewältigung nach 1945 und nach 1989 in deskriptiver oder normativer Hinsicht vergleichen. Das Thema dürfte zukünftig eine weitere Konjunktur erleben. 13 Die Kernfragen lauten wie folgt: Darf man die beiden deutschen Diktaturen miteinander vergleichen oder gar auf eine Stufe stellen? Ist Vergangenheitsbewältigung, zumal in strafrechtlicher Hinsicht, ein Privileg der Deutschen ? Welche Kategorien sollen für die "Bewältigung" der leidvollen Vergangenheit zugrunde gelegt werden? Wie hat ein demokratischer Verfassungsstaat mit den Hinterlassenschaften einer Diktatur umzugehen? Die gegenwärtige Diskussion - Berufene und weniger Berufene melden sich zu Wort -leidet vielfach darunter, daß publizistische Schnellschüsse mit effekthascherischen "Entlarvungen" der komplexen Materie nicht gerecht werden. Systematische Überlegungen kommen in der teils von Selbstgerechtigkeit geprägten, teils von Verdrängung bestimmten Debatte viel zu kurz. Hingegen nehmen Versuche der politischen Instrumentalisierung überhand. Man muß nur an die unterschiedlichen Reaktionen denken, nachdem Erkenntnisse über den ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere und über den mit der politischen Linken sympathisierenden Rektor der Humboldt-Universität, Berlin, Heinrich Fink, an die Öffentlichkeit gelangten. Im ersten Fall spielten Konservative die Hinweise auf die Tätigkeit de Maizieres als inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes herunter, im zweiten Fall wollten mehrheitlich Linke von Finks klandestinen Informationsdiensten nichts wissen. Dabei müssen beide Personen gleichermaßen als kompromittiert gelten. Eine selektive Vergangenheitsbewäl13 Die ersten zwei Monographien liegen bereits vor: Einerseits Ludwig Elm, Nach Hitler. Nach Honecker. Zum Streit der Deutschen um die eigene Vergangenheit, 1991; andererseits Christa Hoffmann, Stunden Null. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, 1992.

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tigung und damit eine Sichtweise, die auf die heutige politische Position der Betroffenen schaut, ist weit verbreitet. Eine andere Konfliktlinie findet sich im (mitunter nur vorgeschobenen) Gegensatz zwischen Ost und West. Manche Westdeutsche legen bei der Beurteilung der DDR-Vergangenheit die Mentalität von Kolonisatoren an den Tag, und Ostdeutsche neigen als Reaktion auf die Schwierigkeiten der Gegenwart dazu, im nachhinein die DDR-Vergangenheit zu verklären. Teilweise laufen die Fronten verquer. So überidentifizieren sich einige Westdeutsche mit der DDR-Bevölkerung, indem sie nur ihr legitimes Recht zum Urteilen zubilligen; und manche Bürger der ehemaligen DDR sind nicht frei von Rachegelüsten gegenüber ihren früheren Machthabern. Wie komplex die Verhältnisse liegen, verdeutlich der Sachverhalt, da sich politisch ansonsten kraß gegenläufige Positionen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit decken: Die Wenigen, die aktiven Widerstand gegen das DDR-Regime geleistet haben, wollen ebenso eine rückhaltlose Abrechnung mit Leisetretern, Kollaborateuren und Mitläufern wie unnachsichtige Antikommunisten. Der Fall Stolpe, der sich bisher nicht zu Stolpes Fall entwickelt hat, demonstriert diesen Sachverhalt augenfällig. Realistische Charakterisierungen großer Teile der Opposition in der DDR fehlen gegenwärtig. Die Distanz für eine historisierende Sicht gerade dieser Gruppen fehlt bislang. 14 14 Es hat lange gedauert, bis der Widerstand gegen das NS-Regime kritisch aufgearbeitet und manche Legende über die Vorstellungen von heroisierten Widerstandskämpfern entlarvt wurde. Vgl. dazu den wegweisenden Aufsatz von Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstands, in: Walter Schmitthenner / Hans Buchheim (Hrsg.), Der deutsche Widerstand, 1966, S. 73 - 167, in erweiterter Form abgedruckt in: Hans Mommsen, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze. Zum 60. Geburtstag herausgegeben von Lutz Niethammer und Bernd Weisbrod, 1991, S.233 - 337. Wie manche Widerstandskämpfer im Dritten Reich keine unbedingten Anhänger des demokratischen Verfassungsstaates waren, so muß das auch - horribile dictu - für den ~harten Kern" der oppositionellen Bewegung in der DDR gelten. Zu positiv, zu sehr am Selbstverständnis orientiert fällt das erste größere Werk über die Oppositionellen in der DDR

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Dieser Beitrag will zunächst die Legitimität eines Vergleichs zwischen der NS-Diktatur und dem kommunistischen Regime aufzeigen (11. 2.) Es geht ferner darum, Unterschiede und Parallelen im Hinblick auf die Art der Vergangenheits bewältigung herauszustellen und für die zukünftige Aufarbeitung der ostdeutschen Diktatur auch die Erfahrungen mit der NS-Diktatur zu berücksichtigen. Wenn die Parallelen zwischen beiden Diktaturen offenkundig sind, muß die Vergangenheitsbewältigung ähnlich angelegt sein. Es bedarf dabei normativer Maßstäbe (111.). In einem weiteren Kapitel sollen verschiedene Dimensionen der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland aufgedröselt werden (IV.). Auf diese Weise läßt sich die Komplexität der Materie verdeutlichen und manche Form der Selbstgerechtigkeit gegenüber denjenigen vermeiden, die unter der Diktatur gelebt haben. Abschließend präsentiert der Verfasser einige Thesen, die das Vorgenannte teils zusammenfassen, teils darüber hinausgehen (V.). 11. Vergleich der Hinterlassenschaften zweier Diktaturen "Der bloße Vergleich des Dritten Reiches mit der DDR ist eine schreckliche Verharmlosung. Das Dritte Reich hinterließ Berge von Leichen. Die DDR hinterließ Berge von Karteikarten."15 Diese Aussage der Berliner Philosophieprofessorin Margherita von Brentano läßt ein erhebliches Maß an "schrecklicher Verharmlosung" gegenüber der Diktatur der DDR erkennen. Hinter den "Bergen von Karteikarten" stecken Menschen, deren Rechte das Regime in der DDR systematisch mißachtete. Das Dritte Reich war nicht zuletzt angesichts der systematisch in die Wege geleiteten Morde an Juden mörderischer als aus: Helmut Müller-Enbergs / Marianne Schulz / Jan Wielgohs (Hrsg.), Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzept der neuen Bürgerbewegungen, 1991. Die Kritik an den Zielen vieler Oppositioneller der ersten Stunde soll nicht deren hohes Maß an Zivilcourage schmälern. IS Margherita von Brentano, zitiert nach: Die Zeit v. 16. August 1991.

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das DDR-System,16 Das erste dauerte aber nur zwölf Jahre, das zweite dank der sowjetischen Unterstützung über vier Jahrzehnte. Die Totalitarismusforschung hat Analogien zwischen Diktaturen herausgearbeitet, auch wenn diese unterschiedliche Ziele anstrebtenY Ein anderes Werte system sollte internalisiert, die politische Willensbildung monopolisiert, ein "neuer" Mensch propagiert, der Bürger zur Akklamation der politisch Herrschenden verpflichtet, der Pluralismus der Ideen und Interessen ausgeschaltet werden. Diese Elemente trafen auf das Dritte Reich ebenso zu wie auf die DDR. Wegen der pseudodemokratischen Maskierung und des Einsatzes moderner Technik gilt der Totalitarismus vielfach als ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Wie im Dritten Reich, so wurden in der DDR Menschenrechte systematisch verletzt. 18 Innerhalb kurzer Zeit gelang es, eine Ideologie verbindlich zu machen und konkurrierende Kräfte aus der politischen Willensbildung auszuschalten. Die größten Verbrechen geschahen unter Berufung auf Utopien chiliastischen Anspruchs. Allerdings war die "totalitäre Erfahrung"19 für manche Intellektuelle in demokratischen Verfassungsstaaten nicht abschreckend genug. Standen Teile von ihnen nicht dieser "totalitären Versuchung"20 nahe. Anhänger des Totalitarismuskonzepts gerieten in den siebziger und achtziger Jahren häufig in die argumentative Defensive und mußten den Vorwurf hinnehmen, einer Mentalität des Kalten Krieges 16 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, 1991. 17 Vgl. beispielsweise Manfred Funke (Hrsg.), Totalitarismus. Ein StudienReader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, 1978; Ernest A. Menze (Hrsg.), Totalitarianism Reconsidered, 1981; Karl Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, ;1984. 18 Vgl. zur DDR beispielsweise: Heiner Sauer / Hans-Dtto Plumeyer, Der Salzgitterreport. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat, 1991; Werner Filmer / Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, 1991. 19 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die totalitäre Erfahrung, 1987. 20 Vgl.Jean Franfois Revel, Die totalitäre Versuchung, 1976.

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zu frönen und die Wandlungen im real-existierenden Sozialismus nicht angemessen wahrzunehmen. Der Vergleich einer kommunistischen Diktatur wie der DDR mit dem Nationalsozialismus, der ja noch nicht Gleichsetzung bedeuten muß, ist ein heikles Unterfangen und ruft immer wieder Entrüstung hervor. Der leidige Verlauf des deutschen "Hysterikerstreits"21 - Polemik überlagerte den sachlichen Gehalt des "Historikerstreits" - dürfte dafür nur ein Indiz von vielen sein. Nach dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus in der DDR wollten manche seiner früheren Apologeten das Bild von der DDR nicht beschmutzt sehen, mochten sie auch Schattenseiten einräumen. "Die DDR war kein verbrecherisches System, auch wenn bestimmte Handlungen ihrer Führung oder nachgeordneter Organe oder bestimmter Zustände und Unterlassungen am Maßstab rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Normen als verbrecherisch zu kennzeichnen sind. Selbst die Charakteristik als Diktatur sollte an historisch und international nachprüf- und vergleichbaren Merkmalen sachlich erörtert und abgewogen werden. Das vor allem in Politik und Publizistik, aber teilweise auch in der Wissenschaft verbreitete Schwarz-Weiß-Bild von ,Diktatur' und ,Demokratie' in der Welt von heute erscheint nach beiden Seiten als ergänzungs- und differenzierungsbedürftig."22 Offenkundig soll das Bild der westlichen Demokratie verdüstert, das der kommunistischen Diktatur aufgehellt werden. Die häufigste Form zumindest unterschwelliger Apologie besteht darin, die DDR als "Deformation" eines wahren sozialistischen Systems anzusehen.23 Wer diese Maxime teilt, kann ein neu es "sozialistisches Experiment" fordern. Gescheitert sei schließlich nur die 21 So Imanuel Geiss, Der Hysterikerstreit. Ein undiplomatischer Essay, 1992. 22 Elm (Fn. 13), S. 37. 23 Typisch hierfür Hans Mayer, Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, 1991. Sarkastisch zu der "Deformations"These Erwin K. Scheueh, Muß Sozialismus mißlingen? Sieben Aufsätze, 1991.

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"Deformation" "des" Sozialismus, für die eine korrupte politische Führung die Verantwortung trage. Diese Argumentation steht in einer gewissen Analogie zu der nach 1945 zum Teil verbreiteten Auffassung, die Entartung des NS-Systems gehe auf eine Clique zurück. Manch einer merkt überhaupt nicht, daß er mit zweierlei Maß mißt. Stereotyp taucht das Argument auf, die DDR sei immerhin antifaschistisch gewesen und habe mit dem Faschismus unnachsichtig gebrochen. Diesen Umstand hält man der politischen Führung in der DDR zugute. Unabhängig davon, ob in der DDR wirklich eine rigorose Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus erfolgt ist: Es liegt doch auf der Hand, daß (tatsächlicher oder auch nur vermeintlicher) Rechtsextremismus deshalb bekämpft wurde, weil sich auf diese Weise das eigene Herrschaftssystem sichern ließ. Ebenso konsequent hat der Nationalsozialismus den Kommunismus mitsamt seinen (tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen) Spielarten ausgeschaltet. Gemeinhin wird dies dem Nationalsozialismus nicht als Positivum angerechnet, vielmehr als Indiz der Inhumanität gewürdigt. Schlüssig ist diese Argumentation jedoch nicht. Im ersten Fall wird auf die Eliminierung einer antidemokratischen Position durch den Kommunismus abgestellt, im zweiten auf die Limitierung des Pluralismus durch den Nationalsozialismus. Die Vergleichsebene ist offenkundig eine andere. Es ist nicht nur der Vorsitzende der PDS, Gregor Gysi, der sich entschieden gegen einen Vergleich der Inhumanität zwischen der kommunistischen und der nationalsozialistischen Diktatur wendet, obwohl er die DDR immerhin als "Diktatur" bezeichnet: "Im Zusammenhang mit der Stasi-Problematik mehren sich Vergleiche von sozialistischer und faschistischer Diktatur, und mit dem ,Aufräumen' in der Ex-DDR verbinden einige Politiker im Westen den Wunsch, die unterlassene Aufarbeitung nazistischer Vergangenheit im Osten gleichsam ,wiedergutzumachen'. Aber das ist nichts anderes als der Versuch, endgültig die Geschichte von 33 bis 45 zu beerdigen. Das darf

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nicht zugelassen werden."24 Gysis Argumentation überzeugt nicht: Wer eine rigorose" Vergangenheits bewältigung" in der DDR befürwortet, muß deswegen die leidvoll-verbrecherische Vergangenheit im Dritten Reich nicht zudecken wollen. Die Parallelen zwischen den beiden deutschen Diktaturen liegen auf der Hand. Der Hamburger Staatsrechtslehrer Ingo von Münch bestreitet diese wenig triftig: "Das NS-Regime darf nicht nachträglich in die Beliebigkeit irgendeines totalitären Regimes gestellt werden."25 Die Frage, ob die Verbrechen des Dritten Reiches "einzigartig"26 waren, tangiert nicht den Komplex der analogen Strukturmerkmale von Diktaturen. Die Verbrechen im Dritten Reich richteten sich in erster Linie gegen andere Völker, die in der DDR gegen die eigene Bevölkerung, deren Freiheiten die politische Führung in den unterschiedlichsten Varianten beschnitt. Die prinzipielle Notwendigkeit von Vergangenheitsbewältigung ist im einen wie im anderen Fall angesichts der Verbrechen mit rationalen Argumenten kaum zu bestreiten. Aber es liegt eine Reihe von Unterschieden vor. Nach 1945 gab es für die Vergangenheitsbewältigung keinen Präzedenzfall, während heutzutage die Erfahrungen mit der ersten deutschen "Vergangenheitsbewältigung" einfließen können. Als mildernder Umstand berücksichtigt werden muß, daß das SED-Regime nach der Fluchtbewegung und den Massendemonstrationen demokratischen Wahlen zustimmte, damit also die Ablösung durch die eigene Bevölkerung - mangels Alternative - faktisch in Kauf nahm und nicht zu einer "chinesischen Lösung" griff, während das Dritte Reich von außen in einem blutigen Krieg 24 Gregor Gysi, Ich war "Kandidat", zur Anwerbung als "IM" kam es nie!, in: Neues Deutschland v. 27. Januar 1992. 25 lngo von Münch, Die Rechtslage - klar und trotzdem unbefriedigend, in: Deutsches Allgemeines Sonntags blatt v. 27. September 1991. 26 Nahezu jeder, der sich mit der "Einzigartigkeits"-Problematik befaf~t, bejaht die "Einzigartigkeit". Allerdings weichen auffallenderweise die dafür ins Feld geführten Begründungen kraß voneinander ab.

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niedergezwungen wurde. Hingegen stand die Bevölkerung im Dritten Reich mehrheitlich auch noch während des Krieges hinter der politischen Führung, wohingegen dies in der DDR weder 1989 noch früher zutraf. Nach 1945 besaßen die Alliierten in Deutschland die Oberhoheit und ergriffen erste Maßnahmen der Entnazifizierung, darunter den Nürnberger Prozeß, in dem die Protagonisten des Dritten Reiches verurteilt wurden, sofern sie sich nicht durch Selbstmord der Verantwortung entzogen hatten. Während 1945 die Wiederzulassung einer "gesäuberten" NSDAP undenkbar schien, konnte die PDS die Rechtsnachfolge der SED antreten und gilt für die tragenden politischen Kräfte nicht einmal als extremistischP Im Gegensatz zur Zeit nach 1945 betrifft heutzutage die "Vergangenheitsbewältigung" auf den ersten Blick nur einen Teil der Deutschen. Das hat Vor- und Nachteile zugleich. Dadurch läßt sich der Verdrängung vorbeugen, ebenso aber Selbstgerechtigkeit fördern. Es ist ein kritikwürdiger Umstand, daß angesichts des Zusammenbruchs der DDR und der moralisch verständlichen Entrüstung von DDR-Bürgern manche Themen in ihrer Vielfalt aufgrund von Medienschelte nicht rational erÖrtert werden konnten. Insofern ist die eine oder andere Kritik an dem gegenwärtigen Konformismus, wie sie Günter Gaus übt, im Kern berechtigt: "Zu den großen Skandalen im vereinigten Land zählt die Methode der Vergangenheitsbewältigung. Auf diesem Felde stehen die Geßler-Hüte besonders dicht. Einigen von ihnen will ich meine Achtung nicht erweisen. Was sie auf ihren Bändern behaupten und fordern und damit dem, der grußlos vorübergeht, als Unterstellung androhen, ist so dumm oder schamlos, daß ich eher die Unterstellung ertragen will als mir ein Verschontbleiben durch Kopfbeugen einhandeln. "28 Diese Kritik wäre glaubwürdiger gewesen, hätte Gaus vor dem 27 Zu weiteren Unterschieden Alexander von Plato, Eine zweite "Entnazifizierung"? Zur Verarbeitung politischer Umwälzungen in Deutschland 1945 und 1989, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 42 (1991), insbes. S.424. 28 Günter Gaus, Moral-Monopoly, in: Freitag vom 7. Februar 1992.

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Zusammenbruch der DDR hinreichende Skepsis gegenüber den "Errungenschaften" der ostdeutschen "Nischengesellschaft"29 an den Tag gelegt und die anderen "Geßler-Hüte" angesichts der Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit angeprangert. JO Ungeachtet des Sachverhaltes, daß es sich beim Dritten Reich und der DDR um Diktaturen gehandelt hat, darf man andere Aspekte nicht außer acht lassen. Die "Historisierung" des Dritten Reiches ist nur allmählich vorangekommen. Es war der Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte Martin Broszat, der sie 1985 eingefordert hat. JI Broszat wandte sich damit gegen Stereotypen in der Geschichtsschreibung, die der Komplexität des Geschehens nicht Rechnung tragen. Manichäistische Schwarz-Weiß-Bilder könnten eine selektive W ahrnehmung fördern. Das gilt auch für die DDR, heute wird sie vielfach schlicht als "Stasi-Staat" bezeichnet. Damit verkennt man andere Elemente der DDR, die sich nicht per se unter die Kategorie des Unrechts rubrizieren lassen. Eine Historisierung der kommunistischen Praxis in der DDR sollte für die Forschung ein Gebot der Stunde sein, auch wenn deren Geschichte zur Zeit vielfach auf die Gegenwart einwirkt. Die Angst, man könnte als indirekter Apologet des Systems firmieren, wenn man für die Berücksichtigung von Nuancen plädiert, dürfte nicht so 29 Dieses Bild für die DDR hat Günter Gaus geprägt und näher umschrieben. Vgl. ders., Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, 1983, S.156 - 233. )0 Vgl. beispielsweise Backes / Jesse / Zirelmann (Fn. 11). )1 Vgl. Martin Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Hermann Graml / Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat, 1986, S.159 - 173; ders., W;U; heißt Historisierung des Nationalsozialismus?, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1 - 26; ders. / Saul Friedländer, Um die "Historisierung des Nationalsozialismus·. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahrshefte zur Zeitgeschichte 36 (1988), S. 339 - 372. Siehe zur Würdigung des 1989 verstorbenen Broszat: Backes / Jesse / Zitelmann (Fn. 11); Klaus-Dietmar Henke / Claudio Natoli (Hrsg.), Mit dem Pathos der Nüchternheit. Martin Broszat, das Institut für Zeitgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus, 1991.

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groß sein wie für den Historiker, der sich des Dritten Reichs angenommen hat. Insofern mag sich die Historisierung daher schneller durchsetzen. Daß damit nicht einer "Vergoldung der DDR-Vergangenheit"32 - auch nach 1945 bestand bei Teilen der deutschen Bevölkerung das Bedürfnis, die Vergangenheit zu verklären - das Wort geredet wird, versteht sich von selbst. IH. Normative Maßstäbe bei der Vergangenheits bewältigung

Was vor 1945 richtig war, kann nach 1945 nicht falsch sein. Mit dieser Argumentation wehrte sich Hans Filbinger entschieden dagegen, daß ihm im Zweiten Weltkrieg ausgesprochene Urteile im nachhinein zur Last gelegt werden sollten. Gerade diese Art der Rechtfertigung nutzte ihm nicht - im Gegenteil: Er mußte zurücktreten. 33 Heute lautet nicht nur die Argumentation jener, die in der DDR politische Verantwortung ausgeübt haben, ganz ähnlich. Man sei gezwungen gewesen, die Gesetze einzuhalten. Man dürfe nicht nachträglich altes durch neu es Recht ersetzen. Im Unterschied zu der Reaktion auf die Filbinger-Äußerung sind viele jedoch aus ganz unterschiedlichen Richtungen und Gründen bereit, diese Auffassung im Kern zu akzeptieren. Rechtlich zu verfolgen sei nach dem Grundsatz nulla poena sine lege nur das, was auch nach DDR-Gesetzen strafbar war. Andernfalls handle es sich um eine "Sieger-Justiz". Es sei nicht angängig, "Politik zu kriminalisieren".34 Die Frage muß erlaubt sein, ob nicht gerade die Politik der DDR-Führung kriminell gewesen ist. 32 So Günter de Bruyn, Die mystische DDR-Identität ist viel gefährlicher als die Stasi-Verbrechen, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 39 (1992), S.169. JJ Siehe die Rechtfertigungsschrift von Hans Filbinger, Die geschmähte Generation, 1987. Die Diskussion um Filbingers Sturz wird aus der Sicht seiner Verteidiger dargestellt bei Bruno Heck (Hrsg.), Hans Filbinger - der "Fall" und die Fakten. Eine historische und politologische Analyse, 1980. H So Gregor Gysi, "Einverstanden, aber ... ", in: Freitag vom I. November 1991.

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Wenn dem so ist, dann kann der für den Rechtsstaat konstitutive Rechtssatz nulla poena sine lege nur begrenzte Gültigkeit für sich beanspruchen. "Dieser wesentliche Unterschied tritt hervor, wenn es um Verbrechen geht, die gegen Grundwerte des Rechtsstats und damit gegen seine Grundlagen verstoßen haben, wie das Grundrecht der Freizügigkeit, die politische Verfolgung oder die Unabhängigkeit der JustiZ."35 Eine rechtspositivistische Herangehensweise sanktionierte diese UnrechtsGesetze. In einer Diktatur war offenkundiges Unrecht gleichsam zum Gesetz erklärt worden. Insofern ist der Hinweis auf das Naturrecht keine Verlegenheitslösung, zumal gerade der Rechtsstaat Anhaltspunkte für den möglichen Gegensatz von positivem Recht und faktischem Unrecht liefert. Zudem hat die DDR die UNO-Charta und die KSZE-Schlußakte unterschrieben. In den ersten Mauerschützenprozessen sind die Angeklagten verurteilt worden, obwohl die Todesschüsse an der Grenze durch § 27 des DDR-Grenzgesetzes legalisiert waren. Allerdings: "Es wäre nichts gewonnen, wenn der Mauerschütze als Totschläger zur Rechenschaft gezogen würde oder der drangsalierende Zuchthausaufseher als Körperverletzer, wenn aber zugleich den intellektuellen Repräsentanten der Ideologie, die für die totalitäre Gewaltherrschaft die Legitimitätsbasis bot, unbenommen bliebe, die Zwecke dieser Ideologie als Zwecke der unverändert höheren moralisch-politischen Geltung herauszustreichen." 36 Wer Regierungskriminalität nicht ahndet, kann Rechtsfrieden nicht befördern. Vor allem darf der Rechtsstaat nicht nach dem Motto verfahren: Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen. Die politische Führung sollte außerdem wegen ihrer politischen Verbrecher vor Gericht gestellt werden, nicht wegen Bagatellen. Wenn Gerichte jetzt Verantwortliche des alten )5 Kar! Dietrich Bracher, Vierzig Jahre Diktatur (SED-Unrecht) - Herausforderung an den Rechtsstaat, in: Recht und Politik 27 (1991), S. 138. ). Hermann Lübbe, "Das Strafrecht ist ein nötiges, aber schwaches Mittel wr Aufarbeitung des Totalitarismus·, in: Universitas 46 (1991), S. 1030.

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Systems - wie den Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes und das langjährige Politbüro-Mitglied Harry Tisch - nach DDR-Gesetzen wegen finanzieller "Untreue" anklagen und verurteilen, so muß das irritieren. Diese Vergehen minderen Ranges stehen in einem eklatanten Mißverhältnis zu den Taten, die eigentlich der Ahndung bedürfen. Abgesehen davon: Unter den Bedingungen des DDR-Rechts wäre keiner der politisch Verantwortlichen wegen Korruption verurteilt worden. Insofern stellt das Ausweichen auf DDR-Gesetze eine waghalsige Konstruktion dar. Das gilt auch für das Vorgehen gegen Erich Mielke, den langjährigen Chef der Staatssicherheit, der wegen des Mordes an zwei Polizisten im Jahre 1931 vor Gericht steht. Kritikwürdig ist ebenfalls die Generalamnestie. Bereits im Frühjahr 1990 machte sich der Oppositionelle Rainer Eppelmann für einen "Schlußstrich" stark - zu einem Zeitpunkt, da manchen DDR-Bürgern der Schreck noch in den Gliedern saß und viele Untaten gar nicht publik gemacht waren: "Wir müssen jetzt einen Schlußstrich ziehen und sagen, laßt uns nach vorn gucken in dem Bewußtsein, daß es hinter uns viel Schuld gibt."37 Wer für einen solchen "Schlußstrich" plädiert, untergräbt den Rechtsfrieden. 38 Viele derer, die früher den Unrechtscharakter der DDR heruntergespielt haben, betonen heute, es sei etwa den DDR-Soldaten aufgrund des Befehlsnotstandes und der zu erwartenden strafrechtlichen Folgen nicht möglich gewesen, den Gehorsam zu verweigern. Davon kann jedoch keine Rede sein. Wer an der Grenze keinen Militärdienst verrichten wollte, hatte keine größeren Schikanen zu gewärtigen. Die Auffassung, die Handlungen der politischen Führung in der DDR strafrechtlich nicht daran zu messen, ob sie den MenJ7 .. Wir haben Lynch-Stimmung". DDR-Minister Rainer Eppelmann über Stasi-Vergangenheit und Regierungsbildung, in: Der Spiegel vom 2. April 1990, S.21. h Aber auch die gegenteilige Position kann nicht überzeugen; Es darf nicht der Eindruck aufkommen, datl die "Sieger der Geschichte" jetzt ihr Recht sprechen und gnadenlos mit dem System und s~inen Bürgern abrechnen.

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schenrechten entsprochen haben, weist eine Reihe von Parallelen auf. Sie erteilt im nachhinein der systemimmanenten DDRForschung Absolution. Nach diesem Forschungsansatz, der in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unter Peter Christian Ludz aufkam und bald dominierend wurde 39, ist es unumgänglich, die DDR nur an den von ihr selbst aufgestellten Prinzipien zu beurteilen. Aber auf diese Weise ließ sich nicht oder nur unzureichend der diktatorische Charakter der DDR erfassen. Maßstäbe freiheitlicher Politik durften ja nicht als Meßlatte dienen. Die Kritik richtet sich deshalb gegen ein ausschließlich systemimmanentes Vorgehen. Es läßt sich nichts dagegen einwenden, daß das politische System auch von seinem Selbstverständnis her beurteilt wurde. Ein anderes Beispiel: Die Konzeption der streitbaren Demokratie ist zunehmend auf dem Rückzug. 40 Nur verfassungsfeindliche Methoden, nicht mehr verfassungsfeindliche Ziele gelten als Verstoß gegen die Verfassung. Faktisch ist damit eine Rückkehr zum Verfassungsverständnis der Weimarer Republik erfolgt. Eine wesentliche Ursache für diesen Wandel dürfte in dem Zurückweichen oder Zurückdrängen normativer Ansätze zu sehen sein. Auch wer an einem normativen Ansätz festhält, darf nicht der Versuchung erliegen wollen, das begangene Unrecht in allen Fällen und um jeden Preis zu sühnen. Dem Rechtsstaat sind bei der strafrechtlichen Aufarbeitung Grenzen gesetzt. Die politisch Hauptverantwortlichen müssen vor Gericht gestellt werden, wie immer das Urteil ausgeht. "Das Recht ist farbenblind, und seine Anwender dürfen sich nicht von Sympathie oder Antipathie leiten lassen. Wer an die Unrechts handlungen des DDR-Regimes andere Maßstäbe als bei den NS-Verbrechen anlegt, entzieht der Strafverfolgung der NS-Täter die Legiti}9 Vgl. Heinz Peter Hamacher, DDR-Forschung und Politik beratung 19491990. Ein Wissenschaftszweig zwischen Selbstbehauptung und Anpassungszwang, 1991. .0 Vgl. beispielsweise Eckhard Jesse, Die Konzeption der streitbaren Demokratie im Wandel, in: Recht und Politik 18 (1992), S. 20 - 28.

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mität. Die Signale, die er setzt, weisen tung. "41

In

die falsche Rich-

Allerdings muß die öffentliche Auseinandersetzung über den Unrechtscharakter des Systems der strafrechtlichen Ebene vorgelagert sein. Diese Auseinandersetzung kann verschiedene Formen annehmen. Dazu mag auch die von Oppositionellen ins Spiel gebrachte Idee eines "Tribunals" gehören, wobei der Name eher schreckt, ruft er doch Assoziationen an die Inquisition hervor - und nicht an den Rechtsstaat. Im übrigen sollte es darum gehen, die Bürger der früheren DDR in das gesellschaftliche System der Bundesrepublik zu integrieren. Moralische Rigorosität ist dabei fehl am Platz. Manche Bürgerrechtler - und nicht nur sie - kennen kein Pardon für ehemalige Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes welchen Ranges auch immer. So will etwa Werner Fischer, heute Mitglied der "Koordinierungs- und Beratungsgruppe zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit" beim Berliner Senat, für die Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst keinen U nterschied machen, ob jemand früher Vernehmer oder Kindergärtnerin bei der Staatssicherheit gewesen ist. "Es geht nicht darum, eine individuelle Schuld nachzuweisen, denn dann würden wir noch jahrelang an den Detailüberprüfungen sitzen. [... ] Jeder, der für die Stasi tätig war, wußte um die Stellung dieses Ministeriums in der Gesellschaft. Jeder wußte: MfS bedeutet Verbreitung von Angst und Schrecken."42 Auf diese Weise - Dämonisierung der Staatssicherheit - grenzt man viele Bürger aus. Außerdem gerät dadurch - wie auch durch die medienwirksame "Entlarvung" inoffizieller Mitarbeiter - in Vergessenheit, daß die Staatssicherheit ein Instrument der Partei gewesen ist .

.. RudolfWassermann, "Kein zweierlei Maß bei NS- und SED-Verbrechen", in: Universitas 46 (1991). S.1034. '1 Werner Fischer, Kein Pardon für Stasi-Mitarbeiter. in: Die Zeit vom 1. November 1991.

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IV. Dimensionen der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland Mit dem Terminus Vergangenheitsbewiiltigung war in der Vergangenheit stets der Versuch der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik gemeint. Schon damals erschien diese Zuordnung viel zu eng. Das gilt erst recht heute - nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der DDR. Aber auch die Ausweitung auf die Bewältigung der Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus ist zulänglich. Es bieten sich folgende sechs Ebenen an: "Bewiiltigung" der NSVergangenheit in der (alten) DDR - "Bewiiltigung" des Kommunismus in der (alten) Bundesrepublik - "Bewiiltigung" des Kommunismus in der DDR - "Bewiiltigung" der NS- Vergangenheit im vereinten Deutschland - "Bewiiltigung" des Kommunismus im vereinten Deutschland. Auf alle Bereiche soll im folgenden eingegangen werden, unter besonderer Berücksichtigung jenes Komplexes, mit dem man gemeinhin Vergangenheitsbewältigung identifiziert. 1. Zur "Bewiiltigung" der NS- Vergangenheit in der (alten) Bundesrepublik: Die Auffassungen gehen weit darüber auseinander, ob die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gelungen ist. Sieht man einmal von der zeitlichen Komponente ab, so stehen sich im Kern drei Grundpositionen gegenüber: Die erste meint, die Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik sei aufgrund mannigfacher Verdrängungsmechanismen und allenfalls halbherziger Maßnahmen mißlungen. Repräsentativ für diese Richtung dürfte Ralph Giordano sein, für den die Bundesrepublik sich eine "zweite Schuld" aufgeladen hat}3 "Trauerarbeit" sei ausgeblieben. Die Art und Weise des Umgangs mit der nationalsozialistischen Zeit stelle kein Ruhmesblatt dar. - Die H Vgl. Ra/ph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein, 1987; ders. (Hrsg.), "Wie kann diese Generation eigentlich noch atmen?" Briefe zu dem Buch Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein, 1990.

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zweite Position teilt diese These, behauptet jedoch ganz im Gegenteil, die Bundesrepublik habe mit ihrer "Vergangenheitsbewältigung" ein Übersoll entrichtet. Diese sei für ganz andere - häufig antideutsche - Zwecke instrumentalisiert worden. Die Bußfertigkeit von Deutschen habe längst irrationale Formen angenommen. Mit nationalmasochistischer Zerknirschung müsse Schluß gemacht werden. Zu dieser Richtung gehört als Protagonist der Münchener Publizist Armin Mohler seit mehr als zwei Jahrzehnten. H - Eine dritte Position wendet sich gegen derartige Klagen. Es sei eine große Leistung, daß sich die politische Klasse nicht vor ihrer Verantwortlichkeit gedrückt und sich in einer Weise mit der Vergangenheit in ihren vielfältigsten Formen auseinandergesetzt habe, die ihresgleichen suche. Damit könne die Bundesrepublik anderen Staaten als Vorbild dienen. In diesem Sinn ist Peter Steinbach immer wieder zu vernehmen gewesen. H - Ein gerechtes Urteil ist nur dann möglich, wenn man verschiedene Bereiche untersucht und so die Komplexität der Materie nicht verfehlt - die justizielle Vergangenheitsbewältigung, die Wiedergutmachungsproblematik, die historische Aufarbeitung, die Personalpolitik, die geistig-politische Auseinandersetzung, um nur einige der wichtigsten Bereiche zu nennen. Außerdem bedarf es der Berücksichtigung der zeitlichen Dimensionen. In den fünfziger Jahren ging die Öffentlichkeit weitgehend zur Tagesordnung über, und es unterblieben manche Revirements in der Personalpolitik,46 Allerdings sehen andere wie Hermann Lübbe in der "Ruhe" der 44 Vgl. Armin Mohler, Vergangenheitsbewältigung, 1968; ders., Der Nasenring. Die Vergangenheitsbewältigung vor und nach dem Fall der Mauer, 31991. 4~ Vgl. etwa: Peter Stein bach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, 1981; Jürgen Weber / Peter Steinbach (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NSProzesse in der Bundesrepublik Deutschland, 1984; Bernd Hey / Peter Steinbach (Hrsg.), Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein, 1986. 46 Vgl. beispielsweise GotthardJasper, Wiedergutmachung und Westintegration. Die halbherzige ;ustizielle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik, in: Ludolf Herbst (Hrsg.), Westdeutschland 1945 - 1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, 1986,5.183 - 202.

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fünfziger Jahre die Voraussetzung für die sich entwickelnde Funktionsfähigkeit der Gesellschaft: "Diese gewisse Stille war das sozialpsychologische und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsgesellschaft in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland. "47 Wer die gesamten Bereiche Revue passieren läßt, findet die Vergangenheits bewältigung in den meisten Bereichen besser als dies ihrem Ruf entspricht. 48 Freilich ließen sich auch Beispiele für halbherzige oder für übertriebene Formen der Vergangenheits bewältigung nennen.

2. Zur "Bewältigung" der NS-Vergangenheit in der DDR: Die DDR hat stets Wert darauf gelegt, mit dem Faschismus grundsätzlich gebrochen zu haben. Das liegt in der Natur der Sache, aber die Art und Weise der Bewältigung gibt zu Skepsis Anlaß, ob denn tatsächlich eine Absage an totalitäre Ideologiemuster erfolgt ist. Die politische Führung der DDR erklärte das eigene System zum "Sieger der Geschichte" und entzog sich damit faktisch einer Auseinandersetzung mit dem NS-System. Dieses wurde als Hort des Großkapitals verstanden. Lernprozesse ließen sich aufgrund eines solchen verbindlichen Interpretationsrahmens nicht in Gang setzen. Der nach der" Wende" immer wieder anklingende Einwand, die DDR habe bloß einen verordneten Antifaschismus gepflegt49 , bleibt im Grunde an der Oberfläche. Kritisiert wird weniger der Antifaschismus an sich als seine Verordnung. Wäre denn ein nicht verordneter Antifaschismus akzeptabel gewesen ? Wohl kaum, mußte doch auf ein antiextremistisches Demokratieverständnis verzichtet werden. 47 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 585. ~~ Vgl. etwa die so nüchterne wie beeindruckende Bilanz im Hinblick auf das Strafrecht von Albrecht Götz, Bilanz der Verfolgung von NS-Straftaten, 1986; ebenso Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, Z1984. Das gilt erst recht für die Wiedergutmachung. Siehe Ludolf Herbst / Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, 1989. ~9 Vgl. statt vieler Wilfried Schubarth / Ronald Pschierer / Thomas Schmidt, Verordneter Antifaschismus und die Folgen. Das Dilemma antifaschistischer Erziehung am Ende der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 9/91, S. 3 - 31.

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3. Zur "Bewältigung" des Kommunismus in der (alten) Bundesrepublik: Die classe politique in der Bundesrepublik muß sich fragen, ob die Auseinandersetzung mit kommunistischen Positionen immer angemessen gewesen ist. Manches spricht dafür, daß in den fünfziger Jahren - in der Zeit des Kalten Krieges - die politisch Verantwortlichen gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen kommunistischen Bestrebungen überreagiert haben. 50 Nach der ambivalent zu betrachtenden Studentenbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, die in mancher Hinsicht für die Bundesrepublik eine Art "Kulturrevolution" bedeutete, zeigte sich seit den siebziger Jahren - in intellektuellen Milieus mehr als in der praktischen Politik - ein erstaunliches Maß an Zurückhaltung gegenüber dem politischen System der DDR. Der DKP, die faktisch die Politik der SED in der Bundesrepublik repräsentierte, war es gelungen, die Isolation der KPD in den fünfziger Jahren zu überwinden und bei meinungsbildenden gesellschaftlichen Kräften geachtet, jedenfalls nicht geächtet zu sein. 51 Bei vielen außerparlamentarischen Protestbewegungen ließ die Abgrenzung zur DKP zu wünschen übrig. Zum Teil gab diese - wie etwa in der Bewegung gegen die "Berufsverbote" - sogar den Ton an und bestimmte die Vorgehensweise. Wer wie der Verfassungsschutz seinerzeit auf die Einflußmechanismen und Unterwanderungspraktiken von Kommunisten hingewiesen hatte, sah sich dem Tadel der Überängstlichkeit oder - schlimmer - des McCarthyismus ausgesetzt. Nicht zuletzt große Teile der öffentlichen Meinung müßten heute frühere Positionen überdenken. so Vgl. dazu pointiert Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1968, 1968. Ein Pendant zu dieser Studie, die die (ebenfalls übertriebene) Reaktion gegenüber dem Rechtsextremismus analysiert, steht bisher aus. Aus der subjektiven Sicht eines Betroffenen: Adolf von Thadden, Die verfemte Rechte. Deutschland-, Europaund Weltpolitik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Sicht von rechts, 1984. 51 Vgl. beispielsweise Wolfgang Rudzio, Die Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demokratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, 1988.

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4. Zur "Bewältigung" des Kommunismus in der DDR: Hier muß zwischen derZeit vor und nach der "Wende" unterschieden werden. Es liegt auf der Hand, daß in den vier Jahrzehnten Kritik an kommunistischen Verhältnissen tabu war. Allenfalls firmierte sie in vorsichtiger Weise als Kritik an "stalinistischen Deformationen". Solange ein totalitäres System noch besteht, läßt es keine Kritik an seinen totalitären Mechanismen zu. Selbst marxistische Kritiker wie Rudolf Bahro mußten ihr Lökken wider den Stachel mit dem Aufenthalt in der Haftanstalt bezahlen. Nach der "Wende", als ein Beitritt zur Bundesrepublik in weiter Ferne lag, wurde vielfach die Korruption der politischen Führung gebrandmarkt, ohne das System als Ganzes zunächst in Frage zu stellen. 52 Noch im November 1989, nach Öffnung der Mauer, verfaßten Intellektuelle wie Konrad Weiß und Friedrich Schorlemmer, die der SED ablehnend gegenüberstanden, einen "Aufruf für eine eigenständige Republik", in dem es folgendermaßen hieß: "Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen. "53 Wie aus diesem von vielen unterzeichneten Aufruf hervorgeht, sollte eine "sozialistische Alternative" entwickelt werden. Die Kritik am real-existierenden Sozialismus war gerade bei Oppositionellen der ersten Stunde im Grunde nicht fundamentaler Natur. 5. Zur "Bewältigung" der NS- Vergangenheit im vereinten Deutschland: Die Auffassung ist verbreitet, heutzutage würden ;! Vgl. beispielsweise Volker Klemm, Amtsrnißbrauch und Korruption in der DDR, 1991; besonders simpel: Carl-Heinz Janson, Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, 1991. ;3 Aufruf für eine eigenständige DDR vom 26. November 1989, zitiert nach Charles Schüddekopf (Hrsg.), "Wir sind das Volk!" Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, 1990, S. 240.

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die Verbrechen im Dritten Reich von denen in der DDR überlagert. Die Sorge vieler - und die Hoffnung weniger - ist unbegründet. Schließlich wird ein Verbrechen wie das der Nationalsozialisten nicht dadurch weniger schlimm, daß auch andere sich schwere Verbrechen haben zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil wird indirekt - durch den naheliegenden Vergleich erneut an den Nationalsozialismus erinnert, ohne den es gar nicht zur Teilung Deutschlands gekommen wäre. Zudem sehen sich viele Ostdeutsche erst jetzt mit bestimmten Seiten des Nationalsozialismus konfrontiert, die in der DDR wegen der Analogie zum eigenen System nicht oder nicht ausreichend zur Sprache gekommen (wie die Diskriminierung Andersdenkender) oder aufgrund der mangelnden Instrumentalisierbarkeit (wie die Morde an Juden) eher heruntergespielt worden sind. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat für die Bewältigung des Nationalsozialismus allerdings insofern Bedeutung, als objektive und subjektive Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung der kommunistischen Hinterlassenschaften unter Umständen ein milderes Licht auf vergangene Versäumnisse in der Bundes republik werfen und damit Zerrbilder zurechtrücken. 6. Zur "Bewi:iltigung" des Kommunismus im vereinten Deutschland: Angesichts der Hinterlassenschaften des real-existierenden Sozialismus wird viel Zeit mit der Aufarbeitung vergehen. Die gegenwärtige Fixierung auf die Akten der Staatssicherheit lenkt zum Teil von der Politik der DDR-Führung abals sei die Staatssicherheit ein unkontrollierter Staat im Staat gewesen, was Hauptverantwortliche gerne suggerieren. Die Rehabilitierung der vom kommunistischen System in mannigfacher Art Geschädigten muß zügig vollzogen werden. Noch immer stehen "alte Seilschaften" in den neuen Bundesländern teilweise an vorderer Position und entmutigen jene, die den Wandel herbeigewünscht haben. Vor allem darf die Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit nicht nur eine Aufgabe von DDR-Bürgern sein, für die Konzessionen an "das System" unumgänglich waren. Zu Märtyrern fühlten sich - ver-

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ständlicherweise - nur wenige berufen, zumal auf einen baldigen Zusammenbruch des kommunistischen Systems kaum etwas hindeutete. In der Bundesrepublik zeigten sich doch viele ohne Not kompromißbereit oder kompromittierten sich gar. Trotz der fast vollständigen Vernichtung der Akten der Hauptverwaltung Aufklärung dürften aufgrund des Insiderwissens von Angehörigen der Staatssicherheit jene Bürger im Westen zittern, die mit Organen der DDR kollaborierten. Aber dieser Punkt ist nicht entscheidend. Auf dem Prüfstand steht auch weniger die Konzeption der Deutschlandpolitik der siebziger und achtziger Jahre als vielmehr manche Begleiterscheinungen. Warum wollten die Regierungen einiger Bundesländer die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter nicht mehr unterstützen? Wieso wurde in Medien, die schließlich weniger diplomatische Rücksichtnahmen an den Tag legen mußten, vielfach schonend über die DDR berichtet? Wieso leugnete ein beträchtlicher Teil der DDR-Forschung den totalitären Charakter der DDR, obwohl er mit Händen zu greifen war ?54 Politik, Publizistik und Wissenschaft sind auf Fragen dieser Art selbstkritische Antworten schuldig. Wer eine solche Aufdröselung vornimmt, kann eine Fokussierung auf einen Aspekt vermeiden. Zu differenzieren wäre jeweils nach den Akteuren, nach der zeitlichen Ebene, nach dem jeweiligen Bereich der Vergangenheits bewältigung und nach dem präskriptiven (wie soll es sein?), dem deskriptiven (wer ist/ war es?) oder dem prospektiven Aspekt (wie wird es sein?). Erst eine solche Vorgehensweise würde dem Anspruch nach Systematik gerecht. Darüber hinaus könnte man komparativ vorgehen. Ein solcher Vergleich bezieht sich einerseits auf die Erfahrungen von Ost- und Westdeutschen, andererseits auf das Ausland. Was den ersten Punkt anlangt, so muß man die offensichtlich unterschiedliche politische Kultur in den alten und den neuen 54

Vgl. zu einigen dieser Problemkomplexe:Jens Hacker, Deutsche Irrtümer,

1992.

3 Isensee (Hg.)

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Bundesländern in Rechnung stellen. 55 DDR-Bürger lebten fast sechzig Jahre ununterbrochen in einer Diktatur. Der andere Wertehaushalt ist evident. In gewisser Weise ließe sich die politische Kultur in der DDR mit jener in den fünfziger Jahren der Bundesrepublik auf eine Stufe stellen. Für Fragen der Vergangenheitsbewältigung sind die Dispositionen bei den Bürgern in den neuen Bundesländern vermutlich nicht sonderlich stark entwickelt. Berücksichtigte man den Aspekt, wie das Ausland mit ehemaligen Protagonisten des kommunistischen oder rechtsextremistischen Systems umgeht, könnte die Nabelschau in den Hintergrund treten, durch die sich die Diskussion gegenwärtig noch auszeichnet. Vielleicht ließe sich dann zeigen, daß der Vorwurf an Deutsche, sie hätten nach 1945 ihre Vergangenheit verdrängt und seien dabei, diesen Fehler zu wiederholen, nicht sonderlich plausibel ist.

v.

Abschließende Thesen

Erstens: Die zunehmende Entfernung von der Zeit des Nationalsozialismus hat die Auseinandersetzung mit dessen Hinterlassenschaft nicht abgeschwächt. Was auffällt, ist die extreme Kluft zwischen der veröffentlichten Meinung und den Auffassungen großer Teile der Bevölkerung. Obwohl sich die politische Kultur in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren liberalisiert hat, fordert die Mehrheit eine Beendigung aller Formen der NS-Vergangenheitsbewältigung. Die Diskrepanz zwischen der veröffentlichten Meinung und der der Bevölkerung besteht auch im Hinblick auf die zweite deutsche Vergangenheitsbewältigung - nur mit dem Unterschied, daß viele 55 Vgl. die interessanten Überlegungen des sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten aus Sachsen-Anhalt: Eberhard Brecht, Zur politischen Kultur im vereinten Deutschland. Über deutsche Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsorientierung, hrsg. vom Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1991.

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Bürger, zumal in den neuen Bundesländern, wenig Verständnis für die Skrupel aufbringen, der Kriminalität der alten DDRFührung mit strafrechtlichen Mitteln beizukommen. Zweitens: Die künftige Vergangenheits bewältigung muß sich analog der ersten deutschen Vergangenheits bewältigung auf unterschiedliche Bereiche konzentrieren: Justizielle Aufarbeitung (und gegebenenfalls Bestrafung der Täter), Wiedergutmachung an den Opfern (z.B. durch finanzielle Entschädigung oder berufliche Rehabilitierung), historische Aufarbeitung, öffentliche Auseinandersetzung als Problem der politischen Kultur. Dabei ist der Bezug zur früheren Vergangenheitsbewältigung nützlich, könnte er doch als Vergleichsmaßstab zur Korrektur unrealistischer Ziele dienen. Drittens: Auch wenn die» Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren" nicht im Vordergrund stehen kann, muß gleichwohl die politische Führung zur Verantwortung gezogen werden - unabhängig davon, ob ihre Handlungen den DDR-Gesetzen entsprachen oder auch nicht. Wer sich - im rechtspositivistischen Sinne - an den damaligen Gesetzen zu orientieren wünscht, schreibt faktisch das Unrecht noch nachträglich fest und rückt indirekt die Leistungen der ersten deutschen Vergangenheitsbewältigung ins Zwielicht. Viertens: Die Vergangenheitsbewältigung im Hinblick auf das Dritte Reich und die DDR kann nur dann glaubwürdig sein, wenn sie antiextremistisch fundiert ist. Auf diese Weise läßt sie sich weniger zur Instrumentalisierung anderer Interessen mißbrauchen. Diskussionen über Asylrecht, Abtreibung, »Berufsverbote" und Euthanasie wurden - und werden - mitunter in einen künstlichen Zusammenhang zur NS-Vergangenheit gebracht und dadurch vielfach ihres rationalen Charakters entkleidet. Eine ähnliche Gefahr besteht gegenwärtig im Hinblick auf die DDR. Fünftens: Einen Schluß strich darf es weder bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen noch der kommunistischen 3*

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Vergangenheit geben. Aber jede Form der Hysterie ist kritikwürdig. Es bedurfte und bedarf der Integration von ehemaligen Anhängern und Mitläufern totalitärer Systeme in das demokratische Gemeinwesen - schon deshalb, weil viele von ihnen aufgrund der Perfidie des totalitären Charakters der Herrschaftsordnung Opfer und Täter in einer Person waren. Sie sollten Selbstbeschränkung üben und als politisch Verantwortliche nicht gleich in der vordersten Front aktiv sein.

Vergangenheits bewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch! Von Günther Jakobs, Bonn I. Bestrafungsvoraussetzungen 1. Vergangene Tat als gegenwärtiger Konflikt. Bewältigt das Strafrecht nicht stets die Vergangenheit? Die Straftat liegt doch abgeschlossen vor, ist vergangen, wenn gestraft wird. Freilich, wäre das Vergangene nichts als vergangen, so gäbe es daran nichts zu bewältigen; es wäre vielmehr gleichgültig, demnächst 1 Abgeschlossen 20. Oktober 1991. - Der Text von Art. 10) Abs.2 GG, § 1 StGB wird unten 11. 2. zitiert. - Folgende weitere Vorschriften des StGB sind einschlägig: §) Geltung für Inlandstaten Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen werden. § 5 Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden:

4. Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94 bis 100a)

§ 7 Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen

(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. (2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, gilt das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter 1. zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist oder 2. zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen nicht gesteHt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist.

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Günther Jakobs

vergessen. Die abge~chlossene Straftat ist nicht um ihrer selbst willen ein Gegenstand des Strafrechts, sondern sie ist dies überhaupt nur als Quelle eines zur Zeit der Bestrafung immer noch gegenwärtigen Konflikts, und dieser Konflikt ist dasjenige, was bewältigt werden muß. Es geht also um die Bewältigung der durch die Vergangenheit gestörten Gegenwart. Was ist die von einer vergangenen Straftat bewirkte gegenwärtige Störung? Hier könnte man zunächst daran denken, das Verhältnis von Täter und Opfer möge aus den Fugen geraten sein. Vielleicht dauert das Leid des vom Täter um seine Lebenschancen gebrachten Opfers immer noch an, und vielleicht weigert sich der Täter immer noch, dies auszugleichen. Diese gegenwärtige Störung der Güterordnung kann das Strafrecht aber nicht beseitigen; sie kann deshalb auch nicht das durch Strafrecht zu Bewältigende sein. Strafrecht heilt keine vom Täter geschlagenen Wunden des Opfers, ja spricht nicht einmal Schadensersatz zu, schickt vielmehr dem Übel der Tat am Opfer ein weiteres Übel hinterher: die Strafe als ein Übel am Täter. Diese in der äußeren Abfolge unvernünftige Sequenz zweier Übel (Hegel) läßt sich nur als kommunikativer Vorgang begreifen. Schon die Tat wird nicht in ihrer Äußerlichkeit genommen, sondern als Behauptung des Täters, daß er ein Recht habe, die Welt so zu gestalten, wie es durch die Tat geschieht, und die Strafe ist der Widerspruch zu dieser Behauptung; Strafe ist die Gegenbehauptung, der Täter sei unmaßgeblich, seine Behauptung falsch. Strafrecht bewältigt also diejenige gegenwärtige Störung, die von der kommunikativen Seite der Tat hervorgerufen wird: die von der Tat bis in die Gegenwart reichende Störung der Normgeltung. Strafrecht hat die Aufgabe, die stabile Geltung zentraler Normen, die für den Bestand einer Gesellschaft unerläßlich ist, hinreichend zu gewährleisten. 2. Zurechenbarkeit, Erforderlichkeit, Positivität. Von den Bedingungen, die kumulativ gegeben sein müssen, damit die Gewährleistung durch Strafe möglich und zulässig ist, interessieren im hiesigen Zusammenhang, also bei einem politischen

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Umbruch von der Vergangenheit in die Gegenwart, folgende drei: Erstens muß sich demonstrieren lassen, daß die Tat des Täters der Grund, jedenfalls ein nennenswerter Grund des Normgeltungsdefizits ist. Es geht also um die Zurechenbarkeit der Störung zum Täter. Eine Straftat hat stets viele Gründe und es ist nicht vorab ausgemacht, daß sich der böse Wille des Täters als vorrangiger oder doch immerhin erwähnenswerter Grund anbietet. Und wenn er nennenswert ist, aber nachrangig, so mag es bequem sein, ist aber verlogen, gerade ihn als einzigen Grund zu artikulieren. Beispielhaft gesprochen: Wenn das Erziehungssystem einer Gesellschaft Menschen von Kind an planmäßig korrumpiert, und die so Korrumpierten begehen diejenigen Straftaten, für die man sie hergerichtet hat, so wäre es ein verlogenes Unternehmen, wenn der böse Wille dieser Täter als Hauptgrund oder gar einziger Grund der Störung demonstriert würde; er ist, falls erwähnenswert, allenfalls ein nachrangiger Grund: die Hauptlösung hat politisch, eben durch eine Revision des Erziehungssystems, zu erfolgen. Zweitens muß die Strafe erforderlich sein, um die verletzte Normgeltung wiederherzustellen. In dem Maß, in dem die Normgeltung aus anderen Gründen sowieso stabil bleibt, kann auf Strafe verzichtet werden. Eine festgefügte, ihrer selbst sichere Gesellschaft kann sich Großzügigkeit leisten; denn in ihr kann eine Straftat nicht als sogkräftiges Vorbild wirken. Wiederum beispielhaft gesprochen: Wenn in einer Gesellschaft eine Wendung zum Totalitarismus völlig indiskutabel ist, reicht als Reaktion auf totalitaristische Restbestrebungen ein verständnisloses Kopfschütteln.

Und drittens muß eine Rechtsordnung, die ihre Legitimität nicht aus vorpositiven Quellen, sondern aus Entscheidungen über ihre Positivierung bezieht, dann, wenn sie sich selbst zutreffend begreift, anerkennen, daß ihre Gestalt nur die ihrige ist und auch nur ihre aktuelle. Da es nur um die aktuelle Gestalt geht, scheidet Rückwirkung aus, wie im Grundsatz auch außer

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Streit steht (Art. 103 Abs.2 GG, § 1 StGB). Gleichfalls scheidet eine Erstreckung auf die räumlichen oder personellen Bereiche anderer Ordnungen aus, es sei denn, die Rechtsordnung beanspruche diese Bereiche auch als die eigenen und spreche den anderen Ordnungen ihre Legitimation ab. Das würde allerdings die Kraft voraussetzen, für die gesetzmäßige Ordnung in diesen Bereichen tatsächlich zu sorgen. Davon wird noch zu reden sein. - Das geltende deutsche Recht erkennt seine Bereichsbeschränkung an. Für Auslandstaten von Deutschen oder gegen Deutsche (oder von im Inland Betroffenen) gilt das deutsche Strafrecht - von einigen mehr oder weniger gut begründeten, im hiesigen Zusammenhang aber jedenfalls nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - nur dann, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist (oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt) (§ 7 StGB), wenn also die andere Ordnung insoweit die gleiche aktuelle Gestalt aufweist wie das deutsche Strafrecht; weicht die andere Ordnung in ihrer Gestalt ab, so versteht sich das deut-. sche Strafrecht selbst als relativ und erhebt demgemäß keinen usurpatorischen Anspruch. 11. Die strafrechtliche "Bewältigung" des Nationalsozialismus 1. Zurechenbarkeit staatlich befohlener Verbrechen? Erforderlichkeit der Bestrafung von nationalsozialistischen Taten?

Bevor ich mich der gegenwärtig aktuellen Frage zuwende, ob das Strafrecht bei der Bewältigung der Vergangenheit in der ehemaligen DDR etwas leisten kann, soll ein Blick auf die teils analoge Lage nach dem Ende der nationalsozialistischen Ära geworfen werden; ich nehme als Beispiel die nationalsozialistischen Gewalttaten, insbesondere Tötungen in Konzentrationslagern und durch Einsatzgruppen. Wie stand es bei den Verurteilungen wegen solcher Taten mit den genannten drei Bedingungen, die gegeben sein müssen, wenn Bestrafung stabile Normgeltung gewährleisten soll?

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Die erste Bedingung, die Zurechenbarkeit, scheint klar gegeben zu sein: Es kann doch kaum einen stärkeren Grund für einen Mord geben, als den bösen Willen der Schergen, die ihn vollziehen! Wenn dem so ist, heißt das zugleich, daß der Konflikt oder - hier wohl besser gesagt: - die Katastrophe hauptsächlich individuelle Gründe hatte, eben den bösen Willen der Schergen2• Weniger hauptsächlich wären dann die gesellschaftlichen und politischen Gründe einzuordnen: Einer ganzen Nation gelingt es nach einem verlorenen Krieg, nach dem ersten Weltkrieg, und nach andauernder wirtschaftlicher Depression nicht, zur politischen Klugheit zu finden - dies gewiß nicht in unverständlicher Weise, aber noch so viel Verständnis für das Unkluge macht dieses nicht zur Klugheit. Ohne politische Klugheit kann sich keine wohl geordnete Gesellschaft bilden, und eine nicht wohlgeordnete ist nun einmal nichts anderes als eine große Räuberbande (Augustinus). In der Gewalt dieser Bande hing Deutschland passiv und wurde von außen befreit. Kann man nicht in diesem politischen Versagen einen stärkeren Grund sehen als in dem bösen Willen der Schergen? Man wird erwidern, eines schlösse das andere nicht aus, jedenfalls seien beide, politisches Versagen der Nation und böser Wille einzelner Schergen, nennenswerte Gründe. Aber so einfach ist das nicht. Der böse Wille der Täter war ja kein Wille, der sich in einer wohlgeordneten Gesellschaft aus subjektiver Bosheit bildete, sondern er war Ausdruck der objektiven Bosheit, die unklug geordneten Gesellschaften nun einmal eigen ist. Die Morde der Nationalsozialisten wurden - abgesehen von den Exzessen, die den allgemeinen staatlichen Exzeß nochmals erweiterten - ja nicht privat begangen, sondern als Staatsakte. Die Täter bezogen dafür ! Zur Schuld der durch das Regime selbst erzogenen Täter grundlegend Ernst-WaLter Hanack, Zur Frage geminderter Schuld der vom Unrechts staat geprägten Täter, in: Verhandl. des 46. DIT, 1967, S. C 53ff.; ders., Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, in: JZ 1967, S.297ff.; ders., Anmerkung, in: NJW 1976, S.1758f.; Herbertjiiger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1982, S.163ff., 175f.; BVerfGE 54,100 (108ff.).

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Lohn von der öffentlichen Hand, und als nach dem Ende der nationalsozialistischen Ära die Gesellschaft geordnet wurde, lebten auch sie ordentlich, unauffällig, angepaßte Menschen hier wie da, mit anderen Worten, personale Hülsen, gefüllt mit dem Blut des jeweiligen Systems. - Wer sich nicht selbst als Täter in einem Konzentrationslager vorstellen kann, weiß, daß er ein großer Charakter ist, oder aber er hat keine Phantasie. Nun, so verhält es sich bei jedem Verbrechen: Allenfalls ein großer Charakter ist davor gefeit. Es ist ja gerade der Zweck des Strafens, die Normgeltung so zu festigen, daß Anfechtungen überwunden werden, und nur in einer Gesellschaft von Aposteln und Kirchenvätern bedürfte es keines Strafrechts. Aber eines ist es, in einer wohlgeordneten Gesellschaft den bösen Willen des Täters als Konfliktgrund zu definieren, und ein anderes, rückblickend ebenso für eine pervertierte Gesellschaft zu verfahren. Im letzteren Fall individualisiert man einen genuin politischen Konflikt; das muß nicht falsch sein - es geht hier nicht um eine Straffreiheit für Mörder der nationalsozialistischen Ära -, aber es ist gefährlich, weil dadurch verdeckt wird, daß die unbequemere Aufgabe, für politische Klugheit zu sorgen, durch die Lozierung des Konflikts im bösen Willen einzelner Täter weder gelöst noch auch nur als Aufgabe formuliert wird. Die erste Bedingung, die Zurechenbarkeit, mag man also im Ergebnis noch als gegeben ansehen, auch wenn sich im Namen des Volkes dann schlecht urteilen läßt, wenn diesem die zu beurteilenden Taten auch zugerechnet werden können. Mit der zweiten Bedingung, der Erforderlichkeit von Strafe, steht es einfacher: Nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes mußte sich die Stabilität einer materiell rechtsstaatlichen Ordnung in Deutschland erst einmal erweisen. Von einer sowieso ihrer selbst sicheren Gesellschaft konnte noch nicht, jedenfalls anfangs nicht, die Rede sein. Später wurde dann freilich auch diese Bedingung weniger gewiß, und als die großen Prozesse wegen nationalsozialistischer Gewalttaten in den sech-

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ziger Jahren geführt wurden, war schon zweifelhaft, ob die Bedingung gegeben war. 2. Positivrechtliche Strafbarkeit der nationalsozialistischen Gewalttaten? Nunmehr zur dritten Bedingung, zur Positivität, also zur Strafbarkeit der Tat zur Tatzeit am Tatort oder doch für die Person des Täters. Art. 103 Abs.2 GG und § 1 StGB lauten: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Galt also in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland oder in den besetzten Gebieten Polens oder der UdSSR oder in sonstigen Bereichen deutscher Herrschaft das Verbot der Tötung von Juden, um dieses Verbot beispielhaft zu nennen? Auf diese schwierige Frage sei hier insbesondere auch deshalb einigermaßen gründlich eingegangen, weil sich die Problematik bei der noch zu behandelnden Frage wiederholt, ob gewisse Taten in der ehemaligen DDR am Tatort mit Strafe bedroht waren; von der Antwort hängt also auch die rechtliche Durchführbarkeit der heute zu leistenden Vergangenheitsbewältigung ab. Zunächst ist festzustellen, daß das Strafgesetzbuch nach 1933 nicht geändert worden ist, was Judentötungen angeht. Auch hat es kein förmliches Gesetz oder auch nur eine auf einer Ermächtigung beruhende Rechtsverordnung gegeben, in der die Erlaubtheit solcher Tötungen konstatiert worden wäre. Wenn etwas als Rechtsgrundlage vorhanden war, so war es allenfallswenn überhaupt! - ein Führerbefehl. Ein solcher Befehl war nirgendwo verkündet worden, er war eben eine Anordnung des Führers und Reichskanzlers. Konnte ein solcher Führerbefehl die Rechtslage ändern? Sicher konnte er das nicht, wenn man die Rechtslage von der Weimarer Reichsverfassung her beurteilt, und ebensowenig konnte er es, wenn man allgemeine Maßstäbe des gewaltenteilenden Staates anlegt. Aber der Nationalsozialismus, beurteilt nach der Weimarer Reichsverfassung, ist

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eine Skurrilität, und ebenso verhält es sich, wenn man ihn von einem gewalten teilenden Staat her zu erklären versucht. Der Nationalsozialismus war aber immerhin 12 Jahre als wirksamer Staat vorhanden und schon sein erster radikaler Bruch der Gewaltenteilung, ja des Rechts überhaupt, die Erledigung des sogenannten Röhmputsches, wurde von dem Juristen earl Schmitt3 unter der Überschrift juridifiziert: »Der Führer schützt das Recht." Das heißt mit anderen Worten, hält man es nicht mit einem vom realen Leben abgekoppelten Normativismus, sondern geht man - beispielsweise mit dem des vorschnellen Soziologismus gewiß unverdächtigen Hans Kelsen - davon aus, daß nur Staat sein kann, und das heißt bei Kelsen zugleich, Recht sein kann, was auch im großen und ganzen wirksam ist'" also praktiziert wird, so kann man die Frage der Rechtswirksamkeit eines Führerbefehls nur nach der zur Zeit des Nationalsozialismus geltenden, also faktisch gelebten Verfassung entscheiden; und bei dieser Sicht sollte nicht zweifelhaft sein, daß nach dieser faktisch gelebten Verfassung ein Führerbefehl das Recht aufheben und neu es Recht schaffen konnte. Wer das leugnet und eine Ermächtigungsgrundlage oder doch mindestens eine Verkündung fordert 5 , sucht den nationalsozialistischen Staat in Bereichen, die dieser nicht kannte, in denen er also auch nicht stattfand; dies wäre, als suche man den Teufel im Bereich der guten Werke. Daß in diesem Staat das unveränderte Recht der Weimarer Zeit gegolten hätte, ist jedenfalls so norma~ tivistisch weltfremd, wie es die Annahme wäre, jede Norm, die } Deutsche Juristen-Zeitung 1934, S. 945ff. • Wirksamkeit als Bedingung der Geltung: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 21960, S. 215ff. 5 Siehe die Kontroverse zwischen Anton Roesen, Rechtsfragen der Einsatzgruppen-Prozesse, in: NJW 1964, S. 133ff. und Hans Welzel, Gesetzmäßige Judentötungen?, in: NJW 1964, S. 521 (522f.). Das Argument, auch die Staatsrechtsdoktrin der nationalsozialistischen Zeit habe für Führerbefehle - überwiegend - eine Verkündung postuliert (Weizei, a.a.O., S. 522f.), verkennt, daß der Inhaber der höchsten Gewalt solche Bedingungen nie als für sich auf Dauer konstitutiv anerkannt hatte. Weitere Nachweise zu diesem Problem bei Günther Jakobs, Strafrecht AT, 21991, 4/9 mit Fn.23.

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versehentlich nicht förmlich außer Kraft gesetzt wird, die man aber vergessen oder verdrängt hat, gelte ewig weiter. Selbst wenn man den nationalsozialistischen Staat einen Unrechts staat nennt, hat man nichts gewonnen: Dann fehlt schlechthin jedes Recht und damit auch das Lebensrecht der Opfer des Regimes; eine Strafbarkeit zur Tatzeit läßt sich auch so nicht begründen. Nun wird freilich eingewandt, das alles möge ja richtig sein, aber ein Führerbefehl (so es denn einen solchen gegeben hat) oder die insoweit jedenfalls gelebte Verfassung des nationalsozialistischen Staates seien zumindest in den hier relevanten Teilen wegen eines doch nun evidenten Verstoßes gegen humanitäre Grundsätze unwirksam gewesen - ein Verstoß, der sich gewiß nicht leugnen läßt. Bei der Auseinandersetzung mit diesem Argument sei ausgeklammert, ob es eine überpositive Bindung des positiven Rechts gibt. Von 'der Lösung dieses Problems hängt hier nichts ab. Kraß formuliert: Wie wäre es denn, wenn die Nationalsozialisten die §§ 211 H. des Strafgesetzbuchs (das sind die Tötungsdelikte) durch ein förmliches Gesetz gestrichen und an deren Stelle neue Vorschriften gesetzt hätten, wobei das Grunddelikt, der Totschlag, bei dieser krassen Änderung gelautet hätte: Wer einen Nicht-Juden tötet, wird bestraft, oder, wer einen Arier tötet, wird bestraft? Bei dieser Lage wäre klar, daß die Vorschrift wiederum durch die Ausklammerung der Juden oder Nicht-Arier kraß gegen das elementare Menschenrecht der Ausgeklammerten verstoßen hätte, aber auch die Kraßheit des Verstoßes könnte nichts daran ändern, daß jede Tötung eines Juden oder eines Nicht-Ariers, mag sie auch bei Berücksichtigung überpositiver Grundsätze zu Unrecht geblieben sein, jedenfalls nicht strafbar war, da nunmehr eine Strafvorschrift fehlte. Es mag, wie manche meinen, eine übergesetzliche Festlegung der elementaren Grenzen von Recht und Unrecht geben - aber wer wagt heute zu sagen, eine übergesetzliche Strafbarkeit sei eine sinnvolle Annahme? Die Strafbarkeit ist ein Kind des positiven Rechts und damit auch der jeweils gelebten Verfassung und Praxis eines Staates.

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Gegen die Argumentation ließe sich freilich vorbringen, in der beschriebenen Weise sei nun einmal nicht im Nationalsozialismus verfahren worden; es gehe ja nicht darum, nach einer Streichung der Totschlagsvorschrift Strafbarkeit zu begründen, sondern es solle eine Strafbarkeitseinschränkung, nämlich der Führerbefehl zur Judenvernichtung, für unwirksam erklärt werden, und mit dieser Unwirksamkeitserklärung lebe die alte Strafbarkeit wieder auf. Rechtstechnisch gesprochen: Es gehe nicht um die Erweiterung des Tatbestands, sondern um die Verengung von Rechtfertigungsgründen. Es wäre seltsam, wenn von solchen rechtstechnischen Differenzierungen etwas abhinge. Es hängt auch nichts davon ab. Man verfälscht die Vorschriften eines Staates, wenn man einige herausreißt und den Rest interpretiert, als gehöre das Herausgerissene nicht dazu. Die Rechtsordnung ist ein Kontinuum. Wie es bei einem sonstigen Text, etwa einem Roman, unzulässig ist, einige Sätze oder Absätze herauszustreichen und zu behaupten, das Verbleibende entspreche den Intentionen des Autors, so ist es auch unzulässig, aus einer Normenordnung Stücke aus Gründen, die außerhalb dieser Normenordnung liegen, zu entfernen und dann zu behaupten, was übrig bleibe, sei die Normenordnung nach der faktisch gelebten Verfassung6. Der Sache nach brächte ein solches Vorgehen nichts als die - heute nicht mehr vertretene - Behauptung natürlicher oder naturrechtlicher Strafbarkeit. Es ist geradezu eine Verharmlosung des Nationalsozialismus, wenn man davon ausgeht, es habe damals noch eine Rechtsordnung zum Schutz der Juden und anderer als Regimegegner definierter Personen vor ihrer planmäßigen Vernichtung in Konzentrationslagern und anderswo gegeben, eine Rechtsordnung, die man nur nicht angewandt habe, vielleicht aus Feigheit, viel6 Gerald Grünwald, Die strafrechtliche Bewertung in der DDR begangener Handlungen, in: Strafverteidiger 1991, 5.31 (36); siehe schon dens., Zur Kritik der Lehre vom überpositiven Recht, 1971,5.11; Grünwald argumentiert freilich - anders als es hier geschieht - positivrechtlich ohne Berücksichtigung des jeweiligen Verfassungsverständnisses.

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leicht aus Anpassung, die aber jedenfalls als geltende Rechtsordnung auch in dieser Ära wirklich vorhanden gewesen sei. Die Lage war weit schlimmer: Wer als Gegner des Regimes abgestempelt wurde, verlor nicht nur die Nutzung seiner im Bestand noch vorhandenen Rechte, sondern er verlor diese Rechte ihrem Bestand nach. In rechtsphilosophischer Formulierung heißt das: Wer als Regimegegner definiert wurde, wurde aus dem Anerkennungsverhältnis, ein Gleicher zu sein, ausgeklammert; er wurde unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt. Also geschah nicht nur die Handhabung des Rechts im nationalsozialistischen Geist, sondern schon seine Gestaltung. Die Rechtsprechung und die weit überwiegende Lehre, die sich um diese Fragen nicht einmal gekümmert haben, haben den Kulturverlust, der sich im Nationalsozialismus ereignete, nicht begriffen; sie argumentieren, als hätten die Nationalsozialisten die sittliche Person »Staat" nur falsch gehandhabt. Aber die Nationalsozialisten haben dem wirklichen Staat seine Sittlichkeit genommen! Die den Rechtsstaat kennzeichnende Formierung des Rechts

vor dem staatlichen Handeln gehörte nicht zu den Identitäts-

merkmalen des nationalsozialistischen Staates. Deshalb war die Verfassung dieses Staates dasjenige, was er aus sich machte: Nicht nur konnte das Sollen die Tat erlauben, sondern es konnte auch die - gemessen in den Kategorien des Nationalsozialismus - als geschichtlich notwendig definierte Tat ihr eigenes Gesolltsein erzeugen. Und daß die physische Ausrottung der als Gegner Definierten im Nationalsozialismus als Geschichte prägende Tat unternommen wurde, also, bei aller teilweise bestehenden Heimlichkeit, als - wiederum gemessen in den Kategorien des Nationalsozialismus! - gesollte Tat, wird sich als historisches Faktum so schwer bezweifeln lassen, wie es heute leicht ist, dies als Unvernunft zu erkennen. Aber warum wird hier versucht, das Selbstverständnis der Nationalsozialisten zu rekonstruieren? Weil sich nur so ermitteln läßt, was in ihrem Staat - und es war ihr Staat! - strafbar

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war. Die Gewalttaten, um die es hier geht, waren danach nicht strafbar. Man hätte also das verfassungs rechtliche Rückwirkungsverbot suspendieren müssen, um nationalsozialistische Gewalttäter bestrafen zu können. Damit sollen die Darlegungen zum ersten Versuch einer Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht beendet werden. Man kann den Ausführungen entnehmen, mit welcher Tendenz der zweite Versuch behandelt werden wird. III. Die strafrechtliche "Bewältigung" des "Sozialismus" der DDR 1. Prinzipien des internationalen Strafrechts. Nun wird es bei der neuerlichen Bewältigung der Vergangenheit durch Strafrecht nicht wieder um Rückwirkung gehen. Im Einigungsvertrag ist festgelegt, die Strafbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die bereits vor dem Wirksamwerden des Beitritts entstanden war, bleibe erhalten7 • Es geht also um Anwendung einer Strafgewalt, die von der Bundesrepublik auch beansprucht würde, wenn es nie zur Wiedervereinigung gekommen wäre. Allerdings wären ohne Wiedervereinigung viele der jetzt greifbaren Täter nicht in die Gewalt der Bundesrepublik geraten. Das betrifft aber nicht den Strafanspruch, sondern nur dessen Durchsetzbarkeit.

Welche Strafkompetenz beanspruchte die Bundesrepublik schon vor der Wiedervereinigung? Zunächst soll untersucht werden, ob eine Kompetenz zur Verfolgung von Taten bestand und besteht, durch die fliehende Bürger der DDR an der Grenze getötet wurden. Dabei geht es um die Schützen als Täter, ferner um Mittäter und Teilnehmer bis hin zu den Volkskammerabgeordneten, von denen das einschlägige Gesetz beschlossen wurde, und zur Staats spitze, von der die Handhabung des Gesetzes abhing. 7 § 315 Abs. 4 EGStGB in der Fassung von Anlage I, Kap. IlI, Sachgebiet C, Abschnitt II des Einigungsvertrags.

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Zunächst müssen die Grundzüge des räumlichen Anwendungsbereichs des geltenden Strafrechts skizziert werden. Nach § 3 StGB gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die im Inland begangen werden. Unter Inland wurde zunächst das Staatsgebiet in den Grenzen vom 31.12. 1937 verstanden8• Dies war freilich ein einigermaßen blasses und normativistisches Inlandsverständnis, was sich dann sofort erschließt, wenn man daran denkt, daß die Bundesrepublik in der DDR oder gar in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße nicht für Ordnung sorgen konnte. Wie sollte sie dann die dortigen Bürger dazu bringen können, die Normen der Bundesrepublik bei Strafe zu befolgen? Ein seltsamer Anspruch wurde erhoben: Gestraft werden sollte, ohne daß der Staat seiner fundamentalen Aufgabe, für den Schutz in den Gebieten zu sorgen, nachkommen konnte. Mit diesem Verständnis war es spätestens nach der vorläufigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie im Warschauer Vertrag von 1970 und nach dem Grundlagenvertrag von 1972 zu Ende. Nunmehr erstreckten Rechtsprechung 9 und Lehre überwiegend Inland auf das Bundesgebiet sowie Westberlin und sprachen von einem funktionalen Inlandsbegriff, was heißt, der Begriff war strafrechtsfunktional und präjudizierte völkerrechtlich nichts. Seitdem konnten Taten in der DDR nicht mehr über den § 3 StGB zu einer Strafkompetenz der Bundesrepublik führen. Aber neben dem Territorialitätsprinzip kennt das Strafgesetzbuch ein - freilich signifikant eingeschränktes - Personalitätsprinzip in § 7 StGB; und zwar formuliert es in dieser Vorschrift im ersten Absatz das passive Personalitätsprinzip, meist Schutzprinzip genannt, also das Prinzip des Schutzes für alle Deutschen, wo auch die Tat gegen einen Deutschen begangen werden mag; und daran, daß die Bewohner der DDR Deutsche sind, hat man aus nicht nur verständlichen, sondern, wie der Gang der Geschichte gezeigt hat, sehr guten Gründen nicht H

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Noch BGHSt 27, Sff. BGHSt 30, 1ff.

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gerührt. Dieses Schutzprinzip ist freilich, wie schon angedeutet wurde, signifikant eingeschränkt: Es gilt nur, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist, oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Es stellt sich hier, in § 7 StGB beim Schutzprinzip, also genau dasjenige Problem, das beim ersten Versuch einer Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht im Rückwirkungsverbot steckte: Ist in einem totalitär organisierten Staat so etwas wie ein Niederschießen fliehender Bürger strafbar oder nicht? Bevor eine Antwort versucht wird, muß freilich die Lage des deutschen internationalen Strafrechts noch ein wenig genauer geschildert werden. Der schon erwähnte § 7 Abs. 1 StGB ist erst in jüngster Zeit nennenswert problematisiert worden. Man begann zu zweifeln, ob es wirklich nötig sei, den Bürgern der DDR bei schlechthin allen gegen sie gerichteten Unternehmungen Schutz zu gewähren 1o • In der Tat ist nicht einzusehen, weshalb dies sinnvoll gewesen wäre. Mußte wirklich bei einer Kirmesschlägerei in Leipzig oder bei einem Verkehrsunfall in Dresden das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar angewendet werden? Auch für Taten gegen Deutsche aus der DDR, die sich im Ausland befanden, war die Lösung nicht stets überzeugend. Wieso mußte der Deutsche aus der DDR, der in Schweden von einem Geldwechsler über's Ohr gehauen wurde, den Schutz des Strafrechts der Bundesrepublik genießen? Sinnvoll war hingegen ein Schutz in dem Bereich, in dem es den Deutschen in der DDR oder außerhalb der DDR unmöglich gemacht wurde, sich in den Schutz der Bundesrepublik Deutschland zu begeben oder, wenn sie schon in der Bundesrepublik waren, in diesem Schutz zu bleiben. Darauf beschränkt hatte und hat das Schutzprinzip einen vernünftigen Sinn, und in seiner Beschränkung erfaßt es die Problematik der 10 Albin Eser, in: Schönke I Schröder, Strafgesetzbuch, 24 1991, Rn. 66 vor § 3 und § 7 Rn. 5f.; Valker Krey I Narben Arenz, Schutz von DDR-Bürgern durch das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland?, in: JR 1985, S.399 (406), jeweils mit Nachweisen.

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Schüsse an der Grenze sehr wohl noch; denn dabei geht es ja gerade um Fälle, in denen den Bürgern der DDR der von der Bundesrepublik Deutschland versprochene Schutz verwehrt werden sollte. In § 7 Abs. 2 StGB ist das aktive Personalitätsprinzip positiviert, also das Prinzip der Bestrafung des Deutschen als Täter einer Straftat. Früher als bei § 7 Abs. 1 StGB, also beim Schutzprinzip, wurde bei § 7 Abs. 2 StGB, beim aktiven Personalitätsprinzip, streitig diskutiert, welchen Umfang die Regelung wohl habe. Man erkannte, daß es schlecht angeht, den Bürger der DDR, wo er sich auch befindet, mit Strafe zu bedrohen, wenn er eine Straftat begeht, ihm aber andererseits bei einem Schutz vor Straftaten nicht effektiv helfen zu können. Deshalb wurde beim aktiven Personalitätsprinzip schon lange von einer verbreiteten Meinung argumentiert, der Begriff des Deutschen sei hier eng unter Beschränkung auf diejenigen Personen zu verstehen, die nicht nur die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sondern auch ihre Lebensgrundlage in der Bundesrepublik Deutschland finden l1 • Wie dem auch sei: Selbst bei einer weiteren Auslegung gilt das deutsche Strafrecht beim aktiven Personalitätsprinzip wie schon beim Schutzprinzip nur unter der Bedingung einer identischen Norm am Tatort, und damit stellt sich wieder das Problem, wie Schüsse an der Grenze nach dem Recht des Tatorts zu beurteilen waren. 2. Positivrechtliche Strafbarkeit von Tötungen an der Grenze? War es am Tatort strafbar, Flüchtlinge zu erschießen? Ich beginne also mit der Untersuchung der dritten Bedingung, der Positivität, bei der es dieses Mal nicht um den zeitlichen, sondern um den räumlichen Geltungsbereich geht. Die positivrechtliche Lage in der DDR war folgende 12 : Bis 1982 enthielt die Grenzordnung von 1972 einen Hinweis darauf, der Minister 1I Reinhart Maurach / Heinz Zipf, Strafrecht AT I, 71987, § 11 Rn. 25 mit Nachweisen. 12 Georg Brunner, Neue Grenzregelungen der DDR, in: NJW 1982, S.2479ff.

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für die nationale Verteidigung werde eine Regelung erlassen. Dieser Erlaß, ein Teil der NV A-Dienstvorschrift, ist das, was üblich erweise »Schießbefehl" heißt; er ist, so darf vermutet werden, wohl nicht ohne Zustimmung der Parteileitung und der Regierung formuliert worden. Ab 1982 galt das Grenzgesetz, in dessen § 27 sich nunmehr eine gesetzliche Regelung fand; die Regelung erlaubte es nach ihrem Wortlaut - bei möglichst weitgehender Schonung des Lebens und unter weiteren Kautelen -, auf Personen zu schießen, die sich der Festnahme wegen eines Verbrechens entziehen wollten oder dabei waren, ein Verbrechen zu verüben. - Die hier einschlägige Straftat war der ungesetzliche Grenzübertritt nach §213 StGB DDR, soweit es sich nicht um einen eher leichten Fall handelte (§ 213 Abs.2 i.V.m. § 1 Abs. 3 StGB DDR). Es darf auch hier vermutet werden, daß die Grenzsoldaten in die Handhabung der Vorschriften eingewiesen wurden, und zwar nicht gemäß ihrer objektiven Interpretation westlicher Provenienz, sondern in das, was die Parteileitung und die Regierung sich von der Vorschrift versprachen 13. Man mag jetzt erneut behaupten, die Beschränkung der Freizügigkeit durch einen Schießbefehl oder durch das Grenzgesetz sei ein Verstoß gegen überpositives Recht gewesen. üb es überhaupt so etwas gibt, wie ein überpositives Recht auf Freizügigkeit, ist gewiß noch viel problematischer als die Frage nach dem überpositiven Recht auf Leben. Aber wiederum kommt es auf die Beantwortung der Frage nicht an, denn ein überpositives Recht auf Freizügigkeit würde die Beschränkung der Freizügigkeit zwar zum Unrecht stempeln, könnte aber trotzdem - ganz parallel zur geschilderten Rechtslage bei den nationalsozialistischen Gewalttaten - das Faktum der fehlenden Strafbarkeit der Todesschützen und ihrer Anstifter nicht in sein Gegenteil verkehren 14 • Der Staat mit dem Namen DDR war Insoweit zutreffend KG, NJW 1991, S. 2653 (2654f.). Grünwald, a.a.O. (Fn.6). - Signifikant falsch zuletzt KG, NJW 1991, S.2653 (2654): " ... im Tatortrecht vorgesehene StraffreisteIlungen, die im kras13

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nun einmal so organisiert, daß ein Recht auf Freizügigkeit in ihm nicht vorkam und daß die Überwältigung oder gar Tötung derjenigen, die sich freizügig verhalten wollten und dabei erwischt wurden, Wirklichkeit war, wenn auch eine grausame Wirklichkeit. Von einer Strafbarkeit eines solchen Geschehens könnte also wieder nur bei einem einigermaßen blutleer anmutenden, normativistischen Ansatzpunkt die Rede sein. Ich erspare mir Wiederholungen und verweise auch hier darauf, daß die Annahme von Strafbarkeit wohl eine Verharmlosung des Systems der ehemaligen DDR darstellt: Auch der »Sozialismus" war nicht nur eine Methode zur Handhabung von Recht, sondern er gestaltete auch Recht, und zwar auf seine Art, nicht auf die Art der Staaten in bürgerlichen Gesellschaften. Der Flüchtling wurde nicht in falscher Handhabung der am Tatort geltenden Rechtsordnung erschossen, sondern die geltende Rechtsordnung selbst stellte ihn rechtlos. Diese Menschenrechtsverletzung durch Pervertierung des Rechts selbst, nicht erst durch seine falsche Handhabung, wird geradezu vertuscht, wenn man annimmt, die Taten seien am Tatort mit Strafe bedroht gewesen. Der Kulturverlust war eben noch viel schlimmer. Freilich hat sich die DDR nach außen so dargestellt, als sei sie ein Staat, in dem die Kultur der Menschenrechte gedeihen könnte. Hielte man die DDR an dieser Selbstdarstellung fest, so geschähe dieser kein Unrecht. Aber es geht nicht um die Vermeidung von Unrecht gegenüber der ehemaligen DDR, sondern um rechtsstaatliche Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland. Das deutsche Strafrecht folgt streng positivrechtlichen Bahnen, und zwar nicht, um den Positivismus, sondern um den Rechtsstaat triumphieren zu lassen: Strafe darf nicht schon verhängt werden, wenn sie sich gut begründen läßt, sondern nur, wenn sie zudem vor der Tat durch geschriebenes, sen Widerspruch zu allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen stehen", sollen "eine Bestrafung schwerster Rechtsgutsverletzungen .. , nach deutschem Recht nicht hindern können", Also kennt das Tatortrecht keine Strafeaber § 7 StGB set7.! Strafbarkeit am Tatort voraus und begnügt sich nicht mit dem bloßen Postulat einer Strafbarkeit am Tatort!

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genau formuliertes Recht, eben positivrechtlich angedroht wurde. Diese Androhung mit der Adressierung in § 7 Abs. 1 StGB stellt nicht auf die Selbstdarstellung des Tatortstaates ab, sondern auf die dort bestehende Strafdrohung. Das ist auch nicht etwa beklagenswert, sondern sinnvoll. Nachdem die These preisgegeben werden mußte, Taten in der ehemaligen DDR würden im Inland (§3 StGB) begangen, wäre die Erstrekkung auf das dortige Gebiet ohne Blick auf die Strafbarkeit am Tatort ein (zumindest) befremdlicher Strafrechts imperialismus gewesen. Daß man teilweise gemeint haben mag, entgegen dem Gesetzeswortlaut diesen Strafrechtsimperialismus spielen zu dürfen, als noch nichts oder nicht viel davon abhing, ist kein Grund, ihn jetzt, wo es ernst wird, weiterhin als lex lata auszugeben; er ist nicht lex lata. 3. Konsequenzen für ein Widerstandsrecht von DDR-Bürgern. Freilich ist an dieser Stelle auf ein Problem einzugehen, das beim Vergleichsfall nationalsozialistischer Gewalttaten nicht behandelt wurde: Hat denn die skizzierte Lösung nicht zur Folge, daß der Flüchtling aus der DDR, der sein Recht zur Freizügigkeit mit Schüssen auf einen Grenzsoldaten der DDR erzwang, in der Bundesrepublik wegen Körperverletzung oder wegen Tötung bestraft werden müßte? Nun sollte evident sein, daß die Rechtswidrigkeit einer Flucht, gemessen an der Ordnung der DDR, die Bundesrepublik Deutschland nicht bindet. Wenn in der DDR Republikflucht ein Unrecht war, so war die Bundesrepublik nicht gehindert, dasselbe Verhalten ihrerseits als das angemessene Verhalten eines freiheitsbewußten Bürgers zu beurteilen. Gegen diese Lösung spricht auch nicht das verbreitet behauptete Fehlen eines völkerrechtlich allgemein anerkannten Auswanderungsrechts; sollte ein solches Recht fehlen, ist die Bundesrepublik trotzdem nicht gehindert, ihrerseits dieses Recht anzuerkennen; denn es gibt keinen Satz des Inhaltes, ein Staat dürfe nur völkerrechtlich anerkannte Positionen schützen. Also ergeben sich aus der Rechtslage der DDR für die Bundesrepublik keine Bindungen.

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Daraus folgt nun freilich nicht, jedermann habe jederzeit das Recht gehabt, unter Verletzung und Tötung von Grenzsoldaten in die Bundesrepublik zu fliehen. Viele Staaten schließen ihre Grenzen zu einem Nachbarn, ohne daß dies rechtswidrig sein müßte, und alle Staaten schließen ihre Grenzen für bestimmte Personen, beispielsweise für fliehende Straftäter. Wenn also ein Bürger der DDR dort eine Tat beging, die auch nach dem Verständnis der Bundesrepublik eine Straftat war, so war die Beschränkung seiner Freizügigkeit auch nach der Ordnung der Bundesrepublik legitim, und diesem Bürger kann gegen Grenzsoldaten kein Notwehrrecht zugestanden werden. Ihm gegenüber haben Grenzsoldaten, auch gemessen an der Ordnung der Bundesrepublik, recht gehandelt. Anders verhält es sich bei Bürgern, die ohne einen nach materiell rechtsstaatlichen Normen akzeptablen Grund in ihrer Freizügigkeit behindert worden sind und die deshalb ihr Recht gewaltsam reklamiert haben. Wie weit in einem solchen Fall die Notrechte des Bürgers gegen Grenzsoldaten reichten, ist anläßlich eines Falles 15 (Fall Weinhold) intensiv diskutiert worden, aber ohne daß sich ein klares Ergebnis gebildet hätte. Zur Lösung dürfte zu berücksichtigen sein, daß auch zahlreiche Grenzsoldaten ihrerseits keine Chance hatten, für ein freiheitlicheres System zu optieren. Zumindest ein Teil der Soldaten war also in einer vergleichbar bedrängten Lage wie die Flüchtlinge. Deshalb wäre die volle Anwendung des schneidigen Notwehrrechts gegenüber solchen Soldaten wohl unangebracht gewesen. 4. Weitere Taten. Was bislang zur Rechtslage bei Tötungen an der Grenze ausgeführt wurde, gilt ebenso für die - insoweit vergleichbaren - Fälle der Bespitzelung der Bürger der DDR, wobei, sonst läßt sich so etwas überhaupt nicht durchführen, wiederum Bürger der DDR Zuträger für die zuständigen Staatsinstanzen waren. Als Taten kommen täterschaftliche Beleidungen, Nötigungen, Freiheitsberaubungen, Verletzungen des perJ5 OLG Hamm, JZ 1976, S.610ff.; BGH, NJW 1978, S.I13ff.; weitere Nachweise bei Jakobs (Fn. 5), 5/30.

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sönlichen Geheimnisbereichs u.a.m. in Betracht, ferner Beteiligungen an solchen Taten. Wie immer sich ein solches Spitzelsystem zur geschriebenen Rechtsordnung der DDR verhalten haben mag, nach der gelebten Rechtsordnung der DDR war es nicht nur nicht strafbar, in diesem Apparat mitzuwirken, sondern, wenn die bisherigen Berichte nicht trügen, war dieser Apparat geradezu das Nervensystem dieses Staates. Die Behauptung, die Handlungen seien in der DDR strafbar gewesen, würde also darauf hinauslaufen, die DDR habe sich selbst lähmen müssen. Dieses argumentum ad absurdum genügt wohl. Spitzel machen sich in der Hölle nicht strafbar, sonst wäre es gewiß nicht die Hölle. Die dritte Bedingung, Positivität, fehlt also. Obwohl damit eine negative Antwort auf die Frage nach der Strafbarkeit feststeht, sei noch geprüft, wie es mit den ersten zwei Bedingungen steht. 5. Zurechenbarkeit zu den Grenzsoldaten. Zur ersten Bedingung, also zur Zurechenbarkeit: Waren die Täter ein zumindest nennenswerter Grund des Konflikts? Die Antwort steckt schon in der soeben erarbeiteten These von der Straffreiheit der Taten am Tatort: Wenn die Politik das Recht so pervertiert hat, daß die Tötung eines Menschen, der nichts als seine Freizügigkeit will, nicht nur erlaubt ist, sondern sogar geboten wird, dann ist der Täter, der die Tötung ausführt, eben das Produkt dieser pervertierten Ordnung, ein Glied in der Genese des Konflikts, nicht aber deren Grund. Grund ist die elende Politik; das wird verschleiert und der Konflikt wird aus der politischen Dimension ins Individuelle geschoben, wenn der einzelne Täter als ein nennenswerter Grund definiert wird. 6. Zurechenbarkeit zu der Staatsleitung: Recht und Politik. Das gilt für den Schützen an der Grenze. Aber was gilt für die Initiatoren der Politik, die diese entwarfen, in positivrechtliche Formen faßten und durchsetzten? Diese Personen sind die maßgeblichen Gründe dieser Politik und lassen sich nicht als Nebenpersonen beiseiteschieben. Aber sie sind nicht nur ver-

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ein zelt aus gesicherten Positionen ausgebrochen, haben nicht eine gesicherte politische Kultur pervertiert, sondern sie haben eine Politik versucht, die es immerhin schaffte, von großen Teilen der Welt als politische Kraft und nicht als kriminelle Kraft verstanden zu werden. Und ganze Bibliotheken künden davon, der kommunistische Ostblock habe etwas mit der Zukunftshoffnung der Menschen zu tun. Gewiß, die meisten Autoren verstanden diese Regimes als durchaus verkrüppelte Kinder der Hoffnung, aber eben doch als deren Kinder. Wenn bei dieser Lage auf die Bestrafung der Politiker gedrungen würde, so beanspruchte die Bundesrepublik damit implizit, ihr Strafgesetzbuch sei schon immer die Grenze jeglicher Politik gewesen. Aber die naturrechtliche Lehre, das Recht bestimme den Rahmen der Politik, ist zu Zeiten der Geltung positiven Rechts eine durch nichts begründete Annahme. Freilich stellt sich die Lage anders dar, wenn man aus der Perspektive einer globalen Menschenrechtsordnung her urteilt. Von einer solchen Ordnung aus gesehen waren der Schießbefehl und das Grenzgesetz in ihrem Kontext nicht Politik, sondern Kriminalität. Aber auch wer hofft, die Geschichte werde eine solche Menschenrechtsordnung hervorbringen, muß einräumen, daß sie dann auch einer adäquaten Gerichtsbarkeit bedürfen wird. Jedenfalls ist und war die Bundesrepublik Deutschland nicht berufen, ihre eigenen Vorstellungen per Strafrecht durchzusetzen, und sie hat das, wie sich am Erfordernis der Strafbarkeit am Tatort zeigt, auch nicht unternommen. Mit der Beschränkung des Schutzprinzips und auch des aktiven Personalitätsprinzips auf Fälle, in denen am Tatort eine identische Norm gilt, hat sie vielmehr anerkannt, daß die ändernde Einwirkung eines Staats auf die Ordnung eines anderen Staats keine Aufgabe des Strafrechts ist - das Strafrecht greift nur ein, wenn gerade nichts zu ändern ist, nämlich bei einer schon vorhandenen identischen Norm -, sondern eine Aufgabe der Außenpolitik. Und wenn sich das Problem durch die Wiedervereinigung erledigt hat, so handelt es sich um den Sieg der Politik, an dem

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das Strafrecht schlechthin überhaupt keinen Anteil hat: Niemand hat der DDR wegen irgendwelcher Strafrechtsnormen der Bundesrepublik den Gehorsam aufgekündigt. 7. Erforderlichkeit von Strafe? Somit fehlen von den drei kumulativ notwendigen Bedingungen schon - in der obigen Zählung - die Nummern drei (Positivität) und eins (Zurechenbarkeit). Wie verhält es sich mit der verbleibenden Nummer zwei, also mit der Erforderlichkeit? Ist also die Strafe notwendig, um Normgeltung wieder herzustellen? Dabei geht es, wie soeben festgestellt wurde, nicht um die allgemeine Geltung der Menschenrechte, sondern es geht um die Geltung des Tötungsverbots zum Schutz deutscher Bürger. Für die so formulierte Frage liegt die Antwort auf der Hand: Durch die Wiedervereinigung wurde das Problem kognitiv so restlos erledigt, daß normativ nichts mehr zu tun bleibt, jedenfalls nicht gerade dringlich; denn nach der Wiedervereinigung sind vergleichbare Fälle, also solche, für die das Geschehene irgendwie vorbildhaft wirken könnte, nicht mehr möglich. Eine vergleichbare Situation, in der man mit vergleichbaren Motiven vergleichbare Opfer tötet, kommt im Geltungsbereich des deutschen Strafrechts nicht mehr vor; damit laufen alle Präventionen des Rechts leer.

Das Ergebnis - die Taten waren am Tatort nicht strafbar; der Grund der Taten läßt sich besser als falsche Politik denn als Kriminalität verstehen, und es fand schon eine hinreichende kognitive Lagebereinigung statt - dieses Ergebnis wird die noch lebenden Opfer und die Angehörigen der Toten wenig befriedigen. Dabei geht es nicht nur um die Schüsse an der Grenze. Es geht auch um den millionen- und abermillionenfachen Raub von Entfaltungschancen, den die Verwalter der Staatsideologie mit offener Gewalt oder mit sich in die Köpfe einschleichender Gewalt vorgenommen haben. Muß das alles ohne Strafe bleiben? Es müßte, von den Opfern aus gesehen, nicht. Wieso soll sich ein Opfer um die Strafbarkeit am Tatort scheren? Wieso soll ein Opfer unterdrückende Politik nicht als Kriminalität ver-

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stehen dürfen? Und wieso soll nicht ein Opfer durch Bestrafung der Täter demonstrieren, wie ernst sein Verlangen ist, anerkannt zu werden? Beim Opfer ist die Lage offenbar eine besondere: Es kennt nicht die Bindungen des formellen Rechtsstaats, es muß nicht als Politik akzeptieren, worunter es leidet, und wenn es straft, wo es zum Ordnungs erhalt nicht mehr nötig ist, also aus Rache, so ist mit ihm darüber nur schwer zu rechten. Aber die Bürger der DDR waren nicht nur Opfer - die Lage ist anders als diejenige der Juden, als sie Eichmann fingen. Weiteres kommt hinzu: Das Opfer, das seinen Bedrücker einsperrt oder tötet, jedenfalls aus seinem Gesichtskreis entfernt, protestiert damit gegen die Diminuierung seiner Person; es übt Rache. Der Staat übt nicht Rache, er reagiert auch nicht allein auf den Schaden seiner Opfer. Der Staat reagiert vielmehr auf den Schaden am Allgemeinen, auf den Rechtsbruch, und zwar frei von dem Affekt, in dem das Opfer sich als Opfer gegen den Bedrücker wendet.

IV. Fortsetzung: Besonderheiten bei Staatsschutzdelikten 1. Straffreiheit durch Beitritt? Ein besonderer Bereich von Straftaten soll noch geprüft werden: Unter anderem für Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94 bis 100a StGB) gilt das deutsche Strafrecht auch dann, wenn am Tatort eine identische Norm fehlt (§ 5 Nr.4 StGB). Der Grund für diese erweiterte Geltung liegt auf der Hand: Den Schutz solcher Güter übernimmt ein anderer Staat um so weniger, je mehr er es darauf anlegt, die Güter zu zerstören. Also schützt sich insoweit jeder Staat umfassend selbst. Deshalb gilt für Taten der genannten Art, auch wenn sie von Tätern in der DDR begangen wurden, das Strafrecht der Bundesrepublik; nach der Wiedervereinigung kommt hinzu, was man sich zuvor kaum träumen ließ: Neben einem Recht auf Strafe hat man jetzt auch die Täter in der Gewalt. Aber ist ihre Bestrafung noch sinnvoll?

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Die geschilderte Rechtslage ist allerdings streitig, und zwar wird dagegen zweierlei behauptet. Erstens soll der Beitritt die Taten zu Inlandstaten gewandelt haben, und zwar mit der Folge, daß auf die Straffreiheit in der ehemaligen DDR nicht ohne Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot eine Strafbarkeit nach dem Recht des vereinigten Deutschland folgen könne l6 • Zweitens wird argumentiert, durch den Beitritt sei die Rechtslage immerhin widersprüchlich geworden; denn neben den Strafanspruch der alten Bundesrepublik sei nunmehr die Straffreiheit nach dem Recht der ehemaligen DDR getreten l7 • Beide Argumentationen beruhen auf demselben Fehler, nämlich auf einer zu undifferenzierten Vorstellung vom Beitritt der DDR. Die DDR ist - vorbehaltlich von Sonderbestimmungen im Einigungsvertrag - nicht unter Einschluß derjenigen Rechtspositionen beigetreten, die dem Recht der Bundesrepublik widersprachen, sondern insoweit hat sie sich zwingend aufgelöst. Konkret heißt das: Ihre Straffreiheit für Täter von Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit konnte sie nicht einbringen, da für diese Straffreiheit neben dem Strafanspruch der Bundes~ republik kein Platz war. Der ganze Umfang des Mißverständnisses wird deutlich, wenn in der Literatur auf das »Gedankenexperiment" verwiesen wird, etwa ein übernommener Richter in Dresden müsse sich bei Anwendung der Staatsschutzvorschriften gegen einen Bürger der DDR sagen: »Bei uns war das doch nicht strafbar!"18. Wer ist hier, so darf man wohl fragen, »uns"? Offenbar die alte DDR; aber diese ist insoweit rechtlich nicht mehr vorhanden, mag sie auch noch in der Erinnerung eines Richters vorkommen. Versteht man aber unter »uns" das16 Erich Samson, Die strafrechtliche Behandlung von DDR-Alttaten nach der Einigung Deutschlands, in: NJW 1991, S. 335ff.; ders., in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (Loseblatt), 5. Auflage, Stand April 1991, Rn.48 vor § 3. Gunter Widmaier, Verfassungswidrige Strafverfolgung der DDRSpione: Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG, in: NJW 1991, S.2460 (2462); Claus Arndt, Das Grundgesetz und die Strafverfolgung von Angehörigen der Hauptverwaltung Aufklärung, in: NJW 1991, S. 2466 H. 17 Claus Dieter Classen, Anmerkung, in: JZ 1991, S. 717 (718). IS Widmaier (Fn. 16), a.a.O.

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jenige, was ein sächsischer Richter pflichtgemäß heute darunter zu verstehen hat, nämlich die - durch den Beitritt vergrößerteBundesrepublik Deutschland, dann reicht ein Blick auf § 5 Nr. 4 StGB, um feststellen zu können, daß bei uns zur Tatzeit solche Taten unabhängig vom Tatort sehr wohl strafbar waren. Der Einigungsvertrag bringt insoweit nur eine Klarstellung 19 • Die Strafbarkeit scheitert auch nicht etwa am Gleichheitssatz, weil nunmehr die Agenten der ehemaligen DDR schlechter stehen als diejenigen der alten Bundesrepublik Deutschland20 (die ihrerseits besser stehen als je zuvor). Diese Kluft ist offenbar, aber das heißt nicht, sie sei der Bundesrepublik Deutschland als Verletzung des Gleichheitssatzes zuzurechnen. Vielmehr folgt sie aus dem Faktum, daß die ehemalige DDR zum Schutz ihrer eigenen und zur Verfolgung fremder Agenten unfähig geworden ist. Wenn bei einem Kampf nur ein Kontrahent seine Macht verliert (oder auch: preisgibt) wird der Kampf immer ungleich. Aber diese Ungleichheit ist dem Unterlegenen als seine Schwäche zuzurechnen, nicht dem Gewinnenden als Verletzung des Gleichheitssatzes. - Die Entscheidung fällt auf einem anderen Terrain: 2. Erforderlichkeit von Strafe? Dazu in aller Kürze: Was Beteiligte betrifft, die den Schutz der Bundesrepublik Deutschland beansprucht haben, also insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland lebende Deutsche, hat sich durch die Wiedervereinigung nichts geändert. Diese internen Täter haben das Synallagma für den Schutz nicht geleistet, nämlich Respekt vor dem Staat, der sie schützt; und es ist so lange sinnvoll, die Akzeptation der Verpflichtung zu einer solchen synallagmatiJ9 Siehe § 315 Abs.4 EGStGB in der oben (Fn. 7) angegebenen Fassung; im Ergebnis ebenso BGH, NJW 1991, S.229ff.; BGH, NStZ 1991, S.429f.; Bruno Simma / Klaus Volk, Der Spion, der in die Kälte kam, in: NJW 1991, S.871 (873ff.). 10 A. A. Gunter Widmaier, Strafbarkeit der DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik - auch noch nach der Wiedervereinigung?, in: NJW 1990, S.3169 (3171 f.); KG, NJW 1991, S. 2502ff.; gegen das KG Dieter Wilke, Das Kammergericht im Irrgarten des Ostwestrechts, in: NJW 1991, S.2465f.

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schen Leistung durch Strafe zu fördern, wie es überhaupt noch Staaten gibt, die Deutschland zumindest bereichsweise feindlich gegenüberstehen. Anders verhält es sich bei Beteiligten, die nicht in den Genuß der Vorteile der Bundesrepublik Deutschland gekommen sind: Ihnen gegenüber war und ist die Drohung des deutschen Strafrechts keine Mahnung an gut begründete, zu akzeptierende Pflichten, sondern die Ankündigung von schlichtem Zwang; denn denjenigen, der sich, ohne sich widersprüchlich zu verhalten, als Feind eines Staates definiert, treffen keine Pflichten dieses Staats, die er akzeptieren müßte. Er mag abgeschreckt oder sonst gezwungen werden, kann aber nicht in einem schlüssigen Begründungsgang widerlegt werden. Die Erstreckung des Strafrechts auf Externe ist eine Kriminalisierung des Feindes, die zum Überleben notwendig sein mag - aber für den Feind mag wiederum die Tatbegehung zum Überleben notwendig sein. Mit anderen Worten, als Strafzweck für externe Täter bleibt nur schiere Abschreckung, und damit bleibt zu prüfen, wer und wovor denn jetzt noch abgeschreckt werden soll. Strafen sind zur Abschreckung wertlos, wenn nicht die Wahrscheinlichkeit hinzukommt, daß die abzuschreckenden Täter auch erwischt werden. Die Ergreifung weist hier aber eine Besonderheit auf: Sie geschah durch den Beitritt des Auftraggeberlandes des Agenten zum Land des Feindes. Das wird sich in Deutschland nicht wiederholen, so daß sich auch kein Agent eines anderen Landes in einer vergleichbaren Situation sehen wird. Und daß es bei den mittlerweile internalisierten Externen nichts mehr abzuschrecken gibt, liegt auf der Hand. So spricht alles dafür, den Strafanspruch gegen Externe nicht zu gebrauchen. Es bleiben einige Probleme, insbesondere bleibt die Bestimmung zu leisten, wer genau Externer ist. Diese Einzelheiten sollen hier dahinstehen.

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v.

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Bewältigung des Totalitarismus

1. Unzulänglichkeit der StraJtatbestände. Unterstellt, das

Erfordernis der identischen Norm am Tatort könnte rückwirkend beseitigt werden und die Tötungen an der Grenze und sonstige Taten würden geahndet: Was wäre erreicht? Ungeahndet bliebe die vierzigjährige Knechtschaft, die Entmündigung großer Teile der Bevölkerung, die Indoktrination von Kindesbeinen an und die Formung von Menschen zu willfährigen Dienern, ungeahndet bliebe dieser - hier nicht annähernd vollständig beschriebene - Raub von Lebenschancen, diese Vergewaltigung und Korrumpierung der eigenen Staatsbürger, und zwar stets in vielen Millionen Fällen begangen. Daß sich so etwas, auch ganz abgesehen von bestehenden rechts staatlichen Bindungen, nicht justiziell aufarbeiten läßt, zumal nicht bei den teilweise unentwirrbaren Verschlingungen von Tätern und Opfern, liegt auf der Hand; selbst der Nürnberger Gerichtshof war in seinen Ansprüchen bedeutend bescheidener. Werden bei dieser Lage diejenigen Taten herausgegriffen, für die sich ein Straftatbestand finden läßt, Tötungen vorweg, so wird ein Gesamtbild arrangiert, bei dem dort dann auch der Schwerpunkt der Perversion zu liegen scheint. Ohne Tötungen an der Grenze - aber vielleicht mit noch schwerer zu überwindenden Mauern - und mit einem deliktische Mittel meidenden - aber vielleicht dafür noch raffinierter vorgehenden - Staatssicherheitsapparat wäre also der Staat der DDR in der Hauptsache in Ordnung gewesen? Offenbar nicht! Solche Taten, so schlimm sie sind, bilden nur eine ersetzbare Facette des Totalitarismus, den man deshalb auch nicht allein in dieser Facette bekämpfen kann, sondern nur insgesamt. Beispielhaft gesprochen, wenn - schlimmer noch als beim Stall des Augias - ein Gebäude so verseucht ist, daß es zugemauert werden muß, hat es keinen Sinn mehr, die Fenster zu putzen. Wer freilich beim Zumauern nicht dabei war, mag sein Interesse an Hygiene später durch Fensterputzen demonstrieren.

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2. Revolution durch Bestrafung? Ein Volk, das einen politischen Umbruch selbst gestaltet hat, bedarf keiner Gerichtsverfahren zur Identitätsbildung, wohl aber eines, das in einen Umbruch gestoßen wurde 21 • Letzteres dürfte einer der Gründe für die Verfahren gegen nationalsozialistische Gewalttäter sein: Eine Revolution gegen Hitler hatten die Deutschen nicht geschafft; so wurde denn das vor 1945 unterbliebene Erschlagen der großen Tyrannen dadurch nachgeholt, daß man einige Helfer, die physisch überlebt hatten, justizförmig aburteilte. Die Revolution wurde - im zivilisierten, justizförmigen Verfahrenim Gerichtssaal betrieben; jedes Urteil beschwor den anfangs noch brüchigen Konsens, man habe schon immer für das endgültige Zumauern des Stalls optiert. Als Vergeltung verbrämt wurde demonstriert, das deutsche Volk, in dessen Namen die Urteile ergingen, habe insgesamt doch richtig gelegen, sei ein Volk von Opfern gewesen. Es war vorgeblich nicht das Volk, das versagt hatte, sondern es waren eben Kriminelle, die Unheil anrichteten. Das heißt bei Übertragung auf die gegenwärtige Lage: Bei der Entscheidung, ob der Wiedervereinigung eine Revolution voranging oder schlicht ein materieller und ideeller Staats bankrott, spricht ein fortdauerndes Bedürfnis nach Strafverfahren für den Staats bankrott. Man sucht dann eine Abgrenzung, die offenbar noch nicht selbstverständlich ist. Wenn es aber gelingt, die Abgrenzung als selbstverständlich zu begreifen, dann begreift man zugleich, wie trostlos schlecht dieser Staat "DDR" zu seinen Bürgern paßte. Im Verzicht auf Strafverfahren läge die Aussage, dieser Staat werde als politisch schlechthin indiskutabel, als überwunden begriffen. Damit wäre diese Vergangenheit bewältigt.

!I Dazu wie zum Voranstehenden eindringlich Friedrich Dencker, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht?, in: Kritische Vierteljahresschrift für (;",,·t/~~bung und Rechtswissenschaft, 1990, S. 298 ff.

Aufbau des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern Recht und Realität Von Ulrich Battis, Hagen Das Thema verspricht viel. Aufbau des öffentlichen Dienstes, nicht etwa nur Reorganisation oder Reform. Nicht nur vom Recht, auch von der Realität soll die Rede sein. Im ersten Teil werde ich mich mit dem Recht beschäftigen, also primär mit den Vorgaben des Einigungsvertrages und den diese Vorgaben ausfüllenden Normen. Der zweite Teil soll die Realität, also die Umsetzung der normativen Vorgaben ansprechen. Im Schluß teil sollen kurz Rückwirkungen der Umsetzungsschwierigkeiten auf künftige Normen in den neuen, aber auch den alten Ländern prognostiziert werden. Zunächst zwei Vorbemerkungen: 1. Der Aufbau des öffentlichen Dienstes in den neuen Ländern ist keine randständige Routineaufgabe, sondern Schlüsselelement im Prozeß der tatsächlichen Einigung Deutschlands, eines Prozesses, der dem formalen Akt der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nachfolgen,! und damit einer gelegentlich schon befürchteten "Wiederverfeindung" zuvorkommen muß. Der Verlauf der bisherigen Entwicklung in den neuen Ländern beweist, daß eine rechtsstaatliche öffentliche Verwaltung Vor1 Siehe Joachim Jens Hesse, Der Aufbau der Landesverwaltungen: Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten, in: Rainer Pitschas (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung und Verwaltungsreform in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 42ff.

5 hensee (Hg.)

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aussetzung für die Funktionsfähigkeit einer sozialen Marktwirtschaft ist. 2. Geboten ist der Neubau, nicht der Umbau eines rechtsstaatlichen, föderalistisch gegliederten öffentlichen Dienstes. Eine bloße Reorganisation des sozialistischen Staatsapparates ist ausgeschlossen. Es besteht ein Aliudverhältnis zwischen rechtsstaatlichem, föderalistischem öffentlichen Dienst und sozialistischer Kaderverwaltung, bestehend aus Staatsfunktionären, deren wichtigste Eignungsvoraussetzung Treue zur Partei der Arbeiterklasse war, geführt von einer Nomenklatura, die in Personalunion hohe Partei- und Staatsämter innehatte. Tragendes Prinzip der Verwaltungsorganisation und der Entscheidungsprozesse in der DDR war der demokratische Zentralismus, der entsprechend dem leninistischen Prinzip der Parteiorganisation die Einheit der Staatsmacht durch Transmission des Willens der SED gewährleistete. Statt rechtsstaatlicher horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung galt der Grundsatz der Gewalteneinheit. Zugespitzt: "Die Partei regiert den Staat."2

Nicht nur hinsichtlich des Personals, der Aufbau- und der Ablauforganisation, auch hinsichtlich der Staatsaufgaben, besteht ein Aliudverhältnis. Aufgabe des Staatsapparates war die planmäßige Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung im Maßstab der gesamten Gesellschaft und aller ihrer Teile.) Staatliche Leitung hatte sowohl hinsichtlich der Leitungsobjekte wie der Leitungssubjekte umfassenden Charakter, der durch die Formel von der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" benannt wurde. In der zentr;dst:t:ttlichen, die gesamte Volks2 Siehe Dol! Stemberger, »Des Deutschen Vaterland", wieder abgedruckt in: FAZ vom 27.7.1990, S.29; zum Ganzen Klaus König, Zur Transformation einer realsozialistischen Verwaltung in eine klassische europäische Verwaltung, 1991; ders., Verwaltung im Übergang. Vom zentralen Verwaltungsstaat in die dezentrale Demokratie, in: DÖV 1991, S.I77; ders., Verwaltungsstrukturen der DDR, 1991. ) So Michael Benjamin, Jahrbuch für Verwaltungswissenschaften, 1988, S. 355 H.

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wirtschaft organisierenden, dem demokratischen Zentralismus verpflichteten Planwirtschaft bestehen zwischen den zentralen Leitungsorganen des Staatsapparates und den ihnen unterstellten Organen - Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen Beziehungen, die ebenfalls substantiell öffentliche Verwaltung darstellen, und das nicht nur im Bereich der Daseinsvorsorge, z. B. Betriebskindergärten, Polikliniken, Wasserwirtschaft. Trotz hoher Staatsquote ist der Unterschied zu den Aufgaben einer der sozialen Marktwirtschaft komplementären öffentlichen Verwaltung nicht nur ein gradueller, sondern ein prinzipieller. Gleiches ließe sich angesichts des ausgeprägten Sendungsbewußtseins des Sozialismus auch für die kulturellen und erzieherischen Staatsfunktionen ausführen. Darauf kann an dieser Stelle ebensowenig eingegangen werden wie auf die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben vornehmlich im sozialen Bereich durch die Massenorganisationen, insbesondere den FDGB. Das 1990 vorgefundene Aliudverhältnis hinsichtlich Aufgaben, Organisation und Personal zwischen dem sozialistischen Staatsapparat und der rechts staatlichen, horizontal und vertikal gewaltengeteilten, der sozialen Marktwirtschaft komplementären öffentlichen Verwaltung ist unvergleichbar mit der Situation von 1945. Damals konnten die West-Alliierten den Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit mit einer strukturell unveränderten kommunalen Selbstverwaltung beginnen. Diesmal müssen die Hauptträger der Verwaltungsarbeit in Deutschland, die kommunalen Einrichtungen, erst geschaffen werden. 4

• Dazu Oliver Scheytt, Verwaltungshilfe für die Kommunen in den neucn Ländern der Bundesrepublik Deutschland, in: AfK 1991, 5.3ff.; s.a. Walfgang Bemet / Helmut Lecheier, Die DDR-Verwaltung im Umbau, 1990; dazu und zum folgenden jetzt auch Helmuth Schulze-Fielitz, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit, in: DVBI. 1991, 5.893 (896ff.). 5"

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I.

1. Der zweite wesentliche Unterschied zur Situation im Jahre 1945 führt uns zum Kernstück des ersten Teils meines Referates. 1945 war Basis des Neubeginns die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches gegenüber den alliierten Siegermächten, die die Regierungsgewalt übernahmen. Basis des Aufbaus des öffentlichen Dienstes in den neuen Ländern sind zwei Verträge zwischen zwei Staaten: der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und der Einigungsvertrag. Beide Verträge verpflichten heide Vertragsteile. Der Einigungsvertrag bleibt gemäß Art. 45 Abs.2 "nach Wirksamwerden des Beitritts als Bundesrecht geltendes Recht" . Seine Einhaltung können nicht ~ur Einzelpersonen einklagen, wie z. B. hinsichtlich der Abwicklung geschehen, sondern Rechte aus dem Einigungsvertrag zugunsten der DDR oder der neuen Länder können nach Wirksamwerden des Beitritts von jedem der neuen Länder geltend gemacht werden (Art. 44 EV). Zugespitzt: Statt alliierter Befehlsgewalt bei strukturell gleichartiger Verwaltung - dies trotz der Zerschlagung Preußens und der erst später erfolgenden Neugründung von Ländern und strukturell gleichartiger WirtschaftsordnungS - diesmal ein umfängliches Vertragsgeflecht zur Umgestaltung eines bewußt als Gegenentwurf entwickelten einheitlichen Partei-, Staatsund Wirtschaftsapparates. Die für unser Thema wichtigsten Grundentscheidungen treffen die beiden "Hohen Vertragschließenden Seiten" bereits im Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit dem Bekenntnis zur freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung (Art. 2 Abs. 1) und der Verpflichtung, die soziale Marktwirtschaft als ~ Auf die Bedeutung dieses Umstandes weist Geremek hin bei seinem Vergleich zwischen dem Neubeginn in Polen und der Beseitigung undemokratischer Regime in Spanien, Portugal und Griechenland in den 70er Jahren, FAZ vom 3.5. 1991.

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Grundlage der gemeinsamen Wirtschaftsordnung einzuführen (Art. 1 Abs.3). Zugleich werden erste konstitutive Elemente einer der sozialen Marktwirtschaft komplementären öffentlichen Verwaltung stipuliert, nämlich eine unabhängige Währungs- und Notenbank (Art. 1 Abs.2), der Aufbau einer Finanzverwaltung (Art. 34) sowie der Aufbau der Arbeitsvermittlung, Arbeitsförderung, der Renten-, Unfall- und Krankenversicherung sowie der Sozialhilfe (Art. 18 - 24). Außer dem Aufbau der Länderebenen in Art. 16 Abs. 3 wird auch schon die für die Kontrolle des öffentlichen Dienstes wichtige Verwaltungsgerichtsbarkeit angesprochen (Art. 6 Abs. 1). Die wichtigste Aussage für den öffentlichen Dienst ist nicht die sinngemäße Anwendung des Bundespersonalvertretungsgesetzes, sondern die Verpflichtung der DDR, sich beim Erlaß von Übergangsvorschriften zu beschränken und die Erfordernisse der Haushaltskonsolidierung ZU beachten (Art. 29). Im Vorgriff auf den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hatte die DDR am Tag vor dessen Abschluß durch das Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise die normativen Grundlagen für eine kommunale Selbstverwaltung gelegt. Das Gesetz über die Bildung von Ländern vom 22. 6. 1990 war die Voraussetzung dafür, daß mit dem Beitritt der DDR die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland geworden sind (Art. 1 Abs.l EV). Die Territorialorganisation war insoweit schon vor dem Einigungsvertrag rechtlich vorhanden. 2. Der eigentliche Aufbau des öffentlichen Dienstes erfolgte aber erst nach Abschluß des Einigungsvertrages, wie dessen Regelungen über den Übergang, die Überführung und die Abwicklung der Einrichtungen der Verwaltung und Rechtsnachfolge auf und durch Bund und Länder (Art. 13), über gemeinsame Einrichtungen der Länder (Art. 14), über die Landessprecher und die Regierungsbevollmächtigten in den Bezirken (Art. 15 Abs. 1) und - bis heute aktuell- über die Verwal-

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tungshilfe beim Aufbau der Länder durch Bund und Länder (Art. 15 Abs.2) belegen. Auf Regelungen für "besondere Verwaltungen" wie Bahn (Art. 26), Post (Art. 27), Gesundheitswesen (Art. 33), Kulturverwaltung (Art.34), Bildung (Art. 37), Wissenschaft und Forschung (Art. 38) sei nur hingewiesen. Es lag in der Logik des Beitritts nach Art. 23 GG und des Bekenntnisses zur freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung, die Grundentscheidung des Grundgesetzes für das zweispurige öffentliche Dienstrecht i.S.v. Art. 33 Abs. 4 GG, also Beamte einerseits und Angestellte und Arbeiter andererseits, zu übernehmen (Art. 20 Abs.2 EV). Ebenso wie hinsichtlich des Soldatenrechts (Art. 20 Abs.3 EV) verweist der Einigungsvertrag auf die Anlage I, in der im Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Ziff. 2 u. 3 in detaillierter Weise geregelt ist, wie das Beamtenrecht eingeführt wird. 6 Insbesondere werden die Länder verpflichtet, bis zum 31. 12. 1992 Landesbeamtengesetze zu erlassen. Dies ist z. T. nur durch sog. Vorschaltgesetze geschehen. Wie weit das Beamtenrecht schon gediehen ist, veranschaulichen der Erlaß der zweiten Verordnung über besoldungsrechtliche Übergangsregelungen nach Herstellung der Einheit Deutschlands (BGBI v. 21. 6. 1991) und die Ordnung zur Änderung der Beamtenversorgungs- und Übergangsverordnung vom gleichen Tage, durch die die Besoldung in den neuen Ländern auf 60 % des Westniveaus steigt.? Von besonderem Interesse sind die für Bundesbeamte, aber auch für Landesbeamte analog bis zum 31. 12. 1996 gemäß 6 Hans-Joaehim Nickseh, Die Einführung der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern, in: DtZ 1990, 5.340ff.; V{rleh Battis, Entwicklungstendenzen und Probleme der Einführung des Dienstrechts in den neuen Ländern, in: Rainer Pitschas (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung und Verwaltungsreform in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 1991, 5.100 (104ff.) = Neue Justiz 1991, S. 89. 7 Zu den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes s. Joaehim Jeske, Die Einführung der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern, in: ZTR 1991, S.139ff.; s.a. Mitteilungen, in: ZTR 1991,5.156.

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Nr. 3a der Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A, Abschn. III geltenden Abweichungen für die Ernennung. Beschäftigte, die in der öffentlichen Verwaltung auf dem Gebiet der neuen Länder tätig sind, können bei Eignung zum Beamten auf Probe ernannt werden, wobei die nach §§ 15 - 25 BBG erforderliche Laufbahnbef~higung durch eine Bewährung auf einem Dienstposten in der öffentlichen Verwaltung der DDR ersetzt werden kann. Bewerber aus den neuen Ländern, die nicht in der öffentlichen Verwaltung tätig waren, können sich auf einem Arbeitsplatz außerhalb der öffentlichen Verwaltung bewährt haben, sofern sie nach dem 1.4. 1990 in die öffentliche Verwaltung eingestellt worden sind (§ 1 Abs.3 der VO über die Bewährungsanforderungen für die Einstellung von Bewerbern aus der öffentlichen Verwaltung im Beitrittsgebiet in ein Bundesbeamtenverhältnis - Bewährungsanforderungsverordnung vom 9.1. 1991 (BGBlI S. 123». Die Dauer der Bewährungszeit variiert je nach Laufbahngruppe zwischen 1, 2, 3 oder 4 Jahren. Die oberste Dienstbehörde kann bestimmen, daß der Bewerber vor der Ernennung an einer Fortbildungsmaßnahme teilnimmt. Diesen Regelungen liegt die Erwägung zugrunde, daß die für eine Berufung in das Beamtenverhältnis in Betracht kommenden Beschäftigten - außer bei Laufbahnen besonderer Fachrichtungen wie z. B. Ärzte, Apotheker, Architekten, Ingenieure - in der Regel nicht die gesetzlich vorgeschriebenen laufbahnrechtlichen Voraussetzungen erfüllen, weil es "den Beschäftigten ... zumeist nicht möglich war, eine Ausbildung zu erlangen, wie sie das Laufbahnrecht ... erfordert", daß zugleich aber "die für die Erfüllung der dem Berufsbeamtenturn übertragenen Aufgaben wesentlichen Anforderungen des Zugangs zum Beamtenverhältnis, wie sie in Art. 33 Abs. 2 GG vorgesehen sind, grundsätzlich gewahrt bleiben".8 Es handelt sich also um einen Komprorniß. Unter Verzicht auf Vor- und Ausbildungserfordernisse " BT-Drucks. 11/7817, S.181.

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wird für die Berufung in das Probebeamtenverhältnis auf die Bewährung in einem entsprechenden Dienstposten abgestellt. Wer sich in einer Tätigkeit bewährt hat, die nach Art und Schwierigkeit dem zu übertragenen Amt entsprochen hat, kann zum Probebeamten ernannt werden. Ob sich der Bewerber innerhalb oder außerhalb der Verwaltung bewährt hat, ist von der zuständigen obersten Dienstbehörde zu entscheiden. Die Probezeit beträgt grundsätzlich drei Jahre. Sie dient der Eignungsüberprüfung. Daher hat sie besonderes Gewicht. In ihr soll der Beamte sich fachlich qualifizieren. Ob sich der Beamte in der Probezeit bewährt hat, entscheidet die jeweilige oberste Dienstbehörde oder die von ihr zulässigerweise ermächtigte Behörde. Durch diese Entscheidung erwächst die vorläufige, in der Probezeit bestätigte Befähigung zur vollen Laufbahnbefähigung. Mit anderen, nämlich den Worten der Denkschrift zum Einigungsvertrag zusammengefaßt bedeutet dies: bei der Einführung des Berufsbeamtenturns gibt es keine Automatik. Eine Begründung beamtenrechtlicher Statusverhältnisse ist nur im Wege der Einzelfallprüfung zulässig. Die Einzelfallprüfung hat anhand der durch Art. 33 Abs.2 GG vorgegebenen Kriterien Eignung, Befähigung und fachliche Leistung zu erfolgen. "Hierzu dienen insbesondere die laufbahnrechtlichen Anpassungsregelungen, die den grundlegenden Qualifikationsanforderungen des Berufsbeamtenturns unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten in der bisherigen DDR Rechnung tragen."9 Ohne diese Kompromißregelung wäre es unmöglich, die Grundsatzentscheidung des Einigungsvertrages für den Aufbau des öffentlichen Dienstes vorrangig mit Beschäftigten aus den neuen Ländern zu verwirklichen. Festzuhalten ist, daß die Regelungen gesetzessystematisch als Regelfall die Beschäftigung von Bediensteten aus dem ehemaligen Staatsapparat behandeln. 'I

BT-Drucks. 1117760, S. 355 (365).

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Den zusätzlichen Regelungen für Beschäftigte außerhalb des Staatsapparates kommt in den neuen Ländern eine besondere Bedeutung zu. 3. Die beamtenrechtlichen Eignungsregelungen verwirklichen den im Einigungsvertrag festgeschriebenen Kompromiß, bestehend aus der Einführung des Berufsbeamtenturns - also etwas gegenüber dem Staatsapparat der DDR völlig Neuem und Andersartigem - und der Entscheidung des Art. 20 Abs. 1 EV für die Kontinuität. Gemäß Art. 20 Abs. 1 EV· verbleiben die Beschäftigten »im Interesse der Verwaltungskontinuität und Beschäftigten" nach Maßgabe der Anlage in ihrem Beschäftigungsverhältnis. Diese nur aus dem Vertragscharakter des Einigungsvertrages erklärbare dienstrechtliche Grundentscheidung für Kontinuität der Beschäftigung von Personen, die keine Beamte waren und sind, kontrastiert zu dem vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Erlöschen aller Beamtenverhältnisse mit dem Untergang der Nazi-Herrschaft trotz Fortbestand des Deutschen Reiches. lc Daß die damalige Diskontinuität nachträglich durch die 131er Gesetzgebung abgeschwächt worden ist, steht auf einem anderen Blatt. In der Warteschleifen-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber festgestellt, daß der Bund Rechtsnachfolger der DDR hinsichtlich der Arbeitnehmer ist. 11 Die Grundentscheidung des Einigungsvertrages für Kontinuität wird bestätigt, nicht etwa in Frage gestellt durch die detaillierten Regelungen über die ordentlichen und außerordentlichen Kündigungsgründe. Diese waren und sind notwendig, weil, befristet bis zum 31. 12. 1990 und nur für staatliche, nicht für kommunale Einrichtungen 12, das Instrument der BVerfGE 3,58. BVerfG in: DÖV 1991, S. 603. 12 Ebenso Huben Schmalz, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur" Waneschleife" , in: Der Personalrat 1991, S. 153 (154) und Wolfgang Däubler, "Waneschleife" und Grundgesetz. Karlsruher Vorgaben für das Recht des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern, in: Der Personalrat 1991, 10 11

S. 193 (195).

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Abwicklung zur Verfügung stand, das zudem - in einem Rechtsstaat selbstverständlich - nur willkürfrei eingesetzt werden durfte,13 Durch das Warte schleifen urteil haben die ordentlichen und außerordentlichen Kündigungsgründe wieder den ihnen vom Einigungsvertrag zugedachten Rang. 14 Trotz der im Einzelfall gerichtlich überprüfbaren Kündigungsgründe wegen mangelnder fachlicher Qualifikation oder persönlicher Eignung, wegen mangelnden Bedarfs, wegen Auflösung, Verschmelzung, Eingliederung oder wesentlicher Änderung der Aufgaben der Beschäftigungsstelle und der außerordentlichen Kündigung wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit und wegen Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst bei unzumutbarer weiterer Beschäftigung - das letzte Tatbestandsmerkmal wird gelegentlich übersehen - lautet das Resümee einer eingehenden Untersuchung: "Insgesamt erweist sich die arbeitsrechtliche Stellung der früheren Staatsdiener der DDR, soweit sie in übernommenen Einrichtungen tätig sind, als sehr stabil. "15 Abgesehen von der Verwendung des Begriffes Staatsdiener ist die Aussage zutreffend. Die Kontinuitätsentscheidung des Einigungsvertrages wird vom Bundesinnenminister anläßlich der Vorlage des Berichts der Bundesregierung zum Aufbau und Ausbau der öffentlichen Verwaltung und der Justiz in den neuen Bundesländern vom 8.4. 1991 an den Deutschen Bundestag unterstrichen. Als ersten von drei wesentlichen Schwerpunkten der Maßnahmen der IJ Dazu BVerfG in: DÖV 1991, S. 603; OVG Berlin in: DVBI. 1991, S. 762, sowie außer den in Fn. 12 genannten auch Claas-Hinrieh Germelmann, NZA, Beil. 1/1991; Klaus Grehn, Arbeit und Arbeitsrecht, 1991, S.204; Henner Wolter, Das Bundesverfassungsgericht zur" Waneschleife" nach dem Einigungsvenrag. Ansätze zur Erforschung eines neuen Rechtsinstituts, in: ZTR 1991, S. 273ff.; Reinhold Zundel, Nochmals: Zur Waneschleife des Einigungsvenrages, in: ZTR 1991, S. 311 ff.; Konzen, in: FAZ vom 12.2.1991. 14 Vlrieh Preis, Die Kündigung von Arbeitsverhältnissen im öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer, in: Der Personalrat 1991, S. 201 ff. IS Heinz-Peter Moritz, Die (Weiter-)Beschäftigung der ehemaligen Staatsdiener der DDR im öffentlichen Dienst des vereinigten Deutschland, in: DÖD 1991, S. 125 (136).

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Bundesregierung nennt er: "Integration des aus den früheren Verwaltungs- und Justizeinrichtungen übernommenen fachlich und persönlich geeigneten Personals in einen rechtsstaatlich ausgerichteten leistungsfähigen und zeitgemäßen öffentlichen Dienst." In dem Bericht wird das ganze Spektrum von Maßnahmen im Beamten- und im Tarifbereich aufgeführt, z.B. Anpassungen im Besoldungs- und Versorgungswesen sowie die Maßnahmen zur Aus- und Fortbildung von Mitarbeitern in den neuen Ländern einschließlich der Einrichtung' von Praktikantenstellen.l 6 4. Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts der Bundesregierung sind die vielfältigen Maßnahmen zur Förderung des Einsatzes von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes aus den alten Ländern in den neuen. Sie dienen der personellen Umsetzung der in Art. 15 Abs.2 EV normierten Verwaltungshilfe durch Bund und alte Länder. Genannt seien finanzielle Anreize wie Aufwands- und Reisekostenregelungen im Falle von Versetzung, Abordnung und Zuweisung nach § 127 a BRRG oder Wiederverwendung, aber auch verbesserte Beförderungsaussichten und erleichterter Aufstieg. Diese Anreize sind trotz zahlreicher Kritik in der Öffentlichkeit durch die schon erwähnten beiden Änderungsverordnungen noch verbessert worden. Schließlich gewähren Bund und zum Teil auch alte Länder Personalkostenzuschüsse und weitere Finanzhilfen zur dauernden oder vorübergehenden Gewinnung von Westpersonal.

11. 1. Angesichts der rasanten Entwicklung ist ein Überblick über den Stand des Aufbaus des öffentlichen Dienstes in den neuen Ländern im Augenblick seiner Vorlage bereits veraltet. '" BT-Drucks. 12/347, zu Fortbildungsmaßnahmen der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, s. Informationsdienst Kommunal Nr. 28 vom 28. 6. 1991, S.17.

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Die Entwicklung ist zügig, allerdings nicht so zügig wie bei Abschluß des Einigungsvertrags angenommen. Art. 15 Abs.3 EV befristet die Verwaltungs hilfe auf den 30. 6. 1991. Vergleichbare Fehleinschätzungen der Dauer des Neuaufbaus gab es auch in der Wirtschaft. Die zentralstaatliche Ebene der DDR ist abgewickelt. Ein sehr geringer Teil des Personals ist in oberste Bundesbehörden oder nachgeordnete Bundesbehörden übernommen worden. Die Territorialorganisation der Länder steht in Sachsen und Sachsen-Anhalt einschließlich der nur dort vorgesehenen Mittelinstanz. Die alten Bezirksverwaltungen sind abgewickelt oder aufgelöst. Die Landesministerien arbeiten. In den Ministerien ist der Personalanteil der Westdeutschen hoch. Im Innenministerium Brandenburg beträgt er z. B. ein Drittel, davon überwiegend in den hohen Positionen. In den Fachverwaltungen ist der Anteil der Westdeutschen geringer. So stammen die Polizeipräsidenten in Brandenburg laut Auskunft des Staatssekretärs des Innenministeriums bis auf einen »halben" aus den neuen Ländern. Von den ca. 10000 übernommenen Polizisten, die alle einen ausführlichen Personalfragebogen auszufüllen hatten, was angesichts des skandalösen Ausdünnens der Personalakten unter der Regierung Modrow unvermeidbar war, sind nur 1 % von einer unabhängigen, von Superintendenten dominierten Kommission negativ im Hinblick auf ihre politische Vergangenheit eingestuft worden. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen sind die ersten Polizisten zu Beamten ernannt worden, in Sachsen 400. In allen neuen Ländern einschließlich Berlin (Ost) dürfte bis zum Jahresende die Verbeamtung der Vollzugspolizei abgeschlossen sein. Noch eine Momentaufnahme aus einer Fachverwaltung: An der Spitze der gänzlich neu errichteten Finanzverwaltung steht in Brandenburg eine Präsidentin aus dem Westen, umgeben von ca. 30 weiteren Westdeutschen. Die Leiter aller 21 Finanzämter kommen ebenfalls aus dem Westen, dazu jeweils 6 bis 9 Berater. Insgesamt hatte die Finanzverwaltung Brandenburg im Septem-

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ber 1991 knapp 3000 Beschäftigte bei einer Soll-Stärke von 4500. In der Anfangsphase waren 80 % der Beschäftigten Frauen (mit Kindern). In der DDR hatten die mit den für die Staatsfinanzierung unwesentlichen Steuern befaßten Behörden ein geringes Prestige, daher waren sie ein "Frauenreservat" Y 2. Unbefriedigend ist die Situation auf der kommunalen Ebene. Dafür gibt es drei Hauptursachen. Erstens gab es in der DDR überhaupt keine kommunale Selbstverwaltung. Zweitens: Kommunen haben die Hauptlast der über Nacht mit der neuen Rechtsordnung über sie gekommenen Verwaltungsaufgaben zu tragen. Drittens: Es gibt zu viele und zu kleine Gemeinden. In der DDR gab es 7565 Gemeinden gegenüber 8505 Gemeinden in der alten Bundesrepublik. 47,7% der Gemeinden der DDR hatten weniger als 500 Einwohner. Die Gemeinden müssen z. B. die Bauleitplanung entwickeln. Ein Verfahren, das es in einer zentralen Planwirtschaft ohne private Investitionsmacht fußend auf privatem Eigentum, ohne Abwägung gleichberechtigter öffentlicher und privater Interessen und ohne kommunale Selbstverwaltung nicht geben konnte. Das hochkomplizierte, auch im Westen häufig als hypertroph empfundene Recht der Bauleitplanung ist für die neuen Länder, anders als die meisten anderen Rechtsmaterien, immerhin teilweise entfeinert und den besonderen Bedürfnissen angepaßt worden (§ 246 a BauGB). Gleichwohl ändert das nichts an dem Befund, daß die kleinen Gemeinden ohne rechtlich ausgebildetes Personal das hochkomplexe fremde Westrecht anzuwenden haben. In den großen Städten ist das Bild günstiger, aber der Oberbürgermeister von Dresden legte im Dezember 1990 dar, daß in seiner Planungs- und Bauverwaltung nur 120 statt der nach westlichem Standard notwendigen 260 Mitarbeiter tätig sind. Gerade im Baubereich ist das vorhandene Fachpersonal in 17 Ausführlich zur Finanzverwaltung in Sachsen-Anhalt Hunke, in FAZ vom 25.9. 1991, S. 11.

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hohem Maße von Privaten abgeworben worden, was sich angesichts der Diskrepanzen in der Bezahlung leicht erklären läßt. Das inzwischen zu konstatierende Anspringen der Baukonjunktur -nicht nur in Dresden - läßt vermuten, daß die Leistungsfähigkeit gerade der Bauressorts verbessert worden ist. Dieses dürfte u. a. auch eine Folge sein der vielfältigen, speziell für die Kommunen geleisteten Hilfen,18 z. B. des beim BMI gebildeten Arbeitsstabs Neue Länder, der viele nützliche Handlungsanweisungen herausgibt wie etwa den Informationsdienst Kommunal, und der jeweils auf einzelne Partnerländer sich konzentrierenden alten Bundesländer sowie der kommunalen Spitzenverbände und der zahlreichen Partnergemeinden und Partnerkreise, von den allgemeinen Einrichtungen wie der Clearing-Stelle und der zentralen Personalbörse ganz zu schweigen. Personalwirtschaftliche Probleme gibt es gleichwohl. Auf der kommunalen Ebene finden sich qualifizierte Dauerbeschäftigte aus dem Westen am wenigsten. Dort wo sie zahlreicher sind, nämlich in den Ministerien, gibt es nicht nur vereinzelt Spannungen zwischen der Minderheit der besser vergüteten, besser ausgebildeten und in der Regel vorgesetzten Westdeutschen und der Mehrheit der nur 60 % der Westbezüge erhaltenen und vom neuen Recht wie "erschlagenen"19 Ostdeutschen. Angesichts der sich trotz der Kritik von Ökonomen2o abzeichnenden Tarifentwicklung inner- und außerhalb des öffentlichen Dienstes - am weitesten ist die Angleichung im Baugewerbe -, aber auch angesichts der als Geste des Vertrauens von den Betroffenen empfundenen, nunmehr - verstärkt - ein18 Dazu Scheytt (Fn. 4), 5.3 f.; deTS., Der Einigungsvertrag aus der Sicht der Städte, in: Der Städtetag 1991, S. 203ff. 19 So der Oberbürgermeister von Dresden, der ausdrücklich die Einführung des Rechts befürwortet, in: Pitschas, a.a.O. (Fn. 6), 5.5; s.a. WamS vorn 14.7. 1991 "Branden burg - eine Kolonie von NRW?". 10 Zum Beispiel Frankfurter Institut, Argumente zur Wirtschaftspolitik Nr.36, April 1991; Gutachten des wissenschaftlichen Beirats BMWi, s. FAZ vorn 9. 8. 1991.

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setzenden ersten Verbeamtungswelle (leitende Funktionen in der allgemeinen Verwaltung und Polizei), sollten m. E. diese Übergangserscheinungen nicht überbewertet werden. 3. Eine wesentliche Ursache für die bestehenden personellen Probleme, insbesondere auf kommunaler Ebene, habe ich bisher ausgespart. Ich meine den vielfach als Ärgernis empfundenen Einigungsvertrag. Ärgernis für diejenigen, die fragten, wieso bedarf es zu einem schlichten Beitritt gemäß Art.23 GG (a. F.) noch langwieriger Vertragsverhandlungen, nachdem das Volk in der DDR zunächst die Herrschaft der SED beseitigt und mit den Wahlen vom 18.3. 1990 auch die Politiker fast aller Schattierungen desavouiert hatte, die am Runden Tisch die neue Identität der DDR suchten. 21 Ärgernis auch für diejenigen, die die friedliche, aber unvollendete Revolution nunmehr vollenden wollen, die in der Kontinuitätsentscheidung des Einigungsvertrags den Grund für die Resistenz des bisherigen Staatsapparates gegen einen revolutionären Neubeginn sehen, die mit Empörung erleben, daß die ehedem Erfolgreichsten erneut am geschicktesten die komplizierten juristischen Prozeduren zu ihrem Vorteil zu handhaben verstehen. Revolution und Rechtsstaat sind wie Feuer und Wasser. Umständlichkeiten oder gar Mißbrauch rechts staatlicher Verfahren sind diesem immanent. Diese unvermeidlichen Kosten des Rechtsstaats sind zugleich Preis der unblutigen Revolution und der raschen Vereinigung. Den inneren Grund für die Aushandlung des Einigungsvertrages hat H. J. Meyer, jetziger sächsischer Wissenschaftsminister und ehemaliges Mitglied der Regierung de Maiziere, offengelegt. Trotz der mit den Frühjahrswahlen 1990 gefallenen poli21 Dazu Uwe Thaysen, Der Weg der DDR in die Demokratie. Der Runde Tisch oder wo blieb das Volk, 1990; Bernhard Schlink, Deutsch-deutsche Verfassungsentwicklungen im Jahre 1990, in: Der Staat (1991), 5.163 (169).

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tischen Grundentscheidung sollte durch Vertragsverhandlungen allen Deutschen der neue staatliche Anfang in Würde und nicht als panikartiges Überlaufen ermöglicht werden. 22 Die dienstrechtliche Grundentscheidung des Einigungsvertrages für Kontinuität der Beschäftigung ist ein Mittel, den "aufrechten Gang in die Einheit" zu erleichtern. Erklärtes Ziel der Regierung de Maiziere und, wie Meyer fortführt, allgemeine Erwartung waren, "daß wir dieses Land, das sich so lange fälschlich Deutsche Demokratische Republik genannt hatte, zunächst selbst in Ordnung brächten". Dieses Ziel ist hinsichtlich der Stasi-Verstrickung (nicht nur) der Mitglieder des Staatsappafates nicht erreicht worden, konnte auch nicht erreicht werden. An diesem - wie ich meine - unvermeidlichen Mißlingen werden wir noch lange zu tragen haben. Aus dem Debakel der Entnazifizierung sollten wir gelernt haben, daß angesichts einer großen Anzahl von Opfern und Tätern massenhafte bürokratische Aufarbeitung der Vergangenheit unmöglich ist. Die Entnazifizierung ist nicht nur in den Westzonen, sondern auch in der Ostzone bald eingestellt worden. 23 In letzterer allerdings nach weitgehender Auswechslung der Elite in Staat und Wirtschaft. Weder die Gestapo noch die Stasi konnten aus eigener Kraft allein ihre umfassende staatsterroristische Wirkung entfalten. 24 Geboten ist die individuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Soweit dabei rechtlich Substantielles zutage tritt, gibt es dafür rechts staatliche Verfahren, bei deren Anwendung diejenigen, die nicht unter dem Stasiregime leben mußten, ihr Hauptaugenmerk auf die Einhaltung der Verfahrensregeln richten sollten. Als Erfahrung aus der Nachkriegszeit kann vielleicht auch bedacht werden, daß FAZ vom 25. 5.1991; s. a. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag, 1991, S. 34. Clemens Vollnhals (Hrsg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen, 1991; dazu und zum folgenden jetzt auch Schulze-Fielitz (Fn. 4), S. 901 H. 24 Aufschlußreich insoweit Erich Loest, Die Stasi war mein Eckermann oder mein Leben mit der Wanze, 1991, der die ihn betreffenden Zuträger des Systems, anders als die Nutznießer, nicht mit Namen nennt. 22 23

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weder die die Anfänge der (alten) Bundesrepublik belastende Beschwichtigung noch die kollektive Entlastung verheißende Berufung auf den Antifaschismus in der DDR,25 sondern erst die spät einsetzende wissenschaftliche Erforschung26 der Themen Staat, Recht und Justiz Erkenntnisse zeigt, die geeignet sind, Lehren zu ziehen aus der Perversion des Rechts (so, früh und zunächst vereinzelt, Fritz v. Hippel zur NS-Zeit). Ähnliches dürfte gelten für den Rechtsnihilismus eines Regimes, das Parteilichkeit zum Rechtsprinzip erhob. Bei der Entscheidung über den Verbleib im, der Einstellung in den öffentlichen Dienst oder der Verbeamtung geht es nicht um die gesellschaftliche Aufarbeitung der SED-Vergangenheit,27 sondern um eine rechtsstaatliche Einzelfallentscheidung, bei der nicht die Nichteignung ehemaliger Mitglieder des Staatsapparates vermutet und schon gar nicht fingiert, sondern die Eignung individuell geprüft wird. Es wäre aber eine Fehleinschätzung, die Kontinuitätsentscheidung des Einigungsvertrages dahin zu verstehen, "daß die Spreu nicht ausgelesen wird, sondern sich zum Weizen mausern darf", 28 wie J ohannes Gross formuliert hat. Die Spreu ist auszulesen, verfehlt ist aber die in der Bevölkerung der neuen Länder vorhandene und von den Medien z. T. geschürte Neigung, sämtliche Personen, die Angehörige des alten Staats- und damit auch Unterdrückungsapparats waren, gnadenlos zu attackieren. 29

Dazu statt vieler Peter Graf Kielmansegg, Lange Schatten, 1989. Vgl. Rainer Schräder, Die Bewältigung des Dritten Reiches durch die Rechtsgeschichte, in: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 - 1990),1991, S. 604ff. 27 Siehe auch den diesjährigen Beratungsgegenstand der VDStRL »Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit", VVDStRL 51 (1992). 28 Johannes Grass, Notizbuch, Neueste Lieferung, 39. Stück, FAZ-Magazin, 7. Juni 1991. 29 Dagegen zu Recht Hans Dtto Bräutigam, zitiert in FAZ-Magazin vom 10.5.1991. 25 26

6 Isons« (Hg.)

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Ohne die eingangs betonte prinzipielle Unvereinbarkeit von rechtsstaatlicher, föderalistischer Verwaltung und sozialistischem, zentralistischen Staatsapparat aufzugeben, sind in die individuelle Personalentscheidung alle Umstände der realen Verwaltungswirklichkeit einzustellen. Diese Verwaltungswirklichkeit unterschied sich vielfach ganz erheblich vom ideologischen Anspruch. Die facettenreichen Diskrepanzen zwischen Ideologie und Praxis staatlicher Leitung in der DDR sind neben der mühevollen Aufklärung der Stasivergangenheit Hauptgrund für die Verzögerungen bei den Personaleinstellungen, insbesondere auch der Beamtenernennungen. Die Qualifikationsfeststellung gestaltet sich schwieriger als bei Abschluß des Einigungsvertrages erwartet. Zwischen dem durch normative Vorgaben wie der Absolventenordnung der DDR und der einschlägigen Literatur erweckten Eindruck und der Realität hat es in der Praxis ganz erhebliche Diskrepanzen der Vorbereitung und Durchführung der Personalwirtschaft gegeben, Diskrepanzen, die nicht als zwar bedauerliche, aber letztlich unvermeidliche Lücke zwischen Sollen und Sein abgetan werden können. Die Diskrepanzen gehen auch über Befunde hinaus, die, auf die westdeutsche Verwaltung bezogen, unter Stichworten wie Vollzugsdefizit, Grenzen der Steuerungsfähigkeit von Recht auf unterschiedlicher Ebene diskutiert werden. Allgemeiner gewendet und zugleich zur Relativierung von Aussagen, die sich vornehmlich auf amtliche Dokumente wie Ausbildungsordnung, Kaderentwicklungsprogramme, aber auch Personalakten stützen, sofern sie noch da sind, sollte man dessen eingedenk sein, worin Havel das Kennzeichen der posttotalitären Systeme Mittel- und Osteuropas sieht: die "eigenartige Welt des Scheins, der als Wirklichkeit dargestellt wird" , das "Gewebe von Heuchelei und Lüge", das die Menschen "notwendigerweise in Lüge leben" läßt. 3o Bei Havel und insbeson30

Vaclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, 1989, S.17f.

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dere auch bei Ash 31 ist beschrieben, daß die semantische Okkupation das wahrhaft Orwellsche Verfahren der Newspeak die Menschen fast zwangsläufig in ein Doppelleben führte, das systematisch ihre Äußerungen in öffentliche und private aufspaltete. "Denn wir alle haben uns daran gewöhnt, das eine zu sagen und das andere zu denken. "32 Dieses Gespaltensein findet sich nicht nur im öffentlichen und privaten Verhalten von Bürgern, sondern in spezifischer Weise auch innerhalb der öffentlichen Verwaltung als Diskrepanz zwischen organisatorischer Bindung und innerer Beziehung oder, zugespitzter, als Verstrickung in ein System, das innerlich überwunden war33 , natürlich nicht in jedem Fall. Die Übergangs- und Ausnahmeregelungen der Anlage I des Einigungsvertrages setzen eine solche Gespaltenheit bei den bisherigen Bediensteten - nicht allen - geradezu voraus, und zwar als eigentliche Legitimation der Möglichkeit zum Wechsel aus einem dem sozialistischen Zentralismus verpflichteten Staatsapparat in eine rechtsstaatliche, dem Grundgesetz verpflichtete öffentliche Verwaltung. Die systemtypische Gespaltenheit schlug sich nicht nur individuell in öffentlichen Äußerungen und in der Innenwelt des einzelnen Bediensteten nieder, sondern auch institutionell innerhalb der Verwaltung. Auf der einen Seite öffentliche Äußerungen zu Ausbildung, Aufgaben und Stellung der Leiter und Mitarbeiter im Staatsapparat im Sinne einer festen Verbundenheit mit der Partei der Arbeiterklasse, auf der anderen Seite das faktische Abstellen auf Befähigung und fachliche Leistung. Es kann nicht allgemein gesagt werden, wann mehr auf "SachTimothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, 1990, S. 457f. Vaclav Havel, Neujahrsansprache, 1990, zitiert nach Ash (Fn.31). )) Reinhard Maiwa/d, Zum Standesrecht der Anwaltschaft in der DDR als Teil der deutschen und europäischen Anwaltschaft, in: DtZ 1990, S. 68 (71); s.a. Horst Send/er, Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR, Wie können wir helfen?, in: DtZ 1990, S. 166 (175); ders., Über Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes, NJ 1991,379. )1

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kompetenz statt auf Linientreue"34 abgestellt wurde. Dies zu entscheiden ist vielmehr Aufgabe der Einzelfallprüfung. Die tendenzielle Verselbständigung fachlicher Elemente dürfte noch stärker als in der Ausbildung in der Verwaltungspraxis zutage getreten sein. Die mit der Dauer der Berufstätigkeit sich verstärkende bürokratische Sozialisation begünstigt die Einübung berufspraktischer Kenntnisse und Fertigkeiten, aber auch entsprechende Verhaltensweisen. Ein Blick auf ein Organigramm über den Staats aufbau der DDR zeigt, daß die Fachverwaltungen gegenüber all den sie umgebenden, geradezu erdrückenden, in jedem Fall aber anleitenden Gremien der Partei, der Planungskommissionen, der Staatssicherheit, aber auch von Institutionen wie der Arbeiter- und Bauerninspektion und anderer mehr im Partei und Staatsaufbau der DDR fast eine Nischenfunktion hatten. Diese auch nicht überzubewertende Nischenfunktion war zumindest tendenziell der Verselbständigung von fachlichen Elementen in der Verwaltungspraxis förderlich, zumal wenn die Fachverwaltung von einer Politik gesteuert wurde, die immer nur sektoral und partiell informierte. Der Preis solcher Marginalisierung war freilich ein enges sektorales, auf die eigene Zuständigkeit begrenztes Denken. Die Brüchigkeit der wissenschaftlichen und planmäßigen staatlichen Leitung belegt auch die von Bernet und Lecheler dargelegte Mißachtung rechtlicher Vorschriften, und zwar in einem Maße, das westdeutsche Erfahrungen mit Grenzen der Steuerungsfähigkeit von Recht deutlich hinter sich läßt. 35 Der Einsatz des Rechts im Sinne der sozialistischen Gerechtigkeit, also als Instrument zur bewußten Parteilichkeit zugunsten der von der Partei der Arbeiterklasse getroffenen Zielsetzungen, führte zu einem Verhalten, das nunmehr als Rechtsnihilismus gegeißelt wird. Im übrigen erscheint die von Bernet und LecheIer betonte häufige Nichtanwendung von Recht durchaus H Rainer Kosewähr / Gerd Quilitzsch, Erste Jahrestagung der DeutschDeutschenjuristischen Vereinigung, in: NJ 1990,5.305 (306). 35 Bernet / Lecheler (Fn. 4).

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systemkonform. Von Normen, die nicht wie im Rechtsstaat verbindlicher Maßstab des staatlichen Handeins sein sollen, sondern der Durchsetzung der Ziele der herrschenden Partei zu dienen bestimmt sind, müssen Staatsfunktionäre bewußt abweichen, wenn die Anwendung des Rechts den Wünschen der lavierenden vorgesetzten Stelle zuwiderliefe, um z. B. angesichts einer sich verschärfenden und letztlich zum Zusammenbruch führenden moralischen und ökonomischen Krise die Bevölkerung ruhig zu halten. Eine ehemalige Bürgermeisterin faßte ihre durch Kontrolle seitens der Bevölkerung und Partei gekennzeichnete Situation bei der Verwaltung des Mangels zusammen in dem Satz: "Von unten gab es Sand, von oben wurde man getreten." Es verwundert nicht, daß gerade auf der kommunalen Ebene eine ungewöhnlich hohe Personalfluktuation stattfand. So arbeitete nur ein Drittel der als Staatswissenschaftler ausgebildeten Kader der örtlichen Staatsorgane im März 1987 noch im Staatsapparat. 36 DDR-interne Untersuchungen über die Zustände in besonders belasteten Verwaltungsbereichen wie der Wohnungsverwaltung offenbaren eine geradezu desaströse Personallage. 4. Andererseits erforderte die Verwaltung des Mangels eine hohe Improvisationsfähigkeit, um krisenhafte Situationen trotz unzureichender Mittel zu meistern. Personen, die dies gelernt haben, sind in der jetzigen Lage in den neuen Ländern durchaus gefragt~ Sie dürften vielfach geeigneter sein als Exponenten der überperfektionierten Hochleistungsverwaltung einer Überflußgesellschaft. Den Unterschied zwischen Verwaltung in West und Ost beschrieb der sächsische Ministerpräsident so: "Wir leisten Filigranarbeit in einer hochrationalisierten Gesellschaft, während drüben die Arbeit mit Hacke und Schaufel stattfindet."37 Ein ehemaliger Bonner, jetzt Potsdamer MinisterialbeJ6 Referat des stellvertretenden Direktors für Fernstudien, Pätzelt. anlät~lich der Konferenz zur Durchführung des Fernstudiums der Fachschule für Staatswissenschaft vom 18. bis 19.3.1987, S.14. J7 Die Zeit Nr. 34/1991.

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amter sprach davon, in Bonn allenfalls an kleinen Schrauben gedreht zu haben, jetzt aber Schwungräder anzuwerfen. Kritisch gewendet: Die Menschen in den neuen Ländern leiden unter der Hypertrophie des westdeutschen Rechts und der ihm entsprechenden Bürokratie,38 so der Präsident des Thüringischen Landtags.

III. 1. Damit sind wir bei der abschließenden Fragestellung nach Reformansätzen beim Aufbau des öffentlichen Dienstes in den neuen Ländern und deren Rückwirkungen auf den öffentlichen Dienst in den alten Ländern. Rainer Pitschas hat im Titel eines Vortrags die programmatische These aufgestellt: »Verwaltungsreform und Reorganisation des öffentlichen Dienstes als Erfolgsbedingungen der Rechtsvereinheitlichung. "39 In der Praxis findet sich davon bisher wenig, im Gegenteil, die Kritik stellt zutreffend fest, daß in den neuen Ländern eine Kopie des öffentlichen Dienstes der alten Länder entsteht, eine Kopie auch der Schwächen. So wird z.B. der Zuschnitt der Ministerien nach westlichen Mustern ebenso kritisiert wie die schlichte Übernahme der Arbeitsorganisation, weil moderne Innovationsansätze nicht berücksichtigt würden. 40 Angesichts der aktuellen Notsituation würde es meines Erachtens die Problemlösungskapazität der Handelnden überfordern, zum jetzigen Zeitpunkt verwaltungs- und institutionspolitische Reformansätze einzuarbeiten. Symptomatisch ist ein Beispiel aus der Gesetzgebung. Der Präsident des BundesLautFAZvom 18.6.1991. Vgl. Rainer Pitschas, Verwaltungsreform und Reorganisation des öffentlichen Dienstes als Erfolgsbedingungen der Rechtsvereinheitlichung, in: ders. (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung und Verwaltungsreform in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 16ff. '0 So Hesse (Fn. 1), 5.51 ff. 38

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finanzhofes hatte zu Beginn des Einigungsprozesses gefordert, in den neuen Ländern nicht das unsystematische westdeutsche Steuerrecht zu übernehmen, sondern die Chance zu einem Neuanfang zu nutzen. Es ist bisher bei diesem Appell geblieben. Es wäre sicher unmöglich gewesen, in den Einigungsvertrag in wenigen Wochen auch noch ein neues Steuerrecht einzuarbeiten, zumal man in der alten Bundesrepublik zu einer solchen Reform seit Jahren nicht gekommen ist. Der Zeitpunkt für Reformen ist jedoch nicht endgültig verpaßt. 2. Als erstes steht an die Kommunalreform. Eberhard Laux hat in Schwerin auf der verwaltungswissenschaftlichen Fachtagung "Rechtsstaatliche Verwaltung im Aufbau" über Kriterien für eine Kommunalreform gesprochen.·! Diese ist angesichts des Zuschnitts der Kommunen in den neuen Ländern unausweichlich. Vieles spricht dafür, daß die Fehler der technokratisch geprägten kommunalen Gebietsreform, die in den 60er und 70er Jahren in den Flächenstaaten der alten Bundesrepublik begangen worden sind,42 zumindest nicht alle wiederholt werden. Für die Lernfähigkeit des Systems spricht immerhin, daß in dem von Nordrhein-Westfalen unterstützten Brandenburg z.Z. zumindest nicht die Großgemeinden nordrhein-westfälischer Provenienz im Gespräch sind, sondern eher eine Reform a la Schleswig-Holstein, also Umgestaltung der Kreise und Installation von Ämtern als Zusammenschluß von Gemeinden.

Ob und inwieweit es zu einer Neugliederung der Länder, abgesehen vom Sonderfall Berlin-Brandenburg, kommen wird, bleibt abzuwarten. Sie würde dann sicher auch die alten Länder nicht unberührt lassen. Besser kalkulierbar sind Vereinfachungen des von der Verwaltung anzuwendenden Rechts. Rechts- und Verwaltungsvereinfachung war denn auch ein Thema der diesjährigen SommerDazu auch Dudek, in: Verwaltungsorganisation 1991, Heft 7/8, 5.24. Siehe Dietrich Gunst, Gebietsrefonn, BürgerwiJle und Demokratie, in: AfK 1990, 5.189. 41

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akademie der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Musterbeispiel könnte das Bau- und Planungsrecht sein. Nicht zufällig hat die Gesellschaft für Entbürokratisierung eben dieses Feld zum Gegenstand ihrer Arbeit gemacht. Das Baurecht der neuen Länder enthält zahlreiche Vereinfachungsregelungen. Es spricht vieles dafür, daß ein Teil davon auf das Recht der alten Länder zurückstrahlen wird. Generell läßt sich sagen, daß die schon vor Jahren vom bisherigen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichtes mit dem Turmbau von Babel verglichene Normenfülle - Gesetze, Verordnungen und ungezählte an bevorzugter Stelle abgeheftete,43 aber nicht gelesene Erlassewahrscheinlich entfeinert wird. Statt der bisherigen theoretischen Diskussion um die Steuerungsfähigkeit von Recht könnte der Einsatz von hochentwickeltem Filigranwerk in einer Krisensituation einen wirklichen Modernisierungsschub auslösen. 3. Dieser Modernisierungsschub dürfte im Bereich der Verwaltungsorganisation durch die flächendeckende Einführung der Informations- und Kommunikationstechnik in den neu aufzubauenden Verwaltungen begleitet werden. H Insoweit dürften vergleichbare Modernisierungseffekte entstehen, wie sie in der Wirtschaft durch Investitionen auf der Grünen Wiese erwartet werden. Diese Modernisierungen könnten Vorbildfunktion für den Westen haben. 4. Der Versuch der Neustrukturierung des öffentlichen Dienstes vermittels einer individuellen Besoldung bei erhöhter Leistung und gleichzeitiger Senkung der Gesamtkosten des öffentlichen Dienstes steht nicht mehr zur Debatte. Die durch die Empfehlung der Regierungskommission Bahn angefachte Diskussion um die Neukonzeption von Bundes- und Reichsbahn